Plenarprotokoll 15/166

Deutscher

Stenografischer Bericht

166. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Inhalt:

Beileid zum Tode des früheren Bundes- Dr. Gesine Lötzsch (fraktions- ministers für Arbeit und Sozialordnung, los) ...... 15526 C Mitglied des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments Walter Arendt . . . 15483 A Tagesordnungspunkt 24: Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 15483 B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 28. August Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- 1997 zwischen der Bundesrepublik neten Volker Kröning ...... 15484 B Deutschland und der Kirgisischen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalan- lagen Tagesordnungspunkt 3: (Drucksache 15/4978) ...... 15527 C

Abgabe einer Regierungserklärung durch b) Erste Beratung des von der Bundesregie- den Bundeskanzler: Aus Verantwortung für rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- unser Land: Deutschlands Kräfte stärken zes zu dem OCCAR-Geheimschutz- übereinkommen vom 24. September Gerhard Schröder, 2004 Bundeskanzler ...... 15484 B (Drucksache 15/4979) ...... 15527 C Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) ...... 15496 B c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Franz Müntefering (SPD) ...... 15502 C zes zu dem Vertrag vom 28. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Dr. Wolfgang Gerhardt land und der Bundesrepublik Nigeria (FDP) ...... 15506 D über die Förderung und den gegensei- tigen Schutz von Kapitalanlagen Joseph Fischer, Bundesminister (Drucksache 15/4980) ...... 15527 C AA ...... 15509 D d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Bayern) ...... 15515 A zes zu dem Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Peer Steinbrück, Ministerpräsident Deutschland und der Republik Guate- (Nordrhein-Westfalen) ...... 15521 A mala über die Förderung und den II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

gegenseitigen Schutz von Kapitalan- eines Gesetzes zur Reform des Reisekos- lagen tenrechts (Drucksache 15/4981) ...... 15527 D (Drucksachen 15/4919, 15/5127) ...... 15528 A e) Erste Beratung des von der Bundesregie- b) Zweite und dritte Beratung des von der rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs zes zu dem Vertrag vom 30. Oktober eines Dritten Gesetzes zur Änderung 2003 zwischen der Bundesrepublik des Sprengstoffgesetzes und anderer Deutschland und der Republik Angola Vorschriften (3. SprengÄndG) über die Förderung und den gegenseiti- (Drucksachen 15/5002, 15/5129) ...... 15528 D gen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 15/4982) ...... 15527 D c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs f) Erste Beratung des von der Bundesregie- eines Gesetzes zur Änderung der Bun- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- des-Apothekerordnung und anderer zes zu dem Abkommen vom 1. Dezem- Gesetze ber 2003 zwischen der Bundesrepublik (Drucksachen 15/4784, 15/5093, 15/5108) 15529 C Deutschland und der Volksrepublik China über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- d) Beschlussempfehlung und Bericht des gen Verteidigungsausschusses zu dem Antrag (Drucksache 15/4983) ...... 15528 A der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der g) Erste Beratung des von der Bundesregie- FDP: Ehemaligen Soldaten der Nationa- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- len Volksarmee das Führen ihrer frühe- zes zu dem Vertrag vom 19. Januar ren Dienstgrade erlauben 2004 zwischen der Bundesrepublik (Drucksachen 15/3357, 15/4949) ...... 15529 B Deutschland und der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien über die Förderung und den gegenseitigen e) Dritter Bericht des Ausschusses für Wahl- Schutz von Kapitalanlagen prüfung, Immunität und Geschäftsord- (Drucksache 15/4984) ...... 15528 A nung: h) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, zu den Überprüfungsverfahren nach Cornelia Pieper, Christoph Hartmann § 44 b des Abgeordnetengesetzes (AbgG) (Homburg), weiterer Abgeordneter und Überprüfung auf Tätigkeit oder politi- der Fraktion der FDP: Gashydratfor- sche Verantwortung für das Ministe- schung fest in die Forschungen „System rium für Staatssicherheit/Amt für Erde“ und „Neue Technologien“ inte- Nationale Sicherheit der ehemaligen grieren Deutschen Demokratischen Republik (Drucksache 15/3814) ...... 15528 A (Drucksache 15/4971) ...... 15529 C

f)– j) Zusatztagesordnungspunkt 2: Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 192, 193, Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen 194, 195 und 196 zu Petitionen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard (Drucksachen 15/5039, 15/5035, 15/5036, Oswald, weiterer Abgeordneter und der Frak- 15/5037, 15/5038) ...... 15529 C tion der CDU/CSU: „Meer für Morgen“ – Impulse für die maritime Verbundwirt- schaft (Drucksache 15/5099) ...... 15528 B Zusatztagesordnungspunkt 3:

a) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 10 Tagesordnungspunkt 25: über die dem Deutschen Bundestag zu- geleiteten Streitsachen vor dem Bundes- a) Zweite und dritte Beratung des von der verfassungsgericht Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 15/5114) ...... 15530 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 III b) Beschlussempfehlung und Bericht des Marion Caspers-Merk Rechtsausschusses: zu der Streitsache (SPD) ...... 15537 D vor dem Bundesverfassungsgericht – 1 BvR 357/05 Annette Widmann-Mauz (Drucksache 15/5113) ...... 15530 B (CDU/CSU) ...... 15538 B

Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) ...... 15538 C

Zusatztagesordnungspunkt 6: Barbara Lanzinger (CDU/CSU) ...... 15539 D Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- Klaus Kirschner (SPD) ...... 15541 A ausschuss) zu dem Gesetz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes (Drucksachen 15/3168, 15/3214, 15/3455, 15/3510, 15/3871, 15/5121) ...... 15530 B Tagesordnungspunkt 8:

a) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zusatztagesordnungspunkt 7: 61. Tagung der Menschenrechtskom- mission der Vereinten Nationen – Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Reform und Normensetzung für einen Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- verbesserten Menschenrechtsschutz ausschuss) zu demDritten Gesetz zur (Drucksache 15/5118) ...... 15542 B Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschrif- ten b) Antrag der Abgeordneten Hermann (Drucksachen 15/3280, 15/4419, 15/4634, Gröhe, Holger Haibach, Rainer 15/5122) ...... 15530 C Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Die 61. Tagung der VN-Menschenrechts- Zusatztagesordnungspunkt 8: kommission als Chance zur Reform – Mehr Engagement für Menschenrechte weltweit Beschlussempfehlung des Ausschusses nach (Drucksache 15/5098) ...... 15542 C Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsaus- schuss) zu dem Zweiten Gesetz zur Ände- rung des Straßenverkehrsgesetzes und an- c) Beschlussempfehlung und Bericht des derer Gesetze Ausschusses für Menschenrechte und Hu- (Drucksachen 15/3351, 15/4730, 15/4921, manitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch 15/5123) ...... 15530 D die Bundesregierung: EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechtslage Ratsdok. 11922/1/04 REV 1 (Drucksachen 15/4001 Nr. 1.1, 15/4757) 15542 C Tagesordnungspunkt 4: d) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Große Anfrage der Abgeordneten Julia Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der – zu dem Antrag der Abgeordneten CDU/CSU: Förderung der Organspende , Detlef Dzembritzki, (Drucksachen 15/2707, 15/4542) ...... 15530 D Siegmund Ehrmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD so- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 15531 A wie der Abgeordneten Christa Nickels, Volker Beck (Köln), Thilo Hoppe, Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin weiterer Abgeordneter und der Frak- BMGS ...... 15532 C tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Nepal – Menschenrechte Detlef Parr (FDP) ...... 15534 A schützen und Gewalt beenden Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15535 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Ulrich Heinrich, Daniel Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 15536 A Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

und der Fraktion der FDP: Einhaltung Dr. Werner Hoyer (FDP) ...... 15550 C der Menschenrechte in Nepal Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) ...... 15551 D (Drucksachen 15/4397, 15/3231, 15/4899) 15542 D e) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 6: Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Rainer Funke, Dr. Karl Addicks, Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter schusses für Familie, Senioren, Frauen und und der Fraktion der FDP:Ratifikation Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten des 12. Zusatzprotokolls zur Europäi- Renate Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute schen Menschenrechtskonvention Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 15/4405, 15/4898) ...... 15542 D der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der f) Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Ausschusses für Menschenrechte und Hu- NEN: Kinder und Jugendliche wirksam manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- vor sexueller Gewalt und Ausbeutung ordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Funke, schützen Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord- (Drucksachen 15/3211, 15/4553) ...... 15553 C neter und der Fraktion der FDP:Men- schenrechte in der Volksrepublik China Renate Gradistanac (SPD) ...... 15553 D einfordern (Drucksachen 15/4402, 15/4953) ...... 15543 A Angela Schmid (CDU/CSU) ...... 15554 D g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE Ausschusses für Menschenrechte und GRÜNEN) ...... 15556 C Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Ab- geordneten Holger Haibach, Dr. Martina Klaus Haupt (FDP) ...... 15557 D Krogmann, Melanie Oßwald, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ Marlene Rupprecht (Tuchenbach) CSU: Presse- und Meinungsfreiheit im (SPD) ...... 15558 C Internet weltweit durchsetzen – Jour- nalisten, Menschenrechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schützen Tagesordnungspunkt 7: (Drucksachen 15/3709, 15/5040) ...... 15543 A Antrag der Abgeordneten Thomas Rachel, h) Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Maria Böhmer, Hubert Hüppe, weiterer Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion CSU: Forschungsförderung der Europäi- der FDP: Für die mandatsgebundene schen Union unter Respektierung ethischer Begleitung VN-mandatierter Friedens- und verfassungsmäßiger Prinzipien der missionen durch Menschenrechtsbe- Mitgliedstaaten obachter (Drucksache 15/4934) ...... 15559 D (Drucksache 15/4946) ...... 15543 B Thomas Rachel (CDU/CSU) ...... 15559 D Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 15543 C René Röspel (SPD) ...... 15561 B Hermann Gröhe (CDU/CSU) ...... 15544 D Ulrike Flach (FDP) ...... 15562 B Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15546 B Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15563 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 15547 D Vera Dominke (CDU/CSU) ...... 15564 B Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 15548 D Jörg Tauss (SPD) ...... 15565 B

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 15550 A Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 15565 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 V

Tagesordnungspunkt 10: Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abge- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- ordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Bohlig, Volker Beck (Köln), weiteren Abge- Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des ordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- Arzneimittelgesetzes SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- (Drucksachen 15/4736, 15/5112) ...... 15566 D wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ein- führungsgesetzes zum Bürgerlichen Ge- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär setzbuche BMVEL ...... 15567 A (Drucksachen 15/4134, 15/5132) ...... 15580 B

Peter Bleser (CDU/CSU) ...... 15568 A Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 15580 C Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15569 B Marco Wanderwitz (CDU/CSU) ...... 15581 C

Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 15570 B Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15584 B Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 15571 A Rainer Funke (FDP) ...... 15585 B Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 15572 A Wolfgang Spanier (SPD) ...... 15585 D

Tagesordnungspunkt 9: Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef Parr, Ulrike Flach, Rainer Funke, Große Anfrage der Abgeordneten Gitta weiteren Abgeordneten und der Fraktion Connemann, Dr. Wolfgang Bötsch, Günter der FDP eingebrachten Entwurfs eines Nooke, weiterer Abgeordneter und der Frak- Gesetzes zur Regelung der Präimplan- tion der CDU/CSU: Situation der Breiten- tationsdiagnostik (Präimplantations- kultur in Deutschland diagnostikgesetz – PräimpG) (Drucksache 15/4140) ...... 15587 A (Drucksache 15/1234) ...... 15573 D Gitta Connemann (CDU/CSU) ...... 15587 B b) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . 15588 C schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung:Tech- Ernst Burgbacher (FDP) ...... 15589 D nikfolgenabschätzung hier: Sachstandsbericht Präimplanta- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/ tionsdiagnostik – Praxis und rechtliche DIE GRÜNEN) ...... 15590 D Regulierung in sieben ausgewählten Ländern Dr. Wolfgang Bötsch (Drucksache 15/3500) ...... 15573 D (CDU/CSU) ...... 15592 A

Detlef Parr (FDP) ...... 15574 A Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD) ...... 15593 A Dr. Erika Ober (SPD) ...... 15575 B

Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 15576 C Tagesordnungspunkt 12: Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15578 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 15579 B nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD, der Abge- Tagesordnungspunkt 5: ordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, NEN sowie der Abgeordneten Cornelia VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, Ausrichtung des Schulwesens – Den weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Bildungsstandort Deutschland auch im FDP: Impulse für eine internationale Aus- Schulbereich stärken (Tagesordnungs- richtung des Schulwesens – Den Bildungs- punkt 12) standort Deutschland auch im Schulbe- reich stärken Gesine Multhaupt (SPD) ...... 15597 B (Drucksachen 15/4723, 15/5097) ...... 15594 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) ...... 15598 B

Tagesordnungspunkt 13: Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) ...... 15599 D Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Bernward Müller (Gera) rung des Grundstückverkehrsgesetzes und (CDU/CSU) ...... 15600 C des Landpachtverkehrsgesetzes (Drucksache 15/4535) ...... 15594 D Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15601 B

Tagesordnungspunkt 14: Anlage 3 Antrag der Abgeordneten Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, wei- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker des Grundstückverkehrsgesetzes und des Beck (Köln), Winfried Hermann, weiterer Landpachtverkehrsgesetzes (Tagesordnungs- Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- punkt 13) NISSES 90/DIE GRÜNEN: Zum Beginn der Dekade „Wasser zum Leben“ der Verein- Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 15602 B ten Nationen (Drucksache 15/5115) ...... 15595 A Kurt Segner (CDU/CSU) ...... 15603 B

Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15604 C Tagesordnungspunkt 15: Ernst Burgbacher (FDP) ...... 15605 A Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Die Wahlrichtlinien der Ent- wicklungsgemeinschaft der Staaten im süd- Anlage 4 lichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie und faire Wahlen auch in Simbabwe Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Drucksache 15/5117) ...... 15595 C des Antrags: Zum Beginn der Dekade „Was- ser zum Leben“ der Vereinten Nationen (Ta- gesordnungspunkt 14) Nächste Sitzung ...... 15595 D Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD) ...... 15605 D

Anlage 1 Ulrich Petzold (CDU/CSU) ...... 15607 B Christa Reichard (Dresden) Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15597 A (CDU/CSU) ...... 15608 B

Ulrich Heinrich (FDP) ...... 15609 B Anlage 2 Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 15610 A

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin des Antrags: Impulse für eine internationale BMZ ...... 15610 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 VII

Anlage 5 Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 15611 B

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 15613 B des Antrags: Die Wahlrichtlinien der Ent- wicklungsgemeinschaft der Staaten im süd- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ lichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie DIE GRÜNEN) ...... 15615 B und faire Wahlen auch in Simbabwe (Tages- ordnungspunkt 15) Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 15616 B

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(A) (C) Redetext

166. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergeb- nisse der Sitzung der Bund/Länder-Kommission für Bil- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die dungsplanung und Forschungsförderung am 14. März Sitzung ist eröffnet. 2005 – Auswirkungen auf Wissenschaft und Forschung (siehe 165. Sitzung) Ich darf Sie bitten, sich zu erheben. ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Die Anwesenden erheben sich) (Ergänzung zu TOP 24) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen Im Alter von 80 Jahren ist am 7. März 2005Walter (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: „Meer für Arendt gestorben. Er war von 1961 bis 1980 Mitglied Morgen“ – Impulse für die maritime Verbundwirtschaft des Deutschen Bundestages und von 1961 bis 1969 zu- – Drucksache 15/5099 – gleich Abgeordneter im Europaparlament. Von 1969 bis Überweisungsvorschlag: 1976 amtierte er als Minister für Arbeit und Sozialord- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) (B) nung in den Kabinetten Brandt und Schmidt. Finanzausschuss (D) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Walter Arendt war seiner Heimat im Ruhrgebiet eng Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und verbunden. Wie schon sein Vater ergriff er den Beruf des Technikfolgenabschätzung Bergmanns. Nach seiner Zeit als Soldat und der an- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union schließenden Kriegsgefangenschaft studierte er an der ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Akademie für Arbeit in Frankfurt am Main sowie an der (Ergänzung zu TOP 25) Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg. Er enga- a) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses gierte sich in der IG Bergbau, deren Vorsitz er 1964 (6. Ausschuss) übernahm. In der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- Übersicht 10 lands nahm Walter Arendt zahlreiche Funktionen wahr. über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streit- Als einer der führenden Energie- und Sozialexperten hat sachen vor dem Bundesverfassungsgericht er sich stets für den Erhalt der deutschen Montanindus- – Drucksache 15/5114 – trie engagiert. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor Sowohl als Parlamentarier wie später auch als Minis- dem Bundesverfassungsgericht – 1 BvR 357/05 ter blieb Walter Arendt seinen Wurzeln und seinen Wer- – Drucksache 15/5113 – ten verpflichtet. Es war ihm ein Anliegen, insbesondere Berichterstattung: die Interessen von Bergleuten und sozial Benachteiligten Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) zu vertreten. In seiner Zeit als Mitglied der Bundesregie- ZP 4 Beratung des Antrags derAbgeordneten Jörg van Essen, rung reformierte er das Betriebsverfassungsgesetz, Gisela Piltz, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:DNA-Reihentests auf sichere Rechts- führte kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen ein und grundlage stellen verbesserte die soziale Absicherung von Kriegsopfern. – Drucksache 15/4695 – Walter Arendt hat das Gesicht unserer sozialen Markt- Überweisungsvorschlag: wirtschaft entscheidend mitgeprägt. Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Sie haben sich zu Ehren Walter Arendts erhoben; ich ZP 5 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der danke Ihnen. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuord- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene nung des Gentechnikrechts Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ- – Drucksache 15/4834 – ten Punkte zu erweitern: (Erste Beratung 158. Sitzung) 15484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Präsident Wolfgang Thierse (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und damit der Globalisierung des Wirtschaf- (C) Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschafttens zusammenhängt, und zum anderen einem radikal (10. Ausschuss) veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft. – Drucksache 15/5133 – Berichterstattung: Mir liegt daran, dass klar wird: Die Agenda 2010 ist Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß ein Instrument, um unter veränderten Bedingungen So- Helmut Heiderich zialstaatlichkeit und damit den sozialen Zusammenhalt Ulrike Höfken unserer Gesellschaft zu sichern. Dr. Christel Happach-Kasan b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- DIE GRÜNEN) wirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abg. Helmut Heiderich, Peter H. Carstensen (Nordstrand), MarleneSie ist ein notwendiges Instrument; denn der Zusammen- Mortler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ halt unserer Gesellschaft lässt sich nur dann sichern, CSU: Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervollstän- wenn wir zu Veränderungen in der Politik bereit sind. digen Die Veränderung schafft die Möglichkeit des Bewah- – Drucksachen 15/4828, 15/5134 – rens; denn das, was über Generationen in Deutschland Berichterstattung: von einer jetzt älter gewordenen Generation aufgebaut Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß Helmut Heiderich worden ist, hat es verdient, bewahrt zu werden. Ulrike Höfken Aber genauso klar muss sein – angesichts der letzten Dr. Christel Happach-Kasan Debatten muss das immer wieder deutlich gemacht Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- werden –: Der soziale Zusammenhalt unserer Gesell- weit erforderlich – abgewichen werden. schaft ist kein Luxus, den man in schwieriger werdenden Zeiten beiseite schaffen könnte. Darüber hinaus sollen folgende Tagesordnungspunkte umgestellt werden: Tagesordnungspunkt 8 – Menschen- (Lebhafter Beifall bei der SPD und dem rechte – nach Punkt 4, Tagesordnungspunkt 10 – Arznei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mittelgesetz – nach Punkt 7, Tagesordnungspunkt 5 – Än- Solidarität in einer Gesellschaft – das Einstehen der derung des Einführungsgesetzes zum BGB – nach Punkt 9 Starken für die Schwachen, der Gesunden für die Kran- sowie die Gesetzentwürfe unter Tagesordnungspunkt 20 ken und der Jungen für die Alten – ist gewiss eine Tu- nach Punkt 21. gend. Sie ist aber zugleich auch Voraussetzung des öko- Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – nomischen Erfolgs in den entwickelten Gesellschaften Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Europas. (B) (D) Sodann möchte ich nachträglich dem Kollegen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Volker Kröning, der am 15. März seinen 60. Geburtstag DIE GRÜNEN) feierte, die besten Wünsche des Hauses aussprechen. Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft (Beifall) infrage stellt, wer soziale Kohäsion als überflüssiges Zierwerk in guten Zeiten betrachtet, der stellt eben nicht Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: nur wichtige Errungenschaften von Politik und Gesell- Abgabe einer Regierungserklärung durch den schaft in unserem Land infrage, nein, er ist vielmehr da- Bundeskanzler bei, den inneren Frieden zu zerstören. Der innere Frieden ist nicht zuletzt ein ökonomisches Datum, eine Voraus- Aus Verantwortung für unser Land: Deutsch- setzung auch dafür, erfolgreich und effizient zu produ- lands Kräfte stärken zieren. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- DIE GRÜNEN) rung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die Agenda 2010 ist gewiss ein anspruchsvolles Re- formprogramm, das – der Name bringt das schon zum Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Ausdruck – weit über die gegenwärtige Legislatur- nun der Bundeskanzler, Gerhard Schröder. periode hinausreicht. Die Agenda 2010 will Wirklichkeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestalten und sie will verändern. Sie ist deshalb mit DIE GRÜNEN) einem Reformbegriff verbunden, der sich eben nicht in Gesetzesbeschlüssen – ob im Bundestag oder Bundes- rat – erschöpft, sondern bei dem es darum geht, die Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Wirklichkeit in Deutschland zu verändern. Deshalb ist es Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und so wichtig, dass als Teil der Reformen, die mit dem Be- Herren! Vor fast genau zwei Jahren habe ich im Deut- griff „Agenda 2010“ bezeichnet werden, nicht zuletzt schen Bundestag dieAgenda 2010 vorgestellt. Die die Umsetzung dieser Reformen gemeint ist und keines- Agenda 2010 ist die Antwort auf zwei große Herausfor- wegs nur das Beschließen von entsprechenden Gesetzen. derungen, denen unsere Gesellschaft wie viele andere Gesellschaften in Europa ausgesetzt ist: zum einen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herausforderung, die mit der Globalisierung unserer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15485

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Der Gesetzesbeschluss – so begriffen bei der Gesund- Ich weiß, dass das ein ungemein schwieriger Prozess (C) heitsreform, bei der Rentenreform, vor allen Dingen aber sein wird. Aber es ist einer, der schon aus dem Grund bei der Arbeitsmarktreform – ist die Voraussetzung für unternommen werden muss, weil die Hälfte dieser Men- den Reformprozess; er ist der Anfang, aber keineswegs schen Jugendliche unter 25 Jahre sind. Es kann doch dessen Ende. nicht richtig sein, dass wir sie einfach in der Sozialhilfe abgedrängt liegen lassen, zwar notdürftig versorgt, aber Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich ohne Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben. Ich darauf eingehe, welche Wirkungen die Agenda 2010will das jedenfalls nicht. entfaltet hat, ist es schlicht unumgänglich, Bemerkungen zur Lage auf dem Arbeitsmarkt zu machen. Es ist gar (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keine Frage, dass die Zahlen, mit denen wir konfrontiert DIE GRÜNEN) worden sind, uns alle bedrücken müssen. Mehr als Wir haben mit den Reformen, die gemeinhin als 5 Millionen Arbeitslose, die im Februar gezählt worden „Hartz-Reformen“ bezeichnet werden, den ernst ge- sind, sind die ernsthafteste Herausforderung, vor der un- meinten und ernsthaften Versuch gemacht, diese und an- sere Gesellschaft steht. dere Menschen in die Arbeitsmärkte einzugliedern. Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setzen auf das Prinzip des Förderns, aber auch des For- DIE GRÜNEN) derns. Diejenigen, um die es geht, werden Angebote er- halten – es sind nicht immer solche, die sie erwarten –, Aber klar muss auch sein: Gerade wenn man das alsdas zu tun, zu dem sie in der Lage sind, um für sich und ernsthafte Herausforderung begreift – und das tun wir ihre Familien ein Einkommen und Auskommen durch alle –, dann ist es erforderlich, aufklärerisch tätig zu wer- Arbeit zu schaffen. Wir haben deutlich gemacht, dass zu- den, was denn diese Zahlen im Einzelnen begründet. Wir mutbare Arbeit in Deutschland auch von denjenigen ge- haben steigende Zahlen der Erwerbstätigen. leistet werden muss, die sich in Deutschland legal auf- (Widerspruch bei der CDU/CSU) halten. Das werden wir durchsetzen. Die Hartz- Reformen, die wir eingeleitet haben, sind zu genau die- Wir rechnen 2005 mit mehr als 300 000 zusätzlichen Er- sem Zweck gemacht worden. werbstätigen. 2004 waren es 140 000. Ich erwähne das nicht, um die andere Zahl zu relativieren, die ich genannt In diesem Zusammenhang ein Wort zurBundes- habe. Ich sage aber, dass der Reformprozess, den wir in agentur für Arbeit: Die frühere Bundesanstalt für Ar- Gang gesetzt haben und der in etlichen Bereichen gerade beit mit mehr als 90 000 Beschäftigten war eine Organi- zwei Monate alt ist, gleichwohl zu greifen beginnt. sation, bei der 10 Prozent derer, die dort tätig gewesen sind, mit Vermittlung in den Arbeitsmarkt beschäftigt (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ waren, 90 Prozent der dort Tätigen dagegen mit der Ver- (D) DIE GRÜNEN) waltung von Arbeitslosigkeit. Das war kein Zustand, der aufrechterhalten werden konnte. Die Zusammenlegung Es bleibt dabei: Niemand darf über die Zahl von über der beiden sozialen Systeme Arbeitslosenhilfe und So- 5 Millionen gezählten Arbeitslosen hinwegsehen oder zialhilfe hat den Zweck, esen di Zustand zu beenden. sie sogar zu bagatellisieren versuchen. Es ist wichtig,Man kann ihn nur beenden, wenn sich die Art und den Menschen in Deutschland, die nicht zuletzt wegen Weise, wie diese Agentur arbeitet, von Grund auf ändert, dieser Zahl Verunsicherung spüren, zu erklären, wie sie denn zustande kommt. Allein im Januar dieses Jahres (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind 360 000 Menschen zusätzlich in die Arbeitslosen- DIE GRÜNEN) statistik gekommen. Das waren nun keineswegs neue wenn Vermittlung und nicht Betreuung im Vordergrund Arbeitslose, sondern es waren Menschen, die bislang in steht. der Sozialhilfestatistik geführt worden sind. Es waren Menschen, die – obwohl erwerbsfähig – keinerlei Ange- Wir sind vorangekommen. Im Januar mussten Hun- bote an Erwerbsarbeit bekommen haben. In den großen derttausende von Anträgen auf Arbeitslosengeld II ge- Städten Deutschlands ist die Zahl der erwerbsfähigen prüft und beschieden werden. Erinnern wir uns: Manch Sozialhilfeempfänger – das ist eine Zahl des Statisti- einer hat geglaubt, dass das von denen, die in der Agen- schen Bundesamtes, nicht meine – im Durchschnitt um tur beschäftigt sind, nicht zu leisten sei. Aber es ist doch sage und schreibe 95 Prozent reduziert worden. Diesgeleistet worden. Ich finde, an dieser Stelle ist auch ein sind Menschen, die keine Arbeit hatten und die man in Wort des Dankes wegen des Arbeitseinsatzes dieser Mit- die Sozialhilfe gedrängt hatte, ohne ihnen eine Perspek- arbeiterinnen und Mitarbeiter angebracht. tive zu geben. Durch die Zusammenlegung von Arbeits- losenhilfe und Sozialhilfe gelingt es uns zunächst, deut- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich zu machen, dass wir sie als Menschen begreifen, die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht vergessen sind, CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden erreichen, dass die Zusammenarbeit zwi- DIE GRÜNEN) schen Kommunen und den Agenturen vor Ort besser als in der Vergangenheit wird. Aber auch das ist eine Um- als Menschen begreifen, die wir brauchen und denen wir stellung, die bewältigt werden muss. Wir werden und über Qualifizierung und Angebote eine Perspektive für wir müssen erreichen, dass sich die Motivation der ein Leben ohne staatliche Unterstützung geben wollen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – es sind über 90 000 – 15486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) ändert, dass sie wegkommen von Betreuung und hin- Wir haben im Zusammenhang mit der Agenda dann(C) kommen zur aktiven Vermittlung derer, die ihnen anver- darüber zu reden, was denn aus den Reformen im traut sind. Gesundheitssektor geworden ist. Wenn man sich das einmal anschaut, dann stellt man doch fest, dass das, was In diesem Zusammenhang Folgendes: Es ist leicht, wir übrigens gemeinsam gemacht haben – das wird ja über diejenigen zu lästern, die diese Arbeit zu tun haben. gelegentlich gerne vergessen; jedenfalls dann, wenn es Ich kenne nicht viele Unternehmen großen Zuschnitts, eng wird –, die eine so gewaltige Umstellung dessen, was sie Kern- geschäft nennen, in dieser Zeit mit diesen Erfolgen er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ reicht haben. Ich wiederhole: Ich kenne nicht viele Un- DIE GRÜNEN) ternehmen. positive Wirkungen entfaltet hat. Damit komme ich zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Krankenkassen, denn wir müssen darüber reden, wie DIE GRÜNEN) wir es hinbekommen, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden. In 2003 haben die Krankenkassen ei- Wer über den Arbeitsmarkt spricht, muss überAus- nen Verlust von nahezu 3 Milliarden Euro gemacht, in bildung in Deutschland reden. Wir haben in diesem2004 – das steht inzwischen fest – einen Gewinn von Haus vielfach darüber diskutiert und auch gestritten. Wir 4 Milliarden Euro. Ich sage hier ohne Wenn und Aber: sind schließlich dazu gekommen, zu sagen: Es ist nicht Dieser Gewinn von 4 Milliarden Euro muss zu großen zuletzt die Verantwortung der Wirtschaft, für den eige- Teilen in Form von Beitragssenkungen und damit in nen Nachwuchs zu sorgen. Form von Senkung der Lohnzusatzkosten weitergegeben werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Lasst mich deutlich sagen: Wer nicht ausbildet, sägt sich ökonomisch den Ast ab, auf dem er morgen zu sitzenEr muss weitergegeben werden in Form von Beitrags- hat. senkungen und nicht – das sage ich bewusst, obwohl ich zu Neid nun wirklich unfähig bin – in Form einer Erhö- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hung der Gehälter der Kassenvorstände. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bin froh darüber, dass es durch eine Kraftanstren- DIE GRÜNEN) gung, und zwar eine gemeinsame von Regierung und Wirtschaft, gelungen ist, die Zahl der Ausbildungsver- Es wird, meine Damen und Herren – das ist auch ein (B) träge auch in den Betrieben deutlich zu steigern. Ich bin gemeinsamer Beschluss; ich hoffe, wir vertreten ihn(D) froh darüber, dass es uns gelungen ist, allen, die ausbil- auch gemeinsam –, zum 1. Juli dieses Jahres zur Um- dungsfähig sind, auch einAngebot zu machen. Dieser finanzierung bei Krankengeld und Zahnersatz kommen. Prozess muss weitergehen. Die Aufgabe, Ausbildungs- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war nicht plätze zu schaffen, ist nicht zu Ende seit dem letzten gemeinsam! Das habt ihr alleine gemacht!) Jahr; sie beginnt in diesem Jahr, und zwar heute und morgen. – Ich höre schon wieder: „Das habt ihr alleine ge- macht!“. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja!) Ich bin all denen, die sich auf der Seite der Wirtschaft Das ist aber Teil der Gesundheitsreform, meine Damen wie auf der Seite der Politik, insbesondere dem Präsi- und Herren, und wird dazu führen, dass die Betriebe er- denten des DIHK und – lassen Sie mich das so sagen – neut 4,5 Milliarden Euro an Lohnzusatzkosten weniger zahlen müssen. Ich hoffe, das wird dort auch bemerkt Franz Müntefering, und zu Einstellungen führen. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der FDP) DIE GRÜNEN) die Mühe gemacht haben, dankbar für den Erfolg, der in Es ist ja interessant, dass dann, wenn, wie in diesem diesem Pakt steckt. Fall, die eine Forderung erfüllt wurde, sogleich die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nächste nachgeschoben wird. Das kann doch nicht sein. DIE GRÜNEN) Die Unternehmen haben, wenn ich in diesem Bereich al- les zusammennehme, fast 10 Milliarden Euro an poten- Dieser Erfolg ist erzielt worden und er ist gewiss nicht ziellen Lohnzusatzkosten einsparen können. Das führt durch Sie von der Opposition zustande gekommen. zu verbesserter Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch und gerade der mittelständischen. Die Folge davon DIE GRÜNEN) dürfen doch nicht Verlagerungsandrohungen sein, son- dern die Antwort darauf muss sein, dass mehr Einstel- Es ist ein Erfolg und wir müssen daran anknüpfen. lungen vorgenommen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15487

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Zum Arbeitsmarkt gehört auch die Diskussion, die in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) den letzten Tagen sehr intensiv in der Presse – das habe DIE GRÜNEN) ich sehr wohl mitbekommen – um die Frage geführt Ich wäre ja sehr dankbar, wenn angesichts dieser wurde, wie es sich mit dem Kündigungsschutz verhält. Lage, beim Kündigungsschutz mit gleichem Nachdruck Ich finde, meine Damen und Herren, man sollte sich ein- und mit den gleichen großen Schlagzeilen darauf hinge- mal klar machen, was auf diesem Sektor geleistet wor- wiesen würde, dass jetzt nicht nur die Möglichkeit be- den ist und welche Wirkungen das hat, jedenfalls haben steht, sondern dass es die Pflicht von Unternehmen ist, sollte. Wie ist denn die Lage? In Betrieben unter zehn auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Mitarbeitern werden diejenigen, die ab Januar 2004 ein- nicht zu verzichten, sondern sie in den Produktionspro- gestellt wurden, in Bezug auf die entsprechenden Kündi- zess einzubeziehen. gungsschutzregelungen nicht mitgezählt. Schauen wir uns jetzt einmal an, welche Möglichkeiten es auf dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deutschen Arbeitsmarkt gibt. Es wird ja immer gesagt, er DIE GRÜNEN) sei kaum flexibel. Das ist vielleicht auch interessant für diejenigen, die uns zuhören bzw. zuschauen, das wirk- Das zweite große Thema, das mit der Diskussion um lich einmal aufgearbeitet zu bekommen: die angeblich mangelnde Flexibilität auf dem Arbeits- markt immer zusammenhängt, ist die Frage der betrieb- Unabhängig vom Alter der Person kann jedes Unter- lichen Bündnisse. Ich würde raten, einmal einen Blick nehmen jeden zwei Jahre lang befristet einstellen. in die Wirklichkeit zu werfen und nicht ständig neue ideologische Popanze aufzubauen. Wenn es sich um einen Existenzgründer handelt – es wird ja zu Recht viel darüber geredet –, dann sind Ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellungen mit einer Befristung von bis zu vier Jahren DIE GRÜNEN) möglich. Das heißt, Existenzgründer können jeden vier Die Wirklichkeit in Deutschland – übrigens keineswegs Jahre lang befristet einstellen, ohne dass es für die Be- nur bei den großen Unternehmen – ist doch so, dass die treffenden irgendeine Form von Kündigungsschutz gäbe. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Gewerk- Schließlich zur Situation derälteren Arbeitnehme- schaften und ihre Betriebsräte sehr wohl in der Lage rinnen und Arbeitnehmer, die uns ja alle besonders be- sind, betriebliche Bündnisse zu schließen, wenn es die wegt: Für Personen ab 50 Jahren existiert so gut wie kein Notwendigkeit dazu gibt, um ihre Arbeitsplätze zu erhal- Kündigungsschutz, denn für die ersten zwei Jahre be- ten. Sie sind zum Verzicht immer noch bereit gewesen. steht die Möglichkeit, sie befristet einzustellen. Für Per- Ich würde mir wünschen, die gleiche patriotische Ein- sonen ab dem 52. Lebensjahr gibt es keine gesetzlichen stellung, wie sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- (B) Regelungen mehr in Bezugauf befristete Einstellung. mer haben, wäre auf der anderen Seite auch gegeben. (D) Sie können also unabhängig von den Regelungen für be- (Lebhafter Beifall bei der SPD und dem fristete Arbeitsverhältnisse jederzeit eingestellt und ent- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lassen werden, da ein Kündigungsschutz für diese Perso- nengruppe nicht mehr existiert. Übrigens funktionieren die betrieblichen Bündnisse keineswegs nur, wenn es darum geht, die Arbeitsplätze Meine Damen und Herren, das sollte eigentlich dazu in bestehenden Betrieben zu retten. Nein, wer nicht mit führen, dass das Gerede darüber, es habe keinen Sinn, Scheuklappen durch die Gegend läuft, der kann sehr einen älteren Arbeitnehmer einzustellen, weil man bei wohl mitbekommen, wie zum Beispiel im Osten unseres einem schwächeren Betriebsergebnis ihn nicht entlassen Landes durch betriebliche Bündnisse Ansiedlungs- kann, nun endlich aufhört. Hier ist ein Popanz aufgebaut erfolge erreicht worden sind. worden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich nenne sie Ihnen gleich. Als es um die Frage ging, wo BMW investiert, ob in Tschechien, in der Slowakei oder Ich will in dem Zusammenhang eines deutlich ma- in Deutschland, ist ein betriebliches Bündnis über Ar- chen: Wer geglaubt hätte – wir haben ja alle erwartet, beitszeit- und Entgeltbedingungen geschlossen worden, dass es so kommt –, dass die Lockerung des Kündi- das die Ansiedlung in Deutschland überhaupt erst mög- gungsschutzes im eben dargestellten Sinne bei den älte- lich gemacht hat. Das zeigt doch, dass es funktioniert. ren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei denen über 50, zu einer massiven Einstellungswelle in den Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten trieben führte, der sieht sich getäuscht. Das muss ich lei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der sagen. Ich könnte mit der gleichenBerechtigung Porsche nen- Wir haben also in dem Bereich keinen Kündigungs- nen und auch andere Automobilfirmen, um die es geht, schutz mehr. Trotzdem liegt die Beschäftigtenquote bei zum Beispiel Opel in Eisenach. Aber ich will eine An- den älteren Arbeitnehmern bei nur sage und schreibesiedlungsentscheidung nennen, die jüngst nur zustande 40 Prozent. Dabei geht es um die, die über 55 sind. Ich gekommen ist und zustande kommen konnte, weil die füge hinzu, meine Damen und Herren: Welche Vergeu- Gewerkschaft flexibel genug war – es handelt sich übri- dung von Wissen, von Erfahrung, von Fähigkeiten, auch gens um Verdi –, ein solches betriebliches Bündnis abzu- von Kreativität wird da volkswirtschaftlich betrieben! schließen. Ich meine die Ansiedlung von DHL in Leip- Das können wir auf Dauer doch nicht zulassen. zig, ein interessanter Vorgang. 15488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ strengung muss fortgesetzt werden, übrigens auch aus(C) DIE GRÜNEN) ökonomischen Gründen. Man sieht doch, dass sich angesichts dessen, was wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei der Diskussion um die Agenda 2010 vor zwei Jahren DIE GRÜNEN) gesagt haben – gesetzlich handeln wir, wenn sich nichts Die Lohnzusatzkosten für die Rente konnten übrigens bewegt –, sehr wohl etwas bewegt hat, dass es hinrei- nur stabil gehalten werden, weil wir massiv Geld über chende Öffnungsklauseln gibt. Meine Bitte ist: Lasst uns die – viel gescholtene – Ökosteuer in die Rentenkasse auf die Einsichtsfähigkeit der Beschäftigten, ihrer Be- geben. triebsräte, ihrer Gewerkschaften setzen, die diese Ein- sichtsfähigkeit nachgewiesen haben, und lasst uns – es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist ja üblich geworden, sich auf Montesquieu zu bezie- DIE GRÜNEN) hen – Deswegen warne ich diejenigen, die das oberflächlich (Heiterkeit bei der SPD) kritisieren; eine Veränderung hätte nämlich negative Fol- gen für die Stabilität der Beiträge und damit für die Sta- auch in diesem Fall sagen: Ein Gesetz, das nicht notwen- bilität der Lohnzusatzkosten. dig ist, unterbleibt besser. Ich füge hinzu: Wir sind es doch gewesen, die dafür (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesorgt haben, dass dasPrinzip der nachgelagerten DIE GRÜNEN) Besteuerung durchgesetzt wurde, ein Prinzip, bei dem Ich glaube also, dass wir die Gewerkschaften und die es darum geht, dass diejenigen, die aktiv beschäftigt Beschäftigten ermuntern sollten, diesen Weg der Flexi- sind, in Bezug auf ihre Beiträge deutlich entlastet wer- bilisierung in den Betriebenweiterzugehen. Das ge- den. Das wird so sein, meine Damen und Herren, und schieht auch. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht das wird Auswirkungen auf die Stabilität der Beiträge kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen und der Lohnzusatzkosten haben. Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die DIE GRÜNEN) Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Som- Wer fair ist, wer die Sorgen, die es angesichts der Ar- mer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich beitslosenzahlen ohne Zweifel gibt, ernst nimmt und wer wirklich nicht. Ich will keine anderen Länder nennen, auf der anderen Seite kein Zerrbild von Deutschland aber Sie kennen sie alle. Deswegen denke ich, dass wir zeichnen will, der muss darauf hinweisen, dass diese Re- (B) weiter auf die Bereitschaft zur Flexibilität, die bereitsformschritte – im Übrigen international höchst beachtet (D) nachgewiesen worden ist, setzen sollten; die Zahl derund gewürdigt – positive Erfolge gezeigt haben. Es ist Beispiele ließe sich vermehren. keineswegs so, dass wir ökonomisch gesehen in einem Jammertal lebten. Im Gegenteil: Die Auftragseingänge Teil der Agenda war auch, die Lohnnebenkosten da- im verarbeitenden Gewerbe sinken nicht, sie steigen. Im durch zu begrenzen, dass die Rentenversicherungsbei- Januar hat derExport gegenüber dem Vorjahr um träge stabil bleiben. Entgegen allen Unkenrufen haben 9,5 Prozent zugenommen, und das in einer Situation, in wir das geleistet, meine Damen und Herren. Das war nur der wir durch die Euro/Dollar-Relation wahrlich nicht durch eine Reihe von Reformschritten möglich, die bevorzugt werden, in einer Situation, in der international schon wieder in Vergessenheit geraten sind; ich weiß inzwischen eingesehen wird, dass in den letzten Jahren nicht, warum. Es ist doch wohl so, dass die Beiträge nur unter den G-8-Staaten allein Deutschland real mehr An- deshalb stabil gehalten werden konnten, weil wir die Ka- teil auf den internationalen Märkten gewonnen hat. Das pitaldeckung neben die Umlagefinanzierung gestellt ha- ist doch ein Zeichen von Kraft, die in der Volkswirt- ben. schaft steckt, und nicht von Schwäche. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich eine Wir würden einen riesigen Fehler machen, wenn wir Zusatzversorgung – meistens eine betriebliche – ge- es zuließen, dass ein Zerrbild der Lage Deutschlands ge- schaffen; 20 Millionen Menschen haben eine Kapitalde- zeichnet würde. Wir haben Probleme – keine Frage. ckung aufgebaut und damit das Verhältnis zwischen der Aber wir haben auch die Kraft – das ist nachgewiesen –, solidarischen Umlagefinanzierung und der eigenen Vor- mit diesen Problemen fertig zu werden. sorge zugunsten der eigenen Vorsorge verändert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, durch die Reformen hat DIE GRÜNEN) sich die Rentenbezugsdauer verändert, weil wir es ge- schafft haben, beim realen Renteneintrittsalter ein Jahr Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass das, was sich draufzulegen. Das reicht nicht. Auch hier gilt: Es ist viel- mit der Agenda verbindet, wirklich Wirkungen zeitigt leicht notwendig, über die Frage nachzudenken, ob das und dass wir gut daran tun, unbeirrt und mit aller Kraft, nominale Renteneintrittsalter erhöht werden muss; aber über die wir verfügen, diese Reformen Wirklichkeit wer- viel wichtiger als diese Diskussion ist die Anstrengung den zu lassen und die Arbeit der Umsetzung anzugehen. zur Erhöhung des realen Renteneintrittsalters. Diese An- Genau das tun wir. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15489

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Gleichwohl muss ich sagen: Es ist richtig, dass wir mangelnden Einnahmen bei den öffentlichen Haushal-(C) auch darüber nachdenken, welche zusätzlichen Impulse ten. wir – wenn es geht, gemeinsam – geben können. Die in- ternationale Situation, was den Wettbewerb angeht, hat Ich schlage deswegen vor, dass wir uns miteinander sich ungeachtet der Kraft der deutschen Wirtschaft nicht – wir brauchen den Bundesrat dazu – darauf einigen, den verbessert, nicht nur wegen der Erweiterung der Euro- Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent auf 19 Prozent zu päischen Union, aber auch wegen der Erweiterung der senken. Es muss glasklar sein, dass es dabei darum geht, Europäischen Union. Das führt naturgemäß dazu, dass die Finanzierung so zu gestalten, dass das Steuerauf- wir uns zu überlegen haben, wie wir auf dem Gebiet der kommen durch das Schließen von Steuerschlupflöchern Steuerpolitik weiter vorgehen. nicht kleiner, sondern größer wird, die Finanzierung also aufkommensneutral gemacht wird. Bevor ich dazu Bemerkungen und Vorschläge mache, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ will ich auf eines hinweisen. Wie ist denn die Steuerde- DIE GRÜNEN) batte verlaufen? Durch die drei Stufen der Steuerreform sind den Unternehmen und den privaten HaushaltenIch will andeuten, in welche Richtung meiner Meinung 56 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt worden. nach eine solche Finanzierung gehen sollte. Ich glaube, Man muss das angesichts der ständigen Forderungen im- es ist angemessen, zwischen der Belastung der Unter- mer wieder sagen. nehmen und derer zu unterscheiden, denen die Unter- nehmen gehören. Mit der Einführung des Halbeinkünf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ teverfahrens haben wir das getan: Man kann die DIE GRÜNEN) Besteuerung der Aktionäre im Rahmen des Halbeinkünf- Wir haben den Spitzensteuersatz, der bei unseremteverfahrens verändern, also die Steuerbelastung der Ak- Amtsantritt 1998 bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent ge- tionäre vergrößern und dafür die Steuerbelastung der senkt. Wir haben eine uralte Forderung des Mittelstan- Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb ste- des, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die hen, kleiner machen. Ich glaube, es ist auch angemessen, Unternehmensteuer der Personengesellschaften – das ist auf das zurückzukommen, was wir im Jahre 2003 mit- bekanntlich die Einkommensteuer –, erfüllt. Großes Lob einander diskutiert haben, nämlich die Frage, ob die haben wir dafür nicht bekommen, obwohl wir es ver-Mindestbesteuerung nicht zur Senkung der Unterneh- dient gehabt hätten. Obwohl die Sache richtig war, hat es mensteuersätze – ich sage es ausdrücklich – erhöht wer- nie ein Lob gegeben. den kann. Schließlich glaube ich, dass wir beim Abbau von Steuersubventionen, den wir nicht so weit geschafft (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben, wie es objektiv notwendig ist, endlich Ernst ma- (B) DIE GRÜNEN) chen müssen. (D) Es ist eine enorme Erleichterung gerade für den Mittel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stand, dass die Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer DIE GRÜNEN) angerechnet wird. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass wir bei den Wir haben im Übrigen – das sage ich an die Adresse Steuersparmodellen die Verlustverrechnungen deutlich der Skeptiker – auch kräftig am unteren Ende gearbeitet. beschränken und auf diese Weise Raum für das schaffen, Die Reduzierung des Eingangsteuersatzes von 25,9 auf was aus Wettbewerbsgründen für unsere Unternehmen jetzt 15 Prozent ist von uns – ich darf sagen: von euch – notwendig ist – was wir also machen müssen, was wir geleistet worden. aber im Interesse der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte aufkommensneutral gestalten müssen. An- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ders, meine Damen und Herren, wird es nicht gehen, DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr aber so könnte es gehen! wahr! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diesen Erfolg sollte man sich nicht kaputtmachen las- DIE GRÜNEN) sen. Die Folge dessen ist, dass Deutschland in diesem Bereich eine Steuerquote hat, die im unteren Drittel des Meine Bitte ist: Machen Sie mit bei dieser so wichtigen europäischen Geleitzuges liegt. Operation. Wir haben indessen – das wird den einen oder ande- Ich glaube, dass man darüber hinaus das verändern ren schmerzen – ein Problem bei den Kapitalgesell-muss, was ich eingangs meiner Ausführungen zur Steu- schaften. Das ist das Problem relativ hoher nomineller erpolitik erwähnt habe, nämlich die Anrechnung der Steuersätze. Damit verbunden haben wir ein anderesGewerbesteuer. Als wir diese Operation seinerzeit Problem: Wegen der hohen nominellen Steuersätze wird durchgeführt haben, haben wir gesagt: Mit der Operation immer wieder der Versuch unternommen, die eigentlich erreichen wir, dass wir die Gewerbesteuer bis zu einem fälligen Steuern durch exorbitante Verrechnungspreise Hebesatz von 390 Punkten voll anrechnungsfähig ma- auf der einen Seite und Gewinnverlagerungen auf der chen. Es gibt jetzt eine interessante Entwicklung: In dem anderen Seite nicht zahlen zu müssen. Wenn die Diffe- Moment, in dem man den Spitzensteuersatz senkt, ent- renz zu groß ist, hat das zwei Folgen: Es wird versucht, stehen Folgen negativer Art für die Anrechnung der Ge- sich bei jeder sich ergebenden Chance vor der Bezah- werbesteuer auf die Einkommensteuer. Der Satz liegt lung der Steuern zu drücken. Das wiederum führt zujetzt bei ungefähr 340 Punkten. Ich finde, im Interesse 15490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) der Förderung des Mittelstandes sollten wir den altenLassen Sie uns also diese Maßnahme, auf die der Mittel- (C) Zustand wiederherstellen. Das geht, wenn man den An- stand in Deutschland wartet, bitte schön auch wirklich rechnungsfaktor der Gewerbesteuer von jetzt 1,8 Prozent machen! auf 2 Prozent erhöht. Ich bin für eine solche Maßnahme und hoffe auf tätige Mitarbeit im Bundesrat, meine Da- Wir schlagen zusätzlich vor, dass wir die Mittel- men und Herren. standsbank des Bundes in den Stand versetzen, innovati- ven Mittelständlern für die Förderung von Innovationen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kredite in Höhe von 2 Prozent unter dem Marktzins zu DIE GRÜNEN) gewähren. Schließlich geht es mir um eine Frage, die im Bundes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rat gelegentlich schon diskutiert worden ist und hinsicht- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich deren ich glaube, dass man endlich Nägel mit Köp- fen machen muss. Wir reden ja sehr intensiv überDas, glaube ich, wäre einPaket zur Stärkung der Neugründungen und über die Frage, wie wir Neugrün- Wettbewerbsfähigkeit, das sofort auf den Weg gebracht dungen von Betrieben erleichtern können. Das ist auch werden könnte, ohne dass man auf etwas verzichtet, ein richtig so. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir Paket, das wir ohnehin machen müssen und zu dem der diejenigen erhalten können, die es schon gibt. Sachverständigenrat gebeten worden ist, Vorschläge zu machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben in der Tat das Problem, dass wir in einem In den nächsten Jahren wird es eine große Anzahl von vereinigten Europa außerordentlich unterschiedliche Betriebsübergängen – man nennt sie auch Erbschaf- Steuersätze – ich rede über die direkten Steuern – und ten – geben. Ich beziehe mich – damit dies völlig klar außerordentlich unterschiedliche Bemessungsgrund- ist – nicht auf private Erbschaften, sondern auf die Über- lagen haben. Wir arbeiten sehr daran – das ist schwer gänge von Betrieben, insbesondere von kleinen undgenug; das ist übrigens nicht nur auf die neuen Mitglie- mittleren. der bezogen; es gibt auch ältere Mitglieder, die da Schwierigkeiten machen –, eine gemeinsame Bemes- Ich bin dafür – ich weiß, Herr Ministerpräsident, dass sungsgrundlage für die direkten Steuern zu schaffen. An- auch Bayern dafür ist –, dass wir das Modell umsetzen, gesichts der Entscheidungsprozesse in Europa ist das über das diskutiert worden ist, nämlich bei einem Be- erstens nicht leicht und zweitens wird es dauern. Das triebsübergang jedes Jahr 10 Prozent der an sich fälligen liegt nicht an uns. Aber wenn ich mir einige andere Län- Erbschaftsteuer abzuziehen, wenn dieser Betrieb erhal- der anschaue, dann weiß ich, was da an Arbeit bevor- (B) ten wird. Ich weiß, dass sowohl in Bayern als auch in steht. Ich sage es noch einmal: Das ist keineswegs nur(D) Nordrhein-Westfalen, meine Herren Ministerpräsiden- auf die neuen Mitglieder bezogen, die ab 1. Mai letzten ten, darüber diskutiert worden ist. Ich finde, das kannJahres dabei sind. Auch große ältere Mitgliedstaaten und soll man machen. Ich weiß, dass die betroffenen– ich denke an Inseln und Ähnliches – haben da ein er- Kollegen in den Ländern dafür geradestehen müssen.hebliches Verweigerungspotenzial; das muss man ein- Denn die Steuern, die da anfallen, sind Steuern der Län- fach so sehen. der. Ich bin dafür, dass man dies einbezieht und dass man (Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP) den Sachverständigenrat auf dieser Grundlage bittet, möglichst rasch – ich hoffe, bis zum Herbst dieses – Die Maßnahme ist absolut sinnvoll. Jahres – Konkretes dazu vorzulegen, wozu der Sachver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ständigenrat schon einen Vorschlag gemacht hat, näm- DIE GRÜNEN) lich wie man auf der Basis gemeinsamer Bemessungs- grundlagen zu einer rechtsformneutralen Besteuerung Die Bundesregierung wird einen solchen Gesetzes- der Unternehmen kommen kann. Das ist ein wichtiger vorschlag unterstützen und, wenn Sie uns bitten, auch Punkt. selber einbringen. Aber klar ist natürlich, dass es dann im Bundesrat kein Gewürge geben darf, sondern dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie sicherzustellen haben, dass das auch läuft. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Fachleute nennen das Dual Income, also die Tren- DIE GRÜNEN) nung bei der Steuer zwischen betrieblicher und privater Sphäre ohne Ansehung der Rechtsform des Unterneh- Denn es geht ja nicht, solche Gesetze im Bundesrat ein- mens. Daran wird gearbeitet. Diese Vorschläge sollen bis zubringen und sie später abzulehnen. Soweit ich weiß, Ende oder besser bis Herbst dieses Jahres vorliegen. hat die Staatsregierung das nach dem Motto getan: Wir bringen ein, wenn die Ablehnung gesichert ist. Das kann Wir werden dann miteinander darüber reden müssen, ja nicht der Fall sein. wie wir diese umsetzen. Dabei ist eines zu berücksichti- gen: Wenn man sich das vorstellt, erkennt man, dass man (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der in der Besteuerung zu bestimmten Sätzen kommen wird. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Es kann sein, dass die kleinen und mittleren Unterneh- NEN) men, wenn man bestimmte Sätze vorsieht, dann unter Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15491

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Umständen höher besteuert werden, als das gegenwärtig Deshalb werden wir jährlich 500 Millionen Euro zusätz- (C) der Fall ist. Das wäre falsch. lich im Haushalt mobilisieren, um ein Zweimilliarden- programm für die nächsten vier Jahre aufzulegen, das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die Verkehrsinfrastruktur verbessert. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deswegen wird man sehr genau betrachten müssen, um DIE GRÜNEN) was es dabei geht. Der Sachverständigenrat ist gebeten worden, ein Sondergutachten vorzulegen; dies wird er In diesem Bereich nutzen wir nicht alle Möglichkei- sicherlich auch tun. ten, um auch privates Geld zu mobilisieren. Deshalb halte ich es für wichtig, zu prüfen, ob es möglich ist, Meine Bitte ist, diese Dinge rasch in Angriff zu neh- durch Finanzierungen über private Gesellschaften nach men. Alle meine Vorschläge verbauen nicht den Weg in österreichischem Vorbild zu einer Verstetigung der Infra- eine grundsätzlich erneuerte Unternehmensbesteuerung strukturinvestitionen zu kommen. nach dem skizzierten Muster. Wir sollten uns darauf ver- ständigen, sie jetzt zu realisieren. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung daran an- Wir werden mit dem von den Fraktionen vorbereite- knüpfen, meine Damen und Herren: Wenn wir dies mit- ten Beschleunigungsgesetz versuchen, im Bereich der einander tun – angesichts der Situation der öffentlichen Public Private Partnership privates Kapital in Milliar- Haushalte auf allen Ebenen wird es eine gewaltige Kraft- denhöhe zu mobilisieren, anstrengung sein –, dann erwarte ich, dass nicht gleich die nächste Forderung nachgeschoben wird. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ um konkrete Projekte wie die A 1 in Nordrhein-West- DIE GRÜNEN) falen und die A 4 in Thüringen zusammen mit der Wirt- schaft schneller umzusetzen, als es bei knappen öffentli- Wenn die Politik einen Rahmen geschaffen haben wird, chen Mitteln möglich wäre. der wirklich auskömmlich ist, dann sollte endlich das ständige Gerede von der Verlagerung von Betriebsstätten Wir werden ein Planvereinfachungsgesetz vorlegen, und Arbeitsplätzen aufhören und in Deutschland inves- das hilft, diese Investitionen schneller zu realisieren, als tiert werden. Diese Erwartung richte ich an die deutsche es gegenwärtig der Fall ist. Dies werden wir nicht auf Wirtschaft. einen Teil unseres Landes beschränken und es auch auf Investitionen in Stromnetze ausdehnen, die wir in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nächsten Zeit dringend brauchen und die ebenfalls zügi- (B) DIE GRÜNEN) ger ausgebaut werden müssen. (D) Der zweite Bereich, über den wir uns verständigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ müssen, betrifft die kurzfristige Verstärkung der DIE GRÜNEN) Investitionen. Die langfristigen strukturellen Grundla- gen sind durch die Reform-Agenda angelegt; aber wir Mit der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz, auf müssen kurzfristig etwas tun, meine Damen und Herren. die sich die Koalitionsfraktionen unter Mithilfe des Ich will jetzt nicht in alle Einzelheiten gehen. einen und anderen geeinigt haben, werden wir mehr Rechtssicherheit für die Energieversorger erreichen. (Lachen bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir werden erreichen – das ist von den Energieversor- der CDU/CSU) gern mitgeteilt worden –, dass bis zum Jahre 2010 sage und schreibe 20 Milliarden Euro in neue Kraftwerke, in – Nun warten Sie ab; wie Sie gemerkt haben, erwähne die Ertüchtigung alter Kraftwerke und in die Netze in- ich genügend Konkretisierungen. vestiert werden. Das ist eine Entwicklung, die ich für Wir müssen schneller zu Existenzgründungen kom- außerordentlich positiv ebenso wie für außerordentlich men, als es gegenwärtig der Fall ist. Um nur ein Beispiel notwendig halte. zu nennen: Mit einer Novelle des GmbH-Gesetzes kön- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen wir zu einer substanziellen Absenkung des für die DIE GRÜNEN) Gründung notwendigen Mindestkapitals kommen. Wir werden ein elektronisches Handelsregister einführen, da- Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nach mit Neugründungen binnen Tagen realisiert werden kön- meiner Meinung wichtig ist und über den – auch zu nen und nicht Monate brauchen. Dieser Punkt hat sehr Recht – viel gestritten worden ist. Ich meine die Frage: viel mit Bürokratieabbau zu tun. Wie geht es mit der Grünen Gentechnik weiter? Wir werden ein Gentechnik-II-Gesetz bekommen, das zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sammen mit dem ersten Gesetz einen vernünftigen DIE GRÜNEN) Rechtsrahmen für Investitionen in diesem Bereich dar- Des Weiteren müssen wir jede Anstrengung unterneh- stellt. men, um bei der Verkehrsinfrastruktur mehr als bis- lang vorgesehen zu machen. Ich weiß, meine Damen und Herren, dass in diesem Gesetz bezogen auf die Haftungsfragen nicht alles so ist, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie sich das die Wirtschaft, die investieren soll und will, DIE GRÜNEN) vorgestellt hat. Viele haben gesagt: Die Haftung sollen 15492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) die öffentlichen Hände übernehmen. Aber ist das wirk- Ich denke, wir wollen eine vernünftige Balance fin-(C) lich der richtige Weg? Können wir bei allem, was von den. Mit den Gentechnikgesetzen I und II ist sie fürs der Wirtschaft neu begonnen wird, die Risiken wirklich Erste gefunden. Also lassen Sie uns nicht Debatten von so verteilen oder ist es nicht sinnvoll, zu sagen: Wir wol- gestern führen, sondern darauf setzen, dass jetzt die Aus- len einen vernünftigen Rahmen setzen; wir erwartenbringung geschieht und wir in diesem Bereich weiter- aber auch, dass ihr auf der Basis dieser gesetzlichen Re- kommen. Wir werden dann sehen, ob wir nach zwei Jah- gelungen zu Fonds kommt, die die Haftung unter euch ren zu Veränderungen des gesetzlichen Rahmens regeln? kommen müssen oder nicht. Jedenfalls sollte begonnen werden. Ich denke, das ist die Aufgabe, die vor uns liegt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Mein Eindruck ist jedenfalls, dass manchmal merkwür- dig argumentiert wird, wenn man einerseits alles und je- Wir werden im Übrigen – weil ich beim Thema des dem Staat überlassen will, jedenfalls dann, wennInvestitionen bin – dafür sorgen, dass das CO2-Gebäu- man selbst betroffen ist, andererseits aber immer über desanierungsprogramm bis 2007 auf dem jetzigen Ni- Staatsfreiheit und Staatsferne redet. veau – das sind insgesamt 720 Millionen Euro, die nach bisherigen Erfahrungen Investitionen in Höhe von etwa (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 5 Milliarden Euro auslösen – weitergeführt werden DIE GRÜNEN) kann. Das ist durchfinanziert und das kann hier gesche- hen. Ich glaube, dass mit beiden Gesetzesvorhaben ein fai- rer Ausgleich und Planungsregelungen geschaffen wor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den sind, die Investitionen ermöglichen. Ich weiß, dass DIE GRÜNEN) ein großes deutsches Unternehmen demnächst Ausbrin- Im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen gungen machen wird. Ich bin im Übrigen bereit – wir ha- und vor allen Dingen der Handwerksbetriebe geht es um ben das schon im Bundesrat angekündigt –, den gesetzli- den Erhalt von immerhin 60 000 Arbeitsplätzen und chen Rahmen zu setzen und die Aktionen auf der Basis – wo möglich – um die Neuschaffung weiterer Arbeits- dieses gesetzlichen Rahmens auch wirklich zu gestalten plätze. Das ist in der Situation, in der wir uns befinden, und nach zwei Jahren zu überprüfen. Wir werden sehen, wahrlich nichts, was auf die leichte Schulter genommen ob wir in diesem Bereich unter dem europäischen Ge- werden könnte. sichtspunkt zu Veränderungen kommen müssen oder nicht. Vor einem sollten wir uns aber hüten, nämlich da- Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar Be- (B) vor, die Zurückhaltung im gesamten Bereich der Gen- merkungen zu dem machen, zu welchen neuen Impulsen (D) technik – es geht übrigens auch um Rote und Weißees vor dem Hintergrund der Diskussion über die Agenda Gentechnik – einseitig zu verteilen. 2010 und der Aufgaben der Bundesagentur auf dem Ar- beitsmarkt nach meiner Auffassung kommen muss. Ich erinnere an die Debatten zum therapeutischen Klonen hier im Deutschen Bundestag, wo ich quer durch Ich glaube, dass diejenigen, die da seinerzeit im Ver- alle Fraktionen des Deutschen Bundestages – ich sage mittlungsausschuss besonders tätig waren, inzwischen das mit allem Respekt – ein Maß an Zurückhaltung er- eingesehen haben, dass wir dieHinzuverdienstmög- lebt habe, das ich jedenfalls nicht für richtig haltenlichkeiten von Langzeitarbeitslosen noch einmal über- konnte. Ich will das nur so sagen. prüfen müssen. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Da sind wir einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meinung! Ich teile Ihre Auffassung!) DIE GRÜNEN) – Ich weiß, Herr Gerhardt, dass wir da einer Meinung Wir hatten seinerzeit Vorschläge gemacht. Ich will übri- sind. Es ist auch nicht schlimm, wenn auch wir einmal gens sagen: Ich gehe sehr respektvoll mit den Gegenvor- einer Meinung sind. schlägen um. Auch sie thalten en diskussionswürdige Überlegungen. Das kann man nicht bestreiten. Denn wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten müssen der Gefahr widerstehen, dass wir über Transfer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) leistungen einerseits und Hinzuverdienstmöglichkeiten andererseits dafür sorgen, dass Menschen zu lange in Ich will das hier nur sehr deutlich sagen, damit nicht der diesen Beschäftigungsverhältnissen bleiben. Das ist ein Eindruck entsteht, die Sensibilität in diesem Bereichwichtiger Gesichtspunkt, den diejenigen eingebracht ha- – um es freundschaftlich zu sagen – sei nur in der Mitte ben, die damals skeptisch waren, und den man nicht mit des Hohen Hauses vorhanden, also nur bei den Grünen, leichter Hand wegwischen darf. Ich glaube, es lässt sich (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig! ein vernünftiger Mittelweg finden. Wir sollten gemein- Ganz wichtig!) sam daran arbeiten. Denn auch da brauchen wir eine Zu- stimmung des Bundesrates, wenn wir das verändern und die anderen seien nur darauf aus, das wirtschaftlich wollen – wofür ich bin. Vernünftige zu tun. Den entscheidenden Punkt werden wir in der nächs- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das musste ten Zeit bei der Stärkung der Vermittlungsaktivitäten jetzt einmal gesagt werden!) – zunächst für die unter 25-Jährigen – leisten müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15493

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Sie wissen: Diejenigen, die unter das SGB II fallen – das sind diejenigen, die Arbeitslosengeld II bekommen –, Ich plädiere dafür, dieses Verbot auf zwei Jahre zu be- haben einen Rechtsanspruch entweder auf einen Ausbil- schränken, damit Kettenarbeitsverträge nicht unbegrenzt dungsplatz, auf eine Maßnahme der Qualifizierung oder möglich sind. auf einen Arbeitsplatz. Wenn wir bei den Langzeit- arbeitslosen mit aller Kraft beginnen, können wir es Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusam- schaffen, diesen Rechtsanspruch zu realisieren. Wir ha- menhang – auch das betrifft den Arbeitsmarkt – auf et- ben dafür etwa 7 Milliarden Euro in der Bundesagentur was hinweisen, was uns allen Sorgen macht, nämlich die zur Verfügung. Wir sollten dieses Bemühen auf diejeni- in letzter Zeit evident gewordene Umgehung der Verein- gen ausdehnen, die unter das SGB III fallen, die also Ar- barungen, die wir anlässlich der Erweiterung der Euro- beitslosengeld I beziehen oder keine Leistungen bekom- päischen Union getroffen haben, was die Schutzfristen men, weil sie noch bei den Eltern sind und diesefür die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Umgehung Leistungen aus diesem Sicherungssystem bekommen. der Entsenderichtlinie angeht. Im Fleischerhandwerk und zunehmend auch im Baunebengewerbe – bei den Mir geht es darum – ich bin mir mit dem Wirtschafts- Fliesenlegern, aber auch in anderen Bereichen – haben und Arbeitsminister völlig einig –, dass wir die Kräfte wir den Tatbestand, dass Sicherungsvorschriften für die der Bundesagentur auf zwei Bereiche konzentrieren.deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Zum Ersten müssen wir es schaffen, den Jungen eineFlucht in Scheinselbstständigkeit und Ähnliches umgan- Perspektive zu geben. gen werden und damit unserer Volkswirtschaft schwers- ter Schaden zugefügt wird, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist übrigens auch aus demographischen Gründen notwendig. Wenn wir es nicht schaffen, die mehr alsübrigens auch den betroffenen ausländischen Arbeitneh- 600 000 jungen Leute unter 25 Jahren aus der Perspek- mern, die nicht menschenwürdig beschäftigt werden. tivlosigkeit herauszuholen, dann werden wir das bitter Wir müssen dazu kommen – auch hier braucht es die Zu- bereuen, weil uns in kürzester Zeit die Arbeitskräfte feh- sammenarbeit von Bund und Ländern –, dass wir mit len werden, die wir brauchen, um weiter Wachstum ge- dem Aufbau von Taskforces, wie das so schön heißt, un- nerieren zu können. Das ist der Zusammenhang. Es wäre nachsichtig alle legalen Möglichkeiten nutzen, um die- (B) auch eine ökonomische Katastrophe, diese Leute in der sem Treiben Einhalt zu gebieten. Wir brauchen nicht nur (D) Anonymität zu lassen und ihnen keine Perspektive zu Recht und Ordnung im Inneren, wir brauchen auch geben. Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt; auch dort müssen wir sie herstellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zum Zweiten müssen wir uns auf die älteren Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer – auf die über 55- oder Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sa- über 58-Jährigen – konzentrieren, speziell im Osten.gen zu einer Diskussion über ein europäisches Vorhaben, Auch hier müssen wir die Vermittlungstätigkeiten ver- das nicht nur in Deutschland die Menschen bewegt, son- stärken. Wir werden das tun. Wir müssen auch mit denen dern auch in unseren Nachbarländern: Ich meine die zusammenarbeiten, die in der Wirtschaft Zusatzbeschäf- Dienstleistungsrichtlinie. Klar ist zunächst: Die Fehl- tigung bereitstellen können und sollen. Wir stellen uns entwicklungen, die ich eben skizziert habe, haben mit zum Beispiel vor, 250 Millionen Euro zu mobilisieren, der Dienstleistungsrichtlinie nichts zu tun: weil sie noch um in Bereichen, die besonders gut sind, mehr zu tun. nicht gilt. Und ganz klar ist auch: So wie Herr Formen des Wettbewerbsdenkens wie Best Practice sind, Bolkestein, der ehemalige EU-Kommissar, sie sich vor- glaube ich, auch in diesem Bereich angemessen und ver- gestellt hat, wird sie nicht in Kraft treten. nünftig und sollten ausgebaut werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich bin mir darüber mit dem französischen Präsidenten Ich habe mich mit der Frage der befristeten Beschäf- völlig einig – mit anderen im Übrigen auch –: Wir kön- tigung auseinander gesetzt. Gelegentlich wird über Fle- nen nicht zulassen, dass es über die Dienstleistungsfrei- xibilität auf dem Arbeitsmarkt diskutiert, ohne wirklich heit, für die man im Prinzip durchaus sein sollte, zu zu den Punkten zu kommen. Es gibt einen Punkt, wo ich Sozialdumping in Deutschland kommt, dass Sicherheits- selber meine, dass wir bei der Befristung etwas tun müs- standards, die wir aus guten Gründen für unsere Arbeit- sen: Wir müssen die befristete Beschäftigung erleich- nehmerinnen und Arbeitnehmer aufgebaut haben, miss- tern, in dem wir das absolute Verbot der Vorbeschäfti- achtet werden, und wir können nicht zulassen, dass die gung aufheben. Ich glaube, diese Entwicklung ist richtig freien Wohlfahrtsverbände und diejenigen, die die Pflege und vernünftig. von Alten und Kranken verantworten, in die Situation 15494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) gebracht werden, dass sie nicht mehr mitkönnen, weil sie Deshalb muss das Gewürge im Vermittlungsausschuss(C) kaputtkonkurriert werden. aufhören. Die Mittel für die Eigenheimzulage müssen ausschließlich für Forschung und Entwicklung sowie für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Investitionen in Bildung eingesetzt werden. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das kann nicht Sinn der Dienstleistungsfreiheit in DIE GRÜNEN) Europa sein und das wird es mit uns auch nicht geben. Ich bin frohen Mutes, dass man das sowohl im Europäi- In diesem Zusammenhang sage ich in aller Klarheit: schen Parlament als auch in der Europäischen Kommis- Ich halte es wirklich für höchst bedenklich, wie mit den sion noch einsehen wird. 4 Milliarden Euro verfahren wird, die wir für die Ganz- tagsbetreuung zur Verfügung stellen. Meine Damen und Herren, ich will mich über das hi- naus einem weiteren Thema widmen: Das ist die Frage, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie wir mit dem umgehen, was wir in Zukunft einerseits DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Ein im Bildungssektor und andererseits im Bereich von Skandal ist das!) Forschung und Entwicklung machen müssen. Ich Ich halte das für unverantwortlich, und zwar aus folgen- glaube, wir finden sehr schnell eine Übereinstimmung in diesem Hohen Hause – ich hoffe, auch in der deutschen dem Grund: Investitionen in diesem Bereich – in Betreu- Öffentlichkeit – darüber, dass das Wohl und Wehe der ung – sind objektiv notwendig zur Förderung der Kinder, deutschen Volkswirtschaft, die Chance, in Deutschland die in den Familien das Maß an Förderung, das an sich Wohlstand zu erhalten und, wo immer es geht, zu meh- erforderlich ist, nicht erfahren. Es gibt viele Gründe da- ren, von unserer Fähigkeit abhängt, Geld zu mobilisie- für, die man leider immer wieder feststellen muss. Wer ren, um in die Zukunft zu investieren. über PISA redet – das ist bedauerlicherweise ja fast schon wieder vergessen –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Vielleicht bei der SPD vergessen! – Dr. Wolfgang Wir müssen weg von Vergangenheitssubventionen, hin Gerhardt [FDP]: Das ist überhaupt nicht ver- zu Zukunftsinvestitionen. Wenn man sich die Situation gessen!) in Europa anschaut, stellt man fest, dass Deutschland, was die Forschungs- und Entwicklungsausgaben angeht, der muss als Erstes darüber sprechen, wie wir es schaf- besser ist als der Durchschnitt, besser ist als die großen fen, jedem Kind unabhängig von seiner sozialen Zuge- Industrienationen, mit denen wir in erster Linie zu kon- hörigkeit eine Lebenschance zu geben. Das läuft über Bildung. Wenn es nicht anders geht, dann läuft das eben (B) kurrieren haben, aber deutlich schlechter als zum Bei- (D) spiel die Skandinavier. Es ist völlig klar: Wenn wir oben über Bildung und Betreuung. bleiben wollen, wenn wir Spitze bleiben wollen in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weltwirtschaft, dann müssen wir mehr in Forschung und DIE GRÜNEN) Entwicklung investieren. Und wir müssen es jetzt tun – wir können es nicht auf die lange Bank schieben. Einer der größten Fehler, den wir machen könnten – ich hoffe, das werden die Ökonomen zunehmend begrei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fen –, wäre, nicht zu erkennen, dass wir ohne Investi- DIE GRÜNEN) tionen in Betreuung volkswirtschaftlich in ungeheure Deshalb sage ich: Wer über Subventionsabbau redet, der Schwierigkeiten kämen, weil wir dadurch das Potenzial kann, wenn er ernst genommen werden will, nicht da- von Frauen und somit auch das der deutschen Wirtschaft rüber hinwegsehen, dass er zur Förderung von For-nicht zureichend nutzen könnten. schung und Entwicklung dieEigenheimzulage herge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben muss. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Investitionen in Ganztagsbetreuung sind nicht nur DIE GRÜNEN – [CDU/CSU]: eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit – das sind sie Das musste ja kommen!) auch –, sie sind vor allen Dingen auch eine Frage der Und kommen Sie mir jetzt nicht mit „Damit finanzieren blanken ökonomischen Vernunft. Niemand in den Be- wir eine große Steuerreform!“. Im ersten Jahr würden trieben darf glauben, dass er das Arbeitskräftepotenzial, die Einsparungen bei gerade einmal 300 Millionen Euro das wir schon in dieser Dekade brauchen, allein über liegen; damit wäre das wirklich schwierig. Ich sage: Das eine gesteuerte Zuwanderung, für die ich bin, realisieren ist eine Subvention, durch deren Streichung in Zukunft kann. Niemand darf das glauben. Das würde die Integra- zwischen 6 und 8 Milliarden Euro mobilisiert werden tionsfähigkeit unserer Gesellschaft überstrapazieren. Es können. Das einzig Vernünftige, was man tun kann, ist, bleibt also dabei: Sowohl aus Gerechtigkeitsgründen als diese Mittel zu nehmen und sie samt und sonders in For- auch aus Gründen der ökonomischen Vernunft müssen schung und Entwicklung auf der Bundesebene einerseits wir und müssen auch die Betriebe in Betreuung investie- und in Bildungsinvestitionen auf der Landesebene ande- ren, weil dieses Potenzial sonst nicht genutzt werden rerseits zu stecken. kann. Das wäre schädlich für unsere Volkswirtschaft. (Lebhafter Beifall bei der SPD und dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15495

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Im Zusammenhang mit der Investitionstätigkeit der die Föderalismusreform. Ich glaube, wir sollten einen (C) Kommunen habe ich heute in der „Financial Timesneuen Anfang machen. Deutschland“ – ich bitte die anderen um Entschuldi- gung – eine interessante Zahl zur Entwicklung der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gewerbesteuer gelesen, die ja den Kommunen zusteht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie beträgt inzwischen mehr als 28 Milliarden Euro und Es ist eine Legende, dass die Bundesregierung – ja, ich – damit 4 Milliarden Euro mehr als im letzten Jahr. Man von vornherein gegen diese Reform gewesen wäre. Aber hat mir aufgeschrieben, dass das Nachkriegsrekord ist Legenden sind manchmal langlebig. Ich sage Ihnen ganz und im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung vonklar: Mich interessieren in diesem Zusammenhang nicht 18 Prozent bedeutet. Kompetenzen, sondern mich interessiert, was passiert. Das gilt ausdrücklich auch für den Bildungsbereich. Ich (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) sage hier klar: Wir brauchen in dieser Frage einen neuen Nun habe ich eine Bitte an die Herren Ministerpräsiden- Anlauf. Die Kommission, die Sie, Herr Ministerpräsi- ten: Reden Sie mit Ihren Innenministern darüber, dass dent Stoiber, und Herr Müntefering geleitet haben, hat wenigstens ein Teil dieses erheblichen Zuwachses von gute Ergebnisse vorzuweisen. den Kommunen in notwendige Investitionen gebracht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und nicht nur kameralistisch behandelt wird. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 85 bis 90 Prozent waren konsensfähig. Ich frage mich, DIE GRÜNEN) warum wir nicht zumindest diese umsetzen; aber bitte Das ist im Übrigen nicht alles. Wenn 95 Prozent der schön! bisherigen Sozialhilfeempfänger in das Arbeitslosen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geld II überführt werden – das hat das Gesetz ermög- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- licht; ob das immer mit aller Sensibilität ausgelegt wor- chen bei der CDU/CSU) den ist, will ich dahingestellt sein lassen; ich neige schließlich nicht zu kräftigen Worten –, Ich sage für die Bundesregierung: Ich werde jeden Vorschlag – auch auf dem schwierigen Gebiet der Kom- (Heiterkeit bei der SPD) petenzen für die Bildung – unterstützen, auf den Sie sich mit Ihrem Kovorsitzenden einigen. Sie können sicher dann steht jedenfalls fest, dass auch in diesem Bereich sein: Wir beide setzen das auch durch. Ob Sie das mit Ih- gewaltige Einsparungen zu verzeichnen sind, die genutzt ren Kollegen Ministerpräsidenten hinbekommen, ist eine werden sollten, damit in die Sanierung von Schulen, da- andere Frage. (B) mit in die Sanierung von kommunalen Einrichtungen, (D) damit in die Sanierung von kommunalen Straßen inves- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei tiert werden kann. Wir haben die Möglichkeit, Investi- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- tionen in diesem Bereich loszutreten und damit neuen NEN) Schwung in die Investitionstätigkeit zu bringen. Diese Ich halte das für notwendig, weil es bei einer Födera- müssen wir auch nutzen. lismusreform wirklich darum geht, das, was wir auf dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gebiet der Sozialpolitik und der Wirtschaft geleistet ha- DIE GRÜNEN) ben und weiter leisten werden, durch eine Entsprechung im Staatsaufbau zu ergänzen, die zu mehr Klarheit in den Zu den Zukunftsinvestitionen wird gehören – das ist Kompetenzen und damit auch in den Verantwortlichkei- wirklich schwierig –, diePflegeversicherung in Ord- ten und die zu mehr Effizienz in unserem föderalen nung zu bringen. Wir wollen das bis zum Herbst dieses Staatsaufbau führt. Das brauchen wir, wenn wir voran- Jahres machen. Wir als Koalition wollen ein gemeinsa- kommen wollen. Ich werde zu denen gehören, die einen mes Programm vorlegen, das auf der einen Seite Klar- solch neuen Ansatz, für den ich ausdrücklich werbe, mit heit und Sicherheit in die Finanzierung bringt sowie ein aller Kraft unterstützen. angemessenes Verhältnis zwischen ambulanter und sta- tionärer Betreuung ermöglicht und das auf der anderen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Seite etwas für diejenigentut, die mit am schwersten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dran sind, nämlich die Demenzkranken. Wir müssen in Ich hoffe, eines ist deutlich geworden: Wir sind in ei- diesem Bereich etwas tun. Wir wollen hier eine große ner wirklich schwierigen Situation, was die Arbeits- Anstrengung unternehmen. Das wird nur gehen, wenn marktzahlen angeht. Man kann sie partiell erklären. Aber wir uns möglichst auf ein gemeinsames Konzept eini- selbst wenn man sie erklärt, wie ich das getan habe, gen. bleibt die Arbeitslosigkeit viel zu hoch. Das istdie He- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rausforderung in unserem Land. Alle, die sich zu diesen DIE GRÜNEN) Fragen geäußert haben, haben gesagt: Das ist kein kon- junkturelles Problem. Ich glaube, in dieser apodiktischen Ich will noch ein Wort zu dem sagen, was meines Er- Form ist das nicht ganz richtig. Es ist auch ein konjunk- achtens die Entsprechung des Reformprogramms für die turelles Problem, aber nicht in erster Linie. Das gebe ich sozialen Sicherungssysteme und der Verbesserung der zu. Es ist mehr ein strukturelles Problem. Aber auf die- Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ist. Ich meine ses strukturelle Problem haben wir mit dem, was in der 15496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Agenda 2010 steht, und dem, was ich an neuen Impulsen Das ist nämlich eine Politik mit Ordnung – nicht ir-(C) vorgeschlagen habe, reagiert. gendeiner Ordnung, sondern der Ordnung der Freiheit, der Ordnung der sozialen Marktwirtschaft. Eines muss dabei klar sein – das erwähne ich zum Schluss ausdrücklich noch einmal –: Wir sind in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland und in Europa verglichen mit anderen Welt- An der Rede des Kanzlers heute war nicht allein auf- regionen deswegen in einer vergleichsweise guten Situa- fällig, dass er zum wiederholten Mal über die Tatsache tion, weil wir ein europäisches Sozialmodell in unter- gesprochen hat, dass auch die Umsetzung der Reformen schiedlichen Formen in der Europäischen Union erhalten als Reformen anzusehen sind, dass er Belehrungen, Pro- haben, das den Menschen zweierlei ermöglicht, nämlich phezeiungen, Beschönigungen und Beschuldigungen die Teilhabe am erarbeiteten Wohlstand und die Teilhabe vorgebracht hat, dass er es manchmal auch an Ernsthaf- an den Entscheidungen überdie politischen Prozesse. tigkeit vermissen ließ Ich glaube, wir würden einen schwerwiegenden Fehler machen, wenn wir aus sehr kurzfristigen Erwägungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heraus, weil uns wirklich Sorgen bedrücken, das Prinzip neten der FDP – Widerspruch bei der SPD – des Sozialstaates und damit das Prinzip des Zusammen- Zuruf von der SPD: Überhaupt nicht zuge- halts unserer Gesellschaft über Bord werfen würden. hört!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und dass er viele Einzelmaßnahmen genannt hat – das ist DIE GRÜNEN) alles schön und gut –; auffällig war auch, dass er nicht zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland Das wäre ein schwerer Fehler. braucht. Was wir auf den Weg gebracht haben und was wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vorhaben, ist nicht einfach. Zum Teil kann es die Koali- tion aus eigener Kraft schaffen. Dort, wo sie das kann, Es geht nämlich um die Frage, mit welcherOrdnung wird sie es tun. Zum anderen Teil braucht sie wegen un- der Freiheit wir im 21. Jahrhundert die Zukunft dieses terschiedlicher Mehrheitsverhältnisse hier und im Bun- Landes gestalten wollen. desrat die Zusammenarbeit all derer, die an dieser Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sammenarbeit interessiert sind, weil sie unser Land voranbringen wollen. Ich bin zu einer solchen Zusam- Genau darin besteht der Unterschied zwischen Repara- menarbeit bereit und ich hoffe, dass wir hier im Deut- turmaßnahmen und dem Glauben an die Kraft der sozia- schen Bundestag einen guten Anfang gemacht haben. len Marktwirtschaft und die Kraft der Freiheit, die den Menschen erst mündig macht. (B) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Die Abgeordneten der SPD und des BÜND- neten der FDP) NISSES 90/DIE GRÜNEN erheben sich – An- haltender Beifall bei der SPD und dem Natürlich ist es auch kein Zufall, dass der Bundes- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kanzler heute bewusst kein Bekenntnis zu Studiengebüh- ren und zu bestimmten Maßnahmen auf dem Arbeits- Präsident Wolfgang Thierse: markt – betriebliche Bündnisse, Kündigungsschutz, Flexibilisierungen – abgelegt hat. Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der CDU/CSU- Fraktion, Kollegin Angela Merkel. (Unruhe bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist eine sehr durchsichtige Strategie und es ist ganz klar, warum Sie so vorgehen. Sie wollen es nämlich uns Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): überlassen, die notwendigen Dinge anzusprechen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich (Lachen bei der SPD) glaube, wir hier im Saal und viele Menschen im Lande sind sich einig, dass wir in dieser Woche eine bemer-und mit einer Strategie nach dem Motto „Mit denen kenswerte Rede des Bundespräsidenten gehört haben. würde es nur noch schlimmer“ durch das Land ziehen. Aber diese Strategie wird nicht aufgehen. Denn sie ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- schon in Schleswig-Holstein nicht aufgegangen. Dort ist chen bei der SPD) Rot-Grün abgewählt. Das wird sich fortsetzen, weil sich die Menschen keine Angst mehr machen lassen. Sie ha- Bemerkenswert an dieser Rede des Bundespräsidenten ben nur noch eine Angst, und zwar davor, arbeitslos zu war nicht allein, dass er alle entscheidenden Politikfelder werden. Diese Angst zählt. erfasst hat, dass er die Probleme klar benannt und ein- deutig die Richtung für die Antworten angegeben hat, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- sondern bemerkenswert war für mich, dass die Rede ruf von der SPD: Unglaublich!) zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland groß und stark gemacht hat und was Deutschland jetzt in Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen brauchen diesen Tagen und Monaten wieder braucht. wir ein umfassendes Konzept. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, dass diese Zahl bedrückend ist. Aber wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das so ist – im Übrigen wären 4,8 Millionen genauso be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15497

Dr. Angela Merkel (A) drückend –, dann muss man feststellen: Wir brauchen Wir haben weiterhin strukturelle Probleme; das ist die(C) ein Konzept, das alle wichtigen Bereiche umfasst, ein Wahrheit. Sie selbst haben noch 1998 gesagt: Bei allem, Konzept, das weitere Strukturreformen in Angriff nimmt was wir tun, wollen wir uns amAbbau der Arbeits- und sich nicht im Klein-Klein verliert, ein Konzept, das losigkeit messen lassen und dafür sorgen, dass jedes alles der einen Frage unterordnet, nämlich wie wir zuInstrument auf den Prüfstandgestellt wird, um festzu- mehr Arbeit kommen. Daran muss sich alles in diesem stellen, ob es vorhandene Arbeitsplätze sichert oder Ar- Land ausrichten. beitsplätze schafft. Das war die Zeit, in der Sie gesagt haben: Wenn es uns nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gnifikant zu senken, dann sind wir es nicht wert, wieder Wir müssen ran an die Realität! Die Realität heißt:gewählt zu werden. In dieser Zeit haben Sie die Realitä- Die Welt verändert sich rasant. Bei einem schnellenten noch gesehen, Herr Bundeskanzler. Wandel sind schnelle Antworten notwendig. Insofern le- ben wir sozusagen in den zweiten Gründerjahren dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesrepublik Deutschland und deshalb müssen wir Dass die Schaffung von Arbeitsplätzen erste Priorität uns entscheiden, ob wir den Geist der Anfangsjahre der hat, ist angesichts der Zahlen klar. Die entscheidende Bundesrepublik Deutschland wieder aufnehmen oder ob Frage ist: Wo sind denn zukunftsfähige Arbeitsplätze? wir ihn aufgeben wollen. Ich meine, wir müssen diesen Ich habe von Ihnen dazu wenig gehört, und wenn, dann Geist aufnehmen: den Geist der Freiheit, den Geist der nur sehr Bedauerliches. Das, was Sie zur Grünen Gen- kleinen Einheiten, den Geist, der den Menschen etwas zutraut. technik gesagt haben, klingt wie Hohn in den Ohren de- rer, die sich dieser Technologie widmen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Zusammenhang besteht doch gerade darin, dass Hier ist Ihr Wirtschaftsminister noch ehrlicher. Er hat dann, wenn wir diesen Geist nicht wieder vitalisieren, als vor Vertretern der bayerischen Wirtschaft gesagt: Es ist erstes die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, und zwar nicht verantwortbar, alles so zu belassen, wie es ist. sowohl in Bezug auf diejenigen, die Hilfe brauchen, als Recht hat der Mann. Aber er kann sich nicht durchset- auch auf diejenigen, die Leistung erbringen. Wer sichzen. Nun sind auch Sie noch umgefallen, obwohl Sie ei- nicht ausreichend zur Freiheit bekennt, wird den sozia- gentlich wissen, dass es nicht richtig ist. Es ist doch ein len Zusammenhalt von Gerechtigkeit und Solidarität Hohn, in einem einzigen Wirtschaftsbereich der Indus- in unserer Gesellschaft aufs Spiel setzen. trie die gesamte Haftung aufzuzwingen, während in al- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len anderen Wirtschaftsbereichen die Verantwortlichkeit (B) neten der FDP) besser aufgeteilt ist. Warum gerade in diesem Zukunfts- (D) bereich? So entstehen keine Arbeitsplätze. Wenn wir den sozialen Zusammenhalt wollen – er ist doch gerade die große Leistung der sozialen Marktwirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schaft gewesen und muss auch die große Leistung einer Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Diskrimi- neuen sozialen Marktwirtschaft sein –, dann müssen wir nierung!) uns doch erst einmal mit der Realität vertraut machen. Ich kann nur sagen – auch Herr Steinbrück fordert das (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: immer wieder ein –: Lassen Sie uns die Richtlinien der Dann fangt doch mal an!) Europäischen Union eins zu eins umsetzen! Hätten wir Es ist doch so: Die Wachstumsprognosen sind nicht so das bei der Gentechnikrichtlinie gemacht, dann wären wie erwartet. Dafür kann ich niemanden verantwortlich wir heute weiter. In zwei Jahren – das ist heute die Hälfte machen, sondern das müssen wir zur Kenntnis nehmen. des Zeitraums, in dem sich das Wissen der Menschheit Aber, Herr Bundeskanzler, wenn statt 1,6 Prozentverdoppelt – sind viele Betriebe abgewandert. Ange- Wachstum nur 0,8 Prozent erwartet werden, wäre essichts dessen können Sie doch nicht sagen: Lassen Sie richtig gewesen, deutlich zu sagen, was das für denuns abwarten und dann schauen wir einmal! Denn wir Haushalt, die Zahlen, die nach Brüssel gemeldet werden, wissen schon heute, welche Folgen das haben wird. und die eigenen Möglichkeiten bedeutet, und Sie hätten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sich Gedanken darüber machen müssen, was Sie heute realistischerweise zur Zukunft des Bundeshaushaltes in Bei aller Freude über Investitionen im Energiebereich diesem Jahr sagen können. Das wäre das Erste gewesen; wissen wir doch, dass wir keine konsistente Energiepo- das haben wir erwartet. litik haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wieso?) Herr Bundeskanzler, Sie haben davon gesprochen, dass es volkswirtschaftlicher Unsinn ist, vorzeitig aus dass wir zwar ein Strukturproblem haben, dass wir es aber bereits durch die durchgeführten Reformen eigent- der Kernenergie auszusteigen, lich gelöst haben. Wenn Sie ehrlich dieser Meinung sind, (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- dann werden Sie Deutschland in den Untergang führen. NIS 90/DIE GRÜNEN) Das gebe ich Ihnen schwarz auf weiß. und dass wir keine dauerhafte Perspektive haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 15498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Angela Merkel (A) Wir wissen ebenfalls, dass 40 Prozent zusätzliche Kos- beitsmarkt mehr Beschäftigung bekommen. Deshalb(C) ten auf jede Kilowattstunde, verursacht durch den Staat, wollen wir etwas ändern. zu viel sind und dass die Lenkungsinstrumente – dort der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Emissionshandel, hier das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die KWK-Förderung – nicht zusammenpassen. Eine Ich habe irgendwo gehört, dass Sie jetzt Bürokratie konsistente Energiepolitik könnte weitaus mehr Arbeits- abbauen und die Planungsverfahren beschleunigen wol- plätze in Deutschland sichern als zurzeit. len. Noch Ende letzten Jahres haben wir hier gesessen und gerungen, ob wir die Geltungsdauer des Verkehrs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um ein Jahr oder neten der FDP) vielleicht um zehn Jahre verlängern. Ich kann Ihnen nur Der Bundesumweltminister hat darauf verwiesen,sagen: Machen Sie sich an die Arbeit! Das hätten wir dass er mit seiner subventionierten erneuerbaren Energie längst haben können. Natürlich können wir diese Rege- 120 000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Das freut mich. lung auch auf Energieleitungen ausdehnen. Aber Sie müssen sich einmal die Frage stellen: Wie viel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Arbeitsplätze hat dieser Mann schon verhindert? Das sind mit Sicherheit sehr viel mehr. Sie haben kein Wort zumAntidiskriminierungsge- setz gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Der Pharmastandort Deutschland ist – das gilt ins- besondere für die forschende Arzneimittelindustrie –Der Bundeskanzler wird schon gewusst haben, warum. durch die Ausführung der Festbetragsregelung beein-Herr Steinbrück wird uns nachher erklären, wie er eine trächtigt. Wir bekennen uns zur Gesundheitsreform; aber Eins-zu-eins-Umsetzung mit Rot-Grün schaffen will. wir haben nicht beschlossen, dass die patentgeschützten Herr Steinbrück, halten Sie nicht einfach nur Reden im Medikamente benachteiligt werden. Der Pharmastandort nordrhein-westfälischen Landtag, sondern überzeugen Deutschland ist international in Verruf geraten, mit nicht Sie fünf Sozialdemokraten aus Ihrem Landesverband! absehbaren Folgen für die Bundesrepublik Deutschland Wir stimmen zu und Sie können eins zu eins umsetzen. und die Arbeitsplätze in diesem Lande. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Bundeskanzler hat uns erklärt, dass es mit den betrieblichen Bündnissen für Arbeit bei Opel, bei Wir sind natürlich dafür, dass SiePublic Private Siemens und bei anderen so gut klappt. Das ist richtig. Partnership endlich auf den Weg bringen. Darüber wird (B) doch seit mittlerweile drei Jahren diskutiert. Wir sind (Klaus Brandner [SPD]: Nicht neidisch wer- (D) auch dafür, dass Sie die Mauteinnahmen schneller zu den!) Ausgaben ummünzen. Es hat ja lange genug gedauert, Das ist besonders für diejenigen, die in den Schlagzeilen bis der Bundesverkehrsminister die Sache endlich auf sind, wichtig; man nutzt die Chance, in die Zeitung zu der Reihe hatte. kommen. Aber oft müssen die Kleinen über Wochen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Monate daran arbeiten, dass die Gewerkschaften ihnen zustimmen, wenn sie eine solche Regelung brauchen. All das werden wir natürlich aktiv unterstützen. Wir sind Wir wollen die Tarifautonomie überhaupt nicht angrei- auch für ein CO2-Investitionsprogramm. Aber ich bitte fen; Sie inständig: Lassen Sie uns aus den Nachteilen des Bisherigen lernen und lassen Sie uns effizienter vorge- (Jörg Tauss [SPD]: Doch!) hen! Dann werden wir Sie selbstverständlich unterstüt- vielmehr vertreten wir die Auffassung: Wenn die Mehr- zen. zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Laufzeit eines Tarifvertrages mit der Betriebsleitung neten der FDP) einig ist, dass eine Abweichung vom Tarifvertrag zur Er- haltung von Arbeitsplätzen sinnvoll ist, dann soll ihnen Wichtig sind die Arbeitsplätze der Zukunft – das sind das unbürokratisch möglich sein. Trauen Sie den Leuten diejenigen Arbeitsplätze, die unseren Wohlstand sichern – vor Ort etwas zu! Dazu fordern wir Sie auf. und wichtig ist natürlich auch, dass wir Einstellungs- hemmnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt senken. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) müssen weiterhin überlegen, was Menschen daran hin- Sie wollen jetzt kleinste Schritte beimKündigungs- dert, wieder in Arbeit zu kommen. schutz gehen. Okay, die gehen wir natürlich mit. Ich er- innere Sie aber an Ihre Rede zur Agenda 2010: Damals Ich sage Ihnen zu – eine entsprechende Verabredung haben Sie von einem Optionsmodell beim Kündigungs- haben wir getroffen; das kam auch in Ihren heutigen schutz gesprochen. Warum beschließen wir nicht heute Aussagen zum Ausdruck –, dass wir daran mitwirken, das, was Sie damals für richtig gehalten haben? Wir hal- dass bei den Zuverdienstmöglichkeiten im Rahmen ten das immer noch für richtig. Deshalb werden wir wei- von Hartz IV etwas geändert wird. Ich sage Ihnen aber terhin darüber reden. auch: Die überdimensionale Förderung von 1-Euro-Jobs insbesondere für junge Leute wird in die Irre führen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müssen alles daransetzen, dass wir auf dem ersten Ar- neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15499

Dr. Angela Merkel (A) Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Absen- Die Frage, was Sie von der Bürgerversicherung hal- (C) kung – das sagen alle Sachverständigen – der zu hohen ten, haben Sie in diesem Hause noch nicht beantwortet. Lohnzusatzkosten. Wir brauchen auch – dazu hätte ich nun wirklich gern ein Wort von Ihnen gehört, weil dieses (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Bürger- Thema so allgegenwärtig ist und ja auch von Ihrem zwangsversicherung!) neuen Vorsitzenden des Sachverständigenrates fast täg- Es wäre mir recht gewesen, wenn das heute geschehen lich angesprochen wird – eine Entkopplung der Kosten wäre. Diese steht ja nun intotalem Widerspruch zu all für die sozialen Sicherungssysteme von den Arbeitskos- dem, was Not tut. ten, ob es Ihnen passt oder nicht. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wo ist eigentlich Ihr Pflegekonzept?) neten der FDP) Ich glaube, Sie sollten wirklich noch einmal darüber Natürlich wollen auch wir, weil wir genauso für die nachdenken, ob es nicht gerechter wäre, die Krankheits- Gesundheitsreform eintreten wie Sie, kosten von Kindern, so wie wir das vorgeschlagen ha- ben, von allen deutschen Steuerzahlern bezahlen zu las- (Franz Müntefering [SPD]: Seit wann das?) sen, als sie wieder denen in unserer Gesellschaft dass die Krankenkassenbeiträge sinken. Aber Sie müs- aufzubürden, deren Verdienst unterhalb der Beitragsbe- sen doch auch Folgendes sehen: Der Schätzerkreis sagt messungsgrenze liegt. Das ist unser Modell. den Krankenkassen, dass ihre Ausgaben in diesem Jahr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um 1,9 Prozent steigen. Zugleich sind noch die Schulden neten der FDP) aus den vergangenen Jahren da und müssen erst einmal abbezahlt werden. Da ist es doch klar, dass die Kranken- Weil in diesem Zusammenhang gleich wieder der kassen sich überlegen, ob sie die Beiträge senken, wenn Vorwurf der Steuererhöhung fällt, lassen Sie mich sagen: sie sie dann im gleichen Jahr vielleicht wieder erhöhen Jawohl, wir haben entgegen unserem Steuerkonzept 21, müssten. Lassen Sie uns also vernünftig auf die Kassen das ganz klar sagt, welche Subventionstatbestände abge- einwirken. Auch ich sage aber frei heraus: Ich finde es baut werden sollen unmöglich, wenn die Vorstandsvorsitzenden mancher (Lachen bei der SPD) Krankenkassen offensichtlich vergessen haben, dass man in solch einem Job soziale Verantwortung einbrin- – dagegen versuchen Sie ja schon wieder hinten und gen muss. Das sage ich ganz ausdrücklich. Lassen Sie vorne zu hetzen; seien Sie einmal ehrlich –, und auch uns aber auch nichts Unmögliches von den Kassen ver- klar sagt, dass der Spitzensteuersatz auf 36 Prozent ge- (B) langen. Es wäre nicht gut, wenn die Beiträge nach einer senkt werden soll, nun vor, diesen nur auf 39 Prozent zu (D) Senkung ein halbes Jahr später wieder erhöht werdensenken, um auf diese Weise die Krankheitskosten der müssten. Kinder von den Gutverdienenden in diesem Lande be- zahlen zu lassen. Das ist unser Beitrag sozialen zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gerechtigkeit, meine Damen und Herren. neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Eier, eier, eier!) (Beifall bei der CDU/CSU) Nun zu den Aussagen zurPflegeversicherung, die Im Zusammenhang mit der Frage, wie die Benachtei- Sie hier gemacht haben. Ich hätte mir ehrlich gewünscht, ligung der deutschen Unternehmen im internationalen dass diese etwas konkreter ausgefallen wären. Wie soll Wettbewerb beseitigt werden kann, haben Sie sich heute es denn nun gehen? Die Ministerin hat diese Wocheum ein Thema ein Stück weit herumgedrückt, das mit Si- schon vier Vorschläge gebracht. Deswegen sind wircherheit auf uns zukommt: Wie wird es angesichts euro- schon ganz durcheinander. päischer Regelungen in Zukunft um die Mitbestimmung in Deutschland bestellt sein? Ich sage ausdrücklich, ich (Lachen bei Abgeordneten der SPD) teile nicht die Meinung des früheren BDI-Vorsitzenden Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind bereit, mit Ihnen zu- Rogowski, dass es sich hierbei um einen Irrläufer der Ge- sammenzuarbeiten, wenn Sie einen Gesetzentwurf auf schichte handelt. Ich sage Ihnen, weil Sie vom europäi- den Tisch legen, der der von allen Sachverständigen er- schen Sozialstaatsmodell gesprochen haben: Wenn wir hobenen Forderung Rechnung trägt, die Kosten für die nur in Europa wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann Pflegeversicherung ein Stück weit von den Arbeitskos- müssen wir uns überlegen, wie wir in Deutschland die ten zu entkoppeln. Mitbestimmung der Zukunft so europafest machen, dass wir dadurch nicht abfallen und Wettbewerbsnachteile ha- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist der ben. Dazu habe ich heute ein Wort von Ihnen vermisst; Punkt!) dieses Thema steht auf der Tagesordnung. Das heißt auf Deutsch – Sie haben diesen Begriff ja nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in den Mund genommen –: Kapitaldeckung muss zu ei- neten der FDP) ner Säule der Pflegeversicherung werden. Wenn ein ent- sprechender Entwurf vorliegt, werden wir versuchen, Dann stellt sich natürlich die Frage nach den Steuern. mit Ihnen zusammenzukommen. Als Erstes muss ich Ihnen einmal sagen: Man darf die Realitäten hier nicht völlig verkehren. Sie können nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) über alles informiert sein, was im Parlament stattfindet, 15500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Angela Merkel (A) aber gestern fand zum Beispiel im Finanzausschuss die Steuerreform, und zwar nicht nur im Körperschaftsteuer- (C) Beratung über das Modell zur Erbschaftsteuer, so wie bereich, so wie Sie es für den Sachverständigenrat sehen, Sie es hier dargestellt haben, statt. Sie wissen sicherlich (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben es nicht auch, wie die Regierungsfraktionen abgestimmt haben: verstanden! Das ist ja erschreckend!) glatte Ablehnung. sondern auch im Einkommensteuerbereich. Die Men- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und schen in diesem Lande wollen wieder verstehen, wer der FDP) wofür wie viel Steuern zahlt. Das geht nur, wenn das Aber manchmal kann man in Nächten etwas lernen und Steuersystem einfacher und transparenter wird. Daran die Nacht scheint sehr lehrreich gewesen zu sein. Ichwerden wir weiter arbeiten und wir laden Sie herzlich sage Ihnen: Unsere Stimmen haben Sie. Es ist ein baye- dazu ein, unser Steuerkonzept 21 zu unterstützen. rischer Antrag, die Ministerpräsidenten der Union wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den das Modell unterstützen, wir haben es gestern be- neten der FDP) reits unterstützt. Also nichts wie ran; das können wir machen. Herr Bundeskanzler, Sie haben auch über die Zukunft der Bildung gesprochen. Wir sind dafür, dass mehr in Meine Damen und Herren, Sie haben weiter vorge- Bildung investiert wird. schlagen, man solle ein Signal setzen bei derKörper- schaftsteuer. Dazu sage ich Ihnen: Das hört sich gut an, (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) das finden wir okay, aber Sie müssen auch genau sagen, wie es gegenfinanziert werden soll. Tatsache ist aber, dass der Haushalt der Frau For- schungsministerin, was die eigentlichenForschungs- (Jörg Tauss [SPD]: Ihr!) ausgaben in Deutschland anbelangt, gesunken und nicht gestiegen ist. Es muss zum Schluss so sein, dass es der Wirtschaft in Deutschland nutzt. Es darf uns nicht anschließend mehr (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Kritik als Nutzen bringen. Wir sind im Grundsatz dazu bereit, solche Überlegungen zu unterstützen. Das istGestiegen ist er nur, weil das Forschungsministerium keine Frage. Aufgaben übernommen hat, die sicherlich wichtig sind, die aber von Haus aus nicht unbedingt in die Kompetenz Dasselbe sage ich zu der Frage der Anrechnung der des Bundes gehören. Das ist die Wahrheit über den Zu- Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Diese Überle- stand des Haushalts. gungen halten wir für vernünftig. Diesen Vorschlag kön- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) nen Sie in ein Gesetz umsetzen und Sie können damit (D) rechnen, dass wir dem zustimmen. Meine Damen und Herren, bei der SPD ist im Augen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. blick die Einheitsschule wieder ganz groß in der Diskus- Carl-Ludwig Thiele [FDP]) sion. Aber jetzt müssen wir aufpassen. Wir haben nach wie (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Heute in vor das Ziel einer großen, umfassendenSteuerreform, Schleswig-Holstein!) bei der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer soWeil der Bundeskanzler meinte, über PISA sprechen zu aufeinander abgestimmt werden, dass vor allen Dingen müssen, muss ich ihn doch wirklich noch einmal daran die Personengesellschaften, das heißt die Familienunter- erinnern, dass die Länder Bayern und Baden-Württem- nehmen, in Deutschland nicht die Leidtragenden sind. berg, Sachsen und Thüringen – alle mit klassischen Mo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dellen, die mit Einheitsschule aber auch gar nichts zu tun Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist der haben – die ersten vier Plätze bei der PISA-Studie belegt Punkt! Sehr richtig!) haben. Das spricht für das gegliederte Schulsystem. Sie haben heute im Zusammenhang mit der Senkung des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Körperschaftsteuersatzes kein einziges Wort zu Perso- neten der FDP) nengesellschaften und Familienunternehmen gesagt. Ein Nachbarland von Sachsen, das auf Platz drei liegt, (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben nicht zuge- ist Brandenburg; es liegt auf Platz 15. Wissen Sie, woher hört!) die Berater kamen, die den Brandenburgern ihr Schul- system nahe gebracht haben? Aus Nordrhein-Westfalen! So geht das nun auf keinen Fall. Wenn die Gleichbe- Das heißt, es muss sich nicht nur in Brandenburg etwas handlung garantiert wird, machen wir natürlich mit,ändern, sondern auch in Nordrhein-Westfalen. keine Frage, aber für uns ist eine vernünftige Gegenfi- nanzierung Conditio sine qua non. Alles andere ist nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) machbar. Herr Bundeskanzler, Sie haben zum ThemaFödera- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lismus gesprochen. Eines geht natürlich nicht – das ha- ben Sie sicherlich auch nicht ernst gemeint –: an einer Jetzt kommen wir auf den Punkt. Wir müssen dann Stelle zu widersprechen und diesen Punkt offen zu las- noch Spielraum haben – deshalb bestehen wir auch auf sen, um später zu sehen, was man da machen kann, und der Eigenheimzulage – für eine wirklich umfassende an einer anderen Stelle direkt beschließen zu wollen. Wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15501

Dr. Angela Merkel (A) sind ja großzügig und gutmütig, aber völlig dumm sind weder Sie rechnen nicht damit, dass die Kommunen die (C) wir nicht. Programme abrufen können – das ist natürlich auch eine Möglichkeit: ein Programm aufzulegen, das keiner be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nutzen kann, weil er selber so arm ist, dass er dazu nicht neten der FDP – Lachen bei Abgeordneten der die Erlaubnis erhält –, oder aber Sie müssen sagen, wie SPD) Sie das finanzieren wollen. Darüber muss gesprochen Dass bei einer solchen Reform der bundesstaatlichenwerden; denn so können wir die Dinge nicht hinnehmen. Ordnung Dinge zusammenhängen – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Jörg Tauss [SPD]: Wo ist Koch?) neten der FDP) wir haben zum Beispiel gesagt, dass das Umweltrecht Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat auf die Bundesebene gehoben werden kann, weil uns ein heute einige Einzelmaßnahmen dargelegt. Ich habe dazu einheitliches Gesetzbuch helfen kann, aber dafür muss Stellung genommen. Aber was fehlt, ist die ordnungspo- der Wettbewerb in den Bildungssystemen gestärkt wer- litische Linie. den; das kann nicht einfach entkoppelt werden –, dass (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die hat er wir nicht das eine machen können und das andere nicht, nicht!) das werden Sie verstehen. Der Bundeskanzler, die Bundesregierung ist bestenfalls (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reparateur, aber eben kein Architekt einer neuen sozia- Sie haben überhaupt nichts verstanden!) len Marktwirtschaft. Wir können – das sage ich ausdrücklich – bei der Föde- ralismusreform natürlich vorankommen und wir sollten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Mikrophy- auch vorankommen. Aber dazu muss man eines akzep- sik!) tieren, nämlich die Grundgesetzordnung. Sie ist so, wie sie ist; geändert werden kann sie nur mit einer Zweidrit- Deutschland hat sicherlich eine Reputation. Herr Bun- telmehrheit. Sie haben vor dem Verfassungsgericht bei deskanzler, Sie kommen mehr im Ausland herum als wir. der Juniorprofessur verloren, dann sind Sie mit den Stu- Wenn Sie dort zuhören – ich hoffe, dass Sie das tun –, diengebühren auf die Nase gefallen. Ich weiß nicht, wie dann kennen Sie die Fragen, di e man an unser Land stellt. viele Verfassungsgerichtsprozesse Sie noch verlierenEine Frage ist, ob wir noch die Kraft haben, Spitze zu wollen. Aber ändern können wir die Ordnung nur ge-sein, oder ob wir immer weiter abfallen. meinsam. Es empfiehlt sich, die Realitäten anzuerken- Morgen jährt sich zum 15. Mal der Jahrestag der ers- (B) nen. Ich bin ganz sicher, dass man dann auch einen guten (D) Weg finden kann. ten freien Volkskammerwahl in der früheren DDR. Dieser Tag war für viele, die hier sitzen, sehr bewegend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit diesem Tag verbinde ich persönlich die Einsicht, Zu einem Thema haben Sie heute sicherheitshalber dass wir bei Veränderungen trotz aller damit verbunde- gar nichts gesagt, nämlich zu den Schulden und zumnen Schwierigkeiten immer auch dazugewinnen können. Stabilitätspakt. Sie haben uns gesagt, was Sie hier und Aber das erfordert, dass wir einen roten Faden haben, dort machen wollen, zum Beispiel bei der KfW. Das ist dass wir wissen, wo es langgeht, und die Richtung ken- alles prima. Aber Zinsverbilligungen kommen natürlich nen, dass wir eine Vision haben und dass wir die Kräfte bei irgendjemandem an. In Ihrem Kabinett heißt dieser aktivieren, die uns stark machen. Dazu gehört für mich Mann Eichel. Er ist dafür verantwortlich, dass die die Freiheit; denn sie ist notwendig, damit Gerechtigkeit Maastricht-Kriterien eingehalten werden. und Solidarität entstehen können. (Michael Glos [CDU/CSU]: Oje!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nun arbeiten Sie nächste Woche wieder sehr daran, dass Wir werden heute Nachmittag miteinander sprechen. die Maastricht-Kriterien aufgeweicht werden. Aber ich Ich sage Ihnen zu: Wir werden die Gesetzesvorlagen, die kann Ihnen nur eines sagen: Wenn wir in den wichtigen Sie einbringen, fair und konstruktiv prüfen. Stunden, wo wir über die Zukunft dieses Landes debat- (Jörg Tauss [SPD]: Na ja!) tieren, noch mehr Wechsel auf die Zukunft aufnehmen, ohne uns um die Kinder und Enkel zu scheren, dannWir werden, wie wir das als Opposition immer gemacht brauchen wir über Bildung und Forschung nicht mehr zu haben, klare Kriterien für unsere Prüfung anlegen. Ich sprechen; dann versündigen wir uns. will sie hier ganz deutlich benennen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erstens. Vorrang hat alles, was Beschäftigung fördert Christine Lambrecht [SPD]: Unglaublich!) und nichts kostet. Das ist in der heutigen Zeit das Beste. Deshalb wäre es angesichts der nach unten korrigier- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten Wirtschaftsprognosen, des ganz knappen Haushalts, Zweitens. Was Beschäftigung fördert und etwas kos- den Herr Eichel aufgestellt hat – wie immer auf Kante tet, muss mit Blick auf die Zukunft solide finanziert sein. genäht –, und der zusätzlichen Ausgaben, die Sie uns heute hier in Aussicht gestellt haben, schon interessant (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu erfahren, wie Sie das zusammenbringen wollen. Ent- neten der FDP) 15502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Angela Merkel (A) Drittens. Was Beschäftigung gefährdet, das wird zu- In diesem Sinne sage ich: An einem solchen Pakt für (C) rückgezogen, geändert oder unterlassen. Auch das wer- Deutschland wirken wir gerne mit. den wir einfordern, Herr Bundeskanzler. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Denn eine Politik des „Weiter so!“ verbietet sich an- der FDP – Die Abgeordneten der CDU/CSU gesichts der Lage unseres Landes. Herr Bundeskanzler, erheben sich) Sie sind Getriebener der Entwicklung und nicht Gestal- ter der Entwicklung. Präsident Wolfgang Thierse: (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!) Ich erteile dem Vorsitzenden der Fraktion der SPD, Franz Müntefering, das Wort. Das ist das Bedauerliche für Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit wir gestalten können, brauchen wir Mut und Kraft. Wir brauchen vor allem Mut und Kraft, der Wirk- Franz Müntefering (SPD): lichkeit ins Auge zu sehen und die Wahrheit zu erken- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nen. Wir müssen den Menschen in diesem Land etwas Herren! zutrauen. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen. Die Menschen müssen über die Wahrheit informiert werden. Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und (Lachen bei der SPD) zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, – Man erkennt an Ihren Zurufen, dass Ihnen das nicht die das Soziale beiseite drängen würden. passt. Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist inzwischen so, Das war die Botschaft von Bundeskanzler Schröder dass die Wahrheit von Rot-Grün als Angriff beim Start der Agenda 2010 vor zwei Jahren. Für die (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Koalition gilt das unverändert weiter. Wir wollen sozia- Quatsch!) len Fortschritt, Erneuerung und Zusammenhalt; das ist das Ziel unserer Politik. und die Wiederholung der Wahrheit von Rot-Grün als Kampagne empfunden wird. So sind die Realitäten in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diesem Lande. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers von(D) heute und die sich daraus ergebenden Konsequenzen Ich kann Ihnen ganz klar sagen, wo das endet: In einer sind weitere wichtige Schritte hin zur Lage Deutschlands Wagenburgmentalität, im Jahre 2010: hin zu Wohlstand für alle, zu sozialer Ge- (Zurufe von der SPD: Oh!) rechtigkeit und zu einer Politik der Nachhaltigkeit. Wir sind in Deutschland mitten in diesem Prozess der Verän- zum Schluss wird der Überbringer der schlechten Nach- derung. Der ist nicht leicht; dafür braucht man Mut. richten beschimpft und die Dinge werden nicht so akzep- Manchen von denen, die ein Stück mitgegangen sind, tiert, wie sie sind. Sie erwecken nur den Eindruck, dass dauert es zu lange. Manche von denen, die ein Stück mit- Sie für die Zukunft gut gerüstet seien. Zu dieser Wagen- gegangen sind, trauen sich nicht, sich dazu zu bekennen. burgmentalität gehört beispielsweise, dass Sie in KielManche von denen wollen nichts damit zu tun haben. eine Koalition schmieden, obwohl Sie abgewählt sind. Die Generalrevision von Rüttgers und die Bereitschaft Aber die Menschen werden sich dazu ihre Meinung bil- von Milbradt, gegen sich selbst zu demonstrieren, sind den. noch nicht vergessen. Wenn endlich einmal einer aus der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Opposition sagen würde, wie sich das mit der Arbeits- neten der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ losenstatistik und Hartz IV verhält – das haben wir alle DIE GRÜNEN]: Sie haben doch keine Mehr- miteinander beschlossen –, wäre das einfach einmal ein heit, Frau Merkel!) Akt der Ehrlichkeit und der Wahrheit, die Sie, Frau Merkel, eben eingefordert haben. Zur Wagenburgmentalität gehört auch die Art und Weise, mit der der Außenminister mit seinen Schwierig- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keiten umgeht. DIE GRÜNEN) Aber diese Wagenburgmentalität hilft uns nicht wei- Wir haben ein Maß an Arbeitslosigkeit wie bei ter. Deshalb haben wir Ihnen – darüber debattieren wir 1998 und zudem die Veränderungen der heute – einen Pakt für Deutschland angeboten, einen Statistik durch Hartz IV. Das ist wahr. Das ist viel. Das Pakt, in dem wir uns deutlich dafür aussprechen, denauszusprechen macht schon einmal deutlich, wie man Menschen in diesem Lande etwas zuzutrauen, sie nicht die Zusammenhänge sieht. Wir jedenfalls werden den zentralistisch zu dirigieren, sondern ihnen Spielräume zu Weg der Agenda 2010 weitergehen. Wenn Sie wollen, lassen, damit sie in diesem Land – ich betone: in diesem können Sie mitgehen. Es geht dabei um die Bekämpfung Land – ihre Kräfte wieder entfalten können. Das ist Ver- der Arbeitslosigkeit. Es geht um Recht und Ordnung am antwortung für Deutschland. Arbeitsmarkt. Es geht um gleiche Bildungschancen, um Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15503

Franz Müntefering (A) die Potenziale der älter werdenden Gesellschaft. Es geht land, die ein Ausmaß angenommen hat, das nicht mehr (C) um den Investitionsstandort Deutschland und es geht um akzeptabel ist, mit allem Nachdruck bekämpft wird. die Frage, wie sich Politik organisiert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne DIE GRÜNEN) Kastner) Die Menschen in diesem Land, die ehrlichen Arbeitneh- Wir haben uns alle vorgenommen, heute Morgenmer und die ehrlichen Arbeitgeber, sollen sich darauf nicht polemisch zu sein. Frau Merkel, ich hatte aber bei verlassen können, dass sie nicht die Dummen sind. Die- Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie ein bisschen aus der jenigen, die an den Gesetzen vorbeimarschieren, müssen Spur waren, weil Sie sich gestern etwas in der Erwartung erfasst werden. Daraus müssen Konsequenzen gezogen dessen, was der Bundeskanzler sagen könnte, aufge-werden. Das wollen wir so. schrieben haben, er Ihnen aber nun ein breites Konzept (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dessen vorgelegt hat, was wir bereit und fähig sind zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tun. Sie haben etwas zur Pflegeversicherung gesagt, Frau (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Breit ist Merkel, und haben dafür plädiert, man müsse im Inte- richtig, Konzept fehlt!) resse der Stabilität der Lohnnebenkosten andere Finan- zierungsformen finden; Sie haben sich vorsichtig ausge- Darauf waren Sie nicht eingestellt und das hat Ihnen ein drückt. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen – der bisschen die Sprache verschlagen. Bundeskanzler hat es deutlich gemacht –: Wir werden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ uns dazu im Laufe dieses Jahres positionieren. Es gibt DIE GRÜNEN) im Bereich der Pflegeversicherung keine Lohnnebenkos- ten. Diese 1,7 Prozent werden von den Arbeitnehmerin- Deswegen will ich in Abweichung von meinem Kon- nen und Arbeitnehmern allein gezahlt. zept gerne auf ein paar Punkte eingehen, die Sie ange- sprochen haben. Kommen wir zunächst zur Senkung (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Auch das der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von sind Lohnnebenkosten! – Gegenruf des Abg. 6,5 Prozent auf 5 Prozent. Eine solche Senkung bedeutet Peter Dreßen [SPD]: Sie können ja einen 11 Milliarden Euro weniger in der Kasse der Bundes- Feiertag opfern!) agentur für Arbeit. Wenn Sie dann mit uns zusammen Man sollte wissen, über was man miteinander redet. ein Konzept vorlegen wollen, das ganz besonders die In- teressenlage der unter 25-Jährigen im Blick hat – nach Sie haben dasAntidiskriminierungsgesetz ange- (B) der Melodie: am Ende dieses Jahres ist keiner von ihnen sprochen. Bei uns in der ganzen Koalition – die Bundes- (D) mehr länger als drei Monate in Arbeitslosigkeit –, und regierung ist dabei – ist klar, dass es das Antidiskrimi- wenn Sie auf unserem Weg – der da heißt: die Maßnah- nierungsgesetz geben wird. men für die über 58-Jährigen sollen in Zukunft so lange (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verlängert werden, bis sich der Ruhestand anschließt – DIE GRÜNEN) mitgehen wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass der Bundesagentur für Arbeit das nötige Geld zur Verfü- Das haben wir vereinbart. Es wird kommen, und zwar, gung steht. Da kann man nicht gleichzeitig eben malFrau Merkel, was den arbeitsrechtlichen Teil angeht, 11 Milliarden Euro aus populistischen Gründen strei-eins zu eins, wie die EU das vorgeschrieben hat. chen wollen. Das passt doch alles nicht zusammen! (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Nein!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Da gibt es bei Ihnen eine interessante Entwicklung: DIE GRÜNEN) Wir haben in der letzten Woche eine Debatte über einen Sie haben vorsichtshalber nichts zu der Notwendig- Antrag geführt, den Sie eingebracht haben. Dieser keit von Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt Antrag lautete: „Antidiskriminierungsgesetz zurückzie- gesagt. Wir haben im letzten Jahr ein Gesetz zur Be-hen“. kämpfung der Schwarzarbeit beschlossen. Die Finanz- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, dieses kontrolle Schwarzarbeit, FKS genannt und beim Zoll ge- schon! Genau richtig!) bündelt, umfasst heute 5 300 und bald 7 000 Personen. Die Schattenwirtschaft ist im letzten Jahr zum erstenInzwischen heißt es bei Ihnen: Der Vorschlag der EU Mal seit 1975 gesunken. Sie ist noch zu hoch. Die FKS soll eins zu eins umgesetzt werden. Das ist interessant. hat im letzten Jahr Schäden in Höhe von 475 Millionen Wir sagen Ihnen trotzdem: Dieses Antidiskriminie- Euro im Bereich der Steuern und der Sozialversiche-rungsgesetz wird es geben. Im arbeitsrechtlichen Teil rungsabgaben, die nicht entrichtet worden sind, aufge- wird der Vorschlag eins zu eins umgesetzt und im zivil- deckt. Sie hat 91 000 Strafverfahren und 52 000 Buß- rechtlichen Teil sehen wir mehr vor, als von der europäi- geldverfahren eingeleitet. schen Ebene vorgegeben wurde, weil zum Beispiel auch Behinderte in das Antidiskriminierungsgesetz einbezo- Sie sprechen darüber nicht gerne. Wenn wir dieses gen werden sollen. Thema ansprechen, kommt bei Ihnen sofort die Sache mit der Putzfrau. Uns geht es nicht um die Putzfrauen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sondern darum, dass die legale il Tätigkeit in Deutsch- DIE GRÜNEN) 15504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Franz Müntefering (A) So werden wir das nach der Anhörung deutlich verändert Forschung und Entwicklung durch denWegfall der (C) gemeinsam vorlegen und so schnell wie möglich imEigenheimzulage finanzieren wollen. Diese Zulage hat Deutschen Bundestag und im Bundesrat zur Beschluss- auch Sozialdemokraten immer gut gefallen; viele von fassung vorlegen. uns sagen: Es wäre schön, wenn wir sie behalten könn- ten. Aber so zu tun, als gäbe es keine Vorschläge, ist Sie haben über die Gentechnik gesprochen. Wir alle ebenfalls dicht an der Wahrheit vorbei gewesen. Wir haben in den letzten Tagen Zeit gehabt, mit dem VCI wollen Bildung, Forschung und Technologie fördern und und großen bedeutenden Chemieunternehmen in dies auch durch den Wegfall der Eigenheimzulage finan- Deutschland zu sprechen. Alle miteinander sagen: zieren. Machen Sie an dieser Stelle endlich mit! Das (Joachim Poß [SPD]: Hören Sie doch mal zu, wäre schon gut. Frau Merkel!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lasst uns einmal zwei Jahre schauen, was da läuft und DIE GRÜNEN) wie das mit der Haftungsfrage ausgehen wird! Dann Frau Merkel, Sie haben sich – – werden wir in zwei Jahren weitersehen. Das hat der Bun- deskanzler angesprochen. (Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU] berät sich mit Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion) Deshalb lohnt es sich nicht, sich an dieser Stelle zu echauffieren. Wir haben im ersten Gentechnikgesetz– Sie hat ständigen Beratungsbedarf; das ist klar. klare Entscheidungen getroffen. Wir haben zwei Jahre (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zeit, um zu prüfen, ob etwas korrigiert werden muss. DIE GRÜNEN) Das sagen alle miteinander. Das zweite Gentechnik- gesetz werden wir jetzt beschließen; denn auch da sind Sie haben sich sehr nebulös zu der Frage geäußert, ob wir einer Meinung. Das wird schnell vorangehen; bei der man neue Schulden machen kann. Sie sind heute so un- Standortliste sind wir uns völlig einig. klar geblieben wie auch schon in den letzten Wochen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber falsch (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des entschieden! Das ist das Problem!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt keinen Grund zu weiterer Aufregung. Am 16. März wurden Sie, Frau Merkel, im „Handels- blatt“ wie folgt wiedergegeben: Zur Erbschaftsteuer. Sie haben eben locker erzählt – dafür haben Sie auf Ihrer Seite große Begeisterung Wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht auf der ausgelöst –, dass gestern der Antrag Bayerns angeblich einen Seite bei den Steuersätzen geben und mit der (B) im Finanzausschuss des Bundestages abgelehnt worden anderen bei der Mindestbesteuerung wieder ein-(D) sei. sammeln. (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Unser An- (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Richtig!) trag! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Un- Im selben Interview wurden Sie weiterhin zitiert: ser Antrag! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU) Für eine steuerliche Realentlastung der Wirtschaft haben wir nur sehr enge Spielräume. Der Antrag Bayerns stand gestern im zuständigen Aus- schuss des Deutschen Bundestages, im Finanzausschuss, (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Auch rich- überhaupt nicht zur Abstimmung. tig!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Heute wollen Sie beides: Die Wirtschaft soll entlastet BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- werden, aber neue Schulden sollen wir auch nicht ma- spruch bei der CDU/CSU) chen. Erklären Sie einmal, wie das gehen soll! Was gestern im Finanzausschuss des Deutschen Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tages abgelehnt worden ist, war das gesamte Steuerkon- DIE GRÜNEN) zept der CDU/CSU, das sie in ihrem „Pakt für Deutsch- land“ vorgeschlagen hatte. Nun zu Ihren Ausführungen zur Reform der bundes- staatlichen Ordnung: In der Tat gab es in der Föderalis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ muskommission weitgehende Einigkeit zu vielen Punk- DIE GRÜNEN) ten, die wir auch wieder aufrufen und gemeinsam beschließen können. Dabei ging es unter anderem da- Dies habe ich klargestellt, Frau Merkel, weil Sie zum rum, die Zustimmungsrechte des Bundesrates so zu ver- Schluss so viel von der Wahrheit geredet haben. Sie ha- ändern, dass nicht mehr etwa 60 Prozent, sondern etwa ben immer haarscharf an ihr vorbei argumentiert. nur noch 30 Prozent der Gesetze einer Zustimmungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ pflicht unterliegen. Dies soll dadurch geschehen, dass DIE GRÜNEN – Karsten Schönfeld [SPD]: So die Gesetze stärker als bisher in materiell-rechtliche und wird die Öffentlichkeit belogen! Unglaublich!) verfahrensrechtliche Teile aufgegliedert werden. Dann haben Sie verlangt, der Kanzler solle etwas zu Wir hatten des Weiteren vereinbart, dass die Gesetz- den Schulden sagen. Der Kanzler hat deutlich gemacht, gebungskompetenzen klarer zugeordnet werden. Die dass wir einen Großteil der zusätzlichen Ausgaben für Länder können die Organisations- und Personalhoheit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15505

Franz Müntefering (A) für die bei ihnen und bei den Kommunen Beschäftigten (Karsten Schönfeld [SPD]: Das ist unglaub- (C) haben. Dies schließt Art. 33 Abs. 5 GG ein; die Grund- lich! – Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Weil sätze des Berufsbeamtentums können fortentwickelt es so populär ist!) werden. Wer sich ein bisschen damit auskennt, weiß, wie viel Musik darin steckt. – Ja, das ist unglaublich, und zwar erstens im Hinblick auf die Interessen der Kinder sowie der Frauen und Müt- Die Länder können das gesamte Wohnungswesen ha- ter, ben, all das, was sozialen Wohnungsbau ausmacht; sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bekommen auch das Geld, das dafür heute vom Bund DIE GRÜNEN) zur Verfügung gestellt wird. Die Länder können das Ver- sammlungsrecht, das Ladenschlussrecht, das Gaststät- und zweitens im Hinblick auf die Arbeitsplätze. Hier- tenrecht und den gesamten Bereich der Flurbereinigung durch können konkrete Arbeitsmöglichkeiten für Hand- haben. All dies bedeutet eine deutliche Verlagerung von werker und kleine Unternehmen vor Ort geschaffen wer- Kompetenzen hin zu den Ländern. den. Einige andere Kompetenzen sollen an den Bund ge- Deshalb sage ich noch einmal das, was der Kanzler hen, zum Beispiel die rechtliche Zuständigkeit für die schon angesprochen hat: Wer will, dass es vor Ort Arbeit Erzeugung und Nutzung von Kernenergie, das Melde- gibt, muss zum Beispiel dafür sorgen, dass diese Mil- und Ausweiswesen sowie das Waffen- und Sprengstoff- liarde, die auch in diesem Jahr zur Verfügung steht, für recht. den Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen eingesetzt wird. Das Geld steht zur Verfügung. Bitte nehmt es und Außerdem soll es 15 Materien geben, bei denen zu- macht endlich etwas damit. künftig nicht mehr die Erforderlichkeitsklausel gilt. Das heißt, dass die Länder nicht mehr nach Art. 72 Abs. 2 ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen Anspruch auf Materien erheben können, die heute DIE GRÜNEN) im Grundgesetz der konkurrierenden Gesetzgebung zu- Es war einvernehmlich vereinbart, dass die Befugnis geordnet sind. Dazu gehört zum Beispiel das gesamte zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerb- Arbeitsrecht. steuer an die Länder fällt. Ferner war ein neuer Art. 104 b in der Diskussion, der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ach was!) insofern interessant war, als er engen Bezug zu Dingen hatte, die heute Morgen vom Kanzler, aber auch vonEinvernehmlich vereinbart war ein Steuertausch in dem Frau Merkel angesprochen worden sind. Einige Länder Sinne, dass die Zuständigkeit für die Versicherungsteuer (B) – als einen ihrer Vertreter kann ich den Ministerpräsi- in Zukunft ganz bei den Ländern, aber die für die Kfz-(D) denten von Hessen sehr genau identifizieren – haben in Steuer beim Bund liegt. Einvernehmlich vereinbart war, diesem Zusammenhang gefordert, dass im Grundgesetz dass das Finanzverwaltungsgesetz für die Steuerverwal- zukünftig stehen solle, der Bund dürfe Finanzhilfen an tung im Sinne einer Präzisierung des Bundesrechtes in die Länder bzw. Gemeinden nur für Vorhaben geben, die Bezug auf die Auftragsverwaltung, die Koordinierung nicht Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung der der Prüfungsdienste und die Bündelung der Aktivitäten Länder sind. Was heißt das? Darüber haben wir lange ge- zur Bekämpfung von Steuerkriminalität bearbeitet wird. sprochen. Die Länder – speziell Hessen und die B-Län- Einvernehmlich vereinbart war die Haftungsfrage in Be- der – haben uns gesagt: Ihr sollt in das Grundgesetzzug auf Europa. Einvernehmlich vereinbart war das Vor- schreiben, dass ihr den Kommunen keine Hilfen mehr gehen von Bund und Ländern in Bezug auf den nationa- geben könnt, so wie ihr dasjetzt zum Beispiel bei den len Stabilitätspakt. Einvernehmlich vereinbart waren Ganztagsschulen macht. Mitwirkungsrechte von Bund und Ländern in Bezug auf die nationale Interessenwahrnehmung in Europa. Ein- Die Begleitmusik des Herrn Koch – andere will ich vernehmlich vereinbart war ein Großteil der Maßnah- dafür nicht in Anspruch nehmen – war eindeutig: Er will men in Bezug auf die innere Sicherheit. Einvernehmlich in seinem Leben nicht noch einmal erleben, so hat er ge- vereinbart war, dass ausdrücklich ins Grundgesetz auf- sagt, dass der Bund Gelder an die Länder und die Kom- genommen wird: Berlin ist die Hauptstadt der Bundes- munen im Rahmen eines Konzeptes gibt, mit dem man republik Deutschland. so populär werden kann, wie das an dieser Stelle gesche- hen ist. Das war seine Begründung. Ich habe all diese Dinge noch einmal aufgezählt, weil ich glaube, dass wir auch dann, wenn wir in Hinblick auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zusammenarbeit guten Willens sind, wissen müssen: DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft oder die Gesell- CSU) schaft im Allgemeinen muss Bürokratie beiseite geräumt werden. Auch die Demokratie muss sich so organisieren, Wenn man sich den Abfluss der Gelder ansieht, kann dass wir glaubwürdig sind und nicht unnötig Hürden man sich erklären, was eigentlich passiert ist. Von der aufbauen, die vermeidbar sind. In diesem Sinne wäre 1 Milliarde Euro, die im letzten Jahr zur Verfügung stan- das, was wir unter dem Punkt „Bundesstaatliche Ord- den, ist längst nicht alles abgeflossen. Das war in dennung“ vereinbart haben, ein guter Schritt. einzelnen Ländern aber sehr unterschiedlich. Hessen standen 70 Millionen Euro zur Verfügung, abgerufen Meine herzliche Einladung an alle, die wirklich wol- worden sind aber nur 2,8 Millionen Euro. len, dass sich Demokratie zeitgemäß organisiert, lautet: 15506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Franz Müntefering (A) Lassen Sie uns das machen, was ich jetzt angesprochen eintreten, sondern auch davon überzeugt sind, dass der(C) habe. Im Laufe des Verfahrens werden wir sehen, ob wir Staat eine Aufgabe hat und sie behalten muss. Diejeni- auch noch die Vereinbarungen in den Bereichen Bildung gen von Ihnen, die ehrlich sind, werden das nicht bestrei- und Umweltrecht hinbekommen; denn zumindest beim ten. Die Frage ist: Wo ist die Grenze? Wie weit geht das? Umweltrecht sind wir schon dicht dran. Alles andereWie lösen wir das Spannungsverhältnis auf? können wir miteinander machen. Das garantieren wir. Wenn wir die Rolle des Staates ernst nehmen und von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Grundwerten ausgehen, die uns alle miteinander DIE GRÜNEN) verbinden, müssen wir wissen, dass Freiheit, Gerechtig- keit und Solidarität nicht trennbar sind. Einer der Grund- Ich will abschließend ein wenig darauf eingehen, was werte alleine kann nicht funktionieren. Wir müssen sie Sie, Frau Merkel, mit Worten zur Freiheit begonnen und alle drei miteinander haben. Dazu hat Johannes Rau, auch geendet haben. Sie haben dazu in der letzten Zeit der damalige Bundespräsident, im Mai 2004 Bedenkens- auch einige Artikel geschrieben. Ich habe mich gewun- wertes gesagt: dert, dass sich andere in der CDU/CSU, die dazu sicher auch das eine oder andere sagen könnten, dazu nie geäu- Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienst- ßert haben. Zwischen uns großen und kleinen demokrati- leistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur schen Parteien ist doch ein Rest von Akzeptanz vorhan- Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Der Staat den. Ich wundere mich, dass Sie sich so äußern. schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökono- Sie berufen sich auf Hayek. In seinem Werk arbeitete mischen Kräften, die dieFreiheit des Einzelnen Hayek mit bestechender Logik und überzeugenden Ar- längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit. gumenten heraus, dass es vor allem um die Gewährleis- tung individueller Freiheit als Voraussetzung für Fort- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schritt und Prosperität einer Gesellschaft geht, also vor Dazu legt er auch Regeln und Pflichten zu Gunsten allem um den gesetzgeberisch garantierten Schutz des der Gemeinschaft fest. Damit schafft der Staat Frei- Bürgers vor staatlicher Willkür und ungerechtfertigtem räume gegen puren Ökonomismus und gegen das Zwang. Das klingt gut. alles beherrschende Dogma von Effizienz und Ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) winnmaximierung. In Hayeks Buch „Die Verfassung der Freiheit“ steht: Gewiss: Eigene Verantwortung und eigene Anstren- gung sind notwendig und unverzichtbar. Mehr Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst Eigenverantwortung darf aber nicht heißen, dass (B) erfreulich. Sie ist einfach nötig. die Starken sich nur noch um sich selber kümmern (D) Gerechtigkeitsüberlegungen (geben) keine Recht- und die anderen sehen sollen, wo sie bleiben. fertigung für eine „Korrektur“ des Marktergebnis- Solidarität der Schwachen mit den Schwachen – ses ab. das genügt nicht. Arbeitende für Arbeitslose, Junge … so muss ich offen zugeben, dass ich, wenn De- für Alte, Gesunde für Kranke, Nichtbehinderte für mokratie heißen soll: Herrschaft des unbeschränk- Behinderte: Darauf bleibt jede Gesellschaft ange- ten Willens der Mehrheit, kein Demokrat bin … wiesen. (Karsten Schönfeld [SPD]: Ganz toll!) Johannes Rau hat sehr Recht. Man kann über solche Sachen diskutieren. Ich emp- (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem fehle Ihnen aber sehr, Frau Merkel, sich das genau zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) überlegen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Die CDU wird sich entscheiden müssen, ob sie an dieser Dr. Wolfgang Gerhardt. Stelle Hayek oder will. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist ein Unterschied. Mit Hayek gibt es keine soziale Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Marktwirtschaft, mit Ludwig Erhard ja. Da hat es in den Herren! Um an meinen Kollegen Müntefering mit „Frei- letzten Tagen schwer gerumpelt; er hat sich mehrmals im heit, Gleichheit und Solidarität“ anzuschließen: Die Grabe umgedreht. Darauf kann ich wetten. Kombination unser aller Erbanlagen macht uns alle ein- zigartig – wenige einzigartig begabt und viele einzigartig (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- durchschnittlich. Wenn Sie denen, die einzigartig begabt NIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/ sind, im Bildungssystem, in der steuerlichen Belastung CSU]: Der Philosoph Müntefering!) und in ihren Lebenschancen nicht gerecht werden, wenn Sie eher eine Neid- und Vermeidungsgesellschaft gegen Wir sind jetzt bei der Frage nach dem Verhältnis von sie mobilisieren, Freiheit und Staat. Sie wissen, dass wir Sozialdemokra- ten nicht nur für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität (Joachim Poß [SPD]: Popanz!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15507

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) werden Sie der Gesellschaft nicht helfen, größte soziale (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C) Sicherheit für alle herzustellen – im Sinne Ludwig Erhards, über die marktwirtschaftliche Ordnung, nämlich Geben Sie denen doch den Freiraum, den sie brau- den Arbeitsplatz. Das ist der Kern des Denkunterschiedes chen! Sie besuchen doch die gleichen Betriebe wie ich auch. Dort erzählen Ihnen die Leute doch nichts anderes zwischen Sozialdemokraten und Freien Demokraten. Wir als mir. Das betriebliche Bündnis ist doch kein Anschlag haben die gleiche Passion: Wir wollen Arbeitslosen hel- auf die Organisationsmacht von Gewerkschaften, son- fen. Uns trifft genau wie Sie jeder, der arbeitslos wird. dern eine Chance für Beschäftigung. Fürchten Sie sich Aber wir haben nicht diese Staatsregulierungsall-doch nicht vor Freiheit in den Betrieben! machtsanmaßungsmentalität, zu glauben, dass wir für Tausende von Menschen die persönlichen Lebensent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) scheidungen besser treffen könnten – durch Gesetzge- bung –, als sie das für sich selbst können. Wir sollten einmal die betriebliche Wirklichkeit sehen: Über 50 Prozent der Betriebe sind bereit, betriebliche (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bündnisse zu verabreden. Wenn das so gut klappt, wa- rum halten Sie dann an einem Gesetz fest, das nicht Deshalb will ich einmal auf den Kern der Debatte zu- klappt? Wenn wir offensichtlich gesetzliche Bestimmun- rückkommen: Ich glaube, dass bei über 5 Millionengen haben, die eigentlich entgegen dem sind, was die Arbeitslosen in der Öffentlichkeit heute nur ein be-Betriebe wollen und was die Volkswirtschaft weiter- grenztes Interesse besteht, zu erfahren, wo sich das Gast- bringt, dann sollten Sie diese gesetzlichen Bestimmun- stättenrecht im Zuge einer Föderalismusreform am Ende gen doch beseitigen. wiederfindet, wo das Jagdrecht und wo vieles andere mehr. Die Öffentlichkeit interessiert die große Antwort (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und nicht das kleine Einzelne aus dem Instrumentenkas- der CDU/CSU) ten von Energiepolitik, von Sonderprogrammen – auch Ihr Denken ist es, das den Menschen solche Be- nicht das 152. KfW-Programm –, Gewerbesteuerver-schwerden macht. Den Unternehmern hilft kein KfW- rechnung, Verkehrsinfrastruktur. Die Öffentlichkeit inte- Programm, jedenfalls nicht durchschlagend. Sie haben ressiert, welchen Weg die Politik geht, um Vertrauen zu- uns auch nicht darum gebeten, bei der Gewerbesteuer- rückzugewinnen, und sie interessiert, ob wir überhaupt verrechnung wieder etwas zu machen. Sie wollen eine noch wissen, wie Arbeitsplätze entstehen und wer sie in neue unternehmerische Chance haben, sich mit der Bil- Deutschland schafft. dung von Eigenkapital festigen zu können, und sie wol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) len durch eigene unternehmerische Entscheidungen mit guten Steuer- und Sozialreformsignalen eine Zukunfts- (B) Sie will einen Wiedererkennungswert in uns haben. chance haben. (D) Deshalb, Herr Bundeskanzler, komme ich gleich auf (Beifall bei Abgeordneten der FDP) den Punkt: Sie sind mit einer Art Unfallkoffer durch Ihre Regierungserklärung für Deutschland gelaufen. Sie ha- Nichts davon hat der Bundeskanzler heute angespro- ben Gewerbesteuerverrechnungsmodelle neu angebo- chen! Nichts – dabei sind das die entscheidenden Fragen ten. Das ist typisch deutsch: eine Steuer, die eigentlich für Deutschland. abgeschafft werden müsste, weil sie Arbeitsplätze ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hindert, zu erhalten, weil sie zum gedanklichen Hausgut der CDU/CSU) der SPD gehört; Soziale Sicherungssysteme, Herr Bundeskanzler – Sie (Beifall bei Abgeordneten der FDP) wissen es doch genauso gut wie ich –, sind zu einer die Mittelständler sie berechnen zu lassen, bürokratische Barriere gegen Arbeitsplätze geworden. Klaus von Instrumente einzuführen, um sie dann am Ende zu ver- Dohnanyi hat es so ausgedrückt; man muss es jeden Tag rechnen. Schaffen Sie sie doch ab! Das wäre ein Befrei- wiederholen. Warum sträubt sich Ihre gesamte Partei, ungsschlag für die Bundesrepublik Deutschland. das zur Kenntnis zu nehmen? Ein Befreiungsschlag nicht nur für den Mittelstand, eine Chance für Beschäftigung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in Deutschland wäre ein Bekenntnis von uns allen hier, der CDU/CSU) uns nicht in Wahlkämpfen anzugreifen, sondern den Menschen in Deutschland zu sagen: Wir haben die so- Wir wollen jetzt einmal – ich hoffe, dass die Öffent- ziale Sicherheit durch ständig positive Wachstumsraten lichkeit zusieht – diejenigen ansprechen, die die meisten erheblich erhöht. Heute stehen wir vor der Aufgabe, die Jobs schaffen und die meisten Jugendlichen ausbilden: soziale Sicherheit neu zu organisieren und sie vom Fak- Das sind die kleinen und mittleren Unternehmen. Sie tor Arbeit abzukoppeln. Wenn Sie diesen Weg nicht ge- fühlen sich wenig getröstet durch Ihren Vorschlag, die hen, dann werden Sie die hohe Arbeitslosigkeit nicht be- Körperschaftsteuer noch einmal – auf 19 Prozent – zu seitigen. Da durch Arbeit und Beschäftigung eine senken. Für sie ist die Einkommensteuer die betriebliche größere soziale Sicherheit als durch Hartz IV erreicht Steuer. Sie wandern auch nicht alle ins Ausland ab – sie wird, bekenne ich mich entsprechend dem Bundespräsi- produzieren hier. Sie kennen ihre Betriebsangehörigen; denten – „Vorfahrt für Arbeitsplätze“ – für diesen Weg der sie besprechen mit ihnen in der Mittagspause betriebli- Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme. Das muss che Probleme. Sie empfinden die Gewerkschaftszentrale man in einer Regierungserklärung auch ausdrücken. eher als störend; die bei ihnen beschäftigten Arbeitneh- mer sehen das auch so. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 15508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Sie haben eine Zukunftsorientierung in Bildung und Zur Bildung. Ministerpräsident Steinbrück wird nach- (C) Forschung angesprochen. Frau Kollegin Merkel hat völ- her reden. lig Recht, (Hubertus Heil [SPD]: Gott sei Dank!) (Hubertus Heil [SPD]: Nein!) In der Bildungspolitik gibt es eine beklagenswerte Si- wenn sie sagt, es könne nicht über eine Zukunftsorientie- tuation: Durch die PISA-Studien für Deutschland wurde rung in Forschung und Entwicklung sowie Bildung gere- nachgewiesen, dass die soziale Herkunft in keinem an- det werden, wenn in Maastricht gleichzeitig deren eine Land so sehr über den Schulerfolg entscheidet wie Schneise in die Zukunftsorientierung geschlagen wird, in der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde gesagt, die es uns in Deutschland erlauben würde, mehr Schul- dass dagegen etwas getan werden muss. Einverstanden. den zu machen. BeiMaastricht geht es für mich und Bevor wir dagegen etwas tun, möchte ich nur den kurzen meine Fraktion nicht nur um die Finanzen, die Kriterien Hinweis geben: Bildung ist Hausgut der Länder und liegt und die Einhaltung des Vertrages. Durch die deutsche in ihrer verfassungsrechtlichen Zuständigkeit. Die Län- Verhaltensweise wird das Vertrauen der anderen in uns der müssen sich messen lassen. Die PISA-Studie richtet zerstört. Vertrauen war im Grunde genommen immer das sich an sie und ihre Kultusminister, also an ihre politi- größte Gut der deutschen Außenpolitik. sche Verantwortung. In keinem Bundesland ist die Ver- knüpfung zwischen der sozialen Herkunft und dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Schulerfolg so eng und problematisch wie in Nordrhein- Herr Bundesaußenminister, hat irgendjemand im Bun- Westfalen. deskabinett eigentlich einmal darüber nachgedacht, wel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) chen Vertrauensverlust die Bundesrepublik Deutschland mit dieser Klempnerei am Maastricht-Vertrag erleidet? Wir müssen das verfassungsrechtliche Hausgut der Er geht weit über finanzpolitische Erwägungen hinaus. Länder beachten, die hier eine Verantwortung haben. Ich Das ist ein Verlust des Image, des Ansehens der Bundes- frage mich allerdings, ob die Einheitsschule die richtige republik Deutschland. Sie zerstören das gute ImageAntwort ist. Deutschlands mutwillig, das aufgrund der in der Welt wahrgenommenen Leistungsbereitschaft der Nachkriegs- (Hubertus Heil [SPD]: Waren Sie nicht mal generation vorhanden ist. Bildungsminister? – Joachim Poß [SPD]: Po- panz!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich glaube, dass wir in diesem Land nur dann weiter- Sie haben in Ihrer schriftlichen Erklärung eine kurze kommen – auch mit der Beschäftigung –, wenn wir (B) Replik im Hinblick auf veränderte Konjunkturaussich- Wettbewerb im Bildungssystem haben. Leistung (D) ist ten gemacht und gesagt, keine Körperverletzung. (Joachim Poß [SPD]: Sie sind ein super Öko- (Joachim Poß [SPD]: Sie sind Leistungsträger! nom, Herr Gerhardt!) Das sieht man an der Qualität Ihrer Argu- mente!) Sie würden sich dagegenwenden, dass die Forschungs- institute jetzt kurzatmig Prognosen korrigieren. Das ist Leistungsbereitschaft, das Heranführen an Prüfungen eine bemerkenswerte Einlassung. Sie haben sie nichtund das Bestehen von Herausforderungen gehören zum wörtlich so gemacht, aber ich erlaube mir einmal, das so menschlichen Leben. Es ist entscheidend, Kinder in pä- darzustellen. dagogisch verantwortbarer Weise dort hinzuführen. (Joachim Poß [SPD]: Sie tun so, als wäre das Es wäre in der Föderalismuskommission nicht zum gesagt worden!) Streit gekommen, wenn wir das beherzigt hätten, Herr Müntefering, was wir immer sagen: DieHochschulen Ihr Bundesfinanzminister hat jedes Jahr den Haushalt müssen autonom sein. Entlassen Sie sie doch in die eingebracht und gesagt, der Aufschwung stehe vor der Autonomie und damit in den Wettbewerb! Tür. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Ludwig Stiegler [SPD]: Letztes Jahr war er da!) Lassen Sie sie doch ihre Studentinnen und Studenten selbst aussuchen! Lassen Sie sie doch über Studienge- Das kann man in jeder Rede nachlesen. Sie haben jedes bühren so entscheiden, wie sie es wollen! Jahr eine Prognose abgegeben und wir haben gesagt, dass sie am Ende nicht stimmen wird. Jedes Jahr hatten Die Frage ist doch nicht, ob der Bund oder die Länder wir Recht, sie haben nicht gestimmt. Auch dieses Jahr zuständig sind. Warum haben Sie solche Angst vor dem wird sie nicht stimmen. Die anderen sind doch nicht Gebrauch der Freiheit durch die Wissenschaftler der schuld daran, dass wir hier so schwache Wachstumsraten Hochschulen? Warum haben Sie denn bei Forschung haben. Sie setzen doch die Rahmenbedingungen, die zu und Entwicklung eher das Bedürfnis, hinsichtlich der solch schwachen Wachstumsraten führen. Technikfolgenrisikoabschätzung Gesetze zu machen, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Forschung einschränken, als Wissenschaftlern in Deutschland, die ihre Forschungsarbeiten mit Ethik und Ihr Misstrauen gegen Ihre eigenen Prognosen ist sehrklarem normativen Verhalten machen, einen Vertrauens- wohl begründet. vorschuss zu geben? Der Kern Ihres Problems bei dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15509

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) ganzen Bürokratisierungsvorgang ist, dass Sie den Men- füge hinzu: Sie hatten Ende des vergangenen Jahres die (C) schen eher misstrauen als vertrauen. Anwandlung, dass jetzt eine eintreten könne. Sie wissen nun aber, dass das nicht möglich ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Erzählen Sie niemandem, die Zahl von über 5 Millio- Wenn Sie das nicht überwinden, wird es in Deutschland nen Arbeitslosen habe sich aus den Gesetzen von Hartz I keine Beschäftigung geben. Das ist nicht nur eine Frage bis Hartz IV mechanistisch ergeben; die Menschen er- der Bürokratie, sondern eine Frage der Einstellung. führen jetzt endlich die Wahrheit. Nein, diese Arbeitslo- Verschonen Sie uns mit Ihrer Lösung bei der Grünen senzahl – aus meiner Sicht ist sie in Wirklichkeit sogar Gentechnik! Sie wissen, dass dieser Bereich ein Wachs- höher als die, die gemeldet wird – kannten Sie und wir tumsmarkt ist. Wir beide sind uns auch beim therapeu- seit Jahren. Diese Arbeitslosen sind diejenigen, die sich tischen Klonen und bei der Stammzellenforschung einig. in der Drehtür zwischen Beschäftigungslosigkeit, Wei- Sie wissen das genauso gut wie ich. Ihr Angebot, sich als terbildungskursen und erneuter Arbeitslosigkeit befan- Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dafür den. Diese Menschen haben Sie aus diesen Wartehallen einzusetzen, für die Grüne Gentechnik, die schon heute nicht herausgelassen. Ihre Sozialpolitik war die Beglei- verantwortbare Ergebnisse zeigt und für die sich tung in von Arbeitslosigkeit. Sie waren eher bereit, die Deutschland Forscher interessieren, die von diesemKompensation dafür zu erhöhen, als bei der Beschäfti- Wachstumsmarkt profitieren wollen, einen Haftungs-gung in Deutschland einen Durchbruch zu erzielen. fonds einzurichten, um praktisch mit diesem Auffang- (Zustimmung bei der FDP) netz die missratene Gesetzgebung zu korrigieren, kann doch nicht die Lösung des Bundeskanzlers der Bundes- Daran hat Sie die Fraktion der FDP nicht gehindert. republik Deutschland, einer großen Industrienation, für Gehindert haben Sie an diesem Durchbruch die Bundes- einen Wachstumsmarkt sein. tagsfraktion der SPD und – das gilt insbesondere für Be- reiche, in denen dieser Durchbruch gar kein Geld (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kostet – ohne Ende die Grünen, und zwar bei Verkehrs- Das gilt auch für diejenigen, die anderer Meinungbaumaßnahmen und der Forschungsförderung. sind als Teile der Koalition.Das gilt auch für uns. Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nehme ich auch für mich in Anspruch. Wir beide haben genauso gute und ethisch überzeugende Gründe, die me- Die KfW muss überhaupt kein Programm auflegen. dizinische Forschung weiterzubringen, die das Leid von Es wäre schon eine Wohltat für die Bundesrepublik Menschen lindern kann. Aber ich habe den Vorteil, dass Deutschland, wenn Sie Ihren Partner überzeugen könn- ich Vorsitzender einer Fraktion bin, die das weitestge- ten, Vorfahrt für Arbeitsplätze zu geben. (B) hend mit mir teilt. (D) (Hubertus Heil [SPD]: Rechts vor links!) (Beifall bei der FDP) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Sie sind Chef eines Kabinetts, das diese Auffassung (Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei so nicht teilt. Sie richten sich in Erklärungen oft – das der CDU/CSU) kann man gut beobachten – an Ihre eigenen Reihen, um sie zu überzeugen, dass der Weg gegangen werden muss. Das ist auch bei der Gentechnik der Fall, Herr Bundes- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kanzler. Sie haben mit der Agenda 2010 die richtige Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka Richtung vorgegeben. Sie haben diesen Prozess irrever- Fischer. sibel gemacht; das bleibt Ihr Verdienst. Aber dass Sie so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unglaubliche Anstrengungen unternehmen müssen, um und bei der SPD) Ihren sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen bare Selbstverständlichkeiten zu vermitteln, wird für Bundesminister des Auswärtigen: mich immer unverständlich bleiben. Joseph Fischer, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten man heute Morgen der Debatte folgt, so kann man fest- der CDU/CSU) stellen, dass sich alle Fraktionen zu Recht über das Schicksal von über 5 Millionen Arbeitslosen tiefe Sorgen Wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass bei Ih- machen. Diese Debatte wird von den Menschen verfolgt. nen und Ihrer Fraktion ein Minimum an volkswirtschaft- Es wurde zu Recht auch auf die Rede des Bundespräsi- lichen Kenntnissen darüber, wie Arbeitsplätze entstehen denten hingewiesen. Wenn man die Debatte sorgfältig und die Mechanismen auf dem Arbeitsmarkt funktionie- nachvollzieht, stellt sich allerdings die Frage, ob wir die ren, vorhanden ist. Frage der Zuhörerinnen und Zuhörer vor den Fernseh- (Joachim Poß [SPD]: Die Kenntnisse können schirmen und am Radio beantworten können, nämlich ob Sie ja für sich reklamieren! – Ludwig Stiegler wir es gemeinsam packen werden. Das ist die entschei- [SPD]: Gut, dass wir Sie haben!) dende Frage, um die es geht. Das, was Sie persönlich an physischer Kraft verbraucht Vieles von dem, was ich hier gehört habe, ist im We- haben, um diese Schmalspuragenda bis heute durchzu- sentlichen parteipolitisch orientiert gewesen. Der Bun- setzen, ist schon verwunderlich. Der Bundespräsident deskanzler hat heute in einer, wie ich finde, großen und hat gesagt, es dürfe keine Reformpause eintreten. Ichbeeindruckenden Rede ein Angebot gemacht, 15510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundesminister Joseph Fischer (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ungsplatz hatten. Da reicht nicht ein Kindergartenplatz, (C) und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU wo die Kinder nur vier oder fünf Stunden betreut wer- und der FDP) den. Das ist der falsche Weg, mit dem Hartz IV Schluss gemacht hat. Es geht entscheidend darum, dass wir eine in dem Prozess der Reformen weiterzugehen. Lassen wir Ganztagsbetreuung bekommen. Eine Alleinerziehende, für einen Augenblick die parteipolitische Kontroverse die einen Arbeitsplatz nachweisen kann, hat einen An- hinter uns. Um was geht es denn gegenwärtig? Tun wir spruch auf Betreuung. Wo die Betreuung nicht funktio- als Vertreter von Parteien doch nicht so, als ob die eine niert, ist die Bundesagentur in der Pflicht. Das ist richtig Seite immer nur Recht hätte und die andere Seite immer und wichtig. nur auf der falschen Linie wäre! Wir müssen doch fest- stellen, dass die Bundesrepublik Deutschland vermutlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den tiefsten Wandel in den Sozialsystemen, in der Wirt- sowie bei Abgeordneten der SPD) schaft und auf dem Arbeitsmarkt seit ihrer Gründung Ich frage mich in diesem Zusammenhang, was die durchläuft. Das, was wir zu leisten haben – darüber müs- älteren Arbeitnehmer, die diese Debatte verfolgen, sen wir uns streiten und dann auch die Entscheidungen denken werden. Wir reden über demographische Verän- treffen –, ist, den Sozialstaat, der auf nationale Grenzen derungen, ein späteres Renteneintrittsalter und Alten- und ein sich langsam integrierendes Europa ausgerichtet arbeit. Das ist zwar alles richtig, aber sehr viele werden war, für die Herausforderungen der Globalisierung fit zu mit 50 Jahren ausgesteuert und haben kaum noch eine machen, sodass soziale Gerechtigkeit auch im 21. Jahr- Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. hundert ein Grundwert unserer Republik ist. Ich frage Sie: Wie können Sie, wenn die Freiheits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rhetorik nicht hohl sein soll, an diesen Menschen vorbei- und bei der SPD) gehen? Wir sind schließlich keine Repräsentanten einer Wir werden daran gemessen werden, ob wir es ge-Deutschland AG; wir sind vielmehr die gewählten politi- meinsam packen. Ich möchte nicht wiederholen, wasschen Repräsentanten, die sich auch und gerade um die von verschiedenen Rednern gesagt wurde und was der Sorgen und Bedrängnisse dieser Menschen Gedanken Bundeskanzler in seiner beeindruckenden Rede darge- machen und Lösungen anbieten müssen. stellt hat. Wir haben Hartz IV gemeinsam angepackt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist uns damals im und bei der SPD) Vermittlungsausschuss, in der großen Runde in jener Nacht, gelungen, die Gemeinsamkeit herzustellen. Das, Das kann sich nicht darauf beschränken, Maßnahmen was wir da geleistet haben, müssen wir den Menschen nur dann durchzuführen, wenn es den Unternehmen (B) immer wieder erklären. nützt. (D) Wir wollen eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, Mit Hartz IV ist ein entsprechender Schwerpunkt ge- wir wollen, dass mit der Verwaltung von Arbeitslosig- setzt worden. Deswegen finde ich es richtig und wichtig, keit Schluss ist und dass die Menschen aus der Hoff-dass wir dem Angebot des Bundeskanzlers folgen, die nungslosigkeit herausgebracht werden. Zuverdienstmöglichkeiten verbessern, bei den 1-Euro- Jobs die Entfristung herbeiführen – davon hängen viele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Jobs in Ostdeutschland ab – und damit Möglich- und bei der SPD) keiten für die über 55-Jährigen – seien wir doch ehrlich: Wir sind gegenwärtig in der Mitte des Stromes. Dasmehr und mehr sind auch schon 50-Jährige betroffen – müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Wirschaffen, um eine Trendwende zu erreichen. Wenn die wollen, dass junge Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfä- Wirtschaft dennoch meint, mit 50 sei Schluss, und hig sind – ich denke an über 100 000 Jugendliche, die, gleichzeitig, wie Herr Hundt, Rentenkürzungen fordert, bevor sie überhaupt richtig ins Arbeitsleben eingetreten dann sägt wohl jemand an dem Ast, auf dem er sitzt. Er sind, bereits in der Sackgasse der Hoffnungslosigkeit an- sollte das füglichst unterlassen. gekommen sind –, einen Anspruch darauf haben, inner- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halb von drei Monaten – der Wirtschaftsminister hat ge- und bei der SPD) sagt, dass er das in diesem Jahr erreichen möchte – einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder eine Arbeit zu er- In der heutigen Ausgabe einer Berliner Tageszeitung halten. Das ist ein entscheidender Ansatz im Kampf ge- ist nachzulesen, welche Angebote für einen aktivieren- gen die Jugendarbeitslosigkeit, aber auch gegen dieden Arbeitsmarkt die OECD empfiehlt. Das entspricht Hoffnungslosigkeit bei der jungen Generation. genau dem, was wir mit Hartz IV gemeinsam – ich wie- derhole: gemeinsam – angepackt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir sind bereit, auch einen zweiten Schritt gemein- sam mit Ihnen zu gehen. Frau Merkel schlägt einen Pakt Das Zweite, worüber kaum geredet wird, sind diefür Deutschland vor. Wir werden uns heute Nachmittag Alleinerziehenden. Wir wissen doch, dass gut ausgebil- zu einem gemeinsamen Gespräch treffen. Ich glaube deten Alleinerziehenden in der Vergangenheit ein Schein aber, dass ein Pakt für Deutschland nicht in der Weise für das Sozialamt gegeben und ihnen gesagt wurde: Ge- funktionieren wird, dass die Regierung Gesetzesvor- hen Sie doch zum Sozialamt, Sie haben Anspruch auf schläge macht und die Opposition diese wohlwollend Sozialhilfe! Das war der Fall, wenn sie keinen Betreu- prüft. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15511

Bundesminister Joseph Fischer (A) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir haben Die Ordnung der Freiheit heißt, dass wir durch die(C) ja Vorschläge gemacht!) Steuerreform gewaltige Entlastungen in Höhe von 50 Milliarden bis 60 Milliarden Euro für die Bürger und Das ist zwar huldvoll, aber es wird nicht reichen. Ich er- Unternehmen erreicht haben. Die Unternehmensteuer- kläre Ihnen auch, warum. Wir haben nämlich schlicht sätze wurden gesenkt, genauso wie der Spitzensteuer- und einfach eine bundesstaatliche Ordnung. Frau Merkel satz. Der Eingangssteuersatz wurde halbiert. Darauf als Partei- und Fraktionsvorsitzende kann das zwar so wurde schon hingewiesen. Es ist richtig: Mit der Reform sehen, für die Ministerpräsidenten gilt das aber nicht. der Körperschaftsteuer und einigen anderen Maßnah- Denn die zweite Kammer steht mit in der bundesstaat- men wollen wir erreichen, dass das Steuersubstrat trotz lichen Verantwortung. offener europäischer Konkurrenz im Wesentlichen in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Deutschland bleibt. Richtig ist ebenfalls, dass wir im SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Herbst dieses Jahres eine umfassende Unternehmensteu- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wer regiert erreform und, so glaube ich, ein einheitliches Unterneh- denn hier?) mensbesteuerungsrecht brauchen. Das sind Punkte, in denen wir uns im Grunde genommen einig sind. Wenn Insofern wird es von entscheidender Bedeutung sein, dem so ist, dann sollten wir das den Menschen draußen ob der Wille vorhanden ist, das Ganze gemeinsam anzu- aber auch klar machen, um Vertrauen zu schaffen, und packen. nicht das Trennende in den Vordergrund stellen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Angst vorm Regieren!) Ich komme zur Gesundheitsreform. Hier hat es mir ehrlich gesagt den Atem verschlagen. Frau Merkel, be- – Um Angst geht es dabei überhaupt nicht. Das hat doch deutet Ordnung der Freiheit, dass Sie hier plötzlich Inte- mit Angst nichts zu tun. Zuerst sagen Sie, Sie seien tief ressenvertreterin der Firma Pfizer sind, und das ausge- besorgt um die 5,2 Millionen Arbeitslosen. Wenn ichrechnet bei der Festbetragsregelung? aber davon rede, dass wir es gemeinsam anpacken soll- ten, dann sprechen Sie von Angst. Das ist kleinste partei- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ politische Münze. DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Popanz! – Michael Glos (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [CDU/CSU]: Wessen Interessenvertreter sind und bei der SPD) Sie? Unglaublich!) Das nehmen uns die Menschen nicht mehr ab. Deswe- Wenn man sich anschaut, wie viel Generika kosten, dann gen spreche ich von der Ordnung der Freiheit. Ich bin kann man doch nicht allen Ernstes einerseits fordern (B) sehr dafür, das durchzudeklinieren. Parteien wie auch– dieses Lied hat Herr Gerhardt gerade wieder auf sehr (D) Demokratien haben mit Interessen zu tun. Es geht aber banale Weise gesungen – „Staat raus!“ und andererseits auch darum, Konsens über die widersprüchlichen Inte- die Interessen der Firma Pfizer gegen eine vernünftige ressen herbeizuführen. Vielleicht – ich weiß es nicht – Begrenzung der Gesundheitskosten verteidigen. So wird definieren wir Freiheit in einem Punkt unterschiedlich. es nicht funktionieren. (Zuruf von der FDP: In der Visaerteilung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bin nämlich der Meinung, dass es Freiheit unter den und bei der SPD) Bedingungen der sozialen Demokratie und der ökolo- Insgesamt ergibt sich durch die Reduzierung der Ge- gischen Grenzen nur im Dreisatz gibt. Die Wettbewerbs- sundheitskosten eine Entlastung in Höhe von 9 Milliar- fähigkeit, die auf Freiheit gründen muss, kann nicht den Euro. Gemeinsam mit der Rentenreform sowie der bedeuten, dass wir uns von dem sozialen Gerechtigkeits- Umsteuerung am Arbeitsmarkt und in den sozialen Si- anspruch und der ökologischen Nachhaltigkeit verab- cherungssystemen sind das doch gewaltige Entlastungen schieden. für die Unternehmen. Ich bin sehr für Ordnung der Frei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heit. Für mich ist aber der entscheidende Punkt: Wenn und bei der SPD) ich Ordnung der Freiheit sage – – Insofern halte ich nichts von Vorfahrtsregeln, aus denen (Michael Glos [CDU/CSU]: Ordnung, Sie? nicht deutlich wird, auf welcher Grundlage sie entstan- Um Himmels willen! – Ernst Hinsken [CDU/ den sind. CSU]: Visa! – Weitere Zurufe von der CDU/ (Michael Glos [CDU/CSU]: Vorfahrtsregeln CSU) für wen?) – Was heißt Visa? Das können Sie doch alles im Unter- Lassen Sie uns an dieser Stelle die Ordnung der Frei- suchungsausschuss klären. Ich habe Ihnen gesagt, wel- heit durchdeklinieren. Im Zusammenhang mit der Ord- che Fehler ich gemacht habe. Aber das ändert nichts an nung der Freiheit wird festgestellt, dass sich Deutsch- den Fehlern, die Sie dabei sind zu begehen. land in einem traurigen Zustand befindet. Sie wissen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ebenso gut wie ich, dass wir ein binnenkonjunkturelles SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Problem haben. Im Export ist unsere Wirtschaft hervor- ragend aufgestellt. Wie sollte diese Leistung erbracht Herr Gerhardt, wenn Sie für die Ordnung der Freiheit werden, wenn das nicht der Fall wäre? sind, dann frage ich Sie: Wozu brauchen wir dann noch 15512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundesminister Joseph Fischer (A) das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung im Ge- ten haben, die dazu in der Lage sind. Wer will das in-(C) sundheitssystem? frage stellen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt und bei der SPD) [FDP]: Was machen wir dann mit der GKV Nun kommen Sie mit einem Gesetz zur Regelung der und der Bürgerversicherung?) betrieblichen Bündnisse. Das muss man sich einmal – Ich komme gleich auf die Kopfpauschale und die Bür- auf der Zunge zergehen lassen. Es wird über Entbürokra- gerversicherung zu sprechen. tisierung geredet. Die betrieblichen Bündnisse funktio- nieren. Die Bedingungen, die der Bundespräsident mit Es gibt in Nordrhein-Westfalen ein börsennotiertes Hinweis auf Montesquieu gefordert hat, sind gegeben. Unternehmen, das gutes Geld mit Apothekenmehrfach- Dennoch wollen CDU, CSU und FDP ein Gesetz zur Re- besitz verdient, aber nicht in Deutschland. Ich frage Sie: gelung der betrieblichen Bündnisse. Ich verstehe das Wozu brauchen wir noch das Mehrfachbesitzverbot? Wir nicht. Vielleicht haben Sie andere Interessen. Womög- haben versucht, es zu öffnen. Wir hätten es gerne ganz lich wollen Sie nicht wirklich die Ordnung der Freiheit beseitigt. Aber ihr habt es verhindert. Frau Merkel und realisieren, sondern Ihre Ideologie. Herr Gerhardt, lassen Sie es uns doch gemeinsam an- packen, wenn Sie der Meinung sind, dass das weg soll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dann werden wir gemeinsam Erfolg haben. und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Ohne Scham!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt Was die Bildung angeht, möchte ich in beide Rich- [FDP]: Sie wollen Ihre Monopole haben und tungen sagen: So kommen wir nicht voran. Es besteht die anderen nicht!) die Gefahr, dass wir uns in der Frage „Einheitsschule oder dreigliedriges Schulsystem?“ wieder verhaken. Wa- – Nein, Herr Gerhardt. Aber es ist schön, dass Sie so ge- rum können wir das nicht hinter uns lassen? Der Verweis ständig sind auf PISA mit Bezug auf Bayern und Baden-Württem- berg ist richtig. Aber, Herr Ministerpräsident, auch Sie (Michael Glos [CDU/CSU]: Geständig sollten wissen: Sie haben, was die Anzahl an Abiturienten an- Sie sein!) geht, die schmalste Zugangsquote. Sie wissen, woran und zugeben, dass Sie die Kassenärztliche Vereinigung das liegt. und die Apotheken – deshalb halten Sie wohl am Mehr- Ich behaupte ja gar nicht, dass das Gesamtschulsys- (B) fachbesitzverbot fest – als Ihre Monopole begreifen. Das tem, wie es bei uns ausgestaltet ist, das bessere ist. (D) ist meines Erachtens eine klare Ansage. Ich verfüge je- denfalls über keine Monopole. (Zurufe von der CDU/CSU und von der FDP: Aha!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Aber ich frage nicht: Wo steht Bayern, wo steht Nord- rhein-Westfalen, wo steht Hessen? Vielmehr frage ich: An diesem Punkt kann ich Ihnen nur sagen: Wir ha- Wer steht denn an der Spitze? Müssen wir das Rad neu ben doch enormen Erfolg mit der Änderung der Hand- erfinden? Ich sage an die Linke gerichtet: Aus unserer werksordnung erzielt. Es sind Neugründungen in enorm Sicht müssen wir akzeptieren, dass unser Platz an der großer Zahl erfolgt. Aber warum machen wir hier nicht Spitze der Wettbewerbs-, das heißt auch der Leistungs- weiter? Wenn wir sehen, dass wir mit derDeregulie- fähigkeit ist. rung der Handwerksordnung Erfolg haben, brauchen wir dann beispielsweise noch das Gebietsmonopol für (Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl, an der Schornsteinfeger? Hier können wir entbürokratisieren Spitze der Förderung der illegalen Einreise! und deregulieren. Schengen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Exzellenz, Leistungsfähigkeit und Spitzenförderung sind und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt in Deutschland dringend notwendig. [FDP]: Den Flächentarif wollen Sie aber erhal- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ten!) SES 90/DIE GRÜNEN) – Jetzt kommt der Flächentarif. Wenn Sie sich die Tarif- In Richtung der Rechten sage ich: Es kann doch nicht struktur anschauen, dann wissen Sie doch, was los ist. sein, dass unsere wichtigste Ressource, nämlich die nächste Generation, vom Geldbeutel der Eltern abhängt Wenn ich mir anschaue, was die Unternehmen in Ost- und dass es nicht möglich ist, gemeinsam ein Schulsys- deutschland sowie die Bündnisse für Arbeit in Ost und tem zu entwickeln, das nicht mehr auf ideologischer West geleistet haben, und sehe, dass in manchen Fällen Kontroverse und Grabenkämpfen gründet. Wir sollten das Management einfach nicht mehr da ist, obwohl bei uns vielmehr etwa am finnischen Schulsystem orientie- ihm die Verantwortung liegt, während sich die Beleg- ren. schaft – beispielsweise bei Karstadt und Opel – sehr ver- antwortlich verhält, dann muss ich sagen: Ich bin froh, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass wir Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaf- und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15513

Bundesminister Joseph Fischer (A) Viele Eltern haben Angst, dass die Qualität der Schu- Lage sind, diese Aufgabe zu bewältigen; aber es gibt(C) len nachlässt, wenn der Spracherwerb – er ist das erste viele Länder, die dazu nicht in der Lage sind. Ziel, das wir erreichen müssen; Spracherwerb gilt zu Recht als A und O der Bildung, gerade für Zuwanderer- (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Da, kinder – nicht mehr funktioniert. Besonders wichtig sind wo ihr regiert!) daher eine möglichst schnelle vorschulische Betreuung – Nein, das ist doch absurd. Wenn man sich das Steuer- und ein vorschulischer Spracherwerb. aufkommen des Freistaates Sachsen anschaut, dann stellt man fest, dass auch er dazu nicht in der Lage ist. Seien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie an diesem Punkt nicht so engstirnig! Sie wissen doch und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: ganz genau, dass alle ostdeutschen Länder, aber auch die Genau das hat bei Ihnen gefehlt! Da sieht man, kleineren westdeutschen Länder – auch da regiert die was daraus geworden ist!) CDU, teilweise allein, teilweise in einer Koalition – Das ist zunächst zu gewährleisten. Warum können Bund diese Aufgabe angesichts des Steueraufkommens nicht und Länder diesbezüglich keine gemeinsame Initiative bewältigen können. starten? Herr Ministerpräsident Stoiber, das hätte auch Wenn man das machen will, ist die entscheidende den Effekt, dass Familie und Beruf viel besser miteinan- Frage, wie die Qualitätssicherung tatsächlich garantiert der vereinbar wären. wird, ohne dass Deutschland bildungspolitisch sozusa- Egal welche Schulform wir haben, wenn wir in die gen weiter provinzialisiert wird. Das ist die große Sorge, Aus- und Fortbildung und in die individuelle Betreuung die ich vor dem europäischen Hintergrund als Außen- der Schüler nicht mehr investieren, dann werden wirminister in die Debatte einbringe. Ich bin sehr dafür, – auch das ist ein greifbares Ergebnis von PISA – imdass man das diskutiert und dass man die Initiative, die europäischen Vergleich nicht aufholen. Deswegen müs- der Bundeskanzler angesprochen hat, entsprechend auf- sen mehr Mittel in diesen Bereich fließen. Ich kann mir nimmt. Wenn ich dann aber höre – Herr Stoiber, Sie wis- nur an den Kopf greifen, wenn in der Diskussion über sen das ja –, dass von Herrn Koch die Förderung von eine Steuerreform gefordert wird, die Eigenheimzulage Universitäten mit dem Argument abgelehnt wird, dass nicht abzuschaffen. Wenn meine soeben vorgenommene kein Krach zwischen Darmstadt und Frankfurt entstehen Analyse richtig ist, dann müssen die durch die Abschaf- soll, dann kann ich dazu nur sagen: Das zeugt vom fung der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel in die Selbstverständnis eines Kleinstfürstentums, nicht einmal Bildung und in die Ausbildung fließen. mehr eines Duodezfürstentums. Das ist Provinzialismus auf der unteren Ebene. Ich finde vielmehr, dass wir da (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsam anpacken müssen. (B) und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: (D) Peinlich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Späte Differenzierung, breiter Zugang, Leistung und Spitzenförderung – in Bezug auf all das erwarten die Als Außenminister möchte ich es nicht versäumen, im Menschen von uns doch, dass wir die Grabenkämpfe der Zusammenhang mit der Föderalismusreform eines klar Vergangenheit vergessen und uns einigen. Warum kann zu machen – das sage ich auch in Richtung der Oppo- man das nicht im Rahmen der Bund/Länder-Gespräche sition –: Jede weitere Einschränkung derVertretungs- klären? Ich kann Ihnen hier nochmals versichern: Für kompetenz des Bundes in Europa ist gegen die Interes- uns ist ein breiter Zugang – Stichwort Gerechtigkeit – sen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet. ein entscheidender Punkt; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl, rein nach und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt Deutschland! Rein nach Schengen!) [FDP]: Das stimmt!) aber wir wissen um die Bedeutung der Spitzenförderung. Das hat nichts mit rot-grüner Parteipolitik zu tun. Wenn Warum ist Ihre Seite nicht in der Lage, hier einen kon- die Länder weitere Versuche in diese Richtung unterneh- sensorientierten Vorschlag zu machen, damit wir mitmen sollten, werde ich dagegenhalten, da ich das für völ- diesen Grabenkämpfen endlich aufhören, die nur zulig gegen die Interessen unseres Landes gerichtet halte. einer Blockade unseres Bildungssystems führen undAuf diese Haltung müsste man sich doch einigen kön- zum Schaden unseres Landes sind? nen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Nun kommen wir zum entscheidenden Thema, zum SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Prinzip der Nachhaltigkeit. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Visafrage!) Ich habe die Debatte mit den Ministerpräsidenten ver- folgt. Ich sage ganz offen: Ich bin vom Grundsatz her Ich habe heute hören müssen, dass sich die CDU/CSU nicht dagegen, davon verabschieden will. (Michael Glos [CDU/CSU]: Grundsätze haben (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wo?) Sie keine, das stimmt!) Man könnte ja geradezu meinen, umweltpolitische Maß- dass die Länder die alleinigeZuständigkeit für die nahmen seien die Wachstumsbremse schlechthin, wenn Bildung bekommen. Es gibt ein paar Länder, die in der man Ihnen zuhört. Zugleich ist mir aber auch aufgefallen, 15514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Bundesminister Joseph Fischer (A) dass Sie sich nicht mehr über die Ökosteuer auslassen. Haftungsrecht einfordert und nur ein Klagerecht wie in (C) Es war eine Zeit lang Ihr Steckenpferd, auf die Öko-China einräumt. Das wird nicht funktionieren. steuer einzudreschen. Mittlerweile scheinen Sie ganz genau zu wissen, dass die Abschaffung der Ökosteuer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2 Prozentpunkte in der Sozialversicherung ausmachen sowie bei Abgeordneten der SPD) würde, die anderweitig finanziert werden müssten. Aber Ich bin dafür – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, dass auch Sie wissen nicht, woher dieses Geld genommen wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Das werden sollte. Stattdessen betreiben Sie nun eine Kam- sage ich auch in Richtung der eigenen Fraktion. Es er- pagne gegen eine vorsorgende Umweltpolitik. Denken gibt sich aus der Natur der Verantwortungsgesellschaft, wir einmal an das, was der stellvertretende General-dass Verfahren manchmal umständlich sind und lange sekretär der Vereinten Nationen, zuständig für den Um- dauern. Doch dann, wenn man eine Genehmigung hat weltbereich, der ehemalige Umweltminister Klaus– es sei denn, man handelt grob fahrlässig –, Töpfer, heute sagt: Er redet über vorsorgende Umwelt- politik, über Klimaschutz und über die gemeinsame glo- (Michael Glos [CDU/CSU]: Wie Sie bei der bale Verantwortung in der einen Welt. Wenn ich mir Visaerteilung! Grob fahrlässig!) demgegenüber anhöre, was Frau Merkel sagt, fühle ich wird Schadensfreistellung gewährt. Das ist der entschei- mich bezüglich ihrer Ablehnung des Umweltschutzes in dende Punkt. Wenn man nun aber der Meinung ist, in die 70er-Jahre zurückversetzt. diesem Bereich weniger bürokratisch zu handeln, dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss man die Ordnung der Freiheit auch durchdeklinie- und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ ren. Wenn also nun andere Vorgaben bei der Genehmi- CSU) gung festgelegt werden, muss auch die Individualhaf- tung im Vordergrund stehen. Das ist von entscheidender Umwelt ist heute einer der entscheidenden Produk- Bedeutung. Deswegen bin ich sehr dafür, dass man auch tions- und Arbeitsplatzfaktoren. Sie dagegen fahrenüber diese Fragen ordnungspolitisch diskutiert. Aber Kampagnen gegen die erneuerbaren Energien. Dabei man muss die Entscheidungen dann schon treffen. Man tut eine neue Energiepolitik Not. Schauen Sie sich doch kann nicht auf der einen Seite Neuland betreten wollen einmal die Lage in Peking heute an: Im Sommer sehen und auf der anderen Seite den Rückbehalt der Gemein- Sie dort die Sonne nicht mehr. haftung fordern. Das wird nicht funktionieren. Wenn Unternehmerfreiheit durchdekliniert werden soll, dann (Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie in auch und gerade im Haftungsrecht und damit in Berei- sechs Jahren gemacht?) chen, wo es durchaus riskant werden kann. (B) Schauen Sie sich die Umkehrung der Warenströme an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) und die Absorption, die diese große Volkswirtschaft aus- und bei der SPD) löst. Denken Sie auch daran, dass Indien auf diesem Weg folgt. Vor diesem Hintergrund ist es doch absurd, als ent- Meine Damen und Herren, wir haben die Möglich- wickeltes Industrieland nicht auf erneuerbare Energieträ- keit, heute hier wirklich gemeinsam etwas zu packen ger zu setzen und nicht den Ehrgeiz zu haben, bei dieser – davon bin ich fest überzeugt –, Entwicklung an der Spitze zu stehen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nicht mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihnen!) und bei der SPD) und zwar jenseits der parteipolitischen Kontroversen, die Insofern ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz von ent- sein müssen und die bleiben werden. Aber wir haben an- scheidender Bedeutung. Entsprechendes gilt für dasgesichts der 5,2 Millionen arbeitslosen Menschen, vor neue Energiewirtschaftsrecht, wodurch entsprechende allen Dingen der jungen Menschen, aber auch der gro- Investitionen ausgelöst werden. ßen Zahl älterer Menschen, die hoffnungslos geworden sind, nicht nur die Chance, dieses Problem anzupacken, Zu dem, was Sie im Zusammenhang mit derGen- sondern auch die Verpflichtung, dass wir es packen und technik sagen, kann ich Ihnen nur die Parole entgegen- dass wir Freiheit verbinden mit sozialer Gerechtigkeit halten: Ordnung der Freiheit. Sie schlagen allen Ernstes und mit Nachhaltigkeit. vor, eine Gemeinhaftung bei der Gentechnik einzufüh- ren. Das kann doch nicht wahr sein. Ich danke Ihnen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sollten ein- (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE mal zuhören! – Michael Glos [CDU/CSU]: GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos Wer haftet denn eigentlich für Sie, für den [CDU/CSU]: Herr Bundeskanzler, unterneh- Schaden, den Sie angerichtet haben?) men Sie etwas! Die Genossen bleiben sitzen!)

Ich bin sehr dafür – das sage ich Ihnen noch einmal –, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates Wir werden es aber nicht hinnehmen – wer diese Vorstel- Bayern, Dr. Edmund Stoiber. lung hegt, der wird auf entschiedenen Widerstand von unserer Seite stoßen –, dass man sich bei der Genehmi- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der gungspraxis an Amerika orientiert, zugleich deutsches SPD: Der Wahlverlierer!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15515

(A) Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern): Natürlich setzen wir uns heute Nachmittag zusammen (C) Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr – das ist gar keine Frage – und vielleicht bringen wir Bundeskanzler, Sie selbst und Ihre Mitstreiter haben in auch etwas zustande. den letzten Tagen für diese heutigen Stunden hohe (Joachim Poß [SPD]: Sie wollten es doch!) Erwartungen geweckt. Gemessen an diesen hohen Er- wartungen, an den Hoffnungen und an den Kommenta- Aber ich sage Ihnen auch: Wer in Deutschland mehr Ar- ren, die wir gelesen haben, ist Ihre Regierungserklärung beit und mehr Wachstum haben will, der braucht in eine Enttäuschung. Deutschland eine andere Regierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Schauen Sie doch Sie haben die reale Lage des Landes verdrängt, beschö- nicht so verbissen!) nigt und verharmlost. Vor sechs Jahren, Herr Bundeskanzler, sind Sie ange- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genauso ist es!) treten, um die makroökonomischen Bedingungen zu ver- Ihre Regierungserklärung belegt: Sie sind der Heraus- ändern. Ich erinnere mich an eine Ihrer Aussagen, als Sie forderung, die die Arbeitslosigkeit an uns stellt, nicht als Ministerpräsident darauf angesprochen worden sind, gewachsen. warum die Arbeitslosenzahlen in Niedersachsen so hoch seien. Sie haben auf diese Frage geantwortet: Erlauben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie mal, dafür sind die makroökonomischen Bedingun- neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Leere gen verantwortlich. Die werden in Bonn, von Kohl, ent- Worte! Nichts dahinter!) schieden. Wenn ich die in der Hand habe, dann wird sich alles wenden. – Jetzt sehen wir, wie es sich gewendet Dort, wo konkretes Handeln notwendig wäre, bieten Sie hat, meine sehr verehrten Damen und Herren: Zum Unverbindliches. Schlechteren hat es sich gewendet! (Joachim Poß [SPD]: Große Klappe!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, nach sechs Sie sind mit dem Ziel angetreten – Frau Merkel hat Jahren Rot-Grün ist die Bilanz für Deutschland – und das sehr treffend gesagt –, die Arbeitslosigkeit signifi- um die geht es heute – eindeutignegativ. Deutschland kant zu senken. Weitere Äußerungen dazu will ich heute hat heute 5,2 Millionen registrierte Arbeitslose. Es hat gar nicht zitieren. Jetzt versuchen Sie sich damit heraus- heute die schlechteste Arbeitsmarktbilanz seit Ende des zureden, die Weltwirtschaftslage sei schwierig, die Zweiten Weltkrieges. Deutschland hat nach wie vor das Globalisierung mache es schwierig und deswegen (B) geringste Wirtschaftswachstum in Europa. Ich brauche könne Ihre damalige Aussage heute keinen Bestand(D) die Zahlen hier nicht darzustellen. Wir sind im Prinzip mehr haben. Wo sind wir denn eigentlich hingekommen, ein Hemmschuh bei der ökonomischen Entwicklung Eu- meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn versucht ropas geworden und das haben Sie entscheidend mitzu- wird, zentrale Aussagen so zu relativieren? Das werden verantworten. Das ist die reale Bilanz. wir Ihnen nicht durchgehen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP – Widerspruch bei der SPD) Die Massenarbeitslosigkeit ist der Quell allen Übels Unser Land verstößt mit Rekordschulden gegen den eu- in unserem Lande; sie ist das zentrale Problem unseres ropäischen Stabilitätspakt und ist damit der Hauptsün- Landes, ökonomisch und gesellschaftlich. 5,2 Millionen der. Arbeitslose in Deutschland sind aber auch staatspolitisch nicht hinnehmbar. Der mit der Massenarbeitslosigkeit (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einhergehende Verlust an Wohlstand, das Gefühl, von DIE GRÜNEN) dieser Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, die Deutschland hat die geringsten öffentlichen Investitio- Ängste und Sorgen in Millionen von Familien – jede nen seit Gründung der Republik. Auch wenn Sie noch so vierte Familie in Deutschland ist von Arbeitslosigkeit viele Zwischenrufe machen: Die Menschen draußen im betroffen, jeder vierte der 26 Millionen Arbeitnehmer Lande spüren, dass in unserem Lande nicht mehr alles in hat gegenwärtig konkret Angst um seinen Arbeitsplatz – Ordnung ist. Und dafür tragen Sie die Verantwortung. verursachen die defätistische Stimmung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Joachim Poß [SPD]: Die Sie schüren!) neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie ver- Das ist das zentrale Problem. Wenn sich Hoffnungslosig- sündigen sich an Deutschland!) keit breit macht, dann steigt natürlich auch die Gefahr Sie haben sich lange mit Hinweisen auf die Weltwirt- von Protestverhalten und Radikalisierung, gerade auch schaft herausgeredet. Aber nicht die Weltwirtschaft und bei Wahlen. nicht die Konjunktur sind schuld an unseren Problemen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Joachim Poß [SPD]: Aber Stoiber!) Weil 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland staats- politisch nicht hinnehmbar sind, haben CDU und CSU, sondern die Regierung ist schuld daran, dass die wirt- haben Frau Merkel und ich die Initiative ergriffen. schaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nicht mehr stimmen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) 15516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Wir haben Ihnen geschrieben. Bemerkenswert ist schon, Die Mehrheit unseres Volkes ist hinsichtlich (C) der dass Sie als Regierungschef sich erst dadurch gezwun- Reform- und Veränderungsbereitschaft längst weiter gen sehen, hier zum Thema Arbeitslosigkeit Rede und als die Regierung. Deswegen wird die Entfremdung zwi- Antwort zu stehen. schen der Mehrheit der Bevölkerung und der rot-grünen Regierung immer größer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Herr Bundeskanzler, Sie haben heute hier nicht als Ge- Das ist der Grund dafür, warum Sie bei Umfragen in stalter, sondern als Getriebener gesprochen. punkto Vertrauen und Lösungskompetenz immer weiter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – abstürzen. Widerspruch bei der SPD) Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, Ihre man- Bis gestern galt Ihre Aussage von Ende letzten Jahres/ gelnde Reformbereitschaft im Inneren ist der wahre Anfang dieses Jahres: Wir, die Bundesregierung, die rot- Grund dafür, warum dieVisaaffäre die Menschen so grüne Koalition, haben jedenfalls unser Möglichstes zur aufregt. Das Versagen bei der innenpolitischen Heraus- Reduzierung der Arbeitslosigkeit getan. – Das war zu forderung Nummer eins, nämlich dem Arbeitsmarkt wenig. Deswegen haben wir die Initiative ergriffen. Das, – darüber reden wir heute –, verbunden mit dem Öffnen was Sie heute vorgelegt haben, ist zu wenig, um die Pro- der Tore nach draußen für Schwarzarbeiter und Billig- bleme wirklich bewältigen zu können, auch wenn wir lohnkonkurrenz, regt die Menschen zu Recht auf. miteinander reden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – neten der FDP – Widerspruch bei der SPD und Joachim Poß [SPD]: Herr Stoiber ist kein Ge- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Joachim triebener, sondern ein Gehetzter! Der Wahlver- Poß [SPD]: Unterste Schublade!) lierer 2002!) Es regt die Arbeitnehmerklientel der SPD zu Recht viel Schauen Sie sich doch bitte einmal an, was Ihr Freund mehr auf als die Klientel der Besserverdienenden bei den Tony Blair in Großbritannien gemacht hat. Grünen. Das ist das zentrale Problem, mit dem Sie noch (Zurufe von der SPD) große Schwierigkeiten bekommen werden. Schauen Sie sich einmal an, wie Sozialdemokraten in (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß den Niederlanden, in Dänemark oder in Schweden ihren [SPD]: Demagogie und unterste Schublade! – Arbeitsmarkt entrümpelt und reformiert haben. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ (B) DIE GRÜNEN]: Sie haben offensichtlich (D) (Waltraud Lehn [SPD]: Schauen Sie sich mal nichts zum Inhalt zu sagen!) an, wie die das gemacht haben! Das wäre nicht schlecht!) Herr Bundeskanzler, wir kommen heute Nachmittag Dort ist die Arbeitslosigkeit gesunken. In Deutschland zusammen. Ich appelliere daher an Sie, mehr und Kon- steigt die Arbeitslosigkeit. kreteres auf den Tisch zu legen als das, was Sie hier ge- boten haben. Warum hat eigentlich Kollege Müntefering so barsch und ablehnend auf das Angebot der Union reagiert? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Zurufe von der SPD) (Joachim Poß [SPD]: Weil es eine dünne Suppe war! – Weiterer Zuruf von der SPD: La- Sie sind der Bundeskanzler und haben die Richtlinien- denhüter!) kompetenz. Sie und nicht in erster Linie die Opposition haben etwas vorzulegen. Sie spüren genau, Herr Müntefering: Die für mehr Neu- einstellungen notwendigen Veränderungen auf dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Arbeitsmarkt sind mit der SPD nicht zu schaffen. Diese Joachim Poß [SPD]: Kein konkreter Punkt bis- Veränderungen sind mit der SPD nicht möglich, weil her!) Teile der Gewerkschaften und der eigenen Klientel das nicht mitmachen würden. Sie alle spüren, dass die SPD Ich vermisse vor allem substanzielle Vorschläge für mit der Agenda 2010 in eine Zerreißprobe geführt wor- die dringend notwendige Flexibilisierung des Arbeits- den ist, die Sie nicht wiederholen wollen. marktes. Sie haben gesagt, die Flexibilisierung des Ar- beitsmarktes sei praktisch schon vollendet. Wenn Sie Ich erkenne ausdrücklich an – ich habe das schon vor sich aber einmal den Arbeitsmarkt in der Europäischen zwei Jahren gesagt –, dass die Agenda 2010 für die SPD Union anschauen, dann können Sie erkennen, dass wir unbestritten ein weiter und steiniger Weg war. Aber ich die Unflexibelsten sind. Das ist auch ein Grund, warum sage Ihnen auch ganz klar: Die Agenda 2010 ist zwar für wir jeden Tag 1 200 Arbeitsplätze ans Ausland verlieren. die SPD ein großer Schritt, aber für Deutschland ein viel zu kleiner Schritt. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir können nicht so weitermachen, dass wir die Flexibi- Joachim Poß [SPD]: Wollen wie doch mal hö- lisierung des Arbeitsmarktes nicht angehen und auf Ne- ren, was Sie noch mehr machen wollen!) bengebiete ausweichen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15517

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn Sie – das einmal als kleiner Hinweis – mit Pro- (C) neten der FDP – Zurufe von der SPD – fessoren der Immunologie, die Krebsforschung betrei- Michael Glos [CDU/CSU]: Arbeitsplätze raus, ben, reden, dann werden Sie hören, wie schwierig das Schwarzarbeiter rein!) hier in Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder England ist. Ich vermisse konkrete Vorschläge (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen bei den bürokrati- für einen radikalen Abbau der Bürokratie. Ich vermisse schen Hindernissen, mit denen diese Menschen zu ebenfalls brauchbare Vorschläge zur Reduzierung derkämpfen haben, ansetzen, nicht bei den Allgemeinplät- Steuerlast und der Arbeitskosten in Deutschland. zen, die Sie hier bringen. (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt haben Sie die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gelegenheit!) Lachen bei der SPD) Das sind die Schlüssel für mehr Wachstum und Arbeits- Das Haupthindernis für neue Arbeitsplätze ist der ver- plätze. Eine entsprechende Agenda hat der Bundespräsi- riegelte Arbeitsmarkt. Die Weltbank hat die Flexibilität dent am Dienstag angemahnt und ihre Umsetzung einge- des Arbeitsmarktes in 145 Staaten der Erde untersucht. fordert. Deutschland liegt weit abgeschlagen auf Platz 111. Das (Zuruf von der SPD: Und der Arbeitgeber- ist eine Bilanz, Herr Bundeskanzler! Mehr Arbeitsplätze präsident!) schaffen heißt vor allen Dingen Einstellungshürden ab- bauen und Langzeitarbeitslosen wieder eine Chance ge- Es ist die Agenda einer Erneuerung und Wiederbelebung ben. der Kraft und der Dynamik dersozialen Marktwirt- schaft. Sozial ist, was Arbeit schafft. Das ist unsere Losung. Deshalb müssen wir betriebliche Bündnisse für Arbeit Wir, CDU und CSU, wären sofort bereit, das umzu- auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen. Sie haben setzen, was der Bundespräsident angemahnt hat. Aber vor zwei Jahren angekündigt, Sie würden das machen, was Sie, Herr Bundeskanzler, heute vorgestellt haben, wenn die Gewerkschaften nicht großflächig dazu bereit bleibt weit hinter dem zurück, was Deutschland braucht wären. Wir haben riesige Schwierigkeiten mit den Bünd- und was für Deutschland erforderlich wäre. nissen für Arbeit – vielleicht nicht bei Siemens, aber bei (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß den kleinen und mittleren Betrieben. [SPD]: Jetzt sagen Sie doch mal was Konkre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) (D) tes!) Widerspruch bei der SPD) Das bestätigen auch die Erfahrungen mit Ihrer Politik – Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben in den vergangenen Jahren. Lassen wir sie doch einmal die Basis verloren. Bei diesen Betrieben ist das zentrale Revue passieren! Sie haben heute ein wunderschönesProblem – – Bild gezeichnet, nur nimmt Ihnen dieses Bild keiner mehr ab. Wer sechs Jahre lang die Arbeitslosigkeit mit (Zurufe von der SPD) Scheinlösungen wie JUMP-Programmen, Jobfloater,– Ich brauche mich von Ihnen nicht auffordern zu lassen. Personal-Service-Agenturen und Ich-AGs bekämpfen Ich lebe in dem Bundesland, in dem es die wenigsten Ar- will, dem fehlt in der Tat die Kompetenz. beitslosen gibt. Wenn es überall so wäre wie in Bayern, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dann wäre die Arbeitsmarktlage in Deutschland wesent- neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wann lich besser. Das will ich auf Ihren Einwand hin einmal werden Sie konkret? Das ist doch eine dünne sagen. Suppe, die Sie hier bieten!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Wer sechs Jahre lang den Mittelstand und junge Exis- ten der FDP – Widerspruch bei der SPD) tenzgründer mit bürokratischen Regelungen lähmt, der Ich bleibe dabei: Wir brauchen eine Reform unseres be- hat keine Ahnung, wer die Jobmotoren in diesem Land schäftigungsfeindlichen Kündigungsschutzes. Sie, Herr sind. Bundeskanzler, verkennen die Lage völlig. Das ist ein (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) Haupthindernis für Neueinstellungen; diese Beschäfti- gungsbremse muss weg. Sie berühmen sich doch immer Wer sechs Jahre lang – und darüber hinaus, Herr Fischer – Ihrer guten Kontakte zur Wirtschaft und auch zu den Re- Pharmazie, Chemie und Gentechnik effektiv – die präsentanten der Wirtschaft. Sie reden doch mit densel- Zahlen belegen das – aus dem Lande vertreibt, der kann ben Menschen, mit denen ich auch rede. Es kann doch nicht glaubwürdig von Forschung, Innovation und Zu- nicht sein, dass die mir sagen, der Kündigungsschutz sei kunftssicherung reden. eines der zentralen Einstellungshindernisse für die Ju- gend, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ludwig Stiegler [SPD]: Keiner sagt das!) Ich weiß, wovon ich rede, weil ich um jeden Arbeitsplatz in der Gentechnologie und in der Biotechnologieund man Ihnen etwas anderes erzählt. Gehen Sie an kämpfe. diese Dinge ernsthaft heran! Zur Klarstellung muss ich 15518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) deutlich sagen: Die Änderung gilt ja nicht für diejenigen, getroffen werden? Es weiß keiner, was da auf uns zu-(C) die bereits in Lohn und Brot sind. kommt. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für die wollen und können wir nichts ändern. Wir wol- Wir sind beim Erweiterungskommissar Verheugen abge- len es für die Zukunft ändern. Aber Sie sind nicht bereit, blitzt. Die Bundesregierung hat uns nicht unterstützt und für die Zukunft etwas zu verändern. Stattdessen nehmen jetzt sagen Sie: Das Problem werden wir lösen. Das wer- Sie mehr Überstunden in Kauf. Dabei wären mehr Ein- den Sie leider nicht mehr so ohne weiteres lösen können, stellungen möglich, wenn der Kündigungsschutz anders weil die Zeit über dieses Problem hinweggegangen ist. wäre – wie zum Beispiel in Österreich, in den Benelux- staaten oder in England. Dort wurde die Arbeitslosigkeit (Michael Glos [CDU/CSU]: Verschlafen!) von 10 Prozent auf 4 Prozent gedrückt. Neben der Deregulierung des Arbeitsmarktes brau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – chen wir eine wirkungsvolle Entlastung von Vorschrif- Widerspruch bei der SPD) ten und Bürokratie. Ausgerechnet die kleinen und mitt- leren Unternehmen, die Jobmotoren unserer Wirtschaft, Sozial ist, was Arbeit schafft. Deswegen brauchen wir müssen überproportional hohe Bürokratielasten tragen: – Sie haben fairerweise dargestellt, was dafür und was Statistikpflichten, komplizierte Steuerregelungen, Ge- dagegen spricht – mehrZuverdienstmöglichkeiten nehmigungsmarathons und ein dickes Regelwerk an Ar- beim Arbeitslosengeld II im Hinblick auf die 400-Euro- beitsrechtsvorschriften. Ich habe mir das einmal ange- Jobs und die 1-Euro-Jobs. schaut – es ist ja immer interessant, wenn man sich die Dinge im Gesetz ansieht –: Ab zwei Mitarbeitern in (Jörg Tauss [SPD]: Vermittlungsausschuss!) Deutschland muss es nach Geschlecht getrennte Toilet- Insofern gibt es in der Tat nicht nur eine Lösung. Ich bin ten geben; ab fünf Mitarbeitern besteht das Recht auf ei- aber bereit, auch insofern Änderungen vorzunehmen. nen Betriebsrat; ab elf Mitarbeitern muss es einen Pau- senraum geben; ab 16 Mitarbeitern besteht ein genereller (Lachen bei der SPD) Anspruch auf Teilzeit und, und, und. Angesichts dessen Das hat dann allerdings Auswirkungen. Aber das werden wollen wir die Leute ermutigen, sich selbstständig zu wir heute Nachmittag besprechen. machen und Arbeitsplätze zu schaffen? Sie sollten ein- mal ernsthaft an diese Dinge herangehen und bereit sein, Nun möchte ich ein Wort zu denBilliglohnkräften darüber zu diskutieren; denn das passt nicht mehr in das aus Osteuropa sagen. Sie selbst haben das angespro- europäische Umfeld. chen. Sie haben gesagt, dass man das nicht zulassen (B) dürfe. Wir haben riesige Probleme, weil so genannte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D) Dienstleistungsunternehmen in Ostbayern und in vielen Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: anderen Teilen Deutschlands Metzgerarbeiten überneh- Ist doch längst geändert!) men und damit angestammte Handwerksbetriebe in au- Es kann doch nicht sein, dass ein großes Unterneh- ßerordentliche Schwierigkeiten bringen. men wie die Firma Siemens Bürokratiekosten in der (Jörg Tauss [SPD]: Fragt eure Gewerbeauf- Größenordnung seines Gewinns hat. Ein kleines Unter- sicht!) nehmen mit zehn oder 15 Mitarbeitern, ein Durch- schnittsunternehmen, hat heute Bürokratiekosten in der Insofern geht es nicht um die Dienstleistungsrichtlinie. Größenordnung von 7 Prozent des Umsatzes bei einem Sie haben das heute richtigerweise differenziert darge- Gewinn von 1 Prozent oder höchsten 2 Prozent. Das ist stellt. Die Probleme liegen in der EU-Osterweiterung. die Realität. Wenn wir so weitermachen und da nicht he- Wir haben Sie darauf aufmerksam gemacht und gesagt, rangehen – das sind die entscheidenden Fragen –, wer- dass es, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußen-den wir den Jobmotor nicht anwerfen können. minister, nicht reicht, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Michael Glos [CDU/CSU]: Das interessiert den doch nicht! Der Außenminister interessiert In Ihrem Antidiskriminierungsgesetz kommt – das sich nicht für das Wohl unseres Landes!) sage ich ganz offen – der rot-grüne Bürokratiewahn voll zum Durchbruch. Man sollte sich das einmal in der Pra- die Arbeitnehmerfreizügigkeit für insgesamt sieben xis anschauen – ich kann die ganzen Beispiele gar nicht Jahre zu begrenzen, sondern dass Sie das auch für die darstellen –: Wer einen Arbeitnehmer einstellt oder eine Dienstleistungsfreiheit machen müssen. Sie haben das Wohnung vermietet, muss in Zukunft beweisen können, letzten Endes abgelehnt und nur einen kleinen Kompro- dass er niemanden diskriminiert hat. miss zugelassen. Jetzt haben wir die Probleme. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir hätten über diese Dinge auch ein- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mal im Bundestag reden müssen. Bleiben Sie bei der Wahrheit, Herr Stoiber! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND- Das Problem Europas, das man im Zusammenhang NIS 90/DIE GRÜNEN) mit der Ratifizierung der Verfassung angehen muss, ist doch die Frage: Ist es denn richtig, dass die Entscheidun- – Natürlich wird das dazu führen. Sie reden wahrschein- gen in Brüssel ohne Beteiligung der deutschen Öffent- lich zu viel mit den Politikern. Reden Sie einmal mit den lichkeit und auch ohne Beteiligung des Parlamentes Menschen, die davon betroffen sind! Die fühlen sich von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15519

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) dem Antidiskriminierungsgesetz außerordentlich gegän- Sie reden zu wenig mit den energieintensiven Betrie- (C) gelt und haben Angst. ben. Wenn Sie mit der Zementindustrie, der Aluminium- industrie, der Pharmaindustrie und der Automobilindus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) trie redeten, würden Sie feststellen, dass der Strompreis Jetzt diskutieren wir über eine Eins-zu-eins-Umset- in Deutschland nach dem in Italien der höchste ist. Die- zung. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen auch hier: Die ser hohe Preis, der von Rot-Grün zu verantworten ist, CDU und die CSU haben frühzeitig gewarnt. Der Bun- kostet Arbeitsplätze, die im Bereich der regenerativen desrat hat vor einem Jahr eine Entschließung gegen die Energien gar nicht aufzufangen sind. dem Antidiskriminierungsgesetz zugrunde liegenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) europäischen Richtlinien gefasst. Hier haben wir wieder ein zentrales europäisches Problem. Möglicherweise ist Die vierte Säule eines tragfähigen Konzepts für mehr im Bundestag nicht mit der notwendigen Schärfe da-Arbeit – in dieser Reihenfolge sehe ich es – ist die Sen- rüber diskutiert worden. Im Bundesrat haben wir über kung der Unternehmenssteuersätze. Die Absenkung diese Richtlinie außerordentlich hart und kontrovers dis- des Körperschaftsteuersatzes, die verbesserte Anrech- kutiert und haben gesagt: Diese Richtlinie passt nicht. nung der Gewerbesteuer und die erleichterte Unterneh- Sie muss schon auf europäischer Ebene verändert wer- mensnachfolge für den Mittelstand, Herr Bundeskanzler, den. Sie hätten eine solche Richtlinie verhindern können. sind Ansätze, die in die chtige ri Richtung zeigen. Ich Aber Sie haben nichts dazu getan, diese Richtlinie zur hoffe, dass damit auch alle Vorstellungen in der SPD zur Antidiskriminierung auf EU-Ebene zu verändern. Jetzt Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinführung setzen Sie noch zulasten des Arbeitsmarktes drauf, wie der Vermögensteuer endgültig ad acta gelegt werden. Frau Merkel schon dargestellt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Aber Sie wissen, dass dies viel Geld kostet. Was Sie neten der FDP – Widerspruch bei der SPD und heute vorgeschlagen haben, geht in die Milliarden. Die dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vorschläge, die Sie zur Gegenfinanzierung unterbreitet Vielleicht kommen wir bei den Lohnzusatzkosten zu haben, gehen aber nicht in die Milliarden, sondern in einem Ergebnis durch die Reduzierung der Beiträge zur dreistellige Millionenzahlen. Da heißt es bei Ihnen wie- Arbeitslosenversicherung. Ob das 1,5 oder 1 oderder nur „hätte“, „sollte“, „könnte“. Damit ist unserem 0,7 Prozent sind – Herr Müntefering, da ist zweifelsohne Land nicht gedient. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei noch etwas drin –, werden wir heute Nachmittag konkret 1,4 Billionen Euro Staatsschulden – über 850 Milliarden bereden. Das brauche ich hier nicht im Einzelnen auszu- Euro Schulden des Bundes, über 400 Milliarden Euro (B) führen. Schulden der Länder und über 150 Milliarden Euro(D) Schulden der Kommunen – ist es völlig unakzeptabel Ein weiterer Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit, und der jungen Generation gegenüber unmoralisch, Aus- der mir sehr wichtig ist, ist die Senkung derEnergie- gaben mit Schulden weiterzufinanzieren, wie Sie es hier kosten. Ich verstehe ja die stille Verzweiflung vieler in machen wollen. Wir werden dies auf keinen Fall mit- der SPD über ihren grünen Koalitionspartner. Die Grü- machen. nen-Vorsitzende Frau Roth bringt das grüne Politikver- ständnis trefflich zum Ausdruck: volle Emotion für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nischenthemen der Politik, aber keine Antwort auf die Meine Damen, meine Herren, es war sehr interessant, zentralen Probleme in Deutschland. was der Bundespräsident gestern in diesem Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hang gesagt hat. Diese Dimension muss man sich noch einmal vor Augen halten: 1,4 Billionen Euro Staats- Die ganze Liebe der Grünen gehört der mit zig Milliar- schulden, den subventionierten Windradwirtschaft, die gerade ein- mal 0,02 Prozent unseres Energiebedarfs deckt. Trotz- (Jörg Tauss [SPD]: Eine Billion von Ihnen!) dem raten Sie, Herr Außenminister, den Chinesen und 7,1 Billionen Euro Schulden insgesamt, wenn man die Indern, auf regenerative Energien zu setzen. Sie wissen Pensionsverpflichtungen hinzuzählt! Dies bedeutet, dass ganz genau, dass Sie hier Volksverdummung betreiben. jemand, der heute hier in Berlin geboren wird, mit fast Die Chinesen haben ein Wirtschaftswachstum von90 000 Euro Schulden auf die Welt kommt. Dies ist auf 9 Prozent und ein Energiewachstum von 18 Prozent. Sie die Dauer nicht mehr akzeptabel. Wo bleibt hier eigent- erkaufen sich sozusagen ihr Wirtschaftswachstum mit lich die Nachhaltigkeit, die Sie im Umweltschutz immer einem doppelten Energiewachstum. Ohne die Kernener- so nach vorne tragen? Zur Finanzpolitik gehört sie ge- gie wäre die Welt gar nicht mehr vor der CO2-Belastung nauso. zu retten. Aber da Sie gegen die Kernenergie sind, schla- gen Sie einem Land wie China mit 1,3 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einwohnern Windräder vor. Für wie dumm halten Sie eigentlich die Leute vor den Bildschirmen, meine Da- Eine letzte Bemerkung zur Föderalismuskommis- men und Herren? sion: Herr Bundeskanzler, ich nehme Sie beim Wort. Sie haben heute gesagt, es komme nicht auf die Kompeten- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zen, sondern auf die Sache an. Verzichten Sie bitte künf- Joachim Poß [SPD]: Zurück in die 70er-Jah- tig auf die Übergriffe in die Kulturhoheit der Länder; re! – Weitere Zurufe von der SPD) dann sind wir uns schnell einig. 15520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Ich verwahre mich dagegen – das sage ich ganz deut- (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben sich nicht (C) lich –, dass von Ihnen und von Herrn Müntefering der durchgesetzt!) hessische Ministerpräsident sozusagen zum Buhmann bis hin zu mehr Kompetenzen für das BKA, bis hin zur stilisiert wird. Übertragung der Zuständigkeiten im Umweltschutz auf (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD den Bund – das sind weit reichende Dinge – und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch. Ich stelle mich voll und ganz hinter Bleiben Sie bei der Wahrheit!) Roland Koch. Mit ihm und allen anderen Kollegen be- bis dahin, dass der Bund viel weniger von der so genann- kommen wir eine vernünftige Föderalismusreform hin. – ten Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 des Grundgeset- Was Herr Müntefering und ich als Vorsitzende hier zu- zes abhängig ist. Das wäre eine erhebliche Verbesserung stande gebracht haben, zugunsten des Bundes. Aber wenn Sie diese wollen – die müssten Sie im Interesse Deutschlands und der Schnel- (Jörg Tauss [SPD]: Hat Herr Koch verhindert! ligkeit der Entscheidungen wollen –, müssen Sie auch Abgewatscht durch Koch! Abgekocht!) akzeptieren, dass die Länder nur dann mitmachen, wenn wurde von vielen zunächst als relativ kleinmütig angese- im Bildungsbereich Wettbewerbsföderalismus stattfindet hen. Aber als es gescheitert ist, wurden große Klagen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) laut. und damit die Länder, für die Bildungspolitik einen grö- Eine Renovierung des Grundgesetzes dieser Art be- ßeren Stellenwert hat, auch bessere Ergebnisse erzielen. kommen Sie meines Erachtens in den nächsten zehn Jah- Aber vielleicht ist hier noch nicht aller Tage Abend. ren nicht mehr hin. Angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen braucht (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Deutschland in der Tat einen historischen Kraftakt. Was DIE GRÜNEN]: An wem ist es denn geschei- Sie heute vorgelegt haben, ist für mich ungenügend. Ich tert? – Zuruf von der SPD: Ihr seid die Blo- fordere Sie auf, zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch ckierer!) die Wege einzuschlagen, die der Bundespräsident am Dienstag angemahnt hat. Sie müssen nämlich eines sehen: Die Ministerpräsiden- ten verzichten auf Einflussmöglichkeiten im Bund, wenn (Widerspruch bei der SPD) letzten Endes zwei Drittelaller Gesetze im Bundestag Wir als konstruktive Opposition (B) verabschiedet werden. Wenn künftig das Ausländerge- (D) setz im Bundesrat nicht mehr aufgehalten werden (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des könnte, wenn Hartz IV vom Bundestag allein verab- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schiedet werden könnte, würden wir in Deutschland zu – da brauchen Sie gar nicht so zu lachen – bieten an, da- schnelleren Entscheidungen kommen. Auch ich sehefür Verantwortung zu tragen. Deutschland in einer Krise, weil wir im Prinzip zu viel im Vermittlungsausschuss behandeln und die Menschen (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ nicht mehr wissen, wer für dieses oder jenes die Verant- DIE GRÜNEN]: Ich habe noch nichts wortung trägt. Konstruktives gehört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Als der Herr Bundeskanzler noch zusammen mit seinem bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Kollegen Lafontaine in der Opposition war, hätte er NISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss nicht im Traum daran gedacht, [SPD]: Nicht mehr blockieren! Sehr gut!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Bundeskanzler, Sie haben immer wieder mehr der Regierung im Interesse Deutschlands die Hand zu oder weniger Sand ins Getriebe gestreut, weil Sie diereichen. Da wurde nur blockiert. Wir tun das nicht. Zuständigkeit für die Bildungspolitik für sich bzw. die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesregierung oder den Bund reklamieren. In dem Sinne hoffe ich auf ein vernünftiges Ergebnis. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, Sie! Das wäre ja noch Danke schön. schöner!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Sie können nicht erwarten, dass die Ministerpräsidenten Beifall bei der FDP) letzten Endes auf ganz erhebliche Kompetenzen verzich- ten. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Nord- (Hubertus Heil [SPD]: Warum nicht?) rhein-Westfalen, Peer Steinbrück. Ich bin dafür und habe dafür gekämpft bis hin zur Än- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derung des Grundgesetzes bezüglich der Außenvertre- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf tung, von der CDU/CSU: Abschiedsrede!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15521

(A) Peer Steinbrück, Ministerpräsident (Nordrhein- wenn wir das tun –, gewinnt beim Publikum auch keine (C) Westfalen): Glaubwürdigkeit. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn jemand das Angebot zu einem „Pakt für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland“ macht, dann erwarte ich, dass anschlie- DIE GRÜNEN) ßend entsprechende Reden gehalten werden. Von dieser Debatte soll – so jedenfalls die Erwartung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vieler, die uns zuhören – das deutliche Signal ausgehen, DIE GRÜNEN) dass wir hier im Deutschen Bundestag und darüber hin- aus im Bundesrat erneuerungsbereit sind. Ich bin mir Dem Angebot zu einem solchen „Pakt für Deutschland“ nicht so sicher, ob wir dieser Erwartung bisher entspro- entsprach die Rede von Frau Merkel nicht und die Rede chen haben. von Herrn Stoiber erst recht nicht. Zur Sache also: Der Standort Deutschland muss sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewähren. Er muss sich DIE GRÜNEN) anstrengen und er wird renoviert werden müssen, kein Das waren keine staatspolitischen Reden. Das warenZweifel. Parteitagsreden. Ich fürchte, dass wir le al gemeinsam Versäumnisse (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aus den 90er-Jahren zu beklagen haben, auf allen Seiten, DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Lammert [CDU/ in allen politischen Parteien. CSU]: Jetzt beginnt der ernsthafte Teil der De- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des batte!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Standarderöffnungssätze, die ich heute noch ein- Ich glaube, dass wir sträflich lange – bis zum PISA- mal von Herrn Stoiber gehört habe, lese ich sehr häufig Schock – den Stellenwert der Bildung gemeinsam unter- im Handbuch für Oppositionsredner. schätzt haben. Ich glaube, dass wir es über weite Teile Der erste Satz lautet: Gemessen an den Erwartungen, der 90er-Jahre versäumt haben, uns rechtzeitig darauf Herr Bundeskanzler, war Ihre Rede eine Enttäuschung. – einzustellen, wie ein Sozialstaatsmodell unter den Be- Das ist wie e2–e4 im Schach. Das ist der Standarderöff- dingungen des 21. Jahrhunderts aussieht. Ich glaube, nungssatz. dass wir lange der Debatte ausgewichen sind, wie so- ziale Gerechtigkeit neu zu definieren ist, insbesondere (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem mit Blick auf Generationengerechtigkeit; dabei spielt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) der demographische Wandel eine erhebliche Rolle. Wir (D) Der zweite Satz lautet dann: Sie sind der Aufgabehaben uns auch zu wenig Gedanken darüber gemacht, nicht gewachsen. – Welche Überraschung! welche Rolle der Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielt. Der dritte Satz lautet: Deshalb brauchen wir eine an- dere Regierung. – Dies ist ein rhetorisches Highlight, das Da schleppt allerdings jeder seinen Ballast mit, Herr noch hinterhergeschoben wird. Gerhardt, die FDP nicht viel anders als meine Partei. Denn wenn wir über einen handlungsfähigen Staat in (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem einer sozialen Demokratie reden, dann reden wir in der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tat über ein anderes Staatsverständnis, als es die FDP In einer staatspolitischen Rede, Frau Merkel, hat man hat. es nicht nötig, den Untergang Deutschlands an die Wand (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu malen oder dem politischen Gegner zu unterstellen, er DIE GRÜNEN) wolle Deutschland dahin führen. In einer staatspoliti- schen Rede glaubt man auch nicht, dass die anderen im- Bezogen auf die Debatten, die Sie selber geführt haben, mer in der Wagenburg säßen und man selber den Stein versuche ich mich daran zu erinnern, welche Impulse für der Weisen gepachtet habe. eine solche Debatte vor 30 Jahren Herr Flach und Herr Maihofer gegeben haben und welche Impulse Sie heute (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Jetzt kommt der geben. Oberlehrer!) Der demographische Wandel mit sehr deutlichen Ich fürchte, dass die Verteilung von Deppen und Schlau- Folgen für die Finanzierung der vier Säulen unserer so- bergern über die Parteien und die Fraktionen nicht so zialen Transfers, eine zugegebenermaßen unzureichende eindeutig ist, wie Frau Merkel es heute dargestellt hat. Wachstumsdynamik, ein internationaler Wettbewerb, in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem das Kapital so mobil ist wie nie zuvor, in dem DIE GRÜNEN) Raum- und Zeitgrenzen durch moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ausgehebelt werden Vielmehr läuft sie entlang der Normalverteilung der Be- und eine angespannte Haushaltslage bei unverändert völkerung. hohen Erwartungen an die staatliche Leistungsbereitstel- Wer wie Frau Merkel glaubt, die Wahrheit für sich ge- lung – diese vier Faktoren führen unabweisbar zu not- pachtet zu haben – nach dem Motto: Wir sagen diewendigen Strukturveränderungen und damit zu Refor- Wahrheit, aber Sie sind immer empört und aggressiv,men. 15522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) (A) Aber der Standort Deutschland ist nicht so schlecht, gabe auf den Produktionsfaktor Arbeit. Zugegebener-(C) wie er geredet wird. maßen haben wir im internationalen Vergleich eine Be- steuerung unserer großen Kapitalgesellschaften oder der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Körperschaften durch ein sehr intransparentes, sehr DIE GRÜNEN) komplexes Steuersystem. In einer Meldung des „Handelsblatts“ vom 16. März Drittens. Die Gewinnentwicklung der DAX-notierten wird sehr abgewogen zitiert. Die Wirtschaftsprüfer von Unternehmen – wenigstens im letzten Jahr, aber auch in Ernst & Young, das amerikanische Unternehmender Perspektive für dieses Jahr – lässt nicht auf durch- Citigroup, die Amerikanische Handelskammer weg in so schlechte Rahmenbedingungen in Deutschland Deutschland, der „Economist“ und die Ratingagenturschließen, wie Sie es in Ihren Beiträgen dargestellt ha- Standard & Poor’s kommen zu dem Ergebnis: Insgesamt ben. gehe Deutschland in die richtige Richtung. Der Blick von außen zeige viel Positives; die Deutschen müssten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es nur noch merken. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dass der Mittelstand größere Probleme hat, ist unbe- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stritten – übrigens auch durch einen Faktor, der weniger politisch zu verantworten ist, nämlich durch das geän- Mir geht deshalb durch den Kopf, ob wir es bei den derte Finanzierungsverhalten des deutschen Bankensek- Reformnotwendigkeiten, die uns beschäftigen, nicht nur tors insgesamt. mit strukturellen Defiziten zu tun haben, sondern manchmal auch mit mentalen Einstellungen, die uns Viertens. Der Exportüberschuss ist kein Indiz für die hinderlich sind, das Notwendige pragmatisch zu tun. Schwäche der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zur Flexibilität des Arbeitsmarktes bestätige ich gerne, was vom Bundeskanzler und auch von Herrn Wir sind sehr verliebt in eine negative Selffulfilling Pro- Müntefering heute schon angedeutet worden ist: Ich phecy. Wenn wir über Deutschland reden, erinnert das habe in Nordrhein-Westfalen auf der konkreten betriebli- gelegentlich an sadomasochistische Praktiken. chen Ebene keine Schwierigkeiten mitBündnissen für (Beifall bei Abgeordneten der SPD Arbeit. – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ist das die Ant- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wort auf 5,2 Millionen Arbeitslose?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang Dabei ist es egal, ob es große Unternehmen sind. Glau- (D) gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung ver-ben Sie mir; ich weiß, wovon ich rede, bezogen auf ein dient; er bringt auch Erfolge. Angesichts erheblicher Wi- großes Automobilunternehmen in Bochum, bezogen auf derstände und vieler opportunistischer Pirouetten, dieKarstadt, bezogen auf einen wichtigen Anlagenbauer ich auch und gerade bei der CDU in meinem Land, in wie Babcock oder andere Firmen, sogar bezogen auf sol- Nordrhein-Westfalen, häufig erlebt habe, ist das Stehver- che, bei denen ein geordnetes Insolvenzverfahren an- mögen des Bundeskanzlers in diesem Prozess eine Qua- stand. Es gehört zur täglichen Aufgabe der Landesregie- lität für sich. rung, zusammen mit Betriebsräten, Gewerkschaften und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Management – auch von kleineren und mittleren DIE GRÜNEN) Unternehmen – die Kärrnerarbeit zu leisten, um diese Unternehmen zu stabilisieren und so viele Arbeitsplätze Wenn man nicht grobschlächtig vorgeht, wenn man wie möglich zu erhalten. die Betrachtung nicht grobkörnig vornimmt, sondern versucht, sich ein genaueres Bild zu verschaffen, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verbieten sich Vereinfachungen, allerdings auch simple des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schlussfolgerungen, will sagen: Das funktioniert. Es funktioniert vielleicht sogar bis hin zu einem Fußball- oder Handballverein; so weit kann es Erstens. Die realen Nettolöhne und -gehälter in gehen. Man macht es hinter den Kulissen. Man macht es Deutschland sind nicht das Problem. Die realen Netto- nicht auf dem offenen Marktplatz, weil man versucht, löhne und -gehälter vieler Menschen, die uns heute diesen Firmen nicht zu schaden. Aber es funktioniert. In wahrscheinlich zuhören, dürften seit Ende der 90er-Jahre den über 50 000 Tarifverträgen, die wir in der Bundes- stagnieren; es dürfte nicht viel mehr geworden sein als republik Deutschland haben, gibt es viele Klauseln, von das, was die Menschen vorher cash in der Tasche hatten. denen die Sozialpartner Gebrauch machen können, um Das Problem in Deutschland sind die Bruttoarbeitskos- solche flexiblen Bündnisse zu realisieren. ten. Aber dann soll man in seiner Rede auch so differen- zieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zweitens. Die Steuerquote in Deutschland ist nicht das Hauptproblem. Sie ist im internationalen Vergleich Im Übrigen finde ich – um bei dieser genaueren Be- ziemlich moderat. Das Hauptproblem in Deutschland ist schreibung des Bildes von Deutschland zu bleiben –, die Steuer- und Abgabenquote und damit die Art der dass die angekündigten, teilweise erheblichen Dividen- Finanzierung unserer sozialen Transfers über eine Ab- denerhöhungen vieler Unternehmen in Deutschland auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15523

Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) (A) die Frage nahe legen, ob sich nicht ein zusätzlicher Wir alle wissen – in dieser Passage kann ich mich(C) Spielraum für arbeitsplatzschaffende Investitionen inausnahmsweise auf den Kollegen Stoiber beziehen –, Deutschland auftut. dass die öffentlichen Haushalte eine Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 36 Prozent nicht überstehen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ würden. DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Auch in Bayern nicht!) Das alles sind Hinweise, die zu einer Differenzierung einladen und grobschlächtige Beiträge, wie wir sie auch – Auch in Bayern nicht. –Es ist völlig irrwitzig, den heute gehört haben, verbieten. Es wäre ein großer Vor- Menschen im Augenblick solche Steuersenkungen zu teil, wenn wir über diese Differenzierung stärker zu-versprechen. einander finden könnten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Reformbedarf stellt sich mit Blick auf die Pflegever- DIE GRÜNEN) sicherung. Er stellt sich vor dem Hintergrund der demo- Der Punkt ist: Sie wissen das, aber offenbar haben Sie graphischen Entwicklung auch mit Blick auf eine zu-nicht die Souveränität, dies in einer solchen Debatte klar kunftssichere Altersversorgung; dafür sind weiterezu machen. Schritte notwendig. Er stellt sich mit Blick auf die Ge- sundheitsfinanzierung und die beiden konkurrierenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Modelle, die es dort gibt. Er stellt sich mit Blick auf die DIE GRÜNEN) Föderalismusreform, die Bund-Länder-Beziehungen. Er Wenn jemand von der FDP versucht, mir ökonomisch stellt sich in meinen Augen auch mit Blick auf die Not- nachzuweisen, dass Steuersenkungen eine Art Selbst- wendigkeit, 23 Jahre nach der letzten Fortschreibung des finanzierungseffekt von eins zu eins haben, dann möchte Energieprogramms gemeinsam einen neuen energiepoli- ich das angesichts der Erfahrungen in Schweden, Eng- tischen Rahmen zu finden. Er stellt sich schließlich auch land und den USA endlich einmal empirisch belegt ha- mit Blick auf die Vereinfachung des Steuersystems in ben. Deutschland, allerdings nicht nur mit der Fokussierung auf Steuersätze, sondern auch auf die Gestaltung von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bemessungsgrundlagen und Gewinnermittlungsmetho- DIE GRÜNEN) den. Ich glaube, dass das sehr intransparente und sehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD) komplexe deutsche Steuerrecht reformbedürftig ist und dass der verfahrenspolitische Vorschlag des Bundes- Von Frau Merkel ist vorhin darauf hingewiesen (B) kanzlers bzw. der Bundesregierung richtig ist, die Sach- (D) worden, die CDU habe ein überzeugendesSteuer- verständigen zu bitten, Entsprechendes bis Ende dieses konzept 21. Ich kenne dieses überzeugende Steuerkon- Jahres in Gang zu setzen. zept nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ich glaube, dass die Lösung mit Blick auf die unter- Haben Sie denn eins?) schiedlichen Steuersysteme für Personengesellschaften – und damit für den Mittelstand – und Kapitalgesell- Ich weiß, dass es erst ein bisschen Faltlhauser und dann schaften in einerrechtsformneutralen Besteuerung ein bisschen Merz geben soll. der deutschen Unternehmen liegt. Ich glaube, dass das (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Ha, ha!) richtig ist. Ich weiß, dass Sie den Menschen einreden, man könne (Beifall bei Abgeordneten der SPD – den Einkommensteuerspitzensatz auf 36 Prozent redu- Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist ja mal zieren, obwohl wir alle in diesem Saal wissen, dass das was!) undenkbar und nicht finanzierbar ist. Denjenigen, die immer eilfertig sagen, wir müssten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Reformtempo weiter steigern, und mit dem strapa- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: zierten Bild einer ruhigen Hand darüber hinwegtäu- Sie haben doch genau das Gegenteil behaup- schen, dass es auch einer Kärrnerarbeit bedarf, um sol- tet!) che Reformen umzusetzen, Ich weiß, dass Sie den sozialen Ausgleich bei Ihrem Prä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mienmodell dadurch finanzieren wollen, dass Sie den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) abgesenkten Steuersatz etwas zurücknehmen. Das heißt, rufe ich zu: Geht es nicht auch um Augenmaß und Ba- Sie finanzieren dieses Prämienmodell aus nicht gegen- lance sowie um den Zusammenhalt dieser Gesellschaft finanzierten Steuererleichterungen. in einem rasanten ökonomischen und technischen Wan- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ del? Anders ausgedrückt: Stellt man wichtige Leitplan- DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel [CDU/ ken der Sicherheit, wie zum Beispiel die Mitbestim- CSU]: Quatsch!) mung, die Tarifautonomie und den Kündigungsschutz, im 14-tägigen Turnus infrage, wenn man die Menschen Das ist eine erstaunliche Leistung. in diesem Wandel fordern muss? 15524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es die Armutsberichte ausweisen; zwischen Alt und Jung (C) DIE GRÜNEN) vor dem Hintergrund der von mir genannten demogra- phischen Entwicklung und der Abwägung zwischen Ge- Sind wir nicht darauf angewiesen, den Menschen, die genwarts- und Zukunftsinteressen; zwischen bildungsna- ohnehin schon verunsichert sind und in diesem Wandel hen und bildungsfernen Schichten; zwischen denjenigen, eher verlieren und Verlustängste haben, einige Konstante die einheimisch sind, und denjenigen, die zu uns kom- und Leitplanken der Sicherheit zu belassen und gehören men, also jenen, die die Fähigkeit haben müssen, zu inte- die von mir genannten fast konstitutiv wichtigen Säulen grieren, und denen, die die Bereitschaft haben müssen, der Sozialpartnerschaft nicht dazu? Sollte man nicht eher sich integrieren zu lassen; zwischen Stadtvierteln, die die Finger davon lassen, als dies alle 14 Tage wiedersozial abzustürzen drohen, und den so genannten besse- hochzuziehen? ren Vierteln; zwischen denjenigen, die sich als digitale (Beifall bei der SPD) Analphabeten herausstellen, weil sie mit Informations- und Kommunikationstechnologien nicht umgehen kön- Verbindet man die Diskussion über wettbewerbsfähige nen, während es die anderen können. Steuersätze insbesondere für die Kapitalgesellschaften, wie vor wenigen Tagen geschehen, mit der Drohung Das sind die Fliehkräfte dieser Gesellschaft. Von die- einer Rentenkürzung, nach dem Motto: Die Gelegenheit sen Fliehkräften war in der Rede am letzten Dienstag zu ist günstig? wenig die Rede. (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ich denke an eine allein erziehende Verkäuferin mit Er hat eine Lösung aufgezeigt, die Sie nicht ungefähr 1 000 Euro netto, um in meinem oft benutzten angehen wollen!) Bild zu bleiben, der ich sehr mühsam erklären muss, dass sie von ihrem verfügbaren Einkommen nach Lage Die Aufgabe, den Reformbedarf zu definieren, ist schon der Dinge demnächst bzw. schon jetzt mehr fürAlter, schwierig genug. Aber sie gelingt uns wahrscheinlich Pflege und Gesundheit ausgeben muss. Welche Garan- gemeinsam. Damit jedoch die Frage zu koppeln, wie ich tie kann ich ihr geben, dass in Deutschland aufgrund von den Kitt dieser Gesellschaft erhalte, ohne dass mir hinten abgesenkten Unternehmensteuersätzen Investitionen ge- die Waggons des Zuges, der beschleunigt, aus dem Gleis tätigt und Arbeitsplätze geschaffen werden? springen, ist etwas, was in der Rede am Dienstag nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ angesprochen wurde. DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Wollen Sie die Steuern erhöhen?) DIE GRÜNEN) (D) Anders ausgedrückt: Wie wirkt auf diese Frau, die mit Wenn Sie mit Blick auf das wichtige Thema Bildung 1 000 Euro nach Hause kommt, die Tatsache, dass über und den damit verbundenen Schwierigkeiten – die PISA- die von der Bundesregierung eingeleitete und von Ihnen Ergebnisse bestätigen, dass es uns bisher nicht geglückt mitgetragene Modernisierung des Gesundheitssystems ist, unser Bildungssystem so zu gestalten, dass diejeni- die Bezüge von Vorständen in den gesetzlichen Kran- gen, die aus bildungsferneren Schichten stammen, Auf- kenversicherungen erhöht werden, von denen sie endlich stiegsmöglichkeiten erhalten –, glauben, uns mit dem eine Reformrendite in Form abgesenkter Krankenversi- Kampfbegriff der Einheitsschule erschrecken zu können, cherungsbeiträge erwartet? dann täuschen Sie sich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Reden wir in diesem Zusammenhang nur über die pa- triotische Verantwortung der politischen Parteien, sich Damit das ein für alle Mal unmissverständlich ist: Ich zu einigen und Gemeinsamkeiten zu entwickeln, oder werde in Nordrhein-Westfalen weder die Realschule reden wir auch über die patriotische Verantwortung un- noch das Gymnasium über die Köpfe der Betroffenen ternehmerischer Entscheidungsträger in der Bundesrepu- und Beteiligten hinweg abschaffen. blik Deutschland? (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das können Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch gar nicht!) DIE GRÜNEN) Aber ich möchte gerne mit den Beteiligten – Kindern, Richtig ist: Wirtschaft und Gesellschaft müssen dyna- Eltern, Lehrern, Verbänden, Gewerkschaften und bil- mischer werden. Wir müssen wieder neugieriger wer- dungswissenschaftlichen Einrichtungen – die Frage dis- den. Wir müssen wahrscheinlich auch schneller und in- kutieren, ob ein sehr stark gegliedertes Schulsystem novativer werden. Auch ein bisschen mehr Zuversicht nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern nach Lage der täte uns gut. Das sind die mentalen Barrieren, von denen Dinge auch in Bayern ein zukunftsfähiges Schulsystem ich sprach. All das ist unbestritten. ist, um beim Zugang zu Bildungsgütern Chancengerech- tigkeit zu gewährleisten. Es ist in diesem Reformprozess aber auch nicht zu be- streiten, dass die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft eher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zunehmen als abnehmen: zwischen Arm und Reich, wie DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15525

Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) (A) Wenn Sie versuchen, mit dem Kampfbegriff der Ein-Ich begrüße die Vorschläge zur Mittelstandsförderung.(C) heitsschule diese Debatte zu tabuisieren, dann sage ich Ich sage zu, dass das Land Nordrhein-Westfalen eine Ihnen: Dies wird nicht gelingen. solche Erbschaftsteuerregelung mit Blick auf die Verer- bung von betrieblichem Vermögen im Bundesrat unter- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) stützen wird, wohl wissend, dass mir dieses Gespräch Dieser Kampfbegriff soll nichts anderes als ein Denkver- mit meinem Finanzminister erst noch bevorsteht. bot über die zukünftigen Schulstrukturen auslösen. Ich bin auch dankbar für die Bereitschaft, einen neuen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anlauf zur Neuordnung derBund-Länder-Beziehun- DIE GRÜNEN) gen zu nehmen. Ich will nicht in die Vergangenheitsbe- Im Übrigen lasse ich mich in Nordrhein-Westfalenwältigung einsteigen, sondern uns allen ganz allgemein gerne mit anderen Standorten vergleichen, zum Beispiel sagen: Der Eindruck, der sich bei den Menschen im De- mit Bayern, was den Anteil der Schulabgänger ohnezember festgesetzt hat, war nicht der des Versagens der Schulabschluss betrifft. Ich lasse mich in Nordrhein-SPD, der CDU/CSU, der Bundesregierung oder der Län- Westfalen ebenfalls sehr gerne mit Bayern vergleichen, der. Der Eindruck war der eines Politikversagens auf was den Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife ganzer Linie. betrifft. Damit habe ich keine Probleme. Ich rate uns in dieser Debatte, weniger grobkörnig zu arbeiten, als das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch heute teilweise der Fall gewesen ist. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Ich glaube, dass der Bundeskanzler in seiner Regie- rungserklärung die richtigen Akzente gesetzt und die Das fällt uns gemeinsam auf die Füße. Ich bin dafür, Agenda 2010 konturiert hat. Es sind die richtigen Ak- dass wir die staatlichen Handlungsebenen stärken. Dies zente in der Arbeitsmarktpolitik; ich begrüße außeror- bedeutet eine klare Entflechtung, eine klare Zuordnung dentlich, dass es gerade bei den Hinzuverdienstmöglich- von Verantwortlichkeiten. Wir sollten dies nicht an dem keiten zu weiteren Regelungen kommen wird. Bildungsthema, Ich das sehr ultimativ in die Diskussion ein- erinnere mich sehr genau daran, wer im Vermittlungs- geführt worden ist, scheitern lassen. ausschuss und im Bundesrat gegen eine weiterreichende Hinzuverdienstregelung gewesen ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Von Herrn Koch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Um meine Position als Vertreter des Landes Nord- rhein-Westfalen deutlich zu machen: Ich glaube, dass Ich erinnere mich auch sehr genau daran, wer mit uns man in Bezug auf den Wettbewerb von Standorten in der (B) (D) gemeinsam die Änderung der Arbeitslosenstatistik ver- Bundesrepublik Deutschland – Stichworte: Wissensge- abschiedet hat, anschließend aber über diese Beteiligung sellschaft und Technologiestandort – dem Bund nicht so erschrocken ist, dass er sie ignoriert. schlechterdings jedwede Initiative im Bereich von Wis- (Beifall bei der SPD) senschaft, Forschung und Technologie bestreiten kann. Ich habe ein sehr gutes Langzeitgedächtnis dafür, wer im (Beifall bei der SPD) Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisierungs- gesetz die Praxisgebühr auf die politische Tagesordnung Umgekehrt wissen alle hier in diesem Hohen Hause, gesetzt hat und wer anschließend, als es schwierigdass die Kultushoheit ein Element der Staatlichkeit der wurde, nicht mehr dahintergestanden hat. Länder ist, das man nicht aushebeln kann. (Beifall bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ (Jörg Tauss [SPD]: Die ist heilig!) CSU]: Eintrittsgeld! Agenda 2010!) Es müsste eigentlich möglich sein, zwischen diesen bei- Diese Erfahrungen habe ich mit Ihnen zu häufig ge-den Punkten einen Kurzschluss herzustellen, der uns in macht. die Lage versetzt, diese wichtige Föderalismusreform so Ich bin sehr froh über die Passagen in der Regierungs- schnell wie möglich zu gestalten. erklärung des Bundeskanzlers, in denen die Rede von (Beifall bei der SPD – Dr. Angela Merkel der Stärkung der Investitionskräfte ist, auch und gerade [CDU/CSU]: Kurzschluss ist schlecht!) mit Blick auf ein Beschleunigungsgesetz bei Public-Pri- vate-Partnership-Modellen, zu denen wir in Nordrhein- Ich möchte etwas deutlich anerkennen, was in dieser Westfalen etwas anbieten können. Das gilt auch für Pla- Regierungserklärung kein Schwerpunktthema war, uns nungsvereinfachungen und ähnliche wichtige Hinweise. auf der kommunalen Ebene aber sehr beschäftigt. Wir (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) haben wegen der Entscheidungen, die getroffen worden sind – auch in früheren Zeiten –, eine erfreuliche Stär- Ich erwarte eigentlich noch in dieser Woche vor demkung der kommunalen Finanzkraft,wenn diese auch Hintergrund der Einigung über die Novelle des Energie- vor dem Hintergrund erheblicher Probleme nach Lage wirtschaftsgesetzes klare Aussagen der Energiewirt-der Dinge noch nicht ausreicht und wir es nach wie vor schaft über Investitionen in Kraftwerke und Netze in der mit einer dramatischen Situation zu tun haben. Aber zu- Bundesrepublik Deutschland. mindest anzuerkennen und, in aller Souveränität zuzuge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben, dass sich durch die günstigere Gewerbesteuerum- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lage, durch die Schließung von Steuerschlupflöchern, 15526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) (A) durch die Hartz-IV-Rendite, auf die es einen Rechtsan- Schuldzuweisungen enthalten. Wie würden Sie denn die (C) spruch gibt, und durch das 4-Milliarden-Euro-Programm Rede von Herrn Stoiber bewerten? des Bundes für die Ganztagsbetreuung die Lage der (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Kommunen deutlich verbessert hat, dürfte auch der Op- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Andreas position nicht schwer fallen. Pinkwart [FDP]: Sie verteilen doch selbst im- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mer Schuldzuweisungen! Das ist doch kein DIE GRÜNEN) Beitrag dazu!) Was die Verantwortung der Kommunalminister be- Wenn diese Woche dazu beitragen könnte, diesen ver- trifft, insbesondere den Kommunen Investitionsspiel-breiteten Eindruck zu korrigieren, dann wäre das ein räume einzuräumen, die ein genehmigtes Haushalts-großer Gewinn für dieses Land. sicherungskonzept oder sogar einen Nothaushalt haben, Herzlichen Dank. ist dies eine der Aufgabenstellungen, die sich aus dieser Regierungserklärung für die Länder ergeben. Die nehme (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem ich in meinem Gepäck gerne mit. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Zugabe! – Ernst Hinsken [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU]: Nichts über Antidiskriminierung! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ich habe manchmal den Eindruck, dass zum einen die Nicht ein einziges Wort zum Antidiskriminie- Art der öffentlichen Debatte und auch die Art, wie wir rungsgesetz!) politisch miteinander umgehen, mindestens ein so gro- ßes Hindernis zur Realisierung von Reformen in der Bundesrepublik sein könnten wie die Schwierigkeiten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: selber. Ich glaube, wir müssen wahrnehmen, dass viele Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch. Menschen uns so sehen. Das hat mit vielen Überzeich- nungen zu tun. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Widerspruch bei der CDU/CSU) Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. – Jeder kennt die – Hören Sie doch geduldig zu und beweisen Sie IhreGeschichte von dem armen Vater, der seine Söhne mit grenzenlose Bereitschaft, dies einfach einmal zu akzep- der Ziege auf die Weide schickt, damit sich die Ziege tieren! richtig satt fressen kann. Die Ziege kommt jeden Abend in den Stall zurück und meckert: „Ich sprang nur über (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ Gräbelein und fand kein einziges Blättelein“. (B) CSU]: Wir sind doch hier nicht im Seminar, (D) sondern im Deutschen Bundestag!) Arbeitsgeberpräsident Hundt erinnert mich an diese Ziege. Können Sie sich vorstellen, dass Herr Hundt ir- Ich habe Sie noch nicht ein einziges Mal angegriffen. gendwann einmal erklärt: „Die Unternehmensteuern Das hat etwas zu tun mit Überzeichnungen und mit können nicht weiter gesenkt werden; die Lohnnebenkos- Verzerrungen. Es hat auch etwas zu tun mit der Gering- ten haben ein vernünftiges Niveau erreicht und der Kün- digungsschutz ist ausreichend gelockert“? Man soll ja schätzung von Erfolgen. Es hat ferner damit zu tun, dass nie „nie“ sagen, aber ich kann mir das nicht vorstellen. wir das, was uns gelingt, zu schnell konsumieren, dass Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass das jemand hier wir wenig beständig sind, die Risiken überbetonen und im Saal glaubt. nach Lage der Dinge immer mit Bedenken an viele Pro- jekte herangehen. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die rot-grüne Bundesregierung hat die Steuern dra- matisch – ich würde sagen: unverantwortlich – gesenkt. Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: „Wenn wir auch Diese Bundesregierung hat durch die Aufhebung der pa- sonst nichts haben, Bedenken haben wir“. ritätischen Finanzierung – Stichwort: Krankengeld und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Zahnersatz – die Lohnnebenkosten für die Unternehmen erheblich gesenkt und diese Bundesregierung hat den Wir finden immer Gründe, warum etwas nicht geht, und Kündigungsschutz massiv gelockert, was der Bundes- wir suchen wenig nach Wegen, um es zum Gelingenkanzler heute als besondere Heldentat dargestellt hat. bringen zu können. Dieser Fragestellung sollten wir uns politisch stellen; denn ich glaube, dass viele Menschen Doch was uns immer wieder als Verheißung angekün- wahrnehmen, dass wir dieser Einstellung verhaftet sind. digt wurde, ist nie eingetreten. Es wurde von den Unter- nehmen in Deutschland nicht mehr investiert und es Hinzu kommt der Eindruck, dass der Umgang der po- wurden in unserem Land nicht die angekündigten Ar- litischen Kräfte miteinander vom Publikum inzwischen beitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Die Arbeitslosig- schon als Bestandteil des Problems gesehen wird. Dabei keit nimmt von Tag zu Tag zu. gibt es sehr viele Rituale nach dem Motto „Die Deppen und die Schlauberger sind sehr einseitig verteilt“ und es Statt über die Wirkungen der Reformen nachzuden- gibt, wie ich finde, zu viele Schuldzuweisungen. ken und sich die Frage zu stellen, was eigentlich schief gelaufen ist, rennt die Bundesregierung kopflos von Frau Merkel, Sie haben dem Bundeskanzler vorge- einem Gipfel zum anderen. Alle Jahrhundertreformen worfen, in seiner Regierungserklärung seien so vieledieser Bundesregierung wurden in den Sand gesetzt und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15527

Dr. Gesine Lötzsch (A) ich denke, wir können uns keine weitere derartige Jahr- zu sehen, wie man unterALG-II-Bedingungen lebt. Es (C) hundertreform leisten, weil sonst bald der Sand knapp ist immer wieder als dramatisch und furchtbar bezeich- wird. net worden. Die Agenda 2010 ist der falsche Weg. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Es ist tollkühn, wenn die Bundesregierung immer noch glaubt, dass Unternehmensteuersenkungen – wie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: heute morgen vom Bundeskanzler angekündigt – zu Ich schließe damit die Aussprache. mehr Investitionen führen würden. Deutschland ist Ex- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie portweltmeister. In den letzten fünf Jahren haben dieZusatzpunkt 2 auf: deutschen Exporte um 48 Prozent zugenommen. Das ist der Beweis, dass wir auch mit relativ hohen Lohnkosten 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- in der Lage sind, Produkte weltweit zu verkaufen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 28. August 1997 zwischen der Bun- Unser Problem ist die Binnennachfrage. Diese müs- desrepublik Deutschland und der Kirgisischen sen wir stärken. Mit der Agenda 2010 haben Sie aber die Republik über die Förderung und den gegen- Binnennachfrage empfindlich gestört und geschwächt. seitigen Schutz von Kapitalanlagen Die Umsetzung zweier Maßnahmen würde sofort Wir- kung zeigen und umgehend Arbeitsplätze schaffen: Ers- – Drucksache 15/4978 – tens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen zur Überweisungsvorschlag: Kasse gebeten wurden, die immer mehr von der Hand in Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) den Mund leben müssen, müssen besser gestellt werden. Auswärtiger Ausschuss Zweitens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen be- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- günstigt wurden, die händeringend nach neuen Ab- gebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem schreibungsmodellen suchen, müssen ihren Beitrag zur OCCAR-Geheimschutzübereinkommen vom Sicherung der Sozialsysteme leisten. 24. September 2004 (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) – Drucksache 15/4979 – Zum ersten Punkt darf ich Ihnen ein Beispiel aus den Überweisungsvorschlag: USA nennen. Nach dem Terroranschlag auf das World Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss Trade Center beschloss der US-Kongress aus Angst vor Verteidigungsausschuss einer Wirtschaftskrise, den Bezug des Arbeitslosengel- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (B) des um 20 Wochen zu verlängern, um die Nachfrage an- (D) zukurbeln. Wenn die Bundesregierung das Arbeitslosen- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- geld II in Ost und West angliche und jedem ALG-II- trag vom 28. März 2000 zwischen der Bundes- Empfänger nur 55 Euro mehr zahlte, sodass jeder zumin- republik Deutschland und der Bundesrepublik dest 400 Euro in der Tasche hätte, dann wäre das ein so- Nigeria über die Förderung und den gegensei- fort wirksames, unbürokratisches Konjunkturprogramm. tigen Schutz von Kapitalanlagen (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) – Drucksache 15/4980 – Überweisungsvorschlag: Bekanntlich sind Menschen, die wenig Geld haben, ge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) zwungen, zusätzliches Geld sofort auszugeben. Diese Auswärtiger Ausschuss 55 Euro wären für jeden da. Ich könnte Ihnen viele spru- delnde Quellen für die Gegenfinanzierung aufzählen. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ein Beispiel: Sie haben zwar schon lange auf Parteitagen gebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Er- Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der höhung der Erbschaftsteuer beschlossen, aber nie umge- Bundesrepublik Deutschland und der Repu- setzt. Mindestens genauso wichtig ist die Forderung blik Guatemala über die Förderung und den nach Mindestlöhnen, die wir als PDS stellen. Wir dürfen gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen nicht länger zuschauen, wie die Löhne in diesem Land – Drucksache 15/4981 – den Bach heruntergehen. Überweisungsvorschlag: Sie wissen sicherlich, wie die Geschichte mit der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ziege ausgeht: Der Vater verlor alle seine Söhne und Auswärtiger Ausschuss stand mit der gefräßigen Ziege allein da. In diesem Sinne e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- kann ich die Bundesregierung nur davor warnen, der gebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem ständig meckernden Ziege bzw. Herrn Hundt zu folgen. Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der Es sind nicht die Unternehmensteuern, die wir senken Bundesrepublik Deutschland und der Repu- müssen. Vielmehr schafft eine Erhöhung der Kaufkraft blik Angola über die Förderung und den ge- der sozial Schwachen Investitionen und Arbeitsplätze. genseitigen Schutz von Kapitalanlagen Das wäre der richtige Weg. – Drucksache 15/4982 – Die Agenda 2010 ist ein Verarmungsprogramm für Überweisungsvorschlag: große Gruppen der Bevölkerung. Inzwischen haben sich Ausschuss für. Wirtschaft und Arbeit (f) schon viele Journalisten Selbstversuchen ausgesetzt, um Auswärtiger Ausschuss 15528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j sowie (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die kommen vom 1. Dezember 2003 zwischen der Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Bundesrepublik Deutschland und der Volks- che vorgesehen ist. republik China über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Tagesordnungspunkt 25 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 15/4983 – gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes Überweisungsvorschlag: zur Reform des Reisekostenrechts Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 15/4919 – g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Erste Beratung 160. Sitzung) gebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Vertrag vom 19. Januar 2004 zwischen der Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Bundesrepublik Deutschland und der Demo- schusses (4. Ausschuss) kratischen Bundesrepublik Äthiopien über die – Drucksache 15/5127 – Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper – Drucksache 15/4984 – Clemens Binninger Überweisungsvorschlag: Silke Stokar von Neuforn Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Dr. Max Stadler Auswärtiger Ausschuss Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike empfehlung auf Drucksache 15/5127, den Gesetzent- Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmannwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak- entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – tion der FDP Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Gashydratforschung fest in die Forschungen ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, „System Erde“ und „Neue Technologien“ inte- Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung grieren der FDP angenommen worden. (B) – Drucksache 15/3814 – Dritte Beratung (D) Überweisungsvorschlag: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Technikfolgenabschätzung (f) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit entwurf ist in der dritten Lesung mit dem gleichen Stim- menverhältnis wie zuvor angenommen worden. ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer Tagesordnungspunkt 25 b: (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- ter und der Fraktion der CDU/CSU regierung eingebrachten Entwurfs einesDritten „Meer für Morgen“ – Impulse für die mari- Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes time Verbundwirtschaft und anderer Vorschriften (3. SprengÄndG) – Drucksachen 15/5002 – Drucksache 15/5099 – Überweisungsvorschlag: (Erste Beratung 163. Sitzung) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit schusses (4. Ausschuss) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 15/5129 – Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Berichterstattung: Abgeordnete Gerold Reichenbach Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Reinhard Grindel Verfahren ohne Debatte. Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5099 soll empfehlung auf Drucksache 15/5129, den Gesetzent- zusätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen wer- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte den. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Dann sind die Überweisungen so beschlossen. sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15529

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen ge- (C) ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen gen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der beiden worden. fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 25 e: und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, Beratung des dritten Berichts des Ausschusses für wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge- Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist (1. Ausschuss) in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b Tagesordnungspunkt 25 c: des Abgeordnetengesetzes (AbgG) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Überprüfung auf Tätigkeit oder politische gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes Verantwortung für das Ministerium für zur Änderung der Bundes-Apothekerordnung Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit und anderer Gesetze der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – Drucksachen 15/4784, 15/5093 – – Drucksache 15/4971 – (Erste Beratung 157. Sitzung) Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- genommen haben. ses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss) Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- – Drucksache 15/5108 – titionsausschusses. Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 25 f: Abgeordnete Dr. Margrit Spielmann Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ausschusses (2. Ausschuss) empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Sammelübersicht 192 zu Petitionen sache 15/5108, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- – Drucksache 15/5039 – entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (B) das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – tungen? – Sammelübersicht 192 ist einstimmig ange-(D) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein-nommen worden. stimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 g: Dritte Beratung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, ausschusses (2. Ausschuss) wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Sammelübersicht 193 zu Petitionen in dritter Lesung einstimmig, also mit den Stimmen des – Drucksache 15/5035 – ganzen Hauses, angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 d: Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Auch Sammelübersicht 193 ist einstimmig ange- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nommen worden. richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- schuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenTagesordnungspunkt 25 h: Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ausschusses (2. Ausschuss) der FDP Sammelübersicht 194 zu Petitionen Ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksar- mee das Führen ihrer früheren Dienstgrade – Drucksache 15/5036 – erlauben Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – Drucksachen 15/3357, 15/4949 – gen? – Sammelübersicht 194 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Berichterstattung: Abgeordnete Gerd Höfer Tagesordnungspunkt 25 i: Ulrich Adam Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- ausschusses (2. Ausschuss) sache 15/3357 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Sammelübersicht 195 zu Petitionen schlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt da- gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist – Drucksache 15/5037 – 15530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Verbes- (C) hält sich? – Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen serung des vorbeugenden Hochwasserschutzes von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. Es gab – Drucksachen 15/3168, 15/3214, 15/3455, keine Enthaltungen. 15/3510, 15/3871, 15/5121 – Tagesordnungspunkt 25 j: Berichterstattung: Abgeordneter Michael Müller (Düsseldorf) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Minister Harald Schliemann (Thüringen) ausschusses (2. Ausschuss) Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht- Sammelübersicht 196 zu Petitionen erstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Wir – Drucksache 15/5038 – können also gleich zur Abstimmung kommen. Der Ver- mittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bun- tungen? – Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmendestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die ist. Dies gilt auch für e di noch folgenden beiden Be- Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. schlussempfehlungen. Zusatzpunkt 3 a: Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung des Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5121? – ausschusses (6. Ausschuss) Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Diese Be- schlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Übersicht 10 Zusatzpunkt 7: über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- gericht schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- mittlungsausschuss) zu dem Dritten Gesetz zur – Drucksache 15/5114 – Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschluss- – Drucksachen 15/3280, 15/4419, 15/4634, empfehlung ist einstimmig angenommen worden. 15/5122 – Zusatzpunkt 3 b: Berichterstattung: (B) Abgeordneter Ludwig Stiegler (D) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Minister Rudolf Köberle (Baden-Württemberg) richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer zu der Streitsache vor dem Bundesverfas-stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs- sungsgericht – 1 BvR 357/05 ausschusses auf Drucksache 15/5122? – Wer stimmt da- – Drucksache 15/5113 – gegen? – Gibt es Enthaltungen? – Auch diese Beschluss- empfehlung ist einstimmig angenommen worden. Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) Zusatzpunkt 8: Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- empfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzuge- schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- ben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevoll- mittlungsausschuss) zu dem Zweiten Gesetz zur mächtigten zu bestellen. Wer stimmt für dieseÄnderung des Straßenverkehrsgesetzes und Beschlussempfehlung? – Enthaltungen? – Gegenstim- anderer Gesetze men? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- nommen worden. – Drucksachen 15/3351, 15/4730, 15/4921, 15/5123 – Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses. Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Norbert Röttgen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Minister Rudolf Köberle (Baden-Württemberg) heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Be- schlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses er- Wir stimmen nun ab über die Beschlussempfehlung weitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich alsdes Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5123. Zusatzpunkt 6, Zusatzpunkt 7 und Zusatzpunkt 8 aufge- Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es rufen werden. Sind Sie damit einverstanden, dass wir so Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist verfahren? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 6: Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15531

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSpendenbereitschaft fördern wollen und zugleich die(C) CDU/CSU Aufklärung fast einstellen, das passt nicht zusammen. Förderung der Organspende (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Stimmt nicht!) – Drucksachen 15/2707, 15/4542 – Nach den Todesfällen von zwei tollwutinfizierten Or- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ganspendeempfängern und neuen, aktuellen Pressebe- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichrichten breitet sich gerade jetzt wieder einmal weitere höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so. Verunsicherung aus. Die Bundesregierung ist aufgefor- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dert, in dieser Situation einer Diskreditierung von post- die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz. mortalen Transplantationen vorzubeugen und ein größe- res öffentliches Bewusstsein für postmortale die (Beifall bei der CDU/CSU) Organspende zu schaffen. Auch unter den Ärzten ist mehr Information über das Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Thema dringend erforderlich; denn 40 Prozent der 1 400 Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Kliniken mit Intensivstationen in unserem Land melden gen! Meine Zeit ist vorbei, so sagten sie, nie einen Organspender bzw. machen bei der Rekrutie- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Oh! rung von Organen einfach nicht mit. Der ehemalige me- Hätte ich nicht gedacht!) dizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtrans- plantation, Professor Martin Molzahn, kritisiert denn aber dann kamst du und schenktest sie mir neu. – Mitauch zu Recht, wenn er sagt: diesen Worten hat eine Patientin ihre Gedanken zum Ausdruck gebracht, die dringend auf eine Organspende Die Deutsche Stiftung Organtransplantation kann wartete. Ein Empfänger einer gespendeten Lunge hat im ihre Arbeit und ihre Prozesse noch so gut organisie- Rückblick auf seine Erfahrungen seine Dankbarkeit ge- ren – wenn die Meldung aus dem Krankenhaus un- genüber dem Spender bzw. der Spenderin folgenderma- terbleibt, werden wir unser Ziel einer deutlich hö- ßen zum Ausdruck gebracht: Ich denke sehr oft an mei- heren Zahl von Organspenden nicht erreichen. nen Spender und bin von Herzen dankbar, dass er mir Die Ursachen für die ausbleibenden Meldungen sind das Gute hier gelassen hat. Ich danke den Ärzten und all trotz Meldepflicht, die im Gesetz geregelt ist, vielfältig. den vielen anderen, die um mich gekämpft und mir zu Manchmal sind überarbeitete Intensivmediziner nicht in neuem Leben verholfen haben. der Lage, die Aufgaben zusätzlich zu schultern, oder sie (B) Meine Damen, meine Herren, wir können die Gefühle scheuen einfach auch das Gespräch mit den nahen Ange- (D) in dieser so genannten Wartestellung zwischen Leben hörigen des Verstorbenen. und Tod, die Hoffnung auf der einen Seite und die Dank- Häufig mahnen aber auch die Klinikverwaltungen barkeit auf der anderen Seite oft kaum fassen. Aber für ihre Ärzte aus Kostengründen zur Zurückhaltung. Das jeden könnte das Thema Organspende irgendwann eine Fallpauschalensystem hat den Kosten- und den Prozess- Rolle spielen. Vielen Menschen wird das erst bewusst, druck in den Krankenhäusern verschärft. Insbesondere wenn in ihrer eigenen Familie ein Familienangehöriger kleine Krankenhäuser mit wenigen Intensivbetten spüren auf eine Transplantation wartet – ein Schicksal, das circa dies. Die intensivmedizinische Betreuung des Hirntoten 13 000 Menschen teilen. und das Gespräch mit den Angehörigen erfordern viel Das Thema wird auch dann aktuell, wenn ein Ange- Zeit und Einfühlungsvermögen – Zeit, die es im Kran- höriger mit der Frage konfrontiert wird, ob der Verstor- kenhaus immer weniger gibt, und Zeit, in der das Inten- bene einer Organentnahme zugestimmt hat. Zwischen sivbett nicht für andere Patienten zur Verfügung steht. der langen Warteliste auf der einen Seite und der von Zwar ist nunmehr durch eine Vereinbarung die 80 Prozent der Bevölkerung bekundetenSpendenbe- Finanzierung der Organentnahme bei der Postmortal- reitschaft auf der anderen Seite klafft eine große Lücke. spende, auch wenn die Entnahme nicht zum Erfolg führt, Nur 12 Prozent der Menschen hierzulande besitzen ei- über eine Pauschale geregelt, doch ist diese Pauschale nen Organspendeausweis. Mangelndes Wissen über den nicht dynamisch, das heißt, sie passt sich nicht der Kos- Hirntod und den Organspendeausweis, Ängste, abertenentwicklung an. Darüber hinaus ist sie bereits heute auch unzureichende Kenntnisse über die Bedeutung ei- nicht kostendeckend und weicht erheblich von der Er- ner Spende für den Empfänger führen in der Bevölke- stattung bei Lebendspenden ab. Deshalb brauchen wir rung oft zu Verunsicherung und zu Zurückhaltung. uns nicht zu wundern, wenn die Postmortalspende in der Bundesrepublik nicht in dem Umfang angenommen Statt nun auf diese Situation zu reagieren und gezielt wird, wie dies in anderen Ländern der Fall ist. und sensibel Aufklärung zu betreiben, hat die Bundesre- gierung in der Zeit von 1998 bis 2004 die Mittel der (Beifall bei der CDU/CSU) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in die- sem Bereich auf ein Viertel der Anfangsausgaben redu- Wir plädieren deshalb für eine unabhängige, exakte ziert. und zeitnahe Kalkulation und Anpassung dieser Pau- schalen und für eine bessere Vernetzung der Kranken- (Detlef Parr [FDP]: Hört! Hört! Kein häuser mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Wunder!) Wir brauchen für die Aufgabe der Organspende einen 15532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Annette Widmann-Mauz (A) konkreten Ansprechpartner in jedem Krankenhaus mit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) Intensivbetten. Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- rin Marion Caspers-Merk. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD]) Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Wichtig für die Akzeptanz der Organspende Bundesministerin ist für Gesundheit und Soziale Sicherung: schließlich, dass keine Regelungslücken bestehen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zum Schutz der Organempfänger alle notwendigen Es ist eine gute Sache, dass wir heute hier anlässlich Vorkehrungen getroffen sind. Der Fall der tollwutinfi- einer Großen Anfrage der Opposition über das Thema zierten Organspenderin ist bislang ein einzigartiges Er- Organspende diskutieren; denn es ist in der Tat so: Or- eignis und wird es hoffentlich auch bleiben. Aber er gibt ganspende schenkt Leben. Das ist auch der Titel der In- uns allen Gelegenheit, noch einmal aufmerksam die be- formationskampagne der Bundeszentrale für gesundheit- stehenden Regelungen zu überprüfen und Regelungslü- liche Aufklärung, BZgA. Wer sich zur Organspende cken auszumachen. bereit erklärt, gibt anderen Menschen die Chance auf mehr Lebensqualität, manchmal sogar die Chance auf Eine Regelungslücke springt dabei deutlich ins Auge: ein zweites Leben. Deswegen sollte man dieses Thema Sieben Jahre nach In-Kraft-Treten des Transplantations- auch mit dem gebotenen Ernst behandeln, liebe Kollegin gesetzes steht noch immer die Richtlinie über die Anfor- Widmann-Mauz; da helfen einseitige Schuldzuweisun- derungen an die im Zusammenhang mit einer Organent- gen nicht. nahme zum Schutz der Organempfänger erforderlichen Maßnahmen aus. Das ist ein Versäumnis der Bundesre- (Beifall bei der SPD – Julia Klöckner [CDU/ gierung, denn diese hätte im Wege der Rechtsaufsicht CSU]: Das war doch sehr ernst!) die Bundesärztekammer schon längst auf die Schließung Sie wissen ja: Es war damals eine gemeinschaftliche dieser Regelungslücke hinweisen müssen. Aktion, das Transplantationsgesetz hier im Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU) Bundestag zu verabschieden. Nach jüngsten Berichten, etwa der „Süddeutschen (Detlef Parr [FDP]: Das ist gut gelungen!) Zeitung“ in der vergangenen Woche, und nach Aussagen Eine gemeinschaftliche Aktion war auch die Informa- aus den Reihen der Bundesärztekammer scheint es auch tionskampagne, die als Anschubhilfe ins Leben gerufen Interessenskollisionen bei der Organentnahme sowie worden ist. Die Organspende genießt in der Bevölkerung bei der Entnahme, Vermittlung und Verwertung von Ge- hohe Akzeptanz. 80 Prozent der Bundesbürger bewer- (B) webe im Bereich der DSO zu geben. Diese Hinweiseten sie positiv. Dennoch stehen zu wenig Spenderorgane (D) müssen wir im Interesse der Akzeptanz der Postmortal- zur Verfügung. Wir wissen, dass im Wesentlichen drei spende sehr ernst nehmen. Wir müssen Interessenskolli- Punkte in Angriff genommen werden müssen, bei denen sionen ausschließen und die Gewebeentnahme klar re- genau geschaut werden muss, welche Ebene welche geln. Sonst leidet die Akzeptanz der Organspende und Aufgabe hat. dies können wir uns nicht leisten. Erstens. Wir haben 1997 das Transplantationsgesetz (Beifall bei der CDU/CSU) in den Deutschen Bundestag eingebracht und auch ge- meinsam verabschiedet. Es hat die Spende, die Ent- Meine Damen, meine Herren, wir alle sind aufgefor- nahme und die Übertragung von Organen auf eine recht- dert, uns zugunsten der Menschen, die auf eine Organ- lich sichere Grundlage gestellt. Entgegen mancher spende warten, zu engagieren. Ganz besonders aufge- Forderung brauchen wir keine Änderung der gesetz- fordert ist die Bundesregierung. Sie muss ihre lichen Grundlagen; denn das Gesetz hat sich bewährt. Aufklärungsarbeit intensivieren. Sie muss Maßnahmen initiieren, um die Meldepflicht in den Krankenhäusern (Beifall bei der SPD) umzusetzen und damit die Zahl der Meldungen tatsäch- Das muss man einmal sagen und das war eine wichtige lich zu erhöhen. Sie muss bestehende Regelungslücken Klarstellung. Zunächst musste an den Gesetzgeber die sofort schließen und aktuelle Entwicklungen, wie ge- Frage gerichtet werden, ob gesetzlicher Handlungs- nannt, sorgfältig verfolgen und gesetzlich begleiten. bedarf besteht. Das ist nichtder Fall. Das hat auch die Dies ist dringend notwendig; – jüngste Expertenanhörung in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ bestätigt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zweitens. Die Stärkung der Spendebereitschaft ist Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit. eine Gemeinschaftsaufgabe. Frau Kollegin Widmann- Mauz, Sie machen es sich da zu einfach. Die Verantwort- lichkeiten ruhen auf mehreren Schultern. Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): – denn die Menschen, die auf ein Organ warten, ha- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Auch auf der ben keine Alternative. Bundesregierung!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Damals ist verabredet worden: Bund, Länder, Kranken- häuser und Ärzte haben hier ihre jeweilige Aufgabe zu (Beifall bei der CDU/CSU) erledigen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15533

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das hat sie geben, dass solche Fälle auch durch noch so große An- (C) gesagt!) strengungen des Gesetzgebers nicht zu verhindern sind. Wir müssen uns also noch einmal zusammensetzen und Dabei gibt es ganz deutliche Unterschiede und Defizite, prüfen, ob die Vernetzung und Kommunikation nicht die wir auch benennen müssen. noch verbessert werden kann. (Beifall bei der SPD) Wir haben prompt reagiert und umfassend informiert. Ich glaube, dass eines ganz wichtig ist: Wenn wir eine Uns geht es darum, dass nicht ein Einzelfall so skandali- Meldepflicht ins Gesetz schreiben, kann es nicht ange- siert wird, dass die Bereitschaft zur Organspende zu- hen, dass 40 Prozent der Krankenhäuser so tun, als gäbe rückgeht. Es besteht eine gemeinsame Verantwortung, es diese Meldepflicht überhaupt nicht. Wer hat da diealles zu tun, dass die Spendenbereitschaft wieder steigt. Rechtsaufsicht? Das ist ch do nicht der Bund. DieDeswegen sollte man diesen Einzelfall nicht dazu benut- Rechts- und Fachaufsicht liegt klar in der Zuständigkeit zen, die Organspende zu diskreditieren. Dass dies nicht der Länder. Deswegen will ich an dieser Stelle noch ein- geschieht, dafür tragen alle Fraktionen im Bundestag mal sagen: Es hat keinen Sinn, wenn wir immer neueeine gemeinsame Verantwortung. Gesetze oder eine Verschärfung der Gesetze fordern, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Detlef Parr [FDP]: Das ist ein guter Satz!) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Kauch [FDP]) solange das Problem bei der Durchsetzung dieser gesetz- lichen Regelungen liegt. Für die Durchsetzung liegt die Der wichtigste Punkt ist,diejenigen Schnittstellen, Verantwortung bei den Ländern. Ich appelliere an dieser die im Moment noch nicht ausreichend funktionieren, zu Stelle, diese Verantwortung auch wahrzunehmen. benennen und diesbezüglich für Abhilfe zu sorgen. Ich habe eben schon das Thema Meldepflicht der Ärzte an- (Beifall bei der SPD) gesprochen. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, die Wir brauchen drittens mehr Öffentlichkeit für dieses Kooperation der jeweiligen Kliniken untereinander Thema. Information und Aufklärung sind Vorausset- neu zu organisieren. Die Berichterstattung in den Me- zungen für eine höhere Bereitschaft zur Organspende. dien zeigte, dass die Kooperation zwischen den Kliniken Wir als Bundesregierung haben hier unsere Hausaufga- teilweise nicht richtig und ausreichend funktioniert. Bei- ben gemacht. Seit 1998 wurden bei der Bundeszentrale spielsweise sind Twinning-Projekte im europäischen für gesundheitliche Aufklärung circa 6 Millionen Euro Ausland dadurch bedroht, dass alles zentral organisiert zur Förderung der Bereitschaft zur Organspende ausge- wird. Wir müssen genau hinschauen, ob nicht sinnvolle Initiativen durch eine falsch verstandene Zentralisierung (B) geben. Die Tatsache, dass am Anfang einer Kampagne, (D) wenn sie erst ins Werk gesetzt wird, mehr Geld investiert verhindert werden. Wir sind aufgefordert, dies gemein- werden muss, als wenn die Kampagne bereits läuft, ge- sam zu tun. gen die Bundesregierung zu wenden, ist nicht nur billig, (Beifall bei der SPD) sondern führt auch in der Sache nicht weiter. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Staatssekretärin, denken Sie bitte an die Rede- Das Angebot der BZgA reicht von Informationsbro- zeit. schüren über Angebote im Internet bis hin zu einem ge- bührenfreien Informationstelefon, das zunehmend in Anspruch genommen wird. Dieses Angebot wird ge- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der meinsam von der BZgA und der Deutschen Stiftung Or- Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: gantransplantation bereitgestellt. Demjenigen, der Rat Sehr gerne, Frau Präsidentin. im persönlichen Gespräch sucht, stehen also qualifizierte Ich möchte abschließend eine Hoffnung und eine Expertinnen und Experten Rede und Antwort. Für Infor- Bitte äußern. Wir nehmen dieses Thema ernst. Deswe- mation und Aufklärung stehen auch in Zukunft ausrei- gen bin ich über die Große Anfrage froh. Sie gibt uns chend Gelder zur Verfügung, weil die Bundesregierung Gelegenheit, dieses wichtige Thema öffentlich zu disku- dieses Thema ernst nimmt und auch gerade angesichts tieren. Ich appelliere aber auch an Sie: Helfen Sie mit, des Tollwutfalles und der dadurch ausgelösten öffent- einseitige Schuldzuweisungen zu verhindern! Bund, lichen Debatte alles dafür tun will, dass die Spenden- Länder und Kliniken müssen gemeinsam etwas dafür bereitschaft nicht zurückgeht. tun, dass man mit Organspenden auch weiterhin Leben (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schenken kann. Wir haben auf diesen Fall umgehend reagiert. Sie Vielen Dank. wissen, dass wir im Ausschuss berichtet haben und dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heute Nachmittag in unserem Hause ein Experten- DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz gespräch stattfindet. Es soll nochmals überprüft werden, [CDU/CSU]: Kein Wort zur Richtlinie!) ob es hier Regelungslücken gab oder ob der Grund für das Auftreten dieses Falles in mangelnder Zusammenar- beit und nicht ausreichender Information lag. Eine erste Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Auswertung der Expertengespräche in Hannover hat er- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr. 15534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Detlef Parr (FDP): (Beifall bei der FDP) (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Derzeit warten zwischen 12 000 und 13 000 Patientinnen und Die Bereitschaft der Bevölkerung, einen Ausweis zu Patienten auf ein Spenderorgan und, Frau Staatssekretä- tragen, muss gesteigert werden. Es muss aber auch die rin, auf die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwor- Zahl der Krankenhäuser erhöht werden, die sich an der tung. Die durchschnittliche Wartezeit beispielsweise auf Suche nach geeigneten Organspendern beteiligen. Im die Transplantation einer Niere beträgt etwa fünf Jahre. Bundesdurchschnitt lag – das ist vorhin schon gesagt Das Warten auf ein Herz oder auf eine Leber ist meistens worden – der Beteiligungsgrad der Krankenhäuser mit ein Wettlauf mit der Zeit, den viele Patienten nicht mehr Intensivstationen im Jahre 2001 bei ganzen 44 Prozent. gewinnen. Bezogen auf die Einwohnerzahl werden in Dabei gibt es zwischen den Bundesländern große Unter- Deutschland, besonders in Nordrhein-Westfalen, weit schiede, obwohl das Transplantationsgesetz die Pflicht weniger Organe transplantiert als in den meisten unserer zur Meldung beinhaltet. Die Antwort der Bundesregie- Nachbarstaaten. rung auf die Große Anfrage der Union lässt dieses Pro- blem ebenfalls ungeklärt. Aufklärung und sensibler Um- Kein anderer medizinischer Bereich ist so abhängig gang mit diesen Fragen sind an dieser Stelle besser als von der Mitwirkung der Bevölkerung wie die Organ-Zwangsmechanismen. Auch die geschaffenen finanziel- spende. Wäre die erklärte Bereitschaft zur Spende solen Anreize für die Krankenhäuser sind – das hat die An- groß wie die verbale Akzeptanz, hätten wir keine Eng- hörung in der Enquete-Kommission gezeigt – nicht maß- pässe. Denn nach wie vor gibt es eine große Kluft zwi- geblich für eine erhöhte Beteiligung. schen der prinzipiellen Bereitschaft zu einer Organ- spende und dem Schritt zu einer schriftlichen Fixierung. Die Bundesländer gehen auf Grundlage ihrer Ausfüh- rungsbestimmungen sehr unterschiedlich mit der Umset- Nur 5,2 Prozent aller postmortalen Organentnahmen zung des Transplantationsgesetzes um. Wir brauchen erfolgten aufgrund eines Organspendeausweises. Münd- eine intensive Aufklärung von Klinikpersonal und lich bekundeter Wille und der von Angehörigen festge- Bevölkerung. Ärzte und Pflegekräfte sollten speziell stellte mutmaßliche Wille der Verstorbenen sind die Mehrheit: 67 Prozent der Bevölkerung gaben bei einer fortgebildet werden, um sensibilisiert und in der Lage zu Umfrage ihre ausdrückliche Akzeptanz an, als Organ- sein, im entscheidenden Fall mit den Angehörigen die spender zur Verfügung zu stehen. Doch nur bei 54 Pro- notwendigen einfühlsamen Gespräche zu führen. Die zent aller potenziellen Organspender konnten OrganeBundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung leistet entnommen werden. Durch die Angehörigen kam es oft auf diesem Gebiet schon wertvolle Arbeit. Deshalb bin zu einer Ablehnung. Sie stehen unter dem starken psy- ich über die hohen Kürzungen der Mittel schockiert. chischen Druck, den mutmaßlichen Willen des Verstor- Richtigerweise sollte die Arbeit der BZgA konsequent (B) (D) benen festzustellen. Deshalb stellt sich die Frage: Wird gestärkt werden. Wir brauchen eine konzertierte Aktion innerhalb der bestehenden rechtlichen Möglichkeitenvon Bund, Ländern, Krankenhäusern und Krankenkas- wirklich alles Erdenkliche getan? sen. Durch massive Aufklärung der Bevölkerung und (Beifall bei der FDP) durch Thematisierung in der Gesellschaft muss die Zahl derjenigen erhöht werden, die ihre Einstellung zur Or- Eine abschließende Bemerkung. Heute wurde der ganspende schriftlich oder zumindest mündlich klar äu- Zwischenbericht zur Organlebendspende der Enquete- ßern. So kann Angehörigen diese schwere Entscheidung Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ abgenommen werden. Organspendeausweise sollten dem Bundestagspräsidenten überreicht. Darin hat die verstärkt mit ausführlichen und sensibilisierenden Infor- Mehrheit der Mitglieder verhalten signalisiert, dass die mationen für die Bevölkerung leicht zugänglich bereit- Möglichkeiten, die sich durch eine vorsichtige Öffnung liegen. Bankfilialen, Postschalter und Ämter bieten sich der Regeln zur Organlebendspende ergeben, besser aus- insofern an. Wir Abgeordnete sollten mit gutem Beispiel geschöpft werden könnten. vorangehen und einen Organspendeausweis ausfüllen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie zum Schließlich ist er so klein,dass er in jede Brieftasche Schluss nachdrücklich bitten: Gehen Sie diesen Schritt passt. Wir sollten diese Fragen in unseren Wahlkreisen mutiger mit! Heben Sie die Nachrangigkeit der Le- öffentlich diskutieren; denn Ängste müssen abgebaut bendspende gegenüber der postmortalen Spende auf! werden. Das gelingt nur durch eine offene Auseinander- Lassen Sie Überkreuzspenden zu! Das ist im Sinne vie- setzung mit diesen Fragen. ler Betroffener. Ihnen sollten wir verpflichtet sein; sie (Beifall bei der FDP) würden es uns danken. Ich glaube nicht, dass die Gefahr des Organhandels größer wird, wenn die entsprechenden Wichtig ist, dass es bei derZustimmungslösung Rahmenbedingungen stimmen, wenn also zum Beispiel bleibt. Jeder Mensch muss das Recht haben, sich nach eine Ethikkommission vorher ihre Zustimmung zu ei- Auseinandersetzung mit der Thematik bewusst für oder nem solchen Schritt geben muss. auch gegen eine Bereitschaft zur Organspende zu ent- scheiden. Er muss sogar die Möglichkeit haben, die (Beifall bei der FDP) Beschäftigung mit dem Thema zu verweigern. Eine Wi- derspruchslösung führt zur Verunsicherung der Bevölke- rung und widerspricht dem Grundsatz der individuellen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Selbstbestimmung. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Selg. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15535

(A) Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zur Organspende vor, entscheiden die Angehörigen. Da (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- nur 12 Prozent einen Organspendeausweis besitzen, ent- ginnen und Kollegen! Ich denke, dieses Thema eignet scheiden in mehr als 80 Prozent die Angehörigen. Jeder sich ebenso wenig wie die Debatte heute Morgen fürkann sich vorstellen, dass Angehörige in einer solchen parteitaktisches Gezänk. Die Bereitschaft zur Organ-Situation überlastet sind undsich im Zweifelsfall eher spende ist in Deutschland gegen eine Organspende entscheiden. Aber brauchen wir deshalb eine Widerspruchsregelung, wie sie in anderen (Detlef Parr [FDP]: Das gilt aber nicht für die europäischen Ländern existiert? letzte Rede!) – nein, nein, Herr Parr, das war schon okay – auf einem (Detlef Parr [FDP]: Nein!) erschreckenden Niveau. Nach meiner Meinung wäre das nicht der richtige Weg. Die Große Anfrage der CDU/CSU zur Förderung der Die Aufklärungsarbeit im Hinblick auf die Organ- Organspende, in der der Eindruck erweckt wird, dass die spende sollte stattdessen verstärkt auf den Hinweis ab- Organspende nicht richtig im TPG, im Transplantations- zielen, dass die Angehörigen stärker entlastet werden gesetz, verankert sei, geht in die falsche Richtung. Ziel können, wenn der Wille des Einzelnen dokumentiert des Transplantationsgesetzes ist es vor allem, eine klare wird. In der Beantwortung der Anfrage der Union durch und sichere Rechtsgrundlage für die Spende und Ent-die Bundesregierung ist allerdings zu lesen, dass wir in nahme menschlicher Organe, Organteile und Gewebe manchen Bereichen ein Umsetzungsproblem haben. Die zum Zwecke der Transplantation zu schaffen. Unter die- gesetzlichen Möglichkeiten sind letztendlich vorhan- ser Prämisse sollten wir das Transplantationsgesetz be- den. Deshalb freut es mich wirklich, dass die 77. Ge- urteilen. Ich denke, es besteht Konsens, dass mit demsundheitsministerkonferenz, also die Gesundheitsminis- Transplantationsgesetz Rechtssicherheit geschaffen ter aller Länder, Handlungsbedarf erkannt hat. Daher wurde. möchte ich darauf nicht näher eingehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 70 Prozent der Bevölkerung stehen einer Organspende Allerdings möchte ich kurz auf die Organlebendspende positiv gegenüber. Dennoch kam es – darauf weist die eingehen. Ausgangspunkt ist die immer wieder gefor- Union hin und darauf wird auch in der Antwort der Bun- derte Ausweitung der Organlebendspende und die Dis- desregierung hingewiesen – nach Einführung des Trans- krepanz zwischen Angebot und Bedarf. Zu beobachten plantationsgesetzes zu keiner dauerhaften Zunahme der ist, dass die Zahl der Lebendspenden bereits seit Jahren Zahl der postmortalen Organspenden. 12 000 Menschen zunimmt. Heute stammen fast jede fünfte Niere und jede (B) warten im Durchschnitt sechs Jahre lang auf ein Organ. (D) zehnte Leber von einem Lebendspender. Organe und Or- Ich denke, das ist zu lange. Wir sollten dringend etwas ganteile sollten aber nur von Angehörigen und anderen daran ändern. Personen, die einem Spender durch persönliche Verbun- Diese lange Wartezeit hat vielfältige Gründe; denn, denheit offenkundig nahe stehen, gespendet werden. Das wie gesagt, 70 Prozent der Menschen würden spenden. Ziel war es bisher vor allem, unkontrollierten Organhan- Ich glaube, es ist zu kurz gesprungen, einfach noch mehr del zu verhindern. Ich denke, das ist richtig so. Daran Geld für Öffentlichkeitsarbeit zu fordern. Denn die Bun- sollten wir weiter festhalten. desregierung und die Gesundheitsminister aller Länder sind sich darin einig, dass die Zahl der realisierbaren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN postmortalen Spenden in hohem Maße von der Zusam- sowie bei Abgeordneten der SPD) menarbeit zwischen Transplantationszentren und Kran- Ich halte es für wirklich wünschenswert, Vorschläge kenhäusern sowie vom Engagement der Mitarbeiterin- zu einem verbesserten Organaufkommen zu machen. Ich nen und Mitarbeiter abhängt. 2003 engagierten sichwünsche mir, dass wir hier gemeinsam, und zwar partei- beispielsweise nur etwa 40 Prozent der bundesweit circa übergreifend, zu einem Konsens kommen. Ich glaube, 1 400 Krankenhäuser mit Intensivstationen für die Ge- Aufklärung ist dringend notwendig. Aber dies kann meinschaftsaufgabe „Organspende“. Man muss sehr ge- nicht nur durch mehr Geld und nicht nur dadurch geleis- nau hinschauen; denn diesen Wert drücken vor allem die tet werden, dass wir die Zahl der Spenderausweise erhö- Häuser der Grund- und Regelversorgung. Häuser derhen. Maximalversorgung engagieren sich zu mehr als 90 Prozent. Wie schon gesagt, jeden von uns kann es treffen, dass er zum Organspender wird. Es kann aber auch jeden tref- Ein wesentlicher Grund für die geringere Zahl an Or- fen, dass er unverhofft in die Situation gerät, der Frage ganspenden liegt in der Inzidenz der Todesfälle nachnach einer Organspende durch einen Angehörigen ge- akuter Hirnschädigung. Diese Todesfälle treten sehr häu- genüberzustehen. Hier gilt es, sich zu Lebzeiten mit dem fig bei Straßenunfällen auf. In der Anhörung der En-Tod auseinander zu setzen und mit den Angehörigen da- quete-Kommission zur Organspende wurde ein weiterer rüber zu reden. Grund dafür genannt, dass sehr viel weniger Organe ge- spendet werden, als dies eigentlich möglich wäre. Wir Wir sollten versuchen, parteiübergreifend – wir tref- haben in Deutschland dieerweiterte Zustimmungsre- fen uns heute Nachmittag im Ministerium – zu einer Lö- gelung im Transplantationsgesetz verankert. Das heißt: sung zu kommen. Bei einem so wichtigen Thema sollte Liegt keine ausdrückliche Entscheidung des Betroffenen wie auch heute Morgen in der Arbeitslosendebatte die 15536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Petra Selg (A) Parteitaktik im Interesse der betroffenen Menschen au- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles (C) ßen vor bleiben. falsch, was Sie da erzählen!) Vielen Dank. Als 1998 dieses Projekt startete, wurden über 4 Millionen DM zur Verfügung gestellt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Abgeordneten Caspers-Merk? Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Julia Klöckner.

(Beifall bei der CDU/CSU) Julia Klöckner (CDU/CSU): Nein, ich möchte meine Rede ohne Unterbrechung Julia Klöckner (CDU/CSU): halten. Sie hat ja eben geredet und hätte dazu gern etwas Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sagen können. Uns geht es hier überhaupt nicht darum, dieses Thema (Marion Caspers-Merk [SPD]: Sie haben mich parteipolitisch zu instrumentalisieren. Wenn man sich ir- doch gerade gefragt!) gendwo getroffen fühlt, versucht man schnell abzulen- ken. – Ich habe Sie nicht gefragt, ich habe etwas gesagt. Es ist Ihr Problem, wenn Sie nicht zuhören, sondern mit ande- Sie alle zitieren die Enquete-Kommission „Ethik und ren schwätzen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie bei Recht der modernen Medizin“. In ihr sind unter anderem diesem Thema zugehört hätten. Lassen Sie mich meine meine Kolleginnen Voßhoff und Lanzinger, Herr Kol- Rede beenden; nachher können wir gerne darüber reden. lege Rachel und ich Mitglied; wir waren bei den Anhö- rungen dabei. Hören Sie doch mit den Schuldzuweisun- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ein bis- gen auf! schen arrogant!) (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben vorhin erwähnt, dass die Bundeszentrale Es hat doch niemand Schuld zugewiesen!) für gesundheitliche Aufklärung genügend Geld habe. In der Anhörung wurde von der Bundeszentrale für gesund- Wir haben eine Große Anfrage gestellt. Eines fälltheitliche Aufklärung ganz klar gesagt, dass Geld fehle. schon auf, Frau Staatssekretärin: Es ist schon sehr entlar- In den vergangenen Jahren wurde viel Geld gestrichen. vend, dass Sie keinen einzigen Satz über die Rechtsauf- Ich gebe zu, dass für dieInitialzündung im Jahre 1998 (B) sicht Ihres Ministeriums gegenüber der Bundesärzte- mehr Geld gebraucht wurde. Im Jahr 2004 gab es aber(D) kammer bezüglich des Empfängerschutzes gesagt haben. nur noch 540 000 Euro. Mit Verlaub, die Initialzündung (Beifall bei der CDU/CSU) war dann doch etwas anderes. Insofern halten wir es durchaus für erforderlich, hier etwas zu tun. Die Richtlinie steht seit sieben Jahren aus. – Es wäre schön, wenn Sie einmal zuhörten; denn zu diesem (Beifall bei der CDU/CSU) Thema hätten wir uns eine Antwort gewünscht. Es geht Vor knapp einem Jahr haben wir unsere Große An- um Ihre Rechtsaufsicht gegenüber der Bundesärztekam- frage mit 47 Fragen eingebracht. Sie haben neun Monate mer, und zwar nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gebraucht, um sie zu beantworten. Ich erinnere mich gefallen ist. noch an die Debatte anlässlich der Einbringung unserer (Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD] meldet Anfrage. Damals hieß es, dies sei eine Showeinlage der sich zu einer Zwischenfrage) Opposition, die Bundesregierung erstatte regelmäßig Bericht. Ich habe das Protokoll dabei, aus dem hervor- – Herr Wodarg, Sie reden doch nachher noch. Halten Sie geht, was uns alles vorgeworfen wurde. Ich freue mich doch einmal die Luft an! sehr, dass Sie nun gesagt haben, eine solche Anfrage sei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch für die Diskussion sehr wichtig. Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, es Wir fordern nicht, dass das Gesetz geändert wird. Wir gebe ausreichend Gelder für die Bundeszentrale für ge- wollen keine Widerspruchslösung und wir wollen auch sundheitliche Aufklärung. Sie haben auch die DSO und nicht die Subsidiarität auflösen, wie es die FDP verlangt. die Enquete-Kommission genannt. Aber in der Enquete Aber wenn ein Gesetz über Jahre besteht, dann ist es wurde am Montag von der Bundeszentrale für gesund- sehr wichtig, dass man einmal hinterfragt, ob es die Ziele heitliche Aufklärung ganz klar zum Ausdruck gebracht, erreicht hat, die es erreichen sollte. Unserer Meinung dass Gelder fehlten und immer mehr Gelder gestrichen nach kommt das Thema Organspende viel zu wenig in würden. Wir fordern ja nicht einmal mehr Gelder, wie es der öffentlichen Debatte vor. Die Menschen müssten die Kollegin von den Grünen eben gesagt hat. schon in jungen Jahren mit dieser Thematik konfrontiert werden; denn wenn die Angehörigen in einer Schocksi- (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tuation für einen Verstorbenen entscheiden sollen, dann Stimmt nicht!) sind sie zumeist emotional völlig überfordert. Aber wir sollten wenigstens bei den Geldern bleiben, die In diesem Punkt hat uns die Antwort auf unsere bis dato zur Verfügung standen. Große Anfrage enttäuscht. Zwar wurde viel beantwortet; Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15537

Julia Klöckner (A) die Antwort der Bundesregierung ist ja auch ziemlich Damit komme ich zum zweiten Punkt, dem Bund. Ich (C) umfangreich, aber die Masse allein macht es nicht. bin mit meinen 32 Jahren von den drei Krankenkassen, in denen ich bisher Mitglied war, noch nie gefragt wor- Wir vermissen nicht, dass Sie uns wie bei vielen an- den, ob ich Organspenderin bin. Hier müssen wir einmal deren Beantwortungen das Gesetz erklären. Das kennen nachhaken, warum diese nicht nachfragen und dann auf wir auch so. der neuen Gesundheitskarte – wenn sie denn nun endlich (Peter Dreßen [SPD]: Wer weiß! Manchmal kommt – vermerken, ob das Mitglied Organspender ist lest ihr auch nichts!) oder nicht bzw. sich dazu nicht äußern möchte. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt und hier gibt es viele Mög- Es wurde unter einer Unionsregierung verabschiedet. lichkeiten. Auch die Krankenkassen müssen an der Ge- (Klaus Kirschner [SPD]: Nein!) meinschaftsaufgabe Organspende beteiligt werden. – Doch, das war so. Herr Seehofer war damals Minister. Sie schieben alles weg auf die Länderebene. Auch wir Ich glaube, jetzt haben Sie ein kleines Problem. sind verantwortlich. Hier geht es um Leben und Tod und nicht um eine kurze, entspannte Debatte vor dem Wo- (Peter Dreßen [SPD]: Das war eine gemein- chenende. Hier geht es um Menschen, die auf der Warte- same Aktion!) liste stehen und sterben müssen. Insofern kann man auch einmal vom Bund in Richtung Länder schauen und sich Wir bedauern aber sehr, dass Sie nichts aufzeigen,zusammenraufen. womit wir wirklich die Probleme lösen, wo wir ansetzen können. Wir haben beispielsweise nachgefragt, was wir (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mit den Kliniken machen, die einen möglichen Organ- Das hat sie doch gemacht! Die Gesundheitsmi- spender nicht melden. Selbst darauf kam keine Antwort. nisterkonferenz hat sich doch geeinigt!) Bei ganz vielen Anfragen, die wir gestellt haben, weil wir gerne gemeinsam weitergehen wollen, sind Sie mit Es gibt im Bund viel zu tun. Hören Sie auf mit dieser Ihrer Kooperation am Ende. Hier setzt unsere Kritik an. einseitigen Schuldzuweisung. Seien Sie froh, dass die Wir sagen nicht, dass Sie Organspenden verhindern. Das Union das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat. würde auch niemand behaupten. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Es gibt aber zwei wichtige Punkte – auch Sie haben [Salzgitter] [SPD]: So eine Schärfe in der De- vorhin die Anhörung der Enquete-Kommission er- batte! Unfassbar!) wähnt –, bei denen es hakt. Das eine Nadelöhr sind die Krankenhäuser. Wir können noch so viel Aufklärung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) leisten, aber wenn sich nur 40 Prozent der Krankenhäu- Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin(D) ser, welche die Schnittstelle sind, an der Meldung derCaspers-Merk das Wort. potenziellen Organspender, der Hirntoten, beteiligen, (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Marion Caspers-Merk (SPD): Sie tun so, als würden wir irgendetwas Fal- Frau Kollegin Klöckner, weil ich das für ein ernstes sches erzählen!) Thema halte, ist da irgendetwas falsch. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wir auch!) (Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND- möchte ich die Dinge, die falsch sind, nicht stehen las- NIS 90/DIE GRÜNEN) sen. Ich habe vorhin bei der Kollegin Widmann-Mauz nicht reagiert, weil ich es schade finde, dass sie den – Jetzt hören Sie doch einmal zu. Wenn Sie darüber gar Sachverhalt nicht kennt. nicht reden wollen, können wir hier gerne einpacken. Es ist aber doch wichtig, das zu thematisieren. Wir themati- (Zuruf von der CDU/CSU: Da geht Ihr Telefon! Es sieren das in der Enquete-Kommission. geht sicher um Schleswig-Holstein!) (Beifall bei der CDU/CSU – Petra Selg – Ich glaube, Ihr Zwischenruf ist dem Thema nicht ganz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben angemessen. Ich bitte darum, im Zusammenhang vortra- wir auch thematisiert!) gen zu dürfen. Aber wir können doch gemeinsam darüber reden, wie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir das besser hinbekommen können. Sie haben vorhin in Ihrer Rede irrtümlich erwähnt, (Peter Dreßen [SPD]: Das ist kein Thema zum der Bund habe seineAufsichtspflicht gegenüber der Streiten! Das müssen wir gemeinsam lösen Bundesärztekammer verletzt. Frau Kollegin Widmann- können!) Mauz, Sie sind im Fachausschuss und müssten wissen, dass die Bundesärztekammer eine privatrechtliche Ar- Das ist auch ein Thema beitsgemeinschaft in der Rechtsform eines nicht einge- (Peter Dreßen [SPD]: Aber nicht zum tragenen Vereins ist. Sie untersteht weder der Rechts- Streiten!) noch der Fachaufsicht des Bundesgesundheits- und -so- zialministeriums. Dort, wo Sie ein Versäumnis konstru- in der Bundesärztekammer und bei den Krankenkassen. ieren, haben wir gar keine Einwirkungsmöglichkeit. 15538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Marion Caspers-Merk (A) Unsere Einwirkungsmöglichkeit besteht nur in unse- sche Verantwortung, aus der wir Sie auch in einer De-(C) rem Gaststatus, aufgrund dessen wir bitten und drängen, batte zu einer Großen Anfrage nicht entlassen können. die entsprechenden Richtlinien zu erlassen und hier kon- kreter zu werden. Aber konstruieren Sie keine Aufsichts- (Beifall des Abg. Thomas Rachel [CDU/ pflicht, wo keine ist. Ich wollte Sie vorhin nicht korrigie- CSU]) ren, weil es doch ein wenig peinlich ist, wenn man aus Es tut mir schrecklich Leid. Solche Dinge dürfen nicht dem Fachausschuss kommt und nicht weiß, dass wirimmer erst angegangen werden, wenn das Kind in den überhaupt keine Fach- und Rechtsaufsicht haben. Brunnen gefallen ist, sondern müssen kontinuierlich überprüft und bearbeitet werden. Frau Kollegin Klöckner, jetzt bitte ich Sie zuzuhören: Wir haben vorhin ganz klar gesagt, dass es hier keine (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen einfachen Lösungen gibt. Das Entscheidende ist, die [SPD]: Unanständig! – Klaus Kirschner Schnittstellen zu verbessern. Beim Thema Aufklärung [SPD]: Schwarz-Weiß-Malerei!) und Information ist der Bund gefordert. Die Länder sind aber ebenfalls gefordert, genauso wie die Zusammen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: arbeit in den Kliniken. Die Hauptschwachstelle ist, dass 40 Prozent der Kliniken ihrer Meldepflicht nicht nach- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang kommen; Wodarg.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das habe ich Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): doch gesagt!) Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- das habe ich in meiner Rede auch gesagt. legen! Zu dem, was wir in den letzten Minuten gehört haben, kann ich nur sagen, dass vielen von uns im Deut- Ich bitte Sie also herzlich, dieses Thema im Interesse schen Bundestag, als wir das Transplantationsgesetz der Menschen, die auf Organe warten, angemessen zu machten, bewusst war, dass die Bundesärztekammer behandeln. keine Institution ist, für die es irgendeine Fachaufsicht gibt, sondern ein Verein, wie es die Staatssekretärin (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wer macht es sagte. denn? Wer hat es auf die Tagesordnung ge- setzt?) Zu Verträgen gehören immer zwei Partner. Man kann jemanden, auf den man gar keinen Zugriff hat, nicht Deswegen meine ich, die Richtigstellung musste sein. dazu zwingen, Verträge zu machen oder auf Dinge ein- (B) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra Selg zugehen, die überhaupt nicht existieren. Von daher kann (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) man das nur zurückweisen. Wir sollten daraus lernen und in Zukunft die Bundesärztekammer nicht einspan- nen, wo wir doch wissen, dass wir sie nicht beeinflussen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: können, dass es keine Fachaufsicht gibt. Das gilt auch Jetzt stehe ich vor der Frage, wer antwortet: Fraufür andere Gesetze. Diesen Fehler haben wir nicht nur Klöckner oder Frau Widmann-Mauz? – Frau Widmann- einmal gemacht. Mauz. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Kol- lege Wodarg! Halten Sie sich an die eigenen (CDU/CSU): Annette Widmann-Mauz Einlassungen im Ausschuss!) Frau Präsidentin! Frau Kollegin Caspers-Merk! Ich als Mitglied des Fachausschusses und Sie als Mitglied Der Titel Ihrer Großen Anfrage lautet: „Förderung der der Bundesregierung wissen, dass nach § 11 des Trans- Organspende“. Die Bundesregierung hat sie sehr um- plantationsgesetzes das Bundesministerium für Gesund- fangreich beantwortet. Aber wenn Sie ein bisschen bes- heit einen Vertrag zu genehmigen hat. In diesem Vertrag ser aufgepasst hätten, sind auch die Grundlagen für den Schutz der Organemp- (Detlef Parr [FDP]: Ist hier eine Lehrstunde?) fänger bei Organspende zu regeln. In diesem Vertrag wird auf eine nicht bestehende Richtlinie der Bundes- dann hätten Sie wahrgenommen, was die Bundesregie- ärztekammer rekurriert. Wie können Sie einen Vertrag rung in ihrer Verantwortung zu diesem Thema schon al- genehmigen, wenn es die im Gesetz vorgeschriebeneles geleistet hat und welche Informationen sie gegeben Grundlage, nämlich eine Richtlinie, nicht gibt? Dann ist hat. Dann hätten Sie auch die Broschüre des Robert- es Ihre politische Aufgabe, auf die Bundesärztekammer Koch-Instituts zu diesem Thema lesen können und hät- einzuwirken, damit diese Richtlinie erlassen wird. ten die meisten Fragen gar nicht zu stellen brauchen; denn sie waren schon beantwortet. (Beifall bei der CDU/CSU) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Komisch, dass Ich bin jetzt seit sieben Jahren Mitglied dieses Fach- Sie aber nicht antworten konnten! – Detlef ausschusses. Ich habe nichts davon gehört, dass die Bun- Parr [FDP]: Und dafür hat die Bundesregie- desregierung und die sie tragenden Personen dieses Ge- rung neun Monate gebraucht?) spräch mit der Bundesärztekammer gesucht hätten. Vielmehr beschäftigen Sie sich erst jetzt damit, nachdem – Das war lange vor diesem Termin, lange vor der Gro- ein schrecklicher Fall eingetreten ist. Das ist Ihre politi- ßen Anfrage. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15539

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Die BZgA hat im ersten Jahr in der Tat sehr vielrück und es kommt zu solchen Dingen, wie wir sie jetzt (C) finanziert, weil es darum ging, das Transplantationsge- in den Krankenhäusern beobachten. setz umzusetzen und Akzeptanz für dieses Gesetz herzu- Auch beim Pflegepersonal in den Krankenhäusern stellen. Wenn Sie immer das erste Jahr damit verglei- gibt es riesige Konflikte: Stellen Sie sich vor, dass Sie je- chen, was jetzt ausgegeben wird, dann verzerren Sie das manden gepflegt haben, vielleicht als OP-Schwester so- Bild gewaltig. gar dabei gewesen sind, wie jemand operiert wurde, um (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dazu sein Leben zu retten, und nun akzeptieren müssen, dass können wir noch ein paar andere Jahre heran- der Patient irgendwann, meistens nachts, explantiert ziehen!) wird und dass der Patient, dessen Herz noch schlug, der noch ganz normal aussah – wie immer, auch dann noch, Ich möchte aber jetzt auf die Konflikte zu sprechen als die Diagnose „Hirntod“ gestellt wurde –, plötzlich kommen, die wirklich eine große Rolle spielen, wenn es zum Objekt derjenigen wird, die ihm Material entneh- darum geht, ob Menschen ihre Organe spenden wollen men wollen, dass er kalt und blass und richtig tot wird, oder nicht. Dies wird auf verschiedenen Ebenen ent-gewissermaßen ein zweites Mal stirbt. Das ist etwas, was schieden. Ein ganz wichtiger Raum ist das Kranken-nicht leicht zu verdauen ist; das kann man bei Interviews haus, in dem in den meisten Fällen nicht der Patient, der mit Pflegekräften immer wieder sehen. vorab eine schriftliche Willenserklärung hinterlassen hat, entscheidet – das sind nur sehr wenige –, sondern Wir müssen uns nicht nurüber die Organspende un- die Angehörigen, die in dieser schrecklichen Situation terhalten, sondern auch darüber, wie wir es schaffen kön- unter starkem Druck stehen. DieAngehörigen stehen nen, dass weniger Nieren benötigt werden. Wir müssen unter Druck. Sie brauchen Zeit, sie brauchen Raum, sie mehr für Prävention tun. Die Leute nehmen sehr viel brauchen Besinnungszeit. Sie sollten unabhängig infor- Schmerzmittel. Jetzt soll sogar die Werbung für Medika- miert werden. Sie sollten auch über das informiert wer- mente ausgeweitet werden; jedenfalls wollen das eini- den, was ihnen später an Gedanken alles kommenge – ich will das nicht. Es muss darüber aufgeklärt wer- könnte. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, damit sie den, was die Ursachen für Nierenversagen sind. Der ihre Entscheidung später nicht bereuen. Ich denke, das Aufwand, den wir für Organtransplantationen betreiben, geschieht zu wenig. Wenn man die Berichte über dieund der Aufwand, den wir für Prävention betreiben, ste- Vorwürfe liest, die sich Angehörige machen – egal ob sie hen in einem krassen Missverhältnis: Ein Drittel der Nie- so oder so entschieden haben –, dann muss man feststel- ren, die versagen, und damit ein Drittel der Organtrans- len: Hier ist etwas zu tun. Wir müssen den Angehörigen, plantationen, die nötig werden, wären nicht erforderlich, um die Akzeptanz zu verbessern – ob nun für oder gegen wenn wir mehr täten, um Diabetes vernünftig einzustel- eine Organspende –, diesen Raum schaffen. len, um Bluthochdruckerkrankungen vernünftig zu be- (B) handeln und um den Arzneimittelabusus, der zu Nieren- (D) Wir haben auch bei den Ärzten in den Krankenhäu- schäden führt, zu verringern. sern Konflikte: Der Arzt, der normalerweise für den (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) Patienten da ist, ihm helfen will, ihn retten will, hat es schwer, plötzlich in eine andere Rolle zu schlüpfen –Ich denke, das sollten wir beim Präventionsgesetz ge- „den Schalter umzulegen“, wie das in der Anhörungnauso berücksichtigen wie bei der Diskussion zur Neure- hieß. Musste er eben noch alles dafür tun, um den Pa- gelung der Organspende. tienten zu retten, soll er jetzt plötzlich daran denken, Vielen Dank. dass man Teile des Patienten brauchen kann, um jemand anderem zu helfen. Das ist eine völlig andere Aufgabe. (Beifall bei der SPD) Dieser Konflikt ist – das kann ich als Arzt sagen – kaum zu lösen. Ich denke, wir müssen es auch respektieren, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wenn in einigen Krankenhäusern Ärzte davor zurück- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara schrecken. Lanzinger. Nur weil der Deutsche Bundestag mit Zweidrittel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mehrheit beschlossen hat, dass die Organspende auf eine bestimmte Art und Weise geregelt wird, ist damit das Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Gewissen der Ärzte noch keineswegs beruhigt. Es gibt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- weiterhin Bedenken. Das Konstrukt des Hirntodes ist legen! Ich freue mich, dass wir dank dieser Großen An- – wie es in der Anhörung der Anästhesist Professor frage heute im Plenum über Organspende debattieren Briegel formuliert hat und wie es auch der Transplanta- können. Auch ich denke, dass die Öffentlichkeitsarbeit tionsmediziner selbst sagt – widersprüchlich. Die Kon- ein ganz wichtiger Punkt ist, um die Aufklärung, die wir flikte, die mit dieser gesetzlichen Festlegung verbunden über dieses Thema brauchen, zu erreichen. Diese Große sind, beschäftigen immer noch die Köpfe der Menschen. Anfrage hat gezeigt, dass das Transplantationsgesetz zu Damit müssen wir ehrlich umgehen. Wenn wir das nicht einem hohen Maß an Rechtssicherheit geführt hat und tun und wie die Transplantationsmediziner immer wie- eine unverzichtbare Grundlage für die Vertrauensbildung der sagen: „Das ist jetzt gesetzlich geregelt; damit wol- der Bevölkerung bei den Themen Organspende und len wir nichts mehr zu tun haben; das muss jetzt so ak- Transplantation ist. zeptiert werden“, verdrängen wir diese Konflikte, anstatt Akzeptanz zu schaffen. Dann ziehen sich Menschen zu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 15540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Barbara Lanzinger (A) Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass ein wesentli- das auch in der Großen Anfrage deutlich wird. So haben (C) ches Ziel, das mit dem Gesetz verfolgt wird, nämlich die einige Länder die Krankenhäuser mit Intensivbetten Erhöhung der Anzahl postmortaler Spenden, nicht, wie durch ihre Ausführungsgesetze zum Transplantationsge- ursprünglich sicherlich gehofft, erreicht wurde. Ich frage setz dazu verpflichtet, Transplantationsbeauftragte zu mich: Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht, weil wir bestellen. Das zeigt deutlich, dass dies vorteilhaft ist. ein Stück weit zu wenig darüber sprechen – das ist heute Dies sind in der Regel und sinnvollerweise – wie bei mir Gott sei Dank schon ein paar Mal angeklungen –, dass zu Hause in Amberg – Oberärzte der Intensivklinik oder dies kein abstraktes Gesetz ist, über dessen Auswirkun- auch der Anästhesie. Diese sagen mir: Die Ärzte brau- gen und Umsetzungen wir nachdenken müssen, sondern chen das Bewusstsein für die Organspende und den Wil- ein Gesetz, welches ganz elementare Schicksale vonlen sowie die Bereitschaft, mit den Angehörigen zu re- Menschen berührt. Es geht um die Schicksale Sterben- den. der, die oft mitten aus dem Leben gerissen wurden, trau- Der Organspendeausweis allein hilft sicherlich nicht riger und zum Teil unter Schock stehender Angehöriger, über die psychologisch schwere Aufgabe hinweg, bangender und hoffender Schwerstkranker sowie deren Angehöriger. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau!) Die Werbung für mehr Organspenden bedarf deshalb zu erklären, dass ein hirntoter Mensch zwar den Ein- einer überaus großen Sensibilität sowie einer frühzeiti- druck erwecken kann, noch zu leben – Kollege Wodarg gen, behutsamen und beständigen Aufklärung. Es geht hat es vorhin gesagt –, seine Organe jetzt jedoch einem um die Aufklärung, Schulung und Bewusstmachung vor anderen Menschen das Leben retten könnten. Es ist ein allem der jungen Menschen, des medizinischen Pflege- ungeheures Spannungsfeld. Die Angst vor dieser Ge- personals, der Ärzte – es wurde schon angesprochen – sprächssituation ist sicherlich mit ein Grund dafür, dass und der Bürgerinnen und Bürger, dass die Bereitschaft das Meldeverhalten in den Kliniken vielfach nicht so ist, zur Organspende nach dem eigenen unausweichlichen wie es sein sollte. Tod bedeutet, das Leben und die Lebensqualität eines (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) anderen Menschen zu verbessern oder das Leben sogar retten zu können. Ein ganz wesentlicher Grund ist aber auch der bürokrati- sche und finanzielle Aufwand, weil es für eine Klinik Dass unsere Gesellschaft zu wenig darüber aufgeklärt ungeheuer viel bedeutet, einen Organspender am Leben ist, was ein Ja zur Organspende heißt, zeigt die einerseits zu erhalten. generell hohe Zustimmung zur Organspende und die an- dererseits enttäuschende Zahl derer, die tatsächlich einen (Beifall bei der CDU/CSU) Ausweis bei sich tragen; auch das wurde schon erwähnt. (B) Seit Januar 2004 gibt es folgende neue Regelung, die (D) Es gilt, diese Diskrepanz zu überwinden. Ich bedanke sehr zu begrüßen ist: Den Krankenhäusern wird jede Be- mich für diese Anfrage; denn sie zeigt sehr deutlich, dass mühung um eine Organspende vergütet, auch wenn die einige Bundesländer hier einen sehr guten und richtigen Organe nicht übertragbar sind oder die Angehörigen Weg gegangen sind, zum Beispiel Niedersachsen und nicht zustimmen. So wird in Bayern der Transplanta- Bayern. In ihnen wurde das Thema Organspende bereits tionsbeauftragte für jede Beratung entlohnt, nicht nur bei fest im Unterricht verankert. Ich würde mir das auch in erfolgreicher Transplantation. Dies schafft Anreize für anderen Bundesländern wünschen. Aufklärung. Daran könnten sich auch andere Bundeslän- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Detlef der orientieren. Parr [FDP]: Vorbildlich!) (Beifall bei der CDU/CSU) Auch die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung Zum Schluss ein mir sehr wichtiger Punkt. Letzte Organtransplantation erfolgte Einladung der Schülerin- Woche diskutierten wir hier im Plenum die Patientenver- nen und Schüler sowie der Lehrer in Bayern in das fügung, eine Vorausverfügung, die für den Fall der Transplantationszentrum Großhadern ist ein richtiger Nichteinwilligungsfähigkeit festlegt, dass der Betroffene und ganz wichtiger Weg, den es auch in anderen Bundes- in bestimmten Situationen nicht unnötig am Leben erhal- ländern fortzusetzen gilt. ten werden muss. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Vorbildlich! – Detlef Parr [FDP]: Schade, dass Herr Stoiber Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schon weg ist!) Frau Kollegin, Sie können jetzt nur noch einen kurzen Es gilt in der Tat auch – das sage ich ganz bewusstSchlusssatz anfügen. und ich weiß, dass das sicherlich umstritten ist –, darüber nachzudenken, die Zustimmung zur und vielleicht sogar Barbara Lanzinger (CDU/CSU): auch die Ablehnung der Organspende in ein offizielles Unterhalten wir uns mit den Menschen über die Or- Dokument aufzunehmen. So wäre jeder Einzelne ver- ganspende, stellen wir häufig die genau umgekehrte pflichtet, sich zumindest einmal in seinem Leben mitAngst fest. Das ist eigentlich paradox. Diesen Widersinn dem Thema Organspende und damit auch mit seinermüssen wir aufheben. Wir müssen die Ängste und Nöte Endlichkeit auseinander zu setzen. der Menschen ernst nehmen. Ein weiteres Augenmerk bei der Aufklärung und Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig, zu vermit- Information muss auf die Kliniken gerichtet sein, wieteln, dass es um Lebensrettung und den Lebenserhalt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15541

Barbara Lanzinger (A) geht, eine Hilfe, die jeder von uns vielleicht einmal Aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große (C) braucht. Anfrage kann man erkennen, dass die unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen für die Organentnahme, Danke schön. Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung – auch (Beifall bei der CDU/CSU) das muss man einmal sehen –, kaum Einfluss auf die Zahl der Transplantationen haben. So weist zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern – ich nehme dieses Beispiel, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: weil es den Unterschied deutlich macht – eine höhere Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner. Anzahl an Organspendern je Million Einwohner auf als (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: beispielsweise Belgien, wo die Widerspruchsregelung Würden Sie noch bekannt geben, dass Frau gilt. Simonis gescheitert ist? – Gegenrufe von der Lassen Sie mich eine Bemerkung zu denLebend- SPD: Nein, sie ist nicht gescheitert!) organspenden machen. Dazu möchte ich anführen, dass – Ich denke, wir führen jetzt die Debatte zu diesem Ta- ich die entschiedene Ablehnung jeglicher Anreizsysteme gesordnungspunkt zu Ende. Danach können wir allessowie eines regulierten Organhandels durch die Mehr- Mögliche besprechen. heit in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ – das ist meine Meinung – für rich- tig halte. Klaus Kirschner (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des sind wir bei der Großen Anfrage und der Antwort der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU CSU und der FDP) zum Transplantationsgesetz. Die Enquete-Kommission empfiehlt, bei der Le- (Detlef Parr [FDP]: Wenn man Rot-Grün wieder- bendspende keine finanziellen Anreize zuzulassen und beleben will, ist das manchmal schwierig!) darüber hinaus den Handel mit Organen weiterhin zu verbieten und unter Strafe zu stellen. Ich möchte eine Bemerkung zu Ihnen machen, Frau Kollegin Klöckner. Das Transplantationsgesetz – das (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg können Sie den Kollegen Seehofer fragen – geht nicht [SPD]) auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurück. Ich halte auch die Auffassung des Präsidenten der (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!) Bundesärztekammer – das ist keine Körperschaft des öf- (B) fentlichen Rechts –, Herrn Professor Hoppe, für richtig, (D) Es lagen damals drei Entwürfe vor. Obwohl die Meinun- der sich in einem Interview gegen jede Ausweitung der gen damals quer durch alle Fraktionen gingen, haben wir Lebendorganspende ausgesprochen hat. Diese sollten die 1997 mehrheitlich ein Gesetz beschlossen. Ich kann Ih- absolute Ausnahme bleiben. Ebenso gebe ich Herrn Pro- nen nur eines sagen: Dieses Gesetz hat sich bewährt. Es fessor Hoppe Recht, wenn er dazu aufruft, der Gesell- hat eine bundeseinheitliche Grundlage für Spende, Ent- schaft noch stärker die Sinnhaftigkeit der Organspende nahme und Übertragung von Organen geschaffen, damit zu vermitteln. schwerst- und todkranken Menschen geholfen werden kann. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir dieses Die Antwort der Bundesregierung belegt auch, dass Thema zum Gegenstand von Parteienstreit machen; da- mit einer kontinuierlichen, umfassenden und sachlichen für eignet es sich nämlich nicht, das kann auf anderen Aufklärung der Bevölkerung ein wesentlicher Beitrag Feldern geschehen. zur Erhöhung der Organspendenbereitschaft geleistet werden kann. Hier sind vor allem die Länder, die Kran- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kenhäuser – die Krankenhäuser haben die Meldepflicht; das muss man immer wieder sagen – und die Kranken- Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.kassen gefordert. Das belegt die Antwort auf Ihre Große Mit dem Transplantationsgesetz – deshalb haben wir es Anfrage. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- auch beschlossen – wurde ein hohes Maß an Rechtssi- klärung hat bisher ihren Beitrag geleistet und wird dies cherheit geschaffen. Das gilt sowohl für die Spender und auch weiterhin im Rahmen der Kampagne „Organ- deren Angehörige als auch für die Empfänger und die spende schenkt Leben“ tun. behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Die damals getrof- fene Entscheidung zur erweiterten Zustimmungs- Frau Kollegin Widmann-Mauz und Herr Kollege lösung, nach der die Organentnahme nur in BetrachtParr, eines ist aber auch klar: Man kann nicht auf der ei- kommt, wenn zuvor der Tod des Organspenders festge- nen Seite die Parole „Sparen, sparen, sparen“ ausgeben stellt ist und der Verstorbene zu Lebzeiten eingewilligt – das gilt generell und auch für den Haushalt des Bundes- hat oder – wenn keine Erklärung des Verstorbenen be- ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung –, kannt ist – die gesetzlich bestimmten nächsten Angehö- auf der anderen Seite aber Mehrausgaben fordern. Das rigen zustimmen, hat sich als richtig erwiesen. Dies kann passt einfach nicht zusammen. Man kann nicht selektiv man nach fast acht Jahren seit In-Kraft-Treten des Geset- sagen, dass man an der einen Stelle nicht sparen will, ge- zes als Bilanz ziehen. nerell aber schon. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 15542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Klaus Kirschner (A) In diesem sensiblen Bereich der Organspende und Or- mensetzung für einen verbesserten Menschen- (C) gantransplantation werden Sie keinen Blumentopf ge- rechtsschutz winnen. Dieses Thema eignet sich nicht für die partei- politische Auseinandersetzung. – Drucksache 15/5118 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hermann Gröhe, Holger Haibach, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich will Sie an etwas erinnern, bei dem Sie genauso tion der CDU/CSU die Möglichkeit haben, Einfluss zu nehmen, wie wir das tun werden. Die 77. Gesundheitsministerkonferenz der Die 61. Tagung der VN-Menschenrechtskom- Länder hat in einem Beschluss vom 18. Juni 2004 fest- mission als Chance zur Reform – Mehr Enga- gestellt, dass die Verbesserung der Organspendesituation gement für Menschenrechte weltweit eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern, GKV und PKV ist. Als wesentlichen Beitrag zur Steigerung – Drucksache 15/5098– der Zahl der Organspenden hat dieGesundheitsminis- terkonferenz in diesem Beschluss eine engagierte Mit- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wirkung an der Organspende durch die Krankenhäuser richts des Ausschusses für Menschenrechte und sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu der Unter- Transplantationszentren und den anderen Krankenhäu- richtung durch die Bundesregierung sern identifiziert. Die Länder sind hier gefordert – diese EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechts- nämlich sind für die Krankenhäuser zuständig –, für die lage Umsetzung des Transplantationsgesetzes alles Notwen- dige zu veranlassen. Das ist eine schwierige Situation für Ratsdok. 11922/1/04 REV 1 das Personal. Das wissen wir alle. Wenn man aber mehr Organspenden für notwendig erachtet, dann bietet das – Drucksachen 15/4001 Nr. 1.1, 15/4757 – Gesetz die Chancen dazu. Auf der anderen Seite aber sind die Länder – das möchte ich noch einmal sagen – Berichterstattung: die Aufsichtsorgane für die Krankenhäuser. Sie haben Abgeordnete Christoph Strässer dafür zu sorgen, dass die Meldepflicht, die dezidiert im Holger Haibach Gesetz steht, entsprechend wahrgenommen wird. Thilo Hoppe Rainer Funke Organspende und -transplantation sind in vielen Fäl- (B) len die einzige und letzte Möglichkeit, Leben zu erhal- d) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-(D) ten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in schusses für Menschenrechte und Humanitäre diesem Sinne sachlich, aber mit Empathie für die Betrof- Hilfe (16. Ausschuss) fenen darauf hinarbeiten, dass erkannte Defizite – das – zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig, zeigt die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, wei- Anfrage – ausgeräumt werden können und die Zahl der terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Organtransplantationen gesteigert werden kann. sowie der Abgeordneten Christa Nickels, Ich bedanke mich. Volker Beck (Köln), Thilo Hoppe, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN) Nepal – Menschenrechte schützen und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gewalt beenden Ich schließe die Aussprache. Eine Abstimmung ist – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, nicht vorgesehen, weil es um die Beantwortung einer Ulrich Heinrich, Daniel Bahr (Münster), weite- Großen Anfrage ging. rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich möchte all denen, die es noch nicht mitbekommen Einhaltung der Menschenrechte in Nepal haben, sagen, dass in Schleswig-Holstein bei der Wahl der Ministerpräsidentin bzw. des Ministerpräsidenten – Drucksachen 15/4397, 15/3231, 15/4899 – eine Stimmengleichheit von 34 zu 34 herrscht, also nie- mand gewählt worden ist. Der Ältestenrat des Landtags Berichterstattung: von Schleswig-Holstein ist zusammengetreten, um zu Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim) beraten, wie man weiter verfährt. Rainer Eppelmann Thilo Hoppe Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 h auf: Rainer Funke a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Menschenrechte und 61. Tagung der Menschenrechtskommission Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Vereinten Nationen – Reform und Nor- der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15543

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst(C) und der Fraktion der FDP die Abgeordnete Bärbel Kofler. Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Eu- ropäischen Menschenrechtskonvention Dr. Bärbel Kofler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- – Drucksachen 15/4405, 15/4898 – gen! Der diesjährige Antrag der Regierungskoalition zur Berichterstattung: 61. Menschenrechtskonferenz in Genf konzentriert sich Abgeordnete Christa Nickels auf zwei Themen: zum einen auf die Reform der Men- Christoph Strässer schenrechtskommission der Vereinten Nationen, zum Hermann Gröhe anderen auf die Verantwortung multinationaler Unter- Rainer Funke nehmen bei der Wahrung und Durchsetzung von Men- schenrechten. f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beide Themen sind für den Menschenrechtsschutz richts des Ausschusses für Menschenrechte und von grundlegender und zukunftsweisender Bedeutung. Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag Es gilt jetzt, die richtigen Weichen zu stellen, damit wir der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer im Zusammenwachsen der Welt die Menschenrechte ef- Funke, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord- fektiv gewährleisten können. neter und der Fraktion der FDP Gerade die Reformvorschläge der Hochrangigen Menschenrechte in der Volksrepublik China Gruppe für Bedrohung, Herausforderung und Wandel einfordern sind wegweisend für eine Neuorientierung der Men- – Drucksachen 15/4402, 15/4953 – schenrechtskommission der Vereinten Nationen. Alle Reformansätze, die wir in unserem Antrag unterstützen, Berichterstattung: haben ein gemeinsames Ziel: die Menschenrechtskom- Abgeordnete Volker Neumann (Bramsche) mission in ihrer inhaltlichen Arbeit zu stärken und dem Hermann Gröhe Menschenrechtsschutz vor anderen politischen Interes- Thilo Hoppe sen der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen. Rainer Funke Um dies zu erreichen, unterstützen wir insbesondere g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- den Vorschlag der Hochrangigen Gruppe, die Menschen- richts des Ausschusses für Menschenrechte und rechtskommission von den bisher 53 Mitgliedstaaten auf Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag eine universelle Mitgliedschaft aller Staaten der UN zu (D) (B) der Abgeordneten Holger Haibach, Dr. Martina erweitern. Eine universelle Mitgliedschaft führt zu einer Krogmann, Melanie Oßwald, weiterer Abgeord- stärkeren Legitimität der Kommission. Gleichzeitig ent- neter und der Fraktion der CDU/CSU zieht sie den politischen Auseinandersetzungen über die Presse- und Meinungsfreiheit im InternetZusammensetzung der Menschenrechtskommission den weltweit durchsetzen – Journalisten, Men-Boden. Nur eine universelle Mitgliedschaft führt zu ei- schenrechtsverteidiger und private Internet- ner universellen Akzeptanz. Eine Mitgliedschaft von nutzer besser schützen Konditionen abhängig zu machen ist nicht hilfreich. Eine Aufspaltung in gute und weniger gute Staaten wird – Drucksachen 15/3709, 15/5040 – den Menschenrechtsschutz nicht beflügeln. Berichterstattung: Die Universalmitgliedschaft ist ein wichtiger Schritt, Abgeordnete Christa Nickels um die Menschenrechtskommission in ihrer politischen Christoph Strässer Rolle aufzuwerten. Man kann einwenden, dass Entschei- Holger Haibach dungsprozesse einer universell besetzten Menschen- Rainer Funke rechtskommission langwieriger sein werden als bisher. Eine universelle Kommission kann sich aber verstärkt h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer auf Sachfragen konzentrieren. Die Einbeziehung von Funke, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), Nichtregierungsorganisationen in die Arbeit der Kom- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP mission wird dabei auch in Zukunft unerlässlich sein. Für die mandatsgebundene Begleitung VN-Eine wohl erwogene Entscheidung der Kommission zum mandatierter Friedensmissionen durch Men- Schutz der Menschenrechte, die eine allgemeine Akzep- schenrechtsbeobachter tanz genießt und durchsetzbar ist, ist das Ziel, das wir auf diese Weise erreichen wollen. – Drucksache 15/4946 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auswärtiger Ausschuss Auch der empfohlene Jahresbericht der VN-Hoch- Verteidigungsausschuss kommissarin für Menschenrechte wird die inhaltliche Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Arbeit der Kommission stärken. Er ermöglicht eine ver- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichtiefte Erörterung der Ländersituation in der MRK und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. stellt diese auf eine breitere und objektivierte Basis. Der 15544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Bärbel Kofler (A) Jahresbericht darf aber nicht als Ersatz für die Länderre- umgesetzt werden kann. Die Beispiele hierfür sind zahl- (C) solutionen der MRK dienen. Auch in einer reformierten reich. Man denke nur an China oder den Kongo. Die Menschenrechtskommission sollte das Instrument der Liste ist lang und kann beliebig fortgesetzt werden. Länderresolution nicht fehlen. Uns ist sehr wohl be- Unternehmen betreiben eine an wirtschaftlichen Inte- wusst, dass Länderresolutionen oft wenig Akzeptanz ge- ressen orientierte Informationsarbeit gegenüber Regie- nießen und häufig mit Nichtbefassungsanträgen be- rungen in Fragen des Handels- und des Steuerrechts. kämpft werden. Grundsätzlich ist es dem globalen Warum also nicht auch eine entsprechende Informations- Menschenrechtsschutz aber zuträglich, wenn das Spek- politik, was die Förderung und den Schutz der Men- trum der Mittel zur Kontrolle und Durchsetzung der schenrechte betrifft? Denn letztlich ist ein humanes und Menschenrechte breit angelegt ist. rechtlich stabiles Arbeitsumfeld für ein Unternehmen Der Antrag der Opposition von CDU/CSU zur dies- Grundvoraussetzung für die nachhaltige Wirtschaftlich- jährigen MRK widmet sich ebenfalls dem Thema derkeit seiner Arbeit. Das beweisen Beispiele. Wenn man Reformen der Vereinten Nationen. Es freut uns sehr,an das Aidspräventionsprojekt von Daimler-Chrysler in dass Sie die Wichtigkeit dieses Themas erkannt haben. Südafrika denkt, dann weiß man, dass die Wirtschaft hier bereits auf einem guten Weg ist. (Lachen der Abg. Sabine Leutheusser- Schnarrenberger [FDP] – Dr. Klaus Rose Ein Beispiel für die freiwillige Selbstverpflichtung [CDU/CSU]: Schon lange vor Ihnen!) von transnationalen Unternehmen zum Schutz der Men- schenrechte ist die Initiative desGlobal Compact. In einigen Punkten sind wir auch einer Meinung. Diese zeigt, dass sich Unternehmen zunehmend ihren Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch – ichsozialen Pflichten stellen. Solche Initiativen zur freiwil- habe schon darauf hingewiesen –, nämlich hinsichtlich ligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft werden auch der Universalität der MRK-Mitgliedschaft. Wir unter- künftig unsere volle Unterstützung haben. Der Dialog stützen aus gutem Grund den Expertenvorschlag. zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist dabei we- sentlich und erfährt unsere Förderung. In Ihrem Forderungskatalog listen Sie zudem so viele weitere Forderungen auf, dass man beinahe glauben Ein weiterer interessanter Ansatz ist der Entwurf könnte, die Tagesordnung der Menschenrechtskonferenz neuer UN-Normen zur Unternehmensverantwor- vor sich zu haben. tung. Mit diesem Katalog von 23 Normen wird grund- sätzlich an der primären Verantwortung der Staaten für (Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das kann man den Menschenrechtsschutz festgehalten. Jedoch wird bei Ihrem Antrag wahrlich nicht!) auch den Unternehmen eine rechtliche Verpflichtung zu- (B) Leider sind diese Punkte inhaltlich kaum unterfüttert.geordnet. In ihrem jeweiligen Einflussbereich sind auch (D) Vor allem Ihre letzte Forderung, dass die Bundesregie- Unternehmen zur Wahrung und Förderung der Men- rung dem Bundestag bis Mai Bericht erstatten soll, kann schenrechte angehalten. Ein weltweit agierendes Unter- ich nicht nachvollziehen, da wir alle doch im Menschen- nehmen trägt aufgrund seines weit reichenden Einflusses rechtsausschuss vor und nach den MRK-Sitzungen stets folglich größere Verantwortung als ein Mittelständler. gut informiert werden. Wir werden Ihren Antrag daher Dazu gehört auch, dass ein Unternehmen keinen Nutzen ablehnen. aus Menschenrechtsverletzungen anderer ziehen darf, also nicht zum Komplizen werden darf. Auch wenn über Das zweite Thema unseres Antrags ist dieVerant- den UN-Normenentwurf zur Unternehmensverantwor- wortung international arbeitender Unternehmen bei tung im Einzelnen noch diskutiert wird, ist an der der Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten. Gültigkeit dieses grundsätzlichen Postulats nicht zu Dieses Thema verdient besondere Aufmerksamkeit, da zweifeln. Ein konstruktiver Dialog über die menschen- in letzter Zeit vonseiten der Wirtschaft und im konstruk- rechtliche Verantwortung der Unternehmen wird daher tiven Dialog mit Regierungen, Gewerkschaften, Arbeit- von uns im Rahmen der diesjährigen Menschenrechts- geberverbänden und international arbeitenden Nichtre- konferenz aktiv begleitet werden. gierungsorganisationen vieles auf einen guten Weg gebracht wurde. Dieses Thema fehlt im Antrag der Op- In nächster Zeit gilt es neue Weichen für einen effek- position trotz seiner Aktualität leider völlig, obwohltiven Menschenrechtsschutz zu stellen. Lassen Sie uns dazu bereits eine Anhörung im Menschenrechtsaus-bitte alle konstruktiv daran mitarbeiten! schuss stattgefunden hat. Danke. Unumstritten ist, dass die universelle Wahrung der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Menschenrechte eine staatliche Aufgabe ist. Unbestrit- DIE GRÜNEN) ten ist heute aber auch, dass gerade multinationale Un- ternehmen den Menschenrechten aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichen Ebenen verpflichtet Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sind. Der globale, der wirtschaftliche und damit auch der Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe. politische Einfluss eines Unternehmens geht mit der Ver- antwortung für die sozialen Folgen einer globalen Wirt- Hermann Gröhe (CDU/CSU): schaftstätigkeit einher. Dies gilt insbesondere in Län- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und dern, in denen der Menschenrechtsschutz von staatlicher Herren! Das Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Seite nicht hinreichend gewährleistet wird oder nichtNationen steckt in einer tiefen Krise. Das hat die VN- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15545

Hermann Gröhe (A) Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktio- (C) zu Beginn der diesjährigen Tagung der VN-Menschen- nen, die Offenheit: Angesichts der dramatischen Situa- rechtskommission am Montag dieser Woche unumwun- tion innerhalb der VN-Menschenrechtskommission den eingeräumt. Als Beispiel für ihre deutliche Kritik hat bleibt Ihr Antrag bedauerlich unscharf und allgemein. sie das Versagen der Vereinten Nationen wie der Staaten- Dort werden keine Ziele benannt, deren Erreichung zu gemeinschaft genannt, das anhaltende Blutvergießen im einer durchgreifenden Stärkung des VN-Menschen- sudanesischen Darfur zu beenden. Sie sprach davon, die rechtsschutzsystems führen würde. VN-Menschenrechtskommission sei ihrer „kollektiven So passt es eben überhaupt nicht zu Ihrer Aussage, Verantwortung“ nicht gerecht geworden. Am gestrigen den parlamentarischen Einfluss in den VN-Menschen- Tag hat der VN-Sondergesandte für den Sudan, Pronk, rechtsmechanismen stärken zu wollen, wenn der Deut- erklärt: sche Bundestag nach Ihrem Willen wahrlich nur sehr all- Die Dschandschawid-Milizen haben gedroht, dass gemeine, man könnte auch sagen: nichts sagende sie künftig Ausländer und UN-Konvois angreifen Forderungen an die Bundesregierung richten soll. Die werden. Deshalb haben wir alle Mitarbeiter in die Annahme Ihres Antrages wäre ein Zeichen der Resigna- Hauptstadt abgezogen. tion angesichts der dramatischen Situation in der Men- schenrechtskommission. Gleichzeitig gehen die Vereinten Nationen nach neues- ten Schätzungen davon aus, dass in den vergangenen Unser Antrag, der Antrag der CDU/CSU-Bundestags- 18 Monaten 180 000 Menschen durch Krankheit undfraktion, ist wesentlich konkreter und benennt ehrgei- Hunger als Folge der gewaltsamen Auseinandersetzun- zige, aber lohnende Ziele. Wesentlich intensiver, als dies gen ums Leben gekommen sind. Der VN-Koordinator in Ihrem Antrag geschieht, haben wir uns dabei mit den für humanitäre Hilfe, Egeland, hält 10 000 Tote pro Mo- Vorschlägen der von Kofi Annan eingesetzten Hochran- nat für eine „vernünftige Schätzung“. In diesen Zahlen gigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und sei aber die Zahl der bei den Kämpfen zwischen Milizen Wandel auseinander gesetzt. Wichtige Vorschläge der und Rebellen umgekommenen Menschen noch gar nicht Hochrangigen Gruppe finden unsere und auch Ihre Un- enthalten. terstützung. Dies gilt beispielsweise für den Vorschlag, dass der Sicherheitsrat die Hohe Kommissarin für Men- Während sich aber die UNO-Mitarbeiter aus Darfur schenrechte an seinen Beratungen aktiver beteiligt, sie zurückziehen und das Morden, Vergewaltigen undvor Entscheidungen über Friedenseinsätze anhört und Brandschatzen anhält, wird man wohl auf eine eindeu- sich von ihr regelmäßig über die Umsetzung der men- tige Verurteilung der mit den arabischen Milizen koope- schenrechtsbezogenen Bestimmungen der Sicherheits- rierenden Regierung in Khartoum durch die VN-Men- ratsresolutionen unterrichten lässt. (B) schenrechtskommission erneut vergeblich warten (D) müssen. Vielmehr ging die Solidarität der afrikanischen Bei anderen Vorschlägen der Hochrangigen Gruppe Staaten mit dem Regime in Khartoum so weit, dass sie haben wir dagegen Bedenken. Dies gilt auch – Sie, Frau just in dem Moment, als die Gewalt in Darfur eskalierte, Kollegin Dr. Kofler, sprachen gerade diesen Punkt an – den Sudan erneut als Vertreter des afrikanischen Konti- für den Vorschlag, die Mitgliedschaft der VN-Men- nents in die VN-Menschenrechtskommission entsand- schenrechtskommission künftig auf alle VN-Mitglied- ten. staaten auszuweiten. Die Verwirklichung dieses Vor- schlags, der in Ihrem Antrag eine gewisse Unterstützung Weil aber viele Mitglieder dieses wichtigsten Men- erfährt, würde die Kommission nach unserer Auffassung schenrechtsgremiums der Völkergemeinschaft selbstnicht stärken, sondern ihre Arbeit weiter erschweren und schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig sind, beispielsweise nahezu zwangsläufig zu einer Zurück- finden sich stets Koalitionen zusammen, die die Men- drängung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Nichtregie- schenschinder vor einer eindeutigen Verurteilung be-rungsorganisationen führen. wahren. Wir halten einen anderen Weg für angemessener. Wir (Rudolf Bindig [SPD]: Leider wahr!) sprechen uns daher dafür aus, die Mitgliedschaft in der Wenn wir die VN-Menschenrechtskommission vor ei- Menschenrechtskommission an bestimmte grundlegende nem völligen Abgleiten in die Unglaubwürdigkeit und Bedingungen zu knüpfen. Dies ist übrigens auch die Po- damit in die Bedeutungslosigkeit bewahren wollen,sition von Human Rights Watch und von weiteren inter- muss die Völkergemeinschaft die Kraft zu tief greifen- nationalen Menschenrechtsorganisationen. So sollen po- den Reformschritten haben. Wir sollten als deutschestenzielle Mitglieder mindestens einen der beiden Parlament ehrgeizige Ziele für einen derartigen Reform- internationalen Menschenrechtspakte ratifiziert haben; prozess formulieren, beschließen und damit der Bundes- zudem sollen sie uneingeschränkt zur Zusammenarbeit regierung mit auf den Weg geben. mit dem Hochkommissariat bereit sein und beispiels- weise eine so genannte Standing Invitation für alle Son- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- derberichterstatter vornehmen. neten der FDP) Es darf nicht länger sein, dass in Genf die schlimms- Heute diskutieren wir zwei Anträge zur Reformbe- ten Regime Koalitionen schmieden, um sich gegenseitig dürftigkeit der VN-Menschenrechtskommission. Ge-eine „weiße Weste“ zu bescheinigen. Deswegen brau- rade weil wir im Menschenrechtsausschuss des Bundes- chen wir das Instrument derLänderresolution. Dazu tages häufig an einem Strang ziehen, gestatten Sie mir, bekennen auch Sie sich in Ihrem Antrag, ohne aber ein 15546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Hermann Gröhe (A) einziges Land zu benennen, für das Sie dieses Instru-schaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (C) ment für angemessen halten. Sie verzichten darauf. Da- auf der anderen Seite aufgeteilt werden. Regierungen, mit passen Sie sich aus meiner Sicht einer Leisetreterei die nur die eine Sorte von Menschenrechten hochhalten an, die auch die Menschenrechtspolitik der Bundesregie- und die andere vernachlässigen, geraten in eine gefährli- rung auszeichnet. che Schieflage. Mit dem Hinweis auf ein funktionieren- des Sozial- und Gesundheitssystem lässt sich eben nicht (Beifall bei der CDU/CSU) die Inhaftierung und Folterung von Oppositionellen rela- Wenn dies so weitergeht, bleibt jede Glaubwürdigkeit tivieren. Ich nenne als Beispiel Kuba. Der Hinweis auf auf der Strecke. Wer soll eine Menschenrechtskommis- Presse- und Versammlungsfreiheit hilft nicht den Hun- sion ernst nehmen, die sich zwar mutig zur Verurteilung gernden, denen das Menschenrecht auf Nahrung vor- von Birma und Nordkorea aufrafft, die ihren größtmögli- enthalten wird. Statt auf dem einen oder dem anderen chen Konsens in der Verurteilung israelischer Siedlungs- Auge blind zu sein, sollten wir Parlamentarier beide Au- politik in den besetzten Gebieten findet, die aber zurgen weit aufmachen und uns mit Nachdruck für die Ver- Lage im völlig zerbombten Grosny, zur anhaltenden Ver- wirklichung aller Menschenrechte einsetzen. Das heißt nichtung der tibetischen Kultur und zu weiterenauch, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, egal, schwersten Menschenrechtsverletzungen in vielen Tei- von wem sie begangen werden, egal, ob dem möglicher- len der Welt kein Wort verliert? Das passt, wie ich sagte, weise handelspolitische Interessen entgegenstehen könn- zur Leisetreterei einer Bundesregierung, die ten, das und auch egal, ob der Menschenrechtsverletzer ein Waffenembargo gegen China in einer Zeit aufheben staatlicher oder ein nicht staatlicher Akteur ist, zum Bei- will, in der Kriegsdrohungen gegen Taiwan laut werden spiel ein Unternehmen. – Kollege Rose wird etwas dazu sagen –, und die zu den Ich habe auf dem letzten Kirchentag in Berlin mit ei- schockierenden Bildern aus Istanbul, wo unschuldigener Näherin aus einer Freihandelszone in El Salvador auf Demonstrantinnen, Frauen und Mädchen, niedergeknüp- dem Podium gesessen. Sie hat von erniedrigenden Be- pelt wurden, kein Wort verloren hat. Solche Leisetreterei dingungen berichtet. Sie hat in einem Zulieferbetrieb für ist unakzeptabel. einen international bekannten Sportartikelhersteller ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- arbeitet: 13 Stunden Arbeit pro Tag, zwei verordnete neten der FDP) Toilettengänge, erniedrigende Bestrafungen bei gerin- gem Fehlverhalten oder Arbeitsfehlern, und das alles zu Es ist eben so, meine Damen und Herren, dass nir-einem Hungerlohn. Es ließ sich eine Fülle weitaus kras- gends bei Rot-Grün ein so großer Graben zwischen eige- serer Beispiele benennen: Ich denke an Unternehmen, nem Anspruch und konkretem Tun klafft wie gerade in die ihren Profit aus ausbeuterischer Zwangsarbeit oder (B) der Menschenrechtspolitik. Mit einem positiven Be-aus Kinderarbeit ziehen oder die beim Abbau von Gold (D) schluss über unseren Antrag können wir ein Zeichen da- ganze Flüsse vergiften. für setzen, dass wir es ernst meinen mit einem entschie- denen Dampfmachen für Menschenrechte und mitFür den Schutz der Menschenrechte sind in erster entschiedenen Schritten hin zu einer ehrgeizigen Reform Linie die Nationalstaaten verantwortlich. In derAll- der VN-Menschenrechtsschutzsysteme. gemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948 werden aber alle Individuen, die Organe der Vielen Dank. Gesellschaft und auch die Wirtschaft in die Pflicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nommen. Deshalb ist es eigentlich auch nur folgerichtig, transnationale Unternehmen, von denen einige eine Ka- pitalstärke haben, deren Volumen das Kapital aller Staa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten Afrikas zusammen übersteigt, stärker in die Pflicht Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe. zu nehmen. Die Vereinten Nationen, genauer gesagt die MRK-Unterkommission zum Schutz und zur Förderung Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Menschenrechte, hat einen Entwurf für UN-Normen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! für transnationale Unternehmen vorgelegt. Wir setzen Bevor ich auf die in Genf tagende Menschenrechtskom- uns in dem heute vorliegenden Antrag dafür ein, dass auf mission zu sprechen komme, auf Ihre Anträge und Re- der Grundlage dieses Vorschlages sehr konstruktiv und formvorschläge und auch auf den Vorwurf der Leisetre- ernsthaft mit dem Ziel diskutiert wird, zu möglichst ver- terei, erlauben Sie mir ein paar sehr grundsätzlichebindlichen UN-Normen für transnationale Unternehmen Anmerkungen: Es wird immer von der Unteilbarkeit der zu kommen. Wir möchten, dass sich auch die Vertreter Menschenrechte gesprochen. Das ist auch gut so. Jeder der Bundesregierung in diesem Sinne noch deutlicher Mensch, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts, positionieren und denjenigen Paroli bieten, die auf der welcher Herkunft, sollte auf dieser Welt willkommendiesjährigen Tagung diesen Dialogprozess möglichst sein und ihm sollte ein Leben in Freiheit und Würde er- schnell beerdigen wollen und allein auf freiwillige Initia- möglicht werden. Ihm stehen elementare Menschen-tiven setzen. rechte zu, auf die sich die Völkergemeinschaft im Grundsatz geeinigt hat. Diese freiwilligen Initiativen, derGlobal Compact, Verhaltenkodizes, Partnerschaften und anderes, sind Diese Menschenrechte sollten auch nicht in die „ei- hochwillkommen, aber eben kein Ersatz für verbindliche gentlichen“, die klassischen bürgerlichen Menschen-Menschenrechtsnormen, die für alle gelten müssen. Von rechte auf der einen Seite und die „neuen“, die wirt-den 75 000 transnationalen Unternehmen sind bisher nur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. 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Thilo Hoppe (A) 2 Prozent dem Global Compact beigetreten und einen trag eingebracht, der deutlich macht: Dieser Konflikt ist (C) wirkungsvollen Überprüfungsmechanismus für die Ein- nicht mit Waffengewalt zu lösen, auch nicht durch Waf- haltung der zehn Grundsätze gibt es nicht. fenlieferungen, wie sie einige europäische Nachbarstaa- ten vornehmen. Wir brauchen hier ernsthafte Verhand- Wenn wir der Globalisierung ein menschliches Ant- lungen, auch unter Einbeziehung Indiens. litz geben wollen, dann brauchen wir keine Versprechun- gen, deren Einhaltung nicht überprüft werden kann, son- Jetzt zu den Vorschlägen zur Reform der MRK. Herr dern dann brauchen wir starke ökologische und soziale Gröhe, unser Antrag ist keine Leisetreterei. Wir haben Leitplanken. Dazu könnten die UN-Normen für transna- alle wesentlichen Anregungen der Hochrangigen Gruppe tionale Unternehmen ein wichtiger Baustein sein. So der Vereinten Nationen aufgenommen. Auch uns ist klar, weit zum Thema Unternehmensverantwortung. dass die Instrumente zum Schutz der Menschenrechte geschliffen und verbessert werden müssen. Nur in einem Ich freue mich, dass Tom Koenigs auf der diesjähri- Punkt gibt es einen Dissens: Wir sehen ganz große gen Tagung der Menschenrechtskommission in GenfSchwierigkeiten darin, den Kreis praktisch einzugrenzen sich für das Recht auf Wasser stark macht. Wir werden und eine Qualifizierung für die Aufnahme in die Men- darüber heute Abend anläßlich eines entsprechendenschenrechtskommission zu fordern. Der Gedanke ist ver- Antrags noch ausführlicher diskutieren. ständlich, aber bei der Umsetzung könnte es große Pro- Ich begrüße auch sehr, dass er mit einer weiteren Ver- bleme geben, wenn wichtige Akteure diese Kriterien anstaltung auf die Besorgnis erregende Lage der indige- nicht erfüllen, wenn beispielsweise die USA aufgrund nen Völker aufmerksam macht. Die Tsunamikatastro- ihres Verhaltens in Guantanamo die Kriterien verfehlen. phe hat gezeigt, dass einige der indigenen in Stämmen Man kann nicht verschiedene Kriterien festlegen: Für die lebenden Völker ein Wissen hüten, das uns verloren ge- Großen gibt es einen Extrabonus und für die Kleinen gangen ist: ein kostenloses Frühwarnsystem der beson- werden hohe Maßstäbe angelegt. deren Art. Am Verhalten der Tiere erkannten sie die he- Wir halten es für notwendig, mit allen Akteuren und rannahende Katastrophe und zogen sich ins Hochland mit allen Staaten der Vereinten Nationen ins Gespräch zu zurück. Diesen „Eingeborenen“ sollten wir nicht mit der kommen. Wir hoffen, dass es dort mehr mutige Regie- Arroganz der Hochzivilisierten begegnen, sondern mit rungen gibt, die Rückgrat zeigen und trotz aller handels- Respekt. politischen oder machtpolitischen Verflechtungen deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich Flagge zeigen für den Schutz der Menschenrechte. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ich danke Ihnen. CDU/CSU) (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Auch unser Land sollte zum Schutz der indigenen Völ- und bei der SPD) ker so schnell wie möglich die ILO-Konvention 169 rati- fizieren. Ich hoffe sehr, dass ein entsprechender Koali- tionsantrag möglichst noch parallel zu der in GenfVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tagenden Menschenrechtskommission hier ins Parlament Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine eingebracht werden kann. Leutheusser-Schnarrenberger. Die Flutkatastrophe hat die Aufmerksamkeit der Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Weltöffentlichkeit auf Südostasien gelenkt. Dabei darf Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- die furchtbare Situation in Darfur – der Kollege Gröhe legen! Die Menschenrechte befinden sich nicht erst jetzt, hat sie auch schon mit eindrücklichen Worten hier be- mit Beginn der 61. Tagung der UN-Menschenrechts- nannt – nicht in Vergessenheit geraten. Dort hat sich in kommission in Genf, in der Defensive. Wir erleben das der Tat das Flüchtlingselend weiter verschlimmert. Ich seit Jahren. Das ist besonders durch den 11. September kann ihm nur zustimmen: Es ist ein Trauerspiel, dass auf 2001 deutlich geworden; denn gerade beim internationa- der letzten Tagung der MRK in Genf dazu keine deutli- len Vorgehen gegen Terrorismus wird die Menschen- chen Worte formuliert wurden. rechtslage in bestimmten Staaten nicht unbedingt ange- Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung sich stän- sprochen. dig bemüht, dieses Thema auf die Agenda des Weltsi- Wir erleben häufig das Phänomen, dass sich nationale cherheitsrates zu setzen. Doch wenn weiterhin einige Parlamente in der Verurteilung von Menschenrechtsver- Nationen – ich nenne hier ausdrücklich China – die letzungen in bestimmten Staaten zwar einig sind, die Re- schützende Hand heben, kommen wir in diesem Bereich gierungen aber dennoch die in großer Übereinstimmung nicht weiter. Ich hoffe sehr, dass trotz aller Misserfolge beschlossenen Resolutionen und Anträge nicht zur im letzten Jahr dieses Thema auch auf die Tagesordnung Kenntnis nehmen wollen oder sie durch Regierungshan- der MRK in Genf gesetzt wird und dass es diesmal ge- deln sogar negieren. lingt, Blockadehaltungen aufzubrechen und zu deutli- chen Worten zu kommen. (Beifall bei der FDP) Das Thema Nepal kann ich aus Zeitgründen nur ganz In Bezug auf dieGlaubwürdigkeit des Menschen- kurz streifen. Auch dort gibt es einen Besorgnis erregen- rechtsschutzes haben wir auch hier im Deutschen Bun- den Bürgerkrieg, der von der Weltöffentlichkeit kaum destag eine gewisse Krise.Hinsichtlich der Menschen- wahrgenommen wird. Wir haben dazu heute einen An- rechtssituation in China zum Beispiel sind wir uns alle 15548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) einig, dass sich der Bundestag, mit welchen Formulie- zichtbare Reformansätze; diese Einschätzung teilen(C) rungen auch immer, geschlossen dafür aussprechenwir. Wir sind der festen Überzeugung: Wenn es mit der muss, dass das EU-Waffenembargo gegenüber derMRK so weitergeht, dann wird sie nicht nur ein Desas- Volksrepublik China nicht aufgehoben werden soll.ter, sondern sie wird sich letztendlich selbst überflüssig Diese Einigkeit gilt auch für die europäischen Parlamen- machen. Das wäre schlimm nach dem, was an Men- tarier. Wir alle kennen die Menschenrechtslage in derschenrechtsmechanismen und -verteidigung erreicht Volksrepublik China, die leider nicht besser wird. Leider worden ist. spricht sich die Bundesregierung für das Gegenteil aus. Wir halten den Antrag der CDU/CSU in diesen Punk- Sie betreibt innerhalb der EU eine andere Politik. Wie ten, nicht nur weil er bedeutend konkreter ist, sondern sollen Menschenrechte international, in internationalen weil er meiner Meinung nach richtige Ansätze findet, für Gremien mehr Gewicht erhalten, wenn es uns noch nicht sehr viel überzeugender. Die Argumente zu den Anfor- einmal hier in Deutschland gelingt, die Bundesregierung derungen an die Mitgliedschaft in der UN-Menschen- politisch verantwortlich so an unsere Beschlüsse zu bin- rechtskommission sind noch nicht alle ausgetauscht. den, dass sie in europäischen und auch in internationalen Gremien entsprechend auftreten kann? Von daher habe Denn: Auch der Europarat kennt sehr wohl Anforde- ich überhaupt keine Hoffnung, dass bei dieser Tagung rungen an eine Mitgliedschaft. Um Mitglied des Europa- der Menschenrechtskommission in Bezug auf China ein rates zu werden, müssen Mindestanforderungen erfüllt großer Erfolg erreicht werden könnte. werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!) der CDU/CSU) Zu fordern, dass internationale Pakte gezeichnet und Ich habe mir die Mühe gemacht, sehr geehrte Kolle- ratifiziert werden und dass es eine uneingeschränkte Zu- ginnen und Kollegen, in den Protokollen des Deutschen sammenarbeit mit Berichterstattern gibt, damit Men- Bundestages aus der 13. Legislaturperiode zu blättern. schenrechtspolitik, die nur in der Öffentlichkeit stattfin- Am 27. Juni 1996 haben wirüber die Menschenrechts- det, funktionieren kann, ist in meinen Augen ein lage in China diskutiert. Joseph Fischer, heutiger Außen- richtiger Ansatz. Es lohnt sich, einen Konsens in Genf minister, war damals Sprecher der Grünen, die zu jener und innerhalb der Delegation, die dorthin fährt, anzustre- Zeit in der Opposition waren. Er hat der Bundesregie- ben. rung vorgeworfen – in Worten, die ich jetzt zu meinen Recht herzlichen Dank. eigenen Worten mache –: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deswegen müssen wir mit den Chinesen unnach- (B) giebig über Menschenrechte, über tibetische Kultur (D) und über den Schutz von Minderheiten in China Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sprechen. Wenn das Aufträge kostet, dann kostet es Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Holger Haibach. eben Aufträge. Holger Haibach (CDU/CSU): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Ich unterstelle nicht, dass die Aufhebung des EU-Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Waffenembargos in erster Linie betrieben wird, um Rüs- Die 61. Tagung der Menschenrechtskommission wird tungsexporte zu promoten. Die Exporte in diese Region noch mehr im Zeichen der Reformdebatte stehen als die nehmen seit 1998 zu, auch vonseiten der Bundesregie- Tagung im vergangenen Jahr. Heute liegen zwei Anträge rung. Aber es zeigt, wasfür ein Auffassungswechsel zu dieser Tagung vor. Mein Kollege Hermann Gröhe hat stattgefunden hat; allein die Regierungsverantwortung die Vorschläge in unserem Antrag begründet, die ich für kann nicht zu einer insgesamt vollkommen anderen Ein- wesentlich konkreter und nachvollziehbarer halte – diese schätzung führen. Meinung hat auch Frau Leutheusser-Schnarrenberger geäußert – als die Vorschläge in dem Antrag der Koali- Ich könnte das auch in Bezug auf die Politik gegen- tion. über Tschetschenien darlegen. Auch da waren die Worte von Herrn Fischer in der Opposition knallhart; heute Es ist wichtig, dass wir diese Diskussion nicht nur spielen die großen Probleme, mit der Ausweglosigkeit, formalistisch und mechanisch führen, sondern uns auch wie wir sie jetzt nach der Ermordung von Maschadow mit der Frage beschäftigen, ob die Menschenrechtskom- sehen, keine Rolle. Dort stellt sich ebenfalls die Frage mission thematisch noch auf der Höhe der Zeit ist. Es nach der Unabhängigkeit der Justiz und danach, wie die geht zum einen um die Frage, welche Länder dort vertre- Menschen in der Russischen Föderation ihre Meinung ten sein sollen, und zum anderen um die Frage, welche äußern können. Da werden mit Putin Umarmungen aus- Themen behandelt werden sollen. getauscht, aber diese Themen werden leider ganz nach Die Koalition spricht in ihrem Antrag beispielsweise hinten verbannt. von der menschenrechtlichen Verantwortung transnatio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) naler Unternehmen. Dies ist sicherlich ein wichtiges Thema, mit dem man sich beschäftigen muss. Aber ich Deshalb ist es für die FDP sehr wichtig, dass versucht kann dann nicht verstehen, warum Sie im Ausschuss un- wird, bei dieser 61. Tagung der Menschenrechtskommis- serem Antrag zur Durchsetzung der Meinungs- und sion in Genf Akzente zu setzen. Dazu gehören unver- Pressefreiheit für das Internet nicht zustimmen konnten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15549

Holger Haibach (A) Dies ist ein ganz entscheidendes Zukunftsthema, mit darauf hinzuwirken, dass gefährdete Menschen-(C) dem wir uns gerade im Zusammenhang mit der Mei- rechtsverteidiger durch die vorgesehenen Interven- nungs- und Pressefreiheit zu beschäftigen haben werden. tionsmöglichkeiten der EU Hilfe und Unterstützung Denn das Internet ist das Massenmedium der Zukunft. für ihre wichtige Arbeit erhalten. Dieses Thema ist auch deshalb so wichtig, weil die Wie passt das mit dem zusammen, was der Bundes- Durchsetzung von Meinungs- und Pressefreiheit immer außenminister zusammen mit den anderen europäischen in einer bestimmten Relation zur Durchsetzung der Men- Außenministern in Bezug auf Kuba beschließt? Es soll schenrechte insgesamt steht. Es ist doch kein Zufall, dass keine Einladung an Dissidenten an kubanischen Natio- die größten Menschenrechtsverletzer zumeist diejenigen nalfeiertagen mehr geben. Das konterkariert all das, was sind, die die Meinungs- und Pressefreiheit, vor allem im wir gemeinsam beschlossen haben, es konterkariert das Internet, besonders stark einschränken. Es geht hier also Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ so- um die Frage, wie man grundsätzlich zu diesem Thema wie das Programm zum Schutz der Menschenrechtsver- steht. teidiger weltweit, das wir gemeinsam aufgelegt haben. Ich finde, auch das ist keine besonders konsequente und Das Internet ist gerade inden Ländern, in denen der konsistente Handlungsweise. Zugang zur Information eingeschränkt ist, die beste Möglichkeit, an Informationen heranzukommen und (Beifall bei der CDU/CSU) sich auszutauschen. Aus diesem Grunde kann ich es ein- Vielmehr ist es, denke ich,insgesamt ein falsches Zei- fach nicht verstehen, dass Sie im Ausschuss unseren An- chen. trag abgelehnt haben. Ihre Begründung für die Ableh- nung, dass unser Antrag eine Aufzählung enthalten habe, In diesem Zusammenhang könnte man sicherlich das ist nicht stichhaltig. Wenn wir nämlich keine Aufzählung Thema Chinapolitik erörtern. Im Hinblick auf die schon vorgelegt hätten, dann hätten Sie uns vorgeworfen, keine fortgeschrittene Zeit will ich das aber unterlassen. Beispiele genannt zu haben. Ihre Haltung ist also nicht Deutschland sollte seine führende Rolle, die es ja ge- konsequent und auch nicht konsistent. denkt einzunehmen, wenn es sagt, die Achtung der Men- Es gibt Gründe, auch außerhalb der MRK an diesem schenrechte sei eine Querschnittsaufgabe in der gesam- Thema festzuhalten, zum Beispiel auf dem Weltinforma- ten Politik, weiterhin ausfüllen. Das gilt zum Beispiel tionsgipfel, der im November dieses Jahres in Tunisauch – das Thema steht ja heute auf der Tagesordnung – stattfinden wird. Tunesien gehört zu denjenigen Län- für die Ratifizierung des12. Zusatzprotokolls zur dern, die in besonderem Maße das Internet kontrollieren Europäischen Menschenrechtskonvention. Da geht es und in besonderem Maße die Meinungs- und Pressefrei- um die Antidiskriminierung. Deutschland gehört zu den (B) heit einschränken. Ich würde mir wünschen, dass dieErstunterzeichnern, wie man, wenn man auf die Home- (D) Bundesregierung an dieser Stelle deutliche Worte findet. page des Auswärtigen Amtes geht, sehr schnell feststel- Wenn Vertreter der Bundesregierung jetzt anwesend wä- len kann. Das Auswärtige Amt rühmt weiterhin: ren, würde ich sie auffordern, an diesem Thema weiter Es ist somit eine wesentliche Ergänzung zur EMRK festzuhalten. und bewirkt eine Stärkung ihres Kontrollmechanis- (Beifall bei der CDU/CSU) mus. Es gibt einen weiteren wichtigen Grund, das Thema Aha! Weiter heißt es: Menschenrechte zu behandeln. Das Wissen über Men- Der außenpolitische Nutzen dieses Protokolls liegt schenrechte ist in Deutschland nicht sonderlich weit ver- aus deutscher Sicht vor allem in der von ihm ausge- breitet. Das wurde in den letzten Jahren in einigen Arti- henden Rechtsvereinheitlichung in Diskriminie- keln dargelegt. 76 Prozent der Bevölkerung halten die rungsfragen in Europa. Menschenrechte für wichtig, 40 Prozent sind bereit, sich zu engagieren, aber nur wenige tun es. Ich glaube, dass Wir gehören also zu den Erstunterzeichnern. Warum ist das Thema Internet in diesem Zusammenhang einedann aber, so fragt man sich, in den letzten vier Jahren wichtige Rolle spielen sollte. mehr oder weniger nichts passiert? Man muss sich in Deutschland, in Europa und welt- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) weit auf diesem Gebiet engagieren und die entsprechen- In einem Schreiben von Frau Ministerin Zypries – also den Themen zur Sprache bringen. Deswegen war die aus einem anderen Ministerium, aber von der gleichen Vorlage des sechsten Jahresberichts der Europäischen Bundesregierung – an den Lesben- und Schwulenver- Union zur Menschenrechtslage für uns wichtig. Es gab band Deutschlands aus dem letzten Jahr heißt es aller- im Ausschuss eine Erörterung und eine gemeinsame Be- dings: schlussempfehlung. Einen Absatz aus dieser Beschluss- empfehlung halte ich für so wichtig, dass ich ihn gerne Die Bundesregierung hält es daher zum jetzigen vorlesen möchte: Zeitpunkt zunächst für wichtig zu beobachten, wie die weitere Entwicklung … (sein wird). … Über die Der Deutsche Bundestag begrüßt die Verabschie- Frage der Ratifizierung wird danach zu einem spä- dung der Leitlinien für Menschenrechtsverteidiger teren Zeitpunkt entschieden. als wichtiges Instrument zur Stärkung des Rechtes auf Verteidigung der Menschenrechte. Er bittet die Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das ist Bundesregierung, innerhalb der Europäischen Union nicht besonders konsequent und konsistent. Ich kann uns 15550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Holger Haibach (A) alle nur auffordern, bei der anstehenden MRK zu einer Dr. Werner Hoyer (FDP): (C) gemeinsamen konsequenten und konsistenten Haltung in Frau Kollegin, worauf stützen Sie denn Ihren Opti- menschenrechtlichen Fragen zurückzukehren. mismus, wenn der Bundestag am 27. Oktober des letzten Herzlichen Dank. Jahres diese Entscheidung getroffen hat, der Regierungs- sprecher aber am selben Tage mit Blick auf die Beratung (Beifall bei der CDU/CSU) des Bundestages sagt, die Position des Bundestages sei dem Bundeskanzler bekannt, es sei aber auch die Posi- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tion des Bundeskanzlers bekannt und dieser habe nicht Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf,die Absicht, sie zu ändern? SPD-Fraktion. (Rudolf Bindig [SPD]: Das war im Oktober letzten Jahres!) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): nächst möchte ich kurz etwas zum ThemaChina und Waffenembargo sagen. Ich denke, dass sich die Situation insbesondere durch den Beschluss des Volkskongresses am Montag entspre- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr gut!) chend geändert hat, Herr Kollege. Ich erinnere Sie diesbezüglich an unseren Antrag aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem letzten Herbst, in dem wir ganz klar gesagt haben, DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Eben! dass wir als SPD-Bundestagsfraktion an eine eventuelle Sehr gut!) Aufhebung des Waffenembargos starke Bedingungen knüpfen, Wir sind in der Vergangenheit schon auf die Länder- anträge, die heute zur Debatte stehen, eingegangen. Des- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weiß das der wegen möchte ich mich im Rahmen dessen, was ich jetzt Kanzler?) vortrage, mit dem 6. EU-Jahresbericht zur Menschen- die derzeit nicht erfüllt sind, und darauf hinweisen, dass rechtslage aus dem Jahre 2004 beschäftigen. Dort wer- es auch im Europäischen Parlament eine Mehrheit für den die Anstrengungen der EU beschrieben, in den die Beibehaltung der geltenden Regelungen, also für das wichtigsten Bereichen der Menschenrechtspolitik welt- Embargo, gibt. weit voranzukommen. Die EU bekennt sich bezüglich der externen, aber auch der internen Politik seit langem (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weiß das der zur Unteilbarkeit aller Menschenrechte und der demo- (B) Bundeskanzler? – Sabine Leutheusser- kratischen Freiheiten. Sie hat sich im abgelaufenen Be- (D) Schnarrenberger [FDP]: Die Regierung ist das richtszeitraum insbesondere mit den Themenbereichen Problem!) „Menschenrechte und Terrorismus“, „Rassismus“, Bei unserer Entscheidung spielen die Menschen-„Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, „Asyl und rechtssituation in China und der EU-Verhaltenskodex für Migration“, „Situation von Minderheiten“, „Menschen- Waffenausfuhren eine entscheidende Rolle. Wir sehen handel“, „Rechte des Kindes“ und „Menschenrechte der derzeit keine Ratifizierung und Umsetzung des VN-Pak- Frauen“ befasst. tes über bürgerliche und politische Rechte, keinen Fort- schritt bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: im Bereich Menschenrechte und Privateigentum und Frau Kollegin, ich bitte um Nachsicht. Würden Sie keine Stärkung der Autonomierechte für ethnische Min- dem Kollegen Pflüger Gelegenheit zu einer Zwischen- derheiten. Erschwerend kommt hinzu, dass nach demfrage geben? Beschluss des Volkskongresses vom Montag keine Rede mehr von einer friedlichen Streitbeilegung mit Taiwan sein kann. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Ich glaube, ich habe schon entsprechend geantwortet. Der Bundeskanzler kennt die Position des Bundesta- ges. Ich bin sicher, dass das Bundeskanzleramt seine (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Er hat ja Überlegungen zum Waffenembargo im Lichte der neuen noch gar nicht seine Frage gestellt!) Situation überdenken wird. Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Frage in die gleiche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Richtung geht wie die zuvor, und möchte jetzt meine DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Rede zu Ende bringen. Oh!) Sehr spannend für mich war der Bereich „Menschen- rechte und Wirtschaft“. In ihm wird die soziale Verant- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wortung von Unternehmen unterstrichen und sehr deut- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des lich gemacht, dass die Wirtschaft weltweit dazu Kollegen Hoyer? beitragen kann und muss, den Herausforderungen der Globalisierung wirksam zu begegnen. Außerdem war Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): der Themenbereich „Charta der Grundrechte“ interes- Bitte, gern. sant. Dort wird zum Beispiel unsere positive Haltung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15551

Angelika Graf (Rosenheim) (A) zum Antidiskriminierungsgesetz in allen Einzelheiten Was wünsche ich mir für den nächsten Bericht?(C) massiv unterstützt. Einerseits, dass in ihm wieder so ausführlich die Men- schenrechtssituation in vielen Problemstaaten beschrie- Ganz ehrlich, beim Durcharbeiten des Berichts fühlt ben wird; andererseits aber auch, dass er sich mit der Si- man sich in einem Wechselbad der Gefühle. Einerseits tuation im Inneren der EU stärker befassen möge. gibt es durchaus positiveEntwicklungen, über die wir uns wirklich freuen können. In diesem Bericht wird zum Ein Beispiel: Zwar wird die Situation der Sinti und Beispiel Kofi Annan zitiert, der die völlige Abschaffung Roma an mehreren Stellen angesprochen. Der Tatsache der Todesstrafe in 77 Staaten lobt und in Bezug aufaber, dass die Gruppe derRoma mit dem EU-Beitritt viele weitere Staaten von Moratorien oder De-facto-vieler osteuropäischer Staaten und mit den Beitrittsvor- Nichtanwendungen spricht. Andererseits relativiert sich bereitungen einer Reihe weiterer Staaten als transnatio- das durch andere Zahlen. So halten 66 Staaten weiterhin nale Minderheit nicht mit anderen Minderheiten in an der Todesstrafe fest. Einige wie der Tschad, derEuropa vergleichbar ist, wird diese Erwähnung nicht ge- Kongo, der Libanon oder Afghanistan haben nach Mora- recht. Derzeit gibt es eine Reihe von europäischen Staa- torien wieder Hinrichtungen vollstreckt. Im Jahr 2003 ten, die deutlich weniger Einwohner haben, als die seien in 28 Ländern mindestens 1 146 Menschen hinge- Gruppe der Roma in Europa ausmacht. Menschenrechts- richtet worden. In 63 Staaten seien mindestensverletzungen an Roma sind jedoch fast in jedem Staat, 2 756 Menschen zum Tode verurteilt worden. Die wirk- insbesondere im Osten Europas, zu verzeichnen; oft ha- lichen Zahlen liegen wahrscheinlich wesentlich höher. ben sie einen rassistischen Hintergrund. Dies soll nur ein Schätzungen sprechen von 5 600 Hinrichtungen in 2003, besonders signifikantes Beispiel dafür sein, dass sich ein darunter Personen, die unter 18 Jahre alt oder geistig be- Blick nach innen durchaus lohnt. hindert waren. Man wird durch diesen Blick nach innen auch glaub- Der Bericht beschäftigt sich ausführlich mit der Rolle, würdiger. Im Gespräch mit Politikern aus Ländern, in die China in dieser Statistik spielt. denen die Menschenrechte nicht den allerhöchsten Stel- lenwert haben, habe ich es jedenfalls in der Vergangen- Die EU hat auch nachdrücklich das Problem der To- heit oft als sehr angenehm empfunden, sagen zu können, desstrafe in den USA angesprochen. Die Hinrichtung ju- dass unser Menschenrechtsausschuss in Deutschland gendlicher Straftäter spielt hier eine große Rolle. Icheben nicht nur mit dem Finger auf Menschenrechtsver- hoffe, dass die Entscheidung des höchsten US-Gerichts letzungen in anderen Staaten zeigt, sondern auch die vom 1. März 2005, die Todesstrafe für Jugendliche als Entwicklungen im eigenen Land im Auge behält „verfassungswidrig grausam“ zu verbieten, die Diskus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) sion um die Todesstrafe ganz allgemein anfacht. Tatsa- DIE GRÜNEN) (D) che ist nämlich, dass die Anzahl der Vollstreckungen in den USA in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Ich und so mit gutem Beispiel und ohne westliche Arroganz, finde allerdings in diesem Bericht keine Erwähnung des- die man uns ja oft vorwirft, vorangeht. Warum sollen wir sen; ich bedauere das sehr. diese positiven Erfahrungen nicht auf die EU übertra- gen? Ich wünsche mir, dass Sie alle dies unterstützen. Sehr begrüßenswert ist für mich, dass der Kampf ge- gen den Menschenhandel , insbesondere den Frauen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ handel, ausführlich im Bericht gewürdigt wird. Der DIE GRÜNEN) Menschenhandel, mit dem wir uns auch in diesem Ho- hen Hause in der letzten Zeit mehrfach beschäftigt ha- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ben, zuletzt im Zusammenhang mit der Novellierung des Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Strafrechts, ist eine schlimme Menschenrechtsverlet-Kollege Dr. Klaus Rose, CDU/CSU-Fraktion. zung. Die Umsetzung der im Bericht erwähnten Richtli- nie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die (Beifall bei der CDU/CSU) „Erteilung von Aufenthaltstiteln für Opfer von Men- schenhandel“ wird wahrscheinlich eine Änderung des Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Zuwanderungsgesetzes nötig machen. Den Opfern soll Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und unter anderem der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu be- Herren! Dass Sie jetzt so zahlreich gekommen sind, freut ruflicher und allgemeiner Bildung eröffnet werden. Dies mich, weil das Thema wichtig ist, weil der Redner nicht ist übrigens seit langem eine Forderung der Opferver- unbekannt ist und weil Sie wahrscheinlich lieber in die- bände. Ich hoffe, dass Sie, verehrte Kolleginnen undsem Kreis als im stillen Kämmerlein über das Ergebnis Kollegen von der Opposition, im Bundestag Ihrer Empa- von Schleswig-Holstein diskutieren. thie für die Opfer gerecht werden. (Zurufe von der SPD: Es geht um Menschen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des rechte! – Hochmut kommt vor dem Fall!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Hohe Haus hat schon häufig über die Menschen- Ich freue mich übrigens, dass mit der ehemaligen ös- rechte diskutiert. Dies halte ich für gut. Es ist auch der terreichischen Frauenministerin Helga Konrad eine hoch Bedeutung des Themas angemessen, dass wir heute wie- kompetente Frau zur Sonderberichterstatterin „Men-der zeitnah zu der Tagung der Menschenrechtskommis- schenhandel“ ernannt worden ist. sion in Genf hier über Menschenrechte reden. Meine 15552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Klaus Rose (A) Aufgabe ist es, die Themen nun noch einmal konkret an- gruben der Welt. Jedes Jahr werden Tausende von Toten (C) zusprechen. bewusst in Kauf genommen. Wenn die chinesische Re- gierung mehr Geld in die Modernisierung des Bergbaus Das Thema Menschenrechte wird im Zusammenhang stecken und damit Menschenleben retten würde, Geld, mit China besonders konkret. Manche von Ihnen haben das sie jetzt wieder für die Raketen gegen Taiwan zur es nur gestreift. Gestern haben wir im Auswärtigen Aus- Verfügung stellt, würde sie etwas Gutes tun und auch mit schuss darüber beraten, welche neuen Erkenntnisse sich Blick auf die Menschenrechte viel erreichen. aus den Beschlüssen des Volkskongresses für die Bun- desregierung ergäben. Ich war ein bisschen entsetzt, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Vertreter der Bundesregierung weniger auf die Men- neten der FDP) schenrechtslage, auf Fehlentwicklungen und Ähnliches Diese Dinge wollen wir beim Namen nennen. Der Be- hingewiesen hat, sondern seinen Hauptsatz darin gese- schluss des Volkskongresses – so sehr er in den eigenen hen hat, darauf hinzuweisen, dass es wichtig sei, dass Reihen bejubelt werden mag – wird ein Bumerang. In sich Deutschland in einer strategischen Partnerschaft mit der gesamten Welt merkt man, dass hier eine Fehlent- China befinde. Meine Damen und Herren, ich war nicht wicklung stattfindet. Auch wir im Deutschen Bundestag nur verwirrt, sondern enttäuscht und sogar entsetzt. Auf sollten nicht stillhalten, sondern diese Ergebnisse angrei- genaues Nachfragen hat er erklärt, gemeint sei eine wirt- fen. Damit greife ich auch etwas auf, was gesagt wurde, schaftliche strategische Partnerschaft. nämlich dass sich der Bundeskanzler in der Frage des Aber habe ich nicht vorhin von den Vertretern der rot- Waffenembargos jetzt plötzlich umstellt und etwas ernst grünen Koalition gehört, dass man manchmal auf einnimmt, was das Parlament schon lange will. Geschäft verzichten müsse? Hat man dies nicht auch frü- (Lilo Friedrich [Mettmann] [SPD]: Das ist her von Fischer gehört? War bei uns allen die Einschät- nicht gesagt worden!) zung nicht gang und gäbe, dass wir in diesen Fragen et- was zurückhaltend sein könnten, wenn es um – dieDa bin ich aber sehr gespannt. Da muss er heute Vor- Betonung der Menschenrechte geht? mittag einen Schrecken bekommen haben, weil er die Lage im eigenen Land nicht mehr im Griff hat. Aber ob Am letzten Samstag fand vor dem Brandenburger Tor er sich in der Frage des Waffenembargos wirklich um- aus Anlass eines Jahrestages eine Kundgebung vonstellt, wird sich herausstellen. Tibetern statt. Dort waren auch Vertreter der politischen Parteien anwesend: jemand von der FDP, ein Grüner Schön wäre es; denn das würde zeigen, dass wir in der vom Berliner Abgeordnetenhaus und ich für meine Frak- Menschenrechtskommission die richtigen Anträge ge- tion. Aber von der SPD habe ich dort niemanden gese- stellt haben. (B) (D) hen. Ich halte dies für sehr bedauerlich, weil Sie vor eini- (Jörg Tauss [SPD]: Nicht wie bei Kohl gen Jahren doch noch ganz anders geredet haben und damals!) weil sich an der Lage der Tibeter in der Zwischenzeit nichts verbessert hat. Dass wir die FDP in ihrer Resolution zu China unterstüt- zen, das möchte ich hier noch einmal betonen. Deshalb (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Leider wäre es besser, wir würden auch in diesen Fragen wieder wahr! – Rudolf Bindig [SPD]: Die SPD redet zu Gemeinsamkeit zurückkehren und im Interesse der viel mit Tibetern und unterstützt sie!) Menschenrechtssituation in allen Ländern der Welt die Von Chinesen wird in Bezug auf religiöse und ethnische richtigen Beschlüsse fassen. Minderheiten nach wie vor gesagt: Uns steht das Recht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu, über euch zu urteilen, euch ins Gefängnis zu werfen, euch, nur weil ihr dem Dalai-Lama die Treue haltet, als nicht zuverlässig zu betrachten und euch entsprechend Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zu verklagen und einzusperren. Ich schließe die Aussprache. (Rudolf Bindig [SPD]: Wir stehen in regelmä- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der ßigem Kontakt mit dem Dalai-Lama!) Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/5118 mit dem Titel „61. Tagung der Meine Damen und Herren, wir müssen diese Themen Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen – weiterhin deutlich und öffentlich machen. Wir müssen Reform und Normensetzung für einen verbesserten das nicht nur mit den Tibetern, sondern auch mit denMenschenrechtsschutz“. Wer stimmt für diesen An- Chinesen selbst deutlich ansprechen. Es sind nicht bloß trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das die Minderheiten innerhalbdes chinesischen Volkes, Erste war nach übereinstimmender Auffassung des Prä- sondern es sind die Chinesen selbst, die von ihrer eige- sidiums die Mehrheit. Damit ist dieser Antrag mit der nen Regierung in Bezug auf die MenschenrechteMehrheit des Hauses angenommen. schlecht behandelt werden. Ich könnte dazu viele Bei- spiele bringen, was mir aber von der Zeit her nicht mög- Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 b. Hier geht lich ist. es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5098 mit dem Titel „Die Vorhin war von den internationalen Unternehmen die 61. Tagung der VN-Menschenrechtskommission als Rede. Schauen Sie sich einmal denBergbau in China Chance zur Reform – Mehr Engagement für Menschen- an. Dort gibt es die verrottetsten Bergwerke und Kohle- rechte weltweit“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15553

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die- hält sich der Stimme? – Mit Mehrheit ist die Beschluss- (C) ser Antrag ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt. empfehlung angenommen. Tagesordnungspunkt 8 c: Beschlussempfehlung des Tagesordnungspunkt 8 h: Hier wird interfraktionell Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4946 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse den EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechtslage,vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das Drucksache 15/4757. Der Ausschuss empfiehlt, sieht in so aus. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh- Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 6: men. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenom- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, men. Frauen und Jugend (12. Ausschuss) zu dem An- trag der Abgeordneten Renate Gradistanac, Tagesordnungspunkt 8 d: Beschlussempfehlung des Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- auf Drucksache 15/4899. Der Ausschuss empfiehlt unter ten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnis- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4397 mit dem NEN Titel „Nepal – Menschenrechte schützen und Gewalt be- Kinder und Jugendliche wirksam vor sexuel- enden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – ler Gewalt und Ausbeutung schützen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenom- – Drucksachen 15/3211, 15/4553 – men. Berichterstattung: Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Abgeordnete Renate Gradistanac lehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Druck- Michaela Noll sache 15/3231 mit dem Titel „Einhaltung der Menschen- Ekin Deligöz rechte in Nepal“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Klaus Haupt fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Stimme? – Mit der Mehrheit der Koalition ist die Be-diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. (B) schlussempfehlung angenommen. (D) (Unruhe) Tagesordnungspunkt 8 e: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Es wäre schön, wenn diejenigen, die sich nun wegen auf Drucksache 15/4898 zu einem Antrag der FDP-Frak- anderer wichtiger Termine an der Debatte zu diesem Ta- tion mit dem Titel „Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls gesordnungspunkt nicht beteiligen können oder wollen, zur Europäischen Menschenrechtskonvention“. Der Aus- ihre dringenden Staatsgespräche außerhalb des Plenar- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4405saales fortsetzen würden. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (Nicolette Kressl [SPD]: Staatsgespräche lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der gehören hierher!) Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zu- nächst die Kollegin Gradistanac für die SPD-Fraktion. Tagesordnungspunkt 8 f: Beschlussempfehlung des (Beifall bei der SPD) gleichen Ausschusses zu dem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Menschenrechte in der Volksrepublik China einfordern“ auf Drucksache 15/4402. Der Aus- Renate Gradistanac (SPD): schuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dage-Herren! Der Aktionsplan der Bundesregierung zum gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschluss- Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition mehrheit- Gewalt und Ausbeutung wurde beispielhaft umgesetzt, lich angenommen. auch bei mir im Schwarzwald. Die Kampagne „Hinse- hen. Handeln. Helfen!“ hatte das Ziel, das Bewusstsein Tagesordnungspunkt 8 g: Beschlussempfehlung des dafür zu schaffen, dass jede und jeder etwas gegen Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen tun kann. auf Drucksache 15/5040 zu dem Antrag der CDU/CSU- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fraktion mit dem Titel „Presse- und Meinungsfreiheit im Internet weltweit durchsetzen – Journalisten, Menschen- Das fiel auch in meinem Landkreis Calw auf fruchtbaren rechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schüt- Boden. Auf Initiative eines Arbeitskreises gegen zen“ auf Drucksache 15/3709. Der Ausschuss empfiehlt, sexuelle Gewalt und mit vorbildlicher Unterstützung des diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-Landrats wird eine Anlaufstelle für sexuell ausgebeutete schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Kinder aufgebaut. In Zeiten, da bundesweit soziale 15554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Renate Gradistanac (A) Einrichtungen gefährdet sind, freut es mich ganz beson- nationalen Messe „Reisepavillon“ im Februar 2005 be- (C) ders, wenn es gelingt, Verbündete für dieses Thema zu teiligt hat. Einspringen musste der Präsident des gewinnen. Österreichischen Vereins für Touristik. Er vertrat auf dem Podium die Auffassung, dass ein verantwortungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bewusster Tourismus ohne Ethik mittelfristig nicht vor- DIE GRÜNEN) stellbar sei. Werte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe sehr, dass es auch in Ihrer Heimat solch gute Beispiele gibt. Die in den Chefetagen der Tourismuswirtschaft weit verbreitete Meinung, dass der engagierte Einsatz gegen (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) die Ausbeutung von Kindern das Image schädige, ist nicht nur widerlegbar, sondern auch hasenfüßig. Sabine Nun also gilt es – das ist das Ziel des Antrags von Minninger hat in einer beachtenswerten Diplomarbeit, SPD und Bündnis 90/Die Grünen –, den Aktionsplan die nicht den Anspruch erhebt, repräsentativ zu sein, stetig weiterzuentwickeln. Die kommerzielle sexuelle festgestellt, dass fast drei Viertel der Befragten bei der Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ist leider Buchung einer Reise einen Veranstalter bevorzugen wür- – ich betone: leider – global ein Wachstumsmarkt. Das den, der sich für den Schutz von Kindern einsetzt. kann man nicht nur im Internet beobachten. Ich verweise 96 Prozent aller Befragten, so hat sie recherchiert, sind hierzu auf die aktuelle Ausgabe der „Vogue Deutsch- der Meinung, dass die Tourismusbranche Reisende über land“ vom März 2005. Schon lange handelt es sich nicht das Problem informieren sollte. Tourism Watch und die mehr um ein individuelles Problem einzelner Täter oder Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen stellen in einzelner Ausbeuter von Kindern, es gibt eindeutig der aktuellen – repräsentativen – Reiseanalyse 2005 fest: kriminelle Strukturen. Darum fordern wir unsere Bun- 39 Prozent der Befragten wünschen sich: Ja, die Reise- desregierung eindringlich auf: Sexuelle Ausbeutung von branche sollte mehr für den Schutz von Kindern vor se- Kindern und Jugendlichen muss strafrechtlich so ver- xueller Ausbeutung durch Touristen tun. folgt werden wie Delikte der organisierten Kriminalität. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Sonderzuständigkeiten, erweiterte Ermittlungsbefug- Abschließend danke ich an dieser Stelle allen, die sich nisse und Zeuginnen- und Zeugenschutzprogrammeunermüdlich für den Schutz von Kindern und Jugendli- könnten dann angewandt werden. Prüfen Sie den Einsatz chen vor sexueller Ausbeutung einsetzen – national wie weiterer Verbindungsbeamter in den Herkunftsländern international; das ist eine schwere Arbeit. der Kinder und setzen Sie das dann auch bitte durch! (B) Vielen Dank. (D) Das Auswärtige Amt muss zu diesem Thema dauer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haft Aus- und Fortbildung betreiben. DIE GRÜNEN) (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das sieht man beim Thema Bulgarien!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Es gilt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Aus- Das Wort hat nun die Kollegin Angela Schmid, CDU/ landsvertretungen zu sensibilisieren und eine entspre- CSU-Fraktion. chende Handreichung für den Einsatz zu entwickeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir gehen davon aus, dass die Not der sexuell ausgebeu- teten Kinder in die Lageberichte des Auswärtigen Amtes Eingang finden wird Angela Schmid (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Die Bun- Kinder sind die schwächsten Mitglieder unserer Gesell- desregierung hat doch pädophile Aktionen erst schaft. Sie bedürfen daher unseres besonderen Schutzes. möglich gemacht!) Gleichwohl ist in den vergangenen Jahren eine Reihe und dass auch die Erkenntnisse der NGOs einbezogen von schweren Sexualtaten bekannt geworden, die uns werden. Weltweit muss es einfach selbstverständlichalle schockierten. sein, dass das Kindeswohl Vorrang hat. Zu den abscheulichsten dieser Verbrechen gehört der (Beifall bei Abgeordneten der SPD sexuelle – Missbrauch von Kindern. Allein im Jahr 2002 Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Die Visa- hat die Polizei rund 16 000 Kinder als Opfer sexuellen praxis der Bundesregierung sagt etwas ganz Missbrauchs registriert. Die Dunkelziffer liegt nach Ein- anderes! Siehe Bulgarien!) schätzung von Fachleuten um ein Vielfaches höher. Demnach sollen in Deutschland schätzungsweise Die internationale Tourismuswirtschaft hat sich in200 000 Kinder missbraucht werden. Diese Zahlen ma- einem Verhaltenskodex zu ihrer Sozialverantwortung chen deutlich, dass das, was wir bisher getan haben, bekannt. Ich gehe davon aus, dass sich auch die deutsche nicht ausreichend war. Sie zwingen uns weiterhin zum Tourismuswirtschaft, die weltweit Marktführer ist, ihrer Handeln. Verantwortung bewusst ist. Umso erstaunlicher ist es, dass sich kein Vertreter der deutschen Tourismuswirt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schaft an einer Podiumsdiskussion anlässlich der inter- Dr. Werner Hoyer [FDP]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15555

Angela Schmid (A) Mit dem vorliegenden Antrag wird eine umfassende Die Verwerflichkeit dieser Gewalttaten muss (C) im Strategie zur wirkungsvollen und nachhaltigen Bekämp- Strafmaß deutlich zum Ausdruck kommen. Die ange- fung von sexueller Gewalt gegen Kinder gefordert. Ich drohten Strafen bei sexuellem Missbrauch von Kindern denke, in dieser Zielsetzung sind wir uns alle einig.sind daher nochmals zu verschärfen, und zwar dahin ge- Auch wir wollen den strafrechtlichen Schutz von Kin- hend, dass nach deutschem Recht auch der Versuch eines dern und Jugendlichen verbessern und weiterentwickeln, solchen Missbrauchs an Kindern strafbar ist. Prävention und Opferschutz stärken, die Hilfs- und Be- (Beifall bei der CDU/CSU) treuungsangebote vernetzen und die internationale Zu- sammenarbeit fördern. Zudem besteht ein wesentliches Defizit der geltenden Rechtslage darin, dass Taten, mit denen pädophile Perso- Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Le- nen Kontakte mit Kindern knüpfen können, nicht zurei- gislaturperiode den Antrag „Gegen die sexuelle Ausbeu- chend erfasst werden. So genannte Chaträume oder ähn- tung und den Missbrauch von Kindern“ eingebracht, der liche Einrichtungen bieten für interessierte Personen ein sehr viele konkrete Forderungen enthält. Sie, meine Da- weltweites Forum zur Planung und Verabredung dieser men und Herren der Regierungskoalition, haben ihn sei- Straftaten. Mit unserem „Gesetzentwurf zur Verbesse- nerzeit leider abgelehnt, weil er in vielen Punkten über- rung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbre- holt sei. chen und anderen schweren Straftaten“ haben wir gefor- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE dert, dass sowohl der sexuelle Missbrauch als auch GRÜNEN]: Weil wir einen besseren haben!) schon die Anbahnung von solchen Kontakten als Verbre- chen eingestuft werden. Das haben Sie bis heute jedoch Umso erstaunlicher ist es, dass jetzt, zweieinhalb Jahre abgelehnt. Insofern sind Ihre Strafverschärfungen im Se- später, inhaltlich fast genau die gleichen Forderungen xualstrafrecht wohl eher als halbherzig zu bezeichnen. wieder aufs Papier gebracht wurden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Auch die DNA-Analyse wird im Strafverfahren künf- Allerdings sind die Forderungen in Ihrem Antrag sehr tig nicht so konsequent wie möglich und nötig genutzt. vage und allgemein. So kann beispielsweise einem Exhibitionisten der gene- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Andreas tische Fingerabdruck weiterhin nicht abverlangt werden, Scheuer [CDU/CSU]: Das sind wir von Rot- selbst wenn zu befürchten ist, dass der Betreffende künf- Grün ja gewöhnt!) tig schwerwiegendere Straftaten verübt. Konkrete gesetzliche Regelungen werden nicht gefor- (Jörg Tauss [SPD]: Stimmt nicht!) (B) (D) dert. – Sie kommen doch auch aus Stuttgart, Herr Tauss. In- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- formieren Sie sich einmal vor Ort. Es ist überhaupt kein NEN]: Dann müssen Sie ihn mal richtig le- Problem, das statistisch nachzuweisen. sen!) (Jörg Tauss [SPD]: Ich wollte Sie gerade infor- – Frau Deligöz, in vielen Bereichen bleiben Sie mit Ih- mieren! – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: rem Antrag hinter unseren Forderungen zurück. Ich will Er hat zu jeder Sache etwas zu sagen!) dies an einigen Beispielen verdeutlichen. – So ist es. – Es ist bewiesen, dass solche vermeintlich Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein durch harmlosen Straftaten oft der Einstieg in eine Täterkarri- nichts zu rechtfertigendes Verbrechen. Das stellt auch ere sind. die Bundesregierung in ihrem „Nationalen Aktionsplan (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Informieren Sie sich einfach mal!) Gewalt und Ausbeutung“ fest. Ebenso haben wir seit 2001 die nachträgliche Siche- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE rungsverwahrung gefordert, gegen die sich Ihre Koali- GRÜNEN]: Das ist ja auch richtig!) tion immer ausgesprochen hat. Unser Ziel war es, eine So selbstverständlich diese Erkenntnis auch ist, so wenig Handhabe gegen solche Sexualstraftäter zu schaffen, bei hat sie bislang Eingang ins deutscheStrafgesetzbuch denen die Gefahr weiterer schwerer Straftaten erst wäh- gefunden. Auch nach der neuesten Reform des Sexual- rend des Strafvollzugs festgestellt wird. Erst durch die strafrechts durch die Bundesregierung ist der sexuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr Missbrauch von Kindern nur ein Vergehen. Die Fraktion 2004 hat sich die Regierungskoalition bewegt. So haben von CDU und CSU fordert seit langem, hier ein eindeu- Sie unnötig viel Zeit verloren. tiges Zeichen zu setzen, um diese Taten der schlimmsten Ich möchte noch eine weitere kritische Äußerung zum Art endlich als ein Verbrechen zu brandmarken. Opferschutz machen. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Andreas unter anderem auf die massiv traumatisierten Kinder, die Scheuer [CDU/CSU]: Das stand in unserem häufig nicht in der Lage sind, eigene Interessen und Be- Jugendschutzantrag!) dürfnisse wahrzunehmen. Ihr Antrag zielt darauf ab, sexu- ell missbrauchte Kinder nicht nur als Subjekt des Gesche- – Genau, das haben wir auch in unserem Jugendschutz- hens anzuerkennen, sondern auch durch Institutionen zu antrag dargelegt. schützen und aufzufangen. Wenn dem aber so ist, dann 15556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Angela Schmid (A) sei an dieser Stelle die Frage gestattet, warum Sie unse- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) rer Forderung, das Mainzer Modell im Strafverfahren Klaus Haupt [FDP]) einzuführen, nicht gefolgt sind. Ich darf insoweit erneut auf unseren Antrag „Gegen (Beifall bei der CDU/CSU) die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kin- dern“ aus der letzten Legislaturperiode verweisen. Auch Befragungen von Opferzeugen zeigen, dass mehr als er sah vor, die Ausbeutung von Kindern im internationa- die Hälfte der Zeugen die Auswirkungen eines Prozesses len Rahmen zu bekämpfen. Leider haben Sie, meine Da- als negativ empfinden. Sie leiden noch Monate nach der men und Herren der Regierungskoalition, diesen Antrag Tat unter einer Schwächung ihres Selbstwertgefühls und abgelehnt. nehmen sich in der Prozesssituation als schwach und un- sicher wahr. Für die Kinderopfer muss eine solche Pro- Festzuhalten bleibt: Der vorliegende Antrag ist ein zesssituation noch weit schlimmer sein. Unser Anliegen gutes Signal. Er geht in die richtige Richtung, aber er war es, kindliche Opfer von Sexualverbrechen in einem bleibt in vielen Bereichen hinter unseren Forderungen gesonderten Raum durch den Vorsitzenden vernehmen zurück. zu können. Ihre Zustimmung zu unserem Vorschlag Danke schön. hätte ein deutliches Signal für mehr kindlichen Opfer- schutz im Strafverfahren bedeutet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir alle wissen: Für die Opfer hat der Missbrauch Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, schwerwiegende Folgen für Körper und Seele. Sie leiden Bündnis 90/Die Grünen. meist ein Leben lang unter den Folgen des ihnen zuge- fügten Leids. Das Strickmuster ist dabei immer gleich: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Täter setzen die Opfer mit Drohungen unter Ge- Ekin Deligöz heimhaltungsdruck und haben so die Möglichkeit, den Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Missbrauch oftmals über Jahre hinweg unentdeckt fort- gen! Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten und ha- ben eigene Rechte. Sie brauchen unseren Schutz und un- zuführen. Sexueller Missbrauch ist in den seltensten Fäl- len ein einmaliges Verbrechen. Aus diesem Grunde sind sere Unterstützung; denn sie sollen in dieser Gesellschaft Kinder- und Jugendtelefone als erste Anlaufstelle für ohne Gewalt und ohne sexuelle Übergriffe aufwachsen können. Deshalb haben wir, Rot-Grün, das Recht auf ge- die Opfer sexueller Gewalt besonders wichtig. waltfreie Erziehung gesetzlich verankert und deshalb ha- (Jörg Tauss [SPD]: Die streicht ihr gerade!) ben wir ein Leitbild der Erziehung formuliert, wonach (B) seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erzie- (D) Derzeit gibt es bundesweit 95 solcher Kinder- und hungsmaßnahmen in diesem Land unzulässig sind. Lei- Jugendtelefone. Seit 1998 sind lediglich 15 neue hinzu- der, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, gekommen. Wir müssen den Ausbau von solchen Be- haben wir von Ihrer Fraktion keine Unterstützung dafür treuungs- und Beratungsangeboten in Deutschland unbe- bekommen. Das bedauere ich heute noch. dingt vorantreiben. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Kinder werden von Deutschen jedoch nicht nur im In- GRÜNEN]: Wir brauchen starke Kinder und land, sondern auch im Ausland sexuell missbraucht. nicht harte Gesetze!) Nach Schätzungen von Terre des hommes beträgt die Zahl der deutschen Sextouristen jährlich circa 10 000. Das Schlimme ist, dass wir immer wieder betonen Kindersextouristen nutzen die Existenznöte der Kinder müssen: Erziehung in diesem Land mag Elternsache und ihrer Familien skrupellos aus. Ein besonders wichti- sein, aber Gewalt ist es nicht. Gewalt, egal wie und wo- ger Aspekt bei der Bekämpfung von Sextourismus und her, verletzt die Würde des Kindes. Kinderprostitution ist daher die stärkere und langfristi- Das Schlimme an dem sexuellen Missbrauch ist, dass gere Beteiligung der Reisebranche an Präventionsaktio- ein Großteil der Täter aus dem unmittelbaren Nahbe- nen und Informationskampagnen. Wir begrüßen es daher reich des Kindes kommt. Manche Statistiken sprechen sehr, dass der Deutsche Reisebüro- und Reiseveranstal- davon, dass 90 Prozent der Täter aus dem Bereich der ter-Verband und verschiedene andere Organisationen ei- Verwandten, der Freunde und der vertrauten Menschen nen Verhaltenskodex zum Schutz von Kindern vor sexu- aus dem unmittelbaren Nahbereich kommen. Unsere eller Ausbeutung vereinbart haben. Die Umsetzung Antwort darauf muss sein, dass wir Kinder stark machen dieses Verhaltenskodexes muss unbedingt weiter voran- gebracht werden. Sie haben hier unsere volle Unterstüt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zung. und Erwachsene sensibel und aufmerksam machen, da- (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött mit sexuelle Gewalt von Anfang an keine Chance hat. [CDU/CSU]) Wir wissen, dass laut Statistik 15 000 Fälle jährlich er- fasst werden. Wir wissen aber gleichzeitig, dass die Sexueller Missbrauch von Kindern wird zunehmend Dunkelziffer in diesem Land um einiges höher ist als zu einem grenzüberschreitenden Problem. Dieser Antrag diese 15 000 Fälle. geht deshalb in die richtige Richtung. Ein wirksamer Schutz ist nur durch internationale Zusammenarbeit aller Diese Kinder leiden meist ein Leben lang unter trau- beteiligten Länder möglich. matischen Folgen. Die Mädchen und Jungen fühlen sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15557

Ekin Deligöz (A) schuldig, sie schämen sich für das Geschehen und wol- Einen Punkt haben wir schon konsequent umgesetzt, (C) len vielleicht sogar ihre Verwandten, Freunde, Brüder, nämlich den Rahmenbeschluss Menschenhandel. Die Geschwister und Väter schützen. Der Geheimhaltungs- entsprechenden Vorschriften des Strafgesetzbuches sind druck ist eine ständige Belastung. Die Kinder sind einge- mittlerweile erarbeitet worden und am 19. Februar die- schüchtert durch Drohungen, sie haben Angst und sie le- ses Jahres in Kraft getreten. Denn wir nehmen das ben in Unsicherheit, dass das immer wieder passiert. Von Thema ernst und wollen Kinder und Jugendliche besser einer unbeschwerten Kindheit kann keine Rede sein. Sie vor sexueller Ausbeutung schützen. können vor allem kein Vertrauen fassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gerade deshalb müssen wir alles tun, um unsere Kin- und bei der SPD – Dr. Andreas Scheuer [CDU/ der davor zu schützen. Gerade deshalb brauchen diese CSU]: Was sagen Sie denn zu dem Fall in Bul- Opfer Hilfe und Unterstützung. Das Kindeswohl muss garien, wo Pädophile Kinder nach Deutsch- für uns bei allem, was wir tun, Vorrang haben. land geholt haben?) Wir müssen auch die Täter konsequent verfolgen und Die Familie sollte für alle Kinder ein Ort der Vertraut- bestrafen. heit sein. Unsere Kinder sollten in dieser Gesellschaft selbstbewusst aufwachsen können. Es geht darum, ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Wir müssen ge- und bei der SPD) meinsam daran arbeiten. Ich glaube, das Thema sollte nicht nach parteipolitischen Interessen behandelt wer- Aber, Frau Kollegin Schmid, an dieser Stelle muss ich den. sagen: Wir müssen die Strafgesetze konsequent anwen- den. Glauben Sie aber, dass man durch dieVerschär- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fung des bestehenden Strafrechts – Kindesmissbrauch und bei der SPD) ist eine Straftat in Deutschland – ein einziges Kind vor Ich wünschte mir, dass Sie heute den Mut aufbringen, Missbrauch schützt oder vor einem sexuellen Übergriff unserem Antrag zuzustimmen, statt lediglich festzustel- rettet? len – auch wenn es gut gemeint ist –, dass nicht nur hin- (Angela Schmid [CDU/CSU]: Das glauben sichtlich der Ideologie eines verschärften Strafrechts, wir!) sondern auch für die Kinder etwas getan werden muss. Ist das die Antwort? Ich sage Nein. Wir müssen auf un- (Angela Schmid [CDU/CSU]: Das eine sere Kinder setzen und unsere Kinder stark machen. schließt das andere nicht aus!) (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Auch das, aber Es geht um unsere Kinder. (B) das allein genügt nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) und bei der SPD) Wir müssen präventiv herangehen und niedrigschwel- lige Angebote unterbreiten. Strafrecht allein ist mir zu wenig. Das ist mir nicht weitreichend genug. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDP- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion. und bei der SPD – Dr. Andreas Scheuer [CDU/ CSU]: Warum schließt das eine das andere (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Der um- aus?) reißt das Thema in drei Minuten!)

Die Übergriffe dürfen erst gar nicht stattfinden. Ich will Klaus Haupt (FDP): sie nicht verfolgen, sondern ich will, dass sie überhaupt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nicht stattfinden. glaube, wir sind uns darin einig, dass sexueller Miss- (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Starke brauch von Kindern zu den abscheulichsten Verbrechen Kinder und starke Gesetze, mehr wollen wir gehört. Gegen die Scheußlichkeit solcher Untaten muss nicht!) alles Erdenkliche getan werden, um Kinder vor unvor- stellbarer Erniedrigung, Demütigung und Qual zu be- Es geht um Prävention, um Intervention und darum, Kin- wahren. der in dieser Gesellschaft aufzuklären. Es geht auch um die Multiplikatoren, die Polizei und die Justiz, Touris- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem mus, Eltern und Kinder, um die Nachbarschaft, Freunde, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lehrer und Erzieher. Es geht darum, dass wir in unserer In Deutschland – Frau Kollegin Schmid hat schon Gesellschaft füreinander Verantwortung übernehmen. darauf hingewiesen – werden laut Polizeilicher Krimi- nalstatistik jährlich etwa 20 000 Kinder Opfer sexueller Deshalb fordern wir die niedrigschwelligen Angebote Übergriffe. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs; die wie Kinder- und Jugendtelefone. Wir wollen ein Infor- Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Nach repräsen- mationszentrum zu Kindesmissbrauch. Wir wissen, dass tativen Erhebungen sind 8,6 Prozent der Mädchen und wir relativ wenig wissen, und deshalb wollen wir mehr 2,8 Prozent der Jungen im Laufe ihres Lebens Opfer wissen, auch über die Täter, um unsere Kinder möglichst sexueller Übergriffe geworden. gut vor ihnen zu schützen. Wir wollen regionale Netz- werke, die es schon gibt. Meine Kollegin hat ein Beispiel Ein Großteil dieser Taten kommt nicht zur Anzeige. genannt. Zugleich ist das Engagement gegen diese Taten stark auf 15558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Klaus Haupt (A) die bekannten, rechtskräftig verurteilten Straftäter fokus- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) siert. Damit bleibt ein Großteil des Problems verborgen, Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die ungelöst und ungesühnt. Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion das Bekämpfungsstrategien können nur dann nachhaltig Wort. wirksam sein, wenn sie auf Zivilcourage setzen und das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in unserer Gesellschaft leider übliche Wegschauen ein Ende hat. Dazu kann und muss die Politik einen wichti- gen Beitrag leisten. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Wichtige politische Aufgaben sind unter anderem:Erwachsene sind für das Wohlergehen der Kinder in un- präventive Maßnahmen auszubauen und einzubetten in serer Gesellschaft verantwortlich. Wir wollen – zumin- ein Netz ausreichender Hilfsangebote – das heißt diedest haben wir das in unserer Gesellschaft gemeinsam stärkere Verzahnung von Prävention und Intervention –; beschlossen –, dass sie unbeschadet aufwachsen können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir wollen sie vor Unheil schützen. den Opferschutz und Zeugenschutz für Kinder im Straf- Eine besonders abscheuliche Form des Unheils sind verfahren zu verbessern und auch deren Familien einzu- die sexuelle Gewalt und Ausbeutung. Es handelt sich da- beziehen; die Möglichkeit der Opferhilfe für die Kinder bei nicht um eine Naturgewalt, gegen die man machtlos zu verbessern sowie effektivere opfer- und täterbezo-ist, oder ein Kavaliersdelikt, das man sich verzeiht. Nein, gene Präventionsmaßnahmen zu realisieren. Ich glaube, sexuelle Gewalt und Ausbeutung fügen Kindern die wir sind uns auch darin einig, das besondere Informa- schlimmsten Verletzungen zu. tionsmaßnahmen zur weiteren Sensibilisierung der brei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ten Öffentlichkeit über sexuellen Missbrauch, sein We- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sen und seine verheerenden Folgen wichtig sind. Sie sind bewusst geplant und sorgfältig vorbereitet. Zwei Viele Missbrauchsfälle könnten verhindert werden, Drittel der überwiegend männlichen Täter kommt aus wenn sexuelle Übergriffe nicht übersehen oder bagatelli- dem sozialen Umfeld. Es sind Verwandte und Bekannte, siert, sondern wahrgenommen und angezeigt werden. also Väter, Stiefväter, Brüder, Onkel und Opas. Für die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) betroffenen Kinder ist es extrem schlimm, genau dort damit umgehen zu müssen. Die Opfer, die Kinder, haben Dazu gehört auch diealtersgerechte Aufklärung der meistens unter schwerwiegenden seelischen und körper- Kinder über die Gefahren sexueller Ausbeutung. Imlichen Folgen zu leiden. Nicht wenige haben ihr Leben (B) Rahmen der Lehrpläne an den Schulen muss über dielang daran zu tragen und werden es nicht los. (D) Gefahren des Missbrauchs, aber auch über die Möglich- keiten, sich dagegen zu wehren, aufgeklärt werden. Von Mein Kollege Haupt hat schon gesagt, dass die Poli- zentraler Bedeutung ist auch die Verbesserung der Aus- zeiliche Kriminalstatistik 2003 rund 20 000 angezeigte und Weiterbildung derjenigen, die beruflich mit Kindern Delikte ausweist, bei denen es um Kinder als Opfer se- zu tun haben, damit diese Personen Fälle von sexueller xueller Übergriffe geht. Wir wissen aber, dass die Dun- Ausbeutung erkennen und rechtzeitig die notwendigen kelziffer weitaus höher liegt. Deshalb ist es Aufgabe al- Maßnahmen ergreifen können. ler hier, nicht nur der Kinderpolitikerinnen und Es ist zu begrüßen, dass vorgestern 60Reiseveran- Kinderpolitiker, und draußen in der Gesellschaft – ich stalter in Tokio einen von UNICEF ausgearbeitetenwürde mich sehr freuen, wenn sich die Kolleginnen und Verhaltenskodex gegen die sexuelle Ausbeutung von Kollegen von der Opposition entschließen könnten, un- Kindern unterzeichnet haben. Der Kindersextourismus seren Antrag zu unterstützen –, sexuelle Gewalt und erfordert eine besondere, ressortübergreifende Bekämp- Ausbeutung durch eine umfassende Strategie zu be- fungsstrategie, die zudem auch die unterschiedlichenkämpfen. Genauso versteht sich unser Antrag. Er sieht Länder und Regionen einbezieht. Auch diese Bekämp- eine Gesamtstrategie gegen sexuelle Gewalt und Aus- fungsstrategie muss sowohl den Täterbereich als auch beutung vor. den Opferbereich berücksichtigen. Abschreckung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Strafe, aber auch Prävention, Information und Hilfe sind DIE GRÜNEN) hier notwendig. Wir haben in den letzten Jahren Erfolge verzeichnen Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch fügen können. Wir haben auch an den Konferenzen in Stock- Kindern schwersten Schaden an Leib und Seele zu. Die holm und Yokohama aktiv teilgenommen. Wir haben seelischen und womöglich auch die körperlichen Narben zwei Aktionsprogramme umgesetzt, das letzte 2003, den bleiben lebenslang bestehen. Das Grundvertrauen der Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen betroffenen Kinder in andere Menschen wird zerstört. vor sexueller Gewalt. Darauf bezieht sich unser gemein- Es ist eine Herausforderung an die ganze Gesell-samer Antrag. schaft, diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Ende zu setzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Danke. Der Aktionsplan umfasst vier Felder. Das eine ist der (Beifall im ganzen Hause) strafrechtliche Teil. Im Strafrecht haben wir reformiert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15559

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) Es ist daher unfair, zu sagen, dort sei nichts geschehen. was nicht. Gesetze können nur Krücken sein. Noch im- (C) Aber es spiegelte eine nicht vorhandene Sicherheit vor, mer erleben zu viele Kinder sexuelle Gewalt. Aber Kin- wenn wir die Strafen zunehmend verschärften. der haben ein Recht, ohne Gewalt und ohne Missbrauch aufwachsen zu können. Wir haben ihre eigenständige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Persönlichkeit und Würde zu respektieren. Das sage ich DIE GRÜNEN) als Kinderbeauftragte, die sich eigentlich längst mit Se- Denn wenn es stimmte, dass schärfere Strafen helfen,niorenpolitik beschäftigen müsste. Es kann in diesem dann dürfte in den USA keine einzige Straftat in diesem Parlament und außerhalb von ihm nämlich niemals zu Bereich passieren. Dort gilt nämlich die Todesstrafe, das viele Menschen geben, die sich mit Kinderbelangen und heißt, die Straftat ist mit der Höchststrafe bewehrt. vor allem mit dem Schutz von Kindern beschäftigen. Wir bekennen uns in der EU dazu, dass wir die Todes- Ich rufe Sie alle auf: Machen Sie mit! Das Wert- strafe nicht wollen. Aber auch die Todesstrafe kann nicht vollste, was wir haben, sind unsere Kinder. Die Weltkon- verhindern, dass jemand zum Straftäter wird und eine ferenz in New York hat festgestellt: Kinder sind die Ge- solche Straftat begeht. Deshalb ist es wichtig, dort, wo es genwart, nicht erst die Zukunft. Wir müssen dafür notwendig ist, Strafverschärfungen vorzunehmen – das sorgen, dass sie gut aufwachsen. haben wir getan – und alle anderen Bedingungen zu ver- Vielen Dank. bessern: Opferschutz, Prävention, die Effektivierung der internationalen Zusammenarbeit und Strafverfolgung so- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie die Vernetzung aller, die mit Kindern arbeiten und DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke zum Schutz der Kinder da sind. Das muss unser Anlie- [FDP]) gen sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN) Ich schließe die Aussprache. Ich will, dass solche Taten erst gar nicht geschehen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Ich will, dass sie so weit wie möglich verhindert werden. schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Dazu hat die Kampagne „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ Drucksache 15/4553 zum Antrag der Fraktionen der im letzten Jahr beigetragen. Mit dieser Kampagne haben SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel wir versucht, die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sen- „Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt sibilisieren. Ich denke, das ist gelungen. Auch der Ratge- und Ausbeutung schützen“. Der Ausschuss empfiehlt, ber „Mutig fragen – besonnen handeln“ geht genau da- den Antrag auf Drucksache 15/3211 anzunehmen. Wer (B) rauf ein. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt (D) dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Diese Be- Ich will noch auf die grenzüberschreitende sexuelle schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Gewalt gegen Kindereingehen, Stichwort: deutsch- tschechische Grenze. Das Thema Opfer ist hoch sensi- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: bel, weil es sich bei den Opfern häufig um Minderheiten Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas in diesem Land handelt. Aber wir vergessen dabei, die Rachel, Dr. Maria Böhmer, Hubert Hüppe, weite- Täter unter die Lupe zu nehmen. Unser Blick ist sehr rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU häufig zu opferzentriert. Wir brauchen die optimale Zu- sammenarbeit. Dafür hat sich bereits 2002 eine Arbeits- Forschungsförderung der Europäischen Union gruppe unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisa- unter Respektierung ethischer und verfas- tionen gebildet. Es ist äußerst schwierig und sensibel, für sungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten eine Verbesserung zu sorgen. Dabei spielen die für die – Drucksache 15/4934 – Polizei zuständigen Länder und der Bundesgrenzschutz Überweisungsvorschlag: eine wichtige Rolle. Sie alle versuchen gemeinsam, die Ausschuss für Bildung, Forschung und Täter zu verfolgen. Die jetzige Rechtslage erlaubt be- Technikfolgenabschätzung (f) reits, die Täter da zu verfolgen, wo sie wohnen. Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir haben bereits Maßnahmen ergriffen. Bei einigen Maßnahmen sind wir dabei, sie umzusetzen. Ich erinnere Auch hierüber soll nach einer interfraktionellen Ver- an die Bund/Länder-Koordinierungsgruppe zur Umset- einbarung eine halbe Stunde diskutiert werden. – Ich zung des nationalen Aktionsplans – als Kinderbeauf- höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. tragte bzw. als Mitglied der Kinderkommission gehöre Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege ich ihr an –; auch sie trägt dazu bei, dass auf diesem Ge- Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion. biet ständig weitergearbeitet wird. Wir waren uns einig – das haben alle Redebeiträge Thomas Rachel (CDU/CSU): gezeigt –: Sexuelle Gewaltmuss grundsätzlich gesell- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- schaftlich geächtet sein. Da gibt es keine Toleranzzone, ren! Zum wiederholten Male diskutieren wir im keine Grauzone, die offen lässt, was noch erlaubt ist und Deutschen Bundestag das Thema der embryonalen 15560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Thomas Rachel (A) Stammzellforschung. Bereits im Jahr 2002 wurde einrung menschlichen Lebens darstellt, die eben von For- (C) wegweisender Beschluss gefasst. Dieser über Fraktions- schungszwecken nicht mehr gedeckt ist. grenzen hinaus getroffene Beschluss war eine bio- (Jörg Tauss [SPD]: Wie sieht das denn die ethische Richtungsentscheidung. Der Bundestag hat Frau Merkel?) eindeutig festgestellt, dass die Zerstörung eines Embryos zur Herstellung embryonaler Stammzellen gegen die Es kann für eine breite Unterstützung und Akzeptanz der Menschenwürde des Embryos und dessen Recht auf dringend nötigen Forschungsprogramme der EU deshalb Leben verstößt. Daher wurde die Förderfähigkeit von nur schädlich sein, wenn diese am Maßstab des Grund- Projekten der Stammzellforschung auf bestehendegesetzes getroffene Werteentscheidung nicht respektiert Stammzelllinien beschränkt, die bereits vor dem 1. Ja- würde. Wir fordern daher die Bundesregierung nach- nuar 2002 gewonnen wurden. drücklich auf, in den Verhandlungen auf EU-Ebene dafür zu sorgen, dass sich dieser Respekt für das Diese Entscheidung des Bundestages hatte auch Aus- menschliche Leben in den Richtlinien des 7. EU-For- wirkungen auf die Europäische Union, denn auf Bitten schungsrahmenprogramms niederschlägt. mehrerer EU-Staaten hat die EU einMoratorium be- schlossen, demzufolge bis zum Ende des Jahres 2003 (Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie irgendeinen ent- keine Vorhaben finanziert werden, bei denen menschli- gegengesetzten Hinweis?) che Embryonen verwendet werden sollen. Der Beschluss des Bundestages vom Januar 2002 hat Darüber hinaus hat der Bundestag im Oktober 2003 konkrete Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt. Dem- an die EU-Kommission appelliert, auch nach 2003 von nach dürfen nur die Forschungsvorhaben gefördert wer- der Förderung verbrauchender Embryonenforschung den, die bereits zu einem festenStichtag existierten. Abstand zu nehmen. Leider sind die entsprechendenAuch in anderen Ländern wie den USA haben sich ent- Verhandlungen auf EU-Ebene über eine mögliche Ver- sprechende Stichtagsregelungen bewährt. Sie haben längerung dieses Moratoriums gescheitert. Der Bundes- auch die notwendige Grundlagenforschung in Deutsch- regierung ist es bislang nicht gelungen, auf EU-Ebene land nicht beschädigt. Auch auf europäischer Ebene dür- eine Lösung zu erwirken, die der deutschen Rechtslage fen entsprechend dem heute vorliegenden Antrag der entspricht und die die Menschenwürde der Embryos res- CDU/CSU nur Forschungsvorhaben mit Stammzellli- pektiert. nien gefördert werden, die bereits zu einem festen Stich- tag existierten. Nach dem Abbruch der Verhandlungen auf EU-Ebene ist jetzt zu befürchten, dass 7. im EU-Forschungs- (Jörg Tauss [SPD]: Steht im Gesetz!) rahmenprogramm, welches ab 2007 gelten soll, keine Das heißt, es könnte auch ein Stichtag sein, auf den sich (B) (D) Restriktionen mehr für die Finanzierung von verbrau- die Länder der Europäischen Union einigen. Es ist auf chender Embryonenforschung vorgesehen sein werden. jeden Fall ethisch nicht vertretbar, ab 2007 Projekte zu Dies ist eine Entwicklung, die wir nicht widerspruchslos fördern, für die menschliche Embryonen getötet werden. hinnehmen dürfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrike Ulrike Flach [FDP]: Das tun die anderen Län- Flach [FDP]: Das sollten Sie aber!) der ja auch!) Sehr geehrte Damen und Herren, auch wenn in man- Natürlich beinhaltet unsere Forderung nicht, dass wir chen Mitgliedstaaten der EU andere Regelungen als bei als Bundesrepublik Deutschland anderen Ländern unsere uns gelten, so besteht in Deutschland kein Bedarf an ei- Regelungen vorschreiben wollen. ner Revidierung der Entscheidung von 2002. Die Um- stände haben sich nicht geändert, die ethische Bewer- (Ulrike Flach [FDP]: Was denn sonst?) tung eines Embryos in Deutschland war nicht von der Natürlich können die im nationalen Rahmen ihre eigenen Entwicklung der Gesetzgebung in den Nachbarländern Entscheidungen treffen. Im 7. Forschungsrahmenpro- abhängig und darf es auch nicht werden. Daher mussgramm der EU, welches die ethischen und verfassungs- sich der Deutsche Bundestag strikt dagegen wenden,mäßigen Grundsätze aller Mitgliedstaaten berücksichti- dass zukünftig Forschungsvorhaben der Stammzellfor- gen muss, ist jedoch eine Begrenzung unverzichtbar. Im schung mit europäischen und damit letztlich auch deut- Übrigen ist es auch eine Frage der Chancengleichheit, schen Mitteln gefördert werden, zumal wenn dieser For- dass Forschungsarbeiten im Bereich der Biomedizin schungsweg nach deutschem Recht sogar eine Straftat nicht von der EU gefördert werden, sofern sich einzelne darstellt. Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Rechtsordnung nicht an ihnen beteiligen können. Die gemeinsame Forschungsförderung ist ein Eck- pfeiler der Zusammenarbeit in Europa und unverzichtbar Das Europaparlament hat sich übrigens gerade in die- für Innovation und wirtschaftliche Entwicklung in der sen Tagen mit einer Mehrheit von 307 zu 199 Stimmen EU. Sie muss daher auch im Bereich der Bioethik im gegen die Förderung der verbrauchenden Embryonen- Einklang mit den grundlegenden Verfassungsgrundsät- forschung aus dem europäischen Haushalt ausgespro- zen der Mitgliedstaaten stehen. Hier gibt es den Mehr- chen. Das entspricht genau unserem Antrag und dafür heitsbeschluss des Deutschen Bundestages, dass ver-setzen wir als CDU/CSU uns ein. Nach Meinung des Eu- brauchende Embryonenforschung gegen das Recht des ropäischen Parlaments sollten die EU-Mittel stattdessen Embryos auf Leben verstößt und eine Instrumentalisie- auf viel versprechende Alternativen umgelenkt werden, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15561

Thomas Rachel (A) nämlich auf die adulte Stammzellforschung und auf die schungsförderung sieht es die Zentralisierung, die Bün- (C) Stammzellforschung im Bereich des Nabelschnurblutes. delung von Forschungsaktivitäten in Europa vor. Das ist Das ist genau der richtige Ansatz, den wir nachdrücklich sinnvoll und vernünftig. Allerdings enthält dieses Pro- unterstützen. gramm aus Sicht der Mehrheit des Bundestages auch das Problem, dass mit diesen europäischen Mitteln eben Sehr geehrte Damen und Herren, das Konzept desauch embryonale Stammzellforschung gefördert werden 7. EU-Forschungsrahmenprogramms liegt in seinen kon- kann und soll. Das hieße in der Konsequenz, dass mit kreten Ausführungen noch nicht auf dem Tisch. Das bie- Geld, das unter anderem auch aus Deutschland stammt, tet uns die Chance – und wir erwarten von der Bundes- auf europäischer Ebene Projekte gefördert werden dürf- regierung, dass sie die Zeit nutzt –, dass wir ten, uns die nach deutscher Rechtslage nicht erlaubt, ja sogar gemeinsam mit den anderen Staaten der EU, die die ver- strafbar wären. brauchende Embryonenforschung ablehnen, aktiv darum bemühen, deren Förderung im EU-Forschungsrahmen- Wir haben deshalb im Januar 2002 gleichzeitig auch programm zu verhindern. Eine Änderung des Stamm- beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, darauf zellkompromisses, wie er hier im Deutschen Bundestag hinzuwirken – ich darf zitieren –, beschlossen worden ist, praktisch durch die Hintertür dass auch auf europäischer Ebene bei den For- über die EU ist nicht akzeptabel und wird von uns abge- schungsprojekten eine Beschränkung auf beste- lehnt. hende Stammzelllinien vorgenommen wird. Sie (Beifall bei der CDU/CSU) wird aufgefordert, entsprechende Regeln für die Stammzellforschung aus Mitteln der Europäischen Meine Damen und Herren, das ist – das sage ich auch an Union durchzusetzen. die hier zahlreich vertretenen Mitglieder der deutschen Bundesregierung; man sieht daran, welchen Stellenwert Die Bundesregierung hat diesen Auftrag angenommen, dieses Thema hat – übrigens als einziges Land in der Europäischen Union, und hat ihn sehr erfolgreich umgesetzt. (Jörg Tauss [SPD]: Albern!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht nur eine Frage des Embryonenschutzes, sondern es DIE GRÜNEN) geht auch darum, den erklärten Willen des Parlaments zu respektieren. Ich will auch deutlich machen, dass der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär und jetzige Staatssekre- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. tär Wolf-Michael Catenhusen großes Verhandlungsge- (Beifall bei der CDU/CSU) schick bewiesen hat und auch erfolgreich war. (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das Wort hat nun der Kollege René Röspel, SPD- CDU/CSU) Fraktion. Er hat es nämlich geschafft, innerhalb der Europäischen (Beifall bei der SPD) Union ein Moratorium zu erreichen, durch das eine Förderung von Forschung, die in Deutschland verboten wäre, nicht stattfindet. Dieser Beschluss gilt auch weiter. René Röspel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Allerdings hat sich bei den Rahmenbedingungen eini- Herren! Im Januar 2002 – Herr Rachel erwähnte es ein- ges verändert. Wir haben in der Europäischen Union gangs – gab es im Deutschen Bundestag eine sehr große zehn neue Mitgliedstaaten, deren Haltung noch nicht fünfstündige Debatte über die Frage, ob an embryonalen klar ist. Wir haben mit Spanien und Portugal zwei Län- Stammzellen und an Embryonen in Deutschland ge-der, die die Auffassung der Bundesregierung unterstützt forscht werden soll. Ein Journalist hat diese Debatte da- haben, bei denen aber die Regierung gewechselt hat und mals – wie ich glaube, zu Recht – als Sternstunde desjetzt eher eine andere Tendenz herrscht. Das heißt, die Parlaments bezeichnet. Es standen damals drei unter-Situation hat sich verändert; sie ist schwieriger gewor- schiedliche Anträge zur Wahl und die Mehrheit desden. Deutschen Bundestages hat sich dafür entschieden, dass, Nicht verändert aber hat sich das Handeln der deut- wie Margot von Renesse es einmal ausdrückte, für deut- schen Bundesregierung, sche Forschung kein Embryo sterben solle. Es wurde letztlich ein Kompromiss beschlossen, der im April 2002 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Stammzellimportgesetz seinen Ausdruck fand. Da- DIE GRÜNEN) nach darf in Deutschland anembryonalen Stamm- zellen, die zu einem bestimmtenStichtag schon herge- die entsprechend dem Auftrag, den wir ihr im stellt waren, für die also kein neuer Embryo zerstörtJanuar 2002 erteilt haben, agiert und auf europäischer werden musste, geforscht werden. Die deutsche Rechts- Ebene versucht, dafür zu sorgen, dass keine Förderung und Gesetzeslage war damit seit dem Jahr 2002 klar. von embryonaler Stammzellforschung stattfindet bzw. keine Embryonen zerstört werden. Das ist nicht einfach. Anders ist es auf europäischer Ebene. Dort gibt es das Die Schwierigkeit ist, dass in vielen europäischen Län- 6. EU-Forschungsrahmenprogramm – ein gutes Pro-dern eine andere Rechtslage herrscht. In Großbritannien gramm. Als zentrales Instrument europäischer For-ist viel mehr erlaubt als nach deutschem Gesetz möglich. 15562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

René Röspel (A) Unsere Gesetzeslage wird sicherlich von der breitenbieten innerhalb der thematischen Schwerpunkte im EU- (C) Mehrheit des Bundestages – es gibt ja in jeder Fraktion Forschungsprogramm. unterschiedliche Positionen dazu; in fast jeder, bis auf die FDP – (Jörg Tauss [SPD]: Na ja!) (Ulrike Flach [FDP]: Gott sei Dank, Herr Eine sinnvolle Zusammenarbeit auf der Basis wissen- Röspel!) schaftlicher Exzellenz kann nicht erfolgen, wenn Wis- senschaftler einzelner Länder aufgrund ethischer Beden- unterstützt. ken nicht an Forschungen teilnehmen können, bei denen es auch um menschliche Embryonen geht. Jetzt bringt die CDU/CSU einen Antrag ein, der im Wesentlichen dem Antrag folgt, den wir im Juli 2003 (Jörg Tauss [SPD]: Zwei Anträge! Einen Popanz quer durch alle Fraktionen hier beschlossen haben, und sollte man da nicht aufbauen!) der die Bundesregierung auffordert, ihr Handeln fortzu- setzen. Wir haben es als rot-grüne Koalition nicht für nö- – Ja, Herr Tauss, aber so ist es. Wenn man Ihnen folgt, tig gehalten, einen neuen Antrag zu stellen, weil wir se- wird es auf der EU-Ebene eine solche Forschung nicht hen, dass das Verhalten der Bundesregierung weiterhin mehr geben. Das wollen wir Liberalen nicht. im Sinne der Beschlusslage ist. Aber weil wir Ihren An- (Beifall bei der FDP) trag inhaltlich im Wesentlichen unterstützen können Ihr Antrag bedeutet das Aus für solche Projekte. Das (Jörg Tauss [SPD]: Er ist überflüssig!) Irrwitzige dabei ist, dass Sie damit im Prinzip überhaupt – zumindest die Mehrheit unserer Fraktion; auch bei uns nichts erreichen. Denn natürlich wird es national in den gibt es unterschiedliche Positionen, das ist kein Geheim- jeweiligen Nachbarländern weiter Forschung an über- nis, entspricht aber guter demokratischer Gepflogen-zähligen Embryonen geben. Das ist in Frankreich der heit –, strecken wir unsere Hand aus und bieten Ihnen Fall, auch außerhalb des EU-Bereichs, in der Schweiz, an, im Rahmen des Ausschussverfahrens zu versuchen, und selbstverständlich in Belgien, Skandinavien und einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen, der dieSpanien. Bundesregierung in Fortsetzung der mehrfach gefassten (Jörg Tauss [SPD]: Da geht Herr Rachel dann Beschlüsse hin!) (Jörg Tauss [SPD]: Ermuntert!) Um es kurz zu sagen: Sie gehen hier mit einem symboli- – ermuntert – ermutigt und auffordert, sich auf europäi- schen Akt ins Parlament, mit dem Sie auf EU-Ebene scher Ebene weiterhin dafür einzusetzen, dass embryo- nichts erreichen können. (B) nale Stammzellforschung nicht gefördert wird. Das ist (D) ein schwieriges Unterfangen. Wir wünschen der Bundes- (Beifall bei der FDP) regierung an dieser Stelle weiterhin viel Glück und Er- Zweitens. Sie behaupten, dieStichtagsregelung in folg dabei. Deutschland habe sich bewährt. Sie hat sich nicht be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ währt. Diese Meinung haben wir immer wieder geäußert DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und wir haben uns auch die Mühe gemacht, mit den be- CDU/CSU) troffenen Forschern hier in Deutschland zu reden. Jeder von ihnen hat uns bestätigt, dass man selbstverständlich Stammzellmaterial braucht, das jenseits des derzeit fest- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gelegten Stichtages liegt. Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, FDP- Fraktion. (René Röspel [SPD]: Die sind noch lange nicht am Ende ihres Erkenntnisgewinns!) Ulrike Flach (FDP): In dieser Situation, mit der die Politik fertig werden Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herrmuss, muss diesen Forschern geholfen werden. Röspel hat eben auf die Jahre 2002 und 2003 verwiesen. Die FDP war damals anderer Meinung und es wird Sie Drittens. Wenn man nationale ethische Standards im mit Sicherheit nicht erstaunen, dass wir selbstverständ- Bereich der Stammzellenforschung als Kriterium der lich auch heute anderer Meinung sind. Finanzierung aufstellt, dann müssen diese auch für alle anderen EU-Forschungsvorhaben gelten. Aber das wol- (Nicolette Kressl [SPD]: Doch, das erstaunt len Sie nicht. Sie handelnalso ausgesprochen inkonse- uns schon!) quent. Das würde im Endeffekt dazu führen, dass der ge- samte EU-Forschungsbereich völlig anders geregelt Für uns ist die Ethik des Heilens der Maßstab, an dem werden müsste, als dies zurzeit der Fall ist. wir uns ausrichten. Angesichts dieses Maßstabes kann Ihr heutiger Antrag natürlich nicht gut sein. Er ist sach- Meine Redezeit ist kurz. Daher fasse ich zusammen. lich falsch und er ist politisch schädlich. Ich bedauere es, dass wir uns heute erneut mit einem sol- (Beifall bei der FDP) chen Antrag befassen müssen. Herr Rachel, ich hätte mir gewünscht, dass Sie im Hinblick auf die EU zu weiterge- Erstens. Die Forschung an embryonalen Stammzel- henden und weiterführenden, für das Heilen in diesem len gehört zu den vielversprechendsten Forschungsge- Lande besseren Ergebnissen gekommen wären. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15563

Ulrike Flach (A) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das geht in die Wir haben immer darauf hingewiesen, dass verbrau- (C) falsche Richtung! – Zuruf von der SPD: Das chende Embryonenforschung auch auf europäischer sind doch immer nur unbelegte Behauptun- Ebene keine Forschungsunterstützung erhalten darf. Do- gen!) kumentiert wurde dies ausdrücklich mit dem Beschluss des Bundestages vom 16. Oktober 2003. Es ist daher als Ich sehe im Gegensatz zu Herrn Röspel nicht, dass die großer Erfolg zu werten, dass vor allem aufgrund des Bundesregierung mit ihren alten Anträgen Erfolg gehabt Drängens der rot-grünen Bundesregierung bisher keine hat. Auch diesem Antrag wird mit Sicherheit kein Erfolg EU-Forschungsmittel für verbrauchende Embryonenfor- beschieden sein. Deswegen blicken wir, obwohl wir uns schung ausgereicht wurden. Dieser Erfolg ist umso hö- heute nicht durchsetzen werden, recht frohgemut in die her einzuschätzen, da er gegen den Willen des damaligen Zukunft. Forschungskommissars Busquin und gegen das Drängen (Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: von Ländern wie Großbritannien gelungen ist. Aber richtig ist es trotzdem nicht! Die Bundes- Daher ist der heute von der Union vorgelegte Antrag regierung war erfolgreich!) im Kern mit unseren Vorstellungen vereinbar. Bereits im Vorfeld hatten wir angeboten, einen interfraktionellen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Antrag gemeinsam einzubringen, damit dem gemeinsa- Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, men Anliegen auch das entsprechende politische Ge- Bündnis 90/Die Grünen. wicht zugrunde liegt. Wir wissen doch, wie stark der Druck aus Großbritannien oder von Teilen der EU-Kom- mission ist, die Menschenwürde von Embryonen der Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heilserwartung zu opfern. Wir halten es daher für ziel- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenführend, auch weiterhin interfraktionelle Beschlüsse in und Kollegen! Debatten über Stammzellenforschung hat diesen ethischen Grundfragen zu fassen. In den Aus- dieses Hohe Haus in den letzten Jahren sehr oft erlebt. schussberatungen sollten wir diesen Versuch unterneh- Über Fraktionsgrenzen hinweg gab es mehrheitlichmen. Übereinstimmung, dass in der Abwägung zwischen den grundgesetzlich geschützten Tatbeständen Forschungs- Auch für die grüne Fraktion gilt: Eine Forschungsför- freiheit und Menschenwürde dieWahrung der Men- derung für verbrauchende Embryonenforschung im schenwürde Vorrang habe. 7. Forschungsrahmenprogramm der EU darf es nicht geben. Wir sollten uns gemeinsam überlegen, ob dieser Es ist gut, dass sich diese ethische Position zuneh-Antrag nicht um die Ablehnung weiterer ethisch bedenk- mend auch im internationalen Raum durchsetzt. Die (B) licher Forschungsmethoden erweitert werden sollte. Da- (D) jüngste Deklaration der Vollversammlung der Vereinten mit meinen wir, dass nicht nur die Forschung an und mit Nationen vom 8. März 2005, die eine klareÄchtung Embryonen, sondern auch dieNutzung menschlicher aller Arten des Klonens von Menschen beinhaltet, Eizellen in der Forschung klarer geregelt werden muss. (Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch völlig ohne Der Handel mit menschlichen Eizellen muss verboten Belang, Herr Fell!) werden, unter anderem deswegen, weil ihm gesundheit- lich problematische Behandlungen vorangehen. ist ein wichtiger Schritt zur Wahrung der Menschen- würde und fundamentaler ethischer Grundsätze. Dabei beziehe ich mich auf die Entschließung des EU-Parlaments vom 10. März 2005. Darin wird klar ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert, dass die Eizellspende zum Schutz der Spende- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) rinnen streng reglementiert werden muss. Wir sollten Sie enthält die richtige Botschaft: Die Ausbeutung von auch diesen wichtigen Aspekt in einen Antrag des Bun- Frauen ist abzulehnen. destages aufnehmen. Damit stärken wir das Ersuchen des Europäischen Parlamentes an die Kommission, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klonen von Menschen von der Finanzierung im sowie bei Abgeordneten der SPD und der 7. Forschungsrahmenprogramm auszuschließen. CDU/CSU) Meine Damen und Herren von der FDP, Frau Kolle- Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag mit einer gin Flach, uns vom Bündnis 90/Die Grünen geht es – um fraktionsübergreifenden Mehrheit in diesem Sinne auch das noch einmal ausdrücklich klarzustellen – nicht da- gegen das Töten von Embryonen zu Forschungs-rum, Hoffnungen auf Heilung unerfüllt zu lassen. Für zwecken ausgesprochen und dieses Verbot sogar gesetz- viele bisher schwer oder gar nicht zu behandelnde lich fixiert hat. Krankheiten wie Alzheimer müssen wir nach Heilungs- möglichkeiten suchen. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) (Ulrike Flach [FDP]: Schauen Sie sich das in- Dieses Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung ternational einmal an, Herr Fell!) gibt es aber leider nicht in allen EU-Mitgliedsländern. So droht nun in der Aufstellung des 7. Forschungsrah- Die Forschungsförderung bildet selbstverständlich einen menprogramms der EU die unerträgliche Situation, dass wesentlichen Ansatz. Die Frage ist aber, ob wir ausge- mit deutschen Steuergeldern indirekt Forschung finan- rechnet in ethisch verwerflichen Forschungsmethoden ziert werden könnte, die in Deutschland verboten ist. das Heil finden müssen. In den letzten Jahren hat sich 15564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Hans-Josef Fell (A) doch eine große Ernüchterung für die Erfolgsaussichten den Embryonenforschung ausgesprochen. Es hat eine(C) von Therapiemöglichkeiten mit Stammzellen gerade bei Resolution verabschiedet, nach der die Mitgliedstaaten, Krankheiten wie Alzheimer breit gemacht. Wir sollten in denen eine solche Forschung – wie etwa in Groß- daher die Forschungsförderung vor allem für andere,britannien – erlaubt ist, diese auch selbst finanzieren sol- deutlich Erfolg versprechende Möglichkeiten einsetzen. len. Aus Mitteln der EU sollen dagegen die ethisch unbedenklichen Alternativen wie – Sie sagten es, Herr (Ulrike Flach [FDP]: Warum sehen das die an- Rachel – die adulte Stammzellforschung gefördert wer- deren Länder anders, Herr Fell?) den. Dort, wo Stammzelltherapien Aussicht auf Hei- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist aber schwierig, lungschancen geben, bietenethisch unbedenkliche Frau Dominke!) Forschungen zum Beispiel mit adulten Stammzellen oder mit Stammzellenlinien, die vor dem Stichtag ge- Diese Resolution begrüßen wir ausdrücklich. wonnen wurden, genügend Möglichkeiten. Auch deswe- gen bedauern wir sehr, dass der Forscher Ian Wilmut mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- deutschen Steuergeldern ausgezeichnet wurde, obwohl ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) er ethisch verwerfliche Forschungen wie das Klonen von Leider können wir unseren Antrag damit aber noch Menschen anstrebt. nicht ad acta legen, denndie Entscheidungssituation in (Beifall der Abg. Vera Dominke [CDU/CSU]) Europa ist viel komplizierter. In drei Wochen, am 6. April, will die EU-Kommission – so ist aus Brüssel zu Bündnis 90/Die Grünen haben das in der Öffentlichkeit hören – einen Vorschlag fürdas 7. Forschungsrahmen- und intern innerhalb der Regierung ausführlich kritisiert. programm vorlegen. Dieser geht dann zu zwei Lesungen Wir haben viele Fragen an Ian Wilmut. Kann er esin das Europäische Parlament, das seinerseits Ände- ethisch vertreten, beschränkte Forschungsmittel fürrungsanträge stellen kann. Die letzte Entscheidung trifft ethisch verwerfliche Forschungsmethoden auszugeben, dann der Ministerrat, der im günstigsten Fall die Ände- obwohl sie mit Sicherheit keine Heilserwartung für die rungsanträge des Parlamentes berücksichtigt. Noch offen Hunderte von Millionen von Menschen ergeben, die vor ist dabei aber, ob sich dieKommission in ihrem Vor- allem in Entwicklungs- und Schwellenländern an Krank- schlag überhaupt zur Frage der Förderung der verbrau- heiten sterben, für die es überhaupt noch keine Medika- chenden Embryonenforschung und zur embryonalen mente und erfolgreichen Behandlungsmethoden gibt? Stammzellforschung einlassen wird. Wenn sie das nicht Hält er es für mit Art. 12 der Richtlinie 2004/23/EG, die tut, bleibt dieser Komplex weiterhin ungeregelt – mit der klarstellt, dass Zahlungen – außer Entschädigungszah- Folge, dass eine derartige Forschungsförderung durch (B) lungen – für Zell- und Gewebespenden in Europa nicht die EU nicht ausgeschlossen ist. (D) akzeptabel sind, (Ulrike Flach [FDP]: Eben!) (Ulrike Flach [FDP]: Darum geht Dieser Zustand besteht im Grunde genommen seit An- es doch gar nicht!) fang 2004, seitdem dasMoratorium ausgelaufen ist, vereinbar, wenn Frauen für Eizellspenden eine IVF-Be- wie das auch im vorliegenden Antrag ausgeführt worden handlung, eine Sterilisation, eine Zahnbehandlung oder ist. Dieser Zustand sollte unseres Erachtens nicht andau- Geld angeboten wird? ern. (Ulrike Flach [FDP]: Ach was! (Jörg Tauss [SPD]: Also Rachel nach Brüssel!) So ein Unsinn!) In der Sache haben wir in diesem Hause – das ist Wir setzen uns in diesem Hause wie auch im Europäi- schon mehrfach angesprochen worden – bereits einige schen Parlament dafür ein, dass sich die Forschungsför- Male unsere Position und unsere Haltung zur verbrau- derung auf EU-Ebene am ethischen Prinzip der Men-chenden Embryonenforschung mit großer fraktions- schenwürde und an den Bedürfnissen der Menschheitübergreifender Mehrheit bestätigt. Es wird jetzt weiter- orientiert. hin darauf ankommen, ob und wie die Bundesregierung dieses Votum des deutschen Parlamentes in Brüssel ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bringt und vertritt. bei der SPD und der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Wie bisher!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Wenn das so ist, Herr Tauss, dann ist es ja gut. Nichts Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Dominke,anderes wollen wir. CDU/CSU-Fraktion. Mit unserem Antrag wollen wir der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU) noch einmal den erklärtenWillen der Mehrheit des Parlamentes, Frau Flach, (CDU/CSU): Vera Dominke (Ulrike Flach [FDP]: Ja, damit müssen wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! leben!) Wie Kollege Thomas Rachel ja schon mitgeteilt hat, hat sich das Europäische Parlament vor einer Woche mit mit auf den Weg geben. Wir erwarten, dass sich wie- großer Mehrheit gegen die Förderung der verbrauchen- derum die Bundesregierung aktiv in diesem Sinne im Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15565

Vera Dominke (A) Ministerrat einbringt und nicht wie gerade jüngst beim – Herr Tauss, das ist doch jetzt ein bisschen daneben. Sie (C) Beschluss des Wettbewerbsrates über die Richtlinie bestätigen jetzt meine bisherige Haltung, Ihre Zwischen- zu Softwarepatenten abtaucht. Auch hier hatten wir im fragen abzulehnen. Haus eine fraktionsübergreifende Mehrheit und der Ver- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) treter der Bundesregierung hat nichts getan, um die Ent- scheidung des Rates zu beeinflussen. Dies wird heute eine Ausnahme bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Tatsächlich war es – ich habe noch eine Redezeit von einer Minute; ich kann deswegen Ihre Frage im Rahmen Der dänische Kollege stand mutterseelenallein auf wei- meiner Redezeit beantworten, wenn Sie keine Antwort ter Flur. hören möchten – im Ministerrat möglich, (Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine unkorrekte (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) Darstellung!) die Ansiedelung dieses Themas von der Liste B, die Wir erwarten, dass die Bundesregierung als Vertrete- durchgewunken wird, in die Liste A zu übernehmen, wie rin dieses Staates, der einen nicht unerheblichen Anteil es der dänische Wirtschaftsminister versucht hat, wobei der Mittel in die EU einbringt, die Politik Europas aktiv er aber keine Unterstützung aus den anderen Staaten er- und im Sinne der Beschlüsse des Bundestages mitgestal- fahren hat. Insofern hätte man an dieser Stelle, an der ein tet. Einfluss der Regierungen möglich war, handeln können. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht korrekt!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Dominke, der Kollege Tauss möchte Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung bei die- Ihre Redezeit verlängern. sem Thema auch auf der europäischen Ebene fürethi- sche Grundwerte unseres Landes aktiv einbringt. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei um Un- Vera Dominke (CDU/CSU): terstützung. Wir nehmen Ihr Angebot, Herr Kollege Herr Tauss, ausnahmsweise – das habe ich noch nie Röspel, und Ihr Angebot, Herr Kollege Fell, gerne auf, getan – gestatte ich das einmal. im Ausschuss zu einer gemeinsamen Position zu kom- men. Das würde das Thema sicherlich befördern. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Und wir können sagen: Wir sind dabei gewesen. Ich danke Ihnen. (Heiterkeit im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) (D) Bitte schön. NEN])

Jörg Tauss (SPD): Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Dominke, seitdem wir unser Computerspiel so Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist wunderbar abgeschlossen haben, hat sich Ihre Offenheit die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPD-Fraktion. mir gegenüber offensichtlich unglaublich erhöht; darü- (Beifall bei der SPD) ber freue ich mich.

Die Frage wäre, ob Sie zur Kenntnis nehmen würden, Dr. Carola Reimann (SPD): dass die Bundesregierung auch in der EU die Position Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das des Deutschen Bundestages in Sachen Softwarepatente EU-Forschungsrahmenprogramm ist das weltweit größte oder Patente für computerimplementierte Erfindungen Förderprogramm für Förderungsprojekte. Es wirkt auf vertritt und dass im Moment nicht im Rat eine Entschei- die Schaffung eines europäischen Forschungsraumes hin dung zu korrigieren ist, sondern dies nur im Europäi-und verbessert damit die globale Wettbewerbsfähigkeit schen Parlament möglich istund dass das Europäische Europas. Ein zentraler Förderbereich ist dabei dieBio- Parlament in seiner großen Mehrheit offensichtlich die technologie. Darunter fallen auch die Stammzellfor- Position, die der Deutsche Bundestag und die deutsche schung – sowohl an tierischen als auch an menschlichen Bundesregierung vertreten, übernehmen wird. Haben Sie sowie an adulten wie an embryonalen Stammzellen – diese Debatten auf europäischer Ebene schon mitbekom- und als Unterpunkt die Forschung an humanen embryo- men? nalen Stammzellen. Für dieses Forschungsfeld gelten hier in Deutschland Vera Dominke (CDU/CSU): als die beiden zentralen nationalen Regelungen das Selbstverständlich, Herr Tauss, habe ich sie mitbe-Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz. kommen. Beide Gesetze sind in diesem Hause umfangreich erör- (Jörg Tauss [SPD]: Wunderbar! Danke!) tert und einvernehmlich beschlossen worden. Wie mein Kollege René Röspel bin ich der Auffassung, dass die Gleichwohl möchte ich das nicht so im Raume stehen gemeinsame europäische Forschungsförderung mit die- lassen. sen rechtlichen Grundlagen in Einklang stehen muss. (Jörg Tauss [SPD]: Meine Frage war, ob Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das mitbekommen haben!) DIE GRÜNEN) 15566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Carola Reimann (A) Wir haben in Deutschlandmit dem Stammzellgesetz rahmenprogramm eine Wiederauflage des Beschlusses(C) eine klare und akzeptierte Regierung gefunden. Unsere von 2003. Mir scheint es aber so, als wollten Sie den Wissenschaftler und Forscherteams halten sich an den Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung von ihren vorgegebenen gesetzlichen Rahmen. damaligen Grundsätzen abgewichen sei. Kolleginnen und Kollegen, meiner Ansicht nach ist es (Jörg Tauss [SPD]: Das ist der eigentliche selbstverständlich – Herr Rachel hat es auch schon Hintergrund!) angesprochen –, dass im Interesse derChancengleich- heit aller Mitgliedstaaten nur solche Forschungsprojekte Dem ist aber nicht so. von der EU gefördert werden, an denen sich Forscher- (Beifall bei der SPD) teams aus allen Mitgliedstaaten beteiligen können. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland einen be-Die Haltung der Bundesregierung ist nach wie vor un- trächtlichen Anteil des finanziellen Gesamtvolumensverändert. Dies wird auch im Zuge der Verhandlungen trägt – beim 6. EU-Forschungsrahmenprogramm sind es zum 7. EU-Forschungsrahmenprogramm deutlich wer- etwa 20 Prozent von 17,5 Milliarden Euro –, bin ich der den; dessen bin ich sicher. Ich sehe keinen Anlass für ir- Meinung, dass die Bundesrepublik auch einen entspre- gendeinen Zweifel. chenden Einfluss auf die Ausgestaltung des Programms haben muss. Noch einmal zur Klarstellung, worüber wir reden: Der Entwurf des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms, Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir auf den Ihr Antrag abzielt, wird voraussichtlich im April uns in diesem Punkt einig sind. Diese Einigkeit reicht von der Kommission vorgelegt werden. Es handelt sich noch weiter; denn auch die Bundesregierung vertrittdabei, wie gesagt, um einen Entwurf und nicht um das diese Haltung. Sie setzt sich, wie sie es in der Vergan- bereits beschlossene Programm. Mitte 2005 wird es genheit schon unter Beweis gestellt hat, für die Berück- wahrscheinlich einen offiziellen Vorschlag der Kommis- sichtigung unserer nationalenrechtlichen und ethi- sion geben. Die Beratungen von Rat, Kommission und schen Grundsätze ein. Europäischem Parlament – wir haben vorhin gehört, wie das Europäische Parlament dazu steht; auch hier gibt es (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜND- keinen Anlass zu Besorgnis – werden bis zur zweiten NIS 90/DIE GRÜNEN]) Jahreshälfte 2006 andauern. Ende 2006 wird das 7. EU- Dies scheint beim Verfassen des Antrags von IhnenForschungsrahmenprogramm voraussichtlich offiziell übersehen oder vergessen worden zu sein. starten. Es bleibt also noch eine ganze Menge Zeit, „kon- zeptionelle Anregungen“, wie Sie sie fordern, einzubrin- (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen. Sie können sicher sein, dass dies, wenn es notwen- (D) DIE GRÜNEN) dig sein sollte, vonseiten der Bundesregierung auch getan werden wird. Bei der Lektüre Ihres Antrags konnte ich mich des Eindrucks eines Déjà-vu-Erlebnisses nicht erwehren. Kolleginnen und Kollegen, derinterfraktionelle Die Hirnforschung jedoch belegt, dass es Déjà-vus, wie Beschluss vom Oktober 2003 ist unserer Ansicht nach wir sie kennen oder zu kennen meinen, eigentlich garabsolut aktuell. Aus diesem Grund bin ich der Auffas- nicht gibt. Auch mein vermeintliches Déjà-vu-Erlebnis sung, dass es für die Wiederholung der damaligen Aus- war keines; denn nicht nur der Titel, sondern auch der sagen in neuer Verpackung – aus meiner Sicht ist Ihr An- Inhalt Ihres Antrags ist nahezu wortgleich mit dem inter- trag nichts anderes – keinen Bedarf gibt. Natürlich fraktionellen Beschluss, den wir hier im Bundestag am können wir dies tun. Manmuss sich als Parlament je- 16. Oktober 2003 gefasst haben. doch fragen, ob man seine eigenen Beschlüsse nicht ent- wertet, wenn man sie immer wieder bekräftigen muss. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Danke schön. Die Bundesregierung vertrat schon damals auf der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Basis dieses Beschlusses in Europa die Ansicht, dass DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach Forschungsarbeiten, an denen sich einzelne Mitglied- [FDP]) staaten aus Rechtsgründen nicht beteiligen können, nicht von der EU gefördert werden sollten. Hierfür hat sich die Bundesregierung, wie ich nde, fi sehr engagiert einge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: setzt. Sie hat diese Haltung in allen Gesprächen vehe- Ich schließe die Aussprache. ment und erfolgreich vertreten. Dafür gebührt dem Mi- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nisterium und insbesondere Wolf-Michael Catenhusen Drucksache 15/4934 an die in der Tagesordnung aufge- großer Dank; hier schließe ich mich den Worten vonführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- René Röspel an. Im aktuellen Forschungsrahmenpro-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung gramm werden deshalb auch nur solche Projekte geför- so beschlossen. dert, die nicht in Konflikt zu nationalen Gesetzgebungen stehen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10: Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, nun wol- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- len Sie im Zusammenhang mit dem 7. EU-Forschungs- regierung eingebrachten Entwurfs einesDrei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15567

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) zehnten Gesetzes zur Änderung des Arznei- Am Ende eines so intensiven und langen Diskussions- (C) mittelgesetzes prozesses lohnt es sich, ein wenig zurückzublicken. Ich erwähnte bereits die elfte AMG-Novelle. Diese ist am – Drucksache 15/4736 – 21. November 2002 vom Bundesrat verabschiedet wor- (Erste Beratung 160. Sitzung) den. Damals wurde beschlossen, Antibiotika nur noch für sieben Tage an die Tierhalter abzugeben. Das Bun- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- desratsvotum war eindeutig, nämlich 16 : 0. Alle Länder ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- waren damals dafür. Leider hat das einige Ländervertre- wirtschaft (10. Ausschuss) ter nicht davon abgehalten, in den darauf folgenden Dis- kussionen, beispielsweise in Bauernversammlungen – Drucksache 15/5112 – – ich habe einige miterlebt –, diese Entscheidung zu kri- Berichterstattung: tisieren und dies der Bundesregierung anzulasten. Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Julia Klöckner (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Friedrich Ostendorff Hört!) Hans-Michael Goldmann Um am Ende den Belangen der Landwirte Rechnung Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Verein- zu tragen, haben wir intensiv über Flexibilisierungsmög- barung eine halbstündige Debatte stattfinden. – Ich höre lichkeiten diskutiert. Der Gesetzentwurf der Bundes- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. regierung enthielt solche Ansätze. Einige werden heute Recht. Die Frage, die Siebentageregelung unter engen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Restriktionen zu flexibilisieren, ist vom Bundesrat nicht für die Bundesregierung der Parlamentarische Staats-aufgegriffen worden. Das erstaunt schon. Zuerst be- sekretär Dr. Thalheim. schließt man diese Regelung mit einem Stimmenverhält- nis von 16 : 0, dann wird dies kritisiert und es werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Änderungen gefordert. Aber als die Bundesregierung dann Änderungen vorschlug, lautete die Botschaft: Das Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der war alles nicht so ernst gemeint, wir bleiben beim alten Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Recht, also der Siebentageregelung. Landwirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ich kann diese Regelung nur begrüßen; denn dies ren! Wir schließen heute die Beratungen zur dreizehnten zeigt, dass die Bundesländer und die Verantwortlichen aus den Gesundheitsministerien der Freiheit bei der An- (B) Novelle des Arzneimittelgesetzes ab. Ich bin überzeugt, (D) dass uns der Entwurf in der vom Ausschuss geänderten tibiotikavergabe den entsprechenden Stellenwert einräu- Fassung einen großen Schritt weiterbringen wird. In dem men. Insofern bleibt es dabei. Ich kann nur sagen: Es ist Gesetzentwurf werden, wie Sie alle wissen, Forderungen eine gute Entscheidung, die wir heute treffen. aus der Tierärzteschaft und der Landwirtschaft aufge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ griffen. Die Umsetzung wird zu Erleichterungen in der DIE GRÜNEN) Praxis führen, insbesondere im Hinblick auf die Anwen- dung von verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln, Meine Damen und Herren, nach fast zweieinhalbjäh- die keine Antibiotika sind. Diese können künftig fürriger Diskussion lohnt es sich natürlich auch, darüber 31 Tage abgegeben werden. nachzudenken, was wir nicht aufgreifen; auch das möchte ich erwähnen. Eine Pflicht zurAufstellung Zudem wird mit diesem Gesetz Gemeinschaftsrecht eines Behandlungsplans wird es nicht geben. Die Tier- umgesetzt. Mit der Änderung der so genannten Umwid- ärzte unterliegen schon heute umfassenden Aufzeich- mungskaskade wird EU-Recht im Bundesrecht veran- nungspflichten. Man muss nicht erst einen französischen kert. Darüber hinaus wird im Gesetzentwurf die Philosophen bemühen, um zu sagen, dass wir keinen zu- Stellungnahme des Bundesrates berücksichtigt; damit sätzlichen Behandlungsplan brauchen. Er ist überflüssig. werden die Interessen des Verbraucherschutzes und des Die Tierärzte sollen sich die Tiere anschauen und sie ent- Tierschutzes gewahrt. sprechend behandeln. Das heute zur Entscheidung anstehende Gesetz schafft auf diesem Gebiet eine klare Rechtslage. Es trägt Um es mit einem tierärztlichen Begriff zu beschrei- auf der einen Seite den berechtigten Interessen der Land- ben, Herr Goldmann: Der Behandlungsplan ist eine Tot- wirtschaft und der Tierärzte Rechnung, auf der anderen geburt. Mit der Totgeburt „Behandlungsplan“ sollte das Seite wird dem vorbeugenden Verbraucherschutz beim gemacht werden, was Tierärzte und Landwirte üblicher- Thema Antibiotika der notwendige Stellenwert einge- weise mit Totgeburten tun. räumt. Das ist notwendiger, als wir bei der Verabschie- (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Abdeckerei!) dung der elften AMG-Novelle dachten. Gerade in jüngster Zeit gab es wieder Informationen über Antibiotikarück- Etwas anderes ist es bei der Problematik der stände in Fleisch- und Wurstwaren. Das muss uns alar- Bestandsbetreuung. Das ist ein vernünftiger Vorschlag. mieren. Bereits mit der elften Novelle sind Verschärfun- Uns fehlen die grundgesetzlichen Möglichkeiten, das im gen eingeführt worden. Sie haben aber offensichtlichArzneimittelgesetz zu verankern. Aber über diesen nicht zu dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen. Punkt sollten wir im Interesse der Landwirtschaft und im 15568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim (A) Interesse des Erhalts der Gesundheit der Tierbestände re- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gutes (C) den. Gesetz!) Ich kann nur hoffen und wünschen, dass dieses gute Die Umwandlung der Genehmigungs- in eine Anzeige- Gesetz auch sehr schnell vom Bundesrat verabschiedet pflicht bei der Einfuhr von Arzneimitteln ist auch in wird, damit die Landwirte und die Tierärzte Rechtsklar- Ordnung; das will ich ausdrücklich bestätigen. heit bekommen und damit wir einen großen Schritt zu unserem Ziel, dass Produkte aus Deutschland keine An- Aber das wesentliche Übel an der bestehenden Geset- tibiotikarückstände enthalten, vorankommen. zeslage ist damit bei weitem nicht ausgemerzt. Ich habe es schon angesprochen: Es bleibt bei derSiebentage- Vielen Dank. regelung für die Aufbewahrung von Medikamenten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kann mir jemand in diesem Hause erklären, welchen DIE GRÜNEN) Unterschied es macht, ob die Medikamente sieben, acht oder zehn Tage auf dem Hof bleiben? Hier sind willkür- liche Grenzen gewählt worden, die nichts mit der Praxis Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSU- zu tun haben. Fraktion. Man hat diese Siebentageregelung etwas aufgeweicht, (Beifall bei der CDU/CSU) indem man die Formulierung der Leitlinien einer Tierarzneimittelanwendungskommission übertragen hat. Peter Bleser (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch der (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Die braucht kein heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf heilt Mensch!) nicht die schweren Fehler des Arzneimittelgesetzes von 2002. Im Gegenteil, von einem echten Durchbruch, auf Tierarzneimittelanwendungskommission – schon der den die Tierhalter und die Verbraucherschützer jetztName lässt nichts Gutes erwarten. Sie trauen der Fach- schon seit Jahren warten müssen, kann immer noch nicht kompetenz der Tierärzte nicht. Sie unterstellen den Bau- die Rede sein. Auch das angebliche Ziel von mehr Le- ern ein Interesse am Medikamentenmissbrauch bensmittelsicherheit und Verbraucherschutz durch Ver- meidung von Antibiotikaresistenzproblemen in der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Humanmedizin wird nicht erreicht. Sie lassen mit der neten der FDP) Beibehaltung der Siebentageregelung die Tierhalter und und verhindern die schnelle Umsetzung von Erfahrun- (B) die Tierärzte in einer rechtlichen Grauzone zurück. gen und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen in(D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Praxis. Es ist, wie es immer ist: Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis, in Immerhin aber kann man attestieren, dass der langwie- diesem Falle: eine Kommission. Dem eigentlichen Ziel, rige Produktions- und Diskussionsprozess in diesem Par- einen Beitrag zur Verringerung des Medikamentenein- lament zu einigen Änderungen geführt hat. satzes zu leisten, kommen Sie nicht nach. Ganz im Ge- (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Dafür haben genteil, sie bringen die Landwirte und Tierärzte in aber nicht Sie gesorgt!) schwierigen Situationen in eine rechtliche Grauzone. Wenn da einmal richtig kontrolliert würde, kämen die Es hat das in diesem Parlament seltene Ereignis gege- entsprechenden Ergebnisse zum Vorschein. ben, dass sich die Berichterstatter der einzelnen Fraktio- nen – Sie, Herr Priesmeier, und meine verehrte Kollegin Wir meinen, dass die Siebentageregelung so nicht sinn- Frau Julia Klöckner waren dabei – über die Inhalte eines voll ist, und fordern, im Rahmen eines Behandlungsplans Gesetzes verständigen konnten. Der versendungsreife bzw. eines Betreuungsvertrages zwischen Landwirt und Brief durfte dann aber von der linken Seite des Hauses Tierarzt beide Gruppen in die Verantwortung zu nehmen, nicht unterzeichnet werden; das wurde seitens des Mi- um einen zielgerichteten Medikamenteneinsatz zu ge- nisteriums blockiert. Damit wurde ein sinnvoller Prozess währleisten. Hierfür haben wir entsprechende Bedingun- zum Erliegen gebracht. gen formuliert, die ich Ihnen kurz nennen will: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Julia Erstens. Natürlich muss eine Dokumentation der an- Klöckner [CDU/CSU]: Unerhört!) gewandten Untersuchungsverfahren, der Diagnose und Meine Damen und Herren, sei es drum! Inzwischen des verschriebenen Arzneimittels stattfinden; das ge- finden sich einige wichtige Korrekturen. Der Staats- schieht heute schon bei der Abgabe von Medikamenten. sekretär hat sie angesprochen; man soll sie auch erwäh- Dennoch muss das hier wiederholt werden. nen. Es gibt eine leichtflexibilisierte Handhabung bei Zweitens. Eine spezielle Behandlungsanweisung für den nicht antimikrobiell wirksamen Stoffen; sie können den Tierhalter sowie Hinweise für die sachgerechte La- künftig für bis zu 31 Tage abgegeben werden. Es gibt die gerung der Arzneimittel müssen gegeben werden; auch Möglichkeit, im Therapienotstand auch für Lebensmittel das ist richtig. liefernde Tiere Arzneimittel in öffentlichen Apotheken herstellen zu lassen. Es gibt die Aufhebung des Abgabe- (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das steht auf verbotes für ungewidmete Arzneimittel. der Packung!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15569

Peter Bleser (A) Drittens. Die Dokumentation der Kontrolle der Arz- Wir sind auf die Kritik des Bundesrates und der Tierärzte (C) neimittelanwendung und des Behandlungserfolges muss eingegangen. Wir haben Anhörungen durchgeführt und ebenfalls geschehen. eine interfraktionelle Arbeitsgruppe eingerichtet. Wir mussten allerdings feststellen, dass sich die Tierärzte- Viertens. Auch die Dokumentation von eventuellen schaft als besonders betroffene Gruppe in der Bewertung Wiederholungsuntersuchungen und deren Ergebnissen dieses Gesetzes offenbar alles andere als einig ist. muss erfolgen, damit die Lebensmittelsicherheit gewähr- leistet bleibt. Auch der Bundesrat vertritt heute eine etwas andere Meinung als vor einem Jahr. Wir begrüßen das. Ins- Der Schwerpunkt aber liegt auf dem Abschluss eines besondere die ursprünglich von vielen Seiten als pra- Betreuungsvertrages, weil damit erstmals das Interesse xisfremd kritisierte Siebentageregelung hat sich in- des Tierarztes an der Gesunderhaltung des Bestandes ge- zwischen offenbar als wesentlich unproblematischer stärkt wird und nicht nuran der Abgabe von Medika- erwiesen als zunächst behauptet. menten oder an der Durchführung sonstiger Behand- lungsmaßnahmen. Auch hier wollen wir Standards. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Verändert mal die Dazu gehören natürlich die Dokumentation des Gesund- Praxis!) heitszustandes der Tiere, die Prüfung der Dokumentation der Arzneimittelanwendungen sowie eventueller Be-So schreibt der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum handlungspläne durch den entsprechenden Veterinär, die vorliegenden Gesetzentwurf – ich zitiere –: Prüfung der ordnungsgemäßen Lagerung der Medika- Bei der Umsetzung der 7-Tage-Regelung für Anti- mente beim Tierhalter durch den Tierarzt sowie die obli- biotika wurden keine konkret nachweisbaren Pro- gatorische Festlegung der Bestandsbetreuung durch nur bleme in der tierärztlichen Praxis festgestellt … einen Tierarzt. Das erstaunte uns. Ich denke, damit sollte die dickste Wenn wir das machten, würden wir allen gesellschaft- Kuh vom Eis sein und wir können zu einer zügigen Ver- lichen Gruppen und auch dem Tierschutz gerecht. Ich abschiedung der dreizehnten AMG-Novelle kommen. appelliere noch einmal an die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen, aber auch an die Bundesländer, Wir haben eine Reihe vonÄnderungen vorgenom- auch diesen letzten Mangel des Gesetzentwurfs zu behe- men, die der Praxis Erleichterungen bringen, etwa bei ben. Dann hätten wir für alle Beteiligten etwas geschaf- der Abgabe von Teilmengen – Herr Bleser wies darauf fen, was wir ursprünglich alle wollten. hin –, der Anpassung der so genannten Umwidmungs- kaskade an die EU-Richtlinie 2004/28/EG und der Auf- Herzlichen Dank. hebung des Abgabeverbots umgewidmeter Arzneimittel. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Hat er alles gesagt!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Friedrich Ostendorff, Was die zu bildende Sachverständigenkommission an- Bündnis 90/Die Grünen. geht, so brauchen wir uns an dieser Stelle über deren Zu- sammensetzung nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, da diese ohnehin erst durch eine nachfolgende Rechtsver- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ordnung festgesetzt werden wird. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Worum geht es bei der dreizehnten Novelle des Arz- Ich denke, die lange und schwierige Diskussion, die neimittelgesetzes, über die wir heute beraten? Mit dem wir über diese dreizehnte AMG-Novelle geführt haben, im Jahr 2002 in Kraft getretenen Elften Gesetz zur Än- sollte uns allen eine Warnung sein, die jetzt gefundene derung des Arzneimittelgesetzes wurden neue Regeln weitgehende Einigkeit mit den Ländern nicht wieder in- für den Umgang mit Tierarzneimitteln aufgestellt. Ziel frage zu stellen. Das sage ich insbesondere mit besorg- war es, im Sinne des vorsorgenden Verbraucherschutzes tem Blick auf das, was aus Richtung CDU/CSU zu hören und des Gesundheitsschutzes den Einsatz von Tierarz- ist. Wir bemerken sehr wohl, dass Sie alles tun, um die neimitteln auf ein therapeutisch notwendiges Mindest- unionsgeführten Länder von der gefundenen vernünfti- maß zu reduzieren und dadurch die Ausbreitung von An- gen Linie wieder abzubringen. Frau Kollegin Klöckner, tibiotikaresistenzen zu vermeiden, die Qualität vonSie müssen langsam wirklich aufpassen, sich und den Tierarzneimitteln zu verbessern und die Sicherheit im Bundesrat nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Umgang mit Tierarzneimitteln zu erhöhen. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Versuchen Sie Die Erfahrungen mit der Anwendung und dem Voll- erst einmal, dass das für Sie in Schleswig-Hol- zug dieses Gesetzes haben uns aber inzwischen gezeigt, stein klappt!) dass bei einigen Regelungen offenbar Anpassungsbedarf im Hinblick auf die Anwendbarkeit in der Praxis besteht. Wir haben die Sache nun zwei Jahre lang in alle Rich- Wir haben uns im Verbraucherausschuss frühzeitig die- tungen lang und breit diskutiert. Der Bundesrat wollte ser Probleme angenommen und ich glaube, für uns alle erst so, dann anders, dann wieder so. Wir haben Ihnen sagen zu können, dass wir einen langen und intensiven wahrlich genug goldene Brücken gebaut, um eine Lö- Diskussionsprozess hinter uns haben. sung zu finden. Das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, entspricht in den entscheidenden Punkten exakt den (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!) Wünschen des Bundesrates. 15570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Friedrich Ostendorff (A) Wenn ich jetzt höre, dass Sie, Frau Kolleginweil sie – Kollege Priesmeier weiß das ganz genau; denn (C) Klöckner, alles daran setzen, die Länder in dieser Sache er ist ja noch praktizierender Tierarzt – den Gesichts- zur Anrufung des Vermittlungsausschusses zu überre- punkten Tierschutz, Praxisgerechtigkeit, Heilungsauf- den, dann muss ich sagen, dass Sie damit Ihre persönli- trag, Vorsorgeauftrag, vernünftiger Umgang mit Kosten che politische Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. und vernünftiges Miteinander von Landwirten und Tier- ärzten schlicht und ergreifend nicht gerecht wird. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Julia wissen alle. Klöckner [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht richtig zugehört!) Wir wissen ganz genau, wie es zu dieser Regelung ge- kommen ist. Zwei Ministerialbeamte, Veterinäre, aus Ich hoffe, Sie folgen in diesem Punkt EdmundNordrhein-Westfalen und Niedersachen, die schon im Stoiber, der hier heute wörtlich sagte – ich zitiere –: Vermittlungsausschuss eine entscheidende Rolle spielen Auch ich sehe Deutschland in einer Krise, weil wir wollten und die man sie auch spielen ließ, haben dafür im Prinzip zu viel im Vermittlungsausschuss behan- gesorgt, dass eine Siebentageregelung im Gesetz veran- deln … kert ist, die fachlichen Ansprüchen nicht gerecht wird und auch dem Gedanken des Verbraucherschutzes nicht Frau Klöckner, leisten Sie Ihren Beitrag zur Überwin- Rechnung trägt. dung der Krise und folgen Sie Herrn Stoiber, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich will aber nicht nach Bayern! Ich bleibe hier!) Kollege Ostendorff, ich bin sehr dafür, dass man Anti- biotika nur in dem Maße einsetzt, wie es nötig ist. Aber indem Sie dafür sorgen, dass uns wenigstens bei diesem es ist schlicht ein Märchen, dass der Antibiotikaeinsatz Gesetz der Vermittlungsausschuss erspart bleibt. in der Tiermedizin Resistenzen befördert. Sie wissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ganz genau, dass neueste Untersuchungsergebnisse das und bei der SPD – Zurufe von der SPD) Gegenteil belegen. – Wir haben Wilhelm Schmidt mit dabei. Es könnte also Herr Thalheim, es ist schade, dass Sie im Zusammen- gelingen. hang mit der Siebentageregelung nicht bereit waren, mit uns einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Ich Ich glaube, wir haben jetzt den Punkt erreicht, an dem weiß, dass das in den so genannten neuen Ländern etwas wir wirklich sagen sollten: Jetzt machen wir den Sack anders aussieht. Natürlich sind für die Großbetriebe zu. Die Praxis braucht vor allen Dingen eines, nämlich keine Behandlungspläne notwendig; denn dort kommt Rechtssicherheit. Die praxisuntauglichste Regelung da- der Tierarzt jeden Tag vorbei. Aber bei kleineren Betrie- (B) (D) für wäre die, die nicht beschlossen wird. ben, bei denen die Gefahr besteht, dass der Landwirt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kostenmäßig, fachlich und auch sonst überfordert ist, und bei der SPD – Julia Klöckner [CDU/ wäre es besser gewesen, wenn man die Siebentagerege- CSU]: Das war ja eine starke Rede!) lung mit dem Behandlungsplan verknüpft hätte. Das sa- gen auch alle vernünftigen Tierärzte. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich erteile dem Kollegen Hans-Michael Goldmann, Nun kommen Sie auf die besonders glorreiche Idee, FDP-Fraktion, das Wort. eine Tierarzneimittelanwendungskommission einzu- setzen. Hans-Michael Goldmann (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Eine Entmündi- denke, es ist die Absicht aller, Tiere gesund zu erhalten gungskommission!) bzw. zu heilen. Man braucht dafür eigentlich keinenDas ist an sich für jeden praktizierenden Tierarzt eine Bundestag oder Bundesrat, sondern nur gesunden Men- schallende Ohrfeige. Man muss sich das einmal auf der schenverstand und gesunden fachlichen Verstand. Zunge zergehen lassen: Die Tierärzte haben sich große (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Detlef Mühe gegeben, studiert und sich fortgebildet, und dann Parr [FDP]: Der ist selten geworden!) wird per Gesetz eine Tierarzneimittelanwendungskom- mission vorgeschrieben, die eine Aufgabe übernimmt, Tierärzte werden sehr vernünftig ausgebildet; Kollege die im Grunde genommen mit dem Gesetz selbst gar Priesmeier, wir beide kennen das ja. Die Ausbildungnichts zu tun hat, sondern eine wissenschaftliche He- dauert fünf Jahre, danach bildet man sich fort bzw. wei- rausforderung ist. Es geht darum, Leitlinien zu entwi- ter. ckeln, die den Antibiotikaeinsatz begleiten. Nebenbei bemerkt haben die Tierärzte das Wort „Tierarzneimittel- Hier aber geschieht etwas ganz Eigenartiges. Mit Un- anwendungskommission“ zum Unwort des Jahres ge- terstützung von Veterinärbeamten einiger Bundesländer wählt. Schon daran können Sie sehen, dass diese Kom- kommt der Gesetzgeber daher und sagt: Das, was euch mission eine gesetzgeberische Missgeburt ist. euer gesunder Menschenverstand und die Fachlichkeit vorgeben, gilt nicht mehr; denn wir wollen Sie das nehmen die Kommission ja selbst nicht ernst; nicht. – Insofern muss man sagen, dass dieses Gesetz an denn im Gesetz ist für die Kommission eine Mittelaus- der Ausgestaltung derSiebentageregelung scheitert, stattung in Höhe von 7 000 Euro vorgesehen. Wenn Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15571

Hans-Michael Goldmann (A) sich einmal anschauen, wer in diesem Bereich tätig ist, möglichkeiten, die man zwischenzeitlich gefunden hat(C) dann wird klar, dass diese Summe noch nicht einmal für – darunter muss man auch die Anwendungshinweise fas- Fahrtkosten reicht, geschweige denn für Flugkosten oder sen, die sich im Rahmen der Anwendung der elften No- Sitzungsgelder. Diese Kommission ist wirklich nicht das velle durch entsprechende Interpretation aus dem Um- Papier wert, auf dem sie steht. feld der LAGV ergeben haben –, haben dazu geführt, dass es offensichtlich nun doch möglich ist, mit sieben Einige Verbesserungen sind erreicht worden, Kollege Tagen zurecht zu kommen, ohne den Verbraucherschutz, Ostendorff und Kollege Priesmeier. Wenn wir den Weg, die Sicherheit und die Rückstandsfreiheit tierischer Le- den wir nach der Anhörung gehen wollten, weitergegan- bensmittel infrage zu stellen. gen wären – aber Sie beide sind zurückgepfiffen wor- den –, könnten wir heute eine Novelle zur Änderung des Das Problem, das wir weiterhin auf der Länderebene Arzneimittelgesetzes verabschieden, das fast allen Be- haben werden – das wissen auch Sie, Herr Kollege langen der Praxis Rechnung trägt. Ich bedauere sehr,Goldmann –, betrifft die Überwachung. dass es nicht zu dieser Regelung gekommen ist. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Solms) Wenn man Regelungen flexibler gestalten will, muss Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: man in der Lage sein, diese Vorgaben zu überprüfen und Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wilhelmzu kontrollieren. Dazu ist die Länderebene offensichtlich Priesmeier, SPD-Fraktion. nur begrenzt in der Lage. Die Beamten haben mit aller- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) größten Befürchtungen auf die Behandlungspläne rea- giert. Sie hatten die Befürchtung, dass das gesamte Vete- rinäramt unter Umständen eine Extraabteilung anmieten Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): muss, um die Überwachungspläne unterbringen und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!kontrollieren zu können. Am Anfang war auch ich ein Meine Damen und Herren! Ich bin heute richtig froh,Anhänger des Behandlungsplans. Aber die Aussage, die dass das Fass, die dreizehnte Novelle, endlich zuge-in dem Behandlungsplan getroffen werden soll, ist nicht macht wird und wir einen gewissen Erfolg verbuchen viel weit reichender als das, was wir in dem normalen können, wenn auch letztlich nicht alle Wünsche der Be- Anwendungs- und Abgabebeleg auch haben. teiligten in Erfüllung gegangen sind. Ich will noch ein- mal darauf hinweisen, warum es erst zur elften und an- Ein alternativer Lösungsansatz war die Indikationen- schließend zur dreizehnten Novelle gekommen ist. liste, die nun Gott sei Dank vom Tisch ist. Ich halte auch (B) sie für nicht anwendungsfähig. Vor diesem Hintergrund (D) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Demnächst ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass es vielleicht doch zur vierzehnten!) besser ist, die Siebentagefrist beizubehalten. Ob das bei Die Ausgangssituation war derFechter-Skandal in der fünfzehnten Novelle auch so sein wird – das Arznei- Bayern, der das Vertrauen der Verbraucher in tierische mittelgesetz wird häufiger novelliert; die vierzehnte No- Lebensmittel in Sachsen, Thüringen und Baden-velle ist schon in Bearbeitung, wenn auch aus anderen Württemberg – bis nach Österreich – schwer erschüttert Gründen –, lasse ich einmal dahingestellt. hat. Die damalige Gesundheitsministerin in Bayern, Frau Eine Sache ist natürlich auch klar: Das, was damals Stamm, hat monatelang, vielleicht sogar ein ganzes Jahr von Bayern initiiert wurde und Bundesratsbeschluss war lang – nach den Auskünften des Kollegen Pschorn weiß – das ist hier schon angesprochen worden –, ist grund- man das nicht so genau – Hinweise auf diesen Miss-sätzlich richtig. brauch in der Schublade liegen gelassen und ist dem nicht nachgegangen, was letztendlich zu ihrem Rücktritt (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war gut!) geführt hat. Die Reaktion erfolgte nach dem Motto: Da läuft der Schuldige; da wird ein Gesetz gemacht. Mit der Nur, das AMG ist nicht die Rechtsgrundlage, mit der elften AMG-Novelle hat man nach meiner Einschätzung man das juristisch umsetzen kann. Das steht außer Frage, überreagiert. auch wenn man die höchstrichterlichen Rechtsprechun- gen in anderen Bereichen betrachtet. Es liegt nicht in un- (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann serer Kompetenz, diesen Bereich hier im Bundestag zu [FDP]) regeln. Denn Art. 74 des Grundgesetzes über die kon- kurrierende Gesetzgebung bietet dafür keine Rechts- Das war der Ausgangspunkt. Dafür ist der Bundesrat mit grundlage. Wir haben ausschließlich den Verkehr mit einem Votum von 16 : 0 verantwortlich, mit Sicherheit Arzneimitteln zu regeln, nicht die Gestaltung unter Um- nicht die Bundesregierung. Das wissen auch Sie. ständen privater Vertragsverhältnisse, wie es im Rahmen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Bestandsbetreuung üblich ist. DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Selbstverständlich!) Daher appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns gemein- sam überlegen, welche Rechtsgrundlage wir gemeinsam Das Problem, das wir heute bei der Umsetzung und mit den Ländern finden können! Die Rechtsgrundlage, Anwendung der dreizehnten Novelle haben, ergibt sich für die dringend nötige Regelung dieses Bereichs kann sicherlich nicht nur aufgrund des Inhalts dieses Gesetzes das AMG zwangsläufig nicht sein. Ich sehe eine ver- und der Vorgabe der Siebentagefrist. Die Gestaltungs- nünftige Perspektive, dieses Vorhaben im Konsens mit 15572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) den Ländern anzugehen. Denn zu dem Gesetzentwurf, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) der von Bayern eingebracht worden ist, hat die Bundes- Hans-Michael Goldmann [FDP]) regierung gesagt, dass sie das grundsätzliche Ansinnen positiv bewertet. Es heißt zwar „Gut Ding braucht Weile“, aber nicht alles, was lange dauert, ist dann auch wirklich gut. Wir Vor diesem Hintergrund halte ich es für vernünftig, befassen uns heute im Plenum zum fünften Mal mit der dieses noch einmal anzugehen. Wenn es uns im Interesse dreizehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes. In diesem auch anderer Aufgaben, die wir haben, gelingt, das um- langen Arbeitsprozess wundert man sich manchmal über zusetzen, dann bedeutet das eine entscheidende Verbes- nichts mehr. Sie wurden damals zurückgepfiffen, Kol- serung der Qualität von tierischen Lebensmitteln, weil lege Ostendorff. Von Regierungsseite hieß es seinerzeit, wir den Gesundheitsstatus verbessern und auch die An- Sie dürften den Brief, den wir im Sinne eines gemeinsa- wendung von Arzneimitteln in den Konzepten der inte- men Gesetzesvorhabens an die Ministerin senden woll- grierten tierärztlichen Bestandsbetreuung weiter mini- ten, nicht unterschreiben. Wir wollten damit ein Zeichen mieren können. Das ist unbestritten. Lassen Sie uns das nach draußen setzen, dass wir ein Gesetz aus der Mitte gemeinsam anpacken! Dann können wir der dreizehnten des Parlaments heraus schaffen. Wir könnten schon seit Novelle mit ihren positiven Auswirkungen und ihren Er- über einem Jahr mit diesem Gesetz leben. Aber das war leichterungen ein Mehr an Sicherheit für die Verbraucher Ihnen aufgrund des Koalitionsvertrags nicht möglich. und die Landwirte und ein neues Instrumentarium, mit Auch der Kollege Priesmeier durfte nicht mitmachen. dem wir dieses regeln, hinzufügen. Insofern war das Vorhaben versenkt. Vielen Dank. Aber nach dem, was Sie heute ausgeführt haben, scheint es diesen Brief nie gegeben zu haben. Das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wahrscheinlich das Los, wenn man in der Regierung ist. DIE GRÜNEN) Uns tut das sehr Leid; denn uns geht es um eine Verbes- serung der Zustände und um die praxisgerechte Umset- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zung der Siebentageregelung. Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der CDU/CSU-Fraktion. Lob verdienen einige Verbesserungen, die von der CDU/CSU, der FDP, den beiden Kollegen Priesmeier (Beifall bei der CDU/CSU) und Ostendorff und auch vom Bundesrat – auch dafür waren wir sehr dankbar – immer wieder gefordert wor- Julia Klöckner (CDU/CSU): den sind. Danach werden das Umfüllen von Arzneimit- teln aus fertigen Gebinden, das fachgerechte Neuverpa- (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Erst einmal ein herzliches Dankeschön an die Bericht- cken und Kaskadenregelungen ermöglicht. Alles in erstatterkollegen. Lieber Wilhelm Priesmeier, Sie haben allem werden viele Maßnahmen möglich, die der Praxis uns aufgefordert, gemeinsam über das Thema nachzu- gerecht werden. Das verdient Lob. Herzlichen Dank! denken. Wir haben aber schon die vergangenen zwei (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jahre darüber nachgedacht. Für uns mag das durchaus Carl-Ludwig Thiele [FDP]) witzig sein, sich zusammenzusetzen, aber für die Tier- halter, die Tierärzte, die Tiere selber und für die Verbrau- Aber eigentlich geht es um dieSiebentageregelung, cher ist es alles andere als witzig, wenn wir zwei Jahre und zwar um deren Flexibilisierung, nicht um die Strei- lang im Bundestag zusammentreffen und der Einwurf chung. Wir sind nach wie vor dem Verbraucherschutz von Bayern zunächst als wunderbar bezeichnet wird,und dem Tierschutz verpflichtet. Es geht nicht darum, aber dann wieder zurückgerudert werden muss. dass leicht und locker Antibiotika eingesetzt werden sol- len. Das ist auf keinen Fall beabsichtigt. Es geht uns Zu Beginn der Legislaturperiode saßen wir vier als vielmehr darum, wie eine sachgerechte Anwendung si- Vertreter der vier Fraktionen im Parlament beisammen chergestellt und dokumentiert werden kann. und haben uns auf die Punkte parteiübergreifend geei- nigt, die in unserem Antrag enthalten sind und die auch Wir wollen insofern keine ersatzlose Abschaffung der die FDP unterstützt hat. Wir haben uns auch über dieSiebentageregelung, aber wir sind der Meinung, dass Flexibilisierung und die Änderung bzw. Öffnung dereine praxisgerechtere Lösung durch entsprechende Kri- Siebentageregelung geeinigt. Ich hätte gerne heute zur terien des In-Verkehr-Bringens – das heißt: flexible tier- Erinnerung die Reden aus jener Zeit noch einmal gehört. ärztliche Behandlungspläne und Aufnahme von Betreu- ungsverträgen je nach Tierhaltungsart – möglich sind. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Da waren wir beide noch ganz grün im Geschäft!) Ehrlich gesagt bin auch ich nicht ganz glücklich über den Bundesrat. Dass sich die Länder – das gilt vor allem – Da waren wir zwar nochjünger – das mag vielleicht für unsere Kollegen aus dem Osten – durchgesetzt ha- sein –, aber nicht dümmer. Insofern bedaure ich das sehr. ben, die eine andere Tierstruktur haben, ist nachvollzieh- Wenn Sie ehrlich wären, lieber Kollege Ostendorff bar, aber ich halte es für zu kurz gedacht. und lieber Kollege Priesmeier, dann sollten Sie sagen, (Ute Kumpf [SPD]: Eine Kuh ist eine Kuh und dass es Ihnen wehtut, den Gesetzentwurf heute verteidi- ein Schwein ist ein Schwein!) gen zu müssen; denn als Praktiker empfinden Sie doch beide ganz anders. – Eine Kuh ist eine Kuh. Schön, dass Sie das einwerfen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15573

Julia Klöckner (A) (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Die haben schrieben, und zwar auch ohne diese Kommission. Ob- (C) den Sack vorn und den Schwanz hinten! – wohl Sie selbst Tiermedizin studiert haben, tun Sie nun Peter Bleser [CDU/CSU]: Und ein Ochs ist ein so, als gäbe es bis dato keine Leitlinien. Diese gibt es Ochs!) doch. Ehrlich gesagt geht es dem BMVEL um etwas ganz anderes: Ihnen geht es um einen Zugriff auf die – Und ein Ochs ist ein Ochs. Auch das mag sein. Tierarzneimittelgesetzgebung, die bisher in die Zustän- Aber es hat durchaus mit der Tierhaltung zu tun, ob digkeit der Gesundheitsministerin fällt. Nun möchte Sie eine Kuh oder große Herde haben und ob Sie Mut- Frau Künast das über die geschilderte Hilfskonstruktion terkuhhaltung auf der Weide betreiben oder ob die Kühe ändern. im Stall sind. Das ist eine grundsätzliche Unterschei- dung. Man merkt, dass Sie kein Praktiker sind. Halten wir fest: Es gibt gute Ansätze. Die Arzneimit- telanwendungskommission muss aus dem Gesetz- (Jörg Tauss [SPD]: Doch! Wir haben einen entwurf herausgenommen werden. Die Siebentagerege- ländlichen Wahlkreis! Wir haben sehr viele lung muss flexibilisiert werden. Wir würden gerne Kühe!) weiterhin zusammen mit Ihnen an der Novelle arbeiten, und zwar lieber in dieser Legislaturperiode, als später Am besten lesen Sie etwas zu dem Thema nach und hal- noch einmal ein Fass aufzumachen und von vorne zu be- ten sich an dieser Stelle etwas zurück. ginnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Schlicht und ergreifend falsch, lieber Kollege Priesmeier, ist meiner Meinung nach die Argumentation, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass der Bund in diesem Bereich angeblich keine Rege- lungskompetenz hat. Träfe das zu, dann wäre auch das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: jetzt geltende Recht nach der elften Novelle verfassungs- Ich schließe die Aussprache. widrig. Denn es geht um die auch dort geregelten regel- mäßigen tierärztlichen Begutachtungen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Dreizehnten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Siehste! Da Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, hat sie tausendprozentig Recht!) Drucksache 15/4736. Der Ausschuss für Verbraucher- – Ich freue mich immer, wenn die FDP mich dabei unter- schutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in sei- stützt. – Das ist eine Auslegungsfrage und Sie wissen, ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5112, den (B) dass ich darin Recht habe. Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.(D) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wilhelm schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Priesmeier [SPD]: Das ist eine Frage des Be- chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- handlungsbegriffs! Das verwechseln Sie!) entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Es geht hier nicht um die konkrete Ausgestaltung zum der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/ Beispiel eines Behandlungsvertrags, sondern um die ge- CSU-Fraktion und FDP-Fraktion angenommen. setzlich festzulegenden Anforderungen und deren Um- Dritte Beratung setzung. Wenn man will, geht das. Ich weiß, dass Sie gerne würden. Aber Sie durften nicht. Insofern dürfen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Sie jetzt nicht wollen. Mir ist schon klar, dass es so ist. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: So ein Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Kokolores!) wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. – Sie waren ja zu Beginn der Gespräche gar nicht dabei, als wir darüber diskutiert haben. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef wir reden miteinander, Frau Klöckner!) Parr, Ulrike Flach, Rainer Funke, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Apropos Kompetenzfragen: Der Oberhammer ist Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Prä- – darauf hat Kollege Goldmann schon hingewiesen – die implantationsdiagnostik (Präimplantations- Tierarzneimittelanwendungskommission. Das ist eine diagnostikgesetz – PräimpG) dreiste Kompetenzverschiebung. Letztlich ist sie nichts anderes als eine Tierärzteentmündigungskommission. – Drucksache 15/1234 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Jedenfalls sind ganze 7 000 Euro für die Arbeit der Ex- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und perten vorgesehen. Das reicht vielleicht gerade einmal Technikfolgenabschätzung für die Reisekosten. Meiner Meinung nach geht es hier nur vordergründig um die Fortschreibung der Antibio- b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- tikaleitlinien. Diese wurden seit 1999 ständig fortge- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 15574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- fahrungen in den Vergleichsländern von (C) hoher nung Bedeutung sind. Wir wollen Rechtssicherheit für die be- troffenen Paare und die Ärzte. Die PID muss aus der Technikfolgenabschätzung rechtlichen Grauzone heraus. hier: Sachstandsbericht Präimplantations- diagnostik – Praxis und rechtliche Regu- (Beifall bei der FDP) lierung in sieben ausgewählten Ländern Wir wollen den Wertungswiderspruch auflösen, dass – Drucksache 15/3500 – PID zwar verboten ist, dass es den Eltern aber ermög- Überweisungsvorschlag: licht wird, sich nach einer Pränataldiagnostik für einen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Wir wollen Rechtsausschuss die PID nur in engen Grenzen im Falle einer hohen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wahrscheinlichkeit einer schwerwiegenden Erbkrank- Ausschuss für Bildung, Forschung und heit zulassen. Wir wollen die Diagnostik nur in Einzel- Technikfolgenabschätzung fällen bei hoher Indikation nach vorheriger Billigung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die durch eine Ethikkommission ermöglichen. Außerdem Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei diewollen wir nur wenige lizenzierte Zentren in Deutsch- FDP fünf Minuten erhalten soll. Gibt es dagegen Wider- land. spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Wir verzichten auf einenIndikationskatalog. Wir ner das Wort dem Kollegen Detlef Parr von der FDP. dürfen bestimmte Krankheitsbilder nicht stigmatisieren.

Detlef Parr (FDP): (Zuruf des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU]) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ich PID soll also eine Untersuchungsmethode bleiben, möchte zuerst den anderen Fraktionen herzlich danken, Herr Kollege Hüppe, die einer überschaubaren Zahl von dass die FDP als Erste zu Wort kommen kann und dass Risikopaaren, die genetisch stark vorbelastet sind, vor- wir einmal fünf Minuten und nicht weniger haben. Ganz behalten bleibt. herzlichen Dank. (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Die FDP unternimmt heute ihren zweiten Versuch, aufbauend auf einem Antrag und einem Gesetzentwurf In die jetzt vorliegende Fassung hat die FDP auch die aus der vergangenen Wahlperiode, diePräimplanta- Bedenken aus der Plenardebatte und der Anhörung zum alten Gesetzentwurf aufgegriffen und eingearbeitet. Die (B) tionsdiagnostik, PID – das ist eine Form der künstlichen (D) Befruchtung, um den Embryo vor der Einpflanzung auf Festlegung der Kriterien für die Zulässigkeit der PID soll die Gefahr einer schwerwiegenden Erbkrankheit zu un- – anders als zuvor – nicht durch die Bundesärztekam- tersuchen –, auch in Deutschland rechtlich abzusichern. mer, sondern durch eine Rechtsverordnung der Bundes- Damals bedurfte es noch großer Anstrengungen, zur An- regierung bzw. durch uns selbst, also durch das Parla- hörung Experten aus dem Ausland einzuladen. Dabei ist ment, erfolgen. Zudem wurde die Anregung des doch der Blick zu unseren europäischen Nachbarn und Nationalen Ethikrates, eine jährliche Berichtspflicht vor- nach Übersee besonders wichtig, um Fehlentwicklungen zusehen, eingearbeitet. zu erkennen oder uns an Vorbildern zu orientieren. Wir Der TAB-Bericht zeigt einerseits die drohenden Ge- leben nämlich nicht auf einer Insel mit willkürlich ge- fahren auf, wenn – die USA können dafür als Beispiel setzten moralischen Schutzzäunen. angeführt werden – die PID ungeregelt praktiziert und (Beifall bei Abgeordneten der FDP) auf Indikationen ausgedehnt wird, die über die Erken- nung des Risikos einer Erbkrankheit hinausgehen. Das Wir leben vielmehr im Herzen Europas nahezu ohnewollen wir nicht. Grenzen. Wir können leicht medizinische Leistungen in Frankreich, Belgien und Italien in Anspruch nehmen. Es (Beifall bei der FDP) ist doch absurd, wenn dort akzeptierte medizinische Ver- Er zeigt andererseits die guten Erfahrungen unserer di- fahren bei uns unter Strafe gestellt sind. rekten Nachbarn, zum Beispiel Frankreichs, mit strengen Indikationsregelungen auf. Das wollen wir. Kassandra- Es ist ein Verdienst des Ausschusses für Bildung, For- rufe über einen Dammbruch gehen offensichtlich ins schung und Technikfolgenabschätzung – danke, Kolle- Leere. gin Flach! –, dass durch den vorliegenden Sieben-Län- der-Vergleich zur Praxis und rechtlichen Regulierung (Beifall bei der FDP) der PID eine gute Grundlage zur Fortsetzung der von der FDP im Bundestag angestoßenen Debatte in diesem Bisher ist die Sichtweise der betroffenen Eltern viel Hause geschaffen worden ist. zu kurz gekommen. Der Leidensdruck und der Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, sind immens. Meist Die Untersuchung – man kann sie natürlich unter-haben die Eltern schon ein erkranktes Kind oder schiedlich lesen – beweist aus unserer Sicht: Die FDP Schwangerschaftsabbrüche nach einer PND hinter sich. hat ihren ersten Gesetzentwurf sehr sorgfältig überarbei- Diese Eltern wünschen sich mehrheitlich die PID. End- tet. Sie hat im vorliegenden Gesetzentwurf vielen As- lich gibt es auch dazu eine Studie. Die Arbeit der Uni- pekten Rechnung getragen, die nach den praktischen Er- versität Marburg bestätigt auch, wie wichtig die Aufklä- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15575

Detlef Parr (A) rung über die Chancen und Risiken der Methode und die Präimplantationsdiagnostik umzugehen haben. Aus die- (C) Beratung sind. Eltern müssen ihre Entscheidung auf ge- sem Grunde begrüße ich die heutige Debatte. Ich denke, sicherter Grundlage treffen können. dass eine Rechtsverordnung, wie sie die FDP in ihrem Entwurf vorschlägt, der Komplexität des Themas nicht Wir verstehen nicht, dass in Deutschland hingenom- ganz gerecht wird. Ihr Entwurf greift für meine Begriffe men wird, dass sich betroffene Eltern an Zentren im zu kurz. Ihm fehlt die nötige formelle Weitsicht. Ausland wenden und dort die PID in Anspruch nehmen. Dieser „Reproduktionstourismus“ ist eine traurige Reali- Ich komme zum derzeitigen Stand: Es ist in Deutsch- tät. So sind zum Beispiel in Brüssel circa 20 Prozent der land nicht erlaubt, befruchtete Eizellen außer zur Herbei- nachfragenden Paare deutscher Nationalität. Niemand führung einer Schwangerschaft zu erzeugen. Konkret von uns kann doch wollen, dass das so weitergeht. heißt das: In Deutschland ist es erlaubt, Eizellen zu be- (Beifall bei der FDP) fruchten und diese in die Gebärmutter einzusetzen. Es ist aber nicht erlaubt, sie vorher aufchromosomale Stö- Ich komme zum Schluss. Eine Insellösung rungen für zu untersuchen. Eine chromosomale Störung ist Deutschland ist daher nicht haltbar. Die Befürchtungen, zum Beispiel die Verdopplung von Chromosomen, was dass die Zulassung der PID negative Auswirkungen auf in über 50 Prozent der Fälle zu Fehlgeburten führt. Da- Menschen mit Behinderungen haben könnte, nehmen gegen ist eine genetische Untersuchung während einer wir sehr ernst. Doch gerade betroffene Eltern kommen schon bestehenden Schwangerschaft erlaubt. Wir müs- meist aus einem unmittelbaren Umfeld von behinderten sen früher oder später die Frage beantworten, warum in Menschen und zeigen eine positive Einstellung zu Men- Deutschland die Entnahme, Befruchtung und Implanta- schen mit Behinderungen. Auch dies bestätigt die Mar- tion von Eizellen in die Gebärmutter erlaubt ist, nicht burger Studie. Zudem gibt die Gesellschaft den Eltern aber die vorherige genetische Untersuchung der befruch- schon mit der PND die Möglichkeit, zu entscheiden, ob teten Zellen in der Petrischale. ein behindertes Kind ausgetragen werden soll oder nicht. (Detlef Parr [FDP]: Das müssen wir bald tun!) Ich bin auf die Neuauflagen unserer Debatte ge- spannt. Ich wünsche mir nach den zunehmend positiven Was kann Präimplantationsdiagnostik? Unter Prä- Expertisen und Abstimmungsergebnissen in anderenimplantationsdiagnostik versteht man medizinische Ver- Gremien eine offenere und unvoreingenommenere Aus- fahren zur Untersuchung einer künstlich befruchteten einandersetzung im Interesse der betroffenen Paare. Sie Eizelle. Diese Eizelle wird im Rahmen einer In-vitro- dürfen wir mit ihren Sorgen nicht länger alleine lassen. Fertilisation aus dem Eierstock der Frau nach einer Hor- monbehandlung gewonnen und außerhalb des Mutterlei- Ich danke Ihnen. bes befruchtet. Alle befruchteten Eizellen müssen nach (B) (Beifall bei der FDP) circa drei Tagen reimplantiert werden. Präimplantations- (D) diagnostik – Sie haben es gesagt – ist in vielen europäi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schen Ländern unter unterschiedlichsten Bedingungen Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Erika Ober von möglich. Den Sachstandsbericht zur Präimplantations- der SPD-Fraktion. diagnostik haben Sie angesprochen. Darin werden die Regelungen in sechs europäischen Ländern und in den USA dargestellt und miteinander verglichen. Dieser (SPD): Dr. Erika Ober muss ausgewertet werden. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute steht (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: mit dem Gesetzentwurf der FDP wieder die Präimplanta- Was möchten Sie denn?) tionsdiagnostik auf der Tagesordnung. Ich persönlich finde es gut, dass über dieses wichtige und auch schwie- Wie begründen wir gegenüber den Menschen, die rige Thema an dieser Stelle debattiert wird. Lieber Herr sich ein Kind wünschen, aber eine schwere gesundheitli- Parr, es ist kein Thema, das fraktionsweise abzuhandeln che Vorbelastung aufweisen, dass wir nicht das erlauben, ist. was in anderen Ländern möglich ist? Ich sehe als Folge der Erfahrungen aus anderen Ländern die Notwendig- (Detlef Parr [FDP]: So ist es!) keit, über diese Frage weiter zu debattieren. Wichtig ist Deshalb ist es auch klar, dass Sie als Einbringer des Ge- dabei auch die Analyse der gesellschaftlichen Realität. setzentwurfes hier als Erster reden durften. Ich wiederhole es noch einmal: Bei chromosomalen Stö- rungen kommt es im Verlauf der Schwangerschaft in (Detlef Parr [FDP]: Herzlichen Dank!) über 50 Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt. Weil die Als Erstes weise ich ausdrücklich darauf hin, dass die Präimplantationsdiagnostik nicht erlaubt ist, wird aus- Rechtslage klar geregelt ist. Wir brauchen zum jetzigen weichend oder als Notlösung in Deutschland zunehmend Zeitpunkt keinen neuen Gesetzentwurf, der eine Rechts- eine Polkörperchenuntersuchung der weiblichen Ei- verordnung zum Ziel hat. zelle vorgenommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hubert (Detlef Parr [FDP]: Das ist keine Lösung!) Hüppe [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Hier ist es nur möglich, den halben Chromosomensatz, Was wir brauchen, ist eine breite und öffentliche Sach- nämlich den der Mutter, zu untersuchen. Im Gegensatz diskussion darüber, wie wir zukünftig mit dem Thema dazu wird bei der Präimplantationsdiagnostik der 15576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Dr. Erika Ober (A) gesamte Chromosomensatz untersucht. Die Polkörper- (Detlef Parr [FDP]: Wir sind für Änderungen (C) chendiagnostik liefert also Aufschluss über die mütterli- und Verbesserungen offen!) che Seite und hat demzufolge nur eine begrenzte Aufschlussrate, nämlich 50 Prozent. – Lassen Sie uns diskutieren, Herr Parr! – Es verdichtet sich, dass eine Ausformulierung über den zukünftigen Bei schwerwiegender gesundheitlicher Vorbelastung Umgang mit Präimplantationsdiagnostik in Deutschland der Eltern oder eines Elternteiles wird möglicherweise benötigt wird. Wir brauchen einen rechtsverbindlichen um die 15. Schwangerschaftswoche eine Pränataldia- Rahmen, der die realen Lebensumstände der Menschen gnostik durchgeführt, insbesondere bei einem Wunsch- besser berücksichtigt. Wir sollten Verantwortung zeigen kind. Das müssen wir wissen. Das heißt, bei entspre-und den Rahmen für Präimplantationsdiagnostik präzi- chender Disposition der Eltern kann eine Untersuchung sieren. Das geht aus meiner Sicht mit einem formellen des Embryos nicht außerhalb des Mutterleibes, sondern Gesetz und nicht mit einerRechtsverordnung. Sinnvoll frühestens um die 15. Schwangerschaftswoche erfolgen, wäre meiner Meinung nach die Einbettung einer Rege- also bei schon bestehender und fortgeschrittenerlung zur Präimplantationsdiagnostik in einen Gesamt- Schwangerschaft. Die Untersuchung im Mehrzellensta- kontext der Reproduktionsmedizin. Eine ausschließlich dium – wir reden hier von 16 Zellen – vor der Implanta- strafrechtliche Regelung, wie wir sie jetzt im Embryo- tion ist verboten. nenschutzgesetz haben, wird der Gesamtproblematik si- cher nicht gerecht. Uns allen ist klar: Es geht bei der Präimplantations- diagnostik um ein sehr schwieriges Thema. Wir wissen, Vielen Dank. dass es sehr unterschiedliche Meinungen zum Thema Präimplantationsdiagnostik gibt, die unsere Aufmerk- (Beifall bei der SPD) samkeit und unseren Respekt verdienen. Bekannt ist das Votum der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2002: Hier wird uns mehrheitlich eine Präzi- Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe von der sierung der Regelungen von Präimplantationsdiagnostik CDU/CSU-Fraktion. zu diagnostischen Zwecken aufgegeben. Der Nationale Ethikrat hat im Januar 2003 für eine Hubert Hüppe (CDU/CSU): eng begrenzte und verantwortungsvolle Zulassung der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Prä- Präimplantationsdiagnostik votiert. Der Ethikrat sieht implantationsdiagnostik ist eine Untersuchungsmethode, kein verfassungsrechtliches Verbot vorgegeben. Viel-um menschliche Embryonen auf ihre erblichen Eigen- (B) mehr wurde ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers schaften hin zu untersuchen. Die FDP spricht in ihrem(D) konstatiert. Gesetzentwurf ganz unbefangen von „Erbkrankheiten“. Es geht also um eine Selektion von erbkrankem Nach- Darüber hinaus wenden sich viele einzelne Menschen wuchs und das Ergebnis der PID ist die Tötung von und Gruppen aus der Gesellschaft an uns Mitglieder des menschlichem Leben, weil es krank oder behindert ist. Deutschen Bundestags, um ihre Meinungen und Erfah- rungen an uns heranzutragen. Die einzelne Meinung hat Nach dem von der FDP vorgelegten Gesetzentwurf Respekt verdient und der Gesetzgeber hat die Aufgabe, wird eine künstliche Befruchtung nicht durchgeführt, die gesellschaftliche Realität mitsamt der vorhandenen weil ein Paar sonst keine Kinder bekommen könnte, son- Meinungsvielfalt in seine Beschlüsse einzubinden. Dies dern allein aus dem Grund, um Kinder nach genetischen bedeutet, das Für und Wider abzuwägen und aus gegebe- Merkmalen auszusuchen. nem Anlass auch das Bestehende zu überdenken. (Dr. Erika Ober [SPD]: Unsinn!) Ich halte es für falsch, eine Entscheidung zur Prä- implantationsdiagnostik immer wieder aufzuschieben. Ziel der künstlichen Befruchtung darf es aber eben nicht Dem steht auch entgegen, dass wir ständig mit neuen In- sein, menschliches Leben zu erzeugen, um es zu testen, formationen aus der Biotechnologie rechnen müssen.sondern Ziel muss sein, dass es zur Welt kommt, meine Hier ist eine Abwägung nötig, aber um Missverständnis- Damen und Herren. sen vorzubeugen, sage ich gleich dazu: Man muss nicht alles machen, was geht. (Beifall bei der CDU/CSU) Der heute vorliegende Entwurf verzichtet auf eine Die FDP – gerade auch Herr Parr wieder – behauptet, konkrete inhaltliche Regelung. Er fordert eine Rechts- sie wolle die PID eng begrenzen. Der Bericht des Büros verordnung und will die inhaltliche Auseinandersetzung für Technikfolgenabschätzung, den wir heute mit bera- um ethische Fragen anderen zuweisen. Damit werden ten, hat mehrere Länder untersucht, in denen die PID Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ih- schon praktiziert wird. Er zeigt, wie schwer es ist, PID rer eigenen Forderung nach mehr Rechtsverbindlichkeit zu begrenzen, wenn sie erst einmal zulässig ist. Der Be- nicht gerecht. richt belegt, dass jede neueEinsatzmöglichkeit von PID zu Druck führt, sie auch zuzulassen. PID wird im Wir müssen anerkennen, dass wir vor einem großen Ausland sogar zur Geschlechtswahl aus sozialen Grün- Widerspruch stehen und dafür lieber früher als späterden eingesetzt. Wer das falsche Geschlecht hat, wird in eine rechtliche Lösung finden müssen. der Petrischale getötet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15577

Hubert Hüppe (A) (Detlef Parr [FDP]: Wir haben doch klar ge- burten von 279 Kindern führten. Zur Kontrolle der PID (C) sagt, dass wir das nicht wollen! Das ist doch wurde bei 42 Prozent aller Föten eine invasive Pränatal- keine sachliche Diskussion!) diagnostik vorgenommen. Dabei wurden sieben Fehldia- gnosen festgestellt, die vier Spätabtreibungen zur Folge – Ich komme gleich dazu. – In Großbritannien dürfen hatten. Außerdem gab es – weil es heißt, man wolle seit November Embryonen aussortiert werden, die ein Abtreibungen verhindern – 15 Abtreibungen durch so erhöhtes genetisches Risiko für Darmkrebs haben. genannten selektiven Fetozid bei Mehrlingsschwanger- (Dr. Carola Reimann [SPD]: Das Risiko auf schaften. Das heißt, durch die Bauchdecke der Schwan- Darmkrebs ist nicht geschlechtsspezifisch! geren wird eine Spritze mit Kaliumchlorid in das Herz Das ist wirklich alles zusammen!) des Fötus gestochen, um ihn zu töten. 6,6 Prozent der nach PID geborenen Kinder wiesen Fehlbildungen auf, In anderen Ländern wird auf ein erhöhtes Brustkrebsri- waren also behindert. Bei 42 Prozent der Geburten traten siko untersucht und danach selektiert. Mit anderen Wor- Komplikationen auf, drei davon mit Todesfolge. ten: Man tötet in diesen Ländern Embryonen auch dann, wenn man gar nicht weiß, ob diese Menschen später ein- (Dr. Erika Ober [SPD]: Das hat mit PID nichts mal erkranken oder behindert sein werden. Nur der Ver- zu tun!) dacht reicht aus. Inzwischen gibt es sogar einen Test auf Mit anderen Worten: Nur jede siebte Frau, die eine niedrige Intelligenz. Wer hat eigentlich noch einePID vornehmen lässt, kann überhaupt mit der Geburt ei- Chance, geboren zu werden, wenn bald mithilfe desnes Kindes rechnen. Diese Zahlen zeigen, dass PID bei DNA-Chips Tausende von Erbanlagen in einem Durch- der übergroßen Mehrheit gerade nicht garantiert, ein ge- gang geprüft werden können? sundes Kind oder überhaupt ein Kind zu bekommen. Ich glaube, dass – jetzt komme ich zu Ihnen, HerrPID ist auch keine Garantie gegen Abtreibungen nach Parr – die FDP mit einer Ausweitung der PID rechnet, Pränataldiagnostik. wenn diese erst einmal zugelassen ist. So schreiben Sie Angesichts dieser Daten dürfen aber auch das Wohl- selbst, dass man – so wörtlich – „bis auf weiteres nur mit ergehen und die Gesundheit der Frauen nicht unbeachtet wenigen hundert Fällen“ rechnet. Also kalkulieren Sie bleiben, die nach mehreren körperlich und seelisch be- doch offensichtlich die Ausweitung der PID ein. Solastenden Behandlungen weiterhin kinderlos bleiben. heißt es auch in Ihrer Begründung, deutsche Paare füh- Man kann annehmen – das ist auch meine persönliche ren immer häufiger nach Belgien. Heute haben Sie ge- Erfahrung –, dass es diesen Frauen hinterher wesentlich sagt, das wolle man diesen Paaren ersparen. schlechter ging, als wenn sie sich gar nicht auf das Ver- fahren eingelassen hätten. (B) Natürlich weiß die FDP, wenn sie den Bericht gelesen (D) hat, wie liberal die PID in Belgien praktiziert wird. Au- Meine Damen und Herren, erstaunlich ist, wer die ßer der Geschlechtswahl aus sozialen Gründen, also „so- Einführung der PID befürwortet: die FDP-Fraktion, die cial sexing“, ist dort alles möglich. Wenn die FDP den Forschungsministerin, die Gesundheitsministerin und PID-Tourismus nach Belgien zum Kronzeugen macht, der Bundeskanzler – nach der heutigen Aussage, dass er dann ist es die logische Konsequenz, über kurz oder lang auch fürs Klonen ist, kein Wunder –, in Deutschland PID für alles zu erlauben, was in Belgien möglich ist. (Ulrike Flach [FDP]: Therapeutisches Klo- nen! – Christine Lehder [SPD]: Das ist ja (Dr. Erika Ober [SPD]: Das wollen wir gerade wirklich skandalös!) nicht!) vor allem wenn es sich, wie immer betont wird, nur um – Die Leute würden ja weiterhin nach Belgien fahren, 100 oder 200 Paare handeln soll, die betroffen sind. Er- wenn sie die Indikation, die sie hier haben möchten, in staunlich finde ich das deswegen, weil es zahlenmäßig Deutschland nicht bekommen. Dieses Argument kann weitaus größere Patienten- und Behindertengruppen nicht gelten, Frau Ober. gibt, die zum Teil viel größere Probleme haben. Diese (Christine Lehder [SPD]: Was Sie sagen, ist Gruppen wären froh, wenn sie nur einen Bruchteil dieser aber doch was ganz anderes!) Aufmerksamkeit für ihre Probleme erhalten würden. Die FDP will PID einführen, damit es vorbelasteten (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Erika Ober Paaren möglich gemacht wird – so wörtlich –, „eigene [SPD]: Das hat mit dem Thema nichts zu tun, genetisch gesunde Kinder zu bekommen“ und späte Ab- aber wirklich nichts!) treibung nach Pränataldiagnostik zu verhindern. Ich Ich habe den Verdacht, dass es vielen Befürwortern kann diesen Wunsch einiger betroffener Paare sehr gut darum geht – ich unterstelle das nicht jedem, aber verstehen. Aber was sind die Erfahrungen aus dem Aus- einigen –, das Embryonenschutzgesetz insgesamt zu land? Die Datensammlung der European Society of knacken, auch um durch die PID an überzählige Human Reproduction and Embryology, die im Embryonen in Deutschland zu gelangen, die es jetzt Schlussbericht der Enquete-Kommission berücksichtigt nicht gibt. wurde, enthält die Daten von 1 561 Patientinnen mit über 2 000 Behandlungszyklen. Danach – hören Sie ge- (Dr. Carola Reimann [SPD]: Das ist eine nau zu – entstanden aus 26 783 entnommenen Eizellen miese Unterstellung! – Zuruf der Abg. Ulrike gerade einmal 309 Schwangerschaften, die zu 215 Ge- Flach [FDP]) 15578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Hubert Hüppe (A) – Frau Flach, Sie haben doch Anträge gestellt, in denen Es kann also sein, dass die Frau nach all diesen Maßnah- (C) Sie die verbrauchende Embryonenforschung auch inmen kein Kind bekommt. Ich finde, das sollte man sich Deutschland befürworten. Wenn Sie dagegen sind, dann erst einmal klar machen. Es werden hier Hoffnungen ge- sagen Sie es bitte jetzt. Ich wäre damit zufrieden. Aber weckt. Aber der Preis, der dafür zu zahlen ist, und die ich glaube nicht, dass Sie dies tun werden. Enttäuschung, die sich aus einem Fehlschlag ergeben kann, werden zu sehr aus den Augen verloren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Sie wollten doch nichts un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terstellen!) und bei der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Deshalb soll es also verboten bleiben?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich halte den Vergleich mit der Abtreibung nicht für Herr Kollege Hüppe, kommen Sie bitte zum Schluss. richtig. Herr Parr, wenn ich Sie recht verstanden habe, dann haben Sie gesagt, dass man im Rahmen einer beste- Hubert Hüppe (CDU/CSU): henden Schwangerschaft nach der Pränataldiagnostik die Meine Damen und Herren, wir werden gegen den An- Wahl habe, die Schwangerschaft weiterzuführen oder trag stimmen, weil mit ihm eine Tür geöffnet werdennicht. Das stimmt so nicht. Es ist ein Unterschied, ob soll, die wir vielleicht nie mehr schließen können. Embryonen in der Petrischale erzeugt werden, zu denen die Frau oder das Paar keine persönliche Beziehung hat, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) (Detlef Parr [FDP]: Sehr wohl! Das beweist die empirische Untersuchung!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder ob eine Frau bereits etwa 17 Wochen schwanger ist Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bünd- und ein Kind in ihrem Körper heranreifen fühlt. In die- nis 90/Die Grünen. sem Fall ist das Gefühlder persönlichen Bindung ungleich stärker. Vor allem aber werden bei einer natür- lichen Schwangerschaft eben keine überzähligen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Birgitt Bender Embryonen erzeugt, die man anschließend vernichtet. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- lege Parr, Ihre Fraktion schlägt vor, das Embryonen- Es besteht auch ein rechtlicher Unterschied. Denn die schutzgesetz zu ändern und die so genannte Präimplanta- Abtreibung ist ein Abwehrrecht, bei dem der Staat auf tionsdiagnostik in, wie Sie sagen, eng begrenzten Fällen seinen Schutzanspruch wegen der Unzumutbarkeit für (B) zuzulassen. Wir werden dem nicht zustimmen. Ich sage die Frau zum Teil verzichtet. Die rechtliche Regelung ist (D) Ihnen, warum. bekanntlich immer noch so, dass eine Abtreibung als Das alles hört sich viel zu einfach an. Man muss sich rechtswidrig angesehen wird, aber straffrei bleibt. vergegenwärtigen, was dieses Verfahren allein schon auf Was Sie wollen, ist ein Anspruch der Frau auf eine der individuellen Ebene bedeutet. Eine Frau, die durch- genetische Selektion, auf ein genetisch gesundes Kind. aus auf natürlichem Wege schwanger werden kann, Das ganze Verfahren soll noch nicht einmal rechtswidrig (Detlef Parr [FDP]: Schwanger geworden ist!) sein. Das würde schon eine sehr gravierende rechtliche Veränderung bedeuten, auf die wir uns nicht verständi- muss sich, damit das von Ihnen vorgeschlagenegen können. Verfahren überhaupt greifen kann, zunächst einmal der In-vitro-Befruchtung unterziehen. Das macht man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht einfach im Vorbeigehen. Dieses Verfahren bedeutet sowie bei Abgeordneten der SPD und der eine Hormonbehandlung, damit eine Überzahl von CDU/CSU) Eizellen heranreift, und einen operativen Eingriff, mit dem diese Eizellen entnommen werden. Es bedeutet fer- Herr Parr, es mag ja sein, dass Sie eine solche neue ner die gezielte und gewollte Erzeugung von überzähli- Regelung auf vergleichsweise wenige Fälle beschränken gen Embryonen im Glas – man will ja selektieren –, die wollen; aber ich sage Ihnen, dass das nicht machbar sein Vernichtung der Embryonen mit der unerwünschten ge- wird. Es wird zu einer Indikationsausweitung kommen. netischen Ausstattung Das ist im Übrigen auch die Erfahrung in all den Län- dern, in denen diese Regelung zunächst in eng begrenz- (Zurufe von der SPD: Nein!) ten Fällen eingeführt wurde. Wenn es tatsächlich eine Rechtsverordnung gäbe, in der das Justizministerium be- und schließlich die Implantation derjenigen Eizellen, die stimmte Krankheitsbilder beschreibt, bei denen eine sol- man für geeignet hält. che Diagnostik und Selektion zulässig wäre, dann muss Wie groß ist anschließend die Wahrscheinlichkeit ei- ich fragen: Was bedeutet das eigentlich für die Men- ner Schwangerschaft? Wir alle wissen sehr genau, dass schen, die diese Krankheit haben? Haben Sie darüber die so genannte Baby-take-home-Rate bei der In-vitro- schon einmal nachgedacht? Befruchtung äußerst gering ist. (Detlef Parr [FDP]: Hören Sie doch auf den (Detlef Parr [FDP]: Lassen wir es die Frauen Mukoviszidose-Verein! Dann wissen Sie, wie doch selbst entscheiden!) sie reagieren!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15579

Birgitt Bender (A) Das führt doch zur Stigmatisierung bestimmter Krank- Stadium eine Gendiagnostik und damit in der Konse-(C) heitsbilder. Wie soll man dann in Zukunft in der Gesell- quenz entweder den Transfer des Embryos oder seine schaft über diese Art der Behinderung reden? Das kann Vernichtung – das heißt: Selektion. ich mir nicht vorstellen. Die PID ist in Deutschland nach den Regelungen des Sie sprechen so ohne weiteres von „genetisch belaste- Embryonenschutzgesetzes nicht zulässig. Die Vorstel- ten Paaren“. Wir reden von Menschen mit Krankheiten, lung, die Anwendung der PID sei gesetzlich beschränk- mit denen man offensichtlich erwachsen wird und bei bar, wird von Fachleuten bestritten. So spricht der Deut- denen die Lebensqualität so hoch ist, dass man sich Kin- sche Ärztinnenbund in seiner Stellungnahme von einer der wünscht und sich in der Lage fühlt, sie auch ins Le- „Türöffnerfunktion“. Indikationen, Listen nicht akzep- ben zu begleiten. Gleichzeitig soll man einen Katalog tabler Erkrankungen, nach denen gefahndet wird, wür- von Krankheiten verabschieden, bei deren Vorliegen der den bald ergänzt, erweitert und schließlich ganz abge- Embryo vernichtet werden darf. Das halten wir fürschafft werden. Gesetzliche Einschränkungen werden ethisch nicht vertretbar. keinen Bestand haben können. Wer kann denn Eltern ge- genüber auf Dauer begründen, welche Krankheiten oder (Detlef Parr [FDP]: Gilt das für alle Grünen?) Behinderungen zumutbar sind und welche nicht? Wir fürchten uns auch vor den Folgen, die ein solcher (Detlef Parr [FDP]: Lesen Sie den Bericht ein- Mechanismus für den Umgang mit behinderten Men- mal, der widerspricht allem, was Sie da schen in unserer Gesellschaft hätte. Wenn es erst einmal sagen! – Gegenruf von der CDU/CSU: Das heißt, dass man eine Auslese betreiben kann, die dazu stimmt nicht! – Gegenruf des Abg. Detlef Parr führt, dass solche Menschen gar nicht erst geboren wer- [FDP]: Aber vielem von dem!) den, dann werden wir, so glaube ich, für ein solidari- sches Miteinander mit Menschen mit BehinderungenDie Erfahrungen in anderen Ländern, in denen es solche weniger Platz denn je haben. Wir wollen gerade das Ge- Begrenzungen zunächst gegeben hat, zeigen, Herr Kol- genteil. lege Parr, dass diese auf Dauer nicht haltbar sind und dass auch gesunde Menschen die PID zum Beispiel für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Wunschkindproduktion nutzen. sowie bei Abgeordneten der SPD und bei der (Jörg Tauss [SPD]: Das kann man klar regeln!) CDU/CSU) Auch bei der Entwicklung der Pränataldiagnostik hat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: man in Deutschland anfangs von einer begrenzten Zahl Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn von der von 175 Paaren gesprochen. Heute sind es mehr als (B) CDU/CSU-Fraktion. 70 000. Das muss man einfach wissen. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine Zulassung der PID kann auch nicht mit der Rechtssituation für den Schwangerschaftsabbruch ge- mäß §§ 218 ff. StGB begründet werden. Die Ausnahmen Maria Eichhorn (CDU/CSU): von der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrü- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits in chen betreffen Situationen, in denen es um einen Kon- der letzten Legislaturperiode haben wir über das Thema, flikt zwischen dem Lebensrecht des Embryos und dem das wir heute beraten, diskutiert. Der Fortschritt vonRecht der Schwangeren aufLeben und physische und Wissenschaft und Forschung bringt für uns die Ver-psychische Unversehrtheit geht. Die Straffreiheit des pflichtung, neue Entwicklungen immer wieder zu prü- Schwangerschaftsabbruchs wird damit gerechtfertigt, fen. Es muss geklärt werden, wie sie sich generell auf die dass der Konflikt für die Frau „nicht auf eine andere für Situation der Menschen und auf die Entwicklung der Ge- sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“, wie es sellschaft auswirken. Maßstab ist für mich und uns dabei im Gesetz heißt. Letztlich geht es um die Abwägung des die Würde des Menschen von Anfang an. Daschrist- Lebensrechts der Mutter und des Lebensrechts des Kin- liche Menschenbild steht für den Schutz des Menschen- des. Das ist bei der PID nicht der Fall. lebens in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Das gilt auch für Grenzsituationen des Lebens – gleichgültig, (Beifall bei der CDU/CSU) ob es sich um eine Behinderung, eine schwere Erkran- Eine Einführung der PID fördert die Gefahr, in Kate- kung, das Leben vor der Geburt oder die Situation des gorien von „lebenswertem“ und „nicht lebenswertem“ Sterbens handelt. Das christliche Menschenbild steht ge- Leben zu denken und zu handeln. Bereits heute müssen gen eine „Verzweckung“ des Menschen und gegen eine sich Eltern behinderter Kinder fragen lassen: Hat denn Unterscheidung von „lebenswertem“ und „lebensunwer- das sein müssen? Der soziale Druck auf Eltern und ins- tem“ Leben. Es steht auch gegen eine Reduzierung von besondere auf Frauen, die Kinder mit Behinderungen zur Menschen auf ihre Nützlichkeit. Welt bringen, würde sehr groß werden. Menschliches Leben entsteht nach überwiegender Durch die Zulassung eines solchen Verfahrens würde Auffassung mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle. sich die gesellschaftliche Akzeptanz der Menschen mit Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigen-Behinderung verändern. Dies träfe dann aber alle Men- ständiger Mensch mit allen Anlagen und Fähigkeiten. schen, die aufgrund von Schwangerschafts- oder Ge- Deshalb hat der frühe Embryo in jedem Fall bereits An- burtskomplikationen sowie aufgrund von Erkrankungen spruch auf einen besonderen Schutz der Rechtsordnung. und Unfällen im späteren Leben behindert sind. Das sind Die Präimplantationsdiagnostik ermöglicht in diesem80 bis 90 Prozent der Behinderten. Auch die PID, die 15580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Maria Eichhorn (A) Präimplantationsdiagnostik, kann kein gesundes und Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der(C) nicht behindertes Kind garantieren. FDP vor. Die PID ist grundsätzlich mit einer In-vitro-Fertilisa- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tion verbunden; meine Vorrednerin hat es angesprochen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre In Anhörungen im Ausschuss für Familie, Senioren, keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Frauen und Jugend wurde wiederholt bestätigt, dass diese mit großen physischen und psychischen Belastun- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- gen insbesondere für die Frau verbunden ist. Gesund- ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär heitliche Risiken sind nachgewiesen. Zudem ist – auch Alfred Hartenbach. das wurde vorhin gesagt – die Anwendung der IVF sehr ineffizient. Ich kenne keinen Frauenverband, der für die Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- PID ist. Der Deutsche Ärztinnenbund und der Deutsche desministerin der Justiz: Frauenrat zum Beispiel sprechen sich nachdrücklich ge- Ich bedanke mich sehr herzlich, verehrter Herr Präsi- gen die PID aus. dent, und grüße Sie ganz herzlich. Liebe Kolleginnen! Der Wunsch von Eltern, das Risiko einer schweren Liebe Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt den Ge- genetischen Erkrankung oder einer Behinderung des ei- setzentwurf der Koalitionsfraktionen. In diesem Entwurf genen Kindes weitgehend auszuschließen, rechtfertigt wird genau das geregelt, was wir bereits im Zusammen- kein Verfahren, das menschliches Leben auf den Prüf- hang mit der Mietrechtsreform im September 2001 ge- stand stellt. Auch eine begrenzte Zulassung der Prä-wollt haben. Weil ich dasdamals als rechtspolitischer implantationsdiagnostik führt zu einerAufkündigung Sprecher gewollt habe, rede ich heute zu diesem Thema; des Wertekonsenses in unserer Gesellschaft. Die Men- denn es war einer meiner Herzenswünsche, dass dies so schenwürde steht nach Art. 1 des Grundgesetzes nicht kommt. zur Disposition. Daher ist es notwendig, klare ethische Grenzen zu setzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Die Mietrechtsreform hat die Kündigungsfrist zu- gunsten der Mieter geändert: Seit September 2001 kön- nen Mieter grundsätzlich mit einer dreimonatigen Frist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kündigen. Diese Kündigungsfrist kann von den Vertrags- Ich schließe die Aussprache. parteien nicht verlängert werden. Dieses so genannte Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Abweichungsverbot gilt allerdings nicht für Verträge, in (B) den Drucksachen 15/1234 und 15/3500 an die in der Ta- denen die Parteien vor dem 1. September 2001 andere(D) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Kündigungsfristen vereinbart haben. Abweichend von der Tagesordnung soll die Vorlage auf Ob eine solche Vereinbarung auch dann vorliegt, Drucksache 15/1234 federführend an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden. wenn ein Formularmietvertrag lediglich den alten Geset- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann zeswortlaut wiedergibt, war umstritten. Nach dem Wil- sind die Überweisungen so beschlossen. len des Rechtsausschusses des Bundestages sollte in die- sen Fällen das Abweichungsverbot gelten. Das heißt, es Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: sollten die neuen Kündigungsfristen Anwendung finden. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Der Rechtsausschuss ist davon ausgegangen, dass der neten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier,Gesetzeswortlaut dies deutlich zum Ausdruck bringt. So Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und haben es auch verschiedene Instanzgerichte gesehen, der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten beispielsweise das Landgericht Hamburg, das im Jahr Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig,2002 entschieden hat, dass längere Kündigungsfristen in Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und Altverträgen nur dann gelten, wenn sie individuell der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- vereinbart worden sind. Der Bundesgerichtshof hat NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur allerdings im Juni 2003 entschieden, dass auch bei For- Änderung des Einführungsgesetzes zum Bür- mularverträgen, die nur die bestehende Gesetzeslage gerlichen Gesetzbuche wiederholen, eine vertragliche Vereinbarung im Sinne der Übergangsvorschrift vorliegt und in diesen Fällen – Drucksache 15/4134 – die alten Kündigungsfristen weiter gelten. (Erste Beratung 138. Sitzung) Die Koalitionsfraktionen haben daraufhin das Für und Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Wider einer Regelung, wie sie ursprünglich vom Rechts- schusses (6. Ausschuss) ausschuss beabsichtigt war, erneut umfassend abgewo- gen. Das Ergebnis ist der vorliegende Gesetzentwurf, – Drucksache 15/5132 – mit dem die Übergangsvorschrift so auf Altmietverträge Berichterstattung: angewendet werden kann, wie es der Rechtsausschuss Abgeordnete Joachim Stünker von Anfang an gewollt hat. Zukünftig werden also Kün- Marco Wanderwitz digungsfristen in Altmietverträgen nur dann zu beachten Jerzy Montag sein, wenn die entsprechende Formularklausel etwas an- Rainer Funke deres als eine bloße Wiederholung der früher geltenden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15581

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) gesetzlichen Regelungen enthält oder wenn es sich um Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) eine individuelle Vereinbarung handelt. Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz Wie ich bereits eingangs sagte, begrüßt die Bundesre- von der CDU/CSU-Fraktion. gierung den vorliegenden Gesetzentwurf. Er verhilft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers wieder zur Geltung und sorgt für Rechtsklarheit und für Rechtssi- Marco Wanderwitz (CDU/CSU): cherheit. Damit kommen zahlreiche Mieter, die bislang nur mit einer sechs- oder zwölfmonatigen Frist ihre Ver- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und träge kündigen können, in den Genuss der kurzenHerren! Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stünker dreimonatigen Kündigungsfrist. Wir stärken damit die hat gestern den vorliegenden Gesetzentwurf der Regie- Mietermobilität, wie wir es auch schon mit der Einfüh- rungsfraktionen im Rechtsausschuss als Restant aus der rung der neuen kurzen Kündigungsfrist getan haben. vergangenen Wahlperiode des Deutschen Bundestages bezeichnet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Ute Kumpf [SPD]: Da hat er Recht gehabt!) Wir helfen damit den Mietern, auf die Erfordernisse Restant kommt vom lateinischen Wort restare, das des modernen Arbeitsmarkts zu reagieren, der ihnen im- „übrig bleiben“ bedeutet. Ich hatte mich gefragt, worin mer wieder auch Ortswechsel oder, wie Sie sagen, mehr die Aktualität dieses Wortes liegt. Mobilität abverlangt. (Jörg Tauss [SPD]: Lasst uns Neuem zuwen- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Agenda 2010!) den!) Ich bin mir sicher, dass die wenigen Vermieter, dieAngesichts der heute Nachmittag und jetzt noch stattfin- von der Regelung noch betroffen sind, sich leicht darauf denden Kuriositäten in Schleswig-Holstein sehe ich je- einrichten und gut damit werden umgehen können. Es ist doch, wo Ihre Restanten sind. richtig, dass für den Vermieter die in manchen Altmiet- (Ute Kumpf [SPD]: Wir sind hier im Deut- verträgen vorgesehenen längeren Kündigungsfristen schen Bundestag!) günstiger waren. Aber ich meine, dass wir mit den Kün- digungsfristen der Mietrechtsreform einen angemesse- Ich würde allerdings nicht sagen, dass es sich bei dem nen Interessenausgleich gefunden haben, der nach Maß- Gesetzentwurf um einen Restanten, also um etwas Üb- gabe dieses Gesetzentwurfs auch auf Altmietverträgeriggebliebenes, etwas Zurückgebliebenes oder noch zu übertragen werden sollte. Ein großer deutscher Vermie- Lösendes handelt. (B) terverband, ein Wohnungsverband, macht dies auch bei (D) (Zuruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Altmietverträgen für alle Mieter so. Die Rechte der Vermieter sind dabei ausreichend – Wir sind gerade bei Ihrem Restanten, Herr Kollege geschützt; denn immer dann, wenn die Parteien eine in- Stünker. dividuelle Vereinbarung getroffen oder aber eine Formu- (Joachim Stünker [SPD]: Ich muss bei Ihnen einen larklausel vereinbart haben, die von der seinerzeitigen bleibenden Eindruck gemacht haben!) Gesetzeslage abweicht, bleibt es bei den so vereinbarten Kündigungsfristen. Wir geben also dem Gestaltungswil- Ich glaube vielmehr, dass es sich bei dem Gesetzent- len der Parteien Vorrang vor der gesetzlichen Regelung. wurf um so etwas wie einen Rückläufer handelt. Den Rückläufer haben Sie vom VIII. Zivilsenat des Bundes- (Rainer Funke [FDP]: Sie müssten doch rot gerichtshofs bekommen, verkündet am 18. Juni 2003 werden, wenn Sie so lügen!) und mit dem Stempel „untauglich und handwerklich – Ich bin schon rot, Herr Funke. – Damit schützen wir schlecht gemacht“ versehen. Anstatt nun in sich zu ge- das Vertrauen der Vertragsparteien dort, wo es berechtigt hen, haben Sie sich auf das Gleis der Gerichtsschelte be- ist, nämlich bei den echten Vereinbarungen über diegeben. Trotzig wird das Ganze jetzt noch einmal ver- Kündigungsfrist. Wo nur zur Information der Parteien sucht. auf eine gesetzliche Regelung verwiesen wird, kann ich (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ich dagegen ein solches schutzwürdiges Vertrauen nicht er- habe Sie nicht beschimpft!) kennen. Deshalb ist es in diesen Fällen richtig, wenn die kurzen Kündigungsfristen der Mietrechtsreform gelten. – Sie nicht, Herr Staatssekretär. – Ich glaube, das Gleis führt ins Leere. In diesem Fall ist das ein weiterer Bei- Dieses hübsche lindgrüne Papier, welches einen Ent- trag zum Niedergang der deutschen Wohnungswirt- schließungsantrag der FDP-Fraktion enthält, sollte man schaft. zwar lesen, weil der Entschließungsantrag sehr gut die politische Haltung der FDP wiedergibt. Ich bitte Sie (Jörg Tauss [SPD]: Na sag mal!) aber, diesem Antrag nicht zuzustimmen, wohl aber unse- An deren Sarg wird aber vonseiten der Regierung schon rem Gesetz. länger gebastelt. Ein paar der benutzten Nägel werde ich Vielen Dank. noch einmal ans Licht holen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ute Kumpf [SPD]: Sie haben wohl zu viel DIE GRÜNEN) Karl May gelesen!) 15582 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Marco Wanderwitz (A) Bleiben wir zunächst aber beim einschlägigen Urteil che Kalkulation der Vermieter, etwa bei Investitionen,(C) des BGH und bei der Sachlage, auch wenn es Ihnen weh die sich über längere Zeiträume amortisieren müssen. tut. Sie haben im Jahre 01 20 einseitig die Vermieter schlechter gestellt und damit die wichtige Balance im Ansonsten ist es aber anders. Es ist nämlich einzig die deutschen Mietrecht zwischen Vermieterinteressen, die Sache der Vertragsparteien, in welcher Form sie die sich im Übrigen direkt aus der Eigentumsgarantie des Kündigungsfristen festgehalten haben. Ich muss mir an Grundgesetzes ergeben, und den eigentumsähnlichendieser Stelle wieder einmal die Frage stellen, ob Ihnen Rechten der Mieter empfindlich gestört. der Wert von Privatautonomie und Vertragsfreiheit ei- gentlich bewusst ist Zu Recht wurde schon damals in der Debatte hier im (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Hohen Hause darauf hingewiesen, dass insbesondere die höhere Mobilität der Menschen in unserer Zeit – der und ob er Ihnen etwas wert ist. Staatssekretär hat es angesprochen – kürzere Kündi- gungsfristen bei Mietverträgen erfordert. Das ist ohne (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frage richtig. Ich füge allerdings hinzu, dass dies auch in Die Vertragsfreiheit ist eines der konstitutiven Ele- Zukunft nicht alle Menschen betreffen wird und vielemente unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung. Ich Menschen immer noch sehr lange Mietverträge haben. frage mich wirklich, warum Sie an allen Ecken versu- Klar ist aber auch, dass in weiten Teilen der Bundesre- chen, sie kaputtzumachen. publik heutzutage der Wohnungsmangel einem Überan- gebot gewichen ist. Dieser Trend wird sich auch weiter- (Jörg Tauss [SPD]: Wir sind im Gegensatz zu hin verstärken. Deshalb reden wir ja beispielsweise über Ihnen sogar vertragsfähig!) Stadtumbau und -rückbau. Ich kann Ihnen auch an dieser Stelle einen kurzen Dennoch wollen wir bei der Gestaltung des Miet-Ausflug in das Antidiskriminierungsgesetz und seine rechts den Prozess des demographischen Wandels be- mietrechtlichen Auswirkungen nicht ersparen. rücksichtigen. Wir wollen beispielsweise den sozialen Mix in den Wohnquartieren weiterhin sicherstellen und (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das hat aber einen Bart, was Sie jetzt sagen!) nicht nur die Substanz herunterwirtschaften, sondern auch investieren, um eine hohe Qualität zu sichern. Des- – Ich beschränke mich auf den zivilrechtlichen Teil und halb gehört es zur Wahrheit, dass man neben die höhere dabei auf das, was heute zur Debatte steht. Mobilität der Mieter auch die Problematik der Weiter- vermietbarkeit der Immobilien auf der Vermieterseite Sie wollen für die so genannten Massengeschäfte (B) setzt. Bei einer dreimonatigen Kündigungsfrist aufseiten – wie auch immer man diesen Begriff am Ende auslegt – (D) der Mieter ist man sicher am unteren Ende dessen ange- die freie Wahl des Vertragspartners faktisch aufheben. langt, was auf der anderen Seite dem Vermieter zuzumu- Das Anwenden aller in der einschlägigen EU-Richtlinie ten ist. benannten Diskriminierungsmerkmale ist aber ausdrück- lich nicht für das Zivilrecht vorgesehen. Sie wollen also Man muss sich die Frage stellen, warum man demohne Not ein Mehr an hoheitlichem Eingriff. Vermieter im Gegenzug für den Fall, dass er sich aus wirtschaftlichen Gründen – mit denen ist auch mietersei- Was passiert nun in diesem konkreten Bereich, falls tig die Mobilität begründet – umorientiert, eine bis zu Ihr Gesetzentwurf in Kraft tritt? Wie kann ein Vermieter neunmonatige Kündigungsfrist aufzwingt. Aber das war noch einen Vertrag abschließen, ohne Gefahr zu laufen, und ist Ihre Entscheidung, und zwar allein Ihre Entschei- vor Gericht gezerrt zu werden? Kann er beispielsweise dung. Auch hier ist Ihr beliebter Ausspruch „Mehrheit eine junge Familie mit drei Kindern gegenüber einem al- ist Mehrheit“ sicherlich wieder sehr passend. lein stehenden älteren Herrn oder einem ausländischen Mitbürger bevorzugen? Dass Sie allerdings eine Rückwirkung vorgesehen ha- (Wolfgang Spanier [SPD]: Das wird er ben, was man bei Dauerschuldverhältnissen ohne Zwei- können!) fel kann, halte ich angesichts der gewählten Form für be- denklich und im Zusammenhang mit den gerade– Er kann es – entgegen allen gegenteiligen Bekundun- erwähnten Eigentumsrechten nach wie vor auch für ver- gen – nicht. fassungsrechtlich bedenklich. Sie wollten nämlich na- hezu alle vor Ihrer Reform 2001 abgeschlossenen alten (Wolfgang Spanier [SPD]: Warten Sie doch Mietverträge mit den neuen Kündigungsfristen verse- einmal ab!) hen. Was aber wollten die Vertragsparteien bei Vertrags- Er kann es deshalb nicht, weil gerade Kinder nicht als schluss? Sie wollten bewusst die jeweils gewähltenDiskriminierungsmerkmal vorgesehen sind. Er kann es Kündigungsfristen vereinbaren oder die Geltung der da- nicht, weil er sich sonst der Gefahr aussetzt, dass er die maligen gesetzlichen Kündigungsfristen. In letzterem Beweislast dafür trägt, dass in diesem Beispiel keine Al- Falle kann man noch am ehesten sagen: Sie haben zwar tersdiskriminierung und keineDiskriminierung nach gewusst, wie diese zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ethnischer Herkunft oder Rasse vorliegen. lauteten, haben aber eine spätere Änderung der Geset- zeslage einkalkuliert. Ich sage ganz bewusst „einkalku- (Wolfgang Spanier [SPD]: Sie kennen doch liert“. Das betrifft nämlich auch die betriebswirtschaftli- nur den Entwurf, nicht das Gesetz!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15583

Marco Wanderwitz (A) Nun kann man jeden Vertrag gleich mit Anwalt und Zeu- Was hat Ihnen der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichts- (C) gen aushandeln und dokumentieren. Das wird Deutsch- hofes zu diesem Gesetz ins Stammbuch geschrieben? Ich land bestimmt retten. hoffe, dass Sie das Urteil gelesen haben. Es ist lesens- wert. Er hat Ihnen sinngemäß gesagt, dass die Formulie- Das einzig taugliche Kriterium ist dann noch die wirt- rung des Rechtsausschusses, in dem auch zum damali- schaftliche Leistungsfähigkeit des Mieters. Das ist ein gen Zeitpunkt schon Rot-Grün die Mehrheit gestellt hat, objektives Kriterium; nach ihm darf man dann wählen. nicht zu mehr Rechtssicherheit auf diesem Gebiet führt, So viel zum Thema „soziale Wärme in Deutschland un- sondern dass – jetzt zitiere ich – ter Rot-Grün“! das Ziel der Mietrechtsreform verfehlt wurde, (Beifall bei der CDU/CSU) durch eine verständliche und transparente Gestal- An dieser Stelle noch ein offenes Wort von einem Ab- tung des Mietrechts dem Rechtsfrieden zu dienen. geordneten aus dem Freistaat Sachsen: In der ehemali- gen DDR war Privateigentum – auch an Immobilien – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht vom Staat gewünscht. Diejenigen, die privates Ei- Meine Damen und Herren, das ist überdeutlich; so etwas gentum hielten, wurden nach besten Kräften bekämpft, muss einen doch eigentlich zum Nachdenken bringen. unter anderem dadurch, dass man ihnen gegen ihren Wil- Ich zitiere weiter aus dem Urteil: len Mieter in die Wohnungen gesetzt hat. Die vom Rechtsausschuss vorgenommene Unter- (Wolfgang Spanier [SPD]: Wollen Sie Paralle- scheidung zwischen echten und unechten Vereinba- len ziehen?) rungen würde die Notwendigkeit nach sich ziehen, Wenn wir in diesem Gleis weiterfahren, auf das Sie sich die tatsächlichen Umstände des lange zurückliegen- unter anderem mit dem Antidiskriminierungsgesetz be- den Vertragsschlusses aufzuklären. geben, sind wir auf einem Weg, der mich ein Stück weit Haben Sie auch das gelesen? an dieses Verhalten erinnert. (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Welches Ver- halten meinen Sie denn?) – Ich glaube, nicht. Das würde im Übrigen nicht nur private Vermieter, son- (Jörg Tauss [SPD]: Doch!) dern auch Genossenschaften und Wohnungsgesellschaf- ten betreffen. Ich glaube, damit werden wir nicht weit Sie sind auf der Suche nach einer Formulierung, um den (B) kommen. Kranken ins beabsichtigte Korsett zu zwingen, fündig(D) geworden. Bei Vereinbarung durch Vertrag – jetzt zitiere Ich will ganz kurz zwei weitere Themen ansprechen. ich aus Ihrem Gesetzentwurf – Auch das Thema Graffiti betrifft die Wohnungswirt- gilt dies nicht, wenn e di Kündigungsfristen des schaft. Seit Jahren, seit ich mich hier entsinnen kann § 565 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Bürgerlichen Gesetz- – die Kollegen, die schon länger dabei sind, können es buches in der bis zum 1. September 2001 geltenden schon ein Stückchen länger –, reden wir hier über dieses Fassung durch Allgemeine Geschäftsbedingungen Thema. Wir alle sind uns sehr einig. Einigen wenigen vereinbart worden sind. – oder besser gesagt: einem Einzelnen, der heute nicht unter uns ist – gelingt es aber, dieses Gesetz und die Ver- Meine Damen und Herren, wir hatten im parlamenta- besserungen zu blockieren, die insbesondere den volks- rischen Verfahren auch ein erweitertes Berichterstatter- wirtschaftlichen Schaden reduzieren würden. gespräch zu dem Thema, so eine Art kleine Anhörung. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was für einen Genau dabei schrieb Ihnen der Vertreter des Deutschen volkswirtschaftlichen Schaden denn?) Mietgerichtstages, Professor Dr. Derleder, ins Stamm- buch, dass die Formulierung in Form einer doppelten – Den volkswirtschaftlichen Schaden kann ich Ihnen er- Negation missglückt sei. Herr Rechtsanwalt Schönleber läutern, Herr Hacker. Von ihm war auch schon in denführte als Sachverständiger des Deutschen Anwaltver- Anhörungen die Rede. eins aus, (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Haben Sie denn (Wolfgang Spanier [SPD]: In der Sache hat er schon einmal eine Strafanzeige erstattet?) es befürwortet!) Wir haben jede Menge Sachbeschädigungen und jede dass eine neuerliche Änderung für Verunsicherung sor- Menge daraus entstehende Schäden. Sie kommen derzeit gen werde und es sich bei der gewählten Unterscheidung nicht zuletzt deshalb so oft vor, weil der Verfolgungs- um eine künstliche handele, die gesetzlich konstruiert druck so gering ist. Wir könnten sie verringern. werde durch eine Art Zweistufigkeit der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Das klingt nicht nach vorbehalt- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Anzeige loser Unterstützung. Nun ist die große Frage: Was macht erstatten!) man mit so einer Expertenanhörung? Wir hatten verein- Kommen wir zum Thema zurück! bart, diese Expertenanhörung noch einmal auszuwerten. (Beifall bei der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist das Mindeste!) 15584 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Marco Wanderwitz (A) Das ist nicht geschehen. Jetzt haben wir das Thema auf wir tatsächlich seit der letzten Legislaturperiode schul- (C) der Tagesordnung; ich nehme das zur Kenntnis – so viel dig sind, heute abzuschließen. zum geordneten parlamentarischen Verfahren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nach alledem bleibt der CDU/CSU-Fraktion nur die sowie bei Abgeordneten der SPD) Ablehnung des Gesetzentwurfes, weil er wie die zu-Ich muss auch sagen, dass in dem Berichterstatterge- grunde liegende Mietrechtsreform in weiten Teilenspräch, das wir in Form einer kleinen Anhörung durch- – auch in der Sache – den Realitäten des Wohnungs-geführt haben, sehr wohl eine deutliche Unterstützung marktes nicht gerecht wird, dafür zum Ausdruck kam. Natürlich ist der Punkt strit- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tig; das ist völlig klar. Dennoch bin ich der Meinung, dass es richtig ist, dass sich Rot-Grün bereits in der letz- weil er handwerklich schlecht ist und neuen Streit, neue ten Legislaturperiode und auch jetzt wieder in ganz kla- Unsicherheit, neue Prozesse – vielleicht bis hin zu einer rer und eindeutiger Weise dazu bekannt hat. neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung – provozieren wird. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich dieAsymmetrie, die wir damit bewusst eingeführt haben, für zumutbar Ein kurzer Satz zum Entschließungsantrag der FDP- halte. Ich bin mir wohl bewusst, dass das für die Seite Fraktion zu dieser Thematik: Wir halten diesen Antrag der Eigentümer kein Spaziergang ist. Aber wenn ein Ei- in weiten Teilen für begrüßenswert. Aber gerade vorgentümer die Entscheidung fällt, dass er sein Haus oder dem Hintergrund der Sachverständigeneinlassungen und seine Wohnung anders verwenden will, dann sind län- als ausdrückliche Aufforderung an die Bundesregierung gere Kündigungsfristen – drei Monate bei einer Mietver- wollen wir, dass der gesamte Komplex noch einmal auf tragslaufzeit bis fünf Jahre, später sechs und neun Mo- den Prüfstand gestellt wird. Hier müssen in Größenord- nate – völlig angemessen; schließlich plant er ja nungen Veränderungen erfolgen. Deshalb halten wir den langfristig. Der Unterschied zwischen Vermieter und Antrag der FDP für noch nicht weitgehend genug und Mieter ist real, weshalb es hier angemessen ist, Unglei- enthalten uns zu diesem Antrag der Stimme. ches auch ungleich zu behandeln und nicht so zu tun, als seien Vermieter und Mieter gleich. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig In diesem Sinne werbe ichbei allen Beteiligten dafür, vom Bündnis 90/Die Grünen. hier die Kirche im Dorf zu lassen und nicht so zu tun, als (B) sei das unzumutbar. (D) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Die kurze Redezeit, die ich habe, möchte ich nutzen, GRÜNEN): um ein paar Takte zu dem FDP-Antrag zu sagen, der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und mich ziemlich erschreckt hat. Was Sie, Herr Kollegen! Ich möchte wieder zur Sache kommen: Mei- Wanderwitz, eben gesagt haben – im Grunde halten Sie nes Wissens stehen heute weder das Antidiskriminie-ihn für begrüßenswert, aber er gehe Ihnen nicht weit ge- rungsgesetz noch die Graffitibekämpfung auf der Tages- nug; so ähnlich war das eben zu verstehen –, hat mich ordnung, schon irritiert. Ich erinnere mich noch genau daran, dass die Mietrechtsreform 1996/97, die seinerzeit unter Ihrer (Daniela Raab [CDU/CSU]: Diese Menetekel Regierung durchgeführt werden sollte – Rainer Funke schweben über uns!) weiß das sehr genau, da er damals aktiv daran beteiligt sondern das Mietrecht, speziell der Umgang mit den Alt- und verantwortlich war –, daran gescheitert ist, dass zu- mietverträgen und mit den Kündigungsfristen. mindest die CSU die Forderung nach einer wirklich har- ten Neoliberalisierung des Mietrechts, die von der rech- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ ten Seite des Hauses gekommen ist, für nicht DIE GRÜNEN) verantwortbar gehalten hat. Nur dadurch haben wir die Gelegenheit bekommen, das Mietrecht zu novellieren. Ich finde es sehr wichtig, dass wir zu diesem schwieri- Einige der älteren Kollegen hier wissen das sehr wohl. gen Punkt gekommen sind, der uns schon bei der letzten Mietrechtsnovelle beschäftigt hat. Es ist wichtig, dass Zu den drei Forderungen, die Sie hier jetzt noch ein- nicht nur Neumietverträge dem Mieter eine Kündigungs- mal aufgegriffen haben, möchte ich ein paar deutliche frist von drei Monaten ermöglichen, sondern auch die al- Worte sagen: ten Formularmietverträge. Das ist in Zeiten der hohen Als Erstes fordern Sie wieder die symmetrischen Mobilität, die wir unserer Gesellschaft heute zumuten, Kündigungsfristen. Ich glaube, dazu haben wir von un- einfach notwendig – sei es, weil jemand woanders kurz- serer Seite – von Rot-Grün – zur Genüge gesagt, dass fristig Arbeit angenommen hat, sei es, dass ältere Men- wir das für nicht akzeptabel halten. schen in ein Heim umziehen müssen. Kündigungsfristen von neun – damals sogar zwölf – Monaten führten oft- Als Zweites wollen Sie die Möglichkeit einräumen, mals dazu, dass die Betroffenen über längere Zeit dop- die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen wieder auf pelt Miete zahlen müssen. Von daher begrüße ich es sehr, 30 Prozent anzuheben. Damit ignorieren Sie wirklich die dass es jetzt gelungen ist, diese Nachbesserungen, die zwischenzeitliche Entwicklung. Die breite Schicht der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15585

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) arbeitenden Menschen erhält keine nennenswerten Ein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) kommenserhöhungen mehr. Daneben gibt es eine hohe der CDU/CSU – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Zahl von Arbeitslosen. In dieser Situation zu sagen, es Jetzt fangen Sie auch noch an!) sei zumutbar, von heute auf morgen eine Mieterhöhung – Das ist leider die reine Wahrheit. Das muss man ein- von 30 Prozent zu verkraften, halte ich für sehr freide- mal sagen dürfen, Herr Hacker. mokratisch. Wir stimmen deutlich und entschlossen da- gegen. Die FDP geht einen anderen Weg. Frau Eichstädt- Bohlig hat das kritisiert. Ich bin der Meinung, dass dies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der richtige Weg ist. Wir sprechen uns für eine einheitli- und bei der SPD) che Kündigungsfrist von drei Monaten für Vermieter und Mieter aus. Die Zeiten, in denen Mieter auf zusätzlichen Auch Ihrem dritten Punkt, dieSchonfrist bei Miet- Schutz durch lange Kündigungsfristen angewiesen rückständen, die wir auf zwei Monate erhöht haben,sind, sind vorbei. Die Situation am Wohnungsmarkt wieder auf einen Monat zurückzuführen, stimmen wir – das wissen Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, am besten – ist nicht zu. In der letzten Legislaturperiode hat es ausführ- entspannt. Angebot und Nachfrage haben sich ausgegli- liche Diskussionen darüber gegeben, ob die Ausweitung chen. Die allgemeinen Lebensbedingungen gehen in der Schonfrist für die Mieter, die Probleme mit ihrenRichtung mehr Flexibilität. Durch das soziale Mietrecht, Mietrückständen haben, notwendig ist. Wir wissen sehr das ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Kün- wohl, dass das ein sehr großes Problem für die Eigentü- digung verlangt, sind Mieter ohnehin hinreichend ge- mer ist; das will ich überhaupt nicht leugnen. Ich denke schützt. hier aber auch daran, dass die betroffenen Sozialämter – heute und in Zukunft wahrscheinlich überwiegend die (Beifall bei der FDP) Arbeitsagenturen oder die Arbeitsgemeinschaften – Zeit Bezahlbaren Wohnraum schafft man nicht dadurch, brauchen, um das Problem zu lösen, damit die Mieteindem man Vermieter verschreckt. überwiesen werden kann. Ich finde es nicht gut, dass die FDP hier wieder zu hartenZeiten zurück will; denn es (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist wahr!) war ein großer Erfolg, dass wir diese Verlängerung ge- schafft haben. Gerade auch für die Vermieter wurden da- Bezahlbaren Wohnraum schafft man, indem man Kapi- durch sehr viel stabilere Verhältnisse geschaffen. talanlegern Anreiz zu Investitionen bietet und die At- traktivität des privaten Wohnungsbaus steigert. Daher In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag sehr ent- schlägt Ihnen die FDP zu Recht Länderöffnungsklauseln schieden ablehnen und sehr genau darauf achten, wie die zur Erhöhung der Kappungsgrenze für Mieterhöhungen (B) (D) CDU/CSU stimmt. Am liebsten wäre es mir, wenn wir auf 30 Prozent vor. Sie haben es bereits erwähnt; darauf über alle drei Punkte getrennt abstimmen, damit wir se- brauche ich nicht mehr einzugehen. hen können, ob die CDU/CSU auf einmal wieder neoli- beral geworden ist. Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Hören Sie endlich damit auf, den Vermie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tern immer neue Belastungen aufzuerlegen! Legen Sie und bei der SPD) Ihre ideologischen Scheuklappen ab! (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schaffen sie nicht!) Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDP. Bekennen Sie sich endlich zu einem fairen Ausgleich von Vermieter- und Mieterinteressen und lassen Sie auch wieder einmal den Markt sprechen! Der Markt ist das Rainer Funke (FDP): beste Regulativ für Mieter und Vermieter und im Übri- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebegen auch für den Mietzins. Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, mit diesem Reparaturgesetz – Frau Eichstädt-Bohlig, so ist es von (Jörg Tauss [SPD]: Na, na!) Ihnen selbst bezeichnet worden – hätten Sie heute die Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Möglichkeit gehabt, die verunglückte Mietrechtsreform von 2001 zu korrigieren. Stattdessen machen Sie alles (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nur noch schlimmer. Sie schaffen die asymmetrischen Kündigungsfristen nicht ab. Nein, Sie weiten sie sogar Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: noch auf Altmietverträge aus, und zwar in einer Weise, Das Wort hat zum Abschluss dieser Debatte der Kol- von der nur ein Vertragspartner profitiert. Hingegen sol- lege Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion. len Vereinbarungen zum Nachteil des Vermieters unver- ändert wirksam bleiben. Die Ungleichbehandlung von Wolfgang Spanier (SPD): Mietern und Vermietern erreicht damit ein neues Aus- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! maß. Vermieter haben bei Ihnen von Rot-Grün nichts zu Dass wir bei der Mietrechtsreform im Jahre 2001 die lachen. Die nächste böse Überraschung für Vermieter Kündigungsfristen verändert haben, war ein großer Fort- steht in Form des Antidiskriminierungsgesetzes schon schritt. Für die Mieter gelten generell drei Monate und bereit. für die Vermieter drei Monate, nach fünf Jahren 15586 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Wolfgang Spanier (A) Mietdauer sechs Monate und nach acht Jahren neun Mo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) nate Kündigungsfrist. Ich glaube, diese Regelung der DIE GRÜNEN) Kündigungsfristen war wichtig und ist sozial ausgewo- gen, Noch einmal: Das, was wir damals für richtig gehalten haben, halten wir auch heute nach wie vor für richtig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Frau Eichstädt-Bohlig ist bereits auf den Entschlie- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ßungsantrag der FDP eingegangen; aber ich möchte, weil wir langjährigen, zuverlässigen Mieterinnen unddass dieser Antrag, der uns heute vorliegt, aus dem Halb- Mietern damit einen besonderen Schutz gewähren. dunkel der Beratungen des Rechtsausschusses voll ins Licht der Öffentlichkeit gezogen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD – Rainer Funke [FDP]: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wieso Halbdunkel?) Rainer Funke [FDP]: Warum sind nur Mieter schützenswert?) Was Sie, Herr Funke, verlangen, ist nichts anderes, als den Kündigungsschutz für die Mieterinnen und Mieter Herr Wanderwitz, Sie haben gesagt, diese Neurege- drastisch zu beschneiden, ja zu verstümmeln, lung der Kündigungsfristen sei einer der Sargnägel für die Wohnungswirtschaft. Entschuldigen Sie, das ist blü- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hender Unsinn. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Spielraum für Mieterhöhungen drastisch anzuheben des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Sie wollen höhere Mieten – und außerordentliche, fristlose Kündigungen zu beschleunigen. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass ein gro- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Aber nicht mit ßer Wohnungsverband mit immerhin 7 Millionen Woh- uns!) nungen diese Regelung bereits vor der Mietrechtsreform in seine Musterverträge aufgenommen hatte. Sollte die- Das würde das Ende des sozialen Mietrechts bedeuten. ser Verband den ersten Nagel für seinen eigenen Sarg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tatsächlich selbst eingeschlagen haben? Das glauben Sie DIE GRÜNEN) doch selbst nicht. Ich will noch einmal betonen: Die Mietwohnung ist ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wirtschaftsgut. Als Wirtschaftsgut liegt Ihnen, Herr (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Funke, die Mietwohnung sehr am Herzen. Sie ist aber(D) Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lassen wir doch auch ein Sozialgut. Das vergessen Sie hierbei. die Leute selbst entscheiden!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist auch begründet worden, warum die Kündi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gungsfristen für die Mieter verkürzt wurden – das muss ich nicht im Einzelnen wiederholen –: DerMobilität, Sehr gewundert habe ich mich über den Beitrag von die Sie alle in Ihren Reden immer wieder fordern, muss Herrn Wanderwitz. Wenn Sie hier frank und frei sagen, man auch beim Mietrecht Rechnung tragen. Über Mo- Sie enthalten sich nur deshalb, weil Ihnen der Antrag nate doppelte Mieten zu zahlen ist ein entscheidendes nicht weit genug geht – ich habe gedacht, Sie enthalten Hindernis, wenn man zum Beispiel zum ersten Mal in ei- sich, weil Sie noch nicht Stellung beziehen wollen –, ner Nachbarstadt einen Job annehmen will. Auch beim (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Unerhört ist Wechsel ins Pflegeheim waren lange Kündigungsfristen das!) immer ein Hindernis und stellten eine große finanzielle Belastung für die Betroffenen dar. dann weiß ich nicht, was Sie darüber hinaus noch wol- len. Wollen Sie jetzt den Mieterschutz ganz abschaffen? Wir haben auch den Vermietern durchaus Entgegen- Wollen Sie auf alle Kappungsgrenzen verzichten und da- kommen gezeigt und den zwölfmonatigen Kündigungs- mit jeglicher Mieterhöhung Tür und Tor öffnen? Dass schutz damals abgeschafft. Es war von Anfang an klar, Sie am Ende noch den Begriff von der sozialen Wärme dass wir die neuen Regelungen auch für möglichst viele in den Mund genommen haben, ist schon fast ein Trep- Altmietverträge haben wollen. Es ist damals – das kann penwitz. man im Ausschussprotokoll nachlesen – auf eine ent- Herzlichen Dank. sprechende Klarstellung im Gesetz verzichtet worden, aber in der Begründung ist deutlich gemacht worden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass auch die Formularverträge Berücksichtigung fin- DIE GRÜNEN) den sollten. Das heißt, der Wille des Gesetzgebers war eindeutig, auch wenn es – das ist richtig – keine gesetzli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: che Regelung gab. Nach dem Urteil des Bundesgerichts- Ich schließe die Aussprache. hofs tun wir nichts anderes, als unseren ursprünglichen Willen als Gesetzgeber hier noch einmal klarzustellen Wir kommen zur Abstimmung über den von den und das, was wir für richtig halten, ins Gesetz zu schrei- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ben. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Einfüh- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15587

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) rungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch auf Druck- Bühne. Das nächste Staatstheater ist mehr(C) als sache 15/4134. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner 60 Kilometer entfernt. Von einem Opernhaus können wir Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5132, den Ge- nur träumen. Doch deshalb diesem Raum, meiner Hei- setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem mat, die Kultur abzusprechen zeugt entweder von Un- Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-kenntnis oder von einem verengten Kulturbegriff. chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, dass sich die be- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ deutendste Orgellandschaft Europas in meiner Heimat CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen. befindet. Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, wie viele Menschen sich kulturell vor Ort engagieren, sei es in Dritte Beratung Chören, in plattdeutschen Theatergruppen, in Spiel- mannszügen oder in Heimat- und Kulturvereinen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Eine Nachfrage ergab, dass dies dem Reporter durch- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf aus bewusst war. Für ihn waren diese Aktivitäten aber ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. keine Kultur. Sein Kulturbegriff beschränkte sich auf die Wir kommen zur Abstimmung über den institutionalisierte Ent- und professionelle Kultur, die so ge- schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck-nannten kulturellen Leuchttürme. Das ist ein verengter sache 15/5135. Wer stimmt für diesen Entschließungs- Kulturbegriff, mit dem er leider nicht alleine steht. Des- antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ent- halb bin ich auch für das Bekenntnis unseres Bundesprä- schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions- sidenten Köhler zur Laienkultur anlässlich der Verlei- fraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion undhung der Zelter Medaille sehr dankbar. Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Der Bundespräsident hat erkannt, dass das ehrenamt- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: liche Engagement von nahezu 7 Millionen Menschen unverzichtbar für die Pflege der Kultur in unserem Land Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten ist. In Chören, Orchestern, Schauspielgruppen und Kul- Gitta Connemann, Dr. Wolfgang Bötsch, Günter turvereinen wird tagtäglich gelebt, was sich die Gesell- Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion schaft wünscht und die Politik in ihren Sonntagsreden der CDU/CSU einfordert: Engagement, Leistungsbereitschaft, Team- Situation der Breitenkultur in Deutschland geist, Disziplin, Zuverlässigkeit und vieles mehr, ver- bunden mit einem hohen Zeitaufwand, und das alles – Drucksache 15/4140 – ohne Entgelt. Im Gegenteil: Chorsänger, Amateurschau- (B) spieler und Musiker zahlen Beiträge und finanzieren(D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Konzerte und Veranstaltungen aus eigener Tasche. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Aber damit nicht genug: Vereinsvorsitzende müssen unter anderem im Sozialversicherungs-, Gemeinnützig- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- keits- und Urheberrecht Detailkenntnisse besitzen. Bei nerin der Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSU- Verstößen haften sie mit ihrem privaten Vermögen. Das Fraktion das Wort. ist für Ehrenamtliche nicht zu schaffen und schreckt (Beifall bei der CDU/CSU) Menschen davon ab, sich zu engagieren. Die vielen Menschen, die im Bereich der Breitenkul- Gitta Connemann (CDU/CSU): tur Außergewöhnliches leisten, haben es verdient, ernst Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz nach genommen zu werden. Trotzdem haben sie bisher nicht meiner Wahl zur Vorsitzenden der Kultur-Enquete gab die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen angemessen ich einer großen Tageszeitung ein Interview und sahwäre. Deshalb haben wir von der CDU/CSU die Große mich mit folgender Frage, die übrigens völlig ernst ge- Anfrage eingebracht. meint war, konfrontiert: „Frau Connemann, Sie kommen doch vom Land. Gibt es denn da überhaupt Kultur?“ Wir wollen mit dieser Anfrage Aufmerksamkeit er- zeugen und die Erstellung eines Berichts über die aktu- (Jörg Tauss [SPD]: Hat Sie ernsthaft jemand so elle Situation der Breitenkultur in Deutschland errei- etwas gefragt?) chen. Wir geben damit der Bundesregierung die Chance, – Das hat mich ernsthaft jemand gefragt. Stellung zu beziehen. Wie steht die Bundesregierung zur Breitenkultur? Was wird sie zukünftig für sie tun? (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie haben doch uns!) Gründe, sich zu engagieren, gibt es genug: – Deswegen bin ich auch so froh, heute zu Ihnen spre- Erstens. Wer „Kultur für alle“ fordert, der muss auch chen zu dürfen, Frau Hiller-Ohm. „Kultur von allen“ fördern. Hochkultur und Breitenkul- tur dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt wer- Es stimmt: Ich lebe in einer ländlichen Region, wie den. Sie stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern 16 Millionen Menschen in Deutschland. In meiner ost- ergänzen sich. friesisch-emsländischen Heimat gibt es keine kulturellen Leuchttürme. Bei uns zu Hause gibt es keine feste (Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) 15588 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Gitta Connemann (A) Zweitens. Wer eine Spitze will, muss auf eine breite (Monika Griefahn [SPD]): Das ist Länder- (C) Basis bauen. Wir brauchen eine lebendige Breitenkultur. sache!) Wir brauchen sie, um unseren talentiertenNachwuchs zu entdecken und ihn fördern zu können. Wir brauchen – Gemeinnützigkeitsrecht, Steuerrecht und Urheberrecht sie, um Kultur für viele zu öffnen. sind Bundesangelegenheit, liebe Frau Kollegin Griefahn. Das dürfte selbst Ihnen nicht entgangen sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wissen, dass die Beantwortung unserer Großen Drittens. Kultur stiftet Identität; Breitenkultur sichert Anfrage mit Arbeit verbunden ist. Aber insoweit geht es Pluralität. Unsere kulturelle Zugehörigkeit wächst aus frei nach Valentin: Kunst ist schön, macht aber viel Ar- regionalen, nationalen und europäischen Kontexten. Es beit. Wir hoffen, dass sich die Bundesregierung endlich gilt, die Vielfalt und damit die Breite des Angebotes zu an diese Arbeit macht. bewahren. Zu dieser Breite zählt auch die Laienkultur. Vielen Dank. Viertens. Breitenkultur war und ist Bürgerkultur. Nir- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gendwo kommt der Geist der Selbstbestimmung und der Solidarität so gut zum Ausdruck wie im kulturellen Engagement. Wenn wir die Bürgergesellschaft wirklich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stärken und beleben wollen, dürfen wir nicht die kultu- Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Dr. Christina rellen Quellen des bürgerschaftlichen Engagements ver- Weiss. siegen lassen. In letzter Zeit mehren sich aber gegentei- lige Anzeichen. Es droht uns ein Generationenbruch. Die Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- Folgen nachlassender Förderung in Schulen, Musikschu- kanzler: len, Chören, Vereinen und Freizeiteinrichtungen sind Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- überall spürbar. Wir brauchen deshalbInformationen ren! Ich finde es sehr wichtig, dass sich der Deutsche darüber, wo der Schuh drückt, wogesetzgeberischer Bundestag mit einem kulturpolitischen Thema beschäf- Handlungsbedarf besteht. Gegenwärtig haben wir es tigt, das für den gesellschaftlichen Kanon von sehr gro- leider noch immer mit einer Terra incognita zu tun. Des- ßer Bedeutung ist. Millionen Bürgerinnen und Bürger halb gibt es unsere Große Anfrage. engagieren sich – darin stimme ich Ihnen völlig zu, Frau Wir brauchen verlässliche Zahlen über Umfang und Connemann – in der Breitenkultur quer durch alle Spar- Art des Engagements in der Breitenkultur. Wir brauchen ten, Auskunft über Ausmaß und Ursache von Nachwuchs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ problemen. Wir brauchen Erfahrungswerte in Fragen des (D) (B) DIE GRÜNEN) Einkommensteuerrechts, beispielsweise zur Praxis der Übungsleiterpauschale. Frau Kollegin Griefahn, ich bin entweder ehrenamtlich oder hauptberuflich, aber immer froh, dass Sie mir insoweit zustimmen. Wir brauchenkünstlerisch aktiv, ideenreich und kreativ. Breitenkultur Auskunft über Reformbedarf im Vereinsrecht, beispiels- bildet also durchaus den Humus, der Spitzenleistungen weise über Regelungen zur vereinfachten Erlangung des in der Kultur erst möglich macht. Status der Gemeinnützigkeit. Wir brauchen Informatio- nen über die Praxis des derzeitigen Haftungsrechtes, Zur Definition des Begriffs „Breitenkultur“ werden Sie in unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage einiges (Monika Griefahn [SPD]: Wir brauchen Geld lesen können. Wichtig erscheinen mir in der heutigen für die Initiativen!) Debatte zwei Aspekte: Erstens. Breitenkultur ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrer Ausbil- beispielsweise über positive Effekte einer Ausnahmere- dung eine aktive Teilhabe an kulturellen Prozessen. gelung für kleine Vereine. Die Liste ließe sich verlän- gern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wir sind uns aber sicherlich im Grundsatz einig. Der FDP) Staat wird keine flächendeckende Kulturversorgung leis- ten können. Wir sind uns, so hoffe ich, auch in einemZweitens. Die Förderung der Breitenkultur ist einekul- Punkt der Problemlösung im Grundsatz einig. Wollen turpolitische Strategie, um mehr Bürgerinnen und Bür- wir unserer Kultur auch in Zukunft Ehre machen, brau- ger für Kunst und Kultur zu interessieren und auch zur chen wir eine neue Kultur des Ehrenamtes. Teilhabe zu befähigen. (Ute Kumpf [SPD]: Sie sind spät aufgewacht, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Kollegin!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Mit den Bürgerinnen und Bürgern kann man, so haben wir zu lernen, nicht nur Staat, sondern auch Kultur ma- Wesentliche Träger der Breitenkultur sind vor diesem chen. Deshalb lautet meine Aufforderung an Sie, die Da- Hintergrund die Laienkulturvereine und die Laienkultur- men und Herren von der Koalition, und an die Bundesre- initiativen, aber auch – um nur einige zu nennen – die gierung: Nehmen Sie unsere Große Anfrage Volkshochschulen, zur die Stadtbibliotheken, die Stadtteilbi- Breitenkultur ernst! Nehmen Sie die Breitenkultur inbliotheken, die Kunst- und Musikschulen, die soziokul- Deutschland ernst! turellen Zentren und die Geschichtswerkstätten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15589

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Ich bin über den Zeitpunkt, den Sie für diese Debatte (Horst Kubatschka [SPD]: Und in Niedersach- (C) gewählt haben, etwas überrascht und verwundert. Nach- sen kürzen sie! – Gegenruf des Abg. Hans- dem Ihre Große Anfrage zur Breitenkultur im November Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt sei doch vergangenen Jahres in meiner Behörde eingegangen war, mal friedlich dahinten!) habe ich dem Präsidenten des Bundestages umgehend Außerdem fördere ich aus meinem Haushalt einzelne mitgeteilt, dass sie Anfang Juli dieses Jahres beantwortet Bereiche der Breitenkultur, was von den Ländern im Üb- wird. Kritik an dieser Planung ist mir bisher nicht zu Oh- rigen durchaus heftig torpediert wird. Zu nennen sind die ren gekommen. Der Zeitrahmen lässt sich gar nicht en- beiden Hauptsäulen unserer Förderung: die Dachver- ger fassen, weil die Anfrage, wie Sie wissen, aus bände der Laienmusik 57 Einzelfragen besteht, die zum Teil sehr umfänglich und mitunter etwas vage rmuliert fo sind. Aber ange- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ja- sichts der Spannbreite der einzelnen Fragen und ange- wohl, die sind gut!) sichts der Komplexität des erbetenen Datenmaterials ist und der Fonds Soziokultur. Um aufzugreifen, was schon die Beteiligung einer Reihe von Ressorts auch in den angesprochen worden ist – ich nenne das drastischste Ländern vonnöten. Ebenso ist es natürlich sinnvoll, In- Beispiel –: Im Gegensatz etwa zum unionsgeführten stitute und Verbände einzubeziehen. Vor diesem Hinter- Land Niedersachsen habe ich die Förderung der Sozio- grund muss schon die Frage erlaubt sein, warum wir die kultur nicht nur nicht gekürzt, sondern die Bundesförde- heutige Debatte eigentlich führen. rung des Fonds Soziokultur sogar auf 1 Million Euro (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jährlich verdoppelt. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mich haben aber nicht nur das Verfahren befremdet, DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frank- sondern auch die inhaltlichen Schwerpunkte. Der Begriff furt] [FDP]: Jawohl, wir haben Sie lieb!) der Breitenkultur lässt sich nicht präzise abgrenzen. Er Bei aller Wertschätzung für die Sache, die Sie in die- findet in den amtlichen Statistiken keine Anwendung, sem Handeln vielleicht erkennen können, registriere ich was die Ermittlung von gesicherten empirischen Daten verwundert, dass Ihnen plötzlich so sehr daran gelegen erheblich erschwert. Auch ist eigentlich völlig unstrittig, ist, die Breitenkultur auf die bundespolitische Ebene zu dass die Förderung der Breitenkultur vorrangig eine heben. Ich habe gar nichts dagegen. Kernaufgabe der Länder und Kommunen ist. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Dann sind Die Strukturen dieser sehr speziellen Kulturförderung wir doch einig!) setzen lokal an. Sie entfalten sich in aller Regel aus dem (B) bürgerschaftlichen Engagement in den Kommunen, in Aber warum ist es Ihnen so wichtig? Eigentlich ist es(D) den Regionen. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips doch unser aller Auffassung, dass man dieser Verantwor- dürfte für den Bereich der Breitenkultur daher außertung gerade in den Ländern nachkommen muss. Zweifel stehen. Die Bundesregierung hat – im Rahmen Die Bundesregierung weiß sehr genau um die Bedeu- ihrer sehr begrenzten Zuständigkeit – in den vergange- tung von soziokulturellen Strukturen der Breitenkultur. nen Jahren sehr viel dafür getan, die Breitenkultur aufzu- Sie trägt deshalb in vielfältiger Weise zur Entwicklung werten. von Kunst und Kultur bei. Wir versuchen, der Breiten- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kultur Wertschätzung zukommen zu lassen, weil wir DIE GRÜNEN) wissen, dass die Breitenkultur unsere Bürgergesellschaft in schönster Weise prägt. Das geschah zunächst einmal dadurch – ich darf Sie vielleicht an die Folgen für diesen Kulturbereich erin- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nern –, dass rechtliche Rahmenbedingungen für das kul- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) turelle Leben insgesamt verbessert werden konnten. Es Unter diesen Vorzeichen freue ich mich sehr auf die war mein Amt, das die Reform des steuerlichen und zivi- weitere Diskussion. Die Antwort der Bundesregierung len Stiftungsrechts befördert hat. auf die Große Anfrage zur Situation der Breitenkultur in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Deutschland wird Anlass für eine erneute Debatte über BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg dieses Thema sein. Tauss [SPD]: Das ist wahr! – Hans-Joachim Ich danke Ihnen. Otto [Frankfurt] [FDP]: Die Koalition ver- zeichnet Begeisterung!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich darf auf die neue Struktur im Spendenrecht auf- merksam machen. Für die Breitenkultur ist es sehr rele- vant, dass das Durchlaufspendenverfahren beseitigt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wurde. Auch die Erhöhung der Übungsleiterpauschale Das Wort hat der KollegeErnst Burgbacher von der muss hier unbedingt erwähnt werden. FDP-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (FDP): DIE GRÜNEN) Ernst Burgbacher Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Das sind ganz wichtige Stützpunkte. finde es gut, dass dieses Thema heute auch im 15590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Ernst Burgbacher (A) Deutschen Bundestag diskutiert wird. Ich warne eigent- – das ist nun wirklich Bundesaufgabe –, wie wir unser(C) lich davor, jetzt immer gleich nach Kompetenzen zu ru- Steuer- und Vereinsrecht so weiterentwickeln können, fen. dass Vereine überhaupt noch in der Lage sind, vernünftig zu arbeiten. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel mehr Aufgabe dieses Parlaments muss auch sein, sich mit die- junge Menschen, die bereit sind, etwas zu tun, als es sem Thema auseinander zu setzen. Deshalb bin ich der landläufig dargestellt wird. Sie sind aber nicht bereit, im Union für die heutige Debatte dankbar. Verein die Funktion eines Vorsitzenden oder eines Kas- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der siers zu übernehmen, wenn sie dafür eigentlich eine ju- CDU/CSU) ristische Ausbildung brauchen. Es ist verrückt, was da zurzeit abläuft. Wir alle müssen zusehen, dass entspre- Bei der Diskussion über dieses Thema zeigt sich, dass chende Änderungen vorgenommen werden. wir ein Problem mit diesem Begriff haben: „Breitenkul- tur“ ist eigentlich ein furchtbares Wort. Frau Connemann (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und Herr Bötsch, Sie wissen ja, auch in unseren Verbän- der CDU/CSU) den diskutieren wir. Es ist ja so, dass im Französischen das Wort Amateur auf das Wort „aimer“, lieben, zurück- Die FDP wird sich sehr offen an dieser Diskussion geht. Wir schwanken zwischen den Begriffen Laien und beteiligen. Ich bin insbesondere sehr froh, dass so lang- Amateure, aber keiner passt richtig. Es wäre also die Zeit sam das Bewusstsein dafür wächst, dass der Laienkultur wert, sich einmal zu überlegen, warum das eigentlich so eine große Bedeutung zukommt. Das wird auch im ist. Deutschen Musikrat so gesehen; dort spielt die Laienkul- tur mittlerweile eine viel größere Rolle. Wir müssen das (Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt beim Fußball- unterstützen, wo wir nur können. Wir müssen auch be- spiel auch nicht! Amateure kriegen da schon reit sein, einiges bezüglich des Ehrenamtes neu zu über- Geld!) denken. Die Mobilität der jungen Generation, die wir ja Eines ist doch ganz klar: Nie war das Thema so aktu- alle wollen, führt zu gewaltigen Veränderungen. Das ell wie heute. In Zeiten, wo wir uns alle, Regierung und müssen wir bedenken und hierfür müssen wir Vorausset- Opposition, fragen müssen, welche Aufgaben vom Staat zungen schaffen. Da ist auch der Bundesgesetzgeber ge- und welche von anderen wahrgenommen werden müs- fordert. sen, ist das Thema aktueller denn je. Ich freue mich auf die weitere Diskussion und natür- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr lich auch auf die Antworten auf diese Große Anfrage. (B) richtig!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel, dass gerade die vielfältigen Organisationen der Breitenkultur unschätz- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bare Dienste für unsere Gesellschaft leisten. Man muss Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer von wirklich allen dankbar sein, die sich irgendwo im Kul- Bündnis 90/Die Grünen. turbereich ehrenamtlich engagieren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) CSU) Es steht ja in Ihrer Großen Anfrage völlig richtig: Lai- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): enkultur ist langfristig angelegt, in aller Regel in der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Rechtsform des Vereins. Deshalb müssen wir uns imstimmt, was die Staatsministerin gesagt hat: Breitenkul- Bundestag zunächst einmal, ohne das gleich auf die Län- tur ist Bürgerkultur. Man kann auch im Anschluss an der abzuwälzen, fragen, was der Bund tun kann, wo er Herrn Burgbacher sagen: eine wunderbare Liebhaberei Unterstützung bieten und helfen kann. von Bürgern. Aus meiner Sicht kann es gar nicht häufig genug Gelegenheiten geben, im Deutschen Bundestag Ich möchte übrigens, Frau Staatsministerin Weiss, ne- über Kunst und Kultur zu diskutieren. Von daher bin ich ben der Förderung des musikalischen Verständnissesauch den Kollegen von der CDU/CSU dankbar, dass sie auch die gesellschaftliche Bedeutung des Erlernens von dieses Thema aufgesetzt haben. Musik ausdrücklich betonen. Junge Menschen, die zum Beispiel in einem Orchester Musik machen, lernen so- Es besteht ja große Einigkeit unter uns Kulturpoliti- ziale Verhaltensformen. kern, wie auch sonst manchmal in der Kulturpolitik, da- rüber, dass dieses ein außerordentlich wichtiges Thema (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist, dass die Breitenkulturlandschaft die Basis darstellt der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- und wir diese institutionell fördern müssen. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deren Persönlichkeit wird in einer Weise gebildet, wie sowie bei Abgeordneten der SPD und der es woanders kaum möglich ist. Völlig klar ist, dass Brei- CDU/CSU) tenkultur die Voraussetzung dafür ist, dass kulturelle Spitzenleistungen hervorgebracht werden. Damit das Allerdings wissen ja auch Sie – das kann man Ihnen auch in Zukunft so bleibt, müssen wir uns überlegennicht ohne eine ironische Bemerkung durchgehen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15591

Dr. Antje Vollmer (A) lassen –, dass gerade die Förderung von Breitenkultur welt auf ihre eigenen Fähigkeiten und ihre eigene Kreati- (C) Aufgabe von Ländern und Kommunen ist. vität verlassen können. Bedeutende Statistiken besagen: Bei Jugendlichen, die eineGelegenheit hatten, ein In- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) strument zu erlernen oder in einem Theater oder in ei- Wir tragen ja in diesem Haus unendlich viele Kämpfe nem Musical in der Schule mitzuspielen, ist die Krimi- mit eben diesen Ländern über die Frage aus, ob wir das, nalitätsrate später relevant niedriger. Da gibt es also was wir für die Kultur tun wollen, auch dürfen. Von da- einen unmittelbaren Zusammenhang. Von daher ist Brei- her kann man sagen: Wollen hätten wir schon, aber um tenkulturpolitik gerade mit Jugendlichen auch präven- das Dürfen müssen wir immer wieder mit diesen Län- tive Politik und Gesellschaftspolitik. dern ringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Ernst und bei der SPD) Burgbacher [FDP]) Deswegen ist auch schwer zu verstehen, warum Sie jetzt Umso mehr, liebe, liebe Länder, die ihr so auf euren so einen Druck machen und diskutieren wollen, ohneKompetenzen besteht: dass Sie die vollständige Antwort haben, obwohl Sie ge- nau wissen, woran das liegt. Es gibt – das ist ja ein (Jörg Tauss [SPD]: Bei dem Thema fehlen Thema unserer Enquete-Kommission – keine zentrale sie!) Kulturstatistik und keine Gesamterfassung aller Laien- theater und Laienensembles. Deswegen wäre es eigent- Tut mehr im Bereich von Breitenkultur, tut mehr im lich richtig gewesen, Sie hätten die Große AnfrageEngagement für Jugendliche! gleich an den Bundesrat gerichtet. Dann hätten Sie wirk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich Druck machen können. und bei der SPD) (Beifall und Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir tun einiges, manchmal fast an der Grenze der län- derpolitischen Illegalität; die Staatsministerin hat es ge- Da es nun aber so ist und weil ja auch Sie – ich weiß sagt. Wir unterstützen Dachverbände wie die Bundes- das von Ihnen allen – oft den Kopf darüber schütteln,arbeitsgemeinschaft Spiel und Theater und den Bund dass die Länder uns das, was wir gern tun wollen, oft so Deutscher Amateurtheater sowie zahlreiche Wettbe- schwer machen, darf man nun auch einmal ein paar kriti- werbe, zum Beispiel „Jugend musiziert“ und „Jugend sche Worte über die Praxis der Länder bei der Vertretung jazzt“. Wir haben die Gelder für die Soziokultur von (B) ihrer Kulturhoheit gerade im Bereich Breitenkultur hier 480 000 Euro auf 1 Million Euro mehr als verdoppelt.(D) äußern. Das macht deutlich, wie wichtig dieses Engagement für uns ist. Ich möchte besonders erwähnen, dass diese För- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derung nicht auf Kosten der Spitzenkultur erfolgt, wozu und bei der SPD) wir früher einmal geneigt haben, sondern dass wir beides Sie reißen so viel Kompetenz wie möglich an sich, ver- gleichzeitig fördern. suchen sogar, Debatten über diese Themen hier einzu- schränken, um dann im Zweifelsfall doch die Mittel für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Kultur zu kürzen. Das ist nach meiner Meinung eine und bei der SPD) echte Doppelbotschaft. Unser Wille, die Institutionen insgesamt zu fördern, bür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerschaftliches Engagement für die Kulturinstitutionen und bei der SPD) in der Breite zu fördern, ist ungebrochen, wie Sie wis- sen. Schaut man sich exemplarisch den Kulturhaushalt in Niedersachsen an, dann wird deutlich, dass dort die Brei- Die Möglichkeiten des Bundes in diesem Bereich tenkultur, vor allen Dingen die Soziokultur, also Laien- sind beschränkt. Dennoch tun wir mehr, als wir nach der musik, Chöre, Heimatpflege und Musikschulen, über- aktuellen Kompetenzverteilung tun müssten. Als Er- proportional von Kürzungen betroffen ist, gebnis der Diskussion in der Enquete-Kommission er- hoffe ich mir, dass wir uns gemeinsam neue Aufgaben (Monika Griefahn [SPD]: Um 25 Prozent!) erkämpfen. Die Kommission wird am Ende auch ein und das in einer Zeit, wo wir alle sagen – jetzt kann ich Wort dazu sagen, ob dieses Land auf allen Ebenen, auf ja wieder für uns alle reden, denn das ist ein großeskommunaler Ebene, auf Länderebene und auf Bundes- Thema in der Enquete-Kommission –, dass gerade die ebene, zu einer Selbstverpflichtung bereit ist, für den kulturelle Bildung für unsere Jugendlichen überpropor- weltweiten Ruf einer Kulturnation konkret etwas zu tun. tional wichtig ist, Wenn wir da die eine oder andere Barriere einmal ele- gant überspringen könnten, wäre ich sehr froh darüber. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vielen Dank. dass sie gerade für Jugendliche eine große Hilfe ist, da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit sie sich in einer für sie manchmal bedrohlichen Um- und bei der SPD) 15592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Natürlich; sonst hätte sie diese Frage überhaupt nicht (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch gestellt. von der CDU/CSU-Fraktion. Wir können auch nicht die Föderalismuskommission (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in diesem Hause fortführen. Ich teile einige Punkte der NEN]: Jetzt kommt etwas zum Breitenfuß- Kritik, zum Beispiel wenn Sie sagen, dass die Länder ball! – Horst Kubatschka [SPD]: Nein, zu beim Sparen ganz schön hingelangt haben. Aber da soll- Briefmarken!) ten Sie vielleicht nicht nur auf Niedersachsen schauen. Schauen Sie sich einmal den Haushalt von Nordrhein- Westfalen an! Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wurde (Horst Kubatschka [SPD]: Bayern! Sprechen auf dem Herweg ermuntert, etwas zum Breitenfußball Sie mal über Stoiber!) oder zum Thema Briefmarken zu sagen. Nein, ich habe wirklich vor, zur Kultur zu sprechen, insbesondere zur – Darüber reden wir besser nicht; denn die Kulturförde- Musik. rung in Bayern ist wirklich vorbildlich, und zwar sowohl in der Breite als auch in Bezug auf die Spitze. Vielleicht (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka kann man auch dort den einen oder anderen Punkt kriti- [SPD]: Das war uns neu!) sieren. Aber das kann für uns hier im Bundestag natür- lich überhaupt kein Grundsein, dass wir uns mit dem Herr Kollege Kubatschka, ich mache Ihnen ein Angebot: Thema nicht beschäftigen. Ich spiele Klavier oder Orgel und Sie können ein anderes Instrument dazu heraussuchen; dann geben wir bestimmt Die Antwort auf die Große Anfrage ist für den 1. Juli ein gutes Duo ab. angekündigt. Jeder, der in den Sitzungsplan des Bundes- tages schaut, weiß, dass genau dann die Sommerpause (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Darf ich mit- beginnt. In der ersten Sitzungswoche im September wird machen? Ich bringe die Posaune mit!) der Haushalt beraten und in der zweiten Sitzungswoche, – Sie dürfen mitmachen, dann bilden wir ein Trio. die erst 14 Tage später ist, haben wir wahrscheinlich auch etwas anderes zu tun, sodass es mindestens Okto- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frauber werden würde, bis es zu einer solchen Debatte käme. Staatsministerin hat gewissermaßen im Sinne eines The- Insofern haben wir es angesichts der Bedeutung der mas mit Variationen gefragt: Warum eigentlich diese De- Laienkultur durchaus für opportun, richtig, ja notwendig batte zu diesem Zeitpunkt? Frau Staatsministerin, formal gehalten, eine solche Debatte schon vorher zu führen, (B) könnte man antworten: Ein Blick in Geschäfts- die um das Bewusstsein zu stärken. (D) ordnung könnte die Frage ohne weiteres beantworten. Dort steht, dass nach einer gewissen Frist nach der Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) reichung einer Großen Anfrage eine solche Debatte Meine Damen und Herren Kollegen von der Opposi- möglich ist. Deshalb wurde sie von uns auf die Tages- tion ordnung gesetzt. (Jörg Tauss [SPD]: Sie sind die Opposition!) (Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU]) – von der Regierung, Entschuldigung; Sie haben völlig Recht, Herr Tauss, aber ich erinnere mich natürlich gern Es wäre aber sicherlich zu kurz gegriffen, wenn manan alte Zeiten –, in einigen Punkten stimmen wir voll- sich nur auf die Fristen der Geschäftsordnung berufen kommen überein. Hinsichtlich der Bedeutung der Laien- würde. kultur, der Laienmusik werden wir wenig Unterschiede (Jörg Tauss [SPD]: Da muss schon mehr kom- finden. Aber die Frage, wie wir fördern und welche men!) Möglichkeiten wir haben – der Kollege Burgbacher hat es gesagt –, nicht nur musikalisch oder künstlerisch tätig – Ja. – Man kann, hat die Frau Vizepräsidentin gesagt zu sein, ist eine Frage r de Gesellschaftspolitik. Jede – auch wenn sie es ein paarSätze später wieder einge- Mark, die wir in diesen Bereich investieren, sparen wir schränkt hat –, gar nicht oft genug über dieses Thema bei präventiven Maßnahmen oder gar Maßnahmen für diskutieren. Wenn ich ganz scharf wäre – was ich norma- „nach dem Feste“, für Jugendliche oder andere, die mög- lerweise nicht bin –, Frau Staatsministerin, dann würde licherweise in Schwierigkeiten geraten sind. ich sagen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Horst Kubatschka [SPD]: Dann sagen Sie das Herrn Stoiber!) Wir geben das Geld besser vorher aus. Die parlamentarische Erfahrung ist etwas, was man Was bei uns an Breitenkultur gelebt und gegeben durchaus in ein Amt einbringen kann, auch wenn man wird, ist in keiner Weise amateurhaft oder oberflächlich. selbst nicht Parlamentarier ist. Sie können uns nicht da- Im Gegenteil, für außerordentlich viele Menschen sind für bestrafen, dass Ihnen diese parlamentarische Erfah- künstlerisches Gestalten und musikalischer Ausdruck zu rung offensichtlich fehlt. Grundbedürfnissen geworden. Sie gewinnen durch ihr Tun Selbstvertrauen und entwickeln ihre geistigen, (Ute Kumpf [SPD]: Oh!) schöpferischen und auch sozialen Fähigkeiten. Wer sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15593

Dr. Wolfgang Bötsch (A) auf diese Weise engagiert, kreist nicht nur um sichWas wir hier tun ist eine Art Trockenschwimmkurs. (C) selbst. Das kann einer Gesellschaft nur gut tun. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als das über die (Beifall bei der CDU/CSU) Breitenkultur zu sagen, was wir schon immer sagen wollten. Ich gestehe, dass das nicht schlecht sein muss. Deshalb muss es das ureigene Interesse ihrer Vertreter sein, möglichst viele Menschen dafür zu gewinnen, sich (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Herr Barthel, in das kulturelle Angebot vor Ort aktiv einzubringen, das Thema ist immer eine Beschäftigung möglichst von klein auf. wert!) Die Existenz so vieler auf Kunst und Traditionspflege Trotzdem muss ich sagen, dass diese Debatte nur den ausgerichteter Vereine und Verbände ist schützenswert Zweck hat, sich einmal zu diesem Thema allgemein zu und nicht selbstverständlich. Sie sind der Humus, ausäußern. Das müssen Sie doch zugeben. dem in unseren Städten und Dörfern Lebensqualität und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bürgersinn entstehen. Dafür sollten wir unseren Beitrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) leisten. Da ich nicht weiß, zu welcher Frage ich eigentlich Vielen Dank. Stellung nehmen soll, habe ich mir einmal die „neue (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie musikzeitung“, die ich sehr schätze, angeschaut. Dort bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE finden sich Kommentare von Frau Connemann zu dieser GRÜNEN) Anfrage. Teilweise werfen Sie, Frau Connemann, der Staatsministerin vor – das finde ich ein bisschen trau- rig –, sie interessiere sich nicht für Breitenkultur. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Barthel von (Jörg Tauss [SPD]: Pfui!) der SPD-Fraktion. Außerdem äußern Sie den Verdacht, dass – auf sie (Beifall bei der SPD) bezogen – die Politiker in jede Oper gehen, aber die Breitenkultur aus den Augen verlieren. Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): (Monika Griefahn [SPD]: Reinste Meine Damen und Herren! Nach all diesen Beiträgen Unverschämtheit!) habe ich den Eindruck, dass es hinsichtlich der Unter- stützung und der Förderung der Breitenkultur überhaupt Ich glaube, die Staatsministerin hat in ihrem kurzen Bei- keinen Dissens gibt. Es stellt sich jetzt nur die Frage, wie trag ziemlich deutlich gemacht, wie weit die Förderung (B) und wie stark man fördert. Aber eines sollte man nicht durch die Bundesebene gediehen ist. Insoweit, Frau(D) machen, nämlich das bürgerschaftliche Engagement im Connemann, finde ich Ihre Kommentare nicht sehr tref- Hinblick auf die Breitenkultur als Alternative zur öffent- fend. lichen Förderung der Breitenkultur hinstellen, wie Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das teilweise getan haben. Das wäre sehr schlecht. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Wir alle halten die Förderung der Breitenkultur für wich- tig und notwendig. Wir Kulturpolitiker wollen, dass das gesamte Spek- trum der Kultur und nicht nur die Breitenkultur gefördert Ich war vor meiner Abgeordnetenzeit journalistisch wird. Wenn wir uns die entsprechendenStiftungen an- tätig und weiß, dass ein Ehrenkodex lautet: Erst infor- schauen, dann können wir erkennen, dass die Förderung mieren und dann werten. Bei Ihnen ist es offensichtlich der Kultur schon sehr weit gediehen ist. Das heißt aber umgekehrt. Das ist kein guter Stil. Sie sollten davon nicht, dass wir in unseren Bemühungen nachlassen dür- wegkommen. fen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Was bedeutet eigentlich der Begriff Breitenkultur? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Große Anfrage hat mich veranlasst, einmal in ver- Ich wundere mich, dass von der Opposition nur ein schiedenen Lexika nachzuschauen, was darunter zu ver- Mitglied des Kulturausschusses anwesend ist. Woranstehen ist. Mein Problem war, dass ich diesen Begriff liegt das? Ich glaube nicht, dass kein Interesse an dernicht gefunden habe. In Ihrer Großen Anfrage – jetzt Breitenkultur besteht. Ich glaube vielmehr, dass sichkomme ich doch noch darauf zu sprechen – ist von viele gefragt haben, warum eine Debatte über eine„Breitenkultur“ wie auch von „Laienkultur“ und manch- Große Anfrage auf der Tagesordnung steht, zu der esmal von „Breiten- bzw. Laienkultur“ die Rede. Man noch keine Antworten gibt. Worüber sollen wir diskutie- könnte jetzt sagen, dies sei nicht wichtig, weil wir alle ren? Ich bin schon sechs Jahre Mitglied dieses Hauses. wissen, worum es geht. Aber ich habe die Erfahrung ge- Aber ich habe noch nie über eine Große Anfrage disku- macht: Wer die Begriffe nicht klar definiert, kann auch tiert, ohne dass die entsprechenden Antworten vorlagen. nicht klar darüber denken. Deswegen scheint es mir wichtig zu sein, den Begriff Breitenkultur zu definieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ihre erste Frage bezieht sich darauf, was die Bundes- Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Geschäfts- regierung unter Breitenkultur versteht. An diese Frage ordnung lesen!) hängen Sie 56 Fragen an. Wir müssen zwar über eine 15594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) entsprechende Definition reden. Dennoch glaube ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) nicht, dass es allein um eine Definition der Breitenkultur DIE GRÜNEN) geht. Denn es gibt auch eine Überschneidung mit der So- ziokultur. Insofern ist das nicht nur etwas für das stille Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kämmerlein, sondern geht weiter. Ich schließe die Aussprache. Die Antragsteller haben ganz am Anfang ihrer Gro- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: ßen Anfrage darauf hingewiesen, dass dasSubsidiari- tätsprinzip gilt. An diesem Punkt sind wir uns einig. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Aber Sie halten das in Ihren Fragen gar nicht durch. Bei richts des Ausschusses für Bildung, Forschung einer Frage – sehen Sie, ich gehe doch auf Ihre Fragen und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) ein – ist mir das besonders aufgefallen. Ich meine den zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter zweiten Teil von Frage 15, die sich auf Immigranten und Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, Kultur bezieht: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck Wie informiert die Bundesregierung Immigranten (Köln), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter über die Möglichkeiten des bürgerschaftlichen und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Engagements in Laienkulturvereinen mit überwie- GRÜNEN sowie der Abgeordneten Cornelia gend deutschen Mitgliedern? Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weite- Arme Frau Weiss! Wie soll sie diese Frage beantworten? rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich kann mir das praktisch nicht vorstellen. Zum Bei- Impulse für eine internationale Ausrichtung spiel wohne ich hier in Berlin noch in einem kleinen Be- des Schulwesens – Den Bildungsstandort zirk mit 330 000 Einwohnern. Gott sei Dank haben wir Deutschland auch im Schulbereich stärken dort viele dieser Laien- und Kulturvereine – ich bin übri- gens in einem Mitglied –, – Drucksachen 15/4723, 15/5097 – (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ernst Dieter Rossmann in denen viel gemacht wird. Wie aber sollen wir von der Marion Seib Bundesebene aus Immigranten aufzeigen, wo sie Laien- Monika Lazar kultur zusammen mit der deutschen Bevölkerung ma- Cornelia Pieper chen können? Die Redner Gesine Multhaupt, Dr. Ernst-Dieter (B) (Beifall bei der SPD – Gitta Connemann Rossmann, Bernward Müller, Kristina Köhler, Grietje(D) [CDU/CSU]: Wir trauen der Staatsministerin Bettin1) und Cornelia Pieper2) haben ihre Reden zu Pro- eben etwas zu, Herr Barthel!) tokoll gegeben. Man sieht also, dass Sie bei Ihrer Großen Anfrage Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des einfach einmal alles das aufgeschrieben haben, wasAusschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- möglich erschien. abschätzung auf Drucksache 15/5097 zu dem Antrag der (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und Kastner) der FDP mit dem Titel „Impulse für eine internationale Ausrichtung des Schulwesens – Den Bildungsstandort Ich möchte ja gerne, dassder Bund in Sachen Kultur Deutschland auch im Schulbereich stärken“. Der Aus- mehr Kompetenzen bekommt. Das gestehe ich. schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4723 (Jörg Tauss [SPD]: Stoiber!) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- – Dazu eine Fußnote. Nach dem, was ich heute Morgen schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd- gehört habe, nach der Debatte über Föderalismus müs- nis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der sen wir Kulturpolitiker aufpassen, dass die Kulturpolitik CDU/CSU angenommen. nicht auf dem Altar des Ausgleiches geopfert wird. Das bitte ich zu bedenken. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten DIE GRÜNEN) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundstückverkehrsgesetzes und des Land- Zum Abschluss möchte ich einen versöhnlichen Satz pachtverkehrsgesetzes sagen. Ich glaube, wir sind in der Tat alle von der Bedeu- tung der Breitenkultur überzeugt. Ich finde es auch rich- – Drucksache 15/4535 – tig, dass in Ihrer Großen Anfrage das bürgerschaftliche Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Engagement ganz stark betont wird. Darüber besteht Landwirtschaft (f) Einigkeit. Ich würde mich aber freuen, dass wir das Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen nächste Mal erst dann über eine Große Anfrage diskutie- ren, wenn wir auch die Antworten haben. 1) Anlage 2 Ich bedanke mich. 2) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15595

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Die Redner Elvira Drobinski-Weiß, Kurt Segner,verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C) Friedrich Ostendorff und Ernst Burgbacher haben ihre so beschlossen. Reden zu Protokoll gegeben.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, wurfs auf Drucksache 15/4535 an die in der Tagesord- der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es GRÜNEN und der FDP dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Wahlrichtlinien der Entwicklungsgemein- schaft der Staaten im südlichen Afrika Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (SADC) als Maßstab für freie und faire Wah- len auch in Simbabwe Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund – Drucksache 15/5117 – Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Herta Däubler-Gmelin, SPD, Hans-Christian tion der SPD sowie der Abgeordneten ThiloStröbele, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Rainer Stinner, Hoppe, Volker Beck (Köln), Winfried Hermann, FDP, Arnold Vaatz,3) CDU/CSU, und Hartwig Fischer4) weiterer Abgeordneter und der Fraktion des(Göttingen), CDU/CSU, haben ihre Reden zu Protokoll BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gegeben. Zum Beginn der Dekade „Wasser zum Leben“ Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den An- der Vereinten Nationen trag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf – Drucksache 15/5115 – Drucksache 15/5117 mit dem Titel „Die Wahlrichtlinien Überweisungsvorschlag: der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im südlichen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Afrika (SADC) als Maßstab für freie und faire Wahlen Entwicklung (f) auch in Simbabwe“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ordnung. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (B) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-(D) destages auf morgen, Freitag, den 18. März 2005, 9 Uhr, Die Redner Dagmar Schmidt, Ulrich Petzold, Christa ein. Reichard, Uschi Eid, Ulrich Heinrich und Gesine Lötzsch haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Die Sitzung ist geschlossen. Drucksache 15/5115 an die in der Tagesordnung aufge- (Schluss: 19.06 Uhr) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 3) Anlage 5 1) Anlage 3 4) Redebeitrag wird als Anlage zum Stenografischen Bericht der 2) Anlage 4 167. Sitzung abgedruckt.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15597

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Neugierig machen auf die vielen Möglichkeiten die Eu- ropa für Jugendliche bereithält; gemeinsam Hand anle- gen und mitbauen am Haus Europa; Lust bekommen auf entschuldigt bis die europäischen Förderprogramme; Fremdsprachen ler- Abgeordnete(r) einschließlich nen und ausländische Schulen und Hochschulen besu- chen. Das sind unsere konkreten Ideen und Ziele, wie wir Andres, Gerd SPD 17.03.2005 Schüler, Studierende und Erwachsene motivieren, auch einmal über den nationalen Tellerrand hinauszusehen. Bulmahn, Edelgard SPD 17.03.2005 Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 17.03.2005 sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2010 einen europäi- Peter H. schen Bildungs- und Forschungsraum zu schaffen. Auch von außen – zum Beispiel seitens der USA oder von Deittert, Hubert CDU/CSU 17.03.2005* Asien her – soll ein einheitliches, eben „europäisches“ Bildungssystem erkennbar werden. Die Grundlagen für Ernstberger, Petra SPD 17.03.2005 späteres Leben, Lernen und Arbeiten werden in den all- gemeinbildenden, den Berufsbildenden und den weiter- Göppel, Josef CDU/CSU 17.03.2005 führenden Schulen und Hochschulen gelegt. Deshalb setzt der vorliegende Antrag mit seinen Forderungen zu Haack (Extertal), Karl SPD 17.03.2005 Recht an einer europäischen und internationalen Aus- Hermann richtung des Bildungssystems an. Wenn Europa immer enger zusammenwächst, sind die Förderung von Mobili- Hilsberg, Stephan SPD 17.03.2005 tät, der Austausch von Lehrkr äften und Jugendlichen, das Minkel, Klaus CDU/CSU 17.03.2005 Intensivieren von Fremdsprachenerwerb, das Einführen von vergleichbaren Schul- und Bildungsstrukturen sowie Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 17.03.2005 das Anerkennen von Bildungsabschlüssen, und eine ziel- DIE GRÜNEN gerichtete Finanzierung von grenzüberschreitenden Ju- gendbegegnungen wesentliche Ziele einer europäischen und internationalen Ausrichtung unseres Bildungssys- (B) Probst, Simone BÜNDNIS 90/ 17.03.2005 (D) DIE GRÜNEN tems.

Seib, Marion CDU/CSU 17.03.2005 Aktuell befinden sich circa 10 Prozent der Menschen in Ausbildung und Bildung in den verschiedenen euro- Dr. Thomae, Dieter FDP 17.03.2005 päischen Ländern. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle, dass dieser Anteil erheblich gesteigert Dr. Winterstein, Claudia FDP 17.03.2005 werden muss, wenn wir das ehrgeizige Ziel der Lissa- bon-Strategie erreichen wollen, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dyna- * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- mischsten wissensbasierten Raum der Welt zu machen. sammlung des Europarates Die rot-grüne Bundesregierung unterstützt im Rah- men ihrer Zuständigkeit zielgerichtet die nationale Um- Anlage 2 setzung der auf EU-Ebene vereinbarten Maßnahmen. Zu Protokoll gegebene Reden Eine Verbesserung des Istzustandes kann jedoch nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Bund, Ländern und zur Beratung des Antrags: Impulse für eine in- Kommunen gelingen. Bund, Länder und freie Bildungs- ternationale Ausrichtung des Schulwesens – träger müssen neben ihren Bemühungen um zunehmende Den Bildungsstandort Deutschland auch im Europäisierung und Internationalisierung in Hochschu- Schulbereich stärken (Tagesordnungspunkt 12) len und beruflicher Bildung auch den Schulbereich ver- stärkt in den Blick nehmen. Hier sind insbesondere die Gesine Multhaupt (SPD): Länder gefordert, eine Ausweitung der Angebote an Schulen mit europäischer Ausrichtung, frühzeitige An- „In die Ferne, um Neues kennen zu lernen, und zu- gebote für Fremdsprachenunterricht und Förderung des rück in die Heimat, um das Erlebte weiter zu erzäh- internationalen Schüleraustauschs verantwortlich zu rea- len und das Gewohnte mit „europäischen“ Augen lisieren. In diesem Zusammenhang begrüßen und unter- zu sehen.“ stützen wir die vielfältigen Aktivitäten von Bund und Mit dieser Anleitung zum Reisen werben die sozialde- Ländern in der Bund/Länder-Kommission, die darauf ab- mokratischen Abgeordneten im europäischen Parlament zielen, die guten Beziehungen zu unseren europäischen bei der jungen Generation, sich verstärkt an Förderpro- Nachbarstaaten konkret in der Bildungsplanung und For- grammen im Jugend- und Bildungsbereich zu beteiligen: schungsforderung zu verbessern. 15598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Durch Personalabbau bei Lehrkräften, Psychologen erst recht verpflichtet, ausländischen Jugendlichen diese (C) und Sozialpädagogen mit der Folge, dass Integrations- Weltoffenheit auch in unserem Schulwesen entgegenzu- maßnahmen, Ausländerförderungen und Sprachförde- bringen. Im Bereich der Europäischen Union gibt es rung gerade auch bei Schulkindern wegfallen, wie esdiese europäische Internationalität bereits. Über die Eu- beispielsweise die amtierende niedersächsische Landes- ropäische Union hinaus sehen wir uns verpflichtet, auch regierung in meinem eigenen Bundesland praktiziert,jungen Menschen anderer Staaten dieser Welt Zugang zu werden gerade eben nicht Impulse für eine zunehmend unserem Bildungswesen und den Austausch zu ermögli- europäische Ausrichtung unseres Schulsystems gegeben. chen. Ein gutes Beispiel hingegen ist der gerade zustande ge- kommene Koalitionsvertrag in Schleswig-Holstein. Hier Zweitens. Bildung ist ein öffentliches Gut und Bil- wird konkret verabredet, den grenzüberschreitendendung ist zugleich ein Gut,das in staatlicher wie freier Austausch von Schülern, Auszubildenden, Studierenden Trägerschaft angeboten wird. Die Vermittlung von Bil- und Berufstätigen zu fördern, um ihnen Praktika unddung ist zudem ein Arbeitsfeld, das in der Wissensge- Hospitationen im europäischen Ostseeraum zu ermögli- sellschaft der Zukunft noch mehr Anteil an der gesamt- chen. staatlichen Wertschöpfung haben wird, als es schon jetzt der Fall ist. Auch in Deutschland haben wir dem interna- Ich komme zum Schluss. Ein Europaprojekt an einer tionalen Bildungsbedürfnis konkrete Angebote zu ma- Schule am Bildungsstandort Deutschland mit seiner chen: im staatlichen Bereich, in den engen Grenzen, dass Partnerschule in Kopenhagen, Barcelona oder Warschau, natürlich staatliche Mittel in erster Linie für den Bil- ein freiwilliges soziales Jahr im bosnischen Kinderheim, dungsanspruch auch der hier geborenen Kinder und Ju- ein Studienaufenthalt in Italien, ein Betriebspraktikum in gendlichen einzusetzen sind; im freien und privaten Be- Polen das sind alles Beispiele, wie wir junge Menschen reich in der Form, dass internationales Interesse an neugierig, aber auch fit machen für den internationalen diesen Schulen angeboten und in Deutschland wahrge- Wettbewerb um die „besten Köpfe“. Mit Ihrem Engage- nommen werden kann und dass Bildungsinstitutionen in ment in den von Ihnen regierten Bundesländern können Deutschland ihren Anteil am wachsenden so genannten Sie diesen spannenden Prozess in Europa ganz konkret Bildungsmarkt mit sichern und ausbauen können. Dies durch eine bessere finanzielle Ausstattung der Schulen ist nicht nur gut für die Sicherung und den Ausbau von unterstützen. Im Interesse der vielen Begegnungen der Arbeitsplätzen in diesem Bereich. Dies ist umso mehr jungen Generation sind Sie aufgefordert, Ihre Länderak- verantwortbar, als die deutschen Bildungseinrichtungen tivitäten voranzubringen. hier auch ein hohes Niveau, eine gut organisierte und ab- gesicherte schulische Ausbildung anbieten können und daher das Interesse von ausländischen Kindern, Jugend- (B) Dr. Ernst Dieter Rossmann(SPD): Der vorlie- lichen und ihren Familien an den in Deutschland ange- (D) gende Antrag „Impulse für eine internationale Ausrich- botenen Bildungsgängen und Schulen auch eine Bestäti- tung des Schulwesens – den Bildungsstandort Deutsch- gung für den Bildungsstandort Deutschland generell ist. land auch im Schulbereich stärken“ wird zusammen eingebracht von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Um es konkret zu sagen: Natürlich würden wir uns Er geht zurück auf eine Initiative der FDP aus dem Fe- alle darüber freuen, wenn von den 20 000 Internatsplät- bruar 2003, mit der die FDP die Bundesregierung auffor- zen in Deutschland, von denen aktuell 5 000 unbesetzt dern wollte, die Bereitschaft von staatlich anerkannten sind, über die schon hier unterrichteten 1 500 Schülerin- oder genehmigten Schulen, ausländische Schülerinnen nen und Schüler hinaus weitere diese Bildungsangebote und Schüler aufzunehmen, grundsätzlich zu unterstützen wahrnehmen würden. Natürlich sollten wir zusammen und die entsprechenden Verwaltungsvorschriften so zu daran arbeiten, dass von den rund 40 Trägern, die sich gestalten, dass beim Vorliegen der entsprechenden Vo- im Bereich der freien und privaten Schulen mit der Aus- raussetzungen eine schnelle, unbürokratische Erteilung bildung von Nicht-EU-Bürgern befassen, auch mehr als der Aufenthaltsbewilligung erfolgen kann. In der dama- die bisher nur zehn Träger die Aus- und Weiterbildung ligen Debatte, die zu Pfingsten 2003 in diesem Hause für Nicht-EU-Bürger tatsächlich durchführen, ihre Bil- stattfand, sprachen sich Vertreter aller Fraktionen dafür dungsangebote erfolgreich umsetzen könnten. Experten aus, eine solche internationale Ausrichtung im Schulwe- sprechen davon, dass auch hier rund 2 000 Plätze wahr- sen in Deutschland zu befördern. genommen werden können im Bereich der Sprachenaus- bildung, des Deutschzertifikats unterschiedlicher Stufen, Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: im Bereich der allgemeinen Abschlüsse, was Abitur und die Fachhochschulreife angeht, im Bereich der berufs- Erstens. Die Bedeutung von Internationalität auch im qualifizierenden Schulen, was zum Beispiel Fremdspra- Schulwesen wird ernsthaft von niemandem bestritten chenkorrespondenz betrifft und im Bereich der Weiter- werden. Sprachen lernen, andere Länder kennen lernen, bildung, was zum Beispiel Abschlüsse als Betriebswirt sich in anderen Kulturen bewegen können, den Aus-im Wellnessbereich etc. einschließt. tausch zwischen Jugendlichen und jungen Menschen fördern, Weltoffenheit, globales Bewusstsein und Ver- An dieser Stelle konnten wir seinerzeit in der Debatte antwortung ausbilden sind Bildungsziele, die in der Zu- zu Pfingsten 2003 breite Übereinstimmung im Haus fest- kunft noch viel wichtiger werden, als sie es schon in der stellen. Dies hat die SPD ermutigt, einen fraktionsüber- Vergangenheit waren. Wenn wir uns wünschen, dassgreifenden Antrag anzustreben, der gerade die Bereit- deutsche Jugendliche Internationalität durch ein weltof- schaft und das Bewusstsein, diese Internationalität des fenes Schulwesen in anderen Ländern erfahren, sind wir deutschen Bildungswesens weiterzuentwickeln, über den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15599

(A) bis dahin vorliegenden Antrag der FDP hinaus in denzwecke geht. Gerade der Aufenthalt zum Zweck des Stu- (C) Mittelpunkt der Diskussion stellen wollte. Wir freuendiums hat nicht zuletzt durch die Beharrlichkeit der SPD uns, dass wir hierfür letztlich auch die FDP mit gewinnen und von Bündnis 90/Die Grünen deutliche Verbesserun- konnten, damit es gemeinschaftlichen Rückhalt dafürgen für die Studentinnen und Studenten erbracht. Im Be- gibt, dass die Marketingaktivitäten im Bereich der beruf- reich der Schulbesuche müssen wir nüchtern konstatie- lichen Bildung und der Hochschulen in Kooperation mit ren, dass die Aufnahme in das Gesetz ein Fortschritt ist, den Ländern auch im Bereich der allgemeinbildenden die bisherige Verwaltungshandhabung gleichwohl noch Schulen ausgedehnt werden können. Wir stehen hinter sehr enge Grenzen sieht. dem Konzept der Europäisierung des Schulwesens mit dem System der bilingualen deutsch-französischen Part- Mit dem gemeinsamen Antrag wollen SPD, Bündnis 90/ nerschulen und freuen uns, dass es erste Ansätze hierfür Die Grünen und die FDP deshalb die Bundesregierung auch im deutsch-tschechischen Bereich gibt. Wir nehmen nachdrücklich dazu auffordern, bei der Formulierung der mit Genugtuung auf, dass auch auf EU-Ebene in derallgemeinen Verwaltungsvorschriften zu Regelungen zu nächsten Generation der Bildungsprogramme ab 2007 kommen, die im Interesse einer zunehmenden internatio- ein besonderer Schwerpunkt auf die Förderung der Mo- nalen Öffnung des Schulwesens liegen. Ziel muss es bilität und des Fremdsprachenerwerbs im schulischen sein, in einem ersten Schritt bei vorliegender allgemei- Bereich gelegt werden soll. ner Erteilungsvoraussetzung positive Ausnahmen zum Zwecke der Erlangung des Hochschulzugangs oder zur Diese drei Akzente sollen beispielhaft verdeutlichen, Erlangung einer Berufsausbildung zu ermöglichen. Dies was Internationalisierung des Schulwesens meint und läge auch im Geiste des gemeinsam beschlossenen Zu- welche verstärkenden Initiativen Bund wie Länder inwanderungsgesetzes, das immerhin bei der abschließen- Deutschland hierzu ergreifen können. Zugleich hat die den Abstimmung im Bundestag am 1. Juli 2004 mit fast SPD zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen und derallen Stimmen des Hauses gegen zwei Stimmen aus der FDP die Erwartung, dass in Zukunft mehr Erkenntnisse Fraktion der CDU/CSU und gegen zwei Stimmen der auf Ebene des Bundes und der Länder über den Stand fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden ist. der Europäisierung und Internationalisierung des Schul- Jetzt kommt es darauf an, im ersten Schritt hin zu mehr wesens gewonnen werden. Wenn wir ehrlich sind, müs- Internationalität in unserem Schulwesen konkrete Brü- sen wir zusammen feststellen, dass wir hierzu leider viel cken zu bauen, ohne dem illegalen Zugang, dem Miss- zu wenig exaktes Material vorliegen haben, was Daten brauch von Bildungsmotivation durch Geschäftemacher über Mobilität und Austausch von Deutschen ins Aus- und Bildungsschleppern Vorschub zu leisten und ohne land und umgekehrt angeht. Gerade wenn wir eine ziel- falsche Gettobildung im Bildungsbereich Türen zu öff- führende Verbesserung in diesem Bereich erreichen wol- nen; denn gerade eine solche Gettobildung würde sich (B) (D) len, ist es unumgänglich, hier zu einer klarerenmit der internationalen Ausrichtung des Schulwesens Datengrundlage zu kommen. nicht vertragen. Bei aller Zustimmung und Unterstützung für eine In- Auf der anderen Seite müssen und wollen wir aber ternationalisierung des Schulwesens dürfen wir nichtauch darauf bestehen, dass in dem Bemühen um klare verkennen, dass im Bereich des Ausländerrechtes natür- Grundsätze, einheitliches Verhalten und hilfreiche Struk- lich auch Probleme liegen, die mit klarer Steuerung, kla- turen für bildungsmotivierte Nicht-EU-Ausländer in rer Gesetzgebung und ebenso konsistentem wie konse- Deutschland stete Fortschritte erreicht werden. Hierin quentem Verhalten angegangen werden müssen. Auch waren wir uns im Jahr 2003 doch alle einig. Hierin kön- hierauf hatte die FDP in ihrem Ursprungsantrag hinge- nen wir auch heute in der gemeinsamen Beschlussfas- wiesen und mit Recht moniert, dass es leider noch keine sung einen weiteren Baustein setzen. Ich fordere auch deutsche Tradition gibt, auch im Bildungswesen insge- die CDU/CSU auf, diesem gemeinsamen Antrag von samt Internationalisierung als Zukunftsförderung und SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zuzustimmen, nicht als Bedrohung anzusehen. Hierzu musste ehrlich- um damit ein klares Zeichen zu setzen, was wir von der keitshalber jetzt festgestellt werden, dass der Fortschritt Bundesregierung, aber auch den Landesregierungen er- in diesem Bereich nur in sehr kleinen, sehr kalkulierten warten, in der Weiterentwicklung des Bildungsstandorts und sehr auf Sicherheit bedachten Schritten erreichbar Deutschland und der fairen und bildungsfreundlichen ist. Unterstützung für Bildungswillige, Bildungsmotivierte und Bildungsangebote machende Institutionen in Machen wir uns doch zusammen klar: Als die FDP Deutschland mit Blick auf die internationale Ausrich- Pfingsten 2003 ihren Antrag ins Parlament einbrachte, tung des Schulwesens. hatten wir noch kein Zuwanderungsgesetz in Deutsch- land. Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Schulbesuchs war im Ausländerrecht kein Bestand. Alleine in einer Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ich muss Verwaltungsvorschrift wird dies geregelt. Mittlerweile Ihnen etwas ganz offen bekennen: Ihr Antrag hat mir ist die Entwicklung hier weitergegangen. Immerhin ha- reichlich Kopfzerbrechen bereitet. Ich habe ihn eifrig ben wir ein Zuwanderungsrecht vorliegen, das erstmals studiert, gründlich darüber nachgedacht und sorgfältig in einem eigenen Abschnitt ausdrücklich den Aufenthalt gewogen. Ich habe aber dennoch nicht verstanden, in zum Zweck der Ausbildung enthält, nämlich in den § 16, welche Richtung die Reise nun eigentlich gehen soll. Ich in dem es um Studium, Sprachkurse und Schulbesuche würde aber gerne nachvollziehen können, was Sie mit geht, und im § 17, in dem es um sonstige Ausbildungs- Ihrem Antrag eigentlich beabsichtigen. 15600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Da gibt es zwei mögliche Interpretationen: Entweder paket wieder auf und davor kann ich nur warnen. Wir ha- (C) Sie sind mit der bestehenden Rechtslage nach dem Zu- ben um dieses Gesetz lange gerungen und wir haben jede wanderungskompromiss total zufrieden. Dieser Ein-einzelne Regelung sorgfältig geprüft und bewusst so ge- druck entsteht bei mir, da Sie in Ihrem Antrag bei Ihren setzt. Sie gefährden diesen Kompromiss, indem Sie – ver- Forderungen einfach nur mit großer Akribie die Anwen- mutlich unbeabsichtigt – Zuwanderung durch die Hinter- dungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum tür ermöglichen, indem Sie die Ausnahmen ausweiten Zuwanderungsgesetz wiedergeben. Die Passagen zum und sie zur Regel küren. Oder aber Ihr Antrag beabsich- Beispiel, in denen die Ausnahmen für einen Schulbesuch tigt eben nicht ein Mehr als die bestehende Gesetzeslage. von Ausländern festgelegt werden, haben Sie einfachDann allerdings wären wir wieder bei der ersten Variante. eins zu eins abgeschrieben. Es ist Ihr Antrag. Bitte sagen Sie mir, wie er zu verstehen ist. Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen, dass er entwe- Wollen Sie also auch nicht mehr als das, was im Zu- der dem Gebot Montesquieu zuwiderläuft oder aber im wanderungskompromiss ohnehin geregelt ist? Dort ha- Widerspruch zum Zuwanderungskompromiss steht. Ich ben wir nämlich geregelt, den Schulbesuch von Auslän- kann allerdings weder die eine noch die andere Ausle- dern nur in bestimmten wohldosierten Ausnahmengung gutheißen. zuzulassen. Diese Regelungen geben Sie wörtlich wie- der. Erschöpft sich also Ihr Antrag in der Widergabe der bestehenden Rechtslage? Dann frage ich Sie: Wozu ein Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Wir sprechen solcher Antrag? Ist es nicht reichlich profan, zu etwas heute über einen Antrag, der gemeinsam von den Frak- aufzufordern, was der tatsächlichen Situation bereits ent- tionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der spricht? Nein, es ist mehr als das. Es schadet. Ein An- FDP verantwortet und befürwortet wird. Wir sprechen trag, der lediglich Selbstzweck ist, schadet. Er ver-über eine stärkere internationale Ausrichtung des Schul- schwendet Ressourcen, unser aller Zeit und schafft über- wesens. Es geht um den Bildungsstandort Deutschland. flüssige Bürokratie. Die sollte aber bei uns allen ins Visier genommen und keinesfalls gefördert werden. Man Und daher wird jeder fragen: Das ist doch eine gute merkt, dass Sie Ihren Antrag vor einiger Zeit gemacht Sache! Warum macht die Union dabei nicht mit? haben, vor der fulminanten Rede des Bundespräsidenten Die CDU/CSU-Fraktion spricht sich ganz klar für Horst Köhler; denn sonst hätten Sie sicher den seiteine Stärkung des Bildungsstandortes Deutschland aus. Dienstag so vielzitierten Satz des Philosophen Montes- Auch wir sehen in der wachsenden europäischen und in- quieu beachtet: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu ternationalen Ausrichtung des Bildungssystems eine der machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen.“ wichtigsten aktuellen Herausforderungen an die Bil- dungspolitik. Bildung ist für die Union ein entscheiden- (B) Oder – jetzt komme ich zu der zweiten Interpretation – (D) Ihr Antrag ist so zu verstehen, dass Sie getroffene Kom- der Standortfaktor. Für die wirtschaftliche, politische promisse aufkündigen wollen. Dann ist Ihr Antrag in der und gesellschaftliche Weiterentwicklung der Bundesre- Tat keineswegs überflüssig, sondern enthält ein Novum, publik ist es von elementarer Bedeutung, den Bildungs- eine Intention, die deutlich über die Gesetzeslage hin- standort Deutschland insgesamt attraktiver zu gestalten. ausgeht. Dafür spricht auch einiges; denn in Ihrer For- mulierung taucht ganz versteckt das Wörtchen „zuneh- Daher haben wir uns auch schon bei der Debatte im mend“ auf. Es heißt nämlich: „… zu Regelungen zuJuni 2003 dafür ausgesprochen, Schülerinnen und Schü- kommen, die im Interesse einer zunehmenden internatio- lern von außerhalb der EU einen Schulbesuch in nalen Öffnung des Schulsystems liegen“. Und Sie be- Deutschland zu ermöglichen. Es gibt gute Gründe, die nennen es als Ihr Ziel, Ausnahmen zu ermöglichen. Wir Möglichkeit des Schulbesuchs in Deutschland zu er- haben aber bereits Ausnahmen geregelt. Dann muss ich leichtern. Die Internatsschüler in England und in der das doch wohl so verstehen, dass Sie immer mehr Aus- Schweiz haben sich zu einem Wirtschaftsfaktor für viele nahmen schaffen wollen. Regionen entwickelt. Darüber hinaus gibt es auch lang- fristig positive Effekte für den Standort Deutschland. Sie wollen also den Ausnahmecharakter unterwan- Viele der jungen Menschen, die einen Schulbesuch im dern. Sie wollen die Ausnahme zur Regel machen. Mehr Ausland absolvieren, werden in einigen Jahren in Wirt- noch: Sie schreiben, eine Aufenthaltserlaubnis solle er- schaft und Politik ihres Heimatlandes in herausgehobe- teilt werden, wenn es sich um Angehörige von Staaten nen Positionen tätig sein. Gerade in Zeiten der verstärk- handelt, mit denen keine Rückführungsschwiergkeiten ten Vernetzung der internationalen Märkte und des bestehen. Das kann prinzipiell jedes Land sein. Das In- Zusammenrückens in Europa ist es wichtig, schon früh nenministerium hat aber zum Zuwanderungskompro-funktionierende Netzwerke zu knüpfen. Es spricht nichts miss festgelegt, dass nur in wenigen – genau genommen dagegen, bereits in der Schule damit zu beginnen. in elf Staaten – eine Ausnahme möglich sein soll. Diese Länder sind auch namentlich aufgeführt. Eine Verallge- Ich denke, wir sind alle darin einig, dass die Grund- meinerung, wie im Antrag vorgesehen, würde diesen be- lage für späteres Leben, Lernen und Arbeiten besonders grenzten Katalog also unüberschaubar ausweiten. Haben in den Schulen gelegt wird. Daher ist es wünschenswert, Sie das eigentlich mit Ihren Kollegen vom Innenaus-schon dort anzusetzen und auf eine internationale Aus- schuss besprochen? richtung zu achten. Auch die Union sieht die Bedeutung einer internationalen Orientierung des Bildungswesens Dieser friedfertig wirkende Antrag mit den guten Ab- für den anstehenden Wettbewerb um die „besten Köpfe“ sichten schnürt das sorgsam gebündelte Zuwanderungs- auf internationalem Parkett. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15601

(A) Doch die CDU/CSU-Fraktion verliert darüber hinaus recht Fremdes besser einlassen. Das ist eine Grundvo-(C) auch nicht den Überblick über bestehendes Recht inraussetzung für gegenseitigen Respekt und internationa- Deutschland. Und das scheint etwas, was die Antragstel- len Austausch. ler in ihrem gut gemeinten Eifer zu übersehen scheinen. Es sind vor allem zwei Punkte, die wir kritisch sehen Im Bereich der Berufsbildung haben wir dafür jetzt und die wir daher nicht mit unterschreiben wollen: gemeinsam die Weichen gestellt. Teile der Ausbildung können im Ausland absolviert und im Inland anerkannt Erstens. Der Antrag übergeht die Länderkompetenz werden. Ähnliches gilt für den Bologna-Prozess. Aller- im Bereich der Schulen. Wieder einmal wird versucht, dings muss hier die Vergleichbarkeit des in anderen Län- über den Bund Einfluss auf die Bildungshoheit der Län- dern Gelernten noch gesichert werden. der zu nehmen und in Landesentscheidungen hineinzure- gieren. Der Antrag versucht, dies mit verbalen Arabes- Im vorliegenden Antrag geht es um den umgekehrten ken wie „in enger Abstimmung mit den Ländern“ und Weg: den Austausch nach Deutschland hinein. Deswe- „in Kooperation mit den Ländern“ zu überdecken. Ja, es gen greift er bestimmte migrationspolitische Aspekte wird sogar die Formulierung verwendet: „Er bittet daher auf. So soll der Zugang zur schulischen Ausbildung in die Länder“. Doch in letzter Konsequenz lautet die For- Deutschland nur dann möglich sein, wenn für die mate- derung des Antrages, dass der Bund sich in die Länder- rielle und soziale Absicherung der Schülerinnen und kompetenz der Schulen einmischen möge, um dort die Schüler gesorgt ist und wenn gleichzeitig mit ihrer Internationalisierung voranzutreiben. So funktioniert das Rückkehr fest gerechnet werden kann. nicht! Deswegen verstehe ich auch nicht die Vorbehalte der Zweitens. In den Forderungen werden Gegenstände Union gegen diesen Antrag. Schauen wir uns an, wer da- des Aufenthaltsgesetzes berührt. Dem Wortlaut nach wer- von profitiert: Einerseits natürlich diejenigen Schülerin- den Formulierungen der vorläufigen Anwendungshin- nen und Schüler aus Nicht-EU-Staaten, bei denen in der weise des Innenministeriums (Stand: 22. Dezember 2004) Regel wohlhabende Eltern für die Finanzierung des Auf- zitiert. Doch der Kontext des Antrags legt die Vermutung enthaltes in Deutschland aufkommen werden. Das ist nahe, dass eine erhebliche Ausdehnung der geltendendoch genau die Art von Zuwanderung, der sogar ein Rechtslage intendiert ist. Das wird Ihnen die Kollegin Herr Beckstein offen gegenübersteht! Kristina Köhler aus dem Innenausschuss in ihrem Rede- beitrag noch ausführlich darlegen. Andererseits profitieren vor allem private Bildungsin- stitutionen, also Internate und berufliche Schulen in Sie haben sich in Ihrem Antrag einem wichtigen Deutschland. Sie können in Zukunft ihre Angebote ver- Thema gewidmet. Leider können wir es in dieser Form stärkt auf die ausländische Klientel ausrichten. Ziel un- (B) nicht unterstützen. (D) seres heutigen Antrages ist es, die Rahmenbedingungen Dennoch sollten wir die Punkte festhalten, in denen für private Bildungsträger erheblich zu verbessern. wir uns einig sind: Aus grüner Sicht lösen wir mit diesem Antrag natür- Bildung ist ein entscheidender Standortfaktor. Für die lich nicht die zentralen bildungspolitischen Probleme in wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Weiter- unserem Land. Die liegen, wie wir alle schon lange und entwicklung der Bundesrepublik ist es wichtig, den Bil- nicht erst seit PISA wissen, unter anderem in der Inte- dungsstandort Deutschland insgesamt attraktiver zu ge- gration der in Deutschland lebenden Migrantinnen und stalten. Migranten. Die Kompromisse im Zuwanderungsgesetz Eine europäische und internationale Ausrichtung un- nehmen zwar die sprachliche und kulturelle Integration serer Bildungseinrichtungen in Deutschland ist begrü- als Recht und Pflicht eines jeden Einwandernden auf. ßenswert. Dies sollte schon bei den Schulen beginnen. Wir Grünen halten aber – das ist ja bekannt – die Rah- menbedingungen für Integrationskurse noch nicht für Es ist wichtig, im „Ringen um die besten Köpfe“ auch ausreichend. Ich hoffe, wir können nach den ersten Er- ausländische Schüler an deutsche Schulen zu bringen. fahrungen mit diesen Kursen noch an der einen oder an- deren Stelle nachjustieren, und setze dabei auf Ihre kon- Gerade die vorhandenen und unbesetzten Plätze in struktive Mitarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von privat geführten Internaten bieten dabei ein großes Po- der Union! tenzial, das genutzt werden sollte. Was ebenso fehlt, ist eine umfassende Qualitätssiche- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der rung, die auch die privaten Schulen berücksichtigt. Der- heute abzustimmende Antrag verfolgt ein vielleicht eher zeit haben sie zwar einen besseren Ruf als die öffentli- unspektakuläres, aber dennoch wichtiges politischeschen Schulen. Dass sie wirklich besser sind, müssen sie Ziel: Wir wollen Schülerinnen und Schülern aus Län- erst noch beweisen. PISA jedenfalls kann das nicht bestä- dern außerhalb der EU den Schulbesuch in Deutschland tigen. Umso dringender ist es, dass ausländische Schüle- erleichtern. Das ist ein gutes Ziel, und zwar nicht nur in rinnen und Schüler – ebenso wie die deutschen – sich bei ökonomischer Hinsicht. In unserer globalisierten Gegen- ihrer Entscheidung für einen Schulbesuch in Deutsch- wart kann man nicht genug auf den internationalen Aus- land an klaren Qualitätskriterien orientieren und eine ge- tausch setzen, vor allem wenn es um junge Menschen eignete Schule für sich aussuchen können. Nichts wäre geht. Wer einmal in anderen Ländern gelebt und gelernt schlechter für unseren Bildungsstandort Deutschland, als hat, kann sich meist auchspäter auf Neues, vielleicht wenn schwarze Schafe in der Bildungslandschaft die im 15602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Antrag geforderten Erleichterungen für pure Abzocke Dass ein deutsch-schweizerisches Grenzproblem be- (C) missbrauchen würden! steht, ist, wie ich festgestellt habe, auch unter Kollegen hier im Hause nicht strittig, sondern einzig und allein, Der neue Anlauf in der Föderalismusfrage, der wohl welcher Weg zur Lösung dessen beschritten werden jetzt in Angriff genommen wird, stimmt mich optimis- kann und soll. tisch, dass wir auch in Sachen Qualitätssicherung im Bil- dungswesen eine effiziente Lösung hinbekommen wer- Gemeinsam mit dem Bundesrat und insbesondere den. Wie auch immer diese Lösung aussieht – die Länder dem Land Baden-Württemberg hat die Bundesregierung haben jedenfalls große Verantwortung dafür, dass inlän- bereits verschiedene Ansätze zur Lösung des Problems dische wie ausländische Schülerinnen und Schüler eine geprüft. qualitativ hochwertige Ausbildung erhalten – egal an welcher Bildungsinstitution sie lernen und sich ausbil- Sowohl der deutsch-schweizerische Regierungsaus- den lassen. schuss für Wirtschafts- und Finanzfragen als auch die von ihm eingesetzte gemischte und ressortübergreifende Ex- Abschließend möchte ich betonen: Die Einführung pertenkommission haben versucht, geeignete Lösungs- qualitätssichernder Instrumente geschieht immer noch vorschläge und ihre Umsetzungsmöglichkeiten zu erar- viel zu langsam. Dabei müssen wir hier das Rad garbeiten. nicht neu erfinden, auch wenn die KMK immer diesen So wurde unter anderem nach Art. 26 des Grenzver- Anschein erweckt! Andere Länder – besonders in Skan- kehrsabkommens von 1958 die so genannte Gemischte dinavien – betreiben seit Jahren und Jahrzehnten eine er- Kommission einberufen, um zu prüfen, inwieweit die gebnisorientierte Bildungspolitik. Ein Blick über den Zollbefreiung der im deutschen Grenzgebiet geernteten Tellerrand kann hier enorm helfen und die Arbeit wohl- Erzeugnisse bei Einfuhr in die Schweiz ganz oder teil- möglich immens vereinfachen. weise eingeschränkt werden kann. Doch sowohl dieser Wir drehen mit diesem Antrag an einem wichtigen, Vorschlag als auch der, dass deutsche Landwirte für in aber dennoch kleinen Rad der Bildungspolitik. Ich hoffe, Grenzregionen erwirtschafte Produkte bei Einfuhr in die wir werden – zum Nutzen unseres Bildungswesens! – Schweiz von Abgaben befreit werden, wurde von der auch wieder mal gemeinsaman großen bildungspoliti- Schweiz abgelehnt. schen Rädern drehen können. Anlass hierzu hätten wir Mit der uns heute zur Diskussion vorliegenden Geset- genug! zesinitiative des Bundesrates zur Änderung des Grund- stücksverkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsge- setzes soll eine Preisschwelle, bei deren Überschreitung (B) Anlage 3 einem Grundstückskaufvertrag die Genehmigung ver-(D) Zu Protokoll gegebene Reden sagt bzw. ein Landpachtvertrag beanstandet werden kann, festgelegt werden. Zurzeit liegt diese Grenze nach zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur höchstrichterlicher Rechtsprechung bei 150 Prozent. Die Änderung des Grundstückverkehrsgesetzes und von Schweizer Landwirten gezahlten Preise beliefen des Landpachtverkehrsgesetzes (Tagesord- sich in der Vergangenheit auf 125 bis 149 Prozent des nungspunkt 13) Grundstücksverkehrswertes. Um für die deutschen Landwirte in diesen Regionen die Möglichkeit zum Flä- chenerwerb zu verbessern, soll nach dem Vorschlag des Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Das Problem des Landes Baden-Württemberg bzw. des Bundesrates die verstärkten Flächenkaufs bzw. der Pacht durch zahlungs- Landesregierung ermächtigt werden, die Schwelle auf kräftige schweizerische Landwirte im deutsch-schweize- 120 Prozent des ansonsten üblichen Wertes festzusetzen. rischen Grenzgebiet besteht seit geraumer Zeit. Es kon- Begründet wird dies vor allem mit dem Ziel des Erhalts zentriert sich auf bestimmte Grenzregionen, wie zumder Agrarstruktur. Beispiel die Landkreise Waldshut, Schwarzwald-Baar und Konstanz. Während der durchschnittliche jährliche Der vorliegende Gesetzentwurf ist unserer Meinung Erwerb von Flächen in den Jahren 1993 bis einschließ- nach nicht geeignet, dieses regional begrenzte Problem lich 2002 mit rund 38 Hektar – bzw. 53 Hektar beizu lösen. Es bestehen unsererseits vor allem verfassungs- Pacht – relativ niedrig war, ist ein sprunghafter Anstieg rechtliche Bedenken im Hinblick auf das in Art. 14 seit dem Jahr 2003 zu verzeichnen. Grundgesetz verankerte Eigentumsrecht. Die vom Bun- desrat gewünschte Beschränkung der Verfügungsfreiheit Insgesamt werden derzeit circa 3 500 Hektar vonder betroffenen Grundstückseigentümer auf einen eng Schweizer Bauern bewirtschaftet, in einzelnen Landkrei- begrenzten Preisrahmen ist unzumutbar. sen sind es bis zu 20 Prozent der Ackerfläche. Schweizer Landwirte profitieren von den Subventionssystemen ih- Außerdem liegt eine Verletzung des in Art. 3 Abs. 1 res Landes stärker und erreichen auf dem Schweizerdefinierten Gleichbehandlungsverbotes vor, denn die Markt für ihre Agrarprodukte einen bis zu dreifach höhe- Umsetzung des Gesetzentwurfes würde zu einer verfas- ren Marktpreis im Vergleich zu ihren deutschen Kolle- sungswidrigen Ungleichbehandlung zwischen Grund- gen. Das erlaubt ihnen, die Kauf- oder Pachtpreisange- stückseigentümern, die ihr Grundstück an Schweizer bote ihrer deutschen Kollegen wesentlich zu überbieten, Landwirte verkaufen oder ve rpachten wollen, und Grund- was für expansionswillige deutsche Betriebe zu Proble- stückseigentümern, die dasselbe Rechtsgeschäft mit deut- men führt. schen Landwirten tätigen wollen, führen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15603

(A) Auch die im Rechtsgutachten von Professor Dr.In den zurückliegenden 30 Jahren sind über 3 300 Hek- (C) Ferdinand Kirchhof dargelegten Argumente reichentar landwirtschaftliche Fläche, weit überwiegend Acker- nach unserer Meinung nicht aus, um die eben erwähnten land, in Schweizer Bewirtschaftung übergegangen. Seit verfassungsrechtlichen Bedenken auszuräumen. 1993 hat sich die von Schweizer Landwirten gekaufte Fläche mehr als verdoppelt. Die gepachtete Fläche, die Außerdem drängt sich die Frage auf: Wird es neben bereits 1985 ein hohes Niveau von 1 500 Hektar erreicht der Festlegung eines Schwellenwertes für bestimmte Re- hatte, ist seither um weitere 850 Hektar gestiegen. Allein gionen in Höhe von 120 Prozent zukünftig in Einzelfäl- in den beiden zurückliegenden Jahren betrug der Flä- len auch noch eine Feststellung eines „groben Missver- chenverlust nahezu 500 Hektar. hältnisses“ seitens der zuständigen Landesstellen geben, wenn der Verkaufspreis in dieser Größenregion liegt? Wie so oft sagen Zahlen zur Dramatik einer Entwick- Mit dieser Festlegung wird das Ermessen der für dielung nicht alles aus. Fakt ist aber, dass der bisherige Flä- Überwachung des landwirtschaftlichen Grundstücksver- chenverlust der durchschnittlichen Flächenausstattung kehrs zuständigen Stellen auf null reduziert – auch das von 83 landwirtschaftlichen Betrieben entspricht. Ange- ist nicht Ziel unserer Politik. sichts dieser Dimension besitzt die Problematik eine ganz erhebliche Sprengkraft, die über die regionale Be- Abschließend möchte ich noch die Frage an den Bun- troffenheit weit hinausreicht. desrat stellen: Wollten Sie wirklich Geschäfte in Zukunft auch dann versagen, wenn sich für das betroffeneUm auf Betriebsgrößen zu wachsen, die ihnen auf Grundstück überhaupt kein deutscher Landwirt interes- überschaubare Zeit das betriebliche Überleben sichert, siert? wären die landwirtschaftlichen Betriebe in Baden- Württemberg dringend auf die Aufstockung mit diesen Die starke Zunahme von Kauf bzw. Pacht deutscher Flächen angewiesen. Die Landwirte wollen auch vom Flächen seitens der Schweizer Landwirte ist ein akutes Strukturwandel in der Landwirtschaft der Region profi- Problem, welches sich, wenn nicht politisch darauf re- tieren und Zukunftsperspektiven entwickeln können! agiert wird, in den nächsten Jahren noch verschärft. Aus diesem Grund unterstützen wir alle Bemühungen, die zu Stattdessen müssen sie sich mit den durch die Flächen- einer Entschärfung des Problems beitragen. Klar sollte verluste ausgelösten Existenzsorgen herumschlagen. Die Ihnen jedoch auch sein: Aus Respekt vor dem bundes- Unsicherheit, ob bei durchschnittlich zwei Dritteln Pacht- deutschen Grundgesetz werden wir nur einen Gesetzent- flächenanteil an der Betriebsfläche ein Pachtvertrag ver- wurf unterstützen, der nicht das Risiko beinhaltet,längert wird oder ob eine größere Pachtfläche demnächst Grundrechte zu verletzen. an einen zahlungskräftigen Schweizer Landwirt fällt, ver- hindert jede vernünftige, langfristige Betriebsplanung. (B) Lassen Sie uns gemeinsam Alternativen prüfen, in- (D) wiefern seitens der EU, des Bundes bzw. des Landes Re- Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind viel- gelungen gefunden werden können, um den Landwirten schichtig und haben jeweils eine eigene, Besorgnis erre- Unterstützung zu gewähren. gende Dynamik erlangt: Der anhaltende Verlust an Pachtflächen bringt immer Kurt Segner (CDU/CSU): Seit rund 30 Jahren erfah- mehr Betriebe in akute Existenznöte. ren die deutschen Landwirte entlang der Schweizer Grenze leidvoll, was es heißt, ihre berufliche Existenz an Schon jetzt haben zahlreiche Schweine haltende Be- der Nahtstelle unterschiedlicher Agrarsysteme behaup- triebe in der Region allergrößte Schwierigkeiten, in zu- ten zu müssen. In keiner anderen Region Deutschlands mutbarer Entfernung genügend betriebseigene Flächen müssen sich Landwirte einem derart ungleichen Wettbe- zur Gülleausbringung vorzuhalten. werb um den Produktionsfaktor Boden stellen. Seit rund Viele dieser Betriebe sehen sich um den Lohn jahre- 30 Jahren kaufen und pachten Schweizer Landwirte in langer Anstrengungen gebracht. immer größerem Umfang landwirtschaftliche Flächen in der deutschen Zollgrenzzone. Das Herauskaufen oder -pachten von Flächen aus großen Bewirtschaftungseinheiten verschlechtert die Dies wird begünstigt durch erstens das Zollabkom- Produktions- und Arbeitsbedingungen der baden- men von 1958, zweitens die Marktstützungsmaßnahmen württembergischen Betriebe zusehends. der Schweiz, die ihnen im Vergleich zu Landwirten in der EU bis zu dreifach höhere Erlöse garantieren und Der Verlust potenzieller Aufstockungsflächen schmä- drittens das schweizerische Direktzahlungssystem, das lert die Wachstumschancen der einheimischen Betriebe. ihnen bis zu dreifach höhere Prämien gewährt, wenn sie Ohne Wachstumschancen gibt es keine Investitionsbe- die Fläche mindestens seit dem 1. Mai 1984 bewirt-reitschaft. Ohne Investitionsbereitschaft verlieren die schaften. Betriebe den Anschluss an die Entwicklung und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit. Ohne Investitionen gibt es Vor diesem Hintergrund zahlen Schweizer Landwirte keine Modernisierung und ohne Modernisierung keine Kauf- und Pachtpreise, mit denen sie jedes AngebotHofnachfolge. deutscher Landwirte überbieten. Wenn Schweizer Land- wirte zwischen 20 und 49 Prozent über dem ortsüblichen Der Effekt der öffentlichen Mittel, die das Land Ba- Preis zahlen, dann übersteigt dies die finanzielle Leis- den-Württemberg für die Flurneuordnung eingesetzt hat tungsfähigkeit unserer Landwirte bei weitem. und einsetzt, geht zunehmend an den Landwirten vorbei. 15604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Die Landesregierung Baden-Württembergs hat in der bot bis an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähig- (C) Vergangenheit alle Anstrengungen zur Lösung des Kon- keit zu gehen. Ich bin der Meinung, dass seine flikts unternommen. Einführung auf nationaler Ebene ein wirksames Mittel ist, wieder faire Wettbewerbschancen herzustellen. Erstens. In der Verwaltungspraxis wurden alle rechtli- chen Möglichkeiten des Grundstück- und des Land- Ich bedauere sehr, dass die Bundesregierung in ihrer pachtverkehrs ausgeschöpft. Aber aufgrund der gegen- Gegenäußerung Bedenken verlauten lässt. wärtigen Rechtslage gelingt eine Steuerung im Sinne der deutschen Landwirte immer seltener. Deshalb ist die Ge- Damit die Landwirte vor Ort aber den Glauben an die setzesinitiative des Landes Baden-Württemberg unver- Handlungsfähigkeit der Politik nicht verlieren, sollten zichtbar! wir daher über alle Parteigrenzen hinweg eine tragfähige Lösung finden. Im Interesse der betroffenen Landwirte, Zweitens. Die Landesregierung hat immer wieder das die akut in ihrer Existenzbedroht sind, sollten wir ge- Gespräch mit der Schweiz gesucht. Die Regierungen der meinsam ein schnellstmögliches Ergebnis erzielen. angrenzenden Kantone sollten auf ihre Landwirte mäßi- gend einwirken. Nach kurzzeitigem Rückgang erreichte In diesem Sinne bedanke ich mich jetzt schon bei al- der Umfang der von Schweizer Landwirten gekauften len Parteien für die Gesprächsbereitschaft. und gepachteten Flächen nicht nur den alten Stand, son- dern ging darüber hinaus. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drittens. Das Land hat die Bundeslandwirtschaftsmi- NEN): Als Bauer kann ich durchaus verstehen, dass die nisterin wiederholt gebeten, sich bei den Eidgenossen deutschen Bauern an der Grenze zur Schweiz verärgert für eine Selbstbeschränkung einzusetzen. Doch leider darüber sind, wenn ihre Kollegen aus der Schweiz sehr konnte Rot-Grün keinen Erfolg erzielen. hohe Preise für landwirtschaftliche Flächen in Deutsch- land bieten und damit den deutschen Grenzbauern das Nach Ansicht des Auswärtigen Amtes sei die Agrar- Mitbieten schwer oder gar unmöglich machen. Das ist politik der Schweiz auf eine Annäherung an die Bedin- sicherlich ein Problem, für das man eine Lösung finden gungen der EU gerichtet. Diesem Ziel einer Annähe- muss. Ich ärgere mich als Nicht-Baulandbesitzer auch rung, die die Situation in der Zollgrenzzone entspannt, oft über die Flächenkonkurrenz der Baulandbauern, die sind wir bis heute keinen einzigen Schritt näher gekom- immer einen unvernünftig hohen Preis bieten. So etwas men. gibt es immer wieder in den verschiedensten Konstella- Viertens. Der Bundesrat hat am 2. April 2004 in einer tionen. auf Initiative Baden-Württembergs gefassten Entschlie- (B) ßung die Bundesregierung aufgefordert, den Grund- Als Abgeordneter des Bundestages muss ich aller-(D) stück- und Landpachtverkehr an der Schweizer Grenze dings einen etwas anderen Blick auf die Sache haben, als von den Wirkungen des am 1. Juni 2002 in Kraft getrete- im vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates zum nen Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU, ihren Ausdruck kommt. In der Problembeschreibung des Ge- Mitgliedsstaaten und der Schweiz auszunehmen. setzentwurfes heißt es, dass zwischen 1993 und 2002 jährlich 78 Hektar und 2003 310 Hektar an schweizer In Verhandlungen mit der Schweiz sollte eine Ände- Landwirte verpachtet oder verkauft worden seien. rung des bilateralen Zollabkommens von 1958 erreicht werden. Diesem Entschluss ist die Bundesregierung Zum Vergleich: Die landwirtschaftliche Fläche in nach meiner Beobachtung nicht mit Nachdruck nachge- Deutschland beträgt insgesamt 17 Millionen Hektar. Da- kommen. Die Bemühungen waren deshalb nicht von Er- von gehen jährlich 47 000 Hektar verloren, nicht an folg gekrönt. Schweizer, sondern wegen des fortschreitenden Flächen- verbrauchs – übrigens ein riesiges Problem, dessen sich Nachdem alle Versuche fehlgeschlagen sind, hatteder Bundesrat meines Wissens bisher leider noch nie an- das Land Baden-Württemberg den vorliegenden Gesetz- genommen hat. Wir sprechen hier also von einem winzi- entwurf eingebracht. Er zielt darauf ab, in das Grund- gen Teil der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland, stückverkehrsgesetz und das Landpachtverkehrsgesetz der nicht an deutsche, sondern an Schweizer Bauern ver- – beides Gesetze zum Schutz der einheimischen Agrar- pachtet oder verkauft wird. Ich betone das nur, um die struktur – eine Verordnungsermächtigung aufzunehmen. Größenordnungen klarzumachen, von denen wir hier re- Die Rechtsprechung definiert bislang den Schwellen- den. Dafür will der Bundesrat das bewährte Grund- wert für die Annahme eines groben Missverhältnisses stücksverkehrsgesetz und das Landpachtverkehrsgesetz zwischen Kaufpreis und Verkehrswert bei 150 Prozent. ändern. Die Länder sollen nun in die Lage versetzt werden, Ich will damit deutlich machen, dass wir aufpassen diesen Schwellenwert auf 120 Prozent des Verkehrswer- müssen, bei aller individuellen Betroffenheit die Verhält- tes absenken zu können. nismäßigkeit der Mittel nicht aus dem Auge zu verlieren. Ich glaube, wir sind als Bundesgesetzgeber gut beraten, Mit dieser Ermächtigung kann die bisher bestehende uns bei unserer Arbeit nicht von einer allzu stark isolier- Regelungslücke, die zur ungesunden Verteilung von ten und eingeengten Perspektive leiten zu lassen, son- Grund und Boden führte, geschlossen werden. dern immer den Blick für das Ganze zu behalten und Der Schwellenwert von mindestens 120 Prozent mu- nicht damit zu beginnen, jedem sein eigenes Gesetz zu tet deutschen Landwirten immer noch zu, mit einem Ge- schreiben. Das führt zu nichts. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15605

(A) Daher haben wir auch große Bedenken, ob eine Ge- Mehrfach hatte ich mich mit Anfragen an die Bundesre- (C) setzesänderung vertretbar ist, die nur an den – ohnegierung gewandt. Ich hatte an Bundeslandwirtschaftsmi- Frage berechtigten – Interessen einer sehr kleinennisterin Renate Künast geschrieben und sie eindringlich Gruppe orientiert ist, die aber von der Bundesregierung aufgefordert, sich vor Ort ein Bild von der Lage zu ma- erstens als verfassungsrechtlich bedenklich und zweitens chen. Doch trotz eines Besuchs in der Schweiz, bei dem als außenpolitisch, das heißt bezüglich der Beziehungen sie sich über Hühnerhaltung informierte, hat es die zu- zwischen Deutschland und der Schweiz, bei denen esständige Ministerin nicht für nötig befunden, auch das durchaus noch andere Interessen zu wahren gilt, proble- Gespräch mit den Landwirten in Baden-Württemberg zu matisch eingestuft wird. Es ist noch nicht einmal ausge- suchen und sich persönlich einen Eindruck von der Situa- schlossen, dass dieser Gesetzentwurf gegen das Freizü- tion unserer Bauern und ihrer Familien zu verschaffen. gigkeitsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz verstößt. Auf solche Unwägbarkeiten Ein Besuch vor Ort und das Gespräch mit südbadi- können und dürfen wir uns nicht einlassen. schen Landwirten im Grenzgebiet hätte ihr sicher die Augen geöffnet, wie ich aus eigener Erfahrung berichten Gleichzeitig ist selbst unter den deutschen Bauern an kann. Ich habe mich oft mit betroffenen Landwirten un- der Schweizer Grenze die Interessenlage keineswegsterhalten und stehe in regelmäßigem Austausch mit dem einheitlich: Während die einen Land günstig kaufen oder Badischen Landwirtschaftlichen Hauptverband. pachten wollen, hoffen die anderen auf günstige Ge- schäfte mit Schweizer Landwirten, um sich beispiels- Die Tatenlosigkeit der rot-grünen Bundesregierung ist weise ihre Altersversorgung zu sichern. unverständlich und völlig inakzeptabel. Auch das Ver- halten von Bundesaußenminister Fischer war eine bittere Wir haben verabredet, dieses Thema in einer inter- Enttäuschung für die betroffenen Landwirte. Erst Ende fraktionellen Arbeitsgruppe zu beraten, um zu einer Lö- November letzten Jahres hatte dieser dem baden- sung des Problems zu kommen. Ich kann mir gut vorstel- württembergischen Ministerpräsidenten Teufel schrift- len, dass sich eine Lösung finden lässt, jedoch auf einem lich versichert, dass ihm an einer Lösung des Problems geeigneteren Weg, als ihn der Bundesrat vorschlägt. gelegen sei. Doch entgegen diesen – wie wir nun wis- sen – leeren Versprechungen hat die Bundesregierung eine negative Stellungnahme zum Gesetzentwurf abge- Ernst Burgbacher (FDP): Als Vorsitzender der süd- badischen FDP kenne ich die Problematik von Land-geben. pachten und Landkäufen durch Schweizer Landwirte im Die von der Bundesregierung geäußerten Zweifel an südbadischen Raum seit geraumer Zeit. Diese Land-der Verfassungsmäßigkeit des baden-württembergischen käufe und Landpachten von Schweizer Landwirten in Gesetzentwurfs sind durch ein Rechtsgutachten von Pro- (B) unserer Region stellen für unsere Bauern eine ernst zu fessor Kirchhof von der Universität Tübingen entkräftet (D) nehmende Existenzgefährdung großen Ausmaßes dar. worden. Professor Kirchhof kommt zu dem Ergebnis, Hier ist Handeln, und zwar rasches Handeln, dringend dass der Gesetzentwurf zur Änderung des Grundstücks- geboten. verkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsgesetzes Auch wenn das Problem des Grundstücks- und Land- den Vorgaben für Rechtsverordnungsermächtigungen pachtverkehrs bereits seit 30 Jahren existiert, hat es sich des Art. 80 Abs. 1 GG genüge und sich im Einklang mit in den letzten Jahren durch verschiedene Änderungen den Grundrechten der Art. 14 und 12 GG halte. der Rahmenbedingungen deutlich verschärft und zuneh- Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass wir zu einer mend bedrohlichere Ausmaße angenommen. raschen und möglichst unbürokratischen Lösung des Auf Initiative des Landes Baden-Württemberg hat der Problems kommen. Wie und auf welchem Wege dies ge- Bundesrat einen Gesetzentwurf zur Änderung schieht, des erscheint mir imAugenblick eher sekundär. Grundstücksverkehrs- und Landpachtverkehrsgesetzes Viele unserer Betriebe in Südbaden sind in ihrer Exis- vorgelegt. Ich unterstütze diese Gesetzesinitiative nach- tenz bedroht. Wichtig ist,dass hier zügig Abhilfe ge- drücklich. Die FDP-Bundestagsfraktion steht an derschaffen wird, um diese Bedrohung abzuwenden. Seite unserer Landwirte. Die bestehenden Ungerechtig- keiten zulasten unserer Bauern dürfen nicht länger hin- genommen werden. Ursache für die massiven Wettbe- Anlage 4 werbsverzerrungen ist eine hoch subventionierte Zu Protokoll gegebene Reden Landwirtschaft in der Schweiz, die es Schweizer Land- wirten ermöglicht, baden-württembergische Landwirte zur Beratung des Antrags: Zum Beginn der De- bei Erwerb und Pacht von landwirtschaftlichen Flächen kade „Wasser zum Leben“ der Vereinten Natio- aus dem Feld zu schlagen. nen (Tagesordnungspunkt 14) Ich habe mich in dieser Angelegenheit bereits im Jahr 2003 aktiv eingeschaltet und die zuständigen Stellen auf Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Nächsten die Schwierigkeiten, denen sich unsere südbadischenDienstag, am 22. März, am Weltwassertag, beginnt die Landwirte ausgesetzt sehen, hingewiesen und Abhilfe UN-Dekade „Wasser für das Leben“. Damit unterstrei- angemahnt. Im Sommer letzten Jahres hatte ich den da- chen die Vereinten Nationen ihre Entschlossenheit, das maligen zuständigen EU-Kommissar Fischler ange-Thema Wasser im Blickpunkt zu behalten. Es muss ge- schrieben, um ihn für diese Thematik zu sensibilisieren. lingen, den Anteil der Menschen ohne Zugang zu 15606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) sauberem Trinkwasser und ohne Zugang zu sanitären Mit unserem heutigen Antrag wollen wir fünf Jahre(C) Basiseinrichtungen bis 2015 zu halbieren. nach der Verabschiedung der Millenniums-Entwick- lungsziele erstmals Bilanz ziehen. Wo stehen wir heute? Wir möchten mit dieser Debatte zum Gelingen beitra- Die Weltgesundheitsorganisation WHO und das UN- gen. Wieder einmal sind wir es, die dieses Thema in den Kinderhilfswerk UNICEF haben im August 2004 eine Bundestag gebracht haben. Schon vor zweieinhalb Jah- Zwischenbilanz über die Erreichung der Millenniums- ren waren es die Regierungsparteien, die die Wasser-Entwicklungsziele bei der Trinkwasserversorgung und frage erörtert und mit einem Antrag deren Bedeutung für bei der Entsorgung von Abwässern vorgelegt. die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstrichen haben. Eines haben wir bereits damals deutlich gemacht: Basierend auf den Ausgangswerten von 1990 und den Wasser ist kein beliebiges Wirtschaftsgut, Wasser ist ein Zahlen von 2002 kommen die UN-Organisationen zu öffentliches Gut. Wir haben bereits damals deutlich ge- folgendem Ergebnis: Die Weltgemeinschaft ist zwar auf macht, dass der Zugang zu sauberem Trinkwasser ein einem guten Weg, das Trinkwasser-Ziel der Millen- Menschenrecht ist. Das bestreitet in diesem Hause sicher niums-Deklaration zu erreichen, ohne eine deutliche niemand. Dennoch überlegen Sie einmal, wenn Sie vier Kraftanstrengung wird das Ziel im Bereich der Abwas- Tage alle Wasserhähne und sanitären Einrichtungen in serentsorgung jedoch um eine halbe Milliarde Menschen Küche und Bad einmal nicht benutzen, vier Tage denverfehlt. Wasserkasten in der Ecke einmal nicht anrühren, vier Tage einmal versuchen, Wasser zur Befriedigung der Unabhängig von den Durchschnittswerten zeigt die Grundbedürfhisse im wahrsten Sinne des Wortes auf der Bilanz aber Licht und Schatten. Die Unterschiede zwi- Straße zu finden. schen den Regionen, zwischen Stadt und Land und zwi- schen Arm und Reich sind gewaltig. Immerhin haben Nur vier Tage – dies ist nämlich ungefähr die Zeit, die zwischen 1990 und 2002 1,1 Milliarden Menschen erst- ein Mensch ohne Wasseraufnahme überleben kann.mals Zugang zu sicherem Trinkwasser erhalten. Immer- Diese Tatsache unterstreicht unsere Abhängigkeit von hin haben eine Milliarde Menschen im selben Zeitraum den natürlichen Lebensgrundlagen und unsere Verletz- erstmals Zugang zu einer geregelten Abwasserversor- barkeit, eine Verletzbarkeit, die wir in unserer Überfluss- gung erhalten. Dies sind beeindruckende Zahlen, die je- gesellschaft, in der sauberes Trinkwasser eine Selbstver- doch durch das gleichzeitige Bevölkerungswachstum re- ständlichkeit ist, häufig verdrängen. lativiert werden. Machen wir es uns eigentlich ausreichend klar, ist es uns überhaupt bewusst, dass die Versorgung mit saube- Was bleibt also zu tun? Angesichts der enormen rem Trinkwasser und eine effiziente Abwasserentsor-menschlichen Opfer, die ein Verfehlen der Entwick- (B) gung die Grundvoraussetzung für soziale und wirtschaft- lungsziele im Bereich der Trinkwasserversorgung und(D) liche Entwicklung ist? Stört es uns denn überhaupt nicht, der Abwasserentsorgung zur Folge hätte, dürfen wir mit dass noch immer mehr als eine Milliarde Menschen ohne unseren Bemühungen nicht nachlassen. Im Gegenteil, Zugang zu sauberem Trinkwasser sind? Immer noch ha- trotz der gewaltigen Steigerungsraten müssen wir unsere ben mehr als 2,5 Milliarden Menschen keinen Zugang zu Anstrengungen im Bereich der Trinkwasserversorgung einer geregelten Abwasserentsorgung. Schenken wir die- verstärken. Unser Hauptaugenmerk muss dabei den sen Menschen doch unser Gehör. Sie alle sind arm! Sie ärmsten Ländern und den ärmsten Bevölkerungsschich- alle haben dieses gemeinsame Merkmal, egal ob Sie in ten in den städtischen Slums und den ländlichen Regio- Südasien, in Lateinamerika oder ob Sie in Afrika südlich nen gelten. Wir müssen unsere Anstrengungen im Be- der Sahara leben. Armut und der Mangel an sauberem reich der Abwasserentsorgung – auch mit Beteiligung Trinkwasser bzw. an sanitären Basiseinrichtungen gehen der Privatwirtschaft – deutlich intensivieren. Eine Ana- Hand in Hand. lyse der Weltgesundheitsorganisation hat ergeben, dass jährlich 11,3 Milliarden US-Dollar zusätzlich investiert Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend. 1,8 Mil- werden müssten, um im Jahr 2015 die Millenniumsziele lionen Menschen sterben pro Jahr an den Folgen vonim Wasser- und Sanitärbereich zu erreichen. Die Investi- Durchfallerkrankungen. Insbesondere Kinder sind durch tion lohnt sich auf jeden Fall. unhygienische sanitäre Zustände bedroht. Alleine am heutigen Tag sind wieder 4 000 Kinder weltweit an den Durch die Eindämmung von Seuchen könnten die Ge- Folgen von verunreinigtem Trinkwasser qualvoll zu-sundheitskosten in den betroffenen Ländern deutlich ge- grunde gegangen. In Afrika gehen nach Schätzung der senkt werden. Die Zeitersparnis bei der Beschaffung von Weltgesundheitsorganisation 40 Milliarden Arbeitsstun- Trinkwasser könnte in höhere Produktivität, höhere Bil- den pro Jahr durch die Beschaffung von Trinkwasserdung und mehr Freizeit umgewandelt werden. Auf die- verloren – 40 Milliarden! Diese Zeit wird gerade Mäd- ser Grundlage kommt die Weltgesundheitsorganisation chen und Frauen weggenommen. Wegen ihrer Pflichten pro investierten Dollar auf eine Gewinnspanne zwischen bei der Beschaffung von Trinkwasser können sie nicht 3 und 34 US-Dollar. zur Schule gehen. Analphabetismus hat einen fatalen Uns, der rot-grünen Bundesregierung sind diese Zu- Bezug zur Wasser- und Abwasserfrage. sammenhänge klar. Deutschland ist mit rund 350 Millio- Deshalb sind das Trinkwasserziel der Millenniums- nen Euro jährlich der zweitgrößte Geber im Wassersek- Deklaration und das Sanitärziel des Johannesburg-Ak- tor weltweit. Der Wassersektor ist ein Schwerpunkt in tionsplanes Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit 27 Län- Bekämpfung der Armut! dern. Diese Anstrengungen zeigen greifbare Erfolge. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15607

(A) Wir sollten, statt immer zu klagen und Kassandra zuhat jemand gerade noch rechtzeitig mitbekommen, dass (C) spielen, solche Erfolge herausstreichen. am 22. März, am Weltwassertag, die von den Vereinten Nationen ausgerufene Dekade „Wasser zum Leben“ be- Tansania und Vietnam gehören zu denjenigen Län- ginnt, und er möchte noch ein wenig davon politisch dern, die in ihren Regionen die größten Fortschritte bei profitieren. Doch die allzu große Hast und Eile, die wir der Versorgung mit sauberem Trinkwasser gemacht ha- bei der Einbringung des Antrages erlebt haben, tut einem ben. Das belegen die Zahlen des Entwicklungspro-Antrag selten gut. So wird in dem Antrag das Wasser- gramms der UN. In Tansania konnte der Anteil der Be- problem leider weitgehend auf die soziale Frage einge- völkerung mit Zugang zu sauberem Trinkwasser vonengt, während andere Aspekte eher vernachlässigt wer- 38 Prozent auf 69 Prozent gesteigert werden. In Vietnam den. wurde ebenfalls eine Steigerung von 55 Prozent auf 78 Prozent erreicht. In beiden Ländern ist der Wasser- Bereits in den 80er-Jahren war von den VN eine De- sektor ein Schwerpunkt der bilateralen Entwicklungszu- kade der „Trinkwasserversorgung und Hygiene“ ausge- sammenarbeit mit Deutschland. rufen worden. Allerdings, so muss man heute konstatie- ren, nur mit mäßigem Erfolg. Statt des angestrebten Unser Antrag geht gerade auf diejenigen Länder ein, hundertprozentigen Versorgungsgrades wurde trotz einer in denen der Wassersektor in der Entwicklungszusam- bemerkenswerten Mobilisierung nationaler und interna- menarbeit einen Schwerpunkt bildet. Wir werden dafür tionaler Investitionsmittel der Bevölkerungsanteil in den kämpfen, dass in diesen Ländern die Millenniumsziele Entwicklungsländern mit direktem Zugang zu sauberem im Wasser- und Sanitärbereich erreicht werden. Mit un- Trinkwasser lediglich auf 70 Prozent erhöht. Aufgrund seren Forderungen unterstreichen wir: Es ist uns Ernst des Bevölkerungswachstums und der Verstädterung mit der Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele, konnte mit diesem Programm die absolute Zahl von wir tauchen nicht ab angesichts von Herauforderungen Menschen ohne qualitativ und quantitativ ausreichende und Unwägbarkeiten. Mit unseren Forderungen unter- Wasserversorgung und sanitäre Anlagen nicht oder nur streichen wir auch, dass es uns Ernst ist mit der Bekämp- unwesentlich verringert werden. Deshalb bin ich gegen- fung der weltweiten Armut und dem Schutz unserer na- über der überschwänglichen Begeisterung, mit der der türlichen Lebensgrundlagen. Wir befinden uns dabei in Antrag den Beginn der Dekade feiert, eher etwas skep- Übereinstimmung mit UN-Generalsekretär Kofi Annan, tisch. Die bescheidenen Ergebnisse der Dekade in den der anlässlich des Weltwassertages 2004 die zentrale Be- 80er-Jahren sollten uns eher zum Überlegen als zu deutung der Wasserfrage für die Armutsbekämpfung und Schnellschüssen veranlassen. für eine nachhaltige Entwicklung betonte. Daher meine Fragen an Sie, meine Damen und Herren Mit der beginnenden UN-Dekade „Wasser für das Le- der Regierungskoalition: Warum wurde in dem Antrag (B) ben“ unterstreicht die Weltgemeinschaft nochmals diese (D) nicht mehr auf demographische Trends wie Bevölke- Aussage und konzentriert ihre Kräfte in diesem Bereich. rungsentwicklung und Wanderungsbewegungen einge- Kofi Annan kann sich unserer Unterstützung bei seinen gangen? Wieso kommen die ökologischen Faktoren wie Bemühungen sicher sein. Klimaveränderungen, Versteppung, Wüstenbildung und Abschließend möchte ich noch einmal auf die ent-Versalzung von Böden, wenn überhaupt, nur in Neben- wicklungspolitische Debatte vom Juni 2002 zurückkom- sätzen vor? men. Die Oppositionsparteien haben sich bei der damali- gen Abstimmung zu unserem Wasser-Antrag enthalten. Grundwasserbildung und Oberflächenwasserrückhal- Inhaltlich hatten Sie weder durch einen eigenen Antrag tung durch Ökosysteme dürfen in einem solchen Antrag noch in einem Ihrer Debattenbeiträge etwas Konstrukti- ebenfalls nicht fehlen, soll in ihm auch nur ansatzweise ves beizutragen. Zu einer Zustimmung zu richtigendie Problematik der Wasserversorgung aufgezeigt wer- Schritten konnten Sie sich nicht durchringen. Das Fehlen den. Wasserversorgung ist damit ein zutiefst ökologi- eigener inhaltlicher Konzepte entschuldigte der Kollege sches Problem. Hedrich damit, die Opposition wolle der überladenen Die Zahl der Länder, in denen eine Wasserentnahme Tagesordnung keine weiteren Punkte hinzufügen. Diese über dem erneuerbaren Angebot erfolgt, ist durchaus Ausrede wird Ihnen heute niemand abnehmen. Bei ei- lang und wird von Libyen angeführt, in dem fast viermal nem einzigen Thema unter diesem Tagesordnungspunkt so viel Wasser entnommen wird, wie durch Niederschlag hätten Sie wirklich in der Lage sein können, etwas Eige- erneuert wird. Darüber hinaus entnehmen viele Länder nes auf die Beine zu stellen. Leider Fehlanzeige! – Viel- einen so hohen Anteil am erneuerbaren Wasserangebot, leicht aber auch ein Ausdruck Ihrer klammheimlichen dass natürliche Ökosysteme keine Chance haben. Doch Zufriedenheit mit unserer Arbeit bei der Umsetzung der Wasser, welches man ökologischen Systemen zur Nut- Millenniums-Entwicklungsziele und des Johannesburg- zung für den Menschen zu viel entnimmt, wird erst dem Aktionsplanes. System und dann dem Menschen fehlen. Wir erwarten auf jeden Fall gelassen Ihre Vorschläge Durch die Urbanisierung und Industrialisierung der in den bevorstehenden Beratungen. Wandeln Sie IhreEntwicklungsländer in einer frühindustriellen Form wird klammheimliche Zustimmung in eine konstruktive um. das Problem der Wasserverschmutzung, das wir aus der Übergangsgesellschaft Osteuropas kennen, immer aku- Ulrich Petzold (CDU/CSU): Ich kann mich bei dem ter. Agrarchemikalien, die in den Industrieländern längst vorliegenden Antrag des Eindrucks nicht erwehren: Hier verboten sind, belasten das Wasser und zerstören die 15608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Bodenstrukturen, sodass eine Regenerierung von Ab-rung von Gesundheit und Ernährung einer wachsenden (C) wässern nicht mehr erfolgt. Bevölkerung und dem Wassermanagement zugunsten ei- ner nachhaltigen Bewirtschaftung und Ordnungspolitik. Die ökologische Dimension von Wasserverschmut- zung und Wasserverknappung ist auf internationaler Die Welt steuert nach Einschätzung der Vereinten Na- Ebene erkannt. Gleichwohl weichen die Meinungen er- tionen auf eine dramatische Wasserkrise zu. Mitte dieses heblich voneinander ab. In einigen Entwicklungsländern Jahrhunderts haben demnach im schlimmsten Fall 7 Mil- besteht weiterhin die Einschätzung, dass der Norden in liarden Menschen, im günstigsten Fall 2 Milliarden mit internationalen Verhandlungen zu einer Überakzentuie- Wasserknappheit zu kämpfen. rung ökologischer Aspekte tendiere, die er selbst aber nicht umsetze und deren Realisierung die Länder des Sü- Die weltweite Wasserkrise sei die größte Bedrohung dens überfordere. für das Überleben der Menschheit, lautet die eindringli- che Warnung dieses ersten Welt-Wasser-Berichts der Deshalb müssen wir die wassersparenden Technolo- Vereinten Nationen. Während in den reichen Industrie- gien, die bei uns entwickelt wurden, auch bei uns einset- staaten Wasser verschwendet wird, bringt das Bevölke- zen. Es kann nicht sein, dass eine abwasserfreie Auto- rungswachstum in den trockenen Gebieten der Erde – im waschanlage zwar bei uns den blauen UmweltengelNahen Osten, in Nordafrika und Südasien – akute Was- bekommt, aber der Einsatz in der Praxis regelmäßigserknappheit mit sich. Eine einzige Toilettenspülung in scheitert, weil die Kommunen anscheinend auf das Ab- den Industrieländern verbraucht so viel Wasser, wie eine wasser aus den Waschanlagen für die kommunalen Klär- Person in einem Entwicklungsland pro Tag für Waschen, anlagen angewiesen sind. Oder denken Sie daran, wel- Trinken und Kochen zur Verfügung hat. che Probleme bei uns Kleinkläranlagen bereitet werden. Der Einsatz von Endomykorrhizapilzen – bei uns zu Pra- 1,1 Milliarden Menschen, etwa ein Sechstel der Welt- xisreife gebracht –, mit denen man Wasser- und Dünge- bevölkerung, haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. mittel sparend Landwirtschaft betreiben kann, kommt In den Entwicklungsländern versickern 90 Prozent der bei uns nicht voran, weil sich die Einsatzkosten erst in Abwässer ungeklärt oder werden in Flüsse abgeleitet. nachfolgenden Jahren rechnen. Wenn wir nicht bereitVerschmutztes Trinkwasser und mangelhafte Abwasser- sind, unsere modernsten Wassertechnologien bei unsentsorgung sind die Ursache für 80 Prozent aller Krank- selbst einzusetzen, wie sollen andere uns glauben und heiten in Entwicklungsländern. Täglich sterben 6 000 unsere Technologien anwenden? Kinder an Krankheiten, die durch unsauberes Wasser Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass das übertragen werden. Beschließen weltweiter Aktionsprogramme allein kein „Diese Krise ist eine Krise des Wassermanagements, (B) (D) Königsweg für den Aufbau nationaler Handlungskapazi- verursacht im Wesentlichen durch unsere falsche Be- täten im Wassermanagement ist. Es wäre wünschens-wirtschaftung von Wasser“, heißt es im Welt-Wasser-Be- wert, das Aktionsprogramm einer neuen Wasserdekade richt. Deutschland hat diese dramatische Situation schon mit der Verabschiedung eines politisch, möglichst auch seit längerer Zeit erkannt und ist nach wie vor mit etwa rechtlich verbindlichen Übereinkommens zu verbinden. 350 Millionen Euro jährlich der größte europäische Ge- Mit einem völkerrechtlich verbindlichen Übereinkom- ber im Wassersektor, weltweit der zweitgrößte. Auch bei men, das bindende Berichts- und Kontrollmechanismen, den Ausgaben der Weltbank hat der Wassersektor hohe eine verbesserte und sichere Finanzierung sowie einePriorität. Ein erheblicher Teil des jährlichen Weltbank- wissenschaftliche Begleitung beinhaltet, könnte unserer budgets fließt daher in Projekte für Wassermanagement, Auffassung nach der neuen Dekade auch in ökologi-Wasserversorgung, häusliche Hygiene, Abwasserbe- schen Fragen am ehesten zum Erfolg verholfen werden. handlung, Hochwasserschutz und Abfallwirtschaft.

Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Klaus Der Schwerpunkt liegt zunehmend auf sektorüber- Töpfer, der Direktor des UN-Umweltprogramms, sagt greifenden Projekten, in denen neben Umweltaspekten bereits seit Jahren: auch sozioökonomische Aspekte wie Hygieneerziehung berücksichtigt werden. Im Rahmen eines Fraunhofer Die Frage, wie wir auf der Welt mit Wasser umge- Weltbankprojektes befasst sich die Arbeitsgruppe „Was- hen, wird an vielen Orten über Krieg und Frieden ser, Abwasser und Abfall“ mit diesem Themenkomplex. mitentscheiden. Gemeinsam mit Unternehmen verbindet das Fraunhofer Aber die Wasserprobleme, denen unsere Welt gegen- Institut technologische Expertise und innovative Ansätze übersteht, müssen nicht nur Ursache für Spannungenin den Bereichen Wassermanagement, Wasserversor- sein; sie können auch als Katalysator für Zusammenar- gung, Abwasserreinigung und Abfallwirtschaft für Pro- beit wirken. Zwei Drittel der größten Flüsse der Weltblemlösungen in ausgewählten Zielländern. durchfließen mehrere Staaten, mehr als 300 Flüsse über- queren nationale Grenzen. Weltweit ist die Entwicklungshilfe rückläufig. Nur private Investitionen können die riesigen Bedarfe an In- Erstmalig brachten die Vereinten Nationen 2003 ei- frastrukturinvestitionen decken. Für private Unterneh- nen Weltwasserentwicklungsbericht heraus. Der Bericht men wird dementsprechend ein Wachstum des Marktes beschreibt die Ausgangssituation der Weltwasserkrise von derzeit circa 90 Milliarden Euro auf 450 Milliarden und analysiert die globalen Süßwasservorkommen. Er Euro im Jahre 2010 erwartet. Gefordert sind Investitio- befasst sich mit den Herausforderungen für die Siche- nen in schwierigem Umfeld, also im besten Sinne des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15609

(A) Wortes unternehmerisches Handeln im weltweiten Wett- Diesem Zitat stimmen wir ausdrücklich zu. Wir wol- (C) bewerb. len deshalb auch dazu beitragen, dass die vorhandenen Ressourcen sparsam und ökonomisch genutzt werden Der Wandel des Weltwassermarkts hin zum Betrei- und gleichzeitig der Zugang zum Lebensmittel Nummer bergeschäft hat in Deutschland mit dem Ausverkauf des eins für alle ermöglicht wird. deutschen Wasseranlagenbaus bereits erste Spuren hin- terlassen. Bei einer Beibehaltung des Status quo wird die Wasser muss allen Menschen frei, aber nicht kosten- deutsche Wasserwirtschaft ebenso wie im Energiebe-los zur Verfügung stehen. Das bedeutet, Wasser hat ei- reich erhebliche Chancen auf den Weltmärken verpas- nen Preis. Nur so wird mit dem vorhandenen Wasser sen. sorgsam umgegangen und nur so kann die Ressource Wasser auch in Zukunft gesichert werden. Es kostet Hier setzen meine Fragen und Forderungen an dieGeld, Wasser aufzubereiten, Wasserleitungen zu legen Bundesregierung an. Hier sehe ich auch ein wesentliches und Abwasser zu reinigen. Es steht jedem Staat frei, Defizit im Antrag von Rot-Grün, der uns gestern anläss- durch Subventionen die Kosten für Bedürftige abzumil- lich des Beginns der Dekade „Wasser zum Leben“ vor- dern. Doch die öffentliche Hand hat nur die Aufgabe, die gelegt wurde. Wenn wir uns als größter europäischer Ge- gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um das ber im internationalen Wassersektor hervortun, mussöffentliche Gut Wasser zu verteilen, die Gesundheits- doch auch die Frage erlaubt sein, welchen Anteil deut- standards festzulegen und die Reserven nachhaltig zu sche Technologien und die deutsche Wasserwirtschaft schützen. Die private Wirtschaft ist es, die kosteneffi- insgesamt an diesem Auftragsvolumen haben. zient und -transparent Investitionen und Dienstleistungen Mir sind Klagen aus der deutschen Wasserwirtschaft rund um das Wasser anbieten kann. Somuss beispiels- bekannt, dass durch die Kleinteiligkeit der kommunalen weise die technische Ausführung für die Wasseraufbe- Wasserpolitik in Deutschland viel zu wenig Potenzialreitung, Verteilung und Abwasserreinigung in einer Re- entwickelt wurde, um sich bei internationalen Aus-gion durch öffentliche Ausschreibung an private Firmen schreibungen erfolgreich zu beteiligen. Ein weiterervergeben werden. Grund für erfolglose Beteiligungen bei Ausschreibungen Die überragende Bedeutung des Wassers möchte ich ist der Mangel an Erfahrungen und nachgewiesenen Pro- Ihnen anhand einiger Zahlen verdeutlichen. Jedes zweite jekten im internationalen Wassergeschäft. Wie schätzt Klinikbett weltweit wird von jemandem gebraucht, der die Bundesregierung die Möglichkeiten ein, im Rahmen durch schmutziges Wasser krank geworden ist. Täglich des Wiederaufbaus in den Tsunami-Katastrophengebie- sterben 6 000 Kinder an Krankheiten, die durch fehlende ten bei Projekten im Wassersektor, die von deutschensanitäre Anlagen verursacht werden. Hier wird deutlich, Geldern finanziert werden, deutsche Anbieter zu bevor- dass nicht nur der Zugang zu sauberem Wasser lebens- (B) zugen, um endlich auch Referenzprojekte vorweisen zu notwendig ist, sondern auch die Entsorgung und Aufbe- (D) können? Denn eines ist sicher: Die deutsche Wasserwirt- reitung des Abwassers eine große Herausforderung dar- schaft besitzt hervorragende Voraussetzungen, um kurz-, stellt. mittel- und langfristig beim Wiederaufbau, der Erweite- rung oder der Erstellung der Infrastruktur in der Wasser- Und noch zwei Zahlen: 40 Prozent der Welternte ver- oder Abwasserentsorgung in den betroffenen Staa- wächst auf künstlich bewässertem Land. Dafür werden 70 Prozent des weltweit verbrauchten Süßwassers benö- ten mitzuwirken. Die deutsche Wasserwirtschaft hat ihre tigt. Aus diesem Grund ist es so dringend notwendig, in Unterstützung angeboten. Die Bundesregierung sollte den Gebieten, die ohne zusätzliche Bewässerung Nah- diese Hilfsbereitschaft nicht mit unnötig komplizierten rungsmittel produzieren können, die Produktion zu stei- Ausschreibungsgrundsätzen und einem starren Örtlich- gern und alle Möglichkeiten des modernen Landbaus zu keitsprinzip behindern, sondern die Entbürokratisierung nutzen. Ich unterstreiche hier ausdrücklich, alle Mög- vorantreiben. lichkeiten, auch die der Grünen Gentechnik. Heute Ich sagte zu Beginn meiner Rede, dass die Wasserpro- schon haben wir hier Züchtungen, die aufgrund ihrer blematik auch als Katalysator für die Zusammenarbeit Salzresistenz auf Flächen angebaut werden könnten, die dienen kann. Hier haben wir die Chance, die internatio- bislang nicht agrarisch genutzt werden konnten. nale Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Unter- Der zweite Bereich, den ich ansprechen möchte, ist nehmen und die interkommunale Zusammenarbeit indie Schaffung von neuen Anbaugebieten. Die Wissen- Form von Public Private Partnerships zu fördern, um die schaft hat festgestellt, dass die Dürre der Sahelzone Ressource Wasser, die die Vereinten Nationen in dendurch veränderte Temperaturen im Atlantik verursacht Mittelpunkt dieser Dekade gestellt haben, nachhaltig zu wurde und die wiederum durch die Luftverschmutzung erhalten und für alle verfügbar zu machen. der Amerikaner und Europäer. Deshalb sind wir aufge- fordert, insbesondere den Ausstoß an CO2 drastisch zu Ulrich Heinrich (FDP): Meiner Rede möchte ich ein verringern und aktiv gegen weitere Versteppungen und Zitat von Kofi Annan voranstellen: Verkarstungen vorzugehen. Dies kann durch eine pro- gressive Wiederaufforstungspolitik und mit moderner Die Verfügbarkeit von Wasser ist ein fundamentales Landbewirtschaftung erreicht werden. menschliches Bedürfnis und deshalb ein Grund- recht. Verseuchtes Wasser bedroht die körperliche Zum Schluss möchte ich ein paar Anmerkungen zu Gesundheit, aber auch die Gemeinschaft der Men- ihrem Antrag machen. Sie stellen fest, dass sich die Bun- schen. Es ist ein Verstoß gegen die Menschen-desregierung stark im Bereich Wasser engagiert. Das ist würde. gut und wird zu Recht gelobt. Wir können Ihren Antrag 15610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) im Grundsatz auch akzeptieren. Um ihm zuzustimmen, setzen auf die „Washington Consensus“-Strategie priva- (C) müssten jedoch drei Veränderungen vorgenommen wer- ter Investitionen. Was ist die Folge? Kredite werden an den. die Beteiligung großer Konzerne des Privatsektors ge- kuppelt. Die lukrative städtische Versorgung wird priva- Erstens. Sie fordern, dass auf die Entwicklungsländer tisiert. Die Konzerne sitzen gegenüber den Gemeinden bei der Liberalisierung des Wassersektors im Rahmen am längeren Hebel und können es sich leisten, perma- der GATS-Abkommen kein Druck ausgeübt werden soll. nent die Verträge zu brechen. Bei Konflikten vor Ort Diese Liberalisierung ist jedoch notwendig für Investiti- droht die Gefahr, dass die Entwicklungsländer den Kür- onen und die Entwicklung dieses Dienstleistungsberei- zeren ziehen und Strafen zahlen müssen. In Bolivien und ches. Nicht der Staat ist der effektivste Verteiler von Südafrika wurden private Unternehmen aus den Versor- Wasser, sondern die private Wirtschaft. gungsgebieten verjagt. In Uruguay wurde per Volksab- Zweitens. Ihrem Antrag fehlt die ökonomische Be- stimmung eine Verfassungsänderung angenommen, in trachtung der sozialen, ökologischen und finanziellderen Ergebnis die Privatisierung von Wasserressourcen nachhaltigen Wasserversorgung. verboten wurde. Drittens. Es gibt keinerlei Bezug zur Versteppung und Wir als PDS sind der Auffassung, dass es nicht der Desertifikation in Ihrem Antrag und die Verbindung und richtige Weg sein kann, dass deutsche Entwicklungshil- Verzahnung zu anderen Umweltbereichen, zum Beispiel fegelder als Garantie und Stütze in internationale Vorha- dem Wald als Reservoir für Grundwasser, wird völligben deutscher Unternehmen fließen. Die bessere und vor vernachlässigt. allem auch nachhaltigere Alternative ist die konsequente Unterstützung regional entwickelter Projekte mit einem Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Anfang diesen Minimum an notwendiger Technik und einem Maximum Jahres fand in Brasilien, in Porto Alegre, das 5. Weltso- an Anpassung an die konkreten Bedingungen vor Ort. zialforum statt. Ich habe an diesem Treffen teilgenom- Der richtige Weg heißt aus unserer Sicht Hilfe zur men und auf zahlreichen Veranstaltungen miterlebt, wie Selbsthilfe statt kommerzielle Freundschaftsdienste für sehr die Frage des Zugangs zu sauberem und gesundem die Wasserkonzerne. Wasser die Menschen vor allem der Länder des Südens Der Zugang zu sauberem und gesundem Wasser ist bewegt. Der Zugang zu Wasser – so die übereinstim- ein Menschenrecht. Tun wir alles, um dieses Menschen- mende Aussage – ist ein Menschenrecht. Uns sollte vor recht weltweit zu verwirklichen. allem die Frage beschäftigen, wie wir hier in Deutsch- land und in Europa dazu beitragen, dass dieser Zugang für alle Menschen auf der Welt gewährleistet wird. Ich Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- (B) kann einerseits die im Antrag formulierten Ziele unter- desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und(D) stützen, will aber andererseits die Initiatoren des Antra- Entwicklung: Am kommenden Dienstag, am 22. März, ges auffordern, sehr genau darauf zu achten, was mit ih- wird der UNO-Generalsekretär Kofi Annan die UNO- rem Antrag geschieht. Wasserdekade ausrufen. Deswegen ist es gut, dass der Bundeskanzler Schröder hat heute in seiner Regie- Deutsche Bundestag diese Debatte heute führt. rungserklärung unter großem Beifall der SPD-Fraktion Wasser zum Leben – was für uns in Deutschland eine gesagt, dass die Bolkestein-Richtlinie so nicht in Kraft Selbstverständlichkeit ist, ist in vielen Entwicklungslän- treten wird. Der Aussage hier vor dem Deutschen Bun- dern immer noch eine Vision. Vielerorts fehlt es an einer destag muss aber auch eine wirksame Einflussnahme in sicheren Versorgung mit sauberem Wasser. Etwa 1,3 Mil- Brüssel folgen. liarden Menschen sind hiervon betroffen. Doppelt so In vielen Ländern des Südens sind die Bedingungen viele haben keine ausreichende Abwasserentsorgung. von Wasserver- und Abwasserentsorgung prekär. Durch Über 95 Prozent aller Abwässer aus Industrie und Land- die fehlende Wasserver- und Abwasserentsorgung wer- wirtschaft werden nicht geklärt und verschmutzen wert- den die nahen Ressourcen übernutzt und verseucht. Da- volles Trinkwasser. Es ist daher mehr als berechtigt, mit wird ein teuflischer Kreislauf in Gang gesetzt. Die wenn die Vereinten Nationen von einer „ernsthaften Bedingungen verschlechtern sich immer mehr. Wasser- Wasserkrise“ sprechen. Die Folgen dieser Krise liegen knapphheit und schlechte Wasserinfrastruktur behindern auf der Hand: Das Leben der Menschen steht auf dem die Entwicklung in den Ländern des Südens gravierend. Spiel. Tag für Tag sterben 6 000 Menschen an vermeid- Aber auch Industrieländer haben zunehmend mit Was- baren Krankheiten, die durch verunreinigtes Wasser serknappheit und schlechter Infrastruktur zu kämpfen. übertragen wurden. Hinzu kommen enorme volkswirt- Deshalb ist es so entscheidend, dass das öffentliche Gut schaftliche Schäden. Die Tatsache, dass Frauen und Kin- Wasser nicht den Verwertungsinteressen von Kartellen der das Wasser über weite Strecken hinweg holen müs- und Konzernen ausgeliefertwird. Hier sehen wir als sen, bedeutet verlorene Zeit, für die Schule, für die PDS eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik. Arbeit. Nach Unicef-Schätzungen bedeutet dies bei- Immer wieder seit der Konferenz von Rio de Janeirospielsweise den Verlust von 40 Milliarden Arbeitsstun- 1992 hat die internationale Staatengemeinschaft ihren den jedes Jahr. Willen bekräftigt, die internationalen Wasserressourcen zu schützen. Wasser ist ein Schlüssel für die Zukunft der Men- schen. Sauberes Wasser bedeutet Gesundheit, Nahrung, Das Problem besteht allerdings in Folgendem: So-Wohlergehen. Wasser ist ein wichtiger Faktor im Kampf wohl Staaten als auch Entwicklungshilfeinstitutionen gegen die Armut. Wasser ist eine wichtige Ressource für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15611

(A) die Landwirtschaft. Ohne Wasser keine Zukunft – das ist Afrika befasst. Wir von der SPD-Fraktion haben den(C) die Herausforderung, vor der wir stehen. vorliegenden Antrag erarbeitet, in dem wir, also der Bundestag, Daher ist es sehr wichtig, dass anlässlich des Welt- wassertages am kommenden Dienstag, dem 22. März, – unsere Regierung, die Europäische Union, aber auch der UNO-Generalsekretär zugleich die internationale unsere Partnerstaaten im südlichen Afrika dazu auf- Wasserdekade der Vereinten Nationen ausruft. Die Zeit fordern, die Grundsätze der Entwicklungsgemein- bis 2015 muss zu einem Jahrzehnt des Wassers werden. schaft der Staaten im Südlichen Afrika, also der Jedem muss klar sein, dass nachhaltige Entwicklung und SADC, für rechtsstaatliche, freie und faire Wahlen zu sichere Wasserversorgung eng miteinander verknüpft unterstützen, sind. – in dem wir mit Hochachtung und Respekt zur Kenntnis Dabei ist natürlich auch der Beitrag der Bundesregie- nehmen, dass die Wahlen im Jahr 2004 in Botswana, rung gefragt, und der kann sich sehen lassen, schließlich Namibia und Mosambik weitgehend unter Beachtung ist Deutschland mit rund 350 Millionen Euro pro Jahr und Einhaltung dieser Wahlgrundsätze stattgefunden nach Japan der zweitgrößte Geber im Wasserbereich. haben, was die Akzeptanz ihrer Ergebnisse durch die Lassen Sie mich einige wesentliche Punkte der deut- Bevölkerung in diesen Ländern, aber auch deren An- schen Entwicklungszusammenarbeit im Wassersektor sehen in der Welt und die Bedeutung der SADC deut- skizzieren. lich erhöhte, Erstens. Zurzeit kooperieren wir mit 27 Ländern– und in dem wir die Machthaber in Simbabwe auffor- schwerpunktmäßig im Wasserbereich. Wir unterstützen dern, bei den anstehenden Wahlen am 31. März 2005 unsere Partnerländer darin, den Wassersektor zu refor- peinlich genau auf die Einhaltung dieser Grundsätze mieren und die verantwortlichen Institutionen zu stärken. zu achten. Es geht angesichts der immer noch hohen Wasserverluste um eine verbesserte landwirtschaftliche Bewässerung, Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, für die- um den Ausbau der Infrastruktur, darum, sauberes Trink- sen Antrag alle Fraktionen des Deutschen Bundestages wasser zu den Menschen zu bringen, und schließlichzu gewinnen. Das erhöht die Bedeutung unserer Initia- auch darum, die sanitäre Basisversorgung zu verbessern. tive. Es zeigt zugleich, dass der Deutsche Bundestag sich Nur so werden die wasserinduzierten Krankheiten zu- um die Belange in Afrika kümmert. rückgehen. Wir fördern angepasste Bewässerungssys- teme und den Aufbau von Wassernutzungsgruppen. In der Debatte des Deutschen Bundestages über Afrika vor rund einem Jahr hat unser leider viel zu früh (B) Zweitens. Ein weiterer Schwerpunkt unserer interna- verstorbener Kollege und Freund Hans Büttner, der die (D) tionalen Wasserpolitik liegt auf dem grenzüberschreiten- Parlamentariergruppe SADC-Staaten des Deutschen den Wassermanagement. Es werden internationale Dia- Bundestages und den Gesprächskreis Afrika der SPD- loge initiiert und Flussgebietskommissionen unterstützt, Bundestagsfraktion vor mir leitete, auf die geradezu in denen Flussanrainerstaaten gemeinsam das Flusswas- schicksalhafte Verbindung zwischen Afrika und Europa ser managen. Dies dient der Prävention von Konflikten, hingewiesen. In jener Debatte warb er – und dann auch die es unter Umständen bei Verknappung des Wassers die Sprecherinnen und Sprecher der anderen Fraktionen, geben könnte. aber auch der Bundsregierung – eindringlich um Hilfe, um Unterstützung und Kooperation für die Menschen Wasser ist unersetzlich für den Menschen. Es ist ein und Staaten Afrikas und betonte die besondere Verant- Menschenrecht. Ermutigend ist, dass einige Länder wie wortung gerade Europas aufgrund der kolonialen Ver- Tansania oder Tschad beachtliche Erfolge bei der Was- gangenheit. Hintergrund jener Verantwortung war das, serversorgung erzielen konnten. Aber die Erreichung der was in der Öffentlichkeit unseres Landes, aber auch der Wasserziele bis 2015 ist deshalb noch kein Selbstläufer. Öffentlichkeit Europas das Bild Afrika prägte: Afrika, Dass die Vereinten Nationen die Wasserdekade ausrufen, der „sterbende Kontinent“, der Kontinent der Katastro- verdient deshalb unsere volle Unterstützung. Daher be- phen, der Diktaturen und der Korruption, der Kontinent grüße ich sehr den vorliegenden Antrag. von Völkermord und Bürgerkriegen, Afrika, der Konti- nent, in dem gerade auch durch Hunger, Armut und Aids jeden Tag unzählige Menschen sterben. Anlage 5 Diese Verantwortung besteht auch heute. Ganz ohne Zu Protokoll gegebene Reden Zweifel. Europa und Afrika sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. zur Beratung des Antrags: Die Wahlrichtlinien Darauf haben nicht nur wir hier im Bundestag, darauf der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im haben auch Bundeskanzler Schröder, Bundespräsident südlichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie Rau, Bundespräsident Köhler, aber durch Reden, Initiati- und faire Wahlen auch in Simbabwe (Tagesord- ven und politisches Handeln, beispielsweise im Rahmen nungspunkt 15) von NEPAD, auch Bundesministerin Wieczorek-Zeul und ihre Afrika-Beauftragte, Frau Staatssekretärin Eid, Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Ist gut, dass sich immer wieder hingewiesen. Afrika steht im Fokus der der Deutsche Bundestag zu dieser späten Stunde mitAufmerksamkeit des Außenministeriums, jetzt auch im 15612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Zentrum neuer Initiativen der künftigen EU-Präsident- Wahldurchführung und Wahlauszählung wirklich den(C) schaft Großbritannien und der G 8. Anforderungen von freien und fairen Wahlen genügen. Dabei hat sich – und das lohnt sicherlich, hier deutlich Wie schon erwähnt, sind diese Wahlgrundsätze von hervorgehoben zu werden – unser Blick auf Afrika wei- allen, ich wiederhole, von allen Mitgliedstaaten von ter geschärft und konzentriert: Wir sehen heute neben SADC beschlossen worden. Kein Land hat Vorbehalte der Notwendigkeit zur Hilfe, Unterstützung und Koope- angemeldet. Botswana, Mosambik, Namibia haben in ih- ration von außen gerade auch den entschlossenen Willen ren Wahlen im Herbst und Winter des letzten Jahres von immer mehr Engagierten und Aktiven in allen Be- diese Grundsätze angewandt und – soweit dies gesagt reichen, auch von politisch verantwortlichen Politikern werden kann – auch erfüllt. Das ist eine große Leistung in Afrika selbst, und hat ganz ohne Zweifel dazu beigetragen, dass einer- seits die Bevölkerung selbst die Ergebnisse der Wahlen – sich auf die eigene Kraft zu besinnen, akzeptiert. Zum anderen haben diese freien und fairen – durch Änderungen im eigenen Land zur Stärkung von Wahlen ebenfalls ganz ohne Zweifel viel zum wachsen- Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, von Wirtschafts- den Respekt vor diesen Staaten des südlichen Afrika in kraft und Zukunftssicherung beizutragen und damit aller Welt beigetragen und den Wert ihrer Stimme in der der eigenen Bevölkerung Zukunft und Chancen zuVölkergemeinschaft erhöht. garantieren, In den letzen Monaten hat Angola, ebenfalls Mit- – durch Kooperation auf regionaler und gesamtafrikani- gliedstaat von SADC, erklärt, seinen Wahlgesetzen die scher Ebene mehr Wirkung im Kampf um FriedenWahlgrundsätze der SADC zugrunde zu legen. Auch das und Gerechtigkeit und gegen Hunger, Krankheitenbegrüßen wir. und Elend zu erreichen. Nächster Prüfstein sind jedoch die Wahlen am Diese Entwicklung, dieses neue Selbstbewusstsein, 31. März 2005 in Simbabwe. Auch dieses wunderschöne diese Entschlossenheit machen Mut und fordern unsere Land mit seinen vielen tüchtigen Menschen, die jeden Kooperation und unsere Unterstützung in besondererfür sich einnehmen, der sie besucht, hat, wie wir alle Weise. wissen, seit Jahren unendlich viele Probleme. Dazu ge- hören große Schwierigkeiten im Innern, die, nicht zuletzt Die Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im Südli- verursacht durch die Regierung und ihr nahe stehende chen Afrika, SADC, ist eine solche regionale Gemein- Gruppen und Verbände, zur tiefen Spaltung der Gesell- schaft, die sich neben der Förderung von Wirtschaft und schaft, zu Unterdrückung und Gewalt geführt haben. Entwicklung eben auch und gerade die Förderung demo- (B) kratisch-rechtsstaatlicher Strukturen und freier und fairer Auch Simbabwe hat im vergangenen August den(D) Wahlen zum Ziel gesetzt hat. Sie tut das aus dem glei- Wahlgrundsätzen von SADC zugestimmt. Deshalb ist es chen Antrieb heraus, aus dem auch wir diese Ziele teilen, nicht mehr als recht und billig, die Geltung dieser aus der Erkenntnis nämlich, dass eine friedliche, eine ge- Grundsätze auch vor und während der kommenden Wah- rechte und zukunftsfähige Gesellschaft beides braucht len anzumahnen und auf ihre Einhaltung zu drängen. wie wir die Luft zum Atmen. Das tun wir mit dem vorliegenden Antrag. Diese SADC-Gemeinschaft hat im vergangenen Au- Was wir jetzt, also schon in der Vorbereitungszeit der gust ganz konkrete Grundsätze erarbeitet, die genau dar- Wahlen, aus Simbabwe hören, muss allerding große Sor- legen, was alles zu freien und fairen Wahlen gehört: Das gen bereiten: sind insbesondere – Willkür der Polizei gegenüber Kandidatinnen und – regelmäßige Wahlen, an denen alle Staatsbürgerinnen Kandidaten von Gruppen, die nicht zur Regierungs- und Staatsbürger gleichberechtigt teilnehmen können, partei gehören, ebenso wie – Behinderung ihrer Veranstaltungen bis hin zur – in der Vorbereitungsphase und in den Zeiten des Gewalt, Einschüchterung von Kandidaten und Sym- Wahlkampfs faire und gleiche Bedingungen für Kan- patisanten, didaten, Gruppen und Parteien, was sich gerade auch im Zugang zu den Medien zeigt, aber auch – Behinderung des Zugangs zu staatlichen und anderen Medien, damit zugleich Beschneidung des Rechts der – ein fairer Wahlprozess selbst und die Wahlwerbung. – Sicherstellung der ehrlichen Auszählung der abgege- Das sind nur einige der Klagen, die aus Simbabwe zu benen Stimmen. hören sind. Außerdem legen diese Grundsätze fest, dass dieAuch die Informationen über die Wahlbeobachtung Wahlbeobachtungskommission SEOM der SADC-Orga- und -überwachung stimmen uns sorgenvoll: nisation bei Bedarf ein Mandat zur Wahlüberwachung bekommen soll, aufgrund dessen sie dann nach dem– Da wird das SADC-Parlament, also das SADC-Fo- Maßstab der Grundsätze und der übrigen vertraglichen rum durch die simbabwische Regierung von der Grundlagen von SADC die Wahlen nicht nur beobachtet Wahlbeobachtung ausgeschlossen, weil der Bericht und prüft, sondern auch bewertet und der SADC-Ge- über die letzten Wahlen berechtigterweise kritisch meinschaft darüber berichtet, ob Wahlvorbereitungszeit, ausgefallen ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15613

(A) – Da werden von der simbabwischen Regierung nur Ich freue mich, dass es uns – wie bereits im Sommer (C) ausgesuchte Länder und Organisationen zur Wahlbeo- letzten Jahres – wieder gelungen ist, kurzfristig einen ge- bachtung eingeladen und das auch noch zu einem so meinsamen Antrag zu Simbabwe in den Deutschen Bun- späten Zeitpunkt, dass die Phase des Vorwahlkampfes destag einzubringen. Um auf die bedrückenden Zustände mit Beeinträchtigungen, Gewalt und Einschüchterung in diesem kleinen Land aufmerksam zu machen, ist dies nicht mehr überwacht werden kann. dringend erforderlich. Denn Simbabwe findet hierzu- lande keine Beachtung mehr, wie ich nach Sichtung der Das alles erfüllt uns mit großer Sorge. Sinn unseres internationalen Pressespiegel der letzten Wochen traurig Antrags und auch unseres heute wohl einstimmig zu fas- feststellen musste. senden Bundestagsbeschlusses ist es, diese Sorge zum Ausdruck zu bringen und sie unseren Partnern in Afrika Dabei stehen in diesem Land unmittelbar – und das ist deutlich vorzutragen. ja auch der Anlass unseres Antrages – die Parlaments- wahlen vor der Tür. Robert Mugabe macht sich daran, In unserem Antrag fordern wir deshalb die Bundesre- am 31. März 2005 eine Zweidrittelmehrheit zu errei- gierung auf, mit unseren Partnern in Europa und Afrika chen. Dann ist für ihn der Weg frei, die Verfassung end- für die Durchführung freier und fairer Wahlen einzutre- gültig auf sich zuzuschneidern. Um dieses Ziel zu errei- ten – auch noch in letzter Minute, also bis hin zumchen, ist ihm jedes Mittel recht. Schluss des Wahlgangs am 31. März. Wir wollen da- rüber gerade auch mit unseren Freunden in Südafrika re- Bevor ich auf unseren konkreten Anlass – die Parla- den, also in dem stärksten und einflussreichsten Landmentswahlen und die Einhaltung der SADC-Wahlkrite- der Region, das in den letzten Tagen mit unterschied-rien durch das Mugabe-Regime – eingehe, lassen Sie lichen Stellungnahmen Beobachtermissionen nach Sim- mich kurz einige Anmerkungen zur allgemeinen Situa- babwe geschickt hat: Die Verantwortlichkeit für demo- tion in Simbabwe machen; denn anders wird die diaboli- kratische, freie und faire Wahlen wiegt umso schwerer, sche Strategie eines Herrn Mugabe leider nicht deutlich. als wir alle wissen, dass nur solche Wahlen darüber ent- Die wirtschaftliche Situation ist weiter verheerend. scheiden können, wer in Simbabwe am gesellschaft-Dazu nur drei Zahlen zur Jahreswende 2004/05: Die In- lichen Dialog über die Zukunft dieses wunderschönen flationsrate liegt bei 200 Prozent. Die Arbeitslosenquote Landes mit seinen begabten und tüchtigen Menschen be- bei 70 Prozent und 80 Prozent der simbabwischen Fami- teiligt sein kann. Dabei unterstützen wir alle Bemühun- lien leben an oder unter der Armutsgrenze. Die ver- gen, Beobachtermissionen in ausreichender Zahl nach meintliche Landreform ist außerhalb Simbabwes schein- Simbabwe zu entsenden. bar überhaupt kein Thema mehr. Ich denke, es ist wichtig, dass auch wir darüber hi- Hier hat Robert Mugabe innerhalb kurzer Zeit – in (B) naus auf der uns gegebenen parlamentarischen Ebenenur vier Jahren – unumkehrbare Tatsachen geschaffen;(D) jede Möglichkeit ergreifen, um auf die Notwendigkeit Deshalb wohl auch der von der regierenden ZANU-PF der Einhaltung der Grundsätze von SADC hinzuweisen. gewählte – zynische – Begriff des „fast track“-Umsied- Wir werden das tun. lungsprogrammes. Dahinter verbirgt sich – und so muss Wir treten auch dafür ein, nach den Wahlen einen Pro- man das benennen – rassistisch motiviertes Handeln: Es zess der Wahlbewertung in Gang zu setzen, der nicht al- ist ausdrückliche simbabwische Regierungspolitik, aus- lein die Beobachtungen und Bewertungen der von der schließlich weiße Farmer zu enteignen. Mit der Enteig- simbabwischen Regierung ausgesuchten Missionen ein- nung von 4 200 der 4 500 landwirtschaftlichen Betriebe bezieht, sondern gerade auch die im Lande tätigensind diese Maßnahmen jetzt so gut wie abgeschlossen. Nichtregierungsorganisationen mit Verantwortlichen aus Um sich überhaupt das Ausmaß dieser Aktion bewusst machen zu können, hier noch eine Zahl: Wir sprechen SADC-Staaten und der Europäischen Union an einen hier über 11,5 Millionen Hektar enteignetes Land. Tisch bringt, um zu klaren und belastbaren Ergebnissen zu kommen. Diese Bewertung wird dann ganz ohne Und schließlich noch eine letzte Anmerkung zu die- Zweifel die Kooperation mit Simbabwe ebenso beein- sem Thema: Wie wir alle wissen, sind diese Güter – an- flussen wie etwa die Frage von Sanktionen. ders als die vermeintlich revolutionäre ZANU-PF immer propagiert hat – natürlich nicht dem simbabwischen Lassen Sie mich nochmals unterstreichen, was ich ein- Volk zugute gekommen. Auf Kosten des Volkes haben gangs gesagt habe: Europa und Afrika sind aufeinander sich natürlich wieder Partei- und Regierungsfunktionäre angewiesen. Kooperation, aber auch die gleichberech- bereichert. Dies hat übrigens eine von Mugabe einberu- tigte Auseinandersetzung um Probleme und Zukunftsfra- fene Kommission zur Evaluierung der Landreform fest- gen gehören dazu, die Entwicklung von Demokratie,gestellt. Natürlich ist dieser Bericht bis heute nicht ver- freien und fairen Wahlen eingeschlossen. Das unterstrei- öffentlicht. Allein das Thema „Landreform“ zeigt, was chen wir mit unserem Antrag. George Orwell in seinem Roman „Animal Farm“ in be- Ich freue mich über Ihre Zustimmung. drückender Weise dargestellt hat: Wenn kommunistische so genannte Befreiungsbewegungen an die Fleischtöpfe kommen, bleibt für das einfache Volk nicht einmal die (CDU/CSU): Der heutige Tag steht Arnold Vaatz Brosame übrig. ganz im Zeichen des Jobgipfels. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Deutsche Bundestag sich heute – wenn In Simbabwe haben sich mit den Sorgen und Nöten in auch in kleiner Runde und zu später Stunde – auch mit der Vergangenheit nur noch die so genannten Nichtregie- der Situation in Simbabwe beschäftigt. rungsorganisationen NGOs beschäftigt. Damit soll jetzt 15614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) mit dem so genannten „NGO Act 2004“ auch Schluss ten „No-go-Areas“ geworden. Das heißt, hier kann die(C) sein. Kernpunkt dieses Gesetzes ist, dass sich die Nicht- Opposition überhaupt keinen Wahlkampf führen, da sie regierungsorganisationen jetzt staatlich registrieren las- sowie ihre Anhänger und Sympathisanten um Leib und sen müssen. Eine für die Fortsetzung der Arbeit notwen- Leben fürchten müssen. dige Registrierung ist ausgeschlossen, sobald – ich Die Einschüchterung der Opposition hat mit der In- zitiere wörtlich – „die Förderung und der Schutz von haftierung des Oppositionspolitikers Roy Bennett unter Menschenrechten und Fragen politischer Gouvernanz“ fadenscheinigen Gründen einen weiteren Höhepunkt er- Gegenstand der Arbeit der Organisationen ist. reicht. Wegen einer Rangelei im Parlament wurde Roy Die Konsequenz ist offensichtlich: Die im Bereich der Bennett Ende letzten Jahres auf einen bloßen Parla- politischen Bildung tätigen Organisationen müssen das mentsbeschluss hin für ein Jahr in ein Arbeitslager weg- Land verlassen. Das Mugabe-Regime will nämlich auch gesperrt. Über die Unverhältnismäßigkeit – glaube ich – weiterhin ungehindert schalten und walten. brauchen wir hier nicht länger zu sprechen. Es liegt auf der Hand, dass mit dem Verschwindenlassen Roy Wir müssen leider konstatieren, dass Mugabe weiter- Bennetts von der politischen Bühne ein unliebsamer hin fest im Sattel sitzt. Dies ermöglicht es ihm, wie die Regimekritiker ausgeschlossen werden sollte. Dies ist letzten Monate zeigen, seine Partei nach seinen Vorstel- dem Regime leider gelungen, auch wenn in dieser Wo- lungen umzugruppieren. Bei näherer Betrachtung muss che ein simbabwisches Gericht entschieden hat, dass man leider feststellen, dass es sich um nichts weiter als Roy Bennett „ebenso aus seiner Zelle heraus“ für die klassische Verteilungskampfe in einer diktatorischen Parlamentswahlen kandidieren könne! Einheitspartei handelt. Dies belegt die Berufung der dienstältesten Ministerin Joice Mujuru zur zweiten Vize- An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei präsidentin. Dabei handelt es sich um eine Konzessions- Herrn Bundestagspräsident Thierse für seinen Brief vom entscheidung Mugabes an seinen verdienten politischen November 2004 an den simbabwischen Parlamentspräsi- Weggefährten, den ehemaligen Armeechef Solomondenten bedanken. Dass seine Forderung nach Überprü- Mujuru, der Ehemann der Ministerin ist. Allein diesefung der Verhältnismäßigkeit von Roy Bennetts Inhaftie- Personalie verdeutlicht, dass von der Staatsparteirung leider nicht aufgenommen worden ist, belegt das ZANU-PF auch in Zukunft für das Land Simbabwegerade von mir erwähnte Urteil auf zynische Art und nichts zu erwarten sein wird. Weise. Lassen Sie mich jetzt auf unseren konkreten Anlass, Dass Mugabe mit dem MDC im Grunde genommen die unmittelbar bevorstehenden Parlamentswahlen, ein- Katz und Maus spielt, zeigt auch ein noch prominenterer gehen. Vorfall. Am 15. Oktober 2004 wurde der MDC-Partei- (B) vorsitzende Morgan Tsvangirai vom höchsten Gericht(D) In diesen Zusammenhang möchte ich mich ausdrück- vom Vorwurf des Landesverrates freigesprochen. Dieses lich bei der mauritischen Regierung bedanken, die zur- in der internationalen Presse ganz überwiegend positiv, zeit den Vorsitz der SADC-Länder – Entwicklungsge- ja sogar fast euphorisch aufgenommene Urteil ist bei nä- meinschaft der Staaten im Südlichen Afrika – inne hat. herer Betrachtung so überraschend nicht. Der umgehend Auf besonderes Drängen von Mauritius haben sich durch die SADC-Staaten und Europa gereiste Tsvangirai die SADC-Staaten im Sommer vergangenen Jahres auf sollte der Weltöffentlichkeit ein demokratisches und ihrem Gipfeltreffen einstimmig auf die so genanntenrechtsstaatliches Simbabwe vorgaukeln. Was dabei völ- „SADC Principles and Guidelines governing democratic lig in den Hintergrund getreten ist, ist die Tatsache, dass elections“ – kurz gesagt: die Mindeststandards für die gegen Morgan Tsvangirai noch ein weiteres Hochver- Durchführung freier und fairer Wahlen geeinigt. ratsverfahren läuft. Ich bin gespannt, – und darauf, liebe Kollegen, sollten wir achten –, was daraus nach den Diese gilt es jetzt auch in Simbabwe durchzusetzen. Wahlen wird! Dabei – und das möchte ich hier ganz deutlich betonen – dürfen diese Maßstäbe nicht nur am Wahltag selbst an- Auch die vom Mugabe-Regime unlängst durchge- gelegt werden. Das würde zu kurz greifen! Nein, ent-führten Maßnahmen zur Organisation der Wahl lassen scheidend ist bereits die schon angelaufene Phase dernichts Gutes erwarten: Kurz vor Weihnachten wurden Wahlvorbereitung. Hier meine ich insbesondere densämtliche Wahlkreise neu zugeschnitten. Schon jetzt ist Wahlkampf. Und das, was wir da aus Simbabwe mitge- absehbar, dass dadurch der MDC mindestens drei teilt bekommen, lässt das Schlimmste befürchten. Direktmandate verlieren wird. Wie schon bei den letzten Parlamentswahlen hat sich auch diesmal das Mugabe- Wie sieht der Wahlkampf tatsächlich aus? Allein in Regime eine erhebliche Verfügungsmasse an Wähler- den letzten Tagen wurden mehr als 100 Fälle von Men- stimmen verschafft. In den von ihm kontrollierten schenrechtsverletzungen festgestellt, die direkt der Re- Wählerlisten befinden sich nach Aussage des MDC gierung beziehungsweise der ZANU-PF zuzurechnen800 00 Verstorbene und 300 000 Doppelregistrierungen. sind. Die Bandbreite reicht von Nötigungen bis hin zu schweren Körperverletzungen des politischen Gegners. Das entscheidende Kriterium aber ist, dass die nach Auch vor Vergewaltigungen wird nicht zurückge-den SADC-Richtlinien vorgesehene Einladung von schreckt. Dass die Rechnung aufgeht, belegen Hilferufe Wahlbeobachtern nur – ja ich möchte das einmal so for- der einzigen Oppositionspartei, des Movement for De- mulieren – sehr selektiv erfolgt ist: Weder das dafür an mocratic Change MDC: Teile des Landes sind für den sich zuständige „SADC-Parlamentary Forum“ noch die MDC aufgrund des geschilderten Terrors zu so genann- Afrikanische Union haben eine Einladung zur Wahlbeo- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15615

(A) bachtung erhalten. Von der EU oder beispielsweise von dazu beigetragen, dass die landwirtschaftliche Produk-(C) den USA brauche ich hier gar nicht weiter zu sprechen. tion weit gehend daniederliegt. Die Besetzer der Farmen Stattdessen hat Mugabe aus der nicht afrikanischen Welt sind nicht in der Lage, das fruchtbare Land ertragreich zu China, Russland und den Iran eingeladen. bestellen. Anstelle der weißen Farmer sind häufig Regie- rungsmitglieder und andere systemtreue Honoratioren Ich denke, wir sind uns hier alle einig darin, dass freie getreten, von denen einige gleich mehrere große Farmen und faire Wahlen nach den Wahlrichtlinien der SADC in besitzen und Ländereien brach liegen lassen. Simbabwe nur stattfinden können, wenn eine ordentliche Wahlbeobachtung gewährleistet ist. Ich möchte heute am Die gesamte wirtschaftliche Lage hat sich dramatisch Vorabend der Parlamentswahlen noch kein abschließen- verschlechtert. Die Situation der Bevölkerung ist zum des Urteil fallen. Aber das von mir Geschilderte lässt das Teil zum Verzweifeln. Die Grundversorgung ist längst Schlimmste befürchten. nicht mehr gesichert. Viele hungern. Menschenrechts- verletzungen sind an der Tagesordnung. Von rechtsstaat- Was können wir als Deutscher Bundestag mit unseren lichen Verhältnissen kann keine Rede mehr sein. Die Re- europäischen Partnern aus der Ferne zur Verbesserung gierung bekämpft die politische Opposition mit Milizen, der Lage dort im südlichen Afrika beitragen? Meines Er- Militärkräften und Jugendgruppen, die gewalttätig nicht achtens gibt es nur einen Weg: Wir müssen Südafrika an nur gegen den politischen Gegner vorgehen. seine Rolle als Ankermacht im südlichen Afrika, das heißt an seine regionalpolitische Verantwortung für sei- Aber wir haben eben in unseren vielen Gesprächen nen Nachbarn Simbabwe, nicht nur erinnern, sondernauch erfahren müssen, dass unsere Sicht von der Bevöl- dies vom südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbekikerung im südlichen Afrika, besonders bei ärmeren Be- auch einfordern. völkerungsschichten, keineswegs geteilt wird. Mugabe wird dort von sehr vielen weiterhin als Held der Befrei- Denn dieser verzichtet bisher auf jede öffentliche Kri- ung vom Kolonialismus und der Durchsetzung der Un- tik an dem Mugabe-Regime. Diese von Thabo Mbeki als abhängigkeit Afrikas geradezu gefeiert. Das gilt nicht „stille Diplomatie“ verkaufte Politik ist jedoch nicht auf- nur in Simbabwe unter Druck der Regierung, sondern gegangen: Die von ihm propagierten Verhandlungen auch in vielen anderen Ländern der Region. zwischen ZANU-PF und MDC sind nämlich längst ge- scheitert. Umso unverständlicher ist der jüngste Kom- Die Landreform und auch die Besetzungen werden mentar des südafrikanischen Präsidenten zu den simbab- ungeachtet der eingetretenen ökonomischen Katastrophe wischen Parlamentswahlen. Es klingt wie Hohn, wenn er von vielen als im Prinzip richtig angesehen. Diese Ein- meint, dass es sich hierbei um freie Wahlen handelnstellung ist für uns nur schwer verständlich. Aber sie ist würde und keinerlei Beschränkungen der Opposition zu vor dem Hintergrund zu sehen, dass Landreform und die (B) registrieren seien. häufig versprochene Verbesserung der wirtschaftlichen (D) Situation der Armen nicht vorankommen. Die Lebens- Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, sich kurz- verhältnisse der Bevölkerung der afrikanischen Staaten fristig, – das heißt noch vor den Wahlen –, bei der süd- haben sich häufig nur wenig verbessert. Immer noch afrikanischen Regierung dafür einzusetzen, dass diese scheinen die Weißen, die wahren Herrn im Land, und für die Einhaltung der SADC-Richtlinien in Simbabwe die, denen der Reichtum zugute kommt. Die koloniale eintritt. Mehr ist gegenwärtig von dieser Stelle in realis- Vergangenheit bleibt wach. tischer Selbsteinschätzung leider tatsächlich nicht mög- lich. Das sind die Hintergründe, die eine politische Isola- tion des Präsidenten in Simbabwe und seines Regimes so Aber ich denke, wir sind uns alle darüber einig: Heute schwer machen und verhindern. haben wir hier im Deutschen Bundestag das Thema „Simbabwe“ aufgerufen, um auf die bevorstehenden So hat die Afrikanische Union – AU – jüngst eine Re- Parlamentswahlen hinzuweisen, und ich bin mir sicher, solution gegen Simbabwe mit Mehrheit abgelehnt. wir werden sehr bald gemeinsam das Thema wieder er- Hinzu kommt, dass die Proteste der Industriestaaten we- örtern. Denn Robert Mugabe muss aufgezeigt werden, gen Korruption, staatlicher Gewaltrepression, Folter und dass wir Simbabwe nicht aus den Augen verlieren. Nicht Mord in Simbabwe als wenig glaubhaft angesehen wer- zuletzt sind wir das der demokratischen Opposition in den, wenn dieselben Staaten mit anderen Machthabern Simbabwe schuldig. und Ländern beste Beziehungen in der Vergangenheit unterhalten hatten und auch noch unterhalten, in denen Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen): ähnliche Verhältnisse herrschen. Auf unserer Ausschussreise in verschiedene Staaten im In diesem Zusammenhang ist auch kritisch anzumer- südlichen Afrika haben wir selbstverständlich die Situa- ken, dass trotz aller Vorwürfe gegen das Regime Mu- tion in Simbabwe bei allen Begegnungen explizit ange- gabe simbabwische Polizisten im Kosovo eingesetzt sprochen. Unsere Gesprächspartner zeigten sich ent-werden! täuscht und besorgt über die katastrophale politische und wirtschaftliche Entwicklung Simbabwes. Immerhin ge- Was ist nun zu tun? – hörte dieses Land früher zu den großen Hoffnungsträ- gern in Afrika. Die bevorstehenden Wahlen in Simbabwe geben An- lass zu ernster Besorgnis, aber auch eine Möglichkeit, Die gewaltsamen Landbesetzungen sowie die illegalen die Zustände in Simbabwe zu problematisieren und zu Enteignungen und Vertreibungen von Farmern habenhandeln. Berichte über die erhebliche und eskalierende 15616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005

(A) Gewalt gegen die Opposition, gegen die Regionen, in schrieben. Wir sind uns alle einig in der Zielrichtung un- (C) denen vorwiegend oppositionell gewählt wird, und in- seres gemeinsamen Antrages. zwischen auch innerhalb des Regierungslagers selbst weisen deutlich aus, dass von freien Wahlen nicht die Wir müssen erkennen, dass sich die afrikanischen Rede sein kann. Die Gewalt macht auch nicht Halt ge- Staaten sehr schwer tun, einen anderen afrikanischen genüber ausländischen Journalisten, wie zum Beispiel Staat zu kritisieren. Das kann nur kulturell und vielleicht die „taz“ am 23. Februar berichten musste. aus einer gemeinsamen kolonialen Vergangenheit erklärt werden. Das macht die Sache aber nicht einfacher. Es er- Insofern ist es richtig, dass wir heute klar und in gro- schwert politisches Handeln in Afrika zum Wohle der ßer Gemeinsamkeit vom Deutschen Bundestag aus auf Menschen. Wir müssen aber als Deutsche und Europäer die Notwendigkeit hinweisen, die von den afrikanischen immer wieder klar machen, dass die Lösung der afrika- Staaten der SADC selbst formulierten und vertraglich nischen Probleme nur durch Afrikaner vorgenommen vereinbarten demokratischen Standards für Wahlen ein- werden kann. Wir müssen an die Verantwortung der zuhalten, und dass wir Robert Mugabe deutlich sagen, Staaten für die gesamte Region apellieren. wir nehmen nicht hin, dass diese Standards in keiner Weise bisher eingehalten werden. Erster Adressat ist natürlich Simbabwe selbst. Aber es ist zu befürchten, dass hier Hopfen und Malz verloren Wir stellen uns an die Seite der Opposition, wenn es ist; auch Sanktionen haben ja bisher keine diesbezügli- gilt, faire Chancen für freie Wahlen zu fordern. che Verbesserung gebracht. Zweiter Adressat sind die einzelnen Staaten der SADC. Hier ist Südafrika das Wir unterstützen auch die Kräfte im Regierungslager, Schlüsselland. Aber auch die anderen Länder sind in der die für bald oder spätestens für die Zeit nach Mugabe de- Verpflichtung, selbst gesetzte Maßstäbe einzuhalten. mokratische Reformen und die Herstellung von Rechts- Drittens ist die SADC als Organisation gefordert. Ge- staatlichkeit wollen und sich schon heute häufig unter nauso wie wir von Europa verlangen, die Probleme auf großem persönlichen Risiko dafür einsetzen. Und in die- dem Balkan aktiv zu lösen, genauso wie wir von der ara- sem Sinne stimmen wir dem Antrag voll und ganz zu. bischen Welt einen aktiveren Beitrag zur Lösung des Nahost-Problems erwarten, genauso wie wir die Afrika- Aber ich sage in der längeren Perspektive auch, dass nische Union auffordern, das Morden in Darfur zu unter- eine wirksame Abkehr der verheerenden Politik von Mu- binden, genauso müssen wir die SADC als Organisation gabe, gerade weil sie leider eben auch Unterstützung ge- auffordern, hart und unmissverständlich das Mitglieds- nießt und deshalb weder umfassende noch „smarte“ land Simbabwe zur Einhaltung der gemeinsamen Regeln Sanktionen hier greifen, nur erreicht werden kann, wenn zu bewegen. (B) in anderen Staaten Afrikas durch erfolgreiche Landrefor- (D) men und Verbesserungen der Lebensverhältnisse der Ar- Das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der men und Ärmsten sichtbare Alternativen entstehen, an SADC. Es stehen weitere Wahlen an und die Durchset- denen die Massen im südlichen Afrika sich orientieren zungsfähigkeit der SADC steht auf dem Spiel. Das müs- können. sen wir diesen Ländern deutlich sagen. Wir Europäer sind zu einem Beitrag zur Verbesserung der Situation auf An solchen friedlichen, gewaltfreien und rechtsstaat- diesem geplagten Kontinent bereit. Aber dieser Beitrag lichen Alternativen können und sollten wir mitwirken. ist nur vertretbar, wenn wir den deutlichen Willen und Zum Beispiel im nahen Namibia. das deutliche Handeln dieser Länder erkennen können, selbst ihren Beitrag zu leisten. Dazu gehört auch die un- Dr. Rainer Stinner (FDP): Die Fakten in Simbabwe missverständliche Kritik an Simbabwe, auch wenn das sind bekannt und von meinen Kollegen hinreichend be- manchem noch so schwer fallen mag.

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