Plenarprotokoll 12/182

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

182. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Inhalt:

Begrüßung des Präsidenten der National- Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter versammlung der Sozialistischen Republik und der Fraktion der SPD: Die deutsche Vietnam, Nong Duc Manh, und seiner Wirtschaft durch Senkungen der Leit- Delegation 15647 A zinsen und durch eine europäische Konjunkturinitiative aus der Rezession führen (Drucksache 12/5362) - Glückwünsche zum Geburtstag des Abge ordneten Berthold Wittich 15647 B d) Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Dr. , Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Gruppe der Erweiterung der Tagesordnung 15647 B PDS/Linke Liste: Aufbauplan Ost- deutschland (Drucksache 12/5671) Nachträgliche Überweisung eines Gesetz- entwurfs an den Ausschuß für Raumord- e) Beratung der Beschlußempfehlung und nung, Bauwesen und Städtebau 15647 D des Berichts des Ausschusses für Wirt- schaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Wolfgang Roth, Harald Zur Geschäftsordnung B. Schäfer (Offenburg), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 15648A Anpassung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und das Wachstums der Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 15649 A Wirtschaft an die neuen ökologischen, Dr. Peter Struck SPD 15649 B sozialen und wirtschaftlichen Anfor- derungen (Drucksachen 12/1572, Wolfgang Lüder F.D.P. 15649 B 12/5653) (Berlin) BÜNDNIS 90/ f) Beratung der Beschlußempfehlung und DIE GRÜNEN 15649D des Berichts des Ausschusses für Wirt- schaft zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Roth, Hans Berger, Dr. Ulrich Tagesordnungspunkt 3: Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter a) Abgabe einer Erklärung der Bundes- und der Fraktion der SPD: Eine sich regierung selbst verstärkende Rezession durch Zukunftssicherung des Standortes kompetente Wirtschaftspolitik abwen- Deutschland den (Drucksachen 12/4453, 12/5654) b) Beratung der Unterrichtung durch die g) Beratung der Beschlußempfehlung und Bundesregierung des Berichts des Ausschusses für Wirt- Bericht der Bundesregierung zur schaft zu dem Entschließungsantrag der Zukunftssicherung des Standortes Gruppe der PDS/Linke Liste zum Jah- Deutschland (Drucksache 12/5620) reswirtschaftsbericht 1993 der Bun- c) Beratung des Antrags der Abgeordne- desregierung (Drucksachen 12/4330, ten Dr. Uwe Jens, Hermann Bachmaier, 12/4462, 12/5655)

II Deutscher — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

h) Beratung des Antrags des Abgeordne- Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): ten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) Fragestunde und der Gruppe der PDS/Linke Liste: — Drucksache 12/5904 vom 15. Oktober Personalausstattung der Kataster-, 1993 — Grundbuch- und Vermessungsämter in den neuen Ländern (Drucksache Inhalt der Konsultationen des iranischen 12/5389) Geheimdienstministers Fallahian mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem in Verbindung mit BND; Aufhebung des Mordbefehls gegen Salman Rushdie Zusatztagesordnungspunkt 2: MdlAnfr 51, 52 Beratung des Antrags des Abgeordne- Thea Bock SPD ten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) Antw StMin BK 15715D, und der Gruppe der PDS/Linke Liste: 15716C Arbeit in Deutschland (Drucksache 12/5901) ZusFr Thea Bock SPD 15716 A ZusFr SPD 15716B Dr. , Bundeskanzler 15651 B , Ministerpräsident des Besuch des Chefs des iranischen Geheim- Saarlandes 15660 D dienstes in Deutschland; Erörterung der Mordsache „Mykonos" und des Mord- Dr. CDU/CSU 15669 B befehls gegen den Schriftsteller Salman Rushdie Dr. F.D.P. 15673A, 15694 D MdlAnfr 55, 56 Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 15675D Freimut Duve SPD Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 15677 B Antw StMin Bernd Schmidbauer BK 15717C, 15718B Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 15680 B ZusFr Freimut Duve SPD 15717 C-

Erwin Teufel, Ministerpräsident des Landes Aufgaben der Bundeswehrsoldaten des Baden-Württemberg 15682 B UNOSOM-II-Kontingents in Belet Uen (So- malia); psychische und physische Be- Peter Conradi SPD 15685 C schwerden der Soldaten SPD 15686 C MdlAnfr 29, 30 SPD Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 15686D Hans Wallow Antw PStSekr'in Michaela Geiger BMVg 15718D, F.D.P. 15689 C 15719B Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister ZusFr Hans Wallow SPD 15719A BMWi 15691 C ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P. 15719 D Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/ ZusFr Horst Kubatschka SPD 15720A DIE GRÜNEN 15695A ZusFr SPD 15720A Rainer Haungs CDU/CSU 15697A „Logistische Versorgung" indischer Solda- Siegmar Mosdorf SPD 15699B ten in Somalia ab 15. Oktober 1993; Anpas- Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink F.D.P. 15701C sung des deutschen Unterstützungskontin- gents an den tatsächlichen Bedarf Bernd Henn- PDS/Linke Liste 15702 D MdlAnfr 31, 32 Ernst Hinsken CDU/CSU 15704 A Rudolf Bindig SPD Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 15705 D Antw PStSekr'in Michaela Geiger BMVg 15720B, 15721 C Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU 15707 B ZusFr Rudolf Bindig SPD 15720B, 15721D Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions ZusFr Hans Wallow SPD 15720D, 15722 A los 15709B ZusFr Horst Kubatschka SPD 15721B Peter Harald Rauen CDU/CSU 15710B ZusFr Konrad Gilges SPD 15721B, 15722C Ortwin Lowack fraktionslos 15712A ZusFr Brigitte Schulte (Hameln) SPD 15722A Friedhelm Ost CDU/CSU 15713B ZusFr Erich G. Fritz CDU/CSU 15722 B Freimut Duve SPD 15715A ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P. 15722 D

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 III

Test von Hubschraube rn der ehemaligen Tagesordnungspunkt 15: NVA durch andere Staaten Überweisung im vereinfachten Verfahren MdlAnfr 33 a) Erste Beratung des von der Bundesre- Jürgen Koppelin F.D.P. gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Tier- Antw PStSekr'in Michaela Geiger BMVg 15723A zuchtgesetzes (Drucksache 12/5741) ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P. 15723 B b) Erste Beratung des von der Bundesre- Arten- und Tierschutzkontrolle bei impor- gierung eingebrachten Entwurfs eines tierten Säugetieren, Vögeln, Fischen und Gesetzes zur Bekämpfung des Miß- Reptilien brauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (Mißbrauchsbekämp MdlAnfr 44 fungs- und Steuerbereinigungsgesetz) Georg Gallus F.D.P. (Drucksache 12/5764) Antw PStSekr Dr. c) Erste Beratung des von der Bundesre- BMU 15724 A gierung eingebrachten Entwurfs eines ZusFr Georg Ga llus F.D.P. 15724 B Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 2 vom 13. November 1992 zu den Proto- Herausnahme unbedeutender Ausbau- kollen vom 20. Dezember 1961 über die maßnahmen aus der Verwaltungsvorschrift Errichtung der Internationalen Kom- „ Umweltverträglichkeitsprüfung " missionen zum Schutz der Mosel und der Saar gegen Verunreinigung und MdlAnfr 48 dem ergänzenden Protokoll vom Klaus Harries CDU/CSU 22. März 1990 zu diesen beiden Proto- Antw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek kollen (Drucksache 12/5446) BMU 15724 C d) Erste Beratung des von der Bundesre- ZusFr Klaus. Harries CDU/CSU 15724 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Statistiken im Handwerk Lagerung asbest- oder anderer verseuchter (Handwerkstatistikgesetz) (Drucksache - Gegenstände in Güterzugwagen auf Bahn- 12/5833) von höfen wegen Kompetenzstreitigkeiten e) Erste Beratung des von der Bundesre- Entsorgern gierung eingebrachten Entwurfs eines MdlAnfr 49 Gesetzes über die Feststellung des Wirt- Horst Kubatschka SPD schaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1994 (ERP - Wirtschaftsplan- Antw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek gesetz 1994) (Drucksache 12/5842) BMU 15725A f) Erste Beratung des von der Bundesre- 15725 B ZusFr Horst Kubatschka SPD gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbe- Einschluß des stillgelegten Kernkraftwerks Lubmin ordnung und sonstiger gewerberecht- licher Vorschriften (Drucksache MdlAnfr 50 12/5826) Horst Kubatschka SPD g) Erste Beratung des von der Bundesre- Antw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek gierung eingebrachten Entwurfs eines BMU 15725D Gesetzes zur Reform der agrarsozialen ZusFr Horst Kubatschka SPD 15726A Sicherung (Agrarsozialreformgesetz 1995) (Drucksache 12/5889) Aufnahme Taiwans in die Vereinten Natio- h) Beratung des Antrags der Abgeord- nen neten , Brigitte Ad- MdlAnfr 57 ler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Ab- Ortwin Lowack fraktionslos geordneter und der Fraktion der SPD: Beteiligung der Bundesrepublik Antw StMin Helmut Schäfer AA 15726 C Deutschland am „Fonds zur Entwick- ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos 15726 C lung der eingeborenen Völker Latein- amerikas und der Karibik" (Drucksache Deutsche Beitragsrückstände bei den Ver- 12/5739) einten Nationen; Änderung des Zahlungs- i) Beratung des Antrags der Abgeordne- modus ten Christoph Matschie, B rigitte Adler, MdlAnfr 58, 59 Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abge- Konrad Gilges SPD ordneter und der Fraktion der SPD: Unterstützung der indigenen Völker 15727B, C Antw StMin Helmut Schäfer AA bei der Verabschiedung der „Allgemei- ZusFr Konrad Gilges SPD 15727 D nen Erklärung über die Rechte einge- IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

borener Völker" in der kommenden d) Beratung der Beschlußempfehlung des 48. Sitzungsperiode der Generalver- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- sammlung der Vereinten Nationen tung durch die Bundesregierung: Haus- (Drucksache 12/5740) halts- und Wirtschaftsführung 1993: hier: Einwilligung in eine überplan- Zusatztagesordnungspunkt 6: mäßige Ausgabe bei Kapitel a) Erste Beratung des von den Fraktionen 06 46 Titel 712 01 (Neu-, Um- der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- und Erweiterungsbau für die brachten Entwurfs eines Gesetzes über Deutsche Bibliothek, Frankfurt/ die Errichtung einer Stiftung „Bundes- Main) (Drucksachen 12/5577, präsident-Theodor-Heuss-Haus" 12/5743) (Drucksache 12/5916) e) Beratung der Beschlußempfehlung b) Erste Beratung des von den Fraktionen des Haushaltsausschusses zu der der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- Unterrichtung durch die Bundesre- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur gierung: Außerplanmäßige Ausgabe Änderung der Handwerksordnung, an- bei Kapitel 23 02 Titel 866 08 — derer handwerksrechtlicher Vorschrif- Sonderhilfe Georgien (Drucksachen ten und des Berufsbildungsgesetzes 12/5547, 12/5787) (Drucksache 12/5918) f) Beratung der Beschlußempfehlung c) Erste Beratung des von den Fraktionen des Petitionsausschusses: Sammel- der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten übersicht 118 zu Petitionen (Druck- Entwurfs eines ... Straf rechtsände- sache 12/5799) rungsgesetzes — Abgeordnetenbeste- g) Beratung der Beschlußempfehlung chung (Drucksache 12/5927) des Petitionsausschusses: Sammel- d) Erste Beratung des von den Fraktionen übersicht 119 zu Petitionen (Druck- der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten sache 12/5800) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung h) Beratung der Beschlußempfehlung des Schornsteinfegergesetzes (Druck- des Petitionsausschusses: Sammel- sache 12/5928) 15728A übersicht 120 zu Petitionen (Druck- sache 12/5801) Tagesordnungspunkt 16: i) Beratung der Beschlußempfehlung Abschließende Beratungen ohne Ausspra- des Petitionsausschusses: Sammel- che übersicht 121 zu Petitionen (Druck- sache 12/5802) 15729B a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Zusatztagesordnungspunkt: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Heilung des Erwerbs von Woh- Zweite und dritte Beratung des von den nungseigentum (Drucksachen 12/3961, Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. 12/5843) eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Reform der agarsozialen Siche- b) Zweite Beratung und Schlußabstim- rung (Agrarsozialreformgesetz 1995) mung des von der Bundesregierung ein- (Drucksachen 12/5700, 12/5924, 12/ gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu 5934) 15730D dem Abkommen vom 23. Februar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Zusatztagesordnungspunkt 3: land und den Vereinigten Mexikani- schen Staaten zur Vermeidung der Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der desregierung zu den Auswirkungen Steuern vom Einkommen und vom ihrer Finanzpolitik auf Sozialpläne, ins- Vermögen (Drucksachen 12/5194, besondere in der Stahlindustrie 12/5898) Hans-Eberhard Urbaniak SPD 15731B c) Zweite Beratung und Schlußabstim- Franz Romer CDU/CSU 15732A mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Dr. F.D.P. 15733A dem Abkommen vom 8. Juli 1992 zur Bernd Henn PDS/Linke Liste 15734A Änderung des Abkommens vom 4. Ok- tober 1954 zwischen der Bundesrepu- Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 15735 A blik Deutschland und der Republik SPD 15736C Österreich zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung auf dem Gebiete der Dr. CDU/CSU 15737 D Steuern vom Einkommen und vom Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD 15738D Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern (Drucksachen CDU/CSU 15739D 12/4567, 12/5910, 12/5911) Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 15740D

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Tagesordnungspunkt 4: logischen Psychotherapeuten und des Beratung der Großen Anfrage der Abge- Kinder- und Jugendlichenpsychothera- ordneten Hermann Bachmaier, Wolf- peuten (Drucksache 12/5913) gang Roth, Ernst Schwanhold, weiterer Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatsse Abgeordneter und der Fraktion der SPD: kretärin BMG 15760B Rüstungsexport-Kontrollpolitik (Drucksachen 12/3229, 12/4241) Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD 15762B Hermann Bachmeier SPD 15742 B Dr. Bruno Menzel F.D.P. 15763 D Jürgen Koppelin F.D.P. 15742 D Klaus Kirschner SPD 15764 D Peter Kittelmann CDU/CSU 15744 B Dr. PDS/Linke Liste 15766B Hermann Bachmaier SPD 15745 C Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Klaus Beckmann F.D.P. 15746 C NEN 15767 C Dr. PDS/Linke Liste 15748A Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/ CSU 15768 C Georg Gallus F.D.P. 15748 C Klaus Kirschner SPD 15769 B Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär BMWi 15749C Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD 15770A Dr. Elke Leonhard-Schmid SPD 15751A Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD 15770D Erich G. Fritz CDU/CSU 15752B Dr. Bruno Menzel F.D.P. 15771 C Georg Gallus F.D.P. 15753 D Tagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 5: a) Beratung der Großen Anfrage der Abge- Erste Beratung des von der Bundesre- ordneten Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Gün- gierung eingebrachten Entwurfs eines ter Graf, Dr. Hans de With, weiterer Gesetzes über die Berufe in der Physio- Abgeordneter und der Fraktion der SPD: therapie: (Masseur- und Physiothera- Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung - peutengesetz) (Drucksache 12/5887) und Massenkriminalität (Drucksachen 12/3633, 12/5452) in Verbindung mit b) Beratung der Unterrichtung durch das Zusatztagesordnungspunkt 4: Europäische Parlament: Entschließung (Drucksa- Beratung des Antrags der Fraktion der zur Gründung von Europol che 12/4378) SPD: Neuordnung der Berufe in der Physiotherapie (Drucksache 12/5912) Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 15773B Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatsse Dr. F.D.P. 15774D, 15782 B kretärin BMG 15754 B CDU/CSU 15776D Dr. Helga Otto SPD 15755 C Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 15779 C Dr. Dieter Thomae F.D.P. 15756 D Ursula Jelpke PDS/Linke Liste 15781B Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 15757 B , Parl. Staatssekretär BMJ 15783 B Sigrun Löwisch CDU/CSU 15758A CDU/CSU 15784 C Klaus Kirschner SPD 15759A Günter Graf SPD 15787 B Tagesordnungspunkt 6: Erwin Marschewski CDU/CSU 15790A Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Norbert Geis CDU/CSU 15790B Gesetzes über die Berufe des Psycholo- Jörg van F.D.P. 15791D gischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychothera- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 15793 A peuten und zur Änderung des Fünften Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions Buches Sozialgesetzbuch (Drucksache los 15795A 12/5890) Tagesordnungspunkt 8: in Verbindung mit Beratung der Beschlußempfehlung Zusatztagesordnungspunkt 5: des Petitionsausschusses: Sammelüber- sicht 100 zu Petitionen (Abgeordneten Beratung des Antrags der Fraktion der Parteien und-bezüge/Finanzierung der SPD: Psychotherapeutische Versor- Fraktionen) (Drucksache 12/4824) gung gesetzlich Krankenversicherter und Zugang zu den Berufen des Psycho Peter Conradi SPD 15796 A VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Tagesordnungspunkt 9: Anlage 6 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelüber- Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- sicht 115 zu Petitionen (Schutz der Men- nungspunkt 9 (Sammelübersicht 115 zu schenrechte in Indonesien/Ost-Timor) Petitionen) (Drucksache 12/5645) Birgit Homburger F.D.P. 15809* D Horst Peter (Kassel) SPD 15798 A Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Tagesordnungspunkt 10: GRÜNEN 15810* C Beratung der Beschlußempfehlung und Dr. Ruth Fuchs PDS/Linke Liste 15811* B des Berichts des Ausschusses für Wirt- schaft zu dem Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste: Ausrufung der manife Anlage 7 sten Krise für den Stahlmarkt in der Europäischen Gemeinschaft (Drucksa- Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- chen 12/4448, 12/5895) nungspunkt 10 (Antrag: Ausrufung der Bernd Henn PDS/Linke Liste 15798 C manifesten Krise für den Stahlmarkt in der Europäischen Gemeinschaft) Dr. Ruprecht Vondran CDU/CSU 15800 C Dr. Ruprecht Vondran CDU/CSU Wolfgang Weiermann SPD 15801 A 15811* D Klaus Beckmann F.D.P. 15801 B Wolfgang Weiermann SPD 15813* A Hans-Eberhard Urbaniak SPD 15801C Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär BMWi 15814* A Nächste Sitzung 15801 D

Anlage 1 Anlage 8 Verhinderung der unkontrollie rten Freiset- Liste der entschuldigten Abgeordneten . 15803* A zung von Versuchspflanzen mit gentech- - nisch verändertem Erbgut in die Umwelt, Anlage 2 wie z. B. bei der Flutkatastrophe im ameri- kanischen Mittelwesten; Einbau von Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Schutzvorschriften im deutschen Gentech- nungspunkt 4 (Große Anfrage: Rüstungs- nikgesetz export-Kontrollpolitik)

MdlAnfr 37, 38 — Drs 12/5904 — Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15803* C Ulrich Heinrich F.D.P. Anlage 3 SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- mann-Pohl BMG 15814* D Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- nungspunkt 6 (Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und Anlage 9 des Kinder- und Jugendlichenpsychothera- Beurteilung der Darstellungen der Bundes- peuten und zur Änderung des Fünften ärztekammer und der Hufelandgesellschaft Buches Sozialgesetzbuch) über besondere Therapieeinrichtungen im Ortwin Lowack fraktionslos 15804* C Zusammenhang mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung Anlage 4 MdlAnfr 39 — Drs 12/5904 — Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Uta Würfel F.D.P. nungspunkt 7 (Große Anfrage: Sicherheits- SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- bedürfnis der Bevölkerung und Massenkri- mann-Pohl BMG 15815* B minalität) Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15805* A Anlage 10 Anlage 5 Großzügigere Vergabe von Ausnahmege- nehmigungen zur Führung roter Kfz-Kenn- Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- zeichen angesichts des hohen Schadstoff- nungspunkt 8 (Sammelübersicht 100 zu ausstoßes dieser Fahrzeuge Petitionen) MdlAnfr 40 — Drs 12/5904 — Steffen Kampeter CDU/CSU 15807* B Simon Wittmann (Tännesberg) CDU/CSU Dr. F.D.P. 15808* C SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 15809* B BMV 15815* C

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Anlage 11 Anlage 14 Bau der B 31 West, insbesondere der Orts- Stand der Beratungen über die Wärmenut- umgehung Umkirch und Gottenheim zungs-Verordnung

— MdlAnfr 41, 42 — Drs 12/5904 — MdlAnfr 47 — Drs 12/5904 SPD Monika Ganseforth SPD

SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel SchrAntw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMV 15815* D BMU 15816* D

Anlage 15 Anlage 12 Gespräche über die Rücknahme des Mord- Stand der Verkaufsverhandlungen der aufrufs gegen Salman Rushdie beim Besuch Bahnbusgesellschaft im Rhein-Neckar-Ge- des iranischen Geheimdienstministers Fal- biet lahian; Verbindung zwischen dem Attentat auf iranische Oppositionelle in Berlin und MdlAnfr 43 — Drs 12/5904 — dem Minister Dr. Egon Jüttner CDU/CSU

MdlAnfr 53, 54 — Drs 12/5904 — SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel Norbert Gansel SPD BMV 15816* A SchrAntw StMin Be rnd Schmidbauer BK 15817* A

Anlage 13 Anlage 16 Gewährleistung des Strahlenschutzes im Ordnungsgemäße Durchführung der Parla- Uranbergbau gemäß Einigungsvertrag; Si- mentswahlen in Pakistan; Verbesserung cherheitsgutachten über den Bau von End- der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit lagern für radioaktive Stoffe in der Schweiz der Zentralafrikanischen Republik nach an der Hochrheinmündung Durchführung der ersten demokratischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen MdlAnfr 45, 46 — Drs 12/5904 —

Siegrun Klemmer SPD MdlAnfr 60, 61 — Drs 12/5904 — Dr. Klaus Kübler SPD SchrAntw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU 15816* B SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 15817* C

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Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und 4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Neuordnung der Herren, die Sitzung ist eröffnet. Berufe in der Physiotherapie — Drucksache 12/5912 — 5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Psychotherapeu- Ich möchte zunächst den Präsidenten der National- tische Versorgung gesetzlich Krankenversicherter und versammlung der Sozialistischen Republik Vietnam, Zugang zu den Berufen des Psychologischen Psychothera- Herrn Nong Duc Manh, und seine Delegation auf der peuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeu- Ehrentribüne ganz herzlich begrüßen. ten — Drucksache 12/5913 — 6. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- (Beifall) gänzung zu TOP 15)

Sie haben bei Ihrem Besuch zunächst in Baden a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, Württemberg Gespräche geführt. Diese setzen Sie seit SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die gestern in Bonn fort, heute mit den Fraktionen und Errichtung einer Stiftung Bundespräsident-- Theodor-Heuss-Haus — Drucksache 12/5916 — Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Sie haben gestern abend gemerkt, wie groß die Zahl der Parla- b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, mentarier war, die an Ihrem Besuch Interesse haben SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung, anderer hand- und Anteil nehmen. werksrechtlicher Vorschriften und des Berufsbildungs- gesetzes — Drucksache 12/5918 — Wir wünschen uns sehr, daß wir gerade die parla- mentarischen Beziehungen mit dem sich demokra- c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und tisch entwickelnden Vietnam vertiefen, damit wir in F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsände- rungsgesetzes — Abgeordnetenbestechung — Drucksa- der Zukunft auf eine gute Zusammenarbeit setzen che 12/5927 — können. Herzlich willkommen! d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und (Beifall) F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Schornsteinfegergesetzes — Drucksache 12/5928 — Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Berthold Wittich feierte am 18. Oktober seinen 60. Ge- Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Bera- burtstag. Ich spreche ihm nachträglich die herzlich- tung, soweit dies erforderlich ist, abgewichen wer- sten Glückwünsche des Hauses aus. den. (Beifall) Des weiteren mache ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktli- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die ste aufmerksam: verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktli- Der in der 168. Sitzung des Deutschen Bundestages am 1. Juli 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nach- ste aufgeführt: träglich dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen werden: 1. Aktuelle Stunde: Folgerungen der Bundesregierung aus dem Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom Gesetzentwurf der Bundesregierung 12. Oktober 1993 — Az. 2 BvR 2134/92 und 2 BvR 2159/92 — in bezug auf die Entwicklung der Europäischen Union (in der Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs 181. Sitzung bereits erledigt) über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften (Zweites Gesetz zur Änderung des Sozialgesetz- 2. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann buchs — 2. SGBÄndG) (Kroppenstedt) und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Arbeit — Drucksache 12/5187 — in Deutschland — Drucksache 12/5901 — Überweisungsvorschlag: 3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Auswirkungen ihrer Finanzpolitik auf Sozialpläne, insbe- Innenausschuß sondere in der Stahlindustrie Rechtsausschuß 15648 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ausschuß für Familie und Senioren grund gedrängt werden und daß wir diesen Tag, den Ausschuß für Frauen und Jugend 9. November, zum Gedenktag zur Mahnung und Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Erinnerung an die sechs Millionen ermordeten Juden erklären müssen. Sind Sie mit den Ergänzungen der Tagesordnung und der nachträglichen Ausschußüberweisung ein- Ich glaube auch, daß die Vermischung verschie- verstanden? — Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos- dener Themen einfach nicht machbar ist und letztlich sen. auf eine Bagatellisierung, auf eine Graduierung, auf eine Relativierung hinausläuft. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat fristgerecht bean- Ich habe mich an Sie alle, an die Fraktionen, tragt, die heutige Tagesordnung um die erste Bera- gewandt. Ich wollte gerne, daß das ein gemeinsamer tung ihres Gesetzentwurfs, Drucksache 12/5781, zum Antrag wird. Ich wollte genau nicht, daß ein solcher Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Antrag in irgendeiner Form parteipolitisch genutzt Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur wird. Das ist mir nicht gelungen. Ich bedauere das zu erweitern. Wird zu diesem Geschäftsordnungsan- sehr, weil ich wirklich nicht das geringste Interesse trag das Wort gewünscht? — Bitte, Herr Gysi. hatte, ein solches Anliegen in irgendeine Art von parteipolitischen Streit hineinzuführen. Ich habe nun gehört, daß wir in diesem Jahr eine Veranstaltung im Bundestag durchführen wollen, in Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! der sowohl an die Ermordung der sechs Millionen Meine Damen und Herren! Wir haben beantragt, Juden als auch an die Öffnung der Mauer erinnert unseren Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu werden soll. Ich meine, daß das die Juden innerhalb setzen, der festlegen soll, daß der 9. November in und außerhalb Deutschlands und alle Menschen, die Deutschland nicht zu einem gesetzlichen Feiertag, über diesen Massenmord nach wie vor zutiefst sondern zu einem gesetzlichen Gedenktag erklärt erschüttert sind, als Mißachtung empfinden müssen. wird, der die öffentlichen Einrichtungen erinnert und Man kann so ungleiche Ereignisse nicht gleichwertig mahnt, dieses Tages in besonderer Weise zu geden- behandeln und auch nicht in einem Atemzuge. Ich ken. warne deshalb vor dieser Vorgehensweise. Sie alle wissen, daß am 9. November 1938 das erste Lassen Sie mich als letztes sagen: Hier geht es nur wirklich große Pogrom in Deutschland stattfand, als darum, ob wir diesen Antrag überhaupt auf die- dessen Ergebnis letztlich sechs Millionen Jüdinnen Tagesordnung nehmen, damit wir in Ruhe darüber und Juden ermordet worden sind. sprechen können, was wir sinnvollerweise tun soll- ten. Es gibt in vielen Ländern einen solchen Gedenktag, nicht nur in Israel. Wir hatten ihn leider nicht in der Da ich aus der Beratung der Parlamentarischen DDR; wir haben ihn leider nicht in der Bundesrepublik Geschäftsführer weiß, daß der Antrag weder heute Deutschland. Ich meine, daß es an der Zeit ist, einen noch in der nächsten Woche auf die Tagesordnung solchen Gedenktag gesetzlich einzuführen, auch des- genommen werden soll, frage ich mich, welches halb, damit wir nicht an jedem Jahrestag erneut vor Signal wir eigentlich setzen, wenn wir nicht einmal der Schwierigkeit stehen, wie wir dieser Opfer geden- bereit sind, über diese Frage miteinander hier im ken. Plenum zu sprechen und zu diskutieren. Ich halte das für einfach undenkbar. Ich meine, das wäre nicht nur ein wichtiges Zeichen gegenüber den Angehörigen und den Nachkommen Das würde bedeuten, daß der Mehrheit dieses der damals Ermordeten — soweit es solche überhaupt Hauses unterstellt wird, daß sie einen solchen gibt —, sondern es wäre auch ein wichtiges Zeichen in Gedenktag nicht will. Sie werden Beifall von einer einer Zeit, in der der Rechtsextremismus zunimmt. Seite bekommen, von der Sie Beifall eigentlich nicht Hier könnte der Bundestag ein deutliches Signal wollen sollten. geben, daß wir bereit sind, mit allen uns zur Verfü- Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustim- gung stehenden Mitteln gegen diesen Rechtsextre- men. Lassen Sie uns heute darüber reden. Lassen Sie mismus vorzugehen und gerade in einer solchen Zeit uns eine Entscheidung finden, wie wir diesem Tag dieser Opfer zu gedenken. auch in Zukunft gerecht werden, ohne immer wieder neue Diskussionen aufzurühren. Nun weiß ich natürlich, daß sich am 9. November im Laufe der deutschen Geschichte viele Ereignisse abspielten: Kaiser Wilhelm II. hat am 9. November Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Redezeit ist abgedankt, Herr Scheidemann hat die Republik aus- beendet. gerufen — sicherlich ein wichtiges Datum für die SPD —, Karl Liebknecht hat sogar die sozialistische deutsche Republik ausgerufen — auch kein unwichti- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Lassen Sie uns ges Datum, zumindest für uns. Wir wissen, daß am diesen Tag würdig begehen! Stimmen Sie dem 9. November vor vier Jahren die Mauer geöffnet Antrag, diesen Punkt zusätzlich in die Tagesordnung wurde. Das heißt, es gibt verschiedene Ereignisse, an aufzunehmen, zu! die man bei diesem Tag denken kann. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Trotzdem behaupte ich, daß durch das Pogrom und die danach einsetzende Ermordung von sechs Millio- nen Juden alle anderen Ereignisse in den Hinter Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Rüttgers. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15649

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! können. Es sind in dem, was Sie gesagt haben, Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wahr: Am Grenzen zwischen Welten sichtbar geworden. 9. November jähren sich zum 55. Mal die schreckli- (Dr. [PDS/Linke Liste]: chen Ereignisse der Reichspogromnacht. Die Nazi Er hat doch noch gar nicht davon gespro- Diktatur hat damals ihr wahres, ihr menschenverach- chen, wie wir damit umgehen wollen!) tendes, ihr mörderisches Gesicht gezeigt. Deshalb haben sich die Fraktionen des Deutschen Bundesta- — Ich gehe auf das ein, was Herr Kollege Gysi eben ges einvernehmlich darauf geeinigt und im Ältesten- gesagt hat. Herr Kollege Gysi hat eben z. B. gesagt, es rat vorgeschlagen, für den 9. November um 14 Uhr sei eine Verachtung der Juden und der Opfer, die die eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages ein- Juden gebracht haben, wenn wir das Gedenken an die zuberufen. Zum Gedenken wird die Präsidentin des Maueröffnung und das Gedenken an den 9. Novem- Bundestages das Wort ergreifen. ber 1938 miteinander verknüpften. Genau das ist sachlich falsch. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Her- ren, besteht keine zwingende Notwendigkeit, den (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste heute auf die CDU/CSU) Tagesordnung zu setzen. Ich erinnere als erstes nur daran, daß z. B. die Wieder- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gutmachung von NS-Unrecht auf dem Territorium der früheren DDR nicht erfolgte, solange Sie dort unter Ich finde, ein solches Verfahren würde dem Anlaß und anderem Namen noch die Regie hatten. vielleicht auch, Herr Gysi, Ihrem Anliegen nicht gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und des Abg. Konrad Weiß [Berlin] (BÜNDNIS 90/ Wir lehnen den Antrag auf Erweiterung der heuti- DIE GRÜNEN] sowie bei Abgeordneten der gen Tagesordnung ab. Wenn es die Notwendigkeit SPD) gibt, darüber in ein Gespräch einzutreten, wird es die Möglichkeit dazu geben. Für dieses Jahr ist die Erst in der Folge des humanitären Aktes des Mauer- Vereinbarung zwischen den Fraktionen ge troffen. falles wurde die Öffnung zur Bewältigung der NS- Dabei sollte es bleiben. Vergangenheit auf dem Ter ritorium der DDR mög- lich. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zweiter Punkt. Wir haben, bevor wir den Gedenk- tag zum 3. Oktober festlegten, miteinander die Dis-- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Struck. kussion darüber gehabt: Bekennen wir uns zum Staatsfeiertag am 3. Oktober, oder nehmen wir den 9. November, das humanitäre Datum 9. November (SPD): Frau Präsidentin! Meine Dr. Peter Struck 1918, den Abgrund an Inhumanität am 9. November Damen und Herren! Herr Kollege Gysi hat ausgeführt, 1938, das Zeichen für Humanität am 9. November welche Gründe ihn und eigentlich auch uns veranlas- 1989? Wir haben uns bewußt auf den 3. Oktober als sen sollten, des 9. November 1938 in würdiger Form zu Staatsfeiertag festgelegt. gedenken, und zwar nicht nur in diesem Jahr, sondern auch in den darauffolgenden Jahren. Die SPD-Bun- Wir wollen am 9. November gedenken, aber wir destagsfraktion hat keinen Grund, den Antrag von wollen nicht das verordnete Gedenken, auch nicht das Herrn Gysi, das heute auf die Tagesordnung zu vom Gesetzgeber verordnete Gedenken. Deswegen setzen, abzulehnen. Wir sind der Auffassung, daß wir lehnen wir Ihren Antrag ab. im Bundestag vor dem 9. November dieses Jahres, an (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dem sich dieser schreckliche Tag zum 55. Mal jährt, schon darüber diskutieren sollten, wie wir in Zukunft in Deutschland dieser Ereignisse gedenken wollen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schulz. Deshalb stimmen wir dem Antrag, diesen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen, zu. Ich denke, daß wir in einer Debatte, die heute stattfinden könnte, sehr Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausführlich über die näheren Einzelheiten dieses NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! offiziellen Gedenktages sprechen könnten. Lieber Kollege Lüder, worum geht es in dieser Geschäftsordnungsdebatte überhaupt? Es geht (Beifall bei der PDS/Linke Liste) darum, daß ein Antrag, der sich mit der Vorbereitung und Gestaltung dieses Tages — ob Gedenktag oder Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lüder. Gedenkfeier — beschäftigen möchte, gar nicht erst auf die Tagesordnung kommen soll und offensichtlich gar nicht erst diskutiert wird. Wolfgang Lüder (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Ich meine zwar, daß der Antrag der PDS/Linke Liste sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion der nicht sonderlich originell oder neu ist. Ich erinnere Sie Freien Demokraten stimmt der Aufsetzung nicht zu, in diesem Zusammenhang daran — einige von Ihnen und zwar aus folgenden Gründen; das sage ich in werden das sehr lebhaft im Wasserwerk mitbekom- Ergänzung zu dem, was Herr Kollege Rüttgers ausge- men haben —, daß genau vor fünf Jahren dort die führt hat. GRÜNEN den Antrag gestellt haben, daß die Gedenk- Ich glaube, schon aus der Darlegung des Kollegen feier zur Reichspogromnacht erweitert wird. Mein Gysi heute ist deutlich geworden, daß wir so mit Vorgänger, der Kollege Hubert Kleinert, hatte damals diesem Gedenktag hier und heute nicht umgehen den Antrag gestellt, daß Heinz Galinski auf dieser 15650 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Werner Schulz (Berlin) Gedenkfeier reden sollte. Das ist abgewehrt wor- Ausschuß für Post und Telekommunikation den. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfol- Sie kennen alle die Geschichte: Der damalige genabschätzung Bundestagspräsident hatte es sich nicht nehmen las- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sen, sich in einer gewagten Rede um Amt und Anse- Haushaltsausschuß hen zu bringen. Ich meine, daß sich uns hier der Geist c) Beratung des Antrags der Abgeordneten der alten Bundesrepublik entgegenstellt, daß wir Dr. Uwe Jens, Hermann Bachmaier, Holger überhaupt nicht darüber diskutieren, wie wir solche Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Gedenktage künftig gestalten und wie wir das in Fraktion der SPD würdiger Form angehen wollen. Die deutsche Wirtschaft durch Senkungen Ich meine nicht, daß wir die Geschichte ad acta der Leitzinsen und durch eine europäische legen könnten, wie das ein Bundespräsidentschafts- Konjunkturinitiative aus der Rezession füh- kandidat unlängst meinte. ren (Zurufe von der CDU/CSU — Beifall bei — Drucksache 12/5362 — Abgeordneten der PDS/Linke Liste) Überweisungsvorschlag: — Ich verstehe dieses Präsidentschaftsallergiefieber Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Finanzausschuß gar nicht, das Sie hier zeigen. Ich glaube, ich habe nur Haushaltsausschuß ganz kurz und prägnant wiederholt, was er gesagt d) Beratung des Antrags der Abgeordneten hat. Dr. Gregor Gysi, Dr. F ritz Schumann (Krop- (Erneute Zurufe von der CDU/CSU) penstedt) und der Gruppe der PDS/Linke Ich meine, daß wir uns das ins Bewußtsein rufen und Liste vor allen Dingen den Dialog mit der Gesellschaft Aufbauplan Ostdeutschland aufnehmen sollten. Es würde uns gut anstehen, wenn — Drucksache 12/5671 — an einem solchen Tag nicht nur die Bundestagspräsi- Überweisungsvorschlag: dentin hier sprechen würde, sondern auch ein Mann Ausschuß für Wirtschaft (federführend) wie Ignatz Bubis, wenn beispielsweise dieser Plenar- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung saal nicht nur durch einen Mann wie Roman Herzog Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau eröffnet worden wäre, sondern wenn wir für Erfahrun- e) Beratung der Beschlußempfehlung und des gen und Gedanken aus der Gesellschaft offen wären Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und uns diese Erinnerung täglich ins Bewußtsein (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeord- rufen würden. neten Dr. Uwe Jens, Wolfgang Roth, Harald (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN B. Schäfer (Offenburg), weiterer Abgeord- sowie bei Abgeordneten der SPD und der neter und der Fraktion der SPD PDS/Linke Liste) Anpassung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirt- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und schaft an die neuen ökologischen, sozialen Herren, wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für und wirtschaftlichen Anforderungen den Aufsetzungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Drucksachen 12/1572, 12/5653 — — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist Berichterstattung: der Aufsetzungsantrag mit den Stimmen der Koali- Abgeordneter Dr. tionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. ohne Enthaltun- gen abgelehnt. f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeord- Zusatzpunkt 2 auf: neten Wolfgang Roth, Hans Berger, Dr. Ul- rich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter 3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- und der Fraktion der SPD rung Eine sich selbst verstärkende Rezession Zukunftssicherung des Standortes Deutsch- durch kompetente Wirtschaftspolitik ab- land wenden b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- — Drucksachen 12/4453, 12/5654 — desregierung Berichterstattung: Bericht der Bundesregierung zur Zukunfts- Abgeordneter Dr. Rudolf Sprung sicherung des Standortes Deutschland g) Beratung der Beschlußempfehlung und des — Drucksache 12/5620 — Berichts des Ausschusses für Wirtschaft Überweisungsvorschlag: (9. Ausschuß) Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß zu dem Entschließungsantrag der Gruppe Finanzausschuß der PDS/Linke Liste Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend gierung Ausschuß für Gesundheit Jahreswirtschaftsbericht 1993 der Bundes- Ausschuß für Verkehr regierung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit —Drucksachen 12/4330, 12/4462, 12/5655— Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15651

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Berichterstattung: in allen Bereichen unseres Staates, unserer Gesell- Abgeordneter Dr. Rudolf Sprung schaft und nicht zuletzt in der Wirtschaft. Wir erleben h) Beratung des Antrags des Abgeordneten täglich, wie sich in der internationalen Arbeitsteilung Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der tiefgreifende Veränderungen vollziehen. Wir haben Gruppe der PDS/Linke Liste uns noch nicht daran gewöhnt, daß sich nicht nur in Fernost starke Konkurrenten entwickeln — neben Personalausstattung der Kataster-, Grund- Japan inzwischen auch in Ländern wie Korea und buch- und Vermessungsämter in den neuen Taiwan sowie die Volksrepublik China. Ländern — Drucksache 12/5389 — Wir wollen den Erfolg des Umgestaltungsprozesses

Überweisungsvorschlag: in den Demokratien und Reformstaaten Mittel - , Ost- Innenausschuß (federführend) und Südosteuropas. Wir wollen, daß die Reformen Rechtsausschuß Boris Jelzins in Rußland erfolgreich sein werden. M an Ausschuß für Wi rtschaft Haushaltsausschuß muß sich klarmachen, daß in diesen Ländern rund 380 Millionen Menschen leben, die genauso intelli- ZP 2 Beratung des Antrags des Abgeordneten gent und fleißig sind wie die Menschen hierzulande. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Es werden dort größte Anstrengungen unternommen, Gruppe der PDS/Linke Liste Gesellschaft, Staat und Wirtschaft zu reformieren. Arbeit in Deutschland Wenn dies gelingt — wir hoffen doch gemeinsam, daß — Drucksache 12/5901 — dies gelingt — und wenn das Vertrauen der Menschen Überweisungsvorschlag: in Rechtsordnung und Stabilität des Geldes wächst, Ausschuß für Wirtschaft (federführend) dann werden diese Länder leistungsfähige Konkur- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung renten, aber eben auch wichtige Handelspartner für Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die uns werden. Wir brauchen uns nur an unsere eigenen gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regie- guten Erfahrungen in der Europäischen Gemeinschaft rungserklärung vier Stunden vorgesehen. — Dazu zu erinnern, um zu erkennen, welche enormen Ch an sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so -cen auch in einer vertieften wirtschaftlichen Zusam- beschlossen. menarbeit mit unseren Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa liegen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Deutsch- Meine Damen und Herren, beim Abschluß der land, in Europa und in der Welt hat es in den letzten Römischen Verträge im Jahr 1957 gingen deutsche Jahren großartige Veränderungen gegeben, Verän- Exporte im Wert von 14 Milliarden DM in die zwölf derungen, die uns allen zugute kommen können, Länder, die heute die Europäische Gemeinschaft wenn wir vor allem die Chancen, die sich daraus bilden. 1992 exportierten wir aus der Bundesrepublik ergeben, nutzen. Deutschland Waren im Wert von 365 Milliarden DM in genau diese Länder. Unsere Ausfuhren in die EG- Der Ost - West - Gegensatz ist Geschichte geworden. Das sowjetische Imperium hat sich aufgelöst. Mauer Länder sind damit etwa doppelt so stark gestiegen wie und Stacheldraht, die Berlin, Deutschland und Europa unsere Exporte in die übrige Welt. Viele Millionen über Jahrzehnte teilten, sind verschwunden. Auch auf Arbeitsplätze bei uns in Deutschland verdanken wir dem Weg der wirtschaftlichen und sozialen Einheit dieser engen wirtschaftlichen Verflechtung mit lei- Deutschlands sind wir in den vergangenen Jahren ein stungsfähigen Partnern in der Europäischen Gemein- gutes Stück vorangekommen, auch wenn jeder weiß, schaft. Es liegt deshalb in unserem ureigensten Inter- daß es noch sehr viel zu tun gibt. esse, bald ebenso leistungsfähige Partner in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu haben. Die dritte große Veränderung, die unsere gemein- same Zukunft bestimmen wird, ist der Zusammen- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, nach- schluß der europäischen Staaten zur Politischen dem wir die staatliche Einheit Deutschlands erreicht Union. Der Vertrag von Maastricht ist jetzt in allen haben, müssen wir jetzt die Vollendung der inneren Mitgliedsländern ratifiziert worden. Einheit weiter vorantreiben. Das ist, wie ich hoffe, Ich begrüße die Entscheidung des Bundesverfas- gemeinsam unser vorrangiges innenpolitisches Ziel. sungsgerichts zu den Beschwerden gegen den Ver- Der dafür notwendige wirtschaftliche Umbau in den trag über die Europäische Union. Diese Karlsruher neuen Bundesländern wird von uns auch in Zukunft Entscheidung ist eine sehr wichtige Wegmarke auf große finanzielle und persönliche Anstrengungen dem Weg zum vereinten Europa. Wir Deutsche stehen fordern. zum Auftrag unseres Grundgesetzes, „in einem ver- einten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" . Wir Die aktuellen Ereignisse in diesen Wochen, vor werden uns deshalb mit aller Kraft dafür einsetzen, die allem in Moskau, haben uns einmal mehr vor Augen im Vertrag von Maastricht vereinbarten Ziele gemein- geführt, daß die schnelle Wiedervereinigung im Jahr sam mit unseren Partnern umzusetzen. 1990 für uns alle ein großer Glücksfall Meine Damen und Herren, alle diese Herausforde- rungen, die wir in erster Linie als eine Chance (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. begreifen müssen, erfordern von uns Konsequenzen sowie bei Abgeordneten der SPD) 15652 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und für die Menschen in der früheren DDR die einzig Mitgliedsland Wettbewerbsvorteile und neue Arbeits- wirkliche Chance für eine bessere Zukunft war. plätze bringen. Für deutsche Unternehmen bedeutet (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dies neue Investitions- und Absatzchancen, aber auch die dringende Notwendigkeit verstärkter Modernisie- Es gab im Jahr 1990 nur für kurze Zeit die Chance zur rung im Blick auf den jetzt stärker gewordenen Wiedervereinigung. Wir haben diese Gelegenheit Wettbewerb. damals zum Vorteil der Menschen in ganz Deutsch- land entschlossen genutzt. Ich sage nach meiner Freizügigkeit und freier Handel sind keine Ein- festen Überzeugung: Schon wenig später wäre die bahnstraßen. Das gilt nicht nur für uns, sondern auch Wiedervereinigung unseres Vaterlandes so nicht für die anderen. Vor diesem Hintergrund müssen wir mehr möglich gewesen. uns sehr ernsthaft fragen, ob unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen geeignet sind, diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) neuen Herausforderungen erfolgreich begegnen zu Inzwischen wissen wir aus früher geheimgehalte- können. nen Dokumenten der SED, daß die DDR vor dem Fall Unsere Politik der Sozialen Marktwirtschaft und der Mauer praktisch bankrott war. Die rasche deut- eine entschlossene Haushaltskonsolidierung haben sche Einheit hat die Menschen wirtschaftlich, sozial in den 80er Jahren ein kräftiges, langanhaltendes und ökologisch vor dem Schlimmsten bewahrt. wirtschaftliches Wachstum ermöglicht und uns wert- Jenseits der ökonomischen Probleme, die sich nur in volle Handlungsspielräume eröffnet. In den 80er Jah- einer großen Gemeinschaftsanstrengung lösen lassen, ren sind in den alten Bundesländern mehr als 3 Mil- scheint mir vor allem die Frage wichtig zu sein: Wie lionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden; und gehen wir, die Deutschen, im vereinten Vaterland dennoch fehlen uns heute in ganz Deutschland rund miteinander um? Wie können wir es verhindern, daß 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. in den Köpfen und in den Herzen von nicht wenigen Bis zu Beginn der 90er Jahre konnte der Zugriff des neue Vorbehalte entstehen? Es geht darum, mehr Staates auf die gesamtwirtschaftliche Leistung deut- Verständnis füreinander zu haben. Das heißt, wir lich zurückgeführt und die Steuerbelastung gesenkt sollten versuchen, mehr miteinander und weniger werden. übereinander zu reden. Vor allem sollten wir erken- nen, daß über 40 Jahre Teilung tiefere Spuren hinter- Heute muß es uns darum gehen, neue Handlungs- lassen haben, als viele von uns, auch ich, angenom- spielräume für die Zukunft zu gewinnen. Die Kern- men haben. frage für die kommenden Jahre ist: Wie schaffen wir neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze? Um diese Die Menschen in den alten Bundesländern hatten Frage beantworten zu können, brauchen wir eine das Glück, 40 Jahre in Freiheit und selbsterarbeitetem Generalinventur der deutschen Gesellschaft. Denn Wohlstand leben zu können, während die Deutschen nur wenn wir wissen, wo wir stehen, können wir den jenseits der Mauer bei all ihrem Fleiß und bei all ihrem richtigen Weg in die Zukunft finden. Einsatz vom SED-Regime um die Früchte ihrer Arbeit betrogen wurden. In den Aufbaujahren nach der Währungsreform haben wir in der Bundesrepublik einen erfolgreichen Heute machen die Menschen in Ostdeutschland Aufbruch in die Zukunft geschafft. Damals haben alle einen schwierigen und tiefgreifenden Strukturwan- die Ärmel hochgekrempelt und der Bundesrepublik del in großem Tempo durch. Dafür verdienen sie zu wirtschaftlicher Blüte und Wohlstand verholfen. unsere Achtung und unsere Hilfe, wo immer dies Niemand hat damals zuerst danach gefragt, was die möglich ist. Dies, meine Damen und Herren, gilt Gesellschaft oder der Staat für ihn tun können. Diese insbesondere für die ältere Generation, für jene, die in Bereitschaft zur eigenen Verantwortung, dieses Ja zur Rente sind und die Last der Teilung in einem beson- eigenen Leistung brauchen wir heute genauso wie- deren Maße getragen haben. Daher war es richtig der, wenn wir die innere Einheit unseres Landes rasch — ich möchte das hier wiederholen — und auch vollenden wollen. moralisch geboten, zunächst vor allem der Rentnerge- neration zu helfen. (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Sollen die Arbeitslosen die Ärmel hochkrempeln?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) — Ich an Ihrer Stelle würde hier keinen Zwischenruf machen. Da über so vieles nicht berichtet wird, was berich- tenswert ist, will ich hier darauf hinweisen, daß sich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Rente eines Durchschnittsverdieners nach 45 Ver- Daß Menschen in den neuen Bundesländern arbeits- sicherungsjahren in den neuen Bundesländern vom los geworden sind, haben Sie ganz entscheidend 1. Juli 1990 bis zum 1. Juli 1993 von 672 DM auf 1 357 politisch zu vertreten. Sie haben es jahrelang durch DM mehr als verdoppelt hat. Ihre Politik mit herbeigeführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sowie bei Abgeordneten der SPD) So wie wir nach der Gründung der Bundesrepublik Sie hat damit innerhalb von nur drei Jahren fast drei in den 50er Jahren den Aufstieg schafften, so müssen Viertel des Rentenniveaus der alten Bundesrepublik wir jetzt im wiedervereinten Deutschland in eine erreicht. zweite Aufbruchphase eintreten. Wir müssen uns, Meine Damen und Herren, in Europa wird der seit meine Damen und Herren, drei Herausforderungen Anfang dieses Jahres geltende Binnenmarkt für jedes gleichzeitig stellen: der Vollendung der inneren Ein- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15653

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl heit unseres Landes, dem Zusammenwachsen Euro- eigene Leistungskraft, um die eigene Wettbewerbsfä- pas und der Sicherung des Standorts Deutschland higkeit zu steigern. Ich erinnere auch daran, daß in angesichts einer wachsenden internationalen Kon- diesen Tagen der amerikanische Präsident Bill Clin- kurrenz. ton eine umfassende Exportoffensive angekündigt hat. Er hat erklärt, das Ziel der US-Politik sei es, die Dazu brauchen wir einen Wandel in Gesellschaft amerikanischen Exporte bis zum Jahr 2000 von heute und Wirtschaft. Ich finde es bei allen Schwierigkeiten 700 Milliarden auf 1 000 Milliarden Dollar zu erhöhen. bemerkenswert, daß bei immer mehr Menschen in Er will auf diese Weise 6 Millionen neue Arbeitsplätze Deutschland — auch weil die Sorge wächst, daß wir in den Vereinigten Staaten von Amerika schaffen. Er unter dem Druck der internationalen Konkurrenz hat weiterhin gesagt — und ich finde es besonders unseren Lebensstandard nicht länger halten könn- wichtig, darauf hinzuweisen —, daß die amerikani- ten — die Einsicht in die Notwendigkeit von Verän- sche Exportoffensive vor allem auf die Märkte im derungen wächst. asiatisch-pazifischen Raum zielt und nicht zuletzt Meine Damen und Herren, die Bundesregierung auch auf die neuen Märkte in Mittel- und Osteu- hat mit ihrem Bericht zur Zukunftssicherung des ropa. Standorts Deutschland deutlich gemacht, welche Fra- Auch wir müssen uns mehr anstrengen, um auf den gen für uns im Vordergrund stehen und wo wir rasch wachsenden Zukunftsmärkten eine starke Posi- konkreten Handlungsbedarf sehen. Wir sind an einer tion zu erringen. Deshalb haben wir z. B. eine Asien möglichst offenen und auch kritischen, breiten Dis- Konzeption entwickelt, um die deutsche Präsenz in kussion über diesen Bericht interessiert. Wir wollen dieser Zukunftsregion zu verstärken. Ich hoffe, wir diese Gespräche in allen Bereichen unserer Gesell- haben bis zum Ende des Jahres noch Gelegenheit, schaft führen. Ich füge hinzu: Es geht uns in keiner hier im Hohen Hause über die Konzeption unserer Weise darum, Schuldzuweisungen für vieles von dem, Asienpolitik miteinander zu diskutieren. was wir gemeinsam getan und beschlossen haben, vorzunehmen. Trotz mancher Schwächen und Probleme bleibt unbestritten: Der Standort Deutschland hat nach wie Meine Damen und Herren, wer jetzt über Versäum- vor viele Stärken. Wir sind eine der führenden Export- nisse redet, muß sich immer fragen, an welchen davon nationen der Welt, und wir besitzen eine international er selbst beteiligt war. Aber für die Welt von morgen leistungsfähige Infrastruktur. Zu unseren Stärken nützt uns das nichts. gehört vor allem auch die stabile D-Mark, die nicht - (Zuruf von der SPD: Das ist eine gute von ungefähr zu einer der wichtigsten Reservewäh- Frage!) rungen der Welt und zur Ankerwährung in Europa aufgestiegen ist. — Meine Damen und Herren von der SPD, Sie werden Unsere berufliche Bildung ist vorbildlich. Das doch nicht behaupten wollen, daß ein Großteil der Duale System genießt weltweit Anerkennung. Die Dinge, über die ich gleich zu reden habe, mit Ihnen vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosigkeit bei und Ihren Entscheidungen nichts zu tun hat? Das uns ist nicht zuletzt ein Ergebnis unseres Ausbildungs- bringt uns wirklich überhaupt nicht weiter. Es nützt systems. keinem einzigen Arbeitslosen in Deutschland, wenn die Frage gestellt wird, wer 1969, 1975 oder 1988 so Die im internationalen Vergleich geringe Zahl der oder so gestimmt hat. Es geht jetzt darum, das Not- Streiktage zeigt, daß alles in allem bei uns ein gutes wendige durchzusetzen. Dazu sind wir bereit. soziales Klima herrscht. Ungeachtet aller Konflikte — das will ich hier ausdrücklich anerkennen — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bekennen sich Gewerkschaften und Arbeitgeber in Meine Damen und Herren, bei dieser Diskussion Deutschland zu ihrer gemeinsamen Verantwortung geht es auch nicht darum, den Standort Deutschland für das Wohl des Ganzen. Die soziale Partnerschaft ist mieszumachen oder gar kaputtzureden. Damit wür- eine der wichtigsten Säulen unserer Gesellschaft und den wir uns nur selbst schaden. Es gibt auch gar muß dies bleiben. keinen Grund zur Verzagtheit. Es ist zwar wahr, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. wir in einigen Feldern nachgelassen haben, aber es ist sowie bei Abgeordneten der SPD) auch wahr, daß wir uns in vielen wichtigen Bereichen durchaus jeder Konkurrenz stellen können. Wahr ist Aber, meine Damen und Herren, dieser Verantwor- aber auch — das ist das Entscheidende —, daß die tung müssen sich Arbeitgeber wie Gewerkschaften anderen, unsere Nachbarn, unsere Konkurrenten, auch stellen, wenn es jetzt darum geht, eine ehrliche sehr viel besser geworden sind. Das müssen wir Bestandsaufnahme über den Standort Deutschland endlich zur Kenntnis nehmen. vorzunehmen. Dazu gehören auch der Mut und die Entschlossenheit, den notwendigen Veränderungen (Klaus Lennartz [SPD]: Ihre Konkurrenten!) — auch im Blick auf eigene Besitzstände — den Weg — Was heißt „Ihre Konkurrenten"? Das ist genauso zu bahnen. Ihre wie unsere Konkurrenz. Es geht hier um die Wir Deutsche stehen heute vor einer völlig neuen Zukunft Deutschlands und nicht um die Zukunft, wie Situation, in der Erfahrungen aus der Vergangenheit Sie sie interpretieren. uns nur teilweise eine Antwort für die Zukunft geben können. Es geht jetzt eben um weit mehr als um die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Überwindung der derzeitigen Rezession. Die aktu- Alle unsere Nachbarn — im weitesten Sinne des ellen Konjunkturdaten sprechen dafür, daß wir in Wortes —unternehmen große Anstrengungen, um die diesem Sommer die Talsohle der Rezession erreicht 15654 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl haben.- Steigende Aktienkurse und der stabile D wichtigen Autobahn im Allgäu. Verwaltungsgerichts- Mark-Kurs an den internationalen Märkten sind Aus- verfahren blockieren do rt seit 1985 den Bau der noch druck weltweiten Vertrauens in unsere Fähigkeit, mit fehlenden 17 Kilometer. Ständig verstopfte Straßen in den Problemen fertigzuwerden. dieser Region sind die Folge. Das ist ein typisches Beispiel des deutschen Verkehrsalltags. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die meisten Konjunkturforscher erwarten für 1994 Es geht auch nicht an, daß für Planung und Bau wieder einen Aufschwung, der jedoch erst mit erheb- eines S-Bahn-Anschlusses für einen wichtigen Flug- licher Verzögerung auf dem Arbeitsmarkt spürbar platz in der Bundesrepublik Deutschland 20 Jahre werden dürfte. vergehen. Aber — und das ist das Entscheidende — wir haben Ebenso wenig kann es richtig sein, daß Hochschul- es nicht nur mit einer normalen Rezession zu tun, baumaßnahmen von der Planung bis zur Fertigstel- sondern auch mit lange aufgestauten Strukturproble- lung im Durchschnitt acht bis zehn Jahre dauern. Der men. Neubau des Fakultätsgebäudes einer süddeutschen (Beifall des Abg. [CDU/CSU]) Universität brauchte von der ersten Planung im Jahre 1971 bis zur Fertigstellung im Jahre 1993 sogar Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir uns 22 Jahre. — ganz unabhängig von konjunkturellen Auf- und Abwärtsbewegungen — vorrangig um die strukturel- Für diese Standortschwächen, meine Damen und len Probleme unseres Landes kümmern. Wir müssen Herren, tragen doch nicht einzelne Parteien, sondern eine Wiederbelebung der Konjunktur erreichen, wir alle gemeinsam Verantwortung. zugleich aber die Strukturschwächen konsequent (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bekämpfen. Die Strukturprobleme sind nicht erst mit der deutschen Einheit aufgekommen, sondern sie sind Ich füge gleich hinzu: Für das Aufbrechen erstarrter in der alten Bundesrepublik in Jahrzehnten ange- Strukturen ist Umdenken wichtiger als Umverteilen wachsen. von Geld. Gefragt sind in erster Linie neue Ideen, nicht neue Ausgabenprogramme. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD) Wir müssen neue Aufgaben anpacken und uns den Veränderungen stellen. Ein Beispiel dafür ist die- — Zu Ihren Zwischenrufen gleich eine Bemerkung: anstehende Reform der drei Unternehmen der Deut- Daß wir über die Bahnreform so unendlich mühsam schen Bundespost. Die Telekommunikation ist einer miteinander reden, hat doch damit zu tun, daß wir alle der wichtigsten Wachstumsmärkte der Zukunft. Wenn hier in diesem Saal Mitverantwortung dafür tragen, die deutsche Indus trie in diesem Bereich den daß diese Reform über Jahrzehnte verschleppt wurde. Anschluß verliert, verpassen wir eine der bedeutend- Das ist doch die Wahrheit! sten Zukunftschancen. An dieser Indus trie hängen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Tausende von Zukunftsarbeitsplätzen. Wir können es uns einfach nicht leisten, die Postreform II noch länger Weder Sie noch wir haben es geschafft, vor 10 oder zu verzögern und hinauszuschieben. 20 Jahren die notwendigen Entscheidungen zu tref- fen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nach dem Urteil vieler Experten bauen wir mit dem Deshalb bitte ich alle Beteiligten um eine baldige ICE einen der technologisch besten Züge der Welt. positive Entscheidung. Richtig ist auch, daß dieser Zug noch nicht lange Ich möchte einige wichtige Maßnahmen zur Stand- genug im praktischen Einsatz ist, weil wir es in ortverbesserung nennen, die die Bundesregierung in Deutschland nicht fertiggebracht haben, die für hohe den letzten Monaten bereits durchgesetzt hat: Das Geschwindigkeiten geeigneten Trassen rechtzeitig zu neue Arbeitszeitgesetz, mit dem wir flexiblere bauen. Das erweist sich jetzt als ein großer Nachteil für Arbeitszeiten und längere Maschinenlaufzeiten er- unser Land. möglichen wollen, liegt jetzt dem Bundestag vor. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hoffe und bitte darum, daß es bald verabschiedet wird. Ich fordere von dieser Stelle die Tarifparteien auf, Jeder von uns kennt schlimme Beispiele für die neue Arbeitszeitmodelle zu entwickeln und möglichst Verzögerungen bei Genehmigungs - und Bauzeiten. noch 1994 einzuführen, um der Konjunktur zusätzli- Ich nenne als Beispiel aus jüngster Zeit eine private chen Schub zu geben. Damit könnten viele Unterneh- Werft in Norddeutschland, die konkurrenzfähige men Kosten senken, die Wettbewerbsfähigkeit erhö- Schiffe baut und dadurch 2 000 Arbeitsplätze in der hen, Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze Region sichert. Als notwendige Voraussetzung für den schaffen. Bau bereits fest bestellter Schiffe soll ein Fluß vertieft werden. Einsprüche und Klagen einiger weniger Mit der vorliegenden Novelle des Gentechnikge- gefährden diese Aufträge, die damit zusammenhän- setzes werden die Voraussetzungen erheblich verbes- genden Arbeitsplätze sowie die Existenz der ganzen sert, daß auch künftig Spitzenforschung und -produk- Werft. tion in dieser wichtigen Zukunftstechnologie in Deutschland stattfinden können, und zwar ohne (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Abstriche in Bereichen der Sicherheit, der Gesundheit Ich kann Ihnen viele andere Beispiele nennen, etwa und des Umweltschutzes. Wie nötig diese Novelle ist, die unglaublichen Verzögerungen beim Bau einer meine Damen und Herren — und über die Fehler der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15655

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Vergangenheit brauchen wir auch in diesem Zusam- stungen vorgenommen, die weit über das hinausge- menhang nicht miteinander zu diskutieren —, illu- hen, was wir im Haushalt 1994 vorschlagen. In Schwe- striert eine einfache Zahl. Derzeit investieren deut- den ebenso wie in den Niederlanden, in Frankreich sche Unternehmungen jährlich 1 Milliarde DM in die oder in Italien sind harte Sparprogramme auf den Weg Genforschung, aber nur weniger als die Hälfte dieser gebracht worden, ohne daß diese Länder die histori- Mittel wird bei uns in der Bundesrepublik Deutsch- sche Herausforderung der deutschen Einheit zu mei land ausgegeben. stern hätten. Mit dem Standortsicherungsgesetz werden wir ab Nur eine konsequente Stabilitätspolitik kann die 1994 die Steuern für gewerbliche Einkünfte spürbar Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung in senken. Durch den Verzicht auf die Einschränkung Deutschland auch in Zukunft schaffen. Deswegen der degressiven Abschreibung für Maschinen haben bleibt eine stabile Währung die entscheidende wir auch im Rahmen unserer Möglichkeiten konjunk- Grundlage für die Zukunft unseres L andes. Ich will turellen Erfordernissen Rechnung getragen. Zu kei- gern die Gelegenheit wahrnehmen, hier nochmals auf nem Zeitpunkt zuvor hat es in der Bundesrepublik die sehr positive Rolle der Deutschen Bundesbank Deutschland niedrigere Ertragsteuern gegeben. Da- hinzuweisen. Grundlage der Stabilitätserfolge der mit werden Investitionen ermutigt, damit kann die Bundesbank ist die Unabhängigkeit in der Entschei- Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland ganz dung und die klare Ausrichtung auf das Ziel der wesentlich erleichtert werden. Geldwertsicherung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Meine Damen und Herren, richtige Rahmenbedin- ordneten der F.D.P.) gungen sind ebenso wichtig wie das rechtzeitige Das der Industrie nahestehende Institut der deutschen Erkennen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ent- Wirtschaft schrieb unter der Überschrift „Vorfahrt für wicklungen und die Bereitschaft, daraus die notwen- Modernisierungsprojekte" in seinem Informations- digen Konsequenzen zu ziehen. dienst: „Das überarbeitete Standortsicherungsgesetz Ein Beispiel, das viel zuwenig beachtet wird, kann sich sehen lassen." Ich finde, es sollte sich nicht obwohl es wohl das dramatischste Beispiel ist, ist die nur sehen lassen können, sondern auch in der Praxis demographische Entwicklung angewandt werden. in unserer Gesell- schaft. Wir haben nun schon seit Jahrzehnten eine der (Detlev von Larcher [SPD]: Fragen Sie einmal niedrigsten Geburtenraten in der Welt. Zugleich steigt den Mittelstand! — Dr. Jürgen Rüttgers bei uns erfreulicherweise die Lebenserwartung. Um- [CDU/CSU], zur SPD gewandt: Da habt ihr die Jahrhundertwende lag die Lebenserwartung der aber eine Intelligenzbestie!) Menschen in Deutschland bei 45 Jahren. Im Jahre Meine Damen und Herren, unverzichtbare Grund- 2000 dürfte sie für Männer bei durchschnittlich 75 Jah- lage für die Zukunft unseres Landes ist eine stabile ren, für Frauen bei fast 81 Jahren liegen. Die Zahl der Währung. Deshalb haben wir im Bundeshaushalt Bürgerinnen und Bürger, die 80 Jahre und älter 1994 und in der mittelfristigen Finanzplanung einen werden, wird im Jahre 2000 bei rund 3 Millionen strikten Konsolidierungskurs vorgezeichnet. Was wir liegen. Danach wird sie noch deutlicher anwachsen. in den kommenden Jahren an Einsparungen vorgese- Zugleich -- dies ist ein Alarmsignal — öffnet sich die hen haben, liegt an der Untergrenze des absolut Schere zwischen aktiver Erwerbszeit einerseits sowie Notwendigen, nicht etwa, wie behauptet wird, an der Ausbildung und Ruhestand andererseits immer wei- Obergrenze. Die festgelegte Einsparsumme steht ter. Wer heute in Deutschland Abitur macht und nicht zur Disposition. Wer hier etwas ändern will, muß studiert, ist im Durchschnitt fast 30 Jahre alt, wenn er seriöse Alternativen vorschlagen. in das Berufsleben eintritt. Zugleich beträgt heute das Im Sozialbereich geht es dabei um den Umbau des durchschnittliche Renteneintrittsalter bei Männern Sozialstaates und in gar keiner Weise um den Abbau. 59 Jahre. Dies bedeutet, daß in vielen Fällen 50 Jahren Künftig müssen Eigenvorsorge und Selbsthilfe wieder Ausbildung und Ruhestand nur 30 Jahre produktive mehr Gewicht in der sozialen Sicherung erhalten. Erwerbstätigkeit gegenüberstehen. M an muß doch wirklich nicht viel diskutieren, um zu erkennen, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diese Rechnung nicht mehr aufgehen kann. Nicht alle Risiken dürfen auf die Gemeinschaft der Versicherten oder auf den Staat abgewälzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, das gesamtdeutsche Die Entwicklung von Demographie und Lebensar- Sozialbudget, das alle öffentlichen und privaten Sozi- beitszeit hat langfristig tiefgreifende Folgen, etwa für alleistungen umfaßt, beträgt inzwischen mehr als den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssy- 1 Billion DM. Daran gemessen machen die geplanten steme. Bei schon heute 1,8 Millionen akuten Pflege- Einsparungen bei den Sozialleistungen von rund fällen wird die Pflegeversicherung immer dringlicher. 15 Milliarden DM nur etwa 1,5 % aus. Von einem Wir müssen sie deshalb durchsetzen, und natürlich Anschlag auf den Sozialstaat kann deshalb in gar müssen wir ebenfalls durchsetzen, daß sich dadurch keiner Weise gesprochen werden. die Lohnnebenkosten nicht erhöhen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Im übrigen kann jeder, der einen Blick auf die ordneten der F.D.P.) Länder in unserer Nachbarschaft wirft, erkennen, was Mit der Rentenreform 1992 haben wir die Renten dort hinsichtlich der Zukunftssicherung geschieht. bis deutlich ins nächste Jahrtausend hinein auf eine Dort werden dramatische Einschnitte in soziale Lei- sichere und solide finanzielle Basis gestellt. Den 15656 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl heutigen Rentnern und den rentennahen Jahrgängen Autonomie von Arbeitgebern und Arbeitnehmern können wir sagen, daß ihre wohlverdiente Rente geschlossen. Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. sicher ist. Der hier im Haus zwischen den Regierungs- Aber Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen auch fraktionen und der SPD vereinbarte Rentenkonsens ihre gemeinsame Verantwortung für das Ganze bleibt unangetastet. Aber wahr ist ebenfalls, daß die erkennen. Generation der heute 30jährigen ein Recht darauf hat, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß wir gemeinsam darüber sprechen, wie ihre Rente eines Tages finanziert werden soll. Hierüber — und Was wir jetzt brauchen, sind mehr betriebsbezo- nicht über die Alterssicherung der Älteren — müssen gene Lösungen und flexiblere Arbeitszeiten, um in der wir nachdenken und sachlich miteinander diskutie- weltweiten Konkurrenz weiterhin an der Spitze mit- ren. halten zu können. Es ist höchste Zeit, von starren Arbeitszeitregelungen Abschied zu nehmen. So wäre Meine Damen und Herren, trotz der beschäfti- z. B. eine erhebliche Ausweitung der Teilzeitarbeit in gungspolitischen Erfolge der 80er Jahre in den alten unserem Land dringend notwendig. Bundesländern fehlen uns heute in ganz Deutschland rund 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze — (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) und dies, obwohl wir alle wissen, daß es genug Arbeit Ich glaube, das ist auch möglich, wenn sich die gibt. Es ist daher höchste Zeit, daß wir auch auf dem Verantwortlichen in den Bet rieben, in den Gewerk- Arbeitsmarkt bestehende Verkrustungen aufbre- schaften ernsthaft zusammensetzen, um neue Arbeits- Dies sind wir den vielen Menschen, deren chen. zeitmodelle zu entwickeln. Dies ist im übrigen auch Arbeitsplatz bedroht ist oder die ohne Arbeit sind, ein ganz entscheidender Beitrag zur Vereinbarkeit schuldig. von Familie und Beruf. Es ist doch völlig unverständ- Immer kürzere Arbeitszeit bei steigenden Lohnko- lich — und das ist eine Feststellung, die eigentlich sten, immer mehr Urlaub: Das ist keine Voraussetzung jeden umtreiben muß —, weshalb wir im internationa- für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit len Vergleich zu den Schlußlichtern beim Angebot unseres Landes. Wir haben in Deutschland im Durch- von Teilzeitarbeitsplätzen gehören. schnitt 6 Wochen Urlaub und 12 Feiertage pro Jahr. (Zurufe von der SPD) Bei der wöchentlichen Arbeitszeit liegen wir gleich- zeitig mit durchschnittlich 37,5 Stunden niedriger als — Ich weiß nicht, warum Sie dabei so unruhig sind. In alle unsere Konkurrenten. Dennoch scheint es für der Frage der Teilzeitarbeit müßten Sie doch auf viele nichts Wichtigeres zu geben, als über mehr Grund Ihrer Diskussion etwa um Frauenquoten und Freizeit nachzudenken. Meine Damen und Herren, ähnliches viel Beifall spenden, meine Damen und wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir Herren. unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organi- sieren. Wir müssen in allen Bereichen unserer Ökono- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mie die notwendigen Voraussetzungen für eine Was nützen denn Ihre Sonntagsreden, wenn Sie vor grundlegende Umkehr schaffen. Ort, in den Bet rieben nicht das Notwendige machen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, bei der Standortbestim- Untersuchungen im Auftrag der EG-Kommission mung für Deutschland geht es auch um die Frage nach über Maschinenlaufzeiten in der Europäischen den geistig - kulturellen Grundlagen unserer Zu- Gemeinschaft haben ergeben, daß die deutsche Indu- kunftssicherung. Deshalb gehört der gesamte Bereich strie gegenüber ihren Konkurrenten auch auf diesem der Bildung, Wissenschaft und Forschung in den Feld große Wettbewerbsnachteile hat. Mittelpunkt unserer Zukunftsvorsorge. müssen erkennen, daß sie eine Die Tarifpartner Als überzeugter Föderalist respektiere ich die in der besondere Verantwortung für Erhalt und Schaffung Verfassung festgelegte Kompetenzverteilung zwi- dauerhafter, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze ha- schen Bund und Ländern; aber, meine Damen und ben. Deshalb kann auch ihnen die Entwicklung der Herren, in der Bildungspolitik gibt es Entscheidun- Arbeitskosten nicht gleichgültig sein. Im Zeitraum von gen, die uns alle in Deutschland angehen, und es ist 1985 bis 1992 sind die westdeutschen Lohnstückko- kein Eingriff in Länderkompetenzen, wenn ich im e um 30 % gestiegen. Bei den drei sten in der Industri Rahmen dieser Regierungserklärung auch diese Fra- wichtigsten Konkurrenten auf dem Weltmarkt sind die gen anspreche. Lohnstückkosten erheblich weniger gestiegen. In Japan, in den USA und in Frankreich wiesen sie nur Die Bildungspolitik ist nicht irgendein Thema. Bil- Steigerungsraten von knapp 4 bis 11 % auf. Wer — wie dung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung z. B. viele mittelständische Maschinenbauunterneh- müssen in unserem Land den hohen Rang behalten, men, und diese Unternehmen sind ein Rückgrat der der ihnen zukommt. Das sind wir uns auch als Kultur- deutschen Wirtschaft — zugleich die gegenwärtigen nation schuldig. Wechselkursentwicklungen verkraften muß, gerät Bildung und Wissenschaft sind zugleich auch ein unter erheblichen Kostendruck und sieht sich dann Standortfaktor allererster Ordnung. Deshalb will ich eben im Extremfall zu Entlassungen gezwungen. in einem ersten Grundsatzgespräch im November mit Die Tarifpartner müssen auch erkennen, daß Tarif- allen Beteiligten über diese Frage sprechen. Unser abschlüsse und Arbeitszeitregelungen eine direkte Wissenschafts- und Bildungssystem steht auf dem Auswirkung auf die Wiedereinstellungschancen von Prüfstand. Vieles davon — ich nenne noch einmal das Arbeitslosen haben. Die Tarifverträge werden in duale System — ist gut und hat sich bewährt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15657

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Wahr ist aber auch, daß es grundlegende struktu- chen wir mehr berufliche Ausbildungsangebote, die relle Probleme gibt. Ich bleibe bei meiner Feststel- echte Alternativen zum Studium darstellen. Es gibt lung, die viele nicht gerne hören. Ich bin überzeugt, erfolgversprechende Initiativen. Etwa 3 000 deutsche daß die Gymnasialzeit mit neun Jahren zu lang ist. Unternehmen haben für das Ausbildungsjahr 1993/94 (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. rund 12 000 spezielle Ausbildungsplätze für Abitu- Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]) rienten angeboten. Diese Sonderausbildungsplätze sind auf große Resonanz bei den Abiturienten gesto- Über die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf ßen. Ich denke, es geht jetzt darum, auf diesem Weg 12 Jahre diskutieren wir ja jetzt ebenfalls schon seit noch weiter voranzukommen. Jahrzehnten. Jetzt, meine Damen und Herren, sind wir in der ganz unmöglichen Situation, daß in den Wir haben auch Grund, D ank zu sagen. In diesem meisten neuen Bundesländern 12 Jahre und im Jahr haben alle Beteiligten in Wirtschaft und Verwal- Westen immer noch 13 Jahre gelten. tung erneut ihre Bereitschaft zur Mitverantwortung für die Berufsausbildung junger Leute unter Beweis Auch die Studienzeiten sind viel zu lang. Unsere gestellt. Für alle ostdeutschen Lehrstellenbewerber, Hochschulabsolventen treten im internationalen Ver- die dies wollen, steht auch 1993 ein Ausbildungsplatz- gleich vier bis fünf Jahre zu spät ins Berufsleben ein. angebot zur Verfügung. Sie erleiden damit — und das wird in den nächsten Jahren noch stärker werden — erhebliche Nachteile (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) im immer intensiver werdenden Wettbewerb auf dem großen europäischen Arbeitsmarkt. Ich sage dies mit großer Dankbarkeit, denn, meine Damen und Herren, was in diesen Monaten im H and- In den Geistes-, Wirtschafts- und Gesellschaftswis- werk, in der Wirtschaft, aber auch in der Arbeitsver- senschaften hat die Zahl der Studienabbrecher mitt- waltung — das sage ich hier gern auch einmal — lerweile 30 % erreicht. Aber diese Prozentzahl, die ich geleistet wurde, ist beachtlich. hier so einfach vortrage, sagt ja nichts aus über das Schicksal der Betroffenen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ( [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Es widerlegt auch die Horrormeldungen, die von Viele verlieren die besten Jahre, bevor sie ihr Berufs- interessierter Seite unter die Leute gebracht werden. ziel erreichen. Fast ein Viertel der Hochschulabgän- Der Erfolg bei den Lehrstellen ist eine großartige ger findet heute keinen Arbeitsplatz, der ihrer Ausbil- Gemeinschaftsleistung, die weit über das Ökonomi-- dung angemessen ist. Dies ist doch für junge Leute sche hinaus Bedeutung hat. Ich hätte ganz gerne ein eine zutiefst frustrierende Erfahrung. Deswegen muß Wort des Dankes an die Beteiligten auch aus dem nicht nur nachgedacht, sondern auch gehandelt wer- Munde von Verantwortlichen in den neuen Ländern den. gehört! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zuruf von der SPD: Von der Regierung!) Die von mir beschriebene Fehlentwicklung, die Es macht auch wirtschaftlich keinen Sinn, junge ganz unbestreitbar ist, vor allem auch im Hochschul- Leute für Berufe zu qualifizieren, in denen es bereits bereich, kann nicht länger hingenommen werden — ein erkennbares Überangebot an Arbeitskräften gibt. und das nicht nur aus Kostengründen. Regelungs- Damit wird im übrigen ein beruflicher Verdrängungs- dichte und Überbürokratisierung im Hochschulwe- prozeß gefördert, dem am Ende die Schwächsten, die sen ersticken, wie jeder weiß, die Kreativität und die am wenigsten Qualifizierten, zum Opfer fallen. Eigeninitiative. Wo immer man mit Rektoren und Meine Damen und Herren, besonders alarmierend Professoren spricht, wird diese Klage laut. Es war ein ist, daß sich in Deutschland inzwischen ein absolut großer Fehler — ich bekenne mich als früherer Mini- unerträgliches Verhältnis zwischen der Zahl der Stu- sterpräsident ebenfalls dazu —, daß Aufsicht und denten und der Zahl der Lehrlinge entwickelt hat. Einflußnahme des Staates bis in alle Einzelheiten des Hochschulbetriebes ausgedehnt wurden. Diesen Feh- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ler müssen wir jetzt schnellstens korrigieren. Über 1,8 Millionen Studenten stehen ca. 1,6 Millionen (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Lehrlinge gegenüber. Diese Daten sind zwar wegen F.D.P.) der unterschiedlich langen Ausbildungszeiten nicht vergleichbar — das weiß auch ich —, aber sie kenn- Die Hochschulen brauchen mehr Eigenverantwor- zeichnen doch einen bedenklichen Trend zur Veraka- tung und Gestaltungsraum. Sie brauchen schlicht demisierung unserer Gesellschaft, der ganz gewiß mehr Autonomie. nicht eine bessere Zukunft verheißt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Wenn wir dieser zwingenden Forderung nachkom- men, dann können wir auch zu Recht unsere Forde- Diese Fehlentwicklung geht vor allem zu Lasten des rung gegenüber der Hochschule erheben, daß die Mittelstandes, einer der tragenden Säulen unserer Leistungskontrolle eben nicht nur bei den Studieren- Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Dort droht bei den durchgeführt wird, sondern auch bei den Hoch- einem Anhalten dieses Trends für die Zukunft ein schullehrern. Auch dies gehört zu den dringend not- empfindlicher Mangel an Nachwuchskräften. Um dies wendigen Veränderungen. zu verhindern, muß unser traditionell gutes Berufs- ausbildungssystem attraktiver werden. Dazu brau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 15658 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Wenn ich von diesen Korrekturen rede, will ich Unterhaltungselektronik, in der Bürotechnik und in gleich vorsorglich hinzufügen — denn ich weiß ja, wie der Laser-Technik. man Begriffe und Worte manipulieren kann — — Es ist besorgniserregend, daß die Ausgaben der (Zuruf von der SPD: Aha! — Freimut Duve Wirtschaft für Forschung und Entwicklung deutlich [SPD]: Das stimmt, das wissen Sie genau!) schwächer wachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil der Wirtschaft an der Finanzierung der natio- — An Ihrer Stelle wäre ich jetzt ruhig gewesen. Ihre nalen Forschungsausgaben ist zwischen 1989 und sonore Stimme ist für das, was ich eben beschrieben 1992 von über 62 % auf 58 % geschrumpft. Wir müssen habe, bekannt. uns angesichts dieser Tatsachen fragen, wie wir im Es geht dabei nicht darum, daß wir jungen Leuten Bereich der Forschung und der Entwicklung von Bildungschancen nehmen wollten. Jeder muß auch in Zukunftstechnologien verlorengegangenes Terrain Zukunft die Chance haben, zu dem Bildungsabschluß zurückgewinnen können. zu kommen, für den er geeignet ist. Aber angesichts Die erste und wichtigste Aufgabe ist es, den Stel- der immer drängender werdenden Fragen, wie es in lenwert von Forschung und Technologie in der unseren Hochschulen weitergeht, dürfen wir nicht die Gesellschaft wieder anzuheben, mit anderen Worten: Hände in den Schoß legen. ein forschungs- und technikfreundliches Klima zu Meine Damen und Herren, Spitzenleistungen in schaffen. Dies geht uns alle an. Forschung und Technik sind eine wesentliche Vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- aussetzung für zukunftssichere Arbeitsplätze. Als ordneten der F.D.P.) rohstoffarmes L and leben wir von der Kreativität und von der Qualität der Arbeit der Menschen in unserem Die Forschungspolitik muß sich dabei konsequenter Lande. Doch sind wir gerade im Bereich von For- auf die Stärkung des Standorts Deutschland konzen- schung und Hochtechnologie gegenüber wichtigen trieren. Die Konkurrenz auf den Weltmärkten, stei- Konkurrenten zurückgefallen. gende Investitionskosten und immer komplexer wer- dende Prozesse erfordern die Bündelung der For- Dies hat auch etwas mit der immer geringer gewor- schungsanstrengungen auf allen strategischen Fel- denen Akzeptanz von Fortschritt und Technik zu tun. dern. Wenn ich dies sage, weiß ich auch, daß der Satz gilt: Nicht alles, was wissenschaftlich-technisch machbar Meine Damen und Herren, die großen Forschungs- ist, ist auch ethisch verantwortbar. Aber ich will auch organisationen und unsere Forschungsstrukturen- vor der modisch gewordenen pauschalen Verteufe müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Auch hier lung von Forschung und Technik warnen, die uns in müssen wir Besitzstandsdenken und Verkrustungen eine Sackgasse gebracht hat. überwinden. Jeder von uns, der sich mit diesem Thema beschäftigt, weiß, wie schwierig es ist, in den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Forschungsorganisationen eine Verlegung aus Wer Technikfeindlichkeit predigt, wer den techni- Standorten der alten Bundesrepublik in die neuen schen Fortschritt durch Horrorszenarien als Gefahr Bundesländer vorzunehmen. Deswegen sage ich: verunglimpft, gefährdet die Zukunft des Landes. Auch da gibt es Besitzstandsdenken, das überwunden werden muß. (Zustimmung bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Nein, da wird ein neuer Popanz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aufgebaut!) Zugleich müssen wir das sind der Staat und die Niemand muß sich doch darüber wundern, daß heute Wirtschaft — im Bereich der Forschung vor allem die in Deutschland Umfragen zufolge 30 % der Menschen Entwicklung in den neuen Bundesländern sehen und glauben, der technische Fortschritt habe ihren ihr mehr Chancen geben. Wir werden bei der Verab- Lebensstandard verschlechtert, während dies in schiedung des Etats für 1994 dazu noch das eine oder Japan nur 4 % so sehen. andere an Möglichkeiten eröffnen. Es kann nicht sein, daß die alte DDR-Grenze jetzt zu einer Grenze im In den deutschen Unternehmen haben sich — auch Blick auf Forschung und Innovation wird. das ist wahr — bei Forschung, Entwicklung und Innovation Defizite angesammelt. So haben etwa in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Informationstechnik die Patentaktivitäten in ordneten der F.D.P.) Deutschland im Vergleich zum Weltdurchschnitt und Eine Schwachstelle in der Zusammenarbeit von insbesondere im Vergleich zu Japan und den USA Wissenschaft und Forschung mit der Wirtschaft ist die ständig abgenommen. Dies gilt, obwohl man korrek- mangelhafte Umsetzung von Grundlagenerkenntnis- terweise berücksichtigen muß, daß es bei Patentan- sen in marktfähige Produkte. Hier gilt es vor allem, meldungen in diesen Ländern eine unterschiedliche darum bemüht zu sein, daß die Wirtschaft die notwen- Praxis gibt. digen Anstrengungen unternimmt. In der Mikroelektronik schrumpfte die Zahl der Ich bringe ein Beispiel, das wohl ziemlich überzeu- deutschen Patentanmeldungen zwischen 1987 und gend ist. 1992 von 289 auf 181, während die Japaner ihre (Zuruf von der SPD: Na?) Anmeldungen von 17 408 auf 23 082 Patente steiger- ten. Auch die USA stehen mit einer Verdoppelung Ich erinnere daran, daß zu Beginn der siebziger Jahre ihrer Patentanmeldungen von 848 auf 1 671 wesent- in Deutschland und in den USA die ersten Fax-Geräte lich besser da als die deutschen Unternehmen. Wir entwickelt wurden. Die Hauptlieferanteile am heuti- sehen ähnliche Rückstände bei Großcomputern, in der gen Weltmarkt für dieses Produkt besitzt jetzt ein Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15659

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Unternehmen in Fernost. In diesem Zusammenhang dieses Beispiels muß man sich doch die Frage stellen, sind über 10 000 Arbeitsplätze in Deutschland nicht ob nicht eine Stärkung der Autonomie der Universitä- entstanden. ten größere Chancen für ein schnelles Umsetzen von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Entscheidungen bringt. ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dieses Beispiel zeigt, daß Unternehmungsgeist, Viele von uns haben ja miterlebt, wie für das neue Weitblick und Mut gefordert sind. Nur wenn wir im Messegelände in der Grundstein gelegt eigenen Land unter Beweis stellen, daß wir wurde. Auch unter den Bedingungen der Stadt Leip- anspruchsvolle Technologie bauen und betreiben, zig und in Anbetracht der Verwaltungsprobleme, die werden wir unsere Technologieprojekte auch auf den in den neuen Ländern gegeben sind, war es möglich, Weltmärkten anbieten und verkaufen können. in zwei Jahren die Planung abzuschließen. Ich (Beifall bei der CDU/CSU) behaupte hier, daß in kaum noch einer westdeutschen Großstadt in der gleichen Zeit ein gleiches Projekt in Es war für mich eine in höchstem Maße bedrük- dieser Größenordnung fertiggeplant werden könnte. kende Situation, als mich der Präsident Südkoreas fragte: Wo läuft bei euch in Deutschland dieser neue, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schnelle Zug, den ihr anbietet? — Am Beispiel des ICE ordneten der F.D.P.) können wir doch erkennen, daß die Verzögerung Ich frage mich beispielsweise, warum bis jetzt erst in wichtiger Entscheidungen wie des Baus der Eisen- drei Bundesländern die Genehmigungspflicht für bahnschnellstrecken uns Arbeitsplätze und damit ein Ein- und Zweifamilienhäuser abgeschafft wurde. Stück Zukunft kostet. Wenn drei Bundesländer das tun, könnten es doch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch alle anderen machen. In diesen Ländern muß der Bauherr sein Vorhaben lediglich der Bauaufsicht Ich nenne ein anderes Beispiel, den Transrapid. An melden und kann dann, sofern ein Bebauungsplan ihm kann und muß die deutsche Industrie ihre vorliegt, innerhalb von 14 Tagen — wenn kein Wider- Zukunftsfähigkeit unter Beweis stellen. Aber es kann spruch erfolgt — mit dem Bau beginnen. Ich brauche nicht angehen, meine Damen und Herren, daß der Ihnen nicht zu sagen — es ist der Alltag eines jeden Bund, der Staat, die unternehmerischen Risiken trägt Abgeordneten in seiner Sprechstunde —, wie die und daß anschließend die Wirtschaft den Gewinn Wirklichkeit bei Baugenehmigungen aussieht. abschöpft. Privates Engagement und Kapital werden - daher zu einer Schlüsselfrage für die Realisierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dieses Projekts. Die Bundesregierung hat im übrigen mit dem Inve- In Deutschland dürfen nicht langer nur Ideen ent- stitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz wickelt und Basiserfindungen gemacht, die Umset- wichtige Weichenstellungen vorgenommen, um Inve- zung dann aber anderen überlassen werden. Das ist stitionen in den alten und den neuen Ländern zu entscheidend für die zukünftige Entwicklung unserer erleichtern. So kann beispielsweise in den neuen Arbeitsplätze. Bürokratie, komplizierte Verwaltungs- Ländern von langwierigen Raumordnungsverfahren verfahren und überlange Genehmigungsfristen ver- abgesehen werden, wenn dadurch bedeutsame Inve- schleppen nicht nur den Ausbau einer modernen stitionen im Umweltbereich verzögert würden. Infrastruktur, sondern erschweren häufig auch die Im Wohnungsbau wird vor allem die Möglichkeit Ansiedlung moderner Indust rien am Standort eines verkürzten Bauleitplanungsverfahrens für die Deutschland. Ich nenne auch hier ein Beispiel: Wenn notwendige Dynamik sorgen. Auch die Abschaffung für die Genehmigung einer Anlage zur gentechni- unnötiger Doppelprüfungen im Bau- und Natur- schen Herstellung von Humaninsulin mehr als sechs schutzrecht durch ein Zusammenlegen der Verfahren Jahre vergehen, kann man doch nicht damit rechnen, ist seit langem überfällig. daß potentielle Investoren sich hierher gezogen füh- len. Dadurch verlieren wir Arbeitsplätze, und deswe- (Beifall bei der CDU/CSU) gen muß auch dies geändert werden. Ich erhoffe mir, daß durch dieses Gesetz eine Zeiter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sparnis bei der Realisierung wichtiger Investitionen ordneten der F.D.P.) von bis zu zwei Jahren möglich wird. Aber, meine Damen und Herren, es genügt nicht, hier ein Gesetz zu Im übrigen muß m an hinzufügen, daß eben nicht verabschieden, es muß auch in der Praxis durchge- nur Gesetze und Bestimmungen geändert werden setzt werden, und die Durchsetzung muß überprüft müssen. Es muß auch eine Änderung im H andeln werden. Das ist entscheidend. eintreten; denn es gibt ja auch gute Beispiele, daß unter den jetzigen gesetzlichen Bedingungen sehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- viel erreicht werden kann. ordneten der F.D.P.) Vor wenigen Tagen hatte ich die Gelegenheit, an Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die der Einweihung des neuen Universitätsgebäudes in zunehmende Mobilität unserer Gesellschaft und die Witten-Herdecke teilzunehmen. Dieser Neubau Individualisierung des Verkehrs — das erleben wir ja — wie jeder weiß, ein beachtliches Projekt — konnte täglich — lassen das Verkehrsaufkommen rasch stei- in einer Planungs- und Bauzeit von nur 30 Monaten gen. Durch die Öffnung Osteuropas haben die Ver- verwirklicht werden. Diese zügige Umsetzung einer kehrsströme von West nach Ost und umgekehrt enorm Idee ist darauf zurückzuführen, daß auch hier privates zugenommen. Für uns muß es deshalb darum gehen, Engagement die treibende Kraft war. Angesichts daß wir leistungsfähige und umweltschonende Ver- 15660 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl kehrssysteme entwickeln, die diesen Anforderungen Die Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutsch- gerecht werden. land, besser gesagt, die Zukunft Deutschlands ist eben nicht nur eine Frage der Kosten. Gefordert sind Im ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswe- Tugenden wie Leistungswille, Fleiß, Zuverlässigkeit geplan erhalten im kommenden Jahrzehnt die Inve- und Mitmenschlichkeit, aber auch der Mut zur stitionen in das Schienennetz erstmals Vorrang vor Zukunft. einem Ausbau des Bundesfernstraßennetzes. Das ist keine Absage an das Auto; auch das will ich hier klar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und deutlich sagen, weil auf diesem Feld eine große Ich habe aus gutem Grund in diesem Be richt die Heuchelei durchs Land geht. Es geht darum, die Generation der Rentner angesprochen, jene Genera- Zukunftsmöglichkeiten der Bahn endlich voll auszu- tion, die nach dem Krieg, nach den Zerstörungen des schöpfen. Es geht darum, zu einem vernünftigen Zweiten Weltkrieges unser Land unter schwierigsten Miteinander von Schiene und Straße zu kommen. Wir Bedingungen wieder aufgebaut hat. Das gleiche müs- wissen auch, daß es nur mit einem verstärkten Einsatz sen wir heute — in einem ganz anderen Umfeld — in von privatem Kapital möglich ist, dieses Ziel zu einer zweiten Phase des Aufbruchs schaffen. erreichen. Deswegen richte ich auch an dieser Stelle Die Bundesregierung will alle gesellschaftlichen an alle Verantwortlichen die dringende Bitte, daß die Gruppen mit diesem Bericht anregen, diese Heraus- Bahnreform — wir sind dabei schon ein gutes Stück forderungen anzunehmen und darüber zu diskutie- vorangekommen — jetzt endlich verabschiedet wer- ren, wie eigene, zusätzliche Beiträge zur Verbesse- den kann. rung der Zukunftschancen geleistet werden können. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft Wir wollen schon in den allernächsten Monaten und und das Investitionsklima in unserem Land stehen zu Beginn des kommenden Jahres diese Vorschläge auch in einem ganz engen Zusammenhang mit einer zusammenführen und, wo möglich, in ganz konkreten kostengünstigen Energieversorgung. Wir wollen eine Vorlagen und Beispielen dem Hohen Haus vortragen. umweltverträgliche und sichere Energieversorgung. Wer die Dinge erkennt und die Lage sieht, wie sie Dabei bleibt unser oberstes Ziel die Bewahrung der wirklich ist, weiß: Wir haben nur wenig Zeit. Es geht Schöpfung. Die Bundesregierung will einen breiten um die Zukunft; es geht um ein wirtschaftlich starkes, Konsens über einen vernünftigen und zukunftsfähi- um ein wettbewerbsfähiges L and. Es geht darum, gen Energiemix bei der künftigen Energieversorgung Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Damit geht es immer um den sozialen erreichen. Ich hoffe bei aller Unterschiedlichkeit der - Meinungen gerade zwischen Regierung und Opposi- Frieden. Es geht um unseren Beitrag für die europäi- tion sehr, daß wir gemeinsam der Auffassung sind, daß sche Zukunftsentwicklung. das Industrieland Deutschland sowohl die Kohle als Deswegen möchte ich Sie alle sehr herzlich einla- auch das Öl, das Gas und die Kernenergie braucht. den, sich an diesem Gespräch und — was noch wichtiger ist — an den notwendigen Entscheidungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu beteiligen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, viele (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und gewohnte Verfahrens- und Verhaltensweisen, Nor- der F.D.P.) men und Einstellungen sind heute nicht mehr ausrei- chend, wenn es um die Sicherung unserer gemeinsa- men Zukunft, um Freiheit, Wohlstand und soziale Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Sicherheit geht. Wem jetzt nichts anderes einfällt, als der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Oskar bloß alte Besitzstände zu verteidigen, der wird die Lafontaine. Zukunft nicht gewinnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): ordneten der F.D.P.) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unser Land steht vor einer einmaligen Her- Jeder muß wissen, daß Prioritäten neu bestimmt ausforderung: In ganz Deutschland fehlen 5 bis 6 Mil- werden müssen. Das heißt, wir müssen Gewohnheiten lionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Wenn wir an ändern und auch manche Ansprüche zurückstecken. dem Ziel festhalten, auch den Frauen den Zugang Ich kann nicht entdecken, daß diese Herausforderung zum Erwerbsleben zu ermöglichen, ist die Zahl von 5 eine Bedrohung ist. Aus meiner Sicht ist sie vor allem bis 6 Millionen noch viel zu gering angesetzt. Wir eine großartige Chance, und zwar eine Chance für uns müssen aber an diesem Ziel festhalten, denn ohne daß alle. den Frauen die Möglichkeit gegeben ist, sich eben- Viele von uns haben nicht nur mit Interesse, sondern falls am Erwerbsleben zu beteiligen, ist die Gleichstel- mit Bewegung die Rede des Präsidenten der EG- lung der Frauen in Beruf und Gesellschaft nicht Kommission Jacques Delors am Tag der Deutschen möglich. Einheit in Saarbrücken gehört, als er — an uns, die (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Deutschen, gerichtet — sagte: dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ist die Aufgabe, die Einheit im Herzen der Men- Diese Aufgabe, viele Arbeitsplätze zu schaffen, schen in Deutschland zu verankern, zu groß? müssen wir leisten vor dem Hintergrund einer explo- Fehlt es an der Bereitschaft, diese neue Welt zu dierenden Staatsverschuldung, akzeptieren? Ihre Nachbarn in Europa können (Zuruf von der CDU/CSU: Insbesondere im sich über soviel Kleinmut nur wundern. Saarland!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15661

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) und wir müssen sie leisten vor dem Hintergrund einer daß die Ertragsteuern gesenkt worden sind. Das ist sozialen Schieflage, die die soziale Stabilität unseres uns in der gegenwärtigen Situation angesichts der Landes bedroht. Wir müssen sie verbinden mit der sozialen Schieflage äußerst schwergefallen. Aufgabe, die Umwelt zu schonen und die Umweltbe- lastungen weiter abzubauen. Sie haben es begrüßt, daß der Bundesrat, d. h. daß die Sozialdemokraten verhindert haben, daß die Wir haben, nachdem der Bundeswirtschaftsminister Abschreibungsbedingungen in diesem Zusammen- zum Standortbericht der Bundesregierung hier in hang verschlechtert worden wären. Hätten wir dies diesem Hause Stellung genommen hat, nun mit Span- zugelassen, dann wäre das Gift für die Aufgabe nung erwartet, Herr Bundeskanzler, welche Ge- gewesen, durch neue Investitionen zusätzliche sprächsangebote Sie machen und welche Vorschläge Arbeitsplätze zu schaffen. Sie machen, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Ich möche zusammenfassend sagen, daß Sie punk- (Beifall bei der SPD) tuell zwar auf das eine oder andere, was vorgeschla- Sie haben den Hochschulbau angesprochen. Wir gen worden ist, eingegangen sind — ich denke stimmen Ihnen zu, daß hier unsere Zukunft zu suchen beispielsweise an die Forschung, ich denke auch an ist. Aber, verehrter Herr Bundeskanzler, die Dinge im eine etwas modifizierte Stellungnahme zur Arbeits- Hochschulbau gehen nicht deshalb zu langsam voran, zeitdebatte —, daß aber Ihre Vorschläge insgesamt weil die Genehmigungsverfahren zu lange dauern; nach unserer Auffassung nicht geeignet sind, die das ist ein besonderes Thema. Sie gehen deshalb zu Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik langsam voran, weil sich der Bund seit Jahren weigert, Deutschland zu bekämpfen und in den Griff zu in diesem Bereich seine finanziellen Verpflichtungen bekommen. gegenüber den Ländern zu erfüllen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der PDS/Linke Liste) Ich will sie in aller Kürze durchgehen: Sie plädieren Sie haben die Forschung angesprochen, Herr Bun- zunächst für die Bahnreform. Es ist unstreitig, daß die deskanzler. Wir begrüßen das sehr. Es zeigt, daß eine Bahnreform angegangen werden muß. Es ist ebenso Debatte auch zu Ergebnissen führt. Wenn, nachdem unstreitig, daß zunächst eine Übereinkunft des Bun- die Opposition das seit langem fordert und sich der des und der Länder über die Verteilung der damit Bundespräsident gestern dazu geäußert hat, jetzt der verbundenen Finanzlasten erfolgen muß. Das kann Bundeskanzler angeboten hat, über eine Aufstockung- man nicht einfach so oder so hinwegdiskutieren. der Mittel zu reden, dann begrüßen wir das. Machen Sie es konkret. Es war ein wirklicher Fehler, nach der Aber wenn die Bahnreform hier angesprochen Einheit den Forschungsetat einfach fortzuschreiben wurde und wenn wir über die Beseitigung der Arbeits- und für gesamtdeutsch zu erklären. Dadurch sind losigkeit diskutieren, dann müssen wir uns daran wichtige Forschungseinrichtungen nicht geschaffen erinnern, daß Sie angekündigt haben, Zigtausende worden, die dringend notwendig gewesen wären, um von Arbeitsplätzen im Bahnbereich abzubauen. Dies Investitionen zu fördern und neue Produkte zu ent- wird zumindest nicht als Signal zur Bekämpfung der wickeln. Arbeitslosigkeit verstanden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der PDS/Linke Liste) DIE GRÜNEN) Sie haben als zweites die Postreform angesprochen. Ich begrüße es ausdrücklich, daß Sie jetzt angeboten Daß es bei der Post Reformbedarf gibt, steht ebenfalls haben, die Mittel aufzustocken. außer Zweifel. Aber hier gilt dasselbe: Sie haben ebenfalls angekündigt, bei der Postreform Zigtau- Sie haben die Genehmigungsverfahren angespro- sende von Arbeitsplätzen abzubauen. Dies wird nicht chen. Wir stimmen Ihnen zu. Der Bundesrat hat in als Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland dieser Sache bereits zweimal Beschluß gefaßt. Wir verstanden. müssen hier alle Anstrengungen unternehmen, um Fehlentwicklungen der Vergangenheit, die gemein- (Beifall hei der SPD sowie bei Abgeordneten sam zu verantworten sind, zu korrigieren. der PDS/Linke Liste) Sie haben sich dann zur Arbeitszeit geäußert und Sie haben das Gentechnikgesetz angesprochen und haben einen Zungenschlag hineingebracht, den ich die Verbesserung der Genehmigungsverfahren, hier ansprechen möchte. Sie haben von fünf Millionen wenn es darum geht, gentechnische Anlagen zu fehlenden Arbeitsplätzen gesprochen. Ich sage: Wenn errichten. Das ist unstreitig. Wir stimmen Ihnen zu. Sie wir die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesell- sollten sich allerdings angesichts des Gesamtumsat- schaft ernst nehmen, sind es weitaus mehr. Dann hat zes, der auf diesem Gebiet in der gesamten Welt es keinen Sinn, ständig für die Verlängerung der getätigt wird, keine allzu großen Hoffnungen machen, Arbeitszeit zu plädieren. Das ist der völlig falsche daß hier jetzt der entscheidende Ansatz zur Bekämp- Weg. Es ist eine ideologische Blockade, der Sie fung der Arbeitslosigkeit gefunden werden kann. unterliegen. Geben Sie sie endlich auf! (Beifall bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Von Chemie und Biotechnolo (Beifall bei der SPD) gie haben Sie keine Ahnung!) Sie haben sie teilweise aufgehoben. Insofern waren Sie haben das Standortsicherungsgesetz angespro- Ihre Ausführungen widersprüchlich. Wer für eine chen. Auch ich will es gerne ansprechen. Es ist richtig, Ausweitung der Teilzeitarbeit plädiert, der plädiert 15662 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) für Arbeitszeitverkürzung, natürlich ohne vollen In der Ansprache zum dritten Tag der Deutschen Lohnausgleich. Einheit und heute wieder haben Sie selbst, Herr (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundeskanzler, andeutungsweise eigene Fehler ein- geräumt. Das verdient Respekt. Sie haben gesagt: Heben Sie doch hier Ihre ideologische Sperre auf, „Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme werden meine Damen und Herren! Wir werden die Probleme wir meistern. Allerdings wird vieles länger dauern des Arbeitsmarktes in Deutschland mit den klassi- und mehr kosten, als die meisten von uns — auch schen Rezepten von Wachstum und Beschäftigungs- ich — angenommen haben." zuwachs allein nicht lösen können. Wir werden auch Arbeit anders verteilen müssen. Wer den Menschen Nun haben Sie Ihren Beitrag in der heutigen etwas anderes sagt, der läuft wiederum in die Sack- Debatte mit dem Wunsch verbunden, daß es heute gasse, sie zu belügen oder Erwartungen zu wecken, nicht um Schuldzuweisungen geht und auch nicht die er überhaupt nicht einhalten kann. darum, Versäumnisse aufzuzählen. Ob Schuldzuwei- sungen weiterführen, mag dahingestellt sein. Aber (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Ihre Versäumnisse, Herr Bundeskanzler, müssen wir dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schon aufzählen. Das ist der Auftrag der demokrati- Das Wort vom „kollektiven Freizeitpark " kann auch schen Opposition. mißverstanden werden. Ich will es nicht polemisch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gegen Sie wenden. Aber wenn Diskussionen um des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Bun- Arbeitszeitverkürzung mit dem „kollektiven Freizeit- deskanzler Dr. Helmut Kohl: Weil Sie die park" begegnet wird: Wie muß das in den Ohren der Einheit nicht wollten, das ist das Faktum!) Millionen und Abermillionen Menschen klingen, die auf Arbeitzeit Nu ll gesetzt worden sind? Das ist der Auftrag der demokratischen Opposi tion. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und — Herr Bundeskanzler, ich greife gern Ihren Zwi- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schenruf auf. Wir müssen auch sehen: Massenarbeitslosigkeit ist (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Sie haben der Nährboden für steigende Kriminalität und für ja nie die Einheit gewollt!) zunehmenden Rechtsradikalismus. Wir bekämpfen Ihr Zwischenruf lautete: Sie haben nie die Einheit Kriminalität und Rechtsradikalismus nicht in erster Linie mit Gesetzen und Appellen, sondern mit dem gewollt. Abbau der Massenarbeitslosigkeit und der sozialen (Bundeskanzler Dr. Helmt Kohl: Nein, Sie Spannungen und Verwerfungen in unserem Lande. haben sie nicht gewollt, Sie nicht!) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Verehrter Herr Bundeskanzler, ich bedaure es auch dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nach einigen Gesprächen, die wir geführt haben, daß Die steigende Massenarbeitslosigkeit bedroht den Sie sich jetzt wiederum zu diesem Zwischenruf verste- inneren Frieden und die demokratische Stabilität hen. Ich will Ihnen eines sagen: Ich habe unter Einheit unseres Landes. verstanden, daß alle Menschen in Ost und West die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teil- (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) zunehmen und Arbeit zu finden. Deshalb sagen wir: Arbeitsplätze sichern und neue (Beifall bei der SPD) wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen muß end- lich zur Hauptaufgabe der deutschen Politik gemacht Ich habe große Sorgen gehabt, daß Ihre Entscheidun- werden. Wir brauchen mehr Wachstum und mehr gen diesen Prozeß erheblich erschweren. Beschäftigung. Nur so können wir Wohlstand und (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und soziale Sicherheit erhalten. Arbeit für alle in Ost und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zurufe West: Das ist der Schlüssel für die innere Einheit von der CDU/CSU) Deutschlands. Die deutsche Einheit, meine Damen und Herren, Die Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern, hat etwas wirklich Großes gebracht: Freiheit für meine Damen und Herren, ist nicht nur, wie Sie jetzt 16 Millionen Menschen. Diese Freiheit muß für die hier vorgaukeln wollen, ein Ergebnis vierzigjähriger Menschen in Ostdeutschland aber auch sozial erfahr- SED-Herrschaft, sie ist genauso — genauso, sage bar werden. ich — das Ergebnis einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Sie voll zu verantworten haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zurufe Dafür brauchen sie sichere Arbeitsplätze. von der CDU/CSU) Arbeit gibt den Menschen die Chance, ihr Leben Zu Ihren Versäumnissen, Herr Bundeskanzler, selbst in die Hand zu nehmen. Es wird soviel über gehört, daß Sie dem industriellen Zusammenbruch in Freiheit gesprochen. Freiheit heißt Übernahme des den neuen Ländern viel zu lange tatenlos zugesehen eigenen Lebens in die eigene Verantwortung. Wir haben. müssen aber die Möglichkeiten schaffen, daß die Menschen ihr Leben selbst verantworten, d. h. sich (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) ihre Existenz durch Arbeit selbst verdienen können. Zu Ihren Versäumnissen gehört, daß Sie mit dem (Beifall bei der SPD) Eigentumsprinzip „Rückgabe vor Entschädigung" bis Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15663

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) zum heutigen Tag das größte Investitionshindernis in die sozial ungerecht war und Investitionen blockiert den neuen Ländern geschaffen haben. hat.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD — Bundesminister dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Theodor Waigel: Das nehmen Sie sofort zurück! — Zuruf von der CDU/CSU: Große Ich füge noch etwas hinzu: Dieses Hindernis in den Sprüche und nichts dahinter!) neuen Ländern, das Prinzip „Rückgabe vor Entschä- digung" ist nicht nur ein Investitionshindernis; es ist Wenn wirtschaftliche Probleme auftauchen, dann auch eine soziale Ungerechtigkeit gegenüber den greifen Sie häufig auf die gleichen Rezepte zurück: Menschen in den neuen Bundesländern. neue Steuergeschenke für Unternehmen — möglichst auf Pump —, Abbau des Sozialstaats, Umweltschutz: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wenn überhaupt, dann im Rahmen der Europäischen PDS/Linke Liste) Gemeinschaft, und Verlängerung der individuellen Dieses Vermögen hätte in erster Linie zum Aufbau in Arbeitszeit. Mit diesen Rezepten sind die Probleme den neuen Ländern eingesetzt gehört und nicht für der Zukunft nicht zu lösen. Im Gegenteil, wenn m an Verwandte dritten Grades hier im Westen zur Verfü- and diesen Vorschlägen folgt, dann wird Deutschl gung gestellt werden müssen. noch tiefer in die Krise geraten, und die Arbeitslosig- keit wird sich weiter erhöhen. Deshalb müssen wir (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und darüber diskutieren. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Mit Ihrer sich hoffentlich noch in Ihrer Erinnerung befindenden Behauptung, für die deutsche Einheit Sie haben in Ihrem Standortbericht neue Unterneh- brauche man keine Steuererhöhungen, haben Sie mensteuersenkungen angekündigt. Ich sage Ihnen, verhindert, daß Bund, Länder und Gemeinden unmit- die sind überhaupt nicht zu finanzieren; sie würden telbar nach der Vereinigung mit Zukunftsinvestitions- die Staatsverschuldung noch weiter erhöhen. Mit dem programmen die Grundlage für den Aufbau der neuen umweltpolitischen Attentismus verspielen Sie die Länder geschaffen haben. Mit Ihren falschen Verspre- Chancen, die in einer ökologischen Modernisierung chungen von den blühenden Landschaften haben Sie unserer Wirtschaft liegen. Mit einer pauschalen Ver- auch die Tarifparteien in Ostdeutschland auf die längerung der Arbeitszeit würde die Arbeitslosigkeit falsche Fährte gelockt, Herr Bundeskanzler. noch weiter steigen. Ihr Kürzungspaket ist auch wirt- schaftspolitisch grundfalsch (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU und der F.D.P.) (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das ist falsch!) Deshalb sagen wir, auch wenn es schwer ist, die eigenen Versäumnisse stets zur Kenntnis nehmen zu und sozial ungerecht. Mit Ihren Kürzungen bei müssen, auch wenn es schwer ist, zuzugeben, daß man Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern verschärfen sich geirrt hat: Stehen Sie zu Ihren Versäumnissen! Es Sie die rezessiven Kräfte und vergrößern die Massen- ist auf jeden Fall Aufgabe der Opposition, diese arbeitslosigkeit. Versäumnisse darzulegen. Der Bundeskanzler hat weder das Recht, den Bundespräsidenten zu ernen- (Beifall bei der SPD — Bundesminister nen, noch das Recht, die Aufgabe der Opposition Dr. Theodor Waigel: Das ist schlichtweg abzuschaffen. nicht wahr!)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Bundesfinanzminister, ich greife Ihren Einwurf der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/ gern auf. Es kann sein, daß Einwendungen aus der DIE GRÜNEN) Wirtschaft, etwa von den Handelsverbänden, oder von den Forschungsinstituten Ihr Ohr nicht errei- Was wir brauchen, was die Wirtschaft braucht, sind chen. verläßliche und berechenbare Rahmenbedingungen. Gerade hier liegt ein Fehler der Wirtschafts- und der (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Steuerpolitik der letzten Jahre. An der Steuerpolitik Doch!) kann man das deutlich machen: Weil Sie nicht bereit waren, frühzeitig einzuräumen, daß Ihr Ansatz falsch Es bleibt aber die Tatsache, daß die niedrigsten war, daß Sie sich in großem Umfang geirrt haben, sind Einkommen — um solche handelt es sich bei Arbeits- Sie in der Steuerpolitik von einem Widerspruch zum losengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe — auch anderen mit großem Schaden für die Investitionen in angesichts der Preissteigerungsrate voll in den Kon- Deutschland gestolpert, denn Investitionen brauchen sum wandern. Wer also hier kürzt, beschneidet den verläßliche Rahmenbedingungen. Wer aber einmal Konsum und schadet der Konjunktur. Das ist das sagt, wir brauchen die Steuererhöhungen für Ruß- wirtschaftspolitische Einmaleins. land, dann sagt, wir brauchen sie für den Irak-Krieg, und dann sagt, wir brauchen sie für Europa, Europa (Beifall bei der SPD — Bundesminister zwingt uns dazu, und nicht einräumt, daß unsere Dr. Theodor Waigel: Ladenhüter! Nichts eigenen Probleme die Grundlage dieser Steuererhö- dazugelernt haben Sie! — Dr. Hermann Otto hungen waren, der hat dann eben eine Steuerpolitik Solms [F.D.P.]: Eine Argumentation der 70er zu verantworten, die ständig hin- und herschwankte, Jahre! Lange überholt!) 15664 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Mit den geplanten Einschnitten treffen Sie die gewandten, defensiven Rezepten reagieren. Wir kön- Schwächsten der Gesellschaft. nen nicht in einen quantitativen Abwertungswetllauf (Bundesminsiter Dr. Theodor Waigel: Sie mit allen Billigproduzenten dieser Welt eintreten. waren schon besser!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Dies trifft nicht zuletzt auch die Menschen in den Liste) neuen Ländern. Dieses Kürzungspaket ist auch keine Wenn wir Wohlstand und Beschäftigung, Sozial- wirkliche Sparpolitik, wie der Deutsche Städtetag staat und demokratische Stabilität dauerhaft sichern jetzt noch einmal eindrücklich dargelegt hat. wollen, müssen wir auf eine qualitative, vorwärts (Beifall bei der SPD) gerichtete Strategie setzen. Wir brauchen eine umfas- sende Modernisierung unserer Wirtschaft. Dabei Sie machen hier einen Verschiebebahnhof zu Lasten müssen Wirtschafts-, Finanz-, Technologie-, Umwelt- der Städte und Gemeinden auf und nennen dies und Bildungspolitik eng miteinander verzahnt und Sanierung des Staatshaushalts. Durch Ihre Kürzungen konsequent auf die Stärkung der internationalen werden Arbeitslose zu Sozialhilfeempfängern ge- Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes ausgerichtet macht. Dadurch werden die kommunalen Haushalte werden. in den nächsten Jahren mit jährlich 4 bis 6 Milliarden DM zusätzlich belastet. Ihr Kürzungspaket ist also Wir müssen darauf setzen, was unsere Wirtschaft ökonomisch falsch, sozial unzuträglich und ist eine stark und leistungsfähig gemacht hat: auf den Erfin- zusätzliche Belastung der Gemeinden, bei denen dergeist unserer Techniker und Ingenieure, auf die gerade die Investitionen getätigt werden sollen, von hohe Qualifikation und Motivation der Arbeitnehme- denen Sie soeben gesprochen haben. rinnen und Arbeitnehmer, auf die Flexibilität und (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Innovationsfähigkeit des Mittelstandes, auf die Ent- Liste) scheidungskraft und Risikobereitschaft des Manage- ments sowie auf die Erneuerungsfähgikeit der gesam- Sie tragen dann natürlich auch die Verantwortung ten Gesellschaft. für die Folgen dieses Verschiebebahnhofs, für den Anstieg der Gebühren und — ich sage das jetzt Wir müssen die Chance des industriellen Neuan- voraus — für den Anstieg der Gewerbesteuer. Man fangs in Ostdeutschland dafür nützen, dort eine hoch- kann auf der einen Seite immer wieder neue Steuer- leistungsfähige und innovative Industriestruktur auf- senkungen für Unternehmen ankündigen und zur zubauen. Das ist uns in Westdeutschland gelungen; Stabilisierung der Konjunktur für richtig halten. Wenn das muß uns auch in Ostdeutschland gelingen. Das ist man aber auf der anderen Seite auf die Gemeinden, der Weg zu unserem Ziel, so schnell wie möglich die wegen der explodierenden Sozialhilfeausgaben gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland herzustel- wirklich immer größere Schwierigkeiten haben, ihre len. Haushalte ordnungsgemäß auszugleichen, Wenn wir bedrohte Arbeitsplätze sichern und neue, ( [CDU/CSU]: Aber sie wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen wollen, können sparen!) muß der Zusammenhang von Lohn, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit beachtet werden. Dies liegt in weitere Belastungen verschiebt, dann zwingt m an die der Verantwortung der Tarifvertragsparteien. Gemeinden, die Gewerbesteuern anzuheben, was — da stimmen wir alle überein — im Moment wirklich Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich nicht gebraucht wird. bewährt. Die deutschen Tarifpartner haben in der Regel bewiesen, daß ihnen der Zusammenhang von (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Lohnentwick- Seifert [PDS/Linke Liste]) lung bewußt ist. Sie wissen, daß nur das verteilt Deshalb appelliere ich auch von dieser Stelle an die werden kann, was vorher erarbeitet worden ist. unionsgeführten Bundesländer, mit uns gemeinsam das Kürzungspaket der Bundesregierung im Bundes- (Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt doch rat zu stoppen. gar nicht! Wissen Sie das auch?) Meine Damen und Herren, mit dem Fall des Eiser- Das gilt ohne jede Einschränkung für Gesamtdeutsch- nen Vorhangs in Europa hat sich die Wettbewerbssi- land. tuation des Standorts Deutschland drastisch verän- Heute weiß jeder, daß das Schließen der Schere dert. Wir stehen heute nicht mehr nur in Konkurrenz zwischen Lohn und Produktivität in Ostdeutschland mit den Hochtechnologieproduzenten der USA, länger dauern wird, als das viele auf Grund der Japans und Westeuropas; wir stehen auch in einem Versprechungen der Bundesregierung, speziell des immer härter werdenden Wettbewerb mit den Nied- Bundeskanzlers, erhofft haben. Im Interesse der lang- riglohnländern in Mittel- und Osteuropa. Die Stun- fristigen Sicherheit der Arbeitsplätze sollte der denlöhne osteuropäischer Arbeiter sind konkurrenz- Anstieg der Einkommen soweit wie möglich dem los niedrig. Auch die Umweltstandards liegen dort Anstieg der Produktivität angenähert werden. Diese weit unter dem bei uns üblichen Niveau. stärker produktivitätsorientierte Einkommensent- Diese neue Situation hat den Wettbewerb der wicklung sollte von den Tarifparteien durch Investiv- Standorte um neue Investitionen und neue Arbeits- lohnvereinbarungen flankiert werden. plätze erheblich verschärft. Vor allem die neuen (Beifall bei der SPD) Länder sind dadurch in Bedrängnis geraten. Auf diese Herausforderung können wir aber nicht mit rückwärts Ich finde, daß wir hier eine große Ch ance haben. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15665

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Wenn wir es schon versäumt haben, das in den Die deutsche Einheit ist nicht denkbar ohne eine neuen Ländern vorhandene Privatvermögen dort in Solidargemeinschaft, die die Sozialversicherungen in erster Linie für den Aufbau der Arbeitsplätze zu Ost und West zusammenfaßt. An diesem Zusammen- nutzen, dann sollten wir die jetzt staatlich finanzierten schluß hat die SPD entscheidend mitgewirkt. Wir Modernisierungen der Produktionsanlagen mit einem haben die Rentenreform 1992 und die Einbeziehung Einstieg in die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen der Rentenversicherung der ehemaligen DDR in das und Arbeitnehmer am Produktivvermögen verbin- bundesdeutsche Rentensystem maßgeblich mitgestal- den. tet. Dazu stehen wir. Wir halten an der nettolohnbe- zogenen Rentendynamik in West und Ost fest. Ziel (Beifall bei der SPD) unserer Rentenpolitik ist es, den alten Menschen in Wenn wir für eine Verlangsamung der Einkom- Ost und West, Männern und Frauen ein gesichertes mensentwicklung plädieren, dann wissen wir, daß wir Leben im Alter zu garantieren. Wir sagen aber auch: den Menschen damit einiges zumuten. Wenn dadurch Die dabei notwendigen einigungsbedingten Leistun- aber Tausende von Arbeitsplätzen gerettet werden gen müssen von allen gemeinsam und dürfen nicht können, dann nutzt das den Arbeitnehmerinnen und allein zu Lasten der Beitragszahler finanziert wer- Arbeitnehmern und ihren Familien mehr als das den. Festhalten an unhaltbaren Versprechungen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Liste) Die Sozialdemokraten werden weiter dafür arbei- Wenn Sie sich, meine Damen und Herren von den ten, daß die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse Regierungsparteien, manchmal darüber wundern, möglichst schnell erreicht wird. Der beste Weg dazu daß die Stimmung im Lande schlechter geworden ist ist, daß möglichst viele Menschen ihren Arbeitsplatz und daß die Neigung wächst, andere Parteien zu behalten oder einen neuen bekommen. Das ist und wählen, dann müssen Sie sich die Frage stellen, woran bleibt das Hauptanliegen sozialdemokratischer Poli- das liegen könnte. Wir sind der Überzeugung, daß ein tik. entscheidender Fehler Ihrer Politik mit Grundlage (Beifall bei der SPD) dieser Entwicklung ist. Die Menschen haben den Eindruck, es geht in unserem Lande nicht sozial Weil Sie, Herr Bundeskanzler, zu Recht davon gerecht zu. Das gilt für die Besteuerung höherer gesprochen haben, daß Gewohnheiten aufgegeben Einkommen, das gilt aber im besonderen für den werden müssen und daß Opfer abverlangt werden schweren Fehler, die Lasten der Einheit einseitig den müssen, in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Sozialversicherungszahlern aufzubürden. Dies ist ein über die Einkommen der Spitzenverdiener in unse- unglaublicher Fehler; korrigieren Sie ihn endlich! rem Lande: Wir haben kein Verständnis dafür, daß Manager großer Konzerne, die Millionengehälter (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und beziehen, in dieser schwierigen Zeit für sich selbst dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf Gehaltssteigerungen beschließen, während sie von der CDU/CSU) gleichzeitig Massenentlassungen verkünden und von Wir wollen unser Land aus der Krise herausführen. den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Lohn- Dazu haben wir eine Strategie für Modernisierung, kürzungen fordern. Beschäftigung und umweltverträgliches Wachstum (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste erarbeitet. Diese Strategie ist bewußt gesamtdeutsch — Zuruf von der F.D.P.) angelegt. Nur wenn wir konsequent gesamtdeutsch Dieses Verhalten untergräbt die Solidarität und den denken und handeln, wird uns die innere Einheit sozialen Frieden in unserem Land. Wir können die gelingen. Auf dieser Grundlage schlagen wir folgen- Krise gemeinsam meistern. Dies geht aber nur auf der den 10-Punkte-Plan vor: Grundlage der sozialen Gerechtigkeit. Deshalb plä- Erstens. Wir brauchen jetzt einen nationalen dieren wir dafür — das ist ein Appell an uns alle: Wenn Beschäftigungspakt gegen Rezession und Massenar- wir von der breiten Mehrheit des Volkes Opfer ver- beitslosigkeit. Dazu genügt es nicht, daß sich Bund langen, dann müssen wir mit den Opfern zuerst bei und Länder zusammensetzen. Daran müssen sich den höheren Einkommen anfangen. Sonst haben wir auch die Tarifparteien und die Bundesbank beteili- keine Basis, um mit den Menschen zu reden. gen. Wir brauchen jetzt nicht einen sogenannten (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Solidarpakt, der in einem Bund-Länder-Finanzaus- — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wie bei gleich endet. Wir brauchen endlich einen nationalen den saarländischen Ministern!) Beschäftigungspakt. Wir von seiten der deutschen Sozialdemokratie bieten ihn an. Deshalb war es ein Fehler, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, die Verbrauchsteuern zu erhöhen und (Beifall bei der SPD) die kleinen Einkommen überproportional zu bela- Wir wollen einen klaren Vorrang für Arbeitsplätze sten. und für mehr soziale Gerechtigkeit. Dafür brauchen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste wir einen gesamtdeutschen Lastenausgleich mit einer — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Neues stärkeren Besteuerung hoher Einkommen und größe- saarländisches Ministergesetz als Beispiel!) rer Vermögen. Wir wollen mit diesen Mitteln Investi- tionen in neue Arbeitsplätze finanzieren. Um in Ost- Ich will auch ein Wort zu den Renten sagen. deutschland Arbeitsplätze zu retten und neue Arbeits- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sagen Sie plätze finanzieren zu können, muß — ich sagte es etwas zum saarländischen Ministergesetz!) bereits — der Einkommensanstieg in den neuen 15666 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Ländern stärker an der Produktivität orientiert wer- darüber einzutreten, auch von seiten der Bundeslän- den. Dies ist im Grunde unstreitig. der. Zweitens. Wir wollen die ökologische Modernisie- (Widerspruch und Zurufe von der CDU/CSU rung unserer Wirtschaft. Dabei muß die Bekämpfung — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Nicht der Arbeitslosigkeit mit dem Kampf gegen Umwelt- Dialog, Handeln; seit zehn Jahren wird gere zerstörung verbunden werden. Dazu gehört eine det!) Modernisierung des Umweltordnungsrechtes und — Verehrter Herr Zwischenrufer, Lautstärke ersetzt dazu gehört auch eine ökologische Steuerreform. Wir kein Argument. wollen die Arbeit verbilligen und den Energiever- brauch verteuern mit dem Ziel, einen Anreiz zu (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) schaffen, sich ökologisch vernünftig zu verhalten. Es hat aber nur einen Sinn, über die Verkürzung der Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen zuge- Erstausbildungszeiten zu reden, wenn man gleichzei- tig über den stimmt, als Sie das Gentechnikgesetz angesprochen Ausbau der beruflichen Weiterbildung haben. Es geht darum, Modernisierungen in Gang zu während des Arbeitslebens redet. Sonst macht Ihre bringen. Was wir aber nicht verstehen, ist folgendes: Politik keinen Sinn und liegt völlig daneben. Auf der einen Seite haben wir auch heute wieder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gelesen, daß wir in der Umwelttechnologie Spitze der PDS/Linke Liste) sind, daß wir dort einen hohen Anteil am Weltmarkt Es kann ja sein, daß Sie vergessen haben, warum in haben. Da wäre es doch sinnvoll, diesen Trend zu den 70er Jahren die Schulausbildungszeiten verlän- verstärken und Umwelttechnologie in unserem Land gert worden sind. Sie sind verlängert worden auch weiter zu fördern. unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsmarktes, weil (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten man damals Schwierigkeiten hatte, die Ausgebildeten der PDS/Linke Liste) auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Da wir auch jetzt große Schwierigkeiten haben, die Arbeitslosig- Wir sind der Auffassung, daß hier Zukunftsmärkte keit zu bekämpfen, müssen Sie doch hier das Problem erschlossen und Millionen wettbewerbsfähiger Ar- sehen, daß Sie nicht nur über Verkürzung der Erstaus- beitsplätze geschaffen werden können. bildungszeiten reden können. Wir reden mit Ihnen darüber, aber nur, wenn wir gleichzeitig über berufli- Drittens. Wir wollen Forschung, Entwicklung, Bil- che Weiterbildung und zusätzliche Qualifikation der dung und Wissenschaft stärken. Besonders für die Arbeitnehmerschaft reden können. wirtschaftliche Zukunft der neuen Länder ist der Wiederaufbau einer leistungsfähigen Forschungs- (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei landschaft von lebenswichtiger Bedeutung. Deshalb Abgeordneten der CDU/CSU — Clemens ist es ein schwerer wirtschaftspolitischer Fehler, daß Schwalbe [CDU/CSU]: Ist nicht alles Auf die Bundesregierung die Mittel für Forschung, Ent- gabe des Staates!) wicklung, Bildung und Wissenschaft zusammen- Viertens. Wir wollen ein Aufbauprogramm Ost. streicht. Statt unsere Volkswirtschaft durch mehr Damit wollen wir die Angleichung der Lebensverhält- Zukunftsinvestitionen zu stärken, planen Sie eine nisse in Deutschland voranbringen. Der Wiederauf- Kürzung der Gesamtinvestitionen um 5 %. Insgesamt bau der ostdeutschen Wirtschaft ist eine gemeinsame soll die Investitionsquote des Bundes von 14,8 % in Aufgabe, die im Interesse aller liegt. Wir wollen in den diesem Jahr, auf 13,1 % im Jahre 1997 zurückgeführt neuen Ländern mehr Investitionen in neue Arbeits- werden. plätze. Mit der Sanierung der mittelfristig wettbe- Wir halten diese Politik für falsch. Es ist begrüßens- werbsfähigen Kerne muß endlich Ernst gemacht wer- wert, daß der Bundespräsident auf diesen Fehler den. Die Betriebe müssen durch einen festen Sanie- hingewiesen hat. Wir begrüßen Ihr Angebot, hier eine rungszeitraum von drei bis fünf Jahren eine verläßli- Korrektur Ihrer Politik herbeizuführen. Natürlich che Perspektive erhalten. Die Absatzförderung für reden wir auch über die Finanzierung. Aber es muß ostdeutsche Produkte muß verstärkt werden. Meine schleunigst damit begonnen werden, in einem Land, Damen und Herren, hier sind wir doch in der Pflicht. das auf hochtechnologische Produkte angewiesen ist, Der Aufwertungsschock war für die ostdeutschen eine Forschungslandschaft aufzubauen, die der Wett- Betriebe kaum zu verkraften. Wir müssen deshalb alle bewerbsposition unseres Landes angemessen ist und Anstrengungen unternehmen, um Absatzförderung sie sichert. zu ermöglichen und neue Marktzugänge zu schaf- fen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der PDS/Linke Liste) Fünftens. Wir wollen einen klaren Vorrang für Wir wollen, daß „Made in " auf den Welt- Investitionen und neue Arbeitsplätze. Um wettbe- märkten wieder zum Gütesiegel für Spitzentechnolo- werbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und die Lei- gie und innovative Produkte wird. stungsfähigkeit unserer Wirtschaft zu erhöhen, wollen Hier eine Bemerkung zur Bildungspolitik. Auch wir öffentliche Zukunftsinvestitionen verstärken. Da- hier, meine Damen und Herren von den Koalitionspar-- her der Hinweis auf den Rückgang der Investitions- teien, gibt es einen wichtigen Unterschied. Es ist quote, eine Politik, die wir für falsch halten. durchaus berechtigt, über zu lange Erstausbildungs- Auch wollen wir die steuerlichen Födermaßnahmen zeiten zu reden. Wir sind auch bereit, in einen Dialog für private Zukunftsinvestitionen gezielt verbessern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15667

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Sie haben hier einen sehr merkwürdigen steuerpoliti- werden. Für die, die kürzer arbeiten, werden die schen Ansatz: Sie starren allzusehr auf die Nominal- Monatslöhne geringer sein, als dies ohne Arbeitszeit- sätze und übersehen, welche Vorteile die Volkswirt- verkürzung der Fall wäre. Das ist notwendig, um mehr schaft aus der intelligenten Steuerung der Abschrei- Arbeitsplätze zu schaffen und die Wettbewerbsfähig- bungsmöglichkeiten gezogen hat. Ich habe schon keit unserer Wirtschaft zu sichern. Wir begrüßen jetzt nicht verstanden, daß bei der Steuerreform Ende der ausdrücklich die Tarifverträge, die genau in diese 80er Jahre insofern anachronistisch vorgegangen Richtung zielen. Wir begrüßen, daß die Gewerkschaf- wurde, daß Investitionen in Umweltschutz und Ener- ten Arbeitszeitverkürzungen anbieten, um Beschäfti- gieeinsparung, die lange Zeit steuerlich gefördert gung zu sichern, und dabei bereit sind, Zugeständ- wurden, aus der Steuerförderung wieder herausge- nisse auf der Lohnseite zu machen. nommen wurden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Im übrigen: Sie sind doch auf diesem Weg. Sie Wir wollen dies rückgängig machen und haben im haben Teilzeitarbeit als ein Mittel angesprochen, um Standortsicherungsgesetz darauf geachtet, daß jetzt die Beschäftigungsprobleme in unserem Lande zu nicht — wie das Ihre Vorlage vorsah — diejenigen lösen und die Gleichstellung der Frauen in Beruf und bestraft werden, die investieren wollen. Deshalb war Gesellschaft, die Verbindung von Familienarbeit und es notwendig, die Abschreibungen zu erhalten. Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Dies ist richtig. Aber Wir wollen ebenfalls die Wohnungsbauinvestitio- dafür müssen wir auch die Voraussetzungen schaffen, nen erhöhen, da wir die Bekämpfung von Arbeitslo- und da sind wir alle gefordert. Hier müssen wir uns sigkeit mit einer Beseitigung der Wohnungsnot ver- alle an die Brust klopfen: Auch der öffentliche Dienst binden wollen. könnte an dieser Stelle mehr tun. Auf jeden Fall ist die Verlängerung der Arbeitszeit kein Mittel, zusätzliche Sechstens. Meine Damen und Herren, es geht auch Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu schaffen. um die Stärkung der privaten Nachfrage. Wenn man diese stärken will, dann muß die Kaufkraft der Bezie- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ her von kleinen und mittleren Einkommen und der CSU) Familien mit Kindern verbessert werden. Durch eine Achtens. Wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit. gezielte Senkung der Lohn - und Einkommensteuer, Dazu wollen wir die aktive Arbeitsmarktpolitik bes- die uns im übrigen das Verfassungsgericht aufgege- ser organisieren. Die Mittel, die jetzt noch vor allem ben hat, wollen wir die Steuerbelastung der Empfän- für die Bezahlung von Arbeitslosigkeit ausgegeben ger kleiner und mittlerer Einkommen wieder auf ein werden, müssen künftig verstärkt für die Finanzie- erträgliches Maß zurückführen. rung gesellschaftlich sinnvoller Arbeit eingesetzt wer- Wir wollen auch eine kräftige Erhöhung des Kin- den. dergeldes auf 250 DM für jedes Kind. Mit dieser (Zurufe von der CDU/CSU) Reform des Familienlastenausgleichs schaffen wir mehr Gerechtigkeit, ohne die öffentlichen Haushalte Der reguläre Arbeitsmarkt mit wettbewerbsfähigen zusätzlich zu belasten. Arbeitsplätzen muß Vorrang haben. Mit einem öffent- lich geförderten Arbeitsmarkt wollen wir aber eine In keinem Fall aber verträgt es die Konjunktur, daß Beschäftigungsbrücke in diesen regulären Arbeits- jetzt die niedrigsten Einkommen von der Bundesre- markt schaffen. Und das geht, wie wir aus der Praxis gierung gekürzt werden sollen. Diese unsoziale und der Gemeinden wissen. wirtschaftspolitisch falsche Entscheidung muß zu- rückgenommen werden. Als Instrument dafür sollen entweder direkte Lohn- kostenzuschüsse gewährt oder Zuschüsse für die (Beifall bei der SPD) Durchführung gesellschaftlich sinnvoller Arbeiten Siebtens. Wir wollen eine intelligentere und gerech- gezahlt werden. Dabei stellen wir aber klar: Auch für tere Verteilung der Arbeit. Ich wiederhole: Niemand öffentlich geförderte Arbeitsverhältnisse müssen Ta- von uns ist so naiv, zu glauben, die Schaffung zusätz- rifverträge gelten. licher Arbeitsplätze sei allein ein verteilungspoliti- Wir brauchen — und das dürfen wir angesichts der sches Problem. Angesichts der Entwicklung in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die wir haben, nicht Gesamteuropa und in der OECD aber stellen wir fest, aus dem Auge verlieren — zusätzliche Anstrengun- daß sich die Massenarbeitslosigkeit, was den Sockel gen, um die Gleichstellung von Mann und Frau im angeht, von Konjunktur zu Konjunktur immer weiter Wirtschaftsleben zu verwirklichen. Es ist widersinnig, erhöht. Diese Entwicklung kann man doch nicht daß in der Wirtschaft teilweise über Facharbeiterman- einfach nur zur Kenntnis nehmen. Sie ist eine Gefahr gel geklagt wird, während gleichzeitig die immer für unsere demokratische Stabilität. Die Lehre der besser werdende Ausbildung der Frauen unzurei- Weimarer Republik ist doch: Hohe Massenarbeitslo- chend genutzt wird. sigkeit führt zu extremem Wahlverhalten. Deshalb sind wir es der Demokratie schuldig, daß wir die (Beifall bei der SPD) Massenarbeitslosigkeit auch verteilungspolitisch an- Hier ist auch in der Wirtschaft ein Umdenken notwen- gehen. dig. Wenn wir die Probleme unseres Landes lösen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke wollen, müssen künftig viel stärker als bisher Frauen Liste) in verantwortungsvolle und besser bezahlte Positio- nen kommen können. Wir sagen: Arbeitszeitverkürzung muß selbstver- ständlich auf der Einkommensseite berücksichtigt (Beifall bei der SPD) 15668 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Das ist nicht zuletzt ein Gebot der sozialen Stabilität Das wäre sinnvoller, als steuerpolitisch schwerpunkt- und der ökonomischen Vernunft. mäßig immer nur in die Richtung großer Unternehmen Neuntens. Meine Damen und Herren, wir wollen zu gehen. eine Reform der Kosten der Arbeit. Um bestehende (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bernd Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, wollen Henn [PDS/Linke Liste]) wir die Wettbewerbsfähigkeit des Faktors Arbeit ver- Hier haben Sie strukturelle Fehler gemacht. So sehr bessern. Dazu gehört eine Senkung der gesetzlichen es begrüßenswert ist, wenn immer wieder die Bedeu- Lohnnebenkosten und eine Senkung der Sozialversi- tung des Mittelstandes und der kleinen Betriebe in cherungsbeiträge. den Vordergrund gestellt wird, insbesondere wenn es Wenn wir über Leistung sprechen, dann dürfen wir um die Stabilisierung der Beschäftigung geht, so sehr nicht immer nur die Erträge der Wirtschaft oder die müssen wir darauf bestehen, daß sich auch die Unter- Anreize für die investierende Wirtschaft oder Anreize nehmensteuerreform nach diesen Kriterien richtet. für denjenigen, der Kapitaleinsatz riskiert, sehen. Deshalb haben wir beispielsweise die Staffelung bei Wenn wir über Leistung sprechen, dann müssen wir — der Gewerbeertragsteuer zusammen vereinbart. Des- und darüber wird viel zu wenig gesprochen — auch halb haben wir für die Kleinstunternehmen den Frei- über die Anreize für die Arbeitnehmerinnen und betrag der Gewerbeertragsteuer nach oben gesetzt Arbeitnehmer sprechen, die wir nicht mit allzu hohen und haben insoweit die Vorlage der Bundesregierung Sozialversicherungsbeiträgen und mit allzu hohen verändert. Ich erwähne hier das Kapitel Vermögen- Steuern belasten dürfen. steuern. Es ist sinnvoller, die Arbeit zu verbilligen und auch denjenigen Anreize zu geben, die wenige (Beifall bei der SPD) Beschäftigte haben. Denn wir brauchen jeden Schritt, Wenn dort nämlich die Leistungsbereitschaft sinkt, der geeignet ist, die Arbeitslosigkeit in Deutschl and dann hat die deutsche Volkswirtschaft einen weitaus abzubauen. größeren Schaden, als wenn da oder dort vielleicht (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bernd etwas versäumt wird, um zusätzliche Steuersenkun- Henn [PDS/Linke Liste]) gen, etwa auf der Ertragsseite oder andernorts, durch- zuführen. Deshalb ist hier eine besorgniserregende Zehntens. Meine Damen und Herren, wir wollen Entwicklung. Wenn der Durchschnittsverdiener von dazu beitragen, die Staatsfinanzen zu sanieren. Des- einer Mark nur noch 60 Pfennig behält, dann stellt er halb wiederhole ich noch einmal: Wer die Staatsfinan- sich allmählich die Frage, warum er eigentlich noch zen sanieren will, muß bereit sein, unpopuläre Ent- arbeiten geht und ob er nicht auch — wie eine scheidungen zu treffen; Minderheit — der Versuchung erliegen soll, durch (Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig!) Schwarzarbeit und Bezug sozialer Leistungen sein er muß bereit sein zu Einnahmeverbesserungen und Einkommen zu erhalten. Das ist ein echtes Problem. zu Ausgabenkürzungen. Wir sind dazu bereit. (Zurufe von der CDU/CSU) (Michael Glos [CDU/CSU]: Das zweite ist — Wenn auch Sie das sagen und dem zustimmen, ist richtig!) das ja gut. Dann fordern wir Sie nur auf, dieses Wir wollen Einsparungen auf allen Ebenen, und wir Mißverhältnis zu korrigieren, das darin besteht, daß wollen den Abbau überflüssiger Steuersubventio- von Ihnen allein die Beitragszahler zur Finanzierung nen. der deutschen Einheit herangezogen worden sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Auch bei der (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Kohle!) Liste) Wir wollen die Modernisierung der öffentlichen Ver- Dieser Zustand ist in doppeltem Sinne unhaltbar. Er waltung und den Abbau überflüssiger Staatsbürokra- mindert die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehme- tie. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Wirt- rinnen und Arbeitnehmer, und er ist verteilungspoli- schaftskriminalität. tisch ungerecht. Wenn wir die Lohnnebenkosten sen- Um den Zwischenruf „Ja, auch bei der Kohle" ken, die ja auch ein Problem sind, dann ist das ein aufzugreifen: Die Vereinbarung des Jahres 1991, zu gescheiterter Ansatz für eine Unternehmensteuerre- der Sie nur noch unter Vorbehalt stehen, sah doch vor, form. Zigtausende von Arbeitsplätzen im Bergbau abzu- Und ich sage hier auch: Um das finanzieren zu bauen. Rufen Sie doch nicht immer wieder dazwi- können muß einiges von dem, was Sie auf den Weg schen: „Auch bei der Kohle"! Wir haben doch mit den gebracht haben — ich denke an die steuerliche Beschäftigten im Bergbau einen großen Schritt getan, Behandlung des Betriebsvermögens —, in Frage der endlich einmal Anerkennung finden sollte. gestellt werden. Denn wenn m an beispielsweise, wie (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bernd Sie das gemacht haben, die Bilanzwerte anders Henn [PDS/Linke Liste]) ansetzt, verschafft man Unternehmen mit hohen Ver- mögen beträchtliche Steuererleichterungen. Darauf haben wir bei den letzten Steuerrunden hingewiesen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Ministerpräsident, Wir halten es aber für sinnvoller, stattdessen — ich darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. — Ich bin sage: stattdessen — durch Senken der Lohnnebenko- jetzt in einer etwas schwierigen Situation. Sie haben sten auch den Kleinstbetrieb, der einen Beschäftigten natürlich als Mitglied des Bundesrates jederzeit — nir- hat, zu entlasten. gends steht, wie lange — Rederecht. Es gibt eine (Beifall bei der SPD) Vereinbarung im Ältestenrat, daß jede Fraktion in der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15669

Vizepräsident Hans Klein ersten Runde nur die Hälfte der ihr zustehenden durch ihre wegweisende Klarheit und durch ihre Redezeit beanspruchen soll. konkreten Ansätze beeindruckt hat. (Michael Glos [CDU/CSU]: Das weiß er (Beifall bei der CDU/CSU) nicht!) Für die CDU/CSU-Fraktion bedanke ich mich sehr Sie sind schon ein großes Stück darüber hinaus, und herzlich beim Bundeskanzler für diese programmati- für den nächsten Redner Ihrer Fraktion ist kaum mehr sche Rede. etwas übrig. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfg ang Schäuble [CDU/CSU]: Der Dieser Vormittag war aber auch bereits geprägt nächste ist Thierse; für den bleibt also nichts! durch Kontraste, Hell und Dunkel. Wenn die Bürger — Michael Glos [CDU/CSU]: Egoistische Welt!) draußen im Lande heute die Regierungserklärung des Bundeskanzlers an den Fernsehschirmen verfolgt haben, um anschließend die Darbietung des saarlän- dischen Ministerpräsidenten zu hören und alternative Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): Herr Bundestagspräsident, ich komme zum Schluß. Konzepte zu suchen, dann, liebe Kollegen, ist mir nicht bange, wein die Bürger dieses L andes im näch- Wir wollen nicht nur die Steuersubventionen sten Jahr weiterhin ihr Vertrauen schenken werden. abbauen, wir wollen ebenfalls die Wirtschaftskrimina- lität bekämpfen, Subventionsbetrug verhindern und Die Führung der SPD-Fraktion, Herr Klose, hat es die systematische Steuerhinterziehung bekämpfen. für richtig gehalten, als ersten Redner nach dem Bundeskanzler Herrn Lafontaine für sich sprechen zu Meine Damen und Herren, wir appellieren an Sie: lassen — nicht den Fraktionsvorsitzenden, nicht den Reden Sie nicht in erster Linie immer nur über den wirtschaftspolitischen Sprecher. Es kann also nur so Mißbrauch sozialer Leistungen; reden Sie genauso sein, daß Herr Scharping sein Schattenkabinettsmit- über Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung glied, den finanz- und wirtschaftspolitischen Gesamt- und Subventionsbetrug! supermann, hier vorstellen wollte. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bernd (Zurufe von der SPD) Henn [PDS/Linke Liste]) Das verstehe ich nun aber gar nicht, da sich Herr Das Entscheidende, was wir jetzt schaffen müssen, Thierse, der sich hier mit besonderen Zwischenrufen ist, die Arbeitslosigkeit in Deutschland zurückzufüh- befleißigt, Frau Hildebrandt, auch die SPD-Vorsitzen- ren. Wenn das nicht gelingt, dann kann ich die den von Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklen- Wahlergebnisse der nächsten Zeit voraussagen. burg-Vorpommern von Lafontaine als wirtschafts- Dabei geht es nicht in erster Linie darum, wer welchen und finanzpolitischem Sprecher distanziert haben. — Anteil hat, sondern es geht für mich um die Stabilität Vielleicht, Herr Thierse, hat er Ihnen, weil er sich unserer Demokratie. geärgert hat, deswegen heute die ganze Redezeit Demokratie heißt für Sozialdemokraten: Teilhabe weggenommen. Nicht einmal beim Reden kann er am gesellschaftlichen Leben. Teilhabe am gesell- teilen. schaftlichen Leben heißt, die Möglichkeit zu haben, einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden. Deshalb heißt (Beifall bei der CDU/CSU) deutsche Einheit für uns in erster Linie: Geben wir Herr Stolpe spricht von unverantwortbaren und allen Menschen, die es wollen, die Möglichkeit, sich taktisch unsinnigen Vorschlägen von Herrn Lafon- am Erwerbsleben zu beteiligen und ihr Leben über taine. Das Urteil von Frau Schröter aus Thüringen, die Arbeit selbst zu gestalten! dort SPD-Vorsitzende ist, ist noch unfreundlicher. Sie (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD beurteilt Ihre wirtschaftspolitischen Thesen, Herr sowie des Abg. Bernd Henn [PDS/Linke Lafontaine, als volkswirtschaftlichen Unfug, und Liste] — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Herr unser geschätzter Kollege Rudi Walther, der Vorsit- Thierse, er teilt ja nicht einmal die Zeit mit zende des Haushaltsausschusses des Bundestages, Ihnen!) meint gar, er muß in psychiatrische Behandlung. — Herr Ministerpräsident, ich weise natürlich, auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion, mit Empörung und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Kurt Abscheu diese Bemerkung von Herrn Walther zurück. Faltlhauser, Sie haben das Wort. — Aber, Herr Klose, Sie müssen sich als SPD schon fragen: Für wen hat hier Lafontaine eigentlich gere- det? Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Präsident! (Wolfgang Thierse [SPD]: Für uns!) Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland steht vor großen Herausforderungen im Für sich alleine? Für das Land an der Saar? Als europäischen und weltweiten Wettbewerb, vor einer wirtschafts- und finanzpolitischer Kofferträger für außergewöhnlichen Aufgabe zur Auflösung verkru- Herrn Scharping? steter Strukturen zu mehr Beweglichkeit, zu mehr Aus den Zitaten, die ich Ihnen vorgelesen habe und Innovation und zu mehr Leistung. In dieser Situation die ich Ihnen beliebig erweitern könnte, ist doch hat der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hier sicherlich herauslesbar: Für die SPD spricht Herr heute eine Regierungserklärung abgegeben, die Lafontaine offenbar nicht. durch ihre mutigen Akzente, Sie müssen sich entscheiden. Entweder Sie stehen (Lachen bei der SPD) zu dem, was Herr Lafontaine in wirtschafts- und 15670 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Kurt Faltlhauser finanzpolitischen Fragen hier und anderwärts sagt, Mickymaus-Qualität. Ich glaube, da sollten Sie nicht oder Sie entlassen Herrn Lafontaine aus der über- so mutig sein, uns hier so etwas vorzuwerfen. schweren Aufgabe, die ihm der Parteivorsitzende offenbar zugedacht hat. Ich glaube, das, was sich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gegenwärtig abspielt, ist eine Dokumentation der Noch etwas: Herr Ministerpräsident, der Bundes- wirtschafts- und finanzpolitischen Zerrissenheit. Hier kanzler hat in seiner Einleitung mit Recht darauf redet einer, der die Rückendeckung der gesamten hingewiesen, daß uns die aktuellen Ereignisse in Partei erkennbar und überall nachlesbar nicht mehr Rußland wieder vor Augen geführt haben, daß die hat. schnelle Wiedervereinigung im Jahre 1990 für uns alle ein großer Glücksfall war, und daß im Jahre 1990 (Zuruf von der SPD: Wo ist denn Ihre Rücken nur für eine kurze Zeit die Chance zur Wiederverei- deckung? — Dr. Uwe Küster [SPD]: Und hier nigung bestand. redet einer, der keine Ahnung hat!) Ich habe heute noch einmal Ihre damaligen Aussa- Die Aussagen von Herrn Lafontaine sind geprägt von gen aus dem Jahr 1990 nachgeprüft. Ich betone im Widersprüchlichkeit und von Mut — Mut im Sinne von Lichte dieses Nachlesens, dieser Prüfung: Sie haben Chuzpe. damals abgeraten, den mutigen Schritt zur schnellen Herr Lafontaine, Sie reden von Wettbewerbsfähig- Wiedervereinigung in dieser historischen Sekunde zu keit unserer Wirtschaft; gleichzeitig aber sind Sie, tun. Sie, Herr Lafontaine, waren damals kein guter etwa heute in Ihrer Rede, strikt gegen den Abbau von Ratgeber in der Frage der Einheit, und heute haben Arbeitsplätzen bei der Bahn. Wie wollen Sie denn die Sie mit Ihrer Rede bewiesen, daß Sie auch kein guter Bahn zukunftsfähig machen, wenn nicht auch Arbeits- Ratgeber in der Frage des Standorts Bundesrepublik plätze abgebaut werden? Deutschland sind. Sie reden von Wettbewerbsfähigkeit und verteidi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen weitere Arbeitszeitverkürzungen, weitere sche- Lassen Sie mich nun zu zwei Kernbereichen der matische Aufteilung des Vorhandenen. Nicht Arbeits- Standortproblematik besondere Anmerkungen ma- zeitverkürzungen sind notwendig, sondern mehr Fle- chen: auf der einen Seite zur Energiesicherheit und zu xibilität der Arbeitszeit. Auf der Basis des neuen den Energiekosten in unserem Lande und zum ande- Arbeitszeitgesetzes werden die Tarifpartner in beson- ren zur technologischen Zukunft Deutschlands. derer Weise aufgefordert sein, dies zu realisieren. Meine Damen und Herren, in acht Tagen werden wir in der Verhandlungsrunde des Energiekonsenses in Sie sprechen vom Abbau von Steuersubventionen. einem ernsten Gespräch klären müssen, ob SPD, Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, Herr F.D.P. und CDU/CSU gemeinsam in der Lage und Ministerpräsident, daß diese Koalition gerade in den bereit sind, noch in diesem Jahr die Grundlagen für letzten dreieinhalb Jahren Steuersubventionen in einen Energiekonsens zu legen. einer Größenordnung von jährlich ca. 38 Milliarden DM abgebaut hat, die auch in diesem Jahr wirksam (Michael Glos [CDU/CSU]: Nur wenn es kein werden? Gerade hier aber hat Ihre Fraktion und haben fauler Kompromiß ist!) auch Sie im Bundesrat ständig gegengehalten und — Ich persönlich würde mir einen entsprechenden gesagt: Das ist Abbau, den wir nicht wollen. Sie sollten Konsens sehr wünschen, einen Konsens, Herr Kollege vor allem auch bei den Finanzhilfen mithelfen, daß Glos, ohne taktische Hintertürchen, ohne verne- Subventionen abgebaut werden. Aber da bet rifft es belnde Formulierungen und ohne spinatgrüne ideolo- wieder das Saarland, da sind Sie dann nicht mehr gische Utopien. dafür. (Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Mut im Sinne von Chuzpe in Ihrer Aussage bewei- DIE GRÜNEN) sen Sie, wenn Sie hier doch tatsächlich von der Staatsverschuldung des Bundes reden. Sie, dem der — Fühlen Sie sich da auch schon angesprochen, meine Präsident des Rechnungshofes Ihres Landes jährlich Kollegen von der SPD? Das ist wunderschön. Wissen immer wieder neu vorwirft, daß Ihr Haushalt verfas- Sie, es ist bei den Konsensgesprächen immer wie folgt sungswidrig ist, gewesen: Wenn die SPD-Ministerpräsidenten geredet haben, haben sie immer seitlich zu Herrn Fischer (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) herübergeschaut, ob sie das, was sie gesagt haben, auch wirklich sagen durften. So angegrünt sind sie rufen hier gleichzeitig von diesem Platz aus die nämlich bereits. So weit sind wir in diesem Lande. Ministerpräsidenten der Bundesrepublik Deutsch- land auf, sie sollen dem Sparpaket widersprechen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Genau Was wollen Sie nun? Wollen Sie den Haushalt konso- so ist die Wahrheit! — Eduard Oswald [CDU/ lidieren, oder wollen Sie mit den Ministerpräsidenten CSU]: So weit sind wir schon! — Beifall bei gegen Sparmaßnahmen vorgehen? der CDU/CSU — Detlev von Larcher [SPD]: So ein Quatsch!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das weiß er selber nicht!) Wir brauchen für die Arbeit der bestehenden Unter- nehmen in diesem Land und für die Investoren von Mut auch, Herr Ministerpräsident: Sie polemisieren - außen eine tragfähige und langfristige Perspektive für gegen die zugegebenermaßen zurückgehende Inve- preiswerte Energien. Die hohen Energiepreise in der stitionsquote des Bundes. Schauen Sie sich doch Bundesrepublik Deutschl and sind ein Standortnach- einmal die Investitionsquote in ihrem Land an! Die hat teil besonderer Qualität. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15671

Dr. Kurt Faltlhauser Der durchschnittliche Strompreis der EG liegt um der möglichen Ergänzung der Haushaltsansätze. 28 Prozent niedriger als in Deutschl and. Denn das, was in unserem Staat heute generell gilt, daß wir nämlich umbauen müssen, daß wir mit Krea- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) tivität bürokratische Strukturen überdenken müssen, Für stromintensive Betriebe ist dies ein fast unwider- muß auch im Bereich von Forschung und Technologie stehlicher Anreiz zum Ausflaggen. gelten. Ein mittelständisches Unternehmen aus der Textil- In den heutigen Zeitungen können wir ja nachlesen, branche muß in Deutschland mit 18,65 Pfennig/ daß die Kollegen Lenz und Maaß den Vorschlag Kilowattstunde rund 6,8 Pfennig pro Kilowattstunde gemacht haben, einen Strategierat „Technik" einzu- mehr als seine Konkurrenten in Frankreich, in der richten. Das könnte ein Ansatz zur besseren Koordi- Schweiz, in Österreich oder in Italien bezahlen. Insge- nation sein. Hier müssen wir weiter fortschreiten. samt entstehen diesem mittelständischen Beispielun- Mir scheint, daß mehr Geld zwar bedeutsam ist, ternehmen dadurch Mehrkosten von 516 000 DM im aber nicht so bedeutsam wie ein forschungsfreundli- Jahr. Dieser Betrag entspricht den Lohnkosten von ches Klima, das der Bundeskanzler hier auch ange- etwa zehn Arbeitsplätzen. Unsere hohen Energieko- sprochen hat. Um das Klima für die Technik wieder zu sten verhindern also die Schaffung von Arbeitsplät- verbessern, brauchen wir sichtbare Zeichen des tech- zen. nologischen Fortschrittswillens in unserem Lande. Wir Langfristig kalkulierbare und preiswerte Energie brauchen nicht nur für unsere Kinder und Jugendli- bekommen wir aber nur mit einem vernünftigen chen herzeigbare, greifbare, faszinierende Objekte

Energie - Mix. Bei einem derartigen Energie-Mix muß technischen Fortschritts — und das nicht nur im die Kernenergie, die heute mehr als 30 % des Stromes Bereich der Unterhaltungselektronik. Wir brauchen erzeugt, dauerhaft mit dabei sein. Dieser Konsens muß sie auch für unseren Export. auch die Option für zumindest ein Kernkraftwerk der Wie, meine Damen und Herren, wollen wir techno- nächsten, noch sichereren Generation beinhalten, das logische Errungenschaften in ferne Länder exportie- in der Entwicklung von Siemens und Framatom schon ren, wenn wir diese auf eigenem Boden nicht realisiert sehr weit gediehen ist. In diesem Konsens muß eine haben? Es nützt nichts, meine Damen und Herren von langfristige und intelligente Finanzierung der Kohle der Opposition, wenn es auf der einen Seite in der vereinbart werden, und natürlich muß ein ganzer neuesten Fassung des Strategie-Papiers von Herrn Datenkranz von Energiesparmaßnahmen und die För- Lafontaine — der Arbeitsgruppe Wirtschaft und derung von alternativen Energien darin mit formuliert Finanzen —, das dem Parteivorstand am 11. dieses sein. Monats vorgelegt wurde, heißt — ich zitiere —: Ich würde es sehr begrüßen, Herr Ministerpräsi- Der Erfindergeist unserer Techniker und Inge- dent, wenn Sie in diesen Fragen den von Ihnen ja nieure begründete den Aufstieg unserer Volks- besonders geliebten Kollegen aus Niedersachsen, wirtschaft. Die Umsetzung der Forschungsergeb- Herrn Schröder, unterstützen könnten. Herr Schröder nisse muß wesentlich beschleunigt werden. hat einige sehr konstruktive Vorschläge zum Energie- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) konsens gemacht. Nur, wir können den Konsens nicht mit Herrn Schröder alleine vereinbaren; wir müssen wenn Sie aber auf der anderen Seite die technologi- ihn durch die Zustimmung der gesamten SPD tragfä- sche Entwicklung in vielen Bereichen systematisch hig machen. Da kann Herr Scharping seine Führungs- behindern. kraft und seine Zukunftsfähigkeit beweisen! Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) brauchen die ganze SPD, und der SPD-Vorsitzende ist Es sind doch nicht nur die GRÜNEN und die radikalen aufgefordert, Ihre Reihen zusammenzuhalten. Linken, sondern es ist auch die SPD, die es mitzuver- (Michael Glos [CDU/CSU]: Er soll erst einmal antworten hat, daß wir eine gigantische volkswirt- sein eigenes Kernkraftwerk in Mülheim schaftliche Verschwendung be treiben durch ein gan- Kärlich einschalten!) zes Arsenal von Milliarden teuren Technologie-Rui- Die Hand der Koalitionsparteien ist jedenfalls zu nen. einem Energiekonsens ausgestreckt — im Sinne des (Zuruf von der SPD: So ein Schwachsinn!) Standortes Bundesrepublik Deutschland, damit die Energiekosten langfristig gesenkt werden können Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, der Kollege und dann stabil bleiben. Kubatschka möchte gerne eine Zwischenfrage stel- Eine Anmerkung zur Technologie. Der Bundes- len. kanzler hat in besonders eingängigen Worten auf die Bedeutung von Forschung und Technik für den Standort Bundesrepublik Deutschland hingewiesen. Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Ich möchte fort- Ich begrüße es ausdrücklich, daß der Bundeskanzler fahren. — Kalkar ist fertig und dient hauptsächlich der dabei einen Zusammenhang zwischen einer mögli- Beschäftigung von Hausmeistern und Sicherheitsper- chen Aufstockung der Finanzmittel für die Forschung sonal. Der Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop und der Neuordnung unserer Forschungslandschaft wurde nach wenigen Jahren stillgelegt, weil sich die mit mehr Wettbewerb und mehr Effizienz hergestellt SPD-Regierung in Nordrhein-Westfalen weigerte, zur hat. Herr Lafontaine, er hat nicht gesagt, wir erhöhen -Stillegungsvorsorge angemessen beizutragen. einfach den Haushalt. Da haben Sie nicht richtig Jetzt ist auch Hanau blockiert. In Hanau sind 1 650 zugehört. Der Bundeskanzler hat gesagt, es bestehe Personen beschäftigt — Sie reden hier ja ständig von ein Zusammenhang zwischen der Neuordnung und Arbeitsplätzen, Herr Lafontaine —, davon 1 050 im 15672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Kurt Faltlhauser Bereich Uran, 600 im Bereich der MOX-Brennele- Die Zeit drängt in dieser Frage. Die Wirtschaft ist beim mente-Fertigung. Die Demonstrationen der Bergleute Projekt Transrapid ebenso wie die Politik gefordert. werden täglich in der Öffentlichkeit ausführlich dar- gestellt. Als 700 Angehörige der Hanauer Firmen Das gleiche gilt für ein drittes Element: Luft- und Raumfahrt. Anfang Oktober in Bonn demonst rierten, war das Der Beschäftigungsstand der deutschen Fernsehen nicht dabei, und auch Sie haben das Luft- und Raumfahrt ist in der letzten Zeit, zwischen offenbar nicht zur Kenntnis genommen. 1990 und 1992, um 17 % auf ca. 78 000 gesunken. Heute haben wir in den Zeitungen lesen können, daß Derartige Technologieruinen, die durch austiegs- die DASA bis Ende 1996 die Arbeitsplätze urn 16 000 orientiertes Verwaltungshandeln erzeugt wurden, reduzieren will. Daher ist es Unsinn, von Ihnen immer sind nicht nur volkswirtschaftliche Verschwendung, wieder vom „Luxus" der Raumfahrt zu hören. Wenn es sondern auch ein Zeichen technologischer Rückwärts- sie nämlich nicht gäbe, würde das z. B. fernmelde- gewandtheit und signalisieren eher ein Nein zur technisch heißen: zurück in die elektronische Stein- Zukunft des Standortes Deutschl and als ein beherztes zeit. Ja. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Teflon-Pfan (Beifall bei der CDU/CSU sowei bei Abge nen!) ordneten der F.D.P. — Michael Glos [CDU/ Für die Übertragung von Telefongesprächen, Fe CSU]: So ist es!) rn -sehsendungen und für den Datenaustausch bliebe Ein weiteres Symbol für eine positive Entwicklung allein das Fernkabel als Übermittlungsträger. Aber des Technologiestandortes Bundesrepublik Deutsch- die Welt läßt sich gar nicht so schnell verkabeln, wie land ist die Magnetschnellbahn Transrapid. Ich habe der aktuelle Bedarf steigt. heute mit Freude gehört, daß der Bundeskanzler den Transrapid als ein Beispiel dafür genannt hat, daß wir Meine Damen und Herren, die Innovationspoten- tiale in der Luft- und Raumfahrt sind noch l anspruchsvolle Technologie in diesem Land bauen ange nicht und betreiben können und diese Technologieprojekte ausgeschöpft. Wir müssen deshalb in diesem Land auch auf den Weltmärkten anbieten und verkaufen aufhören, Investitionen in die Luft- und Raumfahrt können. Der Bund hat bisher immerhin 1,7 Milliarden unsinnigerweise mit Kindergartenplätzen und Sozial- DM in die Entwicklung von Transrapid hineinge- einrichtungen auf kommunaler Ebene zu verrechnen. steckt. Genau derartige Denk- und Verhaltensweisen sind es ja, die Politiker und Wirtschaftsbosse etwa im Fernen Experten schätzen, daß wir in dieser Technologie Osten oder in den USA dazu veranlassen, über die einen Vorsprung gegenüber Konkurrenten von etwa Deutschen und ihr rückwärtsgerichtetes Schrebergar- fünf Jahren haben. Aber der Vorsprung schmilzt, auch tendenken Witze zu machen. hier. Schon oft mußten wir miterleben, daß wir infolge Forschung und Entwicklung, Bildung und Wissen- zögernder Umsetzung aus unseren technologischen schaft Fortschritten keine Arbeitsplätze und keinen volks- sind auch in Zukunft der wichtigste Stützpfeiler unserer Volkswirtschaft, — wirtschaftlichen Gewinn geschlagen haben. Dies sollte uns nicht auch beim Transrapid passieren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) so heißt es, Herr Lafontaine in Ihrem Papier vom Ich bin der Auffassung, daß der Transrapid fertig 11. Oktober. Da klatschen Sie richtigerweise. entwickelt und auf einer Referenzstrecke in Deutsch- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Aber von der land eingesetzt werden muß. Es gibt auch entspre- SPD hat keiner geklatscht!) chende Untersuchungsergebnisse. Aber diese Partei muß aus derartigen Programmsät- Wenn der Bundeskanzler in seiner Erklärung sagt, zen endlich auch im Konkreten die Konsequenzen „privates Engagement und Kapital werden daher zur ziehen ,Schlüsselfrage' für die Realisierung dieses Projekts", so hat er unsere volle Unterstützung. Wir hoffen, daß (Beifall bei der CDU/CSU) die Wirtschaft bald mit einem wirklich akzeptablen und aufhören mit technologiefeindlichen Ausstiegs- Angebot an die Bundesregierung herantritt. mentalitäten und Blockiergehabe. Nur würde ich ergänzen, Herr Bundeskanzler: Auch Elisabeth Nölle-Neumann hat, liebe Kollegen, über die Politik muß in dieser Frage noch deutlicher sagen, Jahrzehnte hinweg mit ihrem Institut die Physiogno- daß sie dieses Projekt will. mie der Bevölkerung beobachtet. Dabei ist aufgefal- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) len, daß mit steigendem Wohlstand, mit größerer sozialer Sicherheit die Gesichter nicht freundlicher, Der Transrapid darf weder an zu geringem privaten sondern bitterer geworden sind. Der Mißgunst, Ärger Engagement und Kapital noch an zu geringem Enga- und Neid signalisierende, nach unten gezogene gement und zu geringer Kreativität in manchen Amts- Mundwinkel wurde nach den Untersuchungen dieses stuben in Bonn scheitern. Er darf auch nicht — etwa Instituts zum Kennzeichen wachsenden Wohlstands. auf der Referenzstrecke Hamburg-Berlin — an loka- len Querelen und Schwierigkeiten scheitern. Denn (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nun ist es aber das wäre ein klassisches Beispiel für mangelnde - genug!) Standortqualität, wenn ein nationales technologisches Das ist ein Kernproblem unseres Standortes. Für Großprojekt an einem Millimeterstreit etwa in den Aufbruch und Umbau brauchen wir eben nicht nur Vororten Bergedorf oder Sp andau scheitern würde. Kraft und Mut, sondern auch Optimismus. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15673

Vizepräsident Hans Klein: Redezeit! nicht verlieren; denn unsere Probleme resultieren ganz wesentlich aus den Veränderungen der welt- wirtschaftlichen und weltpolitischen Gegebenheiten Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Wir werden die zukünftigen Herausforderungen nicht mit herunter- und nicht aus irgendwelchen Fehlern, Unterlassun- gezogenen Mundwinkeln bestehen können, sondern gen oder Handlungen, die in Deutschland gemacht wir brauchen die Freude am Gestalten. worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.) Die Zukunft hält vor allem viele neue Chancen für Wir wissen, meine Damen und Herren, daß wir uns uns bereit, wenn wir das vereinte Deutschland sehen, im Herbst 1993 in Deutschland nach wie vor in einer wenn wir den großen Binnenmarkt Europa sehen, schweren wirtschaftlichen Krise befinden. Wir ma- wenn wir die offenen Zukunftsmärkte im Osten sehen. chen uns auch gar nichts vor. Auch wenn die Anzei- Für die Exportnation Bundesrepublik Deutschland, chen zunehmen, daß die wirtschaftliche Abwärtsent- für den Fleiß und die Tatkraft dieses Volkes sind große wicklung einen Tiefpunkt erreicht hat, so sind doch Chancen vorhanden. noch keine Anzeichen für einen beginnenden Auf- Wir sollten diesen Chancen mit Optimismus gegen- schwung wirklich auszumachen. Es deutet wenig übertreten. Der Bundeskanzler hat mit seiner Regie- darauf hin, daß wir die konjunkturelle Talsohle als- rungserklärung heute einen wichtigen Beitrag zur bald durchschritten haben. Die meisten Wachstums- Förderung dieses Optimismus geleistet. prognosen, auch die der Bundesregierung, werden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wohl nach unten revidiert werden müssen. Die wirtschaftliche Krise Deutschlands hat aber Ich erteile das Wort dem Vizepräsident Hans Klein: nicht nur konjunkturelle Ursachen. Dies ist kein Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff. normaler konjunktureller Abschwung. Da gibt es strukturelle Fehlentwicklungen. Steigender Staatsan- Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! teil, zu hohe Arbeitskosten, langwierige Planungs- Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der und Genehmigungsverfahren und viele andere Rigi- Herr Ministerpräsident des Saarlandes, der heute ditäten sind zu einer gravierenden Belastung gewor- wohl mehr in seiner Eigenschaft als stellvertretender den. Sie werden verhindern, daß die Wachstumswir- SPD-Vorsitzender zu uns gesprochen hat — ja, Sie kungen eines weltwirtschaftlichen Aufschwungs, bestätigen das, es steht nicht ganz so in der Geschäfts- wenn er denn kommt, rasch und nachhaltig bei uns ordnung, aber das macht nichts —, hat uns heute hier spürbar werden. Sie werden uns länger als nötig an ja auch aus der Menükarte für den Parteivorstand der die konjunkturelle Talsohle fesseln. Sie werden den SPD berichtet. neuen wirtschaftlichen Aufstieg mühsam und viel- Herr Lafontaine, über einiges davon kann man leicht sogar kurzatmig machen. reden. Vieles davon ist rückwärtsgewandt, sind alter- probte schlechte Rezepte, Antworten wie so häufig bei Wer heute gegen hohe Arbeitslosenzahlen rasch Ihnen: einfach, klar, aber falsch. wirkende Medizin verspricht, der ist ein Scharlatan. Die Erfahrungen zeigen uns, daß ein hoher Sockel an (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der struktureller Arbeitslosigkeit noch lange vorhanden CDU/CSU) sein wird und uns begleiten wird. Dies gilt keineswegs Vor allem aber, meine Damen und Herren, es fehlt nur für Deutschland. Es gibt keine schnelle Antwort mir das Vorblatt: Kosten. Vielleicht machen Sie sich auf Rezession und strukturelle Defizite. Was wir noch einmal daran, auszurechnen, was die Umset- brauchen, sind offene Märkte, Wettbewerb und Flexi- zung dieser Veranstaltung kosten würde. bilität. Das geht nicht zu Lasten der sozialen Belange; (Beifall bei der F.D.P.) denn Beschäftigung bedeutet auch soziale Absiche- rung. Diesen Zusammenhang, Herr Lafontaine, sehen Zweitens, meine Damen und Herren. wir ebenso wie Sie. (Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saar- land]: Auch die Einheit!) Was wir tatsächlich brauchen, ist, die Konsolidie- — Auf die Einheit kommen wir auch noch zu sprechen, rung der öffentlichen Finanzen zu schaffen und die Herr Lafontaine. — Es wird eingeleitet mit dem Satz: Nettokreditaufnahme zurückzuführen. Wenn wir da- Nach elf Jahren konservativer Bundesregierung feh- mit mehr Wachstum erreichen, ist es keine Quadratur len in ganz Deutschland 6 Millionen wettbewerbsfä- des Kreises, gleichzeitig Steuern und Abgaben sen- hige Arbeitsplätze. — Und dann geht das so weiter. ken zu wollen. Ich sage jetzt nicht zum Ausweichen, daß dies eine In dem Zusammenhang ein Wort zu den Klagen des Situation ist, die Sie genausogut nach zehn Jahren Deutschen Städtetages. Selbstverständlich machen sozialistischer Regierung in Frankreich sagen könn- sich auch dort die finanziellen Engpässe bemerkbar. ten, daß wir also Probleme haben, die wir in allen Aber ich finde es schon ein ziemlich tolles Stück, daß Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Köln und darüber hinaus finden, keineswegs nur in und Präsident des Deutschen Städtetages bei den Deutschland. Wir müssen uns schon mit dem beschäf- Kürzungsüberlegungen als erstes Schulen, Kinder- tigen — das ist völlig richtig —, was bei uns los ist, und gärten und Schwimmbäder ins Feld führt, anstatt daß versuchen, bei uns die Probleme zu lösen. er über die Verschönerungsbauten der Städte, über Aber wir dürfen auch den Blick für das, was gesamt- Straßenrückbau, über unterlassene Privatisierung, wirtschaftlich über unsere Grenzen hinaus ansteht, über übersetzte Verwaltungen spricht und vielleicht 15674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Otto Graf Lambsdorff auch einmal daran denkt, seine RWE-Aktien zu ver- dessen, was erforscht und entwickelt wird, in Produk- kaufen. tion und Anwendung nicht dauernd behindern. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zuruf von der SPD: Das müssen Sie gerade Zur Energiepolitik. Nur in kleinsten Trippelschrit- sagen!) ten reduzieren wir die Subventionierung der deut- Wirtschaft, Staat und Gesellschaft brauchen De- schen Steinkohle und nehmen — jetzt hören Sie bitte regulierung. Insbesondere auf den europäischen zu, Herr Lafontaine — den Verlust energieabhängiger Arbeitsmärkten ist die Regulierungsdichte, wie wir Arbeitsplätze in anderen Indus trien damit in Kauf. Das alle wissen, weitaus höher als z. B. in den Vereinigten ist nämlich die logische Konsequenz. Staaten, aber in manchen unserer europäischen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Nachbarländer auch niedriger als bei uns. ten der CDU/CSU) Die Geldpolitik muß stabilisiert werden. Es zeichnet Im übrigen können Sie sich vielleicht einmal darum sich Zinssenkungsspielraum ab. Die Produktivität kümmern — auch Herr Thierse kann das tun —, was muß gesteigert werden, damit sich Produktion im Ihre Parteigenossen in Potsdam getan haben. Ich finde Hochlohnland Deutschland rentiert. Hier sind Investi- es ein unerhörtes Ergebnis, daß im Stadtrat von tion, Innovation, Bildung und Ausbildung die richti- Potsdam der Einsatz von Braunkohle für ein neues gen Ansätze. Sie haben auch recht, Herr Lafontaine, Kraftwerk mit der großen Mehrheit des Stadtrates wenn Sie von der Notwendigkeit berufsbegleitender niedergestimmt worden ist. Ausbildung sprechen. Um lebenslanges Lernen wird niemand herumkommen. (Wolfgang Thierse [SPD]: Von SPD und CDU gemeinsam!) Das Wachstum der Lohnkosten muß begrenzt wer- den. Das ist selbstverständlich primär Aufgabe der Wie sollen die denn eigentlich zur Braunkohleanwen- Tarifpartner. Wer wie die IG Metall Lohnforderungen dung kommen? SPD und CDU gemeinsam, feine von 6 % für 1994 stellt, der hat immer noch nicht große Koalition, meine Damen und Herren! verstanden, daß nach fetten Jahren nun magere (Beifall bei der F.D.P. — Zuruf des Abg. angesagt sind. So wird das nicht gehen. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Wenn etwas richtig ist, Herr Gysi, wird es nicht dadurch falsch, daß Sie zufällig einmal mitstimmen. Es ist wichtig, daß wir aus dem Verteilungsstreit herauskommen. Wir können auf Dauer nicht mehr Wir entziehen uns dem Thema friedliche Nutzung verlangen, als wir zu produzieren bereit und in der der Kernenergie, und wir entziehen uns damit auch Lage sind. Wer dauerhaft Wirtschaft und Staat über- der moralischen Verantwortung gegenüber dem fordert, der riskiert eine Stabilisierungskrise. Deswe- Energiebedarf der Dritten Welt. Wir verbrämen die gen, Herr Lafontaine, brauchen wir die Konsolidie- Absage an die Modernisierung des Wirtschaftsstand- rung der öffentlichen Finanzen und nicht steuer- oder ortes mit umweltpolitischen Argumenten. kreditfinanzierte Ausgabenprogramme. Die Koalitionsverhandlungen in Hamburg zeigen, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der daß die GRÜNEN eben nicht bereit sind, wirtschafts- CDU/CSU) relevante Projekte mitzutragen. — Im übrigen, Herr Faltlhauser, in Hessen ist es so, daß Herr Eichel bei Vielleicht können Sie auch in diesem Zusammenhang Herrn Fischer erst einmal fragt, ob er überhaupt etwas etwas Nachhilfeunterricht — diesmal nicht Unterstüt- sagen darf, nicht nur im energiepolitischen Bereich. — zung — bei anfordern. Herr Voscherau wird zeigen müssen, ob er seine Wirtschaftliche Tatsachen, meine Damen und Her- Wahlversprechen einhält. Rot-grün — das zeigt sich ren, und wirtschaftliche Kräfte können durch Politik auch bei diesen Verhandlungen — ist eine Bremse für auf Dauer nicht ausgehebelt werden. Die elementaren die Wirtschaft und damit eine Bremse für die Beschäf- Gesetze der Ökonomie verhelfen sich so oder so zum tigung. Durchbruch. Die Politik tut sich schwer, die wirt- Wir leisten uns das Trauerspiel von Postgutachten schaftlichen Grundprinzipien anzuerkennen. Im wirt- über die Postreform I zur Postreform II, mit der Folge, schaftlichen Handeln fehlt uns die Konsequenz, die daß die Wettbewerber der Telekom Zukunftsmärkte wir mit Worten gerne einfordern. besetzen und wir Beschäftigung bei Lieferanten und Betreibern verlieren. Ein schlechtes Beispiel ist die Gentechnologie. Wir haben durch ein zu restriktives Gentechnikgesetz Was Sie gesagt haben, Herr Lafontaine, zeigt, daß zukunftsträchtige Investitionen behindert. Der Kol- Sie das Problem nicht verstanden haben. Wir kommen lege Lennartz — ich glaube, er ist nicht mehr im nicht darum herum, auch im Bereich der Bundespost Raum — hat bei dem Stichwort der Forschungs- und in den verschiedenen Untergliederungen jetzt Stel- Technologieentwicklung und -unterstützung, das der lenabbau vorzunehmen. Aber wir kommen zu weite- Bundeskanzler benutzt hat und das auch Sie aufge- ren Arbeitsplätzen nur, wenn wir denjenigen Beschäf- griffen haben, sofort einen erregten Zwischenruf - tigung geben können, die bei den Betreibern, vor gemacht und gerufen, da müsse mehr geschehen. Ja, allen Dingen aber auch bei den Lieferanten leben. Das meine Damen und Herren, wenn auf diesem Gebiet geht nur dann, wenn die Telekom eine vernünftige mehr geschieht, dann dürfen Sie aber die Umsetzung Kapitalausstattung hat, sich in der Welt betätigen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15675

Dr. Otto Graf Lambsdorff kann und nicht dahindümpelt, wie das jetzt der Fall beitsbeschaffungsmaßnahmen, Arbeitsförderung Ost ist. nach § 249h und, um Klartext zu reden, die besonders angenehme Art des Erhalts von im Wettbewerb nicht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) überlebensfähigen Arbeitsplätzen in hochsubventio- Schönen Gruß an Herrn van Haaren! nierten überkommenen Branchen. Das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Meine Damen und Herren, das ist ein Beschäfti- Arbeit wollen wir einschränken; das hat die Koalition gungsprogramm für die Arbeitsverwaltung, aber beschlossen. Aber die Regierung hat uns einen Ent- wahrlich nicht für die Arbeitslosen. wurf vorgelegt, der so gut wie nichts ändert. So (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einfach wird das wohl nicht werden, Herr Bundesar- Es werden neue Arbeitsplätze entstehen, z. B. im beitsminister. Hinter die Fichte lassen wir uns nicht Telekommunikationsbereich oder über die Pflegeein- führen. richtungen bis hin zu den privaten Haushalten. Hören Zum Ladenschluß, Herr Faltlhauser, gibt es einen wir auf mit den steuerlichen Vorbehalten dagegen aus Vorschlag des Bundesrates. Was sagen Sie — Kom- reinem Scheuklappendenken! mentar von Ihnen —: Steht in dieser Legislaturperiode (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Bun nicht mehr auf der Tagesordnung. Wann denn bitte? deskanzler Dr. Helmut Kohl: Sehr gut!) Wie der Umzug, im Jahr 2000? Alles hinausschie- — Herr Bundeskanzler, Sie sagen: Sehr gut. Ich ben? bedanke mich. — Die Politik muß diese Entwicklung Kleine Aktiengesellschaft, Umwandlungsrecht, eu- fördern. Zur Zeit behindert sie sie eher noch. Die Bundesjustizmini- ropäische Aktiengesellschaft: (Siegfried Scheffler [SPD]: Wer regiert sterin bemüht sich, dringend notwendige Reformen denn?) umzusetzen. Sie scheitert schon mit dem Referenten- entwurf an Mitbestimmungserweiterungsforderun- Sie haben eben über Arbeitszeitverlängerung dis- gen. kutiert. Das war eine Diskussion zwischen dem Bun- deskanzler und dem saarländischen Ministerpräsi- Planungs- und Genehmigungsverfahren hat der denten. Du liebe Zeit, es geht darum, die Arbeitszeit Herr Bundeskanzler erwähnt. Das Beispiel, das Sie flexibler zu gestalten, damit Arbeit von solchen Per- genannt haben — ich bin da immer etwas rücksichts- sonen noch länger verrichtet werden kann, die m an loser — heißt: Meyer/Papenburg, und es handelt sich dafür braucht und die man sonst nicht hat. Daß solche, um einen S treit zwischen acht Aalfischern und 1 800 die im Überfluß vorhanden sind, auch kürzer arbeiten Beschäftigten der Werft. Deswegen geht es nicht können, wenn sie bereit sind, die Einkommensdispa- weiter. In meinem eigenen Wahlkreis ist jetzt eine ritäten in Kauf zu nehmen das müssen sie —, das ist 1 km lange Umgehungsstraße nach 30jähriger Pla- doch völlig in Ordnung. Keiner stellt sich hin und sagt: nungs-, Bau- und Gerichtszeit endlich in Betrieb Alle müssen länger arbeiten, auch die, für die wir genommen worden. keine Arbeitsplätze haben. Bei der Dauer solcher Planungs- und Genehmi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gungsverfahren kommt ein ausländischer Investor Aber es geht nicht an, daß der Ingenieur in einem überhaupt nicht mehr auf die absurde Idee, in Maschinenbauunternehmen nach 35 Stunden den Deutschland etwas anfangen zu wollen. Allein die Griffel fallen läßt, obwohl man ihn gerne 45 Stunden Tatsache hindert ihn. Er fragt schon gar nicht mehr an; arbeiten lassen würde, damit er weiter konstruiert. er liest das ja. Er kann das auch aus Regierungserklä- Dessen Arbeit kann nicht von einem Dritten fortge- rungen hören. Nicht daß ich das kritisiere; das muß setzt werden. Das können Sie nicht mit dem Hilfsar- erwähnt werden. beiter, dem ungelernten Arbeiter vergleichen. Wie Zur Arbeitsmarktpolitik: In Ostdeutschland haben kann man eine solche unsinnige Diskussion führen! wir mit der fehlerhaften Ausgestaltung von ABM und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Beschäftigungsgesellschaften den ersten Arbeits- ten der CDU/CSU) markt — fragen Sie die mittelständischen Unterneh- Meine Damen und Herren, das Rexrodt-Papier zum men dort — unnötig beschädigt. Was hört man jetzt Standort Deutschland ist gut. Ich sage gezielt, Herr aus dem Bundeskanzleramt raunen, Herr Bundes- kanzler: § 249h AFG auch für die alte Bundesrepu- Bundeskanzler — ich weiß, was ich sage —: das blik? Wie das denn? Haben wir nichts vom zweiten Rexrodt-Papier. Arbeitsmarkt des Herrn von Dohnanyi gelernt? Wol- len wir die Funktionsfähigkeit des ersten Arbeits- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf marktes auch hier weiter beschädigen? Mich erinnert Lambsdorff, der Kollege Seifert würde gerne eine das etwas an Churchill: Die Leute werden auf den Zwischenfrage stellen. richtigen Weg kommen, nachdem sie alle falschen ausprobiert haben. Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Bitte schön, Der Arbeitsmarkt darf nicht noch weiter reguliert immer. werden. Sehen Sie sich bitte den Wust von Maßnah- men an, mit denen wir immer aus guten Absichten — das bestreiten wir nicht — Arbeitslosigkeit finan- - Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Lambsdorff, zieren oder verdeckte Arbeitslosigkeit weiter bemän- ich danke Ihnen, daß Sie mir „immer" Zwischenfra- teln: Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld, gen beantworten. Das war schon einmal nicht der Fortbildung und Umschulung, Frühverrentung, Ar- Fall, 15676 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Bei mir? Arbeitskosten offenbar nur für Ostdeutschland gelten lassen wollen. Ist das immer noch Ihre gesamtdeut- sche Einäugigkeit? Gewiß, die Lücke in Ostdeutsch- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Ja, bei Ihnen. land ist viel größer. Aber sie besteht auch in der alten Sie sagten, daß Sie für die Flexibilität der Arbeits- Bundesrepublik. Gehen Sie bitte ins Saarland vor die zeit sind. Aber sagen Sie bitte: Wie wollen Sie den Kumpel bei Saarberg und Saarstahl, und sagen Sie Menschen, die verkürzt arbeiten, soziale Sicherheit denen die gleichen Erkenntnisse. Sie haben ja recht geben? Oder wollen Sie sie unter der Sozialversiche- mit den Erkenntnissen. rungsmarge beschäftigen? Darum geht es doch. Das Problem ist, daß die Menschen zwar ihr Leben lang Verheerend waren allerdings, meine Damen und arbeiten, am Ende aber keine Rente bekommen, z. B. Herren, die Reaktionen aus der SPD, angeführt von wenn sie nur 18 Stunden arbeiten. Ihnen, Herr Thierse. Da argumentierten alle SPD- Landesvorsitzenden in Ostdeutschland nicht zur Sache, sondern nur zu den Wahlaussichten Ihrer Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Jedermann, auch Partei. Wenn wir so diskutieren, werden wir die der, der kürzer arbeitet, Herr Kollege, arbeitet auf der ökonomischen Dinge bei uns nicht in Ordnung brin- Grundlage von Tarifverträgen und nichts anderem. gen. Dabei soll es selbstverständlich bleiben. Ich verlange von niemandem, daß er unter Tarif arbeitet. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Habe ich ten der CDU/CSU) nicht gesagt!) Ich habe mich schon gewundert, daß ein Mann wie — Darum geht es doch. Wer auf Tarifbasis arbeitet, hat Manfred Stolpe wirklich alle Contenance verloren seinen Lohnanspruch. Auf diesem Lohnanspruch hat. Er nennt Lafontaine einen Wahlhelfer von Kohl basieren seine Beitragsverpflichtungen und später und fordert seine Entfernung aus dem Schattenkabi- seine Rentenzahlungen. nett des Herrn Scharping. Nun taugt das Schattenka- binett zwar nicht viel, aber darf der Schattenwirt- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Darun schaftsminister nicht einmal offenkundige Fakten ter!) aussprechen? Wenn das so geht, wird die Diskussion Meine Damen und Herren, ich sagte, das Rexrodt nicht beflügelt werden. Papier ist gut. Aber ich sage auch: Die Vorlage der Bundesregierung ist nicht so gut, weil einiges von dem Lassen Sie mich hier, Herr Lafontaine, bitte einen ursprünglichen Konzept verwässert und abge- Exkurs machen. Es hat keinen Sinn, die alten schwächt wurde. Auch Ihre heutige Rede, Herr Bun- Geschichten wieder aufzuwärmen. Wir bleiben bei deskanzler, war gut. Aber wann wird entschieden? der Überzeugung, daß die Entscheidung „Eigentum Wann werden die Deregulierungsvorschläge des vor Rückgabe" richtig ist. Jetzt den Religionsstreit Kabinettsbeschlusses umgehend verwirklicht? weiter fortzusetzen bringt überhaupt nichts mehr; umgedreht werden kann er nicht mehr; die Folgen (Beifall bei der F.D.P.) wären ganz verheerend. Aber Ihr Satz: dieses Vermö- In dieser Legislaturperiode? Ihre Regierung, Herr gen hätte für den Aufbau in Ostdeutschland einge- Bundeskanzler, hat dafür die volle Unterstützung der setzt werden müssen, heißt übersetzt: Was die DDR F.D.P.-Fraktion. Tun Sie es bitte! Wehren Sie sich bitte ihren Bürgern gestohlen hat, soll ihnen jetzt noch dagegen, daß sich die Ressorts vom Fachreferenten einmal gestohlen und nicht zurückgegeben werden. bis zum Minister Grabenkämpfe liefern, die alles auf die lange Bank schieben! (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Horst Kubatschka [SPD] — Siegf ried Vergin [SPD]: Das zeigt Ihr gebrochenes Verhältnis zum privaten Graf Lambsdorff mahnt Führung an!) Eigentum. Da sind Sie die sozialistischen Eierschalen noch nicht ganz los. Wir brauchen nicht dauernd neue Arbeitsgruppen. Wir brauchen Entscheidungen. Wir brauchen Tatkraft (Beifall bei der F.D.P. — Zurufe von der SPD und nicht nur Wortgewalt. — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nur zum Herr Faltlhauser hat den Vorgang schon erwähnt; Eigentum anderer Leute!) der stellvertretende Parteivorsitzende der SPD hat ihn Überhöhte Arbeitskosten — das wissen wir — füglich nicht erwähnt: Gestern hat Karl Schiller dem gefährden Arbeitsplätze. Aber hüten wir uns bitte vor stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Oskar Lafon- Einäugigkeit. Zurückhaltung bei Löhnen und Lohnzu- taine bestätigt, daß seine Ansichten zur Lohnentwick- satzkosten allein löst das Beschäftigungsproblem lung in Ostdeutschland dem marktwirtschaftlichen nicht, nirgendwo, an keiner Stelle. Sie brauchen sich Einmaleins entsprechen. So ist es. Heute war davon nur die Zahlen anzusehen: Der durchschnittliche nichts zu hören. Vielleicht hat bei diesem freundlichen Monatsverdienst liegt bei uns in Deutschland bei Hinweis auch geholfen, Herr Lafontaine, daß Sie Karl 1 800 ECU und in der Tschechei bei 140 ECU. Das Schiller seinerzeit wieder in die SPD aufgenommen reguliert sich nicht allein durch Lohnzurückhaltung. haben. In Hamburg wollten sie ihn nicht haben. Das stimmt doch, Herr Klose? Dann haben Sie es im Wir brauchen erheblich produktivere Arbeit auf den Saarland getan. alten Märkten und neue Arbeit auf ganz neuen - Märkten, auf Märkten, die es heute noch gar nicht (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) gibt. Solche Märkte entstehen nicht durch die Politik. Uns stört aber, Herr Lafontaine, daß sie die Zusam- Ich weiß, daß ich mich hier wiederhole; ich habe es menhänge zwischen Beschäftigung, Produktion und schon in der letzten Debatte gesagt. Ich sage es Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15677

Dr. Otto Graf Lambsdorff trotzdem noch einmal: Politiker haben sehr begrenzte anderen Ländern, um in der Bundesrepublik Schritt Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu schaffen, und sehr für Schritt Sozialabbau, realen Lohnabbau, Arbeits- viele Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu ruinieren. zeitverlängerung und Senkung ökologischer Stan- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) dards durchzusetzen und vor allem das Bewußtsein für eine solche Politik zu entwickeln. Privatisierung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft ist nötig, weit über Lufthansa und Telekom An dem Begriff „Zukunftssicherung des Wirt- hinaus. Kostendenken, das es beim Staat nicht gibt schaftsstandorts Deutschland" stört mich schon, daß und das auch den hypertrophen Verwaltungen unse- so getan wird, als ob es darum ginge, die bisherige rer großen Konzerne so schwerfällt, ist nötig. Nur der Wirtschaftskraft in der Bundesrepublik zu erhalten. schlanke Staat, das schlanke Unternehmen, geringere Wenn ich in den Osten Deutschlands schaue, frage ich Gemeinkosten und die Qualifizierung der Menschen mich aber: Welchen Wirtschaftsstandort wollen Sie können die für ein Hochlohnland ausreichende Pro- dort eigentlich sichern? Es gibt dort keinen mehr. Er ist duktivität entwickeln. durch die Bundesregierung mit Hilfe der Treuhandan- Freie Märkte wachsen von sich aus und nicht durch stalt vernichtet worden. Die Folge sind umfangreiche den Staat. Ich kenne Ihr Argument: Das darf man nicht Transferleistungen von West nach Ost, um einen dem Markt überlassen. Dem Staat haben wir diese sozialen Mindeststandard zu sichern. Durch solche Probleme schon viel zu lange überlassen. Wenn wir Transfers werden die Ostdeutschen gedemütigt und weiter den öffentlichen Sektor aufblähen, werden wir wird gleichzeitig die Stimmung gegen sie im Westen noch längere und höhere Arbeitslosigkeit haben. Zur geschürt. Die Ostdeutschen wollen nicht zu Bettlerin- Privatisierung unserer Leistungsgesellschaft gibt es nen und Bettlern degradiert werden. Sie wollen eine keine andere Lösung. Chance haben, im Rahmen von Investitionen an einer Umdenken ist schwer. Wir müssen begreifen, meine Aufbau- und Wirtschaftstätigkeit teilzunehmen, und Damen und Herren, daß der Standort Deutschland verlangen dann allerdings gleichen Lohn für gleiche geographisch zwar der gleiche ist wie vor 20 Jahren, Arbeit; das ist doch wohl nur recht und billig und im aber ökonomisch ist nichts mehr gleich. übrigen Verfassungsgrundsatz. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Sie sind weit über die Zeit. Kurzum, im Osten geht es nicht um die Sicherung des Wirtschaftsstandorts, sondern um dessen Aufbau. Von einer solchen investiven Wirtschaftspolitik ist die Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Hier steht: noch Bundesregierung in den neuen Bundesländern mei- eine Minute, ich bitte um Entschuldigung; ich richte lenweit entfernt. mich nach Ihrer eigenen Angabe. Wir bewältigen die Risiken, wir nutzen die Chan- Wie sieht die scheinbar zwingende Logik der Bun- cen, wenn wir die weltweiten Veränderungen begrei- desregierung und auch dessen, was Graf Lambsdorff fen, aber auch nur dann. Vielleicht sichern wir dann gesagt hat, aus? Die Gewinne der Unternehmen von die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. heute sind angeblich die Investitionen von morgen Aber, meine Damen und Herren, wir sprechen von und die Arbeitsplätze von übermorgen. Logische Zukunftssicherung. Sichern kann man nur etwas, was Schlußfolgerung: Die Steuern für Unternehmen und man zuvor erreicht und gewonnen hat. Darum geht es Vermögende und die Produktionskosten müssen jetzt. gesenkt werden. Die Kosten der Produktion senkt man am leichtesten, indem man die Lohn- und Lohn- Vielen Dank. nebenkosten senkt. Andererseits will und soll der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Staat wirtschaftsfördernd eingreifen. Das kann er nur, wenn er mehr Geld zur Verfügung hat. Wenn sich aber Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, Graf aus der Logik der Bundesregierung ergibt, daß sie Lambsdorff. Ich habe mich geirrt. Sie haben auf die Steuern nicht erhöhen darf, dann kann sie zu mehr Sekunde genau mit Ihrer Redezeit geschlossen. Geld scheinbar nur kommen, wenn sie staatliche Sozialleistungen senkt. Damit diese Logik untermau- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ert wird, wird die Bundesregierung nicht müde, zu Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi. behaupten, daß es in Deutschland ohnehin die höch- sten Steuern, Löhne und Lohnnebenkosten, die kür- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! zeste Arbeitszeit, die längsten Urlaubszeiten, die Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte kürzesten Maschinenlaufzeiten und die höchsten soll es ja, wie wir zum Schluß noch einmal gehört Sozialausgaben gebe; auch das haben wir uns vom haben, um die Zukunftssicherung des Wirtschafts- Bundeskanzler heute wieder angehört. standortes Deutschland gehen. Mir fehlt zunächst einmal die europäische Dimension. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: So ist es doch!) Eine der wichtigsten Voraussetzungen wäre doch ein energischer Kampf um eine Angleichung steuerli- Nur verschweigt die Bundesregierung dabei vieles. cher, sozialer und ökologischer Standards zumindest Ihre scheinbar einleuchtende Logik läßt sich leicht in Europa. Davon kann aber keine Rede sein. Im widerlegen. Zunächst einmal bedeuten mehr Ge- Gegenteil, die Bundesregierung benutzt niedrigere winne keinesfalls mehr Investitionen. Von 1980 bis Löhne, niedrigere Steuern und niedrigere ökologische 1992 sind die privaten Nettogewinne in den alten Standards sowie längere Arbeitszeiten in einigen Bundesländern von 240 auf 570 Milliarden DM ange- 15678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Gregor Gysi stiegen. Die Nettoinvestitionen stiegen in dieser Zeit seien maßlos und lebten über ihre Verhältnisse, aber nur von 125 auf 192 Milliarden DM. zynisch sind. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Die Frage Überhaupt muß man die Frage stellen, weshalb die ist, wo die Investitionen durchgeführt wer- Bundesregierung immer nur nach unten sieht, d. h. den!) auf die Höhe der Sozialhilfe, der Arbeitslosenunter- stützung und der Arbeitslosenhilfe und der Löhne der Das heißt, daß der Großteil der zusätzlichen Nettoge- abhängig Beschäftigten sowie auf deren Arbeits- und winne keinesfalls für Investitionen verwendet wurde. Urlaubszeiten. Weshalb schauen Sie sich nicht nach Dazu paßt auch die Tatsache, daß sich das sogenannte oben um, was z. B. das Management in diesem Land vagabundierende Kapital der Unternehmen nun auf verdient? Vielleicht sind dort die Einkünfte zu hoch, ca. 700 Milliarden DM beläuft, ermöglicht durch vielleicht ist deren Urlaub zu lang oder deren Arbeits- entsprechende Steuergeschenke der Bundesregie- zeit zu kurz. Ihr Blick ist immer nur gegen die sozial rung. Nichts davon wird für Investitionen eingesetzt. Schwachen und die sozial Schwächeren gerichtet, nie Das Grundgesetz kennt sogar Möglichkeiten, auf gegen die Gutverdienenden und schon gar nicht dieses Kapital im Interesse des Wirtschaftsaufbaus gegen die Vermögenden. zurückzugreifen. Diese Bundesregierung ist aller- dings die letzte, die von entsprechenden Möglichkei- Wenn Sie, Herr Oskar Lafontaine, mit gewisser ten Gebrauch machen würde. Eher greift sie den Rückendeckung durch den SPD-Vorsitzenden eine Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfän- langsamere Angleichung der Löhne und Gehälter im gern in die Taschen. In der Bundesrepublik gibt es Osten fordern — und das heute etwas verklärt wieder nicht zuwenig Geld; es wird nur ungerecht verteilt. getan haben —, so bedeutet das, daß führende SPD- Politiker auf diese Politik und diese Demagogie der (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Bundesregierung eingeschwenkt sind. Mit der Mit den Tatsachen hält auch der zweite logische ursprünglich sozialdemokratischen Forderung nach Schluß der Bundesregierung nicht mit, daß nämlich gleichem Lohn für gleiche Arbeit hat dies nichts mehr höhere Investitionen automatisch die Schaffung von zu tun. mehr Arbeitsplätzen bedeuten. Von 1970 bis 1992 Es ist einfach vermessen, den Ostdeutschen minde- stieg die Produktivität in der Bundesrepublik um 85 %, stens Westniveau bei Kosten und Preisen zu verord- die Produktion um 70 %, aber die Zahl der Arbeits- nen, ihnen aber gleichzeitig bei gleichwertiger gelei- plätze nur um 10 %. Das heißt, Produktivitäts- und steter Arbeit die entsprechenden Löhne und Renten selbst Produktionszuwachs bedeuten keinesfalls auto- zu verweigern. matisch Zuwachs an Arbeitsplätzen. Im Gegenteil; daß es überhaupt noch einen Anstieg der Zahl der (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Arbeitsplätze um 10 % in diesem Zeitraum gab, lag Zum Teil sind die Preise im Osten heute schon allein an der Arbeitszeitverkürzung und der Urlaubs- höher. verlängerung. Nun zu den internationalen Vergleichen, die die Nun zum Argument der zu hohen Lohn- und Lohn- Bundesregierung zur Rechtfertigung ihrer Politik nebenkosten. Zunächst einmal wird immer so getan, anstellt. In all ihren Berechnungen unterschlägt sie, als ob die Löhne Geschenke der Unternehmerinnen daß die Produktivität in der Bundesrepublik höher ist und Unternehmer an die Arbeitnehmerinnen und als in anderen Ländern und daß das selbstverständlich Arbeitnehmer seien. Man wird aber doch noch darauf auch andere Löhne zur Folge hat. hinweisen dürfen, daß es die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind, die die Werte durch Arbeit schaf- Aber auch ohne Berücksichtigung dieses Faktors fen, aus denen Gewinne, Löhne, Lohnnebenkosten stimmen die Vergleiche nicht. Bei den Lohnstückko- und Steuern bezahlt werden. sten nimmt die Bundesrepublik im Rahmen der OECD-Länder lediglich einen Mittelplatz ein, keines- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) falls den Spitzenplatz. Die jüngste Steigerung ist ausschließlich durch die Aufwertung der D-Mark Mit anderen Worten, bei den Löhnen geht es aus- begründet. Das gilt auch für den Lohnnebenkosten schließlich darum, welchen Anteil der Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmer an den Werten erhalten, die vergleich. sie selbst schaffen. Auch hier beweist die Statistik, daß Nun zu den Steuern, weil immer wieder behauptet es eine klare Fehlentwicklung bei der Einkommens- wird, sie seien fast die höchsten in der Welt und verteilung in der Bundesrepublik von 1980 bis 1992 belasteten die Wirtschaft völlig unzulässig. Bei ihrer gab. Während nämlich die Nettoeinkünfte der Arbeit- Steuerreform 1990 hat die Koalition den Spitzensteu- nehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Zeitraum ersatz bei der Einkommensteuer und die Körper- lediglich um 47,5 % anstiegen, erhöhten sich die schaftsteuer gesenkt. Das Ergebnis ist, daß der Staat Nettogewinne um 132,1 %. Das heißt, daß der Anteil jährlich Mindereinnahmen von 27 Milliarden DM hat, der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen von die von jenen, die die 27 Milliarden DM einsparten, über 70 % inzwischen auf 67 % und damit auf das weder zum Aufbau der Wirtschaft noch zur Schaffung Niveau der 60er Jahre gesunken ist. von Arbeitsplätzen genutzt wurden. Festzustellen bleibt also, daß der Anteil der Löhne Sie haben den Solidarzuschlag von 7,5 % auf die im Rahmen der Gesamteinkommen in der Bundesre-- Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer abge- publik sinkt, die Gewinne wesentlich schneller stei- schafft und damit auf ca. 11 Milliarden DM an jährli- gen als die Löhne und deshalb alle Vorwürfe gegen- chen Staatseinnahmen verzichtet. In diese Vergünsti- über Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sie gung kamen u. a. der Bundeskanzler, der Bundesfi- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15679

Dr. Gregor Gysi nanzminister und ich. Ich möchte bestreiten, daß z. B. Deutschland und gibt es keine wirklich nennenswerte wir drei das Mehrgeld, das wir nun behalten können, Kapitalflucht aus Deutschl and. Denn solche Standards für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplät- sichern qualifizierte und motivierte Belegschaften zen ausgeben. und führen zu geringer Fluktuation der Arbeitskräfte, zu relativ wenig Streiks usw. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Wenn Ihre Logik stimmen würde, müßte ja der Maximal haben wir unser Sparguthaben erhöht. Davon haben vielleicht wir etwas, mit Sicherheit aber größte Wirtschaftsboom in den Ländern stattfinden, in denen es die niedrigsten Löhne, die niedrigsten Lohn- nicht der Staat und schon gar nicht die sozial Schwa- chen, die Lohnabhängigen und die Arbeitslosen in nebenkosten, die längste Arbeitszeit, den kürzesten Urlaub und die geringsten Sozialleistungen gibt. Ein dieser Gesellschaft. Blick nach Süd- und Osteuropa, nach Lateinamerika, Falsch ist auch die Behauptung, daß die Einkom- in bestimmte asiatische Länder oder gar nach Afrika mensteuer in der Bundesrepublik im Vergleich mit widerlegt diese These auf schmerzliche Art und anderen Ländern überdurchschnittlich sei. Bei der Weise. Unser Ziel muß der Sozial- und Ökologieauf- Körperschaftsteuer liegt die Bundesrepublik zwar bau dort und nicht der Sozial- und Ökologieabbau hier formal an der Spitze, durch die zahlreichen Abschrei- sein. bungsmöglichkeiten im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern aber am niedrigsten. Das heißt, daß in (Beifall bei der PDS/Linke Liste) den USA, in Großbritannien, in Frankreich, in Japan Ist es denn so schwer zu begreifen, daß Sozialkür- usw. effektiv höhere Körperschaftsteuern gezahlt zungen und reale Lohnkürzungen unmittelbar zur werden als in der Bundesrepublik. Reduzierung der Nachfrage, damit zur Reduzierung Noch trauriger sieht es bei den Ertragsteuern aus. des Umsatzes im Handel und im Dienstleistungsbe- Die großen Konzerne haben sich faktisch aus der reich und dadurch notgedrungen auch zum Produkti- Finanzierung der Bundesrepublik verabschiedet. onsrückgang und zum Abbau von Arbeitsplätzen Zahlte z. B. Daimler-Benz noch 1989 Ertragsteuern in führen? Höhe von 2 Milliarden DM, so lag dieser Betrag 1992 Wenn Sie jeder Sozialhilfeempfängerin und jedem bei null DM. Die großen Konzerne haben sehr gute Sozialhilfeempfänger es sind inzwischen über drei Möglichkeiten, mit sämtlichen Steuertricks zu operie- Millionen in der Bundesrepublik Deutschland — ren. Daraus resultiert, daß die Bundesrepublik fak- monatlich nur 10 DM nehmen, konsumieren diese tisch nur noch vom Mittelstand sowie den Arbeitneh- Menschen real für über 30 Millionen DM weniger. merinnen und Arbeitnehmern finanziert wird. Wenn Sie — ich bleibe bei meinem Beispiel von In Anbetracht der Massenarbeitslosigkeit sind die vorhin — dem Bundeskanzler, dem Bundesfinanzmi- Vorstellungen der Bundesregierung zur Verlänge- nister und mir jeweils 100 DM wegnehmen, konsu- rung der Arbeitszeit — zumindest bei bestimmten mieren wir keine Mark weniger; maximal sparen wir

Gruppen — und zur Verkürzung des Urlaubs gera- weniger. Das heißt, daß die Politik des Sozial - und dezu abenteuerlich. Schon jetzt werden immer mehr Lohnabbaus in höchstem Maße unwirtschaftlich ist Menschen in Frührente und Vorruhestand geschickt; und zum Rückgang der Produktion und damit zum Kurzarbeit wird immer häufiger angeordnet. Arbeitsplatzabbau führen wird. Geradezu dramatisch Würden sich Ihre Vorstellungen durchsetzen, dann werden für die Betroffenen und die Wirtschaft die Folgen der in der Geschichte der Bundesrepublik sichern Sie nicht den Wirtschaftsstandort Deutsch- einmaligen Kürzung der staatlichen Sozialleistungen land, sondern Sie provozieren eine immer größere um 20 Milliarden DM ausfallen, die morgen in diesem Massenarbeitslosigkeit mit allen sozialen und psychi- schen Folgen, die das für die Betroffenen und ihre Bundestag für 1994 beschlossen werden soll. Familien hat. Es genügt ein Blick in die Geschichte, um zu wissen, Ihre wahren Motive nennen Sie nicht. Nach dem was mit Ihrer Politik angerichtet wird. Herr Brüning, Wegfall der DDR geht die Bundesregierung davon der Reichskanzler Anfang der 30er Jahre, war ein aus, Schritt für Schritt die Kompromisse der letzten Vertreter genau einer solchen Politik. Die Ergebnisse 40 Jahre bei der Lohnentwicklung und den Soziallei- sind bekannt. stungen rückgängig machen zu können. Verhängnisvoll ist auch Ihr Umgang mit Kommu- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Jawohl!) nen, die Sie finanziell und rechtlich strangulieren mit dem Ergebnis, daß auch diese nicht mehr investieren Sie wollen den Unternehmen u. a. dadurch größere können. Ich befürchte, daß der Aufschrei der Kommu- Gewinne zuschanzen, daß Sie die Kraft der Gewerk- nen nicht gehört wird. schaft reduzieren; deshalb die permanenten Versu- che, in die Tarifautonomie einzugreifen. Die kürzlich Eine vernünftige Alternative zu dieser Wirtschafts- hier beschlossene Änderung des Lohnfortzahlungsge- politik wäre durchaus möglich. Dabei kann auch an setzes hinsichtlich der Lohnreduzierung an gesetzli- die Entlastung von Unternehmen, insbesondere von chen Feiertagen ist nur ein Beispiel dafür. Die Angriffe mittelständischen Unternehmen, gedacht werden, mit Karenztagen und auf die Feiertage sind uns allen allerdings nur von solchen, die tatsächlich investieren noch gut in Erinnerung. und Arbeitsplätze sichern bzw. schaffen. Sie leugnen die einfache Tatsache, daß sichere und Fangen Sie doch endlich an, mit Steuern wirklich zu relativ hohe Löhne, Sozialstaatlichkeit und hohe öko- steuern! Es gäbe die Möglichkeit, Spekulationsge- logische Standards auch positive Wirtschaftsfaktoren winne und andere Gewinne dann stärker abzuschöp- sind. Deshalb floß viel ausländisches Kapital nach fen, wenn sie nicht für arbeitsplatzschaffende Investi- 15680 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Gregor Gysi tionen eingesetzt werden. Es gäbe umgekehrt die Auch der Herr Bundeskanzler hat heute mit seiner Möglichkeit, Steuervergünstigungen dort vorzuneh- Regierungserklärung nicht gerade zur Klärung beige- men, wo wirklich Arbeitsplätze in Ost und West tragen. Es war, Herr Faltlhauser, keine programmati- geschaffen werden. sche Rede. Der Elan war eher von gähnender Anstek- Warum unterstützen Sie die BASF, die Arbeitsplätze kungskraft. Es ist einfach nicht sein Thema, war in Bischofferode vernichten will, und nicht den Mit- festzustellen. Ich glaube, in Fragen der Wirtschaftspo- telständler Peine, der Arbeitsplätze in Bischofferode litik ist selbst der Bundespräsident der weitsichtigere erhalten und schaffen will? Sinnvoll — mit den glei- Politiker. Aber auch das soll sich ja bald nach Kohl chen Ergebnissen — wäre eine Investitionshilfeab- scher Machart ändern. gabe. Welches sind die Probleme dieses L andes, dieses Wir können uns eine Ergänzungsabgabe für Besser- Standortes? Vor allem, daß es noch immer nicht einen verdienende, die Abschaffung des ungerechten Ehe- Wirtschaftsstandort Deutschland gibt, sondern zwei, gattensplittings und einen höheren Spitzensteuersatz einen westlichen, dessen struktruelle Defizite in der bei der Einkommensteuer leisten. Wir haben in der Rezession ans Tageslicht kommen, und einen östli- Bundesrepublik überflüssigerweise 97 Milliardäre chen, der sich trotz mancher positiver Entwicklung und über 200 000 Einkommensmillionäre, die wir weiterhin im industriellen Niedergang befindet und wesentlich stärker besteuern könnten. der zusätzlich zum längst nicht verarbeiteten Wäh- rungsschock unter dem Zusammenbruch seiner ange- Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Ihre stammten Märkte im Osten leidet, natürlich auch Redezeit ist beendet. unter der Weltrezession, die den Eintritt in die so dringend benötigten neuen Märkte im Westen dop- pelt erschwert. Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Aber statt dessen wird hier der Klassenkampf von oben geführt. Tatsa- Die Probleme dieses Landes bündeln sich in der che ist, daß dann, wenn die Bundesregierung ihre Tatsache, daß die Wirtschaft den wichtigsten Produk- Politik so weiter betreibt wie bisher, der Wirtschafts- tionsfaktor, die Motivation, die Schaffenskraft und standort Deutschland einen Schaden nehmen wird, den Ideenreichtum von Millionen Menschen brachlie- den wir alle und die künftigen Generationen teuer zu gen läßt. Die Massenarbeitslosigkeit ist nicht nur eine bezahlen haben werden. soziale Tragödie, sie ist zugleich eine ungeheure (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von Verschwendung einer für die Wirtschaftskraft ent- der CDU/CSU: Gott sei Dank ist dies been scheidenden Ressource. det!) Dieser Standort krankt daran, daß die Verantwort- lichen in Staat und Wirtschaft in ihrer großen Mehrheit Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Abgeord- die ökologischen und sozialen Anforderungen an das neten Werner Schulz das Wort. Wirtschaften von morgen nicht annehmen, sondern (Zuruf von der CDU/CSU: Muß das auch diese Anforderungen nach Möglichkeit verdrängen. noch sein?) Sie versäumen es zielbewußt, die ökologische Umge- staltung der Wirtschaft in Angriff zu nehmen, und das zu einem Zeitpunkt, wo dies die Erlangung von Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit bedeutet. Wer Fragt man Politiker und Wirtschaftsvertreter in Süd- heute die Wirtschaft auf Umweltverträglichkeit korea, einem prosperierenden Land, das der Herr umstellt, hat die Chance, zusätzlich zur ökologischen Bundeskanzler erst unlängst besucht hat, was sie tun Dividende enorme Wettbewerbsvorteile auf den Welt- würden, käme ganz plötzlich die Chance der Einheit märkten zu erlangen. Nur wer heute die Fragen von des Landes, dann hört man: „Wir haben aus der morgen stellt, hat morgen die Produkte auf die Nach- deutschen Einheit gelernt. " — Eine Tatsache, die man fragen der anderen. von der Bundesregierung nicht unbedingt behaupten Die Probleme dieses Standortes werden von einer kann. Regierung verschlimmert, die es nicht wagt, dem Volk Die Koreaner jedenfalls würden die Einheit schritt- die Wahrheit über die Belastungen zuzumuten, die sie weise angehen, die Wirtschaftsbasis im Norden erhal- ihm zuzumuten gedenkt, und von einem Finanzmini- ten, ausbauen, verstärkt Investitionen ins L and holen, ster, der es fertigbringt, zur gleichen Zeit die Abga- die Infrastruktur erweitern und modernisieren, also benbelastung der Bürger und die Verschuldung des alles tun, was zu einer leistungsfähigen Volkswirt- öffentlichen Gesamthaushalts auf Rekordhöhen zu schaft führt. Dort fürchtet man sich nicht vor gezielter treiben, der zusätzlich massiven Sozialabbau betreibt und vom Staat initiierter Industriepolitik. Sie gehört und dennoch kein Geld in der Kasse hat. Auch die geradezu zum Erfolgsgeheimnis. In Deutschland hat Regierungsqualität ist ein Standortfaktor. Doch um man diese Chance zerredet, anstatt sie zu nutzen. diesen steht es denkbar schlecht. Die Debatte über den fehlenden Bauplan zum Es ist schon merkwürdig, zu erleben, wie sich die Standort Deutschland kommt drei Jahre zu spät. Sie Diskussion um den Wirtschaftsstandort auf zwei kommt nicht freiwillig, sondern sie kommt unter ebenso einfache wie irreführende Fragen zuspitzt. Krisendruck zustande. Sie wird mit dem Ausbleiben Erstens sind die Löhne zu hoch, zweitens leben wir des wirtschaftlichen Aufschwungs Ost und West - über unsere Verhältnisse. Unabhängig wie man zu immer drängender, immer hektischer und nimmt diesen Fragen steht, ob m an sie mit einerseits und immer bizarrere Züge an. Daran hat die Bundesregie- andererseits, mit Ja oder mit Nein beantworten rung nicht unerheblichen Anteil. möchte, es sind und es bleiben die falschen Fragen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15681

Werner Schulz (Berlin) Natürlich sind Unternehmen in der Rezession deren Kräfteverlust in den vergangenen Jahren mehr bestrebt, alle nur erdenklichen Kosten zu senken, als bedrohlich ist. auch die Personalkosten. Doch nichts rechtfertigt die Schließlich steht eine ökologische Infrastruktur, Behauptung, die deutschen Lohnkosten seien im namentlich Verkehrs- und Energiewende, auf der internationalen Vergleich zu hoch. Tagesordnung. Gerade die Beschränkung des Auto- Anders ist es mit dem Tempo der Lohnangleichung verkehrs, die Stärkung des schienengebundenen Ver- im Osten. Dort hat der schnelle Anstieg einige Unter- kehrs, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs wer- nehmen vor kaum lösbare Probleme gestellt. So aller- den zu massiver Beschleunigung des Strukturwandels dings, wie es sich Oskar Lafontaine ursprünglich führen. Wenn das, meine Damen und Herren, zum vorgestellt hat — er hat es heute einigermaßen Verlust von Arbeitsplätzen in den Automobilunter- zurechtgerückt —, kann man es nicht machen. Es ist nehmen führt, dann sind dafür nicht diejenigen ver- schon mehr Phantasie gefragt; vor allen Dingen muß antwortlich zu machen, die notwendige Entwicklun- man mit der Problemnennung auch Lösungsansätze gen in Gang setzen, sondern die Manager dieser erwähnen. Unternehmen, die das Potential ihrer Unternehmen nicht für sinnvolle und erfolgversprechende Aufga- Dieser Knall-und-Fall-Währungsunionsschock hat ben einzusetzen bereit sind. die Tarifparteien in eine Zwickmühle manövriert. Wir Die Arbeitsplatzbilanz des ökologischen Umbaus als kleine Partei haben zumindest Teillösungen vor- kann und muß positiv sein. Der Strukturwandel muß geschlagen, z. B. die Einführung einer degressiven so gestaltet werden, daß die internationale Wettbe- Lohnsubvention für Betriebe, die die Lohnanglei- werbsfähigkeit der Wirtschaft gewahrt und sogar noch chung kurzfristig nicht verkraften können, oder den verbessert wird und gleichzeitig die Produkte dem Gedanken der Investivlöhne. Dies sind Elemente und weltweiten, unausweichlichen ökologischen Wandel Instrumente, welche die notwendige Lohnanglei- entsprechen. Daneben bleibt eine Politik der Schaf- chung erleichtern können. fung und Erhaltung von Arbeitsplätzen dringend Was aber hat die Bundesregierung anzubieten, um erforderlich. Notwendig sind und bleiben die Sanie- dem wirklichen Problem des Standorts Deutschland rung der noch in Treuhandbesitz befindlichen Indu- zu begegnen? Folgt man den Vorschlägen des Wirt- strieunternehmen und ihre Weiterführung in öffentli- schaftsministers, so heißen die Zauberworte Deregu- cher Regie in Beteiligungsgesellschaften, Staatsunter- lierung, Sozialabbau, Umweltabbau, Abbau von nehmen, Managerholdings. demokratischer Bürgerbeteiligung, Kostensenkung Dem gleichen Ziel dient unsere Initiative zur Auf- durch den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft. bringung einer Investitionshilfeabgabe der westdeut- Doch, meine Damen und Herren, einen schlanken schen Wirtschaft für die Sanierung und den Neuauf- Staat erreichen wir nicht durch soziale Abführmittel. bau der gewerblichen Wirtschaft in den neuen Bun- Damit helfen Sie den Millionen von Arbeitslosen kein desländern. Wer nicht im Osten investiert, soll seinen Stück weiter, auf Dauer auch nicht der Wirtschaft. Die Beitrag für den Aufbau Ost auf andere Weise leisten. Wirtschaft klagt zwar lautstark über eine angeblich zu So werden auch die Trittbrettfahrer der Wiederverei- hohe Regelungsdichte, sie profitiert aber von den nigung unter den westdeutschen Unternehmen in die vergleichsweise hohen Standards in Deutschl and. patriotische Pflicht genommen. Hinzukommen müssen verbesserte Präferenzen für Ohne verbindliche Rahmensetzung, ohne Unter- ostdeutsche Produkte, EG-konform ausgedrückt: für stützung durch den Staat werden die Unternehmen Produkte aus Regionen mit sehr hoher Arbeitslosig- weder den ökologischen Umbau bewältigen noch die keit, was im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft. Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Zumindest bei der öffentlichen Beschaffung, aber Arbeitsplätze erreichen. Beides jedoch ist unverzicht- auch bei der Förderung von Investitionen mit öffent- bar und steht in unmittelbarem Zusammenhang. lichen Mitteln können wirksame Präferenzregeln ost- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS deutschen Produkten zu einer Chance verhelfen. SES 90/DIE GRÜNEN) Die Diskussion über die Arbeitszeitverkürzung muß aufgegriffen werden. Die wahnwitzige Forde- Anreize für einen beschleunigten ökologischen rung nach genereller Verlängerung der Arbeitszeiten Strukturwandel muß eine Forschungs- und Technolo- führt in ein Desaster und erkauft kurzfristige Kosten- giepolitik bieten, die die Entwicklung neuer, umwelt senkungen durch eine weitere Verschärfung der Pro- angepaßter Produkte und Technologien bis zu deren bleme auf dem Arbeitsmarkt. Markteinführung intensiv fördert. Noch ist Deutsch- land ein Kompetenzstandort. Bei gekürzten und zudem falsch eingesetzten Forschungsmitteln wird das aber nicht von Dauer sein. Wir müssen von den Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schulz, Ihre Sonnenuntergangstechnologien abkommen. Not- Redezeit ist abgelaufen. wendig ist die Abkehr von risikoreichen, an Groß- strukturen orientierten Technologien und ein Ende der Begünstigung weniger Großunternehmen. Die Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Forschungs- und Technologiepolitik muß viel stärker NEN): Gut, Herr Präsident; ich komme zum Ende. Ich auf die innovativen kleinen und mittleren Unterneh- -hätte noch viele Ideen und praktikable Vorstellungen men ausgerichtet werden. Besondere Bedeutung anzubieten. Aber vielleicht ist auch das ein Kennzei- kommt der Erhaltung und dem Wiederaufbau indu- chen des Standorts Deutschland, daß die neuen Ideen strienaher Forschung in den neuen Bundesländern zu, beschränkt werden, während die alten Vorstellungen 15682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Werner Schulz (Berlin) hier endlose Redezeit zum Schwafeln eingeräumt chen wir, um die Zukunft des Standorts Deutschland bekommen. zu sichern? (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Wir Politiker müssen uns sagen lassen, daß wir in Liste) den 80er Jahren trotz einer hervorragenden Konjunk- tur in Bund, Ländern und Gemeinden weiter Schulden gemacht haben. Heute ist uns allen klar: Der Staat Herr Kollege Schulz, das Vizepräsident Hans Klein: muß sparen; auf allen Ebenen und in allen Bereichen. ist eine höchst unzulässige Bemerkung. Sie werden Ausgaben müssen gekürzt, Leistungen eingeschränkt sich daran gewöhnen müssen, daß in einer Demokra- werden. Neue Ausgaben sind nur möglich, wenn an tie die Bürger entscheiden, wie viele Abgeordnete sie anderer Stelle eingespart wird. Wir brauchen eine in ein Parlament schicken. Sie bekommen über Ihren neue Bescheidenheit des Staates, Anteil an diesem Parlament hinaus Redezeit. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Und bitte: Keine weitere Kritik an der Amtsführung eine weitsichtige Bescheidenheit, um mit den Worten des Präsidenten! meines Landsmanns Martin Heidegger zu sprechen. Zur neuen Bescheidenheit des Staates gehört auch, daß er sich immer wieder selbstkritisch fragt, auf Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): So werden wir aus dem Reformstau nie heraus- welche Aufgaben er verzichten kann und welche finden, Herr Präsident. Aufgaben durch P rivate übernommen werden kön- nen. Aufgabenabbau ermöglicht dann auch Stellen- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ein abbau. Durch Personaleinsparungen haben wir mehr strenger Präsident müßte Sie hinausschmei- Geld für Zukunftsinvestitionen zur Verfügung. ßen!) Zu einem bescheidenen Staat gehört, daß er seine eigenen Gesetze und Verordnungen unter dem Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Gesichtspunkt überprüft, ob sie unbedingt notwendig Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin sind oder ob sie in der Praxis eher zu einer Gängelung Teufel. der Bürger und zu einer Gängelung der Wirtschaft führen.

Ministerpräsident (Baden-Württem- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) berg) (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Wir brauchen auch eine „Gesetzesfolgenabschät- (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Vor- zung". Sie ist so wichtig wie eine Technikfolgenab- schußbeifall wie bei der SED!) schätzung. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Herren! Die Krise, in der wir uns befinden, ist eine ordneten der F.D.P.) Konjunkturkrise und eine Strukturkrise. Niemand kann heute sagen, wann wir aus der Konjunkturkrise Meine Damen und Herren, die zügige Genehmi- herauskommen. Wichtige Indikatoren deuten darauf gung von Investitionsvorhaben wird immer stärker zu hin, daß der Abschwung gebremst ist. Aber selbst einem wichtigen Standortfaktor. Derzeit ist unser wenn die Konjunktur wieder anzieht, haben wir noch Anlagengenehmigungsrecht ein Investitionshemmnis lange mit Strukturproblemen und vor allem mit einer ersten Ranges. hohen Arbeitslosigkeit zu tun. (Zustimmung bei der CDU/CSU) Die Strukturkrise ist erstens eine Kostenkrise, und Unsere Gesetze räumen den betroffenen und den sie ist zweitens, zumindest partiell, auch eine Techno- nichtbetroffenen Anliegern mehr Rechte ein als den logiekrise. Investoren. Die deutsche Wirtschaft steht in der Gefahr, zwi- schen zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden; zwi- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das ist schen dem Mühlstein Niedriglohnländer auf der einen wahr!) Seite und dem Mühlstein Hochtechnologieländer Ich bezweifle, daß wir uns weiterhin den Luxus — wie USA und Japan — auf der anderen Seite. jahrelanger Gerichtsverfahren durch mehrere Tatsa- Um diese Gefahr zu bannen, empfiehlt die baden cheninstanzen bei Vorhaben leisten können, die für württembergische Zukunftskommission „Wirt- das Gemeinwohl und für neue Arbeitsplätze von schaft 2000" eine Doppelstrategie. Erstens müssen wir großer Bedeutung sind. die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wirtschaft wieder herstellen, und zweitens müssen wir konsequenter in neue Technologien, in neue Dies verlangt das Grundgesetz nicht. industrielle Felder vorstoßen. „Auch die Unternehmen müssen sich an die eigene (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Brust klopfen", hat der Präsident des Deutschen ordneten der F.D.P.) Industrie- und Handelstages, Hans Peter Stihl, selbst- kritisch festgestellt und dann ausgeführt: Wir werden diese doppelte Aufgabe nur meistern, - wenn wir Besitzstände jeder Art und auch geistige Manche von uns haben zu lange den Konjunktur Verkrustungen auf den Prüfstand stellen. Was haben aufschwung als sanftes Ruhekissen betrachtet, wir falsch gemacht? Welche Veränderungen brau- kein ausreichendes Kostenmanagement betrie- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15683

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) ben und dadurch Fett angesetzt, den Markt nicht Die heftige Kritik an dieser Äußerung kann nicht genug beobachtet oder in der Produktpolitik die von dem Sachverhalt ablenken, daß sich Lohnerhö- Weichen nicht richtig gestellt. hungen grundsätzlich am Produktivitätszuwachs orientieren müssen. Tun sie es nicht, muß die Rech- Trotzdem bin ich überzeugt: Die deutschen Unter- nung an anderer Stelle bezahlt werden: entweder nehmen werden aus der jetzigen Wirtschaftsk rise durch Inflation oder durch staatliche Transferleistun- leistungsfähiger hervorgehen. Denn sie machen gen und vor allem durch den Verlust von Arbeitsplät- große und erfolgreiche Anstrengungen, um Kosten zen. Das eine wie das andere ist auf Dauer nicht zu einzusparen und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu ver- verantworten. Ökonomische Gesetze können nicht bessern. Aber klar ist auch, daß diese Kostensenkun- durch Beschlüsse des SPD-Präsidiums außer Kraft gen der Unternehmen zu einem starken Anstieg der gesetzt werden. Arbeitslosigkeit führen. Hier liegt die zentrale Auf- gabe für alle, die am Wirtschaftsprozeß beteiligt sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Arbeitsplätze sind nicht alles, aber ohne Arbeitsplätze Herr Kollege Lafontaine, mit besonderer Aufmerk- ist alles andere nichts. samkeit habe ich Ihren Vorschlag zum Investivlohn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gehört. Vor 25 Jahren hat in diesem Haus Erwin Häussler, hat Thomas Ruf, haben andere einen Inve- Gefordert sind auch die Tarifpartner. Sie müssen stivlohn vorgeschlagen und ein konkretes Konzept sich vorhalten lassen, daß sie noch Anfang der 90er erarbeitet. Jahre meinten, mehr verteilen zu können, als erwirt- (Zuruf von der CDU/CSU: Und wurden aus schaftet wurde. Die Realität ist: Wir arbeiten zu kurz, gelacht!) zu wenig flexibel, und wir produzieren zu teuer. Wir haben sehr hohe Lohn- und Lohnnebenkosten und Nicht ein Appell an die Union ist zu diesem Thema werden sie bei aller Anstrengung nicht nennenswert notwendig, sondern eine Werbung bei den Tarifpart- senken können. Die Lohnschere zu anderen Ländern nern, vor allem bei den Gewerkschaften, die bisher darf sich aber nicht weiter öffnen. Deswegen sind Investivlöhne verhindert haben. reale Lohnsteigerungen in den nächsten Jahren nicht (Beifall bei der CDU/CSU) zu verkraften. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben Nicht zuletzt wird von allen Bürgerinnen und Bür- einen Anspruch darauf, daß man ihnen keine falschen gern viel Einsicht und Verständnis für den notwendi- Hoffnungen macht, die dann um so bitterer enttäuscht gen Strukturwandel und für die unverzichtbaren Lei- werden. stungen zum Aufbau der neuen Bundesländer ver- ( [Köln] [SPD]: Das ist wahr!) langt. Abgabenerhöhungen, höhere Steuern und Kür- zungen von staatlichen Leistungen müssen von den Sie wollen guten Lohn für gute Arbeit und keine Bürgern erst noch verkraftet werden. Das ist für viele Spenden. Sie haben einen Anspruch darauf, daß wir nicht leicht. Die Bürger müssen sich deshalb darauf alles tun, damit in den neuen Bundesländern neue, verlassen können, daß es bei den Belastungen gerecht international wettbewerbsfähige Arbeitsplätze ent- zugeht. Darüber läßt sich im Einzelfall sicher streiten. stehen. Die Frage, ob im Interesse dieses Ziels nicht Aber wer die Kürzungen staatlicher Leistungen pau- auch eine langsamere Angleichung der Löhne an das schal als Sozialabbau abqualifiziert, macht es sich zu Westniveau vertretbar ist, halte ich für berechtigt. leicht. Wer hohe Mehrausgaben beschließen will, wie Wir alle, im Westen wie im Osten, müssen aus dem bei der Pflegeversicherung, aber nicht zu einer vollen Schneckenhaus unserer Status - quo - Mentalität her- Entlastung der Wirtschaft an anderer Stelle bereit ist, aus und müssen uns den globalen Herausforderun- handelt in dieser Zeit verantwortungslos. gen, die von außen auf uns zukommen, auf die wir (Beifall bei der CDU/CSU) keinen Einfluß haben, stellen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Populismus und Ablehnung jeglicher Einsparungen ordneten der F.D.P.) werden der schwierigen Situation unseres Landes nicht gerecht. Opfer, die wir von den Bürgern verlan- Die Bundesregierung hat den erforderlichen Mut zu gen müssen, sind dann gerechtfertigt, wenn sie der unbequemen Entscheidungen bewiesen. Von den Stärkung unserer wirtschaftlichen Basis und der Maßnahmen zur Verbesserung der Standortbedin- Sicherung von Arbeitsplätzen dienen. gungen nenne ich nur beispielhaft das Spar-, Konso- lidierungs- und Wachstumsprogramm, das Standort- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die sicherungsgesetz, das neue Arbeitszeitgesetz, die Forderungen des saarländischen Kollegen Oskar Bahnreform, die Postreform. Das alles sind wichtige Lafontaine eingehen, die Einkommen in den neuen Entscheidungen und richtige Projekte. Jetzt müssen Bundesländern sollten nicht mit der bisher vorgesehe- sie durchgesetzt werden, denn unsere Konkurrenten nen Geschwindigkeit an das Westniveau angepaßt auf den Weltmärkten lassen uns nur wenig Zeit. Hier werden. Er hat sich damit massive Kritik zugezogen. können sich Länderregierungen ebenso wenig der Für mich ist dies kein Anlaß zur Schadenfreude. Ich gesamtstaatlichen Verantwortung entziehen wie die bedaure, daß er durch die Art und Weise der Diskus- unterschiedlichen Mehrheiten von Bundestag und sion die Chance verringert hat, dieses brisante Thema Bundesrat. nüchtern und in Ruhe zu erörtern. - Alle bereits realisierten und noch geplanten Maß- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr nahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit richtig!) unserer Wirtschaft sind nur die halbe Antwort auf die 15684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) Frage, wie wir aus der Krise herauskommen und wie allen Industriebranchen das größte Wachstum auf. wir vorhandene Arbeitsplätze sichern und neue schaf- Europa hat auf diesem Gebiet das größte Außenhan- fen. Auch der Bericht der Bundesregierung zur delsdefizit. Unsere Zukunftsstrategie muß heißen: Zukunftssicherung des Standortes Deutschland gibt Kooperation zwischen der öffentlichen Mikroelektro- nur eine halbe Antwort, denn er geht auf die Techno- nikforschung und einer privaten Mikroelektronikfer- logiekrise kaum ein. tigung, die auf die Bedürfnisse der mittelständischen (Siegmar Mosdorf [SPD]: So ist es!) Anwenderindustrie ausgerichtet ist. Die Strukturkrise — ich sage es noch einmal — ist aber Zweitens. Kommunikationsindustrie. Die deutsche nicht nur eine Kostenkrise; sie ist auch, zumindest Telekom sollte möglichst schnell ein Breitbandkom- partiell, eine Technologiekrise. munikationsnetz aufbauen. Forschung und Indust rie sind gleichermaßen auf diese verbesserten Kommuni- Man muß die Technologiekrise gewiß differenziert kationsmöglichkeiten und auf eine gegenseitige Ver- betrachten. In den großen klassischen Industrien netzung angewiesen. gehörten oder gehören wir nach wie vor zur Spitzen- gruppe der Volkswirtschaften: im Automobilbau, dem Drittens. Wir müssen in der Bio - und Gentechnik Anlagenbau, dem Maschinenbau, in der Elektrotech- aufholen; denn sie gehört zu den wachstumsstärksten nik, in der Umwelttechnik, der chemischen Indu- Zukunftsindustrien. Deshalb begrüße ich die Novel- strie. lierung des Gentechnikgesetzes durch den Deutschen Bundestag, sehe aber die Gefahr, daß selbst diese In den wichtigen Zukunftstechnologien, die die relativ bescheidene Reform im Bundesrat noch ver- Entwicklung der Wirtschaft entscheidend bestimmen wässert wird. und die Grundlage für neue Industriezweige sein werden, ist Deutschland nur noch in wenigen Berei- Wir haben in Deutschland an Universitäten und chen an führender Stelle, nämlich in der Telekommu- Forschungsinstituten Spitzenleistungen in der Mole- nikation und in der Industrieautomatisierung. In den kularbiologie und in der Gentechnik. Aber uns nutzt meisten anderen Zukunftstechnologien sind wir die beste Forschung nichts, wenn keine Umsetzung in zweitklassig geworden. Ich nenne wichtige Felder der Produkte in unserem eigenen Land erfolgt. Informationstechnik, etwa die Halbleiter- und Chip- (Beifall bei der CDU/CSU) fertigung, die Computerfertigung, die Unterhaltungs- elektronik, Teilbereiche der Bio- und Gentechnologie, Während wir in Deutschland über Gefahren diskutie- Teilbereiche von neuen Werkstoffen. In diesen Berei- ren, Ängste pflegen und Existenzgründer verschrek- chen haben Japan und teilweise die USA hohe Welt- ken, gibt es in den USA bereits weit mehr als 1 000 marktanteile, bis zu 90 %, und sie haben einen mehr- gen- und biotechnologische Produktionsanlagen. jährigen Vorsprung. Die Technikfeindlichkeit in Deutschl and ist ein Wenn Deutschland in diesen Schlüssel- und Quer- negativer Standortfaktor. Wir müssen sie durch eine schnittstechnologien den Anschluß verpaßt, werden vorurteilslose öffentliche Diskussion überwinden. wir nicht genügend neue Arbeitsplätze schaffen kön- Viertens. Verkehrs - und Umwelttechnologie. Intel- nen, um den beschriebenen Wegfall von Arbeitsplät- ligente neue Computersysteme zur Verkehrslenkung zen ausgleichen zu können. Neue Technologien müssen zu einem Exportschlager unserer Wirtschaft schaffen nicht nur neue Arbeitsplätze in der Produk- werden. Der Bundesverkehrsminister hat zu Recht tion, sondern auch bei den hochwertigen Dienstlei- 6 Milliarden DM aus dem Bundesverkehrswegeplan stungen. zur Förderung intelligenter Verkehrssysteme auf der Wir müssen viel konsequenter in technologische Straße, Schiene und Schiffahrt vorgesehen. Staat und Zukunftsbereiche vorstoßen, in denen wir einen Rück- Industrie müssen jetzt die Chancen ergreifen, die stand haben, in denen wir aber gleichzeitig leistungs- damit verbunden sind. fähige Forschungseinrichtungen haben. Unsere Weltweit hohe Wachstumspotentiale sehe ich auch Schwäche liegt ja nicht in der Grundlagenforschung, im Bereich moderner Umwelttechnologien, bei denen sondern unsere Schwäche liegt in der zu langsamen Deutschland heute noch führend ist. Auch dies ist ein oder überhaupt versäumten Umsetzung von For- Wachstumsmarkt, auf dem neue Arbeitsplätze entste- schungsergebnissen in neue, wettbewerbsfähige Pro- hen. dukte. Meine Damen und Herren, wenn wir auf dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Gebiet der Hochtechnologien vorne bleiben und ordneten der F.D.P. — Siegmar Mosdorf Rückstände aufholen, dann brauchen wir zweierlei. [SPD]: So ist es!) Wir brauchen ausreichende Mittel für die Forschung. Deshalb haben wir in Baden-Württemberg mehr als Gerade in Zeiten knapper Kassen dürfen wir die 150 Technologietransferzentren geschaffen, die mit Forschung nicht vernachlässigen; denn Forschung großem Erfolg insbesondere der mittelständischen legt die Grundlagen für die Arbeitsplätze von mor- Wirtschaft die neuesten Forschungsergebnisse für die gen. Produktentwicklung und neue Produktionsverfahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge vermitteln. Ich nenne vier Beispiele für erfolgverspre- ordneten der F.D.P. und der SPD) chende Zukunftstechnologien: - Deshalb habe ich die Kürzung der Forschungsförde- Erstens. Wir brauchen in Deutschland und in rung im Bundeshaushalt nicht verstanden. Europa eine wettbewerbsfähige Informationstech- nik - und Mikroelektronikindustrie. Sie weist von (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15685

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) Ich danke daher dem Bundeskanzler für seine Aus- Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württem- führungen in der heutigen Debatte. berg): Bitte sehr, Herr Kollege Conradi. Forschung und Entwicklung, ein Spitzenplatz bei Hochtechnologien und der Einstieg in neue zukunfts- Peter Conradi (SPD): Herr Ministerpräsident, könn- trächtige Bereiche kosten sehr viel Geld. Da können ten die von Ihnen zu Recht beklagten hohen Ener- wir nicht gleichzeitig auch noch Arbeitsplätze in giepreise in Baden-Württemberg etwas damit zu tun Wirtschaftsbereichen subventionieren, die internatio- haben, daß die Landesregierung Baden-Württemberg nal nicht mehr wettbewerbsfähig sind. in früheren Jahren sehr entschieden den Einstieg in die Kernenergie betrieben hat und jetzt auf einmal (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das ist Überkapazität hat entgegen ihren Ankündigungen, wahr!) das Licht gehe aus? Beides übersteigt unsere Kraft und unsere finanziellen Möglichkeiten. Deshalb ist wirklich nicht einzusehen, Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württem- daß wir bisher immer noch allein für die Kohle jährlich berg): Herr Kollege Conradi, das ist nicht wahr. Es ist fast 10 Milliarden DM ausgegeben haben und in zwar wahr, daß die Landesregierung von Baden Zukunft 7 Milliarden DM Erhaltungssubventionen Württemberg unter dem SPD-Wirtschaftsminister Veit zahlen sollen. erstmals den Einstieg in die Kernenergie bet rieben (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: hat; Sehr wahr! Sehr gut! — Beifall bei der CDU/ (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) CSU) aber nicht die Kernenergie ist unsere teure Energie, Meine Damen und Herren, zu welchen Folgen diese sondern die Kohle, wie ich gerade an einem konkreten Politik führt, möchte ich am Beispiel baden-württem- Beispiel bewiesen habe. bergischer Energieversorgungsunternehmen deut- (Beifall bei der CDU/CSU) lich machen. Die Energieversorgung Schwaben muß die hochsubventionierte deutsche Steinkohle, die Meine Damen und Herren, zu dem Argument, an 284 DM je Tonne gekostet hat, zum Weltmarktpreis der Kohleförderung hingen rund 100 000 Arbeits- von 75 DM je Tonne verkaufen. Wir sind Kohle- plätze, möchte ich bemerken, daß im Lande Baden Exportland, weil wir keine Lagerkapazitäten mehr Württemberg alleine in der Metallindustrie in den haben und weil wir am eigenen Bedarf vorbei deut- letzten zwei Jahren 140 000 Arbeitsplätze abgebaut sche Steinkohle beziehen müssen. Das Badenwerk wurden. produziert, um Kohle zu verbrauchen, nicht benötig- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das wer ten Strom, der dann zu Billigstpreisen in die Schweiz den auch noch mehr werden!) exportiert wird. Wer will eine solche Politik noch Wenn unseren Unternehmern und Arbeitnehmern verantworten? diese Folgen des Strukturwandels zugemutet werden, (Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD!) so muß dies im Prinzip auch für andere Länder und Branchen gelten. Wir haben in Deutschland die mit Abstand höchsten Strompreise Europas. Wir haben in Baden-Württem- (Beifall bei der CDU/CSU) berg die höchsten Strompreise Deutschlands. Wir Diese ökonomische Wahrheit sollten Sie, Herr Kol- zahlen in Baden-Württemberg jetzt schon 1 Milliarde lege Lafontaine, auch akzeptieren und mit uns umset- DM Kohlepfennig im Jahr. Dies ist ein negativer zen. Standortfaktor für Deutschland und für Baden-Würt- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das temberg. lernt er nie!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Natürlich sehe ich die Probleme in Nordrhein-Westfa- ordneten der F.D.P.) len und im Saarland. Um ihre spezifischen Struktur- Warum kürzen wir nicht baldmöglichst die Kohle- probleme zu lösen, soll ihnen weiter Geld zur Verfü- förderung um 20 % und setzen das eingesparte Geld gung gestellt werden, aber vor allem für neue und stattdessen für die Förderung zukunftsträchtiger zukunftsträchtige Arbeitsplätze, zeitlich begrenzt und Technologien ein? degressiv gestaffelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn wir unseren Rückstand bei den neuen Tech- nologien aufholen wollen — das ist der zweite Punkt —, brauchen wir neue Formen der Zusammen- Vizepräsident Hans Klein: Herr Ministerpräsident, arbeit zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Sie haben ja, wie Sie wissen, nach der Verfassung Wir brauchen eine bessere Verzahnung von For- unbeschränkte Redezeit. Gleichwohl ist in sechs schungs-, Technologie-, Wirtschafts- und Strukturpo- Sekunden die Redezeit abgelaufen, die vereinbart litik. Wir haben viele Milliarden für die Erforschung ist. modernster Technologien ausgegeben. Wenn sie Aber jetzt möchte der Kollege Conradi noch eine dann anwendungsreif sind, stellen wir sie häufig Zwischenfrage stellen. genug ins Industriemuseum. Ich nenne nur beispiel- -haft den Schnellen Brüter, das hochauflösende Fern- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist sehen, ich nenne die Magnetschwebebahn. überflüssig; das muß nicht sein!) Erfreulicherweise gibt es auch positive Beispiele. Das wird von der Redezeit abgezogen. Ich nenne den Airbus, ich nenne auch die ARIANE 15686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) und die europäische Raketen- und Satellitentech- nologien und auch in neuen Märkten, die wir erschlie- ßennik. müssen. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — In anderen Ländern funktioniert die Zusammenar- Beifall bei der F.D.P.) beit zwischen Forschung, Politik und Wirtschaft auf dem Gebiet der Hochtechnologien jedenfalls erheb- lich besser als bei uns. Daraus müssen wir Folgerun- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege gen ziehen. Deshalb trete ich dafür ein, auf Bundes- Wolfgang Thierse. ebene einen Sachverständigenrat für die Begutach- tung der technologischen Entwicklung einzurichten. Wolfgang Thierse (SPD): Herr Präsident! Meine In den USA, dem klassischen L and der Marktwirt- Damen und Herren! Vorweg muß ich sagen, daß ich schaft, wird ganz selbstverständlich mit exakt einem richtig gerührt bin, wie besorgt, liebe Kollegen von solchen Beratungsgremium gearbeitet. Dieser Tech- der CDU, Sie um meine Redezeit waren. Ich hoffe, Sie nologierat, den unsere Kommission „Wirtschaft 2000" sind auch am Schluß der Rede noch der Meinung, daß vorschlägt, soll die Bundesregierung ressortübergrei- diese Besorgnis berechtigt war. fend bei der Entwicklung einer zukunftsorientierten Zur Sache. Der Standortbericht der Bundesregie- Wirtschafts- und Technologiepolitik beraten, eine rung ist ein Dokument des Scheiterns. Er dokumen- öffentliche Diskussion über Zukunftstechnologien tiert, daß sich selbst nach Meinung der dafür verant- anstoßen — dringend nötig in unserem technikfeind- wortlichen Regierung unsere Wirtschaft in einem lichen Land — und dadurch zu einer Bewußtseinsän- jammervollen Zustand befindet. derung beitragen. (Detlev von Larcher [SPD]: Jawohl!) (Beifall bei der CDU/CSU) Den Menschen in Ost- und in Westdeutschland kann man vor allem eine wichtige Konsequenz aus Meine Damen und Herren, einen letzten Punkt dem Standortbericht nicht oft genug sagen: Nicht die möchte ich aus Zeitgründen nur noch kurz anspre- Einheit ist die Ursache unserer gesamtwirtschaftli- chen. Wir exportieren — erfreulicherweise — fast 70 % chen Probleme. Nichts, aber auch rein gar nichts hat in den Bereich der Europäischen Gemeinschaft und in die wachsende Arbeitslosigkeit an der Ruhr, in den Europäischen Wirtschaftsraum. Wir haben die Schweinfurt oder Sindelfingen mit den Folgen der Hälfte an Export in die Vereinigten Staaten verloren. Einheit zu tun. Sie ist hausgemacht. Wir haben nur einen sehr geringen Anteil — 7 %, (Beifall bei der SPD) 9 % — in Ostasien und in Südostasien, wo die Musik Die liegen weiter zurück als nur drei spielt und wo wir noch Wachstumsraten in zweistelli- Ursachen Jahre. Sie haben mit dem Zustand zu tun, in dem sich ger Größenordnung haben. die Gesellschaft und Wirtschaft unter einer konserva- Ich begrüße deshalb ganz außerordentlich das tiv-liberalen Regierung befinden. Die Wirtschaft hat Asien-Konzept der Bundesregierung. eine dienende Funktion. Die wirtschaftliche Lei- stungskraft kann immer nur so gut sein, wie die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Verfassung der Gesellschaft ist, die die Leistung ordneten der F.D.P.) erbringen soll.

Es muß jetzt umgesetzt werden und darf auch nicht an Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Thierse, der finanziellen Gründen scheitern. Ich begrüße, daß sich Kollege Schäuble würde gerne eine Frage stellen. die deutschen Botschaften anders als vor fünf oder zehn Jahren nun nicht zu schade dafür sind, aktiv Wolfgang Thierse (SPD): Bitte schön. Wirtschaftsförderung für unser L and zu betreiben. Wir müssen stärker Fuß fassen. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Kollege (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Thierse, da Sie gerade von der Einheit gesprochen ordneten der F.D.P.) haben, von der Sie gesagt haben, daß sie nicht schuld an unseren Problemen sei — Unsere Regierung, die fast singulär für freien Welt- handel eintritt, muß auf voller Gegenseitigkeit beste- Wolfgang Thierse (SPD): An diesen! hen. Die deutsche Automobilindustrie hat beispiels- weise völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß im Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): — an diesen letzten Jahr aus Korea 33 282 Kraftfahrzeuge nach Problemen —, würde ich Sie gerne fragen, ob Sie unter Deutschland importiert worden sind und ganze 367 „Einheit" das verstehen, was der Ministerpräsident deutsche Pkws nach Korea hineingelassen worden des Saarlandes hier als Einheit definiert hat, der sind. Auch an diesen Stellen muß dringend angesetzt ausweislich des Protokolls gesagt hat: „Ich habe unter werden. ,Einheit' verstanden, daß alle Menschen in Ost und West die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Leben teilzunehmen und Arbeit zu finden", oder ob ordneten der F.D.P.) Sie nicht mit mir der Meinung sind, daß „Einheit" Meine Damen und Herren, im Chinesischen gibt es - etwas mehr als nur die Teilhabe am gesellschaftlichen für „Krise" und „Ch ance" dasselbe Schriftzeichen. Leben war. Wir haben es in der Hand, ob wir die Chancen der (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der Krise nutzen. Sie liegen nicht zuletzt in neuen Tech SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15687

Wolfgang Thierse (SPD): Herr Kollege Schäuble, ich ausgeschlagen. Eine Verwaltungsreform, eine Über- bin gerne bereit zu sagen, daß Arbeit zu haben und auf prüfung des Bildungssystems, ein neues wirtschafts- dieser Basis am Leben dieser gemeinsamen Nation politisches Konzept hätten begonnen werden kön- voll teilnehmen zu können, an dem politischen, an nen. dem kulturellen Leben, die Freiheiten zu genießen, Die gewachsenen strukturellen Probleme West- die wir DDR-Bürger errungen haben, für mich aller- deutschlands brechen nun auf. Ohne den kurzen, aber dings zentraler Punkt dieser Einheit ist. heftigen Einheitsboom wären sie drei Jahre früher (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und schon viel deutlicher geworden. Jetzt aber wird die dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Hans Überwindung der Arbeitslosigkeit im Westen ge- Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das ist nichts nauso zu einem Teil der Herausforderung, gleiche als Ausweichen!) Lebensverhältnisse in Deutschland zu schaffen, wie die Lösung der ostdeutschen Probleme selbstver- Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Generalinven- ständlich der andere Teil der Herausforderung ist. tur der deutschen Gesellschaft gefordert. Deren Ergebnis ist — das muß man nun allerdings sagen —: Die Analyse der Ursachen der ökonomischen Pro- Wir sind staatlich vereinigt, aber sozial und auch bleme verbietet es, die Menschen in Ost- und West- emotional gespalten. Die Verfassung unserer Gesell- deutschland weiter gegeneinander auszuspielen. Das schaft ist schlecht. Sie ist geprägt von vielfältigen ist zerstörerisch, es ist auch sachlich falsch. Spaltungen, vom Gegeneinander, von Zukunftsäng- (Beifall bei der SPD) sten, von Verteilungskämpfen. Das ist ganz wesent- lich einem Mangel an politischer Führung geschuldet, Ich will ausdrücklich sagen — das ist meine Grund- Führung als Verläßlichkeit, wie sie überzeugung, die ich seit drei Jahren immer wieder- einmal praktiziert hat. Das Gegenteil ist heute der hole —: Die ostdeutschen Probleme sind nur gesamt- Fall. deutsch zu lösen oder gar nicht. Wenn es Anzeichen für eine geistig-moralische (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Wende gibt, dann allerdings höchst gefährliche. Das 90/DIE GRÜNEN) Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit, ja den Gestal- Dies sage ich auch adressiert an Ostseparatistenpar- tungswillen von Politik geht verloren. Partikularego- teiungen, die auf schäbige Weise ein gefährliches ismen feiern fröhliche Urständ. Wohlstandschauvinis- Spiel mit ostdeutschen Enttäuschungen treiben. mus ist anzutreffen. Die Ungerechtigkeit ist gewach- sen, Entsolidarisierung nimmt zu. Eine Mehrheit der (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist Bevölkerung verliert das Gefühl, daß sich ihre Lei- richtig!) stung wirklich lohnt. Der ökonomische Attentismus Aber ich füge hinzu: Ostdeutsche Probleme zu lösen der Regierenden führt zu gesellschaftspolitischer ist, weil ein Gewinn für Gesamtdeutschland, auch ein Stagnation, zu Perspektivlosigkeit der Regierten. Gewinn für die Westdeutschen. Elf Jahre lang hat sich diese Regierung nicht darum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gekümmert, daß wir eine Gesellschaft sind und blei- DIE GRÜNEN) ben müssen, in der sich Geben und Nehmen die Ich kann deshalb nur an diejenigen appellieren, die Waage halten, die Einheit seit drei Jahren immer nur als Belastung (Beifall bei der SPD) und Gefährdung und Kostenfaktor diskutieren: Hören in der Gerechtigkeit und Zusammengehörigkeit, in Sie auf damit! der sozialer Friede gepflegt werden müssen, auch weil (Dr. [F.D.P.]: Wer ist das sozialer Friede eine Produktivkraft ist. denn?) (Beifall bei der SPD) Von Flensburg bis Passau, von Saarbrücken bis Es ist eine armselige Propaganda, jetzt plötzlich im Greifswald sollten wir endlich begreifen: Wir haben Nationalgefühl das Heil zu suchen. Nicht durch das eine große Aufgabe, aber nur gemeinsam können wir Hissen vieler schwarz-rot-goldener Fahnen und den die wirtschaftliche Modernisierung und einen Neuan- nationalistischen Appell an die Identität wird die fang in Ostdeutschland schaffen. Bereitschaft zu neuer Anstrengung geweckt — die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU — Zeiten sind in Deutschland hoffentlich vorbei, daß dies Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Davon so einfach funktioniert —, sondern durch Gerechtig- reden wir doch seit drei Jahren!) keit, sozialen Frieden und eine am Ergebnis statt an einer reinen Lehre orientierten Wirtschaftspolitik. In egoistischen Verteilungskämpfen um vermeintli- che oder tatsächliche Besitzstände zwischen Ost und (Beifall bei der SPD) West werden wir scheitern. Nötig ist eine andere Nur mit Symbolen anstelle von Taten geben sich die Politik. In der DDR haben wir uns 40 Jahre lang auf Wähler nicht zufrieden. So dumm sind die Menschen bessere Zeiten vertrösten lassen müssen. Der oft auch in Ostdeutschland nicht, um das nicht zu bemer langweiligen, entmutigenden und entsagungsvollen ken. Gegenwart wurde die Verheißung einer leuchtenden Nicht einmal die ungeheure Begebenheit der deut- Zukunft entgegengestellt: Morgen werde es besser schen Vereinigung wurde genutzt, um den schon fast - gehen. lethargischen Zustand in unserem Lande zu ändern. Und heute? Die blühenden Landschaften kommen Die Chance, die sich 1989/90 für eine Mobilisierung eben später, sagt der Parteivorsitzende der CDU. eines innovativen Neuanfangs bot, Sie haben sie Herzlichen D ank, Herr Bundeskanzler, diese Melodie 15688 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Wolfgang Thierse kennen wir schon zur Genüge. Damit ist es nicht im Westen Deutschlands im Moment schneller wächst getan. als im Osten, wo sie viel höher ist. Die Männer und Frauen in Ostdeutschland wollen Wenn Kern der Lebensverhältnisse ist, Arbeit zu weder Versprechungen noch Vertröstungen auf bes- haben und Arbeit zu bekommen, dann ist auch klar, sere Zeiten. Was sie wollen, ist Arbeit und die für sie daß die Anstrengung um Arbeitsplätze, um die angemessene Bezahlung. Zukunft in Arbeit, das vorrangige Ziel von Politik schlechthin ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Sie wollen für sich selber sorgen und zum gesamtdeut- Dann ist auch klar, daß demgegenüber alle anderen schen Wohlstand ihren eigenen Beitrag leisten. Sie Ziele unausweichlich nachrangige sind, auch was das wollen einen Lohn, mit dem sie auskommen in einer Tempo und die konkreten Schritte der Einkommens- Welt, in der zu leben fast genauso teuer ist wie in angleichung angeht. Das ist selbstverständlich. Westdeutschland. Ich will als ostdeutscher Politiker ausdrücklich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sagen: Wenn wir Ostdeutschen, weil es nicht anders DIE GRÜNEN) geht, zustimmend den Westdeutschen zumuten, zur Bewältigung der wirtschaftlichen Krise und auch der Niemand muß den Ostdeutschen heute noch erklä- Probleme des Aufbaus im Osten mit Einkommensein- ren, daß der Zusammenhang zwischen Löhnen und bußen fertig zu werden, dann bin ich auch bereit, Produktivität nicht vollständig zerstört werden darf. meinen ostdeutschen Landsleuten zu sagen, daß Sie wissen, daß das nicht funktionieren würde, und unser Beitrag wahrscheinlich darin besteht, Geduld akzeptieren erheblich niedrigere Tariflöhne. Verges- zu entwickeln. sen Sie doch nicht, daß die Tarifabschlüsse für Ost- deutschland unter der politischen Vorgabe eines ein- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das tun heitlichen Marktes und sich immer weiter angleichen- wir, aber nicht Herr Lafontaine!) der Preisstrukturen erfolgten. In diesem Rahmen ent- — Entschuldigen Sie, das ist nun kein sehr origineller scheiden die Menschen, ob Unternehmer oder Arbeit- Zwischenruf. In diesem Punkt stimme ich mit Oskar nehmer, mit ihren Organisationen selbst, welche Lafontaine überein, wie Sie vielleicht nicht bemerkt Bezahlung angemessen ist. haben. Die Tarifautonomie ist ein kostbares Gut dieser (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Nein!) Gesellschaft, und daran lassen wir nicht rütteln. Die Wenn wir den Westdeutschen Einbußen zumuten, Höhe der Löhne richtet sich aber nicht nur nach der dann können wir Ostdeutschen uns unseren solidari- Produktivität. Die Tarifpolitik war auch immer eine schen Beitrag, Geduld aufzubringen, auch selber Politik, die den Menschen ermöglichen wollte, in zumuten. Das gibt es ja jetzt schon: Wir haben ihrem Lebensumfeld zu bleiben. Deshalb darf die differenzierte Lohnangleichungsprozesse. Es gibt Angleichung der Lebensverhältnisse als Ziel nicht eine Verlangsamung des Prozesses. Dies ist akzep- aufgegeben werden. Sie bedeutet nicht bloß, daß tierte Realität der Ostdeutschen. Wir, Ost- und West- Preise und Einkommen im Osten an die des Westens deutsche, haben uns dann allerdings eine andere Art angeglichen werden. Es geht eben vielmehr um von Solidarität zuzumuten, nämlich die Solidarität Lebenschancen, um die Würde der Menschen derer, die Arbeit haben, mit denen, die keine Arbeit schlechthin. haben. Vielleicht schauen Sie auf der Regierungsbank (Beifall bei der SPD) einmal im Grundgesetz, aber auch in Ihrem eigenen Parteiprogramm nach, welchen Rang dort die Men- Wir müssen also eine breite gesellschaftliche schenwürde hat. Diesen Rang muß sie auch wieder in Debatte darüber führen, wie wir die zu knappe Arbeit der politischen und gesellschaftlichen Realität erhal- gerechter unter denen verteilen, die Arbeit haben ten. wollen. Dies scheint mir eines der zentralen Themen auch unter der Überschrift Standort Deutschland zu (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das brau- sein. chen Sie uns nicht zu sagen, Herr Thierse, uns nicht!) Würde die Arbeit auf gerechte Weise verteilt, gewönnen alle: die einen mehr Zeit für die Entfaltung Dem muß auch die Wirtschaft dienen. Dafür lohnt sich anderer Wesenszüge als die von Arbeitskräften und jede Anstrengung. Konsumenten, die anderen könnten damit ihr gesell- Wenn ich von den Lebensverhältnissen rede, will schaftliches Ausgeschlossensein überwinden. ich ausdrücklich hinzufügen — ich hoffe, das ist (Hansjürgen Doss [CDU/CSU]: Amt für unstrittig —: Sicherung und Schaffung von Arbeits- Arbeitsverteilung!) plätzen, eine Zukunft in Arbeit ist Kern der Lebens- verhältnisse und ihrer Angleichung. — Es ist schon interessant, daß Sie, lieber CDU- Kollege, sofort immer an den Staat und an ein Amt (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und denken. Ich habe über eine große gesellschaftliche dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Debatte über gerechtere Verteilung von zu knapper Angleichung der Lebensverhältnisse darf doch nicht Arbeit gesprochen und nicht vom Di rigieren. heißen, daß wir uns in der Arbeitslosigkeit vereinigen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich will nur darauf hinweisen, daß die Arbeitslosigkeit DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15689

Wolfgang Thierse Sie wissen doch auch — oder wissen Sie das Wer so redet, hat die Dramatik der Lage nicht begrif- nicht? —, daß Massenarbeitslosigkeit Armut bedeutet. fen und legitimiert ein Armenhaus Ostdeutschland. Angesichts unseres Bruttosozialprodukts und des vor- Die Regierung verlagert die Verantwortung für die handenen privaten Geldvermögens von fast 3 000 Bewältigung gesellschaftlich verursachter Not in die Milliarden DM, wie die Bundesbank mitteilte, ist es private Sphäre der betroffenen Familien. Vom Sozial- unerträglich, daß wir uns wachsende Armut und staat Bundesrepublik Deutschland bleibt da nicht so Altersarmut leisten. Eine Gesellschaft, die sich so sehr viel übrig. Ich halte dies immer für die falsche verhält, versagt vor ihren eigenen Möglichkeiten und Antwort. Ansprüchen. Schlaglichtartig wird klar, was mit Deregulierung Die Sicherung der Renten für alle in Ost und West gemeint ist. Semantisch verspricht der Begriff mehr nach denselben Kriterien ist ein wesentlicher Beitrag Eigenverantwortung und mehr Freiheit, aber im zum Schutz der Menschenwürde im Alter. Ergebnis wird daraus größere soziale Not. Es ist auch wirtschafts- und gesellschaftspolitisch Unsinn, den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Staat aus dem wirtschaftlichen Geschehen zurückzu- DIE GRÜNEN) ziehen. Ich bin stolz auf den nicht ganz unwesentlichen Haben wir denn aus den ersten Monaten und Beitrag, den die SPD zum Renten-Überleitungsgesetz Jahren der deutschen Einheit nichts gelernt? Beweist leisten konnte. nicht gerade der Transformationsprozeß in Ost- deutschland Tag für Tag aufs neue, daß wir ohne (Beifall bei der SPD) staatliche Aktivität die neuartigen Probleme niemals Die gleiche Würde und die gleiche Freiheit, das sind in den Griff bekommen? Der Markt kann diese Pro- gesellschaftliche Ziele. Sie zu erreichen fällt bei einem bleme nicht allein lösen. hohen Bruttosozialprodukt viel leichter als bei einem niedrigen. Vizepräsidentin : Herr Kollege Das Gebiet der ehemaligen DDR liegt um 40 % Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- unter dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Bruttosozial- gen Gallus? produkt der Europäischen Gemeinschaft und ist damit nicht nur die ärmste Region in Westeuropa, sondern Wolfgang Thierse (SPD): Ja. unter den armen Regionen auch noch die größte zusammenhängende Region. Be troffen sind knapp Georg Gallus (F.D.P.): Herr Kollege Thierse, ich 16 Millionen Menschen. Diese Menschen sind in den habe viel Verständnis für die Nöte unserer Menschen letzten Jahren Zumutungen ausgesetzt worden, die im Osten. Aber möchten Sie nicht wenigstens zuge- niemand ermessen kann, der das nicht selbst erlebt ben, daß wir uns bis an die Grenze der Leistungsfä- hat. higkeit unserer Gesellschaft bemühen zu helfen? Für die Kohle- und Stahlarbeiter in Nordrhein- In drei Jahren sind 500 Milliarden DM von West Westfalen und an der Saar ist ihre drohende oder nach Ost transferiert worden, und die Rentenanpas- schon eingetretene Arbeitslosigkeit aber genauso sung vollzieht sich in hohem Tempo. Bei einer Inan- schlimm wie für jeden Ostdeutschen. Ich bin mir spruchnahme von 1,97 Renten pro Familie im Osten sicher, jeder möchte einen aus eigener Kraft gesicher- und von 1,2 im Westen sind die Renteneinkommen pro ten Arbeitsplatz und nicht einen, den er nur auf Kosten Familie heute im Osten bei den 80 %, die dort erreicht eines Nachbarn — egal, ob Tscheche oder Westdeut- worden sind, teilweise schon höher als im Westen. Das scher — erhalten kann. muß doch auch von Ihnen als Leistung dieser Bundes- Aber in Ostdeutschland gingen nicht Hunderttau- regierung anerkannt werden. sende von Arbeitsplätzen, sondern vier Millionen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) verloren. Diese Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Sie wird in der veröffentlichten Meinung weitgehend Wolfgang Thierse (SPD): Ich bin gern zu Dankbar- mit Schulterzucken hingenommen. Bei diesen Zahlen keit bereit. Aber dann will ich die Dankbarkeit auch aber schlägt Quantität gesellschaftspolitisch in Quali- richtig adressieren: an die Versicherungszahler im tät um. Westen, Wie lautet die Antwort der Bundesregierung auf (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und diese Entwicklung? Sie antwortet mit einer Kürzung dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Befristung der Leistungen für Arbeitslose. Den an jene, die die Rentenversicherungsbeiträge gezahlt Ostdeutschen gibt sie noch mit auf den Weg: Da es haben, von denen im Osten Deutschlands die Renten dort so viele Doppelverdiener gebe, trete ein Absin- bezahlt werden. Dazu bin ich gerne bereit. ken des Familieneinkommens unter die Sozialhilfe- grenze meistens nicht ein, solange nur ein Familien- Ich werde noch auf den Punkt zurückkommen, daß mitglied arbeitslos werde. — So Bundesfinanzminister die außerordentlichen Finanztransferleistungen, die Waigel vor dem Bundesrat am 24. September. zu einem guten Teil von den Steuerzahlern erbracht werden, künftig effektiver und mehr für die Schaffung (Zurufe von der SPD: Unerhört!) von Arbeitsplätzen eingesetzt werden sollten, mehr für Investitionen und weniger für Konsumtion. Das ist Wenn das die Perspektive für Ostdeutschland ist, so wieder ein Punkt, an dem ich mit Oskar Lafontaine ist sie an Zynismus kaum zu überbieten. übereinstimme. Öffentlich habe ich das immer so (Beifall bei der SPD) gesagt. Das ist gar nicht der Streitpunkt. 15690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Wolfgang Thierse Nur: Wenn Sie von mir Dankbarkeit verlangen lebt. Vor diesem Hingergrund ist die Politik, For- (Georg Gallus [F.D.P.]: Anerkennung!) schungs- und Entwicklungsabteilungen ostdeutscher Betriebe auszugründen und auf den freien Markt zu — oder Anerkennung —, dann zwingen Sie mich zu entlassen, ein wesentlicher Grund für den Niedergang einer kleinen polemischen Nebenbemerkung, die ich der ostdeutschen Forschungslandschaft. Von 75 000 nicht machen wollte. Dann müssen wir gelegentlich Beschäftigten in der Industrieforschung Ende 1989 in auch darüber reden, was in den ersten drei Jahren der der DDR sind vor einem Dreivierteljahr noch 15 000 deutschen Einigung an Umverteilung von Ost nach übrig gewesen. Der Abbau weiterer 9 000 Stellen West stattgefunden hat: Arbeitskräfte, Arbeitsplätze, wurde bis Ende 1993 allgemein prognostiziert. Gewinne. Forschung und Entwicklung gehören zum Kern (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke produktiver Entwicklung. Wer diesen Bereich so Liste) kaputtsaniert, dem kann die Absicht zur Erhaltung Damit die Dankbarkeit auch wechselseitig ist, müßten industrieller Kerne, zur Standortsicherung und wir dann ebenso über den Boom reden, der bei der Zukunftsorientierung einfach nicht mehr geglaubt westdeutschen Wirtschaft durch die Einheit erzeugt werden. worden ist. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Überall in kapitalistischen Staaten, meine Damen dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Herren, bestimmt die Politik in hohem Maße Sie wissen, daß bereits 1991 ein großes Stück darüber mit, welche Art von Wirtschaft an welchem Deindustrialisierung in Ostdeutschland stattgefun- Ort gewünscht und aussichtsreich sein soll. Wir brau- den hatte. Auf der Basis dieses Jahres 1991 hat chen eine Wirtschaftspolitik, die verläßliche Rahmen- Brandenburg bis heute etwa 61 % an Industriearbeits- bedingungen schafft. plätzen verloren, Mecklenburg-Vorpommern 47 %, (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Warum Sachsen-Anhalt 50 %, Sachsen 59 % und Thüringen reden Sie immer von „kapitalistischen" Staa sogar 69 %. ten? Was soll das?) Von ca. 4 Millionen Industriearbeitsplätzen in Ost- — Die Bezeichnung ist etwas älter. Ich halte sie noch deutschland sind gerade mal 700 000 übriggeblieben. nicht für ganz veraltet. Das macht den qualitativen Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland aus: Während es im (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Doch!) Westen um Konjunktur- und Strukturpolitik zur Durchdachte politische Vorgaben, die nicht alle Anpassung der Wirtschaft an neue internationale paar Monate geändert werden müssen, sind nötig. Das Wettbewerbsbedingungen geht, einer Wirtschaft, die erleichtert den notwendigen Konsens zwischen Wirt- doch fraglos auf hohem Niveau funktioniert, geht es in schaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und den ande- Ostdeutschland heute um den Neuaufbau eines pro- ren, die am Wirtschaftsleben unmittelbar beteiligt duktiven Sektors, um Neuindustrialisierung. sind. Die Scharniere zwischen Wirtschaftsentwick- Das bedeutet: Wir brauchen massive Markthilfe für lung und Ausbildung, zwischen Forschung und Pro- die ostdeutschen Produktionsbetriebe. Wir müssen duktentwicklung müssen wiederhergestellt werden. ihnen Zeit kaufen, um die verlorenen Märkte zurück- Das entläßt die Industrie nicht aus ihrer Verantwor- zuerobern und andere gewinnen zu können. Wir tung. Unternehmerische Verantwortung muß wahr- wollen den Betrieben befristete und degressive Hil- genommen werden. Das geschieht nicht, wenn auf die fen, z. B. Lohnkostenzuschüsse, geben, um diesen Entwicklung zukunftsfähiger Produkte verzichtet Zeitgewinn zu erreichen. wird, weil die staatliche Förderung nicht hoch genug erschien. So etwas soll vorgekommen sein. Das ist die Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, die unheilvolle Subventionsmentalität, von der öffentlich restlichen Produktionsstätten in den neuen Ländern gesprochen werden muß. So etwas richtet mehr Scha- auch noch abzuwickeln. In viel zuvielen Regionen den an als aller Mißbrauch sozialer Leistungen zusam- dort ist bereits alles verschwunden. Ein Neuaufbau men. Die Arbeitslosen bezahlen für diese Art unter- aber ist wesentlich schwieriger, langwieriger und nehmerischer Verantwortungslosigkeit die Rech- auch nicht so aussichtsreich wie der Versuch, um nung. bestehende Produktionsstätten herum zusätzliche Betriebe anzusiedeln oder die bestehenden allmäh- Die Entwicklung und Markteinführung neuer Pro- lich wieder auszuweiten. dukte und verbesserter Produktionsverfahren ist Auf- gabe des Managements. Was denn sonst? Es ist Vor diesem Hintergrund sage ich meinen ostdeut- sinnvoll, wenn der Staat sie dabei unterstützt. Aber schen Landsleuten in aller Deutlichkeit: Niemand, das kann nicht die Bedingung dafür sein, daß unsere auch nicht die SPD, kann die Versprechungen einhal- Wirtschaftsführer ihre Hausaufgaben machen. ten, die Bundeskanzler Kohl 1990 gegeben hat. Sie waren damals Illusion, und sie sind es nach drei (Beifall bei der SPD) Jahren seiner Wirtschaftspolitik erst recht. Es ist ein schlimmer Fehler — darüber ist heute (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und schon mehrfach gesprochen worden —, daß For- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schungs- und Technologiepolitik vom Zentrum, wo sie hingehört, an den Rand der Politik gedrängt - Ich empfinde es als skandalöse Perfidie, wenn eine worden ist. Es gibt nahezu keine unabhängige For- Wochenzeitung mit der Frage aufmacht „Können wir schungseinrichtung in Westdeutschland, die nicht uns den Osten noch leisten?" ganz oder überwiegend von öffentlicher Förderung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15691

Wolfgang Thierse Wir müssen ihn uns leisten. Er ist ein Teil Deutsch- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: lands wie Ruhr und Saar. Niemand fragt aber: Können Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns die Saar oder die Ruhr noch leisten? Was wäre wir über den Standort Deutschland sprechen, dann das auch für eine Frage, als ob man Menschen, die geht es nicht um einen abstrakten Begriff, sondern es jahrzehntelang ihre Arbeit geleistet haben, nun ein- geht um Menschen, und es geht um die Schaffung von fach abschaffen könnte! Mich widert diese journalisti- neuen Arbeitsplätzen. Es geht um die Erhaltung sche Fehlleistung an. unseres Wohlstands, und es geht um den Sozialstaat (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Deutschland. GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ Um Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, müs- CSU) sen drei Dinge gewährleistet sein — diese müssen, Müssen wir Ostdeutsche uns immer wieder sagen Herr Thierse, im Osten und im Westen gleichermaßen lassen, daß wir in Deutschland eine Minderheit sind gewährleistet sein —: Erstens. Unsere Produkte müs- und folglich auch nur Minderheitenforderungen stel- sen auf internationalen Märkten wettbewerbsfähig len dürfen? bleiben oder wettbewerbsfähig werden. Zweitens. Deutschland muß ein attraktiver Investitionsstandort (Zuruf des Bundeskanzlers Dr. Helmut bleiben. Drittens. Wir müssen die Leistungsfähigkeit Kohl) und die Dynamik unserer Unternehmen, ihre innere — Ich adressiere doch nicht an Sie. Stärke, ihre Performance, festigen. (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Aber Sie Wenn ich von der Wettbewerbsfähigkeit der Pro- reden so, als täten Sie es!) dukte spreche, dann geht es sicherlich um technische — Nein, Herr Bundeskanzler, ich kann nichts dafür, Standards, um Forschung und Innovation, um Qualität wenn Sie sich an der falschen Stelle getroffen fühlen. und Lieferbedingungen, aber es geht auch um Kosten. Ich habe den Vorwurf an eine bestimmte Zeitschrift Ich sage: auch um Kosten, denn Kosten sind in dieser adressiert, die seit drei Wochen öffentlich Meinung Diskussion für viele ein Reizwort. macht. (Beifall bei der F.D.P.) Aber es geht neben anderem um diese Kosten. Es geht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, vornehmlich sicherlich um Lohnkosten und Lohnzu- würden Sie dann bitte zum Schluß kommen. satzkosten, aber nicht nur um diese, sondern auch um Steuern und Abgaben, um Kosten der Administration, der Regulierung, um Energiekosten und vieles andere (SPD): Ich komme sofort zum Wolfgang Thierse mehr. Schluß. Ich meinte „Die Woche"; ich wollte nur nicht auch Wenn ich den Investitionsstandort Deutschland anspreche, dann geht es neben den Kosten um unsere noch Reklame machen. Infrastruktur, um unsere Ausbildungsstandards, um Wir wollen uns diesen Osten leisten können, und unser Verhältnis zur Technik, um unsere Konsensfä- wir wollen — das sage ich als Ostdeutscher — nicht higkeit, und dies immer im Verhältnis zu konkurrie- Tag für Tag erleben, daß wir als Minderheiten ange- renden Standorten, von denen es in der Welt immer sehen werden, die auch nur Minderheitenforderun- mehr gibt. gen zu stellen haben. Wenn ich vom Investitionsstandort Deutschl and Es kann keineswegs als politischer Anspruch genü- spreche, dann müssen wir uns auch bewußt sein, daß gen, daß sich die Menschen bescheiden müssen. Den dieser Standort im Osten und im Westen noch unter- Männern und Frauen in Ostdeutschland geht es längst schiedliche Bedingungen aufweist. Herr Thierse, es nicht mehr um höhere Löhne um jeden Preis. Wo hört sich zunächst überzeugend an und ist einsichtig, immer ich mit ihnen rede — ich tue das ziemlich oft — wenn Sie sagen, Sie akzeptierten, daß eine Beziehung stimmen sie mir zu, daß das wichtigste Ziel Arbeit ist. zwischen Löhnen bzw. Gehältern und Produktivität Dem ordnet sich alles andere unter. gegeben sein muß, aber dies könne nicht alles sein, Ganz Deutschland wird davon profitieren, wenn es sondern es komme darauf an, den Menschen Arbeit zu gelingt, den Ostdeutschen Arbeit im Sinne Oskar geben, den Menschen ihre Würde zu belassen und Lafontaines zu geben, der sagt: Wir müssen die den Menschen eine Perspektive zu geben. Chance des industriellen Neuanfangs in Ostdeutsch- land dafür nutzen, dort eine hochleistungsfähige und Das ist alles richtig. Aber beides in praktischer Politik zu verbinden ist ein schwieriges Unterfangen. innovative Industriestruktur aufzubauen, die in der Da muß man klare und harte ökonomische Entschei- Welt ihresgleichen sucht. Das ist uns nach dem dungen treffen, da muß man Perspektiven vorlegen, Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland gelungen, das und da muß man auch, wie Sie es selbst sagen, Geduld muß uns jetzt in Ostdeutschland gelingen. Mit Freude haben. Es geht nicht so schnell — wir haben uns alle werden sich die Ostdeutschen, nein, die Deutschen getäuscht —, wie wir erwartet haben. Dafür gibt es insgesamt, daran beteiligen, denke ich. verschiedene Gründe, hausgemachte Gründe und (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall Gründe, die von außen kommen. bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich wäre sehr froh, wenn den Menschen auch und gerade im Osten unseres Landes deutlich würde, daß in der Standortdiskussion, die wir heute führen, eben Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun nicht abstrakte Begriffe diskutiert werden, sondern Herr Bundesminister Rexrodt. daß es darum geht, die Grundlagen und Vorausset- 15692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt zungen dafür zu schaffen, daß die Angleichung und ventionelle, aber durchdachte Maßnahmen offen, Anpassung schnell vorankommt, und daß wir die jedoch nicht für Aktionismus oder solche Maßnah- Grundlagen dafür erwirtschaften wollen, um die men, die nichts bringen, sondern nur aus politischer Transfers, die auf absehbare Zeit noch notwendig Opportunität geboten zu sein scheinen. sind, zu erwirtschaften. Daran führt kein Weg vor- Wer wollte leugnen, daß wir arbeitsmarktpolitische bei. Maßnahmen brauchen, gerade im Osten? Wer wollte (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) in Abrede stellen, daß die Grundidee, lieber für Arbeit Den dritten Punkt, den ich ansprechen möchte und als für Arbeitslosigkeit zu bezahlen, richtig ist? Unser der für Ost und West gleichermaßen gilt, ist die Stärke Einfallsreichtum — darum geht es mir — darf nicht der Wirtschaft, ihre innere Kraft, ihre innere Dynamik. haltmachen vor einer Kreativität, die sich auf mehr Sie entscheidet darüber, ob Beschäftigungsmöglich- richtet als den subventionierten Arbeitsmarkt. Ich keiten erhalten und geschaffen werden können. habe den Eindruck, daß diese Diskussion unumgäng- Unser Standortbericht und unser Programm zur lich und wichtig ist, daß sie die Probleme aber nicht Zukunftssicherung des Standortes Deutschland ist löst, sondern nur verschiebt und allenfalls das eine langfristig angelegt, eröffnet aber auch Spielräume, oder andere überbrücken kann. mit denen wir die Rezession und die aktuellen Pro- Das eigentliche Dilemma unserer wirtschaftlichen bleme im Osten Deutschlands kurzfristig überwinden Lage besteht darin, daß wir auf dem ersten Arbeits- wollen. markt Beschäftigungschancen verbauen, statt sie zu Daß wir mit unserer Politik vorankommen, sehen ergreifen. Da werden Beschäftigungsmöglichkeiten Sie auch daran, daß die konjunkturelle Entwicklung, verbaut, weil Arbeit zu teuer geworden ist, nicht daß die Zinsentwicklung auf den Weltmärkten eine zuletzt im Verhältnis zum Faktor Kapital. Die west- Entscheidung in Richtung auf eine Entlastung der deutschen Lohnstückkosten sind in den letzten drei Wirtschaft erlaubt, die Schritt für Schritt schon vorge- Jahren durchschnittlich um 4 % gestiegen. Das ist im prägt ist und die die Bundesbank heute noch einmal internationalen Vergleich entschieden zuviel; wir lie- mit großer Entschiedenheit und Deutlichkeit getroffen gen in der Spitzengruppe. hat, nämlich eine Senkung des Diskontsatzes von Von der diesbezüglichen Situation in den neuen 6,25 % auf 5,75 % und des Lombardsatzes ebenfalls Bundesländern möchte ich hier erst gar nicht spre- um ein halbes Prozent. chen; da liegen die Zahlen deutlich höher. Das sind wichtige, entscheidende Schritte, die wir Die Tarifpartner müssen sich der Frage stellen, machen, um aktuelle Probleme zu lösen und damit welchen Weg sie gehen wollen. Eine durchschla- auch langfristig voranzukommen. gende Verbesserung am Arbeitsmarkt kann es nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne geben, wenn die Tarifpartner in Ost und West nicht ten der CDU/CSU) bereit sind, dem enger gewordenen Verteilungsspiel- raum sowie der Vorbelastung aus den vergangenen Meine Damen und Herren, wir sind uns, was die Jahren Rechnung zu tragen. Analyse der Probleme im Westen und im Osten angeht, erstaunlich ähnlich, auch mit Teilen der Was wir dringend brauchen, ist eine stärkere Lohn- Opposition. Wir sind uns sogar ähnlich in vielen differenzierung nach Regionen, nach Branchen und Maßnahmen der Therapie, wenn man das Wortge- nach Betrieben, die sich dann jeweils an der Produk- klingel wegläßt und die unterschiedlichen Grundpo- tivität orientiert. Die bestehenden Spielräume sind sitionen durchschimmern. nicht ausreichend ausgelastet. Die ökonomische Wirklichkeit ist gekennzeichnet durch eine lähmende Meine Damen und Herren, Sie von der Opposition Uniformität am Arbeitsmarkt. sind in Ihrer Analyse und Ihren Handlungsvorschlä- gen ein geschlossenes Konzept schuldig geblieben. In In diesem Zusammenhang greife ich gern das auch entscheidenden Grundfragen sind Sie gespalten und von Ihnen, Herr Lafontaine, genannte Stichwort „In- nicht handlungsfähig. Forsche Sprüche können dar- vestivlohn" auf. Der Investivlohn ist ein wichtiges und über nicht hinwegtäuschen. wirksames Element, um im Tarifbereich zu Lösungen und Entscheidungen zu kommen, die auf der einen Ihr Ansatz ist resignativ. Sie setzen beispielsweise Seite den volkswirtschaftlichen Gegebenheiten auf eine - Abwertung der D Mark. Ich sage: Nur mit — beispielsweise einer Rezessionsphase — gerecht Vertrauen in die D-Mark mobilisieren wir Kapital und werden sowie auf der anderen Seite den Interessen stärken wir die Investitionsbereitschaft. Sie wollen die der Arbeitnehmer und den Interessen der Unterneh- Arbeitslosigkeit mit pauschalen Arbeitszeitverkür- men gleichermaßen Rechnung tragen. Wir haben den zungen bekämpfen. Das Gegenteil ist richtig: Wenn es Investivlohn, der bereits in den 60er Jahren eine nicht Schwierigkeiten gibt, muß man länger arbeiten oder unwichtige Rolle spielte, über Jahrzehnte hinweg weniger arbeiten, dann aber nicht bei vollem Lohn- hintangestellt und nicht ausreichend berücksichtigt. ausgleich. Ich möchte diese Diskussion und auch die praktischen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vorschläge, die den Investivlohn betreffen, gern auf- Resignativ ist auch eine Politik, die glaubt, unsere greifen und in die Diskussion darüber eintreten. Beschäftigungsprobleme nachhaltig über eine Aus- Ich bin dankbar für Ihre deutlichen Worte, Herr weitung des subventionierten Arbeitsmarktes lösen - Lafontaine, die Sie mit Blick auf die Entwicklung im zu können. Hier gibt es Teil- und Übergangslösungen, Osten Deutschlands gefunden haben. Die Reaktion in die aber jeweils auf ihre Gefahren untersucht werden Ihrer eigenen Partei hat gezeigt, wie schwer sie müssen. Wir sind dabei im übrigen auch für unkon- ökonomische Wahrheiten verkraften kann und wie Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15693

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt sehr die Partei in ihrem Urteil über entscheidende Richtung. Sie allein löst das Problem aber nicht. wirtschaftspolitische Fragen gespalten ist, wie sehr sie Prinzipielle und frühzeitige Lösungen sind angesagt. in diesen Fragen schlingert. Die Bundesregierung verpflichtet sich im Standortbe- Da habe ich schon mehr Respekt vor Gewerk- richt zu derartigen Konzeptionen. schaftsführern, die schon vor der Eröffnung von Tarif- Wer in diesem Zusammenhang von Kahlschlag oder verhandlungen ihren Mitgliedern erklären, daß in Gefährdung des Sozialstaates spricht, weiß nicht, dieser schwierigen wirtschaftlichen Lage Einbußen wovon er redet. Er handelt politisch verantwortungs- bei Realeinkommen möglicherweise nicht auszu- los. Wir wollen den Sozialstaat nicht demontieren. Wir schließen sind. wollen den Sozialstaat sichern. Ich möchte hier klar sagen: Die Löhne sind nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne allein für unsere derzeitigen Probleme verantwortlich. ten der CDU/CSU) Mehr und bessere Beschäftigungsmöglichkeiten wer- den heute in Deutschland auch deshalb verbaut, weil Was wir jetzt mit 1,5 % des Sozialetats machen, ist wir der Leistungsfähigkeit und der Dynamik unserer nicht mehr als eine Korrektur von Wildwuchs und Wirtschaft zu viele Bremsklötze und Hindernisse in Mißbrauch. Wir sagen in diesem Zusammenhang: den Weg legen. Starre und restriktive Regulierungen Wer den Sozialstaat auch für kommende Generatio- haben sich zu Investitionshemmnissen ersten Ranges nen erhalten will, der muß vor allem die Leistungsfä- entwickelt. Arbeit läßt sich nicht mehr effizient genug higkeit unserer Wirtschaft, in der das Sozialprodukt organisieren. erwirtschaftet wird, erhalten. Wir brauchen mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Beschäftigungsmöglichkeiten werden auch durch Dazu ist vieles gesagt worden. Es gibt auch heute Steuerlasten verbaut, die den Unternehmen Lei- schon Möglichkeiten, dies zu schaffen. Die vorhande- stungs- und Investitionsanreize nehmen. Die Bundes- nen Möglichkeiten müssen genutzt werden, andere regierung wird noch in dieser Legislaturperiode ihr müssen hinzukommen. Meine Damen und Herren, die Konzept für eine Steuerreform vorlegen. Wir wollen zügige Verabschiedung des neuen Arbeitszeitgeset- die Senkung der Spitzensteuersätze, Herr Lafontaine, zes ohne Abstriche wäre daher ein erster wichtiger aber auch im unteren Bereich zusätzliche Freiräume. Schritt. Wir wollen die Rückführung der Gewerbesteuer, und Vorankommen müssen wir auch in anderen Fel- wir wollen eine Vereinfachung des Steuersystems. dern, bei der Straffung und Entschlackung von Und wir wollen europaweit darüber nachdenken, Genehmigungsverfahren, bei der Veräußerung öf- warm wir aufkommensneutral eine CO2-Energie fentlichen Beteiligungsbesitzes und bei der Wahr- steuer einführen können und damit auch einen Schritt nehmung öffentlicher Aufgaben durch Private. Hier- in Richtung Umgestaltung hin zu einem ökologisch her gehört u. a. auch das Thema Postreform. Wir orientierten Steuersystem in einigen Bereichen vor- müssen die Telekom von den Fesseln befreien, die sie nehmen können. hindern, auf aussichtsreichen Auslandsmärkten tätig zu werden, wo sich die Konkurrenten bereits tum- (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Aufkom meln. mensneutral!) Ich füge hinzu: Wir können nicht dabei stehenblei- — „Aufkommensneutral", das ist von mir gesagt ben, immer nur Deregulierung zu fordern. Dies ist worden. Es muß in jedem Fall mit Aufkommensneu- heute auf allen Seiten üblich geworden. Das ist tralität einhergehen. Mehr noch: Wir müssen insge- zunächst nichts als eine leere Worthülse. Die Bundes- samt zu einer Entlastung der Bürger und der Wirt- regierung wird konkret benennen, wo weitere Verein- schaft kommen. fachungen in Gesetzen, Verordnungen und Verwal- tungsverfahren über das hinaus, was schon getan (Beifall bei der F.D.P.) worden ist, vorzunehmen sind, insbesondere im Ord- Beschäftigungsmöglichkeiten werden auch ver- nungsrecht, das überzogen ist, und beispielsweise im baut, wenn Technik und Forschung, Entwicklung und Umweltschutz, wo wir marktwirtschaftliche Prinzi- Innovation weiterhin ins gesellschaftliche Abseits pien einführen müssen. Aber — das sage ich mit gestellt werden. Dazu ist heute schon viel gesagt Nachdruck — Deregulierung ist nicht nur eine Auf- worden. Ich stimme in vielem Herrn Ministerpräsiden- gabe der Bundesregierung, sie ist eine Aufgabe aller ten Teufel zu, in einigem nicht. Beispielsweise bin ich Parlamente, der Länder und der Gemeinden. Sie alle nicht der Auffassung, daß wir in der Mehrzahl der sind gefordert. Technologiebereiche in Deutschland nur zweitklassig (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) seien. Das ist nicht richtig. Wir sind in einigen Berei- chen zurückgefallen, auch zweitklassig geworden, in Meine Damen und Herren, es werden auch Beschäf- anderen sind wir spitze. tigungsmöglichkeiten verbaut, weil das Sozialsystem und der Umfang mancher Sozialleistung die Lei- Aber wir sind gefährdet. Wir sind gefährdet des- stungsfähigkeit unserer Marktwirtschaft überfordern. halb, weil sich eine Technikskepsis breitgemacht hat Beitragssätze für die Renten-, Kranken- und Arbeits- und weil die Akzeptanz von ingenieurwissenschaftli- losenversicherung von zusammen bald über 40 % des chen Leistungen, von Forschung und Technologie, die abgabepflichtigen Bruttoarbeitsentgeltes sprechen -jahrzehntelang in unserem Volk verwurzelt waren, eine eindeutige Sprache. Die Entlastung der Bundes- nicht mehr vorhanden ist. Wir müssen Forschungsför- anstalt von bestimmten arbeitsmarktpolitischen Auf- derung machen, und wir müssen diese Akzeptanz gaben ist dabei ein richtiger Schritt in die richtige wieder herbeiführen. 15694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Dazu müssen wir auch einen Dialog führen: Politik, Gesprächen mit allen gesellschaftlichen Gruppen, mit Wirtschaft und Wissenschaft. Hier ist der Staat gefor- Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mit Gewerkschaf- dert. Wir wollen die Verantwortlichkeiten nicht ver- ten und Verbänden, mit Forschungseinrichtungen, schieben. Das ist Voraussetzung dafür. Aber in diesem mit Verbrauchern, Kirchen und anderen mehr, vorbe- Bereich ist eine sinnvolle Forschungspolitik oder, reiten. wenn Sie es so nennen wollen, eine Forschungs- und Die Themen des Zukunftsberichtes sind die The- Industriepolitik durchaus gefragt. men, die über die Leistungsfähigkeit unseres Landes Lassen Sie mich zuletzt auf den Energiebereich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bestimmen. hinweisen, in dem es darauf ankommt, nun endlich Wir haben nicht nur Punkte aufgeschrieben und einen Konsens zu finden, der mit einem sinnvollen Analysen betrieben, sondern wir haben auch die Energiemix aller Energieträger verbunden ist und der Handlungsfelder vorgezeichnet und treffen jeden Tag auch der Kernenergie eine Chance gibt, zumindest in Entscheidungen. dem Sinne, daß die Option darauf offenbleibt. Wenn Wir können das nicht allein tun. Ich möchte alle wir in der Kernenergie vorschnell Fehler machen, gesellschaftlichen Gruppen auffordern, das Ihre dazu dann werden wir aus einem weiteren Technologiebe- beizutragen. In diesem L and sind riesige Reserven, im reich, der Zukunftscharakter hat, aussteigen. Wir Osten und im Westen. Es kommt darauf an, sie zu werden etwas tun, was wir noch bereuen werden, mobilisieren. Dann werden wir es allemal und auch auch unter ökologischen Aspekten. bald schaffen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Mit Ihnen, ten der CDU/CSU) was?) Danke. Da kann man zwar anderer Meinung sein — das ist ja über Jahrzehnte diskutiert worden — aber es paßt (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nicht zusammen, auf der einen Seite den Verlust von ten der CDU/CSU) Arbeitsplätzen zu beklagen und auf der anderen Seite dafür einzutreten, daß wir aus Zukunftstechnologien aussteigen. Das verträgt sich nicht miteinander, meine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort zu einer Damen und Herren. Kurzintervention erhält Graf Lambsdorff. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Vielen Dank, Ich möchte Ihnen noch eines sagen: Wir reden über Frau Präsidentin. die Probleme am Standort Deutschland. Das ist gut, Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen — leider das ist richtig, diese Diskussion ist unverzichtbar, sie ist der baden-württembergische Ministerpräsident erfolgt sogar sehr spät. Aber wir wollen den Standort nicht mehr hier —, zu erklären, daß man — jedenfalls Deutschland auch nicht miesmachen. Noch ist aus meiner Sicht — zwar über einiges, was er hier Deutschland ein guter Standort, ein Standort mit vorgetragen hat, sehr wohl diskutieren kann und muß, guter Infrastruktur, mit geographisch hervorragender daß man aber auch die Grenzen beachten muß, Lage, mit einem guten Ausbildungsstandard der Men- innerhalb deren staatliche Politik tätig werden kann. schen, einer hohen Motivation der Arbeitnehmer und Ich glaube, wenn Herr Teufel an das Wirken seines der Arbeitgeber, mit immer noch hohem Forschungs- Amtsvorgängers denkt und einmal nachsieht, wie und Entwicklungspotential, mit immer noch gesun- diese Förderungen am Ende ausgegangen sind, wird den, wenn auch gefährdeten Unternehmen in einer auch er zu dem Ergebnis kommen, das hier große guten Mischung zwischen großen, mittleren und klei- Zurückhaltung angesagt ist. nen Unternehmen, ein Land mit hoher Exportfähig- Zwei Punkte scheinen mir sehr wichtig zu sein. keit, ein Land mit einer Bundesregierung, mit einer Erstens. Wer entscheidet, welche Industrien Zu- Koalition, die die Weichen richtig stellt, die die The- kunftschancen haben: eine Landesregierung, eine men nicht nur beschreibt, sondern auch h andelt, Bundesregierung, Ministerialräte, Gewerkschafts- leider aber mit einer Opposition, die in sich gespalten funktionäre? und unfähig zu überzeugenden Konzepten ist. Wenn einer den Versuch macht, ein Konzept vorzulegen, (Detlev von Larcher [SPD]: Der Wirtschafts dann wird er von Leuten aus den eigenen Reihen in minister, haben wir gerade gehört!) den Orkus geredet. Das ist eine gute Opposition! — Er hat das mit keinem Wort gesagt; Sie haben nicht Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat zugehört. Er denkt überhaupt nicht in solchen Kate- gorien. heute morgen schon gesagt: Die Zukunftsgestaltung des Standorts Deutschland ist eine gesamtgesell- Zweitens. Es darf nicht dazu kommen, daß die schaftliche Aufgabe. Sie kann nicht von Staat und Entscheidungen einerseits und die Haftung für Ent- Politik allein bewältigt werden; sie ist auch Aufgabe scheidungen andererseits auseinanderfallen; denn aller gesellschaftlichen Gruppen und jedes einzelnen wenn der Staat Entscheidungen trifft oder massiv Bürgers. beeinflußt, wird er für das Fehlgehen dieser Entschei- dung nicht haften. Wir nehmen deshalb einen intensiven Dialog auf. - Ich werde beispielsweise Anfang März zu einem Das sind Punkte, über die man, wie ich meine, mit Forum über die Zukunftssicherung des Standorts dem Ministerpräsidenten diskutieren sollte. Deutschland einladen und dies mit zahlreichen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15695

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun erhält der liberalen Koalition auch einer Wirtschaftsverträglich- Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige das Wort. keitsprüfung nicht standhält. Meine Damen und Herren, allenthalben ist von einer Verschlechterung der Standortbedingungen in (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Klaus-Dieter Feige Deutschland die Rede. Jeder zeigt mit dem Finger auf NEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen den anderen, aber keiner packt sich an die eigene und Herren! „Die Bewahrung der Schöpfung ist eine Nase. Fossile Großunternehmen, die den notwendi- immer dringlicher werdende Aufgabe. " Dieses Zeug- gen Strukturwandel verschlafen haben, sehen die nis hat sich die Bundesregierung am Ende der Ära Ursache für die Misere bei der Politik, aber gleichzei- Kohl selbst ausgestellt, nachzulesen im Standortbe- tig erhoffen sie sich von dieser eine Verbesserung. Die richt. Zehn Jahre Kohl-Politik — und der Wirtschafts- Bundesregierung jammert über mangelnde Investitio- an standort Deutschl d ist im Eimer. Zehn Jahre Kohl nen der Unternehmen und vergißt dabei, daß sie seit Politik — und von einer Umweltpolitik, die diesen Jahren die falschen Signale für den wirtschaftlichen Namen verdient, ist nichts, aber auch gar nichts zu Strukturwandel setzt. Es reicht nicht, Weichen zu sehen. stellen; man muß sie auch in die vernünftige Richtung Seit Beginn dieser Wahlperiode hat die Bundesre- stellen. gierung den umweltpolitischen Stillstand zu ihrem Die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unterneh- Markenzeichen gemacht. Mehr noch, seit Ende 1991 mer hat in einer kürzlich veröffentlichen Schrift das wurde ein umweltpolitisches Rollback eingeleitet. politische Können als wesentlichen Standortfaktor Vier Grundzüge kennzeichnen die Politik dieser bezeichnet. — Dies überhaupt in Erwägung zu ziehen Regierung. haben Sie von der Koalition natürlich vermieden. — Erstens: Deregulierung. Wie erfolgt sie? — Das Da heißt es: Ordnungsrecht wird völlig planlos abgeschafft. Die Wo die regierenden Politiker die Bevölkerung angekündigten marktwirtschaftlichen Instrumente über die Realitäten hinwegzutäuschen suchen -wie die Abfallabgabe oder die nationale Energie und durch schlechte, auf Kosten der Zukunft bzw. CO2-Steuer dagegen sind in der Versenkung geschlossene Kompromisse die Lage verschlim- verschwunden. — Man kann nicht ewig nur darüber mern, muß die Politikverdrossenheit wachsen. nachdenken. — Diese Regierung betreibt einen ord- Die seit 1989 entstandene Glaubwürdigkeits- nungspolitischen Kahlschlag ohne Sinn und Verstand. lücke kann nur durch den Mut zur Aufrichtig- Das habe ich in Anlehnung an Herrn Rexrodt wirklich keit ... wieder geschlossen werden. verantwortungsbewußt gesagt, gerade deshalb, weil Das muß sich die Regierung Kohl hinter die Ohren man das nicht mehr einfach nur totschweigen darf. schreiben lassen, aber nicht etwa von uns, sondern Zweitens: Privatisierung. Von der Müllabfuhr bis zu von einem Unternehmerverband. Dieser stellt weiter den Bahnen, praktisch alles und jedes soll privatisiert fest, daß auch gute Institutionen Politikermut und werden. Ein Konzept, das zu einer tatsächlichen Politikerkönnen nicht ersetzen können, denn am Ende Entlastung der öffentlichen Hand führt, ist dabei aber komme alles auf die Beschaffenheit des politischen nicht ersichtlich. Personals an. Drittens: Beschleunigung von Genehmigungsver- Am Ende der Regierung Kohl fehlt es beinahe an fahren. Wider besseres Wissen werden die Mitwir- allem: an Mut, an Aufrichtigkeit, an Sachverstand, kungsrechte der Menschen als Ursache für lange ganz zu schweigen von der politischen Qualität der Verfahren hingestellt. Diese Regierung hat nichts Regierungsriege. unversucht gelassen, um diese Beteiligungsrechte Meine Damen und Herren, die Standortkrise in abzuschaffen. Deutschland hat auch wirtschaft liche Ursachen, und Viertens: Wirtschaftswachstum. Wer meint, Um- auch die verfehlte Einheitspolitik ist eine Ursache des weltschutz ließe sich nur aus einem zusätzlichen, staatlichen Finanzdebakels. undifferenzierten Wirtschaftswachstum finanzieren, Die eigentliche Ursache für diese Standortdebatte der hat rein gar nichts, aber auch gar nichts beg riffen. ist aber ein fatales Zusammentreffen von politischem Dies hat doch zur Folge, daß die Umweltzerstörungen Versagen und kurzsichtigen unternehmerischen Ent- den Umweltreparaturmaßnahmen immer schneller scheidungen. Anders ausgedrückt: Die Debatte über vorauseilen. Herr Biedenkopf wird das dem Kanzler die Kostenbelastung der Unternehmen ist nichts sicher viel deutlicher erklären können, aber der Kanz- anderes als ein Indiz für den Verlust von Innovations- ler ist offensichtlich ob der Äpfel der Erkenntnisse der vorsprüngen. In vielen Branchen — etwa in der Opposition frühzeitig aus seinem Kanzlerparadies Chemie oder in der Automobilindustrie — wurde der davongeeilt. notwendige Strukturwandel eben nicht eingeleitet. Der Bundeskanzler selbst hat in seiner Rede zwei- Die Wirtschaftslandschaft in Deutschland scheint sich mal das Duale System Deutschland hochgelobt. Ich allmählich in eine Art Sauriergehege à la Jurassic Park glaube, das ist mit ein Symptom dafür, daß es um zu verwandeln. Viele große Konzerne haben offenbar dieses Duale System noch viel schlimmer betellt sein die Reproduktionsfähigkeit und damit die Fähigkeit muß, als wir schon wissen. zur Weiterentwicklung verloren und beklagen nur Es wird seit Töpfer niemanden in diesem Land noch ihr selbstverschuldetes Aussterben. verwundern, daß eine Umweltverträglichkeitsprü- - (Georg Gallus [F.D.P.]: Wie wäre es, wenn fung der Politik dieser Bundesregierung zu einem Sie Berater bei Mercedes Benz würden? Sie niederschmetternden Ergebnis kommt. Aber beinahe müssen die beraten! Genau auf Sie haben die noch schlimmer ist, daß die Politik der christlich gewartet!) 15696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Klaus-Dieter Feige „Dabei stellt aber eine Krise auch immer eine Chance Bonn beobachtet hat, fühlt man sich an eine Horror- dar, aber nur für die Mutigen, die sich über die Natur picture-Show erinnert. der Herausforderungen im klaren sind", schreibt die Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen Unterneh- (Georg Gallus [F.D.P.]: Das ganze artet in mer. — Herr Gallus, da sollten Sie sich vielleicht erst eine Beschimpfung unserer Industrie aus!) einmal selbst sachkundig machen, Am gleichen Tag vollführt das Bundeskabinett einen (Georg Gallus [F.D.P.]: Auf Sie haben die Eiertanz in Sachen deutsche Steinkohle. Solche Ver- noch gewartet!) anstaltungen und eine solche Politik sind die Ursa- chen für die Krise des Standorts Deutschland. — Herr dann könnten Sie sich hier auch kompetent äußern. Kollege Gallus, das ist keine Beschimpfung, sondern das Hinhalten eines Spiegels. Und damit kommen wir zum Kern der Sache: Weder die Bundesregierung noch große Teile der Industrie Doch es gibt auch Silberstreifen am Horizont. Der haben die Herausforderung des ausgehenden Bundesverband Junger Unternehmer — BJU — hat 20. Jahrhunderts tatsächlich begriffen. Sie besteht kürzlich gemeinsam mit dem BUND ein Plädoyer für nämlich darin, den Weg weg von der verschwenderi- eine ökologisch orientierte Soziale Marktwirtschaft schen Wirtschaftsweise der freien Marktwirtschaft zu veröffentlicht. Wir haben sehr aufmerksam zur Kennt- finden und hin zu einer Wirtschaft der Nachhaltigkeit nis genommen, daß eine große Übereinstimmung zu kommen. Nur die Volkswirtschaften, die dies zwischen den Positionen des BJU und von BÜND- frühzeitig erkennen und die frühzeitig darauf Antwor- NIS 90/DIE GRÜNEN besteht. Auch wir sind der ten finden, werden im kommenden Jahrhundert noch Auffassung, daß ein grundlegendes Umdenken not- konkurrenzfähig sein. Nur eine ressourcen- und ener- wendig ist. Auch wir sagen, daß Tatenlosigkeit in giesparende Produktions- und Konsumweise, nur Sachen Umweltschutz die bestehenden wirtschaftli- abfallarme und langlebige Produkte können das chen Schwierigkeiten verschärft und zu einer weite- Überleben der deutschen Volkswirtschaft sichern. ren Erhöhung des Potentials an Folgekosten führt. Insbesondere wird diese Tatenlosigkeit in Ost- Japan kann nicht in allen Bereichen als Vorbild deutschland die Chance des Aufbaus langfristig öko- hingestellt werden. Aber mit dem Programm „New logisch verträglicher Strukturen verhindern. Earth 21", durch das die Energieversorgung binnen weniger Jahrzehnte auf regenerative Energieträger Wir sehen auch eine grundsätzliche Übereinstim- umgestellt werden wird, haben wir ein Beispiel für mung in einer der zentralen Aufgaben, die zur Wei- eine innovative und den ökologischen und ökonomi- terentwicklung unseres Wirtschaftssystems notwen- schen Herausforderungen angemessene Wirtschafts- dig sind, nämlich der Einleitung einer ökologischen politik. Steuerreform.

Ihre Sackgasse der Atomenergie wird uns weltweit (Georg Gallus [F.D.P.]: Aha!) zurückwerfen. Wer hat Ihnen, Herr Rexrodt, aufge- Wenn der BJU fordert, die Leistungsbesteuerung schrieben, daß Atomenergie eine Zukunftstechnolo- zugunsten einer Besteuerung der Umweltnutzung zu gie ist, wo wir uns doch gerade von ihr verabschie- reduzieren, dann können wir dem nur zustimmen. den? Wenn umweltschädliches Verhalten, Ressourcenver- (Bundesminister Dr. Günter Rexrodt: Das ist brauch und Energieeinsatz teuer sind, dann kann meine Meinung!) Arbeitskraft billiger werden; dann können die so dringend notwendigen, sinnvollen Dauerarbeits- Die Umstellung auf eine hocheffiziente Energiever- plätze geschaffen werden. sorgung, auf erneuerbare Energien und auf die Aus- nutzung der immensen Energieeinsparpotentiale (Georg Gallus [F.D.P.]: Aber nur europa- schafft zudem, und zwar auch kurzfristig, einen Aus- weit!) gleich für Arbeitsplätze, die durch ungenügende Meine Damen und Herren, ich sage zum Abschluß: Unternehmensentscheidungen wegfallen. Wir wollen Klarheit, wir wollen Berechenbarkeit, und wir wollen eine Regierungspolitik, die für die Men- Es gibt weitere Beispiele. Nehmen wir die Chemie- schen in unserem Lande nachvollziehbar ist. Wir industrie. Wir brauchen einen Umbau der chemischen wollen eine ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik, Industr ie. Dabei geht es einerseits um ein Mehr an weil wir nur so den Herausforderungen des kommen- Chemiedienstleistungen; andererseits wird eine tat- den Jahrhunderts umwelt- und sozialverträglich sächliche Sicherung des Produktionsstandortes gerecht werden können. Angesichts dieser Tatsache Deutschland nur noch auf der Basis der Nutzung bleibt uns als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gar nichts natürlicher, erneuerbarer Ressourcen erfolgen kön- anderes übrig, als im kommenden Jahr Regierungs- nen. Dazu bedarf es aber der Intelligenz und der verantwortung in Bonn zu übernehmen: Kreativität der Unternehmen, einer staatlichen Rah- mensetzung, etwa bei der Forschungs- und Technolo- (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) giepolitik, und eines breiten gesellschaftlichen und sozialen Konsens, aber keines Diktats. für eine klare und überzeugende Politik der ökologi- schen Verantwortung, zur Schaffung von Selbstver- In vielen Teilen der Industrie ist von einem frischen trauen bei den Menschen und für eine tatsächliche Wind nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Wenn Gesundung des Wirtschaftsstandorts Deutschland in man z. B. die Veranstaltung des BDI am Dienstag in Ost und in West. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15697

Dr. Klaus-Dieter Feige Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. In der Weltkonjunktur befinden wir uns in einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schwierigen strukturellen Phase, und es ist jetzt not- bei der SPD und der PDS/Linke Liste sowie wendig, die entsprechenden Weichenstellungen vor- des Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos] — zunehmen. Eine neue Dynamik muß entfaltet werden, Zuruf von der SPD: Den Beifall hat er sich und die Wachstumsmärkte müssen erschlossen wer- verdient!) den. Der notwendige Strukturwandel gerade auch in den neuen Bundesländern muß in vielen traditionel- len Industrien konsequent vorangetrieben werden. Rainer Haungs (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Beispiele wurden genannt; sie finden sich in Hülle und Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ver- Fülle. Ich stimme auch hier dem Wirtschaftsminister zu, daß bei allen Schwächen unserer Struktur trotz- besserung der Standort - und Wettbewerbsbedingun- gen für unsere Wirtschaft ist eine Daueraufgabe. Sie dem unsere Stärken, wenn wir sie nur gezielt weiter- beginnt nicht erst heute mit dieser Debatte. Auch entwickeln, überwiegen. stehen wir damit in der Welt nicht allein. Alle Indu- Beispielsweise finde ich unseren Weg, moder- striestaaten — Franzosen, Japaner, Amerikaner — ne Datenautobahnen, moderne Verkehrssysteme haben ähnliche Herausforderungen. — Stichwort: Transrapid — umzusetzen, richtig. Hier Wir erleben — dies wurde schon mehrfach betont — können wir internationale Maßstäbe setzen; hier kön- einen weltweiten Strukturwandel und eine beson- nen wir Wettbewerbsvorteile aufbauen, denn Mini- dere wirtschaftliche Dynamik in Südostasien, die es sterpräsident Teufel hat natürlich recht, daß wir nur uns nicht erlauben, den Rest der Welt etwa nur als mit modernen Zukunftstechnologien und einer mo- bequemen Absatzmarkt für unsere Produkte zu dernen Infrastruktur die Arbeitsplätze der Zukunft betrachten. Der Konkurrenzdruck und die Notwen- erhalten und neue schaffen können. digkeit zur ständigen Innovation haben zugenommen. Wenn wir an diese Aufgabe mutig herangehen, Wir müssen flexibler werden und im Ausland besser vermarkten. Dies bedeutet Chance und Herausforde- bewältigen wir unsere größte Aufgabe: die Überwin- dung der hohen Arbeitslosigkeit, im Osten wie im rung zugleich. Wir können die anstehenden Aufgaben allerdings nur dann bewältigen, wenn wir nicht der Westen gleichermaßen. Gefahr von Grabenkriegen und Verteilungskämpfen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unterliegen. Dies geht, meine Damen und Herren, aber nur über Herr Kollege Thierse hat in seinem Diskussionsbei- steigende Investitionen. Dies geht auch nur durch trag den Standortbericht ein Dokument des Schei- Befreiung von Regelungsdichte, und dies geht nur terns genannt. Das sehe ich ganz anders, über mehr Deregu lierung. (Zuruf von der SPD: Er hat Ihre Politik beschrieben!) Es geht mit Sicherheit nicht, wenn wir nur Besitz- stände wahren, wenn wir nur über Verteilung disku- denn die Koalition hat die anstehenden Herausforde- tieren. Es geht nur, wenn wir moderne Technologien rungen, die in dieser Debatte beschrieben wurden, anwenden und auch im Markt verkaufen. Gerade die klar erkannt. Sie hat auch in den vergangenen zehn Vermarktung neuer Produkte ist derzeit eine der Jahren eine überaus erfolgreiche Wirtschaftspolitik Schwächen, aber diese Schwäche ist erkannt. Sie wird betrieben. Wir haben von einer marktwirtschaftlichen — mit Unterstützung von Politik, Wirtschaft und Wachstumspolitik nicht nur gesprochen, sondern wir Verbänden — auch in den Wachstumsregionen über- haben sie auch umgesetzt. Niemand kann bestreiten, wunden werden. Die Unternehmen — dies kann die daß wir über 3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaf- Politik nicht leisten — müssen vorhandene Rationali- fen haben. sierungspotentiale ausschöpfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ein Fehler der letzten Jahre — man kann nicht oft ordneten der F.D.P.) genug darauf hinweisen — war die Arbeitszeitverkür- daß wir Wachstumsraten hatten, die für unsere Wett- zung über alle Regionen und über alle Sektoren bewerber vorbildlich waren, und daß die deutsche hinweg. Wiedervereinigung ein wichtiger politischer Erfolg war, der jetzt zusätzlich zur Bewältigung der Struktur- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) krise unsere ganzen volkswirtschaftlichen Kräfte Die gerade von der SPD immer wieder vertretene beansprucht. Idee, daß eine rigorose Arbeitszeitsverkürzung wett- Aber — dies wurde auch betont — die Wirtschaft in bewerbsfähige, neue Arbeitsplätze bei uns schaffe, ist den neuen Bundesländern wächst wieder, und die im Grundsatz falsch. D-Mark hat diese schwierige Phase ohne große Tur- bulenzen überstanden. Bundesminister Rexrodt hat (Uta Würfel [F.D.P.]: Sie haben vergessen, zu sagen: „bei vollem Lohnausgleich"!) zu Recht darauf hingewiesen, daß die Stärke der D - Mark uns allen, nicht zuletzt auch den Verbrau- Der Starrsinn auf Ihrer Seite trägt mit zu den Wettbe- chern, nützt und daß wir darauf stolz sein können. werbsnachteilen unserer Unternehmen gegenüber (Beifall des Abg. Dr. Hermann Schwörer Konkurrenten an anderen Standorten bei. [CDU/CSU]) - Ich freue mich, daß der wirtschaftspolitische Vor- Mit einer Abwertung, mit einer schwachen D-Mark denker der SPD, Oskar Lafontaine, der ja von Kritik in würden sich unsere Probleme noch vervielfachen. dieser Woche nicht verschont wurde, dies in seinem Dies wäre sicherlich der falsche Ansatz. neuen Wirtschaftspapier erkannt und öffentlich 15698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Rainer Haungs bekundet hat. Ich glaube allerdings nicht, daß sein die Dinge, die ich an anderer Stelle des öfteren zum Konzept in der SPD realisiert werden kann. Arbeitsmarkt sowie zum Wachstums- und Investi- tionsstandort Deutschland betont habe, nicht zitiert. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Mein Gott, das haben wir zusammen beschlossen! Sie haben (Beifall des Abg. Peter Harald Rauen [CDU/ keine Ahnung, verehrter Herr Kollege!) CSU]) Die Diskussion heute und in anderen Gremien zeigt Ich kann dies bei dieser kurzen Redezeit nicht nach- doch sehr deutlich, daß ökonomisch richtige Erkennt- holen. Ich schicke Ihnen aber gerne die Broschüre der nisse zu haben eine Sache ist, diese dann aber auch Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer umzusetzen bei Ihnen, meine Damen und Herren in (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: Ist zweck der SPD, eine viel schwierigere ist. los!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge zur Schaffung besserer Bedingungen für Investitionen ordneten der F.D.P.) am Industriestandort Deutschland zu. Lohnerhöhungen müssen durch Produktivität zu- (Uta Würfel [F.D.P.]: Der Herr Thierse könnte vor erarbeitet werden — eine Binsenwahrheit. Trotz- die auch bekommen!) dem wird immer wieder dagegen verstoßen. Dabei sind es immer die Schwächsten, es sind die unteren Die weltwirtschaftliche Abschwungphase, meine Einkommensschichten, die im Zuge von Rationalisie- Damen und Herren, hat etwa drei Jahre angedauert. rungsmaßnahmen durch Maschinen ersetzt werden. Wir haben derzeit eine gewisse Stabilisierung Das Erzwingen immer höherer Mindestlöhne ist eine erreicht. Auch ausgesprochene Zweckpessimisten gefährliche Politik gegen die Interessen der Arbeits- können nicht mehr übersehen, daß es Sektoren und suchenden. Branchen in der Wirtschaft gibt, die langsam wieder in Fahrt kommen. „Die Konjunktur wird besser", so die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) „Frankfurter Allgemeine Zeitung" heute im Wirt- Deshalb hoffe ich und appelliere an die Tarifpart- schaftsteil. ner, daß wir endlich auch zu Einstiegstarifen in den Meine Damen und Herren, ich kann keinen Auf- Tarifverträgen kommen, um auch den Arbeitslosen schwung herbeireden. Das kann niemand hier in eine Chance zu geben. diesem Hause. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Zuruf von der SPD: Das ist wahr!) der F.D.P.) Aber die Anzeichen für eine Belebung kann man nicht Andere Länder, unsere Wettbewerber, sind in diesen übersehen. Sie verdichten sich bei Forschungsinstitu- Punkten schon sehr viel weiter. Ich hoffe aber, daß die ten, in den Berichten der Banken und der Unterneh- Not auch zu neuen Einsichten führt. men oder in den Analysen in den Zeitungen. Gleichzeitig müssen Arbeits - und Maschinenlauf- Ich freue mich, daß diese verbesserten Geschäftser- zeiten entkoppelt und flexibler gestaltet werden. Es wartungen, die verbesserten statistischen Zahlen, vor wurde mit Recht darauf hingewiesen, daß das neue allem in den neuen Bundesländern, uns Zeichen der Arbeitszeitgesetz der Bundesregierung ein richtiger Hoffnung geben. Wir haben immerhin beim Auftrags- Schritt ist, auf dem weiter aufgebaut werden kann. eingang Juli 1992/Juli 1993 in den neuen Bundeslän- Man kann sagen, daß der Staat, nicht nur der Bund, dern in der Industrie ein Plus von 15 %, beim verar- es versäumt hat, in ausreichendem Maße die Privati- beitenden Gewerbe von 25 % und im Bauhauptge- sierung und Deregulierung konsequenter als bisher werbe von 36 %. Ich hoffe, daß zeitversetzt der Auf- voranzutreiben. Leidtragende sind im internationalen wärtstrend auch zu Auswirkungen auf dem Arbeits- Wettbewerb letztlich wir selbst. markt führt. Es ist auch an der Zeit, das Subsidiaritätsprinzip Meine Damen und Herren, die Börse war schon neu zu interpretieren. Es kann nicht mehr darum immer ein guter Indikator für die weitere wirtschaftli- gehen, Aufgaben auf der niedrigsten staatlichen che Entwicklung. Die Kurse unserer Aktien sind Ebene anzusiedeln, sondern es muß darum gehen, zuletzt beinahe täglich gestiegen, seit Jahresbeginn daß diese Aufgaben, die von Privaten besser erledigt insgesamt um mehr als 25 %. Viele internationale werden können, gemäß entsprechenden Vorschriften Anleger sind wieder an den deutschen Markt zurück- in der Haushaltsordnung dann auch von diesen Priva- gekehrt. Sie nehmen das voraus, was wir mit unserem ten ausgeführt werden. Standortbericht realisieren wollen, nämlich Zuver- sicht und Mut sowie Vertrauen in die Dynamik und die Vielleicht gibt es bei dem Abbau der Regelungs- Zukunft der deutschen Wirtschaft und in die Stabilität dichte und der Genehmigungspraxis — ein Thema, unserer Währung. das alle meine Vorredner angesprochen haben — doch einmal einen parteiübergreifenden Konsens. Dies ist letztendlich ein Erfolg der Sparbemühun- Der Beitrag des Kollegen von den GRÜNEN hat mich gen und der Bemühungen um die Konsolidierung da allerdings nicht sehr ermutigt. unserer Staatsfinanzen, nachdem die Finanzlage durch vielerlei Dinge, insbesondere durch die poli- (Zuruf des Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige tisch gewollte Wiedervereinigung, angespannt war. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) - Nach den Anstrengungen durch die Wiedervereini- — Sie haben zwar sehr oft die Arbeitsgemeinschaft gung müssen wir in den nächsten Jahren sowohl in der Selbständiger Unternehmer zitiert, deren Vizepräsi Abgaben- als auch in der Steuerquote wieder zurück- dent ich bin, aber Sie haben natürlich in diesem Fall gehen. Von daher ist das Konsolidierungs- und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15699

Rainer Haungs Wachstumspaket ein entscheidender Schritt, der zur Deshalb ist dies eine dramatische Negativbilanz die- Belebung der Wirtschaft beitragen kann. ser Regierung. Ich komme zum Schluß. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) DIE GRÜNEN) Für die Exportnation Deutschland ist es lebenswich- Standortdiskussionen hat es in Deutschland in den tig, daß die Uruguay-Runde, daß die GATT-Verhand- 70er und 80er Jahren immer wieder gegeben. lungen zu einem Erfolg führen. (Zuruf von der CDU/CSU) (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Aber jeder, der glaubt, daß die jetzige Standortdiskus- F.D.P.) sion eine billige Tarifdiskussion sei, täuscht sich. Es Wir hoffen, daß unsere Gespräche, daß die Ver- geht wirklich um fundamental neue Fragen. Deutsch- handlungen von Regierung und Abgeordneten-Kolle- land steht vor fundamental neuen Herausforderun- gen mit unseren französischen Freunden und mit gen. Ich teile die Auffassung von Herrn Biedenkopf, anderen Partnern dazu führen, daß wir noch bis zum daß Deutschland auch ohne die Vereinigung vor 15. Dezember, also bis zum Ablauf der Frist des „fast ähnlichen Problemen stünde. Die deutsche Vereini- track", zu Ergebnissen kommen. Wenn sich der Welt- gung hat zunächst unsere Hochkonjunktur und damit handel dynamisch entwickelt — es gibt auch hier die Inkubationszeit der Krise verlängert. positive Zeichen des Aufschwungs —, dann schaffen wir den Aufschwung wesentlich besser. Wir werden (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ zu den Nutznießern gehören, wenn wir hinsichtlich CSU) des Welthandelsabkommens ein positives Ergebnis Die Krise geht sehr tief, und wir müssen uns mit ihr erreichen. Gleichzeitig meine ich, daß die gemeinsa- ernsthaft auseinandersetzen. Wenn Sie den Vergleich men Anstrengungen von Politik, Wirtschaft und Ver- zu 1980 ziehen, als wir alle gemeinsam noch sagen bänden, wieder auf einen dauerhaften Wachstums- konnten, daß wir ein „Modell Deutschland" haben, pfad zurückzufinden, dann von Erfolg gekrönt sind, das weltweit ökonomisch hervorragend da dasteht — wenn das, was richtigerweise in dem Standortbericht enthalten ist, Zug um Zug verwirklicht wird. Ich hoffe, (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: 1980?) daß sich die Opposition unseren besseren Einsichten — Ich rede von 1980. Aber wenn man das von 1980 nicht verschließt. sagen konnte — damals haben auch Sie das gesagt —, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) so hat sich die Situation seitdem erheblich verändert. Vor wenigen Tagen hat die „Herald T ribune" eine große Investitionsstudie mit der Überschrift versehen: „Anywhere but Germany". Es ist nicht nur eine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- amerikanische Sichtweise, die hier zum Ausdruck lege Siegmar Mosdorf das Wort. kommt, sondern es gibt wirklich dramatische Unter- schiede zwischen 1980 und dem heutigen Zustand. Das drückt sich nicht nur in den Wirtschaftsdaten aus, Siegmar Mosdorf (SPD): Frau Präsidentin! Meine das drückt sich auch am Arbeitsmarkt aus. Es drückt Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sich auch darin aus, wie sich die Armutsentwicklung Herr Haungs, Sie haben Optimismus hier verbreiten in Deutschland weiter zugespitzt hat; das darf m an wollen. Nach dem Optimismus wurde gestern auch nicht vergessen. DIHT-Präsident Stihl gefragt, und zwar in bezug auf Deutschland hat im letzten Jahrzehnt ökonomische Wirtschaftsminister Rexrodt. Er hat geantwortet, es und technologische Vorsprünge verloren. Ich glaube, gebe in der Bundesrepublik Deutschland 83 Industrie- daß es so etwas wie ein Gesetz des bremsenden und Handelskammern; unter ihrem Dach seien annä- Vorsprungs gegeben hat. Wir hatten eine Spitzenstel- hernd 3 Millionen Unternehmen organisiert, die ihre lung. Wir haben dann in unseren Anstrengungen Kammern über ihre wirtschaftliche Entwicklung infor- nachgelassen und sind deshalb zurückgefallen. mierten; nach ihren Berichten lasse sich keine Trend- Darum ist es jetzt, wenn wir nicht zweitklassig werden wende in der wirtschaftlichen Entwicklung feststel- wollen, wichtig, daß wir endlich die Weichen für das len; von einer Entwarnung könne nicht die Rede sein, 21. Jahrhundert stellen. im Gegenteil. Wenn Sie jubilieren, weil der DAX Ich bedaure sehr, daß der Wirtschaftsminister aus wieder steigt, so wissen Sie ja auch wie ich, daß die dem Standortbericht leider nur verteilungspolitische Börsenphilosophie lautet: Buy on bad news. Wenn das ein Signal ist, das Ihnen schon ausreicht, mir reicht es Debatten ableitet. nicht aus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Die hundertseitige Fleißarbeit der Beamten des Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos]) Wirtschaftsministeriums zur Beschreibung des Stand- Ich halte eine Verkürzung der Standortdiskussion auf ortes Deutschland erweckt den Eindruck, als sei diese die Verteilungsfrage für verkehrt, weil sie nur polari- Regierung erst gestern angetreten. siert, statt zusammenzubringen und Zukunftskräfte (Zurufe von der SPD: Ja, genau! — So ist wirklich zu mobilisieren. es!) (Beifall bei der SPD) Aber eigentlich ist sie doch seit elf Jahren im Amt! Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir in (Zuruf von der SPD: Ganz bestimmt sogar!) einer tiefen Investitions-, Innova tions-, aber auch in 15700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Siegmar Mosdorf einer Kostenkrise stecken, über die wir reden und nicht deshalb von Singapur nach Bochum zurückge- nachdenken müssen und aus der wir auch Schlußfol- kommen ist, weil die Lohnkosten ein riesiger Faktor gerungen ziehen müssen. Das gilt für die Außenwirt- wären und sie jetzt mit Billiglöhnen arbeiteten. Das ist schaftspolitik, bei der es eigentlich nicht angeht, daß nicht der Punkt. Nokia produziert in Bochum jetzt mit man den Ländern alles überläßt. Herr Teufel hat zu einer guten, modernen Fertigung. Was früher 16 000 Recht darauf hingewiesen. Sie sehen an der Kritik von Menschen gemacht haben, machen jetzt 1 600. Mit Herrn Teufel am Zustand und an der Arbeit der Spitzenlöhnen machen sie das; aber der Lohnkosten- Bundesregierung, daß sozialdemokratische Regie- anteil macht nur noch 8 % aus. Das heißt, es geht um rungsbeteiligung in Baden-Württemberg ganz guttut. andere Fragen. Dieter Spöri hat ihm eine ganze Menge geholfen. Sie wissen, daß es bei den Gewerkschaften — ich (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt nenne Walter Riester; ich nenne aber auch Karl gehen Sie zu weit!) Feuerstein, den Betriebsratsvorsitzenden von Daim- Aber es geht nicht an, daß man die ganzen Fragen der ler-Benz — enorme Anstrengungen gibt, über neue Außenwirtschaft, z. B. wie wir unseren mittelständi- Arbeitsorganisationsformen nachzudenken. An die- schen Unternehmen helfen, auf wichtigen Wachs- sen Beispielen zeigt sich, daß moderne Gewerkschaf- tumsmärkten präsent zu sein — ich rede von Yoko- ten, die bereit sind, auch an der Arbeitsorganisation hama, ich rede von Singapur, ich rede von den mitzuwirken, und die wettbewerbsfähige Arbeits- Dingen, die wir dort aufbauen, von Handels- und plätze erhalten wollen, ebenfalls ein positiver Stand- Servicehäusern —, den Ländern überläßt. Nordrhein ortfaktor sind, den wir nicht in die Ecke stellen, Westfalen und Baden-Württemberg unternehmen sondern positiv herausstellen sollten. hier Anstrengungen. Aber eigentlich ist es die urei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genste Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, au- der CDU/CSU) ßenwirtschaftlich endlich Aktivitäten zu entfalten. Da gibt es riesige Versäumnisse, weil wir uns noch immer Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat auf „good old Europe" konzentrieren und nicht auf die gestern abend in Rostock eine Diskussion aufgenom- großen Wachstumsmärkte von morgen. Da hat die men, die seit einigen Monaten in Fachkreisen geführt Bundesregierung erhebliche Versäumnisse zu verant- wird, nämlich ob wir nicht so etwas wie einen „Wett- worten. bewerbs - und Technologierat" brauchen. Wir ken- Meine Damen und Herren, wir haben nicht die nen die Diskussionen über den Sachverständigenrat Vorteile mancher anderer Länder, was Rohstoffe, was und die Monopolkommission, über all die Gremien Energie und was geographische Lage angeht. Wir und Instrumente nach dem Stabilitäts- und Wachs- sind, wie man mit einem Fachwort sagt, ein Schum- tums-Gesetz aus den 60er Jahren, die eigentlich von peter-Standort. Wir leben von dem, was unsere Men- einer nationalen Volkswirtschaft ausgegangen sind. schen können. Wir leben von der Tüchtigkeit und dem Das ist heute nicht mehr so der Fall. Wir brauchen Know-how der Menschen. Deshalb ist Forschungs- dringend ein Instrument, mit dem wir über die Wett- und Technologiepolitik besonders wichtig. bewerbsfähigkeit der deutschen Wi rtschaft nachden- ken können. (Zuruf von der SPD: Ja!) Deshalb möchte ich den Vorschlag ausdrücklich Edzard Reuter, Heinrich von Pierer, Olaf Henkel, begrüßen, einen „Wettbewerbs- und Technologierat" Berthold Leibinger, alle, wie sie da sind, haben zu schaffen. Ich kann Sie nur auffordern, diesem keinerlei Verständnis dafür, daß diese Bundesregie- Vorschlag beizutreten und mitzuhelfen, damit wir rung in den letzten sechs Jahren den Forschungsetat regelmäßig eine sachliche Grundlage haben und nicht um glatte 30 % real gesenkt hat. Auch wir haben kein nur über Konjunkturfragen reden, sondern auch über Verständnis dafür. Fragen, die die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt (Beifall bei der SPD — Katrin Fuchs [Verl] betreffen. [SPD]: Kann man auch nicht haben!) Meine Damen und Herren, es gibt natürlich auch Es reicht auch nicht, daß sich der Bundeskanzler Führungsmängel in der Wirtschaft. Das ist überhaupt heute morgen darüber beklagt hat, daß es 22 Jahre keine Frage. Wenn man sich das heute ansieht, daß gedauert hat, bis eine Fakultät an einer Universität sich jeder Unternehmer geradezu in einen großen wieder zustande gekommen ist. Auch darüber können Wettlauf einreiht, wer die meisten Arbeitsplätze wir uns beklagen. Aber wenn jetzt z. B. die Hoch- abbaut, dann hat man das Gefühl, als wenn die schulinvestitionen gedeckelt werden und mir unser Unternehmer ihren eigenen Job nicht wirklich aktiv baden-württembergischer Wissenschaftsminister wahrnehmen. Ich habe sowieso das Gefühl, daß wir sagt, das sei deshalb so schlimm, weil er sogar heute mehr Buddenbrooks der dritten Generation als Kompletärmittel hätte, um Hochschulen zu bauen, Boschs der ersten Generation bei den Unternehmern dann ist das ein Führungsversagen der Bundesregie- haben; denn eigentlich sollten sie etwas gestalten, rung, das uns weiter zurückwerfen wird. etwas unternehmen, was voranbringt. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Werden Sie doch Meine Damen und Herren, das gleiche gilt für die Unternehmer! Sie wissen doch alles!) Frage: Wie geht es auf dem Sektor der Arbeitsorga- - Aber wir müssen dabei natürlich auch helfen. nisation weiter? Wenn man von Kostenkrise redet, dann muß man vor allen Dingen diese Frage anspre- Wenn z. B. — das bet rifft vor allen Dingen die chen. Sie wissen genauso gut wie ich, daß z. B. Nokia kleinen und mittleren Betriebe — in diesem Jahr die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15701

Siegmar Mosdorf Fördermittel der industriellen Gemeinschaftsfor- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste schung von 200 auf 163 Millionen um 23 % gekürzt spricht Frau Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt werden, dann hilft man den kleinen und mittleren Rink. Betrieben nicht, sondern dann blockiert man sie eher. Deshalb muß man in diesem Bereich besondere Anstrengungen unternehmen und endlich wieder Dr. Margret Funke-Schmi tt-Rink (F.D.P.): Frau Prä- Existenzgründungen fördern. sidentin! Meine Herren! Meine Damen! Die Bildungs- (Beifall bei der SPD) politik von heute bestimmt das Gesicht der Gesell- schaft und der Wirtschaft von morgen. Die Qualität Meine Damen und Herren, ein wichtiger Standort- unseres Bildungssystems entscheidet, wie wir die faktor ist auch, daß es gerecht und fair zugeht. Die Zukunft unseres Landes meistern. Menschen haben nicht das Gefühl, daß es in Deutsch- Und wie sieht diese Qualität aus? Um es überspitzt land gerecht zugeht. mit dem früheren Vorsitzenden des Wissenschaftsra- Philip Rosenthal hat mir gerade geschrieben, daß tes zu sagen: Unser Hochschulsystem ist verrottet. von 1982 bis 1992 die Einkommen der Deutschen nach Und ich füge hinzu: Die duale Ausbildung ist in der Steuern um 52 %, die der Kapitalbesitzer aber um Krise. 121,4 % gestiegen sind. Dies ist eine Bilanz auch Ihrer Angesichts von mehr als 1,8 Millionen Studenten Politik. Sie haben in den 80er Jahren, statt auf Inve- bei 850 000 Studienplätzen stehen die Hochschulen, stitionen zu setzen, statt Mittel zu mobilisieren, im wenn man es genau betrachtet, vor dem Ruin. Die Grunde gesagt: Wir brauchen eine Umverteilung von Erfüllung der dreifachen Aufgabe der Hochschulen, unten nach oben. Daß dies aber in den p rivaten nämlich Forschung, Lehre und Ausbildung des wis- Konsum statt in die Investitionen geht, war eine senschaftlichen Nachwuchses, ist nicht mehr überall Fehlverteilung von Mitteln, die wir heute teuer bezah- gewährleistet. Diese Entwicklung darf nicht weiterge- len müssen. Auch das muß kritisiert werden! hen. (Beifall bei der SPD) Wir stehen vor folgender Alte rnative: Man kann den Mangel weiter verwalten. Dies wäre ein Krisenmana- Nur wenn wir diese Punkte und andere angehen und gement, mit dem kurzfristig und mittelfristig eine versuchen, Weichen für die Zukunft zu stellen, haben unserer wichtigsten Ressourcen aufs Spiel gesetzt wir eine Chance, einen Spitzenplatz zu behalten. würde. Oder wir stellen jetzt die Weichen für grund- legende um die Leistungsfähigkeit der Ich habe mich manchmal, wenn ich an die Regie- Reformen, rungserklärung von Kohl denke, an die Rolle von Bush Hochschulen zu sichern. erinnert, die er ein Jahr vor seiner angestrebten (Beifall bei der F.D.P.) Wiederwahl gespielt hat. Sie können sich erinnern, er Liberale wollen diese prinzipielle Erneuerung der ist damals im Januar nach Jap an gefahren und hat staatlichen Hochschulpolitik im Interesse der einzel- darum gebeten, daß m an doch bitte nicht so viele nen Menschen, aber auch im Interesse der wirtschaft- japanische Autos nach Amerika schickt. Die Japaner lichen Wettbewerbsfähigkeit. Ein bloßer Ausbau der haben hinter seinem Rücken ein bißchen gefeixt. Und Kapazitäten der Hochschulen löst das Problem nicht. dann hat er auch noch im Tennis gegen den japani- Er scheidet auch angesichts der finanzpolitischen schen Tenno 6 : 3, 6: 3 verloren und kam als Verlierer Engpässe aus. Es müssen endlich die seit langem von nach Hause. der F.D.P. geforderten Strukturmaßnahmen in Angriff Ich hatte die große Sorge, daß der japanische Kaiser, genommen werden. als er hier war, den Bundeskanzler auffordert, auch Drei zentrale Forderungen: mit ihm Tennis zu spielen. Das wäre natürlich ein Erstens. Die Universitäten müssen in ihrem Lehran- Debakel geworden. gebot und in der Organisa tion des Studiums stärker (Zuruf von der CDU/CSU: Für den Kaiser! — differenzieren, und zwar zwischen einer wissen- Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Der Kinkel schaftsbezogenen beruflichen Ausbildung und einem hätte es gemacht! Der kann es gut!) forschungsorientierten Graduiertenstudium. (Beifall bei der F.D.P.) Der englische Komponist Benjamin B ritten hat einmal gesagt: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Zweitens. Eine berufsorientierte kürzere Universi- Sobald man aufhört, treibt man zurück." tätsausbildung muß weiterhin ein eigenständiges Pro- fil gegenüber den Fachhochschulstudiengängen auf- Der Kanzler hat seine Verdienste bei der staatlichen weisen. Allerdings sollen die Übergänge zwischen Vereinigung. Aber er wird auch in die Geschichte als praxisorientierter Fachhochschulausbildung und der Kanzler eingehen, der dazu beigetragen hat, daß wissenschaftlicher Universitätsausbildung erleich- Deutschland Vorsprünge verloren und seinen Spit- tert werden. zenplatz in der Weltwirtschaft eingebüßt hat. Wir Sozialdemokraten werden Sie in Zukunft in der Wirt- Drittens. Das Universitätsstudium darf nicht von der schaftspolitik noch mehr fordern. Das verspreche ich Forschung abgekoppelt werden. Da die Grundlagen- Ihnen, weil es um die Zukunft unseres Landes und um forschung sich heute weitgehend an den Universitä- die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze -ten und an den staatlichen Forschungseinrichtungen geht. abspielt, muß dafür gesorgt werden, daß die Hoch- schulen nicht weiter in ihren Ausbildungsverpflich- (Beifall bei der SPD) tungen ertrinken. 15702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink Ein kurzer Exkurs: Was allerdings die angewandte rufsbildender Weg mit Optionen bis zur Hochschule Forschung angeht, so sind es gerade die Klein- und verstärkt gefördert werden. Mittelbetriebe, in denen bahnbrechende Verbesse- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU rungen entwickelt werden, obwohl die meisten For- sowie des Abg. Siegmar Mosdorf [SPD]) schungssubventionen gerade an die Großbetriebe gehen. Deshalb sagt die F.D.P.: Eine gute Forschungs- 1992 gab es 500 000 junge Menschen mit Facharbei- politik ist eine gute Mittelstandspolitik. ter-, Gesellen- und Gehilfenbrief und 150 000 Hoch- schulabsolventen. Das Verhältnis war also 3:1. Bevor (Zuruf von der F.D.P.: Sehr gute Vor in fünf Jahren womöglich ein Geselle einem Hoch- schläge!) schulabsolventen, eine Gesellin einer Hochschulab- Die Hochschulen müssen den Weg aus der starren solventin gegenübersteht, scheint doch die Frage Administration in einen dynamischen Wettbewerb berechtigt, ob Lehrlinge nicht viel zu teuer sind. gehen. Das heißt Strukturreformen, die auf Innova- Das Bundesinstitut für Berufsbildung bestätigt diese tion und Effizienz abzielen. Das heißt Einführung von Vermutung. Man müsse zwei Lehrlinge ausbilden Wettbewerbselementen, Einführung von finanziellen — nach Schätzungen je 150 000 DM —, um einen im Anreizmechanismen sowie Einführung von privat- Betrieb zu halten. Ein FH-Absolvent bzw. eine -Absol- wirtschaftlichen Führungs- und Managementtechni- ventin sei billiger, koste nämlich mit Trainee- ken im Hochschulbereich. Programm nur 30 000 DM. (Beifall bei der F.D.P.) Einem solchen Trend im Lehrstellenmarkt — sollte Dies sind Grundvoraussetzungen für eine Verkürzung es denn einer sein — müssen wir energisch entgegen- der Studienzeit, für eine Straffung und Praxisorientie- treten. Denn es muß unser aller Ziel sein, mehr rung der Studien- und Prüfungsordnungen und für Jugendliche für duale Ausbildung zu gewinnen. eine höhere Effizienz und Qualität in Lehre und Konzeptionelle Ansätze sind erstens Gleichwertig- Forschung. keit des Berufsschulabschlusses mit dem Realschulab- Meine Herren, meine Damen, wir müssen endlich schluß, zweitens fachgebundene Hochschulreife, ein effizientes Hochschulmanagement etablieren, das ermöglicht durch einen vergleichbaren Fortbildungs- mit Hilfe betriebswirtschaftlicher Allokations- und abschluß wie Meister und Techniker, drittens Hoch- Kontrollmechanismen das Verhalten der Hochschu- schulzugang ohne Abitur auf Grund von Zusatzquali- len näher an das Management privater Wirtschaftsun- fikationen. ternehmen rückt. Fazit: Nur mit einem vielgliedrigen Ausbildungs- und Weiterbildungssystem können wir den Wirt- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne schaftsstandort Deutschland sichern. Aus der gegen- ten der CDU/CSU) wärtigen Krise des dualen Systems kommen wir aber Die Instrumente für mehr Wettbewerb sind vor nur heraus, wenn Jugendliche und Eltern von Indu- allem Finanz- und Verwaltungsautonomie. Das hat ja strie, Handel und Handwerk überzeugt werden, nicht heute auch schon der Bundeskanzler gesagt. nur im Hochschulstudium die allein seligmachende (Zuruf von der SPD: Deshalb ist es aber noch Lebensplanung zu sehen. nicht richtig!) Die Wirtschaft muß mit gezielten Aus- und Weiter- — Doch, es ist in diesem Fall ganz richtig. bildungsgängen ihr Image verändern und in bezug auf Einkommen, Prestige und Aufstiegsmöglichkeiten Dazu gehören neben Globalhaushalten in allen wirkliche Berufsperspektiven bieten, die als Alterna- Hochschulen auch grundlegende Veränderungen des tiven zum Studium von jungen Leuten angenommen öffentlichen Dienstes und des Hochschulrechts sowie werden. die leistungsbezogene Mittelvergabe. Auch im öffentlichen Dienst dürfen Beförderungen Die Entwicklung an den Hochschulen ist ein euro- nicht weiter an formalen Kriterien, sondern müssen an päisches, nicht nur ein deutsches Problem. Überall -Leistung und Bewährung orientiert werden. Das A befindet sich das Hochschulwesen nach einer starken 13-Syndrom muß in der akademischen wie in der Expansion in einer Phase des W andels. Je schneller beruflichen Ausbildung verschwinden. wir in Deutschland den W andel vollziehen, desto eher Vielen Dank. schlagen wir daraus Kapital im Wettbewerb. Die Forderung nach mehr und immer mehr Geld für die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Hochschulen greift zu kurz. Es erhebt sich überhaupt sowie bei Abgeordneten der SPD und des die Frage, ob das Hochschulsystem in seiner jetzigen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auslegung nicht längst an die Grenzen der öffentli- chen Finanzierbarkeit gestoßen ist. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der Als Grundlage der modernen Industrie- und Dienst- Kollege Bernd Henn. leistungsgesellschaft muß in gleichem Maß und gleichwertig die berufliche Ausbildung gestärkt wer- den. Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon phan- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne tastisch, zu erleben, wie in einem L and, in dem wir ten der CDU/CSU) - zehn Jahre lang Umverteilung von unten nach oben Deutschland braucht eine Facharbeiterelite als Rück hinter uns haben, in dem die Reichen in der Tat reicher grat der Wirtschaft. Deshalb muß neben dem allge geworden sind, in dem gleichzeitig Massenarbeits- meinbildenden Bildungsweg ein gleichwertiger be losigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit steigen, durch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15703

Bernd Henn diese Standortdebatte eine Stimmung aufgebaut wer- etwas tim, damit das Rentenzugangsalter höher ist. den soll — ich denke, leider auch mit Erfolg —, die Nur müßte man sich dann darum kümmern, wie die nach noch größeren Opfern ruft, ausgerechnet zu Arbeitsbedingungen in den Betrieben aussehen; dann Lasten jener, die in der Vergangenheit bereits Federn müßte man über Arbeitsschutzgesetze und anderes lassen mußten. reden. Dann hätten wir nicht den derzeitigen Zustand, Ich glaube deshalb, man kann die Fakten nicht oft genug nennen: Da haben sich in Westdeutschland in (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Dann hät den letzten zehn Jahren die Gewinne real verdoppelt, ten wir den Zustand der DDR!) während die Löhne fast stagniert haben. Da fällt der daß fast die Hälfte aller Rentenzugänge auf Frühinva- Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volksein- lidität bzw. Berufsunfähigkeit beruhen, Frau Kollegin. kommen auf einen Stand wie in der Adenauer-Ära. Da Ich glaube, der Kanzler weiß nicht — Sie vielleicht wird von der Bundesbank bekanntgemacht, daß die auch nicht —, wie es wirklich um Streß, um Arbeits- Produktionsunternehmen über 600 Milliarden DM an hetze, um körperliche und nervliche Belastung im liquiden Mitteln verfügen. Da gehen westdeutsche Arbeitsleben bestellt ist. Wer das nicht weiß, kann Konzerne und Banken Ende der 80er und Anfang der fordern, daß wir eine Arbeitszeitverlängerung brau- 90er Jahre auf Einkaufstour und übernehmen eine chen. Vielzahl von Unternehmen im westlichen Ausland, darunter Brocken, die fünf, sechs und mehr Milliarden (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: Bei Ihnen DM kosten. sieht man das! — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich bezweifle, daß Sie das wissen!) In dieser Situation, nachdem es zehn Jahre lang für das obere Drittel in der Gesellschaft phantastisch — Ich habe noch gute Erfahrungen, Herr Hinsken. gelaufen ist, setzt die Regierung in der aktuellen Aber Ihnen gestehe ich das auch zu. Ich kenne Ihre Konjunktur- und Wachstumskrise weiter voll auf Berufsentwicklung und nehme an, daß Sie wissen, Angriff, Angriff auf den Sozialstaat, Angriff auf die wovon Sie reden, wenn Sie davon sprechen. Tarifautonomie. Sie fordern mehrjährige Reallohn- (Beifall des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser verluste für die Arbeitnehmer, attackieren Urlaubsre- [CDU/CSU]) gelungen, Urlaubsgeld und Arbeitszeit der deutschen Arbeitnehmer. Das ist eine so gewaltige Dreistigkeit, Ein weiteres Beispiel für die ständigen Ablenkungs- daß man sie in gewisser Weise fast schon wieder manöver. Da wird von zu kurzen Maschinenlaufzeiten bewundern muß. in Deutschland gesprochen. Ich glaube, es sind im Durchschnitt 53 Stunden. Aber vielleicht sagt die Ich glaube aber andererseits, daß die Regierung Regierung einmal etwas dazu, was auch heute schon Kohl keine andere Chance hat, als auf diesem Weg gesetzlich und tariflich möglich und zulässig ist. Die weiterzumarschieren, wenn sie politisch überleben Tatsache ist die, daß die Unternehmen die Spielräume will. Denn wer dieses Land elf Jahre lang regiert hat überhaupt nicht ausschöpfen. Warum auch, wenn die und die Weichen dabei so falsch gestellt hat — in der Nachfrage so ist, wie sie zur Zeit ist? Technologiepolitik, durch die Vernachlässigung der modernen Wachstumsindustrien, mit der selbstver- Ein letztes Beispiel. Der Kanzler hat heute geklagt, schuldeten Einengung der Finanzspielräume des daß sich der ICE in Südkorea nicht verkaufen läßt, Staates, weil das Geld durch Steuergeschenke an die weil angeblich zu wenig Betriebserfahrung damit in Unternehmer verschleudert wurde und weil die aus Deutschland vorliegt. Schade, daß der Kanzler nicht dem Anschluß der DDR zu bewältigenden Probleme mitbekommen hat, wie gestern im Wirtschaftsaus- so falsch angepackt wurden —, wer also die Sache so schuß über die katastrophale Präsentation des ICE vermasselt hat, der kann die Flucht nur nach vorne durch die Firma Siemens in Ostasien gelästert wurde. antreten. Wer blühende Landschaften versprochen, Es wurde kein gutes Haar an dem Weltkonzern aber Industriewüsten geschaffen hat, gelassen. Er hat offensichtlich auch noch den falschen Politiker, einen General, in Südkorea geschmiert, der (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Was war jetzt wegen Korruption im Gefängnis sitzt. Auch so denn vorher, Herr Kollege?) kann man Verkaufschancen im Ausland vertun. der muß so vorgehen, der kann gar nicht anders, als Man könnte die Beispiele fortsetzen. Es läuft immer Entlastungsangriffe zum Ablenken von dem eigenen wieder auf dasselbe hinaus: Diejenigen, die die Sache Versagen zu fahren. vermasselt haben, suchen Schuldige, denen sie den Da attackiert der Kanzler z. B. auf seiner Japanreise Schwarzen Peter anhängen können. Weil sich das mit die angeblich faul und bequem gewordenen deut- den 40 Jahren SED-Herrschaft so langsam verbraucht schen Arbeitnehmer. Heute hörten wir von ihm das und sicher auch nicht mehr so stimmt, wird die alte Wort vom „kollektiven Freizeitpark Deutschland", Schlachtordnung aufgebaut, die wir schon 1974/75 und er meinte nicht die 5 Millionen Arbeitslosen. Ich hatten und auch in der Krise 1981/82, die da heißt: will zu dem Unsinn der geforderten Arbeitszeitverlän- Standortdebatte kontra Arbeitnehmer und Gewerk- gerung bei fünf Millionen fehlenden Arbeitsplätzen schaften. nichts hinzufügen. Dazu ist in der Debatte schon Ich hoffe sehr, daß die Arbeitnehmer dieses Spiel einiges gesagt worden. durchschauen und sich nicht bange machen lassen, Aber nehmen wir z. B. die vom Kanzler geforderte -auch nicht in der anstehenden Tarifauseinanderset- Verlängerung der Lebensarbeitszeit, weil ihm das zung bei Metall. Heute ist schon von „zu hohen durchschnittliche Rentenzugangsalter von 59 Jahren Forderungen" gesprochen worden. Ich denke, die zu niedrig erscheint. Ich meine, m an könnte in der Tat 6 %, die die IG Metall beschlossen hat, werden es am 15704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bernd Henn Ende nicht werden. Aber der Inflationsausgleich ist Luxus leisten, nicht mehr wettbewerbsfähige Arbeits- gerechtfertigt und ist auch etwas, was in diesem Land plätze mit Milliarden von DM zu subventionieren. verkraftbar ist und notwendig für die, die es brau- chen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Kurt Liste]) Faltlhauser [CDU/CSU]: Zurück ins alte System!) Man kann nicht Technologien wie die Biotechnolo- gie oder die Kernenergie mit dumpfer Technikfeind- lichkeit bekämpfen und sich wundern, daß Investitio- nen nicht in Deutschland, sondern in anderen Ländern Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun stattfinden. der Kollege E rnst Hinsken. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir müssen uns endlich wieder bewußt werden, daß die wirtschaftlichen Probleme offenbar machen, daß Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ver- wir unsere Systeme überfordern: das Sozialsystem, ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich erspare mir, das Tarifsystem, das Rechtssystem und das staatliche näher auf Ihre Ausführungen, Herr Henn, einzuge- Einnahmesystem. Ich warne uns alle davor, die Augen hen. vor diesen Realitäten zu schließen. Wer immer ein (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Weil Sie soziales Gewissen für sich in Anspruch nimmt, muß dazu nichts zu sagen haben!) jetzt dafür sorgen, daß dem Sozialstaat nicht die wirtschaftliche Basis genommen wird. Aber als Kommunist hätten Sie es dringend nötig, einmal ein Seminar zu besuchen, das sich speziell mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) marktwirtschaftlichen Zusammenhängen beschäf- Diese Basis befindet sich heute im breiten Mittel- tigt, stand, der sich vor neue Herausforderungen gestellt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sieht. Ich denke hier nicht nur an die völlig neue um genau zu wissen, worauf es ankommt. Das wäre Situation, die sich im Grenzgebiet zur tschechischen dringend erforderlich. Aber ich bezweifle auch hier, Republik ergibt, wo man sich unmittelbar mit niedri- daß das gegebenenfalls wirken würde. geren Löhnen konfrontiert sieht. Hier liegen die neuen Herausforderungen, denen wir uns stellen (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Das lohnt sich müssen und bei denen es gilt, hellwach zu sein. auch nicht! — Georg Gallus [F.D.P.]: Die Frage ist, ob er lernfähig ist!) Zudem darf nicht sein, daß der Weg in die Zwei- Klassen - Gesellschaft weitergegangen wird, in der die In einem Kommentar des „Straubinger Tagblatts/ einen nach der 35-Stunden-Woche schreien und die Landshuter Zeitung" schrieb vor wenigen Tagen anderen — wie ein Großteil der Mittelständler — das Dr. Hans Götzl u. a.: Doppelte und mehr arbeiten müssen, damit sie über- Zweifelsohne hat die gegenwärtige Krise den haupt noch über die Runden kommen. Blick geschärft, und es lohnt sich, den berühmten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Professor Binse wieder einmal zu Wort kommen zu lassen: Ein Arbeitsplatz entsteht, wenn ein Noch ein Wort zum Mittelstand: Kürzlich fragte ich Unternehmen Güter oder Dienste wettbewerbs- einen Unternehmer, was ihn am meisten belaste. Er fähig produziert, bei deren Fertigung Arbeitneh- nannte drei Dinge. mer ihr Einkommen am Markt verdienen können. Erstens: die hohe Sozialbelastung. Hier handelt die Sind die Kosten dieses Arbeitsplatzes zu hoch, Bundesregierung; der Umbau ist schon im Gange. wird auf die Einstellung verzichtet oder entlas- sen. Das geschieht nicht aus Kaltschnäuzigkeit, Zweitens: die hohe Steuerbelastung. sondern weil das Unternehmen seine Existenz (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke und die verbleibenden Arbeitsplätze retten Liste]) muß. Hier haben wir bereits über das Standortsicherungs- (Beifall bei der CDU/CSU) gesetz etwas getan. Wie recht hat doch der Professor Binse! Um bei ihm Drittens: die hohe Bürokratiebelastung. Hier sind zu bleiben: Es ist doch eine Binsenweisheit, daß nur wir gefordert. Wir müssen dringend handeln. Das verteilt werden kann, was vorher erwirtschaftet wurde auch seitens unseres Bundeskanzlers heute bei wurde, oder daß wir in den letzten Jahren über unsere der Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht. Verhältnisse gelebt haben und in Zukunft kürzertre- ten müssen bzw. daß wir unser Anspruchsdenken Meine Damen und Herren, im Bonner „General zurückschrauben müssen. Anzeiger" von gestern lese ich im Kommentar: „La- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ganz fontaine setzt bei seinen Parteigenossen Einsichten in Europa muß den Gürtel enger schnallen, hieß es wirtschaftspolitische Zusammenhänge voraus, die jüngst in einer großen deutschen Zeitung. Auf uns - viele nur rudimentär besitzen." bezogen heißt das u. a.: M an kann nicht die kürzesten Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, Arbeitszeiten, den längsten Urlaub, die besten Sozial- dies ist ein wahrer Satz, der auch erklärt, warum Sie in und Umweltstandards haben und sich gleichzeitig den der heutigen Debatte immer an der falschen Stelle Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15705

Ernst Hinsken klatschen. Doch auch die Erkenntnisfähigkeit von Programm, das der Sozialen Marktwirtschaft den Herrn Lafontaine ist begrenzt. Garaus macht. (Zurufe von der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Widersprüche in der Wirtschaftspolitik bleiben Meine Damen und Herren, ich verstehe die Welt doch nach wie vor bestehen. Erstens. Sie von der SPD nicht mehr. Umdenken heißt das Gebot der Stunde. behaupten, Sie seien für Investitionen, aber Ihr Pro- Alle sind gefordert: die Unternehmer, die durch neue gramm spricht von Energiesteuern, von Arbeitsmarkt- Produkte wettbewerbsfähig bleiben und sich neue abgaben und von Investitionslenkung. Absatzmärkte erschließen müssen, die Gewerkschaf- ten, die einsehen sollten, daß der überzüchtete Sozial- Zweitens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für staat wirkliche Solidarität gefährdet, der Staat, der die Senkung der Lohnnebenkosten, aber Sie leisten seinen vermeintlichen Finanzbedarf drosseln sollte. seit Monaten erbitterten Widerstand gegen die not- Wer meint, den Leistungsträgern in der Gesellschaft wendige Kompensation bei der Pflegefallabsiche- immer höhere Abgaben aufbürden zu können, höhlt rung. das System der Sozialen Marktwirtschaft aus. Drittens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für (Zuruf von der SPD: Wer sind denn die Subventionsabbau, aber Sie verweigern eine vernünf- Leistungsträger?) tige Lösung bei Bergbau und Stahl und machen im Ruhrgebiet Stimmung mit dem Ziel, Subventionen zu Sorgen wir alle dafür, daß wieder Aufbruchstimmung erhalten. erzeugt wird, dann wird mir nicht bange, die Gegen- wart und auch die Zukunft zu meistern. Viertens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für Ökologie, aber Sie machen gegen die umweltscho- Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nicht nende friedliche Nutzung der Kernkraft Front, wäh- vorenthalten, daß ich heuer die Möglichkeit hatte, im rend in anderen Staaten längst erkannt wurde, daß Schwarzwald Urlaub zu machen. nur durch sie die Klimaproblematik gelöst werden (Georg Gallus [F.D.P.]: Das ist sehr gut! Das kann. ist Baden-Württemberg!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und — Ich bedanke mich für das, was Kollege Gallus sagt. der F.D.P. — Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Es war auch sehr schön. — Unter anderem habe ich Liste]: Blödsinn!) den Dom in St. Blasien besichtigt. Fünftens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für (Georg Gallus [F.D.P.]: Das gehört sich auch die Entlastung des Faktors Arbeit, aber Sie reden so!) weiteren Verkürzungen der Arbeitszeit das Wort und Am Eingangsportal dieses eindrucksvollen Bauwerks leisten damit einer unglaublichen Ressourcenver- war u. a. ein Leitspruch zu lesen, der mich sehr schwendung an gut ausgebildeten und qualifizierten beeindruckt hat. Unter dem Titel, daß die Menschen in Facharbeitern Vorschub. drei Gruppen einzuteilen sind, heißt es dort: erstens Sechstens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für die wenigen, die dafür sorgen, daß etwas geschieht, das beste Berufsbildungssystem, aber Sie betreiben zweitens die vielen, die zuschauen, wie etwas seit Jahren eine Bildungspolitik, die auf Nivellierung geschieht, und drittens die überwiegende Mehrheit, und Leistungsfeindlichkeit ausgerichtet ist. die keine Ahnung hat, was überhaupt geschieht. Auch wir Politiker sollten selbstkritisch an unsere Brust (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) klopfen. Auch wir sind gemeint. Von uns wird erwar- Sie von der SPD behaupten, Sie seien für wettbe- tet, daß etwas geschieht. Jetzt ist wieder die Zeit werbsfähige Arbeitsplätze, aber Sie propagieren den gekommen, sich dessen zu erinnern und nachzuah- öffentlich geförderten zweiten Arbeitsmarkt als men, was vor über vier Jahrzehnten unsere Väter und Lösung aller Beschäftigungsprobleme. Großväter geleistet und getan haben. Sie schrien nicht Achtens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für nach dem Staat, sondern krempelten die Ärmel hoch Zukunftsförderung, für Innovation, aber Sie fördern und schufen die Grundlage für die Entwicklung unse- eine dumpfe Zukunftsangst durch Ihren Widerstand res Sozialstaats, um den wir von allen Seiten beneidet bei der Gentechnologie und, wie gesagt, bei der werden. Das, was damals an Aufbruchstimmung Kernenergie. erzeugt wurde, sollte auch in der Gegenwart und für die Zukunft gelten. Wenn wir das beherzigen, ist mir Neuntens. Sie von der SPD behaupten, alles zu tun, nicht bange, daß wir die großen Probleme, die daß der Wirtschaftsstandort Deutschland wieder gefe- momentan vor uns liegen, bewältigen. stigt wird, aber Sie sperren sich gegen eine Verlänge- rung der Maschinenlaufzeiten. Herzlichen D ank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Ist überhaupt nicht wahr! Sie haben nicht richtig gelesen!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Kol- — Herr Rappe, ich verstehe, daß Sie das aufregt. Sie lege Ulrich Briefs. sind einer der vernünftigen Leute in der SPD-Fraktion, aber leider Gottes sind es zuwenig vernünftige Leute. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Es tut mir fast leid, Zehntens. Sie von der SPD behaupten, etwas von daß ich nach dieser weihevollen Rede jetzt in eine Wirtschaft zu verstehen, aber Sie propagieren ein ganz andere Kerbe hauen muß. 15706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Ulrich Briefs Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Vorwärtsweisend in diesem Zusammenhang ist ins- Standortdebatte mutet in weiten Bereichen wie eine besondere das Konzept der Arbeitszeitverkürzung in Geisterdebatte an. Objektive Anzeichen für einen der Arbeitszeit, wie es hier in einem Grundzug vom Standortverfall bzw. eine massive Modernitätslücke Ministerpräsidenten des Saarlandes angesprochen in Deutschland gibt es nicht oder kaum. Der verstärkte wurde. Arbeitszeitverkürzung in der Arbeitszeit heißt Zug deutschen Produktivkapitals ins Ausland z. B. Nutzung durch neue Technologien und immer kapi- findet seit 20 Jahren statt. Seit dieser Zeit exportiert talintensivere Produktion und auch Verwaltung frei- Deutschland mehr Kapital, als ausländische Anleger gemachter Arbeitszeit für Streßabbau, für Weiterbil- hier anlegen. Das ist einfach ein Fakt. Bei den Lohn- dung — das hatte der Ministerpräsident des Saarlan- stückkostensteigerungen liegt die Bundesrepublik in des angesprochen — den letzten zehn Jahren unter dem europäischen Durchschnitt. Der Standort Deutschl and ist nach wie (Zuruf des Abg. Georg Gallus [F.D.P.]) vor Exportweltmeister. Die Exporterfolge belegen wie — das paßt Ihnen nicht, Herr Gallus, das weiß ich — auch die deshalb so starke D-Mark, daß deutsche und für demokratische Information sowie für Mitbe- Produkte und Fabriken nach wie vor modem sind. stimmung am Arbeitsplatz und im Betrieb. Nein, die Ursachen für die inzwischen riesigen ökonomischen Schwierigkeiten dieses Landes sind in Wir haben dieses Konzept in den Gewerkschaften in erster Linie auf das komplette Versagen dieser Bun- den 80er Jahren entwickelt und propagiert, damals als desregierung und dieser Koalition beim Managen des Antwort auf die gegenüber heute vergleichsweise glimpfliche Arbeitslosigkeit. Diese Politik der qualita- deutsch - deutschen Einigungsprozesses zurückzufüh- ren. Sie sind in zweiter Linie auf die mit dem Versagen tiven Arbeitszeitverkürzungen ist aktueller denn je. der Bundesregierung bei der Wiedervereinigung Sie schafft zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten. zusammenhängende Verschuldungsorgie zurückzu- Sie ist eine der ganz modernen Antworten auf die führen. wirtschaftlichen und sozialen Probleme in diesem Land. Sie sind in dritter Linie zurückzuführen auf eine ganze Palette falscher Maßnahmen zur Anpassung an Katastrophal im Sinne des Wortes — das wurde die dadurch geschaffenen Bedingungen: Umvertei- bereits mehrfach angesprochen — sind die Kürzungen lung von unten nach oben, Sozialabbau, Abbau von in den Zukunftsetats des BMFT und des BMBW. ökologisch notwendigen Mitsprache- und Kontroll- Dagegen bleibt der Rüstungsetat trotz ersatzlosen rechten, unbedachte Deregulierung, perspektivlose Wegfalls des traditionellen Feindes im Osten fast auf Privatisierung, die vielfältigen sonstigen Vorstöße zu der alten Höhe des Kalten Krieges. Das ist übrigens die einer neokonservativen Wende, geradezu zurück ins bemerkenswerteste Leistung des politischen Mana- gesellschaftspolitische Mittelalter. gements dieser Bundesregierung: weiter Hochrü- Insbesondere der Sozialabbau ist nicht nur unsozial stung zu betreiben, obwohl kein Feind mehr da ist. und ökonomisch kontraproduktiv; er hat geradezu Man muß sich überlegen, welcher Widersinn das ist, — ich sage das nach den gestrigen Äußerungen von wenn man bedenkt, daß auf der anderen Seite in Regierungssprecher Vogel sehr bewußt — terroristi- dringend notwendigen Fällen, in Zukunftsbereichen sche Qualitäten. Wenn Presseprecher Vogel die Ver- gekürzt wird. brennung von Strohpuppen mit dem Schild „Rexrodt" Wie will diese Bundesregierung moderne Produk- durch Bergarbeiter als „terroristische Handlungen" tionen in den fünf neuen Ländern schaffen, nachdem bezeichnet, so ist man zumindest versucht zu sagen, sie die Industrieforschung in diesen Ländern von diese Bundesregierung, diese Koalition verhalten sich 70 000 auf gerade noch 15 000 Stellen hat schrumpfen geradezu wie Sozialterroristen. Die wiederholten lassen? Sozialleistungskürzungen bei den Ärmsten der Armen müssen bei diesen Betroffenen inzwischen (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Die ist doch doch tatsächlich wie Terror wirken. schon da!) Vom „Freizeitpark Bundesrepublik" zu reden — an- Alte und neue Militärstandorte im Osten sind doch gesichts etwa 7 Millionen fehlender Arbeitsplätze — kein Ersatz; sie sind wirklich nicht sonderlich innova- ist geradezu Zynismus. Man kann nur hoffen, daß tiv. dieser Zynismus vor dem Fall kommt. Von Arbeits- zeitverlängerung zu reden ist dabei exakt das Gegen- Konzeptionslos, ohne die notwendigen Ansätze teil von dem, was notwendig ist. Als wesentliches, bei einer Industriepolitik in Ost und West ist die Politik weitem nicht als alleiniges Mittel zur Schaffung von dieser Bundesregierung. Das Standortsicherungspa- Arbeitsmöglichkeiten sind Arbeitszeitverkürzungen pier ist kein Ersatz für ein fehlendes Konzept. Es zieht notwendig. noch nicht einmal die Lehre aus den Folgen und dem Scheitern der Politik von Reagan und Thatcher in (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Kaba vergleichbaren Ländern. Das Standortsicherungspa- rett!) pier dieser Bundesregierung ist ein Kotau vor einem Als Gewerkschafter weiß man, was es an innerge- seit j eher eigentlich überholten marktwirtschaftlichen werkschaftlichem Umdenken, z. B. in der IG Medien, Dogmatismus. Die Marktwirtschaft bedarf sehr kluger bedeutet, wenn bei einem durchschnittlichen Arbeit- Rahmenregelungen und auch gewisser intelligent nehmer-Nettomonatsverdienst — bundesweit auf alle - steuernder Konzepte, eben die der Industriepolitik. Arbeitnehmer bezogen — von ca. 2 500 DM auf den Nur mit diesen Stützen kann sie ihre Hauptfunktion, vollen Lohnausgleich verzichtet wird. Herr Hinsken, das flexible und vorausschauende Abtasten von das sollten Sie sich zu Gemüte führen. Bedarf und Bedürfnissen, erfüllen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15707

Dr. Ulrich Briefs Diese Bundesregierung verhält sich indes so, daß — Wissen Sie, lieber Kollege von der SPD, ich würde einem ein Wort von Karl Kraus abgewandelt in den mich freuen, wenn noch ein paar Kollegen von Ihnen Sinn kommen muß: Sie wird durch Erfahrung dumm. mehr hier im Saal wären. Was bleibt, ist ein Standortsicherungspapier, das den (Zuruf von der SPD: Ich mich auch!) Vorwand für einen geradezu flächendeckenden Sozi- alabbau, ich habe es so genannt: Sozialterror, lie- — Sie auch, das glaube ich sogar. fert. Ich habe heute schon mehrfach gehört, daß gesagt Diese Bundesregierung setzt eben nicht an den worden ist: Warum handeln Sie nicht? Das sind vielfältigen Entwicklungen an, die die Arbeitsplätze pauschale Schuldzuweisungen gewesen. Wir haben immer teurer und rarer machen und die unter ande- den Mut dazu, heute festzustellen, daß wir Strukturen rem die Personal - und die Personalnebenkosten zum verändern müssen. Wir sind auch bereit dazu. nachrangigen Faktor gemacht haben. Die Spatzen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) pfeifen es doch in den Bet rieben von den Dächern: Das

Hauptproblem sind die kapital - und technologiebe- Bei Ihnen ist doch das Versagen der Opposition dingten Fixkosten und sonstige Gemeinkosten und sichtbar. Sie müßten uns doch als knackige Opposition längst nicht mehr die Personalkosten. Doch statt an zeigen und sagen, wo Sie hinmarschieren wollen. den Hauptkostenblöcken mit sinnvollen Modernisie- Aber das bleibt leider aus. rungsmaßnahmen anzusetzen, verfährt diese Bundes- (Zuruf von der SPD: Das tun wir schon die regierung nach dem Motto, die Reichen noch reicher ganze Zeit!) zu machen in der Hoffnung, daß die so Begünstigten ihr die Probleme abnehmen. Es wird höchste Zeit, daß Deshalb sagen wir, wo wir verkrustete Strukturen dieser verhängnisvollen Politik Einhalt geboten wird. aufbrechen wollen. Dies mußte einmal gesagt wer- Ich glaube, diese Aufgabe stellt sich insbesondere in den. Ich habe genug Zeit. den zahlreichen Auseinandersetzungen des nächsten Ein weiterer Punkt: Die Kollegen, die Forschungs-

Jahres. politiker der Union, haben gestern ein 22 - Punkte- Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. Programm veröffentlicht. Dies haben wir mit Bedacht getan, weil wir nicht lamentieren, sondern deutlich zeigen wollen, wo strukturelle Veränderungen vorzu- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege nehmen sind. Ich möchte hier einmal auf einige Dr. Briefs, ich weise Sie darauf hin, daß — auch wenn Punkte eingehen und dabei nicht irgendwelche Inter- Sie es geschickt formuliert haben — ein Ausdruck wie pretationsirritationen aufkommen lassen. — ich gebe es sinngemäß wieder — „die Mitglieder der Bundesregierung verhalten sich wie Sozialterrori- Stichwort „Strategierat Technik 21. Jahrhundert": sten" nicht parlamentarisch ist. Dies ist kein Ord- Ich habe in der Debatte heute morgen gemerkt, daß nungsruf, sondern ein Hinweis darauf, sich einer auch Herr Ministerpräsident Teufel hier völlig gleich anderen Sprache zu bedienen. mit uns liegt. Ich könnte mir vorstellen, daß es hier sehr viele Sympathisanten gibt, die uns auf diesem (Uwe Lambinus [SPD]: Das ist eine Abmah Weg unterstützen. Dies soll kein staatlicher Dirigis- nung wie im Arbeitsrecht! Das nächste Mal mus sein. Es soll auch keine Anmaßung dergestalt gibt es einen Ordnungsruf!) sein, daß der Staat vorgibt, was zukünftig zu tun ist — So ist es, Herr Kollege Lambinus. und wo Wachstumsfelder sind. Wir müssen endlich Nun kommt als nächster der Kollege Erich Maaß zu den Versuch unternehmen, Wirtschaft, Wissenschaft Wort. und Politik an einen Tisch zu bekommen und dann zusammen einmal folgendes zu definieren:

Erich Maaß (Wilhelmshaven) (CDU/CSU): Frau Prä- Erstens. Es besteht Einigkeit darüber, daß wir an sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! dem hohen Wert der Grundlagenforschung in dieser Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte aus- Republik weiter festhalten wollen. schließlich auf das Thema Forschungs- und Technolo- Zweitens. Wir müssen sagen, wo unsere Stärken giepolitik eingehen. Nach dem Debattenverlauf heute und unsere Schwächen liegen. Bei den Schwächen morgen muß ich auf folgendes hinweisen: Ich bin sehr müssen wir den Mut haben, sie entweder zu beheben dankbar und froh darüber, daß auch der Herr Bundes- oder die Problemfelder abzustreifen. Wenn wir unsere kanzler auf die Forschungs- und Technologiepolitik Stärken definieren können, müssen wir zusehen, daß als ein Kernstück hingewiesen hat und seine Zusage wir gemeinsam konzertiert auf diese Stärken hinar- erneuert hat, im Rahmen der Haushaltsberatungen für beiten. den Haushalt Forschung und Technik zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen zu wollen. Warum sollte es uns nicht gelingen, hier ein natio- nales Ziel für Wachstumsfelder zu definieren, die uns Meine Damen und Herren, ich rufe an dieser Stelle die Wertschöpfungspotentiale in den nächsten Jahr- auf: Wir brauchen jetzt in dieser Republik eine For- zehnten garantieren? schungs - und Technologieoffensive. Gerade in einer Phase der strukturellen Rezession müssen wir zuse- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hen, daß wir uns antizyklisch verhalten und daß wir Ähnlich machen es die Japaner, ähnlich machen es jetzt mit Forschung und Technologie Investitionen - die Amerikaner. Wir wollen kein MITI. Hier können tätigen, damit die Arbeitsplätze in der Zukunft für die wir klar feststellen: Wenn wir Wissenschaft, Wirtschaft nächste Generation gesichert werden. und Politik an einem Tisch haben, dann können wir (Zuruf von der SPD) alle Beteiligten mit in die Verantwortung nehmen. 15708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Erich Maaß (Wilhelmshaven) Dann kann sich auch keiner aus der Verantwortung Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, ist stehlen. Die Politik sollte hier eine Moderatorenfunk- das Stichwort Technikakzeptanz. Es ist mittlerweile tion übernehmen und sollte zusammenführen und Mode geworden, daß wir uns stundenlang über Chan- diese nationalen Ziele für eine künftige Wirtschafts- cen und Risiken moderner Technik unterhalten. politik mit definieren. Das ist meine Bitte. Manchmal habe ich den Eindruck, daß wir nur noch Ich bin gar nicht so unfroh darüber, denn in einem über Risiken diskutieren und die Chancen dabei auf Nebensatz habe ich vorhin, wenn ich den Herrn der Strecke bleiben. Wirtschaftsminister richtig verstanden habe, gehört, Ich bitte hier dringend — ich mache hier keine daß er sehr keusch und zurückhaltend das Wort Schuldzuweisungen —: Die vernünftigen Köpfe in Industriepolitik in den Mund genommen hat. Ich will allen Fraktionen müssen auf diesem Weg endlich mal keine Industriepolitik. Aber ich glaube, wir müssen voranschreiten und müssen deutlich machen, wo die Instrumentarien haben, die uns die Möglichkeit Chancen neuer Technologien liegen. geben, hohes Potential an Wissenschaft und For- Ich richte hier einen weiteren Appell an die Bundes- schung möglichst schnell in den Markt zu bringen. ratsseite. Leider ist dort niemand mehr anwesend. Ich (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) sehe hier auch eine Aufgabe für unsere Kultusmini- Das kann die Forschungspolitik nicht. Dazu brauchen ster. Wir müssen wieder offensiv in die Schulen wir wirtschaftspolitisches Instrumentarium und wirt- hineingehen und müssen dort die Angst und die Sorge vor neuen Techniken nehmen. Wir müssen dort auf- schaftspolitische Unterstützung. Das ist ein Defizit, das in dieser Republik immer größer wird. klären. Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Ich Hier appelliere ich an unsere Medien, denen auch sehe es mit Bekümmernis — und das teilen viele eine Verantwortung zukommt. Es ist zwar wunder- Kollegen —, daß wir durch den Zuschnitt der Bundes- schön, wenn man mit Horrorszenarien die Auflagen ressorts zu stark in diesen Ressorts argumentieren und steigern kann. Es nutzt uns aber insgesamt nicht, denken. Wir brauchen eine stärkere Verzahnung der wenn wir mit so einer Politik weiter arbeiten. Ressorts untereinander. Forschungspolitik, For- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schungsergebnisse, flankiert durch wirtschaftspoliti- Ich habe noch drei Minuten. Dann kann ich noch sche Maßnahmen, helfen uns, Wertschöpfung zu einige Sachen loswerden. Bei diesem 22-Punkte- schaffen. Dasselbe gilt für Forschungspolitik und Paket, das wir gestern präsentiert haben, haben wir Bildungspolitik, Forschungspolitik und auch Finanz- keine Angst gehabt, auch einige Problemfelder mal und Steuerpolitik. anzusprechen, von denen wir wissen, daß wir uns da (Zuruf von der F.D.P.) in den nächsten Monaten streiten müssen. Ich freue mich, daß diese Interessengleichheit bei Wir haben das Stiftungswesen reformiert. Wir Herrn Rexrodt vorhanden ist. Lassen Sie uns gemein- haben hier die Möglichkeit, an erhebliche Mengen sam auf diesem Weg weiter voranschreiten. Geld aus Stiftungen heranzukommen. Warum gelingt Deshalb auch die Forderung von uns: So wie Wirt- es uns nicht, ähnlich wie die Amerikaner dieses tun, schaftspolitik Psychologie ist, ist auch Forschungs- das Stiftungswesen stärker zu mobilisieren, damit wir und Technologiepolitik Psychologie. Deshalb die zusätzlichen Schub und zusätzliche Investitionen Bitte, diesen Strategierat hoch anzusiedeln. Der Bun- auch gerade im Bereich der Forschung und Techno- deskanzler sollte sich das auf die Fahnen schreiben logie in Gang setzen? Ein Punkt, über den man mal und sollte die unterschiedlichen Kombattanten hier an nachdenken muß, wo wir initiativ werden sollten. einen Tisch holen. Weiter sehe ich nicht ein — diese Auffassung teilen viele Kollegen —, daß wir den Begriff der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Militärfor- schung als unkeusch aus der öffentlichen Diskussion Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, was, herausgelassen haben. Wenn wir in diesem Bereich glaube ich, reformbedürftig ist und was korrigiert erhebliche Investitionen in Forschungsaufwendun- werden muß. Stichwort Europa. Wir können nicht gen getätigt haben, dann sollten wir heute die Mög- mehr isoliert arbeiten, sondern wir wollen in einem lichkeit besitzen, auch auf dieses Know-how zurück- vereinten Europa marktstrategisch arbeiten. Ich stelle greifen zu können und Techniken, Verfahren und mit Sorge fest, daß wir die personelle Ausstattung Produkte, die der Markt braucht und die hier entwik- unterhalb der Kommissare noch verbessern, deutlich kelt worden sind, umzusetzen. Ich appelliere an dieser verbessern müssen. Es nutzt nichts, daß wir Pro- Stelle, daß eine stärkere Öffnung erfolgt. gramme der EG auf den Tisch bekommen und dann eine Reaktionszeit von sechs oder acht Wochen (Freimut Duve [SPD]: Welcher Markt?) haben. Da laufen auch unsere Freunde und unsere — Der zivile Markt, lieber Herr Kollege. Es wäre doch Unternehmen in der heimischen Wirtschaft gegen die hirnrissig, wenn wir dieses vorhandene Know-how Wand. brachliegen ließen, aber zusätzliche Gelder in For- Wir müssen viel früher in den Gestaltungs- und schungsvorhaben investieren müßten, die wir schon Definitionsprozeß europäischer Programme mit ein- getätigt haben. gebunden sein, um unsere nationalen heimischen Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel ansprechen, Interessen frühzeitig mit unterzubringen. Hier brau- Stichwort: Hochschulen. Warum greifen wir nicht die chen wir eine Verstärkung sowohl in Brüssel als aber Forderung der Hochschulrektorenkonferenz auf? auch im Bundesministerium für Forschung und Tech- Diese lautet: Wir wollen ein Pilotvorhaben bei 20 oder nologie. 30 Lehrstühlen in dieser Republik installieren. Die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15709

Erich Maaß (Wilhelmshaven) Herren Professoren sollen ihren Lehrauftrag acht Erstens. Welche Indust rien sollen erhalten oder, in Monate vollziehen, dann die Möglichkeit haben, sich Mitteldeutschland, wiedererrichtet werden? Der Wirt- vier Monate lang als Unternehmer zu engagieren. schaftsstandort Mitteldeutschland basiert wesentlich Was sie dort einnehmen, soll in ihre Institute zurück- auf der Qualifikation, der Erfahrung seiner Men- fließen. schen. Wir machen das Gegenteil: Landesmittel werden, (Georg Gallus [F.D.P.]: Richtig!) wenn Drittmittel von Professoren eingeworben sind, gekürzt. Das ist kontraproduktiv. Hier ist ein Anreiz zu Wenn wir all das, was wir essen, womit wir uns schaffen, um Know-how, Technologietransfer mobili- kleiden, Autos und Elektronik, aus dem Ausland billig sieren zu können. hereinlassen, wo sollen dann unsere höchstqualifi- zierten Frauen Europas, unsere mitteldeutschen Ich könnte noch einige Punkte nennen, merke aber, Frauen, ihr Geld verdienen? daß meine Zeit abgelaufen ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Zweitens. Für welchen Markt wollen wir produzie- Abschluß noch eine Bitte. Bei aller politischen Wider- ren, wenn wir wieder produzieren? Das heißt: Welche sprüchlichkeit müssen wir uns auf eines konzentrie- Preise müssen unterboten werden? Das ist die kon- ren: Wie schaffen wir es, uns mit allen Beteiligten in krete Frage. dieser Republik künftig mit Forschungs- und Techno- Drittens. Welche Konkurrenten müssen von wel- logiepolitik auf Wachstumsfelder zu begeben, die chem Markt ferngehalten oder — wie in Mittel- hohe Wertschöpfungen garantieren? Wenn uns das deutschland — wieder verdrängt werden? gelingt, dann stabilisieren wir den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland. Das ist unsere Heraus- (Lachen des Abg. Georg Gallus [F.D.P.]) forderung; wir müssen diese Chance begreifen. 140 Milliarden DM Einfuhr, 13 Milliarden DM Aus- Herzlichen Dank. fuhr, letzter Wirtschaftsbe richt, Statistisches Jahr- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) buch! (Georg Gallus [F.D.P.]: Was Sie erzählen, ist ja noch schlimmer als in der ehemaligen

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort DDR!) hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Krause (Bonese). Viertens. Bei gleichem Zugang zu weltweiter Tech- nologie muß die Frage beantwortet werden: Wie wollen wir, wenn die Billiglohnländer schneller sind, Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr neue Technologien in Produktion überzuführen, wie Präsident! Meine Damen und Herren! Je leerer der wir heute gehört haben, die Produktion aus Billig- Saal, um so besser wurden die Reden. Herr Hinsken lohnländern noch unterbieten, wenn sie die Techno- als Bäckermeister hat heute wohl die beste Rede logie haben, die wir erst ein halbes Jahr oder ein Jahr gehalten. später aufstellen? Kostenkrise — mit diesem Wort konnte man bisher Fünftens. Wie lange und bis zu welcher Schmerz- die Debatte überschreiben. Ich sage, die Kostenkrise grenze sollen in Deutschland Subventionen gezahlt ist eine Folge des Freihandels; korrekt muß es heißen: werden und warum? Subventionen belasten immer Kosten-Konkurrenz-Krise. die anderen Bereiche der Wirtschaft oder die Kauf- Herr Hinsken, Sie sagten sehr richtig, die Mittel- kraft insgesamt. Warum soll das Auto für die Bahn ständler arbeiteten sich tot, auch die Bauern. Sie bezahlen, warum der Bäcker für den Fleischer? Das müssen viele, viele Stunden auch nach dem üblichen versteht auf Dauer niemand mehr. Mit Freihandel und Feierabend arbeiten, um sich gegenüber der Billig- Subventionen kommen wir also an eine Grenze. konkurrenz überhaupt behaupten zu können. Unsere Bauern arbeiten, gerechnet mit nur 80 Wochenar- Sechstens. Was ist die politische Priorität einer beitsstunden, für 3,60 DM netto die Stunde — Kosten- Regierung? In Mitteldeutschland könnte man sagen: Konkurrenz-Krise! internationalen H andelskonzernen durch Import an -derswo produzierter Waren maximale Gewinne zu Sie haben erwähnt. Es gab drei geben. Das ist der Status praesens in Mitteldeutsch- Dinge, die in den 50er Jahren anders waren: Erstens, land. jeder fleißige Deutsche konnte fleißig arbeiten, weil, zweitens, die politischen Rahmenbedingungen gut Mein Konzept ist ein anderes, und da sind wir uns waren. Drittens aber gab es keine Billigkonkurrenz wahrscheinlich auch im Ziel einig: Arbeit für alle, die durch offene Grenzen; das kam hinzu. in Deutschland arbeiten wollen. Aber das geht nur unter zwei Voraussetzungen: entweder billiger zu (Georg Gallus [F.D.P.]: Ja, weil die Deut produzieren — und das ist bei gleicher Technologie schen für 0,50 DM gearbeitet haben!) und hohen Löhnen schlicht und einfach nicht mög- — Richtig. lich —, oder wir brauchen mit derselben Moral oder In Mitteldeutschland würden die 4,5 Millionen Unmoral, wie die EG dies tut, wie Amerika dies tut, Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, gern wie- wie Japan dies tut, Außenschutz. der arbeiten, wenn sie Absatz hätten. Die Frage also, - (Zuruf von der CDU/CSU) die ich betrachten will, ist: Welche branchenspezifi- sche Wirtschaftspolitik muß erfolgen? Welche Fragen Wir müssen also von dem Gebot „Freihandel über müssen beantwortet werden? alles" wieder wegkommen. Früher war es die füh- 15710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) rende Rolle der Arbeiterklasse, jetzt ist es dieser Wirtschaftsstandort Deutschland: Das ist heute ein parareligiös hochgehaltene Freihandel. anderes Thema als noch vor 10 oder 20 Jahren. In den (Georg Gallus [F.D.P.]: Was?) letzten vier Jahren hat sich unsere wirtschaftliche Umwelt grundlegend und dauerhaft verändert. Diese — Der parareligiös hochgehaltene Freihandel. Strukturbrüche haben wir kaum wahrgenommen, (Georg Gallus [F.D.P.]: Haben Sie schon geschweige denn die notwendigen Konsequenzen etwas von GATT gehört?) erkannt oder gar gezogen. — Siebentens. Wir müssen, wenn wir von GATT Ich frage: Was ist anders geworden? Nach dem reden, ehrlicherweise fragen: Wenn GA TT kommt, Zerreißen des Eisernen Vorhangs stehen plötzlich vor welche neuen Produkte kommen dann auf den deut- unserer Haustür Abermillionen vergleichsweise gut schen Markt? Welche Kosten werden dann die preis- ausgebildeter Arbeitskräfte, die zu einem Fünftel, bestimmenden Kosten sein? Und wie wollen wir einem Zehntel oder gar einem Zwanzigstel der hiesi- entweder diese Kosten unterbieten oder, wenn das gen Lohnkosten arbeiten. nicht geht, wie wollen wir uns vor dem Import dieser Produkte schützen? (Georg Gallus [F.D.P.]: Richtig!) (Zuruf des Abg. Georg Gallus [F.D.P.]) Zum zweiten ist Europa bereits weitaus stärker — Die DDR war eine Kuh, die gemolken wurde, bis die fortgeschritten, als wir dies auf den ersten Blick Flocken kamen. Aber man hat das Euter drangelassen wahrhaben wollen. Die Kräfte des Wettbewerbs sind und es nicht abgeschnitten, was heute passiert. stärker als Politik und Bürokratie. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Betrachten wir zu dieser Entwicklung einmal einige Die Forderung muß sein: Was in Deutschl and durch Fakten. Ein Maschinenbauunternehmen X hat in deutsche Männer und deutsche Frauen erzeugt wer- Deutschland Personalkosten von jährlich 106 000 DM den kann, muß auch hier absetzbar sein. Natürlich ist pro Mitarbeiter, in Frankreich von 78 000 DM und in die deutsche Regierung dem Wohl des deutschen Polen von 15 000 DM. Eine Grundchemikalie wird von Volkes verpflichtet. Wer denn sonst? Doch nicht etwa einer deutschen Firma zu knapp 3 DM pro Kilogramm die Briefmarkensammler! angeboten; dieselbe Chemikalie wird von einem (Zurufe von der CDU/CSU) tschechischen Unternehmen zu 17 Pfennig offeriert. Wer will, daß Arbeit in Deutschland absetzbar ist, muß (Zuruf von der CDU/CSU: Hört, hört! — entweder billiger produzieren, oder er braucht einen Georg Gallus [F.D.P.]: Das ist die Lage!) wirksamen Außenschutz. Ich möchte alle, die über Kodak verlegt die Überholung von Großkopierern in GATT reden, doch darum bitten, dann auch ehrlich zu die Tschechei. Audi baut ein Motorenwerk in Ungarn. sagen, was mit welcher Branche passieren wird. Für In den Führungsetagen der deutschen Indust rie wer- jede einzelne Branche sollten wir ein ehrliches Wirt- den Managementfehler der letzten Jahre korrigiert schaftskonzept haben. und lohnintensive Produktion in das östliche Ausland verlagert. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Dr. Krause, Ihre Redezeit ist überschrit- (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions ten. los]: Sie geben mir doch recht!) Eine große westdeutsche Spedition arbeitet jetzt vom Standort Luxemburg aus und erzielt damit eine Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Gut. — Ich danke für die Aufmerksamkeit. — Wir müssen Kosteneinsparung von 21 %. Die Kfz-Mechaniker- unseren Bürgern, vor allem den arbeitslosen Frauen in stunde kostet in Deutschland 58 DM, in Luxemburg Mitteldeutschland sagen: Mit diesem Konzept werdet 40 DM und in Belgien sogar nur 34 DM. ihr dann wieder Arbeit haben. Ansonsten wird es 1994 Meine Damen und Herren, der europäische Binnen- ein Debakel geben, wogegen Hamburg ein Kinder- markt macht nicht nur den Waren, sondern auch den spiel war. Dienstleistungen Beine. Genau hier liegt der funda- mentale Unterschied zu der bisherigen Konkurrenz Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile mit weit entfernten Billiglohnländern. Man kann die nunmehr dem Abgeordneten Peter Harald Rauen das Kopierer- oder Maschinenwartung oder Speditions- Wort. leistungen nicht von Asien aus erbringen, wohl aber aus direkt benachbarten Regionen. Das Problem trifft nicht nur Deutschland allein, sondern alle Länder mit Peter Harald Rauen (CDU/CSU): Herr Präsident! hohem Lohn- und Sozialniveau. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war nicht ganz einfach zu ertragen. Ich bin der Meinung Von 1986 bis 1992 — man höre hier genau zu — — um nur soviel dazu zu sagen —: Das Unterteilen in haben ausländische Firmen in Deutschland lediglich Ost und West halte ich für einen ausgemachten 20 Milliarden investiert, Schwachsinn. Wir sind ein Staat; wir sitzen in einem (Georg Gallus [F.D.P.]: Ja, und in Eng Boot. Wenn dieses Boot leckgeschlagen wird, gehen land?) wir alle unter oder wir rudern gemeinsam nach - vorn! in Großbritannien das Siebenfache dieses Betrages, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Georg Gallus [F.D.P.]: Weil die Löhne nur sowie der F.D.P.) zweidrittel so hoch sind!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15711

Peter Harald Rauen in Amerika sogar das Vierzehnfache. Nettolohn die Kosten für eine Lohnstunde bezahlen zu können, macht schlagartig klar, warum in Deutsch- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Wahr land 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze heit!) fehlen, Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung Das ist für die Arbeitsplätze in Deutschland eine immer mehr um sich greifen. Es ist in Deutschland dramatische Entwicklung. genügend Arbeit da, aber nicht mehr genügend Unter Außerachtlassung aller anderen Standortfak- Arbeit zu bezahlbaren Preisen. toren, die ebenfalls wichtig sind, möchte ich mich auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Grund der kurzen Zeit jedoch eingehend nur mit dem Standortfaktor Lohnkosten auseinandersetzen. Die Beitragssätze für Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung unter Berücksichtigung der In letzter Zeit begegnet mir immer häufiger die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben sich in den Aussage — auch heute kam sie —, daß die Deutschen letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt — bei gleich- über ihre Verhältnisse lebten und dies nun korrigiert zeitig immer kürzeren Arbeitszeiten und damit immer werden müsse. höherem Lohnanteil für Soziallöhne, also für Urlaub, (Dr. Peter Struck [SPD]: Der Kanzler hat das Feiertage, Krankentage und Ausfalltage. Die Summe gesagt!) der Sozialleistungen in Deutschland haben 1992 — man höre hier ganz genau zu — mit 72,54 %, Stimmt dies wirklich? Gilt das etwa für den Facharbei- gemessen an der Bruttolohn- und -gehaltssumme, ter, der bei 21,70 DM Stundenlohn im Monat 3 670 DM eine historische Höchstmarke erreicht. brutto verdient, davon als Verheirateter mit 2 Kindern netto 2 723 DM und als Unverheirateter 2 292 DM Nach der Wiedervereinigung ist das Pro - Kopf- ausbezahlt bekommt? Wohl kaum. Das ist die Situa- Einkommen in Deutschland um 15 % niedriger als in tion von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- der alten Bundesrepublik. Wir leisten uns jedoch ein nehmern in Deutschland. Oder gilt das für den Rent- Sozialbudget, als hätte es diesen Vorgang nicht gege- ner, der nach 45 Versicherungsjahren eine Rente von ben. 1 680 DM im Monat bekommt? Oder gilt das für Die demographische Entwicklung ist hinreichend Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Ar- bekannt. Im Jahr 2040 kommt auf einen Beitragszah- beitnehmern, die trotz täglicher Arbeit monatlich nicht mehr als 1 500 DM netto ausgezahlt bekommen? ler ein Rentner. Meine Damen und Herren, die Zeit Oder für den Handwerksmeister, der nach jahrzehn- drängt. Der soziale Umbau muß schnell und durch- greifend erfolgen, weil die Rentner des Jahres 2040 in telanger, härtester Arbeit feststellt, daß es ihm immer diesem Jahr aus der Schule kommen und ihre Lehre noch nicht gelungen ist, ein Polster an Eigenkapital anzusammeln? Oder gilt es für den mittelständischen beginnen. Unternehmer, der demnächst monatlich mehr Lohn- Auch der Staat kann nicht mehr verteilen, als vorher steuer und mehr Beiträge an die Kassen abführt, als er erarbeitet worden ist. Ich bin eigentlich sicher, daß die seinen 90 Mitarbeitern netto ausbezahlt? Das heißt, überwiegende Mehrzahl der Menschen in Deutsch- wir sind an einem Punkt, an dem die Mitarbeiter land diese einfache Grundregel beherrscht. Ich bin besser die Abzüge ausbezahlt bekämen. überzeugt, daß wir in Zukunft nicht weniger, sondern (Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr!) mehr arbeiten müssen. Mit 30 Jahren von der Univer- sität und mit 54 Jahren in den Vorruhestand — das hält Der einzelne hat viel eher das Gefühl, daß ihn der keine Volkswirtschaft dieser Welt aus. Staat mit Steuern und Abgaben überfordert, als daß er persönlich über seine Verhältnisse lebte. Vom Brutto- (Georg Gallus [F.D.P.]: Und ein Drittel lohn des Durchschnittsverdieners gehen heute schon Abbrecher und zuwenig berufsorientiert! — im Schnitt 48 % für indirekte und direkte Steuern Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sowie für Sozialabgaben ab. Wer arbeitet, muß deutlich mehr haben als der, der Die Gesamtsteuerlast einer Kapitalgesellschaft in nicht arbeitet und den Sozialstaat in Anspruch nimmt. Deutschland ist 1993 mit 66,2 % mit Abstand die Im Rahmen unserer sozialen Sicherungssysteme müs- höchste im Vergleich aller westlichen Industrienatio- sen wir weg von der Vollkaskomentalität und hin zur nen, und dennoch: hohe Haushaltsdefizite, eine Verantwortungsgesellschaft! enorm hohe Staatsquote. Die hohen Stückkosten bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU uns sind 1992 die höchsten im Vergleich aller westli- sowie bei der F.D.P.) chen Industrieländer. Viel zu wenig beachtet wird jedoch die Tatsache, daß trotz der weltweit höchsten Die Lohnzusatzkosten müssen deutlich sinken. Je Lohnkosten bei uns die deutschen Arbeitnehmer mit schneller die Politik die Kraft findet, die fundamenta- ihren Nettoeinkommen auf die siebte bis achte Stelle len Veränderungen anzunehmen und neue wenn im Vergleich zwischen den westeuropäischen Indu- auch unbequeme Wege in der Politik zu gehen, um so strieländern zurückgefallen sind. eher wird es erreichbar sein, daß der Wirtschaftsstand- Man muß deutlich sagen: Die deutschen Arbeitneh- ort Deutschland auch in Zukunft den Menschen, die mer kosten brutto zuviel und verdienen netto zuwe- arbeiten wollen, auch die Möglichkeit bietet, arbeiten nig. zu können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerk- samkeit. Die Tatsache, daß ein Facharbeiter fünfeinhalb bis sechseinhalb Stunden arbeiten muß, um von seinem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 15712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Lage sind, dann wirklich an der Spitze der Industrie- nunmehr dem Abgeordneten Ortwin Lowack das nation mitziehen zu können. Es fehlt die ordnende Wort. Hand, die auch einmal dazwischenhält, wenn im Verteidigungshaushalt der Forschungsetat gekürzt, von 1,8 Milliarden DM auf 250 Millionen DM herun- Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was zur Sicherung oder tergefahren wird und wir dann risikieren müssen, daß 10 000 bis 16 000 hochqualifizierte Arbeitsplätze, wie Verbesserung des Standorts Deutschl and notwendig wäre, ist völlig klar. Es erstaunt sogar, was die beispielsweise jetzt bei der DASA, verlorengehen. Regierungskoalition im einzelnen dazu vorschlägt. Der Wust von Gesetzen und Verordnungen mit Nur, die Politik ist viel zu verkrustet und viel zu zahllosen Formelkompromissen aus diesem Parla- unbeweglich, um das auch wirklich durchzusetzen. ment, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist Am besten macht es doch Helmut Kohl, indem er auch nicht dazu angetan, diesen Staat attraktiver zu sich in jede Veranstaltung, die er hat, am Anfang machen. Wenn dann noch dazukommt, daß der Staat hinstellt und sagt, wir wollen doch keine Schuldzu- mit den Steuergeldern nicht ordnungsgemäß umgeht, weisungen vornehmen, so daß alles schön schweig- braucht man sich über die Probleme mit der Standort- sam ist und damit verdeckt wird, daß ihn als den sicherung nicht zu wundern. verantwortlichen Mann an der Spitze der Politik das Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen Hauptverschulden trifft. von der Unionsfraktion, Sie haben genau in dieser Natürlich brauchen wir eine große Leistung der Woche wieder den Sündenfall begangen. Sie haben gesamten Gesellschaft. Wir brauchen ein Umdenken ein Datum für den Umzug nach Berlin festgesetzt, in den Betrieben, wir müssen weg davon kommen, ohne auch nur irgendwelche Anhaltspunkte zu daß Rationalisierung immer nur Abbau von Arbeits- geben, wie das Ganze finanziert, wann das Ganze plätzen bedeutet, wobei diese Philosophie oft genug finanziert werden soll und mit welcher Zukunftsbela- von den Banken leider vorgeschrieben wird. Wir stung wir tatsächlich rechnen müssen. brauchen ein Abrücken von dieser Rückzugsmentali- tät. Der Betrieb müßte vielmehr daran orientiert sein, Es gibt einen weiteren Bereich, das ist der der was er an guten Kräften hat, welche Kräfte er anwer- Europäischen Gemeinschaft. Ein weiterer Sünden- ben und wie er sie op timal einsetzen und weiterbilden fall! Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist kann, um über eine qualitative Verbesserung seiner doch ein Witz, daß man das strukturschwächste Produkte Märkte wiederzugewinnen. Gebiet in Europa überhaupt, die neuen Bundesländer, die 50 % weniger Produktivität haben als beispiels- Natürlich brauchen wir ein Umdenken bei den weise Griechenland, mit Strukturmitteln der Europäi- Arbeitnehmern, die ständig zur Weiter- und Ausbil- schen Gemeinschaft in Höhe von 27 Milliarden DM in dung, die bei uns in Deutschland an der Spitze stehen sechs Jahren ausstattet, aber nur deshalb, weil die müssen, bereit sein müssen, aber wir brauchen auch Deutschen gleichzeitig in diese Kasse 93,3 Milliarden eine stärkere Identitifizierung mit dem Be trieb. DM aus Steuermitteln einbezahlen. Es kann doch Wir brauchen natürlich ein Umdenken bei den nicht wahr sein, daß wir in der Zwischenzeit über Gewerkschaften, die betriebsorientierter denken Adhäsionsfonds weit über die Produktivität, die ja müssen — das ist das Erfolgsrezept Japans gewesen — Grundlage sein sollte, in die Kasse einbezahlen, und und die vor allem auch gute Ausbildung anbieten nun keine Kontrolle mehr darüber haben, was mit dem müssen, nicht nur Ausbildung, in der Ideologien Geld geschieht. vermittelt werden. (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Natürlich brauchen wir ein Umdenken bei der [Bonese] [fraktionslos]) Verwaltung, denn der Verwaltungsmann, der nach außen zeigt, daß er engagiert und gut und schnell Der Bundeskanzler verlangt eine Generalinventur entscheidet, kann motivieren und wird immer dazu der deutschen Gesellschaft. Ich möchte ironisch fra- beitragen, daß sich in einer Kommune Be triebe besser gen: Möchte er seinen Scherbenhaufen auch noch entwickeln können. registriert haben? Er ist doch gerade für die fehlende Aber, das Entscheidende ist doch, daß wir vor allem Motivation verantwortlich. Er fordert zwar eine neue eine andere Politik brauchen. Meine liebe Kollegin- Motivation in Deutschland, aber er ist doch gerade nen und Kollegen, die Rezession, die erschreckende verantwortlich für die Demotivierung. Für die Politik- Leistungsbilanz, die erschreckende Übertragungsbi- verdrossenheit ist er draußen das Symbol. Die drin- lanz, die Arbeitslosigkeit, die Inflation, die hohe gend notwendige Aufbruchstimmung, die wir brau- Verbrechensrate und der Mangel an Identifizierung chen, geht von diesem Bundeskanzler und seinen mit diesem Staat sind doch in erster Linie Ergebnisse Paladinen, manchmal auch in der Opposition, sicher einer verfehlten Politik, nicht aber verfehlter Men- nicht aus. schen. Wenn die Guten in einem Staat permanent den Da lobt der Bundeskanzler die Bundesbank gerade Eindruck haben, sie werden bestraft, und es werden noch als Hort der Stabilität, so wörtlich, aber mit die Schlechten belohnt, darf m an sich nicht wundern, Maastricht gibt er sie wieder auf, und er beseitigt mit wenn die Guten überwiegend auch schlecht sein der D-Mark das wichtigste verbleibende Identifizie- wollen, einfach weil das eine Überlebensfrage ist. rungsmerkmal der Deutschen überhaupt. Wenn wir in der Forschung kürzen, an der Zukunft (Freimut Duve [SPD]: Was?) — der Kollege E rich Maaß hat doch völlig recht: egal, in welchem der Etats das geschieht —, dann schnei- Dann beruft er sich in dieser Debatte auf die den wir uns in das eigene Fleisch, weil wir nicht in der Konvergenzkriterien. Die Konvergenzkriterien hat Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15713

Ortwin Lowack das Kanzleramt doch gar nicht gewollt. Die sind ihm sichern, um auf Dauer die Arbeitsplätze derer zu von der Bundesb ank aufgedrückt worden. Die Kon- sichern, die Gott sei Dank noch Arbeit haben. vergenzkriterien hätten doch beim Datum 1. Januar 1999 überhaupt keine Rolle gespielt, weil wir mit einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mehrheitsentscheidung des Europäischen Rates je- Auf die Arbeitskosten ist zu Recht hingewiesen den deutschen Einspruch, auch des Parlaments, hät- worden. Hierbei kommt es natürlich auf die Lohn- ten mühelos aushebeln können. Erst durch das Bun- stückkosten und auf die Produktivität an. Die Produk- desverfassungsgericht ist das unmöglich geworden. tivität können wir nur durch Investitionen erhöhen, Das muß man doch einmal ansprechen. auch durch all Ihre guten Vorschläge, die ich teilweise Wer heute bei den Familien kürzt, wie Sie dies unterstütze und die ja auch der saarländische Mini- morgen wieder beschließen wollen, vergreift sich an sterpräsident hier eingebracht hat: daß wir die der Zukunft. Wo wollen wir denn die Motivation zu Arbeitszeit flexibilisieren müssen und daß wir im einem zukunftsbewußten Denken herbekommen, Hinblick auf Arbeitszeiten neue Modelle entwickeln wenn wir nichts auslassen, was unsere Zukunft in müssen, wie dies auch der Bundeskanzler gesagt hat. Frage stellt? Am Ende kommt es wirklich auf die Lohnstückkosten Wir brauchen eine grundsätzliche demokratische durch gesteigerte Arbeitsproduktivität an. Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Das ist rich- Wer über das japanische Wunder oder über die tig. Wir brauchen aber auch eine neue — ich sage das japanische Herausforderung spricht, muß eben fest- ganz offen und bitte, nicht mißverstanden zu wer- stellen: In den japanischen Betrieben, insbesondere in den — nationale Motivation. den Betrieben, die mit unseren Bet rieben in Konkur- renz stehen, sind die Lohnstückkosten um 30 % bis Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- 40 % niedriger. Oder, umgekehrt gesagt: Diese geordneter Lowack, ich hatte Ihnen bereits kleine Betriebe bieten 20 %, 30 % und teilweise 40 % billiger Signale gegeben. Wenn Sie dies berücksichtigten, an. wäre das ganz nett. Arbeitsplätze sind nur dann dauerhaft, wenn sie Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident, ich rentabel sind. Es geht darum, daß auf diesen Arbeits- bin schon bei meinem letzten Satz angelangt und bitte plätzen die Einkommen wirklich verdient werden. Wo nur, diesen in parlamentarisch angemessener Weise dies nicht geschieht, sind die Arbeitsplätze unsicher. zu Ende führen zu dürfen. — Weder Europa noch die Das war ja offenbar sogar bei einigen sozialdemokra- Welt lösen unsere Probleme. Ich frage nur: Wo ist die tischen Zeitungen so: Als das Geld nicht mehr herein- Generation von mutigen jungen Politikern, die den kam, konnten sie auf Dauer selbst aus der Parteikasse Mut haben, auch einmal gegen den eigenen Kanzler nicht mehr subventioniert werden. und seine Unfähigkeit, die Probleme zu lösen, zu opponieren und zu sagen, wo es in Zukunft lang- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der geht? F.D.P.) (Zustimmung bei der SPD) Deshalb sollten wir uns hier schnell zu einem Konsens durchringen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort (Freimut Duve [SPD]: Dieses Argument!) hat nunmehr der Abgeordnete Friedhelm Ost. — Besticht! Lieber Herr Kollege Duve, ich weiß, daß Friedhelm Ost (CDU/CSU): Herr Präsident! Ver- Sie von Wirtschaft nicht viel verstehen, daß Sie mir ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunftssiche- aber hier folgen können. rung des Standortes Deutschland ist ein nicht ganz junges Thema. Es ist aber in dieser Zeit so brisant und (Heiterkeit und Zustimmung bei der CDU/ so aktuell wie nie zuvor. Eine überregionale Zeitung CSU und der F.D.P.) schrieb jüngst unter der Überschrift „Angst vor der Ich bin der Meinung, daß wir alles tun müssen, was Wahrheit" in einem Beitrag zu diesem Thema, in der zur Deregulierung beiträgt. Die Überprüfung liebge- Diskussion um den Standort Deutschland werde feige wordener Besitzstände gehört vor allem dazu. Dies gilt am Thema vorbeigeredet. Dabei geht es in der Tat für alle Bereiche. Da gibt es sehr große Verbandsin- — ich bedaure das relativ geringe Interesse hier, vor teressen, bis in die Wirtschaft hinein, die in großen allem auch von denen, die darüber diskutieren — um Analysen und in Papieren eine Reduzierung der Sein oder Nichtsein von Betrieben und Arbeitsplät- Deregulierung fordert. zen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es geht auch darum, öffentliche, staatliche Beteili- gung zu privatisieren und darüber hinauszugehen, Wenn hier — ich sage das einmal vorab — einige die nämlich ebenfalls staatliche Dienstleistungen privat Reduzierung eines Sozialbudgets von 1 000 Milliar- erledigen zu lassen. Damit schaffen wir neue Märkte. den DM — also in Höhe von einer Billion DM — und Wir schaffen auch die Chance für neue Unternehmer darüber und die Chance für andere neue Arbeitsplätze. Gott (Georg Gallus [F.D.P.]: Ja, einmalig in der sei Dank gibt es auch sozialdemokratische Oberbür- Welt!) germeister,- die allerdings erst in die Pleite geraten um 1,5 % — und zwar unter völlig veränderten Bedin mußten — wie in Offenbach —, um dann umzudenken gungen — kritisieren, dann haben sie in der Tat nicht und sozusagen den öffentlichen Dienst, den Apparat begriffen, was notwendig ist, um diesen Standort zu der Stadtverwaltung, auf Wettbewerb zu trimmen. 15714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- — Sie müssen einmal sehen: Bei Ihnen regnet das geordneter Ost, der Abgeordnete Büttner möchte Geld vom Himmel, wenn Sie ein Deficit-spending- Ihnen eine Frage stellen. Sind Sie bereit, diese zu Programm machen. Im Grunde sind Sie sehr wider- beantworten? sprüchlich; bei Ihrem wirtschaftspolitischen Pro- gramm bekommen wir das ja jeden Tag serviert. Sie Friedhelm Ost (CDU/CSU): Nein, ich möchte jetzt benehmen sich wie eine Laokoon-Gruppe, jeden Tag meine Rede fortsetzen. aufs neue Live, aber im Freistilringen und nicht im griechisch-römischen Stil. (Rudolf Bindig [SPD]: Den ganzen Tag auf Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Nicht? — Okay. den Ohren sitzen!) Hören Sie doch endlich mit der Jammerei auf! Schauen Sie sich die Umfragen an! 71 % der Men- Friedhelm Ost (CDU/CSU): Ich glaube, höchste schen in den neuen Bundesländern sind mit ihrer Priorität — das sage ich vor allem dem Bundeskanzler Situation sehr zufrieden. Hier in Westdeutschland und auch dem Wirtschaftsminister — hat im Moment, sind es über 80 %. Diese Jammerei bringt uns doch daß wir die GATT-Uruguay-Runde erfolgreich nicht weiter — dies ist zu Recht gesagt worden —, etwa abschließen. Wenn diese Uruguay-Runde scheitert, bezüglich der Kernenergie. Sozusagen aus Angst vor dann, sage ich, schlittern wir nicht nur in Deutschland, dem Tode begehen Sie Selbstmord, wie Sören Kierke- aber vor allem in Deutschl and, in die sehr gefährliche gaard es gesagt hat. Situation, daß wir viele Arbeitsplätze verlieren und viele Unternehmen eine völlig andere, globale Strate- (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke gie einschlagen müssen. Viele nationale Bremsen Liste]) müssen gelockert und unsinnige Blockaden auf gege- — Fahren Sie doch einmal durch die Welt! Ihre ben werden. Kollegen sind doch bei einer Delegationsreise des Ich sage Ihnen dazu auch: Bei all den Dingen, die Wirtschaftsausschusses in Japan dabeigewesen. Ja- wir zu Recht immer wieder diskutieren — was können pan verdoppelt die Kernkraftkapazitäten bis Anfang wir in den neuen Bundesländern zur Entwicklung von des Jahres 2000. Das heißt doch, wir könnten da mehr wirtschaftlicher Dynamik und zur Schaffung einsteigen. Aber wenn wir hier aus der Technologie neuer Arbeitsplätze machen? —, ist der Staat durch- aussteigen, können wir damit nicht mehr weltweit weg der schlechteste Unternehmer. einsteigen. Wir haben genug High-Tech-Ruinen im (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wenn Sie eigenen Land. Wir haben Forschungs- und Entwick- das sagen!) lungsergebnisse nicht schnell genug genutzt, weil wir auch hier Hemmnisse aufgebaut haben, teilweise aus Wir brauchen mehr neue Unternehmer, und wir ideologischer Überlegung. sollten sie auch ermutigen. Wenn hier nach wie vor klassenkämpferische Töne, mit Neidkomplexen bela- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den, aus der Politik der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Wir haben große Chancen mit superschnellen Tr ans- Widerspruch bei der SPD) portsystemen. Vorhin ist zu Recht Transrapid genannt worden. in Richtung Unternehmerschaft erklingen, dann kann ich Sie nur ermuntern, selbst Unternehmer zu werden, um einmal zu sehen, welches Risiko und welche Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Sehr ge- Probleme man in der Tat auf sich nehmen muß. ehrter Herr Abgeordneter Büttner, wenn Sie mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — reden als der Redner, dann ist das nicht mehr ein Rudolf Bindig [SPD]: Ein bißchen mehr angemessenes Verhältnis. Niveau, Herr Kollege!) Ich glaube in der Tat, Mut zu Selbständigkeit, zu Friedhelm Ost (CDU/CSU): Besten Dank, Herr Prä- eigenem Risiko, zu Wagnis ist ganz wichtig, und dies sident. Ich glaube, wir können zusammen singen; aber sollten wir alle wirklich unterstützen. Nein, Sie verste- zusammen reden müßten wir einüben. Aber es ist ja in hen von moderner Wirtschaftspolitik eben nichts. Das Ihrer Partei so, daß Sie in der Tat immer gegeneinan- zeigen Ihre Äußerungen. der anreden. Ich glaube auch, daß Sie mit Ihren Konjunkturpro- ( [SPD]: Ich würde mir mal grammen keinen Erfolg haben. Sie haben das doch neue Sprechzettel zulegen! — Rudolf Bindig schon seit 20 Jahren gesungen. Karl Schiller sagt es [SPD]: Immer nur alte Platten, die Sie herun Ihnen doch, er hat es ja versucht, ohne Erfolg: Mit terleiern!) Deficit-spending Konjunkturprogramme des Staates — Sie machen doch das Theater jeden Tag aufs neue. anzukurbeln, das gibt nur ein Strohfeuer. — Und da hier das Licht aufblinkt, sage ich Ihnen: (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Wer regiert Hören Sie doch endlich mit dem Theater auf! Einigen denn die letzten elf Jahre?) Sie sich auf das, was Sie wollen, sonst versteht Sie Wir haben doch schon das größte Konjunkturpro- draußen keiner. Selbst Ihre Mitglieder hätten bei den hohen Beiträgen eine geschlossenere Wirtschaftspoli- gramm in der modernen Wirtschaftsgeschichte - Deutschlands. tik der SPD verdient. (Ludwig Stiegler [SPD]: Schuldenprogramm Vielen herzlichen Dank. machen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15715

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer lehnen. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses, den Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Frei- Antrag abzulehnen, zuzustimmen wünscht, den bitte mut Duve das Wort. ich um das Handzeichen. — Wer stimmt gegen diese Ausschußempfehlung? — Dann ist diese Beschluß- empfehlung angenommen. Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Ost, Sie haben in flammenden Worten deutlich zu machen versucht, Wir kommen nunmehr zur Abstimmung zu Tages- daß die Sozialdemokratie nichts, Sie aber alles von ordnungspunkt 3 f. Die Beschlußempfehlung des Aus- Wirtschaftspolitik verstünden, und Sie haben gleich- schusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion zeitig deutlich zu machen versucht, daß für die wirt- der SPD zur Abwendung der Rezession liegt Ihnen auf schaftspolitische Situation, in die das Land geraten ist, Drucksache 12/5654 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den anscheinend die Sozialdemokraten verantwortlich Antrag auf Drucksache 12/4453 abzulehnen. Wer sind. stimmt dieser Beschlußempfehlung, den Antrag abzu- Seit 20 Jahren ist Ihr Bündnispartner, Ihr Koalitions- lehnen, zu? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist diese partner F.D.P. für die Wirtschaftspolitik in der Bundes- Beschlußempfehlung angenommen. republik Deutschland verantwortlich. Seit 20 Jahren Wir kommen zur Abstimmung zu Tagesordnungs- hat es keinen sozialdemokratischen Wirtschaftsmini- punkt 3 g. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ster gegeben. für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Jahreswirtschaftsbe- (Zuruf von der F.D.P.: Das ist auch gut so!) richt 1993 liegt auf Drucksache 12/5655 vor. Der Es hat davor einen gegeben, den Sie eben sehr lobend Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf hervorgehoben haben, nämlich Karl Schiller. Drucksache 12/4462 abzulehnen. Wer dieser Be- Da Sie mich persönlilch angegriffen und zutiefst schlußempfehlung zu folgen gedenkt, den bitte ich um beleidigt haben, indem Sie behauptet haben, ich das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist verstünde nichts von Wirtschaftspolitik, werde ich diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD, Ihnen jetzt sagen, daß ich in der ehrenvollen Position CDU/CSU und F.D.P. angenommen. des Bürochefs des Nachfolgers von Karl Schiller drei Jahre in der Hamburger Wirtschaftsbehörde mit dafür Meine Damen und Herren, ich rufe den Punkt 2 der gesorgt habe, daß die Infrastrukturreform der Freien Tagesordnung auf: und Hansestadt Hamburg in den 60er Jahren in einer Fragestunde Weise getätigt worden ist, die uns heute in eine gute Situation gebracht hat. — Drucksache 12/5904 — (Beifall bei der SPD) Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Da war kein Wirtschaftsjournalist Ost je dabei. Beantwortung steht uns Staatsminister Be rnd Schmid- Dann will ich Ihnen ein zweites sagen: Ich gehöre bauer zur Verfügung. wahrscheinlich zu den wenigen Leuten hier im Hause, Ich rufe zunächst die Frage 51 der Abgeordneten die über 20 Jahre per Namen für ein oder zwei Frau Thea Bock auf: Produkte auf dem Markt verantwortlich waren. Auch das — weil Sie eben gesagt haben, wir sollten Unter- Welchen Inhalts waren die Konsultationen zwischen dem für die iranischen Geheimdienste zuständigen Minister Ali nehmer werden — findet m an leider im Parlament Fallahian und dem Staatsminister Bernd Schmidbauer sowie immer weniger und leider auch in Ihrer Fraktion sehr dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wenig. Dr. Eckart Wertebach, und dem Präsidenten des Bundesnach- richtendienstes, Konrad Porzner? Und Philip Rosenthal ist ein Sozialdemokrat. Herr Staatsminister, Sie haben das Wort. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Frau Kollegin Bock, ich darf zu Ihrer Frage

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Meine über den Inhalt der Konsultationen zwischen den Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieser Iranern, dem Präsidenten des BfV und dem Präsiden- Debatte. ten des Bundesnachrichtendienstes folgendes sa- Wir kommen zu den Überweisungen. Zur Erinne- gen. rung: Es handelt sich um den Tagesordnungspunkt 3 b Zuerst eine Nebenbemerkung. Es gab keine bis 3 d und 3 h sowie um den Zusatzpunkt 2. Gespräche mit dem Präsidenten des BND. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Mit dem Präsidenten des BfV gab es Gespräche den Drucksachen 12/5620, 12/5362, 12/5671, 12/5389 allgemeiner Art über internationalen Terrorismus und 12/5901 an die in der Tagesordnung aufgeführten und über Fragen des internationalen Drogen- und Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit einver- Rauschgifthandels. Näheres — das gilt auch für meine standen? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das Gespräche — wurde der PKK gestern in einer, wie ich so beschlossen. denke, sehr ausführlichen Art und Weise auf Anfragen Wir kommen zur Abstimmung zu Tagesordnungs- der PKK-Mitglieder auf unseren Wunsch hin mitge- punkt 3 e. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses teilt. Bei dieser Information ging es im Detail um diese für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Gespräche und ihre Inhalte. Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes Ich will Ihnen auf Ihre Frage mitteilen, daß die liegt Ihnen auf Drucksache 12/5653 vor. Der Ausschuß Gespräche, die ich geführt habe, vorwiegend huma- empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/1572 abzu- nitären Charakter hatten. In ihnen wurden sowohl die 15716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Staatsminister Bernd Schmidbauer Interessen deutscher Staatsbürger im Iran als auch die Hat die Bundesregierung versucht, über Herrn Ali Fallahian Interessen von Bürgern anderer Staaten wahrgenom- Einfluß auf die Teheraner Führung auszuüben, den Mordbefehl gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie aufzuhe- men. Dies war Hauptgegenstand und Hauptbestand- ben? teil der Gespräche, die an diesem einen Tag, nicht an Bitte, Herr Staatsminister. mehreren Tagen, stattgefunden haben. Im übrigen biete ich Ihnen persönlich eine direkte Information über diese Gespräche an. Ich fühle mich Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Frau Kollegin, nicht in der Lage, Fragen zu Details dieser Gespräche, die Bundesregierung hat diese Forderung wiederholt zumal sie in zwei Fällen nicht abgeschlossen sind, in gegenüber der Führung des Iran erhoben. Sie wissen, der heutigen Fragestunde zu beantworten. Die Infor- daß die Bundesregierung in dieser Frage eindeutig mation wurde aber Ihren Kollegen in der Parlamenta- Stellung bezogen hat und diese Dinge auf das schärf- rischen Kontrollkommission vollinhaltlich gegeben. ste verurteilt. Hinsichtlich des Anschlags auf den norwegischen

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Frau Ab- Verleger — wenn ich das erwähnen darf — gilt das geordnete, haben Sie eine Zusatzfrage? — Bitte gleiche, obwohl die Ermittlungen in diesem Fall nicht schön. abgeschlossen sind. Aber die Bundesregierung wird sich auch in diesem Zusammenhang in ähnlicher Thea Bock (SPD): Herr Staatsminister, wann sind Weise äußern und diese Vorgänge wie alle anderen diese Gespräche verabredet worden? Welchen zeitli- Terroranschläge auf unserem Boden oder anderswo chen Vorlauf gab es? auf das schärfste verurteilen. Es gibt hier überhaupt kein Versprechen. Ich Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Wenn Sie Ihre komme nachher im Zusammenhang mit der Frage des Frage präzisieren, wi ll ich darauf eingehen. Kollegen Duve noch einmal auf solche Ereignisse zurück. Thea Bock (SPD): Man trifft sich ja nicht ohne einen Telefonanruf. Ich wollte einfach einmal wissen, wann dieses Treffen verabredet worden ist. Ist das Monate Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zusatz- oder Tage her? frage, bitte sehr, Frau Abgeordnete.

Staatsminister: Nein, dieses Bernd Schmidbauer, Thea Bock (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben Treffen wurde vor relativ kurzer Zeit vereinbart. Das gesagt, daß Sie das Thema Salman Rushdie deutlich hängt mit den Themen, die Gegenstand der Gesprä- angesprochen hätten. Mich interessiert aber auch che waren, zusammen. einmal, wie die andere Seite darauf reagiert hat. Denn es kann nicht angehen, daß hier im Bundestag (SPD): Ansonsten nehme ich das Ange- Thea Bock Beschlüsse gefaßt werden, die den Aufruf zum Mord bot des persönlichen Gesprächs an. an Salman Rushdie deutlich verurteilen, dann Treffen stattfinden und die eine Seite mehr oder weniger Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich biete es Ihnen direkt im Anschluß an. deutlich das Thema anspricht. Mich interessiert: Was ist bei diesem Gespräch

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Sie dürfen herausgekommen? Was haben z. B. die Vertreter des noch eine Zusatzfrage stellen, Frau Abgeordnete. Irans zu dieser Angelegenheit gesagt?

Thea Bock (SPD): Ich habe keine Zusatzfrage Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich hatte Ihnen mehr. vorhin gesagt, daß ich zum Gespräch selber keinen Kommentar hier abgebe. Ich hatte Ihnen eben die - Herr Ab- Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Fall geordneter Duve hat eine Zusatzfrage. Rushdie mitgeteilt. Ich kann Ihnen jetzt nicht mittei- len, welche Gespräche in diesem Rahmen, der von Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, die irani- sche Regierung hat den Besuch ihres Informationsmi- Ihnen angesprochen wurde, geführt werden. nisters und Chefs des iranischen Geheimdienstes in Ich habe allgemein gesagt, daß überhaupt kein Deutschland bewertet. Sie kennen wahrscheinlich die Zweifel besteht, wie die Bundesregierung zu dieser Bewertung, die besagt, daß eine besonders gute Situation um Herrn Rushdie steht und welche Stel- Zusammenarbeit auch in dem geheimdienstlichen lungnahme die Bundesregierung in der Vergangen- Bereich erfolgen soll. Teilen Sie die Bewertung dieses heit dazu abgegeben hat. Ich sage noch einmal: Besuchs bei Ihnen durch die iranische Regierung? schärfste Verurteilung solcher Dinge, die sich um Terroranschläge und solche Vorkommnisse im Zu- Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich teile weder sammenhang mit Verlegern und ähnliche Personen die Bewertung, die Sie zitieren, noch die Bewertungen drehen. von Partnerländern, die zu diesem Besuch abgegeben Ich bin sogar weitergegangen und habe noch den wurden. norwegischen Verleger erwähnt, der die Sch riften Salman Rushdies verlegt hat. Hier gibt es überhaupt Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Es werden kein Vertun, überhaupt keine Schwierigkeiten, das keine weiteren Zusatzfragen gestellt. Thema in dieser Klarheit auch denen gegenüber Ich komme zur Frage 52 der Abgeordneten Thea anzusprechen, denen gegenüber das angesprochen Bock: werden muß. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15717

Staatsminister Bernd Schmidbauer Ich bin sicher, daß neben solchen Gesprächen Hat der offizielle Besuch des Chefs des iranischen Geheim- sowohl Vertreter des Bundestages als auch Vertreter dienstes, Ali Fallahian, in Deutschland im Zusammenhang gestanden mit Ermittlungen in der Mordsache „Mykonos'? der Bundesregierung dies in aller Deutlichkeit so angesprochen haben. Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich darf ergän- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- zen, daß die Delegation des Parlaments auch von uns geordneter Duve, bitte. empfangen wurde und dort dieselbe Position noch einmal nachdrücklich koordiniert vertreten wurde. Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, Sie sind Das gilt nicht nur für diese Delegation, sondern für all nicht der Außenminister. Die Haltung der Bundesre- die Delegationen, die offizielle Gäste des Deutschen publik zu dem Mordbefehl gegen Rushdie stand hier Bundestages waren. nicht in Frage und wird von niemandem in Zweifel Herr Kollege Duve, auf Ihre Frage 55 antworte ich: gezogen; sie ist bekannt. Nein. Vielmehr ist gefragt worden — ich wiederhole das —: Wem gegenüber in der iranischen Regierung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- — ich formuliere das jetzt etwas anders — ist diese frage. Aufforderung zur Rücknahme des Mordbefehls geäu- (Rolf Bindig [SPD]: Warum nicht?) ßert worden? — Daß die Bundesregierung der geäu- ßerten Meinung ist, spielt überhaupt keine Rolle; das (SPD): Ihr Gesprächspartner hat das wissen wir. Freimut Duve Thema „Mykonos" in seiner Presseerklärung ange- sprochen. Deshalb frage ich Sie, warum Sie es Ihrer- Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Duve, ich seits nicht angesprochen haben. kann mich jetzt bei Ihrer sehr detailliert vorgetrage- nen Frage nur auf meine Gespräche beziehen. Ich Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege selber habe Vertreter des Außenministeriums, auch Duve, ich sage zu diesem Fall ausnahmsweise auch einen entsprechenden Minister dieses Ministeriums etwas aus dem Gesprächsinhalt. Für uns ist das kein auf diese Problematik hingewiesen, aber nicht bei Verhandlungsgegenstand. Das ist ein Verfahren diesem Gespräch, sondern in vorangegangenen durch den Generalbundesanwalt, bei dem es meiner Gesprächen, sowohl in Teher an als auch auf dem Meinung nach um die Frage geht: Wer hat zu welchem Boden eines anderen Staates. Zeitpunkt welche Terroranschläge gegen oppositio- Sie können sicher sein, daß dieses Thema von uns nelle Iraner auf unserem Boden durchgeführt? Mir nie ausgelassen wurde und von uns in aller Deutlich- geht es darum, daß die Täter nicht nur verhaftet, keit, wie ich das eben für die Bundesregierung als sondern auch verurteilt werden. Am Ende des Urteils allgemeine Stellungnahme ausgeführt habe, im ein- kann die entsprechende Bilanz gezogen werden. zelnen vertreten wurde. Ich kann jetzt nicht für andere Ich sage das in dieser Klarheit, damit keine Mißver- Mitglieder der Bundesregierung Stellung beziehen. ständnisse aufkommen können. Ich sage Ihnen dazu Aber Sie wissen, daß auch andere Mitglieder der auch, daß Ihre Kollegen in der Parlamentarischen Bundesregierung diese Position iranischen Regie- Kontrollkomission sehr dezidierte Auskunft auch auf rungsvertretern gegenüber bezogen haben. Detailfragen in diesem Zusammenhang bekommen (Freimut Duve [SPD]: Komisch, daß wir nie haben, z. B. der Kollege Struck. Antworten kriegen!) Es darf kein Vertun geben: Wer Terroranschläge auf — Sie haben sie ja bekommen, Herr Kollege. unserem Boden ausführt, muß dafür mit der Härte des (Freimut Duve [SPD]: Von Ihnen, aber nicht Gesetzes zur Rechenschaft gezogen werden, unab- von den Iranern!) hängig davon, woher er kommt. Uns interessiert sehr genau, wer hinter den Attentaten steht und zur Rechenschaft gezogen werden muß. Hier gibt es für Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- uns überhaupt keinen Spielraum. Es wird nie Gesprä- geordneter Duve, ich weiß nicht, ob ich meine Neu- che geben, entsprechend zu verfahren. tralitätspflicht verletze, aber ich möchte Sie jetzt insoweit beruhigen, als ich in meiner Funktion als Ich verweise auf den Parallelfall eines Haftfalles in amtierender Präsident gegenüber den Vertretern des der Bundesrepublik Deutschland, wo im Zusammen- iranischen Parlaments in dieser Frage die Meinung hang mit einer Geiselbefreiung zweier deutscher des ganzen Hauses mit der gebührenden Deutlichkeit Staatsbürger genau diese Zusagen nicht gemacht zum Ausdruck gebracht habe. Ich möchte das auch für werden. Es wird streng darauf geachtet, daß das das Protokoll hier noch einmal festgehalten haben, entsprechende Urteil vollzogen wird, ohne daß es zu weil ich weiß, daß das die einstimmige Meinung des Verhandlungsmassen in diesem Zusammenhang ganzen Hauses ist. kommt. Jeder muß wissen: Mit der Bundesrepublik Deutschland wird es keinen solchen Deal geben. (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, es ist schriftliche Beant- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- wortung der Fragen 53 und 54 des Abgeordneten frage zur Frage 55. Norbert Gansel erbeten worden. Die Antworten wer- den als Anlagen abgedruckt. Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, genau Ich komme nun zu Frage 55 des Abgeordneten zugehört: Können Sie heute ausschließen, daß die Freimut Duve: Bundesregierung der Bundesrepublik oder einer ihrer 15718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Freimut Duve Dienste Hinweise darauf hatten oder haben können, Verwunderung darüber zum Ausdruck bringe, daß daß Ihr Gesprächspartner in einem unmittelbaren Sie, selber Chef von Geheimdiensten in einem demo- Zusammenhang mit den von Ihnen eben sehr richtig kratischen Gemeinwesen, bei einem Gespräch mit geschilderten Terror- und Gewaltakten auf unserem dem obersten Chef der iranischen Geheimdienste die Boden gestanden hat? Können Sie ausschließen, daß Frage des Mordbefehls gegen Rushdie nicht erörtert es solche Erkenntnisse im Bereich unserer Dienste haben? oder der Bundesregierung gibt? Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich habe dafür Bernd Schmidbauer, Staatsminister: In diesem kein Verständnis, wenn Sie das annehmen. Sie müs- Zusammenhang kann überhaupt nichts ausgeschlos- sen davon ausgehen — das sagte ich bereits ein- sen werden. Ich kann mich nur auf das beziehen, was gangs —, daß dieses Thema, auch der Fall Rushdie, mir zur Kenntnis gebracht wird. Mir wurde nichts zur nicht nur einmal, sondern mehrfach von mir angespro- Kenntnis gebracht, was auf solche Dinge hindeutet. Es chen wurde. gibt spezielle Fragen, die in diesem Zusammenhang gestern ausführlich erörtert wurden. Wenn Sie präzi- sieren oder wenn Sie eine Zusatzfrage haben, bin ich Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine wei- gern bereit, jetzt und hier darauf einzugehen. tere Zusatzfrage.

Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, die Über- Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben legung bestimmter Ämter, deren Aufsicht Ihnen über- ausführlich versucht, Antwort zu geben. Ich stelle tragen worden ist, ob Ihr Gesprächspartner eine der noch einmal die Frage: Können Sie heute ausschlie- auftraggebenden Personen ist, die zum Mord an den ßen, daß es Verdachtshinweise dafür gab, daß Ihr Menschen in Berlin geführt haben, steht im Raum. Sie Gesprächspartner im Zusammenhang mit den vor uns haben eben ausweichend geantwortet. Ich stelle die stehenden Mykonos-Prozessen steht? Frage nochmals: Gab es bei irgendeinem der Dienste irgendeinen Hinweis, daß es sich bei dieser Person um Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Das kann ich eine Person handelt, die möglicherweise in einer nicht ausschließen, Herr Kollege Duve. Auftragslinie mit dem erfüllten Terroranschlag und mit dem Mord steht? Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Danke. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Die Dienste, Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Ich die mir zugeordnet sind, haben mir keine solchen bedanke mich bei Staatsminister Schmidbauer. Hinweise gegeben. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri- Ich will Ihnen mit einer anderen Antwort beweisen, ums der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der daß das sehr unlogisch wäre. Es war — das sage ich Fragen steht uns die Parlamentarische Staatssekretä- bewußt auch in der Öffentlichkeit — einer der Dienste, rin Michaela Geiger zur Verfügung. der dazu beigetragen hat, daß es zu diesen Haftfällen gekommen ist. Es wäre unlogisch, dann das Umge- Ich rufe zunächst die Frage 29 des Abgeordneten kehrte anzunehmen. Ich will das in aller Deutlichkeit Hans Wallow auf: sagen. Welcher medizinischen Art und welchen Umfanges sind die gesundheitlichen (physischen und psychischen) Beschwerden Wir haben das größte Interesse, daß in diesem der Bundeswehrsoldaten des UNOSOM II-Kontingents, die in Zusammenhang alle Hintergründe aufgeklärt wer- Belet Uen stationiert sind? den. Wir haben selber dazu beigetragen, daß wir Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort. überhaupt in der Lage sind, jemanden in diesem Zusammenhang vor Gericht zu stellen. Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister der Verteidigung: Von den Soldaten des - Wir kom- Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: deutschen Unterstützungsverbandes in Somalia wer- men zur Frage 56 des Abgeordneten Freimut Duve: den wöchentlich im Durchschnitt 100 ärztlich und 20 Sind bei den Gesprächen zwischen Staatsminister Bernd zahnärztlich behandelt. Die Station mit 30 verfügba- Schmidbauer und Minister Ali Fallahian der iranische Mordbe- fehl gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und die beleidi- ren Betten ist durchschnittlich mit acht deutschen gende Erhöhung des Terrorgeldes durch Teheran für dessen Soldaten belegt. Ermordung im Anschluß an seine Gespräche mit Bonner Abge- Chirurgisch und orthopädisch werden fast aus- ordneten und Vertretern der Bundesregierung zur Sprache gekommen? schließlich Bagatellverletzungen, entstanden im Dienstbetrieb, behandelt. Schwerwiegend waren eine Herr Staatsminister. Wirbelsäulenverletzung nach einem Freifaller-Fall- schirmsprung und zwei Bandscheibenvorfälle. Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich darf hier, Herr Kollege Duve, da die Frage den gleichen Gegen- Internistisch werden vorwiegend unspezifische stand hat wie die Frage 52 der Frau Kollegin Bock, auf Durchfallerkrankungen, unspezifische Atemwegser- die gegebene Antwort verweisen. Ich gebe Ihnen krankungen und Herz-Kreislauf-Störungen behan- damit aber gleichzeitig die Ch ance zu Zusatzfragen. delt. Hautärztlich werden krankhafte Hautveränderun- Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, hätten Sie gen behandelt. in Ihrer Eigenschaft als Abgeordneter des Deutschen Im Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie sind nur Bundestages Verständnis dafür, wenn ich jetzt meine einzelne Fälle aufgetreten. Wichtig ist: Die Erkran- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15719

Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger kungshäufigkeit liegt insgesamt unter der in den Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Heimatstandorten. frage. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Wallow.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ihre Zu- Hans Wallow (SPD): Frau Staatssekretärin, nach- satzfrage, Herr Wallow. dem gestern der von Herrn Rühe angekündigte Rück- marsch vom Kabinett gestoppt worden ist: Von wann Hans Wallow (SPD): Frau Staatssekretärin, wie viele bis wann erledigt das Kontingent die Hauptaufgabe, Soldaten mußten aus gesundheitlichen oder mentalen nämlich die Unterstützung der indischen Soldaten? Problemen — einige sollen durchgedreht haben — abgelöst werden? Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- ordneter, dies ist der Inhalt einer späteren Frage. Ich Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Insgesamt würde das, wenn Sie gestatten, dann gleich mitbehan- wurden bisher 38 Soldaten aus gesundheitlichen deln. Gründen nach Deutschland heimgeflogen. Lebensge- fahr bestand in keinem einzigen Fall. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Einver- standen? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eine wei- tere Zusatzfrage. Hans Wallow (SPD): Muß ich das einfach gestatten? ich würde es ganz gern hören. Ich stehe unter Termin- druck. Hans Wallow (SPD): Gab es im Zusammenhang mit den mentalen Schwierigkeiten disziplinarische Pro- Sie kön- bleme innerhalb des Lagers? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: nen das auch doppelt ablaufen lassen. Parl. Staatssekretärin: Das ist mir Michaela Geiger, Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Ich kann nicht bekannt, Herr Abgeordneter Wallow. Ich bin natürlich gern die Frage von Herrn Bindig beantwor- jedoch gern bereit, Ihnen das schriftlich nachzurei- ten. chen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich mache Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Wir kom- folgenden Vorschlag. Sie beantworten die spätere men damit zur Frage 30 des Abgeordneten Wallow: Frage, und ich gebe Ihnen, Herr Kollege Wallow, zu Welche konkreten Tätigkeiten, nach Art und Umfang aufge- dieser Frage die beiden Zusatzfragen. listet, hat das deutsche UNOSOM II-Kontingent bisher in Soma- lia durchgeführt? Hans Wallow (SPD): Ich habe noch eine Zusatzfrage. Gibt es eine durch das Verteidigungsministerium Parl. Staatssekretärin: Bei der Michaela Geiger, erstellte Kosten-Nutzen-Analyse, also eine Gegen- Tätigkeit des deutschen Unterstützungsverbandes in überstellung dessen, was an Hauptaufgaben und ist zwischen logistischen Leistungen und Belet Uen Nebenaufgaben geleistet worden ist, und den humanitärer Hilfe im Rahmen freier Kapazitäten zu Kosten? unterscheiden. Die logistischen Leistungen für UNOSOM-II-Ver- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Ich kann bände umfassen Transport- und Umschlagtätigkeiten. Ihnen nur die bisherigen Kosten für das Engagement An Transportleistungen wurden bisher 148 439 Stra- der Bundeswehr in Somalia nennen; ich kann sie ßenkilometer und 222 Flugstunden erbracht. Umge- Ihnen aber nicht genau aufschlüsseln. Die bisherigen schlagen wurden ca. 5 000 Tonnen Material, ca. Kosten der Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz 7 700 m3 Brauchwasser und ca. 870 m 3 Betriebsstoffe. der Vereinten Nationen in Somalia belaufen sich auf Zudem wurden bisher knapp 300 Soldaten anderer ca. 215 Millionen DM. UNOSOM-II-Verbände in unserem Hospital behan- delt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Im Bereich humanitärer Hilfe für die somalische frage des Abgeordneten Koppelin. Bevölkerung wurden bisher fast 3 000 Somalis ambu- lant und 156 stationär behandelt. 113 somalische Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Staatssekretärin, Patienten wurden operiert. Hinzu kommt die tägliche können Sie meine Information bestätigen, daß zur Mithilfe bei der Versorgung von 50 bis 60 stationären Unterstützung der deutschen Soldaten zusätzlich Patienten des örtlichen Krankenhauses. BGS-Angehörige nach Somalia sollen? Weitere wesentliche humanitäre Unterstützungslei- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Das kann stungen sind das Wiederherstellen bzw. Bohren von ich Ihnen so jetzt nicht bestätigen. Brunnen, der Aufbau von Schulen, die Ausstattung und Verteilung von Schulmöbeln, Lehr- und Lernmit- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Wären Sie bereit, mir das teln, Büromaterialien, die Wasserausgabe und Was- schriftlich zukommen zu lassen? sertransport — bisher 1 100 m 3 —, Verteilung von Lebensmitteln, die Ausgabe von Bet riebsstoffen und Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Das tue ich der Ausbau von Straßen. Die Soldaten des deutschen gerne. Unterstützungsverbandes haben durch ihr Engage- ment im Bereich der humanitären Hilfe das Vertrauen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eine Zu- und die Anerkennung der somalischen Bevölkerung satzfrage des Abgeordneten Kubatschka zu der im Raum von Belet Uen gewonnen. Frage 30 des Abgeordneten Wallow. 15720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Horst Kubatschka (SPD): Ich beziehe mich jetzt auf zen und Versorgungspunkten für den eigenen den humanitären und nicht auf den militärischen Gebrauch. Bereich. Ist die Bundeswehr für diese Tätigkeit ausge- Die Versorgung der indischen Kräfte wird weiter bildet? Was noch wichtiger ist — bei gutem Willen, von vorbereitet, so daß die Unterstützung des indischen dem ich überzeugt bin, läßt sich vieles machen —: Hat Truppenteils unmittelbar nach dessen Eintreffen auf- die Bundeswehr das technische Gerät und das Mate- genommen werden kann. rial, um diese Tätigkeiten zu erledigen? Hat sie

ökologische Beurteilungen ihrer Tätigkeiten vorge- Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine Zu- nommen? Hält das eingesetzte Mate rial, z. B. Pum- satzfrage? pen, die dortigen Umweltbedingungen aus? Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Soll ich die Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- zweite Frage des Abgeordneten Bindig vielleicht auch ordneter Kubatschka, daß unsere Soldaten in Belet gleich beantworten, weil sie damit im Zusammenhang Uen einen so großen Anklang bei der Bevölkerung steht? finden, sagt Ihnen eigentlich schon, daß sie gut ausgerüstet sind und daß sie die ihnen gestellten Rudolf Bindig (SPD): Nein, bitte nicht. Aufgaben hervorragend erledigen. Wenn ein Mensch Der Kern meiner Frage ist gewesen: Wie viele Wasser braucht, dann ist dies das erste, was man indische Soldaten haben sich am 15. Oktober im Raum erfüllen muß. Selbstverständlich werden wir, wo Belet Uen aufgehalten? Ich darf Sie bitten, diese Frage immer das möglich ist, auch die ökologischen Gege- präzise zu beantworten. Sie haben das vermischt und benheiten berücksichtigen. „insgesamt" gesagt und haben die Italiener ge- nannt.

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine Zu- satzfrage des Abgeordneten Bindig zu der Frage des Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Am 15. Ok- Abgeordneten Wallow. Bitte schön. tober hat sich im Raum Belet Uen ein Vorkommando von drei indischen Soldaten aufgehalten. Rudolf Bindig (SPD): Können Sie bestätigen, daß ein Großteil der Leistungen, die Sie hier bei Transporten, Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Nun Flügen und Wasser aufgezählt haben, dazu dient, die kommt Ihre Zusatzfrage, Herr Bindig. eigenen Soldaten zu versorgen, und daß dies deshalb keine Leistungen sind, die für andere erbracht wer- Rudolf Bindig (SPD): Können wir dann hier gemein- den, sondern der Selbstversorgung dienen? sam feststellen, daß sich 1 700 deutsche Soldaten seit Monaten vor Ort aufhalten, um drei indische Soldaten Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- zu unterstützen? Denn das ist ihr Auftrag. ordneter Bindig, selbstverständlich können wir unsere (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Hört! Hört! Soldaten nicht verdursten lassen. Wir müssen auch sie Ist das zu glauben!) versorgen. Ich glaube, das ist ganz normal. Darüber hinaus werden italienische Soldaten und eben auch Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Das können die Bevölkerung versorgt. Es ist also durchaus sinn- Sie nicht feststellen, weil unsere Soldaten — das habe voll, was wir machen. ich Ihnen bereits ausführlich vorgetragen — sehr viele humanitäre Leistungen vollbracht haben. Sie haben

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Wir kom- die Italiener versorgt und eine Menge von sinnvollen men zur Frage 31 des Abgeordneten Bindig, bei der Tätigkeiten erfüllt. der Abgeordnete Wallow sozusagen eine zusätzliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zusatzfrage hat: der F.D.P.) Wie viele indische Soldaten werden mit Stichtag 15. Oktober

1993 im Raum Belet Uen in Somalia tatsächlich vom deutschen Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Sie haben Unterstützungsverband „logistisch versorgt", und worin genau jetzt noch eine Zusatzfrage zu dieser Frage? besteht diese logistische Unterstützungsleistung? Horst Kubatschka (SPD): Ich verzichte. Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Nach der bisherigen Planung der Vereinten Nationen soll im Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Dann hat Raum Belet Uen ein indisches Kontingent in Brigade- der Kollege Wallow das Wort. — Bitte schön. stärke eingesetzt und vom deutschen Unterstützungs- verband logistisch versorgt werden. In Belet Uen Hans Wallow (SPD): Frau Staatssekretärin, sicher- befindet sich erst ein indisches Vorkommando. lich sind nicht nur wir Parlamentarier irritiert, sondern Im übrigen versorgt der deutsche Unterstützungs- auch die Soldaten, wenn Herr Minister Rühe den verband logistisch auch die im Raum Belet Uen Rückmarsch verkündet, das Kabinett aber sagt: Rück- eingesetzten Truppenteile Italiens in einer Gesamt- marsch stopp! Im Hinblick auf die zu lösende Haupt- stärke von ca. 500 Soldaten. Die logistische Unterstüt- aufgabe frage ich: Wann findet die denn statt? Ich bitte zung sieht u. a. vor: die Verteilung von Wasser, um exakte Daten: von, bis. Betriebsstoff und allgemeinen Versorgungsgütern, Wassergewinnung, Lagerung von Verpflegung, Was- - Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Wal- ser und Betriebsstoff mit einer Bevorratungshöhe von low, wie Sie wissen, befinden wir uns in einem Projekt ca. 30 Tagen, Bereitstellung von Pionierleistungen der UNO, UNOSOM II, an dem ca. 30 Nationen zum Unterhalt von Versorgungsstraßen, Feldflugplät mitarbeiten. Wir sind natürlich auch abhängig von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15721

Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger den Entscheidungen der UN und von den Entschei- gemacht hätte, wären Sie dann nicht mit 25 Millionen dungen unserer Partnernationen, die dort mitarbei- DM, also einem Zehntel des Betrages, ausgekom- ten. men?

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr Ab- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- geordneter Wallow, Sie dürfen, weil ich das eben ordneter, Sie wissen genau, daß wir mit einer indi- zugesagt habe und das in einem Zusammenhang schen Brigade rechnen und uns darauf vorbereiten stand, noch eine Frage stellen. Ich möchte aber darauf müssen. Das haben unsere Soldaten getan. In der hinweisen, daß Ihre letzte Zusatzfrage zur Not in den Zwischenzeit, die als Wartezeit entstand, haben sie Zusammenhang mit der Frage 32 zu bringen ist, aber sinnvolle humanitäre Aufgaben erfüllt. Ich glaube, nicht in den Zusammenhang mit der Frage 31. Das hieran kann niemand Kritik üben. heißt, ich bitte Sie, bei Ihrer nächsten Zusatzfrage doch sehr darauf zu achten, daß der notwendige Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Wir kom- Zusammenhang hergestellt wird. men nunmehr zur Frage 32 des Abgeordneten Bin- dig: (SPD): Bei Frage 31? Hans Wallow Kann die Bundesregierung angeben, welche Gesamtzahl von indischen Soldaten nach den Planungen von UNOSOM II Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Wir sind nunmehr überhaupt noch nach Belet Uen kommen sollen, und bei der Frage 31. denkt die Bundesregierung darüber nach, das deutsche Unter- stützungskontingent dem wirklichen Bedarf an Unterstützungs- leistungen anzupassen? Hans Wallow (SPD): Herr Präsident, ich hatte die Zusatzfrage im Zusammenhang mit der Frage 30 gestellt, weil diese Frage im Zusammenhang mit der Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- dat für Frage 31 beantwortet worden ist. ordneter Bindig, das geltende UNO-M an Somalia läuft Ende Oktober dieses Jahres aus. Die Bundesregierung erwartet daher in den nächsten Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Darüber will ich mit Ihnen jetzt nicht streiten. Wochen einen neuen Beschluß der Vereinten Natio- nen. Sie wird ihre eigenen Entscheidungen unverzüg- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Vielleicht lich danach in engster Abstimmung mit den Vereinten könnte ich alles zusammen beantworten? Nationen treffen. In diesem Zusammenhang wird sie weitere Konsultationen mit den Partnern und Verbün-

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das ma- deten führen, die ebenfalls Truppen in Somalia unter- chen wir. Zuvor muß ich fragen, wer noch Zusatzfra- halten. gen stellen möchte. Die Bundesregierung steht mit den Regierungen Herr Abgeordneter Kubatschka, zur Frage 31. dieser Länder einschließlich der indischen Regierung und mit den Vereinten Nationen in laufendem Kon- Horst Kubatschka (SPD): Frau Staatssekretärin, takt. In dem Prozeß der ständigen Abstimmung über- ursprünglich sollte eine indische Brigade mit 4 500 prüft die Bundesregierung alle Optionen, d. h. auch Soldaten versorgt werden. Jetzt wissen wir: Es sind Art und Umfang der weiteren deutschen Beteiligung drei Soldaten. Da dieser Auftrag also nicht mehr an UNOSOM II. vorhanden ist — drei Soldaten mit einem so großen Kontingent zu versorgen scheint nämlich ein sehr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- überdimensionierter Auftrag zu sein —, frage ich: Hat frage, Herr Abgeordneter Bindig. sich damit jetzt eigentlich nicht die Geschäftsgrund- lage — das ist Originalton des Verteidigungsmi- Rudolf Bindig (SPD): Mit dem Hinweis darauf, daß nisters — verändert? Sie auch diese Frage nicht so beantwortet haben, wie ich sie gestellt habe, frage ich jetzt noch einmal, was Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- hier steht, nämlich mit welcher Gesamtzahl von indi- ordneter Kubatschka, die Inder werden kommen. Sie schen Soldaten man nach der Planung von verspäten sich nur. In welcher Anzahl sie kommen UNOSOM II nunmehr im Raum Belet Uen rechnet. werden, wird noch festgelegt. Es wird diskutiert, weil sich die Belgier und die Franzosen vermutlich aus dem Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Dies wird südlichen Bereich zurückziehen. Die Inder werden die UNO festlegen. aber kommen. Rudolf Bindig (SPD): Heißt das, daß die Bundesre- - Herr Ab- Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: gierung derzeit keinerlei konkrete Informationen dar- geordneter Gilges. über hat, wie viele indische Soldaten nach Belet Uen kommen werden? Konrad Gilges (SPD): Frau Parlamentarische Staats- sekretärin, Sie haben uns mitgeteilt, daß das Unter- stützungskommando bis jetzt Kosten in einer Größen- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Die Bun- ordnung von 250 Millionen DM verursacht hat. Wäre desregierung steht in engen Konsultationen mit der es nicht sinnvoller gewesen, die logistische Unterstüt- UN und auch mit der indischen Regierung. Sobald zung von drei indischen Soldaten über Zivilkräfte zu dies endgültig feststeht, werden wir unsere Entschei- organisieren und zu finanzieren, die weitaus weniger dungen treffen. gekostet hätten? Haben Sie das einmal gegengerech- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist net? Wenn dies z. B. das Technische Hilfswerk es! Und nicht früher!) 15722 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- und zweitens, Herr Abgeordneter Fritz, der direkte geordneter Wallow. Zusammenhang zur ursprünglichen Frage nur schwer herzustellen ist. (SPD): Frau Staatssekretärin, halten Hans Wallow (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Der Sie dieses System, derartige Investitionen in Men- Zusammenhang dürfte auf der Hand lie schen, Geld und Materi al ohne Planungsdaten und gen!) -zeiten vorzunehmen, für die Zukunft wirklich für effizient? Nachdem ich das festgestellt habe, gebe ich nun dem Abgeordneten Gilges, verbunden mit der Auffor- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Wal- derung, nicht den gleichen Fehler zu begehen, die low, wir führen einen Auftrag der UN aus. Er ist uns Möglichkeit, eine Frage zu stellen. zugeteilt worden. Wir sind im Verbund mit anderen Staaten. Ich glaube, es steht uns nicht zu, zu richten Konrad Gilges (SPD): Frau Parlamentarische Staats- oder zu entscheiden, daß wir als einzige aus diesem sekretärin, ich kann Ihnen bestätigen, daß wir Sozial- Projekt aussteigen. demokraten immer dafür eingetreten sind, daß huma- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das nitäre Maßnahmen weltweit, auch in Somalia, stattfin- hat er doch nur gewollt!) den. Die Frage ist deswegen nicht der humanitäre Einsatz, sondern ob er durch die Bundeswehr erfolgen muß, ob nicht besser das Technische Hilfswerk oder Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zusatz- frage der Frau Abgeordneten Schulte. andere Organisationen in der Bundesrepublik, die in der Welt humanitär tätig sind, mit effizienteren Mit- Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Frau Staatssekre- teln dort eingesetzt werden könnten, so daß deswegen tärin, wie erklären Sie sich dann, wenn Sie noch nicht die Kosten von 250 Millionen DM in diesem Jahr für wissen, wie viele indische Soldaten nach Belet Uen die Menschen dort sinnvoller eingesetzt gewesen kommen, daß der Bundesverteidigungsminister be- wären. reits erklärt hat, daß dort etwa 400 bis 500 Soldaten in Meine Frage lautet folgendermaßen: Wenn nun die Zukunft keinen Dienst mehr tun werden, weil dem Inder — über drei hinaus — nicht kommen ursprünglichen Auftrag der Unterstützung der indi- (Zuruf der Abg. Brigitte Schulte [Hameln] schen Brigade nicht mehr gefolgt werden kann? [SPD]) — Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist immer noch Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Das hat er nie so gesagt. Die Inder werden ja kommen. mit Fragezeichen verbunden —, was passiert denn dann, was macht dann die Bundesregierung mit ihrem (Rudolf Bindig [SPD]: „Ich wollte, es wäre Unterstützungskommando? Nacht oder die Inder kämen! ") Es ist nur noch nicht ganz sicher, in welcher Stärke. Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- Außerdem muß der Verteidigungsminister immer für ordneter, zu Ihrer Vorbemerkung möchte ich folgen- alle Eventualitäten planen. Er muß sich natürlich des sagen: Sie wissen, daß durchaus schon Nichtre- Gedanken darüber machen, wie viele Soldaten er für gierungsorganisationen und Entwicklungshelfer in den nächsten Einsatz ausbilden läßt. Insofern sind die Somalia waren, daß sie dort aber ihre Arbeit beenden Überlegungen des Verteidigungsministers durchaus mußten, weil sie im Kriegszustand nicht helfen kön- angebracht. nen. Unsere Soldaten haben die Arbeiten fortgeführt und haben den Menschen ganz konkret geholfen, und Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Abgeord- zwar beim Überleben geholfen. Insofern glaube ich, neter Fritz (Dortmund). daß die Anwesenheit unserer Soldaten absolut sinn- voll ist. Erich G. Fritz (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, können Sie nach den sehr kleinlichen Nachfragen der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kollegen aus der SPD bestätigen, daß in Somalia noch Was Sie als zweites gesagt haben, ist eine reine vor einem Jahr Zehntausende von Menschen verhun- Hypothese, die ich nicht bestätigen kann. gert und Tausende durch die Gewalt der marodieren- den Banden ums Leben gekommen sind und daß dies Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Nun gebe jetzt nicht mehr der Fall ist? ich auch dem Abgeordneten Koppelin die Möglich- keit, eine Zusatzfrage zu stellen. Danach rufe ich die Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Ich bin Frage 33 auf. Ihnen sehr dankbar für diese Frage und bin etwas erstaunt über die Fragen, die mir heute gestellt Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Staatssekretärin, es werden. Gerade die SPD hat gegen die rein humani- wurde schon mehrmals erwähnt, daß der Auftrag, den tären Einsätze nie etwas einzuwenden gehabt. wir mit unseren deutschen Soldaten dort in Somalia (Rudolf Bindig [SPD]: Auch deren Sinnhaftig ausführen, nur bis Ende Oktober geht und dann keit muß geprüft werden!) verlängert werden müßte. Können Sie mir erklären, wieso Minister Rühe in der Lage ist, zu sagen, daß Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Bevor ich unsere deutschen Soldaten bis März/April dort blei- dem Abgeordneten Gilges die Möglichkeit einer Fra- - ben? Teilen Sie meine Auffassung, die auch die gestellung gebe, muß ich Sie, Herr Abgeordneter Auffassung der F.D.P. ist, daß es dazu natürlich eines Fritz, darauf aufmerksam machen, daß erstens Drei- erneuten Beschlusses der parlamentarischen Gremien ecksfragen in einer Fragestunde nicht zugelassen sind bedarf, bevor der Minister das erklären kann? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15723

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sie brau- danach entschieden, diesen Hubschraubertyp nicht in chen die Frage nicht zu beantworten; sie steht nicht in die Nutzung zu nehmen. Dies geschah auf Vorschlag direktem Zusammenhang zur Frage 32. des Heeres und des Generalinspekteurs, insbeson- dere vor dem Hintergrund, daß für diesen Hubschrau- Michaela Geiger, Pari. Staatssekretärin: Gut, dann bertyp zum damaligen Zeitpunkt kein Bedarf erkannt beantworte ich sie nicht. wurde und die Nutzung der Maschine in der Bundes- (Abg. Horst Kubatschka [SPD] meldet sich zu wehr erhebliche strukturelle, organisatorische und einer weiteren Zusatzfrage) finanzielle Belastungen bedeutet hätte. Angesichts der fortgesetzten Diskussion aber hat Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Die Fra- der Inspekteur des Heeres Anfang September 1993 gen sind hier von hinten und von vorne, von links und vorgeschlagen, den gesamten Sachverhalt hinsicht- rechts gestellt worden. Herr Kubatschka, Sie müßten lich der damaligen Entscheidungsgrundlage noch auch daran denken, daß die Möglichkeit bestehen einmal zu überprüfen. Dem hat der Bundesminister muß, auch Ihre Frage in der Restzeit noch zu beant- der Verteidigung zugestimmt. Die Überprüfung ist worten. abgeschlossen. Der Bericht liegt derzeit der Leitung Ich rufe die Frage 33 des Abgeordneten Koppelin des BMVg zur Bewertung vor; das Ergebnis wird auf: Ihnen danach bekanntgegeben werden. Sind Hubschrauber der ehemaligen NVA (z. B. die Mi 24) von Ich bitte Sie also, abzuwarten, bis dieser Be richt anderen Staaten getestet worden, und zu welchen Ergebnissen weitergegeben werden kann. führten diese Tests? Bitte sehr. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine wei- tere Zusatzfrage. Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- ordneter Koppelin, die Bundeswehr hat den USA nur vier Hubschrauber der ehemaligen NVA, nämlich Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Staatssekretärin, da zwei Mi 14 Haze und zwei Mi 24 Hind, zu Testzwek- als Wert für die Hubschrauber der Betrag von 2 Mil- ken überlassen. Tests von anderen Staaten sind der liarden DM genannt wurde, trifft es dann zu, daß wir, Bundesregierung nicht bekannt. wenn wir den Hubschrauber nicht nutzen der Ein Bericht über die von der Bundesrepublik Hubschrauber fällt ja unter das Kriegswaffenkontroll- Deutschland den USA überlassenen Abgriffshub- gesetz —, ihn vernichten und damit noch einmal Geld schrauber vom Typ Mi 24 Hind liegt dem Bundesmi- zur Verfügung stellen müßten, um diese 2 Milliarden nisterium der Verteidigung nicht vor. Hier gibt es, wie DM zu beseitigen? von dem Kollegen Bernd Wilz am 13. Oktober 1993 bereits dem Verteidigungsausschuß schriftlich mitge- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Herr Abge- teilt wurde, lediglich einen Bericht zur Technik und ordneter Koppelin, es wird dies alles noch einmal technischen Leistungsfähigkeit der Exportversion überprüft. Selbstverständlich werden auch diese dieses Angriffshubschraubers. finanziellen Gesichtspunkte in die Prüfung einbezo- gen. Die in diesem Bericht behandelte Hubschrauber- version war in der ehemaligen NVA nicht eingeführt. Die Überlassung diese Berichtes erfolgte im Rahmen Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Frau des trilateralen Dole-Abkommens zur Zusammenar- Staatssekretärin, ich möchte mich bei Ihnen bedan- beit bei der Auswertung fremden Wehrmaterials. ken. Die im Jahre 1991 durch die Bundeswehr den USA Ich möchte dem Hause mitteilen, daß der Geschäfts- übergebenen zwei Hubschrauber des Typs Mi 14 bereich des Bundesministers für Gesundheit nicht Haze wurden zur technisch-wissenschaftlichen Aus- aufgerufen wird, weil die Abgeordneten Ulrich Hein- wertung überlassen. Die Auswertung wird seitens der rich und Uta Würfel um schriftliche Beantwortung der USA voraussichtlich noch in diesem Jahr abgeschlos- Fragen 37, 38 und 39 gebeten haben. Die Antworten sen. Auswerteberichte liegen dem Bundesministe- werden als Anlage abgedruckt. rium der Verteidigung derzeit für diesen Hubschrau- Entsprechendes trifft für den Geschäftsbereich des bertyp noch nicht vor. Bundesministers für Verkehr zu. Hier haben die Abgeordneten Simon Wittmann, Gernot Erler und

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zusatz- Dr. Egon Jüttner um schriftliche Beantwortung der frage, Herr Abgeordneter Koppelin. Bitte schön. Fragen 40, 41, 42 und 43 gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Staatssekretärin, Daher können wir nun zu dem Geschäftsbereich des können Sie mir dann erklären, warum Minister Rühe Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reak- kurzfristig eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema noch torsicherheit kommen. Hier steht uns der Parlamenta- einmal einberufen hat, obwohl dieses Thema im rische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Ver- Verteidigungsministerium angeblich längst abgehakt fügung. war? Ich rufe Frage 44 des Abgeordneten Georg Gallus auf: Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin: Dazu kann ich Ihnen folgendes mitteilen: Die Nutzung der Mi 24 Ist sich die Bundesregierung sicher, daß importierte Säuge- Hind war Gegenstand einer umfänglichen Untersu- tiere, Vögel, Fische und Reptilien bei ihrem Eintreffen in der Bundesrepublik Deutschland einer ausreichenden Kontrolle chung zwischen dem 3. Oktober 1991 und dem 25. Mai hinsichtlich des Arten- und des Tierschutzes unterzogen wer- 1992. Der Bundesminister der Verteidigung hat den? 15724 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim Ist die Bundesregierung bereit, um Genehmigungsverfahren Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- zu verkürzen, in der Verwaltungsvorschrift „Umweltverträglich- keitsprüfung" unbedeutende Ausbaumaßnahmen von der Prü- torsicherheit: Herr Kollege Gallus, bei der Einfuhr von fungspflicht auszunehmen? Tieren aus Nicht-EG-Ländern erfolgt eine Kontrolle unter Artenschutzgesichtspunkten insoweit, als die Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Tierarten unter die Schutzbestimmung des Washing- Kollege Harries, grundsätzlich erfaßt das UVP-Gesetz toner Artenschutzübereinkommens und somit unter nur die Vorhabentypen, bei denen mit erheblichen die Verordnung zur Anwendung des Übereinkom- Umweltauswirkungen zu rechnen ist, z. B. nur mens über den internationalen Handel mit gefährde- bestimmte emissionsschutzrechtliche, genehmi- ten Arten, freilebenden Tieren und Pflanzen in der gungsbedürftige Anlagen oder Bundesfernstraßen, Europäischen Gemeinschaft oder unter die Bundesar- nicht jedoch andere Straßen. tenschutzverordnung fallen. Dagegen werden im Bereich des Gewässerausbaus Durch die Umorganisation der Zollverwaltung im alle planfeststellungsbedürftigen Ausbauten erfaßt, Zuge des Inkrafttretens des EG-Binnenmarktes ab wozu im Einzelfall auch unbedeutende Ausbaumaß- 1. Januar 1993 und die hierdurch bedingte Versetzung nahmen gehören können. Eine Änderung der Rechts- von Personal an die Außengrenzen der EG ist die lage ist nur durch Gesetz oder Rechtsverordnung Kontrolldichte vor allem an den großen Flughäfen möglich, nicht durch die von Ihnen genannte Verwal- verbessert worden. Im Rahmen dieser Kontrollen tungsvorschrift. werden auch Tierschutzaspekte berücksichtigt. Bei Tieren, die nicht dem Artenschutz unterliegen, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- wird eine Importkontrolle nur unter Tierschutzge- frage. sichtspunkten vorgenommen. Rechtsgrundlage hier- für ist das Tierschutzgesetz in der Fassung der Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, sind Bekanntmachung vom 17. Februar 1993. Den für die Sie nach den Ausführungen, die heute der Bundes- Durchführung des Tierschutzgesetzes zuständigen kanzler zum Standort Deutschland und in diesem Ländern stehen für die tierschutzrechtliche Beurtei- Zusammenhang zur Notwendigkeit der Verkürzung lung von Tieren bei der Einfuhr zahlreiche Gutachten von Genehmigungsverfahren gemacht hat, bereit, der zur Verfügung. Darüber hinaus steht es den nach Bundesregierung vorzuschlagen, daß auch unbedeu- Landesrecht zuständigen Behörden frei, im Bedarfs- tende, nicht relevante Gewässer gegebenenfalls fall weitere Sachverständigenmeinungen heranzuzie- durch eine Verordnung von der UV-Prüfung ausge- hen. Zur Vereinheitlichung des Verwaltungsvollzu- nommen werden? ges wurde die Vorgehensweise der Länder in Bund- Länder-Besprechungen koordiniert. Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, es gibt bereits eine Initiative des Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Bundesrates, die sich voll mit der Interessenlage der frage des Abgeordneten Gallus. Bundesregierung deckt. Der Anhaltspunkt ist eine Novellierung des § 31 des Wasserhaushaltsgesetzes. Georg Gallus (F.D.P.): Herr Staatssekretär, es ist doch so, wie es meine Frage beinhaltet, daß in der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weitere Vergangenheit über eine gewisse Zeit hin arten Zusatzfrage. schutzmäßig nicht einwandfrei kontrolliert worden ist. Deshalb meine Frage: Kann man jetzt davon ausge- Klaus Harries (CDU/CSU): Wann kann damit hen, daß diese Mängel restlos behoben sind? Es hat ja gerechnet werden, Herr Staatssekretär, daß die Ver- keinen Wert, daß die ganze Welt weiterhin ausgeräu- waltungsvorschriften, die ja Aussagen über Straßen bert wird und die Kontrollen in Frankfurt und anderen machen, wie Sie gesagt haben, verabschiedet und Großflughäfen nur mangelhaft stattfinden. veröffentlicht werden?

Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Den Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr ersten Teil Ihrer Frage kann ich eindeutig mit Ja Kollege Harries, ich muß Sie noch einmal darauf beantworten. Die Kontrollen haben sich verbessert. aufmerksam machen, daß hier nicht die Änderung Zum zweiten müssen Sie, Herr Kollege Gallus, aber einer Verwaltungsvorschrift der gangbare Weg ist, auch beachten, daß es noch sehr große Defizite bei der sondern die Änderung des § 31 des Wasserhaushalts- Ausformulierung des Artenschutzes selber gibt. Hier gesetzes. Dann folgen die Änderungen des Anhangs bedarf es noch enormer Anstrengungen — die Bun- zum UVP-Gesetz, in dem die Bundeswasserstraßen, desregierung ist hier initiativ —, vor allem auch die auf die Sie hier abheben, genannt sind. Verordnung in der Europäischen Gemeinschaft im Sinne einer Verdichtung der Bestimmung von zu Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Präsident, da hier schützenden wildlebenden Tieren — das war ja Ihre meines Erachtens ein Mißverständnis vorliegt und Frage — weiterzuentwickeln. meine Frage nicht beantwortet ist: Darf ich nach- haken? (Georg Gallus [F.D.P.]: Danke!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sie speku- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Keine - lieren auf meine Großzügigkeit. Ja; okay. weitere Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 48 des Abgeordneten Klaus Klaus Harries (CDU/CSU): Ich bedanke mich. — Harries auf: Herr Staatssekretär, meine Frage ging konkret und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15725

Klaus Harries gezielt dahin, wann mit der Verabschiedung der den Auftrag angenommen hat, der Subunternehmer, Verwaltungsvorschriften gerechnet werden kann. ist im Landkreis C. Die beladenen Waggons befinden sich im Landkreis B. Wer ist jetzt für die Entsorgung Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr zuständig? Die Bundesbahn, einer der genannten Kollege Harries, Sie kennen den Gang der Verab- Landkreise, derjenige, der das Geld kassiert hat — das schiedung der Verwaltungsvorschrift. Ich rechne ist nämlich geschehen —, oder derjenige, der den nicht damit — um Ihnen das konkret zu sagen —, daß Auftrag angenommen hat? wir hier in kürzester Zeit zu einer Verabschiedung kommen. Sie kennen auch die Verhandlungslage im Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Umweltausschuß. Deshalb ist die Bundesratsinitiative Kollege Kubatschka, Sie beschreiben hier einen juri- zu begrüßen, über den anderen Weg eine Änderung stisch und tatsächlich sehr komplizierten Sachverhalt. herbeizuführen. Ich kann mich zunächst nur auf meine Antwort beschränken, daß es beim Vollzug des Abfallrechtes

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Bevor ich auch bei einem so komplizierten Tatbestand — die Fragen des Abgeordneten Kubatschka aufrufe, obwohl das aus Ihrer Frage nicht hervorgeht, nehme möchte ich der guten Ordnung halber für das Protokoll ich einmal an, daß hier ein Unternehmer sehr noch feststellen, daß die Fragen 45 und 46 der geschickt seine Rechnung zwischen Abfall und Wirt- Abgeordneten Siegrun Klemmer und die Frage 47 der schaftsgut hereingeholt hat — in der Verantwortung Abgeordneten Monika Ganseforth auf deren Wunsch der Abfallbehörden des Landes bleibt, diesen zugege- schriftlich beantwortet werden. Die Antworten wer- benermaßen im Inland — im Unterschied zu dem ja den als Anlagen abgedruckt. breiten Bereich illegaler Abfallexporte — komplizier- Wir kommen nunmehr zur Frage 49 des Abgeord- ten Fall zu lösen. neten Horst Kubatschka: Horst Kubatschka (SPD): Sind Sie bereit, diesem Welche rechtlichen Konsequenzen zieht die Bundesregierung konkreten Fall nachzugehen? aus Vorgängen, daß wegen der Kompetenzstreitigkeiten von Entsorgern asbest- oder sonstwie verseuchte Gegenstände in Güterzügen auf lange Sicht unentsorgt auf Bahnhöfen stehen, Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr wie das beispielsweise auf dem Bahnhof Pfeffenhausen bei Kubatschka, das haben wir bereits get an. Ein Ergeb- Landshut mit einem Güterzug mit nicht einwandfrei verpackten nis liegt allerdings noch nicht vor. Es ist natürlich 1 100 asbesthaltigen Nachtspeicheröfen der Fall ist? selbstverständlich, daß Sie darüber unterrichtet wer- den. Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, die für den Vollzug des Abfall- Horst Kubatschka (SPD): D anke. rechts zuständigen Behörden verfügen über ausrei- chende rechtliche Instrumente, um die umweltver- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Wir kom- trägliche Entsorgung von Abfällen sicherzustellen. men zur Beantwortung der Frage 50 des Abgeordne- Neben den ordnungsrechtlichen Eingriffsbefugnissen ten Horst Kubatschka: sowie Zulassungs- und Genehmigungspflichten nach Wie beurteilt die Bundesregierung den Einschluß des stillge- dem Abfallgesetz, die alle an der Entsorgung Beteilig- legten Kernkraftwerkes in Lubmin bei Greifswald im Vergleich ten betreffen, ist vor allem der Entsorgungs- und zu Abbau und Zwischenlagerung aus umweltpolitischen und Verwertungsnachweis nach der Abfall- und Reststoff sicherheitstechnischen Erwägungen, und wie sollen die entste- henden Kosten jeweils zwischen Bund, Land und Betreiber Überwachungsverordnung zu nennen. Mittels dieses aufgeteilt werden? obligatorisch oder fakultativ zu erbringenden Nach- weises hat der Erzeuger bereits vor Verbringung zu Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr belegen, daß der gesamte Entsorgungs- oder Verwer- Kollege Kubatschka, nach § 7 Abs. 3 des Atomgeset- tungsweg gesichert ist. Die Anwendung dieser Instru- zes sind der sichere Einschluß eines endgültig stillge- mente im Einzelfall obliegt den für den Vollzug legten Kernkraftwerkes oder der Abbau der Anlage zuständigen Landesbehörden. oder von Anlagenteilen möglich. Für die Reaktoren Darüber hinaus sieht der Entwurf eines Kreislauf- des Kernkraftwerkes Greifswald wurde bei der wirtschafts- und Abfallgesetzes der Bundesregierung zuständigen Genehmigungsbehörde, dem Umwelt- in Umsetzung der Abfallrichtlinien der Europäischen ministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Gemeinschaft vor, daß neben Reststoffen alle verwert- im März 1993 von der Energiewerke Nord GmbH baren Sekundärrohstoffe der abfallrechtlichen Über- Antrag auf Stillegung und Abbau der Anlage gestellt. wachung bei Bedarf unterworfen werden können, um Auf Grund der in der Bundesrepublik Deutschl and derartige Probleme noch effizienter ausschließen zu und auch international vorliegenden Erfahrungen mit können. der Stillegung von Kernkraftwerken können sowohl der sichere Einschluß als auch der direkte Abbau der

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zusatz- Anlage prinzipiell sicher und ohne unzulässige Strah- frage. Bitte schön, Herr Abgeordneter Kubatschka. lenbelastung des Personals realisiert werden. Die Kosten des sicheren Einschlusses bzw. des Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, das Abbaus der Anlage sind grundsätzlich von der Ener- war nach meiner Meinung eine Antwort aus der giewerke Nord GmbH als Betreiberin und Antragstel- Theorie. Wie schaut die Praxis aus? Wir haben Entsor- lerin, die im hundertprozentigen Eigentum der Treu- gungsgegenstände, z. B. asbesthaltige Elektroöfen. handanstalt- steht, zu tragen. Sie befinden sich in Waggons der Deutschen Bundes- bahn im Landkreis A. Der Unternehmer, der dafür Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine Zu- kassiert hat, sitzt im Landkreis B, und derjenige, der satzfrage, bitte sehr. 15726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, es desrepublik Deutschland und der Volksrepublik China vom besteht die Möglichkeit sowohl des sicheren Ein- Oktober 1972 keine Exklusivität der offiziellen Beziehungen zur Volksrepublik vorsieht? schlusses als auch des Abrisses. Wir haben kein Endlager für diese Produkte. Ich frage Sie daher: Wäre Herr Staatsminister, Sie haben das Wort. es nicht vernünftiger, die Kernkraftwerke stehenzu- lassen, bis man ein Endlager hat, wo dieses Mate rial Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen entsorgt werden kann, so daß nicht erneut Zwischen- Amt: Herr Kollege, die Generalversammlung der lager gebaut werden müssen? Durch den Bau der Vereinten Nationen hat in ihrer Resolution 2758 vom Zwischenlager bekommen wir weiteres Mate rial, das 25. Oktober 1971 entschieden, daß die Volksrepublik belastet ist. China den Platz Chinas in der UNO sowie im Weltsi- cherheitsrat einnehmen sollte. Damit endete die (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine Periode, während der die Regierung der Republik sehr wichtige Frage!) China ganz China in den Vereinten Nationen vertrat. Es handelte sich dabei nicht um ein Problem der Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Mitgliedschaft, sondern der Vertretungsberechtigung Kollege Kubatschka, Sie wissen, daß zur Zeit parallel des Gründungsmitgliedes China. Diese Entscheidung zu dem Antragsverfahren auf Genehmigung der Still- war folgerichtig, wenn man davon ausgeht, daß China legung ein Genehmigungsverfahren zur Errichtung weiterhin ein einziger, ungeteilter Staat ist, wie dies eines Zwischenlagers für die Kernbrennstäbe des auch die Regierungen in Peking und Taipeh beide Kernkraftwerkes Greifswald und des Kernkraftwer- vertreten. kes Rheinsberg — was einer Vereinbarung zwischen Die Bundesregierung betrachtet die Regierung der den beiden Bundesländern entspricht — im Umwelt- Volksrepublik China als die einzig legitime Regierung ministerium durchgeführt wird. Da das Land Meck- Chinas. Sie hat deshalb stets eine - - lenburg-Vorpommern für den Bund in dieser Frage Ein China Politik verfolgt. Da Peking und Taipeh ebenfalls eine Ein- Auftragshandelnder ist, obliegt es der Entscheidung China-Politik vertreten, stellt sich die Frage der Aner- dieses Landes, die entsprechende Genehmigung zu kennung eines zweiten chinesischen Staates in der erteilen oder nicht zu erteilen. Liegt diese Genehmi- UNO nicht. gung nicht auf der Linie des Atomgesetzes, muß der Bund entsprechend aktiv werden. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine Zu- satzfrage, bitte schon. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine wei- tere Zusatzfrage, bitte. Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt — und würde sie Horst Kubatschka (SPD): Eine Frage zu den Kosten. eventuell daraus andere Folgerungen ziehen, als sie Der Besitzer ist letzten Endes die Treuhand und damit sie bisher für die Politik gezogen hat —, daß die wir. Gibt es keine Möglichkeit, eine Lösung ähnlich offizielle Stellungnahme der Regierung auf Taiwan der Finanzbeteiligung beim Kernkraftwerk Nieder- heute darauf hinausläuft, daß man nicht ganz China aichbach anzustreben, die so aussieht, daß die Treu- vertritt, sondern daß es vergleichbar zur deutschen handanstalt die Anlage dem Staat übergibt und der Teilung ein China, aber zwei Staaten gibt, die sich Staat sich die Kosten mit der Industrie teilt? organisiert haben, ein kommunistisches Regime in Peking und das Land, das bisher nie kommunistisch Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr gewesen war und heute demokratisch organisiert ist, Kollege Kubatschka, da ich nicht davon ausgehe, daß die Republik China auf Taiwan? sich die Eigentumsverhältnisse der Energiewerke Nord GmbH ändern werden, gehe ich davon aus, daß Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der die Treuhandanstalt die Stillegung zu 100 % gemäß Bundesregierung ist sehr genau bekannt, wie sich die § 7 Abs. 3 des Atomgesetzes finanzieren muß. sogenannte Republik China versteht, nämlich die Inselrepublik Taiwan, und wie sich Festlandchina mit

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Danke mehr als 1 Milliarde Einwohnern versteht. schön, Herr Staatssekretär. Die Situation ist nicht von der Bundesregierung Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen abhängig, sondern von den Auffassungen der Chine- Amtes auf. Hier steht uns Herr Staatsminister Schäfer sen, daß es trotz dieser Teilung, die man nicht mit zur Verfügung. unserer Teilung vergleichen kann, ein China gibt, in Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen kurz dem alle Chinesen ihren Platz haben. Wir können die Geschäftslage bekanntgeben. Die Aktuelle schlecht voraussagen, wie die weitere Entwicklung Stunde wird voraussichtlich um 16.45 Uhr beginnen. zwischen den Regierungen in Taipeh und Peking Das ist für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die verläuft. Es gibt ja Annäherungen, und wir hoffen alle, an der Aktuellen Stunde teilnehmen wollen und die daß eines Tages hier auch Lösungen gefunden wer- die Debatte am Fernsehschirm verfolgen, von Bedeu- den können, die im Interesse eines einheitlichen tung. Chinas liegen. Ich rufe nunmehr die Frage 57 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf: Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Eine wei- tere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Lowack. Was spricht gegen die Aufnahme der Republik China in die Vereinten Nationen, nachdem ein entsprechender Antrag von mehreren Mitgliedsländern vorliegt und das Kommuniqué über Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bun- warum erscheint eigentlich der Antrag Taiwans auf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15727

Ortwin Lowack Aufnahme in die Vereinten Nationen und der Name wenige Sekunden. Sie können sich auch die weitere Taiwan nicht einmal im Asien-Konzept der Bundesre- Frage beantworten lassen und dann eventuell noch gierung, das gerade vorgestellt wurde, obwohl die eine Zusatzfrage stellen. — Okay. Republik China auf Taiwan über die größten Devisen- Dann rufe ich die Frage 59 des Abgeordneten reserven der Welt verfügt, der zwölftgrößte Handels- Konrad Gilges auf: staat der Erde ist und das größe Infrastruktur- und Ist es zutreffend, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Umweltschutzprogramm in der Geschichte Eurasiens Pflichtbeiträge zur Finanzierung des Haushaltes und der frie- beschlossen hat? denserhaltenden Maßnahmen der VN in zwei Halbjahrestran- chen überweist, und wenn ja, gedenkt die Bundesregierung Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich diese Zahlungsart zu ändern, da durch sie regelmäßig das finde Ihre sehr freundlichen Worte zur Regierung in Fälligkeitsdatum von Zahlungen überschritten wird? Taipeh verständlich — Sie sind ja der Vorsitzende der Parlamentariergruppe, die sich speziell mit diesem Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bereich beschäftigt —, aber ich muß Ihnen ganz klar Zahlungen zum regulären Haushalt erfolgen in zwei sagen: Aus allen Gesprächen, die wir in den Aus- Raten auf Wunsch des Bundesministers der Finanzen schüssen geführt haben, ergibt sich, daß es nicht so ist, im Interesse einer wirtschaftlichen Verwendung von als existierte Taipeh überhaupt nicht für die Bundes- Steuergeldern vor allem mit dem Ziel, eine Vorfinan- regierung. zierung anderer UN-Mitglieder, die ihre Beiträge Es ist diplomatisch nicht anerkannt, — kann auch wesentlich später als wir entrichten, zu vermindern. gar nicht anerkannt werden; ebensowenig von den Die Bundesregierung ist bereit, eine Überprüfung Vereinten Nationen —, aber es ist ein Wirtschaftsfak- der Zahlung unserer Pflichtbeiträge zum regulären tor; das leugnet hier niemand. In unserer Asien Haushalt in zwei Jahresraten vorzunehmen, wenn Konzeption spielt Taipeh eine Rolle. Sie wissen, daß es sich eine entsprechende Praxis auch bei den übrigen eine Reihe von Maßnahmen gibt, die auch die Han- Mitgliedern der Vereinten Nationen und unseren delsbeziehungen zu Taipeh verstärken, verbessern europäischen Partnern durchsetzt. werden. Hier gibt es ja eine ganze Reihe von Initiati- Beiträge zu friedenserhaltenden Maßnahmen wer- ven aus dem Deutschen Bundestag. Wir werden ja in den unmittelbar nach Rechnungsstellung unter den nächsten Wochen bei einer Asiendebatte Gele- Berücksichtigung der haushaltsrechtlichen Erforder- genheit haben, sehr ausführlich auch auf diesen Punkt nisse beglichen. zurückzukommen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich lasse Zu dieser Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: jetzt noch eine Frage zu, obwohl die Zeit überschritten Frage liegen keine weiteren Wünsche vor, so daß ich ist. Bitte schön. die Frage 58 des Abgeordneten Konrad Gilges aufru- fen kann: Konrad Gilges (SPD): Herr Staatsminister, finden Kann die Bundesregierung bestätigen, daß Deutschland bei Sie es nicht ein bißchen kleinlich, wenn die Bundes- den Vereinten Nationen noch Beitragsrückstände in Höhe von mehreren Millionen DM hat, die z. T. aus unbezahlten Pflicht- regierung 250 Millionen DM für den humanitären beiträgen der früheren DDR stammen, und wenn ja, wann plant Einsatz und die logistischen Aufgaben in Somalia die Bundesregierung, diese zu begleichen? einsetzt, aber nicht bereit ist, die Schulden der ehe- maligen DDR zu begleichen — was ihr ohne weiteres Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat die Pflichtbeiträge der Bundes- möglich wäre —, weil das dazu führt, daß natürlich die republik Deutschland zum regulären Haushalt und Liquidität, die ja bei der UNO ohne Zweifel latent zu den friedenserhaltenden Maßnahmen der Verein- gefährdet ist, dadurch noch erschwert wird? ten Nationen, soweit sie uns bisher in Rechnung gestellt wurden, vollständig bezahlt. Die Bundesre- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich gierung hat bei den Vereinten Nationen keine Außen- darf Sie darauf hinweisen, daß die hohen Aus- und stände. Rückstände bei den Vereinten Nationen nicht durch die kleinen Rückstände der ehemaligen DDR hervor- Es ist aber richtig, daß die ehemalige DDR bei den gerufen worden sind, sondern daß sowohl die Verei- friedenserhaltenden Maßnahmen in Palästina und nigten Staaten von Amerika als auch die Russische Libanon Schulden in Höhe von insgesamt 17,2 Millio- Föderation zu den Hauptschuldnern gehören. Deren nen US-Dollar hinterlassen hat. Die Bundesregierung Zahlungen in Milliardenhöhe würden die UNO ist der Auffassung, daß sie rechtlich nicht verpflichtet liquide machen. ist, die DDR-Altschulden zu begleichen. Sie hat sich jedoch bereit erklärt, die Beitragsrückstände ohne Aber ich darf Ihnen, weil mich eine Ihrer Kollegin- Anerkennung einer Rechtsverpflichtung durch frei- nen, die dem Haushaltsausschuß angehört, freundlich willige Beiträge in mehreren Zahlungen abzubauen. anlächelt — Frau Kollegin Schulte., ich verstehe Ihr In den Übersichten der Vereinten Nationen ergibt sich Lächeln auch als Hinweis an Ihren Kollegen Gilges —, die hierüber mit den UN ge troffene Vereinbarung aus dazu sagen, daß es dem Deutschen Bundestag und einer Fußnote. den Vertretern im Haushaltsausschuß von der Oppo- sition und den Regierungsparteien absolut freigestellt Die DDR-Altschulden belaufen sich zur Zeit noch auf 14,45 Millionen US-Dollar. Im Haushaltsjahr 1994 ist, dem Bundesfinanzminister zu sagen: Wir möchten im Haushalt, daß die Schulden, die wir zurückzuzah- sind für die Abtragung der DDR-Altschulden 600 000 US-Dollar seitens der Bundesregierung vorgesehen. -len haben, nicht in mehreren Jahresraten, sondern in einer Jahresrate gezahlt werden. Es ist die vornehmste Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Aufgabe des Parlamentes, die Regierung zu drän- geordneter Gilges, die Fragestunde dauert noch gen. 15728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Staatsminister Helmut Schafer Ich kann nur sagen: Auf Grund der Haushaltssitua- Überweisungsvorschlag : tion, die Sie alle kennen, gehen wir den Weg der Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ratenzahlung. Aber es steht im Benehmen des Haus- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO haltsausschusses, das zu ändern. e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Wirtschafts- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Fra- gen 60 und 61 des Kollegen Dr. Klaus Kübler werden plans des ERP-Sondervermögens für das auf diesen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Ant- Jahr 1994 (ERP-Wirtschaftsplangesetz worten werden als Anlagen abgedruckt. 1994) — Drucksache 12/5842 — Damit ist die Fragestunde beendet. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a bis i und den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Zusatzpunkt 6a bis d auf: heit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus 15 Überweisungen im vereinfachten Verfahren Haushaltsausschuß a) Erste Beratung des von der Bundesregie- f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Gesetzes zur Änderung des Tierzuchtgeset- zes zur Änderung der Gewerbeordnung zes und sonstiger gewerberechtlicher Vor- — Drucksache 12/5741 — schriften Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/5826 — Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Überweisungsvorschlag: (federführend) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ausschuß für Gesundheit Innenausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Rechtsausschuß heit Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zes zur Reform der agrarsozialen Sicherung zur Bereinigung des Steuerrechts (Miß- brauchsbekämpfungs- und Steuerbereini- (Agrarsozialreformgesetz 1995 — ASRG 1995) gungsgesetz — StMBG) — Drucksache 12/5889 — — Drucksache 12/5764 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Finanzausschuß (federführend) Finanzausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Familie und Senioren Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Christoph Matschie, B rigitte Adler, Ingrid heit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Beteiligung der Bundesrepublik Deutsch- zes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 2 vom land am „Fonds zur Entwicklung der einge- 13. November 1992 zu den Protokollen vom borenen Völker Lateinamerikas und der 20. Dezember 1961 über die Errichtung der Karibik" Internationalen Kommissionen zum Schutz — Drucksache 12/5739 — der Mosel und der Saar gegen Verunreini- Überweisungsvorschlag: gung und dem ergänzenden Protokoll vom Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federfüh- 22. März 1990 zu diesen beiden Protokol- rend) len Auswärtiger Ausschuß — Drucksache 12/5446 — i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Matschie, , Ingrid Überweisungsvorschlag: Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (federführend) der Fraktion der SPD Ausschuß für Gesundheit Unterstützung der indigenen Völker bei Ausschuß für Verkehr der Verabschiedung der „Allgemeinen d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Erklärung über die Rechte eingeborener rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Völker" in der kommenden 48. Sitzungspe- zes über Statistiken im Handwerk (Hand- riode der Generalversammlung der Ver- werkstatistikgesetz — HwStatG) einten Nationen — Drucksache 12/5833 — — Drucksache 12/5740 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15729

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines Gesetzes zur Heilung des Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federfüh- Erwerbs von Wohnungseigentum rend) Auswärtiger Ausschuß — Drucksache 12/3961 — ZP 6 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Erste Beratung 128. Sitzung) CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- Entwurfs eines Gesetzes über die Errich- ausschusses (6. Ausschuß) tung einer Stiftung Bundespräsident-Theo- dor-Heuss-Haus — Drucksache 12/5843 — — Drucksache 12/5916 Berichterstattung: —Überweisungsvorschlag: Abgeordnete Dr. Eckhart Pick Innenausschuß (federführend) Dr. Bertold Reinartz Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- b) Erste Beratung des von den Fraktionen der wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten 23. Februar 1993 zwischen der Bundesrepu- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der blik Deutschland und den Vereinigten Mexi- Handwerksordnung, anderer handwerks- kanischen Staaten zur Vermeidung der Dop- rechtlicher Vorschriften und des Berufsbil- pelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern dungsgesetzes vom Einkommen und vom Vermögen — Drucksache 12/5918 — Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/5194 — Ausschuß für Wi rtschaft (federführend) (Erste Beratung 165. Sitzung) Rechtsausschuß Beschlußempfehlung und Bericht des Finanz- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ausschusses (7. Ausschuß) EG-Ausschuß — Drucksache 12/5898 — c) Erste Beratung des von den Fraktionen der Berichterstattung: CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Abgeordneter Hermann Rind wurfs eines . Strafrechtsänderungsgesetzes — Abge- c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des ordnetenbestechung von der Bundesregierung eingebrachten Ent- — Drucksache 12/5927 — wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Juli 1992 zur Änderung des Abkommens Überweisungsvorschlag: vom 4. Oktober 1954 zwischen der Bundesre- Rechtsausschuß (federführend) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- publik Deutschland und der Republik Oster- ordnung reich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung d) Erste Beratung des von den Fraktionen der auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- und vom Vermögen sowie der Gewerbesteu- wurfs eines Gesetzes zur ern und der Grundsteuern Änderung des Schornsteinfegergesetzes — Drucksache 12/4567 — — Drucksache 12/5928 — (Erste Beratung 152. Sitzung) Überweisungsvorschlag: aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Fi- Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Rechtsausschuß nanzausschusses (7. Ausschuß) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 12/5910 — Ausschuß für Bildung und Wissenschaft EG-Ausschuß Berichterstattung: Abgeordneter Claus Jäger Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen schuß) gemäß § 96 der Geschäftsord- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse nung zu überweisen. Der Gesetzentwurf zur Änderung der — Drucksache 12/5911 — Gewerbeordnung auf Drucksache 12/5826 — das ist Berichterstattung: der Tagesordnungspunkt 15f — soll zusätzlich an den Abgeordnete Dieter Pützhofen Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus über- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich Hinrich Kuessner sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Haushalts- und Wirtschaftsführung 1993; Abschließende Beratungen ohne Aussprache hier: Einwilligung in eine überplanmäßige a) Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Ausgabe bei Kapitel 06 46 Titel 712 01 tionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten (Neu-, Um- und Erweiterungsbau für 15730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg die Deutsche Bibliothek, Frankfurt/ Bei diesen internationalen Verträgen entfällt die Main) zweite Lesung, so daß wir zur Schlußabstimmung — Drucksachen 12/5577, 12/5743 — kommen. Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschuß- fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu Berichterstattung: erheben. — Wer stimmt dagegen? —Enthaltungen? — Abgeordnete Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) worden. Rudolf Purps Wir kommen zur Abstimmung — Tagesordnungs- e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- punkt 16c — über den von der Bundesregierung haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Doppel- richtung durch die Bundesregierung besteuerungsabkommen mit der Republik Österreich; Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Drucksache 12/4567. Der Finanzausschuß empfiehlt Titel 866 08 — Sonderhilfe Georgien auf Drucksache 12/5910, den Gesetzentwurf unverän- — Drucksachen 12/5547, 12/5787 — dert anzunehmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? Berichterstattung: — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig Abgeordnete Rudolf Purps angenommen. Adolf Roth (Gießen) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Wir kommen — Tagesordnungspunkt 16 d — zur Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- einer überplanmäßigen Ausgabe für Baumaßnahmen tionsausschusses (2. Ausschuß) der Deutschen Bibliothek in Frankfurt; Drucksachen Sammelübersicht 118 zu Petitionen 12/5577 und 12/5743. Wer stimmt dieser Beschluß- — Drucksache 12/5799 — empfehlung zu? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig g) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- angenommen. tionsausschusses (2. Ausschuß) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 16e: Be- Sammelübersicht 119 zu Petitionen schlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer — Drucksache 12/5800 — außerplanmäßigen Ausgabe für die Sonderhilfe Geor- gien; Drucksachen 12/5547 und 12/5787. Wer dieser h) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den tionsausschusses (2. Ausschuß) bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dage- Sammelübersicht 120 zu Petitionen gen? — Enthaltungen? — Drucksache 12/5801 — (Gudrun Weyel [SPD]: Wir stimmen nicht i) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- immer mit!) tionsausschusses (2. Ausschuß) — Dann darf ich davon ausgehen, daß die SPD- Sammelübersicht 121 zu Petitionen Fraktion der Beschlußempfehlung zugestimmt hat, Frau Geschäftsführerin? Bei Georgien unterstelle ich — Drucksache 12/5802 — das. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorla- (Gudrun Weyel [SPD]: Ich kann es Ihnen gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. nicht sagen!) Wir kommen zunächst — Tagesordnungs- Somit kann ich feststellen, daß diese Beschlußempfeh- punkt 16a — zur Einzelberatung und Abstimmung lung einstimmig angenommen worden ist. über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Heilung des Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 16f bis Erwerbs von Wohnungseigentum; Drucksachen 16i: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses 12/3961 und 12/5843. Ich bitte diejenigen, die dem auf den Drucksachen 12/5799 bis 12/5802. Dies sind Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen die Sammelübersichten 118 bis 121. Wer stimmt für wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? diese Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dage- — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD-Fraktion gen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlun- ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung gen sind einstimmig angenommen. angenommen. Meine Damen und Herren, interfraktionell ist ver- einbart worden, die heutige Tagesordnung um die Wir kommen zur zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der dritten Beratung CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurfs und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem eines Agrarsozialreformgesetzes 1995 zu erweitern. Gesetzentwurf als Ganzem zustimmen wollen, sich zu Dieser Gesetzentwurf soll jetzt ohne Debatte behan- erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — delt werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das Bei Enthaltung der SPD-Fraktion ist der Gesetzent- ist offensichtlich der Fall. wurf angenommen worden. Wir kommen — Tagesordnungspunkt 16b — zur Damit rufe ich folgenden Zusatzpunkt der Tages- Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- - ordnung auf: gebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Doppelbe- Zweite und dritte Beratung des von den Frak steuerungsabkommen mit den Vereinigten Mexikani- tionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten schen Staaten; Drucksachen 12/5194 und 12/5898. Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der agrar- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15731

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg sozialen Sicherung (Agrarsozialreformgesetz reduziert und die Arbeitslosenhilfe gekappt werden. 1995 — ASRG 1995) In den Fällen, in denen Arbeitnehmer freigesetzt — Drucksache 12/5700 — werden, erschwert dies in gewerblichen Bet rieben die Handhabung von Sozialplänen gemäß des Betriebs- a) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- verfassungsgesetzes, aber es zerstört auch die Politik schusses für Arbeit und Sozialordnung hinsichtlich der Sozialpläne in den Stahlbetrieben (11. Ausschuß) überhaupt. — Drucksache 12/5924 — Berichterstattung: Dies ist ein ungeheuerlicher Vorgang; denn die Abgeordneter Hans Joachim Fuchtel Sozialdemokraten haben dem Deutschen Bundestag am 3. März 1993 einen Antrag vorgelegt, die Stahl- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- krise und die sozialen Folgen aufzugreifen und zu schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung regeln. Die Koalition und die Regierung haben nichts — Drucksache 12/5934 — getan, obwohl sie darüber unterrichtet waren. Berichterstattung: (Beifall bei der SPD) Abgeordnete Hans-Gerd Strube Wir haben am 16. Mai 1993 von Herrn Bange- mann, Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ban in „Änderung des Gesetzes zur Neuregelung der gemachen gilt nicht!) Altershilfe für Landwirte" umbenannten Entwurf; dem Vizepräsidenten der EG-Kommission, eine Dar- Drucksache 12/5924. Ich bitte diejenigen, die dem legung über die soziale Flankierung bekommen. Das Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen Ergebnis der Ministerrunde — Herr Rexrodt war wünschen, um das Handzeichen. Wer stimmt dage- dabei, mein lieber Herr Kollege — sei, sich darauf zu gen? -- Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf einigen, die Restrukturierung bis zum 31. Dezember in zweiter Beratung angenommen. 1995 vorzunehmen. Am 30. September 1993 meldete Wir kommen zur die Bundesregierung der EG-Kommission 37 000 dritten Beratung Freisetzungen von Stahlarbeitern in der Bundesrepu- blik Deutschland — die alle sozial flankiert werden und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem müssen; das ist ja auch unsere Meinung —, weil wir Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, sonst die Existenz dieses Zweiges, dieser wichtigen sich zu erheben. — Die Frage nach Nein-Stimmen und Branche nicht erhalten können. Aber, bitte schön, das Enthaltungen erübrigt sich, weil, wenn ich das richtig Ganze sozial flankiert zur Befriedung der freiwerden- gesehen habe, alle dem Gesetzentwurf in dritter den Belegschaften, damit wir keinen sozialen Spreng- Beratung zugestimmt haben. stoff bekommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Druck- sache 12/5924 empfiehlt der Ausschuß, die Beratun- Sie zerstören aber gleichzeitig die Voraussetzung gen zu den Art. 1 bis 6 und 8 bis 44 auf der Grundlage für den Abschluß und für die Weitergeltung von eines inhaltsgleichen Regierungsentwurfs, der Ihnen Sozialplänen, obwohl die Bundesregierung uns mit auf Drucksache 12/5889 vorliegt, durchzuführen. Wer ihrer Zustimmung gestattet hat, Arbeitnehmer auch stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt vor dem 55. Lebensjahr freizusetzen. Sollen sie denn dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der jetzt — wenn das nicht mehr ausreicht, was Sie SPD-Fraktion ist diese Beschlußempfehlung ange- gemacht haben — wieder einen Einstellungsanspruch nommen. haben, obwohl die Arbeitsplätze bereits stillgelegt sind? Wissen Sie eigentlich, in welch eine Situation Sie die Stahlarbeiter bringen? Darum sagen wir Ihnen: Meine Damen und Herren, auf Antrag der SPD- Dies darf nicht passieren. Fraktion rufe ich nunmehr den Zusatzpunkt Aktuelle Stunde auf: Wir haben alle Möglichkeiten genutzt. Der Haus- Haltung der Bundesregierung zu den Auswir- haltsausschuß hat das alles eine Woche ausgesetzt. kungen ihrer Finanzpolitik auf die Sozial- Wir haben Sie gebeten, Ihr Vorhaben noch einmal pläne, insbesondere der Stahlindustrie gründlich zu prüfen und mit uns die Ausnahmegeneh- migung, die wir schon zusammen geschaffen hatten Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde — § 128a des Arbeitsförderungsgesetzes —, als Teil beantragt. der sozialen Flankierung bis zum 31. Dezember 1995 Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Hans gelten zu lassen, damit wir die Restrukturierung Eberhard Urbaniak das Wort. erreichen und die gesunden Grundlagen für die Stahlindustrie erhalten können. Dies alles ist jetzt in Frage gestellt. Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Aktuelle Wir haben umfassende Arbeitsniederlegungen an Stunde beantragt, weil der Ausschuß für Arbeit und allen Stahlstandorten in der Bundesrepublik. Das war Sozialordnung und der Haushaltsausschuß in der -nicht nötig. Das haben Sie zu verantworten. Die Leute Zwischenzeit zwei Kernpunkte geregelt haben, die für sind verunsichert. die Schaffung und für die Erhaltung von Sozialplänen wichtig sind. Das Arbeitslosengeld soll nunmehr (Beifall bei der SPD) 15732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Hans-Eberhard Urbaniak Alle sind bereit — IG Metall, Betriebsräte, Unterneh- Paket nachher nichts mehr wert ist. Und genau das mer, EG-Kommission —, diese Dinge vernünftig abzu- würde passieren, wenn wir jetzt eine Sonderregelung wickeln. hinsichtlich der Sozialpläne in der Stahlindustrie ein- Meine Damen und Herren, die eigentliche Ausein- führen. andersetzung kommt ja noch. Denn Fernand Braun, Als Mitglied dieses Parlaments, das ja ein Sparpaket der Koordinator in Brüssel, hat uns erklärt, die Redu- schnüren soll, welches im Positiven wie im Negativen zierung um 29 Millionen t Rohstahl und 19 Millionen t alle Bürger einbezieht, frage ich mich, warum es Walzstahl werde im nächsten Monat bekanntgege- überhaupt Ausnahmeregelungen für die Stahlarbei- ben. Dann wissen die Belegschaften, daß die sozialen ter geben soll. Bedingungen für das Ausscheiden wie bisher durch die Bundesregierung zerstört worden sind. Dies kann (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Weil es doch überhaupt keiner mehr aushalten. Die jungen einen Montanvertrag gibt! Sehen Sie da mal Arbeitnehmer werden herausgehen; die älteren sind nach!) ja geschützt. Auch das kann nicht Sinn Ihrer Politik sein. — Herr Urbaniak, ich werde darauf kommen. — Da werden zwei Gründe genannt. Da wird einmal gesagt, Helfen Sie also mit, die Zeit zu nutzen und eine gute daß soziale Sonderregelungen dieser Art der Dank soziale Flankierung zustande zu bekommen, damit sein sollen für den großen Anteil der Montanindustrie wir das in anständiger Weise erledigen können! am Wiederaufbau Deutschlands. Als Begründung für Unsere Männer im Stahl haben dies verdient. eine Besserstellung der Stahlarbeiter gegenüber (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke anderen Arbeitnehmern überzeugt mich dies heute Liste) nicht mehr. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Franz Romer das Denn wer heute 52 Jahre alt ist und als 15jähriger in Wort. diesem Wirtschaftsbereich angefangen hat, tat dies im Jahre 1956. Warum sollte er im stärkeren Maße am Wiederaufbau Deutschlands beteiligt gewesen sein Franz Romer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine als ein gleichaltriger Arbeitnehmer in der Metall- oder Damen!. Meine Herren! Herr Kollege Urbaniak, Sie Autoindustrie? haben das alles natürlich sehr einseitig dargestellt. Auch der zweite Grund der Sonderregelung in der (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!) Montanindustrie stimmt spätestens seit der Wieder- Zugegeben, es ist nicht leicht, als Arbeitnehmerver- vereinigung nicht mehr. Monostruktur gibt es nicht treter zu begründen, warum es bei der geplanten nur im Montanbereich. Auch in den anderen betroffe- zeitlichen Begrenzung der Arbeitslosenhilfe keine nen Gebieten belastet der Wegfall vieler Arbeits- Ausnahmeregelungen geben darf, auch wenn dies die plätze den sozialen Frieden. Einhaltung der Sozialpläne vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie erschwert. Aber es gibt wichtige Übrigens halte ich es für durchaus erlaubt, den Gründe dafür, eine Sonderregelung für die Stahlar- politischen Führern des am meisten betroffenen Bun- beitnehmer abzulehnen. deslandes die Frage zu stellen, warum sie immer noch Wenn wir bei einem umfassenden Sparpaket, das alle geplanten Sparmaßnahmen mit dem Argument bei allen schmerzhaften Auswirkungen die einzige Monostruktur abschmettern. Schwarze Fahnen an der Sanierungsmöglichkeit bietet, Ruhr, das gab es schon vor 25 Jahren. Ich kann kaum glauben, daß sich seitdem an der Struktur dieses (Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat Ihnen der Gebietes nichts geändert haben soll. Blüm aufgeschrieben!) wieder sofort beginnen, Ausnahmen einzubauen, (Zuruf von der SPD: Sie wissen ja gar nicht, werden unsere Sparbemühungen unglaubwürdig. wovon Sie reden!) (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die sind Oder sollte die SPD ihre Hausaufgaben derart ver- doch schon unglaubwürdig!) nachlässigt haben? Manche Kollegen mögen sich ja daran gewöhnt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben, daß die Bürger politikverdrossen werden, weil sie den Aussagen der Politiker nicht mehr trauen Wie dem auch sei, im vereinigten Deutschl and wollen. müssen viele liebgewordene Gewohnheiten aufgege- (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist sehr wahr!) ben werden. Statt also Sonderrechten nachzujam- mern, kann es für die Be troffenen nur eines geben: Ich nicht. Es nutzt nichts, aus Angst vor Reaktionen der sich flexibel auf die neuen Begebenheiten einzustel- Bürger die getroffenen Maßnahmen sofort wieder zu len. verwässern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Vorsitz: Vizepräsident H ans Klein) Denn die Bürger sind sehr wohl bereit, ein breitange- Daher sollten die Tarifparteien gemeinsames H an legtes und alle betreffendes Sparpaket mitzutragen. -deln nicht nur im Schulterschluß mit der Verweige- Was sie nicht wollen, sind groß angekündigte ein- rung gegenüber der Regierung und Sparplänen zei- schneidende Maßnahmen, in die dann so viele Aus- gen. Denn Sozialpläne kann man auch weiterentwik- nahmeregelungen eingebaut werden, daß das ganze keln, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15733

Franz Romer Daher mein Appell an die Tarifparteien: Die abzuschließen, haben ausschließlich Großunterneh Gewerkschaften sollten nicht jammern und klagen, men, während kleine und mittlere Unternehmen gar sondern neue Vereinbarungen anstreben. nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfü- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — gen, um solche Sozialpläne mit der Belegschaft zu Widerspruch bei der SPD) vereinbaren. Und die Arbeitgeber sollten die geänderten Rahmen- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bedingungen nicht zum Vorwand nehmen, aus den Das führt zu einer Ungleichbehandlung der Arbeit- Sozialplänen auszusteigen. nehmer. Die in kleinen und mittleren Betrieben Vielleicht ein Gedanke noch zum Schluß — oder Beschäftigten müssen entlassen werden und sind besser: eine Anregung zum Überlegen —: Warum allein auf die Lohnersatzleistungen nach dem AFG führen wir nicht eine flexiblere Altersgrenze für die angewiesen. Beschäftigte bei größeren Unternehmen Rente ein? Viele würden vielleicht eine sichere, wenn können dagegen ganz gelassen in die Zukunft blik- auch geringere Rente schon mit 57 oder 58 Jahren ken, mit einem Sozialplan in der Tasche. akzeptieren. (Hans Koschnick [SPD]: Gelassen?) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Romer, Ihre Mit der Förderung des vielgepriesenen Mittelstandes, Redezeit ist abgelaufen. die wir alle wollen — von der wir jedenfalls sagen, daß wir sie alle wollen —, hat die Sozialplanregelung jedenfalls nichts zu tun. Franz Romer (CDU/CSU): Wie gesagt, nur eine Anregung zum Überlegen. Zweifellos haben Sozialpläne in der Vergangenheit Ich bedanke mich. in vielen Fällen einen sozialverträglichen Struktur- wandel begünstigt. Zum anderen hat aber gerade die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Arbeitslosenhilfe durch die Konstruktion der Sozial- pläne eine völlig neue Funktion bekommen, die ihr Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin ursprünglich nicht zugedacht war. Die Arbeitslosen- Dr. Gisela Babel. hilfe, meine Damen und Herren, ist gerade für den über 50jährigen zu einem Mittel der Frühverrentung Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine geworden. Für Unternehmen ist es eine bequeme Art Damen und Herren! In der von der SPD-Fraktion und Weise, sich älterer Arbeitnehmer zu entledigen, beantragten Aktuellen Stunde zur Auswirkung des die, einmal abgeschoben, keine oder wenig Chancen 1. SKWPG auf Sozialpläne geht es im Grunde um die mehr haben, sich einen Arbeitsplatz auf dem regulä- Frage, in welcher Art und Weise die öffentliche Hand ren Arbeitsmarkt zu suchen. Wir reden immer von den tiefgreifenden Strukturwandel flankieren soll. längerer Lebensarbeitszeit, wir reden immer von Es ist gängige Praxis, daß Sozialpläne, die zwischen einem Hinausschieben der Regelaltersrente, aber auf Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt wer- der anderen Seite müssen wir feststellen, daß immer den, die zeitlich unbegrenzte Zahlung von Arbeitslo- mehr Menschen immer früher aus dem aktiven senhilfe zur Voraussetzung haben. Aber es ist erklär- Erwerbsleben ausscheiden. ter Wille der Koalition, den Bezug der Arbeitslosen- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Dann ge hilfe künftig zu begrenzen. Es ist keine Versiche- ben Sie den Leuten doch Arbeit! Die wollen rungsleistung — wie vielfach fälschlich angenom- doch arbeiten!) men —, sondern ein Bundeszuschuß. Seine Strei- chung ist haushaltspolitisch begründet, aber auch — Die in Sozialplänen Verhafteten haben auch keinen sozialpolitisch vertretbar, wenn der Anreiz, Arbeit Arbeitsplatz, Herr Urbaniak. 50jährige, die einmal aufzunehmen, verstärkt werden soll. ihren Arbeitsplatz verloren haben, sollen also nicht mehr einsatzfähig und nicht mehr zu gebrauchen sein. Ich verhehle nicht, daß ich den hiermit verbunde- Während Spitzenfunktionen in der Wirtschaft gerade nen Abstieg vieler Menschen in die Sozialhilfe und die von Frauen und Männern in den 50ern besetzt wer- Belastung der Kommunen als ein großes Problem den, gelten Arbeitnehmer auf niedrigerer Ebene als ansehe. Allerdings ist eine der Arbeitslosenhilfe ver- nicht mehr verwendbar. gleichbare unbefristete staatliche Unterstützung in anderen europäischen Ländern weitgehend unbe- Dieser Trend zur Frühverrentung ist inzwischen zu kannt. einer echten Belastung der sozialen Sicherungssy- Zuzugeben ist, daß Sozialpläne auch Vertrauens- steme in der Bundesrepublik geworden. Dieser Tatsa- tatbestände schaffen. Dem haben wir durch die Ände- che haben die bisherige Regelung und die Praxis der rung entsprochen, daß 55jährige Arbeitnehmer aus Sozialpläne unweigerlich Vorschub geleistet. Viel- der begrenzenden Regelung herausgenommen wer- leicht ist es möglich, durch die vorgesehene Änderung den sollen, allerdings nicht nur die in Sozialplänen diesem Trend zu begegnen. abgesicherten, sondern alle, auch die nicht mit einem Meine Damen und Herren, noch ein Wort zur Lex Sozialplan bedachten Arbeitnehmer. Stahl. Man kann über das Prinzip durchaus noch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — streiten. Aber über eines kann man sicherlich nicht Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Dann ma streiten, daß man nämlich nicht für eine einzige chen Sie das doch!) Branche eine solche Vorzugsregelung einführen -soll. Ein Sozialplan ist ein zweischneidiges Schwert. Es kommen gar nicht alle Arbeitnehmer in den Genuß (Angela Stachowa [PDS/Linke Liste]: Was ist solcher Sozialpläne. Die Möglichkeit, solche Pläne mit der Bundeswehr?) 15734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Gisela Babel Es ist sicher richtig, daß die Stahlindustrie vom diese gesetzliche Grundlage zu schaffen, außer Kraft Strukturwandel hart betroffen ist. Dies gilt aber auch gesetzt. für viele andere Bereiche. Fast alle Branchen machen Ich muß ehrlich gestehen, ich bin im Prinzip kein so eine tiefgreifende Rezession durch und müssen sich großer Freund von Sozialplänen. einem Strukturwandel stellen, der Rationalisierung, Umstrukturierung und Entlassungen notwendig (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Wir sind für macht. Ich denke an die Textilindustrie oder den Vollbeschäftigung!) Maschinenbau. Mit welchem Grund könnte man dort — So ist das. Es ist klar: Jeder Sozialplanfall bedeutet versagen, was Sie für die Stahlindustrie fordern, daß zunächst auch einen entfallenen Arbeitsplatz. nämlich auch in diesem Bereich 52jährige aus der Wichtiger wäre es, die Regionen, in denen Bran- Begrenzung des Arbeitslosenhilfenbezugs herausge- chen in Strukturkrisen geraten, rechtzeitig so umzu- nommen werden sollen? Sie wissen genau, daß wir strukturieren, daß Sozialpläne nicht notwendig wer- dann das Sparziel wiederum verfehlen würden. den. Aber wir wissen, daß das in der Praxis nicht passiert. Bei dieser Politik der Bundesregierung Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Babel, die geschieht eher das Gegenteil. fünf Minuten sind um. Man sollte deshalb die Sozialplanpolitik auch unter dem Aspekt betrachten, daß hier eine Anpassungszeit Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Letzter Satz: Dies würde für Umstrukturierung gewährt wird. die Menschen, die in anderen Branchen von Entlas- sungen bedroht sind, in völlig ungerechtfertigter Ich weiß nicht, was es noch wert ist, daß in den Weise benachteiligen. Revieren seit den 50er Jahren Hunderttausende von Arbeitsplätzen in einer derart friedlichen Weise verlo- Ich bedanke mich, meine Damen und Herren. rengegangen und abgebaut worden sind, die nur mit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Hilfe der Sozialpläne, die im Bergbau und in der Stahlindustrie aufgestellt worden sind, möglich war. Kollege Bernd Henn, Sie Vizepräsident Hans Klein: Ich weiß nicht, was dieser soziale Frieden Ihnen haben das Wort. überhaupt noch bedeutet. Ich habe nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Babel, den Eindruck, daß das überhaupt Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich hatte mich zwar nichts mehr bedeutet. Das finde ich wirklich nicht angemeldet — — schlimm.

Vizepräsident Hans Klein: Dann hat Ihre Gruppe Sie (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD angemeldet. — Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Da haben Sie nicht zugehört!) Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Das muß ein Verse- Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen hen sein. Ich dachte, das entscheide ich noch sel- — das ist vorhin in einem Zwischenruf schon deutlich ber. geworden —: Wie können Sie an die Gleichbehand- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen doch lung appellieren und sagen, es darf keine Vorzugsbe- nicht reden, Herr Heim!) handlung der Stahlarbeiter geben, da doch gerade mit den Stimmen der Regierungskoalition — ich glaube, es ist ein halbes Jahr her — ein Gesetz verabschiedet Es besteht hier kein Vizepräsident Hans Klein: worden ist, das den Offizieren der Bundeswehr Redezwang. erlaubt, mit 48 Jahren nach Hause zu gehen? Für andere Dienstgrade gilt das, glaube ich, ab 55 Jah- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Aber ich will doch ren. ein paar Bemerkungen machen, wenn ich schon dazu aufgefordert werde. Warum auch nicht? (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wissen Sie denn, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das was die kriegen?) Entscheidende ist natürlich die Tatsache, daß die — Einen goldenen Handschlag. Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre Ich denke, wenn man diese Dinge miteinander ökonomisch, finanzpolitisch überhaupt nichts bringt. vergleicht, ist es durchaus angemessen zu sagen: Wir Sie bedeutet eigentlich nur, daß man von einer Tasche bleiben bei der bisherigen Regelung; Arbeitslosen- in die andere Tasche schaufelt, zugunsten des Bundes, hilfe wird weiterhin auf Dauer gewährt, weil eine der entlastet wird, und zwar zu Lasten der Kommunen. andere Regelung finanzpolitisch ohnehin nichts Von daher ist es Unsinn, daß dies von der Regierung in bringt, sondern nur die Kommunen belastet. Dann dieser Weise durchgeführt wird. können wir auf anständige Art und Weise ältere (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Menschen in den Branchen, in denen Umstrukturie- Ich denke, daß den Stahlarbeitern, die in der Ver- rungen stattfinden, nach Hause gehen lassen. Ich gangenheit vielleicht in besonderer Weise von sol- glaube, dieses System hat sich in der Vergangenheit chen Regelungen profitiert haben, weil sie in der Tat in der Bundesrepublik außerordentlich bewährt. mittlerweile mit 52, 53 Jahren ausscheiden, in der (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der jetzigen Situation praktisch bereits abgesprochene SPD) Sozialpläne genommen werden. Das heißt, Abspra- chen, die mit den Unternehmen und mit den Betriebs- räten bereits getroffen wurden, werden praktisch von Vizepräsident Hans Klein: Ich hoffe, der Parlamen- der Bundesregierung durch ihre Planung, morgen tarische Staatssekretär beim Bundesminister für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15735

Vizepräsident Hans Klein Arbeit und Sozialordnung, unser Kollege Horst Gün- Deshalb erweisen diejenigen den Arbeitslosen, den ther, kommt nicht ebenfalls unerwartet ans Redner- Rentnern und den Sozialhilfeempfängern einen pult. Bärendienst, die die Notwendigkeit von Sparmaßnah- men abstreiten und statt dessen die Neuverschuldung erhöhen wollen.

Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- (Arne Fuhrmann [SPD]: Spielt man wieder nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! die eine Gruppe gegen die andere aus? Ein Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich ziemlich unmoralischer Ansatz!) will diese Aktuelle Stunde nutzen, um noch einmal auf Nach geltendem Recht ist der Anspruch auf Arbeits- die außerordentlich angespannte wirtschaftliche Si- losenhilfe zeitlich unbefristet. Das bedeutet, daß im tuation in der Bundesrepublik Deutschland hinzuwei- Einzelfall durch eine Beschäftigung während 150 Ka- sen, lendertagen, also fünf Monaten, ein Anspruch auf (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wollen Arbeitslosenhilfe bis zur Vollendung des 65. Lebens- Sie auch auf die soziale Situation hinwei jahres erworben werden kann. sen?) Der Bund, meine Damen und Herren, kann für auch darauf, daß die wirtschaftliche Entwicklung im diesen Personenkreis keine Einstandspflicht bis zur Jahre 1993 erheblich schwächer verlaufen ist, als wir Rente haben. Arbeitslosenhilfe kann keine quasi vor- das alle —ich glaube, das sagen zu können — erwartet gezogene Ersatzrente sein. Die Befristung ist sachlich haben. und rechtlich gerechtfertigt. Denn der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe unterliegt nicht dem Eigentums- Diese Entwicklung hat durchgreifende Konsequen- schutz nach Art. 14 des Grundgesetzes, da die Arbeits- zen auch für die öffentlichen Haushalte; übrigens losenhilfe im Gegensatz zum Arbeitslosengeld nicht nicht nur für den Bundeshaushalt, sondern, wie wir aus den Beiträgen der Bundesanstalt für Arbeit, son- zunehmend feststellen, auch für die Haushalte der dern aus Steuermitteln des Bundes finanziert wird. Länder und Gemeinden. Deshalb gibt es zu mutigen und konsequenten Einsparungen keine Alternative. (Renate Rennebach [SPD]: Sagen Sie etwas Denn nur eine strikte Sparpolitik kann das Funda- zu den Folgen für die Menschen!) ment zur Konsolidierung der Finanzen und zur Stär- Natürlich werden auch künftig die Arbeitslosen kung des notwendigen Wirtschaftswachstums lie- ohne Anspruch auf Arbeitslosenhilfe die kostenlosen fern. Vermittlungs- und Beratungsdienste der Bundesan- Die Bundesregierung hat daher am 13. Juli 1993 die stalt für Arbeit nutzen können. Eckwerte für ein Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wie tumsprogramm beschlossen, das den Bundeshaushalt gehen Sie mit den Schicksalen der Menschen mit rund 21 Milliarden DM im Jahre 1994 entlasten um! — Weitere Zurufe von der SPD) wird. Morgen wird dieses Programm hier im Plenum beraten. — Wenn Sie sich darüber aufregen, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß das inzwischen von einigen Die vorgesehenen Einschnitte sind zum Teil bestritten wird. schmerzhaft, aber, wie ich glaube, unvermeidlich. Wir müssen sparen, um die Kosten zu senken. Denn (Ludwig Stiegler [SPD]: Es fehlt nur noch würden wir die Kosten in die Höhe treiben, würden eine Gebührenordnung für die Beratung!) wir unsere Arbeitsplätze gefährden. Deshalb habe ich das noch einmal deutlich gesagt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der F.D.P.) Wir haben übrigens in einer besonderen Über- Wir müssen sparen, um die Neuverschuldung zu gangsregelung alle Arbeitslosen von der Befristung begrenzen und damit die Inflation zu bekämpfen. der Arbeitslosenhilfe ausgenommen, die vor dem Denn die Inflation frißt das Geld aller Bürger, insbe- 1. Januar 1994 das 55. Lebensjahr vollenden. Damit sondere aber das der kleinen Leute auf. haben wir auch besonders an die laufenden Sozial- Ich will dazu ein Beispiel nennen. Die Steigerung pläne gedacht. der Inflationsrate um lediglich 1 % führt bei einem Eine weitergehende Ausnahme von der Befristung Arbeitslosen mit zwei Kindern zu einem Kaufkraftver- der Arbeitslosenhilfe über die 55er Regelung hinaus lust von monatlich 21,60 DM in den alten Bundeslän- ist durch besondere Übergangsregelungen für jün- dern oder 17,60 DM in den neuen Bundesländern. gere „Sozialpläner" in den Unternehmen der Eisen- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Wer regiert und Stahlindustrie nicht finanzierbar und ordnungs- eigentlich?) politisch auch bedenklich. Denn seit Mitte 1992 bis Mitte 1993 sind in Deutschland rund 739 000 industri- Deshalb ist es notwendig, die Inflationsrate nicht elle Arbeitsplätze abgebaut worden, allein 138 000 im noch weiter steigen zu lassen. Das geht nur, wenn Maschinenbau und 173 000 in der Elektrotechnik und gespart wird, meine Damen und Herren, in der Automobilbranche. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Deshalb (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das Ergeb kürzt man bei den Arbeitslosen!) - nis Ihrer Politik!) und nicht durch eine weitere Neuverschuldung. Dem stehen 24 000 verlorengegangene Arbeitsplätze (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in der Eisen- und Stahlindustrie gegenüber. Dabei 15736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Parl. Staatssekretär Horst Günther waren die Arbeitnehmer aus dem Montanbereich Anspruchs das den Bedürftigen zustehende Recht auf deutlich besser gesichert als ihre Kollegen aus ande- Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen angemes- ren Branchen. Ich begrüße dies ausdrücklich. senen Ausgleich gewährleistet. Ich will auch noch auf etwas hinweisen, meine Außerdem hat die Eisen- und Stahlindustrie in der Damen und Herren, weil es offensichtlich unter Zeit nach der Herstellung der deutschen Einheit Datenschutz steht: Vor nicht langer Zeit haben wir Gewinne gemacht, die nur teilweise wieder für den eine Sonderregelung zu § 128a des Arbeitsförde- sozialverträglichen Abbau der Produktionskapazitä- rungsgesetzes für die Stahlindustrie beschlossen. ten eingesetzt werden müssen. Auch das ist eine Wahrheit, meine Damen und Herren. Zusätzlich haben wir die EGKS-Mittel von 6 000 DM auf 9 000 DM pro Sozialfall und den Beteiligungs- Deswegen appelliere ich an die Unternehmer: Neh- satz bei den Sozialplankosten der Unternehmen von men Sie jetzt in dieser Situation Ihre Fürsorgepflicht 50 % auf 60 % erhöht, was noch einmal 4 000 DM für Ihre Mitarbeiter ernst! Schieben Sie nicht Ihre ausmacht. Das wird offensichtlich immer verschwie- Verantwortung und damit die Kosten erneut in die gen. Das sind Leistungen, die diese Bundesregierung Sozialkassen und nach Bonn! zusammen mit dem Europarat und dem Europäischen Die Steuerzahler und die Beitragszahler auch in der Parlament für die Stahlindustrie bereits erbracht hat. Rentenversicherung trifft für die Wirtschaftsentwick- Das kann niemand bestreiten, Herr Urbaniak. lung der Eisen- und Stahlindustrie keine Schuld. Gleichwohl leisten sie nach wie vor Erhebliches für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — diese Branche. Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Trotzdem bringt es sie in die Arbeitslosigkeit!) Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es ist daher keine Rechtfertigung dafür erkennbar, daß die ohnehin besser sozial abgesicherten Arbeit- nehmer aus dem Eisen- und Stahlbereich nunmehr Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege nochmals gegenüber anderen zu bevorzugen sind. Hans Koschnick. (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Hoch lebe die Sozialhilfe!) Hans Koschnick (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Die Finanzlage des Bundes läßt im übrigen die für verehrten Damen und Herren! Dies ist eine unge- eine besondere Übergangsregelung der Mitarbeiter wöhnliche Sitzung für mich: Ich höre die Aufforderung der Eisen- und Stahlindustrie erforderlichen Mehr- der Bundesregierung an die Stahlunternehmer, mehr ausgaben von 1 Milliarde DM über Jahre hinaus nicht für ihre Arbeitnehmer zu tun, weil sie selbst vor Jahren zu. Die Bundesregierung, Herr Kollege Urbaniak, nicht genügend gespart und zurückgelegt und abge- zerstört die Sozialpläne nicht, sondern sie fordert dazu baut haben. auf, eine neue Sozialplangestaltung vorzunehmen Ich komme aus einer Region, in der wir mit Mühe und die Unternehmen mehr zur Kasse zu bitten. Das ist und Not ein Stahlwerk gerettet haben, nein, dabei unsere Forderung am heutigen Tag. sind, es zu retten. Ich weiß, welche Finanzmittel es in diesen Bereichen gibt. Ich muß nicht von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sprechen, nicht von Klöckner. Ich könnte von Krupp der F.D.P. — Hans-Eberhard Urbaniak und Hoesch sprechen. Ich habe die schreckliche [SPD]: Sie treiben die Stahlarbeiter in die Erinnerung an die Stahlwerke der Maxhütte. Der eine Sozialhilfe!) oder andere Betrieb in Salzgitter mag ein bißchen Außer den Montanregionen — nehmen Sie das bitte besser dastehen, auch Thyssen mag ein bißchen zur Kenntnis — sind auch andere Gebiete monostruk- besser dastehen. turiert. Deshalb könnte eine Ausnahme von der Befri- Insgesamt ist es eine ausgesprochen miese Position, stung der Arbeitslosenhilfe unter dem Gesichtspunkt daß jetzt die Bundesregierung sagt: Ihr Unternehmer der Gleichbehandlung wohl nicht nur auf die Arbeit- könnt ja zahlen, wir können ruhig kürzen. nehmer der Eisen- und Stahlindustrie beschränkt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der werden, was noch mehr Geld kosten würde. Darauf PDS/Linke Liste) will ich nur hinweisen. Ich verteidige hier nicht die Unternehmer. Ich frage In den Sozialplänen der Eisen- und Stahlindustrie hier: Kennen Sie wirklich die Finanzlage unserer wird häufig ein bestimmter Prozentsatz des zuletzt Stahlwirtschaft? Wissen Sie, was getan worden ist? verdienten Arbeitsentgelts unter Anrechnung der Wissen Sie auch, daß diese Stahlwirtschaft in den Arbeitslosenhilfe garantiert. Dabei gehen die Sozial- Zeiten, als sie hochprofitabel war, auch entspre- pläne von einem im wesentlichen unverände rten chende Beiträge nach Brüssel abgeführt hat, um dort Fortbestand des Rechts der Arbeitslosenhilfe aus. den Fonds aufzubauen, damit wir in späteren Zeiten Bereits 1986 hat das Bundessozialgericht zum noch Umstrukturierungsmaßnahmen durchführen Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz entschie- können? den, daß der Bezieher von Arbeitslosenhilfe mit Ein- Es ist doch nicht so, daß die Unternehmer nur in ihre griffen des Gesetzgebers in den Bestand des Tasche gewirtschaftet haben. Aber gut, es ist ganz Anspruchs rechnen muß. schön, wenn ein Sozi auch einmal für die Unternehmer Das Bundessozialgericht hat aber auch festgehal- spricht. ten, daß die Arbeitslosenhilfe Elemente einer Fürsor- Wissen Sie, was mir in der ganzen Debatte auffällt? geleistung enthalte, so daß bei Fortfall dieses Ich wollte eigentlich mehr von den Stahlkumpeln Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15737

Hans Koschnick sprechen, aber das machen meine Kollegen gleich — Das ist nicht die Frage. Darf ich Ihnen sagen, was noch. Herr Kollege, Sie haben aus der Betriebsrats- wir erleben? Sie verschieben die Kostenbelastung, sicht gesagt, es sei alles okay. Ich habe noch gut in von der Sie sprechen, auf die Gemeinden. Sie erwar- Erinnerung, was Ihr Bayern mir bei der Maxhütte ten im gleichen Zeitpunkt — ich habe die Worte von gesagt habt. Da klang das ganz anders. Graf Lambsdorff noch im Ohr —, daß die Gemeinden mehr für die Umstrukturierung der Wirtschaft vor Ort Ich schaue mir die F.D.P. an. Da wird ganz freimütig unternehmen. Sie nehmen den Gemeinden aber die gesagt: Wir brauchen einen Anreiz zur Aufnahme von letzten Chancen, Mittel freizumachen, um umstruktu- Arbeit; deswegen muß die Bezugszeit bei der Sozial- rieren zu können. Das kann doch nicht vernünftig hilfe gekürzt werden. Bei heute 7 Millionen Arbeits- sein. losen reden Sie vom Anreiz zur Arbeit! Ein Großteil der Menschen möchte arbeiten, wenn es für sie eine (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Chance gäbe zu arbeiten. Liste) Dann sagt mir die Bundesregierung: Eines können (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Sie sich sicher sein, die kostenlose Arbeitsvermittlung Liste) und Beratung findet weiter statt. Bitte, Herr Staatsse- Mit dieser Begründung für die Kürzung der öffentli- kretär, kommen Sie einmal zu mir nach Bremen, chen Fördermittel wird versucht, die Arbeitslosen als kommen Sie nach Bremerhaven, gehen Sie nach faule Menschen abzustempeln. Ich sage Ihnen: Viele, Wilhelmshaven, gehen Sie meinetwegen auch nach viele Menschen wären froh, wenn sie arbeiten könn- Bayern in die Oberpfalz, und sagen Sie den Leuten ten. einmal: Das, was wir euch anbieten, ist eine kosten- lose Beratung für Arbeitsplätze, die nicht vorhanden (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke sind. Auch dies darf nicht wahr sein. Liste) Ich wollte mich nicht aufregen, aber ich sage Ihnen: Es ist richtig: Sozialpläne gibt es überwiegend in Diese Art von Argumenten, die Sie vorgebracht großen Industrieunternehmen. Das kann gar nicht haben, beweist mir, daß Sie auf einem ganz anderen bestritten werden. Kleine Unternehmen können sie Dampfer sind: Sie wollen eine andere Republik. Sie manchmal nicht finanzieren; sie versuchen, einen wollen die Sozialstaatsposition dieser Republik auflö- anderen Weg zu gehen. Aber es kann doch nicht sen zugunsten einer Position, wie sie sich aus der richtig sein zu sagen: Weil die kleinen Unternehmen gegenwärtigen Situation ergibt. Sozialpläne nicht finanzieren können, müssen alle (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke weniger haben. Was ist das für eine Vorstellung vom Liste) Sozialstaat? Statt dessen müßten wir gemeinsam ver- suchen, die Menschen durch ein Netz sozialer Maß- Darüber werden wir reden, Jahr für Jahr, Tag für Tag. nahmen abzusichern, abzufedern, und wir sollten Ich will keine andere Republik. Ich möchte das, was ihnen nach dem Einbruch ihrer Lebenschancen, den wir gemeinsam — ich sage: gemeinsam — erarbeitet sie als Arbeitslose erfahren haben, nicht noch zusätz- haben, erhalten, damit die Menschen mit einem liche Lasten aufbürden. gewissen Maß an sozialer Sicherheit schwere Lasten mittragen können, die durch Strukturkrisen und Kon- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke junkturkrisen unter Umständen eintreten. Liste) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Sie selbst sagen als Vertreterin der F.D.P., daß ältere Liste) Arbeitnehmer heute keine Ch ance mehr auf dem Arbeitsmarkt haben. Dies gilt aber nicht erst ab Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Peter 55 Jahren, nicht erst ab 52 Jahren. In anderen Berei- Ramsauer, Sie haben das Wort. chen werden Frauen und Männer heute nicht mehr eingestellt, wenn sie 45 Jahre alt sind. Hier liegen Aufgabenfelder für die Sozialpolitik, die wir gemein- Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident! sam angehen müssen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm der (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wer macht die Bundesregierung kann, wenn es wenigstens annä- Tarife?) hernd das notwendige Ausmaß an Einsparungen — Das ist gut! Die Freien Demokraten sagen, das liegt herbeiführen will, am sozialen Bereich nun einmal an den Tarifen, daß sie hinterher zuviel verdienen. nicht vorbeigehen. Um die Größenordnungen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Die Summe der (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wer macht sie gesamten Sozialtransfers beträgt jährlich etwa 1 000 denn?) Milliarden DM. Davon werden durch die Sparmaß- Bei den nächsten Wahlkämpfen reden wir draußen nahmen der Bundesregierung ganze 15 Milliarden einmal darüber, ob Ihr Argument richtig ist, daß DM eingespart. Das ist auf gar keinen Fall, meine jemand, der ein Leben lang gearbeitet hat, am Ende lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, der weniger als in der Mitte seines Lebens haben muß. soziale Kahlschlag, von dem Sie immer sprechen. Angesichts des Specks, den unser gesamtes Sozial- (Beifall bei der SPD — Dr. Gisela Babel system in den vielen guten Jahren in Deutschl and [F.D.P.]: Sie haben die Vorstellung, daß alle angesetzt hat, ist dies ein eher kümmerlicher Beitrag ihre Arbeitsplätze verlieren! — Hans Büttner zu unseren gemeinsamen und unverzichtbaren [Ingolstadt] [SPD]: Unverschämtheit!) Anstrengungen, wieder zu einem soliden Ausgleich 15738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Peter Ramsauer zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückzukeh- gegenüber den Arbeitnehmern, die Sie zu vertreten ren. vorgeben, Gleichheit in der Behandlung walten lassen und nicht die eine Gruppe von Arbeitslosen viel (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) besserstellen als die anderen Arbeitslosen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Bereich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abspeckens gehört es auch, wenn nun durch das der F.D.P. — Hans-Eberhard Urbaniak Erste Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidie- [SPD]: Sie produzieren Arbeitslosigkeit!) rungs- und Wachstumsprogramms eine Befristung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre vorgesehen wird; Meine Damen und Herren, nicht nur mit Blick auf dies ist nur recht und billig. Denn auch von einem diese Arbeitslosen lehne ich weitere Sonderrollen für Sozialstaat, Herr Kollege Koschnick, kann nicht den Stahlbereich ab, sondern auch deshalb, weil die erwartet werden, daß er für den betroffenen Personen- Gründe für jahrzehntelange Sonderregelungen für kreis nach nur fünf Monaten Tätigkeit eine lebens- den Stahlbereich irgendwann als alte Zöpfe abge- lange Einstandspflicht haben soll. schnitten werden müssen. Einige Vorredner haben bereits darauf hingewiesen. Wir wollen keine andere Republik; aber wir wollen einen Wirtschafts- und Sozialstaat, der auf einen Lassen Sie mich als bayerischer Abgeordneter aber vernünftigen Ausgleich hinwirken kann zwischen auch noch auf die besonders schwierige Situation der dem, was erwirtschaftet wird, und dem, was verteilt verbliebenen bayerischen Stahlindustrie eingehen. wird. Sie können es einfach nicht lassen, mehr vertei- Ich habe vollkommen Verständnis für die Ängste und len zu wollen, als erwirtschaftet wird. Das muß man Besorgnisse, die insbesondere die beabsichtigte Befri- Ihnen leider Gottes immer wieder ins Gedächtnis stung der Arbeitslosenhilfe bei vielen Sozialplänern rufen. der Maxhütte in der Oberpfalz auslöst. Diese Befürch- tungen sind aber nur teilweise begründet. Ich glaube auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß mit den nun vorgesehenen Übergangsregelun- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das haben Sie eben aber anders gesagt!) gen die neue Befristung hinreichend abgefedert wird, indem beispielsweise alle Arbeitslosen, die vor dem 1. Januar 1994 das 55. Lebensjahr vollendet haben, Herr Kollege Ramsauer, von der Befristung der Arbeitslosenhilfe ausgenom- Vizepräsident Hans Klein: bitte noch einen Schlußsatz. men werden. Meine Damen und Herren, weitere Ausnahmerege- lungen halte ich schon wegen der finanziellen Aus- Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Ich möchte schlie- wirkungen für inakzeptabel. Besondere Übergangs- ßen mit der klaren Feststellung, daß die vorgesehene regelungen für Arbeitnehmer der Eisen- und Stahlin- Befristung der Arbeitslosenhilfe gerechtfertigt ist. An dustrie, wie sie gefordert worden sind, würden über ihr führt auch für die Stahlindustrie kein Weg vor- die Jahre hinweg rund 1 Milliarde DM zusätzlich bei. erfordern. Dies paßt schon finanzpolitisch nicht in die Ich bedanke mich. Landschaft. Die Kosten für die jetzt vorgesehenen Übergangsregelungen sind ohnehin bereits üppig. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Für die etwa 25 000 begünstigten Arbeitnehmer fallen sie ab 1997 an und haben beispielsweise im Jahr 1998 eine Höhe von 305 Millionen DM, im Jahre 1999 von Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege 365 Millionen DM und im Jahre 2000 von 235 Millio- Helmut Wieczorek. nen DM.

Ich halte eine Sonderbehandlung der von Arbeits- Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Präsi- losigkeit Betroffenen in der Stahlindustrie auch ord- dent! Meine Damen und Herren! Das, was ich mitge- nungspolitisch für nicht mehr zu rechtfertigen. Was bracht habe, ist nicht etwa eine vorbereitete Rede, sollen sich eigentlich arbeitslos gewordene Mitbürge- sondern es ist eine Resolution des Rates der gemein- rinnen und Mitbürger in anderen vom Strukturwandel samen Heimatstadt von Herrn Parlamentarischen gebeutelten Wirtschaftsbereichen denken, die keine Staatssekretär Günther und von mir, die mich vor solchen Bevorzugungen erfahren? einer Stunde erreicht hat. Es ist eine Resolution, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU der Rat gefaßt hat, zwar nicht im Hinblick auf diese sowie bei der F.D.P.) Diskussion, die aber dennoch für diese Diskussion sehr wichtig ist, eine Resolution, in der er sich dagegen Da frage ich auch die vielen Gewerkschaftsfunktio- wehrt, daß der Bund zu Lasten der Gemeinden Kosten näre, die auf der SPD-Bank sitzen: Was sollen die sich verschiebt. Alles das, was wir hier heute nicht eigentlich denken? Ich meine hier beispielsweise die beschließen, hat gleichzeitig Auswirkungen auf die rund 138 000 Menschen im Maschinenbau oder die Städte und Gemeinden dieser Region. 89 000 in der Elektrotechnik, die 84 000 in der Auto- industrie und die 39 000 im Bergbau, die von Mitte Meine Damen und Herren, als wir vor kurzem im 1992 bis Mitte 1993 arbeitslos geworden sind. Haushaltsausschuß versucht haben, noch einmal eine Veränderung herbeizuführen, habe ich schon ge- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das ist - merkt, daß wir auf großes Unverständnis stoßen, das doch das Ergebnis Ihrer Politik!) dadurch begründet ist, daß man von den Dingen selbst — Herr Kollege Urbaniak, da nützt Ihre ganze Aufre zu wenig weiß. Das muß ich auch Ihnen allen, die Sie gung nichts. Sie als Gewerkschaftsfunktionär sollten hier heute für die Koalition geredet haben, wirklich ins Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15739

Helmut Wieczorek (Duisburg) Stammbuch schreiben: Sie wissen nicht, wovon Sie anderen Subventionen nicht fließen würden, hätten reden. wir mit diesen Problemen heute keine Sorge mehr. (Beifall bei der SPD — Dr. Walter Franz (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Rup Altherr [CDU/CSU]: Nur gut, daß Sie es recht Vondran [CDU/CSU]) wissen, dann weiß es wenigstens einer! Das Herr Rexrodt kann sich hier hinstellen und sagen, was tröstet uns sehr!) er will. Wenn er unserem Wirtschaftszweig nicht die Möglichkeit gibt, sich wettbewerbsfähig zu verhalten, — Ich weiß es, und ich bin auch bereit, es sogar Ihnen muß er mit den Folgen leben. zu sagen, obwohl ich weiß, daß es bei Ihnen wenig nützt, Herr Kollege. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Darum geht es hier. Diese Dinge werden hier nicht (Beifall bei der SPD) angesprochen, sondern mit „Blabla" zugedeckt. Es ist bezeichnend, daß zu diesem wichtigen Thema Wenn Sie es fertigbringen, daß wir in Europa eine hier kein Mensch aus der Nordrhein-Westfalen- Situation vorfinden, in der wir nicht gegen die Finanz- Clique, weder von der F.D.P. noch von der CDU, minister der anderen Staaten anproduzieren müssen, gesprochen hat. haben wir keine Sorgen mit Sozialplänen. Was Sie hier tun, ist nichts anderes als eine Verlagerung der (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Uner Kosten zu Lasten der Gemeinden. hört!) Meine Heimatstadt, eine Stadt mit 500 000 Einwoh- Keiner hat auch nur annähernd den Dialekt gespro- nern, hat 240 Millionen DM nur für Sozialhilfe aufzu- chen, den ich hier spreche, der für die Stahlindustrie wenden. Was wir jetzt zusätzlich aufzuwenden haben, typisch ist. Herr Günther hat für die Regierung gespro- werden noch einmal etwa 10 % sein. Gleichzeitig muß chen, er hat nicht für die Koalition gesprochen. Alle diese Stadt in diesem Jahr über 50 Millionen DM betreffenden Kollegen aus den Reihen der Koalition einsparen oder ihre Ausgaben reduzieren. — Ob es haben bei diesem Thema gekniffen, weil sie gesagt noch ein Sparen ist, lasse ich einmal dahingestellt. — haben, es sei schädlich, hierüber zu reden. Sie muß ihre Kosten um 50 Millionen DM reduzieren, um mit den Folgen Ihrer Politik hier in Bonn fertigzu- (Franz Romer [CDU/CSU]: Zur Sache! Sie werden. Diese Dinge haben Sie erst noch alle vor sich. haben nur fünf Minuten!) Sie handeln nach dem Grundsatz: Wir müssen sparen, Wir reden hier doch schlicht und einfach über einen egal, was es kostet. — Aber das nicht mit uns! wirklichen Sondertatbestand, der — Herr Romer, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke wenn Sie einen Moment zuhören, werden Sie es Liste) vielleicht verstehen — aus einem besonderen Kündi- gungsschutz gewachsen ist. Es gibt in der Eisen- und Stahlindustrie — ob wir das wollen oder nicht — eine Regelung, nach der 50jährige, die 15 Jahre einem Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege Unternehmen angehören, nicht kündbar sind. Ein Jochen Feilcke. Sozialplan ist in diesem Fall nichts anderes als das (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Jetzt Abkaufen der Unkündbarkeit gegen Zahlung von spricht ein Berliner zur Montanindustrie! Geld in einem Anpassungszeitraum. Dies ist eine Jetzt kommt der Stahlexperte!) Situation, die dazu führt, daß jüngere Leute, die wir doch in den Unternehmen brauchen, in den Unterneh- men auch bleiben können. Jochen Feilcke (CDU/CSU): Herr Urbaniak, ich will (Zuruf von der CDU/CSU: Erzählen Sie das mich bemühen, eine vernünftige Rede zu halten. Ich Ihren Kollegen!) wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir dabei so zuhörten, wie ich Ihnen bei Ihren unsachlichen Reden zu Berlin Was wir jetzt tun müssen, ist schlicht und einfach: zugehört habe. Ich muß die 53jährigen im Betrieb behalten und dafür den 36jährigen deutschen Familienvater mit einem (Beifall bei der CDU/CSU) oder zwei Kindern entlassen. Ich muß dafür — das ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! in der Sozialauswahl richtig so — dem türkischen Der Anlaß ist wirklich eine sehr ernster. Ich finde, es Mitarbeiter den Arbeitsplatz erhalten. Darum geht es gibt selten einen so triftigen Grund für eine Aktuelle hier! Es geht darum, daß wir hier einen vernünftigen Stunde wie heute. Ich habe mich allerdings über den Ausgleich schaffen. Beitrag von Herrn Kollegen Wieczorek sehr gewun- dert. Wenn es sich wirklich nur um die Frage der Es geht darum, daß wir hier die soziale Flankierung Kostenverschiebung handelte, dann wären die sozia- für einen Tatbestand schaffen, den uns der Bundes- len Tränen von Herrn Urbaniak soziale Krokodilsträ- wirtschaftsminister eingebrockt hat. nen gewesen. Denn dem Arbeitnehmer ist es doch egal, von welcher Stelle er sein Geld bekommt, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Widerspruch bei der F.D.P.) (Widerspruch bei der SPD) - Wenn der Bundeswirtschaftsminister, Herr Kollege, es wenn er es denn bekommt. geschafft hätte, daß sich die Stahlbranche so am Markt Ich habe den Eindruck, daß Sie hier ein Thema behaupten könnte, wie sie es könnte, wenn die suchen, um einen sogenannten heißen Herbst zu 15740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Jochen Feilcke inszenieren. Es ist ja auch kein Zufall, daß heute kann die Arbeitslosenhilfe ansonsten nicht an jeman- „spontan" die Arbeit niedergelegt wird. den weitergezahlt werden, der ganz eindeutig der (Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) Vermittlung nicht mehr zur Verfügung steht. Es ist ja eine Erfahrung, die jeder von uns macht, daß die Vermittelbarkeit von Arbeitnehmern im Laufe der Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Kol- Jahre abnimmt, daß im Laufe des Berufslebens, des lege Feilcke! Ich wollte dem Kollegen Stiegler nur Erwerbslebens die Chancen leider unterschiedlich sagen, daß in der bayerischen Verfassung steht, daß sind und am Ende zweifelsohne schlechter werden. niemand seiner Herkunft wegen diskriminiert werden Es sollte auch in Zukunft mit dem Ins tr darf. ument von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gearbeitet werden, und Sozialpläne sollten sich auch in Zukunft Jochen Feilcke (CDU/CSU): Aber, Herr Präsident, darauf stützen können, nur eben nicht lebenslang. auch nicht begünstigt. Es darf auch keine Besserstellung der Stahlindustrie Meine Damen und Herren von der SPD, liebe gegenüber anderen Industriezweigen geben, andere Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten wirklich nicht Kollegen haben schon darauf hingewiesen. Denn das den Versuch unternehmen, die berechtigten Sorgen wäre doch nichts anderes als eine Vergesellschaftung der Arbeitnehmer zu instrumentalisieren. Sie sollten der Umstrukturierungskosten. Wenn alle in Deutsch- nicht den Versuch unternehmen, so etwas wie einen land sparen und oft erhebliche Opfer bringen, dann heißen Herbst zu inszenieren. Ich glaube, das Thema kann eine solche Privatisierung der Gewinne und eignet sich dafür nicht. Vergesellschaftung der Verluste, wie Sie sonst sagen, (Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) nicht geduldet, nicht hingenommen und übrigens auch nicht finanziert werden. — Liebe Hamburgerin, ich finde, Sie sollten hier nicht so blasierte Zwischenrufe machen. Meine Damen und Herren, die Tarifautonomie, die insbesondere von den Gewerkschaften und von der (Beifall bei der CDU/CSU) SPD wie ein Heiligenbild getragen wird, sollte auch Sie sollten sich mit uns gemeinsam darum bemühen, dann gelten, wenn es darum geht, in eigener Verant- die Landesregierung des Saarlandes und die Landes- wortung zu handeln — dies heißt im übrigen auch: auf regierung von Nordrhein-Westfalen an einen Tisch zu eigene Rechnung —, also auch dann, wenn der Staat bringen, damit sie gemeinsam mit den Tarifvertrags- als stiller Teilhaber nicht mehr dabeisein kann. parteien zu neuen Konzeptionen bei der Ausgestal- Es darf doch nicht länger möglich sein, daß die tung von Sozialplänen kommen. Steuern der Allgemeinheit eine feste und unbefristete Ich sage ausdrücklich: Ich finde, wir stehen vor einer Größe in der Personalpolitik der Unternehmen dar- schwierigen Situation, vor einer fast unlösbaren Situa- stellen. Ich finde, meine Damen und Herren, wir tion: Auf der einen Seite geht es um die ordnungspo- sollten hier den Versuch unternehmen, zu einer sach- litisch zweifelsohne saubere Lösung, auf der anderen lichen Lösung des Problems zu kommen. Niemand Seite aber eben auch um die Entlastung des Bundes- von uns sollte dem anderen unterstellen, daß er mit der haushalts und darum, daß die be troffenen Arbeitneh- Arbeitslosigkeit operiere. mer nicht zu kurz kommen, im Gegenteil, daß ihnen Ich bitte Sie von der Opposition, die Sie dieses geholfen wird, was jedenfalls wir Sozialpolitiker auf Thema zu Recht auf die Tagesordnung gebracht unsere Fahnen geschrieben haben. Es darf doch nicht haben, bei Ihrer Argumentation zu bedenken, daß sein, daß jemand nach 35 Jahren harter Arbeit am auch die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition Ende in der Sozialhilfe landet, was niemand will. alles andere wollen, als daß in Deutschland soziale (Widerspruch bei der SPD) Kälte einzieht. Erlauben Sie mir eine persönliche Anmerkung Vielen Dank. dazu. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zurufe von der SPD) — Also, ich kann Ihnen wirklich ein Geheimnis verraten: Es ist sehr viel besser, auf das, was ich sage, Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Hans Büttner einzugehen, als perm anent dazwischenzureden. Ver- hat das Wort. suchen Sie doch, eine Minute aufmerksam zu sein und mir zuzuhören! Ich will doch wirklich den Versuch machen, zu argumentieren. Ich weiß nicht, warum Sie Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Präsident! eine Aktuelle Stunde ansetzen, die Sie nur dazu Meine Damen und Herren! Auch die letzte Rede, die benutzen wollen, hier zu krakeelen. Versuchen Sie von Herrn Feilcke, zeigt, so leid es mir tut, wenig doch einmal, zuzuhören. Verständnis für die Menschen, die in diesem L and (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zwar arbeiten wollen, aber arbeitslos werden, keinen Arbeitsplatz mehr bekommen und damit aus dieser Ich bin der Auffassung, man sollte mindestens Gesellschaft ausgegrenzt werden. darüber nachdenken, ob nicht auch der Arbeitslosen- hilfeanspruch gestaffelt werden kann, in welcher (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Weise auch immer. Auf jeden Fall könnte das Ergeb- Liste) nis am Ende sein, daß jemand, der ein gewisses Heute früh haben wir in einer längeren Debatte vom Lebensalter erreicht hat, eben nicht automatisch nach Bundeskanzler und von Vertretern aus Ihren Reihen einer gewissen Zeit herausfällt. Auf jeden Fall aber gehört, daß wir in diesem Land einen Strukturwandel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15741

Hans Büttner (Ingolstadt) brauchen. Angesichts dieses Strukturwandels, den Die Versicherungsbeiträge von Arbeitnehmern in der wir brauchen, kündigt die Stahlindustrie — das ist Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sind gestern bekanntgeworden — einen Abbau von 37 000 nicht Verfügungsmasse dieser Regierung und ihrer Stellen an. Die DASA hat gestern einen Stellenabbau Politik. in Höhe von 16 000 angekündigt, die Automobilin- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke dustrie einen von mehr als 100 000. Und in dieser Zeit Liste) verabschiedet sich der Staat durch die Begrenzung Sehr geehrte Damen und Herren, diese Kürzung der Arbeitslosenhilfe von einem sozialverträglichen der Arbeitslosenhilfe und des Arbeitslosengeldes — Strukturwandel in diesem Lande. meine Kollegen haben schon darauf hingewiesen — (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke ist nach den Berechnungen des Ins tituts für Arbeits- Liste) markt- und Berufsforschung in der Tat nichts anderes Ich sage mit aller Deutlichkeit: Solche Sozialver- als eine Verlagerung der Kosten auf die Kommunen, träge wie im Stahlbereich gibt es auch in anderen denen Sie damit jede weitere strukturelle Begleitung Bereichen. von Umstrukturierung und Strukturreform in der Wirt- schaft unmöglich machen. Eine solche Idio tie ist mir in (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wo einer wirtschaftspolitischen Debatte noch selten vor- denn noch?) gekommen, vor allem von Leuten, die vorgeben, sie — Die gibt es in der Mineralölindustrie, auch in würden etwas von Strukturwandel verstehen. Von Bauunternehmen und anderen Bereichen. daher wundert es mich nicht, daß sich keiner Ihrer Kollegen aus Nordrhein-Westfalen in diese Debatte (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Aber traut. Diese Kollegen wissen nämlich, daß do rt in den nicht in dieser Form!) letzten 30 Jahren Strukturwandel sozialverträglich Ich kann sie Ihnen aufzählen. Auch da sind unter vonstatten gehen konnte, und sie haben anscheinend 55jährige vorhanden. Sie müssen sich einmal umse- noch so viel Verantwortung, daß sie verhindern wol- hen, wenn Sie darüber reden wollen. len, daß dieser Staat bei 7 Millionen Arbeitslosen an die Wand gefahren wird, wie Sie das mit Ihrer Politik (Beifall bei der SPD) betreiben. Der Stahlbereich aber ist deswegen ein herausra- (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann gender Bereich, weil er — aus gutem Grund — auch [CDU/CSU]: Schreien Sie immer so laut?) mit EG-Mitteln flankiert wird. Es ist irrsinnig, daß diese Regierung die Sozialplanmöglichkeiten kaputt- Herr Kollege Büttner, macht und damit gleichzeitig darauf verzichtet, dafür Vizepräsident Hans Klein: einen Moment! Engagement, Leidenschaft und auch aus dem EG-Bereich Gelder zurückzubekommen. Lautstärke gehören zu unserem parlamentarischen Das, was man hier auf den Tisch gelegt bekommt, ist Geschäft. Aber in der Wortwahl sollten wir vielleicht ein irrsinniges Handeln. doch etwas zurückhaltender sein. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Okay, ich nehme Schlimm ist vor allem, daß Koalition, Regierung und das Wort „Idiotie" zurück — alle, die Sie hier geredet haben, nicht davor zurück- scheuen, in bestehende Verträge und Sozialpläne Vizepräsident Hans Klein: Okay. rückwirkend einzugreifen und damit einen erhebli- chen Vertrauensbruch zu begehen. Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): — und ersetze es Ich will das am Beispiel der Maihütte, die hier schon durch „Unfähigkeit". angesprochen wurde, darstellen — ich darf aus einem Schreiben zitieren, das mir die Sozialplaner zuge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schickt haben —: Die vorliegende Beschlußvorlage Sehr geehrte Damen und Herren, das Schlimme an der Regierungskoalition sieht vor, die Betroffenen in dieser Situation ist weiter, daß die Bundesregierung zwei Klassen zu teilen: in die über 55jährigen, die, wie anscheinend ihren eigenen Aussagen in den Aus- geplant und vertraglich zugesichert, bis zur Errei- schüssen nicht folgt. Gestern hat Herr Ammermüller chung des Rentenalters Arbeitslosenhilfe erhalten, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zumindest und in die jüngeren — ca. 600 — Kollegen, die darauf hingewiesen, daß eine Ausweitung der Fort- entsprechend der Vorstellung der Bundesregierung in zahlung der Arbeitslosenhilfe auf bis zu 52jährige, die die Sozialhilfe fallen, obwohl sie die gleiche Vertrags- in dieser schwierigen Phase des Strukturwandels mit treue erwarten wie ihre älteren Kollegen. Sicherheit nicht nur bei Stahl, sondern auch in ande- ren Bereichen notwendig und möglich wäre, 600 Mil- Ich sage Ihnen, woher es kommt, daß Sie so leicht- lionen DM zusätzlich kosten würde, 200 Millionen DM fertig über Verträge hinweggehen. Sie haben nämlich mehr als die von Ihnen jetzt beschlossene Ergänzung ein ganz gestörtes Verhältnis zu den Eigentumsrech- auf bis zu 55jährige. Wenn Sie dafür kein Geld haben, ten der Arbeitnehmer. Anders nämlich ist Ihre Aus- aber vorher mit uns zusammen beschlossen haben, sage, im Sozialbereich stünde eine Verteilungsmasse daß Sie 1,5 Milliarden DM mehr für die agrarsoziale von 1 Billion DM zur Verfügung, nicht zu interpretie- Sicherung ausgeben, dann frage ich mich, wie Sie sich ren. draußen im Lande vor die Arbeitnehmer hinstellen (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sagen Sie einmal und sagen wollen: Dafür ist kein Geld da. Wissen Sie, etwas zur Arbeitslosigkeit im Osten!) was Sie tun? Sie wollen durch Spalten in dieser 15742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Hans Büttner (Ingolstadt) Gesellschaft dafür sorgen, daß die Gesellschaft gegen zuweichen, der nach der Hochrüstung des Irak durch die Wand gefahren wird. deutsche Firmen mühsam erreicht werden konnte. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist ja Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, wohl nicht wahr! Schreien Sie immer so?) daß sich die Bundesregierung trotz vielfältiger Hin- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. weise auf illegale Rüstungsexportaktivitäten lange Zeit taub gestellt und alle Verbesserungsvorschläge (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke in den 80er Jahren in den Wind geschlagen hat. Liste) Allzulange wollte sie keine Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, daß es für kriminelle Waffenschieber Vizepräsident Hans Klein: Die Aktuelle Stunde ist und Rüstungsexporteure in der Bundesrepublik ein beendet. leichtes war, an den Behörden vorbei Exportverbote zu unterlaufen und vor allem Massenvernichtungs- technologien in Staaten zu exportieren, die damit Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: nichts Gutes im Schilde geführt haben. Weder die Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- illegale deutsche Mithilfe beim Bau der pakistani- ten Hermann Bachmaier, Wolfgang Roth, E rnst schen Atombombe noch der kriminelle Export einer Schwanhold, weiterer Abgeordneter und der Giftgasfabrik nach Libyen haben bewirkt, daß unsere Fraktion der SPD laschen Gesetze und unsere damals fast nicht vorhan- Rüstungsexport-Kontrollpolitik dene Exportkontrolle nachhaltig verbessert worden — Drucksachen 12/3229, 12/4241 — wären. Überführte Täter wie der smarte Herr Hippen- stiel-Imhausen konnten ihre millionenschweren Ge- Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion winne in Sicherheit bringen und hatten lediglich eine der SPD vor. unangemessen niedrige Freiheitsstrafe zu erwarten. (Große Unruhe) Erst nachdem während und nach dem Golfkrieg — Darf ich um gewogene Aufmerksamkeit — auch im immer deutlicher wurde, daß es vorwiegend deutsche liberalen Kreis — bitten! Exporteure waren, die Saddam Hussein mit den Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gefährlichsten Massenvernichtungstechnologien aus- Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen gerüstet hatten, waren CDU/CSU und F.D.P. bereit, erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so endlich zu handeln und wirksamere Maßnahmen beschlossen. gegen die Händler des Todes zu ergreifen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat Herr (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Selten so einen Kollege Hermann Bachmaier. Unsinn gehört!) — Doch, so ist es gewesen. Herr Beckmann, Sie wissen das sogar noch besser als andere. — Hermann Bachmaier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kommt nicht von ungefähr, (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Eben deswe daß sich die Bundesrepublik in den zurückliegenden gen!) Jahren zu einem der größten Rüstungsexporteure der So haben heute endlich diejenigen, die noch immer Welt entwickelt hat. Nach den vom unabhängigen illegal Waffen und Rüstungsgüter verschieben, mit Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI veröf- wesentlich höheren Strafen zu rechnen. Auch wurde fentlichten Zahlen betrug das Rüstungsexportvolu- nach dem unverantwortlichen Schlendrian der 80er men der Bundesrepublik Deutschland im vergange- Jahre — dabei bleibe ich — die Genehmigungs- und nen Jahr rund 3,1 Milliarden DM. Damit liegen wir an Kontrolldichte erst in den letzten Jahren verbessert. der Spitze aller europäischen Staaten und weit vor so Allerdings haben nach wie vor diejenigen, die sich mit klassischen Rüstungsexportländem wie Frankreich ihren skrupellosen Geschäften vor und während des oder Großbritannien. Golfkrieges eine goldene Nase verdient haben, noch immer mit äußerst geringen Strafen zu rechnen, denn Beunruhigend ist dabei, daß die Bundesrepublik auf sie kommen nach wie vor in den häufigsten Fällen ganz offensichtlich auch eine immer größere Rolle als lediglich die alten und völlig unzureichenden Straf- Exporteur konventioneller Waffen spielt und damit vorschriften zur Anwendung. auch wirtschaftlich immer abhängiger von der Rüstungsproduktion wird. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bachmaier, Die Jahre der konservativ-liberalen Regierung sind gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kop- — dies muß man leider feststellen — auch eine Zeit der pelin? Rüstungsexportskandale: Waren es in der zweiten Hälfte der 80er Jahre und in den beginnenden 90er Jahren vor allem die ans Licht gekommenen kriminel- Hermann Bachmaier (SPD): Ja. len Rüstungsexporte, so sind es heute die zunehmen- den legalen Ausfuhren von Rüstungsgütern, insbe- Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr. sondere die Exportaktivitäten der Bundesregierung selbst, die uns immer größere Sorge bereiten. Dazu Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Kollege, da Sie kommen noch die schwierigen Probleme, die sich im vorhin, gleich in der Einleitung Ihrer Rede, davon Rahmen der angestrebten Vereinheitlichung des - sprachen, daß wir an der dritten Stelle der Rüstungs- europäischen Rüstungsexportkontrollrechtes erge- exporteure in der Welt seien — was ich nicht ben. Darüber hinaus gibt es immer wieder Versuche bestreite —, darf ich Sie in diesem Zusammenhang von Politik und Wirtschaft, den Kontrollstandard auf fragen, ob Sie mir Auskunft geben können, ob wir Deutscher Bundestag — 12. 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Jürgen Koppelin dann, wenn wir, wie der Ministerpräsident von Nie- — Lesen Sie es genau nach oder hören Sie genau hin; dersachsen es gewollt hätte — wogegen ich übrigens dann werden Sie merken, daß hierin kein Wider- nichts gehabt hätte —, U-Boote nach Taiwan geliefert spruch steckt. hätten, an die zweite Stelle gerückt wären. Die bitteren Erfahrungen in den zurückliegenden Jahren, vor allem der Export der Giftgastfabrik nach Libyen — darauf muß ich immer wieder hinweisen, weil daraus zunächst keine hinreichenden Konse- Hermann Bachmaier (SPD): Wir sind ohnehin fast an quenzen gezogen wurden — und die mit massiver der zweiten Stelle. SIPRI geht davon aus, daß wir deutscher Beteiligung erfolgte Hochrüstung des Iraks, dann, wenn die Daten der früheren UdSSR, auf das sollten uns Mahnung genug sein, in Zukunft alles heutige Rußland bezogen, richtig gerechnet werden, daran zu setzen, legale wie illegale Rüstungsexporte bereits an zweiter Stelle liegen. Dessenungeachtet mit allen erdenklichen Mitteln einzuschränken bzw. habe ich nie einen Hehl daraus gemacht, Herr Kop- ganz zu verhindern. pelin, daß ich und meine Fraktion die Ansicht des niedersächsischen Ministerpräsidenten nie geteilt Der wirtschaftliche Exporterfolg Japans zeigt doch, haben, und dies haben wir auch mit aller Deutlichkeit daß ein modernes Industriel and es nicht nötig hat, ja, gesagt. daß es seiner Entwicklung buchstäblich im Wege stehen kann, sich von der Rüstungsindustrie und dem (Gerlinde Hämmerle [SPD]: So mutig sind Export von Rüstungsgütern wirtschaftliches Wohler- wir, Herr Koppelin!) gehen zu erhoffen. Hätten Sie, meine Damen und Herren der Regie- (Beifall bei der SPD) rungskoalition, nicht so lange gezögert und rechtzei- tig die überfälligen Konsequenzen gezogen, dann Wie viele Beispiele zeigen, ist eher das Gegenteil der wäre manche der kriminellen Machenschaften ver- Fall. Deshalb ist auch die deutsche Exportindustrie, hindert worden. Wie dicht allerdings das im vergan- insbesondere im Bereich des Maschinen- und Anla- genen Jahr neu geknüpfte Netz verschärfter Geneh- genbaus, gut beraten, wenn sie konstruktiv daran migungs- und Kontrollpflichten ist —lange genug hat mitwirkt, daß sogenannte Dual-use-Güter nicht in die es ja gedauert —, wird sich erfahrungsgemäß erst zu falschen Hände kommen und — wie im Irak und einem späteren Zeitpunkt zeigen, wenn übersehen andernorts geschehen — zum Aufbau von Massenver- werden kann, ob und in welchem Umfang sich Umge- nichtungstechnologien genutzt werden. hungspraktiken in den einschlägigen Kreisen entwik- Meine Damen und Herren, unerträglich ist es, daß kelt und herumgesprochen haben. die Bundesregierung nach wie vor, wie die von SIPRI Neben internationalen Kooperationsprojekten bie- veröffentlichten Daten und viele Einzelbeispiele zei- ten vor allem auch die mittlerweile weggefallenen gen, eine expansive Rüstungsexportpolitik betreibt. Grenzkontrollen in Europa die Möglichkeit, die bei Die Bundesregierung schert es offensichtlich wenig, uns geschaffenen Exportbeschränkungen zu unter- ob sie eine Fabrik für Kampfstiefel nach Birma, laufen. Wenn man bedenkt, daß — wie dies ja die Kriegsschiffe nach Indonesien und massenhaft NVA- Bundesregierung in der Antwort auf unsere Große Material in die Türkei liefert. Wie man weiß, sind dies Anfrage bestätigt hat — ca. 70 % aller Rüstungsvorha- Länder, denen bei der Einhaltung der Menschen- ben im Rahmen von Kooperationsvereinbarungen vor rechte ein äußerst zweifelhafter Ruf anhaftet. allem auch mit anderen Staaten durchgeführt werden, Viele Beispiele des legalen Rüstungsexports bele- dann kann man erahnen, welche ungeheuren Mög- gen, daß die Bundesregierung zwar die Kontrollme- lichkeiten sich daraus für den Export von Rüstungsgü- chanismen gegen illegale Rüstungsexporte verschärft tern ergeben, auch wenn diese Exporte nach deut- hat — dies ist unbestritten; ob sie wirksam sind, wird schem Recht nicht gewollt sind. sich, wie gesagt, noch zeigen —, aber selbst mit Vor allem in diesem Bereich müssen dringend auch denkbar schlechtestem Beispiel vorangeht, wenn es die vom April 1982 stammenden „Politischen Grund- gilt, Rüstungsexporte einzuschränken. sätze der Bundesregierung für den Export von Kriegs- Ich habe bei den vielen Diskussionen im Bundestag waffen und sonstigen Rüstungsgütern" nachgebessert über immer neue Rüstungsexportskandale schon werden, um derartige Umgehungsmöglichkeiten des mehrfach darauf hingewiesen, daß den kriminellen deutschen Genehmigungs- und Kontrollrechts zu Rüstungsexporteuren nur dann wirksam das Hand- unterbinden. Wir benötigen dringend ein einheitli- werk gelegt werden kann, wenn die Bundesregierung ches europäisches Rüstungsexportkontrollrecht und endlich auch den legalen Rüstungsexport ein- auch eine einheitliche europäische Genehmigungs- schränkt. Das Gegenteil aber ist leider der Fall. und Kontrollpraxis. Darüber sind wir uns einig. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das stimmt doch Keinesfalls aber meine Damen und Herren, können nicht!) wir es hinnehmen, daß auf dem Wege über einheitli- che europäische Richtwerte der mittlerweile erreichte Legale und illegale Rüstungsexporte sind — darüber bundesrepublikanische Standard schon wieder zur sollten wir uns doch einig sein — nur die jeweils Disposition gestellt wird, obwohl es an diesem Stan- andere Seite derselben Medaille. dard, wie wir immer wieder betont haben, noch sehr, Ein erster und unseres Erachtens sehr wirksamer sehr viel zu verbessern gilt. Schritt wäre es, wenn endlich, wie wir Sozialdemokra- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Merken Sie nicht, ten dies in unserem heutigen Antrag — übrigens zum wie Sie sich widersprechen?) wiederholten Male — fordern, ein weitgehendes 15744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Hermann Bachmaier Rüstungsexportverbot im Grundgesetz verankert — Richtig. Aber Sie wissen, was in diesen Daten alles werden würde. enthalten ist, nämlich NVA-Material und vieles Einig sollten wir uns auch darin sein, für Rüstungs- andere mehr. exporte keinerlei öffentliche Mittel, auch keine Her- (Hermann Bachmaier [SPD]: Schlimm ge mes-Bürgschaften, zur Verfügung zu stellen. nug, daß Sie es international auf diese Weise (Beifall bei der SPD) verscherbeln!) Es müßte auch eine ganz selbstverständliche Pflicht Wirksame staatliche Kontrollen des Exports von der Bundesregierung und des Bundestages sein, auf Rüstungsgütern und Produkten, die zur Waffenher- der Basis eines von der Bundesregierung alljährlich stellung genutzt werden, sind ein Prüfstein glaubwür- vorzulegenden umfassenden Rüstungsexportberichts diger Friedens - und Sicherheitspolitik. Ich glaube, alle Fragen zu diskutieren und die notwendigen dem kommt die Bundesregierung nach; denn darin Schlußfolgerungen zu ziehen, die sich aus der jeweils sind wir alle — die Koalition und auch die Opposi- neuesten Entwicklung der illegalen und der legalen tion — uns einig. Rüstungsexportaktivitäten des Vorjahres ergeben. Es Nicht zufällig allerdings debattieren wir gerade geht nicht an, meine Damen und Herren, daß wir diese heute über die deutsche Rüstungsexportkontrollpoli- grundlegenden Probleme immer nur dann erörtern, tik im Zusammenhang mit der Diskussion über den wenn wieder ein spektakulärer Skandal das Licht der Wirtschaftsstandort Deutschland, die heute stattge- Öffentlichkeit erblickt hat; funden hat. Wir wissen: Deutschland ist in besonderer (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: So ist Weise ein exportabhängiges Land. Besonders der es!) Außenhandel leidet gegenwärtig unter der anhalten- den weltweiten Rezession und auch unter besonderen denn dann ist es ja meistens schon zu spät, wie wir an Problemen, die wir speziell in Deutschland haben. den Fällen, die ich geschildert habe, ja deutlich genug erleben konnten. Von Januar bis Mai dieses Jahres sanken die Ausfuhren im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um Unser Ziel muß es sein, dem Wohlergehen der 40 Milliarden DM. Der Bundesverband des Deutschen Menschen dienende Güter zu exportieren, nicht aber Groß- und Außenhandels befürchtet auf Grund der Waffen und Rüstungstechnologien, die letztlich nur nachlassenden Konjunktur und der schlechten St and- Unheil bringen und uns mittelbar oder unmittelbar in ortbedingungen den Verlust von 250 000 bis 270 000 kriegerische Auseinandersetzungen verstricken. Arbeitsplätzen. — Vielleicht sollte Herr Bachmaier Dies ist ein Gebot für die Bundesrepublik, die sich einmal einen Beratungsvertrag dort abschließen, weiß Gott auf anderem Wege international Ansehen denn er hat ja wohl die Lösung. — Jüngstes alar- erwerben könnte, statt immer wieder erneut in Krisen- mierendes Beispiel ist die DASA. Das ist die Lage. gebiete Waffen zu liefern, Was ist zu tun? Auch in der SPD-Opposition hat sich (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, wenn auch nicht!) nicht bei allen, daß die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit etwas mit wie dies auch die Beispiele gezeigt haben, die ich hier Wettbewerbsfähigkeit deutscher Industrie, mit Füh- geschildert habe. rungsrollen in Forschung und Technologie zu tun hat. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Auch die SPD fordert natürlich die Erhaltung und die Stärkung des Standorts Deutschl (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ and als Grundlage von Wachstum und Wohlstand für alle. CSU: Das stimmt doch alles nicht!) Gleichwohl suggeriert die SPD in ihrer Großen Anfrage an die Bundesregierung, die Rüstungsexport- kontrollpolitik der Bundesrepublik sei unzureichend Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Peter Kittel- und müsse noch weiter verschärft werden. Wie paßt mann, Sie haben das Wort. das zusammen? (Zuruf von der CDU/CSU: Peter, stell das Das bestehende deutsche Rüstungsexportkontroll- jetzt mal richtig! — Dr. Elke Leonhard regime gehört unbestritten zu den schärfsten und Schmid [SPD]: Der kann es nicht richtigstel effektivsten in der Welt. len!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutschland hat von Anfang an auf die Herstellung Peter Kittelmann (CDU/CSU): Herr Präsident! und den Besitz von A-, B- und C-Waffen verzichtet, Meine Damen und Herren! Herr Bachmaier, Sie den Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen sowie haben wieder ein Beispiel gegeben, wie man Statisti- die internationale Konvention zur Ächtung von biolo- ken, obwohl man sehr viel mehr darüber weiß, hier so gischen Waffen ratifiziert und sich als bisher einziger darstellt, daß ein falscher Eindruck entsteht. Aber da Staat der Welt internationalen Überprüfungen hin- wir das bei Ihnen gewohnt sind, brauche ich das nicht sichtlich der Herstellung von chemischen Waffen vor zu vertiefen. - Ort unterworfen. (Hermann Bachmaier [SPD]: Ich habe nur Nach der verbrecherischen Beteiligung deutscher SIPRI-Daten wiedergegeben! Das wissen Sie Firmen am Bau der Giftgasfabrik in Libyen hat die ganz genau!) Bundesregierung seit 1989 das System der deutschen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15745

Peter Kittelmann Exportkontrollen in mehreren Schritten rigoros refor- Fertigkeiten zu erhalten. Diese gesamtwirtschaftlich miert und verschärft. — Wenn man Sie hört, könnte schädlichen Auswirkungen einer isolierten Export- man glauben, dies sei alles nicht geschehen, Herr kontrollpolitik beklagen im übrigen nicht nur die Bachmaier. — Damit hat sie nicht zuletzt auch einem Unternehmen, sondern immer stärker auch die starken internationalen Anliegen Rechnung getra- Gewerkschaften und die Arbeitnehmer und im übri- gen. Das war gut so, und das war beispielhaft. gen vor Ort insbesondere auch die SPD. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Aha, das ist ja interessant!) Leider war die Vorbildwirkung gerade bei vielen Angesichts der engen Verflechtung der Weltwirt- ebenfalls exportorientierten Staaten, die vorher laut schaft gibt es aus diesem Dilemma nur einen Ausweg: „Haltet den Dieb! " gerufen haben, nur sehr gering. Rüstungsexportkontrollpolitik muß zu einem gemein- (Zuruf von der F.D.P.: Die denken nicht im samen Anliegen aller exportierenden Länder und Traum daran!) damit internationalisiert werden. Nationale Anstren- gungen allein bleiben letztlich wirkungslos. Wer kann bestreiten, daß staatliche Gebote und Verbote beim Export in einer offenen Marktwirtschaft Herr Kollege Kittelmann, unmittelbare Auswirkungen auf die Wettbewerbsfä- Vizepräsident Hans Klein: gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bach- higkeit und auf den Erhalt von Arbeitsplätzen haben? maier? Dabei ist weniger der Bereich problematisch, der unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fällt, als viel- mehr der nahezu unübersehbare Bereich jener Pro- Peter Kittelmann (CDU/CSU): Bitte. dukte, die sowohl militärisch wie zivil genutzt werden können. Darüber haben Sie sich fast gar nicht ausge- Hermann Bachmaier (SPD): Herr Kittelmann, ist lassen, Hen Bachmaier. Fließdrückmaschinen, Pflan- Ihnen bekannt, daß Japan praktisch überhaupt keinen zenschutzmittel, bestimmte Stähle, sogar Lastkraft- Rüstungsexport be treibt, und ist Ihnen auch bekannt, wagen können plötzlich zu einem Exportrisiko und zu daß Japan daraus überhaupt keine Wettbewerbs- einem Unsicherheitsfaktor für die Unternehmen wer- nachteile zieht, sondern daß das Gegenteil der Fall ist, den. Gerade in diesem heiklen Bereich der sogenann- wie man an den ständig steigenden Exportbilanzen der Japaner sehen kann? ten Dual - use - Produkte kommt es darauf an, Wettbe- werbsnachteile zu vermeiden. Dazu gehört zunächst, (Zuruf von der F.D.P.: Die arbeiten auch daß bürokratische, lange und unberechenbare Ge- mehr!) nehmigungsverfahren und Kontrollhürden soweit wie möglich vermieden werden. Die von der Bundesregie- Peter Kittelmann (CDU/CSU): Herr Bachmaier, jede rung hierzu getroffenen Maßnahmen tragen diesem Zwischenfrage birgt das Risiko, daß sie, kurz aus dem Anliegen Rechnung. Ich will hier nur auf die spürbare Zusammenhang gerissen, Tatsachen verschweigt. Verbesserung der personellen Ausstattung des Bun- Japan hat in ganz bestimmten Bereichen High-tech desausfuhramtes von 70 auf 392 Stellen hinweisen. Industrie, bei der die deutsche und die europäische 80 % der Genehmigungsanträge werden schnell ent- Industrie die 70er Jahre verschlafen haben. Das gilt schieden, und zwar, wie ich erfahren habe, innerhalb vor allem für die Jahre, in denen Sie regierten. Die von 48 Stunden. Über die restlichen 20 % müssen wir Folgen davon bekommen wir heute noch zu spüren. uns noch mit der Regierung unterhalten. Wir wollen (Hermann Bachmaier [SPD]: Und ich habe wissen, welche das sind und warum sie so lange gedacht, das sei vorwiegend in den 80er dauern. Jahren gewesen!) Aber wer kann leugnen, daß die Ausgestaltung der Besonders dringlich ist eine abgestimmte und har- Rüstungsexportkontrollen gleichwohl unmittelbare monisierte Rüstungsexportkontrollpolitik im ge- und mittelbare Auswirkungen auf die Wettbewerbsfä- meinsamen Binnenmarkt, der seit dem 1. Januar 1993 higkeit der Unternehmen hat? So wird insbesondere in Kraft ist. Auch für sensible Güter führt der Binnen- auch die Kooperationsfähigkeit deutscher Firmen markt zu einem Raum ohne Grenzen mit unkontrol- beeinflußt, wenn sich z. B. ausländische Firmen von liertem Warenverkehr. Hier stellt sich besonders die Kooperationen mit deutschen Partnern abschrecken Frage der Endverbleibskontrolle. Im Verhältnis zu lassen oder staatliche Behörden Firmen anweisen, Drittstaaten muß ein einheitliches Ausfuhrverfahren Deutschland wegen seiner Gesetze als Lieferanten gefunden werden, das aber bis heute noch nicht gewünschter Produkte zu meiden. abschließend erarbeitet ist. Diese einheitlichen Aus- Dies trifft gerade auf den Bereich der Hochtechno- fuhrvorschriften und -kontrollen sollten am besten logien zu, der für Deutschland besonders wichtig ist. dem hohen deutschen Standard entsprechen. Darauf Auch das haben Sie nicht erwähnt, Herr Bachmaier. arbeitet die Regierung hin, und das ist auch der So führen z. B. Frankreich und England inzwischen Wunsch von uns allen. wichtige Zukunftsprogramme im Rahmen der Rü- Aber wir dürfen die Augen nicht vor der Wirklich- stungskooperation bereits ohne Beteiligung deut- keit verschließen, daß bei unseren EG-Partnern dazu scher Unternehmen durch, um Unsicherheiten beim keine große Neigung besteht. Seit der Realisierung späteren Absatz dieser Produkte auszuschließen. Dies des Binnenmarktes ist es der Bundesregierung nicht könnte man ja noch hinnehmen, wenn nicht interna- -gelungen, ihre Vorstellung von einer europaweiten tionale Kooperationsfähigkeit für viele Firmen eine einheitlichen Ausfuhrregelung auf hohem Niveau wichtige Existenzvoraussetzung wäre, um die not- durchzusetzen. Diesem Anliegen stehen vitale, insbe- wendigen industriellen und produktionstechnischen sondere von Frankreich und Großbritannien geäu- 15746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Peter Kittelmann ßerte Interessen gegenüber, deren rüstungsexport- der Europäischen Union eine sachgerechte Lösung freundliche Vorschriften den H andel mit derartigen erreichen. Das ist nicht nur ein Problem der Europäi- Gütern zu einem wichtigen Posten in der Außenhan- schen Gemeinschaft. Es ist ein Problem vieler Länder. delsbilanz machen. Deswegen hat die Bundesregierung auf unseren Wunsch auch bei den G-7-Spitzengesprächen immer Wir mögen diesen nationalen Egoismus bedauern, wieder darauf hingewiesen, daß wir hier Lösungen aber gerade in Zeiten wirtschaft licher Rezession ist finden müssen, die weit über den europäischen Rah- kaum damit zu rechnen, daß sich an dieser Haltung men hinausgehen. In diesem Sinne wünsche ich der der Partner jetzt etwas ändert. Um es klar zu sagen: Bundesregierung viel Erfolg bei den nächsten Ver- Die Durchsetzung der hohen deutschen Exportkon- handlungen. Wir stehen auf ihrer Seite. trollstandards erscheint zur Zeit sehr unwahrschein- lich. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß gegen- Schönen Dank. wärtig das Harmonisierungsdefizit, diese Lücke im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Binnenmarkt, zu spürbaren Wettbewerbsnachteilen für die deutsche Indust rie führt. Das kann doch auch an der SPD bei den vielen Gesprächen mit der Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat unser Kol- Wirtschaft nicht vorbeigehen. lege Klaus Beckmann. Der Entwurf einer EG-Verordnung zur Harmoni- sierung der Ausfuhrkontrollen enthält nach dem Klaus Beckmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine bisherigen Stand der Verhandlungen noch zuviel an sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die F.D.P.- Umgehungsmöglichkeiten und an Unverbindlichkei- Fraktion bekennt sich ausdrücklich zu den 1982 ten, ist aber ein wichtiger Schritt, um diese Wettbe- formulierten politischen Grundsätzen für den Export werbsnachteile zu verringern. Die CDU/CSU-Bun- von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Ich destagsfraktion begrüßt die Bemühungen auf der denke, daß diese Grundsätze einen breiten politi- EG-Ebene deshalb ausdrücklich. Herr Staatssekretär, schen Konsens in Deutschland darstellen, ohne den wir fordern die Bundesregierung auf, in ihren auch eine verantwortungsvolle Rüstungskontrollpoli- Anstrengungen bezüglich einer raschen Einigung auf tik nicht durchsetzbar ist. hohem Niveau nicht nachzulassen. Meine Damen und Herren, die im internationalen Bereich weitgehende Selbstbindung Deutschlands Noch ist es zu früh, den Verordnungsentwurf hat wahrhaftig gute Gründe und ist darüber hinaus ja abschließend zu beurteilen, da noch nicht absehbar auch kein Selbstzweck. Der gute Ruf der deutschen ist, ob und mit welchem Inhalt er in Kraft treten wird. Wirtschaft insgesamt und die be trächtlichen Erfolge Entscheidend ist, daß das Spannungsverhältnis zwi- im Export der Vergangenheit gründen sich auch auf schen der Notwendigkeit effektiver Rüstungsexport- diese politischen Rahmenbedingungen. Wir wissen, kontrollen und den Regeln des Binnenmarktes so wie sehr die deutsche Wirtschaft gerade auch wäh- rasch wie möglich aufgelöst wird. Deshalb müssen wir rend des Irak-Iran-Krieges bezüglich ihrer Exportnot- alle bereits heute darüber nachdenken, wie wir uns wendigkeiten und -möglichkeiten in Verbindung mit verhalten, wenn die Harmonisierungsverordnung den Kriegswaffenexporten angegangen worden ist. deutschen Wünschen nicht entsprechen sollte. Soll dann Deutschland etwa nicht zustimmen und sich auf Nun sind in den letzten Jahren — darauf ist hinge- Grund seiner eigenen s trengen Regelung in der wiesen worden — die Rüstungsexportvorschriften Gemeinschaft isolieren, oder sollte es seine eigenen deutlich verschärft worden. Die Bundesregierung ist Standards modifizieren? deswegen — das möchte ich auch einmal als Kompli- ment ausdrücken, Herr Staatssekretär — ein verläßli- Der Antwort auf diese Fragen können wir nicht cher Garant dafür, daß dieser gute Ruf von politischer ausweichen. Sie muß in jedem Fall so ausfallen, daß Seite nicht gefährdet wird. Er darf aber auch nicht von eine gemeinsame europäische Regelung gefunden einzelnen Firmen beschädigt werden, die sich über wird. Ohne eine Einigung auf europäischer Ebene diese Exportverbote einfach rücksichtslos hinwegset- sind wir Deutschen allerdings die Verlierer. Das will zen. ich hier ausdrücklich betonen. Die rasche Vereinheit- lichung der Ausfuhrregelungen in Europa ist eine (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) vordringliche Aufgabe für die Gemeinschaft. Dabei bin ich bei der Notwendigkeit funktionieren- der Kontrollsysteme. Die sind — wie auch die entspre- Ich meine, es ist auch im Interesse der SPD- chenden Strafsanktionen — auf der Grundlage der Opposition, frühzeitig und gemeinsam mit uns nach politischen Grundsätze seit 1982 deutlich verbessert einem Weg zu suchen, der sowohl der Wettbewerbs- und verschärft worden. Vorwürfe gegen die Bundes- fähigkeit des Standorts Deutschland und Europa wie regierung, Herr Kollege Bachmaier, sie habe hier auch der notwendigen verantwortlichen effektiven nachlässig gehandelt, gehen absolut ins Leere. Die Rüstungsexportkontrolle Rechnung trägt. Öffentliche hierfür berufenen staatlichen Strafverfolgungsorgane Schuldzuweisungen, wie wir sie eben wieder gehört haben in den vergangenen Jahren stets die hundert- haben und wie sie immer wiederholt und dadurch prozentige Unterstützung der Bundesregierung erhal- doch nicht wahrer werden, und Verdächtigungen, wie ten. Ich weiß aus eigenem Handeln, wovon ich spre- sie in der Vergangenheit laut geworden sind, werden che. Also bedarf es hier nicht wirklich fehlgesteuerter der Bedeutung dieses Problems nicht gerecht. Anklagen. Nur mit Sensibilität und Verzicht auf Heuchelei auf Das Bundesausfuhramt und das Bundeskriminal- allen Seiten läßt sich in dieser Frage der Rüstungsex- amt haben die notwendigen rechtlichen Rahmen für portkontrolle im gemeinsamen Binnenmarkt und in eine effiziente Kontrolle erhalten. Es ist zu hoffen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15747

Klaus Beckmann — und hier appelliere ich auch an die Bundesregie- Eine Lösung, die eine Übereinstimmung auf niedri- rung —, daß der Personalbestand bald vervollständigt gerem Niveau mit sich bringt, ist für Deutschl and wird. Es ist viel getan worden; die Zahlen sind eben allerdings nicht akzeptabel. Ich fordere Sie auf, Herr schon von Herrn Kollegen Kittelmann dargelegt wor- Kollege Bachmaier, auch mit Ihren sozialistischen den. Freunden in der Sozialistischen Internationale zu sprechen, damit sie hier entsprechend mitwirken. Bei Allerdings — und das muß man auch hervorhe- den Franzosen war es ja absolut erfolglos, wie wir ben — ist es trotz dieser Verschärfung gelungen, die wissen. Genehmigungsfristen zu verkürzen, ohne die Kon- trollen aufzuweichen. In diesem Punkt hatte die deutsche Exportwirtschaft ja immer große Beden- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Beckmann, ken. Sie sind schon ein gutes Stück über Ihre Zeit. Hier gilt mein Kompliment auch noch einmal dem Bundesausfuhramt unter seinem neuen Präsidenten. Klaus Beckmann (F.D.P.): Meine Fraktion gibt mir Hier haben sich die Beamten einmal nicht bürokra- noch eine Minute, wie mir der Geschäftsführer eben tisch verhalten, sondern ihren ganzen Einsatz zugun- freundlicherweise versichert hat. sten unserer Exportwirtschaft gezeigt. Ich halte das für (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, weiter! Eine einen ganz besonderen Fortschritt der letzten Jahre gute Rede!) auf diesem Feld. Die Bundesregierung sollte, von meiner Fraktion Die fortwährenden Bemühungen der Bundesregie- mit aller Kraft unterstützt, dieses dicke Brett auf rung um Angleichung der Exportvorschriften auf internationaler Ebene weiter bohren. internationaler Ebene haben leider nicht zu den Lassen Sie mich abschließend, weil der Kollege erhofften Erfolgen geführt. Wir alle wissen und wollen Bachmaier dies für die antragstellende SPD-Fraktion unterstreichen, daß sich die Bundesregierung, daß erwähnt hat, noch einen Blick auf das Volumen sich insbesondere der Außenminister und der Wirt- deutscher Rüstungsexporte im internationalen Ver- schaftsminister bei den Vereinten Nationen und auch gleich tun — nur zur Versachlichung der Diskussion. innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ständig Die Horrorgemälde, die Herr Bachmaier hier gemalt bemüht haben, die deutschen Standards dort auch zu hat, versperren uns ein bißchen den klaren Blick auf den entsprechenden internationalen Standards wer- die Realitäten. den zu lassen. Jedoch bestand bei unseren Partnerlän- dern sowohl in der Gemeinschaft wie auch in den Die Wahrheit ist — hier zitiere ich eine internatio- Vereinten Nationen wenig Interesse, den deutschen nale Institution —: Nach dem Congressional Research Standards gerecht zu werden. Service, Bericht für den Kongreß der Vereinigten Staaten über Lieferung konventioneller Waffen an die (Zuruf von der F.D.P.: Das ist leider wahr!) Dritte Welt — hier sind ganz besonders sensible Belange betroffen — nahm Deutschland von 1985 bis Allerdings ist die zu erwartende erhöhte Transparenz im Transfer von Rüstungsgütern durch das Register 1992 den sechsten Platz unter den Waffenexportnatio- bei den Vereinten Nationen hervorzuheben. nen ein. Das absolute Volumen von 100 Millionen US-Dollar deutscher Ausfuhren in die Dritte Welt stellt Was nun die weitere Entwicklung angeht, so denke — das will ich betonen — weniger als 1 % dessen dar, ich, gibt der neue handelspolitische Kurs der USA was von den fünf ständigen Mitgliedern im UN- Anlaß zur Hoffnung, daß hierdurch die Dinge in Sicherheitsrat im gleichen Zeitraum an Kriegswaffen Bewegung geraten. Das sage ich allerdings mit aller exportiert wurde. Vorsicht, denn die Erfahrungen veranlassen mich zu Damit, meine Damen und Herren, soll die politische einer gewissen Skepsis. Bedeutung von Rüstungsexporten in Deutschl and Auch das Rüstungsexportverhalten unserer Nach- nicht relativiert werden, wohl aber die Äußerungen barn mag uns noch erhebliche Sorgen bereiten. Auch von Kritikern der Bundesregierung, diese betreibe dort ist zu hoffen, daß im Zuge der Liberalisierung der und fördere eine Exp ansion deutscher Rüstungsex- COCOM-Regeln die Regierungen dieser Staaten porte. auch zu Zugeständnissen bereit sein werden, durch Aus denselben Gründen, meine verehrten Kollegin- den Aufbau funktionierender Exportkontrollsysteme nen und Kollegen, lehnt meine Fraktion den SPD- insbesondere dafür zu sorgen, daß ein Abfluß von Antrag ab. Dual-use-Waren westlicher Herkunft in kritische Vielen Dank. Drittländer weitgehend ausgeschlossen wird. Waffen- exporte sind ja heute für ehemalige COCOM-Länder (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — oft die einzige Exportmöglichkeit, und die Moral geht Unruhe) dabei flöten. Ich will hier den Satz von Brecht nicht zitieren. Vizepräsident Hans Klein: Die Stunde ist spät; wir Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft steht der wollen einander noch ertragen. Ursprünglich waren entscheidende Durchbruch hinsichtlich der Harmoni- für diesen Beitrag acht Minuten angemeldet, dann sierung der Exportvorschriften noch aus. Auch hier haben wir ihn auf fünf reduziert, und jetzt waren es drängen wir unsere Partnerländer. Ich habe das wieder acht. Das geht dem Herrn Parlamentarischen erwähnt. Allerdings sträuben sie sich, und — ich will Staatssekretär von seiner Redezeit ab. es offen aussprechen — sie denken nicht im Traum Als nächster Rednerin erteile ich unserer Kollegin daran, sich uns in dieser Beziehung anzupassen. Dr. Ruth Fuchs das Wort. 15748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Ruth Fuchs (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Dr. Ruth Fuchs (PDS/Linke Liste): Bitte. Meine Damen und Herren! Im Bericht zur Rüstungs- exportkontrollpolitik der Bundesregierung begegnen Georg Gallus (F.D.P.): Frau Kollegin, ist Ihnen uns Argumente, die schon seit Jahren immer wieder bekannt, daß aus der DDR zum Zeitpunkt des Falls der gebetsmühlenartig vorgetragen werden: Die Bundes- Mauer noch Schiffsladungen von Waffen in afrikani- regierung empfinde eine besondere Verantwortung sche Länder unterwegs waren? Deshalb ist es nicht für eine restriktive Rüstungsexportpolitik, habe welt- gerade fair, wenn wir als das Land, das sich in dieser weit mit die besten Rüstungsexportgesetze und wolle Beziehung am restriktivsten verhält, von Ihnen im auch in Zukunft die seit Jahren praktizierte strenge nachhinein so dargestellt werden, als ob wir am Exportpolitik weiterführen. meisten in die andere Richtung gehen würden. Würde man nur die deklaratorische Seite kennen, müßte man zu der Schlußfolgerung kommen, daß Dr. Ruth Fuchs (PDS/Linke Liste): Erstens würde ich Deutschland seine Waffenexporte fast eingestellt hat. Ihnen empfehlen, daß Sie sich bevor Sie mir Vorwürfe Doch was uns da als grundlegende Reform der Export- über die Politik der DDR machen, einmal die Mühe kontrolle verkauft wird, hat nicht verhindert, daß die machen, sich mit meiner persönlichen Biographie zu Bundesrepublik im vergangenen Jahr zum größten beschäftigen. Exporteur konventioneller Großwaffensysteme Zweitens meine Antwort: Natürlich ist mir das (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch bekannt. Aber ich dachte, ich lebe jetzt in der Bun- gar nicht! Was erzählen Sie da?) desrepublik Deutschland. Ich wüßte nicht, warum ich in Europa geworden ist. da nicht auch diese Kritik anbringen kann. Das ist (Widerspruch bei der CDU/CSU und der Vergangenheit, und jetzt bin ich hier. Ich bin genauso gewählt wie Sie und habe genauso wie Sie das Recht, F.D.P. — Dr. Walter Franz Altherr [CDU/ hier meine Meinung darzubringen. — Ich hoffe, das CSU]: Das stimmt doch gar nicht! — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Die Zeit der DDR ist reicht. vorbei! Ganz Afrika habt ihr aufgerüstet! (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Unverschämtheit! — Weiterer Zuruf von der Meines Erachtens wird auch mit den jetzigen Geset- CDU/CSU: Dann zählen Sie aber Rußland zen die Absicht bleiben, über den Rüstungsexport nicht zu Europa!) sogenannte vitale Interessen der Bundesrepublik 41 % aller Waffenausfuhren aus EG-Ländern dürfen wahrzunehmen. Denn die Bundesregierung hat nach SIPRI-Angaben auf dem Konto der Bundesrepu- immer deutlich gemacht, daß mit den Gesetzen nur blik verbucht werden. Sie ist damit bei Großwaffensy- den illegalen Exporteuren das Handwerk gelegt wer- stemen seit 1991 auf dem dritten Platz in der Welt den soll. angelangt. Die Differenzierung zwischen nicht genehmigungs- Dabei — das wissen wir alle hier im Haus — stellt der pflichtigen, genehmigungsfähigen und illegalen Rü- Export von Großwaffen nur einen Bruchteil des stungsexporten kommt aber einer selektiven Erlaub- gesamten rüstungsrelevanten Exports dar. Selten nis zum Waffeneinsatz gegen Menschen gleich; denn werden heute noch komplette Großwaffensysteme die legal gelieferten Waffen sind nicht weniger men- verkauft. Aber Kleinwaffen, Technologietransfer und schenverachtend als die illegalen. Dual-use-Produkte sind in diesen Statistiken ebenso- Die Tatsache, daß fast alle deutschen Rüstungsex- wenig wiederzufinden wie der Exportanteil in Koope- porte von der Bundesregierung genehmigte Lieferun- rationsprojekten und der interne Transfer multinatio- gen sind, zeigt uns, wie großzügig man die vorhande- naler Rüstungsindustrien. nen Instrumentarien der Exportkontrolle nutzt. Ob- Während die Bundesrepublik 1990 regierungsoffi- wohl die Bundesregierung weiß und öffentlich auch ziell 1,5 Milliarden DM durch genehmigte Waffenex- immer wieder beteuert, daß Krieg und Gewalt keine porte eingenommen hat, betrug der Anteil der sensib- Mittel der Politik sind, unterstützt sie die Rüstungs- len Technologien mit 20,6 Milliarden DM mehr als das bestrebungen anderer Länder. 13fache und 1989 sogar als das 30fache. Daran Aber es gibt unserer Auffassung nach in der heuti- erkennt man nur einen Ausschnitt der Dimension, die gen Welt keine friedenstiftenden Rüstungsexporte. So der sensible Bereich des rüstungsrelevanten Techno- muß der Eindruck entstehen, daß die Bundesregie- logieexportes hat. rung im Einvernehmen mit der Rüstungsindustrie (Zuruf von der CDU/CSU: Und wie war es bei kein wirkliches Interesse daran hat, die bestehenden der DDR 1989? Haben Sie dazu auch Zahlen? Gesetze mit aller Konsequenz restriktiv zu nutzen. Die — Gegenruf der Abg. Dr. Elke Leonhard ökonomischen und politischen Interessen wiegen Schmid [SPD]: Das würde ich ja nun nicht in schwerer als die Gefahr einer weltweiten Kriegsvor- Relation setzen!) bereitung. Die Art der Anwendung der Gesetze hat somit in der In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal Vergangenheit nicht verhindert, daß Deutschland am auf einige bekannte Beispiele verweisen. Die Türkei Export von tödlichen Rüstungskomponenten beteiligt wird großzügig mit deutschen Waffen beliefert, war. obwohl alle wissen, daß mit deren Hilfe gröbste Menschenrechtsverletzungen einschließlich der Er- - mordung von Kurden stattfinden. Die türkische Regie- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Fuchs, der rung droht offiziell mit einer Militärintervention in Kollege Gallus würde Ihnen gern eine Zwischenfrage Armenien, aber die deutschen Rüstungsexporte rei- stellen. ßen nicht ab. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15749

Dr. Ruth Fuchs Das indonesische Regime erhält 39 NVA-Schiffe Dann erteile ich das Wort dem Parlamentarischen — Sie sehen also, hier wird sogar mit ehemaligem Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, DDR-Material noch ein Geschäft gemacht — unserem Kollegen Heinrich Kolb. (Zuruf von der F.D.P.: Nichts wie weg mit dem Zeug!) Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim — ja, aber warum dann unbedingt dahin? —, obwohl Bundesminister für Wirtschaft: Vielen Dank, Herr alle Welt weiß, mit welcher brutalen Gewalt opposi- Präsident. — Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! tionelle Kräfte do rt verfolgt und ermordet werden. Ich begrüße die Gelegenheit, heute noch einmal an Menschenrechtsgruppen berichten über die Entdek- dieser Stelle die Position der Bundesregierung zur kung neuer Massengräber in Indonesien. Aber die Kontrollpolitik bei Rüstungsexporten erläutern zu Bundesrepublik unterzeichnet fast zeitgleich Ver- können. träge über deutsche Rüstungsexporte. Bevor ich dies tue, will ich noch auf eines deutlich hinweisen: Es ist hier zumindest in den Ausführungen (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Mit des Kollegen Bachmaier der Eindruck entstanden, die U-Booten kann man keinen Bürgerkrieg füh ren!) Bundesregierung würde möglicherweise billigend eine Wachstumsstrategie im Bereich der konventio- Eine solche Politik schadet nicht nur den von den nellen Rüstungsexporte verfolgen. Davon, Herr Bach- Waffen bedrohten Menschen, sie schadet auch dem maier, kann jetzt wirklich keine Rede sein. Der weltweiten Ansehen der Bundesrepublik. Man kann Gesamtanteil der Rüstungsexporte oder der Exporte nicht andere Staaten mit Rüstungsgütern versorgen von Kriegswaffen an den deutschen Gesamtexporten und sich hinterher darüber wundern, daß sie auch betrug 1990 0,29 %, 1991 0,62 %, 1992 0,39%. Der tatsächlich eingesetzt werden. Trend ist also eindeutig wieder rückläufig. Ich denke, Besonders zynisch wird das Ganze, wenn heute auch das ist ganz wichtig zu wissen. Waffen geliefert werden und morgen deutsche Solda- Herr Kollege Bachmaier, ich hätte verstanden, ten zur Konflikteindämmung eingesetzt werden sol- wenn Sie bis zum 14. Februar 1992 hier eine solche len. Rüstungsexporte sollten verfassungsrechtlich Rede, wie heute von Ihnen gehört, gehalten hätten. verboten werden. Aber es ist doch spätestens seit diesem Zeitpunkt (Zuruf von der CDU/CSU: Warum stellen Sie einiges Neues in Kraft getreten. Wir haben nach den keinen Antrag?) deutschen Erfahrungen mit illegalen Rüstungsexpor- ten — Stichwort: Rabda — hier doch das gesamte Bis zu einer solchen Regelung erwarten wir von der System der Exportkontrollen einer grundsätzlichen Bundesregierung ein Moratorium für deutsche Reform unterzogen. Ich nenne die Stichworte: dra- Rüstungsexporte und eine effektive öffentliche Auf- stisch angehobene Strafen und Sanktionen für Export- klärung über die bisherigen Rüstungs- und rüstungs- kontrollverstöße, dann die vorbeugenden Überwa- relevanten Exporte. chungsmöglichkeiten zur rechtzeitigen Aufdeckung Auf internationaler Ebene muß sich die Bundesre- und Verhinderung illegaler Exporte und zusätzliche gierung deutlicher als bisher dafür einsetzen, daß der Genehmigungspflichten, vor allem für zivil und mili- Export von Rüstungsgütern international geächtet tärisch nutzbare Güter, also die Dual-use-Güter. Wir und sogar verboten wird. haben doch, Herr Kollege Bachmaier, das hier zusam- men beraten. Insofern haben Sie doch auch hiervon Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Zäsur Kenntnis. in der deutschen Rüstungsexportpolitik. Wir haben überdies — und das ist hier schon (Staatsminister Helmut Schäfer: Schon wie gewürdigt worden — der eine!) (Hermann Bachmaier [SPD]: SIPRI ist aus Sie darf nicht länger von ökonomischen und politi- 1992!) schen Motiven geprägt sein. — SIPRI ist aus 1992, aber der Kollege Beckmann hat Wir fordern die Bundesregierung auf, ihr Bekennt- schon den Congressional Research Se rvice zitiert, der nis zur deutschen Verantwortung ohne Abstriche in zu ganz anderen Ergebnissen kommt. Bei SIPRI wis- eine wirklich restriktive Rüstungspolitik umzusetzen. sen Sie auch, daß es bestimmte Unwägbarkeiten gibt, — Ich habe nicht gewußt, daß es so schwer ist, in einfach von der statistischen Methode, die hier diesem Staat als Pazifist auch Anerkennung zu fin- zugrunde liegt. Ich bitte also, das zu relativieren. den. Ich will auch noch darauf hinweisen, daß wir die für Ich danke für die Aufmerksamkeit. die Exportkontrolle — im Wirtschaftsausschuß habe (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ich das schon einmal erläutert, Herr Bachmaier — zuständigen Behörden erheblich ausgebaut haben. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Ausfuhrgenehmi- gungen beim zuständigen Bundesausfuhramt kon- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- zentriert sind, dessen Aufbau weitgehend abgeschlos- ren, der Kollege Poppe, der für die Gruppe BÜND- sen ist. Es ist natürlich schwierig, hier qualifiziertes NIS 90/DIE GRÜNEN auf der Rednerliste stand, gibt Personal zu finden, das die technische und juristische seine Rede zu Protokoll. *) Besteht damit Einverständ- -Subsumtion tatsächlich auch angemessen erfüllen nis? — Dies ist offensichtlich der Fall. kann. Aber wir sind guter Dinge, daß wir auch hier weiterhin die Kontrollen dauernd verkürzen kön- *) Anlage 2 nen. 15750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb Mit diesen Reformschritten ist aber das Thema für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Exportkontrolle bei weitem nicht ad acta gelegt. Im Rüstungsgütern" von 1982 eine nach wie vor gültige Gegenteil. Die Bundesregierung kämpft — man kann Leitlinie auch aus der Sicht der Bundesregierung. Die hier wirklich sagen: kämpft — seit einiger Zeit in Grundsätze haben sich nach Überzeugung der Bun- verschiedenen internationalen Gremien für eine mög- desregierung insgesamt bewährt. lichst breit gefächterte Harmonisierung der Export- Wir müssen die internationalen Nicht-Verbrei- kontrollsysteme. Wir müssen sehen, daß wir letztlich tungsregime im nuklearen Bereich, bei der australi- die Probleme nur auf einer internationalen Ebene in schen Gruppe, im TCR — um auch dieses Stichwort zu den Griff bekommen. Hier gibt es zur Zeit ein beson- nennen — bestärken. ders schwieriges Diskussionsfeld bei den aktuellen Beratungen in Brüssel — Stichwort: Harmonisierung Es kommt darauf an, die bereits begonnene grund- der Exportkontrollen für Dual-use-Waren. Der bishe- legende Neuorientierung des COCOM weiter fortzu- rige Verhandlungsstand wird in der Wirtschaft kri- führen. Schon jetzt ist die Anzahl der durch COCOM tisch kommentiert. Man sollte aber nicht übersehen, kontrollierten Industriegüter um etwa ein Drittel daß wir bereits einen wichtigen Reformschritt gegan- gekürzt. Auch bei den Zielländern wurden erste gen sind. Der Warenverkehr innerhalb des Binnen- Erleichterungen eingeführt. Vor wenigen Tagen erst marktes ist im Vorgriff auf die EG-Verordnung zur konnte- bei einem Treffen der wichtigsten COCOM Harmonisierung der Exportkontrollen für Dual-use- Lieferländer in Pa ris eine weitgehende Liberalisie- Waren bereits jetzt unter gewissen Voraussetzungen rung moderner Telekommunikationstechniken er- erleichtert. reicht werden. Damit eröffnen sich für die deutsche Telekommunikationsindustrie in wichtigen Berei- Es bleibt die schwierige Aufgabe, die Kontrollre- chen, wie z. B. der Glasfaserübertragungstechnik und geln für die Ausfuhr aus der Europäischen Gemein- bei Mobilfunksystemen, in wichtigen Zukunftsmärk- schaft heraus auf einen guten Kontrollstandard festzu- ten, insbesondere in Rußland, Weißrußland, der schreiben, weil sich hier die Mitgliedstaaten zum Teil Ukraine, erhebliche Exportmöglichkeiten. sehr unterschiedliche nationale Kontrollsysteme ge- Entscheidend für diesen Durchbruch ist die von geben haben. Leider — ich sage: leider — gibt es bei Präsident Clinton Ende September verkündete neue den zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bisher Exportpolitik. Schwerpunkte dieser Politik sind eine keine, zumindest in den wesentlichen Grundzügen erhebliche Liberalisierung der US-Kontrollen von gleichgerichtete Ausfuhrkontrollpolitik für Kriegs- Hochtechnologieexporten, insbesondere für Compu- waffen und Rüstungsgüter. Diese fehlende Gemein- ter und Telekommunikation, und gleichzeitig ver- samkeit schlägt auch auf die Harmonisierung der stärkte Anstrengungen mit dem Ziel der Nichtverbrei- Kontrollen für Dual-use-Waren im konventionellen tung von Massenvernichtungswaffen. Rüstungsbereich durch. Vor diesem Hintergrund — ich sage das hier ganz deutlich — kann es nach Ich darf sagen: Dieser Ansatz deckt sich auch und Auffassung der Bundesregierung nicht im Interesse ausdrücklich mit der Politik der Bundesregierung. der deutschen Politik liegen, durch Abstriche von Endziel der Bundesregierung bleibt die völlige Aufhe- Kernpunkten unserer Ausfuhrkontrollen einseitige bung der COCOM-Restriktionen für alle reformwilli- Vorleistungen zu erbringen, ohne daß von anderer gen Länder, als Zwischenschritt aber eine weitere Seite die Bereitschaft erkennbar wird, in konstruktiver Reduzierung der Kontrollisten. Weise auch auf die deutschen Vorstellungen einzuge- Meine Damen und Herren, ich möchte heute hen. abschließend an Sie, und zwar an die Vertreter aller (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. E rich Fraktionen und auch der Gruppen hier im Hause, G. Fritz [CDU/CSU]) appellieren, die Bundesregierung auch künftig darin zu unterstützen, im internationalen Bereich auf den Nun machen die Verhandlungen in Brüssel aber erwähnten Exportkontrollfeldern Harmonisierungs- auch deutlich, daß es nicht möglich sein wird, die fortschritte zu erreichen. Zustimmung der übrigen EG-Mitgliedstaaten zu einer Ich danke dem Kollegen Kittelmann, der dies hier verbindlichen EG-Regelung zu erhalten, so wie wir sie ganz ausdrücklich auch getan hat, ebenso wie dem aus exportkontrollpolitischen Gründen für geboten Kollegen Beckmann. Wir sollten diese Fortschritte halten. Wenn die Grenzen der Zustimmungsbereit- auch dann zu erreichen versuchen, selbst wenn wir schaft der übrigen europäischen Partner in den näch- dazu Kompromisse in Erwägung ziehen müssen. Wie sten Wochen endgültig ausgelotet sein werden, wird auch immer, für die Beratungen in Brüssel oder im die Bundesregierung in dem Spannungsfeld zwischen COCOM ist eine breite parlamentarische Unterstüt- europäischem Binnenmarkt einerseits und unseren zung unabdingbar und ausgesprochen wünschens- Vorstellungen über ein gutes Exportkontrollsystem wert. andererseits etwaige Konsequenzen für ihr nationales Kontrollrecht überprüfen müssen. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, welche weiteren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aufgaben liegen noch vor uns? Ich möchte hier drei Bereiche nennen. Es geht einmal um eine gemein- same europäische Rüstungsexportkontrolle auch bei Vizepräsident Hans Klein: Meine verehrten Kolle- Kriegswaffen. Wir befürworten weiterhin eine mög- ginnen und Kollegen, es ist zwar nicht üblich, aber lichst weitgehende EG-Harmonisierung in diesem wenn jemand nach so langer schwerer Krankheit zum Bereich. Dabei — der Kollege Beckmann hat das erstenmal, jedenfalls vom Präsidiumspult aus, wieder schon erwähnt — bilden die „Politischen Grundsätze gesichtet wird, dann sollten wir ihn mit Freuden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15751

Vizepräsident Hans Klein begrüßen. — Albert Pfuhl, ich freue mich, daß Du bereich in das Raster der Rüstungsexportkontrolle wieder unter uns bist. geraten, der vermeintlich nichts mit Krieg und Kriegs- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der waffenkontrolle zu tun hat: die Werkzeugmaschinen- SPD und der PDS/Linke Liste) und Anlagenindustrie. Die Politik und die Gesetz- gebung müssen dieser Entwicklung folgen. Für den Ich erteile der Kollegin Dr. Elke Leonhard-Schmid Fall des Irak kommt diese Erkenntnis freilich zu das Wort. spät. Saddam Hussein hat sich vor allem aus der Bun- desrepublik mit Dual-use-Waren ausgestattet, um embargounabhängig zu werden. Darauf konnte er Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wirtschaft der Bun- seine verhängnisvolle und menschenverachtende Expansionspolitik aufbauen. Gerade vorgestern be- desrepublik ist exportorientiert, daher muß jeder gesetzliche Eingriff in den freien Handel sorgfältig gann der bislang größte Prozeß gegen deutsche Unter- nehmer. Die Angeklagten: Schreibtischtäter und überlegt sein. Handlungsreisende in Sachen Tod. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Die deutsche Praxis der Exportgenehmigung für Mit Recht schränkt daher das Außenwirtschaftsgesetz Rüstungsgüter ist eindeutig restriktiv. Ich behaupte, in § 7 den freien Handel nur in den Fällen ein, die die die deutsche Industrie würde mehr Rüstungsgüter Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Län- exportieren, wenn sie es denn dürfte. dern stören würden. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist Der Handel mit Waffen hat neben seinen kommer- richtig!) ziellen Interessen erhebliche außen- und sicherheits- politische Wirkungen, die als Schatten oder Schuld Die Verantwortung dafür, was im Rüstungsexportbe- auf uns alle zurückfallen, wenn Despoten ihre Kriegs- reich geht und was nicht geht, trägt allein die Bundes- gelüste wieder einmal mit Hilfe deutscher Waffensy- regierung. Sie ist auf Grund des Aufbaus unseres steme erfüllen. Ausfuhrrechts alleiniger Herr über die Trennungslinie zwischen dem legalen und dem illegalen Rüstungsex- Meine Damen und Herren, der Wert der für die port. Den legalen Rüstungsexport benutzt die Bundes- Ausfuhr genehmigungspflichtigen Waren ist von Jahr regierung ungeachtet der außenpolitischen und zu Jahr stark schwankend, verzeichnet aber insge- humanitären Folgen, die durch unsere Rüstungsgüter samt in den letzten zehn Jahren einen stetigen entstehen, immer noch als Beschäftigungsinstrument. Anstieg. Man kann sagen, daß es sich im Schnitt bei Im illegalen Bereich hat sie ein politisches K lima deutschen Ausfuhren um rüstungs- und etwa 5 % der geschaffen, in dem die Exporteure des Todes mit militärrelevante Güter handelt. Seit 1986 ist zu beob- einem augenzwinkernden Wegsehen rechnen dür- achten, daß die Statistiken einen steten Rückgang der fen. weltweit getätigten Rüstungsexporte verzeichnen, im Gegensatz zu der steigenden Zahl der Genehmi- Gegenwärtig zeichnen sich drei Strategien der gungsverfahren in diesem Zeitraum bei uns. Dies ist deutschen Rüstungsindustrie zur Umgehung der das Ergebnis eines Strukturwandels bei den Empfän- Exportbeschränkung ab: gerländern für deutsche Rüstungsgüter, auf den die Bundesregierung nicht reagiert hat. Während bis in Erstens. Umgehung von Genehmigungsverfahren die 70er Jahre die Dritte Welt und vor allem Schwel- durch die Lieferung von Einzelteilen. lenländer Waffen für ihre Sicherheitspolitik im Aus- Zweitens. Lizenzvergabe und Mithilfe beim Aufbau land eingekauft haben, stehen heute vor allem Pro- einer eigenen Rüstungsindustrie im Empfängerland. duktionsanlagen und Werkzeugmaschinen auf der Wunschliste der Einkäufer. Drittens. Kooperation mit einem ausländischen Meine Damen und Herren, machen wir uns endlich Rüstungskonzern, der seinerseits die Vermarktung bewußt: Die Dritte Welt produziert ihre eigenen Waf- der gemeinsamen Güter be treibt. fen auf Maschinen der Industriestaaten. Dies schlägt Meine Damen und Herren, diese Entwicklung ver- sich auch in der Statistik nieder. Die Rüstungsimporte deutlicht, daß die herkömmliche Rüstungsexportkon- der Entwicklungsländer gingen seit 1986 deutlich trolle den Anforderungen, die man natürlicherweise zurück. Sie be trugen 1986 24 Milliarden Dollar, 1989 nur noch 18 Milliarden Dollar und sind 1990 auf an eine Kontrolle stellen muß, nicht genügt. Dies liegt 11,8 Milliarden Dollar gesunken. Bis heute haben sich aber nur zum Teil an den Kontrolleuren, sprich: den Strukturwandel die Waffeneinfuhren der Entwicklungsländer noch- Organen der Bundesregierung. Der verschärft ein immer größer mals nahezu halbiert. Aufkommende Freude hierüber im Rüstungsgeschäft werdendes Problem der Exportkontrolle, nämlich ihre wird jedoch dadurch getrübt, daß die Verteidigungs- grundsätzlich unzureichende Systematik. Die Rü- ausgaben der Entwicklungsländer in diesem Zeit- stungsexportkontrolle, die — wie wir immer wieder raum annähernd gleichblieben, etwa 200 Milliarden Dollar pro Jahr. sehen — versagt, muß deshalb reformiert werden. Dieser Strukturwandel des Rüstungsexports bedeu- Meine Damen und Herren, daher möchte ich an tet, daß die Dual - use - Waren mit ihrem Anteil von dieser Stelle anregen, daß wir uns über ein neues etwa 5 % der gesamten deutschen Ausfuhren geeig- -System der Exportkontrolle verständigen. Ziel sollte net sind, im Empfängerland einen tragenden Beitrag es sein, daß wir von der Ausfuhrkontrolle der Waren zum Aufbau einer eigenständigen Rüstungsindustrie wegkommen hin zu einer Anwendungskontrolle der zu leisten. Durch diese Entwicklung ist ein Indust rie Waren im Empfängerland. 15752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Elke Leonhard-Schmid In der Länderliste H sind die sensitiven Länder daß wir auf diese Weise doch zu einer Verbesserung benannt, die eigene Massenvernichtungsprogramme gekommen sind, auch wenn wir nicht das erreicht entwickeln, als Umschlagplätze des Waffenhandels haben, was wir gern wollen, nämlich eine wirklich bekannt sind oder über das Verteidigungsziel hinaus einheitliche Rüstungsexport-Kontrollpolitik in der aufrüsten. Diese Liste sollte in einem neuen Kontroll- Europäischen Gemeinschaft und, wenn es geht, dar- system eine zentrale Stellung in der Exportkontrolle über hinaus. erhalten. Diesen Ländern soll die Bundesregierung Die Verträge zur Förderung der zivilen technologischen Reform des Außenwirtschaftsgesetzes 1992 und Zusammenarbeit anbieten. seither verstärkte Bemühungen um eine bessere inter- nationale Abstimmung sind insgesamt erfolgreich auf Auf dieser Grundlage könnte ein neues politisches dem Weg, wenn auch noch nicht am Ziel angekom- Klima geschaffen werden. Ich bin davon überzeugt, men. Was seither geschehen ist, zeigt den Willen, alles daß wir in ein Zeitalter einmünden, in dem die zu tun, um aus den Millionen Ausfuhrvorgängen, die Beziehungen der Völker untereinander und vor allem es jedes Jahr in der Bundesrepublik gibt, die empfind- die Lösung ihrer Konflikte immer mehr durch Zusam- lichen Waren herauszufinden und ihren Export zu menarbeit geprägt sein werden. Wirtschaftliche verhindern, ohne gleichzeitig die Freiheit des Außen- Zusammenarbeit beseitigt Konfliktpotentiale. handels einzuschränken und mehr als unbedingt nötig zu stören. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin. Präventive Überwachung, hohe Sanktionen bei Verstößen, ein transparenter Katalog von Beschrän- Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD): Herr Präsident, kungen, Eingriffsmöglichkeiten bei Verdacht auf mili- ich sehe das rote Licht. tärische Verwendung von Gütern, der Katalog im Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Dual-use-Bereich — all dies kann jetzt wirkungsvoll abschließend bemerken: Ich bin davon überzeugt, daß eingesetzt werden und wird auch wirkungsvoll einge- nur der zum Partner werden kann, der Hilfe zur setzt. Zur Umsetzung dieser Vorstellungen hat die Entwicklung leistet, und nicht der, der Hilfe zur Bundesregierung nach der Verschärfung des Rechts militärischen Gewalt leistet, indem er Rüstungsex- schnell gehandelt. Sie hat das Bundesausfuhramt porte genehmigt. aufgebaut sowie Möglichkeiten des Zollkriminalam- Ich danke Ihnen. tes und des Zollfahndungsdienstes erweitert und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verschärft. Damit haben wir das dichteste Kontroll- der PDS/Linke Liste) netz, das es in einem europäischen L and überhaupt gibt. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat unser Kol- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das kann lege Erich Fritz. man nicht häufig genug sagen!) Gleichzeitig stellen wir allerdings fest, daß wir Erich G. Fritz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine damit auch Erschwernisse für die Exporteure geschaf- Damen und Herren! Der Gegensatz zwischen Herrn fen haben, die sich auf dem Markt negativ bemerkbar Bachmaier und Frau Leonhard-Schmid ist es wert, machen. Es wird also darum gehen, das Ins trument so glaube ich, bei Gelegenheit ausführlicher darüber zu sicher, aber auch so praktikabel wie möglich zu sprechen. gestalten. Die Bundesregierung hat bei ihren interna- Wir haben hier zwei Vertreter der SPD-Fraktion tionalen Bemühungen um eine Vereinheitlichung die gehört: der eine statisch an der bisherigen Position der Aufgaben ernst genommen, hat sich eingesetzt und SPD festhaltend, dabei das eigene Licht unter den hat auch erreicht, daß das Register bei den Vereinten Scheffel stellend — denn 1992 hat die SPD an der Nationen eingerichtet wird, so daß zum ersten Mal Verbesserung des Außenwirtschaftsgesetzes intensiv überhaupt international über diese Frage Transpa- mitgearbeitet, und es gab bis auf wenige Punkte eine renz entsteht. weitgehende Übereinstimmung —, und Sie, Frau (Zuruf von der F.D.P.: Wir sind Spitze!) Leonhard-Schmid, die gerade Bewegung gezeigt hat, also dynamisch an dieses Thema herangeht, in der Das Schlimmste ist — was Sie, Frau Leonhard- Erkenntnis, daß sich die Welt auch in diesem Problem Schmid, gerade mit Recht angesprochen haben — die dramatisch verändert hat und daß wir — wie auch in Aufrüstung der Dritten Welt, wobei ich Ihnen nicht vielen anderen Bereichen — all das, was wir geregelt ganz recht gebe mit Ihrer Analyse. Denn die Verän- zu haben meinten, jetzt gar nicht mehr richtig fassen derung im Verhalten ist nur zu einem geringen Teil können. auf das zurückzuführen, was Sie gesagt haben. Das Wir diskutieren über die Antwort der Bundesregie- andere sind die Finanznöte und die tatsächlich bereits rung auf die große Anfrage der SPD. Ich meine, daß bestehende Überrüstung dieser Länder, die zum Teil das, was hier vorgelegt worden ist, eindrucksvoll mit den Systemen, die sie jetzt noch kaufen können, beweist, wie sich die Bundesregierung auf den Fel- gar nichts mehr anfangen können. dern der Rüstungsexport-Kontrollpolitik, des Waf- Seit dem Inkrafttreten des Binnenmarktes gibt es fenexports, bei Dual-use sowie bei der Frage der bei den Dual-use-Waren ein großes Gefälle in der Verbreitung von ABC-Waffen in vielfacher Weise Überwachung solcher Exporte. Das kann auf Dauer in engagiert hat, inte rnational eine gute Rolle gespielt Europa für den Aufbau einer gemeinsamen Außen- hat, als Mitglied der G 7 versucht hat, das zu tun, was und Sicherheitspolitik nicht förderlich sein. Wenn wir wirklich brauchen, nämlich eine internationale mittlerweile auch bei einigen Teilen eine Verbesse- Abstimmung, einen Gleichklang in dieser Politik, so rung eingetreten ist, so fehlen doch in entscheidenden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15753

Erich G. Fritz Punkten noch die Ansätze für eine Harmonisierung. Darf ich noch einen Satz, Herr Präsident, zum Wir können diese Harmonisierung auch nur zu einem Antrag der SPD-Fraktion sagen? Wir lehnen ihn ab, geringeren Teil erwarten, weil die Einstellung zur das ist, glaube ich klar, und zwar aus guten Gründen. Frage der Rüstungsexporte in unseren Partnerlände rn Es macht keinen Sinn, die Arbeit der Verfassungs- zum Teil völlig anders ist als bei uns, weil sie auch kommission abzuschließen und dann bei jeder Gele- historisch andere Erfahrungen gemacht haben als genheit, heute zum Thema Rüstungsexport, das Faß wir. wieder aufzumachen und so zu tun, als könnte m an dann Grundgesetzänderungen beliebig bei irgend- Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, welchen Sachthemen wieder neu anfangen. ob die deutsche Wirtschaft bei der Art, nach der wir jetzt vorgehen, überhaupt in der Lage ist, auf Dauer im Rüstungsbereich kooperationsfähig zu sein. Das ist Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, das waren eine wichtige Frage, der wir genauso nachgehen schon viele Sätze. müssen wie der, die Sie gerade gestellt haben. Wenn wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Erich G. Fritz (CDU/CSU): Sie haben recht, Herr wollen, müssen wir das, was daraus folgt, nämlich Präsident, ich habe vergessen, die Kommas richtig zu Rüstung für den eigenen Bereich und den NATO- setzen. Bereich, daraus entwickeln. Der zweite Punkt wird abgelehnt, weil wir die beste Information in diesem Bereich haben, die es in einem Was wir heute haben, ist etwas anderes. Wir haben Industrieland überhaupt gibt. Es ist wirklich transpa- eine Überkapazität im Rüstungsbereich, was dazu rent. Jeder kann sehen, was an Informationen in der führt, daß manche Partnerländer heute die Produktion Regierung da ist. Deshalb haben wir gar keinen eher davon abhängig machen, was im Ausland zu Grund, diesem Antrag zuzustimmen. verkaufen ist, was zu exportieren ist, als zu überprü- fen, ob sie in die Konzeption einer gemeinsamen Herzlichen Dank. Außen- und Sicherheitspolitik Westeuropas paßt. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ist eine Herausforderung. Deshalb muß der Maas- trichter Vertrag in diesem Punkt möglichst schnell Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort zu umgesetzt werden, damit wir verläßliche Kriterien für einer Kurzintervention dem Kollegen Georg Gallus. die Entwicklung einer gemeinsamen Rüstungswirt- schaft in Europa und eine abgestimmte, arbeitsteilige, kooperationsfähige Form der Zusammenarbeit fin- Georg Gallus (F.D.P.): Herr Präsident! Obwohl der den, die dann auch erst eine gemeinsame Außenhan- Antragsteller, der Kollege Bachmaier, bereits wegge- delskontrolle, eine gemeinsame Rüstungsexportkon- gangen ist, möchte ich trotzdem zu den Ausführungen trolle ermöglicht. von Frau Kollegin Leonhard-Schmid ein paar Worte sagen. Mir geht es vor allen Dingen um den Dual- Die Entwicklung in diesem Bereich ist dramatisch. use-Bereich. Sie wissen, daß die Fertigungskapazitäten in der Meine Damen und Herren Kollegen, so wie die Lage deutschen wehrtechnischen Industrie um 60 % in unserer Maschinenbauindustrie ist, sind wir heute zurückgegangen sind, daß aber trotz aller Aufmerk- in einer Situation, daß andere Staaten in Europa damit samkeit, die heute abzubauende Arbeitsplätze in der Propaganda machen, daß sie, wenn unsere Maschi- Öffentlichkeit genießen, sehr wenig die Rede davon nenbauindustrie eine Maschine in einen demokrati- ist. Offensichtlich gibt es unterschiedliche Einschät- schen Staat auf der Welt verkaufen will, sagen: Die zungen. Wir müssen uns auch darum kümmern. kriegen ja gar keine Genehmigung für eine Rund- Meine Damen und Herren, wir tun gut daran, uns in schleifmaschine oder eine CNC-Maschine. nächster Zukunft diesem Thema wieder zu widmen. Man muß einmal sehen, um was es hier überhaupt Die deutsche Rüstungsexportpolitik darf keine Kehrt- geht. Es ist überhaupt keine Frage, daß wir bei der wendung machen. Sie muß sich aber den Anforderun- Rüstungspolitik restriktiv sind. Aber wir können doch gen, die aus dem Binnenmarkt und aus den veränder- letzten Endes nicht die letzte Verantwortung für das ten Rahmenbedingungen entstanden sind, stellen. übernehmen, was in unserem Land geschieht, wenn Das heißt, daß wir auch nicht so tun können, als ob das, die anderen Staaten Europas dann an unsere Stelle was wir einmal erfunden haben, das Alleinseligma- treten. Wir werden lange warten müssen, bis die chende für Europa sein könnte. Wenn wir gemein- übrigen europäischen Staaten sich auf unseren St an same Regelungen erreichen wollen, müssen wir viel- -dard begeben. mehr auch bereit sein, kooperativ mit den anderen Deswegen bin ich konsequent dafür, daß wir eine westeuropäischen Ländern neue Formen zu finden. einheitliche europäische Lösung finden. Wenn dann nicht 100 % von dem erreicht sind, was wir wollen, Wir haben darüber hinaus eine Aufgabe, die noch dann müssen wir uns mit 90 % zufriedengeben. Aber niemand in ihren Dimensionen überhaupt erfassen so eine Wettbewerbsverzerrung, wie wir sie heute im kann. Das ist die Frage, wie wir in solche Systeme in Dual-use-Bereich haben, können wir uns nicht weiter Zukunft die Länder des ehemaligen Warschauer leisten, wenn wir nicht laufend weiter Arbeitslose Paktes einbeziehen. Denn wir wissen doch, daß zeugen wollen. gerade dort, wo jeder noch funktionierende Arbeits- platz unheimlich viel wert ist, die Gefahr am größten - (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ist, daß auf Grund der Notwendigkeit, überhaupt ten der CDU/CSU — Zuruf von der SPD) industrielle Strukturen zu erhalten, dann Rüstung (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro verkauft wird. nenberg) 15754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Deutlichkeit: Der vorliegende Gesetzentwurf ist Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung weder ein Berufsstatus- noch ein Berufschancenge- über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD setz. Es ist auch kein Gesetz, mit dem etwa bestimmte auf Drucksache 12/5925. Wer stimmt für diesen Ent- Regelungen des Gesundheitsstrukturgesetzes außer schließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Ent- Kraft gesetzt werden können. haltungen? — Bei Enthaltungen einiger Mitglieder der PDS/Linke Liste ist der Entschließungsantrag mit Es ist vielmehr ein Berufszulassungs- und Ausbil- den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt wor- dungsgesetz. den. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!) Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 und Zusatzpunkt 4 Es betrifft diejenigen, die sich künftig für die Berufe auf: des Masseurs und medizinischen Bademeisters oder 5. Erste Beratung des von der Bundesregierung des Physiotherapeuten qualifizieren wollen. Sie alle eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über brauchen eine an die Entwicklung angepaßte, quali- die Berufe in der Physiotherapie tativ hochwertige Aus- und Weiterbildung, damit sie (Masseur- und Physiotherapeutengesetz — dem schärfer werdenden Konkurrenzkampf inner- MPhG) halb des europäischen Wirtschaftsraumes besser gewachsen sind und um den gestiegenen Anforderun- — Drucksache 12/5887 gen in der Physiotherapie Rechnung zu tragen. —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit (federführend) Die künftigen gesetzlichen Regelungen sehen zwei Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Berufe in der Physiotherapie vor: den Masseur und Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO medizinischen Bademeister sowie den Physiothera- ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD peuten, bisher den Krankengymnasten. Mit dem Neuordnung der Berufe in der Physiothera- Gesetz wird hinsichtlich beider Berufe Rechtseinheit pie im Bereich der Ausbildung und Zulassung in ganz — Drucksache 12/5912 — Deutschland hergestellt. Bisher galten in den neuen Ländern die Regelungen der ehemaligen DDR fort. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit (federführend) Durch die Umsetzung zweier Richtlinien der EG Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie des Vertrages von Porto vom 2. Mai 1992 über Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirt- einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einver- schaftsraumes werden die Voraussetzungen für die standen? — Das ist offensichtlich der Fall. Darm Anerkennung dieser Berufe innerhalb der EG und der können wir die Debatte eröffnen. EFTA geschaffen. Zunächst einmal hat die Parlamentarische Staatsse- kretärin Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl das Wort. Gleichzeitig erteilt der Gesetzentwurf der Forde- rung der SPD und der Masseure nach einem Einheits- beruf eine klare Absage, und das aus gutem Grund. Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin Denn beide Berufe haben traditionell unterschiedli- beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! che Tätigkeitsfelder. Deshalb sollen beide Berufe Meine Damen und Herren! Der heute vorliegende gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Zwar über- Gesetzentwurf ist der nunmehr dritte Versuch, das lappen sich diese Tätigkeiten teilweise in ihren R and- inzwischen 35 Jahre alte Gesetz über die Berufe des zonen — das ist ja kein Novum —; in ihren Kernbe- Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademei- reichen jedoch stellen sie differenzierte Anforderun- sters sowie des Krankengymnasten durch eine umfas- gen an den jeweiligen Beruf. Deshalb kann es keinen sende Neuordnung abzulösen. Einheitsberuf geben. Seit Jahren ist diese Neuordnung in der Diskussion. In den letzten Jahren sind bereits zwei Gesetzent- Die Ausbildungen werden in beiden Berufen erheb- würfe an unüberwindbaren Gegensätzen der Berufs- lich verbessert: Beim Beruf des Masseurs und medizi- gruppen und an der strikten Ablehnung der Integra- nischen Bademeisters bleibt es bei der Gesamtausbil- tion des praktischen Anerkennungsjahres in den dungszeit von zweieinhalb Jahren. Sie wird jedoch Lehrgang an den Schulen von seiten p rivater Schul- grundlegend neu strukturiert: Der bisher einjährige träger gescheitert. Lehrgang wird auf zwei Jahre ausgedehnt. Die prak- tische Anerkennungszeit wird künftig nur noch ein Jetzt, beim dritten Anlauf, sind diese Gegensätze halbes Jahr betragen. endlich überwunden. Nach wiederum mehrjähriger Verhandlung mit den beteiligten Berufskreisen, ins- Die Ausbildung zum Beruf des Pysiotherapeuten besondere mit den Masseuren und Krankengymna- wird künftig einheitlich drei Jahre dauern. Das bishe- sten, beruht der heutige Gesetzentwurf auf einem rige praktische Anerkennungsjahr, das außerhalb der ausdrücklichen Konsens der Spitzenverbände der Verantwortung der Schulen und außerhalb jeder Masseure und Krankengymnasten. Qualitätskontrolle stattfand, entfällt und wird in den Aus regionalen Gruppierungen einiger Masseur dreijährigen Lehrgang integriert. Dieser umfaßt glei- verbände und vor allem aus dem Bereich einzelner - chermaßen Unterricht und praktische Ausbildung. Masseurpraxen gibt es noch immer einen gewissen Einer Verschulung der Ausbildung wird damit entge- Widerspruch. Allen, die noch immer massiv gegen gengewirkt. Am Ende steht die staatliche Prüfung dieses Gesetz mobil machen wollen, sage ich mit aller zum Physiotherapeuten. Der Vorentwurf einer Ausbil- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15755

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl dungs- und Prüfungsverordnung wird dem federfüh Meine Damen und Herren, der Bund kann eben nur renden Ausschuß mit vorgelegt werden, Frau Steen. Rahmenbedingungen setzen. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. (Antje-Marie Steen [SPD]: Sehr schön! Die Bundesregierung ist lernfähig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Masseure und medizinische Bademeister erhalten Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort eine faire Chance, unter medizinisch vertretbaren hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Helga Otto. Bedingungen zusätzlich die Qualifikation zum Phy- siotherapeuten zu erwerben. Nach geltendem Recht werden einem Masseur, der zusätzlich Krankengym- Dr. Helga Otto (SPD): Meine sehr verehrten Damen nast werden will, auf die dreijährige Ausbildung zum und Herren! Gleich mehrere Gründe veranlassen uns, Krankengymnasten gerade sechs Monate angerech- heute hier im Parlament über ein Masseur- und net. Nach dem heute vorliegenden Gesetzentwurf Physiotherapeutengesetz zu beraten. Die Einheit muß ein Masseur und medizinischer Bademeister, der Deutschlands steht für mich, die aus den neuen Physiotherapeut werden will, noch maximal zwölf Bundesländern kommt, an erster Stelle, an zweiter der bzw. neun Monate Ausbildung absolvieren, die auch Europäische Binnenmarkt und die vom EG-Minister- mit 1 400 bzw. 1 050 Stunden in Teilzeitform abgelei- rat beschlossene Ergänzungsrichtlinie über die Aner- stet werden können. Am Ende steht — wie bisher auch kennung beruflicher Bildungsabschlüsse und schließ- — die staatliche Prüfung. lich an dritter die Tatsache, daß die bestehenden Gesetze, welche die physikalische Therapie be treffen, Diese unter fachlichen Gesichtspunkten an sich durch moderne Auffassungen und Methoden in der schon großzügige Regelung genügt indessen zahlrei- physikalischen Behandlung von Krankheiten über- chen Masseuren keineswegs. Sie wollen die Zusatz- holt sind. qualifikation zum „Sonderangebot", nämlich nur mit Wie in beinahe allen Berufen werden die Anforde- einer dreimonatigen Zusatzqualifikation. Damit aber, rungen an die Betreffenden immer größer, der Ausbil- meine Damen und Herren, wäre weder den Patienten dungszeitraum verlängert sich, und die Anforderun- noch den Masseuren und medizinischen Bademei- gen an die Qualität der zu erbringenden Leistungen stern selbst gedient. Nach Ansicht ärztlicher und werden immer höher. Das ist eigentlich kein Fehler, krankengymnastischer Experten läge eine solche aber das verlangt auch von uns, daß wir innerhalb der Minimalzusatzausbildung jenseits des medizinisch Ausbildungsberufe Durchstiegsmöglichkeiten schaf- Verantwortbaren. Die notwendige fachliche Qualifi- fen, damit jeder in dieser Gesellschaft auch sein kation bliebe dabei auf der Strecke. Deshalb hat die berufliches Habitat finden kann. Bundesregierung einer entsprechenden Änderungs- empfehlung des Bundesrates nicht zugestimmt. (Beifall bei der SPD) Die Voraussetzungen für vergleichbare Leistungen Meine Damen und Herren, fast schon mit Regelmä- innerhalb einer Berufsgruppe werden durch eine ßigkeit taucht bei allen Diskussionen über Gesetze zur vergleichbare Ausbildung, durch qualifizierte Lehrer, Ausbildung und Zulassung für medizinische Fachbe- vergleichbar gute Rahmenbedingungen und eine rufe von seiten der SPD derselbe Vorwurf auf, wir staatliche Abschlußprüfung geschaffen. Danach wird sollten diese Dinge doch auf der Grundlage des es immer noch Unterschiede geben, die den fairen und Berufsbildungsgesetzes regeln. gesunden Wettkampf der Physiotherapeuten und (Antje-Marie Steen [SPD]: Jawohl!) Masseure und medizinischen Bademeister ausma- chen. Deshalb sage ich hier noch einmal: Ausbildungsrecht- Mir ist natürlich bekannt, daß sich der Verband liche Regelungen für Heilberufe können auf der Physikalische Therapie, Sektion Blinde und Sehbe- Grundlage des Berufsbildungsgesetzes gar nicht hinderte, für einen Einheitsberuf „Physiotherapeut/ getroffen werden. Physiotherapeutin" ausgesprochen hat. Wir haben (Antje-Marie Steen [SPD]: Das kann m an die über 20jährige Erfahrung der Elisabeth - Dicke- ändern!) Schule in Chemnitz bei der Ausbildung blinder und sehbehinderter Physiotherapeuten für unsere Ent- Wesentliche Elemente, die auf der eigenständigen scheidung, doch zwei Berufe in der physikalischen Regelungsgrundlage für Heilberufe nach Art. 74 Therapie auszubilden, mitbedacht. Nr. 19 des Grundgesetzes möglich und unabdingbar sind, entziehen sich einer Regelung nach dem Berufs- Entschuldigen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, bildungsgesetz. hier im Parlament einmal darüber zu spötteln, daß man in Mainz Pilotprojekte über Dinge erfindet, die Es wäre sehr zu begrüßen, Frau Steen, wenn die wir schon 20 Jahre in Chemnitz praktizieren, nämlich SPD eine solche Hartnäckigkeit zeigen würde, wenn die Ausbildung von blinden und sehbehinderten Phy- es um Regelungen über die Ausbildung von Ausbil- siotherapeuten, die sich überall sehen lassen können. dern, um Schulgeldfreiheit an privaten Schulen und Das erinnert mich sehr an die angeblich völlig neue um Qualitätskriterien für die Schulen geht. Idee, mit welcher in Berlin-Buch die Zentralinstitute für Molekularbiologie, Krebs- und Herz-Kreislauf- (Antje-Marie Steen [SPD]: Das machen wir Forschung samt Kliniken zum Max - Delbrück - Cen- doch!) - trum umgestaltet wurden. Die Verbindung von Denn hier liegt in den dafür zuständigen Ländern Grundlagenforschung und klinischer Forschung war — und zur Zeit sind es ja in der Mehrzahl SPD-regierte in Berlin-Buch schon lange eine Tatsache, ähnlich Länder — vieles im argen. auch in Bad Elster. 15756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Helga Otto Es wird in Mainz von „Schrittmachern" und „völlig den Ländern eine entsprechende Regelung finden neuen Ideen" geredet, und es werden ordentlich könnte. Fördermittel kassiert — gleich zweimal, weil es so gut Zur Überleitung der alten Berufe Masseur/Masseu- geklappt hat —, und hier sind dann auch die neuen rin und Krankengymnast in die neuen Berufe Masseur Sachverständigen für die Bundesregierung zu su- und Krankengymnast und Physiotherapeut/Physio- chen. therapeutin sollten Nachqualifizierungen angestrebt Nun, unsere Erfahrungen in Chemnitz waren, daß werden, da Defizite im jeweiligen anderen Tätigkeits- die Ausbildung zum Physiotherapeuten für Blinde die bereich bestehen. Bei umfangreicher Berufserfahrung Ausnahme darstellt, weil bestimmte Anforderungen kann das unseres Erachtens auch eine obligatorische an die Leistung nicht erbracht werden können. Das Ergänzungsprüfung leisten. Ich hoffe allerdings nicht, sind z. B. die Säuglings- und Gruppengymnastik, weil daß jemand auf die Idee kommt, diese auch von den die visuelle Kontrolle der Ergebnisse nicht so klappt. Physiotherapeuten der ehemaligen DDR zu verlan- Die Elektrotherapie ist dank neuer Geräte jetzt auch gen, die, wie bereits erwähnt, eine dreijährige quali- von Blinden gut ausführbar. Schließlich wollen wir fizierte Ausbildung auf theoretischem und prakti- den Mädchen und Jungen mit Hauptschulabschluß schem Gebiete erhalten haben. den Weg in einen nichtärztlichen Heilberuf freihal- Für Umschüler aus nicht verwandten Berufen sollte ten. allerdings das volle Ausbildungsprogramm im Inter- Nicht zuletzt schließen wir uns den Empfehlungen esse der Qualitätssicherung gefordert werden. Auch des Bundesgesundheitsrates und der Länder an. Des- die Ausbildung Sehender, Sehbehinderter und Blin- halb haben wir den Beruf des Masseurs und medizi- der sollte in Zukunft mehr gemeinsam erfolgen, damit nischen Bademeisters neben den des Physiothera- die Integration Behinderter in die Gesellschaft endlich peuten/Physiotherapeutin befürwortet. Wünschens- eine Selbstverständlichkeit wird, wert wäre allerdings, daß die Ausbildung so erfolgt, Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. daß auch Masseure und medizinische Bademeister (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste eine Ausbildung in Bewegungstherapie erhalten, sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) denn rein passive Leistungen werden heute selten verordnet. Der Patient soll aktiv in die Therapie einbezogen werden und Restfunktionen schulen. - Ich erteile Auch müßte man sonst ernstlich um die wirtschaftliche Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: nunmehr dem Abgeordneten Dr. Dieter Thomae das Existenz von reinen Massagepraxen fürchten. Das Wort. wollen wir nicht. Ähnliches gilt allerdings für die Ausbildung der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, die Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Präsident! Meine aus unserer Sicht zu wenig passive Techniken erler- sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt drei nen. Es kommt häufig vor, daß erst beides zusammen Gründe, warum wir ein solches Gesetz jetzt auf den zum Ziel führt. Ich freue mich, daß in diesem Gesetz- Tisch legen. entwurf gute Erfahrungen aus den neuen Bundeslän- Erstens. Wir wollen den gestiegenen Anforderun- dern eingeflossen sind, wenn auch nicht alle. gen gerecht werden; denn in den letzten 35 Jahren hat (Beifall des Abg. Klaus Kirschner [SPD]) sich in diesem gesundheitlichen Bereich einiges ver- ändert. Die besondere Ausbildung von Medizinpädagogen hatte erhebliche Vorteile für die Weitergabe von Zweitens. Darüber hinaus wollen wir das deutsche Wissen. Die dreijährige Ausbildung der Physiothera- Recht den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften für peuten der ehemaligen DDR deckt sich mit den die Anerkennung der Diplome und Prüfungszeug- Anforderungen, die eine mindestens dreijährige nisse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Berufsausbildung nach der EWG-Richtlinie 89/48 vom anpassen. 24. Januar 1989 verlangt. Meine Damen und Herren, es gibt einen weiteren Grund. Das wurde schon von Frau Dr. Otto gesagt. Die Auch das Absolvieren eines praktischen Teiles der Ausbildungsregelungen in der früheren DDR Berufsausbildung in geeigneten Ausbildungsstellen veran- lassen uns ebenfalls, eine Übereinstimmung herbei- soll stattfinden. Etwas schizophren muß es unseren zuführen. Physiotherapeuten allerdings vorkommen, daß sie mit dem Einigungsvertrag zu Krankengymnasten degra- Es ist lange sehr umstritten gewesen: Sollen wir diert wurden und nun nach den Übergangsvorschrif- tatsächlich zwei neue Berufsbilder — Physiotherapeu- ten wieder gnädig die Erlaubnis bekommen, sich ten sowie Masseur und medizinischer Bademeister — Physiotherapeut oder Physiotherapeutin zu nennen. bilden, oder sollen wir das in einem Beruf ermögli- chen? (Antje-Marie Steen [SPD]: Unerhört!) Die Koalition hat sich dazu entschieden, zwei Die Verlängerung der Ausbildung geht allein bei Berufe zu schaffen, vor allen Dingen mit einem der Massage mit dem Löwenanteil von 12 Millionen entscheidenden Argument: Wir wollen die Aufstiegs- DM und bei der Physiotherapie mit 20 Millionen DM möglichkeiten und die Einstiegsmöglichkeiten si- ungerechterweise wieder einmal zu Lasten der Schü- chern, damit auch unterschiedliche Ausbildungsvor- lerinnen und Schüler. Die Zahlung von Schulgeld aussetzungen die Chance geben, im Laufe des Lebens sollte bald der Vergangenheit angehören. Es wäre zu Aufstiege zu schaffen. Das ist der entscheidende begrüßen, wenn die Bundesregierung zusammen mit Grund. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15757

Dr. Dieter Thomae In vielen Gesprächen mit den Beteiligten sowie mit Grundintentionen des Gesetzes kann zugestimmt Verbandsvertretern wurde sehr intensiv gerade dar- werden. über diskutiert: Wie soll die Weiterbildung und Fort- Als Besonderheit ist festzuhalten, daß an Stelle der bildung für den Bereich Masseur erfolgen? Es wurde alten Berufsbezeichnung „Krankengymnast" jetzt darüber gesprochen und sowohl mit den Verbänden generell die bisher nur in den neuen Bundesländern auf der Seite der Krankengymnasten als auch denen gebräuchliche Benennung einge- auf der Seite der Masseure vereinbart: 18 Monate oder ,,Physiotherapeut" Teilzeit 2 100 Stunden. Die Zeit kann auf 12 Monate führt wird. Man ist geneigt zu sagen: Es geschehen noch Zeichen und Wunder. bzw. 1 400 Stunden verkürzt werden, wenn minde- stens fünfjährige Berufstätigkeit in diesem Bereich Dieser Vorgang ist ja auch dann erstaunlich, wenn vorliegt. Sie kann sich nochmals um 3 Monate verkür- es sich nur um einen äußerst kleinen und politisch zen, wenn weitere Qualifikationen durch Fort- und unbedeutenden Ausschnitt aus der Vereinigungs- Weiterbildung vorliegen. wirklichkeit handelt. Aber selbst hier wachsen natür- Aber, meine Damen und Herren, bei der Gesetzge- lich die Bäume der Ostdeutschen nicht in den Himmel. bung müssen wir sehr darauf achten, daß die Qualifi- Es bleibt bei der bloßen Ersetzung der Berufsbezeich- kationen von verschiedenen Institutionen anerkannt nung. werden. Es kann nicht sein, daß nur Qualifikationen Echte inhaltliche Veränderungen zugunsten des von einer Institution bei der Ermäßigung anerkannt hohen Ausbildungsstandards, wie er sich in der DDR werden. im Zusammenhang mit der an den Universitäten (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) etablierten medizinisch-wissenschaftlichen Disziplin Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat den und Facharztrichtung „Physiotherapie" entwickelt Vorschlag gemacht, diese Qualifikationszeit, also die hatte, werden damit nicht verbunden. Aufstiegszeit, nochmals zu verkürzen. Man kann über Im einzelnen ist einzufordern, daß im Rahmen der alles reden; aber die Qualifikationsmerkmale sollten Übergangsvorschriften — das bet rifft den § 16 — auch wir nicht noch mehr absenken. ausdrücklich festgehalten wird, das Physiotherapeu- (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.] und des ten, die ihren Beruf nach dem Recht der DDR erwor- Abg. Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] ben haben, auch künftig zur Weiterführung ihrer [CDU/CSU]) Berufsbezeichnung berechtigt sind. Eine solche, die Was wir tun müssen, ist, die Lerninhalte von diesen Klarheit erhöhende Aussage fehlt bisher. beiden Bereichen genau abzugleichen und festzustel- Den in § 18 — offensichtlich aus arbeitsmarktpoliti- len, was hier und dort gelehrt worden ist. Erst dann, schen Erwägungen — vorgesehenen extrem verkürz- meine Damen und Herren, können wir das endgültige ten Umschulungszeiten auch für Absolventen nicht- Tableau und die Anforderungsmerkmale für diesen medizinischer Ausbildungsberufe kann ich nicht Beruf festlegen. zustimmen. Das ist mit dem formulierten Ausbil- Was mich noch besonders bewegt, ist die Frage: Wie dungsziel und dem erhöhten Berufsanspruch nicht sehen die Kosten für die Fort- und Weiterbildung aus? mehr vereinbar. Selbst die Verkürzung der Umschu- Die Masseure, die diese Stunden nachholen wollen, lungszeit für Masseure und medizinische Bademeister müssen einen bestimmten Betrag für die Fort- und zum Physiotherapeuten erscheint für eine Gleichwer- Weiterbildung aufbringen. Das bedeutet teilweise tigkeit der Ausbildung unglaubwürdig und ist wohl sicherlich auch den Ausstieg aus dem Erwerbsleben nur aus der gegenwärtigen Situation der Berufs- für diese Zeit. Für diese Fort- und Weiterbildung gruppe ableitbar. müssen wir vernünftige Kosten festlegen. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Na, Meine Damen und Herren, das Ziel unserer Frak- das stimmt aber nicht, Frau Kollegin! Das tion ist, ein neues Berufsbild zu schaffen. Ziel ist aber sollten Sie besser wissen!) auch, echte Zugangschancen für alle zu schaffen, damit dieser Beruf in Europa eine Zukunft hat und Routinearbeit im tagtäglichen Behandlungsspektrum überall anerkannt werden kann. und Erfahrung im Umgang mit Patienten kann eben Danke schön. nur teilweise als Ersatz für eine kontinuierliche Aus- bildung angesehen werden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Im übrigen muß auch angesichts der Behandlung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr dieses Gesetzes für zwei weitere medizinische Einzel- erteile ich der Abgeordneten Frau Dr. Ursula Fischer berufe erneut kritisch festgehalten werden: Die Bun- das Wort. desregierung setzt ihre Linie fort, notwendige Ände- rungen in der medizinisch-beruflichen Bildung immer nur am Einzelproblem und auch dort nur unvollstän- Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- dig vorzunehmen. dent! Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Entwurf steht in einer Reihe von gesetzlichen Neure- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Frau Dr. Fischer, gelungen, mit denen die Ausbildung in verschiedenen das stimmt doch gar nicht!) nichtärztlichen Heilberufen entsprechend weiterfüh- — Das ist richtig. Das haben wir gestern in der render Entwicklungen in der Medizin verbessert und Anhörung gehört. verlängert, Anpassungen an das EG-Recht vorgenom- men und gleiches Recht in den alten und neuen (Dr. Walter Fr anz Altherr [CDU/CSU]: Wo Bundesländern hergestellt werden soll. Diesen haben Sie das gestern herausgehört?) 15758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Ursula Fischer Die bereits im Zusammenhang mit dem Heilberufs- wenn wir immer mehr wirklich tüchtigen Hauptschü- änderungsgesetz und auch bei der gestrigen Sachver- lern Berufszugänge verwehren. ständigenanhörung dazu angesprochenen grundsätz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und lichen Mängel und Strukturfehler der medizinischen der F.D.P.) Bildung werden bisher auch hier — im Gegensatz zum Antrag der SPD-Fraktion — nicht einmal im Ansatz Der Weg in diese zwei eigenständigen Berufe der angegangen. Physiotherapie mit den verschiedenen, aber sich überlappenden Ausbildungen und mit den verschie- Auch ich bin der Meinung, daß gründlich geprüft denen Aufgaben, die sich wiederum überschneiden, werden sollte, inwieweit die existentiellen Sorgen bietet nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion sowohl dieser Berufsgruppe doch noch einmal zu weiterfüh- für die Masseure und medizinischen Bademeister wie renden Überlegungen Anlaß geben müssen. Die vor- auch für die Physiotherapeuten Zukunft. Allerdings gesehene Anhörung wird sicher zu weiteren Verbes- muß man diesen Weg auch klar vorzeichnen. Meine serungen führen. Das wünsche ich uns jedenfalls. Fraktion wird Vorgaben machen, bei denen die Betei- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei ligten am Ende auch wissen, was gemeint ist. Unklar Abgeordneten der SPD) ist aber meiner Ansicht nach der Antrag der SPD. (Klaus Kirschner [SPD]: Er ist völlig klar!) — Ich werde Ihnen gleich sagen, warum da einiges Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort unklar ist. — Dort werden die Berufe der Masseure hat nunmehr die Abgeordnete Frau Sigrun Löwisch. und der medizinischen Bademeister und der Kranken- gymnasten zuerst einmal zu einem „großen Physio- therapeuten" — so steht es wortwörtlich im Antrag — zusammengeführt. Für uns ist die Frage: Signalisiert Sigrun Löwisch (CDU/CSU): Frau Bergmann-Pohl, der Begriff „großer Phyiotherapeut", daß es auch es war richtig: Das ist der dritte Anlauf, sehr geehrter einen „kleinen Physiotherapeuten" gibt? Wir halten Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, den nichts von einer Aufteilung in groß und klein. Wir wir nehmen, um die Berufe der Physiotherapeuten in finden, beide Berufe sind gleich wich tig. einem neuen Gesetz zu regeln, und es sollte wirk lich Die SPD-Fraktion sagt in ihrem Antrag etwas sehr auch der letzte Anlauf sein. Ich wünsche mir das Interessantes. Sie sagt dort, Hauptschulabsolventen jedenfalls. müßten beides werden können, Physiotherapeut und (Beifall bei der CDU/CSU und der PDS/Linke Masseur. Liste — Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Für (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das meinen wir dieses Jahrhundert! — Dr. Walter Franz auch!) Altherr [CDU/CSU]: Für dieses Jahrtau send!) — Halt, lieber Herr Thomae, wir fordern das so ja nicht, sondern wir meinen den Durchstieg. — Für dieses Jahrhundert. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Ja, genau!) Wir stehen jetzt unter dem Zwang — Gott sei Dank, das ist ein schönes Ergebnis der Einheit —, die Die SPD-Fraktion fordert das auf direktem Wege. Rechtseinheit zwischen den alten und neuen Bundes- Gleichzeitig fordert sie aber, daß den Anforderungen ländern herzustellen und diesen Beruf auch EG-fest der EG-Richtlinie über die Anerkennung beruflicher zu machen. Bei der neuen Gestaltung dieses Gesetzes Bildungsabschlüsse entsprochen werden soll. müssen wir natürlich auch die wirtschaftliche Lage, in (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist die die Krankengymnasten, aber vor allem die Mas- ein Widerspruch in sich!) seure durch die notwendigen Einsparungen des GSG — Ja, das widerspricht sich. Das ist ja nun das dritte geraten sind, vor Augen haben. ähnliche Gesetz, das wir in Fahrt bringen. Wir wissen Aber sie haben vorrangig nun erst einmal nichts mit inzwischen alle, daß medizinische Fachheilberufe in diesem Gesetz zu tun. Die Diskussionen über die der EG nur anerkannt werden, wenn für sie a) ein Auswirkungen des GSG dürfen uns bei diesem Gesetz mittlerer Bildungsabschluß und b) eine mindestens nicht die Feder führen. Aber insbesondere die Mas- dreijährige Berufsausbildung erforderlich sind. Wie seure stellen vor diesem Hintergrund die Frage, ob ihr will also die SPD den „großen Physiotherapeuten" mit Beruf Zukunft hat. Hauptschulabschluß, aber EG-anerkannt schaffen? Wir verstehen diese Fragen sehr gut und meinen, Das ist mir noch nicht ganz klar. Wir schlagen vor, die daß die Erweiterung der Ausbildung der Masseure Ausbildung der zukünftigen Physiotherapeuten auf und medizinischen Bademeister um ein Jahr diesen drei Jahre zu verlängern und einen mittleren Bil- ein besseres Rüstzeug für die auf Grund der medizi- dungsabschluß zur Voraussetzung zu machen. nischen Entwicklung gestiegenen Anforderungen gibt und den vorher schon angesehenen Beruf noch weiter stärkt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Kol- legin, der Abgeordnete Klaus Kirschner möchte gerne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und eine Zwischenfrage stellen. der F.D.P.) - Ganz bewußt halten wir diesen qualifizierten Beruf nach wie vor auch für tüchtige Hauptschüler offen. Sigrun Löwisch (CDU/CSU): Ja. — Herr Kirschner, Grundsätzlich finde ich, wir machen einen Fehler, bitte schön. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15759

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte — Es gibt auch physikalische Keulen. Aber im Grunde sehr. ist es so: Wenn man keine Tabletten schluckt, sondern Bäder oder Massagen nimmt oder eine Bewegungs- Klaus Kirschner (SPD): Frau Kollegin, ist Ihnen therapie macht, dann ist das in der Regel harmlo- vielleicht klar, daß wir, wenn wir sagen, wir möchten ser. auch für Hauptschüler die Möglichkeit schaffen, den (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Rich Abschluß als Physiotherapeut zu erreichen, und in tig!) diesem Zusammenhang auf die EG-Anerkennung Eine umfassende Ausbildung ist unserer Meinung hinweisen, damit meinen, daß es für Hauptschüler nach der beste Patientenschutz. Abschlüsse gibt, die dem mittleren Abschluß gleich- wertig sind? Würden Sie das bitte zur Kenntnis neh- Die Möglichkeit für Masseure — auch diese Mög- men? lichkeit sehen wir ja vor —, durch zusätzliche Ausbil- dung Physiotherapeut zu werden, ist, wie sie jetzt geplant ist, natürlich nicht so einfach, da neben Sigrun Löwisch (CDU/CSU): Dann würde ich Ihnen, lieber Herr Kirschner, aber raten, Ihren Antrag anders zusätzlichen Fächern vor allem die Bewegungsthera- zu formulieren; denn darin steht als Hauptpunkt: pie mit all ihren medizinischen Facetten erlernt wer- den muß. Bisher mußten Masseure, wie wir schon 3. Zugang zur Ausbildung: Für die Ausbildung gehört haben, die sich zu Krankengymnasten weiter zum Physiotherapeuten/zur Physiotherapeutin qualifziert haben, einen zusätzlichen Lehrgang von sowie für die Ausbildung zum Masseur und 18 Monaten absolvieren. Nach dem neuen Gesetz medizinischen Bademeister/Masseurin und me- sollen für schon tätige Masseure nur noch zwölf bzw. dizinischen Bademeisterin ist der Zugang mit neun Monate notwendig sein. Also kann man auch in Hauptschulabschluß ... zu ermöglichen. Teilzeitform mit 1 400 oder 1 050 Stunden diese Nach- Das ist nicht das, was Sie hier sagen. Sie sagen nicht: qualifikation erwerben. Nur über den Durchstieg wird dies ermöglicht. Für Sie Wir wissen sehr genau: An diesem Punkt scheiden ist es zunächst einmal eine grundsätzliche Ausgangs- sich die Geister. Einerseits dauert den Masseuren voraussetzung. Sie wissen: Wenn wir das so in das diese Übergangsausbildung zu lange. Sie fordern Gesetz hineinschreiben würden, dann würde das von eine Verkürzung auf drei bis sechs Monate. Anderer- der EG nicht anerkannt werden. Deswegen möchte seits wird z. B. von Fachärzten die vorgesehene ich Sie bitten, Ihren Antrag noch einmal zu überden- Umstiegszeit von neun bis zwölf Monaten als zu kurz ken. angesehen. Sie sagen, das sei schon über der (Zustimmung bei der CDU/CSU — Klaus Schmerzgrenze. Kirschner [SPD]: Sie müssen nur richtig Sicher ist eines: Wir Politiker müssen mithelfen, daß lesen!) der Umstieg der Masseure zum Physiotherapeuten als — Ich habe ihn ja gerade vorgelesen. Umschulungsmaßnahme gefördert wird. Ich denke, (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wir daß er nicht so teuer ist wie z. B. die Fortbildungen können lesen! Ihr könnt nur nicht formulie- jetzt. ren!) Herr Präsident, jetzt muß ich einmal fragen: Haben Ich möchte jetzt fortfahren. Ich war bei der Frage, Sie die Zeit für die Beantwortung der Zwischenfrage warum wir die Ausbildung der Physiotherapeuten auf angerechnet? drei Jahre verlängert sehen wollen. Es gibt noch andere Gründe als das EG-fest-Machen. Wir wissen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nein, ich — wer sich um diese Dinge kümmert, weiß das habe selbstverständlich die Uhr angehalten. inzwischen —, daß wir schon den heutigen Lehrstoff kaum in diese zweijährige Ausbildungszeit pressen Ich würde aber bitten, daß Sie zum Ende kommen. können. An sich bin ich nicht kleinlich; aber, Frau Kollegin, nach der jetzigen Gefechtslage wird das Plenum bis Aber — das ist noch wichtiger — daß die Ausbildung 0.15 Uhr tagen. Wir müssen ein bißchen auf die Zeit der Physiotherapeuten verlängert wird, liegt im Inter- achten; denn das ist für alle fast nicht mehr zumut- esse der Patienten. Diese Patienten haben wir bei der bar. Verabschiedung des Gesetzentwurfs vor Augen. Denn wir wissen einerseits — damit können Sie sicher wieder einverstanden sein —, daß wir mit physikali- Sigrun Löwisch (CDU/CSU): Diesem Wunsch, sehr scher und Bewegungstherapie auf sanfte Art, also geehrter Herr Präsident, will ich mich gerne beugen. ohne die chemische Keule, heilen und lindern können. Sie wissen ja, die allermeisten Kollegen sagen dann: Das ist positiv, und das muß verstärkt werden. Ande- Jetzt noch ein letzter Satz. Dieser letzte Satz hat dann rerseits muß natürlich sorgfältigst gearbeitet werden, ungefähr zehn Kommas. Aber ich mache das nicht, um keinen Schaden anzurichten. Denn wir wissen sondern ich möchte Ihnen heute eine Freude bereiten auch — darin sind wir uns wieder einig, denke ich —, und sofort Schluß machen. daß eine falsch angewandte physikalische oder Bewe- Vielen Dank. gungstherapie anstatt zu der gewünschten Heilung und zum gewünschten Erfolg zu einer Schädigung (Beifall bei der CDU/CSU) führen kann. - (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Meine es! — Zuruf von der SPD: Es gibt aber auch Damen und Herren, damit sind wir am Ende der physikalische Keulen!) Aussprache. 15760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der ärztlichen Behandlung auf eine neue, gesetzlich den Drucksachen 12/5887 und 12/5912 an die in der verankerte Stufe gehoben. Diplompsychologen spie- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- len künftig eine anerkannte und wichtige Rolle im gen. — Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Feld eigenverantwortlicher Heilbehandlung. Dann ist das also als beschlossen festzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das Psychotherapeutengesetz erfüllt einen langge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie den hegten Wunsch der Psychotherapeuten: die Zulas- Zusatzpunkt 5 auf: sung zur Versorgung von Patienten im System der 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung gesetzlichen Krankenversicherung. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über (Zuruf von der CDU/CSU: Das war mal die Berufe des Psychologischen Psychothera- notwendig!) peuten und des Kinder- und Jugendlichenpsy- chotherapeuten und zur Änderung des Fünften Ich danke der Koalition dafür, daß sie da kräftig Buches Sozialgesetzbuch mitgeholfen hat.

— Drucksache 12/5890 — Zugelassen wird jeder Psychologische Psychothera- Überweisungsvorschlag: peut sowie jeder Kinder- und Jugendlichenpsycho- Ausschuß für Gesundheit (federführend) therapeut, der die entsprechenden Qualifikationsan- Ausschuß für Frauen und Jugend forderungen erfüllt. Eine Zulassungsbeschränkung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft wie bei den Ärzten ist nicht vorgesehen. Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Meine Damen und Herren, diese umfassende Öff- ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD nung des Systems der gesetzlichen Krankenversiche- Psychotherapeutische Versorgung gesetzlich rung für diese Berufe kann jedoch natürlich nicht ohne Krankenversicherter und Zugang zu den Beru- flankierende Maßnahmen erfolgen. Das Gesund- fen des Psychologischen Psychotherapeuten heitsstrukturgesetz hat von allen Beteiligten große und des Kinder- und Jugendlichenpsychothe- Opfer gefordert, um die Lage der gesetzlichen Kran- rapeuten kenversicherung zu stabilisieren. — Drucksache 12/5913 — In dieser Situation muß auch die auf die Kranken- Überweisungsvorschlag: versicherung zukommende Mehrbelastung durch die Ausschuß für Gesundheit (federführend) nichtärztlichen Psychotherapeuten als neue Lei- Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung und Wissenschaft stungserbringer begrenzt werden. Deshalb wird es an den Eckpunkten des Gesetzentwurfes — der Budge- Hierzu ist vom Ältestenrat eine Debattenzeit von tierung und der 25%igen Zuzahlung — keine Abstri- einer Stunde vorgeschlagen worden. Das Haus ist che geben können. Allen, die diese flankierenden hoffentlich damit einverstanden. — Das ist der Fall. Maßnahmen aufbrechen wollen, sage ich ganz deut- Meine Damen und Herren, zunächst einmal möchte lich: Wer Maximalforderungen durchsetzen will, wird ich die Genehmigung einholen, daß ich eine Rede des am Ende mit leeren Händen dastehen. Abgeordneten Ortwin Lowack zu diesem Tagesord- nungspunkt zu Protokoll nehmen kann*). Mit Rück- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sicht auf die eben gemachte Bemerkung nehme ich Ich glaube, damit ist niemandem gedient, am an, daß es dazu keine Einwendungen gibt. — Das ist wenigsten den Psychologischen Psychotherapeuten offensichtlich der Fall. Dann darf ich auch dies als und den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeu- beschlossen feststellen. ten. Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat die Parlamen- (Zuruf des Abg. Klaus Kirschner [SPD]) tarische Staatssekretärin Frau Dr. Bergmann-Pohl. — Also, Herr Kirschner, ich glaube, das muß auch im Sinne Ihres Handelns sein, denn Sie waren ja am

Dr. Sabine Bergmann - Pohl, Parl. Staatssekretärin Entwurf des GSG beteiligt. Ich denke, daß Sie da beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! keine anderen Wünsche haben. Meine Damen und Herren! Mit dem neugeplanten (Klaus Kirschner [SPD]: Ich habe nur gefragt, Psychotherapeutengesetz setzen wir ein Vorhaben wen Sie damit meinen!) um, das bereits seit einem ersten Entwurf aus dem Jahre 1978 in der Diskussion ist. — Alle Beteiligten, auch Sie, Herr Kirschner. Es geht bei dem von der Bundesregierung vorgeleg- Meine Damen und Herren, das Ausgabenbudget für ten Entwurf des Gesetzes über die Berufe des Psycho- das Jahr 1996 läßt hinreichend Spielraum für eine logischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Ausdehnung der psychotherapeutischen Leistungen, Jugendlichenpsychotherapeuten sowie zur Änderung indem das Ausgabenvolumen für nichtärztliche Psy- des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs um eine chotherapeuten von ca. 1 % der vertragsärztlichen umfassende Regelung für die genannten neuen Heil- Gesamtvergütung 1996 maximal um 25 % erhöht berufe sowie um Regelungen über ihre sozialversiche- werden kann. rungsrechtliche Stellung. In den Folgejahren wächst das Budget entspre- Durch die beabsichtigte Neuregelung wird die chend der Entwicklung der Grundlohnsumme. Dies, Mitwirkung Psychologischer Psychotherapeuten an meine Damen und Herren, ist keine besondere Härte für die nichtärztlichen Psychotherapeuten. Denn auch *) Anlage 3 die Vergütungsvereinbarungen der Vertragsärzte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15761

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl müssen ab 1996 weiterhin den Grundsatz der Bei- daß Versicherte bei Arzneimitteln und im Kranken- tragsstabilität und damit die Entwicklung der Grund- haus ebenfalls zuzahlen müssen. lohnsumme beachten. Ich sage hier noch einmal mit aller Deutlichkeit: (Beifall bei der CDU/CSU — Klaus Kirschner Eine gesetzliche Regelung ohne wirksame Ausgaben- [SPD]: Sehr gut!) begrenzung — und dies schließt die vorgesehene Zuzahlung ein — ist nicht vertretbar; denn ein Ver- — Dann können Sie auch einmal klatschen, Herr zicht auf diese Regelungen würde zwangsläufig zu Kirschner. einer finanziellen Überbelastung der gesetzlichen (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Er Krankenversicherung, einer Überforderung der Bei- würde es gern! Aber der darf doch nicht!) tragszahler und einer Steigerung der Lohnnebenko- sten führen. Das Budget für die nichtärztlichen Psychotherapeu- ten kann zudem auch in den Folgejahren auf bis zu (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Die Bundesre 1,25 % der vertragsärztlichen Gesamtvergütung aus- gierung ist auf dem richtigen Wege!) geweitet werden, wenn die Zahl der abgerechneten — Das sind wir immer, Herr Thomae, und Sie sind ja Leistungen gegenüber dem Vorjahr angestiegen ist. beteiligt. Das Budget ist damit so bemessen, daß es sowohl die bisherigen Ausgaben für die im Delegationsverfahren Meine Damen und Herren, bei den kontroversen arbeitenden nichtärztlichen Psychotherapeuten er- Diskussionen über das geplante Psychotherapeuten- faßt als auch die geschätzten Ausgaben für bisherige gesetz kommt meiner Meinung nach das Wesentliche Leistungen im Kostenerstattungsverfahren. der Regelungen zu kurz. Im Mittelpunkt stehen die Qualifikation der Psychotherapeuten und die Qualität Diese Ausgabenbegrenzung für psychotherapeuti- der psychotherapeutischen Versorgung. Der Patien- sche Leistungen der neuen Leistungserbringer ist tenschutz und die Qualitätsfrage sind entscheidende ebenso unverzichtbar wie die im Gesetzentwurf vor- Ansatzpunkte. Denn wir müssen alles dafür tun, daß gesehene Kostenerstattung und die Selbstbeteiligung wissenschaftlich anerkannte Psychotherapie wirksam bei Inanspruchnahme psychotherapeutischer Be- von Scharlatanerie abgegrenzt wird. handlung. (Beifall bei der CDU/CSU) Bereits in der bisherigen Praxis — ich verweise auf die Regelung der Techniker-Krankenkasse — nimmt Sie alle werden mir zustimmen, daß den Praktiken das Prinzip der Kostenerstattung breiten Raum ein. verschiedener Psycho-Sekten entgegengewirkt wer- Die Zuzahlung sieht eine 25 %ige Beteiligung der den muß und daß nicht jede Tätigkeit, die sich Versicherten für psychotherapeutische Leistungen Psychotherapie nennt, ein Gütesiegel verdient. sowohl der Psychologischen Psychotherapeuten als Deshalb wird im berufsrechtlichen Teil des Gesetz- auch der Ärtze vor. Nur eine solche spürbare Zuzah- entwurfs Psychotherapie als jede mittels wissen- lung, meine Damen und Herren, kann sicherstellen, schaftlich anerkannter Verfahren vorgenommene daß eine Beschränkung auf wirklich notwendige Tätigkeit zur Feststellung, Heilung und Linderung Behandlungen erfolgt. von psychischen Störungen mit Krankheitswert defi- Aber durch Härtefallregelungen ist gewährleistet, niert. Damit wird gesetzlich eine verläßliche wissen- daß niemand aus finanziellen Gründen auf eine psy- schaftliche Basis für die neuen Berufe festgeschrie- chotherapeutische Behandlung verzichten muß. Kin- ben. der und Jugendliche haben z. B. Anspruch auf volle Der Gesetzentwurf schreibt ferner eine mindestens Kostenübernahme durch die Krankenkasse. dreijährige ganztätige oder mindestens fünfjährige berufsbegleitende, mit Bestehen einer staatlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Prüfung abschließende Zusatzausbildung in der Psy- Insbesondere sozial Schwache und chronisch Kranke chotherapie bzw. Kinder- und Jugendlichenpsycho- werden durch die Sozialklausel vollständig von der therapie zwingend vor. Zuzahlung befreit. Die nach Qualitätsgesichtspunkten strukturierte (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sehr Ausbildung nach dem Hochschulabschluß ist unver- wichtig!) zichtbar. Auch die Bedeutung des psychiatrischen Jahres im Rahmen der Ausbildung kann nicht in Für Versicherte, die nicht unter die Sozialklausel Zweifel gezogen werden. Die Qualität der Ausbildung fallen, ist eine gleitende Härtefallregelung vorgese- für die neuen Berufe ist zum Schutz der Patienten von hen. Danach steigt die Belastungsgrenze entspre- entscheidender Bedeutung. Deshalb werden Ausbil- chend dem Bruttoeinkommen bis zum Erreichen der dungs- und Prüfungsordnungen für Psychologische vollen Selbstbeteiligung. Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichen- Hinsichtlich der Inanspruchnahme der Psychothe- psychotherapeuten, die das Bundesministerium für rapie durch Ehefrauen ohne eigenes Einkommen gilt, Gesundheit erarbeitet, dem Qualitätsgedanken Vor- daß die Härtefallregelung auf das gesamte Familien- rang geben. einkommen und die entsprechend der Familiengröße Qualitätsgesichtspunkte müssen auch im Rahmen erhöhten Einkommensgrenzen abstellt. der Übergangsregelung besonders berücksichtigt Es steht außer Zweifel, daß die vorgesehene Zuzah- werden.- Die Übergangsbestimmungen fordern des- lungsregelung einerseits finanzpolitisch unverzicht- halb eine Zusatzausbildung von mindestens drei Jah- bar ist, andererseits aber unzumutbare Belastungen ren. Diese Voraussetzungen sind erforderlich, um zum der Versicherten vermeidet. Sie berücksichtigt auch, einen eine hohe fachliche Qualität der nichtärztlichen 15762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl psychotherapeutischen Behandler zu gewährleisten Unser Trumpf 3: Wir haben fast alle Bundesländer und andererseits zu vermeiden, daß durch die Zulas- hinter uns. Wir haben unsere Zielsetzung mit den sung einer Vielzahl weiterer Behandler die Finanzier- SPD-regierten Ländern abgestimmt; wir haben eine barkeit unmöglich gemacht wird. gemeinsame Linie. Meine Damen und Herren, für die bereits heute Wir wollen aber nicht verkennen, meine Damen psychotherapeutisch tätigen Diplompsychologen und und Herren von der Koalition, daß Sie sich in großen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gibt es Sprüngen auf die SPD-Position zubewegt haben. Uns weitreichende Übergangsbestimmungen. Diese stel- ist nicht verborgen geblieben, daß der Referentenent- len insgesamt sicher, daß die, die qualifiziert sind, die wurf vom 24. Mai 1993 in sich unausgewogen, wider- Berufsbezeichnung „Psychologischer Psychothera- sprüchlich und deshalb von kurzer Lebensdauer war. peut" bzw. „Kinder- und Jugendlichenpsychothera- Seine kurze Lebensdauer von knapp acht Wochen peut" führen können. zeigt, daß die Kritik der Be troffenen, der Verbände Auch für Angestellte und beamtete Psychologen und nicht zuletzt der Länder zu wesentlichen Ände- haben wir ausreichende und gute Übergangsvor- rungen des Entwurfs geführt hat. schriften. Wir haben aber nicht nur diese von mir genannten Meine Damen und Herren, nicht alle Qualitätsan- drei Trümpfe in der Hand. Wir bieten mit dem von uns forderungen an die psychotherapeutische Behand- vorgelegten Antrag auch eine Lösung bei der Finan- lung werden im Gesetz ausdrücklich normiert. Wie in zierung an. Mit unserem Lösungsvorschlag überwin- anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Kran- den wir die antiquitierte Budgetierung, die kein kenversicherung überläßt der Gesetzgeber dies auch geeignetes Mittel zur dauerhaften Ausgabenstabilität bei der psychotherapeutischen Behandlung im Detail ist. Damit überwinden wir aber auch den Zentralismus der Selbstverwaltung. und schaffen regionale Lösungen. Damit kommen wir auch den Psychotherapeuten und den Kassen entge- IN erster Linie ist dies Aufgabe des Bundesaus- gen und schaffen die Grundlage direkter Vertragsver- schusses der Ärzte und Krankenkassen, der um drei handlungen. Vertreter der Psychologischen Psychotherapeuten mit beratender Stimme erweitert wird. Bereits bisher hat (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ein der Bundesausschuß zur Sicherung einer ausreichen- kaufsmodell!) den, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Psychothe- Damit ersparen wir der Psychiatrie die Übertragung rapie Richtlinien aufgestellt. überkommener Strukturen, die KV und Kammer. Meine Damen und Herren, der Präsident blinkt hier Also, eine klare Finanzierungsregelung ist notwen- rot. dig. (Zuruf von der SPD: Oh, Herr Präsident!) (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Herr Schmid Ich hätte noch viel zu diesem Gesetz zu sagen, weil es bauer, der Gesetzentwurf macht das auch ein sehr umfangreiches Gesetz ist. Aber da ich noch nicht!) einige Redner nach mir habe, denke ich, daß sie diese — Ja, lieber Kollege, genau darauf wollen wir hinaus, Lücken ausfüllen werden. nämlich auf Vorstellungen, die sicherlich auch die Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Zustimmung von Ihnen finden müßten. Denn ich denke, wenn Sie an einer strukturellen und einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zukunftsorientierten Lösung interessiert sind, dann müßten wir alle miteinander aus dem GSG gelernt haben: Wir brauchen nicht Kostendämpfung, weil Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Ich bin Kostendämpfung nicht langfristig, sondern nur kurz- sehr dankbar, daß sie meinen Wink richtig verstanden fristig wirkt, und wir brauchen Strukturen, die eine haben. langfristige Regelung der Aufgaben garantieren. Das Wort erteile ich nunmehr dem Abgeordneten (Zustimmung bei der SPD)) Horst Schmidbauer (Nürnberg). Unser Vorschlag ist deshalb: Wir schaffen die zen- tralen Regelungen auf Bundesebene, z. B. die glei- Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Herr Präsi- chen Honorare. Der Bedarf wird dann auf Länder- dent! Meine Damen und Herren! Wir haben drei ebene von den Kassen direkt mit den Psychotherapeu- starke Trümpfe in der Hand, wenn wir in die Gesetzes- ten geregelt. Im Rahmen eines Wettbewerbs können beratung eintreten. Wir haben also eine starke Posi- wir uns aber auch vorstellen, daß es einen unter- tion. schiedlichen Bedarf der einzelnen Kassenarten gibt. Unser Trumpf 1 ist: Wir haben die Menschen, die Lassen sie mich grundsätzlich feststellen: Patientinnen und Patienten, hinter uns. Für sie über- Erstens. Psychotherapeutische Arbeit ist die selb- winden wir die Unterversorgung, für sie überwinden ständige Ausübung der Heilkunde. Dieser von den wir die Zweiklassenstruktur in der Psychotherapie. Gerichten bestätigte Sachverhalt muß im berufsrecht- Unser Trumpf 2: Wir haben die Menschen hinter lichen Teil des Gesetzes verbindlich festgeschrieben uns, die ihrem Beruf neue Inhalte geben wollen und werden. den Schutz vor Scharlatanen brauchen. Für sie schaf- - Zweitens. Die aus den Verbänden kommende For- fen wir eine gleichberechtigte Ebene mit den Ärzten, mel: „Psychotherapie ist ärztliche und psychologisch für sie schaffen wir die längst überfällige berufsrecht- psychotherapeutische Behandlung" findet auch un- liche Regelung. sere Unterstützung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15763

Horst Schmidbauer (Nürnberg) Drittens. Gleiches gleicht für den Indikationenkata- gen vorzeitig verrentet wurden. 1991 waren es 29 624 log. Entweder findet eine Ergänzung um die Indika- Menschen. Ich glaube, der liebe Gott wird Ihnen tion „Störungen, Psychosen und psychosomatischer einreden, daß das eine besorgniserregende Zahl ist. Erkrankungen" statt, oder man verzichtet auf eine Neuntens. Hinzu kommt: Gerade chronisch psy- abschließende Aufzählung von Einzelindikationen. chisch kranke Menschen verfügen zumeist nur über Dem neige ich persönlich mehr zu, denn damit könn- ein geringes Einkommen. Deshalb lehnt die SPD in ten wir für eine neue Entwicklung offenbleiben. Bund und Ländern einhellig ohne Wenn und Aber (Zuruf von der F.D.P.: Bundesrat!) jede Selbstbeteiligung ab. Ich will auch gleich dazu- sagen: Ein Schachern über Prozentsätze — erst 40 %, — Richtig! Deswegen sage ich: Unsere Abstimmung jetzt 25 %, morgen vielleicht 10 % — auf dem Rücken ist da. der Patientinnen und Patienten wird es mit der SPD Viertens. Eine logische Forderung nach unserem nicht geben. Ca. 1 250 DM müßte der Patient nach Selbstverständnis ist die Approbation. Abschluß der Ihren Vorstellungen an Selbstbeteiligungskosten auf- Ausbildung und berufsrechtliche Zulassungen sind wenden. Beim Analytiker sind es über 5 000 DM. Da wie bei den Ärzten durch Approbation zu regeln. finden Sie keine Zustimmung. Fünftens. Dazu gehört auch: Wir wollen ein berufs- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Bei politisch klares Gesetz, das auch den angestellten wieviel Stunden?) Psychotherapeuten die Berufsbezeichnung garantiert — Sie können es nachrechnen. Ich habe mit 25 DM und ihnen eine echte Chance bietet. gerechnet, einem Stundensatz von 100 DM. Damit Sechstens. Psychisch kranke Patientinnen und kommen wir in eine Größenordnung hinein, wo Sie Patienten sind auch heute noch vielfältigen gesell- — auch von außen — keine Zustimmung mehr finden schaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt. Psychi- werden. sche Erkrankungen führen aber nicht nur zu erhebli- (Zuruf von der F.D.P.: Was sagen Sie zur chem Leid für die Betroffenen. Es kommt dabei im Selbstbeteiligungsregel?) großen Umfang zu sozialen Folgeschäden, Invalidität Sie erleben, daß selbst die Technikerkrankenkasse, und Frühverrentungen. die dies bisher praktizieren mußte, diese Selbstbetei- Siebtens. Es ist wohl unstrittig: Mit dem Psychothe- ligungsregelung ablehnt. rapeutengesetz muß die ambulante Psychotherapie Es ist eine Schande, wenn man nicht aus sachlichen, grundlegend und patientenorientiert neu geregelt sondern aus rein ideologischen Gründen den Einstieg werden. Patientinnen und Patienten müssen einen in eine Selbstbeteiligung ausgerechnet bei den psy- unmittelbaren Zugang zum psychologischen Psycho- chisch kranken Menschen versucht. therapeuten erhalten und einen Psychotherapeuten (Zuruf des Abg. Dr. Walter Franz Altherr oder eine Psychotherapeutin ihres Vertrauens wählen [CDU/CSU]) können. — Ich sage, wir wollen keinen Einstieg in die ambu- Achtens. Die Unter- und Fehlversorgung im ambu- lante Versorgung, schon gar nicht auf dem Rücken lanten Bereich muß überwunden werden. Vergessen psychisch kranker Menschen. Wenn Sie es machen wir doch nicht, meine Damen und Herren: Wir haben wollen, dann machen Sie es! Mit uns nicht! 1 151 Millionen DM jährlich. Das ist der Betrag, den Zehntens. Aus den Verbänden höre ich schon Vor- wir jährlich für Psychopharmaka ausgeben. Wir würfe in Richtung SPD: Ihr könnt doch das Gesetz sagen, das ist zuviel, das ist viel zu viel. Vergessen wir nicht an der Frage der Selbstbeteiligung scheitern nicht: Nach dem Gutachten, das die Bundesregierung lassen. Ich denke, das eigene Selbstverständnis und in Auftrag gegeben hat, heißt es: Die behandlungsbe- die Grundsätze der Psychotherapeuten verbieten eine dürftigen Menschen mit psychischen oder psychoso- solch opportunistische Haltung. Selbst wenn die matischen Erkrankungen irren durchschnittlich sie- Koalition das Gesetz an der Selbstbeteiligung schei- ben Jahre durch den medizinisch-industriellen Kom- tern läßt, ist meines Erachtens nichts verloren. Verges- plex, bevor sie adäquat diagnostiziert und behandelt sen wir doch nicht: Die Koalition will dieses Gesetz werden. erst in zwei Jahren in Kraft setzen. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Woher Im Herbst 1994 gibt es jedoch eine andere parla- haben Sie die Zahlen, Herr Schmidbauer?) mentarische Mehrheit. Ich verspreche Ihnen: Wir — Das können Sie im Gutachten lesen. Das ist für schaffen das Gesetz spätestens im Frühjahr 1995 und jeden zugänglich. Ich habe es nicht in Auftrag gege- nicht erst im Januar 1996. Nach 15jähriger Diskussion ben. Das hat die Bundesregierung in Auftrag gege- erwarten die Menschen vom Gesetzgeber keine Prin- ben. zipienreiterei, sondern Taten. Lassen Sie die Taten folgen. Vergessen wir nicht: Viele tausend Menschen wer- den dadurch zu chronifizierten Patientinnen und (Beifall bei der SPD) Patienten.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ach Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort du lieber Gott!) hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Bruno Menzel. — Der liebe Gott wird Ihnen gleich etwas anderes sagen. Der sagt nämlich in Form des Verbandes Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Deutscher Rentenversicherungsträger, daß im Jahr sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir sind 1990 27 134 Patienten wegen psychischer Erkrankun- am Ende einer 15jährigen Odyssee angelangt, denn 15764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Bruno Menzel vor etwa so vielen Jahren wurde der erste Referenten- einer Mengenausweitung vorzubeugen, die aus medi- entwurf im Bundesministerium für Jugend, Familie zinischen Gründen allein sicherlich nicht zu verant- und Gesundheit erarbeitet. worten ist. (Zuruf von der SPD: Das war eine großartige Unser langfristiges Ziel ist dabei — auch das möchte Leistung!) ich betonen — die generelle Einführung des Systems der Kostenerstattung mit Selbstbeteiligung in allen Seit dieser Zeit stand ein Berufsgesetz für die Bereichen des Gesundheitswesens. Mit der Einfüh- Psychotherapeuten auf der politischen Tagesord- rung einer Selbstbeteiligungsregelung in der Psycho- nung. Ich denke, Herr Knaape, es spricht für die therapie zum Januar 1996 ist auf diesem Weg ein gesundheitspolitische Handlungsfähigkeit dieser Ko- wichtiger Schritt getan worden. Die F.D.P. hofft, zu alition, daß es nun endlich gelungen ist, die parlamen- diesem Zeitpunkt auch ihr anderes Ziel erreicht zu tarischen Beratungen aufzunehmen. haben. Damit ist eine Diskriminierung von somali- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — scher und psychischer Erkrankung wohl nicht mehr Zurufe von der SPD) gegeben. — Ich dachte, ich bekäme auch von Ihnen Beifall. Das (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!) wäre doch einmal schön gewesen. Die vorgesehenen Härtefallregelungen — Herr Was erreichen wir mit diesem Gesetz? Der Beruf des Schmidbauer, auch das haben Sie vergessen zu Psychologischen Psychotherapeuten bzw. der des sagen — sorgen im übrigen dafür, daß niemand im Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wird Zuge der psychotherapeutischen Behandlung über auf eine verbindliche gesetzliche Grundlage gestellt Gebühr belastet wird. Das vergessen Sie bei Ihren und als eigener Heilberuf etabliert. Die psychothera- Rechnungen immer sehr wohlweislich vorzutragen. peutische Tätigkeit auf der Grundlage des Heilprak- Mit der Budgetierung, dem zweiten Instrument zur tikergesetzes wird ab 1996 Gott sei Dank der Vergan- Kostenbegrenzung, tun wir uns allerdings — das muß genheit angehören. ich ehrlich sagen — sehr schwer. Aber solange kein reines Kostenerstattungssystem, verbunden mit einer (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sehr Selbstbeteiligungskomponente, installiert ist, kann gut! Endlich!) angesichts der allgemeinen Kostensituation im Das Gesetz umfaßt auch die in der ehemaligen DDR Bereich der GKV — die ist Ihnen genausogut bekannt ausgebildeten Fachpsychologen in der Medizin. Die wie uns, Herr Schmidbauer — auf solche Maßnahmen psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung noch nicht verzichtet werden. Immerhin ist das Budget soll auf qualitativ hohem Niveau gewährleistet wer- auf drei Jahre bef ristet. Über die Festsetzung der Höhe den. Der berufsrechtliche Teil wird dementsprechend muß allerdings noch einmal nachgedacht werden. um einen sozialrechtlichen Teil ergänzt, der die (Abg. Klaus Kirschner [SPD] meldet sich zu Erbringung von Psychotherapien in der gesetzlichen einer Zwischenfrage) Krankenversicherung regelt. — Bitte sehr. Trotz der grundsätzlichen Billigung des Gesetzent- wurfs in Kreisen der psychotherapeutischen und psy- chologischen sowie ärztlichen Fachverbände wird an Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Bitte bestimmten Regelungen immer wieder Kritik geübt, schön, Herr Abgeordneter Kirschner. nicht zuletzt vom Bundesrat. Lassen Sie mich auf einige dieser Punkte eingehen. Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Dr. Menzel, mich würde interessieren, was Sie mit der Kostener- Zunächst, Herr Schmidbauer, haben Sie sich in Ihrer stattung eigentlich bezwecken wollen. Wollen Sie zu Rede lange mit der Frage der 25 %igen Selbstbeteili- mehr Wirtschaftlichkeit kommen, oder sollen die gung befaßt. Diese wird immer wieder als unsozial Patienten mehr bezahlen? Diese Frage sollten Sie hier und gegenüber den psychisch Erkrankten diskrimi- einmal beantworten. nierend bezeichnet. Es war aber auf Grund der Eingliederung der psychotherapeutischen Behand- Zum zweiten. Meinen Sie nicht, wenn Sie mit lungen in die gesetzliche Krankenversicherung — das diesem Gesetz die Diskriminierung zwischen psy- ist ein ganz wesentlicher Teil — notwendig, von chisch Kranken und somatisch Kranken beseitigen Anfang an sicherzustellen, daß es nicht zu einer wollen, daß Sie von vornherein gar keine Diskriminie- unwirtschaftlichen Inanspruchnahme psychothera- rung schaffen sollten, indem Sie bei psychisch Kran- peutischer Leistungen kommt. ken keine Selbstbeteiligung einführen? Eine Beteiligung der Patienten an den Kosten — das wissen auch Sie — ist nach unserer Auffassung hierzu Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Lassen Sie mich mit der ein geeignetes Mittel. Außerdem ist bekannt, daß sich zweiten Frage anfangen. Ich habe Ihnen gesagt, daß die F.D.P. seit langem für mehr Eigenverantwortlich- wir nicht eine Diskriminierung schaffen, sondern daß keit der Leistungsempfänger im Gesundheitswesen man denjenigen, die befürchten, es könnte eine ausspricht, Diskriminierung sein, diese Befürchtung nach dem, was ich eben ausgeführt habe, daß das erst 1996 in (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht nur die Kraft tritt, nehmen kann. F.D.P.!) Punkt zwei. Herr Kirschner, wir haben uns schon oft um auf diesem Wege den Solidargedanken der darüber unterhalten. Sie kennen dazu unsere Mei- gesetzlichen Krankenversicherung wieder stärker ins nung. Natürlich wollen wir mehr Wirtschaftlichkeit. Bewußtsein der Versicherten zu rücken und somit Das muß man erreichen, indem man jenen, die Lei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15765

Dr. Bruno Menzel stungen in Anspruch nehmen, verständlich macht, Andererseits hat der Bundesrat einen in meinen was für Kosten dadurch für die Solidargemeinschaft Augen durchaus überlegenswerten Vorschlag hin- enstehen. Es ist nicht so, daß das von irgend jeman- sichtlich der Zulassungskriterien für die erwähnten dem bezahlt wird, vielmehr müssen alle, die in diese Psychotherapeuten gemacht. Nicht nur die Dauer der Solidarkasse einzahlen, die Kosten gemeinsam tra- Tätigkeit, sondern auch die Zahl und Art der behan- gen. delten Fälle sollen für die Beurteilung herangezogen (Beifall bei der F.D.P. — Abg. Klaus Kirsch- werden. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen ner [SPD] meldet sich zu einer Zwischen-und die Frage in den Raum stellen, ob es nicht frage) sinnvoller wäre, ausschließlich Qualifikationsmerk- male an Stelle einer statischen Tätigkeitsdauer als Zulassungsanforderung zuzulassen. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Beides ist wichtig! — Klaus Kirschner [SPD]: Interes Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Aber natürlich. sant!) (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Las- — Das finde ich schön. sen wir doch die Solidargemeinschaft ent- scheiden, was sie haben möchte!) Der Gesetzentwurf in seiner vorliegenden Fassung — Jetzt ist, glaube ich, Herr Kirschner dabei, zu sieht darüber hinaus einen Katalog von Indikationen fragen, Herr Schmidbauer, Sie hatten vorhin Gelegen- vor, die psychotherapeutisch behandelbar sind. Völlig heit. zu Recht wird von einigen Verbänden angemerkt, daß einige Erkrankungen in dieser Liste fehlen; Herr Schmidbauer, Sie sehen, wir haben auch einmal Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Dr. Menzel, Gemeinsamkeiten. Dies gilt insbesondere für die wenn Sie mit Kostenerstattung mehr Wirtschaftlich- Psychosen, aber auch für die psychosomatischen keit erreichen wollen: Kennen Sie eigentlich den Erkrankungen. Vor dem Hintergrund einer qualitativ Modellversuch, den die IKK Mettmann durchgeführt hochwertigen Versorgung stellt sich daher die Frage, hat, bei dem man zu dem Ergebnis kam, daß Kosten- ob der Indikationskatalog nicht ausgeweitet bzw. ob erstattung letzten Endes zu mehr Ausgaben geführt auf eine solche Festlegung in einem Gesetz nicht ganz hat? verzichtet werden sollte. Eine gesetzliche Definition von Krankheitsformen birgt — so meine ich jeden- Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Lieber Herr Kollege falls — zudem das Problem, daß auf neue Erkenntnisse Kirschner, Sie wissen genauso gut wie ich, daß es mit nur recht unflexibel reagiert werden kann, weil dies Modellversuchen immer so eine Sache ist. Ich meine, zwangsläufig immer eine Änderung des Gesetzes es kommt darauf an, in welcher Ausdehnung, in bedeuten würde. welcher Größe und unter welchen Intentionen man Modellversuche anlegt. Ein einziger Modellversuch, (Beifall bei der F.D.P.) den Sie hier anführen, kann mich noch nicht überzeu- Aus diesem Grunde begrüße ich die Gegenäuße- gen, daß dieses Konzept nicht zum Erfolg führt. rung der Bundesregierung zum Vorschlag des Bun- (Beifall bei der CDU/CSU) desrates. Soweit ich davon Kenntnis habe, wird wahr- Meine Damen und Herren, ein anderes Problem scheinlich dem stattgegeben werden, was der Bun- rankt sich um die Übergangsbestimmungen für die desrat erwartet. Psychologen, die bereits heute als Psychotherapeuten tätig sind. Der Gesetzgeber stand vor der Aufgabe, Ich möchte noch etwas anderes erwähnen, weil einen vernünftigen Ausgleich zwischen den berech- auch Sie, Herr Schmidbauer, das angesprochen tigten Interessen der Psychotherapeuten und der haben. Wir haben in diesem Gesetzentwurf festgelegt, Sicherung der psychotherapeutischen Versorgungs- daß wir vom Delegationsverfahren zum Kooperati- qualität zu schaffen. onsverfahren kommen. Sie erwarten mit Recht, daß Gesetze so gemacht werden, daß dabei ein Höchstmaß Dies betrifft die gegenwärtig schon im Delegations- an Sicherheit für die Beteiligten gegeben ist. Herr verfahren tätigen Psychotherapeuten, die angestell- Schmidbauer, es dürfte doch klar sein, daß jemand, ten bzw. die beamteten sowie die Psychotherapeuten, der sich der Psychotherapie zu unterziehen gedenkt, die im Rahmen der Regelung der Techniker-Kranken- die Sicherheit haben muß, daß keine somatischen kasse tätig sind. Es wird beispielsweise befürchtet, Grunderkrankungen vorhanden sind. Dann, denke daß es durch die Zulassung bisher bereits tätiger und ich, ist doch dieser Schritt von der Delegation zur nicht ausschließlich die Richtlinien-Psychotherapie Kooperation, den wir jetzt getan haben, mit der ersten praktizierender Psychotherapeuten zu Qualitätsein- Sitzung beim Psychotherapeuten und dann die zusätz- bußen kommen werde. Meines Erachtens ist diese liche Absicherung, daß keine somatischen Grunder- Sorge unbegründet. Die Übergangsregelungen set- krankungen vorhanden sind — — zen für diese Berufsgruppe eine analog der Ausbil- dungsdauer künftiger Psychologischer Psychothera- (Dr. Hans-Hinrich Knaape [SPD]: Kann man peuten ebenfalls achtjährige Ausbildung voraus. das entscheiden?) Zudem müssen sie fünf Jahre an der Versorgung - Versicherter mitgewirkt haben. Damit, meine ich, sind — Mein lieber Herr Knaape, wir können uns über die ausreichend hohe Qualifikationsmerkmale gewähr- Frage unterhalten, ob eine Stunde ausreicht. Wir leistet. können uns aber nicht über die Frage unterhalten, daß 15766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Bruno Menzel eine somatische Abklärung in jedem Falle erfolgen gung geschieht, oft zu spät oder wird mit inadäquaten muß. Mitteln geleistet. Weitere Folgen sind lange Wartezei- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sehr ten, ganz und gar unterbleibende Behandlungen oder richtig!) die Begünstigung von Medikamentenmißbrauch und anderen Suchtgefahren. Ich denke, dieser Ist-Zustand ist nicht gerade Das ist der Grundgedanke, der dahintersteckt. Ver- suchen Sie nicht, es zu verwässern! Geben Sie doch schmeichelhaft für das Gesundheitswesen eines hoch- zu, daß diese Regelung, die wir jetzt getroffen haben, entwickelten Landes. ein Riesenschritt vorwärts ist gegenüber dem, was wir (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Bei bisher gehabt haben. Das ist die entscheidende Ihnen war es nicht anders!) Frage. Insofern kann das Vorhaben, ein Gesetz zu verab- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schieden, mit dem endlich elementare Voraussetzun- Ich denke jedenfalls, daß der vorliegende Gesetz- gen für eine qualifizierte psychotherapeutische Ver- entwurf unter Berücksichtigung der sicherlich noch zu sorgung geschaffen werden sollen, nur begrüßt wer- erwartenden Änderungen auf Grund der Stellung- den. Leider zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß es nahme des Bundesrates eine gute Grundlage für die trotz zwischenzeitlich bereits vorgenommener Ver- psychotherapeutische Arbeit sein wird und einen besserungen, die wir sehr anerkennen, noch immer gewaltigen Fortschritt gegenüber dem bedeutet, was schwerwiegende Mängel, besser gesagt: grundle- wir heute haben. gende Konstruktionsfehler, gibt. Herr Schmidbauer, auch das muß ich Ihnen noch (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das sagen: Wenn der erste Referentenentwurf anders sehen Sie zu einseitig!) aussieht als der zweite und wenn vielleicht sogar durch die Anhörung, die wir durchführen, weitere Mehr noch: Es besteht sogar Anlaß zu der Befürch- Gesichtspunkte in dieses Gesetz kommen sollten, tung, daß es nicht zur notwendigen Verbesserung, dann halte ich das für eine außerordentlich gute sondern ganz im Gegenteil zu schwerwiegenden Tatsache. Denn sonst wären diese Veranstaltungen Einschränkungen der psychotherapeutischen Versor- völlig sinnlos; dann könnten wir sie uns sparen und gung der Bevölkerung kommen wird. sagen: So, wie wir es beschließen, so wird es gemacht. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Jetzt Genau das wollen wir nicht. An dieser guten Sitte widersprechen Sie sich aber!) wollen wir auch in Zukunft festhalten. Der wohl größte Pferdefuß der vorliegenden Rege- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lung ist zweifellos die vorgesehene Selbstbeteiligung der Patienten an den Therapiekosten in Höhe von sage und schreibe 25 %. Wenn man weiß, wie lange Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Ursula Fischer das Wort. eine psychotherapeutische Behandlung zum Teil dau- ert, weiß man auch, was das bedeutet. Dies wird unvermeidlich zu erheblichen Abschrek- (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Dr. Ursula Fischer kungseffekten bei den Patienten führen und bedeutet dent! Kolleginnen und Kollegen! Seit langem wissen eine drastische Schlechterstellung der Psychotherapie Politik und Fachwelt, daß ein Psychotherapeutenge- im Vergleich mit anderen Behandlungsformen. setz fehlt. Obwohl der überwiegende Teil der psycho- therapeutischen Versorgung der Bevölkerung von Wir lehnen als PDS/Linke Liste Zuzahlungen speziell ausgebildeten Psychologen geleistet wird, grundsätzlich ab, da sie allein den Kranken treffen, gibt es keinen gesetzlichen Schutz ihrer Berufsbe- der damit bekanntlich doppelt gestraft wird. Dies muß zeichnung und keine verbindlich geregelten Ausbil- um so mehr im sensiblen Bereich der Psychotherapie dungs- und Qualitätsstandards. gelten, wo es zugleich auf eine weitere Diskriminie- So ist der Psychologische Psychotherapeut bis heute rung psychisch kranker Menschen hinausläuft. kein staatlich anerkannter, auf sicherer Grundlage Allerdings werden die nicht so gut betuchten Kas- stehender Heilberuf. Die Gesetzeslage hinkt damit senpatienten auch in Zukunft dafür Sorge tragen, daß weit hinter der wissenschaftlichen und der prakti- die Umsätze der Pharmaindustrie wenigstens bei den schen Entwicklung her. Psychopharmaka weiter stimmen. Psychotherapie Die Folgen sind einerseits ein teilweise wild dagegen wird zu einer Luxusleistung, die, wie es wuchernder, obskurer Psychomarkt mit allen damit scheint, eine willkommene Vorreiterrolle auf dem einhergehenden Risiken für die hilfesuchenden Men- ohnehin vorgesehenen Weg in die Mehr-Klassen- schen. Andererseits kann der Bedarf nach fachgerech- Medizin einnehmen soll. ter psychotherapeutischer Behandlung keineswegs Ganz offensichtlich soll es hier erneut um einen abgedeckt werden. Insbesondere reicht die Zahl der generellen Einstieg in die erheblich ausgeweitete kassenrechtlich zugelassenen Psychologen bei wei- Selbstbeteiligung der Patienten im Rahmen ihrer tern nicht aus. gesundheitlichen Versorgung gehen Das bedeutet, daß die bestehende psychotherapeu- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!) tische Unterversorgung vor allem eine Benachteili- - unggder Kassenpatienten darstellt und daß es bis — gut, daß Sie das zugeben —, und das an einer Stelle, heute keine gleichen Zugangschancen zur Psychothe- wo man vielleicht erwartet, daß die Gegenwehr nicht rapie gibt. Zwangsläufig kommt das, was an Versor ganz so groß ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15767

Dr. Ursula Fischer

Demgegenüber muß der Grundsatz gelten, daß Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr Versicherte auch im Fall einer Psychotherapie Dr. Menzel, ich bitte um Verständnis; wir sind im Anspruch auf volle Kostenübernahme nach dem Sach- gesamten Zeitablauf so weit zurück, daß es schon leistungsprinzip haben, und zwar unabhängig davon, unerträglich ist. Das Wort hat nun die Abgeordnete ob sie von einem ärztlichen oder einem psychologi- Christina Schenk. schen Psychotherapeuten behandelt werden. Unübersehbar ist auch, daß das Gesetz nichts Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kosten soll. Das ist für mich ein geradezu groteskes Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beispiel für Sparen an der falschen Stelle. Schließlich behauptete Absicht des Entwurfs, die berufsrechtliche geht es hier um eine für viele Patienten ursächlichere Absicherung der Tätigkeit des psychologischen Psy- und adäquatere Heilbehandlung, mit der nicht zuletzt chotherapeuten sowie des Kinder- und Jugendli- auch Arzneimittelkosten überflüssig werden. Letzt- chenpsychotherapeuten zu gewährleisten, ist aus- lich geht es aber um die Frage, welche Art von drücklich zu begrüßen. Die inte rnationale wissen- Heilkunde wir haben wollen: noch mehr einseitige schaftliche Anerkennung der psychologischen Psy- Apparatemedizin oder ein therapeutisches Spektrum, chotherapie wie auch ihre hohe gesellschaftliche das auch die modernen Möglichkeiten der Behand- Akzeptanz und vor allem der zunehmende Bedarf an lung seelischer Störungen mit Hilfe psychologischer dieser Therapieform begründen eine sehr dringliche Intervention einschließt, und zwar gleichrangig und Aufforderung an den Gesetzgeber, den hervorragen- nichtdiskriminiert. den gesundheitspolitischen Beitrag, der gerade durch Aus diesen Gründen halten wir die Festschreibung die psychologische Psychotherapie geleistet wird, eines Honorarbudgets speziell für Psychotherapie für adäquat zu würdigen und vor allem die Versorgung einen verhängnisvollen Fehler. Mit dem Gesetz soll der Bevölkerung mit diesen bewährten heilberufli- qualifizierter Psychotherapie der Weg geebnet wer- chen Leistungen sicherzustellen. den. In Wirklichkeit wird sie von vornherein in ein eng Trotz erfreulicher Verbesserungen enthält der vor- begrenztes Korsett gesteckt. liegende Gesetzentwurf der Bundesregierung Ein weiterer grundlegender Konstruktionsfehler Punkte, die im Widerspruch zu den eben genannten des vorliegenden Gesetzentwurfs besteht darin, daß Erfordernissen stehen. er den psychologischen Psychotherapeuten nicht Wegen der gebotenen Kürze will ich mich auf einige wirklich — wie eigentlich angekündigt — in die zentrale Aspekte beschränken. Situation eines neuen, gleichberechtigten akademi- schen Heilberufs bringt, eines Heilberufs, der in enger Der Anspruch des Entwurfs ist es, zwei eigenstän- Kooperation mit den Ärzten — einer Kooperation, die dige Heilberufe zu schaffen. Abgesehen von der aus der eigenen fachlichen Entscheidung und Kompe- strittigen Frage, ob die vorgesehene Zweiteilung tenz erwächst — die psychisch kranken Menschen überhaupt in dieser Form sinnvoll ist, muß festgestellt versorgt. werden, daß die Eigenständigkeit der Psychologi- schen Psychotherapeuten de facto nicht gewährleistet Dem stehen noch immer die zwanghaft vorgeschrie- wird. bene ärztliche Bestätigung jeder der vom Psychologi- schen Psychotherapeuten gestellten Therapieindika- So bleibt nach wie vor eine beträchtliche Abhängig- tion, aber auch die fehlende gleichberechtigte Betei- keit im Verhältnis zu den Ärzten bestehen, da z. B. der ligung an den Gremien der Selbstverwaltung entge- Arzt die Indikation zur Psychotherapie stellt. Hier gen. Damit wird auch künftig das Verhältnis zwischen handelt es sich in der Praxis nicht nur um den beiden Berufen durch Oberaufsicht des einen über notwendigen Ausschluß somatischer Erkrankungen, den anderen gekennzeichnet sein. sondern vor allem um die grundsätzliche Frage nach der Indikation einer psychotherapeutischen oder Wir halten dies nicht nur für unbegründet und einer pharmakologischen Behandlung. Auf Grund der unzumutbar, sondern darüber hinaus auch für kon- erheblichen Tragweite dieser Entscheidungen muß traproduktiv. Wenn Abhängigkeitsverhältnisse derart im Interesse der Betroffenen sichergestellt werden, festgeschrieben werden, wird sich unvoreingenom- daß diese nur von entsprechend qualifizierten Fach- mene, Doppelarbeit und Kosten sparende Koopera- leuten getroffen werden. tion nur schwerlich einstellen können. Viel wahr- scheinlicher ist dagegen, daß eine unheilvolle Kon- Der Gesetzentwurf räumt der Frage der Qualifika- kurrenz zwischen beiden Berufen gefördert wird. tion bzw. Qualitätssicherung zu Recht eine zentrale Rolle ein. Allerdings darf diese notwendige Sorgfalt nicht dazu führen, national wie international seit Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Frau Ab- Jahren anerkannte Ausbildungen und Therapiever- geordnete, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum fahren nachhaltig auszugrenzen. Der Regierungsent- Schluß kommen würden. wurf ist in dieser Hinsicht nicht nur konservativ, sondern anachronistisch. So wird z. B. die erhebliche Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich komme praktische Bedeutung der Gesprächspsychotherapie zum letzten Satz. — Diese Konkurrenz aber geht nach und anderer inzwischen etablierter Verfahren indi- allen Erfahrungen immer zu Lasten der Patienten und rekt negiert, indem der Gesetzentwurf lediglich zwei der Qualität der gesundheitlichen Versorgung der Therapierichtungen als wissenschaftlich anerkannt Menschen dieses Landes. benennt. (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Abg. Der nächste Punkt: Die geplante Budgetierung ist Dr. Bruno Menzel [F.D.P.] meldet sich zu völlig realitätsfern und folgt blind der Logik des einer Zwischenfrage) Gesundheitsstrukturgesetzes. Die zweifelhaften 15768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Christina Schenk

„Wirtschaftlichkeitserwägungen" nach Art des GSG Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort greifen überhaupt nicht, weil eben keine kostentrei- hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Lohmann benden Verordnungen zu erwarten sind. Im Gegen- (Lüdenscheid). teil: Mit einer wirksamen Psychotherapie könnte die wachsende Arzneimittelabhängigkeit aktiv bekämpft (Lüdenscheid) (CDU/CSU): werden. Darüber hinaus sind die Leistungen grund- Wolfgang Lohmann Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und sätzlich zeitgebunden — es gibt Stundenhonorare —, Herren! Dem Gesetzentwurf würde es sicher wenig und die Behandlungslänge wird grundsätzlich gut- dienen, wenn der größte Teil der Argumente, die den achterlich überprüft. Die vorgesehene Budgetierung Inhalt betreffen, die auch in ausgezeichneter Weise ist insofern sachlich völlig verfehlt und daher abzuleh- von der Frau Staatssekretärin und von anderen Ver- nen. tretern, vor allen Dingen aus der Koalition, genannt Abschließend möchte ich zu der geplanten Selbst- worden sind, hier wiederholt würde. beteiligung der Patientinnen und Patienten mit 25 % Eingedenk Ihrer milden Rüge, daß wir weit hinter der Behandlungskosten etwas sagen. Dieses Vorha- der Zeit sind, werde ich versuchen, mit Sicherheit ben ist aus unserer Sicht verfassungsrechtlich zumin- unter der Zeit zu bleiben, die mir eingeräumt ist. dest bedenklich und verletzt in eklatanter Weise den 1967 sozialgerichtlich bestätigten Grundsatz der Gleichbehandlung von körperlicher und seelischer Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Der Dank Krankheit. Es ist schon aus diesem Grund abzuleh- des Hauses ist Ihnen gewiß. nen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die geplante Zuzahlung entspricht, je nach Fre- quenz der Sitzungen, einer Belastung von bis zu Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Ich knapp 4 000 DM pro Jahr. In den neuen Bundeslän- beschränke mich auf einige Schwerpunkte, die ich dern, wo derzeit zwei Drittel der Bevölkerung von kurz ansprechen möchte. Wenn ich Herr Professor sozialstaatlichen Transferleistungen leben, würde die Pfaff von der SPD-Fraktion wäre, würde ich sagen: Ich ohnehin stets vorhandene Hemmschwelle, psycholo- möchte erstens noch etwas über den eigenständigen gische Hilfe in Anspruch zu nehmen, mit der Kosten- Heilberuf sagen, zweitens werde ich zur Frage der frage zusätzlich verstärkt und somit zu einer nahezu Budgetierung übergehen, drittens werde ich das unüberwindlichen Barriere werden. Aber auch in den Thema der Zuzahlung aufgreifen und viertens einen alten Bundesländern wäre der Abschreckungseffekt Blick in die Zukunft werfen. — Man kann auch einmal durchschlagend. etwas von der SPD lernen. Meine Damen und Herren, es ist nach über 15jäh- Darüber hinaus ist der Abbruch von Behandlungen riger Diskussion — das ist schon mehrfach gesagt aus Kostengründen vorprogrammiert, was den worden — nun endlich gelungen, mit diesem Gesetz- gesamten Therapieerfolg in Frage stellt. Hauptleid- entwurf etwas auf den Weg zu bringen, was zu einem tragende sind wiederum schwerkranke Menschen mit eigenständigen Heilberuf der Psychotherapeuten längerem Behandlungsbedarf. Schließlich ist das hinführen soll. Zuzahlungserfordernis für die große Zahl von Frauen, Herr Schmidbauer, ich hätte mich gefreut, wenn Sie die in wirtschaftlicher Abhängigkeit von ihrem Part- gesagt hätten, was aus Ihrem Antrag, den ich dabei ner leben, unzumutbar. So könnte der Partner aus habe, hervorgeht — das haben Sie natürlich wegge- vielfältigsten Gründen die Aufnahme oder Fortset- lassen —, daß Sie nämlich das Ziel des von der zung der Therapie verweigern. Bundesregierung vorgelegten Entwurfes grundsätz- Nach meiner Auffassung liegt daher gerade im lich begrüßen. Sie hätten darunter schreiben sollen: Hinblick auf die Zuzahlungen der Eindruck nahe, daß Wir danken hiermit der Regierungskoalition, daß sie die Bundesregierung nicht in erster Linie die Absicht nun das wahrmacht, was uns nie gelungen ist — vor verfolgt, die psychotherapeutische Behandlung auf 15 Jahren waren Sie ja in der Regierung, die F.D.P. eine solide rechtliche Grundlage zu stellen, sondern zwar auch, aber immerhin —, nämlich daß sie endlich diese eher zusätzlich zu behindern. Nägel mit Köpfen macht, wie man so schön in West- falen sagt. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist Meine Damen und Herren, die Eigenständigkeit ja unerhört, was Sie da sagen!) schlägt sich erstens im berufsrechtlichen Teil, zwei- tens auch im leistungsrechtlichen Teil nieder. Sie Fachleute — in der Praxis tätige psychologische haben vielfach schon gehört, daß erstens zwischen der Psychotherapeuten — haben bis jetzt in großer Zahl Ausbildung, zweitens dem Abschluß und drittens dem ihre Auffassung zum vorliegenden Entwurf geäußert. Inhalt der Tätigkeiten sauber getrennt wird. Bemerkenswert für mich ist dabei die nahezu einhel- lige Übereinstimmung in der Benennung seiner Im leistungsrechtlichen Teil geht es, was die Schwachpunkte. Ich meine, daß die nun folgenden Ansprüche vor allen Dingen derjenigen anbelangt, parlamentarischen Beratungen diese Kritik von kom- die bisher Psychotherapie betrieben haben, darum, petenter Seite berücksichtigen müssen, wenn der daß nach diesem neuen Gesetz sowohl vom Berufs- Anspruch, tatsächlich ein Psychotherapeutengesetz rechtlichen als auch vom Leistungsrechtlichen her zu schaffen, das diese Bezeichnung verdient, einge- weiterhin die Tätigkeit als Psychotherapeut und als löst werden soll. Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, der sich im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dieser Erstattung befindet, ausgeübt werden kann. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15769

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) Nun ist in der Vergangenheit oft darüber diskutiert Abgesehen davon aber ist Ihnen doch sicherlich worden, daß sich die Eigenständigkeit auch in einer aufgefallen, daß wir der Selbstverwaltung der Kassen Abschaffung des Delegationsprinzips dokumentieren in der Frage bedarfsgerechter Vertragsgestaltung müßte; auch ich sehe das so. Nun ist es so geschehen. ganz eindeutig den Vorrang lassen. Das bedeutet Ich sage bei dieser Gelegenheit auch, daß diese oder nicht das, was Sie hier in den Raum stellen, daß wir Tür jene Formulierung in anderen Bereichen noch nicht und Tor öffnen. Was die Kostenentwicklung angeht, voll dem gerecht wird, was eigentlich durch die teilen wir völlig Ihre Auffassung. Wir aber schlagen Abschaffung des Delegationsprinzips und den Weg bedarfsgerechte Vertragsregelungen vor, die die Kas- hin zum Kooperationsprinzip deutlich geworden ist. sen im Rahmen ihrer Hoheit selbst zu regeln haben. Herr Dr. Menzel, wenn Sie mir diese kleine kritische Bemerkung erlauben — das ist verständlich, da Sie Mediziner sind —: Sie haben von der somatischen Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Das Abklärung gesprochen. Dies muß sicherlich sein. habe ich gelesen. Wir sind aber, was diesen bedarfs- Aber ich bin nach wie vor im Zweifel, ob der Arzt im gerechten Teil anlangt, anderer Auffassung. Das wis- zweiten Anlauf auch die Indikation zur Psychothera- sen Sie auch aus anderen Diskussionen. Die Auffas- pie feststellen muß. Im weiteren Verfahren sollte man sungen werden wohl unterschiedlich bleiben. Das ist vielleicht doch noch einmal darüber sprechen. sehr in der Nähe von Einkaufsmodellen und ähnli- chem. Vor allem wirft das auch verfassungsrechtliche Nur durch die Zweiter Punkt: das eigene Budget. Fragen auf, wo wir nicht mitziehen wollen. Tatsache, daß neben dem ärztlichen Budget ein eige- nes Budget geschaffen wird, kann letztlich von einer Ich darf den dritten Teil ansprechen, um auch in Eigenständigkeit die Rede sein. Wenn die ärztliche dieser kurzen Zeit zu bleiben: Zuzahlung. Meine Bevormundung abgeschafft werden soll, muß sich das Damen und Herren, das ist ein Reizwort und wird auch in diesem Budget niederschlagen. Ich glaube, immer wieder — wie auch heute — hart kritisiert. Ich daß dies nicht so sehr Inhalt der Kritik ist. sage jetzt einmal: Für mich ist — nicht im Gegensatz, aber in etwas modifizierter Form zur F.D.P. — die In der Hauptsache geht es um die Frage der Frage der Zuzahlung in diesem Bereich nicht in erster jährlichen Bindung des Budgets an feste Größenord- Linie eine Frage von Steuerung oder Mitheranzie- nungen. Auch hier ist es so, daß noch über die hung des Patienten, sondern gerade hier geht es um Fristigkeit der Bindung gesprochen werden muß. Daß wichtige, auch therapeutische Fragen. aber ein Budget über mehrere Jahre festgelegt wer- den muß, dürfte jedoch nicht zweifelhaft sein. Wie Da Sie, Herr Schmidbauer, mir das sicherlich nicht wollen Sie — in diesem Fall, Herr Kirschner, greife ich abnehmen werden, möchte ich Ihnen einige Ausfüh- unsere gemeinsame Arbeit am GSG auf — anderen, rungen zitieren, die ich in diesem Zusammenhang vor denen wir eine mehrjährige Bindung des Budgets nur einiger Zeit zu meinen Unterlagen genommen habe. mit Steigerungsraten im Rahmen der Grundlohnsum- Alexander Mitscherlich hat schon gesagt, und zwar men oder sogar ohne Steigerungsraten zugemutet war das 1953 — ich kann Ihnen die genaue Fundstelle haben, klarmachen, daß Sie hier ein neues Gesetz geben, wenn Sie sie interessiert; Mitscherlich ist für schaffen, dort aber für die weitere Entwicklung Tür Sie ja sicherlich ein Mensch, dem Sie allerhand in und Tor öffnen? Deswegen muß es das mindeste sein, positivem Sinne zutrauen —, daß ein von Einkom- daß man auch hier sagt: Eine Bindung auf drei Jahre mensverhältnissen des Patienten abhängiger eigener muß auf jeden Fall erfolgen. Dann muß über die Betrag als therapeutisch unerläßlich anzusehen sei, weitere Entwicklung geredet werden. um das Gefühl der Eigenverantwortung des Patienten (Beifall bei der CDU/CSU) zu stärken und der Verdinglichung des Menschen entgegenzuwirken.

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Dies ver- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ein anlaßt den Abgeordneten Klaus Kirschner zu einer wichtiger Satz! — Klaus Kirschner [SPD]: Das Zwischenfrage. ist 40 Jahre her!) Das hat nichts mit Steuerung zu tun. (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Ich Wolfgang Lohmann Als nächstes will ich auf das Jahr 1950 zurückgrei- weiß, daß es auf meine Redezeit nicht angerechnet fen. Dort ist von Herrn Kemper gesagt worden, daß wird. Es kostet uns aber Gesamtzeit. Das muß er man bei einer Untersuchung die ungünstigen Auswir- wissen. kungen der vollständigen Finanzierung der Psycho- therapie durch die Krankenversicherung habe prüfen Klaus Kirschner (SPD): Lieber Herr Kollege Dr. Tho- können. Die in großer Zahl statistisch erhobenen mae, wenn ich so direkt angesprochen werde, möchte Belege seien so eindrucksvoll gewesen — und jetzt ich einiges richtigstellen. Ich denke, das gehört kommt es —, daß wir trotz des Sträubens der Versi- dazu. cherungsträger darauf bestehen mußten, daß der Herr Kollege Lohmann, wenn Sie unseren Antrag Patient neben dem Kassenbetrag selbst mit einem, genau gelesen haben, dann werden Sie feststellen — wenn auch im Einzelfall noch so geringen Eigenbe- trag an der Bezahlung mitbeteiligt wurde.

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Ich (Beifall bei der CDU/CSU) habe schon einiges rot angestrichen! Eine Untersuchung bei Psychoanalytikern im Jahre 1974 hat ergeben, daß 80 % der Psychoanalytiker Klaus Kirschner (SPD): Sehr schön. Rot ist sowieso gesagt haben, daß die volle Kostenübernahme zu eine gute Farbe. besonderen Problemen führe und daß es ihnen lieber 15770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) sei, wenn eine Eigenbeteiligung auf Grund der thera- Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Mir geht es peutischen Notwendigkeiten erfolge. um die Gesamtrechnung. Wir gehen ja von einem (Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) Stundensatz von 100 DM aus. Sie sprechen von 25 Selbstbeteiligung; das macht nach Adam Riese Und schließlich, weil Sie etwas ganz Neues haben 25 DM. Bei den Analytikern muß man eine durch- wollen: 1993 hat Frau von Goldacker-Pohlmann in der schnittliche Behandlungszeitdauer von 250 Stunden Mitgliederzeitschrift der Deutschen Psychoanalyti- ansetzen. Dann, denke ich, können Sie selbst nach- schen Vereinigung festgestellt, es müßte angestrebt rechnen, auf welche Dimension Sie kommen. Es stellt werden, daß für Psychotherapien grundsätzlich ein sich für mich die Frage: Wird denn diese Dimension Teil des Honorars von den Versicherungen gezahlt von Ihnen noch als eine sozial gerechte Regelung in werde, während der andere Teil von Anfang an vom einer solidarischen Krankenversicherung angese- Patienten selber aufgebracht werden müßte. hen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich schließe mich diesen Forderungen an . Sie sind Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): zum Teil umstritten. Auch in Fachkreisen wird es Nach meiner Erkenntnis ist, zumindest was die Kran- unterschiedlich gesehen. Wir sollten uns also nicht kenkassenerstattung anbelangt, eine durchschnittli- dauernd vorhalten, daß wir mit der Zuzahlung ein che Behandlungsdauer von 250 Stunden völlig aus der furchtbares Marterinstrument aus der Tasche gezo- Luft gegriffen. gen hätten. Vielmehr können wir aus vernünftigen (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Wir Gründen, die einmal Steuerungs- und Finanzgründe reden von Analytikern! — Dr. Walter Franz sein können, in diesem Falle aber auch therapeutische Altherr [CDU/CSU]: Das ist doch nur ein Gründe sein können, darauf nicht verzichten. geringer Prozentsatz! — Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Die Überforderungsklausel beach Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter, ten!) gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten — Das kann ich jetzt im Moment nicht beurteilen. Schmidbauer? Jedenfalls können auch Sie nicht bestreiten, daß in der TK-Regelung, wie allgemein bekannt, ja auch ent- Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Ja; sprechende Zuzahlungen bisher Praxis gewesen sind. natürlich. Es sind dort keine in der Psychotherapie notwendigen Dinge unterlassen worden. Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Herr Kol- Der Gesetzentwurf wird im Rahmen einer öffentli- lege, wenn gerade bei den Analytikern der Behand- chen Anhörung im weiteren parlamentarischen Ver- lungsrahmen so aussieht, daß es Größenordnungen fahren noch einmal einer kritischen Prüfung unterzo- von über 5 000 DM für die einzelne Patientin und den gen werden. Natürlich ist kein Entwurf, Frau Staats- einzelnen Patienten sind, halten Sie es dann für sekretärin, so gut, daß er vielleicht nicht noch verbes- angemessen, zu dem Effekt zu kommen, den Sie eben sert werden könnte. zitiert haben? (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So sehen wir das auch!) Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Mit Ich nenne Stichworte wie Psychotherapie als Teil der diesem Schlag-tot-Argument, indem Sie gleich von ärztlichen Leistung — darüber muß sicherlich gespro- 5 000 DM sprechen, kann m an natürlich abschrecken. chen werden —, Indikationskatalog — darüber, meine Wir müssen uns in der Ausschußberatung einmal ich, muß ebenfalls noch gesprochen werden, weil das darüber unterhalten, wie Sie die Rechnung zusam- Stichwort der Psychosen ja von großer Bedeutung mengestellt haben, welche Stundenzahl der Psycho- ist — und die Erstellung der Psychotherapierichtli- therapie Sie unterstellen und zu welchen Ergebnissen nien, also die Beteiligung der Psychologen an ihrer Sie kommen. Erstellung. Ob da eine Beratung ausreicht, ist durch- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das aus zweifelhaft. Die Frage der Budgetierung haben wären 140 Stunden Therapie!) wir schon angesprochen. Es kann in Maximalfällen so sein. Dann sagen Sie aber Das Gesetz soll am 1. Januar 1996 in Kraft treten. Es bitte dazu — das ist schon mehrfach gesagt worden —, liegt an uns, die Beratungen zügig abzuwickeln, damit daß die Regelungen der Sozialklausel und andere wir zeitlich nicht unter Druck kommen, wie das sonst Regelungen dazu führen werden, daß die von Ihnen so oft der Fall ist. gern angeführten finanziell Minderbemittelten nicht Danke schön. so sehr zur Kasse gebeten werden, weil bei diesen die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuzahlung ja entfällt. Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Ein sehr guter Beitrag; er hat der Aufklärung Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Lassen Sie eine gedient!) weitere Zusatzfrage zu? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter Redner

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Ich spricht der Abgeordnete Dr. Hans - Hinrich Knaape. wollte sie uns allen ersparen. Aber bitte. -

Dr. Hans - Hinrich Knaape (SPD): Frau Präsidentin! Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Zeit wird Ihnen Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf nicht angerechnet. eines Gesetzes des Psychologischen Psychotherapeu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15771

Dr. Hans-Hinrich Knaape ten und des Kinder- und Jugendlichen-Psychothera- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bitte. peuten ist kein Ruhmesblatt für die verflossene — man kann auch sagen: gescheiterte — Gesundheitspolitik Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Habe ich Sie recht der Regierungskoalition und ihres derzeitigen Ge- verstanden, daß Sie erstaunt darüber sind, daß Vor- sundheitsministers. schläge des Bundesrates von der Bundesregierung in Ich will Ihnen das begründen: erstens weil das die Tat umgesetzt werden? Gesetz seit Jahren dringend notwendig war, aber jetzt erst vorgelegt wurde und ständig verzögert wurde; Dr. Hans - Hinrich Knaape (SPD): Ja. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Zügig!) Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Dann möchte ich Sie zweitens weil das Gesetz die völlige Gleichstellung fragen: Warum werden nach Ihrer Meinung eigentlich der psychisch Kranken mit den somatisch Kranken Gesetze sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat nicht vollzieht; beraten? Denn der Blickwinkel für ein solches Gesetz (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist muß ja wohl etwas unterschiedlich sein, je nachdem, auch nicht möglich!) ob man die Bundesebene oder die Landesebene betrachtet. Oder ist das nicht so? drittens weil berufsrechtlich und versicherungsrecht- lich krasse Fehlentscheidungen festgeschrieben wer- - (SPD): Ich war deshalb den sollen; viertens weil im Gesetz wohl Formulierun- Dr. Hans Hinrich Knaape verwundert, weil bei den bisherigen Gesetzen, die wir gen auf Drängen eines Teils der Koalition aufgenom- im Gesundheitsausschuß beraten haben, immer das men worden sind, die zu Lasten einer Absenkung der Gegenteil eingetreten ist. fachlichen Qualität und der Befähigung zur psycholo- gischen Psychotherapie gehen und letztlich wohl nur (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nein, GSG!) potentielle Wähler bef riedigen sollen. — Ja, das mußten Sie ja auch aus verständlichen (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Kon Gründen. kretisieren Sie das einmal! — Dr. Dieter (Dr. Bruno Menzel [F.D.P.]: Herr Kollege, Sie Thomae [F.D.P.]: Lieber nicht!) geben mir also zu, daß das ein ganz vernünf Daß hier ein Gesetz vorgelegt wird, das im parla- tiger parlamentarischer Vorgang ist?) mentarischen Verfahrensweg deutlichen Korrekturen — Sicher, aber Sie müssen auch ergänzend zur unterworfen werden muß, geht allein daraus hervor, Kenntnis nehmen, daß es günstiger gewesen wäre, daß die Bundesregierung in ihrer Erwiderung auf diese Änderungsvorschläge vorher in diesen Gesetz- 28 Stellungnahmen und Änderungsvorschläge des entwurf einzuarbeiten, denn sie sind offensichtlich. Bundesrates 18 grundsätzlich zustimmt, sechs noch- (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. — mals überprüfen wird und lediglich vier Änderungen Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Speku widerspricht und ablehnt. lativ, Herr Kollege? — Weiterer Zuruf von der (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das F.D.P.: Vorauseilender Gehorsam!) unterscheidet die Bundesregierung von der Ziel der SPD-Fraktion ist, einen hohen Standard der SPD-Fraktion! — Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: psychologischen psychotherapeutischen Behandlung Das waren die Vorschläge der CDU/CSU- und eine qualitätsorientierte Ausbildung zu sichern geführten Bundesländer!) und zu verbessern, dies gestützt auf wissenschaftlich — Dann sehen Sie einmal, daß Sie nicht sehr gut anerkannte Verfahren der Psychotherapie. Diesen gearbeitet haben. Ansprüchen genügt das Gesetz nicht, wenn die Män- gel innerhalb der parlamentarischen Beratung nicht Dies ist doch wohl ein deutliches Zeichen dafür, daß behoben werden. Kommen Sie dieser Aufforderung Bundesminister Seehofer, der in den letzten Tagen so nicht nach, werden wir dieses Gesetz ablehnen. forsch handelnd auftritt, sein Ministerium nicht voll im Unter anderem stehen wir im berufsrechtlichen Teil Griff hat. Eine Vorwärtsverteidigungsstrategie wäre für folgende Änderungen ein. Erstens. Wir wollen die auch hier zu beziehen, da Mängel offensichtlich sind. Approbation der Psychologischen Psychotherapeu- Dem Minister wäre zu raten, den Stil der letzten Tage ten, ihre volle Berufserlaubnis im Heilberuf. Wir auch auf dieses Gesetz anzuwenden. Er kann dabei lehnen die fadenscheinige Begründung zur Ableh- ruhig den Anschein wahren, es wären seine Positio- nung der Approbation ab, da diese auch heute schon nen, wenn er die der Sozialdemokraten übernimmt. für die approbierten Ärzte ohne Weiterbildung nicht Die Sachkundigen werden den Unterschied sowieso zutrifft. sehen, und über diesen Kreis hinaus wird dieses Gesetz in der Diskussion keine Ausstrahlung haben, Zweitens. Die Psychotherapie muß den psycho- wohl aber Auswirkungen in der Behandlung von pathologischen und vor allem entwicklungspsycholo- neurotisch und psychisch Kranken. Es hat also eine gischen Besonderheiten des Kindes- und Jugendal- enorme medizinpolitische Bedeutung. ters angepaßt sein und kann sich nicht an starren Altersgrenzen orientieren. Der Zustand der Patienten entscheidet, mit welchen Therapiemethoden bei wel- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Knaape, cher Berufserfahrung des Therapeuten behandelt gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten werden muß. Dr. Menzel? - Drittens. Mit der Aufzählung, weiche psychischen Störungen Krankheitswert haben, stimmen wir über- ein. Ob sie durch Psychologische Psychotherapeuten Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Ja. und Kinder- und Jugendtherapeuten psychotherapie- 15772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Hans-Hinrich Knaape fähig sind, bedarf einer schärferen Formulierung und tiefenpsychologisch-analytische und die Verhaltens- eines erkennbar logischen Aufbaus. therapie — herausgenommen und die Formulierung Viertens. Die Formulierung einer Ausbildungs- allgemein gehalten werden. dauer für die Psychotherapeuten ganztägig über drei Ich darf wieder fortfahren. Siebtens. In den Über- Jahre bzw. berufsbegleitend über fünf Jahre ohne gangsvorschriften sind Mindesttätigkeitszeiten ge- Angabe der Ausbildungsstandards und die Präzisie- nannt, die von den Psychologen nachzuweisen sind. rung, was wo und wie in welcher Zeit ausgebildet Diese Zeiten sagen nichts aus, wenn die Qualität und werden soll, ist uns zu allgemein gehalten. Wiederholt der Inhalt der Tätigkeit nicht einbezogen werden. haben wir schon darauf hingewiesen, daß das Hier bedarf es einer Präzisierung. Gesundheitsministerium bei entsprechenden Gesetz- entwürfen auch die Ausbildungs- und Prüfungsver- Achtens. Ebenso ist dies erforderlich bei der drei- ordnungen vorlegen möchte. Bisher sind uns diese jährigen psychotherapeutischen Zusatzausbildung nicht zugestellt worden. Wir verkennen nicht, daß sie für Bewerber, die im Berufsleben stehen, da unklar ist, letztlich in die Kompetenz der Länder gehören, aber wie diese Personen sie erwerben sollen. sie sind notwendig, damit wir uns vertretbare Meinun- Neuntens. Wenn es bei angestellten Psychothera- gen bilden können. peuten einer mindestens achtjährigen Tätigkeit im Fünftens. Sicher ist zu klären, wer die durchge- Beruf bedarf, ohne daß die Qualität, gemessen an den hende praktische Ausbildung über ein Jahr in der Behandlungsfällen, in dieser Zeit berücksichtigt wird, Pychiatrie bzw. über sechs Monate in einer psycho- trifft dies die Sache nicht und ist abzulehnen. therapeutischen Einrichtung finanziert. Wichtiger erscheint uns aber, was in dieser Zeit erlernt werden Zehntens. Zu klären ist weiter, ob alle derzeitig am soll und welche Anforderungen an die ausbildenden Delegationsverfahren teilnehmenden Psychologi- Einrichtungen und an ihre Mitarbeiter zu stellen schen Psychotherapeuten den geforderten strengen sind. Qualitätsvoraussetzungen genügen, wenn sie nach dem Gesetz die Möglichkeit erhalten sollen, innerhalb Sechstens. Es bedarf der Klarstellung, welche von drei bzw. fünf Jahren eine Ausbildung nachzuho- Kenntnisse in wissenschaftlich anerkannten psycho- len, ohne daß die Kenntnis der Ausbildungs- und therapeutischen Verfahren zu erwerben sind: einge- Prüfungsordnung gegeben ist. hende Kenntnisse, wie im Gesetzentwurf geschrie- ben, oder Grundkenntnisse, wie wir meinen, und dies (Dr. Walter Fr anz Altherr [CDU/CSU]: Ver auch nicht nur insbesondere in der tiefenpsycholo- trauensschutz!) gisch-analytischen Psychotherapie und der Verhal- Zu einigen der aufgeführten Punkte hat die Bundes- tenstherapie, sondern auch in anderen wissenschaft- regierung in ihrer Stellungnahme auf die Bundesrats- lich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren. kritik ja schon positiv zustimmend geantwortet. Wir Es würde die Wiedervereinigung konterkarieren, gehen deshalb davon aus — da stimmen wir wiederum wenn z. B. nur die beiden erwähnten Verfahren aner- mit Ihnen überein —, daß nach der Anhörung wäh- kannt würden, aber die Gesprächspsychotherapie, die rend der Beratung des Gesetzes im Ausschuß weitere in den neuen Bundesländern erfolgreich betrieben Korrekturen möglich sind. Sie haben sie ja heute sogar wird, wie auch andere Verfahren nicht anerkannt signalisiert. werden. (Zustimmung des Abg. Dr. Bruno Menzel (Dr. Bruno Menzel [F.D.P.]: Natürlich! — Dr. [F.D.P.]) Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wir sind nicht ideologiefixiert, Herr Knaape!) — Wir stimmen überein; sehen Sie, das hätten Sie gleich hineinschreiben sollen. Es wird insofern von uns begrüßt, daß von der sonstigen Handlungsweise der Regierungskoalition Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Menzel — die Augen zu und durch, um das Ende der Legis- möchte erneut eine Zwischenfrage stellen. laturperiode zu erreichen — abgewichen wird, egal, was die SPD-Opposition sagt. Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Herr Kollege Knaape, (Dr. Bruno Menzel [F.D.P.]: Das haben wir sind Sie der Meinung, daß es wirklich Aufgabe des nie gemacht! Das können Sie uns nicht unter Gesetzgebers ist, in dieser doch relativ großen Vielfalt stellen!) von möglichen Therapieangeboten in der Psychothe- rapie festzulegen, welches denn nun die Methoden — Ich weiß doch, daß es Ihnen Spaß macht. sind, die tatsächlich dem Patienten guttun? Wäre es (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Sie wollten nicht viel sinnvoller, die Möglichkeit offenzulassen, sagen: Augen zu und CDU! — Dr. Walter daß die Fachverbände in Gemeinsamkeit mit den Franz Altherr [CDU/CSU]: Besser als sehen ärztlichen Verbänden nach ihrem Sachverstand, der den Auges in den Abgrund schreiten! — mit Sicherheit größer sein wird als der der Parlamen- Heiterkeit bei der CDU/CSU und der tarier, festlegen, welche fundierten Methoden in der F.D.P.) Zukunft bei der Behandlung von psychisch Kranken zur Anwendung kommen? — Dann haben wir Sie. Sie können als Unfallchirurg ja - helfen. Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Menzel, ich Streiten wir uns parlamentarisch und korrigieren kann Ihnen sagen: Da stimmen wir völlig überein. wir. Auf unserer Seite, auf der Seite der SPD, sind Insofern sollten auch diese beiden genannten — die stichhaltige und zutreffende Argumente. Dies müssen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15773

Dr. Hans-Hinrich Knaape Sie zugeben, und Sie haben sie ja teilweise auch schon logie und Kriminalpädagogik und nicht zuletzt Stati- akzeptiert. stik bemühen. Es geht also um ein sehr komplexes Ich danke Ihnen. Problem. Das hat allerdings noch keinen Stammtisch und noch keinen Wahlkämpfer daran gehindert, letzte (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Bruno Weisheiten über die Entwicklung der Kriminalität zu Menzel [F.D.P.]) verkünden.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Mit ihrer Anfrage zum Thema „Sicherheitsbedürf- Herren, ich schließe die Aussprache. nis der Bevölkerung und Massenkriminalität" hat die SPD-Fraktion drei Ziele verfolgt. Wir wollten erstens Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen durch Erstellung eines Lagebildes zur Aufklärung auf den Drucksachen 12/5890 und 12/5913 an die in über einen Kriminalitätsbereich beitragen, bei dem der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- wir inzwischen statt von Alltagskriminalität richtiger schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — von Massenkriminalität sprechen können. Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir wollten zweitens die politische Diskussion auf die Tatsachen lenken, die vor allem für das dramatisch Ich rufe Punkt 7 a und b der Tagesordnung auf: gesunkene Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ur- sächlich sind. Deshalb haben wir zwischen der Mas- a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- senkriminalität einerseits und der organisierten Kri- ten Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Günter Graf, minalität andererseits unterschieden. Die organisierte Dr. Hans de With, weiterer Abgeordneter und Kriminalität ist Gegenstand einer zweiten, bis heute der Fraktion der SPD leider noch nicht beantworteten Großen Anfrage. Um Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und Geldwäsche oder gar den sogenannten großen Massenkriminalität Lauschangriff geht es heute also nicht. — Drucksachen 12/3633, 12/5452 — Drittens wollten wir die Bundesregierung zur Vor- b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäi- lage überzeugender Lösungskonzepte veranlassen, sche Parlament mit denen die besorgniserregende Entwicklung Entschließung zur Gründung von Europol gewiß nicht ganz rückgängig gemacht, aber doch gestoppt werden kann. — Drucksache 12/4378 — Überweisungsvorschlag: Vor allem dieses dritte Ziel hat die Bundesregierung Innenausschuß (federführend) in ihrer Antwort weit verfehlt. Die Antwort ist ein Rechtsausschuß Dokument der Ratlosigkeit gegenüber den Herausfor- EG-Ausschuß derungen, die mit der Gefährdung des inneren Frie- Haushaltsausschuß dens verbunden sind. Zur Großen Anfrage liegen je ein Entschließungs- antrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜND- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Haben Sie NIS 90/DIE GRÜNEN vor. schon einmal etwas von den Ländern in Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Deutschland gehört? — Dr. Jürgen Rüttgers gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort zu Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre rück ! ) keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Lagebild ist im wesentlichen bekannt und wird Als erster wird in der Aussprache Professor Dr. Jür- von der Bundesregierung noch einmal bestätigt. gen Meyer sprechen. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das Land von Herrn Scharping ist Rheinl and-Pfalz! Ich Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Frau Präsidentin! kann Ihnen die Zahlen einmal vorlesen!) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kriminalität ist eine Erfahrung, die keiner Gesellschaft erspart Herr Kollege Marschewski, damit Sie sich etwas bleibt. Die Kriminalitätsentwicklung sagt immer auch beruhigen, will ich zunächst einmal feststellen: Die viel über den Zustand einer Gesellschaft aus. Aber es Bundesregierung rechnet zur Massenkriminalität war einer der Irrtümer der marxistischen Kriminolo- — insoweit zutreffend — vor allem die Diebstahlsde- gie, daß die Entstehung kriminellen Verhaltens nur likte, von denen 1992 über 3,9 Millionen Fälle in der mit den Verhältnissen in einem bestimmten Gesell- polizeilichen Kriminalstatistik erfaßt worden sind. schaftssystem, nämlich im Kapitalismus, zu tun hätte. Diese Delikte machen mehr als drei Fünftel, in den Sie hat zwar auch damit zu tun, aber die Behauptung neuen Bundesländern sogar über zwei Drittel aller von Friedrich Engels, es fielen — ich zitiere — „die registrierten Straftaten aus. Das Bild sähe wesentlich Verbrechen gegen das Eigentum von selbst da weg, besorgniserregender aus, wenn man insbesondere die wo jeder erhält, was er zur Befriedigung seiner natür- Gewaltdelikte hinzufügte, die, obwohl massenhaft lichen und geistigen Triebe bedarf", ist durch die begangen, von der Bundesregierung nicht der Mas- Wirklichkeit längst widerlegt worden. senkriminalität zugerechnet werden. Wer sich als Kriminologe mit den Ursachen und Einzelne Zahlen zeigen die bedrohliche Tendenz: Erscheinungsformen von Straftaten befaßt, darf nicht Die- Zahl der Wohnungseinbrüche stieg in West- nur Soziologe und auch nicht nur Jurist sein. Er muß deutschland von 1982 bis 1992 urn 43 %, von rund sich auch um Grundkenntnisse in den Bezugswissen- 129 000 auf rund 174 000. Die Aufklärungsquote sank schaften wie Psychologie und Psychiatrie, Anthropo von 24,9 % auf 14 %. Die Zahl der gestohlenen Kraft- 15774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) fahrzeuge stieg allein von 1991 bis 1992, also in einem Ein weiteres Beispiel ist die Untätigkeit der Bundes- Jahr, um 30 %, von 89 000 auf 116 000. regierung angesichts der durch Massenkriminalität verursachten und ausweislich ihrer eigenen Antwort (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Die CDU deutlich gestiegenen Schäden. Bekanntlich könnte hat die geklaut, ja?) der Anreiz zur Begehung derar tiger Straftaten durch Die Aufklärungsquote sank binnen eines Jahres von eine konsequente Gewinnabschöpfung zurückge- 28 % auf 24,5 %. drängt werden. Den Gesetzentwurf der SPD-Bundes- tagsfraktion, der eine obligatorische Nebenstrafe der Tatopfer sind vielfach sozial Schwächere. Beim Gewinnabschöpfung vorsieht, hat man ohne nähere Handtaschenraub waren 55,6 % der Opfer ältere Men- Begründung abgelehnt. Das Versprechen, das Recht schen ab 60 Jahre. Ebenso besorgniserregend ist, daß des Verfalls und der Einziehung zu reformieren, hat bei sonstigem Straßenraub 14,9 % der Opfer Jugend- die Bundesregierung bis zum heutigen Tage nicht liche, 8,9 % Heranwachsende und 8,7 % Kinder ab eingelöst. sechs Jahren waren. (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Gestiegene Kriminalität, gesunkene Aufklärungs- GRÜNEN]: Hört! Hört!) quoten und schwindendes Sicherheitsgefühl der Die Folgen liegen auf der Hand. Jährlich werden mehr Bevölkerung sind ein trauriges Ergebnis auch von als 4 Millionen Straftaten gegen Eigentum und Ver- über zehn Jahren konservativer Wendepolitik. Die mögen registriert, aber nur gegen 30 bis 70 Verurteilte Zahlen sprechen für sich. wird der Verfall von Vermögenswerten angeordnet. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Die Ich nenne ein viertes Beispiel. Nach der Antwort der ses Argument leuchtet wirklich ein!) Bundesregierung ist ein hoher Anteil von annähernd 30 % der Wohnungseinbrüche auf Beschaffungskri- Es gibt keinen Königsweg zur Lösung aller aktuel- minalität zurückzuführen, in Ballungsräumen sogar len Probleme, aber es gibt doch sehr konkrete und deutlich mehr. Trotzdem gibt die Bundesregierung unter Fachleuten übrigens völlig unbestrittene Hand- ihren ideologischen Widerstand gegen Substitutions lungsmöglichkeiten, mit denen man die besorgniser- programme, die erwiesenermaßen Beschaffungskri- regende Entwicklung deutlich zurückdrängen minaltität deutlich zurückdrängen, immer noch nicht könnte. auf. Die Folgen werden in der Antwort der Bundesre- (Zuruf von der F.D.P.: Na also!) gierung deutlich dokumentiert. Bei den Wohnungs- einbrüchen hat Deutschland eine traurige Spitzenstel- Aber dazu muß man eben h andeln, statt sich im lung auf dem westeuropäischen Kontinent. Ankündigen oder Aussitzen zu üben. Ich nenne vier Beispiele. Obwohl längst bekannt ist, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Professor daß dem bedrohlich angestiegenen Diebstahl von Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- ordneten Dr. Hirsch? Kraftfahrzeugen durch die Diebstahlssicherungen wirksam begegnet werden könnte — nun zitiere ich (Ulm) (SPD): Ja, bitte schön. aus der Antwort der Bundesregierung —, „beabsich- Dr. Jürgen Meyer tigt" die Bundesregierung erst jetzt „Gespräche" über Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege, da Sie so entsprechende Maßnahmen auf freiwilliger Basis mit fröhlich dabei sind, Verantwortung zuzuweisen: Wer den Verbänden der Automobilindustrie und der Ver- trifft denn eigentlich bei dem erweiterten Verfall oder sicherungswirtschaft zu führen. Das ist dasselbe bei dem Einzug von Vermögen die Entscheidung: der Kooperationsmodell, das im Umweltschutz längst Richter oder die Bundesregierung? gescheitert ist. Die Leidtragenden sind die Kraftfah- rer, deren Kasko- und Teilkaskoversicherungsbei- (Beifall bei der F.D.P.) träge kürzlich massiv, teilweise um mehr als 30 % erhöht werden mußten. Sie sind Opfer der Untätigkeit Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Kollege, diese der Bundesregierung angesichts des sprunghaften Frage hätten Sie eigentlich selbst beantworten kön- Anstiegs der Kraftfahrzeugdiebstähle. nen. (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sie auch!) Als zweites Beispiel nenne ich die Tatsache, daß die Bundesregierung ausweislich ihrer Antwort auf Der Richter wendet die Gesetze an, und die Gesetze unsere Große Anfrage für ein Aktionsprogramm macht der Bundestag auf Grund von Initiativen in aller gegen rechtsextremistisch motivierte und ausländer- Regel der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat feindliche Ausschreitungen jährlich lediglich 20 Mil- eine solche Ini tiative angekündigt. Es ist völlig lionen DM zur Verfügung stellt und den Einsatz dieser unstreitig, daß das Recht von Verfall und Einziehung geringen Mittel groteskerweise — ich zitiere wie- reformierungsbedürftig ist. der —, „um die finanziellen Mittel nicht zu sehr zu (Zuruf von der CDU/CSU: Der Meinung sind streuen" , auf die neuen Bundesländer beschränken wir auch!) will. Hält die Bundesregierung eigentlich derar tige Die Bundesregierung hat eine Zusage zu einer Initia- Programme in Westdeutschland für überflüssig? Sie tive gemacht, aber bis heute nicht eingelöst. Das ist die tut so, als ob es die Verbrechen in Mölln und So lingen Antwort. nie gegeben hätte. - (Beifall bei der SPD — Dieter Wiefelspütz (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch gar [SPD]: Das ist die Wahrheit!) nicht wahr, Herr Meyer! — Zuruf von der Statt konkrete Handlungskonzepte anzubieten, F.D.P.: Na! Na!) flüchtet die Regierung in ihrer Antwort in Erklärungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15775

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) versuche, die dort, wo sie zutreffen, geradezu ein schen Folgen der deutschen Wiedervereinigung, die Offenbarungseid der Politik dieser Regierung sind. So der Bundeskanzler statt dessen in zurückliegenden wird ausdrücklich eingeräumt, daß Armut, Arbeitslo- Wahlkämpfen lieber beschönigt und geleugnet hat. sigkeit, Wohnungsnot und fehlende Zukunftsper- Die von dieser Regierung mit zu verantwortende spektiven unbestreitbar eine Ursache für den Anstieg zunehmende Verarmung, die völlig unzureichende sind. Im Programm der CDU, das sie der Kriminaltität Wohnungsbaupolitik, die erfolglose Arbeitsmarktpo- auf ihrem Berliner Parteitag am 14. September 1993 litik und die Begünstigung rücksichtslosen individuel- verabschiedet hat, heißt es dazu unter Ziffer 9 — ich len Erfolgsstrebens gegenüber mitmenschlicher Soli- zitiere —: darität fordern einen Preis, der sich auch und nicht Berufliche Ausbildungsdefizite und Arbeitslosig- zuletzt in der Kriminalitätsbelastung ausdrückt. keit können die Anfälligkeit gegenüber kriminel- len Einflüssen erhöhen. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das geht aber ein bißchen weit!) (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Wenn es da steht, ist es richtig!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich auf ein weiteres Problemfeld eingehen, das eng Die Förderung der beruflichen Bildung und die mit der geschilderten Entwicklung zusammenhängt. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind daher auch Die Bundesregierung berichtet in ihrer Antwort über unter dem Gesichtspunkt der Kriminalitätsvor- geradezu explodierende Umsatzzahlen des privaten beugung wichtig. . Sicherheitsgewerbes. Dies ist einer der wenigen Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU) ' schaftsbereiche, die gegenwärtig noch einen starken Boom haben. Der Umsatz im Bereich der Sicherheits- — Ja, meine we rten Kollegen von der CDU, das ist dienstleistungen ist nach der Auskunft der Bundesre- völlig richtig. gierung allein in den beiden Jahren von 1990 bis 1992 (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Weiter vorle-von 2,4 auf 3,2 Milliarden DM gestiegen, also um sen!) 33 1/3%. Aber wenn man das liest, wird man doch fragen Hinzu kommen die Umsätze von Unternehmen, die dürfen: Wer regiert eigentlich seit elf Jahren in der im Bereich der Grundstücks-, Gebäude- und Schiffs- Bundesrepublik Deutschland? Wer trägt denn eigent- bewachung tätig sind oder mechanische und elektro- lich die Verantwortung für die von der Bundesregie- nische Sicherheitseinrichtungen anbieten. Diese Un- rung nunmehr — wenn auch reichlich pauschal — ternehmen machen nach Angaben der Bundesregie- selbst eingeräumten Mängel der Arbeits- und Sozial- rung Umsätze in Höhe von etwa 10 Milliarden DM mit politik, der Bildungs- und Ausbildungspolitik und steigender Tendenz. schließlich der Jugend- und Familienpolitik? (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sind Sie Aber es geht ja noch weiter. Die Bundesregierung dagegen?) erkennt in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zutreffend, daß Kriminalität auch mit dem Wertesy- Seriösen Quellen ist zu entnehmen, daß die Anzahl stem, das in der Gesellschaft gilt, engstens verbunden privater Sicherheitsbediensteter mittlerweile die Zahl ist. Sie versucht, den Anstieg der Massenkriminalität der Polizeibeamten übersteigt. auf einen gesamtgesellschaftlichen Werte- und Struk- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) turwandel zurückzuführen. Unter Ziffer 7 des erwähnten Parteitagsbeschlusses der CDU heißt es zu Sie, meine Damen und Herren, können mit uns diesem Thema — ich zitiere —: durchaus über eine Aktivierung der Eigenverantwor- tung von Bürgerinnen und Bürgern beim Schutz der Das Anwachsen der Massenkriminalität spiegelt eigenen Rechtsgüter reden. einen gesellschaftlichen Wertewandel wider. Achtung vor Leib und Leben, fremdem Hab und (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das hat Gut, Solidarität mit den Mitmenschen, Rechts- aber lange gedauert!) und Unrechtsbewußtsein haben abgenommen. Allerdings — und ich hoffe, daß wir da auch überein- Völlig zutreffend. Aber sind derartige Erklärungen stimmen — darf dadurch niemals das Gewaltmonopol nicht auch ein Offenbarungseid einer Regierung und des Staates in Frage gestellt werden. einer Regierungspartei, die vor elf Jahren mit der vollmundigen Verheißung angetreten sind, eine gei- (Zuruf von der F.D.P.: Da sind wir uns stig-moralische Wende herbeizuführen? einig!) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig!) Es ist — und da sind wir uns hoffentlich auch einig — eine elementare Aufgabe des Staates, für die innere Der Anstieg der Kriminalität allein in Westdeutsch- Sicherheit und damit auch den Grundrechtsschutz land von 4 Millionen auf mehr als 5 Milionen regi- aller Bürger zu sorgen. Die geschilderte Entwicklung strierte Straftaten, also um 25 % seit 1982, dokumen- belegt, daß das Vertrauen der Bürger in die Erfüllung tiert das Scheitern der Wendepolitik von Bundeskanz- dieser Aufgaben durch den Staat sinkt. Nach Auffas- ler Kohl. Mehr noch: Diese Regierung muß sich fragen sung der SPD darf aber Sicherheit nicht zum Reichen- lassen, ob das von ihr so beredt beklagte Verblassen privileg werden. Ich hoffe, daß Sie uns auch darin nicht mitverursacht des Grundwertes Solidarität zustimmen. wurde durch eine Politik der sozialen Kälte, aber auch durch den von Bundeskanzler Kohl unterlassenen Meine sehr geehrten Damen und Herren, auf die Aufruf zur Solidarität, z. B. angesichts der ökonomi- notwendige Stärkung der Polizei wird mein Kollege 15776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Günter Graf nachher näher eingehen. Ich will noch ausländischer Flüchtlinge, für das der Innenminister zwei andere Fragen ansprechen. verantwortlich ist. Statt in einer schwierigen Situation alle Anstren- Mein Kollege Wartenberg hat neulich darauf hinge- gungen zu verstärken, um die sozialen Ursachen von wiesen, daß ausweislich einer Stichprobe allein die Kriminalität zurückzudrängen und die konkreten Ausländerbehörde in Hannover — das zur Meldung Handlungsmöglichkeiten zu nutzen, die ich eingangs durch die Länder, verehrter Kollege — das Bundesamt erläutert habe, eröffnet die CDU eine Diskussion, die in 14 Fällen seit mehreren Monaten vergeblich an die ich für außerordentlich gefährlich halte. Das altbe- Bearbeitung der Anträge potentieller Betäubungsmit- kannte und immer wieder gescheiterte Rezept, auf teltäter erinnert. schwere Straftaten mit neuen und immer schärferen Wann handelt die Bundesregierung? Warm sorgen Gesetzen zu reagieren, ohne die bestehenden Sie endlich dafür, daß die Ihnen unterstehende Gesetze zunächst einmal auszuschöpfen, soll nun- Behörde den Verwaltungsvorgang nach dem neuen mehr der Kriminalität junger Menschen gelten. § 36 Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes unverzüglich dem zuständigen Verwaltungsgericht zuleitet? Dieses (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist soll binnen einer Woche über Eilanträge entscheiden falsch! Das wissen Sie doch selbst!) können. Aber das Bundesamt braucht für die Verwen- Die CDU verlangt eine Verschärfung des Jugend- dung der Akten meistens sechs Wochen, manchmal strafrechts. sogar zwei bis drei Monate. (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) Tun Sie also Ihre Pflicht, meine Damen und Herren in der Regierung, statt die von mir geschilderten Fälle Nach unserer Auffassung muß sehr gründlich als Einzelfälle herunterzureden! Tun Sie Ihre Pflicht, geprüft werden — und ich denke, da wird auch in der statt über Ausländerkriminalität zu räsonieren! Koalition wenigstens gestritten —, ob das Jugend- strafrecht Defizite hat und welche das gegebenenfalls (Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt werden Sie sind. Schnellschüsse sind gerade in diesem Bereich aber oberlehrerhaft, Herr Meyer!) kaum verantwortbar. Wir werden deshalb demnächst Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und eine Große Anfrage zur aktuellen Situation der Herren, die SPD-Fraktion legt Ihnen einen Entschlie- Jugendkriminalität, zu ihrer Bewertung und zu even- ßungsantrag vor, mit dem wir die Bundesregierung tuellen Konsequenzen im Jugendstrafrecht vorlegen. zum Handeln auffordern. Sie finden dort eine Reihe Aufklärung und Nachdenken sind in diesem Bereich sehr konkreter Forderungen, denen dieses Parlament offenbar notwendig. seine Zustimmung eigentlich nicht versagen kann. Statt wie so oft in kurzatmigen gesetzgeberischen Auch aus unserer Sicht ist die Gewaltkriminalität Aktionismus zu verfallen, sollte die Bundesregierung junger Menschen ein Problem. Aber ehe wir in diesem endlich ein Gesamtkonzept vorlegen, aus dem sich Bereich noch mehr als bisher mit Strafrecht reagieren, ergibt, wie sie den kriminalitätsverursachenden sozia- sollten wir auch überlegen, ob nicht viele junge len Mißständen entgegenwirken will, die insbeson- Menschen in unserem Land auch Opfer von Mängeln dere das weitere Ansteigen von Massenkriminalität unseres Erziehungssystems, ja Opfer unseres eigenen begünstigen. Versagens in diesem Bereich sind. Ob die Bundesregierung zur Erarbeitung eines Ich will noch eine Bemerkung zur sogenannten solchen Konzeptes in der Lage ist, muß angesichts der Ausländerkriminalität machen, über die sich der Antwort auf unsere Große Anfrage bezweifelt werden. neue Innenminister zunehmend wenig verantwortlich Das Vertrauen der Bevölkerung in die Kompetenz der äußert. Es ist richtig: Wir haben das Problem ein- und Regierung im Bereich der inneren Sicherheit ist nicht ausreisender Straftäter, darunter z. B. Drogenhändler. zuletzt, wie wir alle wissen, durch die Ereignisse von Insoweit kann man von importierter Kriminalität spre- Bad Kleinen schwer erschüttert. Es muß wiederherge- chen. Diese Täter sollen bekanntlich möglichst bei der stellt werden. Einreise abgefangen werden. Deshalb hat sich die Bundesregierung zu Ausgleichsmaßnahmen für Si- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Meyer, Ihre cherheitsdefizite als Folge des Wegfalls der Kontrollen Redezeit ist zu Ende. an den EG-Binnengrenzen verpflichtet. Aber Herr Kanther bringt es bisher nicht fertig, die Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Ich komme zum über 5 000 beim Bundesgrenzschutz vorgesehenen letzten Satz: Aber das und die Erarbeitung einer Planstellen zu besetzen. Da muß ja wohl gehandelt neuen und besseren Sicherheitspolitik wird wohl die werden! Aufgabe einer neuen Bundesregierung sein. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Länderpolizei Ich danke Ihnen. bringt es auch nicht fertig!) (Beifall bei der SPD) — Wir reden vom Bundesgrenzschutz, lieber Herr Kollege. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Es ist weiter richtig, daß es inte rnational operie- der Abgeordnete Marschewski. rende Straftäter gibt, die Schutz unter dem Dach des Asylrechts suchen. Deshalb ist vorgesehen, die Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! zumeist offensichtlich unbegründeten Anträge dieser Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der Beschuldigten vorzuziehen und sofort zu bescheiden. SPD zum Thema „Sicherheitsbedürfnis der Bevölke- Zuständig ist das Bundesamt für die Anerkennung rung und Massenkriminalität" stellt den ebenso Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15777

Erwin Marschewski durchsichtigen wie untauglichen Versuch dar, die Ihr Programm, meine Damen und Herren, zum Kriminalpolitik der Bundesregierung an den Pranger Lauschangriff — besser gesagt: zum Einsatz techni- zu stellen. So ist in der Anfrage zu lesen: scher Mittel in Gangsterwohnungen — ist kein gutes Programm, Herr Professor Meyer. Die haben mit 10: 9 Die gegenwärtige Sicherheits- und Kriminalpoli- Stimmen denkbar knapp folgendes entschieden: tik der Bundesregierung trägt dem Sicherheitsbe- Bevor es möglich ist, einen Gangster zu überwachen, dürfnis der Bevölkerung schon lange nicht mehr soll erstens eine Anordnung des Ministers da sein, soll Rechnung. zweitens eine parlamentarische Kommission dies Dies ist zum ersten falsch. Zum zweiten stellt diese bestätigen, soll drittens der Antrag an ein Kollegial- Behauptung eine Unverfrorenheit dar; denn für die gericht gesandt werden und viertens dieses Ge richt Kriminalpolitik sind die Länder verantwortlich, und entscheiden. In der Zeit sind bereits en masse Verbre- Sie haben in den meisten Ländern nun die Mehrheit. chen begangen worden. Das ist doch keine Lösung der Zum dritten soll diese Behauptung offensichtlich ver- Probleme, die wir anstreben, meine Damen und decken, daß es bei der SPD an der gebotenen Kom- Herren. petenz in Fragen der inneren Sicherheit fehlt. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Jürgen (Beifall bei der CDU/CSU) Rüttgers [CDU/CSU]: Warum ist der Bundes tag nicht beteiligt?) Lassen Sie mich zunächst einmal klarstellen, inwie- weit wir als Bundespolitiker, auf Bundesebene also, Wir wissen: Auch bei uns hat die Gewaltbereitschaft einen Beitrag zur inneren Sicherheit leisten können. zugenommen. Das ist richtig. Viele Menschen sind Unsere Kompetenzen sind begrenzt. Nach der grund- betroffen. Mir macht Sorgen: Obwohl wir die höchste gesetzlichen Aufgabenverteilung ist die Polizei Sache Richterdichte der Welt haben, obwohl wir in bezug auf der Länder. Dies gilt auch für die Gesetzgebung im die Strafverfolgungsorgane keinen Vergleich zu Polizeirecht. Der Bund ist in eigener Verwaltung, das scheuen brauchen, sinkt das Vertrauen der Bevölke- wissen Sie, nur zuständig für das Bundeskriminalamt rung in diese Organe. Umfragen und Diskussionen und für den Bundesgrenzschutz. Wir haben eine belegen dies. Und wer nicht selbst betroffen ist — wir Gesetzgebungskompetenz auf den Gebieten des wissen dies —, bekommt über das Fernsehen die Strafrechts und des Strafprozeßrechts. Szene Frankfurts oder anderer Städte geschildert. Dies ist sicherlich bedrohlich. Es ist daher nicht verwunderlich, sondern logisch zwingend, daß sich ein großer Teil der Vorschläge der Wir legen nicht nur ein Paket vor, um Gesetze zu Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion zur ändern, meine Damen und Herren von der SPD. Wir Kriminalitätsbekämpfung auf Maßnahmen zur Ver- beschäftigen uns schon mit den Ursachen. Natürlich besserung des gesetzlichen Instrumentariums be- wissen wir, daß die Öffnung der Grenzen zur ehema- zieht. ligen DDR und zu Osteuropa möglicherweise eine Rolle spielt. Natürlich wissen wir um die sozialen Es ist demgegenüber unverständlich, wenn die SPD Probleme. Aber ich weiß auch, meine Damen und solche Mißstände im Bereich der inneren Sicherheit, Herren, um den Verlust der Grundwerteübereinstim- die nur durch polizeiliche Maßnahmen behoben wer- mung, der von den 70er Jahren ausgegangen ist. Die den können, dem Bund anlastet, tragen doch vielmehr Folge ist doch offensichtlich: keine Achtung vor Leib — ich sage das noch einmal — die SPD-regierten und Leben, Gewalt gegen Ausländer, Sachbeschädi- Bundesländer — das sind ja die meisten — hierfür die gung wird als gerechtfertigt angesehen. Verantwortung. Meine Damen und Herren, es gelingt den wertbil- Herr Professor Meyer, was hat die SPD denn bei der denden Institutionen immer seltener, den Menschen Kriminalitätsbekämpfung zu bieten? Sie haben nach eine Orientierung zu geben. Ich will Ihnen eines sagen langem Zögern einen Leitantrag zum Bundespartei- — und da trifft Sie sicher die geistige Verantwortung tag vorgelegt. Ich will Ihnen sagen, was in dem mit —: Wer jahrelang einer mißverstandenen anti- Leitantrag steht. Ihre Vorschläge sind: Straffreiheit für autoritären Erziehung das Wort geredet hat Sitzblockaden, Straffreiheit für Schwarzfahren, Straf- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Heute noch!) freiheit für Haschbesitz. und heute genervt wie hilflos vor den Folgen seines (Norbert Geis [CDU/CSU]: Unerhört!) kindesverachtenden Manövers sitzt, hat zur Entwur- Wollen Sie wirklich durch diese Maßnahmen Krimi- zelung beigetragen und sich mitschuldig gemacht. nalität bekämpfen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie können noch sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo nicht einmal lesen, Herr Marschewski!) nese] [fraktionslos]) Die 70er Jahre waren ein egoistischer Irrweg der Nun zur Verbesserung des von Ihnen genannten totalen Selbstverwirklichung, der jugendlichen Rund- Instrumentariums: Der verdeckte Ermittler soll sich umfreiheit. Das sind doch keine Begriffe, die wir als nicht der Szene gerecht verhalten dürfen, sagen Sie. Christdemokraten gebraucht haben. Dies hat den Da er keine Straftat begehen darf, ist beispielsweise Materialismus gefördert, dies hat den Nihilismus zu fragen: Wie soll ein verdeckter Ermittler im Rausch- gefördert, hat zum Konsumdenken, zum Egoismus in giftgeschäft beteiligt sein, wenn es ihm verboten ist, hohem- Maße beigetragen. sich milieubedingt zu verhalten? Wie soll er beispiels- weise die Geldwäsche mitmachen, um dann die Täter Wir denken über einen Weg zur Änderung nach. zu überführen? Natürlich muß eine gesellschaftliche Diskussion über 15778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Erwin Marschewski Ursachen und Wirkungen der Kriminalität geführt wollen Verbrecherbossen das Handwerk legen, die werden. Die Gewalt muß geächtet werden. Das Norm- skrupellos unsere Kinder in die Drogensucht treiben, gefüge muß akzeptiert werden. die Mord ohne jede Regung bestellen. Diese Gangster Meine Damen und Herren, zu unserer Position: müssen eigentlich über die Diskussionen lachen, die Wenn es um Recht geht, darf der Staat keinen Finger- wir in Parlamenten und in der Öffentlichkeit über breit Boden aufgeben, sonst gibt es sich selbst auf. Es dieses Gesetzesvorhaben führen. darf doch einfach nicht sein, daß der Ladendiebstahl, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nur um Statistiken zu schönen, nicht länger als Straftat Natürlich schützt die Verfassung die Privatsphäre gilt, sondern als Ordnungswidrigkeit. Es darf doch — das ist keine Frage —, die Unverletzlichkeit der einfach nicht sein, daß die Sachbeschädigung, daß die Wohnung und die Würde des Menschen. Sie schützt Nötigung, daß der Widerstand bei politischen Ausein- aber genauso Leib und Leben. Für mich ist die andersetzungen nur noch selten bestraft wird, daß der Gesundheit meiner Kinder und Ihrer Kinder, der Fahrraddiebstahl bei Kindern nur noch als Unartig- Mitmenschen allemal wichtiger als jeder Quadratme- keit, daß das Beschmieren der Hauswände als Baga- ter meiner Wohnung. Ich halte dies für richtig. telle gilt. Wir sind kein Bespitzelungsstaat. Ich habe Ver- Meine Wertung ist — wenn Sie ehrlich sind, Herr trauen zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft und zu den Meyer, verstehen Sie sie —: Das traditionelle Rechts- Gerichten. Sie sind an Recht und Gesetz gebunden. bewußtsein ist im Laufe der letzten zwanzig Jahre Sie kennen die Erfolge gerade in Italien. Dort sind in — und dazu gehören Sie genauso — gleichsam von der vergangenen Woche 200 Mafiosi verhaftet wor- oben herunter abgeschafft worden. Es ist leider den; das wissen Sie. Ist denn Italien, weil die Anti- unmöglich, es auf die gleiche Art und Weise wieder zu Mafia-Gesetze beschlossen wurden, zum Polizeistaat schaffen, obwohl dies eigentlich zu den dringendsten degeneriert? Aufgaben der Gesellschaft gehört. In Italien — ich kenne dieses Land — gibt es viel Wir brauchen Erziehung, wir brauchen Familie. Ich Freiheit, aber auch viel praktische Vernunft, von der sage Ihnen: Jede Mark, die wir in die Familie stecken, die so effektiven Deutschen, so meine ich, lernen sparen wir doppelt und dreifach im Kampf gegen sollten. Drogen und gegen Randale. Das ist sicherlich eine Erfahrung, die wir gemacht haben. Wir brauchen eine Verstärkung im Bereich des verdeckten Ermittlers. Wir brauchen den Zeugen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schutz. Es nützt doch nichts, wenn wir Leute aus dem des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] Bereich der organisierten Kriminalität vernehmen [fraktionslos]) und diese Angst haben, das Gerichtsgebäude zu Ein Zweites, das genauso wesentlich ist, ist die verlassen, weil sie um ihr Leben und um das Leben Medieneinwirkung. Allabendlich wird Gewalt über ihrer Familien und ihrer Kinder fürchten müssen. Wir die Medien eingeübt: Raub, Erpressung. In einer brauchen die Kronzeugenregelung für die organi- Woche hat Norbert Geis dort 480 Morde gezählt. Es sierte Kriminalität und andere Dinge. gibt das Machwerk „Wie kann ich einen Mordan- Sie haben vorhin davon gesprochen, daß die Koali- schlag auf den Bundeskanzler verüben?" Die Damen tion ihre Pläne auf den Tisch legen soll. Wir werden und Herren des Fernsehens, die dies mitmachen, das tun. Wir haben uns auf dem Petersberg ge troffen. machen sich an der Verbreitung von Gewalt mitschul- Sie wissen, daß wir im vorigen Jahr das Gesetz zur dig. Bekämpfung der organisierten Kriminalität beschlos- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sen haben. Dazu hat die SPD nein gesagt. Zuruf des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ein schlechtes Lassen Sie mich weitere Bereiche nennen, in denen Gesetz!) unsere Rechtsordnung der Verbesserung bedarf. Es ist Sie wissen, daß wir jetzt im Bundesrat das Geldwä- nicht richtig, wie es Herr Meyer gesagt hat, daß wir schegesetz beschlossen haben und daß wir in dem trennen können: auf der einen Seite organisierte Bereich sehr aktiv sind. Wir werden diese gesetzlichen Kriminalität und auf der anderen Seite Massenkrimi- Maßnahmen vervollkommnen. Herr Professor Meyer, nalität. Das mag die Universität in Freiburg noch hoffentlich teilen Sie meine Meinung, daß es richtig hergeben, Herr Professor Meyer, aber die Praxis ist ist, daß wir die Körperverletzungs- und die Gewaltde- leider anders. Diese Dinge hängen zusammen, und likte höher bestrafen als die Vermögensdelikte. das wissen Sie. Uns ist doch der Satz bekannt: Spätes Recht ist Wir haben vor einer Woche Besuch in Bonn gehabt. halbes Recht. Wir denken darüber nach, die Verfah- Der Italiener Luciano Violante war bei uns im Innen- ren erheblich zu beschleunigen. Es kann doch nicht ausschuß. Er hat uns gesagt, wie wichtig es ist, mit sein, daß in Italien Personen, die in Fußballstadien rechtstaatlichen Mitteln der Kriminalität, insbeson- randalieren, festgenommen und schnell verurteilt dere der Mafia, Grenzen zu setzen. Dazu gehört der werden und ihre Strafe absitzen, während es in Einsatz technischer Mittel in Gangsterwohnungen. Deutschland ein halbes Jahr, ein Jahr oder noch Sie werden das hoffentlich auf Ihrem Parteitag länger dauert. Spätes Recht ist halbes Recht. beschließen. Wir haben die Möglichkeit und sind gesetzlich Was mich zunächst stört, ist das Wort „Lauschan- gehalten, im Wege der s trategischen Kontrolle zur griff". Denn es geht bei der Überwachung von Gang- Abwehr eines möglichen Angriffs auf Deutschland sterwohnungen um den Schutz der Freiheit. Wir über Fernsehsatelliten, über Richtmikrophone und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15779

Erwin Marschewski über ähnliche Dinge mitzuschneiden. Sie wissen, daß Herzlichen Dank. bei diesem Mitschneiden eine Menge an organisierter (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Kriminalität, an Proliferation, an Rauschgiftdelikten Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wer bewahrt uns und an Prostitution von uns in Massen erkannt wird. vor Herrn Marschewski? Wann gehen Sie Wir können mit diesem Mate rial nichts machen. Es ist überhaupt einmal Streife?) doch wohl richtig, darüber nachzudenken, daß wir dann dieses Vorfeld insbesondere im Ausland beob- achten. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch. Ein Wort zu Europa. Es reicht sicherlich nicht aus, da national zu denken. Wir haben immer wieder gesagt: Europa soll ein Europa der Bürger sein und nicht ein Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Präsidentin! Europa der Gangster. Deswegen haben wir heute Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Reden noch dem Bundeskanzler vorgetragen — dies wird meiner beiden Vorredner machen es mir eigentlich realisiert —, daß Europol seine Arbeit in kurzer Zeit unmöglich, bei meinem Manuskript zu bleiben. Des- voll aufnehmen, daß SIS seine Arbeit voll aufnehmen wegen sage ich vorweg: Es gilt auch das geschriebene kann. Wort. Herr Kollege Meyer, wenn Sie Ihre Vorlesung vor (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Praktikern in den Landtagen von Nordrhein-Westfa- Ich kann nicht einsehen, daß, wenn unsere Polizei len, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Gangster nach Holland verfolgt, sie die Verfolgung Saarland, Brandenburg und Rheinland-Pfalz gehalten nach zehn Kilometern abbrechen muß, weil wir nicht hätten, dann hätten sie kreisrund die Augen aufgeris- weiter verfolgen können, oder daß sie in Frankreich sen, wie leicht Sie die Verantwortung von den sozial- erst die nächste Telefonzelle, meinetwegen eine rote demokratischen Innenministern dieser Länder weg- Telefonzelle, suchen und anrufen muß, um einen schieben wollen. Gangster, der in Deutschland erkannt wurde, zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) verfolgen. Das sind Dinge, über die wir reden müs- Es ist nun einmal so, daß die Innenminister der sen. Länder für den großen Teil gerade der Kriminalität, Auch im Bereich der Polizei — Herr Graf wird sich über die Sie hier reden wollen, nämlich die Alltags- dazu äußern — wollen wir natürlich Verbesserungen kriminalität, und deren Bekämpfung verantwortlich erreichen. Mich stört, daß die Polizei weiterhin mit sind und niemand sonst. Sie müssen eines erkennen: sicherheitsfremden Tätigkeiten, mit Gefangenen- Die Bevölkerung ist nicht nur über das Ansteigen transporten, mit Geldtransporten, mit Objektschutz dieser Alltagskriminalität beunruhigt, sondern sie ist beschäftigt wird. Mich stört auch manches bei der genauso über die Tatsache beunruhigt, daß die Frak- Besoldung der Polizei. tionen und die Parteien diese Kriminalität als einen innenpolitischen Knüppel gegeneinander nutzen. Ich habe die herzliche Bitte, daß die Polizeipräsenz (Beifall bei der F.D.P.) auf Straßen und Plätzen wieder verbessert wird, daß man auch wieder einmal zu Fuß Streife geht, weil das Wir werden, lieber Herr Marschewski, über man- Verbrecher abschreckt und dem Sicherheitsbedürfnis ches an anderer Stelle reden. Ich will hier ganz bewußt der Bevölkerung entsprechend entgegenkommt. keine Wanzendiskussion beginnen. Aber ich möchte etwas zu Ihrer Formel „Wanzen in Gangsterwohnun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. gen" sagen. Sie haben uns selber Gesetze gezeigt, sowie des Abg. Günter Graf [SPD]) lieber Herr Marschewski, nach denen Wanzen nach Ihren Vorstellungen in Wohnungen von Personen Sie wissen, ich habe vorgeschlagen — das ist leider eingesetzt werden sollen, die nicht einmal verdächtig auf Kritik der Polizeigewerkschaft gestoßen —, jun- sind, eine Straftat begangen zu haben. gen Männern die Möglichkeit zu geben, bei der Polizei quasi ihren Wehrdienst abzuleisten. Auch (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ darüber werden wir zu reden haben. CSU]: Wir nennen das auch Gangsterüber wachung! Wir wollen Gangsterüberwa (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chung!) Die innere Sicherheit ist der Union — Sie haben dies — Nein, Sie täuschen sich. an dem engagierten Vortrag sicherlich bemerkt — ein Alle Fraktionen haben Thesen zur inneren Sicher- besonderes Anliegen. Wir stehen Ihren Vorschlägen heit vorgelegt. Ich freue mich, daß unsere Partner und natürlich sehr offen gegenüber. Machen Sie mit, Sie unsere Thesen wie einen Steinbruch benutzt meine Damen und Herren von der SPD! Bitte verwei- haben, denn eigentlich müßte es doch das Ziel sein, zu gern Sie sich nicht so lange, wie Sie das leider beim einer Zusammenarbeit auch über die Koalitionsgren- Asylrecht getan haben. zen hinweg zu finden. Wir wollen keine Schuldzuwei- sungen, sondern wir wollen gemeinsame Lösungen. (Beifall bei der CDU/CSU) Für Liberale ist es eine selbstverständliche Pflicht, Ich habe — das möchte ich zum Schluß sagen — den Bürger nach Kräften vor Straftaten zu schützen einen schönen Satz gelesen: Der Rechtsstaat, hat und- Gefahren für die innere Sicherheit mit den Mitteln jemand zu Recht gesagt, sei die größte Erfindung des des Rechtsstaats wirksam zu bekämpfen. Der innere Menschen. Bewahren wir gemeinsam diesen Rechts- Frieden einer Gesellschaft beruht ebenso auf der staat! Freiheitlichkeit der Rechtsordnung wie auf der Sicher- 15780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Dr. Burkhard Hirsch heit ihrer Bürger. Beides gehört untrennbar zusam- ten ethnischen Gruppen der Wohnbevölkerung über- men. Der innere Frieden beruht auf beiden Vorausset- haupt nicht mehr ermittelt werden kann. zungen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Sie haben gesagt, das Wort „Massenkriminalität" ten der SPD) sei richtig, nicht „Alltagskriminalität". Ich halte das Dazu gehört fünftens die Reorganisation des Bun- für völlig falsch. Die Masse der Bevölkerung ist nicht deskriminalamtes und auch die drastische Verbesse- kriminell, sondern gesetzestreu. Wer die Alltagskrimi- rung der Tätigkeit der polizeilichen Beratungsstellen, nalität — zu über 65 % Diebstahl, Kraftfahrzeugdieb- um die Mithilfe der Bevölkerung zu erreichen und stähle, Wohnungseinbrüche; gut 80 % der Täter han- Kriminalitätsschwerpunkte abzubauen. deln übrigens allein — wirksam bekämpfen will, muß die Instrumente in Ordnung bringen. Polizei und Das ist zu einem erheblichen Teil Aufgabe und Justiz müssen gründlich modernisiert, personell ver- Zuständigkeit der Länder. Die Zusammenarbeit zwi- stärkt und für eine bessere internationale Zusammen- schen Bund und Ländern muß genauso drastisch arbeit ausgerüstet werden. Dabei ist viel versäumt verbessert werden wie die polizeiliche Zusammenar- worden. Man muß dem Bürger ehrlich sagen, daß beit mit unseren Nachbarn in West und in Ost. innere Sicherheit viel Geld kostet. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Wir haben seit Jahren vergeblich die Innenminister ten der SPD) von Bund und Ländern aufgefordert, das gemeinsame Es ist eine Katastrophe, daß der Ausbau von Euro- Sicherheitsprogramm von 1974 fortzuschreiben. Das pol — schauen Sie im Haushalt nach, welche lächer- ist liegengeblieben. Es ist zum einen in Auseinander- lichen Beträge für das nächste Jahr für Europol setzungen zwischen sozialdemokratischen und kon- veranschlagt sind — daran scheitert, daß sich die servativen Innenministern liegengeblieben, und es ist Länder nicht auf einen Standort von Europol einigen zum anderen im Kampf mit den Finanzministern aus können. Daran liegt es. Das ist wirklich ein Trauer- finanziellen Gründen liegengeblieben. Wir halten es spiel. für ein elementares Versäumnis, daß das so liegen- geblieben ist. Die Polizei ist den sich wandelnden Ohne diese Modernisierung können Sie in die Verhältnissen nicht angepaßt worden. Gesetze schreiben, was Sie wollen; es wird nichts ändern. Natürlich gehören dazu auch Folgeänderun- Die Tatsache, daß die Grenzen geöffnet wurden, gen im Bereich der Justiz, über die mein Kollege Herr daß sich die Altersstruktur der Polizei, ihre Ausrü- van Essen sprechen wird. stung, ihre Kommunikationsmittel, ihre Arbeitszeit, die beruflichen Möglichkeiten außerhalb des öffentli- Bei allen Sorgen, die uns die Entwicklung bereitet, chen Dienstes, die Arbeitsbedingungen als Folge der und bei aller Entschiedenheit, die Dinge nicht treiben Wiedervereinigung, aber auch die Art der Kriminali- zu lassen, muß man allerdings auch vor Übertreibun- tät, die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung, die gen warnen. Die Kriminalität in der Bundesrepublik Aufgabenstellung völlig verändert haben, ist nur hat sich nicht anders entwickelt als in allen anderen punktuell und fallweise im Rahmen eng gesetzter vergleichbaren Industriestaaten westlicher Prägung. finanzieller Grenzen behandelt worden. Diese Ver- Dabei liegt die Bundesrepublik im unteren Mittelfeld. säumnisse können kurzfristig nicht mehr ausgegli- Darum ist es voreilig, die Ursachen vordergründig chen werden. Das muß in Ordnung gebracht wer- alten innenpolitischen Feindbildern zuzuweisen. — den. Die 68er-Studentenbewegung, lieber Herr Mar- schewski, liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Darum fordern wir die Innenminister von Bund und Ländern dringend auf, die Fortschreibung dieses (Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Das ist Sicherheitsprogramms bis zum Jahresende vorzule- wahr!) gen und eine für Bund und Länder maßgebliche Sie hat nicht nur viel Ärger und politische Arbeit, mehrjährige personelle und finanzielle Zielplanung sondern auch notwendige Reformen bewirkt, für die Modernisierung und die personelle Ausstat- tung der deutschen Polizei zu beschließen. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der SPD) wenn ich nur an die Emanzipation der Frau denke. Dazu gehört erstens die erhebliche personelle Ver- Die Ursache liegt auch nicht in einer Konflikt- stärkung und die Entlastung von polizeifremden Auf- pädagogik, die Konflikte nicht bejubelte, sondern die gaben. lehren wollte, wie man mit Konflikten gewaltfrei umgehen kann. Die Alltagskriminalität hat soziale Dazu gehört zweitens natürlich die Verstärkung der und gesellschaftliche Ursachen, die in den großen örtlichen Präsenz, Streifen- und Bezirksdienst, die für Industriestaaten ähnlich sind und die von Polizei und das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung und für Gesetzen nur in ihren Symptomen erreicht werden. die präventive Straftatenbekämpfung von erheblicher Bedeutung ist. Gegen die außerordentliche materielle Wertschät- zung unserer Gesellschaft hilft nach meiner Überzeu- Dazu gehört drittens die drastische Verbesserung gung auch keine Beschwörung der traditionellen der Zusammenarbeit mit den Kommunen zur Verhü- - Werte. Zu einer modernen Industriegesellschaft tung örtlicher Kriminalität. gehört ein hohes Maß an Anonymität und Mobilität Dazu gehört viertens natürlich auch die Einstellung des täglichen Lebens. Plastikgeld, intensive Werbung ausländischer Polizeibeamter, ohne die in bestimm- und Selbstbedienung sollen Versuchungen schaffen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15781

Dr. Burkhard Hirsch und tun es. Neue Techniken und neue Probleme schon 1981 freimütig feststellte — ich zitiere —, „daß erzeugen auch neue Straftaten im Bereich der Com- die Kriminalstatistik zwar verfälschte Aussagen puterkriminalität sowie der Wirtschafts- und Umwelt- macht, aber über Jahre hinaus eben unverändert kriminalität. falsche, so daß m an zumindest einen Trend daraus Für die Beseitigung solcher Ursachen — wenn wir ablesen kann ... Problematisch wird es jedoch, wenn sie denn beseitigen wollen — gibt es keinen einfa- diese Statistiken, kaum daß ihre Erstellung abge- chen, keinen schnellen und keinen billigen Weg. Der schlossen ist, zu einem Instrument politischer Interes- Bürger selbst verhält sich — was seine Sicherheit sen umfunktioniert werden" . angeht — widersprüchlich. Er will nicht mit überzoge- Exemplarisch dafür, wie wider besseres Wissen der nen Überwachungseingriffen belästigt werden, aber Anschluß an die Parteienlinien gesucht und gefunden er forde rt mehr Sicherheit ein, zu der auch mehr wird, ist die Präsentation der Zwischenergebnisse Überwachung, mehr Gesetze und mehr Kontrollen einer großangelegten Untersuchung zum Sicherheits- gehören. Sie treffen jeden Bürger und nicht nur den gefühl der älteren Menschen. Täter. Wer mehr Kontrollen will, muß sich auch mehr überwachen lassen. Vor allem — so die wesentlichen Zwischenergeb- nisse — fürchten sich die Älteren davor, Opfer eines Der Rechtsstaat und unsere Verfassung sehen den Verkehrsunfalls zu werden oder von Umweltschäden Bürger grundsätzlich als rechtstreu an und nicht als betroffen zu sein. Dann folgen Probleme der Alters- ein potentielles Sicherheitsrisiko. Er ist Bürger und versorgung, der Verlust der Selbständigkeit, der Pfle- nicht mutmaßlicher Straftäter. Darum setzt der genotstand usw. Rechtsstaat Grenzen staatlicher Eingriffsmöglichkei- ten, die es geben muß und die auch bleiben müssen, Die Ministerin Rönsch schlußfolgert dagegen: „Wir wenn er ein Rechtsstaat bleiben soll. Diese Grenze alle wissen, daß die Angst, Opfer einer Straftat zu muß sorgsam behütet werden, das sind die Grund- werden, bei vielen älteren Menschen groß ist. " Die werte unserer Verfassung. „Zeit" vom 1. Oktober kommentiert diesen Vorgang so: „In Berichten der Medien über die Präsentation der Alexis de hat 1835 geschrieben — mit Tocqueville Forschungsergebnisse hatte sich deren — entdramati- diesem Zitat möchte ich schließen —: sierende — Botschaft fast ins Gegenteil verkehrt: Die Menschen, die von der Leidenschaft für dramatische Angstgefühle, Gewaltzunahme, Straf- materielle Güter erfaßt sind, entdecken gewöhn- verschärfung. " lich, wie die freiheitliche Bewegung den Wohl- Meine Damen und Herren, das ist meiner Meinung stand stört, bevor sie inne werden, wie die Frei- nach die Marke Asyldebatte, die wir hier schon einmal heit ihnen diese verschafft ... Lange Zeit hält sie hatten. Jeder sachliche, differenzierende und entdra- die Angst vor Anarchie fortwährend in Atem, und matisierende Zugang zu den Problemen soll versperrt sie sind schnell bereit, die Freiheit der ersten und zugenagelt werden. Auf unverantwortliche Art Unordnung preiszugeben. Ein Volk, das von und Weise werden da meines Erachtens die Parolen seiner Regierung nichts fordert als das Wahren von steigener Kriminalität und wachsender Angst der Ordnung, ist in seinem Innersten bereits davor verbreitet, angebliche Tätergruppen als Sün- Sklave, es ist Sklave seines Wohlergehens. denböcke präsentiert. Pauschale Forderungen nach Ich finde, es lohnt sich sehr, darüber nachzuden- mehr Polizei, Bundeswehr in den Polizeidienst und die ken. Rückbesinnung auf Staatsautorität und Bürgerwehren (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-als Allheilmittel runden das Angebot ab. ten der CDU/CSU) In einem wilden Rundumschlag stellt Innenminister Kanther die Eckpunkte des Regierungsprogramms Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht der Öffentlichkeit vor: die Abgeordnete . (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das war ein seriöses Angebot, kein Rundumschlag!) Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Die Ursachen für Gewalt und Kriminalität seien nicht Meine Damen und Herren! Es ist für mich immer zuletzt in der Revolte der 68er-Generation zu suchen wieder bemerkenswert, festzustellen, welche Ängste — Herr Marschewski, Sie haben das heute hier auch und Gefühle der Bevölkerung ernstgenommen wer- vorgebracht —, denn sie habe in einem erheblichen den, welche dagegen völlig vernachlässigt werden. Es Maß den politischen und moralischen Grundkonsens wird lauthals über das sinkende Sicherheitsgefühl der beeinträchtigt, so Kanther. Bevölkerung geredet, und es werden martialische Rezepte zur Abhilfe diskutiert. Große Einigkeit, die Dem angeblich praktizierten Vorrang der Resozia- auch kräftig geschürt wird, besteht in der Behaup- lisierung im Strafvollzug setzt er seine Auffassung tung, wachsende Kriminalität sei für das Sinken des entgegen, daß „die Feinde des Rechts spüren müssen, Sicherheitsgefühls verantwortlich. daß der Staat sich wehren kann". Wider besseres Wissen behauptet er pauschal das Ansteigen der Umfragen und wissenschaftliche Untersuchungen Jugendkriminalität. mögen da das glatte Gegenteil ergeben oder das Bild erheblich differenzieren. Alles egal; die Angst vor Die Justizministerin bezichtigt er der Kapitulation Kriminalität soll die Leute umtreiben. vor der Kriminalität, weil sie die Entkriminalisierung Man könnte sich ge trost der Deutung des früheren von Bagatelldelikten, z. B. Schwarzfahren, will. Direktors des nordrhein-westfälischen Landeskrimi- Zu den Ursachen der ausländerfeindlichen Gewalt- nalamtes, Hans-Werner Hamacher, anschließen, der taten zählt er den „vor kurzem ungezügelten Asylbe- 15782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Ulla Jelpke werberzustrom". Und: „Jeder Ausländer, der hier weil in der mangelnden Integration ein Teil der auch nur mit einem Gramm Rauschgift handelt, hat tatsächlich bestehenden Kriminalität zu erkennen das Gastrecht unseres L andes verwirkt." ist? Die Herausnahme der Sparte „Ausländerkriminali- tät" aus der Kriminalstatistik bezeichnet der Innenmi- nister als Beschönigung der Statistik. Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Kollege Hirsch, Sie wissen genau wie ich, daß Ausländer und Auslän- Unverantwortlich ist dieses Gerede deshalb, weil es derinnen, die straffällig werden, sowieso abgescho- die Angst instrumentalisiert und hervorruft. Statt zu ben werden. differenzieren, wird verallgemeinert. Statt zu entdra- matisieren, wird die allgegenwärtige Bedrohung (Erwin Marscheski [CDU/CSU]: Das ist doch beschworen. gar nicht wahr! Sie haben doch gar keine Keine Frage: Diese Eckpunkte der Regierungspoli- Ahnung vom Ausländerrecht! Es muß eine tik im Bereich innere Sicherheit werden in Republika- Bedrohung des Staates vorliegen!) nerkreisen sicherlich auf Zustimmung stoßen. — Ich weiß, wie es in den Gefängnissen aussieht, und Nicht die Polizeiliche Kriminalstatistik darf Grund- weiß, wie häufig ich angerufen werde, daß Ausländer lage der Diskussion sein. Sie ist Arbeitsstatistik der wegen wirklich kleiner Straftaten abgeschoben wer- Polizei — das sagt die Polizei im übrigen auch selber — den. und gibt keine Auskunft über die Entwicklung der Unabhängig davon aber halte ich die Tatsache, daß Kriminalität. Sobald Anzeigeverhalten, Anzeigemo- wir Ausländer in einer Extrastatistik erfassen, für tive und die Frage der Dunkelfelder herangezogen diskriminierend. Sehen Sie sich an, wie die sozialen werden, sind die Aussagen der PKS unbrauchbar für Schichten, die Delikte aussehen. Dann werden Sie die Erörterung von Ursachen und Lösungen. Die feststellen, daß Ausländer und Deutsche im Grunde Änderung eines einzigen Paragraphen in den Dieb- genommen gleich betroffen sind, gleiche Kriminali- stahlsversicherungen kann die PKS zu wilden Sprün- tätsentwicklungen aufweisen. Nicht zu vergessen, wir gen verhelfen. Die Einrichtung von Sonderkommis- haben zweierlei Recht: für Ausländerinnen und Aus- sionen oder Ermittlungsgruppen treibt die Produktion länder und für Deutsche. vom Tatverdächtigen statistisch in die Höhe. Ich Wenn Herr Kanther in die Kriminalitätsstatistik nenne nur ein Beispiel: Fahrradsonderkommission in beispielsweise einbezieht, daß Leute illegal über die Hamburg. Grenze gekommen sind, dann wird das unwahr- Die sogenannte Ausländerkriminalität beispiels- scheinlich hochgepuscht und damit — das ist der weise ist in weiten Teilen Ausdruck der vorurteilsbe- entscheidende Punkt — meiner Meinung nach auch hafteten Ermittlungsarbeit der Polizei. Hierzu nur ein Angst geschürt. Auch wird ein ganz bestimmtes Bild Beispiel: Die allgemeine Steigerungsrate bei polizei- von Ausländern gezeichnet. lich registrierten Straftaten ist in dem Zeitraum 1978 Grundsätzlich ist eben auch zu fragen — gerade hier bis 1985 höher gewesen als zwischen 1985 und 1992. müßte eine ernstgemeinte Auseinandersetzung um Selbstverständlich gilt das nur für die alten Bundes- Kriminalität, Strafrecht, Sicherheitsgefühl und gesell- länder. In einzelnen Deliktbereichen, gerade der so schaftliche Maßnahmen ansetzen —, was verfolgt, definierten Massenkriminalität, unterliegt sie riesigen bestraft und statistisch erfaßt wird. Schwankungen. Nirgendwo liegt der Zusammenhang zwischen sozialen Entwicklungen und gesellschaftli- Jeder Drogentote in der Bundesrepublik wird poli- chen Umbrüchen einerseits sowie bestimmten For- tisch und publizistisch zu heftigen Kampagnen gegen men der Kriminalität andererseits so auf der Hand wie organisierte Kriminalität, Dealer, Ausländer und in den neuen Bundesländern. Dies als vorherrschen- Werteverfall genutzt. Daß im Jahre 1990 vier Drogen- den Farbtupfer in das allgemeine Bedrohungsge- toten im Sinne des BtmG 18 Tote pro Tag durch mälde Kriminalität einzufügen ist meines Erachtens Alkohol gegenüberstanden, interessiert keinen. mehr als fahrlässig. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Doch!) Im Mittelpunkt der Debatte heute müßten Entkrimi- Daß 193 gefährlichen bzw. schweren Körperverlet- nalisierungskonzepte und Neukonzeptionen der Kri- zungen 1 214 Verletzte im Straßenverkehr gegen- minalpolitik stehen, wie sie in ersten Ansätzen, z. B. in überstanden, hindert niemanden, Massenkriminalität Niedersachsen, erarbeitet werden. zum Wahlkampfschwerpunkt zu erklären und Bürger- wehren zur Hebung des Sicherheitsgefühls der Bür- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Jelpke, gestat- gerinnen und Bürger zu fordern. ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerade im Drogenbereich ist es ein alter Hut, daß Dr. Hirsch? die Beschaffungskriminalität durch Entkriminalisie- rung oder Legalisierungskonzepte ausgetrocknet Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Ja. werden könnte und dadurch den tatsächlich Süchti- gen ernsthafte, sozial abgesicherte Therapien ange- Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Kollegin, wenn boten werden könnten. Sie sich das Ansteigen der Ausländerkriminalität, das Versteckt gibt auch hier die Antwort der Bundesre- kaum ernsthaft angezweifelt werden kann, als ein rein gierung auf die Große Anfrage der SPD einige Hin- statistisches Phänomen erklären — es ist zu einem Teil weise: z. B. im Deliktbereich Wohnungseinbruch statistisch, aber eben nicht nur —, verbauen Sie sich 16,4 %, Diebstahl aus Kraftfahrzeugen 17,4 %, bei damit nicht selber die Erkenntnis, daß wir die Integra- Handtaschenraub gar 31,7 %. Andere kommen zu tion von Ausländern drastisch verbessern müssen, noch höheren Zahlen: Die Hälfte der Autoeinbrüche, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15783

Ulla Jelpke ein Drittel der Wohnungseinbrüche seien Beschaf- natürlich auch Einzelschicksale verbergen, weil die fungskrüninalität. Bürger Angst durchlebt haben. Durch eine Drogenpolitik, die die Fiktion der dro- Sorge und Angst der Bürger werden nicht dadurch genfreien Gesellschaft nicht repressiv durchsetzen weggewischt, daß der Anstieg der Kriminalität im will, wären Tote, Therapiekosten, Gerichts- und Haft- wesentlichen auf das Anwachsen der Diebstahlkrimi- kosten, Kosten für Sondereinheiten der Polizei, Schä- nalität zurückzuführen ist. Ein Großteil ist natürlich den für potentielle Opfer und viel menschliches Elend auch Beschaffungskriminalität. einzusparen. Dem Bürger das Gefühl der Sicherheit wiederzuge- Schließlich ist erneut zu fragen, warum eigentlich ben sind wir alle hier in diesem Parlament aufgerufen. diese bestimmte Form der Sucht oder des Konsums Was aber ist zu tun? Wir hören den Ruf nach dem derart massiv kriminalisiert wird, während kollektive „starken Staat". Das Gewaltmonopol des Staates wird Besäufnisse und öffentliche Ansammlungen von eingefordert. Dem Staat wird vorgeworfen, von die- Alkoholsüchtigen, z. B. das Oktoberfest in München, sem Gewaltmonopol bei der Bekämpfung der Krimi- als Kulturereignisse angesehen und überhaupt nicht nalität nur zurückhaltend Gebrauch zu machen. Der kritisiert werden. Staat dürfe das Gewaltmonopol nicht nur besitzen, er (Zuruf von der CDU/CSU) müsse es auch aktiv ausüben. Die „Waffengleich- — Das kann man ja in jeder Zeitung nachlesen. heit", Herr Marschewski, zwischen Staat und Straf tä wird von einzelnen eingefordert. Aber auch dieser letzte Hinweis aufs Geld stört die ter Fans der Staatsautorität vermutlich nicht: Die Ver- In dieser Situation ist in erster Linie eine Beseiti- schärfung des Strafniveaus gegenüber den etwa gung von Defiziten notwendig. Da sind wir sicherlich 15 000 jährlich verurteilten sogenannten Drogentä- einig. Hier sind insbesondere der Ausbau und die tern um durchschnittlich ein Jahr würde zusätzliche Modernisierung unserer Polizei angesprochen. Ich Kosten von 1,5 Milliarden DM bringen und keinen brauche darauf nicht näher einzugehen, weil prak- einzigen Schritt vorwärts gegen die Drogensucht und tisch alle Vorredner die stärkere Präsenz der Polizei Kriminalität. vor Ort gefordert haben. Von allen ist gefordert worden, daß die Polizei moderner ausgerüstet wird. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Jelpke, Ihre Von allen ist gefordert worden, daß die rund 30 000 Redezeit ist zu Ende. fehlenden Stellen für Polizeibeamte nicht nur einge- fordert, sondern auch besetzt werden. Wir brauchen sicherlich auch eine bessere Bezahlung der Polizei. Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Ja, ich komme zum Schluß, nur noch ein Satz. — Herr Marschewski, ich Das alles kostet viel Geld. Aber das sind Investitio- dachte eigentlich, daß das Konzept von Innenminister nen in die Zukunft, die wir für richtig halten. Kanther das Neue sei. Ich bin sehr gespannt, was Sie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) jetzt noch an Verschärfung vorzubringen haben. Was kann darüber hinaus für unsere Sicherheit vor Danke. Kriminalität — jetzt wird es auch für Sie, Herr Geis, (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von besonders interessant; deswegen schaute ich Sie an — der F.D.P.: Eine tolle Rede!) getan werden? Ich denke, wir haben nicht nur beste- hende Gesetze, insbesondere im strafrechtlichen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Bereich, konsequent anzuwenden, sondern wir haben der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke. uns auch Gedanken über eine neue Kriminalpolitik zu machen. Ich nenne hier das Stichwort Verbrechens- verhütung. Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) und Herren! Es kann nicht bestritten werden — und Ihr muß ein größerer Stellenwert eingeräumt wer- das ergibt sich auch aus der Antwort —: Das Bedürfnis den. nach Sicherheit gehört zu den grundlegenden Bedürf- nissen menschlicher Existenz. Störung der Sicherheit Die traditionelle Kriminalpolitik mit ihren Instru- bedeutet Einschränkung und Hemmung individueller menten der Strafgesetzgebung, der repressiven Ver- Persönlichkeitsentwicklung. Die Sicherheit der Bür- -brechensbekämpfung und auch der Sozialisierungs ger ist in den letzten Monaten zu einem zentralen und Behandlungsbemühungen wird den bestehenden Thema der Diskussion im Lande geworden. Das merkt und weiter zu befürchtenden Entwicklungen in der man, wenn man mit dem Bürger auf der Straße Kriminalität kaum wirksam begegnen. Wir müssen diskutiert. Der Bürger empfindet die Entwicklung der neue Ansätze in einer gewandelten Welt finden. Kriminalität als seine persönliche Bedrohung. Eine präventive Kriminalpolitik muß umfassend Diese Sorgen sind angesichts des uns vorliegenden und gesellschaftspolitisch im weitesten Sinne anset- Zahlenmaterials mehr als verständlich. Der Gesamt- zen. Gefordert sind insbesondere Strategien zur Ein- umfang der 6,3 Millionen polizeilich registrierten dämmung der Kriminalität junger Menschen. Hier ist Fälle im Jahre 1992 ist tatsächlich für uns alle bedroh- es nicht allein mit einem Appell an Erziehungsinstan- lich. Die Erhöhung der registrierten Kriminalität um zen getan. Das greift zu kurz. Familie und Schule sind 9,6 % im Jahre 1992 allein in den alten Bundesländern - häufig mit Problemen überlastet, die eine optimale einschließlich Gesamtberlins ist dramatisch, drama- Erziehung verhindern. Moral und Rechtsbewußtsein tisch nicht allein wegen der Prozentzahlen, drama- entstehen ja nicht allein durch Erziehungsmaßnah- tisch deshalb, weil sich hinter der so nüchternen Zahl men; hinzu muß die persönlich erlebte Erfahrung 15784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Parl. Staatssekretär Rainer Funke kommen, durch eigene Leistung zur eigenen Exi- Dies sei hier nur beispielhaft angeführt. Ob weitere stenzsicherung beitragen zu können sowie hinrei- gesetzgeberische Maßnahmen zu einer effektiven chende Chancen für eine angemessene Teilhabe am Bekämpfung der Kriminalität und damit zu einem gesellschaftlichen Wohlstand zu haben. Nur so wird wieder verstärkten Sicherheitsgefühl der Bevölke- sich der junge Mensch selbst als wertvoll erleben rung beitragen können, werden die Bundesregierung können. Das heißt, wir müssen alles tun, um jungen und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sorgfältig Menschen die Mitwirkung an den gesellschaftlichen prüfen. Aufgaben und die Teilhabe an dem erarbeiteten Wichtig erscheint mir bei allem, daß wir die Sicher- Sozialprodukt zu ermöglichen. Wir müssen uns also heitssorgen jedes einzelnen Bürgers ernst nehmen. Es insbesondere um diejenigen jungen Menschen bemü- kommt aber nicht auf unsere Gefühle an, sondern in hen, die in ihrer persönlichen Entwicklung Defizite erster Linie auf die Gefühle der Bürger. aufweisen und deren Integration in die Gesellschaft gefährdet ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Lassen Sie mich auch sagen: Manchmal ist in der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Erziehung das Vorbild ganz wichtig. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht stimmt! — Zuruf von der SPD: Warum nur der Kollege Norbert Geis. „manchmal"?) (Peter Conradi [SPD]: Ich kann nur sagen, — Weil noch Liebe dazugehört. — Auch wir Politiker Madonna hilf! — Dr. Peter Struck [SPD]: Herr haben Vorbildcharakter zu zeigen. Ich glaube, auch Geis, geben Sie Ihre Rede doch zu Protokoll! wir im Parlament sind dazu aufgefordert. Sie wissen doch eh schon, was Sie sagen wollen!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Präventionsstrategien sind in die Zukunft gerichtet und werden leider erst in der Zukunft greifen. Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kriminalität (Dr. Peter Struck [SPD]: Übertreiben Sie wuchs in den letzten 25 Jahren in der Bundesrepublik nicht! Das glaube ich Ihnen nicht!) Deutschland um 140 Prozent, mit einem besonders — Ich sagte: Sie werden erst in der Zukunft greifen. steilen Anstieg seit 1989, insbesondere im Bereich der Natürlich greifen sie erst in der Zukunft. Massenkriminalität, aber auch im Bereich der Gewalt- kriminalität. Die Bevölkerung — das ist wahr — ist tief (Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Struck, Sie beunruhigt. sollten eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie Aber, Herr Meyer, deswegen der Bundesregierung etwas wissen wollen!) anzulasten, sie hätte auf dem Weg zu diesem Ergeb- Dem heutigen Sicherheitsbedürfnis müssen wir nis, das wir heute haben, nämlich eine steigende bereits heute Rechnung tragen. Massenkriminalität, Versäumnisse begangen — diese Behauptung ist falsch. Im Bereich des Rechtsextremismus befürworten wir die Ausdehnung der Strafbarkeit auf die Verwendung Sie haben es ja schon gehört: Die Kriminalität wird von Kennzeichen, die den in § 86 a StGB aufgeführten bei uns zuerst in den Bundesländern bekämpft. Dort Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sind die Polizeien, dort ist die Justiz, dort sind die zum Verwechseln ähnlich sind. Staatsanwaltschaften, und dort sind auch die Straf- vollzugsbehörden, und die bekämpfen die Kriminali- Wir sind ebenfalls für die Verschärfung der Straf- tät an vorderster Stelle. drohungen für schwere Körperverletzungen. (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Präven Auch im strafprozessualen Bereich werden meh- tion!) rere Maßnahmen für eine effektive Bekämpfung der Kriminalität vorgeschlagen, so die Einrichtung eines — Sie wissen, daß die Bekämpfung von Kriminalität zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregi- natürlich auch Prävention ist. Das ist ja letztendlich sters und der Wegfall der Regelvoraussetzung einer der Sinn der Bekämpfung, damit die Abschreckung Vorverurteilung für die Anordnung von Untersu- überhaupt funktionieren kann. — Ich meine also, es ist chungshaft wegen Wiederholungsgefahr bei beson- in höchstem Maße ungerecht — und verstellt auch den ders schweren Fällen des Landfriedensbruchs. Blick —, wie wir an dieses Problem herangehen. Daß wir es angehen müssen, darüber sind wir uns alle Unsere Vorstellungen zu zukünftigen Reaktionen einig. des Staates auf sogenannte Bagatelldelikte hat die Der Bund hat dabei nicht allzu große Möglichkeiten. Bundesjustizministerin bereits am 17. September 1993 Er kann Gesetze erlassen, er kann Strafgesetze ver- dargelegt. Es geht um eine Straffung und Beschleuni- schärfen, aber keiner soll sich— und da stimme ich mit gung der Verfahren, mit denen bestimmte Delikts Herrn Hirsch überein — Hoffnungen darauf machen, gruppen geahndet werden sollen, denn vor allem daß allein die Verschärfung von Gesetzen schon dazu Ladendiebstahl, grundsätzlich aber auch Schwarzfah- führen würde, daß wir Kriminalität verhindern könn- ren müssen strafwürdiges Verhalten bleiben. Vorran- ten. gig ist, daß bei diesen Deliktsgruppen der Staat - schnell, effektiv und möglichst einfach reagieren Wir müssen vielmehr dafür sorgen, daß die Poli- kann, ohne daß der Unrechtsgehalt der Tat in Frage zeien gut ausgestattet sind. gestellt wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15785

Norbert Geis Es muß verfolgt werden, es muß verurteilt werden, Auch das ist zunächst eine Aufgabe der Länder. Wir und es muß auch vollzogen werden. haben uns viele Gedanken darüber gemacht, wie wir die Justiz stärken können, und zwar in Form des (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Justizentlastungsgesetzes. Aber das ist eigentlich [Bonese] [fraktionslos]) schon alles, was wir machen können. Dazu brauchen wir eine starke, gut ausgebaute Poli- zei. Wir müssen uns deshalb auch Gedanken darüber Die Länder sind aufgerufen, die Justiz noch mehr zu machen, ob wir nicht die Struktur unserer Polizei stärken, und sei es dadurch, daß man einfach mehr verändern, um diesen Beruf wirklich attraktiver zu Personal einstellt. machen. Sicherheit — Herr Hirsch, ich wiederhole das, was (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Sie gesagt haben — kostet Geld. Daran müssen wir CSU]: Richtig!) uns gewöhnen. Aber wir müssen dieses Geld ausge- ben, weil es um die Sicherheit unserer Bürger geht. Das Ansehen eines Polizisten ist in unserer Bevölke- Was wäre ein Staat ohne innere Sicherheit? Er wäre rung in der Tat nicht sehr hoch. Wie oft hören wir das ein furchtbarer Staat. Es würde letztendlich das Faust- Wort „Bulle", ein verderbliches Wort. Es ist schon eine recht gelten. Das müssen wir, wie ich meine, verhin- Art Brunnenvergiftung, weil damit ein ganzer Berufs- dern. stand in ein negatives Licht gestellt wird. Das müssen wir versuchen zu verhindern. Bei der Überlegung, was wir, der Bund, für die Justiz machen können, haben wir in den letzten Wochen Wir müssen uns natürlich auch Gedanken darüber vorgeschlagen, die Möglichkeiten der §§ 212 ff. StPO machen, ob wir nicht private Kräfte mit einsetzen, aber zu verbessern — also das beschleunigte Verfahren —, ich stimme mit Ihnen überein: Das Gewaltmonopol damit das Urteil der Straftat möglichst bald folgt. Wir des Staates darf dabei nicht Schaden nehmen. haben ja oft eine sehr lange F rist zwischen Tat und (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Urteil. Manchmal sind es bei größeren Straftaten CSU]: Richtig!) Jahre. Die Bevölkerung hat längst die Straftat verges- sen. Der Täter hat sie längst verdrängt, und plötzlich Aber wenn m an sich Gedanken darüber macht — wie steht er vor dem Hauptverfahren. Dies kann so nicht beispielsweise in verschiedenen Bundesländern —, bleiben. ob man nicht eine Sicherheitswacht einführt, wie wir das ja schon im Naturschutz und auch auf sozialem (Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch Gebiet haben warum soll dies nicht auch im Bereich [F.D.P.]) der Sicherheit möglich sein? Ich denke an eine Sicher- Wir müssen also versuchen, bei Straftaten, bei heitswacht, ehrenamtliche Helfer, die bereit sind, eine denen es möglich ist, ein beschleunigtes Verfahren gewisse Präsenz auf Straßen, auf öffentlichen Plätzen durchzuführen. Wir müssen uns auch ein wenig zu gewährleisten, ausgestattet mit einem Funkgerät, Gedanken darüber machen, daß in der Bundesrepu- die dann, wenn sich eine Straftat ereignet hat, sofort blik Deutschland die Strafverfahren insgesamt zu die Polizei rufen. lange dauern. Das scheint mir durchaus eine Möglichkeit zu sein, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge die Polizei zu entlasten. Aber es kann — und da ordneten der F.D.P.) stimme ich mit Ihnen überein — nicht so sein, daß die Villenviertel ihre p rivate Schutzpolizei haben. Dann Die Strafprozesse sind bei uns im Verhältnis zu wäre Sicherheit eine Frage des Geldes, und das wäre anderen Staaten der EG exorbitant lang. fatal. Auch da müssen wir uns natürlich Gedanken dar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) über machen, ob wir nicht doch an das Mittel heran- gehen, dem Verteidiger, der nur verschleppen will, Das müssen wir auf jeden Fall vermeiden. Ich stimme die Möglichkeit zu nehmen, einen Beweisantrag über mit Ihnen darin überein. § 244 StPO zu stellen, wenn dies nur der Verschlep- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich pung dient. Wir haben das ja in einem Fall gemacht, wiederhole es: Das Strafrecht allein wird es dann nicht nämlich dann, wenn es darum geht, einen ausländi- schaffen, wenn es nur im Gesetzbuch steht. Nun will schen Zeugen zu holen. Aber in den anderen Mög- ich überhaupt nicht bezweifeln, daß das Strafrecht lichkeiten haben wir uns gegenüber dem Vorschlag natürlich schon an sich eine generalpräventive Kraft des Bundesrats versagt. Hier müssen wir uns neue haben kann. Es ist wohl auch richtig, daß das Straf- Gedanken machen. recht in einer säkularisierten Welt eine normbildende Ein Wort noch zum Strafvollzug. Lieber Herr Meyer, Kraft in der Bevölkerung haben kann. Aber seine wenn in Bayern , in Aschaffenburg, ein Drogendealer generalpräventive Wirkung kann das Strafrecht gefaßt wird, hat er Pech gehabt, denn er wird in immer erst dann erzeugen, wenn im konkreten Ein- Bayern viel, viel härter bestraft als 40 km weiter in zelfall tatsächlich der Täter verfolgt, gefaßt und ver- Frankfurt, in Hessen. urteilt wird und dann auch seine S trafe verbüßen muß. (Zurufe von der F.D.P.: Na! Na!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn er schon in Bayern gefaßt worden ist und - wenn er einer Verurteilung entgegengeht, tut er gut Deshalb müssen wir neben der Polizei auch die daran, seinen Wohnsitz ganz schnell nach Hessen zu Justiz stärken. verlegen, um dort alle Vorzüge eines lockeren Straf- (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) vollzugs zu haben. 15786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Norbert Geis Ich glaube, daß dies so nicht richtig sein kann. Ich 50 % unserer Kinder wachsen nicht mehr in geordne- merke das deshalb, weil ich aus dieser Gegend ten Familienverhältnissen auf, und die Statistik sagt unmittelbar an der Grenze, aus Aschaffenburg, uns, daß dies Rückwirkungen auf die Kriminalität hat. stamme. Wir wissen, daß es Sache von geschickten Natürlich hat nicht nur die Familie, sondern haben Anwälten ist, ihren Mandanten zu raten: Melden Sie auch die Schulen, die Verbände, die Vereine an Ihren Wohnsitz schnell in Hessen an. Es kommt nicht Bedeutung und damit auch an Integrationskraft verlo- selten vor, daß sich bei Wirtschaftskriminalität der ren. Selbstverständlich — das ist schon von Herrn Täter, der einsitzen muß, morgens in seine dicke Marschewski gesagt worden — spielt dabei auch das Limousine setzt, in sein Büro fährt und am Abend Fernsehen und hier insbesondere das Privatfernsehen zurückkehrt, um im Knast zu übernachten. mit seinen Gewaltdarstellungen eine Rolle. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Auch in (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Eine späte Hessen?) Erkenntnis! — Freimut Duve [SPD]: Wer hat Das kann für den Täter jeweils gut sein. Das ist denn das Privatfernsehen eingeführt? Wer interessant für den Täter, der dem Strafvollzug entge- hat uns denn ausgelacht, als wir davor gengeht. Aber es ist, wie ich meine, Gift für die gewarnt haben?) Bevölkerung, weil die Bevölkerung so die Achtung In einer normalen Fernsehwoche werden dem Kind, vor dem Staat verliert. Der Staat selber verliert an das täglich etwa zwei Stunden Fernsehen konsumiert, Autorität. Dem müssen wir ebenfalls entgegentre- werden dem jeweiligen Zuschauer etwa 500 Morde ten. und Gewaltdelikte gezeigt. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß dies Rückwirkungen auf Man kann auch nicht die Zahl der Straftaten die Seelen und Herzen der Kinder haben muß. dadurch vermindern, daß man glaubt, in bestimmten Bereichen entkriminalisieren zu können. Ich meine (Peter Conradi [SPD]: Das war doch Ihre die Diskussion um die Entkriminalisierung von Idee! Sie wollten doch das freie Fernsehen Warenhausdiebstählen und Schwarzfahren zu Ord- haben! Freie Bürger — freies Fernsehen!) nungswidrigkeiten. Die Rechtsverletzungen würden — Ich will das freie Fernsehen damit gar nicht verab- dadurch zahlreicher werden, weil der Täter ja ein viel schieden. geringeres Risiko hätte. Wir haben Massendelikte und Massenkriminalität doch deshalb zu verzeichnen, weil die Täter nicht damit rechnen müssen, entdeckt Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Geis, erlau- zu werden. Immer noch richtet sich der Täter nicht so ben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve? sehr nach der Strafnorm, die im abstrakten Gesetz steht, sondern bei seiner Handlung wohl mehr Norbert Geis (CDU/CSU): Nein, ich lasse keine danach, welche Chance er hat, nicht entdeckt zu Zwischenfrage zu. werden. (Freimut Duve [SPD]: Schade, ich hätte Ihnen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist eine gute Frage gestellt!) wahr!) Das freie Fernsehen wollen wir damit gar nicht verab- Auch hier müssen wir meiner Meinung nach wieder schieden; aber wir können es auch nicht nur bei sagen: Wir brauchen mehr Polizei, und wir brauchen Appellen belassen, sondern müssen uns schon — und schneller funktionierende Gerichte. da bitte ich auch um Ihre Mithilfe — Gedanken Ich meine, noch einen Punkt ansprechen zu sollen. darüber machen, wie wir über bloße Appelle hinaus Das ist die Gewaltkriminalität. Sie ist die schlimmste vielleicht zu gesetzlichen Regelungen kommen. Art von Bedrohung. Hier ist die Bevölkerung am Aber die Gewaltkriminalität hat noch eine andere ehesten geneigt, zu sagen: Der Staat ist nicht mehr in Seite. Ich meine, daß wir allzuoft die Hilflosigkeit des der Lage, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Ältere Staates feststellen und erleben müssen. Bei der Asyl- Menschen haben Angst, sich auf öffentliche Straßen debatte haben wir es an uns selbst erlebt, als wir nur und Plätze zu begeben, und das schon am hellichten auf Umwegen und auf Schleichwegen und manchmal Tag, weil sie Angst haben, daß ihnen irgendein nicht ohne Gefahr in unsere Büros kommen konnten. jugendlicher Täter die Handtasche raubt. So Diese Demonstrationen waren nicht gewaltfrei. Sie geschieht es jedenfalls täglich in den Großstädten, waren voller Gewalt, und es kam zweifellos nur ganz gleich in welcher Ecke der Republik. deshalb zumeist nicht zu Körperverletzungen — man- chen ist es ja auch passiert — weil wir dieser Gewalt Die Gewaltkriminalität ist ein Phänomen, das wir ausgewichen sind. Sonst wäre es zweifellos dazu aber nicht verkürzt sehen dürfen. Vieles ist dazu schon gekommen! gesagt worden. Als die Gewaltkriminalität gegen Ausländerheime ausgebrochen ist, haben wir dies (Zustimmung bei der CDU/CSU — Wider vielleicht ein wenig verkürzt auf den Rechtsextremis- spruch bei der SPD und der PDS/Linke mus bezogen. Aber ich meine, dieser Rechtsextremis- Liste) mus war mehr Ventil als Anlaß. Morgen kann eine Ich meine, daß wir auch dem Bundesverfassungsge- solche Gewaltkriminalität auch unter anderen Vorzei- richt einmal sagen müßten, daß es mit seinen Urteilen chen auftreten. Immer geht es jeweils um Gewalt. Wir zur Sitzblockade der Friedensdemonstranten und zu müssen den Ursachen dieser Gewalt nachgehen. - Brokdorf der Polizei und den verfolgenden Behörden Es ist wohl richtig — wie dies hier heute schon keinen Dienst erwiesen hat. gesagt worden ist —, daß wir eine Schwächung (Zuruf von der CDU/CSU: Einen Bärendienst gewachsener Gemeinschaften beklagen müssen. erwiesen hat!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15787

Norbert Geis Dadurch ist eine tiefe Verunsicherung entstanden. noch etwas erinnern, und das geht in die Richtung des Wir müssen auch solche sich im Kleid angeblicher Kollegen Hirsch, geht aber auch in die Richtung des Gewaltlosigkeit zeigende Gewalt anprangern. Jeden- Kollegen Marschewski. Ich muß die Frage stellen: Wer falls hat diese Gewalt, die bei der Asyldebatte ausge- ist eigentlich 13 Jahre in der Regierungsverantwor- übt worden ist, so daß das Parlament geradezu lächer- tung, und welche Möglichkeiten hätte die Regierung lich gemacht worden ist, dem Rechtsbewußtsein der wirklich gehabt, in diesen Bereichen etwas zu tun? Bevölkerung mit Sicherheit geschadet. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wer hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. das OrgKG gemacht?) Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions los]) Herr Marschewski, hier hilft es nicht viel weiter, sich darauf zu beschränken, immer darauf hinzuweisen, Ein letztes Wort: Wir müssen die organisierte Kri- daß es Sache der Länder sei. minalität bekämpfen; das ist gemeinsames Anliegen. Ich weiß, Herr Professor Meyer, daß wir da gar nicht (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist weit auseinander sind. Es geht dabei um die Über- aber so!) nahme der Kronzeugenregelung, es geht um einen Sie haben natürlich recht: Was die Polizei und die größeren Freiraum für den verdeckten Ermittler, und Kriminalitätsbekämpfung angeht, ist das Sache der es geht schließlich — daran kommen wir nicht vor- Länder, aber eben nicht nur. Wir haben das Bundes- bei — auch um den Einsatz elektronischer Mittel in kriminalamt, wir haben den Bundesgrenzschutz, wir den Wohnungen von Tätern. Ich meine, wir sollten haben den Verfassungsschutz, die alle in diesen dies in aller Ruhe diskutieren und jetzt nicht allzu Bereichen tätig sind. hochstilisieren. Mit dem Einsatz technischer Mittel allein werden wir die organisierte Kriminalität nicht (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das BKA bekämpfen können; das weiß jeder. Wir brauchen ein hat 2 000 Mann! Die Polizei hat 270 000 Gefüge von Maßnahmen; aber wir sollten uns dem Mann! Das ist kein Vergleich!) nicht verschließen. Ich wiederhole, Herr Kollege Marschewski, was der Ich danke Ihnen. Kollege Hirsch gesagt hat: Wir haben es immer wieder (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. beklagt, daß wir das Sicherheitsprogramm, das wir Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions 1974 hatten, nicht fortgeschrieben und ergänzt haben. los]) Dies ist zwingend notwendig. Insofern gibt es bei uns in diesem Punkt sicherlich eine volle Übereinstim- mung. Nur, es muß jetzt daran gearbeitet und dann Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen gehandelt werden. Ich will auch nicht verhehlen Günter Graf das Wort. — weil das ein Gebot der Fairneß ist —, daß in den (Zuruf von der F.D.P.: Jetzt fangen wir die vergangenen Jahren die Länder sicherlich nicht ent- Verbrecher!) sprechend mitgewirkt haben. Aber ich bin guter Hoffnung, daß sich das in der nächsten Zeit vor dem Günter Graf (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Hintergrund der dramatisch ansteigenden Zahlen nen und Kollegen! Wir reden heute über die Antwort doch verbessern lassen wird. der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage „Si- Ich will mich nun aber auf mein Konzept konzen- cherheitsbedürfnis und Massenkriminalität". Es trieren, um nicht ganz davon abzuweichen und auf würde mich reizen, zunächst einmal auf das einzuge- einige Dinge einzugehen. hen, was die Redner der Koalitionsfraktionen hier gesagt haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber die Zeit ist schon fast um!) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wir ver zichten!) Wenn ich eben gesagt habe, Sie seien 13 Jahre in der Die moderaten Töne zumindest zum Schluß von Herrn Regierungsverantwortung, dann kann ich heute nur Geis in bestimmten Dingen habe ich wohlwollend zur feststellen — nicht erst nach den traurigen und Kenntnis genommen. beschämenden Begleitumständen in Bad Kleinen —, daß die Bundesregierung in vielen Bereichen auf dem Was Ihre Ausführungen zum Thema der Gewalt Gebiet der inneren Sicherheit versagt hat. angeht, würde es mich reizen, darüber hier eine Diskussion zu beginnen; aber ich denke, das machen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wir sind wir an anderer Stelle. Ich will nur auf eines hinweisen: erst elf Jahre dran! Von 1982 bis 1993 sind elf Es hilft uns nicht weiter, immer wieder zu sagen, wir Jahre!) müßten uns mit dem Phänomen der Gewalt auseinan- Das hören Sie nicht gerne, das weiß ich. Aber Sie dersetzen. Ich darf daran erinnern, daß die Bundesre- müssen sich diese Tatsachen schon einmal anhören. gierung die Gewaltkommission eingesetzt hat. Diese hat ein Gutachten mit 2 564 Seiten und 163 Lösungs- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das stimmt ansätzen vorgelegt, in dem die Ursachen und das, was ja nicht! Wir sind elf Jahre dran!) zu tun ist, beschrieben werden. Wenn man anfinge, Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß die Krimi- das alles abzuarbeiten, wären wir heute wahrschein- nalitätsentwicklung in den vergangenen Jahren in lich ein Stück weiter. Das ist der eine Punkt. - dramatischer Weise angestiegen ist. Es hilft auch Was Sie, Herr Staatssekretär Funke, hier ausgeführt nicht, Herr Hirsch, daß wir darauf hinweisen, daß wir haben, hat weitestgehend die Zustimmung auch der in Europa noch immer einen guten Mittelplatz einneh- Opposition, der SPD, gefunden. Ich muß hier nur an men. Jede Straftat mehr ist eine Straftat zuviel. 15788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Günter Graf Auf die Zahlen will ich nicht weiter eingehen. Die zu den Ursachen für viele gesellschaftliche Verfallser- hat mein Kollege Meyer hier dargestellt, und andere scheinungen beigetragen hat. Redner haben auch darauf verwiesen. Aber was neben den reinen Zahlen beim erheblichen Anstieg (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ der Kriminalität zu erwähnen ist, ist die Qualität der CSU: Das glaubt doch keiner mehr!) Straftaten. Die ist besorgniserregend! Wenn wir allein — Ich weiß, das hört man nicht gern. Aber wenn Sie daran denken, daß bei den registrierten Straftaten sich an die Debatte von heute morgen erinnern, so hat, eine ganz erhebliche Zunahme im Deliktbereich Stra- glaube ich, der saarländische Ministerpräsident auch ßenraub und Taschendiebstahl festzustellen ist — das auf den Zusammenhang zwischen sozialer Not und waren im letzten Jahr in den alten Bundesländern Gewalt und Extremismus hingewiesen. Da waren die etwa 25 % —, dann ist das eine andere Qualität, als wir Widersprüche nicht so wie jetzt an dieser Stelle. sie in der Vergangenheit gekannt haben, und darauf muß reagiert werden. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Bei Ihrem Gehalt ist es doch irre, was Sie erzählen!) Auch die Tatsache, daß die Sorge um die Sicherheit Die bedrückend zunehmende Verarmung, die völ- und die Furcht vor Kriminalität in der Bevölkerung lig unzureichende Wohnungsbaupolitik, gestiegen ist — etwa 90 % in den neuen Bundeslän- dern fühlen sich, und wenn subjektiv, durch Krimina- (Freimut Duve [SPD]: Das hat gesessen! Herr lität bedroht, und in den alten Ländern sind es Marschewski ist ganz aufgeregt!) immerhin noch weit mehr als 70 % —, haben wir zur die erfolglose Arbeitsmarktpolitik fordern einen Kenntnis zu nehmen, und wir haben entsprechend zu hohen Preis, der sich unter anderem auch in der handeln. aufgezeigten Kriminalitätsbelastung darstellt. Kolleginnen und Kollegen, dies ist eine Entwick- Jetzt sage ich etwas zu den Medien. Der Kollege lung, die in den letzten zehn Jahren im erschrecken- Marschewski hat sich ja in einem längeren Beitrag den Maße angestiegen ist. Das subjektive und objek- dazu geäußert. tive Sicherheitsempfinden ist ohne Frage gestört. Immer mehr Bürger in diesem Land fühlen sich in (Zuruf von der CDU/CSU: Verdienstvoll war ihren Lebensräumen eingeengt. Viele wagen tatsäch- das!) lich nicht mehr, zu ganz bestimmten Zeiten ganz Wenn man heute beklagt, daß der Werteverfall über bestimmte Orte zu betreten, und wenn es auch nur ein das Fernsehen mit transportiert wird, daß dadurch subjektives Empfinden ist. Gewalt begünstigt wird, dann haben Sie recht. Da Ich habe schon einmal davon gesprochen: Bei mir in stehen Sie nicht alleine. Das sehen wir genauso. Das der Nachbarschaft, wo seit zehn Jahren in dem Ort, in stimmt. dem ich lebe, auf der Straße zu dieser Zeit nichts Aber ich frage: Wer hat denn geradezu euphorisch passiert ist, haben dennoch — auch in meiner Nach- auf die Privatisierung der Medien gesetzt? Wer hat barschaft — inbesondere ältere Menschen, insbeson- denn den ruinösen Wettbewerb im Verachten von dere junge Frauen Angst, zu dieser Zeit die Wohnung Wertvorstellungen überhaupt erst möglich gemacht? zu verlassen. Dies haben wir zur Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen; denn dies ist in (Beifall bei der SPD) der Tat auch eine Form von Einschränkung von Wer den Vergleich zwischen der Situation vor der Freiheit, mit der ein Bürger in unserer Gesellschaft Privatisierung der Medien und heute zieht, der weiß, lebt. was sich in diesem L and in den letzten Jahren geän- Insofern ist die Verhütung von Kriminalität eine dert hat. ganz wesentliche Voraussetzung für die persönliche Sie können sich heute nicht einfach davonstehlen, Selbstverwirklichung der Menschen in unserem indem Sie in Sonntagsreden darüber hinwegtäu- Land. schen, daß dieses Thema in den letzten zehn Jahren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Ihnen in keiner Weise angegangen worden ist. Es der CDU/CSU und der F.D.P.) reicht nicht aus, wenn Sie heute sagen: Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, Einfluß zu nehmen. Es reicht nicht, wenn die Bundesregierung die Entwicklung der Massenkriminalität mit Sorge sieht, In der damaligen Diskussion haben die Sozialdemo- andererseits aber offenbar ihre bisherige gescheiterte kraten eine klare Position gehabt; sie haben davor Politik nahezu unverändert fortsetzen will. gewarnt. Von Ihnen ist immer der Hinweis gekom- men: Jeder Fernseher hat einen Knopf, mit dem m an (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist abschalten kann. doch falsch!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt Die Bundesregierung versucht, mit dem Hinweis auf aber!) den gesamtgesellschaftlichen Werte- und Struktur- wandel von eigener Verantwortung abzulenken. Wir wissen um das Befinden der Bevölkerung, wir wissen um die Bequemlichkeit der Bevölkerung. Vor (Beifall bei der SPD) diesen Gefahren haben wir gewarnt. Sie haben sie nicht wahrhaben wollen. Deswegen: Sich heute Die Vordergründigkeit und die Ungeeignetheit dieses beklagen ist gut; aber Sie müssen sich an Ihre eigenen Entlastungsversuches liegen auf der Hand. Es ist in Fehler in der Vergangenheit erinnern. erster Linie die von der Bundesregierung zu verant- wortende Politik der sozialen Kälte, die maßgeblich (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15789

Günter Graf Ich sage: Wir brauchen in der Bundesrepublik Alle hier in diesem Raume betonen immer und zu Deutschland eine neue Politik für die innere Sicher- jeder Stunde: Das staatliche Gewaltmonopol darf heit. Sie muß mit einer sozialen Prävention beginnen. nicht ausgehöhlt werden; es muß erhalten bleiben. Sie muß damit beginnen, daß die Gesellschaftspolitik Aber was hat sich denn in den letzten Jahren entwik- den Weg in die Ellenbogengesellschaft in diesem kelt? Wir haben der Bundesregierung auch eine Lande stoppt und vor allem die von mir bereits Anfrage zum staatlichen Gewaltmonopol vorgelegt. erwähnten sozialen Probleme, wie Obdachlosigkeit, Die Antwort liegt zwischenzeitlich vor. Ich habe überhöhte Mieten, Arbeitslosigkeit, neue Armut und gerade heute den Agenturmeldungen eine ganz vor allen Dingen Orientierungslosigkeit und Perspek- kurze Mitteilung entnommen, die ich zitieren will, tivlosigkeit, gerade bei jungen Menschen, be- damit wir sehen, was sich in dem Bereich entwickelt kämpft. hat. dpa sagt heute:

Die nötige Kriminalitätsverhütung erfordert ver- Einer der größten Auftraggeber, der nach Ver- riffs in stärkte Anstrengungen und neue Initiativen. Ich sage bandsangaben rund 142 000 Schwarze She d beschäftigt, ist der Staat. Allein die ganz bewußt „Kriminalitätsverhütung", meine Da- Deutschlan Bundeswehr hat 1992 Aufträge im Wert von einer men und Herren, denn die Prävention ist für uns rivaten Wach- und Sicher- Sozialdemokraten der entscheidende Ansatz bei der Milliarde DM an die p heitsdienste erteilt. Wo früher Soldaten Streife Kriminalitätsbekämpfung — nicht der Bereich der liefen, patrouillieren heute oft Mitarbeiter ande- Strafverfolgung und der Polizei nach dem Motto: „Die Großen fängt man, die Kleinen läßt man laufen." rer Firmen. Polizei und Strafgesetze können immer nur am Ende (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Um die einer Kette stehen, wenn es darum geht, Kriminalität Länderpolizeien zu entlasten! — Norbert zu verhindern. Geis [CDU/CSU]: Nordrhein-Westfalen muß mehr Polizei einstellen!) (Beifall bei der SPD) Ich erwähne das nur, um zu zeigen, wie sich das Im übrigen hat der Innenminister kürzlich sein private Sicherheitsgewerbe allein bei den Bundesbe- Sicherheitspaket '94 vorgelegt. Darin ist eine Reihe hörden in den letzten Jahren entwickelt hat und von Ansätzen enthalten, über die wir gemeinsam welche Milliardenbeträge wir zwischenzeitlich aus- diskutieren werden und denen wir auch sicherlich in geben, um diese privaten Sicherheitsdienste mit staat- einzelnen Bereichen unsere Zustimmung nicht versa- lichen Geldern zu finanzieren. Ich will es nur ange- gen werden. sprochen haben. Wir werden uns über dieses Thema sicherlich noch an anderer Stelle unterhalten müs- Ich will auch noch etwas zum Thema Kraftfahrzeug- sen. diebstahl sagen, das schon einmal angesprochen (Zuruf von der SPD: Das ist die Abteilung wurde. Ich erinnere daran, daß wir vor etwa einem Wirtschaftsförderung!) dreiviertel Jahr einen Antrag eingebracht haben, in dem wir die Bundesregierung aufgefordert haben, die Es ist auch gesagt worden — dankenswerterweise Kraftfahrzeugindustrie per Gesetz zu verpflichten, haben Sie, Herr Geis, den Hinweis gegeben —, es entsprechende Sicherungseinrichtungen einzubauen, könne nicht angehen, daß in Villenvierteln Privat- die verhindern, daß das Kraftfahrzeug gestohlen wird, leute, die das Geld haben, Geld sammeln und Unter- und bewirken, daß der Diebstahl an und aus Kraftfahr- nehmen beauftragen, die dann im Bezirk patrouillie- zeugen zumindest ganz wesentlich erschwert wird. ren. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das will keiner (Zuruf von der CDU/CSU: Da machen wir ja von uns!) etwas!) — Ich stelle das nur fest. Es ist heute Realität. Daß dies möglich ist, wissen wir heute. Da reicht es Das hat irgendwo zur Folge, daß Sicherheit zu einfach nicht aus, mit Appellen an die deutsche einem Privileg der Reichen wird. Sicherheit wird Wirtschaft, an die Automobilindustrie heranzutreten käuflich, und dies müssen wir im Keime ersticken. Das und zu sagen: Nun bemüht euch mal! Wir haben kann so nicht sein! gesehen, was Appelle nützen. Sie nützen so gut wie (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD] — nichts. Deswegen sind ganz konsequente Gesetzge- Geis [CDU/CSU]: So geschehen in bungsmöglichkeiten auch vor dem Hintergrund der Norbert Köln, Nordrhein-Westfalen!) EG notwendig. — Nicht nur in Köln, auch in anderen Gebieten. Ich Es ist auch von der eigenverantwortlichen Beteili- will gar nicht weiter danach fragen, wenn die Leute gung der Bürger an ihrem Schutz gesprochen wor- das Geld haben und das machen, weil sie Angst den. Das ist sicherlich legitim und auch notwendig. haben. Ich kann das ja nachvollziehen. Nur, das ist Insofern haben wir in dem Bereich keine Probleme. eine staatliche Aufgabe; darauf haben die Bürger Wenn es allerdings darum geht — was man jüngst einen Anspruch. hören und lesen konnte —, daß der Selbstschutz u. a. (Zustimmung des Abg. Peter Conradi in Form von Bürgerwehren eine Möglichkeit sein soll, [SPD]) dem Problem der Massenkriminalität zu begegnen, - dann sage ich Ihnen: Das kann der Weg nicht sein. Da Aber diesen Anspruch können sich jetzt nur diejeni bin ich an einem Punkt, wo man über das staatliche gen leisten, die das Geld haben. Der Bürger, der in Gewaltmonopol sprechen muß. einem normalen Mietshaus wohnt, erfährt diesen 15790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Günter Graf Schutz nicht, weil er sich den privaten Sicherheits- Ich habe Ihnen gesagt: Es gibt in den Ländern mann nicht kaufen kann. Das ist eine schlimme unterschiedliche Entwicklungen, die ich so nicht gut- Entwicklung. heiße, die ich gerne anders geregelt haben möchte. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Einver Aber das ist eine Aufgabe, mit den Ländern zu reden. standen! Herr Schnoor soll zurücktreten!) Wir machen das in unserem Bereich, Sie werden es sicherlich in Ihrem Bereich tun. Da müssen wir einmal gucken, was am Ende dabei herauskommt. Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- schenfrage des Kollegen Marschewski? Entscheidend ist eines, nämlich daß wir uns gemeinsam — ich wiederhole: gemeinsam! —, Bund Günter Graf (SPD): Ja, bitte. und Länder, dieser Probleme annehmen. Es hilft uns nichts, gegenseitig Schuldzuweisungen zu tätigen; Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herr Graf, ich (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Was Sie stimme Ihnen in vielem zu. Da haben Sie recht, das ist aber dauernd machen!) keine Frage. denn das bringt den Bürgern in diesem Lande über- Aber sind Sie bereit, mit mir zum nordrhein- haupt nichts. westfälischen Innenminister Schnoor zu gehen und Aber wir reden hier über Massenkriminalität, wir ihm dies alles zu sagen bezüglich der Polizei, bezüg- reden über Polizei. Wir wissen alle, daß die Flut der lich des privaten Sicherungsgewerbes? Akten gerade im Bereich der Massenkriminalität (Zustimmung bei der CDU/CSU) heute dazu führt, daß diese im Grunde genommen bei den Polizeibehörden mit einem ganz erheblichen Günter Graf (SPD): Das ist immer das Problem, wenn Verwaltungsaufwand nur noch verwaltet werden. Wir man über Länder redet. Ich kann Ihnen nur sagen, wissen, daß die Ge richte damit belastet werden, die Kollege Marschewski: Wir reden natürlich mit allen, auch nur noch die Akten verwalten und ebenfalls insbesondere mit unseren Innenministern und Staats- einen ganz erheblichen Verwaltungsaufwand zu sekretären, um sie auch in diese Richtung zu bewe- betreiben haben. gen. Daß es überall finanzielle Probleme gibt und daß Deswegen ist es notwendig, daß wir, wenn wir über nicht all es in den Ländern so glatt läuft, ist eine andere Polizei reden, auch den Justizbereich mit einbezie- Sache. hen. Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich Aber ich kann nur sagen: Wir hier im Deutschen glaube, darin stimmen wir überein. Bundestag haben als Bund eine Aufgabe. Wir sind nicht für alles verantwortlich, was in den Ländern Das heißt — auch vor dem Hintergrund, daß sich die geschieht. Das sind Sie genausowenig, ganz gleich, Polizeien in Richtung einer zweigeteilten Laufbahn wer wo regiert. entwickeln —, daß es natürlich unser aller Aufgabe sein muß, die Polizei von sachfremden Aufgaben freizustellen. Es kann künftig nicht sein, wenn das Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie auch eine Konzept überall verwirklicht ist, daß hochqualifizierte Zwischenfrage des Kollegen Geis? Polizeibeamte mit einer dreijährigen Fachhochschul- ausbildung irgendwo einen Schützenfestumzug be- Günter Graf (SPD): Ja, natürlich. gleiten, daß sie die Parkuhren überwachen oder daß sie irgendwelche sonstigen Aufgaben wahrzunehmen Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Graf, stimmen Sie haben, für die eine hohe Qualifikation nicht benötigt mit mir darin überein, daß die Kriminalitätsbekämp- wird. Insofern müssen wir darüber nachdenken, was fung in erster Linie schon Sache der Länder ist, wenn man da tun kann. Sie einmal bedenken, daß in den letzten 25 Jahren die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Da sind wir uns Kriminalitätsrate in der Bundesrepublik Deutschland wieder einig!) um 140 % angestiegen ist, während sie beispielsweise in Bayern — wenngleich auch hoch — „nur" um 78 % Nur, dies gilt natürlich nicht nur für die Länder; angestiegen ist? (Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber in erster Linie!) Günter Graf (SPD): Herr Kollege Geis, die bayeri- denn wir sollten eines nicht übersehen: Wir haben schen Verhältnisse waren immer besondere in unse- 30 000 BGS-Beamte — sollten wir haben, wir haben rem Land. Was die Rechtsstaatlichkeit und was „Law sie nicht alle; uns fehlen ja 5 000 —; das gilt natürlich and order" angeht, haben die Bayern immer etwas auch für die. anderes gemacht. Wie sich das letztlich gesellschafts- politisch auswirkt, weiß ich nicht. Ich kann das nicht (Norbert Geis [CDU/CSU]: Den BGS finden beurteilen. Ich bin auch zu selten in Bayern. Sie aber nicht auf Schützenfesten!) (Freimut Duve [SPD]: Die Bayern haben — Herr Kollege Geis, das gilt auch für den Bundes- mehr Amigos!) grenzschutz! Ich sehe nur, es ist ein Bundesland, und ich sehe die Jetzt will ich Ihnen einmal folgendes sagen — das Entwicklung in den letzten Jahren. Ich sehe insbeson- hat etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun —: Der Bundes- dere die Entwicklung in den letzten 13 Jahren, seit wir - innenminister hat in seinem Sicherheitspaket, das er diese Bundesregierung haben. Dafür stehe ich hier; in der vorletzten Woche vorgestellt hat, ausgeführt: dazu rede ich heute. Ich will mich nicht im einzelnen in Die Polizei muß entlastet werden. Er hat sich mit der die Länder hineindenken. Länderpolizei beschäftigt. Ich habe das Papier von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15791

Günter Graf vorne bis hinten, von hinten bis vorne gelesen und grenzschutz zu verändern, damit der Anteil des geho- habe gedacht: Wo lesen wir etwas zur Bundespolizei, benen und höheren Dienstes wirklich entscheidend zum Bundesgrenzschutz? Dieser Bundesgrenzschutz an den der Länder herankommt? Das wäre ehrliche findet in diesem Papier bezeichnenderweise mit kei- Politik. Das wäre überzeugend. Aber leider versagt da ner Silbe statt. Das ist der Bereich, wo Sie verantwort- die Regierungskoalition immer ihre Zustimmung. lich sind. Es fehlen 5 000 BGS-Beamte. Ich sehe, ich habe noch eine Minute Zeit, und ich Kürzlich waren wir mit der Arbeitsgruppe im muß zum Ende kommen. Ich denke, bei aller Polemik, Bereich Zittau, Ebersbach, Neugersdorf. Just an dem die manchmal mit hineinspielt, ist eines deutlich Tage, als wir dort waren, ist in einem Wohnhaus in geworden: Wenn wir es gemeinsam ernst wollen, und Spreewald am hellichten Tage der vierte Einbruch wir müssen es wollen, dann müssen wir sicherlich im geschehen, nachdem zuvor schon achtmal erfolglos Bereich der Polizei etwas verbessern. Ich will das noch versucht worden war, in das gleiche Haus einzubre- einmal deutlich sagen. Über Gesetze können wir auch chen. Diese Situa tion trifft für alle Häuser in diesem reden. Ich will in aller Deutlichkeit sagen — das Bereich zu. Der Grenzschutz und die Länderpolizei, wissen Sie genauso gut wie wir —: Das Entscheidende die in dem Bereich verstärkt Anstrengungen unter- muß doch für uns alle sein, überhaupt erst einmal zu nommen haben, können natürlich nicht perm anent verhindern, daß es zu Kriminalität in unserem Lande alle zwei Meter irgendwo stehen. Da sind andere in der Form kommt, wie sie sich entwickelt hat. Das Maßnahmen notwendig. Nun bin ich einmal heißt Ursachenbekämpfung. Deswegen sage ich noch gespannt, wie ernsthaft die Bundesregierung damit einmal ganz deutlich: Hier geht es um Prävention. umgeht. Ich habe dem Innenminister diese Situation Hier geht es um eine soziale Politik, die den Interessen mitgeteilt und habe gefordert: Wenn schon — wir der Menschen gerecht wird, damit sie gar nicht erst in wollen keine Wälle, keine Stacheldrähte und keine die Situation hineingelangen müssen, zum Teil Mauern errichten —, dann muß man sich nach ande- zwangsläufig kriminell zu werden. Dieses muß die ren Möglichkeiten umschauen. Wie kann man den gemeinsame Aufgabe sein. Man darf das eine von Leuten helfen, da dieser Bereich in diesem Drei- dem anderen nicht trennen. Es verkürzt die Diskus- Länder-Eck extrem ist? sion, wenn man nur auf Polizei und Gesetze abstellt. (Zuruf des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, Sie — Ja, aber es tut sich nichts, Herr Staatssekretär sind ein großes Stück über Ihre Zeit. Lintner. Als wir dort waren, haben uns die Leute gesagt, jetzt kommen schon wieder welche aus Bonn Günter Graf (SPD): Herr Präsident, Sie waren so und gucken sich das an. Was passiert denn eigentlich? großzügig, deswegen mache ich Schluß. — Ich Wir sind es satt, immer die Besichtigungen zu erleben. bedanke mich bei allen für die Aufmerksamkeit. Es muß gehandelt werden. Ich hoffe, daß Sie auf die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vorschläge, die wir Ihnen gemacht haben, eingehen, der CDU/CSU und der PDS/Linke Liste) damit die Leute spüren, daß sich etwas bewegt.

Ich habe über die Freistellung gesprochen. Ich habe Vizepräsident Hans Klein: Die Tendenz, um diese über die fehlenden Planstellen beim Bundesgrenz- Stunde besonders großzügig zu sein, schwächt sich schutz gesprochen. Jetzt komme ich zu einem Thema, ab. Wir haben noch für ungefähr zwei Stunden Stoff. weil das auch angesprochen wurde, bei dem auch Das ist die Geschäftslage. Glaubwürdigkeit gefragt ist. Wir alle betonen, es ist Ich darf bei der Gelegenheit gleich sagen, daß die notwendig, die Polizei gerecht zu bewe rten, die Poli- Kollegin Köppe ihren Redebeitrag zu diesem Tages- zei gerecht zu besolden. Wir stellen gleichermaßen ordnungspunkt zu Protokoll geben möchte.*) Ich habe fest, dieses ist nicht gegeben. Das Stichwort „zweige- die Zustimmung des Hauses dazu einzuholen. — Sie teilte Laufbahn" habe ich genannt. Wenn wir heute liegt offensichtlich vor. Ich bedanke mich. wissen, daß die Länder — sicherlich unterschiedlich — mittlerweile im Bereich des gehobenen und höheren Als nächster hat Herr Kollege Jörg van Essen das Dienstes bundesweit einen Anteil zwischen 20 und Wort. 24 % haben, und wenn wir wissen, daß der Bundes- grenzschutz als Bundespolizei einen Anteil von etwa Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine 9 % erreicht, dann ist irgend etwas nicht in Ordnung, Damen und Herren! Wir wissen es alle: Die innere vor allen Dingen vor dem Hintergrund, daß wir im Sicherheit ist das Thema, das den Bürgern nach den Jahre 1975 das Personalstrukturgesetz gemeinsam im Fragen der Arbeitslosigkeit am zweithäufigsten auf Deutschen Bundestag — ich war noch nicht dabei — den Nägeln brennt. Die Antworten der Bundesregie- geschaffen haben. Darin haben wir uns verpflichtet, rung auf die Große Anfrage der SPD zeigen, daß diese den Bundesgrenzschutz in seiner Stellenplanent- Ängste in der Kriminalitätsentwicklung eine objek- wicklung dem der Länder in fünf Raten anzupassen. tive Grundlage haben. Die Zahl der Raubüberfälle in Die ersten drei Raten sind damals vollzogen worden, der Öffentlichkeit ist z. B. von 1982 bis 1990 um über und dann kam der Stillstand. Heute hat sich die 50 % gestiegen. Schere, die damals schon bestand, weiter geöffnet. Ich Eine beunruhigende Zunahme ist auch im Bereich sage nur, wenn wir es mit diesen Bekundungen, die -der Wohnungseinbrüche und der gefährlichen Kör- wir alle abgeben, ernst meinen: Warum fordert man perverletzungen in der Öffentlichkeit zu beobachten. nicht — wie wir es gestern im Innenausschuß vorge- schlagen haben —, die Stellenpläne beim Bundes *) Anlage 4 15792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Jörg van Essen Das sind Deliktsarten, die die Menschen in besonde- etwa eines Wohnungseinbruchs oder eins Pkw-Dieb- rer Weise be treffen, weil sie sie in ihrer persönlichsten stahls geworden ist. Sphäre zu Opfern macht. Da hilft es wenig, daß wir nach den ohnehin problematischen Vergleichen mit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) anderen Industriestaaten in vielen Kriminalitätsberei- Aufklärungsquoten beim Wohnungseinbruch von chen noch im Mittelfeld liegen. lediglich 14 % im Jahre 1992 in den alten Bundeslän- dern und Berlin sprechen eine deutliche Sprache, daß Eine bloße Lagebeschreibung reicht nicht. Aber Strafverfolgung in diesem Bereich praktisch nicht nicht bloßer Aktionismus und immer mehr Gesetze mehr stattfindet. sind gefragt, sondern eine sorgfältige Analyse und gezielte Maßnahmen. Nach unserer Auffassung müs- (Zuruf von der F.D.P.: Es wird nur noch sen dabei die Ursachenbekämpfung und die Vorbeu- verwaltet!) gung den Vorrang haben. Mangelndes Vertrauen in die staatliche Strafverfol- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der gung führt auch dazu, daß bei bestimmten Delikten SPD) fast automatisch von einer Anzeige abgesehen wird. Wir haben deshalb keinen Grund, durch eine Entkri- Bei einer Fachtagung des Bundesministeriums des minalisierung etwa des Diebstahls geringwertiger Innern am vergangenen Montag in Berlin ist für mich Sachen diese Tendenzen noch zu verstärken. erneut deutlich geworden, daß die wich tigste Ursache für den allgemeinen Anstieg der Kriminalität im (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Verlust ethischer Maßstäbe liegt. Wertebildende und Wir müssen deshalb im Gegenteil überlegen, wie wir wertestabilisierende Einrichtungen wie die Kirchen, das Entdeckungsrisiko erhöhen und gleichzeitig Schulen und Vereine haben auch durch eigenes Sanktionen der Tat auf dem Fuß folgen lassen kön- Verschulden immer weniger Einfluß. nen. Die in diesen Institutionen Tätigen können häufig (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) auch deshalb keine Maßstäbe mehr vermitteln, weil es In geeigneten Fällen — die F.D.P. hat das vorgeschla- ihnen selbst daran mangelt. Auch wir in der Politik gen — kann auch durch die Einführung einer kurzen können Fehlentwicklungen wenig beklagen, wenn Haft zur Sicherung einer schnell folgenden Hauptver- wir nicht selbst die Ethik vorleben, die wir von unseren handlung etwas erreicht werden. Bürgern erwarten. Eine stärkere Vermittlung ethi- schen Verhaltens ist daher nach meiner Auffassung (Beifall bei der CDU/CSU) die wichtigste Aufgabe, die beunruhigende Entwick- Aber der Staat darf in der Eindämmung der Mas- lung im Bereich der inneren Sicherheit umzukeh- senkriminalität nicht allein stehen. Es ist hier schon ren. mehrfach gesagt worden, und ich kann es nur noch Ich fand eine zweite Überlegung auf der schon einmal wiederholen: Es hat mich über die Jahre erwähnten Tagung wich tig: Wir legen in diesen maßlos geärgert, daß sich die Radioindustrie lange Tagen in der Erziehung von Kindern und Jugendli- geweigert hat, die in erheblichem Umfang gestohle- chen den Grundstock für die Entwicklung der kom- nen Autoradios mit einer eindeutigen Kennung zu menden Jahre. Fehler, mangelndes Engagement versehen. Es ist für mich erneut unerträglich, daß die heute und Einsparungen an der falschen Stelle wer- Automobilindustrie zwar vielerlei Schnickschnack in den ihre Antwort in Fehlhandlungen, kriminellen die Autos einbaut, die der Bequemlichkeit dienen, Handlungen von Heranwachsenden und jungen etwa elektrisch einstellbare Außenspiegel, aber kei- Erwachsenden in zehn oder fünfzehn Jahren fin- nerlei Anstrengungen unternommen hat, durch den. geeignete Wegfahrsperren dem Diebstahl vorbeu- gend entgegenzuwirken. Das mangelnde Sicherheitsgefühl der Bürger und ihre Ängste werden auch durch einen anderen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Umstand begünstigt. Der Bürger hat zu Recht das sowie bei Abgeordneten der SPD — Erwin Gefühl, daß uns bei der Bekämpfung von Fehlverhal- Marschewski [CDU/CSU]: Wegen dem Um ten die Maßstäbe abhanden gekommen sind. Wäh- satz machen die das!) rend kleine und kleinste Fehlhandlungen im Straßen- Ich kenne die europarechtlichen Schwierigkeiten, verkehr mit immer höheren Bußgeldern und immer aber ich bin der Meinung, daß der 30. August 1994 der weiter ausgedehnten schweren Sanktionen, wie etwa letzte Zeitpunkt ist, ab welchem in die Fahrzeuge dem Fahrverbot, geahndet werden, erweitern wir im Wegfahrsperren eingebaut sein müssen. Bereich des Kriminellen, also des stärkeren Unrechts, immer intensiver den Bereich der Folgenlosigkeit, Der Staat kann im Bereich der inneren Sicherheit etwa durch Einstellung gemäß § 153 StPO. keine Rundumversorgung zur Verfügung stellen, stellt das Positionspapier der F.D.P.-Fraktion zur inne- Über 200 000 Fälle gemäß § 153 StPO in den alten ren Sicherheit zutreffend fest. Der mündige Bürger Bundesländern allein im Jahr 1992 sprechen eine schützt sich in erster Linie selbst. Aber der Massenkri- deutliche Sprache. Während sich der Bürger im minalität muß auch durch mehr Polizei auf der Straße Bereich des kleinen und kleinsten Fehlverhaltens begegnet werden. Sie gibt dem Bürger das Gefühl einer hohen Verfolgungsdichte durch eine Fülle von - sichtbaren Schutzes. Für den Täter erhöht die Anwe- städtischen Angestellten, die ständig in der Innenstadt senheit der Polizei das Risiko des Entdecktwerdens. unterwegs sind, gegenübersieht, interessiert sich der Gerade dieses Risiko ist nach allen kriminologischen Staat kaum für ihn, wenn er Opfer schweren Unrechts, Untersuchungen dasjenige, das den Täter viel besser Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15793

Jörg van Essen als Strafandrohungen davon abhält, Straftaten zu ist dort nur ein Rinnsal — wenige Meter getrennt sind, begehen. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Polizei die Polizei natürlich nicht ständig überall sein kann, so auf der Straße macht sie für den Bürger und damit daß Übergriffe dieser Art nicht völlig ausgeschlossen auch für präventive Maßnahmen ansprechbar. werden können. Aber ich bin froh, daß sich die Zum Schluß gebe ich eine persönliche Überlegung Situation dort im Vergleich beispielsweise zu vor zu bedenken, die in meiner Fraktion noch nicht einem Jahr deutlich verbessert hat. diskutiert ist. Ist es nicht vernünftig, sich wie beim Meine Damen und Herren, es ist schon mehrfach Thema Asyl möglichst schnell mit der Opposition, mit festgestellt worden: Das Gefühl der Bedrohung ist den Ländern zusammenzusetzen und eine Lösung keineswegs Ausdruck übertriebener Furchtsamkeit. anzustreben? Denn immerhin wurden 1992 für die Bundesrepublik (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutschland in der polizeilichen Kriminalstatistik fast 6,3 Millionen Straftaten registriert, was einem Anstieg Es würde allen demokratischen Parteien dienen, wenn wir uns gemeinsam als handlungsfähig erwei- von fast 10 % entspricht. Der Anstieg konzentriert sich sen würden. gerade auf jene Kriminalitätsbereiche, die für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung eine besondere Vielen Dank. Bedeutung haben, Stichwort „Diebstahlskriminali- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU tät" , beispielsweise Raubtaten. Dazu sind heute mehr- sowie bei Abgeordneten der SPD) fach konkrete Zahlen genannt worden; ich möchte darauf verweisen. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parla- Diese Skizzierung der Lage gilt leider auch für mentarische Staatssekretär beim Bundesminister des dieses Jahr, denn es zeichnet sich keine Abschwä- Innern, unser Kollege Eduard Lintner. chung der Kriminalitätssituation ab. Wir stehen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung vor großen Herausforderungen. Wenn ich „wir" sage, sind das Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- vor allem die Länder. Ich sage aber auch ganz bewußt minister des Innern: Sehr geehrter Herr Präsident! „wir", denn eine der Ursachen liegt natürlich auch im Meine Damen und Herren! Ich greife gern ein Stich- gesamtgesellschaftlichen Wertewandel, dem eben wort auf, das Kollege Graf geliefert hat, nämlich nicht allein mit staatlichen Mitteln entgegengetreten gegenseitige Schuldzuweisung zu vermeiden. Aber, werden kann. Herr Kollege Graf, wenn man aufmerksam zugehört hat, so ist genau dies von Ihnen oder den Rednern Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch davor Ihrer Fraktion den ganzen Abend nicht beachtet warnen, Stichworte wie z. B. „soziale Kälte" als Erklä- worden, denn Sie haben sich im wesentlichen darauf rung zu verwenden. So einfach, glaube ich, kann m an beschränkt, immer den Bund anklagend als jemand es sich nicht machen. Denn bedenken Sie: Beispiels- hinzustellen, der seine Hausaufgaben auf dem Sektor weise Frankfurt hat mit einer relativ geringen Zahl der inneren Sicherheit nicht gemacht hätte. von Arbeitslosen mit die höchste, vielleicht sogar die höchste Kriminalitätsbelastung. Wenn Sie an die (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Aber es geht Situation der fünfziger Jahre zurückdenken, so war doch um Bundespolitik!) die Kriminalitätsbelastung im Vergleich zu heute Herr Professor Meyer, Ihre Darlegungen waren geradezu gering, obwohl die soziale Situation der besonders peinlich, weil Sie einschlägig fachlich qua- Menschen natürlich extrem schlecht war. lifiziert sind und trotzdem hier so getan haben, als In diesem Zusammenhang muß man, glaube ich, wüßten Sie nicht, daß die Hauptlast der Kriminalitäts- andere Ursachen erwähnen; auch sie sind teilweise bekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland in schon genannt worden: z. B. die Anonymisierung der der Tat bei den Ländern liegt. Gesellschaft, das Auseinanderleben von Familien, der Noch eines, Herr Kollege Graf, weil Sie ein Beispiel schwindende Einfluß wertebildender und wertestabi- erwähnt haben, bei dem ich mich persönlich sehr lisierender Institutionen wie Schulen, Kirchen, Ver- engagiert habe, Ebersbach als Stichwort. Ich war dort eine usw. und habe in der Tat mit allen Be troffenen gesprochen. (Glocke des Präsidenten) Wir haben genau die Maßnahmen verabredet, die Sie hier einfordern, nämlich unorthodoxe, gar nicht so Meine Damen und Herren, hier liegen Ursachen, die sehr im polizeilichen Bereich angesiedelte. Beispiels- wir nur gemeinsam angehen können. weise habe ich dafür gesorgt, daß schnell über Die Aufgabe, diese Entwicklung zu korrigieren, 30 Funktelefone von der Telekom zu Konditionen wie kann nur bewältigt werden, für normale Anschlüsse zur Verfügung gestellt wor- (Glocke des Präsidenten) den sind, einfach damit die Benachrichtigung der Polizei schneller erfolgen kann. Wir sind gerade wenn sie von uns — — dabei, bestimmte Übergänge durch Betonklötze zu blockieren, damit Kfz die Grenze nicht unkon trolliert, Vizepräsident Hans Klein: Nicht Sie sind gemeint, beispielsweise zum Abtransport von Diebesgut die Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich finde, da Grenze überschreiten können. Gerade aus dieser hinten ist ein ausgesprochenes Konferenzgestühl. — Ecke habe ich vor drei Wochen einen Dankesbrief Bitte fahren Sie fort. dafür bekommen, daß diese Maßnahmen die Situation in der Tat sehr, sehr verbessert hätten. Wir sind uns aber einig, daß angesichts der Situation, daß die Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- bebauten Bereiche nur durch ein Rinnsal — die Spree minister des Innern: Vielleicht unterhalten sie sich 15794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner darüber, wie sie die Regierung in ihrem Kampf gegen neben den vorrangig zu berücksichtigenden Erzie- die Kriminalität unterstützen können. hungsgedanken das Präventionsziel des Schutzes der Allgemeinheit vor Gewalttätern treten kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!) Meine Damen und Herren, die Aufgabe, diese Entwicklung zu korrigieren, kann nur bewäl tigt wer- Dieser Gesichtspunkt muß sich in Gesetzesänderun- den, wenn sie von allen gesellschaftlichen Kräften gen wiederfinden, die zu einer Beschränkung der Strafaussetzungsmöglichkeiten bei Heranwachsen- mitgetragen und unterstützt wird. Aber auch jeder einzelne ist gefordert, denn auch durch rechtstreues den durch die stärkere Berücksichtigung der Neigung Verhalten in Verkennung der Tatsache, daß es sich des Täters zu Gewalttaten und zur Aufnahme des um einen Rechtsbruch handelt, der verharmlosend als Schutzgedankens führen. Bagatelle oder als Kavaliersdelikt abgetan wird, kann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) er ein falsches Beispiel geben. Meine Damen und Herren, unangebracht erscheint Fatale Folgen, meine Damen und Herren, hat in es auch, wenn das Jugendstrafrecht auch in Zukunft diesem Zusammenhang — auch ich möchte darauf so extensiv angewendet wird, wie es bislang der Fall hinweisen, weil wir in der Tat höchst besorgt sind; der ist. Kollege van Essen hat es bereits getan — nach unserer (Zuruf von der CDU/CSU: 90 %!) Auffassung die faktische Nichtkenntnisnahme von Deshalb sollte die Regelung zur Anwendung des bestimmten Delikten mit angeblich geringer Scha- Jugendstrafrechts auf Heranwachsende so geändert denshöhe in einzelnen Ländern. Hier wird ein völlig werden, daß das Jugendgerichtsgesetz nur dann falsches Signal der Harmlosigkeit und der Verniedli- anwendbar ist, wenn der Täter zur Tatzeit nach seiner chung gesetzt. geistigen und sittlichen Entwicklung ausnahmsweise (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das gilt auch für noch einem Jugendlichen gleichstand und eine erzie- das Schwarzfahren!) herische Einwirkung überhaupt noch möglich ist. — Das gilt auch für das Schwarzfahren, sehr wohl, (Norbert Geis [CDU/CSU]: So wie bei Ver Herr Kollege Geis. kehrsstraftaten!) Im Kampf gegen die wachsende Kfz-Diebstahlskri- Meine Damen und Herren, wir müssen aber auch minalität müssen — das betone ich ausdrücklich — einige Vorschriften ändern. Lassen Sie mich dafür sich auch Automobilindustrie und Versicherungswirt- einige Beispiele erwähnen: schaft ihrer Verantwortung bewußt sein, möglicher- Die Möglichkeiten zur Anwendung des beschleu- weise erst richtig bewußt werden. nigten Strafverfahrens nach § 212 StPO müssen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie ausgedehnt und erleichtert werden, insbesondere des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]) durch eine Erhöhung des zulässigen Strafrahmens, der bisher bekanntermaßen lediglich ein Jahr Sicherungssysteme für Fahrzeuge können und müs- sen verbessert werden. Allerdings — das war vorhin beträgt. mein Zwischenruf, Herr Graf — — Die Bestimmungen zur Verhinderung der Prozeß- verschleppung müssen verstärkt werden. Es kann Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer nicht angehen, daß Beweis anträge mit verfahrenver- Staatssekretär, die vereinbarte Redezeit ist schon ein zögernder Wirkung ganze Spruchkörper lahmlegen. gutes Stück überschritten. Schließlich bedarf es auch eines länderübergreifen- (Zuruf von der CDU/CSU: Es ist aber gut, was den staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters zur er sagt! Lassen Sie ihn noch ein bißchen!) besseren Koordinierung der Strafverfolgung. Gerade die steigende Jugendkriminalität ruft bei Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- vielen Bürgern besondere Besorgnis hervor. Damit minister des Innern: Ich versuche, schnellstens zum Jugendliche erst gar nicht in die Gefahr geraten, Schluß zu kommen. Ich möchte nur den Gedanken straffällig zu werden, muß die Erziehungskraft der noch zu Ende führen. — Wir müssen dabei natürlich Familie und der Schule gestärkt werden. auch darauf achten, daß wir uns innerhalb der EG onale Alleingänge eigentlich (Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]) bewegen, das heißt nati ausscheiden. Junge Menschen brauchen für ein demokratisches (Beifall bei der CDU/CSU) Zusammenleben Orientierungswissen und Wertvor- stellungen, berufliche Chancen und sinnvolle Frei- Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß das Bundes- zeitangebote, um sich in einer komplizierten und sich innenministerium ein Gespräch mit der Automobilin- wandelnden Welt zurecht zu finden dustrie und der Versicherungswirtschaft zur Bekämp- fung dieser Art von Kfz-Kriminalität bereits auf den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge 19. November dieses Jahres terminiert hat. Sie sehen ordneten der F.D.P.) also, daß wir viele Ihrer Gedanken bereits in konkrete und um die nötige innere Festigkeit zu gewinnen und Arbeit umsetzen. Wir sind offenbar in mancherlei Toleranz üben zu können. Hinsicht schneller, als die Opposi tion denkt. Daneben gilt es nach unserer Auffassung auch, das - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Instrumentarium des Jugendstrafrechts den verän- derten Verhältnissen anzupassen. Das Jugendge- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Abg. richtsgesetz muß dahingehend überprüft werden, ob Dr. Rudolf Krause (Bonese) das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15795

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Ich unterstreiche die Antwort der Bundesregierung Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr zum Punkt 3.14, daß Gewalt kein Mittel der politi- zufrieden mit dem Verlauf dieser Debatte. Wenn ich schen Auseinandersetzung sein kann und sein darf. hämisch wäre, würde ich sagen, es reicht für 20 Flug- Aber ich sage wieder in eigener Sache: Das gilt auch blätter. Aber je leerer das Haus — das ist oft so —, um für friedliche Versammlungen der Republikaner. Ich so inhaltsreicher und fairer sind die Debatten. kenne Republikaner seit vier Monaten nur als Opfer von Gewalt. Unter Massenkriminalität sind nicht nur Diebstahl und Gewaltkriminalität zu fassen, sondern all das, was Wer behauptet, es seien Schreibtischtäter der täglich massenhaft auftritt, also auch Raubdelikte, die Gewalt, das ist zumindest frei erfunden, wenn nicht — ich könnte von heute zitieren — Ausländerkrimina- erstunken und erlogen. Ich möchte ganz vorsichtig lität, Rauschgiftkriminalität, Beschaffungskriminali- daran erinnern, es gab auch in der Vergangenheit tät, die Alkoholkriminalität, die nicht vergessen wer- Gewalt — ich denke nur an die Inquisition —, politi- den sollte — am Hauptbahnhof Bonn sieht man es sche Gewalt, für die es auch Schreibtischtäter gab. ständig —, und die organisierte Kriminalität. Man soll also vorsichtig sein, falsch Zeugnis zu reden. Da gilt das Wort: Was ich nicht will, das man mir tu, das Was aber die Bevölkerung am meisten beunruhigt, füg' auch keinem anderen zu. sind die Explosion der Gewaltkriminalität und auch die Zunahme der Gewaltkriminalität bei Jugendli- Ich danke für die Aufmerksamkeit. chen und bei Kindern. Wir hatten 1992 — ich zitiere (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions einen Antrag der PDS — 2 283 ausländerfeindliche los] trinkt einen Schluck Wasser. — Zuruf von Gewalttaten. Diese sind im Zusammenhang mit poli- der CDU/CSU: Prost!) tischer Kriminalität zu sehen, die es zu bekämpfen gilt. — „Prost" schadet im Protokoll immer dem, der es Aber es sind 1,5 % von den 150 000 gesamten Gewalt- sagt. delikten gegen Personen. Alle Opfer haben nach dem Gleichheitsgrundsatz das gleiche Recht auf Opfer- Herr Kollege Krause, schutz, das gleiche Recht auf Prävention. Vizepräsident Hans Klein: solange es diesen Bundestag gibt, solange ich mich Nun in eigener Sache: 11. 9., Ludwig Bauer in erinnern an — ich habe 1956 hier als Korrespondent München, Unterkieferfraktur beim Wahlkampf zur über den Bundestag berichtet —, mußte jeder vierte OB-Wahl durch eine bekannte Türkenbande Jugend- oder fünfte immer, wenn er nach dem Wasserglas licher. 1. 10., Dr. Jürgen Heid rich in Köln, ein älterer gegriffen hat, mit dem Zuruf „Prost" rechnen. Herr vor einer angemeldeten Versammlung, Schädel- Meine Damen und Herren, ich schließe die Aus- verletzung durch vermummte Autonome. Schlimm- sprache. Wir haben einen Entschließungsantrag der ster Fall: 14. 10., Gerd Amling, Dortmund, ein älterer Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5926 vorliegen. Finanzbeamter, Schädelverletzung unter den Augen Wir haben einen Entschließungsantrag der Gruppe der Polizei. Bekannte meiner Freunde in der Polizei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5953 haben gesagt: Ihr müßt euch bei Herrn Schnoor vorliegen. Und wir haben die Vorlage auf Drucksache bedanken: Wir dürfen nicht eingreifen. 12/4378, das ist die Entschließung des Europäischen Hausfriedensbruch, Besetzung eines fremden Parlaments zur Gründung von Europol, vorliegen. Grundstücks, Schädelverletzung unter den Augen der Sind Sie in allen drei Fällen mit der Überweisung an Polizei. Ich habe die Polizei gesehen, ich habe die die zuständigen Ausschüsse einverstanden? — Dies ist Vermummten gesehen, und ich habe unsere Freunde der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- dort gesehen. sen. Es darf auch nicht hingenommen werden, daß der Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: notwendige Kampf gegen ausländerfeindliche Ge- waltkriminalität ein gesellschaftliches Alibi ist, bei Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- anderen Kriminalitätsarten wegzusehen, und ein tionsausschusses (2. Ausschuß) Alibi ist für eine gewisse Tatenlosigkeit gegenüber Sammelübersicht 100 zu Petitionen der Kriminalitätsexplosion von 5,3 Millionen 1991 auf (Abgeordnetenbezüge/Finanzierung der Par- wahrscheinlich über sieben Millionen bis Ende dieses teien und Fraktionen) Jahres. — Drucksache 12/4824 — Was lehrt uns das? Herr Marschewski, Sie haben theoretisch haben wir nach einem Beschluß des sehr richtig gesagt von diesem Skandal in den Ältestenrates eine halbe Stunde zur Verfügung. Wenn Medien, Mordanschlag auf den Kanzler. Ich zitiere ich es richtig sehe, hat die Unionsfraktion keinen Norbert Geis: Die Diffamierung der Polizisten als Redner gemeldet. Bullen, was die linken Chaoten an die Wände schmie- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Zu Proto ren — ich zitiere —: „Deutsche Polizisten — Mörder koll!) und Faschisten". — Der Kollege Kampeter gibt zu Protokoll,*) Wer das toleriert, wer auch das toleriert, was an (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Beleidigungen im Landtag von Stuttgart passiert ist, sowie bei Abgeordneten der SPD) darf sich nicht wundern, wenn nicht nur Veranstaltun- gen von uns Republikanern, sondern auch CDU- -ebenso der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher*) Geschäftsstellen und auch wie hier bei der Asylde- (Beifall bei der F.D.P.) batte, gewählte Abgeordnete Opfer organisierter Gewaltkriminalität werden. *) Anlage 5 15796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Hans Klein und ebenso die Kollegin Dr. Barbara Höll.*) Politik überzeugender, wäre der Ärger über das Geld (Beifall bei der F.D.P.) für die Politik möglicherweise geringer. Viele Men- schen sind über die Regierungspolitik verärgert und Um das Wort gebeten aber hat — und bekommt enttäuscht erteilt — der Kollege Peter Conradi. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CSU]: Nein, nein! Über die Oppositions F.D.P.) politik!) — lassen Sie mich den Satz noch zu Ende führen —, aber auch die Opposition im Bundestag könnte stärker (SPD): Der Herr Präsident gibt sich Peter Conradi und überzeugender sein. große Mühe, ein gleiches Maß an Beifall für seine Rede zu bekommen wie die Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, die ihre Rede zu Protokoll gegeben haben. Vieles wird hier gemeinsam verabschiedet. Die Wir wollen hier zu später Stunde, fast zur Geister- Bundesratsmehrheit zwingt zu Kompromissen. Ren- stunde, über die Petition „Bürgerbegehren '92" tenreform, Einheitsvertrag, Gesundheitskostenre- reden, eine Petition, deren Petenten u. a. sämtliche form, Asylrecht, Solidarpakt, Maastricht: Was alles Zahlungen an die Abgeordneten, die Minister, die haben wir nicht gemeinsam in Kompromissen Parteien, die Fraktionen und die Stiftungen um 5 % beschlossen! Manchmal frage ich mich, ob wir nicht gekürzt wissen wollen, eine Petition, die alle zuviel gemeinsam beschließen; denn allmählich wird Zuschüsse an Fraktionen, Parteien und Stiftungen von für die Wähler der Unterschied zwischen der politi- unabhängigen Kommissionen festsetzen lassen will, schen Mehrheit und der opponierenden Minderheit auch — so steht es wörtlich darin — alle Vergütungen, unkenntlich. Sie sagen: Die wollen eigentlich alle das Entschädigungen und sonstigen Einkünfte von Abge- gleiche; vor allem wollen sie unser Geld. ordneten. Dabei habe ich gestaunt und mich gefragt, wie eine unabhängige Kommission „sonstige Ein- So sagt auch diese Petition. Deshalb wollen wir, daß künfte" eines Abgeordneten, etwa Rechtsanwalts- über das Thema „Parteien, Parlamente und Politik" oder Autorenhonorare, festsetzen will. auch im Parlament einmal ernsthaft und gründlich geredet wird. Es ist erstaunlich: Jede Akademie redet (Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: darüber, die ganze Presse schreibt darüber, nur die Das stimmt! Da kann man nur staunen!) Volksvertretung, dieses Haus, hält sich schamvoll Die Petenten wollen, daß alle Aufsichtsratsposten, zurück, über das Thema „Politikverdrossenheit" hier Beraterverträge und sonstigen Nebeneinkünfte veröf- einmal eine ganztägige ernsthafte Debatte zu führen. fentlicht werden, daß Abgeordnetenbestechung straf- Wir wissen doch: Gut sind wir bei den großen Debat- bar wird, ten gewesen, ob es Ber lin, der § 218 oder Maastricht war. Bei den großen Debatten hat sich dieses Haus (Zustimmung der Abg. Ulla Jelpke [PDS/ doch in guter Weise gezeigt, während die vielen Linke Liste]) kleinen langweiligen Sachdebatten niemanden vom daß Wahlkampfkostenerstattung nach tatsächlich Stuhl reißen. Deswegen rege ich ernsthaft an, daß sich erhaltenen Stimmen bemessen wird. alle Fraktionen bemühen, einen Tag zu finden, an Initiatorin des „Bürgerbegehrens '92" ist die ehe- dem wir über dieses Syndrom reden. malige Bundestagsabgeordnete, die Staatssekretärin (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der a. D. und Staatsministerin a. D. Frau Dr. Hildegard F.D.P.) Hamm - Brücher Nun hat der Petitionsausschuß diese Petition sehr (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Beifall der ernsthaft beraten. Die meisten Forderungen der Abg. Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]) Petenten sind inzwischen in Arbeit. Einige sind schon und der Bund der Steuerzahler. erfüllt: die Kürzung von Ministergehältern, das Ein- Die Petition hat immerhin 51 000 Unterschriften und frieren der Abgeordnetenentschädigung, die Einrich- ein sehr breites Echo in der deutschen Presse gefun- tung unabhängiger Kommissionen. Dabei habe ich den. Deswegen meine ich, wir sollten sie hier nicht mich gewundert, daß in der Petition steht — und unter einfach beerdigen, sondern ernsthaft diskutieren. ihr steht ja als erster Name der Name einer Staatsmi- nisterin —, unabhängige Kommissionen sollten die (Abg. Dr. Walter Hitschler [F.D.P.] meldet Abgeordnetenentschädigung und die Parteienzu- sich zu einer Zwischenfrage) schüsse festsetzen. Das kann ja wohl nicht sein. Nach — Nein, Herr Kollege Dr. Hitschler, ich würde es gern unserer Verfassung kann nur das Parlament und nicht zu Ende führen. irgendeine Kommission Ausgaben festsetzen. Wir nehmen die Petition ernst; sie ist ein Zeichen für Wir haben eine gesetzliche Regelung der Fraktions- das Syndrom der Politikverdrossenheit, für zuneh- finanzierung in Arbeit, die die Fraktionsfinanzierung mende Zweifel an den drei Ps: Parteien, Politiker und transparenter machen soll. Wir sind am Parteienge- Parlamente. Das vierte P, die Presse, schürt diese setz und werden künftig die Zuschüsse an die Parteien Zweifel noch weiter. nach den erhaltenen Stimmen bemessen. - Die Initiatoren machen ihre Verdrossenheit am Die Veröffentlichung von Aufsichtsratsmandaten ist Geld fest; das ist verständlich und beliebt. Wäre die längst geregelt. Die Strafbarkeit der Abgeordneten- bestechung ist in Arbeit. Das meiste ist also schon ') Anlage 5 erledigt oder in Arbeit. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15797

Peter Conradi Ob der 12. Bundestag noch das Thema Abgeordne- ligen — und diese gibt es in allen Parteien — sucht sie tenentschädigung und -versorgung bewältigen wird, das öffentliche Echo, indem sie das Parlament, dem sie ist offen. Wir müßten uns dabei insbesondere auch mit einst angehört hat, öffentlich kritisiert. Das ist zwar den Doppelbezügen, vor allen Dingen den Versor- nicht die feine englische Art; aber wir ertragen das. gungsbezügen der Kolleginnen und Kollegen be- Ärgerlich wird es jedoch, wenn Frau Dr. Hamm schäftigen, die hier eine Zeitlang Abgeordnete und Brücher öffentlich fordert: außerdem Staatssekretärin und Staatsministerin wa- In der Demokratie muß alles, was mit Geld zu tun ren. Ich schlage vor, daß wir versuchen, das noch im hat, transparent sein. 12. Bundestag zu packen. Denn sonst dauert es zwei Jahre. Es wäre gut, wir hätten dieses schwierige Ich habe sie daraufhin höflich gebeten, diesem Thema vom Tisch. Prinzip zu folgen und offenzulegen, welche Versor- gungsbezüge sie aus ihren verschiedenen öffentli- Die Forderungen der Petenten sind also weithin chen Ämtern erhält. Darauf hat sie mir ausweichend erfüllt. Ob das ihre Verdrossenheit mildert, weiß ich geantwortet und mir dann durch ihren Anwalt einen nicht. Es wird vermutlich auch davon abhängen, ob Prozeß angedroht. Wenn sie mit dem Prozeß ernst die Presse etwas über die Erledigung der Petition macht, werde ich — das habe ich mir überlegt — den berichtet. Ich habe da meine Zweifel. Die Presse hat Kollegen Detlef Kleinert bitten, mich anwaltlich zu zwar über die Petition ungeheuer breit berichtet. Nun betreuen. sind wir gespannt, ob sie auch ebenso breit über das Ergebnis der Petition berichtet. Ich habe da Zweifel. (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) Bis dahin werde ich weiter erklären, daß Frau (Heiterkeit — Erwin Marschewski [CDU/ Dr. Hamm-Brücher nach meiner und anderer Fach- CSU] [nach einem Blick auf die Pressetri leute sorgfältiger Berechnung aus ihren öffentlichen büne]: Die BZ berichtet auch darüber!) Ämtern und Mandaten derzeit eine kumulierte Alters- Zu Recht hat der Petitionsausschuß gesagt: versorgung von etwas mehr als 17 000 DM im Monat bekommt. Das steht ihr zu. Ich kritisiere das nicht. Ich Die starke publizistische Auswertung der Petition stelle nur einen gewissen Widerspruch zu dieser seitens der Antragsteller nährt die Vermutung, Petition fest, über die wir reden und die unter dem daß damit andere &s die in der Petition vorgege- Motto „Mehr Bescheidenheit in der Politik" läuft. benen Ziele verfolgt werden sollen. Wem fällt dazu nicht Heinrich Heine ein: Abschließend ein Wort zu den Initiatoren. Der Bund der Steuerzahler kritisiert seit langer Zeit heftig die Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich Ausgabenpolitik der öffentlichen Hände. Das ist sein kenne die Herren gutes Recht, auch wenn gelegentlich der Eindruck — hier müßte man sagen: die Damen — entstehen könnte, der Bund der Steuerzahler wolle Verfasser. Ich weiß, sie trinken heimlich Wein den „armen Staat" , den sich bekanntlich nur reiche und predigen öffentlich Wasser. Leute leisten können. Das schwerste in der Politik — so hat Wir haben erstaunt gelesen, daß die unabhängige einmal gesagt — ist die Glaubwürdigkeit. Kommission zur Abgeordnetenfinanzierung, der ja Die SPD-Fraktion dankt dem Petitionsausschuß für die Präsidentin des Bundes der Steuerzahler angehört, die sorgfältige Arbeit an dieser Petition. Wir stimmen uns eine Erhöhung unserer Gehälter um 30 % vor- der Empfehlung des Petitionsausschusses, die Petition schlägt. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu sei nicht geeignet, in eine Gesetzesinitiative einzu- dieser Petition, die ja den Namen dieser Präsidentin münden, gerne zu. mitträgt. Die Präsidentin des Bundes der Steuerzahler sollte diesen Widerspruch doch alsbald aufklären. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste — Siegfried Wir wüßten auch gern, wer den Bund der Steuer- Vergin [SPD]: Das war das Wort zur zahler finanziert und wer dazugehört. Ich bemühe Nacht!) mich seit einem Jahr vergeblich, Mitglied des Bundes der Steuerzahler zu werden. (Heiterkeit) Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- che. Das wird mir mit fadenscheinigen Begründungen verwehrt. Ich muß hier doch sagen: Wer so heftig die Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die öffentlichen Hände, die Parteien und die Parlamente laufenden Nummern 70 bis 76 der Sammelüber- kritisiert, wie der Bund der Steuerzahler, sollte selber sicht 100? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich einmal offfenlegen, wie es bei ihm intern aussieht. der Stimme? — Die aufgerufenen Nummern sind angenommen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Wer einen Abgeordneten, der brav seine Steuern zahlt und seit 20 Jahren seine Einkommensteuererklärung Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- offenlegt, nicht in diesen Bund der Steuerzahler tionsausschusses (2. Ausschuß) aufnehmen will, muß sich fragen lassen, ob er etwas zu - Sammelübersicht 115 zu Petitionen verbergen hat. (Schutz der Menschenrechte in Indonesien/ Zum Schluß ein Wort an unsere ehemalige Kollegin OstTimor) Frau Dr. Hamm-Brücher. Wie einige unserer Ehema — Drucksache 12/5645 — 15798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Vizepräsident Hans Klein Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Ausrufung der manifesten Krise für den Stahl- SPD vor. markt in der Europäischen Gemeinschaft Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist wie- — Drucksachen 12/4448, 12/5895 — derum eine Beratungszeit von einer halben Stunde Berichterstattung: vorgesehen. Mir liegen die Manuskripte des Kollegen Abgeordneter Wolfgang Weiermann Konrad Weiß, der Kollegin Dr. Ruth Fuchs und der Kollegin Birgit Homburger mit der Bitte vor, sie zu Auch hier ist eine halbe Stunde Debattenzeit vom Protokoll zu nehmen.*) Entspricht das Plenum dieser Ältestenrat vorgeschlagen worden. Es liegt mir aber Bitte? — Das ist offensichtlich der Fa ll. bis zum Augenblick nur eine Wortmeldung vor. Ich erteile dem Kollegen Horst Peter das Wort. (Gudrun Weyel [SPD]: Sie kriegen noch mehr!) — Wer war das? (Beifall des Abgeordneten Jürgen Koppelin Horst Peter (Kassel) (SPD): Herr Präsident! Keine [F.D.P.] — Heiterkeit) Angst, auch ich werde mein Manuskript zu Protokoll geben.** ) Dann eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kollegen Henn das Wort. (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Warum reden Sie denn dann?) Allerdings muß ich mich im vorhinein bei dem Steno- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! graphischen Dienst des Deutschen Bundestages für Meine Damen und Herren! Wir haben zwar schon oft meine Handschrift entschuldigen. Ich tue das hiermit in diesem Jahr über Stahl diskutiert, aber die Krise ist und bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ver- nur schlimmer geworden, weil politisch buchstäblich ständnis dafür zu haben, daß ich Ihren Händen zwar nichts passiert ist. Ich denke, es wird Zeit, daß — wie eine Entlastung zumute, Ihren Augen aber nicht. die Kumpel sagen — Butter bei die Fische kommt. Schönen Dank. Deswegen finde ich es gut, daß der Deutsche Bundestag sich nicht scheut, auch noch kurz vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Mitternacht die Sorgen der 200 000 Stahlarbeiter zu CSU und der F.D.P. — Zuruf von der CDU/ diskutieren. Andererseits ist diese Uhrzeit für diejeni- CSU: Wir stellen einen Übersetzer!) gen, über die wir heute diskutieren, ja keine unge- wöhnliche Arbeitszeit. (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Für Stahl Vizepräsident Hans Klein: Nach dieser Ankündi- ist es nie zu spät!) gung des Kollegen Horst Peter frage ich das Haus, ob Die Nachtschicht hat gerade vor zwei Stunden begon- es damit einverstanden ist, daß er seine Rede zu nen. Insofern können auch wir hier noch diskutie- Protokoll gibt. — Das ist der Fall. ren. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Lassen Sie die Erfreulich ist, daß noch ein so großer Kreis von Handschrift sehen!) Abgeordneten dieser Debatte folgt. Ich freue mich — Sie haben doch, Herr Koppelin, keine graphologi- ganz besonders, daß meine Gruppe heute Disziplin schen Motive. zeigt und noch zu fast 40 % anwesend ist. (Zuruf von der F.D.P.: Er hat vielfältige Inter (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das kommt ja essen!) selten vor! — Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/ Linke Liste]: Wir haben den größten Damit kann ich die Aussprache schließen und zur Anteil!) Abstimmung kommen, und zwar zunächst über den Die PDS/Linke Liste hat bereits am 5. März dieses Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksa- Jahres den heute zur Debatte stehenden Antrag che 12/5917. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — eingebracht. Es ist ein — wie der Kollege Urbaniak in Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? der ersten Lesung per Zwischenruf charakterisierte — — Der Änderungsantrag ist abgelehnt. schlichter Antrag; denn er enthält nur zwei Zielset- Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- zungen. tionsausschusses auf Drucksache 12/5645? — Wer Erstens. Die Bundesregierung soll in Brüssel auf stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschluß- Anwendung des Krisenmechanismus nach EGKS- empfehlung ist angenommen. Vertrag, Art. 58 und 61, drängen. Zweitens. Die Bundesregierung soll eine nationale Stahlkonferenz mit dem Ziel abhalten, die verant- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 10: wortlichen Kräfte zu einer gemeinsamen Linie auf Beratung der Beschlußempfehlung und des nationaler Ebene zu bringen. Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Aus Wir sehen den notwendigen G ang der Dinge eben schuß) zu dem Antrag der Gruppe der PDS/ so, daß zuallererst über die ökonomische und politi- Linke Liste - sche Konzeption zur Bewältigung der Stahlkrise dis- kutiert und entschieden werden muß. Erst wenn diese *) Anlage 6 Konzeption für die deutsche und die europäische **) Wird nachträglich zu Protokoll gegeben Stahlindustrie auf dem Tisch liegt und wenn die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15799

Bernd Henn Schritte zur Umstrukturierung der Stahlindustrie fest- Preislisten gibt es bei der Hohen Behörde für gelegt sind, kann man den zweiten Schritt tun und den Kohle und Stahl, seit Herr Schumann und Herr regionalen und sozialpolitischen Flankenschutz kon- Adenauer den Vertrag unterschrieben haben. kretisieren. Also erst die große Linie festlegen: Wo soll (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das war künftig in welchen Größenordnungen produziert wer- 1951!) den? Wo werden Kapazitäten aus dem Markt genom- men? Wo werden subventionierte Investitionen Seither kann von Marktwirtschaft nur noch sehr genehmigt und wo nicht? beschränkt gesprochen werden. Wir brauchen uns über diesen Vorgang also überhaupt nicht Wir wissen auch, daß es am bitteren Ende ohne mehr aufzuregen. Die Preise auf einem Niveau zu Sozialpläne nicht abgehen wird. Aber deren Substanz halten ist doch die eigentliche Lösungsmöglich- und Finanzierbarkeit hängen auch davon ab, ob die keit für die Stahlindustrie. Wenn die Preise nicht Unternehmen bis dahin finanziell überhaupt noch in auskömmlich sind, müssen die Finanzminister der Lage sein werden. Denn wenn die derzeitige dauernd antreten, oder die Aktionäre oder die Verlustsituation andauert, ist das sicher nicht so. Unternehmen gehen pleite. Also müssen die Niemand wird ja wohl davon ausgehen, daß Sozial- Preise vernünftig sein. Ich weiß, daß an die pläne ausschließlich aus Montanmitteln oder gar Stahlverarbeiter gedacht werden muß. Die haben öffentlichen Mitteln von Bund und Ländern finanziert aber keinen Anspruch darauf, Vormaterial zu werden sollen. Preisen zu bekommen, bei denen teilweise die Finanzminister vorher bezahlt haben. Weil aber den deutschen Stahlunternehmen die Luft auszugehen droht, brauchen wir vordringlich Ich möchte der Fairneß halber anmerken, daß die Ruhe am Stahlmarkt, sozusagen eine Auszeit, eine letzten acht Sätze, also alles, was die Mindestpreise Stabilisierung der Erlöse durch ein Mengen- und betraf, ein wörtliches Zitat aus der Rede des Bundes- Preisgerüst, also Quotensystem und Mindestpreisre- wirtschaftsministers vom 28. Oktober 1982 waren. Der gelung. Die Regulierung des Stahlmarkts könnte Zeit hieß damals Lambsdorff und hätte sicher auch schon geben, die politische und ökonomische Konzeption für höchst marktradikal reden dürfen; denn die Liberalen eine faire und ausgewogene Behandlung der Stahlre- waren ja bereits vier Wochen vorher von den Sozial- gionen in Europa auszuarbeiten. Dafür wiederum ist demokraten in das Boot der Konservativen umgestie- eine im nationalen Rahmen abgestimmte Linie aller gen. Verantwortlichen unerläßlich. Mir kommt es auch merkwürdig vor, daß Regierung und Mehrheitsfraktionen dieses Bundestages so vehe- Ein klares Signal der Bundesregierung für diesen ment gegen Marktregulierung wettern, während sie Weg wäre auch deshalb erforderlich, damit einige doch gleichzeitig das System der Produktionsquoten deutsche Stahlbosse aufhören, von einer Marktberei- und Preisregulierung im Agrarbereich mit rund nigung im klassischen Sinne durch Konkurs oder 25 Milliarden DM jährlich für direkte und indirekte massive Stillegungsmaßnahmen bei ihren deutschen Gemeinschafts- und innerstaatliche Subventionen Wettbewerbern zu träumen. stützen, also mit Mitteln der Steuerzahler und zu Lasten der Verbraucher einen großen Teilmarkt regu- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Siehe lieren. Klöckner!) Ich will an dieser Stelle nicht bewerten, wem das im — So ist es. besonderen nützt, aber im Verhältnis zu dieser teuren und leider relativ dauerhaften Regulierung — ob Notwendig wäre, die Verantwortlichen und die sinnvoll oder nicht, sei dahingestellt — fordern wir Betroffenen sowie die Unternehmer und die Gewerk- lediglich eine vorübergehende Aussetzung des mör- schaften in Deutschland an den gemeinsamen Tisch derischen Wettbewerbs der Industriegiganten bei zu holen, die Tür zuzuschließen und erst wieder zu Stahl, deren Schicksal ja zugleich das Schicksal von öffnen, wenn weißer Rauch aufsteigt, der zeigt, daß Tausenden von Arbeitnehmern und ganzen Regionen man sich einig ist. Ich sehe bis heute keinen sachli- ist. chen Grund, der den Bundeswirtschaftsminister Nennen Sie das meinetwegen Planwirtschaft. Aber abhalten sollte, eine nationale Stahlkonferenz auf den wenn Sie die im EGKS-Vertrag vorgesehenen Markt- Weg zu bringen. eingriffe ablehnen, obwohl regional- und arbeits- marktpolitische Erwägungen das gebieten würden, Gegen unsere Forderung nach Ausrufung der mani- dann sind Ihnen allein die Folgen zuzurechnen. festen Krise, nach Quotenregelung und Mindestpreis- festsetzung werden in der Hauptsache zwei Einwände Die Anlagen- und Produktionsstruktur, der Moder- geltend gemacht: erstens der prinzipielle Vorwurf, nisierungsgrad und die Kostenstruktur der noch exi- hier würde Planwirtschaft bet rieben, und zweitens die stierenden Werke in EG-Europa lassen sich durchaus Behauptung, die Sache habe von 1980 bis 1985 nicht vergleichen. Das hat die Subventionsrunde in den funktioniert. 80er Jahren bewirkt. Eine Ausnahme bildet lediglich das Eisenhüttenkombinat Ost. In der Stahlindustrie Beide Einwände sind nicht stichhaltig; denn es ist könnte also ein Kapazitätsabbau nach der Strategie völlig müßig, über das Ausmaß an Staatsinterventio- des proportionalen Opfers bei Berücksichtigung der nismus gerade in der Stahlindustrie zu streiten. Es ist überproportionalen Anpassungslasten gefahren wer- doch wohl unbestritten, daß unsere Vorstellung, Min- den, die die deutsche Stahlindustrie im EG-Maßstab destpreise zu fixieren, nichts Neues ist. bereits getragen hat. 15800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Bernd Henn Wenn aber die unterschiedliche Finanzbasis der Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege deutschen Wettbewerber den Ausschlag geben soll, Dr. Ruprecht Vondran. — Herr Kollege Vondran, darf wenn die deutsche Privatindustrie im Wettbewerb mit ich noch schnell eine Bemerkung zu dem Kollegen spanischen und italienischen Finanzministern fest- Urbaniak machen, der mich unter Hinweis darauf, daß stellen soll, wo plattgemacht wird und wo nicht, dann die Uhr stehengeblieben ist, aufforderte, das als heißt das Ergebnis regional- und arbeitsmarktpoliti- Hausherr in Ordnung zu bringen? — „Hausherr" kann scher Kahlschlag in Teilen des Ruhrgebiets, an der man sagen, aber nicht „Hausmeister", Herr Urba- Unterweser, in Ost-Brandenburg, an der Saar und in niak. der Oberpfalz. Wir lehnen eine solche unverantwort- (Heiterkeit — Hans-Eberhard Urbaniak liche Politik ab. [SPD]: Das wäre aber auch eine gute Quali Der andere Einwand, das Quoten- und Preissystem fikation! ) von 1980 bis 1985 habe nicht funktioniert, wird vor allem an der Tatsache festgemacht, daß es einen Dr. Ruprecht Vondran (CDU/CSU): Herr Präsident! Haufen Klagen gegeben habe, daß Unternehmen mit Meine Damen und Herren! Es ist spät; daher will ich allerlei Tricks sowohl die Quoten überschritten als mich darauf beschränken, ein paar Sätze zur Histo rie auch die Mindestpreise unterlaufen hätten. Ich zu sagen, und den Rest meiner Rede über das, was zu bestreite ja nicht, daß es allerlei Merkwürdigkeiten geschehen hat, wenn Sie einverstanden sind, zu gab. Da wurden sogenannte schwere Tonnen ver- Protokoll geben. kauft, oder es wurde V2A-Stahl zum Preis von Mas- senstahl abgegeben usw. Aber die Tatsache, daß es Behördlich festgesetzte Quoten, kontrollierte Min- Regelverletzungen gab, rechtfertigt ja wohl nicht das destpreise und Konferenzen: Diese Mittel empfiehlt Urteil, daß die Stahlmarktregulierung keine positiven die Gruppe PDS/Linke Liste zur Lösung der Stahlpro- Ergebnisse gehabt hätte. Wer solche Konsequenzen bleme. Überraschen kann das nicht. Sie bewegt sich zieht, der müßte aber aus den Agrarsubventionsbetrü- gewissermaßen in vertrauten Gewässern. Herr Kol- gereien ganz schnell den Schluß ziehen, die Agrar- lege Henn, schon Wilhelm Busch wußte: marktordnung abzuschaffen. Und saß der Frosch auf goldnem Stuhl, er hupft zurück in seinen Pfuhl. (Jürgen Timm [F.D.P.]: Das wäre auch gut so!) Früher, in alten DDR-Zeiten, war das Planungsvo- kabular geringfügig anders. Da agierte eine staatliche — Darm machen Sie das einmal, bitte! Planungskommission, erteilte eine Direktive, formu- Ich möchte noch darauf hinweisen, daß auch das lierte Aufgaben, ließ die Kollektive darüber diskutie- Wirtschaftsministerium, die Wirtschaftsvereinigung ren und machte den Bet rieben dann staatliche Aufla- Eisen und Stahl und die europäische Kommission für gen und wachte über die Planerfüllung. Die richtigen freiwillige Vereinbarungen über Produktionsquoten Austauschverhältnisse kontrollierte ein Amt für Preis- und Preisabsprachen zwischen den Stahlunterneh- bildung. Die so be triebene Staatswirtschaft hat Kon- men eintreten. Wir hatten das alles schon: Eurofer I, kurs angemeldet. An den finanziellen Folgen tragen Eurofer II usw. Hier gilt, was dazu in der Begründung wir alle schwer. Das ist nicht gerade eine Empfehlung, des SPD-Antrags gesagt wird: künftig so weiterzumachen. Die Ausrufung der manifesten Krise ist notwen- Doch nicht nur im Osten sind mit der Planwirtschaft dig, weil in einer durch Wettbewerb gekenn- schlechte Erfahrungen gemacht worden. Auch wir im zeichneten Wirtschaftsordnung freiwillige Ver- Westen haben uns ja darin versucht. Auf französisches einbarungen über Produktionsquoten und Preis- Drängen ist sie sogar Teil des Montan-Vertrages absprachen erfahrungsgemäß nicht greifen. geworden. Für gute und sonnige Zeiten sorgt der Markt, für schlechte und trübe Tage der Plan. So das Es gibt nur eine wirkliche Schwierigkeit. Das ist die europäische Recht, die Art. 58 und 61, auf die sich der Festlegung eines einigermaßen gerechten Referenz- Antragsteller hier bezieht. zeitraumes für die Bestimmung der Quoten. Selbst Klöckner hat ja die Quoten Anfang der 80er Jahre Wir haben das — ganz praktisch — in den Jahren nicht aus Jux und Dollerei überschritten, sondern weil 1980 und 1988 ausprobiert. Das Ergebnis war wahrlich mit der Festlegung des Bezugsjahres 1974 für die nicht berauschend. Für kurze Zeit beruhigte sich der Quote die erst später realisierte Großinvestition für Markt, eine Warmbreitbandstraße nicht berücksichtigt (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das ist sehr wurde. Aber diese Schwierigkeiten sind überwindbar. hilfreich gewesen!) Ich denke, hierin liegt auch eine Chance für die die Verteilungskämpfe fanden nicht mehr, Herr Kol- ostdeutschen Standorte. Wenn deren Quoten nur ein lege Urbaniak, bei den Kunden, sondern gewisserma- wenig an die Produktionsmengen vor dem Anschluß ßen in den Brüsseler Amtsstuben statt. Zugleich an die Bundesrepublik Deutschland heranreichen schwanden die Anpassungskräfte dieser Industrie. würden, so könnte es dort nur aufwärts gehen. (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Die Wir sollten also dafür sorgen, daß die relative schwanken immer in Brüssel! Die schwan Marktposition der einzelnen Unternehmen bzw. ken so, wie Herr Rexrodt schwankt!) Stahlindustrien der Länder der EG vorübergehend Am Ende ging das System vor dem Europäischen gesichert wird, daß bruchartige Verschiebungen ver- - Gerichtshof in Luxemburg unter. Es war ein ruhmloses hindert werden. Daher bitten wir um Zustimmung zu unserem Antrag. Ende. Tod durch Ertrinken in einer Flut von annä- hernd hundert Klagen — auch das nicht gerade eine (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Ermutigung, diese Versuchsreihe fortzusetzen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15801

Dr. Ruprecht Vondran Meine Damen und Herren, wer nach vorne schaut, sichts der fortgeschrittenen Stunde und der Tatsache, wer eine durchgreifende Lösung will, muß die Funk- daß wir die hier anstehende Problematik dieses Jahr tionsfähigkeit des Marktes wiederherstellen. Was im schon mehrfach diskutiert haben, beziehe ich mich, einzelnen zu geschehen hat, das habe ich bereits an um dem guten Beispiel meiner Kollegen in den letzten anderer Stelle vorgetragen und gebe ich jetzt hier zu Stunden zu folgen, auf meine Debattenbeiträge vom Protokoll, damit man es nachlesen kann.*) 11. März und 29. September dieses Jahres. An der dort Ich bedanke mich sehr herzlich. geäußerten Auffassung hat sich nichts geändert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Ist das Haus damit ein- verstanden, daß dieser Teil der Rede zu Protokoll gegeben wird? Vizepräsident Hans Klein: Jetzt brauche ich noch Ihre Zustimmung dazu, daß der Parlamentarische (Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: In Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, höchstem Maße!) unser Kollege Dr. Heinrich Kolb, seine Rede ebenfalls — Das ist so. Danke. zu Protokoll geben kann.') — Die Zustimmung ist Ich erteile nun dem Kollegen Weiermann das erteilt. Wort. Nun bekommt Kollege Urbaniak noch kurz das Wort. Wolfgang Weiermann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich will nur wenige Bemer-

kungen machen, insbesondere weil ich heute morgen Hans - Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Präsident! vor Ort im Revier die Empörung, die Sorgen und die Meine Damen und Herren! Trotz der vorgeschrittenen ' Ängste der Menschen über die Entscheidung des Zeit: Wir sind uns darüber im klaren, daß die sozial- Haushaltsausschusses am gestrigen Tag habe entge- demokratische Fraktion weiterhin stahlhart das ver- gennehmen können, nicht nur der Menschen, die kurz folgt, was sie mit ihrem Antrag, der noch zu diskutie- vor der Verabschiedung durch einen Sozialplan ste- ren ist, beabsichtigt. hen. Das ist durch die Entscheidung des Haushalts- Die Situation in den Revieren ist eine brennende. ausschusses ja tangiert. Wenn die Mehrheit morgen Unterschätzen Sie nicht den Vertrauensverlust, den möglicherweise entsprechend entscheidet — was ich wir und insbesondere Sie erfahren würden. Das darf nicht hoffe —, dann liegt auch durch das Plenum ein uns nicht passieren. Befund vor, die Sozialpläne nicht mehr so wie in der Vergangenheit gestalten zu können. Es handelt sich um Menschen, die über Jahrzehnte ihre Pflicht voll erfüllt haben. Wenn die in die Sozial- Das bedeutet, daß junge Menschen — 19-, 20-, 21- hilfe abgedriftet werden, dann kann man dies mit und 22jährige —, die soeben, im September, die logischen Gesichtspunkten nicht mehr begleiten. Ausbildung beendet haben, letztlich, weil Sozialpläne nicht mit finanziellen Inhalten durch die Unterneh- Ändern Sie also am morgigen Tage Ihre Haltung zur men anläßlich der Politik der Bundesregierung in den Arbeitslosenhilfe! Dazu fordere ich Sie noch einmal letzten Jahren — ich nenne Subventionen außerhalb auf, damit uns nicht das passiert, was wir dann Deutschlands — gefüllt werden können, die Unter- erwarten müßten. Tun Sie uns diesen Gefallen, erfül- nehmen verlassen müssen und arbeitslos werden, und len Sie uns diesen Wunsch, damit wir tatsächlich zu zwar in einem Bereich, in dem schon heute 15 bis 16 % einem Konsens zurückkehren, den wir über Jahr- Arbeitslosigkeit herrschen, und gegenwärtig — ich zehnte zur Befriedung einer Strukturkrise erhalten hoffe, vorübergehend — keine Perspektiven haben. haben; denn wir wollen sie gemeinsam bewältigen. Das wollte ich hier herüberbringen. Ich möchte an (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Sie appellieren, noch einmal darüber nachzudenken, Liste) ob morgen die Entscheidung wirklich in die Richtung gehen soll, Arbeitslosenhilfe zu kürzen und damit das Schicksal vieler junger Menschen vorzuzeichnen. Ich Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- bitte Sie sehr inständig, darüber nachzudenken und che. morgen eine andere Entscheidung zu treffen als die Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Mehrheit des Haushaltsausschusses. Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/5895, den Der Rest meiner Rede geht zu Protokoll.*) Antrag der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/4448 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- Herzlichen Dank. lung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenom- Liste) men. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- Ich darf Ihre Zustimmung Vizepräsident Hans Klein: ordnung. dazu einholen. — Sie ist erteilt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Dann gebe ich dem Kollegen Klaus Beckmann das destags auf morgen, Freitag, 22. Oktober 1993, Wort. 9.00 Uhr- ein. Klaus Beckmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Die Sitzung ist geschlossen. sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ange- (Schluß der Sitzung: 23.37 Uhr)

*) Anlage 7 *) Anlage 7

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15803*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Yzer, Cornelia CDU/CSU 21. 10. 93 entschuldigt bis Zurheide, Burkhard F.D.P. 21. 10. 93 Abgeordnete(r) einschließlich * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Becker (Nienberge), SPD 21. 10. 93 '** für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentari- Helmuth schen Union Berger, Hans SPD 21. 10. 93 Bernrath, Hans Gottfried SPD 21. 10. 93 Dr. Böhme (Unna), SPD 21. 10. 93 Anlage 2 Ulrich Zu Protokoll gegebene Rede Ehrbar, Udo CDU/CSU 21. 10. 93 zu Tagesordnungspunkt 4 Dr. Fischer, Ursula PDS/LL 21. 10. 93 (Große Anfrage: Rüstungsexport-Kontrollpolitik) Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 21. 10. 93 ** Ganschow, Jörg F.D.P. 21. 10. 93 Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die auf Gansel, Norbert SPD 21. 10. 93 Anfrage der SPD vorgelegte Antwort liest sich, als sei Gattermann, Hans H. F.D.P. 21. 10. 93 die Bundesregierung Europameister in der Kontrolle Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 21. 10. 93 des Exports von Rüstungsgütern. Die Tatsachen recht- Genscher, Hans-Dietrich F.D.P. 21. 10. 93 fertigen diesen Eindruck nicht. Abgesehen davon, daß die Bundesrepublik neuerdings auf Platz drei der Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 21. 10. 93 Weltrangliste für Waffenexporteure geführt wird - so Grünbeck, Josef F.D.P. 21. 10. 93 jedenfalls das schwedische SIPRI-Institut-: die Art, in Habermann, Michael SPD 21. 10. 93 der zum Beispiel die Restbestände der NVA verkauft Dr. Holtz, Uwe SPD 21. 10. 93 ** werden, ist nicht gerade als Appell an die Einhaltung Horn, Erwin SPD 21. 10. 93 der Menschenrechte zu verstehen. Ibrügger, Lothar SPD 21. 10. 93 Der Bundesaußenminister verweist zur Begrün- Lattmann, Herbert CDU/CSU 21. 10. 93 dung für die Lieferung von 250 000 Kalaschnikow- Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 21. 10. 93 Gewehren an die Türkei auf deren Versicherung, die Klaus W. aus Deutschland bezogenen Waffen nur gemäß den NATO-Bestimmungen einzusetzen. Jeder, auch Herr Matschie, Christoph SPD 21. 10. 93 ** Kinkel, weiß, daß laut Neuem Strategischem Konzept Dr. Matterne, Dietmar SPD 21. 10. 93 von 1991 auch Terror und Sabotage als Bedrohung des Dr. Müller, Günther CDU/CSU 21. 10. 93 * Bündnisses gelten. Sich darauf berufend, kann die Niggemeier, Horst SPD 21. 10. 93 türkische Armee deutsche Waffen gegen kurdische Raidel, Hans CDU/CSU 21. 10. 93 Dörfer einsetzen. Ein anderes Beispiel: Die zur angeb- Reddemann, Gerhard CDU/CSU 21. 10. 93 * lichen Bekämpfung von Piraten bestimmten 39 NVA- Schiffe für Indonesien sollen nach Angaben der Bun- Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 21. 10. 93 desregierung demilitarisiert werden. Die Zeitschrift Ringkamp, Werner CDU/CSU 21. 10. 93 „Wehrtechnik", gemeinhin nicht als regierungsfeind- Rixe, Günter SPD 21. 10. 93 lich bekannt, weiß das Gegenteil. Die Schiffe eignen Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 21. 10. 93 sich also beispielsweise für Landungsoperationen auf Ingrid Osttimor, wo sie gegen sogenannte Terro risten einge- Schmidt-Zadel, Regina SPD 21. 10. 93 setzt werden könnten. Falls es der Bundesregierung Schuster, Hans F.D.P. 21. 10. 93 an Informationen zur Menschenrechtslage in Indone- sien mangelt, wären wir gern bereit, ihr auszuhelfen. Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 21. 10. 93 Soviel zumindest ist klar: die Gleichstellung Indone- Christian siens mit NATO-Staaten beim Rüstungsexport, die der Dr. Soell, Hartmut SPD 21. 10. 93 ' Bundessicherheitsrat 1985 beschlossen hat, ist unhalt- Spilker, Karl-Heinz CDU/CSU 21. 10. 93 bar. Schon einmal haben Waffenlieferungen aus Dr. von Teichman, F.D.P. 21. 10. 93 NVA-Beständen einen Bundesverteidigungsminister Cornelia das Amt gekostet. Wenn man sich vor Augen hält, daß Vosen, Josef SPD 21. 10. 93 diese Bestände nach wie vor von Personal bewacht Walter (Cochem), Ralf SPD 21. 10. 93 werden, das aus DDR-Zeiten schwer belastet ist, oder Weißgerber, Gunter SPD 21. 10. 93 daß ehemalige hohe KoKo-Chargen jetzt für bekannte westdeutsche Waffenhändler mit traditionellen KoKo Welt, Jochen SPD 21. 10. 93 Verbindungen arbeiten, ließen sich leicht neue Pro- Wetzel, Kersten CDU/CSU 21. 10. 93 gnosen stellen. Die Bundesregierung weiß darüber Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 21. 10. 93 sicher- nicht weniger als wir. Es ist auch kaum vorstell- Wollenberger, Vera BÜNDNIS 21. 10. 93 bar, daß sie nichts über das Auftauchen von 90/DIE T-72-Panzern und MiG-Kampfflugzeugen in Ex-Ju- GRÜNEN goslawien weiß. Es muß also die Frage gestellt wer- 15804* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 den, wie so etwas möglich ist. Wer kontrolliert hier Anlage 3 — beziehungsweise tut dies nicht? Es kann doch nicht sein, daß mehr als 60 Panzer aus staatlichen Bestän- Zu Protokoll gegebene Rede den unbemerkt außer Landes geschafft werden. zu Tagesordnungspunkt 6 (Gesetz über die Berufe des Psychologischen Das Problem erschöpft sich aber nicht in Beispielen Psychotherapeuten und des Kinder- und wie den genannten. Zwar werden die Grenzen für Jugendlichenpsychotherapeuten und zur Änderung Flüchtlinge geschlossen, für den Rüstungsexport aber des Fünften Buches Sozialgesetzbuch) de facto geöffnet. Die deutsche Exportwirtschaft ist ihrem Ziel, den Verschärfungen der Kontrollbestim- Ortwin Lowack (fraktionslos): Eine gesetzliche mungen seit den Rabta- und Irak-Skandalen zu ent- Regelung des Berufs des psychologischen Therapeu- kommen, schon nahe. Fast unverhohlen empfiehlt der ten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Bundesverband des deutschen Exporthandels in der ist gesundheitspolitisch wichtig und grundsätzlich zu FAZ, was bisher als anrüchig galt und in der Vergan- begrüßen. Der vorliegende Gesetzentwurf verfehlt genheit bei illegalen Exporten bereits praktiziert jedoch in wesentlichen Punkten dieses Ziel. wurde: die deutschen Genehmigungsprozeduren 1. Durch die vorgesehene Selbstbeteiligung von durch Gründung einer Niederlassung in EG-Staaten 25 % an den Kosten für Psychotherapie werden nicht mit laxer Kontrolle wie Griechenland oder Portugal zu nur psychisch Kranke gegenüber organisch Kranken umgehen. diskriminiert, sondern vor allem behandlungsbedürf- tige Frauen betroffen: Unter Hinweis auf die mangelnde Bereitschaft — Die Patienten in der Psychotherapie sind überwie- anderer EG-Staaten zur Übernahme der deutschen gend, d. h. zu ca. 60-70 % Frauen. Kontrollvorschriften und auf die Regeln des EG- — Für Hausfrauen bedeutet der Gesetzentwurf eine Binnenmarktes bedauert die Bundesregierung, keine zusätzliche finanzielle Abhängigkeit vom Ehe- Lösung für das Problem der Umgehung nationaler mann. Dadurch wird für viele Frauen der Zugang Kontrollen anbieten zu können. Mehr noch: das Wirt- zur Psychotherapie verbaut. schaftsministerium teilt die Bedenken der deutschen Rüstungsexporteure wegen der Wettbewerbsverzer- Durch die Selbstbeteiligung wird die notwendige rungen als Folge ungleicher Exportkontrollen in der psychotherapeutische Behandlung von schwereren EG, und die Bundesregierung scheint geneigt, dem psychischen Erkrankungen, die einen größeren Druck auf die Lockerung der deutschen Kontrollbe- Behandlungsaufwand erfordern, im Rahmen der stimmungen nachzugeben. gesetzlichen Krankenversorgung in vielen Fällen unmöglich gemacht. Dabei werden die Folgekosten übersehen, die durch Chronifizierung von Krank- Die Tendenz ist unverkennbar: Die Lehren aus den heitsprozessen vermehrte Inanspruchnahme von or- zahlreichen Verwicklungen deutscher Firmen in ganmedizinischen Leistungen, Arbeitsunfähigkeit Skandale um Lieferungen an den Irak und andere etc. entstehen. Staaten geraten in Vergessenheit. Waffen werden weiter in Krisengebiete geliefert, die lange überfällige Die Selbstbeteiligung der Patienten an den Kosten generelle Ächtung von Rüstungsexporten ist im Denk- für Psychotherapie ist kein geeignetes Mittel zur horizont der Bundesregierung überhaupt nicht ent- Kostendämpfung. Zumindest wäre es sinnvoller, die halten. Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt zu ver- schieben, der zeitlich nach der vom Bundesgesund- Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Ten- heitsminister angekündigten „Dritten Stufe der denz umzukehren. Nicht näher definierte nationale Gesundheitsreform" liegt. Es kann über eine Selbst- oder sogenannte „vitale" Interessen können nicht der beteiligung nachgedacht werden, die gleichmäßig auf Maßstab für den Umgang mit dem Export von organisch und psychisch kranke Patienten verteilt Rüstungsgütern sein. Als erster Schritt wäre eine wird, damit eine Diskriminierung und Benachteili- gemeinsame EG-Politik mit Kriterien und Richtlinien gung einer sensiblen Patientengruppe verhindert für den Rüstungsexport notwendig, die sich an der wird. Achtung der Menschenrechte orientieren. 2. Durch den Gesetzentwurf wird die Qualität der Psychotherapie zur Disposition gestellt. Durch die Ganz praktisch könnte die Bundesregierung einiges Übergangsvorschriften werden die in der Kranken- dazu beitragen, in der EG zumindest die technische versorgung bewährten Psychotherapierichtlinien, die Kontrolle der Ausfuhr zu entwickeln, ihre Effizienz zu bisher das Ausbildungsniveau garantierten, praktisch sichern und so zu einer funktionierenden EG-Export- außer Kraft gesetzt. Außerhalb der Psychotherapie- kontrolle zu kommen. Sie könnte helfen, zunächst die richtlinien hat es bisher zu keinem Zeitpunkt kontrol- Standards, über die unter den Mitgliedstaaten Kon- lierbare qualifizierte Psychotherapieausbildungen sens herrscht, so unzureichend sie auch sein mögen, gegeben. Mit dem Gesetzentwurf entsteht die Gefahr, und die Inhalte der kommenden EG-Verordnung daß eine Vielzahl von Diplompsychologen zu Fach- wirksam umzusetzen. Ein Engagement an dieser psychotherapeuten ernannt werden, die nicht ausrei- Stelle ist unbedingt erforderlich. Denn sollte schon chend für die Krankenversorgung ausgebildet sind. diese Minimalkoordinierung nicht funktionieren, Dies ist um so bedenklicher, als künftig der psycholo- würden die deutschen Exportkontrollen reine Maku- gische Psychotherapeut die Indikation zur Psychothe- latur. Und dann würden wir in diesem Haus in rapie stellen soll und der Patient den Erstzugang zum wenigen Jahren Dutzende solcher Fälle wie Rabta Psychotherapeuten haben wird. Die Patienten werden und Irak auf der Tagesordnung haben. künftig aber nicht mehr zwischen qualifizierten und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15805* nicht qualifizierten Psychotherapeuten unterscheiden wicklung der Anzeigebereitschaft sind leider noch können. Es ist deshalb auch nicht einzusehen, warum wenig erforscht. Sicher scheint jedoch zu sein, daß die Ausbildungskriterien der Übergangsvorschrift hierfür neben dem vielgenannten Faktor „Anzeige- nicht an die Anforderungen der Psychotherapiericht- pflicht aus einem Versicherungsverhältnis" eine ent- linien angepaßt werden können. scheidende Rolle spielt, in welchem Maße die Men- schen der Kompetenz und Integrität der Polizei ver- Ich fasse zusammen: Das Psychotherapeutengesetz trauen. Nicht auszuschließen ist hier, etwa aufgrund erfüllt seinen Zweck nicht, wenn es vorrangig den spektakulärer Medienberichte, die Existenz mancher Interessen einer Berufsgruppe nützt, und zwar auf Pauschalbilder über die Ermittler. Jedoch spielen Kosten von psychisch kranken Patienten und insbe- derlei Verallgemeinerungen nach den vorliegenden sondere auf Kosten von Frauen. Deshalb ist eine Untersuchungen für das Verhältnis Bürger — Polizei Korrektur notwendig: Die für die Fachpsychothera- offenbar eine geringere Rolle als vielmehr höchstper- peuten geforderten Ausbildungskriterien müssen an sönliche Erlebnisse und Erfahrungen mit einzelnen die in den Psychotherapierichtlinien geforderten, Polizisten, vielfach im Verkehrsbereich. Insofern hat bewährten Qualifikationsmaßstäbe angepaßt wer- es also die Polizei und jeder Polizeibeamte selbst in den. Dies gilt insbesondere auch für die Übergangs- der Hand, zu einem Vertrauensverhältnis zu den vorschriften. Die Selbstbeteiligung an den Kosten für Bürgern beizutragen, etwa durch ein allzeit angemes- Psychotherapie muß jedenfalls zum jetzigen Zeit- senes Auftreten und Einsatzverhalten aufgrund ent- punkt entfallen, weil sie psychisch Kranke und insbe- sprechender Aus- und Fortbildung. sondere Frauen benachteiligt und gerade kein geeig- netes Mittel zur Kostendämpfung ist. Ich möchte noch auf einen zweiten Umstand bei der Erfassung des Kriminalitätsaufkommens hinweisen, nämlich Schwierigkeiten bei der Registrierung vor allem im Ostdeutschland. Dort wurden seriöse Zäh- lungen vor der Wende aus politischen Gründen nicht Anlage 4 bekanntgemacht. Außerdem sind bestimmte neue Deliktsfelder gerade im Bereich Vermögenskriminali- Zu Protokoll gegebene Rede tät tatsächlich erst nach der Vereinigung aufgrund der zu Tagesordnungspunkt 7 Freizügigkeit marktwirtschaftlicher Bedingungen (Große Anfrage: Sicherheitsbedürfnis der entstanden. Hieraus resultierten anfangs beeindruk- Bevölkerung und Massenkriminalität) kende prozentuale Erhöhungen des Deliktsaufkom- mens. Mit derlei Werten wird inzwischen zum Glück meist etwas vorsichtiger umgegangen, wenn auch Die Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dieser Tage die Bekanntgabe und Bewertung der Polizei hat in den letzten Jahren immer mehr Krimi- Halbjahresstatistik 1993 wieder Anlaß zu kritischer nalität festgestellt. Ebenso oder gar noch mehr hat Nachfrage gibt. Was jedoch vor allem in Ostdeutsch- offenbar die Angst der Bevölkerung vor Straftaten land bis heute fortbesteht — so wage ich zu behaup- zugenommen. Bevor ich ausführe, wie nach unserer ten —, sind gewisse Unsicherheiten bei der Erfassung Auffassung darauf reagiert werden sollte, möchte ich und Einordnung von Kriminalität entsprechend den fragen, wie es zu beidem gekommen ist. Denn nur Vorgaben der KPS. Zum Beispiel gibt es immer noch wenn man bereit ist, die Ursachen und Bedingungen Berichte über polizeiliche Weigerungen, Anzeigen von Kriminalitätsentstehung zu analysieren, bevor entgegenzunehmen, oder aber Beschwerden, Beamte - wohlfeile Lösungen, „Sicherheitspakete", ,,10 hätten trotz Anforderung einfach „weggesehen". Punkte-Programme” u. ä. öffentlich präsentiert wer- den, haben solche Lösungsansätze auch Aussicht zu Ich habe auf diese Faktoren nur beispielhaft hinwei- greifen. sen wollen, um folgendes deutlich zu machen: Wir Bei der Zunahme der festgestellten Straftaten sind haben es bei der polizeilichen Kriminalstatistik sowie sowohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dem dort festgestellten Anstieg der Deliktszahlen zu beachten wie auch die Bedingungen der Krimina- nicht mit einem ge treulichen Abbild der Realität zu litätszählung. Zu beidem einige Anmerkungen. tun, sondern mit einem Zählergebnis, welches auf- grund vielfach untereinander verknüpfter Rahmenbe- Um mit letzterem anzufangen: Ich halte es selbst für dingungen so oder so ausfällt. wahrscheinlich, daß in den letzten Jahren tatsächlich mehr Straftaten begangen wurden. Was aber das Maß Ferner ist dieses Ergebnis — und das ist meine der Zunahme be trifft, muß auch das Dunkelfeld zweite Eingangsbemerkung — natürlich abhängig beachtet werden, also die der Polizei nicht bekannt von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und rea- gewordenen Delikte. Dessen Umfang wiederum giert auf deren Veränderungen sehr sensibel. Auf die hängt zwar auch davon ab, wieviel Personal der Entwicklung der Vermögensdelinquenz in Ost- Polizei zur Verfügung steht, wieviel Beamte zur deutschland nach Einführung von Marktwirtschaft Deliktserforschung auf die Straßen geschickt werden und bürgerlichen Freiheiten hatte ich bereits hinge- können oder mit anderen Aufgaben gebunden sind, wiesen. Ein zweiter bekannter Faktor ist die Öffnung wie gut besoldet, ausgerüstet und motiviert die Beam- der Grenzen mit dem dadurch begünstigten Kriminal- ten sind usw. Wichtiger als all das scheint die Aufhel- tourismus. Dies schlägt sich z. B. nieder in der Ent- lung des Dunkelfeldes jedoch von der Anzeigebereit- -wicklung der Kriminalität rund um Kraftfahrzeuge zu schaft der Bevölkerung abzuhängen, mit Hilfe derer einem Massenphänomen, einem zahlenmäßig ge- die Polizei nach wie vor die deutliche Mehrzahl ihrer wichtigen Aspekt unseres heutigen Themas. Ebenso Ermittlungsansätze erhält. Die Bedingungen und Ent ist es leicht nachzuvollziehen, daß der Boom der 15806* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 letzten Jahre für hochwertige Fahrräder entspre- Als Täter wie als Opfer im Bereich Gewaltkriminalität chende Entwendungsfälle ansteigen läßt, einfach weil muß das Augenmerk aber vor allem den überpropor- hier lohnende Beute winkt. Oder Beispiel Drogen: je tional beteiligten jungen Männern gelten. geringer das Angebot, auch durch polizeiliche Sicher- Alle Maßnahmen der Strafverfolgung und Tatver- stellungen, desto höher der Preis, desto höher der hütung sollen auf die genannten besonders signifi- Geldbedarf für Konsumenten, desto umfangreicher kanten Deliktsbereiche konzentriert werden. die Beschaffungskriminalität. Eine Reihe der heute in Rede stehenden massenhaften Deliktsformen wie Der Verhütung von Straftaten muß künftig noch Handtaschenraub, Wohnungsaufbrüche etc. beruht ja stärkere Beachtung zukommen, nämlich vor allem in erheblichem Umfang auf derlei Dingen. durch intensivere Aufklärung potentieller Tatopfer. Ferner muß — wie bereits angesprochen — den Mit diesen wenigen Aspekten möchte ich darauf Kriminalität begünstigenden sozialen Mißständen hinweisen, in welch starkem Maß die Kriminalitäts- entschieden entgegengewirkt werden, nämlich vor entwicklung nicht allein von der in Parlamenten allem durch jugend-, bildungs- und sozialpolitische beschlossenen Kriminalpolitik im klassisch engen Maßnahmen im weitesten Sinne, gerade auch um Sinne abhängt, sondern von in ganz anderen Berei- vorsorglich auf junge Menschen einzuwirken. chen erfolgten Entwicklungen oder getroffenen poli- tischen Entscheidungen. Daher rege ich an, bei unse- Ferner sind alle Möglichkeiten zur Verringerung rem künftigen politischen Handeln derlei Zusammen- von Tatgelegenheiten auszuschöpfen. Die Antwort hänge noch stärker zu berücksichtigen. Eine wirk- der Bundesregierung auf die Große Anfrage bleibt in same Bekämpfung gerade der Ursachen von Krimina- diesem Bereich recht unbefriedigend. Etwa auf dem lität kann nicht durch polizeiliche Schutzgewähr und Gebiet des Städte- und Bauordnungsrechts scheinen Strafverfolgung geschehen, sondern nur in Verbin- noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu dung mit einer konstruktiven Sozialpolitik im weiten sein. Die von der Bundesregierung genannten forma- Sinne. len Bedenken überzeugen nicht. Zur Verringerung von Wohnungseinbrüchen sollte die Bundesregierung Wenn man sich nun die Struktur der festgestellten der Idee nähertreten, steuerliche Vergünstigungen Straftaten selbst ansieht sowie deren zahlenmäßige für den Einbau von Einbruchsicherungen zu gewäh- Entwicklung, so fällt der Umfang bestimmter Delikts ren. gruppen sogleich auf. Allein die Ladendiebstähle und Die Entwicklung intelligenter technischer Siche- Diebstähle rund um Fahrzeuge machen rund ein rung von Kraftfahrzeugen, Krafträdern und Fahrrä- Drittel aller festgestellten Delikte aus, alle Diebstahls- dern vor Entwendung, Aufbruch und unbefugter In- formen zusammen sogar über drei Fünftel und die gebrauchnahme muß gefördert werden. Da nicht Sachbeschädigungen weitere 10 Prozent. Hinzu absehbar ist, ob und wann einheitliche Regelungen im kommt — zum Teil mit sehr hohen Zuwachsraten — EG-Rahmen zustande kommen, wie die Bundesregie- ein Anteil von etwa 2,5 Prozent ausländerspezifischer rung in ihrer Antwort einräumt, und weil auch ein Straftaten, 2 Prozent meist rein konsumbezogener Erfolg freiwilliger Maßnahmen der Kfz-Indust rie frag- Drogendelikte sowie etwa 1,5 Prozent scheckbezoge- lich ist, müssen verbindliche nationale Regelungen ner Delikte, letztere mit einer beeindruckenden Stei- getroffen werden. Wir werden dazu in Kürze unsere gerung um etwa 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Initiativen vorstellen. Daß gerade Laden- sowie Kfz-Diebstähle zu ca. 10 Prozent und Fälle von Handtaschenraub oder Außerdem sind die Geldinstitute zu effektiveren Wohnungseinbruch jeweils gar zu etwa 20 Prozent Maßnahmen zur Sicherung von Scheckkarten und von Drogensüchtigen als Beschaffungskriminalität -formularen vor unbefugter Verwendung anzuhalten. begangen werden, wobei die Zahlen einschließlich Im Bereich der Falschgeldkriminalität sollten jetzt die der nicht aufgeklärten Fälle noch deutlich höher schon vor Jahren vom BKA geäußerten Warnungen liegen dürften, erfordert baldige Maßnahmen im und Anregungen aufgegriffen werden; insbesondere Bereich der Drogenpolitik. Gebrauchsbeschränkungen und ein Geldkopier- schutz bei Farbkopierern erscheinen notwendig. Demgegenüber fällt der Anteil der Nichtvermö- gensdelikte eher gering aus: voran die einfache Kör- Angesichts hoher Steigerungswerte bei der Ver- perverletzung mit 2,9 Prozent und Gewaltdelikte wendung von Waffen zu Straftaten sind ferner drasti- insgesamt mit etwa konstant 2,4 Prozent. Das bedeutet sche Verschärfungen des Waffenrechts unverzicht- allerdings zugleich eine Steigerung in absoluten Zah- bar. Die Novellierungsvorlage der Bundesregierung len, und natürlich ist hier jede Tat ein Fa ll zuviel. ist überfällig. Auch zu diesem Thema werden wir dem Trotzdem verdienen diese Relationen festgestellt und Haus in der nächsten Woche einen Antrag vorlegen. auch deutlich betont zu werden, da die Gefahr Neben dem Bereich der Prävention ist zu den besteht, daß sich in der Bevölkerung — vermittelt auch Strafverfolgungsmöglichkeiten folgendes zu beden- durch Gewaltdarstellung in den Medien sowie blutige ken. Die Haushaltslage von Bund und Ländern wird Reality shows — ein unzutreffendes Bild über den absehbar weiterhin eng sein. Dies läßt Erweiterungen Umfang der Gefahren durch Delikte gegen Leben und der Strafverfolgungskapazitäten kaum zu. Diese müs- Gesundheit festsetzt. Gerade ältere Menschen über sen somit auf die bedrohlichsten und sozialschädlich- 60 Jahre sind im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungs- sten Kriminalitätsformen konzentriert werden. Ange- anteil von solchen Taten nur gering betroffen, wenn - sichts des herrschenden Legalitätsprinzips kann es man einmal vom Handtaschenraub absieht. Das hierzu hilfreich sein, Strafnormen entfallen zu lassen Opferrisiko muß hier vor allem durch vielfältige Auf- oder zu Ordnungswidrigkeiten herabzustufen: etwa klärungsmaßnahmen weiter herabgesetzt werden. im Bereich der Verkehrsdelikte, des Drogenstraf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15807* rechts, geringfügiger Vermögensdelikte sowie des Ältestenrat bereits Ende Juni 1992 eine unabhängige Staatsschutzstrafrechts. Hierdurch würden zugleich Sachverständigenkommission eingesetzt. Diese Kom- weniger Menschen dem Stigma einer Kriminalstrafe mission hatte das Ziel, die geltenden Regelungen für ausgesetzt, und intelligenten Sanktionsformen wie Abgeordnete umfassend zu prüfen und Vorschläge zu dem Täter-Opfer-Ausgleich könnte mehr Raum eröff- machen, um der andauernden und immer stärker net werden. Eine solche Reduzierung von überzoge- werdenden Kritik am Abgeordnetenrecht entgegen- nen Strafnormen ist zusammen mit der Beseitigung zukommen. Hauptursache für die Einsetzung dieser bestehender Vollzugsrückstände das Gebot der Kommission waren insbesondere die Diskussion über Stunde, und nicht die Schaffung zusätzlicher symbo- Versorgungsbezüge von Ministerpräsident Lafon- lischer Normen! taine und anderen Landesministern, die erheblichen rechtlichen Bedenken ausgesetzt waren. Darüber hin- Auch zu all diesen Aspekten werden wir im kom- aus ist die Diskussion verstärkt worden durch die menden Monat eine Reihe von umfassenden Initiati- Versorgungsfälle von Herrn Kollegen Vogel und ven vorstellen. Herrn Kollegen Klose, die rechtlich nicht zu beanstan- Die Polizeibeamten müssen von vollzugsfremden den sind. Aufgaben (etwa im Personen- und Objektschutz, bei der Transportbegleitung und Verkehrsüberwachung) Daß die Kommission eine nicht einfach zu lösende sowie reinen Verwaltungstätigkeiten (vor allem im Aufgabe hatte, läßt sich daran ablesen, daß das Bereich der Massenkriminalität) entlastet werden, die Ergebnis in Form eines Berichtes nicht wie vorgese- auf Angestellte sowie auf andere Fachbehörden über- hen bereits Ende des Jahres 1992 vorgelegen hat. tragen werden können. Auch ist zu überprüfen, wel- Selbst der hohe Sachverstand mußte länger diskutie- che Aufgaben von privaten Sicherungsunternehmen ren, als es mancher Bürger erwartete. Tatsächlich übernommen werden können. Deren Mitarbeiter sind wurde der Bericht erst am 3. Juni dieses Jahres einer intensiveren Zuverlässigkeits- und Sachkunde übergeben. Überprüfung zu unterziehen. Darm ist für den Einsatz Das Bündel von Vorschlägen wird seit Sommer 1993 derartiger Sicherungskräfte durchaus Raum und in der Rechtsstellungskommission des Ältestenrates Bedarf, ohne daß die primär staatliche Aufgabe der erörtert. Aufgrund des von uns nicht zu verantworten- Schutzgewährung in Frage gestellt würde. den späten Zeitpunktes der Vorlage und der vorge- Ferner sind durch Überprüfungen vor allem des schlagenen umfangreichen strukturellen Änderun- Organisationsablaufs, des Personalschlüssels, des gen, die zu jährlichen Mehrkosten in Höhe von ca. Aufgabenprofils sowie durch eine intensivere Verzah- 30 Millionen DM führen würden und die wir in der nung von Schutz- und Kriminalpolizei, Polizeidienst- derzeitigen Haushaltslage nicht vertreten konnten, stellen in den Stand zu versetzen, mehr Kräfte für den halten es die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Außendienst abzustellen, auch um das Sicherheitsge- der SPD für unmöglich, zum gegenwärtigen Zeitpunkt fühl der Bevölkerung zu heben. — sozusagen als Schnellschuß — Gesetzgebungsvor- schläge zu machen, die bereits mit Beginn der kom- Besonders in Ostdeutschland müssen zusätzliche menden Legislaturperiode in Kraft treten können. Anstrengungen zur angemessenen personellen und sachlichen Ausstattung der Strafverfolgungsbehör- Hinzu kommt ein erheblicher Beratungsbedarf in den unternommen werden. Auch besoldungsmäßig den zuständigen parlamentarischen Gremien des sind die Voraussetzungen für eine zügige Stellenbe- Bundestages. Es ist die Anhörung externer Sachver- setzung sowie erfolgreiche Nachwuchsgewinnung zu ständiger geplant, und es soll eine Stellungnahme der schaffen. Besonderes Augenmerk ist auch auf eine Länderparlamente eingeholt werden. beständige Anpassung der polizeilichen Aus- und Dies ist aber nicht der einzige Punkt, bei dem an der Fortbildung an neue Aufgabenanforderungen zu rich- Umgestaltung der politischen Rahmenbedingungen ten. unserer Demokratie gearbeitet wird. In dieser Woche Ich hoffe, daß insbesondere die CDU/CSU ihrer hat die Anhörung des Deutschen Bundestages zur erkennbaren Versuchung widersteht, diese Fragen in Reform des Parteienfinanzierungsgesetzes stattge- einen Wahlkampf der Angst zu tragen. Denn sonst funden. Der vorliegende und interfraktionell abge- würde sie dem Bemühen, daß die Bürgerinnen und stimmte Entwurf setzt nach übereinstimmender Auf- Bürger sich wieder sicherer vor Kriminalität fühlen fassung die Vorgaben des Bundesverfassungsgerich- können, schweren Schaden zufügen. tes zur Parteienfinanzierung um. Das Verfassungsge- richt hatte die eigenständige Finanzierung des Staates für Parteien und damit die gesellschaftlich wichtige Funktion von Parteien in der Gesellschaft anerkannt. Die Beschränkung der Ausgaben auf das finanziell Gebotene erfolgt im Gesetzentwurf gleichwohl. Kritik Anlage 5 am Gesetzentwurf kommt lediglich von den Seiten, die dem Parlament fundamental-kritisch gegenüber- Zu Protokoll gegebene Reden stehen. Man darf allerdings von dem Parteienfinan- zu Tagesordnungspunkt 8 zierungsgesetz auch nicht Dinge erwarten, die das (Sammelübersicht 100 zu Petitionen) Bundesverfassungsgericht nicht vorgegeben hat. Das Verfassungsgericht- spricht nicht davon, daß den Par- Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wie alle hier anwe teien finanziell „der Hahn abzudrehen" sei, sondern senden Kolleginnen und Kollegen sicherlich wissen, erkennt ausdrücklich die unverzichtbare, demokra- hat die Bundestagspräsidentin im Benehmen mit dem tiefördernde Funktion von Parteien an. Das Verfas- 15808* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 sungsgericht fordert nicht von jedem Parteimitglied, Bruttobezüge ihrer aktiven Kolleginnen und Kolle- im „Büßergewand" aufzutreten; das Gegenteil ist gen? eher richtig. Wer hohe Maßstäbe an die Glaubwürdigkeit von Ein drittes Vorhaben, das wir derzeit beraten, ist das Politikern und Politik stellt, muß diese auch gegen sich Fraktionsgesetz. Mit dieser Vorlage wird die Gleich- gelten lassen. Die Frau Hamm-Brücher scheitert an stellung, die Aufgaben, die Finanzierung sowie die den von ihr selbst gesetzten Kriterien. Rechnungslegung der Fraktionen im Deutschen Bun- destag und die Kontrolle der Verwendung der den Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): In der Sammel Fraktionen zur Verfügung stehenden Mittel durch den übersicht 100 des Petitionsausschusses sollen durch Bundesrechnungshof gesetzlich geregelt. Wir tragen den Deutschen Bundestag 77 Petitionen abgeschlos- damit einer wiederholt erhobenen Kritik Rechnung. sen werden. Hierbei wurden 7 Petitionen zum Sach- Der Gesetzentwurf dient der Transparenz, wenn die gebiet „Staatliche Organisa tion" eingereicht, die staatlichen Leistungen an die Fraktionen dem Grunde nach Prüfung durch den Petitionsausschuß abge- und der Art nach statt wie bisher im Haushaltsplan schlossen werden sollen. Die Pe tition Bürgerbegeh- aufgrund eines besonderen Verfahrens, was wir in das ren 92 — „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" Abgeordnetengesetz hineinschreiben wollen, gesetz- gewinnt dadurch zusätzlich an Bedeutung, daß sie lich geregelt werden. Dabei wird auch die Mittelver- durch eine Massenpetition mit 51 000 Unterschriften wendung und die Rechnungslegung und die Kontrolle unterstützt wurde. Das Begehren der Petenten — ins- der Fraktionsmittel in einem klaren Verfahren gere- zeniert durch das Präsidium der Steuerzahler — gelt werden. Auch diesen Gesetzentwurf beraten wir besteht in der Aufforderung der verantwortlichen derzeit in den Fraktionen. Viertens verweise ich auf Politiker in den politischen Parteien und Parlamenten, den Gesetzentwurf, mit den strafrechtlichen Vor- bei der Selbstbewilligung eigener Zuschüsse und schriften im Zusammenhang mit der sogenannten Subventionen insbesondere folgende Maßnahmen zu Abgeordnetenbestechung. beschließen und folgende Reformen einzuleiten, wie Diese Angaben waren notwendig, um sich jetzt der u. a. on sowie der Petentin im Besonderen zuwenden Petiti — Sämtliche Zahlungen an Parteien, Fraktionen, zu können. Das Bürgerbegehren, das von der ehema- Parteistiftungen ebenso die Abgeordneten- und Mini- ligen Kollegin Hamm-Brücher mitinitiiert worden ist, sterbezüge sollen sofort — bis zu einer grundsätzli- ist ein Beitrag zur Diskussion der Vorhaben, die ich chen Neuordnung — um 5 % gekürzt werden. eben beschrieben habe. — Alle Vergütungen, steuerfreien Entschädigungen Es ist beileibe nicht der erste, nicht der umfassend- und sonstige Einkünfte von Abgeordneten sollen ab ste und nicht der am meisten qualifizierte Beitrag zu 1993 durch eine Kommission unabhängiger, vom unserer Diskussion. Als im Juni 1992 das Bürgerbe- Bundespräsidenten berufener Persönlichkeiten fest- gehren den Petitionsausschuß erreichte, hatten die gesetzt werden, wie es schon jetzt § 18 VIII Parteien- beschriebenen Diskussionen bereits begonnen. Die gesetz vorsieht. Petition hat eine herausragende Sonderbehandlung gegenüber anderen Petenten erfahren, indem Frau — Gleiches gilt für die Zuschüsse an Fraktionen und Hamm-Brücher die Möglichkeit gegeben worden ist, parteinahe Stiftungen. Ihre Verwendung soll — so die sie den Berichterstattern persönlich zu übergeben. Petenten — der Kontrolle des Bundesrechnungshofes Wir haben die Vorschläge in mehreren Diskussions- unterliegen. runden geprüft und die Pe tition abgeschlossen. Zum — Die Wahlkampfkostenerstattung wird nur nach Teil waren die Anliegen bereits erfüllt, zum Teil tatsächlich abgegebenen Stimmen bemessen und konnten wir uns ihnen nicht anschließen. nicht mehr auf der Basis der Zahl der Stimmberech- Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines möchte ich tigten. Bei einer Neuordnung der Parteienfinanzie- deutlich sagen: Ich war schon einigermaßen erstaunt, rung soll dem Bürger selbst die Entscheidungsfreiheit, wie sich Frau Hamm-Brücher — übrigens nicht nur im z. B. durch Kennzeichnung auf dem Stimmzettel, Zusammenhang mit dieser Bürgerpetition gegen- gegeben werden, ob und welcher Partei seine Wahl- über diesem Parlament und in der Öffentlichkeit kampfkostenerstattung zufließen soll — so die Forde- verhalten hat! rung der Petenten. Wie verträgt es sich, wenn eine Talkshow-bekannte Das Grundanliegen der Petition ist berechtigt und Parteienkritikerin für eine Partei aus rein parteitakti- wird vom Petitionsausschuß des Deutschen Bundesta- schen Gründen die Präsidentschaftskandidatin abge- ges sehr ernst genommen. Kritisch muß aber die ben möchte? Annahme der Petenten gesehen werden, daß die vielerorts feststellbare Skepsis gegenüber der Politik Wie vertragen sich die Forderungen von Frau und deren Repräsentanten nur in den Regelungen zur Hamm-Brücher an den Kanzler vom Sommer 1989: finanziellen Ausstattung der Abgeordneten begrün- „Keine DDR-Bürger mehr in die Vertretungen zu det ist. Die Parteien- und Politikverdrossenheit hat lassen, da sie Geister seien, die wir nicht mehr so sicherlich komplexere Zusammenhänge, als daß sie schnell loswerden! " mit dem Versuch, Präsidentin des nur auf die Diäten der Abgeordneten bzw. Entloh- dennoch wiedervereinten Deutschland zu werden? nung der Regierungsmitglieder zu reduzieren wäre. Wie verträgt es sich, wenn eine Kritikerin der - In diesem Zusammenhang müßte man auch einmal Versorgungsansprüche von Politikern, selbst als Ver- nach der Vergütungshöhe der Präsidiumsmitglieder sorgungsbezugsempfängerin netto — dem Verneh- des Bundes der Steuerzahler fragen dürfen. Aber dies men nach — ähnlich hohe Bezüge empfängt wie die werden wir nicht hinterfragen, da das Problem zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15809* ernst ist. Sicher haben die Politiker die Entscheidung zielle Beiträge leisten, sondern im Gegenteil, im Laufe zu Sachthemen über die parteilichen Auseinanderset- der 12. Wahlperiode bereits zweimal ihre Bezüge zungen zu stellen. Unsere Menschen müssen erken- selbst erhöht haben. nen und transparent vermittelt bekommen, warum in Die Abgeordnetengruppe PDS/Linke Liste unter- unserer Zeit im Sinne unserer Gesellschaft auch stützt das Anliegen, die finanzielle Ausstattung der unbequeme Entscheidungen ge troffen werden müs- Arbeit der Abgeordneten zu reformieren! sen. Diese Entscheidungen müssen aber alle verant- wortlichen Politiker gemeinsam tragen und sich in Die in den Petitionen angesprochene Problematik diesem Prozeß nicht gegenseitig vorführen. der Parteienfinanzierung neu zu regeln, halten wir ebenfalls für dringend. Wir unterstützen die Vor- Zu den von den Petenten angegebenen 7 Begehren schläge der unabhängigen Parteienkommission und einer eingeforderten Reform wurden zum Teil bereits hoffen, daß nach der Anhörung im Innenausschuß es durch eine vom Bundespräsidenten einberufene Kom- noch zu weiteren Änderungen des vorliegenden mission zur Parteienfinanzierung und die von der Gesetzentwurfes in Richtung dieser Vorschläge Bundestagspräsidentin einberufene unabhängige kommt. Kommission zur Überprüfung des gesamten Abgeord- netenrechts Stellung genommen. Es liegt nun daran, Richtig ist, z. B. bei der Wahlkampfkostenerstattung die Vorstellungen der Kommissionen transparent zu nur noch die Zahl der tatsächlich abgegebenen Stim- machen. Ebenso muß darauf verwiesen werden, daß men in Rechnung zu stellen. Die staatliche Bezuschus- ein Referentenentwurf zum Fraktionsgesetz, das die sung der Parteien über Mitgliedsbeiträge halten wir Rechtsstellung, Aufgaben, Finanzierung sowie die für möglich, können hier jedoch nicht verstehen, Pflicht zur Rechnungslegung der Fraktionen im Deut- wieso die einzelne Mitgliedsmark und Spendenmark schen Bundestag und die Kontrolle der Verwendung gezählt werden soll, denn nur die Beachtung der der den Fraktionen zur Verfügung stehenden Mittel realen Zahl der Mitglieder einer Partei kann ja wohl durch den Bundesrechnungshof gesetzlich regeln soll, Gradmesser ihrer gesellschaftlichen Verankerung zu einer anstehenden Beratung vorliegt. sein und nicht die Höhe der von ihnen geleisteten Beiträge. Da die wesentlichsten Begehren der Petenten bereits geregelt sind bzw. vor der Beratung und Wie sie wissen, ist die PDS ja dank der Verzöge- Festlegung stehen, wird empfohlen, die Pe tition abzu- rungspolitik der Treuhand als derzeit einzige Partei im schließen. Bundestag in der Situation, nur mit den von ihr eingenommenen Mitgliedsbeiträgen und Spenden zu wirtschaften. (PDS/Linke Liste): Mit der Sammel- Dr. Barbara Höll Die Unterstützung der politischen Bildungsarbeit übersicht 100 zu Pe titionen wurden dem Deutschen von Parteien halten wir prinzipiell für notwendig, Bundestag tausende Unterschriften im Bürgerbegeh- doch gerade hier wäre tatsächliche Transparenz und ren 1992 übergeben, mit denen, vom Bund der Steu- auch Gleichbehandlung der Parteien notwendig. erzahler initiiert, viele Bürgerinnen und Bürger ihre Forderungen an die Politik, an Transparenz, Beschei- Die PDS erhält bekanntlich bisher keinerlei staatli- denheit und Rückbesinnung Ausdruck verliehen. che Unterstützung für ihre parteinahe Stiftung. Die Politikverdrossenheit in Teilen der Bevölkerung Wir verstehen das Anliegen der Pe titionen und resultiert sicher nicht ausschließlich aber auch aus werden weiter versuchen, dies im Bundestag einzu- dem Bild, das Politikerinnen und Politiker inzwischen bringen. in der Öffentlichkeit haben. Und ehrlicherweise muß man konstatieren, daß dies eben auch in der Arbeits- weise, dem System der Vergütung der politischen Tätigkeit und dem System der Parteienfinanzierung geschuldet ist. Gerade weil Politikerinnen und Politi- Anlage 6 ker selber über die Höhe ihrer Bezüge, die Zahlungen an Fraktionen und Parteien entscheiden können und Zu Protokoll gegebene Reden müssen, stehen wir in besonderer Verantwortung zu Tagesordnungspunkt 9 gegenüber der Bevölkerung. Es gilt, den Auftrag des (Sammelübersicht 115 zu Petitionen) Grundgesetzes an die Parteien, bei der politischen Willensbildung mitzuwirken, glaubwürdig zu erfül- Birgit Homburger (F.D.P.): Am 12. November 1991 len. Dafür sind Transparenz und Selbstbescheidung kam es in Dili (Ost-Timor) zu einem Massaker, bei unerläßliche Voraussetzungen. Politische Diskussio- dem durch Übergriffe des indonesischen Militärs eine nen über Sozialmißbrauch, Lebens- und Wochenar- nicht genau bekannte aber große Zahl von Zivilisten beitszeitverlängerungen trotz Millionen von Men- ermordet wurde. Diese scheußliche Tat hat auch in der schen, denen es verwehrt ist, sich ihren Lebensunter- Bundesrepublik Deutschland Bestürzung ausgelöst halt selbst zu erarbeiten, ständigen Steuererhöhun- und deutlich gemacht, wie schwierig die Lage in gen mit gravierenden Auswirkungen gerade bei Ost-Timor nach wie vor ist. Die Bundesregierung hatte Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen und mas- unmittelbar nach den Vorkommnissen in Ost-Timor sivem direktem Sozialabbau und moralische Appe lle bei der indonesischen Regierung interveniert und die an die Opferbereitschaft aller Menschen müssen die -Zwischenfälle scharf verurteilt. Sie forderte eine Menschen als Verhöhnung empfinden, solange eben gründliche und objektive Aufklärung der Vorkomm- gerade Abgeordnete z. B. des Bundestages als Bezie- nisse und begrüßte, daß die indonesische Regierung her hoher Einkommen kaum selbst persönlich finan in diesem Zusammenhang einen Untersuchungsaus- 15810* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 schuß eingesetzt hat. Vor allem die Tatsache, daß die Jemandem, der wie wir in einem demokratischen indonesische Regierung erstmals eine Untersu- Rechtsstaat lebt, fällt es schwer zu akzeptieren, daß chungskommission einsetzte, gab zu der Hoffnung man die Einhaltung der Menschenrechte in anderen Anlaß, daß die indonesische Regierung an einer Ländern nicht unmittelbar erzwingen kann. Es muß in rückhaltlosen Aufklärung der Vorkommnisse interes- jedem einzelnen Fall entschieden werden, wie vorge- siert war. Die Bundesregierung hat im Verlauf die gangen wird. Dabei ist der diplomatische Weg und der Ergebnisse dieser Untersuchung kritisch begleitet. Versuch der Einwirkung auf andere Regierungen in bilateralen Gesprächen sowie in Gesprächen interna- Der Petent kritisiert, daß im Rahmen der Untersu- tionaler Organisationen mit solchen Regierungen der chungen und Gerichtsverfahren in Indonesien unter- längere, aber oft erfolgversprechendere. Diesen Weg schiedliche Urteile gegen Zivilisten und die zur Ver- hat die Bundesregierung in diesem Falle — auch im antwortung gezogenen Militärs gesprochen wurden. Sinne der Menschen in OstTimor — eingeschlagen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion teilt genau wie die Dies ist wichtig und richtig, denn wenn durch schnelle Bundesregierung die Sorge des Petenten über die weitreichende Sanktionen hier ein Signal der Kon- Diskrepanz bei den genannten Urteilen. In Gesprä- frontation gegeben worden wäre, wären auch zu chen mit den Partnern in der europäischen Gemein- Lasten der Menschen dort sämtliche Wege politischer schaft, die diese Diskrepanz ebenfalls mit Sorge Einflußnahme verstellt gewesen. sehen, wurde zum ersten Mal bereits einen Tag nach dem Massaker und nochmals kurz darauf eine Stel- Abschließend stelle ich fest, daß die Bundesregie- lungnahme der Außenminister der EG-Staaten abge- rung international auf die Einhaltung der Menschen- geben, in der nicht nur die ungerechtfertigte Gewalt- rechte massiv drängt und dies in geeigneter Form anwendung durch das indonesische Militär scharf auch anderen Regierungen zum Ausdruck bringt. verurteilt wurde, sondern auch eine unparteiische und Dieses Vorgehen hat die volle Unterstützung der unabhängige Untersuchung der Vorkommnisse durch F.D.P.-Fraktion. Ich bitte daher, das Petitionsverfah- Sachverständige gefordert wurde. Dazu gab es ren im vorliegenden Fall abzuschließen. Gespräche zwischen den Vereinten Nationen und der EG-Präsidentschaft in New York. Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung weiß auch um die schwierige Am 12. November 1991 fand in Dili in OstTimor ein Situation in Indonesien und hat in den vergangenen Massaker statt. Das indonesische Militär erschoß nach Jahren versucht, einen permanenten Dialog mit der Angaben von Watch Indonesia mehr als 200 Men- indonesischen Regierung zu führen mit dem Ziel, schen, die sich an der friedlichen Trauerfeier zum auch in Indonesien/Ost-Timor auf die Einhaltung der Gedenken der Erschießung eines jugendlichen Timo- Menschenrechte zu drängen. Dabei wurde vor allem resen durch das indonesische Militär beteiligt hatten. im vorliegenden Fall massiver Druck von der Bundes- Der Bericht der offiziellen Untersuchungskommission regierung auf die indonesische Regierung ausgeübt. hält die Zahl von 50 Personen für am wahrscheinlich- Von Sanktionen gegenüber der indonesischen Regie- sten, obwohl sie zugibt, die genaue Zahl der Opfer rung wurde abgesehen, da die Bundesregierung der nicht feststellen zu können. Auffassung war, besser in bilateralen Kontakten und Zu Recht beklagt der Petent, der sich an den auch über die EG sowie den UN-Generalsekretär die Deutschen Bundestag mit einer Eingabe gewandt hat, indonesische Regierung zur Einsicht zu bewegen und die unterschiedlichen Maßstäbe, die bei der Verurtei- die Einhaltung der Menschenrechte zu erreichen. lung der Verantwortlichen angelegt worden sind. Dabei gab es in der Vergangenheit immer wieder Auch die Bundesregierung und die EG haben nach kleine Fortschritte, und die Bundesregierung hatte eigenen Aussagen die „Diskrepanz zwischen den berechtigten Anlaß zur Hoffnung, daß ihre Interven- Urteilen gegen Zivilisten und jenen gegen zur Verant- tionen zu einem Meinungswandel bei der indonesi- wortung gezogenen Militärs" mit Sorge beobachtet. schen Regierung führen. Diese Rechtsprechung verdeutlicht einmal mehr das Mit dieser Einstellung, die auch der Petitionsaus- Demokratieverständnis der indonesischen Regierung schuß des Deutschen Bundestages bei Behandlungen und ihre Mißachtung der Menschenrechte. in der Vergangenheit immer wieder teilte, da er zum Welche Konsequenzen zieht nun die Bundesregie- Ergebnis kam, daß ein Wirtschaftsboykott als Mittel rung, die immer wieder auf ihre Kriterien verweist, der Konfrontation sämtliche Wege politischer Einfluß- wonach angeblich die Entwicklungshilfe an die Ein- nahme verschließen würde, ist der Petent nicht ein- haltung der Menschenrechte gebunden sei? Der Peti- verstanden. Der Petent fordert von der Bundesregie- tionsausschuß hat „abgestufte Maßnahmen — von der rung, aktiv für den Schutz der Menschenrechte in regelmäßigen Ansprache der Probleme gegenüber Indonesien/Ost-Timor einzutreten, und forde rt in die- der betroffenen Bevölkerung bis zur Einschränkung sem Zusammenhang die Einführung von Sanktionen. der Entwicklungs- und wirtschaftlichen Zusammenar- Diese Forderung wurde, wie eben schon gesagt, beit" empfohlen, um positiv auf die demokratische weder von der Bundesregierung noch vom Peti tions- Entwicklung der betreffenden Länder einzuwirken ausschuß geteilt. und die Menschenrechte zu fördern. Die F.D.P.-Fraktion hat großes Verständnis dafür, Wie kommt es dann, daß trotz der nachweislichen daß angesichts von Menschenrechtsverletzungen in und fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen Indo- der Welt viele Bürgerinnen und Bürger hierzulande nesien noch immer zu den 10 größten Empfängerlän- enttäuscht sind über die geringen Einflußmöglichkei- dern in der bilateralen finanziellen und technischen ten der Bundesrepublik oder anderer souveräner Zusammenarbeit gehört? Im Rahmen des Dreijahres- Staaten genauso wie der Europäischen Gemeinschaft. programms der Ausstattungshilfe 1991-1993 wurden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15811* für Indonesien insgesamt 2,2 Millionen als allgemeine bemerkbar, die gegen eine zwangsweise Überstül- Polizeihilfe bereitgestellt. Nach Meinung der Bundes- pung westlicher Menschenrechtsideale auf nichtwest- regierung war die bisherige Zusammenarbeit mit der liche Gesellschaften protestieren und sich Einmi- indonesischen Polizei im Ausbildungsbereich gut. schungen in die inneren Angelegenheiten verbitten. Folgerichtig hindert auch ein solcher „Zwischenfall" Offen bleibt die Frage, nach welchem Menschen- wie das Massaker in Dili die Bundesregierung nicht an rechtsideal sich das Brechen von Gliedmaßen, das der Kollaboration mit Indonesiens Polizeigangstern. Ausreißen von Fingernägel und das Totschlagen Min- Das jüngste beschämende Beispiel sind die insge- derjähriger rechtfertigen läßt (AI 93 S. 234). samt 39 Kriegsschiffe, die aus den ehemaligen NVA- Als Reaktion darauf ist im amerikanischen Kongreß Beständen an Indonesien verkauft wurden. An der auf Initiative von Abgeordneten beider Parteien eine offiziellen Darstellung, die Schiffe sollten zur Gesetzesvorlage anhängig, die beabsichtigt, zukünf- Bekämpfung der Pirate rie eingesetzt werden, zwei- tige amerikanische Waffenlieferungen an die Men- feln nicht nur Menschenrechtler, sondern auch Ver- schenrechtslage in Indonesien zu binden. Die indone- treter des Militärs. Sie halten die vollbewaffneten sische Regierung scheint allerdings ihrerseits die U-Jagdschiffe als völlig ungeeignet, urn kleine, wen- Signale richtig zu deuten, die sie aus Deutschl and und dige Schmugglerboote zu verfolgen. In der Zeitschrift anderen europäischen Ländern erhält. Anläßlich der „Wehrtechnik" heißt es, daß die Schiffe — entgegen wachsenden Spannungen mit dem traditionellen Ver- offiziellen Angaben — nicht demilitarisiert werden, bündeten USA über Menschenrechtsfragen wird der sondern ganz legal mit aller Bewaffnung übergeben indonesische Verteidigungsminister (Sudratjat) mit werden. der Äußerung zitiert, man werde „Verteidigungsaus- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann sich der Beurtei- rüstung in Europa kaufen, wenn amerikanische Ver lung des Petenten nur anschließen. Das Massaker am käufe mit Menschenrechten, insbesondere in Ost- 12. November 1991 war nur ein trauriger Höhepunkt Timor, verknüpft würden" (Fernseh- und Hörfunk in einer nicht abreißenden Kette von Menschenrechts- piegel 11. 10. 93). verletzungen und massiven militärischen Angriffen Noch ist der Aufschrei über den Verkauf von auf die ehemalige portugiesische Kolonie Osttimor Kriegsschiffen an Indonesien nicht verstummt, da und Westpapua. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verur- bereitet die Indonesische Armee bereits eine neue teilt die nachsichtige Politik der Bundesregierung Einkaufstour vor. Diesmal sollen sechs schnelle Batail- gegenüber dem indonesischen Terrorregime und for- lone ausgerüstet werden. Die Gesandtschaften zu dert sie auf, endlich ihren so oft proklamierten eigenen diesem Zwecke sollen sich in naher Zukunft nach Ansprüchen gerecht zu werden. Deutschland, Frankreich und Großbritannien aufma- chen. Dr. Ruth Fuchs (PDS/Linke Liste): Das vorliegende Angesichts dieser zynischen Manipula tion und Petitionsverfahren mit der Forderung an die Bundes- angesichts des wiederholten Bekenntnisses der Bun- regierung, sich aktiv für die Durchsetzung der Men- desregierung zu den Menschenrechten erwarten wir schenrechte in Indonesien/Ost-Timor einzusetzen, endlich entschiedenere Reaktionen der Bundesregie- kann zwar heute, wie vorgeschlagen, abgeschlossen rung auf diese unerträgliche Situa tion. werden, ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß massive Menschenrechtsverletzungen in dieser sen- Das Petitionsverfahren mag heute mit den Stimmen siblen Region weiter auf der Tagesordnung stehen. der Regierungsfraktion abgeschlossen werden, die Probleme aber bleiben. Der Änderungsantrag der Auf eine Anfrage der PDS/Linke Liste von Anfang SPD-Fraktion wird daran nicht viel ändern. Die Bun- 1992 über die Lage in Ost-Timor antwortete die desregierung muß endlich konsequente Schritte Bundesregierung seinerzeit, die Lage der Menschen- unternehmen, welche die Gewährung der Menschen- rechte habe sich seit Oktober 1991 gebessert, sie sei rechte in Ost-Timor tatsächlich befördern. aber „letztlich noch nicht befriedigend". Was heißt „nicht befriedigend"? Das ist einfach zu nichtssagend. Diese Feststellung steht außerdem im eklatanten Widerspruch zu fortgesetzten Berichten unabhängi- ger Menschenrechtsorganisationen, zuletzt im Juli Anlage 7 1993 Amnesty International, die von anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen nicht nur in Zu Protokoll gegebene Reden Ost-Timor, sondern auch in Aceh und Irian Jaya zu Tagesordnungspunkt 10 berichten. Allein in Aceh sollen seit 1989 nach vor- (Antrag: Ausrufung der manifesten Krise für den sichtigen Schätzungen etwa 2 000, nach anderen bis Stahlmarkt in der Europäischen Gemeinschaft) zu 20 000 Menschen der Gewalt der indonesischen Armee zum Opfer gefallen sein. In Ost-Timor, das seit 1975 von Indonesien völkerrechtswidrig besetzt Dr. Ruprecht Vondran (CDU/CSU): Er muß den gehalten wird, liegt die Zahl der Opfer wahrscheinlich Marktzugang frei halten. Neue Kräfte, junge Ideen, um ein mehrfaches höher. Folter, Vergewaltigung und frisches Kapital, verbesserte Technik, fortschrittliche willkürliche Hinrichtungen sind an der Tagesord- Produkte müssen eine Chance haben. Dies ist — auch nung. --sbeim Stahl — gegeben. Auf internationalen Menschenrechtsforen macht Aber auch die Marktaustrittsbarrieren müssen nied- sich die indonesische Regierung zudem seit geraumer rig liegen. Wer nicht mehr mithalten kann, schlechte Zeit als einer der prominenteren Sprecher der Staaten Erzeugnisse anbietet oder zu teuer produziert, muß 15812* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 ausscheiden. Hier nun liegt das Problem der Stahlin- Und schließlich ist bekannt, daß zwischen der dustrie. Tschechischen Republik, die so schnell wie möglich Zugang zum Gemeinsamen Markt sucht, und der Die Marktaustrittsbarrieren sind immer höher gezo- Europäischen Kommission über Ausbaupläne in Höhe gen worden. Die Politiker sind regelmäßig mit Geld von weiteren 2,5 Millionen t Warmbreitband gespro- bei der Hand, wenn ein Unternehmen in die Verlust- chen wird. zone gerät, ihm der Atem ausgeht. Auch unsere Insolvenzgesetze stützen den, der fällt: Die Gläubiger Entkleidet man die bekanntgewordenen Vor- verlieren ihr Geld. Schlimmstenfalls wechseln die schläge und Entscheidungsentwürfe von den sie Eigentümer. Die Betriebe laufen weiter. Im Einzelfall begleitenden wortgewaltigen Erklärungen, so bleibt ist das wohltuend, lindert Schmerzen. In der Summe folgende Feststellung: begründet dies das Elend der Branche: Neue Kapazi- Die groß angekündigten Kapazitätsschnitte sind täten können hinzutreten, alte aber läßt man nicht Lufthiebe, nicht mehr. Eine nennenswerte Marktbe- sterben. reinigung findet nicht statt. Die Überkapazitäten wer- den sogar noch wachsen. Der deutschen Stahlindu- In Brüssel stehen nach quälendem Zögern nun strie wird zugemutet, gegen finanziell rundüberholte Entscheidungen an. Am 18. November soll der Mini- und mit öffentlichem Geld auch technisch gestärkte sterrat über Vorlagen der Europäischen Kommission Konkurrenten anzutreten. Das alles geschieht im entscheiden. Dazu die Eckzahlen: Die Kapazitätssta- europäischen Namen und im Namen der Chancen- tistik weist im kritischen Bereich Warmbreitband gleichheit. 76 Millionen t Kapazität aus. 1993 werden voraus- sichtlich nur 55 Millionen t produziert und abgesetzt Ich kann mir nicht vorstellen, daß der deutsche werden. Für bessere Jahre braucht man etwas Spiel- Wirtschaftsminister den 16 Milliarden DM allein für raum. Aber 10 Millionen t Jahrestonnen sind nach Italien und Spanien zustimmt, ohne eine angemes- gemeinsamem Urteil von Politik und Indus trie auf sene Marktbereinigung einzufordern. Er würde ja Dauer überständig. alles aufgeben, für das seine Partei und er selbst stehen: Die italienischen und spanischen Hersteller haben Einer privatwirtschaftlich verfaßten Stahlindustrie sich bisher am wenigsten angepaßt. Ihre Auslastung nähme er jede Zukunftschance. ist am schlechtesten. Sie fahren die höchsten Verluste ein. Sie benötigen viele Milliarden DM an öffentli- Wenn er die Hand dazu liehe, die Marktausgänge chem Geld. Es wäre recht und billig, ihnen das größte mit Subventionen zu verstopfen, so bliebe am Ende Kapazitätsopfer abzuverlangen. nur, die für das Überangebot an Kapazität zu enge Nachfrage mit dirigistischen Mitteln zu verteilen. Um Aber was zeichnet sich ab? ein Chaos zu vermeiden, müßte er vermutlich die Ausrufung der Krise und die behördliche Festsetzung In Spanien soll die Kapazität von 5,5 auf 4 Millio- von Quoten nach Art. 58 Montanunionsvertrag oder nen t zurückgenommen werden. Dies auch erst im eine ähnliche Lösung beantragen. Respice finem! Jahr 1995. Tatsächlich produziert das Land aber gegenwärtig weniger als 4 Millionen t Warmbreit- Ich setze darauf, daß unser Wirtschaftsminister sich band. Findet der zwischen der EG-Kommission und dieser Zusammenhänge bewußt ist. Skeptisch stimmt den Spaniern ausgehandelte Plan Zustimmung, so mich allerdings ein Satz aus seiner amtlichen Presse- wird damit der Druck auf den überlasteten Markt also erklärung vom 5. Oktober 1993: nicht geringer. Und für dieses angebliche „Solidari- Sollte das EKO-Beihilfeproblem gelöst werden, so tätsopfer" sollen den Spaniern 8 Milliarden DM an fiele es der Bundesregierung leichter, an der Subventionen genehmigt werden. Lösung der spanischen und italienischen Beihilfe- In Italien ist das Bild noch unklar. Dort stehen fälle mitzuwirken. 11,5 Millionen t Kapazität in den Statistiken. Ein Wie soll man das deuten? bereits seit mehreren Jahren stilliegendes Werk bei Ein Rückfall in die Planwirtschaft kann vermieden Neapel (Bagnoli) soll endgültig „ausgebucht" wer- werden: den. Für ein Werk in Tarent wird durch Einbau künstlicher Produktionsengpässe eine Verringerung Dazu muß die Bundesregierung ihre ganze Kraft der Leistungsfähigkeit in Aussicht gestellt. Beides einsetzen, um in Europa wieder Subventionsdisziplin höchst fragwürdige Operationen! Folgt man jedoch herzustellen. Ich bringe in Erinnerung: Ohne ihr diesen Überlegungen, so bleiben noch immer 9,5 Mil- Votum kann in Brüssel nichts laufen. lionen t Kapazität verfügbar. Die italienische Produk- Und sie muß ihre internationale Glaubwürdigkeit tion beträgt gegenwärtig aber nur 7 Millionen t. Der wieder festigen. Dazu bedarf es vor allem eines Markt wird also auch hier nicht entlastet. Die Italiener Konzepts für Eisenhüttenstadt, das Zielkonflikte ver- werden ihre Produktion sogar noch tüchtig steigern meidet. Die deutsche Stahlindustrie hat Vorschläge können. Für diese Schaunummer erwarten sie die dazu vorgelegt. Aber Bonn muß auch die einzelnen Einsegnung von 8 Milliarden DM Subventionen durch Bundesländer, die heute unabgestimmt Subventionen die Europäische Gemeinschaft. ins Auge gefaßt haben, in eine gemeinsame Stahlpo- Doch weiter: In Eisenhüttenstadt soll nach dem litik einbinden. Wunsch der Bundesregierung etwa 1 Million t Kapa- Dann — aber erst dann — kann die Bundesregie- zität zusätzlich gebaut werden. Auch hier also eine rung mit Nachdruck einfordern, daß die p rivaten Erhöhung des Produktionspotentials. deutschen Unternehmen in einem Konsens-Prozeß, so Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15813* schwierig er sein mag, ihren bereits geleisteten Bei- die gemeinsamen Beschlüsse der Kohlerunde 1991 trag zur Strukturbereinigung freiwillig noch erhö- ein! hen. Zurück zum Stahl! Der leider unvermeidbare Abbau von Arbeitsplätzen muß unbedingt von Maßnahmen Wolfgang Weiermann (SPD): Die SPD-Bundestags zur Schaffung neuer, zukunftsträchtiger Arbeitsplätze fraktion hat bereits im März 1993 einen Antrag begleitet werden. Dabei ist vor allem auf eines zu eingebracht mit dem Titel: „Montan-Standort achten: Es muß alles getan werden, um betriebsbe- Deutschland stabilisieren — Neue Arbeitsplätze dingte Kündigungen zu unterbinden. Die dazu not- schaffen — Soziale Folgen der Krise auffangen." wendige Mitfinanzierung aus Mitteln der Europäi- schen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ist Wir fordern heute deutlich die Ausrufung der „ma- wohl angefordert und die Bereitstellung nationaler nifesten Krise" als letzte Notmaßnahme und unter- Finanzmittel vorgesehen. breiten darüber hinaus Vorschläge, wie die gegen- wärtige Krise beim Stahl im Interesse der betroffenen Aber: Die vorgesehene Reduzierung des Arbeitslo- Arbeitnehmer überwunden werden kann. In der Sub- sengeldes und die Kappung der Arbeitslosenhilfe auf stanz unseres Antrages unterscheiden wir uns daher zwei Jahre macht jede Finanzierung von Sozialplänen erheblich von dem Antrag der PDS/Linke Liste. Wir im notwendigen Umfang unmöglich. Die Änderung haben uns als Sozialdemokraten aus diesen substan- des Arbeitsförderungsgesetzes wird die Sozialpläne tiellen Gründen im Wirtschaftsausschuß der Stimme für die von Arbeitslosigkeit bedrohten Stahlarbeiter enthalten. an Saar und Ruhr besonders gefährden. Allein bei der Krupp-Hoesch-Stahl AG sollen bis zum 30. Juni 1994 Die Ursache der Krise ist klar: Die Bundesregierung 7 500 Arbeitsplätze abgebaut werden. und die EG haben es versäumt, rechtzeitig den unver- hältnismäßig hohen Subventionen in anderen EG- Und: Nicht nur Sozialpläner sind betroffen, es Staaten entgegenzuwirken. betrifft auch jüngere Mitarbeiter, die erst drei Jahre bei der Firma sind — wo diese jungen Beschäftigten Die Bundeswirtschaftsminister, die in den letzten bleiben, kann man sich ausrechnen: beim Arbeits- 10 Jahren im EG-Ministerrat ihr Ja zu insgesamt — amt! sage und schreibe — 130 Milliarden DM an Subven- tionen gegeben haben, haben damit auch die Verant- Was die Beschlüsse des Haushaltsausschusses vom wortung zu tragen für den miserablen finanziellen Mittwoch für die Beschäftigten bedeuten, haben Zustand der deutschen Stahlindustrie. Die Bundesre- heute mehr als 15 000 Stahlkocher des Ruhrgebiets gierung und die EG haben es schlichtweg versäumt, der leider offenbar desinteressierten Bundesregie- den Stahlmarkt — insbesondere in Europa — durch rung klarzumachen versucht. Allein in Dortmund freien Handel unter fairen Wettbewerbsbedingungen beteiligten sich einige Tausend Stahlarbeiter an Pro- und realistischen Preisen zu stabilisieren. Und auf- testen — aus Angst! Hunderte Angehörige der Krupp- grund dieser Schuld muß die Bundesregierung jetzt, Hoesch-Stahl AG besetzten das Dortmunder Rathaus nach Eintritt der K rise, den betroffenen Menschen und und forderten den leider nicht anwesenden Bundes- Regionen beistehen. Sie darf sich nicht aus der Ver- arbeitsminister Blüm auf — und nicht zu vergessen, er antwortung stehlen. ist außerdem Kandidat von Dortmund —, zu ihren Problemen Stellung zu nehmen. Denn mehr als einer Daher fordern wir die Bundesregierung auf, mit den fürchtet den Absturz in die Sozialhilfe. betroffenen Arbeitnehmern und Unternehmern, mit Ländern und Kommunen gemeinsame Maßnahmen Und wenn es noch irgendeines Beweises für die zur Überwindung der Krise und zur sozialen Abfede- Inkompetenz der Bundesregierung bedurfte: Die rung von unvermeidlichen Arbeitsplatzverlusten zu Debatte von heute nachmittag hat die Fehlentschei- verabreden. dung überdeutlich gemacht. Aus all diesen Gründen — und vor allem wegen der Die nun ziemlich abrupt angesteuerte Anpassung in Versäumnisse dieser Regierung — ist eine nationale der Stahlindustrie wird mehr als 40 000 Arbeitsplätze Stahlkonferenz unabdingbar und muß unverzüglich allein im Stahlbereich kosten. Wieviel Arbeitsplätze einberufen werden. Gleichzeitig ist für eine Über- zusätzlich im wirtschaftlichen Umfeld verloren gehen, gangszeit eine Außenregelung gegenüber Osteuropa ist derzeit noch gar nicht abzuschätzen. Unerheblich wird die Zahl ganz sicher nicht sein. Schon heute bedingt notwendig. gehen rund 150 000 Arbeitsplätze monatlich „über die Wir fordern, um dies in Sachlichkeit regeln zu Wupper", ohne daß man den Menschen akzeptable können, die Anwendung von Art. 58 des Montanver- berufliche Alternativen bieten kann! trages und die Ausrufung der manifesten Krise. Diese Ausrufung der manifesten Krise muß sein, weil in Sehr geehrter Herr Bundeswirtschaftsminister, was unserem Wirtschaftssystem freiwillige Vereinbarun- muß denn noch alles passieren, bis diese Bundesre- gen über Kapazitätsabbau, Produktionsquoten und gierung endlich aktiv wird? Wann, Herr Bundeswirt- Preisabsprachen bislang jedenfalls nicht funktionie- schaftsminister, werden Sie endlich in die Gänge ren. kommen? Bislang schüren Sie im anderen Montanbe- reich — bei der Kohle — neue Ängste, indem Sie mit Wie sollen wir denn bei einer freiwilligen Kapazi- Ihrer Aussage, „nur noch 20 Millionen Tonnen deut- - tätsrückführung verhindern, daß Strukturbrüche scher Kohle für die Verstromung vorzusehen", die ganze Regionen und ihre Menschen be treffen? Denn Sorgen der Menschen an Saar und Ruhr noch weiter ausreichende Mittel, sowohl finanzielle als auch poli- verschärfen. Ich fordere Sie dringend auf: Halten Sie tische, sind von der Bundesregierung gar nicht einge- 15814 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 plant — geschweige denn, daß sie gegenwärtig zur Von den auf 19 bis 26 Millionen t im Jahr geschätz- Verfügung stünden. Da ist die Vorstellung von freiwil- ten EG-Überkapazitäten im Warmwalzbereich haben ligen Vereinbarungen oder von der Selbstregulierung die Unternehmen in der EG über 7 Millionen t geradezu abenteuerlich. Stillegungen beschlossen und bereits großenteils umgesetzt. Von den hochsubventionierten staatlichen Lassen Sie mich abschließend sagen: Wer die Ent- Unternehmen, insbesondere in Spanien und Italien, wicklung der Subventionen und damit die Verdrän- wird ein erheblicher Beitrag kommen müssen, als gung der deutschen Stahlindustrie an den Rand des Ausgleich für erneute hohe Beihilfevorhaben ihrer Marktes mitzuverantworten hat, wer die Verantwor- Regierungen; wir kennen diesen Beitrag bisher aber tung dafür hat, daß mehr als 40 000 Stahlarbeitsplätze nur in Teilen. vor dem Aus stehen, wer Subventionen von 130 Mil- liarden DM in anderen EG-Ländern die Zustimmung 10,5 Millionen t weitere Kapazitätsstillegungen sind gegeben und die Interessen der deutschen Stahlindu- EG-weit in drei der umkämpftesten Produktbereiche strie fahrlässig vernachlässigt hat, der kann sich heute (Warmbreitband, Grobblech, schwere Profile) Gegen- nicht davor drücken, auch die Kosten der von ihm zu stand von europaweiten Stillegungsvereinbarungen, verantwortenden sozialen Folgen zu übernehmen. die aber noch nicht konkret ausgefüllt sind. Daher fordere ich Sie nochmals auf, die Inhalte Die Bundesregierung wird in dieser Situation wei- unseres Antrags zu verwirklichen. terhin alles in ihrer Macht Stehende tun, um die privaten, nicht subventionierten und besonders lei- stungsfähigen deutschen Stahlerzeuger — und hierzu Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft: Lassen Sie mich vor- gehören immer mehr auch die ostdeutschen Produ- wegschicken: zenten — vor staatlich gestützten Marktverzerrungen auch innerhalb der Gemeinschaft zu schützen. Ich halte weder etwas von dem Instrument der Andererseits geht es darum, industrielle Kerne in manifesten Krise noch von einer nationalen Stahlkon- Ostdeutschland auch im Bereich der Stahlindustrie ferenz. wirtschaftlich fit zu machen — teilweise mit öffentli- Kein einziges der strukturellen Probleme der deut- cher Anschubfinanzierung. Ostdeutschland darf auch schen und der europäischen Stahlindustrie — langfri- in der Stahlproduktion, in der bereits mehr als 50 % stig abnehmender Stahlverbrauch, zu geringe Spezia- der Rohstahl- Kapazitäten verlorengegangen sind, lisierung, zu hohe Kosten, Auftauchen neuer Anbieter nicht lediglich ein bequemer Absatzmarkt für westeu- auf den internationalen Märkten — wird damit ropäische Unternehmen werden. gelöst. Die Ausrufung der manifesten K rise, mit Einführung Im Gegenteil, die dringend erforderliche und verbindlicher Produktions- und Lieferquoten, bringt gerade angeschobene Strukturbereinigung würde, vor diesem Hindergrund aber überhaupt keinen Bei- wie die Erfahrungen der Vergangenheit beweisen, trag zur Lösung des Problems. Leistungsfähige Anbie- verhindert. ter in Ostdeutschland würden dadurch sogar dem europaweiten Verteilungsproporz geopfert; die drin- Die nationale Stahlkonferenz würde nur dazu die- gend erforderliche Umstrukturierung würde ein wei- nen, die Verantwortlichkeiten medienwirksam wei- teres Mal verschoben; staatliche Eingriffe würden terzuschieben, anstatt die eigenen Hausaufgaben zu unternehmerische Einsicht ersetzen. Mit einer sol- machen. chen Forderung stünde die Bundesregierung überdies Dabei ist die Lage der deutschen Stahlindustrie in Brüssel völlig allein und würde auch deshalb unverändert schwierig. Die um ihr Überleben kämp- erhebliche Zugeständnisse zu Lasten von Quoten für fenden Stahlkonzerne sind zu schnellen Umstruktu- deutsche Unternehmen machen müssen; angesichts rierungen gezwungen. Dies wird zu einem spürbaren der niedrigen Referenzmengen mit verheerenden Beschäftigungsabbau im Verlauf des Jahres 1993 Konsequenzen für die neuen Bundesländer. führen. Daher ist der eingeschlagene Weg, den Unterneh- men zu ermöglichen, unwirtschaftliche Kapazitäten Die Anpassungsbemühungen der Unternehmen aus dem Markt zu nehmen, Voraussetzung für die und die Einführung von moderaten und zeitlich befri- dringend erforderliche Umstrukturierung, die auch steten Außenhandelsbeschränkungen gegenüber ost- langfristig die Existenz der deutschen Stahlindustrie und mitteleuropäischen Staaten zeigen dabei erste sichern kann. Früchte. Aber: Für Entwarnung besteht kein Anlaß. Wir werden daher diesen Weg mit den Partnern in Der EG-Industrieministerrat Stahl hat vor diesem Europa fortsetzen. Hintergrund am 25. Februar dieses Jahres eine Reihe sozialer, finanzieller und marktstabilisierender Maß- nahmen beschlossen, um den dringend erforderlichen Anpassungsprozeß der Unternehmen zu begleiten und zu erleichtern. Anlage 8 Dies war ein Signal an die Unternehmen, Anpas- Antwort sungsmaßnahmen vorzunehmen, d. h. insbesondere die unvermeidliche Schließung unwirtschaftlicher der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl Anlagen, um den leistungsfähigen Unternehmen ein auf die Fragen des Abgeordneten Ulrich Heinrich Überleben am Markt zu ermöglichen. (F.D.P.) (Drucksache 12/5904 Fragen 37 und 38): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15815*

Treffen amerikanische Pressemitteilungen zu, nach denen es gierung bei ihrem eingeschlagenen Weg. Dies betrifft bei der diesjährigen Flutkatastrophe im amerikanischen Mittel- die arzneimittelrechtlichen Vorgaben einschließlich westen zur Abschwemmung und damit unkon trollierten Freiset- zung eines Freilandversuchs mit transgenem Mais kam? der Voraussetzungen für eine Verordenbarkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung wie Welche Schutzvorschriften sieht das deutsche Gentechnikge- setz derzeit und nach der Novellierung bei Naturkatastrophen auch die Forschungsförderung im Rahmen des (Fluten, Stürme) vor, um eine unkontrollierte Freisetzung von Schwerpunktes „Unkonventionelle medizinische Versuchspflanzen mit gentechnisch verändertem Erbgut in die Richtungen" . Umwelt auszuschließen?

Zu Frage 37: Auf Anfrage hat die zuständige amerikanische Anlage 10 Behörde (U.S. Department of Agriculture/USDA) die Antwort Pressemitteilungen bestätigt, denen zufolge es im Juli diesen Jahres im amerikanischen Mittelwesten durch des Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die Frage Hochwasser zur Abschwemmung von gentechnisch des Abgeordneten Simon Wittmann (Tännesberg) veränderten Maispflanzen von der Freisetzungsfläche (CDU/CSU) (Drucksache 12/5904 Frage 40): gekommen ist. Trifft es zu, daß die Bundesregierung beabsichtigt, die Aus- nahmegenehmigung zur Führung roter Kfz-Kennzeichen groß- zügiger zu erteilen und insbesondere Fahrzeuge neuerer Bauart Zu Frage 38: einzubeziehen, und wie begründet die Bundesregierung dieses Obwohl Freilandexperimente grundsätzlich räum- Vorgehen angesichts der Tatsache, daß damit gerade Fahrzeuge mit einem hohen Schadstoffausstoß von der Kfz-Steuer befreit lich und zeitlich begrenzt sind, sind bereits im Prüf- sind? verfahren auch darüber Erwägungen anzustellen, welche Auswirkungen nach dem Stand der Wissen- Im Bundesverkehrsministerium bestehen Überle- schaft ein unbeabsichtigtes Verbringen von Pflanzen gungen, durch eine Ausnahmeverordnung die Vor- oder Pflanzenteilen von der Freisetzungsfläche in aussetzungen dafür zu schaffen, daß für sogenannte andere Regionen hätte. Dabei sind die örtlichen „Oldtimer-Fahrzeuge" zur Teilnahme an Oldtimer Gegebenheiten der Freisetzungsfläche sowie die kli- Veranstaltungen sowie zu den entsprechenden An- matischen Verhältnisse mit einzubeziehen. Dazu und Abfahrten rote Kennzeichen verwendet werden gehört z. B. auch die Frage, ob das Freisetzungsareal dürfen. Durch eine Ausnahme-Verordnung könnten zum Überschwemmungsgebiet eines Flusses gehört. eine Vielzahl von Einzelausnahmen entbehrlich und Die vorgesehene Novellierung des Gentechnikgeset- damit Verwaltungsaufwand eingespart werden. So- zes wird daran nichts ändern. weit rote Kennzeichen zur wiederkehrenden Verwen- dung ausgegeben werden, muß hierfür eine pauscha- lierte Kfz-Steuer von 375,— DM pro Kalenderjahr entrichtet werden. Für rote Kennzeichen zur einmali- Anlage 9 gen Verwendung wird keine Kfz-Steuer erhoben, da diese Kennzeichen nur tageweise ausgegeben wer- Antwort den. der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf die Frage der Abgeordneten Uta Würfel (F.D.P.) (Drucksache 12/5904 Frage 39): Wie beurteilt die Bundesregierung das Memorandum der Anlage 11 Bundesärztekammer „Arzneibehandlung im Rahmen besonde- rer Therapierichtungen" und die Darstellung der Hufelandge- Antwort sellschaft „Die besonderen Therapierichtungen in der wissen- des Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die Fragen schaftlichen Diskussion" von Helmut Kiene für ihre Gesund- heitspolitik? des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache 12/5904 Fragen 41 und 42): Die Bundesregierung hat das Memorandum der Welche Auswirkungen hat die Anweisung des Bundesmini- sters für Verkehr an die Landesregierungen in den alten Bundesärztekammer zur Arzneibehandlung im Rah- Bundesländern, unabhängig von der Einstufung, im Bundesver- men besonderer Therapierichtungen wie auch die im kehrswegeplan keine neuen Straßenbaumaßnahmen mehr zu Auftrag der Hufelandgesellschaft für Gesamtmedizin beginnen, für den geplanten Neubau der B 31 West? e. V. erarbeitete Darstellung, die sich mit dem o. g. Welche Chancen bestehen in der näheren Zukunft für eine Memorandum insbesondere unter dem Aspekt der Realisierung oder Teilrealisierung des Straßenbauvorhabens nötigen wissenschaftlichen Grundlagen für den Wirk- B 31 West, das zumindest in seinem östlichen Teil (Umfahrung der Orte Umkirch und Gottenheim) eine allseits als notwendig samkeitsnachweis eines Arzneimittels der besonde- angesehene Entlastung von Bürgern darstellt, die von einer ren Therapierichtungen befaßt, zur Kenntnis genom- Bundesstraßenführung mitten durch ihre Wohnorte geplagt men. werden? Die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, sich zu dieser wissenschaftlichen Auseinanderset- Zu Frage 41: zung zu äußern, zumal Bundesärztekammer und Ver- - Für die B 31 Freiburg-Breisach gilt es zunächst, die treter der Hufelandgesellschaft hierzu bereits ein baurechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, d. h. Gespräch geführt haben. Hinsichtlich der gesund- das laufende Planfeststellungsverfahren zum Ab- heitspolitischen Konsequenzen bleibt die Bundesre schluß zu bringen und seine Rechtskraft zu erlangen. 15816* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993

Sobald dies geschehen und die Maßnahme damit andere Tätigkeiten, soweit dabei radioaktive Stoffe, baureif ist, können die finanziellen Möglichkeiten für insbesondere Radonfolgeprodukte, anwesend sind". die Bauausführung geprüft werden. Nach Art. 9 Abs. 2 des Einigungsvertrages bleiben Rechtsvorschriften der DDR allerdings nur in Kraft, Zu Frage 42: soweit sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Der in § 10 VOAS angespochene Bezug auf die „sozialisti- Die B 31-neu zwischen Freiburg und Breisach sche Gesellschaft" ist mit dem Grundgesetz nicht gehört zu den Maßnahmen des „Vordringlichen vereinbar. Deshalb bedarf die Regelung verfassungs- Bedarfs" in dem vom Deutschen Bundestag am konformer Auslegung. 30. Juni dieses Jahres beschlossenen Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen. Ein baldiger Beginn baureifer Der Vorschrift liegt der im Strahlenschutz allgemein Projekte dieser Priorität wird grundsätzlich ange- anerkannte Rechtfertigungsgrundsatz zugrunde. Da- strebt. nach muß jede Tätigkeit, die eine Strahlenexposition mit sich bringt, durch die mit dieser Tätigkeit verbun- denen Vorteile gerechtfertigt sein. Der Rechtferti- gungsgrundsatz ist sowohl in den Empfehlungen der Anlage 12 Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) als auch in Art. 6 Satz 1 a der EG-Grundnormen zum Antwort Strahlenschutz verankert, denen deutsches Strahlen- des Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die Frage schutzrecht nach Art. 161 des Euratom-Vertrages des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) entsprechen muß. Vor diesem Hintergrund hält die (Drucksache 12/5904 Frage 43): Bundesregierung die weitere Anwendbarkeit des § 10 Wie ist der Stand der Verkaufsverhandlungen der Bahnbus- VOAS in dem eben beschriebenen verfassungskon- gesellschaft im Rhein-Neckar-Raum Mannheim-Ludwigs- formen Sinne für nicht nur unbedenklich, sondern hafen-Heidelberg? sogar rechtlich geboten.

Mit den Kaufinteressenten, dem Verkehrsverbund Zu Frage 46: Rhein-Neckar und einem Konsortium p rivater mittel- ständischer Verkehrsunternehmen, konnten noch Der Bundesregierung liegen Untersuchungen keine Verkaufsverhandlungen aufgenommen wer- schweizerischer Stellen über die Sicherheit der End- den. Die Aufnahme von Verkaufsverhandlungen ver- lagerung radioaktiver Abfälle in der Schweiz vor. Die zögert sich, da die fortgeschriebene Einnahmeauftei- Ergebnisse sind im Bericht der NAGRA 1 ) zum Projekt lungsregelung für den Verkehrsverbund Rhein-Nek- „GEWÄHR" Ende der 80er Jahre vorgelegt worden. kar (VRN) noch nicht festgelegt worden ist und daher Nach diesen modellmäßigen Untersuchungen und die Erstellung des Bewertungsgutachtens noch nicht Stellungnahmen der für die Sicherheit der kerntech- möglich ist. nischen Anlagen der Schweiz zuständigen HSK 2) ist die Endlagerung radioaktiver Abfälle in der Schweiz grundsätzlich so möglich, daß die nationalen und internationalen Vorschriften und Regeln eingehalten Anlage 13 werden können. Somit ist aufgrund der bisherigen Ergebnisse weder für die Bevölkerung in der Schweiz Antwort noch in der südbadischen Region eine Gefährdung zu des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf besorgen. die Fragen der Abgeordneten Siegrun Klemmer Im übrigen wird die Bundesregierung auf diesem (SPD) (Drucksache 12/5904 Fragen 45 und 46): Gebiet nach wie vor eng mit den schweizerischen Steht die Bundesregierung nach wie vor zu der Nutzdefinition Regierungsstellen zusammenarbeiten. Von daher ist der Verordnung über die Gewährleistung von Atomsicherheit und Strahlenschutz (VOAS), die mit dem Einigungsvertrag, sichergestellt, daß die Bundesregierung über die soweit der Uranbergbau betroffen ist, für weiterhin geltend Ergebnisse von Sicherheitsuntersuchungen an kon- erklärt wurde und in der unter „Gewährleistung des Strahlen- kreten, noch in Eignungsuntersuchung befindlichen schutzes" § 10 Rechtfertigung festgelegt wird, daß jede A rt der Standorten unterrichtet werden wird. Anwendung der Atomenergie des Nachweises bedarf, „daß sie bei zuverlässiger Gewährleistung des Schutzes von Leben und Gesundheit des Menschen sowie des Schutzes der Umwelt zu 1) NAGRA: Nationale Genossenschaft für die Lagerung radio- Nutzen der sozialistischen Gesellschaft erfolgt", und wie denkt aktiver Abfälle die Bundesregierung diese Forderung umzusetzen? 2) HSK: Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen im Welche Sicherheitsgutachten liegen der Bundesregierung schweizerischen Bundesamt für Energiewirtschaft über den Bau radioaktiver Endlager in der Schweiz in unmittel- barer Nähe zur Hochrheinmündung vor, und wie schätzt sie die Gefahr für die südbadische Nachbarregion ein?

Zu Frage 45: Nach Art. 9 Abs. 2 i. V. m. Anlage II Kap. XII Anlage 14 Abschnitt III Nr. 2 des Einigungsvertrags gelten die Antwort Vorschriften der Verordnung über Atomsicherheit und Strahlenschutz (VOAS) der ehemaligen DDR in des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf den neuen Ländern in folgendem begrenztem die Frage der Abgeordneten Monika Ganseforth Anwendungsbereich fort: „für bergbauliche und (SPD) (Drucksache 12/5904 Frage 47): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 182. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Oktober 1993 15817*

Wie ist der Stand der Beratungen über die Wärmenutzungs- schen Polizei eine derartige Motiva tion der Tat bestä- Verordnung, und ist mit der vom Bundesminister für Umwelt, tigen. Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Klaus Töpfer, vor dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 12. Mai 1993 angekündigten Verabschiedung im Kabinett in Zu Frage 54: diesem Jahr noch zu rechnen? Der Beginn der Hauptverhandlung in dem Verfah- ren wegen des Mordanschlages auf iranische Opposi- Die Beratungen innerhalb der Bundesregierung tionspolitiker am 17. September 1992 im Lokal Myko- über den Entwurf der WärmenutzungsVerordnung nos in Berlin ist vom 1. Strafsenat des Kammergerichts sind noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung Berlin auf den 28. Oktober 1993 festgesetzt worden. geht jedoch davon aus, daß dieser Abschluß noch in Solange die Anklageschrift in der Hauptverhandlung dieser Legislaturperiode erreicht werden kann. So ist noch nicht verlesen und erörtert worden ist, sieht sich im Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssiche- die Bundesregierung außerstande, zu Einzelheiten rung des Standortes Deutschland vom 3. September der Anklageschrift Stellung zu nehmen. Die Gesprä- 1993 — BT-Drucksache 12/5620 — auf S. 50 unter (6) che mit Minister Fallahian hatten — wie ich auf Ihre sinngemäß ausgeführt, daß die Bundesregierung noch Frage 53 oben erklärt habe — humanitäre Fragen als in dieser Legislaturperiode die geplante Wärmenut- zentrales Anliegen und standen in keinem Zusam- zungsVerordnung vorlegen wird. menhang zum Fall „Mykonos".

Anlage 16 Anlage 15 Antwort Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des des Staatsministers Be rnd Schmidbauer auf die Fra- Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) (Drucksache gen des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Druck- 12/5904 Fragen 60 und 61): sache 12/5904 Fragen 53 und 54): Sind nach Auffassung der Bundesregierung die Parlaments- wahlen in Pakistan ordnungsgemäß durchgeführt worden? In welcher Weise hat die Bundesregierung bei dem Besuch des Wird die Bundesregierung nach Durchführung der ersten iranischen Geheimdienst-Ministers A li Fallahian die einstim- demokratischen Parlaments- und Präsidentenwahlen in der mige Entschließung des Deutschen Bundestages vom 9. Dezem- Zentralafrikanischen Republik die wi rtschaftliche Zusammenar- ber 1992 vertreten, in der die iranische Regierung aufgefordert beit intensivieren und insbesondere auch Projekte fördern, die wird, Vorkehrungen zu treffen, daß der Mordaufruf gegen für den Aufbau der Demokratie notwendig sind? Salman Rushdie nicht weiter verbreitet wird und nicht durchge- führt werden kann, und wie reagiert die Bundesregierung auf den Terroranschlag gegen den norwegischen Verleger der Zu Frage 60: Bücher Salman Rushdies? Die Parlamentswahlen in Pakistan sind nach Auf- Trifft es zu, daß in der Anklageschrift des Generalbundesan- fassung der Bundesregierung korrekt durchgeführt walts gegen die mutmaßlichen Organisatoren des Mykonos worden. Auf pakistanischen Wunsch haben wir Attentates eine direkte Verbindung zwischen dem Attentat, bei dem vier iranische Oppositionelle in Berlin ermordet wurden, zusammen mit unseren europäischen Partnern ein und dem iranischen Geheimdienst-Minister Ali Fallahian gezo- EG-Wahlbeobachterteam zu den Wahlen zum Bun- gen wird, wie „Der Tagesspiegel" am 14. Oktober 1993 berichtet desparlament am 6. Oktober 1993 sowie zu den hat, und in welcher Weise ist dieser Komplex Gegenstand der Provinzparlamenten am 9. Oktober 1993 entsandt. Gespräche gewesen, die im Zuständigkeitsbereich der Bundes- Auch Indien hat Wahlbeobachter geschickt. regierung mit Minister Ali Fallahian geführt worden sind? Die Wahlen am 6. Oktober 1993 sind nach Ansicht Zu Frage 53: zahlreicher ausländischer Beobachter die freiesten und fairsten, die in Pakist an jemals abgehalten wur- Zentrales Anliegen der Gespräche waren humani- den. Im Abschlußbericht der EG-Wahlbeobachter täre Fragen, die in erster Linie den Schutz und die werden sie als „Meilenstein der Entwicklung der Hilfe für Personen aus einem befreundeten Staat pakistanischen Demokratie" bezeichnet. betreffen. Da die Gespräche nicht abgeschlossen sind, ist die Bundesregierung nicht bereit, Einzelheiten Zu Frage 61: über den be troffenen Personenkreis oder Regierun- Die Bundesregierung begrüßt den erfolgreichen gen zu nennen, weil sonst das Ziel der Gespräche und Abschluß der ersten demokratischen Parlaments- und damit das Leben von Menschen gefährdet wäre. Die Präsidentenwahlen in der Zentralafrikanischen Repu- Bundesregierung beabsichtigt, diese humanitären blik und wird die im August abgebrochene wirtschaft- Gespräche unabhängig von unberechtigter Kritik in liche Zusammenarbeit wieder aufnehmen. Vor einer geeigneter Weise im Rahmen eines kritischen Mei- Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nungsaustauschs mit dem Iran weiter zu führen. Die ist zunächst abzuwarten, welche Politik die neue Bundesregierung hat sich bei der iranischen Regie- Regierung verfolgen wird. Dabei stehen Bemühungen rung wiederholt im Sinne der von Ihnen genannten der zentralafrikanischen Regierung um Rechtsstaat- Entschließung des Deutschen Bundestages einge- lichkeit, Beachtung der Menschenrechte, Partizipa- setzt. Sie hat die „Fatwa" des verstorbenen iranischen tion der Bevölkerung und Bekämpfung der strukturel- Revolutionsführers Chomeini gegen Salman Rushdie len Probleme im Vordergrund. Sofern die zentralafri- sowie die Terroranschläge gegen Übersetzer und kanische Regierung diese für die entwicklungspoliti- Verleger der Schriften Salman Rushdies auf das sche Zusammenarbeit bedeutenden Kriterien in schärfste verurteilt. Hinsichtlich des Anschlags auf -ihrem Programm berücksichtigt, ist eine Intensivie- den norwegischen Verleger der Schriften Salman rung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit denkbar, Rushdies würde das gleiche gelten, wenn die — noch die auch der Konsolidierung demokratischer Verhält- nicht abgeschlossenen — Ermittlungen der norwegi nisse dienen sollte.