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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 24. Juni 2002 Betr.: Titel, Franzen ls SPIEGEL-Redakteur Michael Sau- Aga, 42, Ende Februar den VW-Mana- ger Peter Hartz, 60, das erste Mal traf, ver- lief das Gespräch wenig ergiebig: fünf Minuten Kurzinterview, gemeinsam mit vier Kollegen, ohne große Botschaft. Seit- her war der Personalvorstand, der für den Kanzler den erstarrten Arbeitsmarkt wieder flottmachen soll, nicht mehr zu

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL sprechen. Unter strikter Geheimhaltung Sauga, Hammerstein, Hartz, Aust erarbeitete er mit mehreren kleinen, von- einander unabhängigen Expertengruppen einen umfassenden Reformplan. Vergangenen Freitag stellte er das Modell erstmals vollständig seinen Mitstreitern vor. Die SPIEGEL-Redak- teure Stefan Aust, Konstantin von Hammerstein und Michael Sauga kannten es schon: Ihnen hatte der Kom- missionschef vergangene Woche in der Wolfsburger VW- Zentrale fast drei Stunden lang seine Ideen erläutert. „Das wird einen Aufschrei geben“, war Hartz überzeugt. Auf jeden Fall wäre die Umsetzung seines Konzepts eine Re-

volution im verkrusteten Arbeitslosenstaat Deutschland MIKE HUGHES / ZENIT (Seite 22). Ob im Land überhaupt der Wunsch nach Smoltczyk, Sarrazin großen Veränderungen besteht, erkundeten SPIEGEL- Reporter auf einem Streifzug durch die Republik. Sie trafen Reformwillige und Blockie- rer, Visionäre und Zauderer, darunter Politiker und Gewerkschafter ebenso wie Wirt- schaftsbosse und Globalisierungskritiker. So ließ sich Alexander Smoltczyk, 43, vom Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) aus dem täglichen Kleinkrieg gegen die Hauptstadtschulden berichten; Dirk Kurbjuweit, 39, fragte McKinsey-Chef Jürgen Kluge nach dessen Ideen für den Umbau einer stagnierenden Gesellschaft. Fiona Ehlers, 32, besuchte in China den ThyssenKrupp-Manager Hartmut Heine, der den Bau des Transrapid in Schanghai überwacht: „Er wundert sich immer noch darüber, wie schnell dort aus einem Großprojekt Realität wird“, sagt Ehlers (Seite 136).

er Schriftsteller , 43, wird seit Monaten als das neue Wunderkind Dder US-amerikanischen Literatur gefeiert. Selbst das sonst eher spröde „Wall Street Journal“ und die „New York Times“ waren begeistert über Franzens jetzt in Deutschland erscheinenden Roman „Die Kor- rekturen“. Geschrieben hat der Autor das Meis- terwerk an seinem Arbeitsplatz im New Yorker Stadtteil Harlem, in einem kleinen, schalldich- ten Büro, gelegen über einem Fingernagel- studio: „Es ist bescheiden, kaum größer als ein Fahrstuhl und ungefähr so gemütlich“, sagt SPIEGEL-Korrespondent Thomas Hüetlin, 41, „vielleicht hat er deshalb sein Buch zum Teil mit verbundenen Augen geschrieben.“ Die Millio-

HARALD T. SCHREIBER T. HARALD nenauflage hat Franzen inzwischen zu einem Franzen, Hüetlin wohlhabenden Mann gemacht – was der sich nicht anmerken lässt: „Als wir nach unserem Gespräch mit der U-Bahn Richtung Downtown Manhattan fuhren, stempelte Franzen bereitwillig seine Fahrkarte auch für mich ab“, berichtet Hüetlin, allerdings: „Die Kos- ten in Höhe von einem Dollar und 50 Cent musste ich ihm erstatten“ (Seite 150).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 26/2002 3 Werbeseite

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Werbeseite InIn diesem diesem Heft Heft

Titel Arbeit, Arbeit, Arbeit – was der Kanzler jetzt tun muss ...... 22 Eine Mission für Schröder Seiten 22, 36 Schröders Experte ist ein Mann mit Ideen ...... 26 Beispielhafte Modelle der Nachbarländer ...... 28 Ist Deutschland überhaupt noch reformfähig? SPIEGEL-Gespräch mit VW-Personalvorstand Joschka Fischer Viele Bürger bezweifeln das, die meisten Peter Hartz über die Ergebnisse seiner blicken düster in die Zukunft – und entspre- Kommission und notwendige Reformschritte ...... 36 Angela chend schlecht stehen die Chancen für Kanz- Merkel Gerhard Deutschlands Reformer und Blockierer ...... 136 Schröder ler Gerhard Schröder, wieder gewählt zu werden. Doch jetzt hat er von Peter Hartz, Deutschland dem Personalchef von VW, ein Konzept zur Panorama: Entscheidung im Berliner Schlossplatz- Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausarbeiten streit / Hisbollah plant Deutschland-Zentrum / lassen – heraus kam ein radikaler Plan. Wird Bernhard Vogel Bundespräsident? ...... 17 Umfrage: Angela Merkel beliebter als der Kanzler ...... 20 Bundeswehr: Ein schwäbischer Spötter wird neuer Generalinspekteur ...... 42 Außenpolitik: Ex-Kanzlerberater 78 Michael Steiner als Balkan-Fürst im Kosovo ...... 44 Strafjustiz: Sylter Polizist mag keine Polen auf „seiner“ Insel ...... 48 Kirche: SPIEGEL-Gespräch mit Kardinal Karl Lehmann über pädophile 66 65 Priester und die Papst-Nachfolge ...... 54

Lebensmittel: Gigantischer Betrug mit MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL angeblichem Bio-Getreide ...... 60 VW-Manager Hartz Affären: Staatsanwaltschaft sieht Kölner SPD-Funktionäre in „mafiöse Struktur“ eingebunden ...... 72 Union: Spendenaffäre nun auch bei der CSU ...... 74 Umwelt: Wie ein bayerischer Bauer zum illegalen Großentsorger für hochgiftigen Zweifelhafte Reife Seite 62 Industriemüll werden konnte ...... 78 Rund 240000 Gymnasiasten haben gerade das Abitur bestanden – doch ob das Reife- zeugnis ein erfolgreiches Studium garantiert, wird immer fragwürdiger. Hilft ein Bildungsserie Zentralabitur wie in den Pisa-Spitzenländern Bayern und Baden-Württemberg? Der Niedergang des Abiturs ...... 62

Wirtschaft Trends: TUI startet Billig-Airline / Müllers Milliarden-Flop / Bahn bremst Metrorapid aus ..... 83 Geld: Hochprozentige Schnaps-Aktien / Hoffnung für Allergiker Seite 170 Israelische Aktien mit Kriegsschäden ...... 85 Ein neuartiges Arzneimittel soll Asthmatikern und Heuschnupfenkranken helfen. Konzerne: Die Vertrauenskrise hat die Ende vergangener Woche wurde das Medikament zunächst in Australien zugelas- Pharma-Branche erfasst ...... 86 sen. Mediziner schwärmen bereits von einer neuen Ära im Kampf gegen Allergien. Bauarbeiter: Die erfolgreiche Streiktaktik der Gewerkschaft in -Mitte ...... 90 Neuer Markt: Wie die Amatech AG ausgehöhlt wurde ...... 94 Umwelt: Gefährden EU-Pläne die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie? ...... 96 Armani teilt aus Unternehmer: SPIEGEL-Gespräch mit Giorgio Armani über das Geschäft Seite 100 mit der Mode ...... 100 Geldanlage: Erich von Däniken, Zum Auftakt der Mailänder Experte für Außerirdische, Modewoche spart Modeschöp- verspricht galaktische Renditen ...... 103 fer Giorgio Armani, 67, nicht mit Kritik. Seine gebeutelte Lu- Medien xus-Branche? „Viele Marken Trends: „Wirtschaftswoche“ übernimmt bestehen nur aus aufgeblasener „Telebörse“ / Streit um TV-Messen ...... 105 Werbung.“ Die Klientel? Oft Fernsehen: Kinder-TV geht zu früh schlafen / „ohne Sinn für Ästhetik“. Das Durs Grünbein über das Metier? „Gnadenlos.“ Und die Ende der Berliner „FAZ“-Seiten ...... 106 Laufsteg-Schönheiten? „Nicht Vorschau / Rückblick ...... 107 das Model soll auffallen, son- TV-Serien: „Gute Zeiten, schlechte

OLYMPIA PUBLIFOTO / ACTION PRESS / ACTION PUBLIFOTO OLYMPIA dern die Mode.“ Zeiten“ – die Geldmaschine von RTL feiert Jubiläum ...... 108 Prozesse: Die Klage der „Bunten“ gegen Armani, Models ihren Ex-Chefreporter ...... 111 6 Ausland Panorama: Ungarn-Premier unter Beschuss / Bundesregierung wusste vom geplanten U-Boot-Deal mit Taiwan ...... 113 USA: Bin Ladens Erben rüsten zur Revanche ...... 116 Terrorismus: Der Islam-Experte Gilles Kepel über das Scheitern des Fundamentalismus ...... 120 Nahost: Mit der Bombe im Rucksack – Bericht einer verhinderten Selbstmordattentäterin ...... 122 Eine Mauer soll Terroristen stoppen ...... 123 Spanien: Deutsche meiden Mallorca ...... 126 Europa: Das deutsch-französische Duell um die EU-Agrarmilliarden ...... 130 Polen: Ein Bauernführer macht mobil ...... 131

Kultur

DANIEL BISKUP / LAIF DANIEL Szene: Germanist Eckhard Heftrich Deutsche Urlauber an der Playa de Palma über den Ludergeruch des umstrittenen Walser- Romans / Bald Rückgabe deutscher Kunstschätze aus Kaliningrader Privatbesitz? ...... 147 Autoren: SPIEGEL-Gespräch mit Mallorca: Ende einer Romanze? Seite 126 US-Schriftsteller Jonathan Franzen über den Dramatische Buchungseinbrüche auf Mallorca. Die Deutschen beginnen, sich von Sensationserfolg seines neuen Romans ...... 150 Ausstellungen: London feiert Lucian Freud...... 156 ihrer Lieblingsferieninsel abzuwenden. Verantwortlich sind vor allem explodieren- Bestseller ...... 156 de Preise und unfreundliche Politiker. Baukunst: Die erstaunliche Karriere des Architekten-Duos Herzog und de Meuron ...... 158 Film: Die Sommerkomödie „Va Savoir“ von Jacques Rivette ...... 161 Kino: Rod Luries Polit-Drama „Rufmord“ ...... 162 Hollywood: US-Erfolg für Franka Potente ...... 164 Beichte einer Terroristin Seite 122 Szene Gesellschaft: Warum Menschen lügen / Israelische Soldaten, glaubte die Palästinenserin Arin Ahmed, hätten ihren Freund Stadtführung mit Ökomobil ...... 133 ermordet. Aus Rache ließ sie sich als Selbstmordattentäterin anheuern – und schreckte im letzten Moment zurück. Im Gefängnis berichtet sie über ihr Leben. Wissenschaft · Technik Prisma: Haustiere stärken die Immunabwehr / Tintenkiller in der Renaissance...... 167 Medikamente: Wundermittel für Allergiker? ...... 170 Expeditionen: Gefangen im Eismeer – die Irrfahrt der „Magdalena Oldendorff“ ...... 172 Amerikas neuer Bestsellerstar Seite 150 Medizin: Strahlentherapeut Michael Molls über neue Strategien gegen den Krebs ...... 174 Eigentlich sah sich der US-Autor Jona- Hygiene: Hightech in der Wegwerfwindel ...... 178 than Franzen schon gescheitert. Da ge- Automobile: Kult um Spießerautos der Siebziger ..... 179 lang ihm mit seiner Familiensaga „Die Korrekturen“ ein Wurf, der Kritiker und Fußball-WM Leser gleichermaßen begeisterte. Der Deutsche Nationalelf: Der mühsame Roman stand monatelang auf den US- Kampf ins Halbfinale ...... 180 Bestsellerlisten und ist jetzt auf Deutsch World Cup 2002: Arsenal Londons Trainer Arsène erschienen – ein Plädoyer auch für das Wenger über die Nivellierung des Weltfußballs ... 184 Scheitern, vor dem „Amerikaner eine Nachruf: Fritz Walter ...... 187 Riesenangst haben“, so Franzen im Briefe ...... 8 HARALD T. SCHREIBER T. HARALD SPIEGEL-Gespräch, doch die Furcht da- Franzen vor erzeuge „seelische Krüppel“. Impressum, Leserservice ...... 188 Chronik...... 189 Register...... 190 Personalien...... 192 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 194 TITELBILD: Illustration Rob Brooks für den SPIEGEL Kampf, Glück und Oliver Kahn Seiten 180, 184 Die deutsche Nationalelf hat mit Kampf, Glück und Oliver Kahn das WM-Halbfinale Tanga und Manga erreicht. Dass sie trotz spielerischer Defizi- Japanische Sex-Comics be- te so weit kommen konnte, ist für Arsenal geistern deutsche Mädchen. Londons Trainer Arsène Wenger ein typi- Außerdem im KulturSPIE- sches Merkmal dieser Weltmeisterschaft: GEL, dem Magazin für „Entscheidend ist der Spirit.“ Abonnenten: der Erfolg des dänischen Kinos; Massen-

Deutsche Nationalspieler (gegen die USA) / AP AMY SANCETTA tourismus in der Antike.

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Weg zur Erlangung der Droge für die Be- „Gratulation! Ohne den SPIEGEL urteilung der dafür eingesetzten Mittel mil- dernde Umstände. Möge das Volk ein mil- aufzuschlagen, lässt sich erkennen, was der Richter sein … die Geschicke unseres Landes bewegt. Trier Jan Ricken Heiße Luft in beliebig austauschbaren Der Artikel vermittelt nicht unbegründet Köpfen, welche den Launen der atmo- den Eindruck, dass die Bezeichnung „Po- litiker“ eher als Persönlichkeitsvariante sphärischen Luftbewegungen ausgesetzt denn als Berufsbezeichnung zu verstehen sind. Ein wunderbar ironisches Bild.“ ist. Als deren häufiges Merkmal wäre hin- zuzufügen: Die Angst, nicht (wieder-)ge- aus Frankfurt am Main zum Titel wählt zu werden. Der Verlust geschätzter, „Politik als Ego-Trip – Die Droge Wichtigkeit“ selbstgewährter Statussymbole und Privi- SPIEGEL-Titel 24/2002 legien, PR-Truppen und sonstiger Adju- tanten hätte nämlich bei vielen politisch Tätigen eine schwere narzisstische Krise Polit-Narzissten instrumentalisieren Me- mit einem Absturz in die innere Leere zur Mehr Prozente bei Ikea dien und Öffentlichkeit zum Zweck popu- Folge, sofern sich nicht zeitig einige Halte- Nr. 24/2002, Titel: listischer Selbstinszenierung. „There is only griffe im (unberechenbaren) Bühnenbe- Politik als Ego-Trip – Die Droge Wichtigkeit one thing in the world worse than being trieb der Print- und Talkmedien sichern talked about, and that is not being talked lassen. Da bieten die bloßen materiellen Spätestens nach der Lektüre der neuen about“. (Oscar Wilde: „The Picture of Do- Vergünstigungen und Vorsorgen – ein SPIEGEL-Titelgeschichte wissen wir, war- rian Gray“) Schelm, wer Arges dabei denkt – wohl um es um Deutschland so schlecht bestellt Weinsheim (Rheinl.-Pf.) Gerd Bottler doch nur ein zu armseliges Trostpflaster. ist: Wir werden von Psychopathen regiert. Aus diesem Grund muss dem Wähler- und Göttingen Peter Förster Macht als Droge, Politiker als Süchtige! Er- Steuervolk unermüdlich und mit hohem gebnis: Nicht zurechnungsfähig. Diese The- Aufwand die Unentbehrlichkeit der eige- Irgendwie haben wir es ja alle gewusst, dass Politiker ein Haufen studierter oder nichtstudierter Seiteneinsteiger mit ehe- mals hehren Zielen sind, welche durch ihren falschen Idealismus geprägt unbe- dingt an die Macht wollten und eigentlich, wenn es dann so weit ist, nicht wissen, war- um, wie und vor allem für wen sie diese Macht eigentlich ausüben sollten. Sie wis- sen nur eines. Behalten, behalten, behal- ten! Das Volk hat in dieser Demokratie am allerwenigsten zu sagen und wird auch dementsprechend vertreten. Und wen geht man wählen, wenn doch alle gleich sind? Chemnitz Andreas Voigt

Ein gelungener Artikel, der aufzeigt, wie KUMM / DPA WOLFGANG wirkungsvoll Macht sein kann und wie Per- Spitzenpolitiker Westerwelle, Fischer, Stoiber, Schröder: Wen geht man wählen? sonen der Macht erliegen. SPIEGEL-Re- dakteure scheinen jedoch selbst der Macht se ist nicht nur interessant, sondern auch nen Person quasi als Garant für das Wohl zu erliegen, ihren Dauerfeind, den ehema- für die Politiker praktisch, könnte sie doch des Bürgers (lies: für Brot und Spiele) sug- ligen Bundeskanzler, permanent negativ hervorragend als Entschuldigung für das geriert werden. darzustellen. Ich fände es sehr hilfreich, Kassieren von Wahlversprechen und das Bochum Prof. Dr. Theo R. Payk wenn Sie ein wenig mehr um eine objekti- Ignorieren der wirklichen Probleme hier zu ve Berichterstattung bemüht wären, an- Lande herhalten. Lieber das Ego sanieren Ich bin mit 20 Jahren die wohl jüngste statt dauernd ihre alten Feindbilder her- als den Haushalt. Auf dem Weg zur Droge Landtagskandidatin Hessens und wenig er- vorzuholen. Macht ist jedes Mittel recht. Im Strafrecht freut über die Aussichten, die mir laut Jür- Düsseldorf Guntmar Wolff jedenfalls gelten für Suchtkranke auf dem gen Leinemann blühen. Er bezeichnet Po-

Warum so viele in die Arena der Politik drängen? Na, weil man als „Volks-Vertre- Vor 50 Jahren der spiegel vom 25. Juni 1952 ter“ weitaus weniger unter Erfolgszwang US-Botschaft mit eigener Tageszeitung in Westdeutschland Der steht als ein Volkswagen-Vertreter, weil Bedeutung angemessen. Debatte über Einführung der Wehrpflicht man da weitaus weniger Verantwortung Rechtsgutachten unter Verschluss. Kniffligstes aller politischen hat als im „normalen“ Beruf, man zudem Puzzlespiele Allenfalls Fleißnote für Lastenausgleich-Ausschuss des ziemlich preiswert in der Welt herum- Bundestags. Stalin-Interview entpuppt sich als Zeitungsente Ein „bolschewistischer Versuchsballon“? Düstere Prophezeiungen von kommt, nicht schlecht dabei verdient und Erbforschern Generationen von Halbidioten. vor allem mehr Prozente bei Ikea be- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de kommt als alle anderen – nämlich die oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Dummen! Titel: Wettkampfschwimmer Herbert Klein Ludwigshafen Wolfgang Lauenstein

8 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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Werbeseite Briefe litiker als machtgierige und geltungsbe- dürftige Egozentriker, deren Leben ohne Freunde mit der Aufgabe ihres Mandats endet. Tolle Aussichten! Wenn man den- noch Politiker werden wolle, müsse man „Eitelkeit, Ehrgeiz und Geltungsdrang“ mitbringen. An „Leidenschaft und Inhal- ten“ der Nachwuchspolitiker zweifelt er. Bei solch einem negativen Bericht wun- dert es mich nicht, dass Politikverdrossen- heit in Deutschland vorherrscht. Ich hoffe, dass sich junge engagierte Menschen nicht abschrecken lassen, wenn sie ihre Zukunft durch politische Arbeit mitgestalten wol-

len, was neben Geltungsdrang und der X / STUDIO ARIEL / GAMMA SCHALIT Gier nach Macht doch der eigentliche An- Israelische Helfer nach Selbstmordattentat trieb sein sollte. Bei mir ist es jedenfalls so. Ein reiner Machtkonflikt? Neukirchen (Hessen) Wiebke Reich Vielleicht einige Fakten statt des lar- „Der Politiker sagt, was er glaubt, dass sei- moyanten Gezeters wegen zu hoher Tele- ne Zuhörer es denken. Vor allem sagt er fonrechnungen: Israel hat dank seiner mi- nicht, was sie nicht hören wollen“ – tref- litärisch-strategischen Überlegenheit das fender kann man die derzeitigen Verhält- ganze Land zwischen Jordan und dem Mit- nisse in Opposition und Regierung bezie- telmeer besetzt und will den Palästinen- hungsweise den damit verbundenen Re- sern nicht jenen Anteil davon herausge- formstau wohl nicht beschreiben. Wenn ben, den diese als faire Abgeltung ihrer man Ihren Darstellungen Glauben schen- nationalen Rechte betrachten. Im Gegen- ken darf, wird Deutschland von Leuten teil: Durch forcierten Landraub (Besied- regiert, die geltungssüchtig sind und sich lung), soziale Demütigung und die Nicht- längst von der Wirklichkeit verabschiedet anerkennung als unabhängiger Staat wird haben – ist dem wirklich so, kann es einem der Druck verstärkt und das Volk der Pa- eigentlich nur angst und bange werden. lästinenser immer tiefer in die Verzweif- Marienmünster (Nrdrh.-Westf.) lung getrieben. Ein reiner Machtkonflikt. Bernd Krüger Wien B. Rogge

Nun werden wieder viele daherkommen Fakten statt Gezeter und glauben, man müsse Wolf Biermann Nr. 24/2002, Essay: Wolf Biermann über das eines Besseren belehren. Die Freundlichs- Verhältnis der Deutschen zu Israel ten unter denen werden behaupten, sein Essay sei einseitig. Sollen sie doch. Ich je- Als Wolf Biermann in ein Kind denfalls bin Biermann zutiefst dankbar. war, wurde ich als deutsches Kind in Böh- Köln Theo Heyen men – für die Verbrechen Hitlers – in einen Viehwaggon gesteckt und „heim ins Reich“ (das meine Vorfahren und ich nie gekannt Kampf gegen Goliath hatten) gekarrt. Als Biermann 1957, ver- mutlich im Blauhemd und natürlich mit Nr. 24/2002, Landwirtschaft: Auf Lücke gepokert der Klampfe, in der DDR sich den gerech- ten Sozialismus herbeisehnte, habe ich Die Verbraucherschutzministerin Künast mich auf die Flucht nach Westdeutschland ruft nach Ausweitung des Skandals zur Kri- gemacht. Ausgerechnet Sie, der 1968 im- sensitzung, um drohende Sanktionen der mer noch am Herbeibeten des besseren EU von den Nahrungsmittelproduzenten Sozialismus war, nennen uns jetzt „Grau- abzuwenden. Das ist Schutz der Produ- köpfe der 68er mit der antisemitischen zenten von vergifteten Nahrungsmitteln! Mördergrube …“ Wir, nicht ein Wolf Wo aber bleibt der Verbraucherschutz? Be- Biermann, waren diejenigen, welche sich darf es nicht einer Krisensitzung für den aufgemacht haben, bei den Juden Verge- Verbraucher in dieser Situation, um Mittel bung zu erbitten. Ähnliches ist mir aus Ih- und Wege zu finden, den Verbraucher zu rer damaligen DDR nicht bekannt. Reden schützen? Aber die Lobby der Landwirte ausgerechnet Sie, Herr Biermann, mir doch und Futtermittelhersteller ist stärker als die jetzt nicht den Antisemitismus an den Hals. Lobby der Verbraucher. Das wird auch Dettighofen (Bad.-Württ.) eine gutmütige „Grüne Tante“ mit weisen Gerlinde Schnittner Sprüchen nicht ändern. Von BSE, Maul- und Klauenseuche et cetera hat das Ver- Wolf Biermanns akustische Arbeiten sind braucherschutzministerium nichts gelernt, ja nicht so mein Fall, aber seinen Essay zu und weitere Nahrungsmittelskandale sind lesen war nach den vergangenen Wochen programmiert. Leider. und Monaten eine Wohltat. Schieder-Schwalenberg (Nrdrh.-Westf.) Berlin Reiner Bajo Friedrich Hoelscher

12 der spiegel 26/2002 Ein Hoch der Agrarwende! Endlich kommt ein, wenn auch nur schwaches grünes Licht in den schwarzen Filz der Agrarindustrie! Grosser Dank an Künast & Co. für den mutigen Kampf gegen den mächtigen Go- liath, dessen brave Helfer auf bequemen Stühlen in den Ämtern fest sitzen. Und ein Pfui! über die gesponserten schwarzen Landesfürsten, welche wichtige Verbrau- cherschutzgesetze blockieren. Hamburg Günther Schultze

Das deutsche Lebensmittelrecht war nach meiner Wahrnehmung das schärfste weit und breit. Daraus folgerte man, dass um- fangreiche und lückenlose Überwachung von Lebensmitteln an der Tagesordnung waren. Doch dann kamen die Skandale: BSE, Dioxin und MKS. Man kann getrost weitere, nicht an die Oberfläche gekom- mene permanente Vergiftungen der Be- völkerung unterstellen. Hervorgerufen durch eine lange gewachsene und durch Geldgier angetriebene Skrupellosigkeit der gesamten Erzeuger-, Verarbeiter- und Händlerfirmen. Dabei sollte man Tierärz- te und Kontrolleure nicht vergessen. Die Nichtbeseitigung dieser unglaublichen Zu- stände, des fein verästelten Kompetenz- THOMAS IMO / PHALANX THOMAS Schweinefütterung auf einem Bio-Bauernhof Schwaches grünes Licht wirrwarrs und des verbrecherischen Weg- sehens mit Vorteilsnahme nur der Ministe- rin Künast anzulasten ist zu einfach und bringt uns nicht weiter. Natürlich ruft nun jeder (Politiker) nach „brutalstmöglicher Aufklärung“ und Änderung. Man muss es nur konsequent tun und dabei nicht auf das Vergessen der Leute setzen. Dortmund Werner Wege

Stänkern bei jeder Gelegenheit Nr. 24/2002, Bildungsserie: Das Versagen der Eltern; Ganztagsschulen: Verwahranstalten oder Allheilmittel?

Es liegt an den Eltern, es liegt an den Leh- rern, es liegt an den Medien. Hanns Dieter Hüsch würde noch sagen „Es liegt an der Mosel, und es liegt am Rhein, nur an uns selber liegt es nicht!“ Die Parolen fliegen wie Brocken durch die Gegend. Was wir brauchen, aber wäre ein Erziehungskon- der spiegel 26/2002 13 Briefe

kleinen Menschen sieht man Türkei beschränkt sich im Wesentlichen auf das aber nicht so eng. Nach die politische und militärische Ebene. Kei- diesem Artikel kann ich nur neswegs steht die große Masse der türki- fürchten, dass aus vielen schen Bevölkerung dahinter, denn diese Kindern genauso gefühlsar- sympathisiert mit den Palästinensern. me und desinteressierte El- Frankfurt am Main Yusuf Yolcu tern werden, wie ihre eige- nen es leider sind. Als Gründer der Initiative „Neue Inländer Mannheim Esther Ullmann für Schröder“ bin ich bestürzt über den Verlauf der Diskussion, die mit dem bei- Von einem Versagen der El- nahe-Parteieintritt des Ex-Grünen Karsli tern insgesamt zu reden ist in die FDP begonnen hat. Die FDP wollte sicherlich nicht richtig. Es die Neuen Inländer instrumentalisieren. gibt wohl drei Gruppen: Bei meinen Veranstaltungen spüre ich, dass

MARTIN LANGER MARTIN Mehr Eltern als früher wis- gerade die türkischstämmigen Deutschen Mittagessen in einer Ganztagsschule: Fehlendes Konzept sen, dass die schulische Er- für ihre Interessen in den Parteien nach ei- ziehung für ihre Kinder sehr ner Plattform suchen. Die kann ihnen Möl- zept. Keine Verordnung, sondern eine wichtig ist, sie unterstützen die Schularbeit lemann nicht bieten, denn er ist nur auf Orientierungshilfe. Erziehungswissen- der Lehrer und arbeiten selbst vorbildlich Stimmen aus, nicht auf Partizipation. Sein schaftler mit theoretischer und praktischer mit. Eine große Anzahl der Eltern ist aller- Weltbild macht einen deutschen Juden zu- Kompetenz sollten sich mit Politikern auf dings völlig indifferent und wird nie in der erst zum Juden, und dessen Interessen – so höchster Ebene treffen. Kein Fachgebiet Schule gesichtet. Eine bedenklich steigen- unterstellt er – seien andere als die der kann es sich heute leisten, so konzeptions- de Zahl von Eltern muss man als Verwei- restlichen Bevölkerung. Mit dieser Sicht- los dahinzutreiben. gerer der Institution Schule einstufen. Es weise kann man Gruppeninteressen, die Mainz Theo Wollweber sind die unterschiedlichsten Spielverder- scheinbar von der „Norm“ abweichen, und ber, deren Sprachrohr oft ihre Kinder sind, neue Impulse durch „Neue Inländer“ nicht Sie beschreiben mit dieser Serie das Di- die bei jeder Gelegenheit gegen ihre Schu- in konstruktive Politik umsetzen. Ich weiß, lemma in seinem ganzen Ausmaß. Dum- le stänkern. Wann wird solches Verhal- dass die überwältigende Mehrzahl der tür- merweise fällt die Pisa-Debatte in hohe ten dieser Elternminderheit als verantwor- kischstämmigen Deutschen nicht verges- Wahlkampfzeiten, so dass blind darauf los tungslos und schädlich eingestuft? Damit sen hat, dass gerade der Zentralrat der Ju- reformiert wird auf der Basis kurzsichtiger wäre unseren Kindern schon viel geholfen. den und insbesondere Ignatz Bubis immer Vergleiche mit Siegerstaaten. Den erzie- Filderstadt (Bad.-Württ.) zu ihnen gestanden hat. Ich möchte nur hungsmüden Eltern wird die Übernahme Wolfgang Mütschele an Mölln erinnern. der erziehungsschwierigen Kinder ver- Groß-Gerau (Hessen) Ozan Ceyhun, MdEP sprochen. Leider werden die Eltern, die Ganztagsschulen gegen das Versagen der für ihre Kinder zur Verfügung stehen, mit Eltern! Eine scheinbare Wundermedizin, der jetzt an den Tag gelegten Förderwut die unsere Politiker da entdeckt haben, die vom Säuglingsalter an sehr unter Druck aber nur die Symptome lindert. Ein Bun- gesetzt, das Spiel mitzuspielen. Die Be- deskanzler, der Lehrer als „faule Säcke“ dürfnisse der Kinder bleiben dabei jedoch verunglimpft, und ein Vertreter der Leh- auf der Strecke. rerschaft, der Eltern als „chipsfressende Wildeshausen (Nieders.) Erika Butzmann Fernsehglotzer“ beschimpft, haben nicht begriffen, dass wir nur gemeinsam etwas Mit Ganztagsschulen vermittelt man den verändern können. Eltern, dass sie nun überhaupt keine Ver- Seilauf-Eichenberg Brigitte Dopple pflichtungen gegenüber ihren Kindern und der Schule mehr haben. Schon jetzt schrei- ben mir Eltern (1. Klasse, Grundschule), Nur auf Stimmen aus dass sie Hausaufgaben, bei denen eine in Nr. 24/2002, FDP: der Schule begonnene Aufgabe beendet Muslime lehnen Möllemanns Avancen ab werden soll, nicht akzeptieren, weil ich als Lehrerin dafür bezahlt werde und nicht Als Insider (Türke und Muslim) erhebe ich sie. Auch nicht berufstätige Eltern von sehr den Anspruch, zu wissen, wovon ich rede, leistungsschwachen und unkonzentrierten und möchte ein paar Dinge klarstellen. Sie Kindern ohne Deutschkenntnisse berufen schreiben: „Und ausgerechnet die mit wei- sich darauf, dass für die 1. Klasse nicht tem Abstand größte Gruppe unter den ein- mehr als 15 Minuten Hausaufgaben-Zeit gebürgerten Muslimen, die aus der Türkei

verpflichtend sind (Elternvereine infor- stammenden Deutschen, dürfte der Ruf des / PHALANX KOEHLER THOMAS mieren). In dieser Zeit können manche Polit-Muezzins Möllemann kaum erreichen. Musliminnen in Berlin Kinder nicht einmal ein Wort erlesen. Denn Israel und die Türkei haben ein gutes Impulse durch „Neue Inländer“ Friedrichsthal (Brandenbg.) Petra Matthies Verhältnis zueinander: Immer wieder empören sich arabische Staaten über ge- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Ich kenne ziemlich viele Menschen, die meinsame Militärmanöver der beiden Na- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. sich aus Zeitgründen keinen Hund an- tionen.“ Falsch, wenn Herr Möllemann Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] schaffen. Mir ist bis dato niemand begeg- Herrn Scharon wegen seiner Politik kriti- net, der sich aus Zeitgründen keine Kin- siert, wird das mit Sicherheit von einem In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befin- der anschafft. Daraus muss man wohl Großteil der türkischen Bevölkerung als det sich eine Beilage des S.I.M. Verlages, Wien, sowie schließen, dass das Tier nicht fremdbetreut positiv bewertet, denn das angesprochene die Verlegerbeilage SPIEGEL Verlag / kulturSPIEGEL, oder allein gelassen werden soll, bei den positive Verhältnis zwischen Israel und der Hamburg.

14 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland PAUL GLASER PAUL Attrappe des Berliner Stadtschlosses (1993)

HAUPTSTADT sieht im Wesentlichen die historische Rekonstruktion des ba- rocken Prachtbaus vor. Der Rückgriff auf den „historischen Stadtgrundriss“ und die „Stereometrie des ehemaligen Berli- Das Schloss kommt ner Schlosses“ ist unter den Parteien nicht mehr umstritten. Dies schließt eine komplett moderne Architektur aus, wie sie ie seit elf Jahren andauernde Debatte über einen Wieder- etwa der Architekt des neuen Kanzleramtes, Axel Schultes, vor- Daufbau des 1950 von der SED gesprengten Stadtschlosses schlug. Die Fassadenfrage stellt der Antrag in zwei Varianten in der Berliner Mitte nähert sich ihrem Ende. Die Bundestags- zur Debatte: „Alternative A“ empfiehlt die getreue „Wieder- fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und Grünen haben einen errichtung der barocken Fassaden der Nord-, West- und Süd- gemeinsamen Entschließungsantrag ausgearbeitet, den die zu- seite“ sowie des Schlüterhofs. Nur so, heißt es in der Vorlage, ständigen Ausschüsse vergangenen Freitag noch einmal disku- gelinge der „Brückenschlag“ zu den historischen Bauten der na- tierten. Das Papier, das am 3. Juli im Plenum Gegenstand ei- hen Museumsinsel und der Straße Unter den Linden. Auch las- ner offenen Abstimmung ohne Fraktionszwang werden soll, se die Rekonstruktion des historischen Urbilds eher eine „Mo- bilisierung privaten Kapitals“ erwarten, wie es etwa für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche gelang. „Alternati- ve B“ erwägt einen Architektenwettbewerb, der entsprechend den Empfehlungen der Expertenkommission „Historische Mit- te Berlin“ die Maße des Barockbaus voraussetzt, aber in die- sem Rahmen auch eine moderne Fassadengestaltung für mög- lich hält. Der Hamburger Kaufmann Wilhelm von Boddien, der 1993 eine spektakuläre Attrappe der historischen Fassade aus Polyesterplanen vor dem Palast der Republik installieren ließ und seitdem auch über einen Förderverein für die Rekon- struktion kämpft, rechnet mit einer Mehrheit für die „Alter- native A“. Abgelehnt wird die historische Lösung unter ande- AKG / ULLSTEIN BILDERDIENST / ULLSTEIN AKG JENS RÖTZSCH / OSTKREUZ JENS RÖTZSCH rem vom Berliner Kultursenator Thomas Flierl (PDS) – er hält Schlossbefürworter Boddien Schlossgegner Flierl sie nicht für „zukunftsgerichtet“.

EXTREMISMUS werden. Sicherheitsexperten fürchten, dass mit diesem Schritt die Aktivitäten Hisbollah plant Haupt- der Organisation in der Hauptstadt deut- lich zunehmen werden. Die proiranische quartier in Berlin Hisbollah, die ihre Zentrale in Beirut hat und im Libanon diverse Dependancen n Berlin will die militante Islamisten- unterhält, wird von den Sicherheits- IOrganisation Hisbollah ein bundeswei- behörden Israels für mehrere der dort in tes Schulungszentrum für ihre Anhänger diesem Jahr verübten Selbstmordan- aufbauen. Entsprechende Verhandlun- schläge verantwortlich gemacht. Die in gen über den Kauf einer geeigneten Im- Deutschland lebenden rund 800 Anhän- mobilie im Bezirk Neukölln sind bereits ger der Hisbollah beschränken sich bis- weit gediehen. Das geplante Hauptquar- lang auf gewaltfreie Veranstaltungen und

tier soll nicht nur Gebetsräume und eine Protestaktionen. PLAMBECK / HCP-FOTO Jugendbetreuung bieten, sondern zum Sitz der deutschen Hisbollah-Führung Demonstrierende Palästinenser (in Berlin)

der spiegel 26/2002 17 Panorama

BUNDESWEHR Fehlerhafte Unterlassung ine interne Untersuchung der EMarine belegt schwere Ver- säumnisse während der Rettungs- aktion für zwei Soldaten, die im März bei einem Manöverunfall in der Ostsee ertrunken sind. Der da- nach eingesetzte „Havarieaus- schuss“ kommt zu dem Ergebnis, der Kommandant der Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“ ha- be Vorschriften nicht beachtet und es „fehlerhaft unterlassen, unver-

züglich seinen einsatzbereiten Mo- / DPA INGO WAGNER torkutter als zusätzliches Rettungs- Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“ Ertrunkener Matrose S. mittel zu Wasser zu bringen, was nach den Umständen möglich, zumutbar und geboten war“. Ob schaft Oldenburg wegen „unterlassener Hilfeleistung“ ver- er damit einen „glücklicheren Ausgang“ erreicht hätte, lasse sich anlasst. Die hatte aber Ende vergangener Woche noch nicht allerdings „nicht nachweisen“. Eine deutsch-britische Kommis- einmal den im Mai verfassten Havariebericht erhalten. Ein sion hatte dagegen befunden, der Einsatz des Rettungsbootes Vermerk, den die Marine kürzlich an Staatssekretäre im Ver- hätte „zweifellos“ dazu beitragen können, das Leben der See- teidigungsressort schickte, enthält zudem keine Hinweise, dass leute zu retten. Die waren in das eiskalte Wasser gefallen, als etwa interne Disziplinarmaßnahmen ergriffen werden sollen. ein Beiboot kenterte, das sie von der britischen Fregatte „Cum- Vielmehr hält das Papier fest, die Seeleute hätten die Schwimm- berland“ zur „Mecklenburg-Vorpommern“ bringen sollte. Der westen „nicht ordnungsgemäß angelegt“ – und seien mithin Befehlshaber der Flotte, Vizeadmiral Lutz Feldt, hat zwar nach selber schuld. Dem widerspricht, dass eines der Opfer noch 20 offiziellen Angaben „erneut“ Ermittlungen der Staatsanwalt- Minuten nach dem Unfall „winkend“ gesichtet worden war.

AMOKLAUF FDP Doch ein Held Loch im Modell er Amoklauf am Erfurter ei der Erstellung ihres radikalen DGutenberg-Gymnasium BSteuermodells ist der FDP ein pein- vom 26. April, bei dem 17 licher Fehler unterlaufen. Die Liberalen Menschen starben, hat sich hatten vergangene Woche einen Plan offenbar so abgespielt, wie es vorgelegt, wie sich die Senkung der der Geschichtslehrer Rainer Steuersätze auf 15, 25 und 35 Prozent Heise dargestellt hat. Nach realisieren lasse. Durch Haushaltsein- dem vorläufigen Abschluss- sparungen und Gegenfinanzierungen bericht von Polizei und Jus- sollte sich gar ein Etatüberschuss erge- tiz, der am Dienstag dem ben. Allerdings hat sich die FDP dabei Thüringer Regierungskabinett um vier Milliarden Euro verrechnet. So vorgelegt wird, hat Heise den gehen die Liberalen davon aus, dass

Einzeltäter Robert Steinhäu- / DPA PILICK STEPHANIE eine Rückkehr zur alten 630-Mark-Job- ser im Zimmer 111 einge- Heise bei Erfurter Trauerfeier Regel Steuermehreinnahmen von 4,5 schlossen und den Schlüssel Milliarden Euro erbringe, denen Ein- einem Polizeibeamten übergeben. Ein zunächst als „Held von Erfurt“ gefeiert nahmeverluste von nur 358 Millionen weiterer Polizist wurde daraufhin vor und von Innenminister Otto Schily für Euro bei den Sozialversicherungen ge- der Tür postiert und hörte kurz darauf das Bundesverdienstkreuz ins Gespräch genüberstünden. Tatsächlich entsteht den letzten Schuss, mit dem sich der gebracht worden war, sah sich wenig bei den Sozialversicherungen durch die Amokläufer selbst richtete. Gerätselt später massiven Anfeindungen ausge- Rückkehr zum alten System, wie wird noch, warum auf der Tatwaffe, ei- setzt. Unter anderem hatte Erfurts Poli- Steuerexperten aus den Ländern nach- ner Pistole vom Typ Glock 17, keine Fin- zeichef an der Darstellung des Pädago- weisen, ein Loch von 4,29 Milliarden gerabdrücke entdeckt werden konnten. gen gezweifelt; die Schulleiterin des Gu- Euro. Der Fehler der Möchtegernrefor- Eine Untersuchung der Waffe auf Gen- tenberg-Gymnasiums erklärte, Heise hät- mer: Sie hatten vergessen, die monatli- spuren steht noch aus. Heise, der te auch „ein leiserer Held“ sein können. chen Ausfälle aufs Jahr hochzurechnen.

18 der spiegel 26/2002 Deutschland

ENERGIE aus „übergeordneten Gründen des Ge- meinwohls“ eine so genannte Minister- Forsche Ministerin erlaubnis für die Übernahme erteilt wer- den kann. Findet der Staatssekretär m Streit um die Übernahme von Ruhr- diese Gründe, kann er an Stelle des par- Igas durch E.on geht Verbraucher- teilosen Wirtschaftsministers Werner schutzministerin Renate Künast (Grüne) Müller, der sich als ehemaliger Manager auf Konfrontationskurs zum Wirtschafts- der E.on-Vorgängerfirma Veba für befan- ministerium. In einem Brief an Wirt- gen erklärt hat, seine Zustimmung ge- schaftsstaatssekretär Alfred Tacke ben. Für diesen Fall verlangt Künast schließt sie sich der Auffassung des Bun- strikte Auflagen, darunter eine Neuord- deskartellamts an, dass der Milliarden- nung der übrigen Beteiligungen des En- deal den Wettbewerb einschränken und ergiekonzerns. Außerdem will die Minis- zu höheren Gas- und Strompreisen terin günstigere Rahmenbedingungen für führen würde. Die Kartellbehörde hatte die Stromerzeugung aus Gas und bessere die Übernahme daher untersagt. Sozial- Zugangsmöglichkeiten von Konkurren- demokrat Tacke muss derzeit prüfen, ob ten ins Netz der Ruhrgas durchsetzen.

GESUNDHEIT Schwer verrechnet? ei ihrem Kampf gegen steigende BKosten droht der Gesundheits- ministerin Ulla Schmidt (SPD) eine weitere Schlappe. Um den Mitglieder- schwund bei den gesetzlichen Kassen zu

stoppen, will sie künftig nur noch Spit- PRESS / ACTION SABA zenverdienern mit mindestens 4500 Junge Versicherte Euro (bisher 3375 Euro) Monatsgehalt den Wechsel zu einer privaten Kran- ren Pflichtgrenze müssten die gesetzli- kenversicherung erlauben. Doch Exper- chen Krankenkassen deutlich mehr bei- ten bezweifeln, dass die Erhöhung der tragsfrei mitversicherte Kinder verkraf- Versicherungspflichtgrenze auch die ten – die dann am Wechseln gehinderte Finanzlage der gesetzlichen Kassen ver- Gruppe gründet gerade Familien. Oh- bessern würde. Nach einer Studie des nehin treibt allein die Ankündigung der Instituts der deutschen Wirtschaft in Ministerin jüngere Jahrgänge derzeit in Köln dürften die Krankenkassenbeiträ- Scharen zu den Privatversicherern: Der ge von derzeit durchschnittlich 14 Pro- größte Anbieter DKV verbuchte von Ja- zent des Bruttolohns bestenfalls um nuar bis April einen Zuwachs von acht 0,15 Prozentpunkte sinken. Im ungüns- Prozent bei Neuanträgen, bei der Bar- tigsten Fall sei sogar eine Mehrbelas- menia und bei Axa war das Plus zwei- tung möglich. Ein Grund: Bei der höhe- stellig.

BUNDESPRÄSIDENT Geheimtipp Vogel hüringens Ministerpräsident Bernhard TVogel (CDU) gilt im Falle des Sieges der Union bei der Bundestagswahl als aus- sichtsreicher Kandidat für die Nachfolge

MARC DARCHINGER MARC von Bundespräsident Johannes Rau. Der Vogel, Rau 69-jährige Kohl-Intimus, verbreiten CDU- Präsidiumsmitglieder, könnte bei der im Mai 2004 anstehenden Entscheidung von Erfurt in das Berliner Schloss Bellevue wechseln. Der Union käme die Personalie doppelt gelegen: Zum einen gilt der rhein- land-pfälzische Polit-Profi mit seinen engen Kontakten zu Edmund Stoiber bei allen Strömungen der CDU/CSU als wählbar. Zum anderen könnte Vogels Thüringer Kronprinz Dieter Althaus die Nachfolge als Ministerpräsident vor dem Ende der lau- fenden Legislaturperiode antreten – und so mit dem Amtsbonus in die Landtagswahl Ende 2004 gehen. Die Erfurter Staatskanzlei hält sich noch bedeckt. Derartige Plan- spiele, beteuert Regierungssprecher Uwe Spindeldreier, seien ihm „nicht bekannt“.

der spiegel 26/2002 19 Umfrage

Satter Verlust Joschka Fischer Angela Gerhard Merkel Schröder Edmund der FDP Lothar Stoiber Späth Dreizehn Wochen vor der Wolfgang Otto Hans Bundestagswahl blicken Schäuble Schily Eichel die meisten Deutschen düster in die wirtschaft- liche Zukunft des Landes. Nur 28 Prozent glauben, 78 dass sich der immer wieder beschworene Aufschwung in diesem Jahr einstellen wird. 69 Prozent rechnen nicht damit, so die aktuelle Juni-Umfrage von NFO-In- 66 65 fratest im Auftrag des SPIEGEL. Mit 51 be- 62 ziehungsweise 47 Prozent ist der Anteil 59 58 der Pessimisten selbst unter den Anhän- gern von SPD und Grünen ziemlich groß. 53 52 Da verwundert nicht, dass es um die Aussichten für Rot-Grün, am 22. Septem- ber von den Wählern doch noch einmal eine Amtszeit genehmigt zu bekommen, weiterhin schlecht bestellt ist. Mit 41 Pro- zent liegt die jetzige Regierungskoalition „Wichtige Rolle“ – wie schon im Mai – klar hinter Union häufiger gewünscht und FDP (49 Prozent). als in der Mai-Umfrage Kanzlerherausforderer Edmund Stoiber im Mai hat seine Anhänger vor allem unter den nicht auf Jungen. 54 Prozent der 18- bis 29-Jährigen +6 +4 der Liste sind mit der Arbeit des Kandidaten zufrie- den, über Regierungschef Schröder sagen „Dieser Politiker das nur 47 Prozent. Vergleichsweise unbe- ist mir unbekannt“ 124 5 7 liebt ist der Bayer in Ostdeutschland. Nur 33 Prozent sind hier mit Stoibers Arbeit zu- Veränderungen bis zu 3 Prozent liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen. frieden, Schröder benoten dagegen 51 Pro- zent der Ostdeutschen positiv. Sonntagsfrage Für Jubelstimmung im Oppositions- „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am lager ist es noch zu früh. Zwar erreichen nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ CDU/CSU und FDP auch im Juni eine Re- gierungsmehrheit, aber diese schrumpft auf magere zwei Prozentpunkte. Der Grund: 1999 2000 2001 2002 SPD und PDS legen im Vergleich zum Mai zu. Bei den Liberalen scheinen sich die Bundes- rechtspopulistischen Ausfälle des stellvertre- tagswahl 45% Umfrage tenden Parteichefs Jürgen Möllemann nicht September 1998 17. bis 20. auszuzahlen: Die FDP verliert gegenüber Juni 2002 dem Vormonat satte drei Prozentpunkte. 40,9 Sollte der Trend anhalten, bahnt sich im 40 % 40 Herbst womöglich eine Große Koalition an. Die könnte dann gleich die Kompeten- zen in der Schulpolitik neu ordnen. Ge- schockt durch die schlechten Pisa-Ergeb- 35,1 35% 35 nisse fordern 59 Prozent der Deutschen, dass sich die Bundesregierung künftig stär- ker in die Bildungspolitik einmischen soll. Nur 35 Prozent möchten diese Aufgabe – 30% wie bisher – bei den Bundesländern be- lassen. Im Januar und März dieses Jahres 10% setzten immerhin noch 41 Prozent auf die 6,7 Länder. Besonders zahlreich sind die An- 9 6,2 hänger einer zentral gesteuerten Bil- 6 dungspolitik unter den Ostdeutschen. 5,1 76 Prozent fordern für den Bund mehr 5% 6 Einfluss auf die Schulen. Karen Andresen NFO Infratest; bis August 2001 Infratest dimap für ARD/„Bericht aus Berlin“

20 der spiegel 26/2002 Merkel vor dem Kanzler Infratest nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern. Der Anteil der Befragten, die es gern sähen, wenn der jeweilige Politiker künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und die Veränderungen zur letzten Infratest-Umfrage im Mai 2002.

Guido Renate Heide Westerwelle Wolfgang Alle Angaben in Prozent Künast Simonis Thierse

Franz Müntefering Friedrich Merz Walter Riester Roland Koch Jürgen Werner Möllemann Müller Rudolf Ulla Scharping Schmidt

50 49 49 46

36 34 „Wichtige Rolle“ 31 seltener gewünscht als in der Mai-Umfrage 26 26 24 im Mai im Mai 20 20 nicht auf nicht auf –4 der Liste –4 der Liste –5 –4

7 18 124 124 17 9 244 45 38

NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 17. bis 20. Juni 2002; rund 1000 Befragte Zuspruch für die Union Wenig Hoffnung „Sind Sie zufrieden „Wie beurteilen Sie die wirtschaft- mit der politischen Arbeit ... liche Lage in Deutschland? Glauben Sie, dass es noch in diesem 55 Jahr einen Aufschwung geben wird?“ ... von Kanzler Gerhard Schröder?“ 53 53 51 Deutschland 50 50 50 Ja West Ost 28% Ja 30 20 45 Nein ... des CSU- Vorsitzenden 43 69% Nein 67 78 42 Edmund Stoiber?“ 42 An 100 fehlende Prozent: 40 „weiß nicht“/keine Angabe 38 Gut bei Kasse 36 37 35 ... der CDU/CSU-Opposition?“ „Wie zufrieden sind Sie mit 34 Ihrer eigenen finanziellen Lage?“ 32 31 30 30 Unzufrieden Deutschland 29 29 West Ost 28 29 32% ... der Bundes- Zufrieden 71 57 25 Zufrieden regierung?“ 24 68% Unzufrieden 29 43 Januar Februar März April Mai Juni

der spiegel 26/2002 21 BERLIN PRESS / ACTION PRESS Demonstration vor dem Kanzleramt: Noch bevor der Plan bekannt war, meldeten sich die üblichen Blockierer Zuckerbrot und Peitsche Vor durchgreifenden Reformen am Arbeitsmarkt schreckte Kanzler Gerhard Schröder bisher zurück. Jetzt hat er eine letzte Chance: Eine von ihm eingesetzte Kommission hat ein unorthodoxes Konzept ausgearbeitet – es soll die Arbeitslosigkeit binnen drei Jahren halbieren. o ein Blödsinn! Da steht die Kan- hat. Vermutlich braucht er sie auch nicht, 40 Mrd. 3,95 Mio. didatin neben Thomas Gottschalk denn schon jetzt steht fest, dass es Hartz Euro Arbeitslose auf der Bühne und lässt sich vor gelingen wird, das Problem der vier Mil- S Ausgaben einem Millionenpublikum von einem Bag- lionen Arbeitslosen auch ohne eigene für Arbeits- ger entkleiden. So eine Ressourcenver- Show ins Zentrum der öffentlichen Auf- losengeld schwendung! merksamkeit zu katapultieren. und Arbeits- Peter Hartz wüsste, wie er „Wetten, Die Möglichkeit dazu hat ihm Gerhard losenhilfe dass …?“ optimieren könnte – und Deutsch- Schröder eröffnet. Nach dem Skandal um ohne Kosten land gleich mit. „Wetten“, würde der Per- die getürkten Vermittlungszahlen der für Arbeits- sonalvorstand von VW wetten, „dass wir Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit marktpolitik in drei Jahren zwei Millionen Arbeitslose machte der Kanzler den unorthodoxen Au- weniger haben?“ Und dann würden die tomanager zum Vorsitzenden einer Kom- besten Ideen für mehr Beschäftigung prä- mission, die ein umfassendes Reformkon- miiert – Woche für Woche in einer Fami- zept für den Arbeitsmarkt vorlegen soll. liensendung zur besten Sendezeit. Spiele- Eine Kommission? Wer nichts bewegen risch könnte das drängendste Problem der will – das wissen die Berliner Polit-Profis in durch- Republik gelöst werden. Selbst auf die Regierung und Opposition nur zu gut – schnittliche Gefahr hin, aus der Sendung einen Quo- setzt erst einmal eine Kommission ein. Dort Dauer der 33 Arbeitslosigkeit tenkiller zu machen. werden dann Monat für Monat Berge von Wochen Der Volkswagen-Mann aus Wolfsburg Papier produziert, unendlich viel geredet, 2001 ahnt, dass er bei Gottschalk keine Chance noch mehr gestritten, und am Ende pas-

22 der spiegel 26/2002 2000 Mai 2002 Titel

siert – nichts. Ein Schicksal, das des Kanz- Für den Kanzler könnten die Pläne zur angeblich sein wichtigstes Projekt, dege- lers Lieblingsgremium, das Bündnis für entscheidenden Weggabelung im Wahl- nerierte zur Stillstandsübung, während sein Arbeit, schon vor Jahren ereilt hat. kampf werden: Findet das Konzept ein überforderter Arbeitsminister die Wirt- Gut möglich, dass Ähnliches der Hartz- wohlwollendes Echo, wird es der orientie- schaft mit immer neuen Bürokratenrege- Kommission erspart bleibt. Am Freitag dis- rungslosen Schröder-Kampagne neuen lungen drangsalierte – mochten sie auch kutierten die 15 Mitglieder – nur unter- Schwung verleihen – als Ausweis der eige- noch so gut gemeint sein. Entsprechend brochen durch das WM-Viertelfinalspiel nen Reformfähigkeit, als Waffe gegen die düster fällt Schröders Bilanz aus. In der Deutschland gegen die USA – zehn Stun- Schlusslicht-Tiraden Edmund Stoibers, als Beschäftigungspolitik ist Deutschland mitt- den lang die Grundzüge eines Reform- Antwort auf den CDU-Wirtschaftsmann lerweile unter allen Industrienationen auf pakets, das es in sich hat. Von kleinstem Lothar Späth. einen der letzten Plätze zurückgefallen – gemeinsamem Nenner keine Spur. Am Abbau der Arbeitslosigkeit wolle er international verspottet als Musterbeispiel Die Kommission plant nicht weniger als sich „messen lassen“, hatte Schröder bei für Bürokratie und Ineffizienz: mit die ein umfassendes Gesamtkonzept, mit dem Amtsantritt verkündet, doch seitdem wenig höchsten Ausgaben für Arbeitsverwaltung sich die Arbeitslosigkeit innerhalb nur ei- bewegt. Sein nicht eingehaltenes Verspre- und Beschäftigungspolitik, die wenigsten ner Legislaturperiode weitgehend abbauen chen, bis zum Ende der Legislaturperiode neuen Jobs, die meisten Dauerarbeitslosen. ließe. Werden die Vorschläge umgesetzt, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen In dieser Situation sind die Vorschläge verspricht Hartz, wird es in drei Jahren zu senken, ist mittlerweile seine schwerste des Managers Schröders letzte Chance, nur noch zwei Millionen Arbeitslose ge- Hypothek. sich kurz vor den Wahlen doch noch als ben – „vorsichtig kalkuliert“, sagt der Re- Vor den lange überfälligen Reformen am Arbeitsmarktreformer zu präsentieren. former selbstbewusst. Arbeitsmarkt ist Schröder immer wieder Doch keine Chance ohne Risiko. Scheitert Auf 30 streng vertraulichen Seiten ist zu- zurückgeschreckt. Das Bündnis für Arbeit, das Konzept – wie so oft – am Widerstand sammengefasst, wie sich Hartz den wohl tiefgreifendsten Umbau der Arbeitsmarkt- Reformer Hartz: „Sorgen muss sich niemand machen“ politik vorstellt, der in Deutschland je ge- wagt wurde: • ein großer Teil der Arbeitslosen soll in Zukunft praktisch zu Angestellten der Arbeitsämter werden, die ihnen dann – wie eine Leiharbeitsfirma – Jobs auf Zeit verschaffen, • mit einem raffinierten System aus Be- lohnung und Strafe sollen Arbeitslose, Unternehmer und Behörden dabei hel- fen, freie Stellen sehr viel schneller zu besetzen als heute, • die Auflagen für Selbständige sollen drastisch reduziert werden, zunächst nur für Arbeitslose, später dann womöglich für alle. Schwarzarbeit – so die Idee – würde sich weniger lohnen. Das Eckpunktepapier hat das Zeug, zum beherrschenden Wahlkampfthema der nächsten Wochen zu werden. „Ein echter Hammer“, urteilt ein Kommissionsmit- glied, denn so viel Reform sind die Deut-

schen nicht gewöhnt. NOVUM

Halbierung möglich? Modellrechnung der Hartz-Kommission MÖGLICHE VERMITTLUNGEN VORGESCHLAGENE MASSNAHMEN

Flächendeckender Aufbau von Personal-Service-Agenturen mit Integration 780000 schwer Vermittelbarer und Ausbau von Zeitarbeit

500000 Neue Beschäftigungsmodelle und Abbau von Schwarzarbeit 1,99 Mio. Arbeitslose

450000 Beschleunigung der Vermittlung und neue Definition von Zumutbarkeit 13,2 Mrd. Euro 230000 JobCenter mit Rundumbetreuung und Abbau von „Verschiebebahnhöfen“ 22 durchschnittliche Dauer Wochen der Arbeitslosigkeit

Ziel Ende 2005 Titel MICHAEL KAPPELER / DDP MICHAEL KAPPELER Konsens-Politiker Schröder*: Des Kanzlers wichtigstes Projekt entartete zur Stillstandsübung 4,4 der sozialdemokratischen Bedenkenträger, weniger als ein „politisches Kunststück“ ist Schröders Wiederwahl gefährdeter als vollbracht, lobt sich Hartz: Die Unterneh- jetzt schon. Der Kanzler kennt die Gefahr: 3,9 men können ihr Personal künftig flexibel Wieder einmal hätte sich die SPD als hand- 3,7 heuern und feuern – dennoch bleiben die lungsunfähige Truppe entlarvt, die stets Beschäftigten vor Entlassungen geschützt; nur so viel Reform wagt, wie der jeweilige Arbeitslose sollen härter gefordert werden IG-Metall-Boss gerade zulässt. – obwohl die gesetzlichen Sanktionsregeln Und die Pläne enthalten durchaus Reiz- die alten bleiben; die Zahl der Vermittler begriffe, die für die Große Koalition der wird erhöht – ohne dass die Arbeitsämter Sozialpolitiker in Union und SPD der ge- mehr Personal benötigen. „Wir suchen lebte Alptraum sind: Leistungen sollen nach einem tragfähigen Kompromiss“, ver- gekürzt, der Arbeitsmarkt flexibilisiert, die spricht Hartz, der „politisch zumutbar“ ist. Zumutbarkeit verschärft werden. Die Kommission besteht aus einem Ein Programm der sozialen Kälte? Hartz hochkarätigen Expertenteam: Personal- kontert präventiv und erklärt, man 2,3 vorstände großer Unternehmen ebenso habe bewusst die heiligen Kühe der wie Gewerkschafter, Verbandsmanager diversen Mitspieler am Arbeitsmarkt und Unternehmensberater. Wochenlang nicht angetastet (siehe Seite 36): so- tagten die Fachleute in kleinen Gruppen ziale Mindeststandards, Kündi- unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wälz- gungsschutz, Tarifbindung, beson- ten armdicke Gutachten-Sammlungen, dere Leistungen für Familienväter 1,9 ließen Forscher weltweit nach Reformvor- und Alleinerziehende. bildern fahnden, produzierten – in diesem Mit der feinen Balance zwi- Punkt auch nicht anders als andere Kom- schen den verschiedenen Inter- Arbeitslose missionen – Hunderte Seiten Papier. essengruppen habe man nicht Jahresdurchschnitt in Millionen Die fünf Arbeitsgruppen erarbeiteten ab 1991 Gesamtdeutschland schließlich eigene Vorlagen, aus denen ers- * Mit DGB-Chef Dieter Schulte te Einzelergebnisse bereits in den vergan- und Arbeitgeberpräsident Dieter 0,9 Hundt beim Treffen zum Bündnis Quelle: BA Mai genen Tagen an die Öffentlichkeit sicker- für Arbeit am 25. Januar in Berlin. 1980 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 2002 ten. Doch die Übersicht über das gesamte

24 der spiegel 26/2002 Razzia gegen Schwarzarbeit Hartz will das Konzept zum Herzstück Zehn Prozent pauschal seines Umbauprojekts machen. Die träge und überforderte Arbeitsverwaltung soll wie „familienfreundlicher sich zu einem guten Teil selbst in eine fixe Quick-Vermittlung“, der und flexible Zeitarbeitsfirma verwandeln. „Ich AG“ oder dem Schlag- Die Idee ist so einfach wie umwälzend. wort „kein Nachschub für Jedem der 181 Arbeitsämter der Republik Nürnberg“. soll in Zukunft eine so genannte Personal- Doch der Entwurf be- Service-Agentur angegliedert werden, die gnügt sich keineswegs mit entweder vom Arbeitsamt betrieben wird neudeutscher Begrifflich- oder aber von einer privaten Firma. Diese keit. Geht es nach Hartz, Beschäftigungsbüros verleihen nicht nur Ar- steht der deutschen Ar- beitskräfte, sie vermitteln auch Trainings- beitslosenindustrie nichts und Weiterbildungsmaßnahmen, führen Be- weniger als eine Revolution werbungsgespräche, entwerfen Sozialpläne. bevor: Ihr Personal bekommen diese Agentu- • Die Arbeitsämter, die bis- ren vom Arbeitsamt – manchmal mit her die Erwerbslosig- behördlichem Druck. Nach spätestens keit mehr verwaltet als sechs Monaten ohne Job kann das Amt bekämpft haben, werden künftig jeden seiner Kunden in eine der nach modernen Ma- Agenturen schicken – sonst riskiert er, dass nagementmethoden zu ihm das Arbeitslosengeld gekürzt wird. Beschäftigungsagenturen Doch damit nicht genug: Um ihrer Kli- umgebaut, die mit erfolg- entel bessere Chancen auf dem Arbeits- reicher Stellenvermitt- markt zu verschaffen, können die Job- lung sogar Geld verdie- Büros die Verleihbedingungen variieren. nen und womöglich spä- Wer jung, gut ausgebildet und erst kurze ter an die Börse gehen Zeit arbeitslos ist, wird zum üblichen Lohn könnten. vermittelt. Wer keinen Berufsabschluss • Unternehmen profitieren, oder gesundheitliche Handicaps hat, den wenn sie ihre Stellen den können die Agenturen kostenlos auf Pro- Arbeitsämtern melden. be verleihen – oder ihn zunächst zur Wei- • Das Bündnis für Arbeit terbildung schicken. wird zu einer „Projekt- Das Verfahren hat Vorteile für alle Be- koalition“ weiterent- teiligten: Die Arbeitslosen haben wieder wickelt: Arbeitgeber und eine sozial abgesicherte Beschäftigung und Gewerkschafter, Kom- dürfen auf einen regulären Festjob in einer munalpolitiker und Kir- ihrer Einsatzfirmen hoffen. Die Unterneh- chenvertreter sollen das men können ihren Personalbestand schnell richtige gesellschaftliche und flexibel dem Markt anpassen, die Ar- Klima für die geplan- beitsämter ihren Schützlingen ein pass- te Vermittlungsoffensive genau zugeschnittenes Vermittlungskon-

JOCHEN GUENTHER schaffen. zept anbieten. Schwarzarbeit 322,3 329,8 Im Zentrum des ehrgeizi- Doch das allein reicht Hartz nicht aus: gen Plans steht eine Be- Geht es nach ihm, werden die gesetzlichen in Deutschland 241,1 schäftigungsform, die in vie- Regelungen für den Leiharbeitsmarkt kom- in Milliarden Euro len Nachbarländern wahre plett überarbeitet. Ohne Tabus und ohne Jobwunder ausgelöst hat: die ideologische Scheuklappen. Der Vorschlag Quelle: Zeitarbeit. Das Konzept ist ist so heikel, dass sich Hartz sicherheits- Hartz-Kommission: 147,9 IAW Tübingen/Capital bereits seit Jahrzehnten be- halber die Forderungen beider Tarifpar- kannt. Die Arbeitnehmer teien zu eigen macht. 102,3 80,2 sind bei Verleihfirmen fest So will er einerseits die staatlichen angestellt und werden für Vorschriften für Zeitarbeitsverhältnisse 29,6 begrenzte Zeit ausgeliehen. lockern – das freut die Arbeitgeber. Anders Ist der vereinbarte Einsatz als heute aber sollen Leihjobs künftig samt 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2001 zu Ende, wechseln sie wie- und sonders tariflich abgesichert werden – der zurück zu ihrem Zeit- das freut die Gewerkschaften. Projekt und das Zusammenspiel der Ein- arbeitsbetrieb. Die Vorteile liegen auf der Wird das Konzept tatsächlich wie ge- zelteile hatte nur einer: Hartz selbst. Hand: Die entleihenden Firmen müssen die plant umgesetzt, würde der Arbeitsmarkt In der vergangenen Woche kondensier- Mitarbeiter nur so lange beschäftigen, wie mächtig aufgemischt. In nur drei Jahren ten er und seine Mitarbeiter in Wolfsburg sie tatsächlich gebraucht werden, doch könnte sich die Zahl der Leihjobs mehr als aus den etlichen Aktenordnern schließlich gleichzeitig sind die Arbeitnehmer regulär verdoppeln, rechnet Hartz. Gleichzeitig eine erste Zusammenfassung des zukünf- beschäftigt. würde die Zahl der Arbeitslosen um tigen Konzepts. Langsam setzt sich das Modell auch in 780000 sinken (siehe Grafik Seite 23). Hartz war es, der immer wieder darauf Deutschland durch. Zu langsam. In den Viele Politiker hätten mit solchen Erfol- achtete, dass sämtliche Reizvokabeln ab- Niederlanden sind immerhin mehr als drei gen Stoff für gleich mehrere Legislatur- gemildert wurden – niemand sollte unnötig Prozent aller Beschäftigten bei Verleih- perioden. Hartz denkt anders. Der Per- verschreckt werden. Und so strotzt der firmen angestellt, in Deutschland sind es sonalexperte weiß, dass es in der Bundes- Entwurf vor hübschen Marketingnamen gerade einmal 0,7 Prozent. republik genügend Potenzial gibt, um die

der spiegel 26/2002 25 Titel

Beschäftigten, die Fabriken aber müs- sen mindestens fünf Tage laufen, da- mit die teuren Anlagen ausreichend „Machen Sie etwas anderes“ genutzt werden. Die Mitarbeiter von Hartz mussten über 100 Schichtmodel- Als Personalvorstand im VW-Konzern fiel Peter Hartz durch le entwickeln, um dies zu gewähr- unkonventionelle Ideen auf. leisten. Hartz genoss derweil das Schein- s gibt Arbeitstage, die könnten Bei VW entwarf er die Viertagewo- werferlicht. Die Nation debattierte, ob für die Mitarbeiter von VW- che. Der erste Teil der Idee stammt aus die Viertagewoche auch ein Modell für EVorstand Peter Hartz schreck- dem Standardrepertoire der Gewerk- Deutschland sei. Sie blieb dann doch licher nicht anfangen. Wenn sie sich schaft. Wenn die Arbeit nicht mehr für ein Wolfsburger Sonderfall. Vor allem, morgens auf dem Flur begegnen, warnt alle reicht, muss die Arbeitszeit jedes weil für die Beschäftigten anderer Un- einer den anderen: „Oh Gott, der Chef Einzelnen verkürzt werden. Der zwei- ternehmen, die deutlich weniger ver- hat schon wieder eine dienen, Lohneinbußen Idee.“ von 20 Prozent schwer Für den Stab des VW- zu verkraften wären. Managers bedeutet das: Im vergangenen Jahr In der nächsten Zeit gibt stand Hartz bei VW vor es wieder 12- bis 14- seiner zweiten großen Stunden-Tage. Dann Herausforderung. Eine müssen seine Mitarbei- neue Golf-Variante sollte ter die vertrackte Detail- in Wolfsburg gebaut arbeit leisten, um aus werden, doch die Kosten der großen Idee ein wären, verglichen mit handliches Konzept zu ausländischen Stand- entwickeln, das sich rea- orten, zu hoch. Hartz lisieren lässt. wollte dafür eine neue Im Oktober 1993 war Firma gründen, bei der es zum ersten Mal so andere Arbeitsbedin- weit. Hartz hatte den gungen gelten: 5000 neu neuen Posten als Perso- Eingestellte sollen für nalvorstand gerade an- 5000 Mark im Monat so getreten, als VW-Chef lange arbeiten, bis die Ferdinand Piëch ihm of- geplante Stückzahl er- fenbarte, dass der Kon- reicht ist. zern 30000 Mitarbeiter Bei der Auseinander- zu viel an Bord habe. setzung mit der IG Me- Hartz sagte, dass er tall holte sich Hartz ei- nicht der richtige Mann nige blaue Flecken. Er

für Massenentlassungen / DPA HOLLEMANN HOLGER musste deutliche Zuge- sei, „ich müsste in VW-Manager Piëch, Hartz: „Ich müsste ganze Stadtviertel entlassen“ ständnisse machen, um Wolfsburg ganze Stadt- das Projekt noch durch- viertel entlassen“. Piëch forderte: te Teil entspringt wirtschaftlicher Logik. zusetzen. Auf der Feier zu seinem „Dann machen Sie etwas anderes, Wenn die Kosten sinken sollen, müssen 60. Geburtstag versprach Hartz seinen wenn Ihnen etwas anderes einfällt.“ die Beschäftigten für weniger Arbeit Mitarbeitern dann: „Das war die letzte Erfahrung im sozialverträglichen Ab- auch weniger Geld akzeptieren. Idee, mit der ich euch quäle.“ bau von Arbeitsplätzen hatte Hartz zur Das Interessante an dem Konzept: Doch dann kam der Auftrag vom Genüge. Der Sohn eines Hüttenarbei- Die Personalkosten sanken sofort um Kanzler, eine Reform des Arbeits- ters hatte nach Lehre, Abendgymna- rund zwei Milliarden Mark. Bei Mas- marktes auszuarbeiten. Hartz konnte sium und Studium in der Stahlindustrie senentlassungen dagegen hätte VW nicht Nein sagen, und für seine Mitar- des Saarlands gearbeitet, als Arbeits- zunächst Milliarden für Sozialpläne beiter begann ein besonderer Arbeits- direktor bei den Dillinger Hüttenwer- ausgeben müssen. Das Komplizierte an rhythmus: Die Sechstagewoche. ken und der Saarstahl AG. der Viertagewoche: Sie gilt für die Dietmar Hawranek

Arbeitslosigkeit noch sehr viel stärker zu Stellen für schlechte Zahlen: bei den Ver- werden: mehr gemeldete Stellen, weniger senken. Man muss nur wollen. mittlungsergebnissen, bei den Ausgaben Kündigungen und gleichzeitig stärkerer Beispiel Vermittlung. Noch immer brau- und bei der Arbeitslosenzahl. Jede Woche Druck, einen angebotenen Job auch anzu- chen deutsche Arbeitsämter im Schnitt Arbeitslosigkeit lässt die Statistik um mehr nehmen: 33 Wochen, bis sie einem Stempelgänger als 40000 Fälle anschwellen. • Beschäftigte müssen sich künftig so- einen neuen Job verschafft haben. Ein auf- Kein Wunder, dass Hartz alle Beteiligten fort arbeitslos melden, wenn sie gekün- reizend langsames Tempo, denn in anderen zur Eile drängen will. Unternehmer und digt wurden. Wer die Frist versäumt, Ländern dauert es oft nur halb so lange, bis Beschäftigte, Arbeitslose und Vermitt- erhält entsprechend später Arbeitslo- eine Stelle gefunden ist. ler sollen mit einem ganzen Arsenal von sengeld. Dafür dürfen Gekündigte Die Zeitverschwendung sorgt in der Anreizen und Instrumenten auf die Tem- während der Arbeitszeit auf Stellensu- deutschen Jobbilanz gleich an mehreren poziele des Managers eingeschworen che gehen.

26 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite Titel

• Betrieben, die im Rahmen ihrer Mög- • Das Arbeitslosengeld wird künftig wäh- Alle arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher lichkeiten Entlassungen vermeiden, wird rend der ersten sechs Monate in drei erhalten anders als heute Anspruch auf ein Nachlass auf ihren Beitrag zur leicht zu errechnenden Pauschalbeträ- Hilfe vom Arbeitsamt. Arbeitslosenversicherung gewährt. gen ausgezahlt, die wie bisher in etwa Um die Vermittlung zu beschleunigen, • Die Zumutbarkeitsregeln werden ver- die Einkommensposition während der sucht Hartz mit seinem Konzept erneut schärft. Junge Singles müssen bundes- Erwerbstätigkeit widerspiegeln. Danach nach dem gerechten Ausgleich: Einschnitte weit umziehen oder geringere Verdiens- wird es berechnet wie bisher, mit Hilfe und Flexibilität auf der einen Seite, soziale te akzeptieren, wenn ihnen eine neue eines modernen Chipkartensystems. Rücksicht auf der anderen. Kein Kahlschlag, Stelle winkt. Für Alleinerziehende, Fa- • Wer nach längerer Zeit noch immer kein Sozialraub, keine Abrissbirne. Nie- milienväter oder Ältere gibt es dagegen ohne Job ist, muss sich mit einem Sozial- mand soll unnötig auf die Barrikaden ge- nur dann Abstriche, wenn ihnen das so- geld begnügen, das in etwa der heutigen trieben werden. So sollen nicht nur arbeits- zial zugemutet werden kann. Sozialhilfe entspricht. Wann die Kür- scheue Drückeberger härter rangenommen • Die Beweislast wird umgekehrt. Heute zung einsetzt, wird in der Kommission werden, sondern auch Unternehmer, die müssen die Arbeitsämter nachweisen, noch diskutiert, vor allem mit Rücksicht lieber einen Beschäftigten zu viel als einen dass ein Job zumutbar ist. Künftig ha- auf die schwierige Arbeitsmarktlage in zu wenig entlassen. Für die Älteren wird ben die Jobsuchenden zu belegen, war- den neuen Ländern. der soziale Schutz sogar noch ausgebaut. um sie eine Stelle nicht antreten • Arbeits- und Sozialämter werden zu so Das unsinnige Versteckspiel zwischen können. genannten JobCentern zusammengelegt. älteren Arbeitslosen und den Behörden soll Empfangspersonal statt Panzerglas Das Arbeitsamt als effizienter Dienstleister? Im Ausland gibt es dafür beispielhafte Modelle.

ehn Minuten. Keine Sekunde län- markt und Beschäftigung“ der Bertels- zialämter zusammengelegt. Die neu ge- ger sollen die Besucher in den mann Stiftung. schaffenen „Jobcentre Plus“ werden zu ZWartezimmern der britischen Ar- In den vergangenen Wochen waren zentralen Anlaufstellen für alle Bürger, beitsämter ausharren, bis sie an der Frick und seine Kollegen im Auftrag der die Hilfe und Arbeit suchen, und für alle Reihe sind. So lautet die klare Vorgabe Hartz-Kommission europaweit in Behör- Arbeitgeber, die freie Stellen anbieten. der Arbeitsverwaltung. Genauso exakt den und Ministerien unterwegs. Sie ha- In den Jobcentern werden die Besu- hat die Behörde die Frist bemessen, bis ben recherchiert, wie die Arbeitsver- cher von einem „Floor Walker“ emp- jemand im Amt ans Telefon gegangen waltung in 14 Ländern funktioniert – und fangen und zu den Beratern begleitet. sein muss: höchstens 20 Sekunden. was sich Deutschland abschauen kann. Nichts ist mehr zu spüren von der Tris- Regelmäßig überprüfen unabhängige Vor allem das britische und das nie- tesse, als noch Panzerglas die Klienten Institute, ob die Mitarbeiter in den Job- derländische Modell hat es ihnen angetan. auf Distanz hielt. centern die strikten Standards einhalten. „Dort hat man bereits damit angefangen“, „One-Stop-Center“ nennt sich dieses Sogar „Mystery Shopper“ werden los- so Frick, „was uns noch bevorsteht.“ Rundum-Konzept, das neben den Bri- geschickt, die sich als Arbeitslose aus- Vor drei Monaten hat die Regierung ten inzwischen auch die Niederländer geben und undercover den Service in des britischen Premierministers Tony verfolgen. Die Nachbarn fassen derzeit den Ämtern testen. „Phantastisch, diese Blair begonnen, große Teile der Verwal- sämtliche Arbeits- und Sozialbehörden Kundenorientierung“, schwärmt Frank tung grundlegend umzubauen. Nach und zusammen zu Zentren für Arbeit und Frick, Leiter der Abteilung „Arbeits- nach werden sämtliche Arbeits- und So- Einkommen, so genannten CWI (Cen- trum voor Werk en Inkomen). Premierminister Blair (l.)*: 20 Sekunden Antwortfrist am Telefon Dort gehen die Berater nach einem festen Muster vor: Erst ermitteln sie im etwa 40-minütigen Gespräch, wie sie ihren Kunden am besten wieder in den Arbeitsmarkt integrieren können. Dann stellen sie fest, ob Ansprüche auf Sozi- alleistungen bestehen. Schließlich wird geprüft, ob Qualifizierungen nötig sind. Mit der Vermittlung von Arbeitsplät- zen haben die öffentlichen Berater nichts mehr zu tun: Diese Aufgabe liegt in den Niederlanden ganz in der Hand privater Anbieter. Sie müssen sich bei den Ge- meinden um Aufträge bewerben. Stel- lenvermittlung wird damit zur Dienst- leistung, die sich die Behörde einkauft. Nicht weniger als 131 CWI sind über

MICHAEL STEPHENS / PA / DPA / PA MICHAEL STEPHENS das ganze Land verteilt. Wie vorteilhaft

* Mit Arbeitsminister Andrew Smith beim Besuch eines „Jobcentre Plus“ in Streatham am 10. Juni. der Vergangenheit angehören. Alle wissen: Die Chance von Senioren, einen Job zu finden, sind in vielen Berufen gleich null – demografische Entwicklung hin oder her. Viele wollen auch gar nicht mehr arbeiten, fühlen sich längst als Frührentner. Die deutsche Misere • Hohe Belastung der Arbeitsplätze mit Steuern und Abgaben • Wenig niedrig entlohnte Dienstleistungs- jobs • Hoher Anteil an Langzeitarbeitslosen • Übermäßige Regulierung und Bürokratie auf dem Arbeitsmarkt • Schwerfällige Arbeitsverwaltung

ein solch dezentraler Aufbau der Ar- beitsverwaltung ist, wissen auch die Dä- nen zu schätzen. Regelmäßig treffen sich in den einzelnen Regionen die Arbeits- markträte – Unternehmer, Gewerkschaf- ter und Kommunalvertreter – und be- stimmen über Pläne zur Umschulung oder Qualifizierung. Schließlich wissen sie am besten, welche Kräfte vor Ort ge- braucht werden und wo freie Stellen sind. Das Ergebnis: Dänemark gehört zu den

wenigen Ländern Europas, in denen die / DPA CLAUS FELIX Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jah- Bundesanstaltschef Gerster: Kein Nachschub für Nürnberg ren halbiert wurde – und zugleich die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen ist. Bisher müssen sie so tun als ob: Als ob Mit diesem täglichen Schauspiel muss Diese Erfolgskombination kann auch sie wirklich einen Job suchen, wenn sie endlich Schluss sein, fordert Hartz, der ge- die Schweiz vorweisen. Was in der eid- sich bei ihren Vermittlern melden, zu Vor- setzlich anerkennen will, was ohnehin genössischen Arbeitsverwaltung beson- stellungsgesprächen erscheinen, Bewerber- längst Praxis ist. Über 55-Jährige dürfen ders auffällt, ist die penible Art, wie die trainings absolvieren. Selbst wenn Perso- künftig bis zur Rente mit einem reduzier- Schweizer überprüfen, ob sie die Ziele nalchefs und Dozenten die Köpfe schüt- ten Arbeitslosengeld zu Hause bleiben und ihrer Arbeitsmarktpolitik erreicht haben. teln. Selbst wenn die Frührentner geistig sich nebenbei mehr als heute dazu verdie- Mit Hilfe komplizierter Rechnungen längst im Gartenhäuschen sitzen. Den nen. Wer nicht mehr arbeiten will, wird versuchen sie in Zahlen auszudrücken, Schein wahren müssen sie dennoch. Sonst vom Arbeitsamt in Ruhe gelassen. welcher Kanton am erfolgreichsten könnte die Stütze gestrichen werden. Schlagartig würde die Statistik von agiert. Dazu werden zahlreiche Daten – Hunderttausenden Menschen entlastet, die etwa die Dauer des Leistungsbezugs – nur scheinbar einen Job suchen. Das schont erhoben, verarbeitet und gewichtet, aus Erwerbslosenquote die Kapazitäten der Arbeitsverwaltung, die denen am Ende eine Rangliste der besten EU-standardisierte Werte sich nun auf Menschen konzentrieren kann, Kantone gebildet wird. Wer oben steht, Luxemburg 2,2 die tatsächlich arbeiten wollen. wird vom Bund mit einer Bonuszahlung Auch sonst will die Kommission die Niederlande 2,7 belohnt. Arbeitsämter entlasten. Heute müssen Solche in ihrer Aussagekraft durchaus Österreich 4,0 die Behörden das Arbeitslosengeld umstrittenen Elemente des Wettbewerbs Dänemark 4,1 für jeden Jobsuchenden individuell sind schon in einigen Ländern Europas im Irland 4,4 berechnen. Nach einem kompli- Einsatz. In Österreich bekommen Arbeits- Portugal 4,4 zier-ten Verfahren. Mit riesigem amtsmitarbeiter sogar einen Teil ihrer Großbritannien* 5,1 Aufwand. Künftig sollen die jährlichen Prämie abhängig davon, wie Ämter die Leistungen weit sie Ziele – etwa die prompte Anwei- Schweden 5,3 zunächst als einfach sung finanzieller Hilfen – erreicht haben. Belgien 6,8 zu bestimmen- Eine Zielsteuerung wie in der Schweiz EU-Durchschnitt 7,5 de Pauschalen oder Österreich, eine dezentrale Orga- Deutschland 8,1 zahlen. Rund nisation wie in Dänemark, ein Kunden- Italien** 8,8 20000 An- service, wie ihn die Niederlande oder Finnland 9,1 gestell- Großbritannien pflegen: „Vieles davon“, glaubt der Arbeitsmarktforscher Frick, Frankreich 9,1 „könnte modellhaft für Deutschland Griechenland*** 10,4 sein.“ Alexander Jung Spanien 11,3 Quelle: OECD, Stand März 2002, saisonbereinigt; * Februar 2002; ** Januar 2002; *** im Jahr 2001

der spiegel 26/2002 29 Werbeseite

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Werbeseite Titel te, die bisher die Einzelbeträge kalkulieren, hördenchefs werden die Die Mitglieder beitslose sollen sich künf- könnten so als zusätzliche Vermittler ein- durchschnittliche Dauer ei- der Hartz-Kommission tig in so genannten Ich gesetzt werden. ner Stellensuche um ein AGs selbständig machen Mit besseren Computersystemen, Er- Drittel verkürzen, progno- Peter Hartz dürfen: als Hausmeister folgsprämien für Vermittler und Leis- stiziert er. Im Zusammen- Vorstandsmitglied bei VW oder Fensterputzer, als tungsvergleichen zwischen den Ämtern soll spiel mit den neuen Job- Isolde Kunkel-Weber Gartenpfleger oder Haus- die Arbeitsverwaltung – bisher das Sinnbild Centern für arbeitslose Mitglied des Ver.di-Bundesvorstandes haltshilfe. Macht die Ehe- Norbert Bensel verkrusteten Behördenbetons – in einen Stützeempfänger könnte Mitglied des Vorstandes der frau auch noch mit, kann modernen Dienstleistungskonzern ver- die Zahl der Joblosen so in DaimlerChrysler Services AG der kleine Gewerbebetrieb wandelt werden, der sich endlich wieder den nächsten drei Jahren Jobst Fiedler zur Familien AG ausge- auf sein eigentliches Kerngeschäft konzen- um weitere 680000 sinken. Roland Berger Strategy Consultants baut werden. triert: Arbeitslosen Jobs zu vermitteln. Doch die Reformer wol- Peter Gasse Die Eckpunkte für das Kaum denkbar, dass alle der etwa 90000 len sich damit nicht zu- Bezirksleiter der IG Metall in NRW neue Gewerbekonzept ste- Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit frieden geben. Sie haben Werner Jann hen schon: Um Missbrauch in Zukunft das Gleiche machen werden eine Branche ins Auge ge- Universität Potsdam auszuschließen, dürfen die wie bisher. Dann hätte man keine Reform- fasst, die wie kaum eine Peter Kraljic neuen Minibetriebe höchs- Direktor der McKinsey & Company, kommission einsetzen müssen. „Aber“, andere boomt: die Schat- Düsseldorf tens 15000 bis 20000 Euro verspricht Hartz, „Sorgen muss sich nie- tenwirtschaft, die zu den Klaus Luft im Jahr einnehmen. Solan- mand machen.“ Die meisten werden wohl wenigen Bereichen gehört, Geschäftsführer der Market Access ge die Grenze nicht über- eine neue Karrierechance bekommen – als in denen die Beschäftigung for Technology Services GmbH schritten wird, können die Vermittler oder als Mitarbeiter in den neu- wächst. Studien zeigen: Harald Schartau Arbeitslosen ihr Geld zum en Personal-Agenturen. Manche werden Die illegalen Gelegen- Minister für Arbeit und Soziales, größten Teil behalten. Bis- Qualifikation und Technologie des in Rente gehen. heitsarbeiter auf dem Bau, Landes Nordrhein-Westfalen her werden legale Zusatz- Selbst für die Landesarbeitsämter, die in Autowerkstätten oder einkünfte dagegen über- Wilhelm Schickler Experten wie der Chef der Nürnberger Gasthäusern schleusen in- Präsident des Landesarbeitsamtes wiegend auf das Arbeits- Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, zwischen fast 330 Milliar- Hessen losengeld angerechnet. schon auf den Prüfstand stellen wollten, den Euro am Fiskus vor- Hanns-Eberhard Schleyer Einzige Pflicht der Neu- hat die Kommission eine neue Aufgabe pa- bei. Das entspricht einem Generalsekretär des Zentralverbandes Selbständigen: Die Ich rat. Die Behörden werden zu „Kompetenz- Volumen von fünf Millio- des Deutschen Handwerks AGs müssen zehn Prozent zentren für neue Arbeitsplätze und Be- nen Vollzeitjobs. Günther Schmid ihrer Einkünfte als Pau- Wissenschaftszentrum für Sozial- schäftigungsentwicklung“ geadelt. Hartz’ Schlussfolgerung forschung schalsteuer an den Fiskus Hartz rechnet fest damit, dass sein Pro- ist einfach: Wenn es ge- Wolfgang Tiefensee abführen. gramm die Zahl der Arbeitslosen deutlich lingt, nur einen Bruchteil Oberbürgermeister der Stadt Studien zeigen: Solange verringern würde. Die Vermittlungsanreize dieses Geschäfts aus der Eggert Voscherau die Abgabenlast nicht stär- für Arbeitslose, Unternehmer und Be- Schattenökonomie heraus- Mitglied des Vorstandes der BASF AG ker steigt, bietet das Kon- zuholen, können schnell Heinz Fischer zept den neuen Selbstän- Millionen regulärer Ar- Abteilungsleiter Personal digen genügend Vorteile. beitsplätze geschaffen wer- Deutsche Bank AG Sie arbeiten im Rahmen den. Dann muss ein Teil der Gesetze, brauchen dieser neuen Beschäftigungsverhältnisse weniger Angst vor einer Pleite zu haben nur noch von Arbeitslosen besetzt werden und können darauf hoffen, am Ende ihrer – und schon ist der Problemberg weiter Arbeitslosigkeit ein reguläres Geschäft auf- geschrumpft. zumachen. Hartz und seine Mannschaft haben für Das Konzept ist ausbaufähig. Der Erfolg ihre verblüffende Lösung schon den pas- der Ich AGs kann noch gesteigert werden, senden Vermarktungsbegriff gefunden. Ar- wenn es für ihre Kunden attraktiver wäre, die Selbständigen anzuheuern. Erfolgsmodell Derzeit lohnt es für private Haushalte kaum, eine Putzhilfe oder ein Kinder- Bilanz des JobCenter Köln mädchen legal anzustellen: viel zu hohe Ab- Abbau Langzeitarbeitslosigkeit gaben, zu viel Bürokratie. Damit ein Haus- meister zehn Euro netto verdient, muss der Köln –12,1% zum Vergleich: Arbeitgeber fast 20 Euro brutto zahlen. Die Nordrhein-Westfalen –0,3% Differenz geht für Steuern und Sozial- beiträge drauf. Klar, dass viele ihre Haus- Bundesgebiet West –2,6% haltshilfen lieber schwarz beschäftigen. Doch das könnte sich ändern, indem Abbau Jugendarbeitslosigkeit auch Privatpersonen in Zukunft alle ihre Personalausgaben nicht mehr Köln –20,7% vollständig selbst aufbringen, zum Vergleich: sondern wie jeder Betrieb von Nordrhein-Westfalen –2,0% der Steuer absetzen könnten. Die Rech- Bundesgebiet West –4,9% nung sähe plötzlich anders aus: Was die privaten Arbeitgeber auf der einen Seite an Quelle: Arbeitsamt Köln; IAB Kurzbericht Sozialabgaben abführen müssen, können JobCenter: Gemeinsame Betreuung von Arbeits- sie auf der anderen bei der eigenen Steu- losenunterstützungs- und Sozialhilfeempfängern, erlast sparen. Das rechnet sich nicht nur für Zugriff auf alle Dienstleistungen beider Behörden.

STEFAN ENDERS STEFAN Gutverdiener. Würde die Steuerfreiheit JobCenter (in Köln): Der Druck, einen Job anzunehmen, wird erhöht flächendeckend eingeführt, wäre es sehr

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Werbeseite Titel viel attraktiver, Menschen deckend dem Tarifschutz unterstellt. Ar- einen Job zu beschaffen. beits- und Sozialämter werden zusam- Doch auch ohne diesen mengelegt – aber die Leistungen keinesfalls Steuerschritt könnte das generell auf Sozialhilfeniveau gekürzt. Konzept der Ich AG die Ar- Penibel hat Hartz darauf geachtet, dass beitslosigkeit deutlich ver- sein Konzept nicht wie der kühl kalkulier- ringern – in drei Jahren um te Business-Plan eines Reformtechnokraten 450000, prognostiziert er. anmutet. Und so findet sich stets ein Schuss Hartz ist nicht zimperlich „soziale Wärme“ in dem Papier. in seinen Vorhersagen. In Da sollen sich die Arbeitsämter um Fa- drei Jahren könnte die Ar- milienväter und Alleinerziehende beson- beitslosigkeit insgesamt hal- ders kümmern: mit wöchentlichen Er- biert werden, rechnet er. folgslisten für Arbeitsamtsleiter, Bonus- Für die Regierung wären die Folgen dramatisch: Die Zeitarbeitspotenzial 1,3 Mio. Ausgaben der Nürnberger Stellen in Deutschland Bundesanstalt für Arbeits- Voraussetzung: losengeld und -hilfe könn- Abbau der Regulierung ten von heute rund 40 Mil- / DPA SCHUTT MARTIN für Zeitarbeitsunternehmen liarden Euro auf gut 13 Mil- Call-Center (in Erfurt): Rücksicht auf die neuen Länder Quelle: Hartz-Kommission: 700000 liarden Euro sinken. Consline-Analyse auf Basis McKinsey; Prof. Dr. Montada, Die Aussichten sind verlockend, nicht lung, mehr Selbständige – so haben in den Uni Trier zuletzt für Politiker. Einer Regierung, der es vergangenen Jahren auch andere Länder 400000 gelänge, das hartnäckigste deutsche Struk- ihre Arbeitsmärkte flottgemacht. 300000 turproblem in Rekordzeit zu lösen, wäre Entscheidend aber wird sein, ob der Plan Anfang Ende die Wiederwahl wohl kaum zu nehmen. auch bei den Gralshütern des traditionellen 2002 2003 2005 2010 Doch wird es dazu kommen? Hartz 35-Stunden-Festarbeitsverhältnisses an- gibt sich optimistisch. Aber auch er weiß, kommt, in den Zentralen von Gewerk- punkten für Vermittler und Kampagnen in dass sich jetzt die Bedenkenträger in Ver- schaften und Sozialkassen, bei den Perso- der Öffentlichkeit. Da sollen Bürgermeis- bänden, Parteien und Ministerien über die nalräten und Vertretern der 90000 Mitar- ter, Personalchefs und Medien gemeinsam Pläne beugen und sie im Zweifel erst ein- beiter der Bundesanstalt. „ein Verantwortungsgefühl für Arbeitslose mal ablehnen werden. So wie sie es mit Hartz ist zuversichtlich. So radikal seine mit Familien und Kindern entwickeln“, jedem neuen Vorschlag bisher gemacht Pläne auch aussehen, stets hat er sie so for- heißt es in dem Konzept. haben. muliert, dass auch der Sozialsekretär ei- Doch ob das ausreicht, die Betonfrak- Natürlich gibt es juristische Bedenken, ner IG-Metall-Bezirksstelle sie nicht von tion in den Gewerkschaften zu erweichen, natürlich werden Praktiker Einwände er- vornherein vom Tisch fegen kann. Natür- ist fraglich: Kürzlich hat Hartz sein Kon- heben, natürlich werden nicht alle Details lich: Die Leistungen für Arbeitslose werden zept schon einmal IG-Metall-Boss Klaus den Expertentest überstehen. gekürzt – aber nur für die, die es auch ver- Zwickel und dessen Stellvertreter Jürgen Doch die Grundzüge des Plans machen kraften können. Die Leiharbeit wird aus- Peters vorgestellt. Hinterher war dem Sinn. Mehr Leiharbeit, schnellere Vermitt- geweitet – aber zugleich wird sie flächen- Manager klar: Das wird schwierig. Noch bevor der Plan überhaupt bekannt Unionspolitiker Späth, Stoiber: Entscheidende Weggabelung im Wahlkampf? war, meldeten sich vergangene Woche vor- sorglich die üblichen Blockierer und taten das, was sie am besten können – blockie- ren: „Wer so etwas vorschlägt, kriegt Krach“, polterte der bayerische DGB-Chef Fritz Schösser (SPD). Schon jetzt ist auch absehbar, wie die Union reagieren wird. Skeptisch, eher ab- lehnend. Wie soll man auch Vorschläge gut finden, die von einer Kommission kommen, die der politische Gegner berufen hat? Und selbst die Position seines Auftrag- gebers ist noch längst nicht gesichert. Dem Bundeskanzler hat Hartz zwar kürzlich bei einem Treffen im Kanzleramt schon einmal die Grundzüge seines Modells erläutert. Doch ob sich Gerhard Schröder die Hartz-Pläne wirklich zu Eigen macht, steht noch lange nicht fest. Zunächst einmal will der Kanzler abwarten, welches Echo die Ideen in der Öffentlichkeit finden. Immerhin hat Schröder seine grundsätz- liche Sympathie signalisiert. Von den Plä- nen der Kommission, ließ er vorige Woche wissen, erwarte er sich „einen richtigen Durchbruch“. Den Rest muss er selbst machen.

JOSE GIRIBAS Konstantin von Hammerstein, Michael Sauga Werbeseite

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich bin ein Überzeugungstäter“ Peter Hartz, Personalvorstand bei Volkswagen, über die Arbeit der von ihm geleiteten Kommission der Bundesregierung zur Reform des Arbeitsmarkts, über heilige Kühe der Tarifparteien und Arbeitslose als Angestellte des Arbeitsamts

SPIEGEL: Herr Hartz, erklären Sie uns bit- chen können, wie wir Inhalte und Organi- dass wir nur Dinge vorschlagen werden, te, warum ausgerechnet Ihnen gelingen sationsformen sinnvoll zusammenfügen. die zumutbar und realistisch sind. Wir ha- sollte, was vor Ihnen noch keiner geschafft Ich glaube fest daran, dass man die Ar- ben ein starkes Team sehr kreativer Köp- hat – den deutschen Arbeitsmarkt grund- beitslosigkeit bei den in Deutschland ge- fe, wir haben keine Tabus, und wir sind un- legend zu reformieren? gebenen Rahmenbedingungen reduzieren abhängig. Wenn wir das ernst nehmen, Hartz: Das fängt mit den 15 Mitgliedern der kann und nicht darauf warten muss … dann sind wir unheimlich stark. Kommission an. Gewerkschaften sind eben- SPIEGEL: … dass ein ökonomisches Wunder SPIEGEL: Stark genug, um es mit den mäch- so vertreten wie große Unternehmen, die passiert … tigen Interessengruppen von Sozialpoliti- Verbände sitzen mit am Tisch, Unterneh- Hartz: … das eh nicht kommt. Oft ist es kern, Arbeitgebern und Gewerkschaften mensberater, die Regierung und die Op- doch so: Wir hören, da können wir nichts aufzunehmen, die bisher jede Reform ver- position. Das ist eine große Spannbreite … machen, denn die Wirtschaft findet in der hindert haben? Hartz: Sie glauben, dass wir es auf Konfrontation anlegen. Den Fehler werden wir nicht machen, denn natürlich ist uns klar, dass wir Mitstreiter brau- chen. Also haben wir analy- siert, wo die Schmerzstellen sind, die heiligen Kühe, die auf keinen Fall angetastet werden dürfen. Die Dinge, bei denen zum Beispiel die IG Metall ab- solut nicht mitmachen wird. SPIEGEL: Vermutlich sind Sie gleich auf eine komplette Her- de heiliger Kühe gestoßen. Hartz: So schlimm ist es auch wieder nicht. Ein wichtiges Thema ist das Sozialversiche- rungsverhältnis. Jeder muss ein ordentliches Versichertenver- hältnis haben, keiner soll unge- schützt arbeiten und jeder ta- riflich abgesichert werden. Dar- an darf man nicht rühren, sonst gehen die Gewerkschaften zu Recht an die Decke. Also haben wir gesagt: Wir wollen nicht ka- puttmachen, wofür sie hundert

THOMAS GEIGER / TANDEM THOMAS Jahre gekämpft haben. Partner Schröder, Hartz: „Der Kanzler hat gesagt, wir sollen ein mutiges Konzept bringen“ SPIEGEL: Wo bleibt dann die Reform? SPIEGEL: … die im Bündnis für Arbeit in Wirtschaft statt, oder der Aufschwung muss Hartz: Wir definieren die kritischen Punk- ähnlicher Zusammensetzung außer Bergen kommen, und was es sonst noch für Aus- te, und dann entwickeln wir die passenden von Papier nicht viel produziert hat. flüchte gibt. Wenn wir uns dahinter ver- Lösungen um das Problem. Neben den hei- Hartz: Mag sein, aber wir verfolgen eine völ- stecken, wird es nie eine Lösung für das ligen Kühen ist enorm viel Platz – was mei- lig andere Strategie. Lassen Sie es mich mit Arbeitslosenproblem geben. nen Sie, was Sie da für Gestaltungsmög- Antoine de Saint-Exupéry sagen: „Wenn du SPIEGEL: Woher nehmen Sie dann Ihren lichkeiten haben. Es macht doch keinen mit anderen ein Schiff bauen willst, so be- Optimismus, dass die Politik auf Ihre Sinn, dass wir mit unseren Vorschlägen so- ginne nicht, mit ihnen Holz zu sammeln, Vorschläge nun völlig anders reagieren fort eine Revolution auslösen. Das heißt sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach wird? für mich ganz konkret: Die Arbeitsämter dem weiten, unendlichen Meer.“ Hartz: Der Kanzler hat gesagt, wir sollen bleiben bestehen und bekommen einen SPIEGEL: Will heißen? ein mutiges Konzept bringen. Er hat uns neuen Aufgabenzuschnitt. Wir haben uns Hartz: Will heißen, dass wir vom Ergebnis aufgefordert, die Lösungen vorzuschlagen, zum Beispiel die Parteiprogramme ange- her denken müssen. Erst dann machen wir die wir für richtig halten. Er weiß, dass ich sehen und übernommen, was gut und or- uns Gedanken darüber, wie wir das errei- ein Überzeugungstäter bin, er weiß auch, dentlich ist. Wir haben Schwarzarbeiter

36 der spiegel 26/2002 THOMAS IMO / PHALANX THOMAS Hartz-Kommission: „Wir haben ein starkes Team sehr kreativer Köpfe, wir haben keine Tabus, und wir sind unabhängig“ befragt, um herauszufinden, was sie mit- abends in den Nachrichten „vier Millionen der Gesellschaft. Wir werden genau defi- machen würden und was nicht, und wir Arbeitslose“ und denken „ach du meine nieren, was wir von den einzelnen Grup- haben ein paar Engagierte auf Europarei- Güte, schon wieder Nürnberg“, und zap- pen der Gesellschaft erwarten. Denn sonst se geschickt. Jetzt sind wir dabei, die pen weg. So reagiert – fürchte ich – fast die passiert Folgendes: Da wird ein Bericht mit Puzzle-Steine zusammenzubauen. ganze Gesellschaft. vielen Vorschlägen erscheinen, bei denen SPIEGEL: Wie weit sind Sie damit? SPIEGEL: Und alle gemeinsam hoffen auf es auch ans Eingemachte geht, weil es eine Hartz: Wir haben 13 Module zum Abbau den Konjunkturaufschwung. wichtige Reform ist. Und dann setzen sich der Arbeitslosigkeit und zur Reform der Hartz: Ich hatte auf dem Zukunftskongress einige salopp und zynisch hin und reden Bundesanstalt für Arbeit entworfen, und der IG Metall so ein Erlebnis. Ich habe darüber, was die anderen machen sollten. wir haben auch die ersten Hochrechnun- drei, vier Ideen aus meinem Buch „Job SPIEGEL: So wie beim Bündnis für Arbeit. gen, die so positiv sind, dass … Revolution“ angebracht, und schon fing Hartz: Das soll sich nicht wiederholen. Des- SPIEGEL: … niemand Ihnen glauben wird. der Erste an: „Das lassen wir aber nicht zu, halb haben wir eines unserer 13 Module Hartz: Stimmt. Schließlich soll keiner der dass die Arbeitgeber …“ Da habe ich ge- den „Profis der Nation“ gewidmet: die Kommission vorwerfen, wir seien welt- sagt: „Siehst du, jetzt weißt du, warum du 1,1 Millionen Manager in Deutschland, die fremd. Immerhin prognostizieren wir, dass vier Millionen Arbeitslose hast. Bevor du 11000 Bundes-, Landes- und Kommunal- wir mit unserem Konzept die Arbeitslosig- geprüft hast, was du eigentlich machen parlamentarier, die 89 000 Journalisten, keit in den ersten drei Jahren könntest und was dir zuzu- aber auch die 53000 Geistlichen … auf zwei Millionen senken muten ist, sagst du schon, was SPIEGEL: … die fortan Ihre Reformideen können. „Die Politik allein die anderen machen von der Kanzel verkünden sollen? SPIEGEL: Kein Wunder, dass Sie sollen.“ Hartz: Die Pfarrer beschweren sich immer, an Ihren Zahlen zweifeln. kann das SPIEGEL: Und? Was schließen dass ihre Kirchen leer sind. Wenn die Geist- Hartz: Ich zweifle doch gar Problem Sie daraus? lichen die Beratung und Betreuung ar- nicht daran. Sie sind sogar Hartz: Dass wir den Spieß um- beitsloser Menschen verstärkt mitübernäh- konservativ gerechnet. Wissen nicht allein drehen müssen. Wir müssen men, dann hätten sie jeden Sonntag ihre Sie, warum ich so überzeugt fragen: Wer soll was machen? Kirche voll. Nehmen Sie den Bischof von bin, dass wir das Problem lö- lösen, alle Jeder muss prüfen, was er ma- Trier. Er hat bei seiner Amtseinführung ge- sen können? Wir haben doch müssen mit- chen will und was er machen sagt, welche sozialen Aufgaben die Kirche gewaltige Ressourcen: Über kann. Wer sich dann abmeldet, übernehmen könnte. Das ist der richtige 90000 tüchtige Menschen, die anpacken.“ muss die Verantwortung über- Ansatz. an dem Thema arbeiten, und nehmen. Die Politik kann das SPIEGEL: Hübsche Idee, aber kaum der einen Etat von 54 Milliarden Euro. Jedes Problem nicht allein lösen, alle müssen mit- wichtigste Punkt ihres Reformpakets. Gibt Jahr 54 Milliarden! anpacken. es so einen zentralen Punkt überhaupt? SPIEGEL: Die Behörde gibt es schon lange SPIEGEL: Das klingt eher wolkig. Hartz: Lassen Sie mich einen nennen: Bis- und die 54 Milliarden auch. Trotzdem sind Hartz: Ist es aber nicht. Wir schlagen eine her achten alle auf die Zahl der Arbeitslo- fast vier Millionen Menschen arbeitslos. Projektkoalition vor, denn das Thema ist sen. Vernachlässigt wird dabei die Dauer Hartz: Ich kann Ihnen auch sagen, woran viel zu wichtig, um es einer Partei anzu- der Arbeitslosigkeit, die mindestens eben- das liegt: an der maßlosen Gleichgültigkeit vertrauen. Das sind ja nicht die Arbeitslo- so wichtig ist. Da setzen wir auch an. Wir aller, die etwas machen könnten. Sie hören sen des Kanzlers, sondern die Arbeitslosen wollen die Geschwindigkeit der Arbeits-

der spiegel 26/2002 37 Titel vermittlung deutlich erhöhen – um mindes- lauthals geforderten Sanktionen gegen die zeigen uns, dass niemand gern illegal ar- tens ein Drittel in den ersten drei Jahren. Arbeitslosen in eine höchst wirksame Ver- beitet. Die Frage ist, welche Abgabenlast so SPIEGEL: Die Frage ist nur, wie. haltensweise von Arbeitnehmern und Ar- erträglich ist, dass ein Schwarzarbeiter be- Hartz: Indem wir zunächst die Meldefristen beitgebern mit Hilfe des Arbeitsrechts. reit ist, legal zu arbeiten. ändern. Wer gekündigt wird, muss das sofort SPIEGEL: Dann könnte die Firma ja gleich SPIEGEL: Und? Wo liegt die Grenze? melden, wenn er nach Ablauf der Kündi- jemand Neues einstellen. Hartz: 10 Prozent akzeptieren alle, 15 Pro- gungsfrist sofort Arbeitslosengeld beziehen Hartz: Das wird sie meistens nicht tun, weil zent die meisten wohl auch noch. Deshalb will. Wir sagen: Junge, du bist arbeitslos. ein Festangestellter oft teurer ist und nur wollen wir Arbeitslosen die Möglichkeit Wir versuchen jetzt alles, um dir einen neu- schwer gekündigt werden kann. Das Kon- geben, sich unkompliziert selbständig zu en Job zu besorgen, und zwar schon in der zept hat den Charme, dass wir zwei Ziele machen. Wir nennen das die „Ich AG“ Zeit, in der die Kündigungsfrist noch läuft. gleichzeitig erreichen: Die Unternehmen oder auch die „Familien AG“. Künftig dür- Im besten Fall hat er dann schon eine neue Stelle, bevor er das erste Mal Arbeitslo- „Wenn alle sengeld bekommen hätte. Da- mit sparen Sie eine Menge mitziehen, Geld, denn eine Verkürzung kann die der durchschnittlichen Dau- er der Arbeitslosigkeit von 33 Reform am auf 22 Wochen reduziert die Arbeitslosigkeit um ein Drit- 1. Januar tel und damit auch die damit schon verbundenen Kosten. SPIEGEL: Dass man so schnell losgehen.“ einen Job findet, bleibt doch eher die Ausnahme. Was fen Arbeitslose legal bis zu passiert mit den anderen? einer bestimmten Grenze Hartz: Viele von denen ma- dazuverdienen, wobei nur chen wir praktisch zu Ange- ein Teil gegengerechnet wird.

stellten des Arbeitsamts. MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL Abzuführen ist nur eine Pau- SPIEGEL: Das müssen Sie uns Reformer Hartz: „Nur eine logische Sekunde lang arbeitslos“ schalsteuer von zum Beispiel erklären. zehn Prozent. Im Vergleich Hartz: Jedem Arbeitsamt gliedern wir eine können günstig neue Arbeitsplätze schaf- zur Schwarzarbeit gewinnen alle: der Steu- so genannte Personal-Service-Agentur an, fen. Trotzdem haben die Angestellten der erzahler, das Finanz-, das Arbeitsamt und die wie eine private Zeitarbeitsfirma ar- Agentur völligen sozialen Schutz. Sie kön- der Arbeitslose. beitet oder möglicherweise sogar eine ist. nen nicht gekündigt werden, bekommen SPIEGEL: Pech nur, dass Sie mit dieser neu- Dort werden die Arbeitslosen angestellt – feste Bezüge über die Arbeitslosenversi- en Billigkonkurrenz reguläre Kleinbetriebe mit allen Rechten und Pflichten. Praktisch cherung und sind sozialversichert. in die Pleite treiben werden. sind sie dann nur eine logische Sekunde SPIEGEL: Das klingt schön, setzt aber vor- Hartz: Falsch. Handwerksbetriebe werden lang arbeitslos. aus, dass es genügend Beschäftigung gibt. davon sogar profitieren. Ein Beispiel: Ein SPIEGEL: Die sitzen dann in der Agentur, In Magdeburg oder Rostock dürfte das ein Handwerksbetrieb hat vier Mitarbeiter. drehen Däumchen oder spielen Skat. frommer Wunsch bleiben. Der Inhaber darf in unserem Modell vier Hartz: Nein. Wenn der Mann oder die Frau Hartz: Deshalb müssen diejenigen, die es „Ich-AG-Versicherte“ zu seinen bestehen- was kann, werden sie sofort an eine Firma können, bereit sein, auch woanders hin- den vier Mitarbeitern beschäftigen. Für mit Bedarf gegen Entgelt vermittelt. Sind sie zugehen – ich nenne das eine neue Qualität diesen Betrieb ergibt sich damit eine schlecht ausgebildet oder schon lange ar- der mobilen Zumutbarkeit – und mögli- Mischkalkulation, mit der er durchaus am beitslos, können sie auch kostenlos auf Pro- cherweise auch einen Job zu übernehmen, Markt bestehen kann. be dort arbeiten oder eine betriebsnahe Qua- der nicht ganz ihrem bisherigen entspricht. SPIEGEL: Wie schnell kann Ihr Konzept um- lifizierung absolvieren. Wenn sie sich nicht Damit meine ich die funktionale und ma- gesetzt werden? bewähren, können sie die Arbeitgeber je- terielle Zumutbarkeit. Natürlich weiß ich, Hartz: Das kann sehr schnell gehen. Wir derzeit wieder in die Personal-Service-Agen- dass wir einem Familienvater mit drei Kin- haben es so angelegt, dass wir möglichst tur zurückschicken. Sind sie gut, bekommen dern oder älteren Menschen so etwas nicht wenige Gesetze dafür ändern müssen. Mit- sie hoffentlich nach der Probezeit ein festes ohne weiteres zumuten können – das ist für te August werden wir unsere Idee vorstel- Jobangebot. Damit tauschen wir auch die mich soziale Zumutbarkeit. len und dabei einen Masterplan vorlegen, SPIEGEL: Neue Jobs haben Sie damit aber in dem wir genau definieren, was gesche- noch nicht geschaffen. hen muss. Wenn alle mitziehen, kann die Hartz: Aber immerhin einen Arbeitslosen Reform am 1. Januar des nächsten Jahres vermittelt. Das ist doch schon mal was. schon losgehen. Aber wir sind ja ehrgeizig in unseren Zie- SPIEGEL: Sie übersehen einen Punkt – die len. Natürlich wollen wir auch mehr Be- Bundestagswahl am 22. September. schäftigung schaffen. Sie müssen sich nur Hartz: Die politische Partei möchte ich se- die Wachstumsbranche Schwarzarbeit an- hen, die sich dann hinstellt und sagt, wir sehen. Was für ein Potenzial! bleiben lieber bei unseren vier Millionen SPIEGEL: Aber leider unerreichbar. Arbeitslosen und tun nichts. Ich sage: „Top, Hartz: Man muss sich etwas einfallen lassen. die Wette gilt!“ Geben Sie unserem Kon- Unsere Umfragen unter Schwarzarbeitern zept als Ganzes drei Jahre die Chance, am

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL Markt zu wirken. Hartz beim SPIEGEL-Gespräch* * Mit Redakteuren Michael Sauga, Konstantin von Ham- SPIEGEL: Herr Hartz, wir danken Ihnen für „Ich sage: ,Top, die Wette gilt!‘“ merstein und Stefan Aust in Hartz’ Büro in Wolfsburg. dieses Gespräch.

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BUNDESWEHR Kumpel und Spötter Generalinspekteur Harald Kujat geht zur Nato. Der Nachfolger Wolfgang Schneiderhan wäre fast Lehrer für Deutsch und Geschichte geworden. etzige Töne hat sich der oberste Sol- dat gewünscht. Die Titelfanfare des FKinohits „Star Wars – Krieg der Ster- ne“ signalisiert Aufbruchstimmung, volle Kraft aus Posaunen und Trompeten. Die will der Vier-Sterne-General Harald Kujat vom Stabsmusikkorps hören, wenn er am Donnerstag dieser Woche das Amt des Bundeswehr-Generalinspekteurs abgibt

und aus dem Raumschiff Berlin auf einen / PHALANX MASKUS NICOLE Prestigeposten bei der Nato entschwebt. Generäle Schneiderhan, Kujat: Personifiziertes Kontrastprogramm Lobender Worte seines Dienstherrn Rudolf Scharping kann sich Kujat, 60, si- ten Haushaltsmitteln noch finanzierbar Stützle austrug, sind Vergangenheit: Die cher sein. Der General hat Scharpings seien. Nun übernimmt Kujat den Vorsitz im beiden rivalisierten ständig um Kompe- Bundeswehrreform entworfen. Tatsächlich Militärausschuss in der Brüsseler Nato- tenzen und das Ohr des Ministers. ist das Verhältnis aber ziemlich abgekühlt, Zentrale. Dort soll er sich um eine neue Der auf der Insel Sylt gebürtige Stützle seit der SPD-Mann nach der Wahl 1998 Strategie kümmern und die Kommando- hat zwar eine schnoddrige Art und gibt den Luftwaffenoffizier zu sich holte und strukturen des Bündnisses straffen. sich bisweilen so, als wäre er selbst der zunächst zum Chef des Planungsstabes Sein Nachfolger in Berlin, Generalleut- Ressortchef. Aber der verschmitzte Schwa- machte. nant Wolfgang Schneiderhan, 55, hatte be Schneiderhan, ein Pragmatiker und Op- „Onkel Harald“ (Ministeriumsjargon) timist, kommt mit ihm zurecht. schon einmal beerbt – auf dem Pos- Viele zusätzliche Befugnisse wird Schnei- ten des Planungschefs. Der Offizier derhan ohnehin nicht erhalten. Denn aus der Panzertruppe beteuert, er Scharping zögert, den schon geraume Zeit wolle Kujats Reformkurs halten und vorliegenden Entwurf eines Erlasses zu un- nur anhand der Erfahrungen mit terschreiben, der die Kompetenzen im Res- Auslandseinsätzen ein wenig „nach- sort neu regeln soll – zu Gunsten des Ge- steuern“. neralinspekteurs. Der ist bisher nur mili- Ansonsten jedoch wirkt er wie ein tärischer „Berater“ der Bundesregierung personifiziertes Kontrastprogramm. und zuständig für die Planung, hat aber Beinahe schmächtig erscheint er neben keine Befehlsbefugnisse. Das sollte wegen dem robusten Vorgänger. Kumpelhafter der Auslandseinsätze geändert werden. Vor Umgang mit dem Minister kommt der Bundestagswahl im September aller-

NATALIE BEHRING / GETTY IMAGES NATALIE Schneiderhan nicht in den Sinn. Er hält dings wird daraus nichts mehr. Verteidigungsminister Scharping* auf Distanz: Das gebiete, wie er sagt, Würde dann ein CDU-Minister Schar- „Herr Kamerad, Sie haben das Wort“ der „Respekt vor der Autorität des ping ablösen, muss Schneiderhan kaum um Amtes und des Amtsinhabers“. den Job fürchten. Zwar ist er einer der Bei der Kommandeurtagung in Leipzig Anders als Kujat, der einen Großteil sei- engsten Berater des Sozialdemokraten, hat vor knapp zwei Jahren durfte Kujat, der im ner Karriere an Schnittstellen von Militär aber kein Parteibuch und verdankt seine Sommer 2000 dem glücklosen General und Politik diente, hat der Neue eine „nor- Karriere teils schon Scharpings CDU-Vor- Hans Peter von Kirchbach auf dem In- male Wald- und Wiesenlaufbahn“ (Schnei- gänger Volker Rühe: Der hatte den Gene- spekteursposten nachgefolgt war, noch derhan) hinter sich. Nach dem Abitur ging ral in den neunziger Jahren als Brigade- kumpelhafte Nähe zum Chef demonstrie- er 1966 freiwillig für zwei Jahre zum Mili- kommandeur in Erfurt schätzen gelernt ren: „Herr Kamerad, Sie haben das Wort.“ tär, wurde Ladeschütze im Kampfpanzer. und später im militärischen Führungsstab Vor einigen Wochen ließ Scharping da- „Teamarbeit und Technik“ faszinierten ihn auf Schlüsselposten setzen lassen. gegen voller Misstrauen Videobänder von so sehr, dass er blieb. Anderenfalls, mut- Schneiderhan ist ein selbstironischer Spöt- einem Treffen der Kommandeure aus Han- maßt Schneiderhan, wäre er wohl Lehrer ter, dazu ein großer Fan der schwäbischen nover nach Berlin schaffen: Kujat und meh- für Deutsch und Geschichte geworden – Fastnacht. Und egal ob Scharping bleibt rere Kameraden hatten – ganz anders als daheim auf der Schwäbischen Alb. oder nicht: Notfalls beherzigt der oberste der schönfärberische Minister – an- Sicher wird es im Bendler-Block einen Soldat einen Spruch, den ihm eines seiner gezweifelt, dass die Reform und der Kauf Klimawechsel geben: Die Kräche, die der fünf Kinder vor Jahren zum Geburtstag auf moderner Ausrüstung mit den geplan- eher sture Kujat, im ehemaligen West- einen Glückskäfer gemalt hat: „Lasse deine preußen geboren, regelmäßig und weithin Vorgesetzten niemals merken, dass du bes- * Mit deutschen Soldaten in Kabul. hörbar mit dem Staatssekretär Walther ser bist als sie.“ Alexander Szandar

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nächtlichen Tankstopp der Kanzlerma- schine in Moskau ausgerastet und habe ihn AUSSENPOLITIK „Arschloch“ genannt, um alsdann nach Ka- viar zu verlangen. Zwar stellte sich bald heraus, dass der Vorgang weniger drama- Der Zar vom Amselfeld tisch verlief, aber das änderte nichts an Steiners vor allem von der „Bild“-Zeitung Sieben Monate nach seinem Rücktritt als Sicherheitsberater des geforderten Abgang. Was ihm damals schadete – seine gele- Kanzlers führt Michael Steiner ein neues Leben: Wie ein gentliche Protzerei und aufbrausende Art Balkan-Fürst beherrscht er das labile Uno-Protektorat Kosovo. –, kommt dem umstrittenen Schröder-Inti- mus nun zugute. Im Kosovo hat Zar Mi- chael mehr Macht als sein vormaliger Dienstherr in Deutschland, und das trös- tet ihn über die erlittene Schmach hin- weg. „Manchmal wundere ich mich“, sin- niert der Ex-Berater, „wie wenig verbittert ich bin.“ Ganz im Gegenteil. Ruhelos – und mit- unter vor Tricks nicht zurückschreckend – rast der Verwalter der Uno durch die ihm anvertraute Provinz, als müsste er persön- lich alle Probleme lösen. Gleich zweimal innerhalb weniger Tage fliegt er so per Hubschrauber ins Erdbebengebiet von Gnjilane, um den Betroffenen den bei sei- nem ersten Besuch versprochenen japani- schen Seismologen zu präsentieren. Der ist in Wahrheit aber nur ein Diplomat aus der Belgrader Botschaft. Der im schicken dunklen Anzug um- herreisende Deutsche will die Menschen beruhigen, und er tut das häufig auf un- konventionelle Art. So händigt er vor Ort

UN einigen der Opfer in Form von mitge- Kosovo-Verwalter Steiner*: Trost für erlittene Schmach brachten 50- und 20-Euro-Noten spontan einen Notgroschen aus – freilich nur den ür Reporter hat Michael Steiner jetzt oft seine Entschlusskraft unter Beweis Frauen. keine Zeit. „Hier geht es nicht um stellt. Und das Gros der dort lebenden zwei Denn, nicht wahr, weiß der Himmel, was FPolitik“, wimmelt er die Leute mit Millionen Menschen lobt ihn dafür. die Männer damit anstellen! Auf dem Bal- den Mikrofonen ab, „wir wollen Spaß ha- Vor einem halben Jahr noch schien der kan, so hat der bereits in den frühen Neun- ben.“ Mit Blaulicht ist der oberste Uno- 52-jährige Jurist aus München am Ende zigern im Südosteuropa-Referat des Aus- Verwalter für das Kosovo an den Stadt- seiner Laufbahn zu stehen. Steiners rasan- wärtigen Amtes arbeitende Steiner gelernt, rand von Pri∆tina geeilt, um Riesenrad zu te Karriere, die ihn binnen kurzem zum herrschen eigene Sitten, die man mitbe- fahren. 64 Jungen und Mädchen, die er aus außenpolitischen Berater des Bundes- denken muss. dem Erdbebengebiet Gnjilane herange- kanzlers emporgetragen hatte, drohte jäh- Und solche Kenntnisse von der herr- karrt hat, genießen den Tag in der Haupt- lings an einer etwas aufgebauschten Affä- schenden Praxis – allem voran, was die stadt – und am meisten amüsiert sich der re zu scheitern. Kernfragen anbelangt – hat er auch bitter Gastgeber selbst. Ein kleiner Oberfeldwebel hatte sich be- nötig. Drei Jahre nach dem Bombenkrieg Ausgelassen dreht er da Runde um Run- schwert, der Spitzendiplomat sei bei einem der Nato ist eine Lösung des Völkerkon- de, um die Kids schließlich mit einem Er- flikts noch nicht in Sicht. Die albanische innerungsfoto zu beglücken. Mehrheit strebt die Unabhängigkeit von Deutschlands schillerndster Diplomat ist Serbien an, die serbische Minderheit fürch- der Herr des Kosovo. Der „Special Re- tet nichts mehr als das. presentative of the Secretary-General“ „Der Herr Steiner sitzt da mit dem steht einer Mammutbehörde mit über 9000 Schwarzen Peter der internationalen Di- Mitarbeitern vor – die umfassendste Mis- plomatie“, spottet der erfahrene Balkan- sion in der Geschichte der Vereinten Na- Vermittler Carl Bildt. „Wir müssen endlich tionen. entscheiden, was wir tun wollen.“ Steiner füllt seine Rolle aus, als wäre sie Denn einstweilen wird nur der Deckel eigens für ihn geschrieben. Der von zwei draufgehalten. Das Kosovo, so klein wie Dutzend Leibwächtern beschützte Statt- ein Viertel der Schweiz, sieht sich kom- halter der Weltgemeinschaft regiert das Ge- plett von Ausländern gemanagt. Am Flug- biet um das historische Amselfeld im Stile hafen kontrollieren Philippiner die Pässe, eines Balkan-Fürsten, indem er häufig den Jordanier und Inder sichern die Straßen netten Kerl hervorkehrt, aber auch ebenso der Hauptstadt – und bis in die entlegens-

* Oben: nach der Freilassung albanischer Männer aus serbi- Kanzlerberater Steiner, Chef Schröder*

schen Gefängnissen im März; unten: im September 2001. / DDP MICHAEL KAPPELER „Den Brustkorb gestrafft“ 44 Werbeseite

Werbeseite Deutschland ten Winkel des Landes suchen fast 40000 ins Leben rufen, welche die maroden Staats- auf der diplomatischen Bühne ging Stei- Soldaten aus 38 Staaten die schwankende betriebe privatisiert. ner ran wie Blücher. So versuchte er, den Ordnung aufrechtzuerhalten. So richtig blüht im Kosovo allein die Finanzstaatssekretär Caio Koch-Weser als Gleich nach seiner Amtsübernahme Schattenwirtschaft. „Das ist das schwarze Chef des Internationalen Währungsfonds zwang Steiner die zerstrittenen albanischen Loch Europas“, klagt Serbiens Finanzmi- zu platzieren, und als ihm das misslang, Parteien, eine Regierung zu bilden. Jedem nister Bozidar Djeliƒ. Den Zigaretten- pushte der selbstbewusste Stichwortgeber Minister – und sogar dem Präsidenten Ibra- schmuggel bekämpft Steiner bereits, doch des Kanzlers mit Horst Köhler den nächs- him Rugova – stellte der zupackende Deut- wenn er an die Besitzstände der Drogen- ten Deutschen. In der Protokollaffäre über sche einen Aufpasser zur Seite, während mafia rührt, fürchten Sicherheitsbeamte, ein Gespräch zwischen Schröder und dem er selber zusehends wie ein ungekrönter könnte der Uno-Statthalter bald noch ein US-Präsidenten George W. Bush wollte er Monarch auftritt. paar Leibwächter mehr brauchen. die Schuld für missverständliche Textpas- In Pri∆tina wurde ihm kürzlich zu Be- Er zeigt sich entschlossen, auch der Or- sagen abschieben – bis Außenminister Fi- ginn einer Sitzung ein richtiger Thron- ganisierten Kriminalität die Stirn zu bieten scher ihn beim Regierungschef persönlich sessel an die Stirnseite des Plenarsaals – und das damit einhergehende Risiko anschwärzte. gestellt. Das meiste laufe ja schon „sehr scheint er fast schon zu genießen. Wenn sie Spätestens seit diesem Streit wartete die professionell“, ergreift er dort nach an- an ihrer Funktion hingen, erkannte einst Presse nur noch auf seinen Sturz. Statt sein derthalb Stunden das Wort – aber anstatt der französische Außenminister Charles de Privileg, dem Kanzler näher als andere zu über die Unabhängigkeit des Kosovo zu Talleyrand, der sogar den Sturz Napoleons stehen, „mit Demut zu mildern“, mäkelte palavern, sollten die Parlamentarier lieber überstand, sollten Diplomaten „nicht zu die „Zeit“, „strafft er den Brustkorb“ – über Reisedokumente und Nummern- viel Eifer“ zeigen – ein im Fall des Kolle- und für so einen zählten Fehler „doppelt“. schilder reden. gen Steiner vergeblicher Rat. Mitarbeiter litten unter seinen Wutaus- brüchen, während das Auswärtige Amt die herablassende Art be- klagte, und auch Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier erboste sich darüber, wie Steiner zielstre- big an ihm vorbei operierte. Aber den ficht das nicht an. „Ich hasse es, Knecht zu sein“, zeterte er eines Abends auf ei- nem Kreml-Flur, als Schröder ent- schied, ihn nicht auf Wladimir Putins Datscha mitzunehmen, und allmählich fragte sich auch der duldsame Kanzler, ob sein Unter- gebener nicht doch zu sehr über die Stränge schlage. Mit der „Arschloch“-Affäre schien dann Schluss zu sein – aber Michael Steiner startete schon kurz danach ein eindrucksvolles Comeback. Schröder versprach

VISAR KRYEZIU / AP KRYEZIU VISAR seinem Ex-Berater zunächst den Demonstrierende Kosovo-Albaner*: „Rechte eines Diktators“ Botschafterposten in London, bald darauf wurde der Uno-Job „Sie haben die Rechte eines Diktators“, Der weltläufige Bayer ist da erkennbar im Kosovo frei. Nach dem Urteil des ei- schrieb ihm ein serbischer Minister, und aus anderem Holz. Wie neuerdings im Ko- genwilligen Polit-Profis endlich eine ihm Steiner lacht darüber. Die Resolution 1244 sovo war ihm Zeit seiner Karriere die dem angemessene Verwendung. des Weltsicherheitsrats, die 1999 das Ende Metier eigene Leisetreterei ein Gräuel, und Das sehen andere ebenso. Für Steiner, des Krieges markierte, garantiert den Ver- er ging dabei keinem Konflikt aus dem notierte eine amerikanische Journalistin, einten Nationen die Kontrolle über Wirt- Weg. „Von einem Beamten“, mokierte sich schwärmten die Kosovaren wie früher für schaft und Politik der Provinz. einst Außenminister Joschka Fischer über Bill Clinton. Selbst der nachdenkliche Grü- Doch selbst trotz solcher Vollmachten Steiner, „lass ich mir nicht auf die Schuh- ne Tom Koenigs, der seit knapp drei Jah- stauen sich die Probleme. 200000 Flücht- spitzen pinkeln.“ ren als Zivilverwaltungschef der Uno in linge aus dem Kosovo warten in Serbien Sooft er die Chance witterte, ein Stück der Region arbeitet, empfand den Ein- vergebens auf ihre Rückkehr. In Teilen der Weltpolitik mitzugestalten, sah sich Stei- marsch seines Landsmanns in Pri∆tina „wie Stadt Mitrovica wiederum führen serbi- ner prompt herausgefordert. 1989 zog er eine erfrischende Dusche“. sche Banden Regie, während Steiner dort kurzerhand DDR-Bürger über den Zaun Sollte sich der robuste Sozialdemokrat in die Polizeikräfte verstärkt, um die Uno- der bundesdeutschen Botschaft in Prag, dem notorischen Krisengebiet bewähren, freie Zone aufzulösen. sechs Jahre später beeindruckte er in wäre eine zweite Karriere auch an der Hei- Die ärmste Region des ehemaligen Ju- Dayton bei der Friedenskonferenz für matfront nicht ausgeschlossen. Ein Wahl- goslawien wurde durch den Krieg nahezu Bosnien-Herzegowina mit immer neuen sieger Schröder könnte einen Spitzen- in den Ruin getrieben. Die Arbeitslosig- Verhandlungsideen und wurde dann diplomaten mit passendem Parteibuch im- keit in der landwirtschaftlich geprägten stellvertretender Uno-Beauftragter in Sa- mer gebrauchen. Schließlich ist Steiners Provinz beträgt nach Schätzungen der Ver- rajevo. Regentschaft auf dem Balkan kaum für die einten Nationen mehr als 50 Prozent. Der Und hartnäckig wie sonst keiner betrieb Ewigkeit geschaffen. Verwalter will jetzt eine Treuhandanstalt er als Lehrer des außenpolitischen Novizen Viel länger als anderthalb Jahre, sagt der Gerhard Schröder seit 1998 die Normali- Mann für alle Fälle, mache niemand so ei- * Kundgebung für bessere Arbeitsbedingungen am 6. Juni. sierung der Berliner Republik. Vor allem nen Job. Ralf Beste

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Werbeseite Deutschland HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS SCHWARZBACH HARTMUT Insel Sylt: Solche Leute haben hier nichts zu wollen

STRAFJUSTIZ „Das sind für mich Schweine“ Ein Sylter Polizeibeamter mag keine Straftäter auf „seiner“ Insel. Kollegen zeigen ihn wegen Übergriffen an. Ein Staatsanwalt aber stellt das Verfahren ein. Von Gisela Friedrichsen

er Fall, um den es geht, ist nicht ty- fest, zuständig für Hunderttausende Be- Personal und Kunden mit einer Waffe, ein pisch. Hoffentlich nicht. Ein Einzel- trunkene, zwölf Stunden Dienst mit kaum oder mehrere Spießgesellen schlagen Vi- Dfall, ein bedauerlicher, ein Ausrut- mal einer Pause, ausgepumpt und dann trinen und Auslagen ein, um blitzartig teu- scher, wie er eben mal passiert. Hoffentlich. noch von Skinheads attackiert und als re Uhren zusammenzuraffen. Meist hält Immer wieder kommt es zu solchen „Schweine“ beschimpft. Bei aller Kritik an sich in der Nähe des Tatorts ein Komplize Einzelfällen, auch in jüngster Zeit: In Köln den Übergriffen war den Angeklagten ein auf, der den Ablauf beobachtet, die Beute stirbt ein Mann, nachdem er in Empfang nimmt und in auf der Innenstadtwache Ei- die Heimat schafft. Laut gelstein von sechs Polizeibe- Bundeskriminalamt sind die amten getreten und geschla- Täter Polen aus der Stadt gen worden sein soll. In Koszalin, wo es eine Bande Hamburg beobachten Pas- von rund 80 Personen gibt, santen, wie sich mehrere Po- die in wechselnden Teams lizisten auf einen 15-Jähri- nach Deutschland einreisen, gen stürzen und ihn mis- um Straftaten zu verüben. shandeln. In Berlin stehen Das Juweliergeschäft Krau- zurzeit vier Polizisten wegen se in Westerland war bereits eines brutalen Übergriffs auf Anfang November 2001 Ziel einen türkischen Lastwa- solcher Täter: An einem

genfahrer und seinen Bei- PICTURE / SYLT WIDERA Samstagvormittag wurden fahrer vor Gericht. In Pots- Tatort in Westerland, verdächtigter Pole: Gegen die Ladentür geprallt Uhren im Wert von einer dam wird eine Polizei- Million Mark geraubt. Die obermeisterin, die sich von einer anderen gewisses Verständnis nicht zu versagen. Es mutmaßlich polnischen Täter verschwan- Frau provoziert fühlte, wegen Körperver- hatte irgendwann so kommen müssen. den unerkannt. letzung im Amt zu vier Monaten Frei- Doch der Fall, der sich auf Sylt im Fe- Am 22. Februar fiel der Geschäftsinha- heitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Aus- bruar ereignete, zu ruhiger Zeit also, in berin ein junger osteuropäisch wirkender rutscher? der von einer Überforderung der Ord- Mann auf, der sich verdächtig verhielt und Vor zwei Jahren mussten sich in Mün- nungshüter kaum die Rede sein kann, ist ausgerechnet nach Luxusuhren fragte. Sie chen vier Polizeibeamte der „Wies’n-Wa- damit nicht zu vergleichen. Es geht um das verständigte die Polizei, die sogleich ein che“ vor Gericht verantworten, weil sie Fehlverhalten eines Einzelnen, der sicher Spezialeinsatzkommando (SEK) aus Eutin Passanten misshandelt, zu Unrecht auf die nicht die gesamte Polizei repräsentiert. zur Observierung in Gang setzte. Zu den Wache geschleift und dort festgehalten hat- Doch dieser einzelne Beamte stellt sich in Vorsichtsmaßnahmen gehörte, dass die La- ten. In diesem Prozess wurde deutlich, wie einer Art und Weise dar, die manche Fra- dentür verschlossen und Kunden nur nach oft die Folgen politischer Entscheidungen ge aufwirft. Sichtkontrolle eingelassen werden sollten. gerade von der Polizei ausgebadet werden Seit September vorigen Jahres wurden Tags darauf erschienen tatsächlich zwei müssen und dass die Anforderungen an die in Deutschland zahlreiche Raubüberfälle Verdächtige. Da sie nicht mit einer ver- Beamten bisweilen groteske Ausmaße an- auf Juweliergeschäfte verübt, die alle ähn- schlossenen Tür rechneten, prallten sie nehmen – 80 Polizisten auf dem Oktober- lich abliefen. Ein maskierter Täter bedroht förmlich dagegen, als sie, vermummt und

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R. steht auch dazu, einen der Polen „Schwein“ genannt zu haben. Er bestreitet nicht. Er ist von sich überzeugt. Denn: Emotionsgeladen, wie er in dem Moment nun mal war, könne so etwas bei ihm schon vorkommen. Strafrechtlich relevant sei das seiner Meinung nach sowieso nicht. Warum emotionsgeladen? Die Polizei hatte gerade einen für die Insel beachtli- chen Erfolg errungen, inzwischen waren vier Verdächtige festgenommen. Ein Raubüberfall konnte verhindert werden. Die Arretierten, ruhig und gefasst. Er habe nun mal berufsbedingt etwas ge- gen Straftäter, erklärt R., und je gewichtiger die Straftaten seien, die begangen würden, desto wütender sei er auf diese Leute. Das seien für ihn einfach Schweine. Und wenn man ihm vorhalte, dass so ein Verhalten doch nicht in Ordnung sei – Gott , es könn- te ihm durchaus wieder passieren. Der Flensburger Staatsanwalt Joachim Berns zweifelt nicht an den Vorkommnis- sen. Aber die Schuld des Täters R., die sei

WIDERA / SYLT PICTURE / SYLT WIDERA doch gering. Bislang sei R. strafrechtlich Westerländer Polizeistation: Jeder Mensch verdient doch eine ordentliche Behandlung auch noch nicht in Erscheinung getreten. Die Folgen der Taten, die er gar nicht er- mit Schreckschusswaffen ausgestattet, das haben. Aus Angst vor dem Vorwurf, nicht mittelt hat, erscheinen dem Staatsanwalt Geschäft stürmen wollten. An Ort und Stel- eingeschritten zu sein? ebenfalls als gering. Kein Wort zu R.s Be- le wurden sie festgenommen. Einer von ih- Man muss R. selbst reden hören, will man rufsauffassung. Er schlägt vor, die Sache nen, ein damals 16-Jähriger, machte noch etwas über seine Beweggründe erfahren. gegen eine Geldbuße von 500 Euro einzu- am Tatort die Beamten auf zwei Kumpane In der Beschuldigtenvernehmung vom 26. stellen. Weg mit dem Fall. aufmerksam, die in einem roten Golf im März sagt er wörtlich: „… und mir persön- Der Verteidiger des heute 17-jährigen Stadtgebiet unterwegs seien. lich bekannt ist, und das ist auch gar nichts Polen, der Lübecker Rechtsanwalt Frank- Die Festgenommenen werden zur Wes- Neues, dass die“ – gemeint sind die Polen – Eckhard Brand, ist damit ganz und gar terländer Polizeistation gebracht und dort „ein extrem starkes Verhalten an den Tag le- nicht einverstanden. „Weder das Verschul- auf eine Bank gesetzt. Nun betritt der gen, was auch die Fluchtmöglichkeiten pp. den des Beschuldigten ist gering, noch sind Polizeioberkommissar R., 33, Dienstgrup- angeht. Ich persönlich gehe kein Risiko ein, es die Folgen“, schreibt er in einer Dienst- penleiter an dem Tag, die Szene. wenn ich Straftäter dieser Couleur auf der aufsichts- und Sachbeschwerde gegen Die beiden Polen, die sich friedlich ver- Wache habe … Und die Maßnahmen, die Staatsanwalt Berns. halten, dürfen nun nicht mehr sitzen blei- ich dazu treffe, die mir dann in den Sinn Denn, so der Anwalt: „Es soll hier in ben, sondern müssen sich, die Hände auf kommen, die waren für mich meines Er- keiner Weise beschönigt werden, dass dem den Rücken gefesselt, auf den Fußboden achtens auch völlig verhältnismäßig.“ Geschädigten ein Verbrechen zur Last ge- legen. Einer bittet um Wasser. Der Beamte Der Fußtritt, den er unumwunden zu- legt wird, welches in den Bereich der vom SEK legt in einem Vermerk nieder, gibt, ist seiner Meinung nach allenfalls Schwerstkriminalität fällt. Dafür wird er wie R. sich sehr stark darüber erregt habe ein Vorbeischrammen gewesen mit der vor ein deutsches Gericht gestellt und ver- und sinngemäß antwortete, es sei ihm egal, urteilt werden. Es geht hier um das Ver- ob der Pole etwas zu trinken wolle. Solche halten des Beschuldigten, der als Polizei- Leute hätten hier nichts zu wollen. beamter sich besonderer Pflichten ge- Ein anderer SEK-Beamter gibt zu Pro- genüber den in Gewahrsam genommenen tokoll, dass R. plötzlich anfing, den 16-jähri- Personen zu versehen hat. Wenn ein Poli- gen Polen anzubrüllen. Dann ihm ins Ge- zeibeamter die Stadt Westerland als ,seine‘ sicht trat. Dann ihm in die Haare griff und Stadt ansieht und meint, auf prozessuale den Kopf hochriss, um Namen von Kom- Grundsätze verzichten zu können, die im- plizen zu erfahren. merhin Verfassungsrang haben, dann ist Ein weiterer SEK-Beamter erinnert sich, auch mit Hilfe der Ermittlungsbehörden dass R. schrie, was dem Polen denn einfal- hier Einhalt zu gebieten.“ le, hier in „seiner“ Stadt einen Überfall zu Der junge Pole, warum wehrte er sich

begehen. Ein solches Schwein dürfe nicht FROMMAN RONALD nicht? Er habe gemeint, es sei sinnlos, sagt auf „seiner“ Bank sitzen. Der SEK-Mann Verteidiger Brand er. Sein Landsmann vermutet, ein deut- bittet R. mehrfach, sich zu mäßigen und „Hier ist Einhalt zu gebieten“ scher Polizist dürfe das. Beleidigt habe er den Festgenommenen in Ruhe zu lassen. sich schon gefühlt, sagt der Junge, und Die Beamten aus Eutin erstatteten Straf- vorderen Außenkante seines Schuhs. außerdem verdiene jeder Mensch doch anzeige gegen R. wegen Körperverletzung Nicht schlimm, es ist doch nichts pas- eine ordentliche Behandlung, egal, was er im Amt, Verdacht der Nötigung und siert. Das Herumschreien wegen mög- auch getan habe. Denn er sei ja kein noto- Beleidigung. Die Westerländer Polizisten licher Komplizen – nach zwei, drei Se- rischer Dieb, der durch die Gegend fahre hingegen, die unmittelbaren Kollegen R.s, kunden schon erzählt der Pole, wer seine und Leute bestehle. Er sieht in seinem Ver- wollten weder sein unflätiges Gebrülle „Friends“ sind. Eine doch sehr wirksame halten in Westerland eine Art Ausrutscher. noch den Tritt ins Gesicht mitbekommen Methode. Noch ein Ausrutscher also. ™

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Der Papst hat das Heft in der Hand“ Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, über den Skandal pädophiler Priester, die Macht der Kirche in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft und die Gebrechlichkeit von Johannes Paul II.

SPIEGEL: Herr Kardinal, der Betreffende wird, wenn die In- Skandal um Hunderte pädo- dizien reichen, sofort von sei- philer Priester in den USA hat nem Amt suspendiert. Das ist das Ansehen der katholischen aber Sache der einzelnen Diö- Kirche weltweit schwer er- zesen, die Bischofskonferenz schüttert. Wie steht es um die ist hier nicht zuständig. Im moralische Glaubwürdigkeit Übrigen haben die US-Bischö- Ihrer Institution? fe vorvergangene Woche ent- Lehmann: Die moralische Glaub- schiedene Regeln aufgestellt würdigkeit leidet, wenn man mit und auch manches eigene Ver- solchen furchtbaren Ereignissen halten bedauert. nicht verantwortlich umgeht. In- SPIEGEL: Jeder Einzelfall rich- sofern glaube ich durchaus, dass tet enormen Schaden an. es ganz deutliche quantitative Lehmann: Natürlich. Deswegen wie qualitative Unterschiede muss unser erster Blick und zwischen der Skandalwelle in alle Aufmerksamkeit auch den USA und dem Umgang mit zunächst einmal dem Opfer der Frage in Deutschland gibt. gelten. Ich habe gleich, nach- Wir haben in Deutschland keine dem ich ein paar Wochen als

Skandalwelle wie in den USA. MARCO-URBAN.DE neuer Bischof in Mainz war, SPIEGEL: Wie viele Fälle gibt es Kardinal Lehmann: „Keine Massenhysterie anzetteln“ einen sehr schwer wiegenden denn in Deutschland? Fall gehabt. Damals habe ich Lehmann: In meiner Diözese Mainz sind zum Einschreiten aufgerufen. In eindeu- mich sofort dazu entschieden, die Öffent- es in den 19 Jahren, in denen ich Bischof tigen Fällen – wir tappen ja auch oft län- lichkeit zu informieren. Andere mögen bin, insgesamt vielleicht drei oder vier ger im Dunkeln herum – bewegen wir den anders gehandelt haben. Aber spätestens Fälle gewesen. Eine bundesweite Über- Täter zur Selbstanzeige. Dies ist für alle das offene Wort des Papstes an die Ame- sicht gibt es nicht. Nochmals: Wir haben besser. Außerdem führen wir eigene Vor- rikaner in dieser Angelegenheit hat doch das Problem nicht in diesem Ausmaß. untersuchungen durch; nach dem Kir- jedem Bischof die Augen geöffnet, dass Warum soll ich mir den Schuh der Ameri- chenrecht ist das auch vorgeschrieben. Der er mit Kindesmissbrauch durch einen kaner anziehen, wenn er mir Priester nicht lasch umgehen nicht passt? kann. SPIEGEL: Aber auch in Deutsch- SPIEGEL: Hat es wegen der US- land hat die Kirche, wie in den Fälle in Deutschland Kirchen- USA, jahrelang nach dem Mot- austritte gegeben? to gehandelt: vertuschen, ver- Lehmann: In meinem Bistum ist setzen, bloß keine Justiz. mir kein Fall bekannt. Lehmann: Das mag früher in SPIEGEL: Kennen Sie einen Fall, Einzelfällen so gewesen sein, in dem die katholische Kirche Ich kenne – nicht nur in mei- in Deutschland wie die Ameri- nem Bistum – solche Fälle kaner Schweigegeld an die Op- nicht. Dass Pädophilie ein fer gezahlt hat? schweres, letztlich unheilbares Lehmann: Ich habe so etwas Fehlverhalten ist, ist seit Jahren bei uns noch nie gehört. Um bekannt. Seither muss jedem Gottes willen, nein. bewusst sein, dass man Priester, SPIEGEL: Sie wollen sich den die sich verfehlt haben, nicht Schuh der Amerikaner nicht einfach versetzen kann. Das ist anziehen. Aber ein bisschen allen Bischöfen klar. tun Sie es doch: Die deutschen SPIEGEL: Schalten Sie in Ver- Bischöfe haben eine Kommis- dachtsfällen die Justizbehörden sion beauftragt, die das Pro- ein? blem bei uns untersuchen soll. Lehmann: Dies ist nicht unsere Warum wurden nicht einfach Aufgabe. Die Behörden schal- für alle Diözesen verbindliche ten sich selbst ein und werden Greiser Papst*

* Am 24. Mai in Sofia. / AFP GOULIAMAKI / DPA LOUISA „Im Herzen jung“ 54 Werbeseite

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Regeln im Umgang mit pädophilen Pries- pen. Dass sich Leute mit einer solchen Ver- genau geprüft werden muss. Wir haben tern beschlossen? anlagung durchaus kirchlichen Berufen uns gefragt, ob homosexuelle Veranlagung Lehmann: Wir haben große Diözesen, die in nähern können, wird man nicht in Abrede allein ein Grund sein kann, jemanden ab- Jahrzehnten eigene Erfahrungen gesam- stellen können. Wir haben schon vor Jah- zuweisen. Wenn aber eine homosexuelle melt haben, wie sie mit diesen Delikten ren eine ähnliche Arbeitsgruppe gegrün- Praxis vorliegt, dann sind wir fest ent- umgehen und dies nicht einfach an eine det, in der wir zum Beispiel die Frage erör- schlossen, ihn nicht zur Priesterweihe zu- übergeordnete Stelle abtreten wollen. In tert haben: Wie verhalten wir uns zu homo- zulassen. der Arbeitsgruppe sitzen erfahrene Leute, Psychiater, Therapeuten, Mediziner, Per- sonalchefs, Priestererzieher, übrigens Frau- en und Männer. SPIEGEL: Kinderschändung ist Kinder- schändung, ob sie nun in einer Diözese im Süden, Norden oder Westen Deutschlands stattfindet. Die Gläubigen haben Angst um ihre Kinder. Lehmann: Es ist völlig klar, dass jeder Fall schon ein Fall zu viel ist. Man darf aber auch keine Massenhysterie anzetteln und so tun, als kämen diese Delikte en masse vor. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Und gegen diesen Verdacht wehre ich mich ganz entschieden, auch im Namen und zum Schutz vieler untadeliger Priester. SPIEGEL: Der katholische Psychotherapeut Wunibald Müller, der auch psychisch an- geschlagene Priester betreut, sagt: Zwei Prozent aller Priester sind pädophil veran- lagt. Das wären in Deutschland 200 bis 300 bei insgesamt 13000 Klerikern. Jeder ein- zelne kann viel Unheil anrichten. Lehmann: Noch einmal: Jeder einzelne Fall ist schlimm genug. Ohne Beweise darf

„Der Mitgliederschwund vergrößert sich durch die Kinder, die nicht mehr getauft werden“ man verantwortlich aber nicht so tun, als ob es eine Masse von Leuten wäre. Im Übrigen: Dass der von Ihnen zitierte Ex- perte, Dr. Wunibald Müller, Angestellter einer kirchlichen Einrichtung ist, die seit Jahrzehnten eigens für die Therapie von Angehörigen geistlicher Berufe da ist, zeigt doch, dass wir selbst längst therapeutisch arbeiten. SPIEGEL: Lockt der zölibatäre Priesterbe- ruf möglicherweise in besonderer Weise junge Männer an, die homosexuelle oder pädophile Neigungen haben? Seriöse Schätzungen von katholischen Pastoral- theologen sprechen von 20 bis 25 Prozent Priestern, die eine homosexuelle Veranla- gung haben. Lehmann: Die Bischofskonferenz hat diese Schätzungen zurückgewiesen. Ich kann nicht sagen, wie viele es sind. SPIEGEL: Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen Zölibat und homosexuellen Priestern? Lehmann: Ich sehe keine zwingende Ver- sexuell veranlagten Kandidaten im Pries- SPIEGEL: In der Gesellschaft gibt es eine be- bindung. Da wird auch von den allermeis- terseminar, wenn sie uns als solche bekannt trächtliche Nachfrage nach Religion, nach ten, die sich auskennen – sowohl von Herrn werden? Sinngebung, doch die Kirche profitiert da- Dr. Müller, aber auch von Therapeuten SPIEGEL: Und? Wie verhalten Sie sich? von immer weniger. Jahr für Jahr treten außerhalb der Kirche –, kein Kausalzu- Lehmann: Wir haben zunächst einmal als mehr als hunderttausend Menschen aus der sammenhang gesehen. Im Übrigen gibt es strengen Grundsatz, dass jeder einzelne katholischen Kirche aus. Wo sehen Sie die Pädophilie auch bei anderen Berufsgrup- Fall – oder besser: jeder einzelne Mensch – tieferen Ursachen für diese Kirchenflucht?

56 der spiegel 26/2002 Lehmann: Die Zahlen sind in einzelnen Bis- suche ich mir einen anderen Steuerberater. dividualisierung des Menschen von heute, tümern rückläufig, aber immer noch Was haben Sie noch vorzuschlagen?“ Die die Scheu vor längerfristigem Engagement beängstigend hoch; das will ich nicht leug- Hemmschwelle, dann einen Kirchenaus- bringen allerdings zusätzliche Einbußen. nen. Der Mitgliederschwund vergrößert tritt zu empfehlen, ist im Vergleich zu Natürlich gibt es auch viele Leute, die mit sich heute noch durch die Kinder, die nicht früher oft nicht mehr vorhanden. den Normen der Kirche vor allem in indi- mehr getauft werden. Deren Zahl ist in- SPIEGEL: Es gibt offenbar Dinge, die den vidualethischer Hinsicht nicht einverstan- zwischen größer als die der Austritte. Die Leuten wichtiger sind. den sind und deshalb austreten. SPIEGEL: Welche Normen? Lehmann: Das Verständnis von Ehe und Fa- milie, die ganze Sexualmoral; der Protest geht bis in die Fragen der Bioethik hinein. SPIEGEL: Ein gutes Stichwort: In der aktu- ellen Debatte um die Tötung und Verwer- tung von menschlichen Embryonen zeigt sich deutlich, dass der Einfluss der Kirche in dieser Gesellschaft rapide sinkt. Lehmann: Das kann ich so nicht akzeptie- ren: Die Kirche hat in ethischen Fragen MARCO-URBAN.DE Lehmann beim SPIEGEL-Gespräch* „Wir tappen oft länger im Dunkeln“

wohl nie eine unumstrittene Gefolgschaft gehabt, auch wenn der Dissens eher ver- borgen war. Dieses romantische Gegenbild ist historisch nicht zu halten. Was die De- batte um Bioethik und Gentechnik angeht, bin ich im Übrigen gar nicht so pessimis- tisch. Da ist eine respektable Gruppe von Sachverständigen und Parlamentariern auf unserer Seite. 265 von 618 Abgeordneten haben gegen den Import von menschlichen embryonalen Stammzellen gestimmt. SPIEGEL: Aber eben keine Mehrheit. Lehmann: Wir können da und dort keine Mehrheit gewinnen, aber wir können dazu beitragen, bestimmte Lösungen zu verhin- dern und partielle Verbesserungen in die Gesetze einzubringen. Auch sonst sind wir und unsere Argumente in der Gesellschaft durchaus gefragt. Ich habe manchmal bis zu 20 Anfragen pro Tag, vor Fachleuten den Standpunkt der Kirche darzulegen, nicht zuletzt vor Medizinern aller Fach- richtungen. Im Übrigen kommt die nächste Probe bei der Präimplantationsdiagnostik. Da bin ich zuversichtlich. SPIEGEL: Eben erst hat der Bundesgerichts- hof die Abtreibungsgesetzgebung bestätigt Sozialisation der Kirche funktioniert in vie- Lehmann: Wir merken aber auch, dass Men- – ein neuer Schlag gegen die katholische len Bereichen einfach nicht mehr. Nicht schen in Krisensituationen durchaus die Ethik. zu unterschätzen sind außerdem finanziel- Hilfe und den Beistand der Kirche suchen. Lehmann: Das Urteil zeigt, dass die Selek- le Gesichtspunkte. Wir wissen, dass zum Ereignisse wie die Terroranschläge des tion von Menschen auf Grund ihrer Behin- Beispiel der Druck auf die Steuerberater 11. September und der Amoklauf von Er- zum Teil sehr groß ist: „Wenn Sie beim Fi- furt haben das in jüngster Zeit noch einmal * Mit Redakteuren Ulrich Schwarz und Peter Wensierski nanzamt nicht mehr herausholen können, sehr deutlich gezeigt. Die hochgradige In- im Berliner Haus der Deutschen Bischofskonferenz.

der spiegel 26/2002 57 Lehmann: Wir haben einen Papst, der in der Lage ist, Bischöfe zu ernennen, er- folgreiche Reisen zu machen, Gottesdiens- te an den großen Festen zu halten. Er hat vor, Ende Juli zum Weltjugendtag nach Toronto zu kommen. Ich habe erlebt, wie er vor zweieinhalb Jahren in Rom beim Weltjugendtag war, ein Jahr später beim Internationalen Ministrantentag. Er kann in einer Weise auf junge Leute zugehen, die ihresgleichen sucht. Und die jungen Menschen verstehen sehr gut, was dieser alte und doch im Herzen junge Mann auch in seiner Gebrechlichkeit für sie und die Welt bedeutet. Es gibt darum keinen Grund, sich zu Spekulationen über eine „Geschäftsunfähigkeit“ des Papstes zu äußern.

PAUL BUCK / DPA PAUL SPIEGEL: Sie sind ein gebranntes Kind. Vor Protest gegen pädophile Priester (in Dallas): „Warum soll ich mir den Schuh anziehen?“ zwei Jahren sind Sie in italienischen Zei- tungen zitiert worden, Sie hätten den Rück- derung in unserer Gesellschaft bereits Rea- zusammenkommt und sagt, dass der Papst tritt des Papstes gefordert. lität ist. Es macht in erschreckender Weise in seiner Geistesgegenwart eingeschränkt Lehmann: Es ist nachgewiesen, dass ich deutlich, wie schlecht es inzwischen um und nicht mehr in der Lage wäre, die Kir- falsch übersetzt worden bin. Manche such- den Schutz ungeborenen Lebens in unse- che zu führen. Das kann ich auch aus eige- ten einen, den sie sagen lassen wollten, rem Land bestellt ist. Unbegreiflicherweise ner Erfahrung bestätigen. Die Entschie- was sie selbst sagen möchten, sich aber – definiert der Bundesgerichtshof die Geburt denheit in der Frage sexueller Übergriffe mindestens damals – nicht trauten. eines Kindes mit körperlichen Fehlbildun- von Priestern auf Minderjährige in den USA SPIEGEL: Inzwischen ist der Papst-Rücktritt gen als Schadensfall. Diese Entscheidung etwa ist ein Beleg dafür, dass der Papst in kein Tabu mehr. Selbst Kardinal Joseph widerspricht sowohl dem christlichen Men- der Kirche das Heft fest in der Hand hat. Ratzinger, einer der treuesten Gefolgsleu- schenbild als auch dem Wertkonsens des SPIEGEL: Von der jüngsten Bulgarien-Reise te des Papstes, schließt einen Rücktritt sei- Grundgesetzes. des Papstes flimmerten deprimierende nes Chefs nicht mehr aus. SPIEGEL: So deutliche Kirchenworte wie Fernsehbilder in die Wohnstuben. Zu be- Lehmann: Der Papst wird zur rechten Zeit diese hat der Zentralrat der Juden in der sichtigen war ein seiner Sprache und seines wissen, was er tut. Antisemitismus-Debatte um Jürgen Möl- Körpers nur noch partiell mächtiger Greis. SPIEGEL: Und Sie wollen auch nicht über lemann vermisst. Die „Neue Zürcher Zeitung“ hat Johannes den Nachfolger spekulieren? Lehmann: Allein ich persönlich habe mich Paul II. vornehm eine „Ikone des Gebre- Lehmann: Mit der Frage der Nachfolge vier oder fünf Mal öffentlich geäußert. chens“ genannt. Sind solche Bilder und werde ich mich in dem Augenblick be- SPIEGEL: Sie haben vor allen Dingen ein Kommentare nicht kontraproduktiv? schäftigen, in dem ich zu einem Konkla- Ende der Debatte gefordert. Lehmann: Das mag für einige Leute gelten. ve gerufen sein sollte, falls ich das über- Lehmann: Weil ich nicht Lust hatte, mich Andererseits: Der Vorsitzende des Rates haupt erlebe; der Papst kann älter werden in eine öffentliche Privatfehde einzulas- der Evangelischen Kirche in Deutschland, als viele, die über seine Nachfolge reden. sen. Weil ich diese unsägliche Debatte, Präses Manfred Kock, hat zu Pfingsten ge- SPIEGEL: Ratzinger schließt einen schwar- bei der überhaupt nichts herauskommen schrieben – das ist auch längst meine Über- zen Papst nicht aus. konnte, nicht verlängern wollte. Es fehlt zeugung –, dass der Papst in dieser Ge- Lehmann: Ob es dann ein Afrikaner, ein wirklich nicht an Interventionen der Kir- brechlichkeit, aber auch in der Treue zu Südamerikaner oder wieder ein Italiener che zum Verhältnis Judentum und Chris- seinem Amt vielen Menschen, die krank ist, der vom Regieren auch auf Grund der tentum und der Verurteilung des Anti- und gebrechlich sind, durchaus ein Bei- ganzen römischen Regierungskunst inner- semitismus. Wir müssen nicht auf jeden spiel gibt, dass man nicht einfach davon- halb und außerhalb von Kirche etwas ver- medial inszenierten Zug läuft, sondern an seiner steht, überlasse ich der Zukunft. aufspringen. 193 Stelle bleibt, solange man SPIEGEL: Was ist die wichtigste Aufgabe, SPIEGEL: Der jüngste Ver- irgendwie kann. Ich ken- die den Nachfolger erwartet? lust an Ansehen trifft die 156 ne sehr viele Leute, die Lehmann: Neben der Verkündigung der Kirche ausgerechnet im durchaus Distanz zur Kir- Grundwahrheiten des christlichen Glau- Augenblick, da ihr obers- 144 che haben, die aber gera- bens die Fragen der Gerechtigkeit. Davon 133 130 ter Repräsentant aus ge- 119 de diesen Punkt immer hängt das Ansehen der Kirche in einer sundheitlichen Gründen wieder respektvoll her- immer stärker säkularisierten Welt ganz kaum noch in der Lage zu vorheben. fundamental ab. Neu führen muss er noch sein scheint, seine Institu- SPIEGEL: Regeln für den einmal die alte Diskussion über das Ver- tion zu regieren. Ängstigt Austritte aus der Fall, dass der Papst ge- hältnis der Ortskirchen, der Teilkirchen Sie das nicht? katholischen Kirche schäftsunfähig wird, etwa zum Zentrum der Weltkirche. Das andere Lehmann: Nein, das ängs- in Tausend in Deutschland wegen Demenz, gibt es überlasse ich dem Konklave. Es wird ja tigt mich nicht. Ich leide nicht. Die katholische Kir- wohl kein Papst gewählt, ohne dass vorher mit dem Papst, dass er von che wird absolutistisch re- eine intensive Aussprache über die Situa- seinem Amt her in einer so giert, ihr Oberhaupt ist tion der Kirche stattfindet. Und wer ge- gebrechlichen Weise auf- nicht absetzbar. Ein sol- wählt wird, hat sicher sehr aufmerksam zu- tritt und erscheint. Ich Quelle: cher Zustand könnte Jah- gehört. habe aber noch niemanden Deutsche Bischofskonferenz re andauern. Wird die Kir- SPIEGEL: Herr Kardinal, wir danken Ihnen getroffen, der öfter mit ihm 199092 94 96 98 2000 che da nicht unregierbar? für dieses Gespräch.

58 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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Abgewickelt wurden die Lieferungen mittelt. So wurde Bastian verurteilt, weil LEBENSMITTEL laut Staatsanwaltschaft über die Berliner er durch den Verkauf von verdorbenen Firma Euro Bio Korn, ein nach EU-Nor- Fleisch- und Wurstwaren, so die Richter, Saubere Fassade men zertifiziertes Unternehmen. Eigentü- „eine erhebliche Gefährdung der Gesund- mer: Yggfried S., 40, der Schwager von Bas- heit für weite Teile der Bevölkerung“ in Der Bio-Boom lockt auch tian. Der Betrieb galt bei Kunden jahrelang Kauf genommen hatte. Außerdem wurde als „sauber“, weil sich das Unternehmen ein vierjähriges Berufsverbot verhängt. zwielichtige Gestalten ins Geschäft. dem EU-Kontrollverfahren für den ökolo- Bastian ließ sich durch kein Urteil und Ein Agraringenieur soll riesige gischen Anbau unterworfen hatte. keinen Knast abschrecken. Die wirtschaft- Mengen konventionelles Getreide Dennoch liefen die Geschäfte schlecht. liche Notlage seines Schwagers kam ihm als Öko-Ware verkauft haben. S. konnte die seinen Abnehmern zugesag- offenbar gerade recht. Mit der Firma Euro ten Getreidemengen nicht liefern. Zudem Bio Korn hatte er eine nach außen saube- er Angeklagte Hans-Ernst Bastian, war er nicht liquide, das finanzielle Ende re Fassade für seine trüben Geschäfte. 52, kann sich im Bad Kreuznacher schien nah. Kein Korn der rund 29000 Tonnen Spei- DLandgericht nur mühsam voranbe- Just zu dieser Zeit frischte die Schwester se- und Futtergetreide, die Bastian zwi- wegen: Richter Bruno Kremer, Vorsitzen- von Yggfried S., Bastians Ehefrau, die Kon- schen Juni 1999 und August 2000 für über der der Wirtschaftsstrafkammer, hat be- takte nach Berlin auf. Ihr Mann, der gera- elf Millionen Mark verhökert haben soll, sondere Sicherheitsvorkehrungen ange- de aus einer sechseinhalbjährigen Haft we- wurde laut Ermittlungen nach den Richt- ordnet. Bastian muss Fußfesseln aus Metall gen illegaler Getreidegeschäfte entlassen linien des biologischen Landbaus erzeugt. tragen, wie ein Gewalttäter. worden war, könne eventuell helfen. Einen Teil der Lieferungen kaufte Bastian in Polen, aber auch bei etlichen Niederlassungen von Raiffeisen-Genossen- schaften zwischen Kiel und besorgte er Ware. Dabei bediente er sich Tarnfirmen, die eigens zu diesem Zweck in Luxemburg gegründet worden waren. Anschließend fälschte er laut Anklage Zer- tifikate und verkaufte das Getreide unter dem Namen der Firma seines Schwagers. Im April 2000 entdeckten belgische Kon- trolleure gefälschte so genannte Ecocert-Be- scheinigungen. Darin wurde einer im rhein- land-pfälzischen Altenglan ansässigen Bas- tian-Firma bescheinigt, sie sei am EU-weiten

FOTOS: ROLF MÜLLER / NEWSHOUSE MÜLLER ROLF FOTOS: Kontrollverfahren für Bio-Produkte betei- ligt – was nicht stimmte. Verdacht geschöpft hatten die Belgier un- Bastian-Hof in Altenglan ter anderem wegen sprachlicher „Lücken im Kontrollsystem“ Mängel in den auf Französisch abgefassten Dokumenten. Dabei ist der Mann nicht wegen Mordes Umgehend alarmierte darauf- oder Totschlags angeklagt. Bastian steht hin die Agraraufsicht in Trier die als Großbetrüger vor Gericht: Er soll, Staatsanwaltschaft. Im Januar gemeinsam mit seiner Frau, seinem Sohn, vergangenen Jahres wurde Bas- einem Neffen und seinem Schwager, fast tian in Polen festgenommen 29000 Tonnen konventionelles Getreide als und im Juni nach Deutschland Erzeugnis aus „kontrolliert ökologischem ausgeliefert. S. sitzt seit vorigem Anbau“ europaweit an Kunden verhökert November in Untersuchungs- haben. haft. Er stellt sich als Opfer sei- Der Fall zeigt, wie leicht Betrüger, so nes Schwagers dar. Bastian, der die Ermittler, „Lücken im Kontrollsystem“ sich zur Sache vor Gericht bisher des Bio-Handels ausnutzen können. Und nicht geäußert hat, bezichtigt er zeigt vor allem, wovon Experten schon Angeklagter Bastian (M.): „Ich werde dich umbringen“ Yggfried S. dagegen in Briefen, länger warnen: dass der Run auf Bio-Pro- alles gewusst zu haben. dukte ehrliche Erzeuger überfordert und Bastian bot dem Kornhändler an, er kön- Die Staatsanwaltschaft hält Bastian, der Abzocker in die Bresche springen. ne die benötigten Getreidemengen be- einst im Schattenkabinett des Republika- Bastian und seine Familie konnten laut schaffen. S. willigte ein, obwohl er von den ner-Gründers Franz Schönhuber als Land- Anklage Kunden und Behörden 15 Mona- Vorstrafen des Schwagers wusste. wirtschaftsminister vorgesehen war, für ei- te lang mit gefälschten Zertifikaten täu- Agraringenieur Bastian kennt den Ge- nen extrem gefährlichen Mann. Sie fordert schen, bevor das lukrative Geschäft auf- treidemarkt seit Jahrzehnten bestens – vor deshalb – höchst ungewöhnlich bei Betrü- flog. Der Schwager vermarktete demnach allem von dessen illegaler Seite. Allein für gern – Sicherungsverwahrung für ihn. Bas- die Produkte, der Sohn transportierte sie, die Strafverfahren, die Bastian schon hin- tian käme dann auch nach Verbüßen einer die Ehefrau schrieb die Rechnungen, und ter sich hat, benötigte der Bad Kreuzna- Haftstrafe zunächst nicht auf freien Fuß. der Neffe übernahm den Vertrieb. Profi- cher Staatsanwalt Bernhard Mann in seiner Selbst vor Drohungen gegen seine Ehe- tiert haben sollen alle prächtig, kostet Bio- Anklageschrift acht Seiten. frau schreckte Bastian offenbar nicht Getreide doch oft doppelt so viel wie Seit Anfang der siebziger Jahre wurde zurück. Ihr Mann habe angekündigt, „ich normales. Auf mehr als fünf Millionen gegen Bastian immer wieder wegen Be- werde dich umbringen“, falls sie gegen ihn Mark schätzen die Ermittler den Gewinn trügereien und Urkundenfälschungen bei aussage, so die Zeugin vor Gericht. bei dem Schmu. der Vermarktung von Lebensmitteln er- Wilfried Voigt

60 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite BILDUNGSSERIE TEIL 7 ABITUR

HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS Abiturienten (in Husum): „Die hohe Kunst des Schwafelns“ Zeugnis ohne Wert Das Abi ist nicht mehr der Garantieschein für eine sichere Zukunft. Die Professoren sprechen den meisten Abiturienten die Fähigkeit zum Studium ab, die Universitäten wollen sich die Erstsemester zunehmend mit eigenen Tests auswählen. Doch nicht bloß die Abschlussprüfungen sind fragwürdig: Auch der Unterricht in der Oberstufe muss neue Wege gehen.

er Bundespräsident hat es nicht, der Abitur, junger Herr Riehl-Heyse?“ Der Re- ministerium unter Leitung der Strauß- Außenminister auch nicht, und der porter der „Süddeutschen Zeitung“ konn- Tochter Monika Hohlmeier an den Gym- DKanzler hat es erst spät auf dem te immerhin nicht nur das Abgangszeugnis nasien des Freistaats zentral gestellt hat. zweiten Bildungsweg errungen: das amtli- des Gymnasiums in Burghausen an der Im Leistungskurs Deutsch sollten die ar- che Zeugnis der geistigen Reife, das den Salzach vorweisen, sondern auch noch die men Abiturienten am Beispiel eines Streits Besuch der Universität erlaubt und den zweite juristische Staatsprüfung mit der zwischen Vater und Sohn Piccolomini in Aufstieg zur Elite des Landes ermöglichen Befähigung zum Richteramt. Friedrich Schillers Drama „Wallenstein“ soll. Man kommt auch weiter, ohne dem Aber was hilft es Herbert Riehl-Heyse „diese Behandlung eines Generationen- deutschen Gymnasium bis zum Ende die heute – dem Kisch-Preisträger, leitenden konflikts mit einem anderen literarischen Ehre zu geben. Redakteur und hoch angesehenen Journa- Werk samt dessen zeit- und literaturge- Manchmal hilft es schon, wenn man es listen? „Ich würde das Abitur nicht ge- schichtlichem Hintergrund vergleichen“, hat. Der Altphilologe und Studienrat Franz schafft haben“, bekennt er im Frühjahr die- erregt sich Riehl-Heyse: Ein „ungeheurer Josef Strauß donnerte unbotmäßige Fra- ses Jahres, 61 Jahre alt, angesichts der Prü- Anspruch, dessen Zwillingsschwester die gesteller gern an: „Haben Sie überhaupt fungsaufgaben, die das bayerische Kultus- Hochstapelei der zu Prüfenden ist und sein

62 der spiegel 26/2002 muss“. Das Zeugnis für das Abitur fällt Wege zum Abitur Junge Abi machen sollte, war nie eine Fra- vernichtend aus: „Was in dieser Reifeprü- Schuljahre ge in der Familie. Vater und Mutter haben fung verlangt wird, ist die hohe Kunst des es und sind Juristen, der Sohn soll es auch Schwafelns.“ 13 12 Schleswig- werden. Aber nachdem Moritz Wilke- Das Abitur, einst unbestrittener Ein- Prüfungsaufgaben Holstein ning in der Staatsbibliothek die künf- trittsausweis einer bildungsbürgerlichen in den Bundes- tigen Kommilitonen dieser Gesellschaft, was ist es noch wert? Nume- ländern Mecklenburg- Fachrichtung gesehen hat, Vorpommern rus clausus und die Zentralstelle für die in allen Hamburg möchte er wohl doch lieber Schulen gleich etwas anderes machen, Jour- Vergabe von Studienplätzen (ZVS) haben Bremen das Zeugnis der Allgemeinen Hochschul- (Zentralabitur) nalist vielleicht oder Arzt. reife schon längst zu einem Faktor unter in jeder Niedersachsen Berlin Das Abitur jedenfalls ist vielen im Rennen um die Zulassung zur Schule Sachsen- für den Jahrgang 2002 wei- Brandenburg Universität gemacht. individuell Anhalt terhin „das Beste, was man Der Bundesländervergleich der Pisa-Stu- Nordrhein- machen kann“, wie Moritz die zeigt wieder einmal, dass die Ab- Westfalen Sachsen Wilkening sagt. Und sein gangszeugnisse zwischen Bayern und Schulkamerad Johannes Ho- Schleswig-Holstein, zwischen alten und Thüringen fer, 19, ergänzt: „Weil einem neuen Ländern, zwischen unions- und so- Rheinland- Hessen da alle Wege offen stehen auf der zialdemokratisch geführten Kultusbüro- Pfalz höchsten Schiene.“ kratien höchst unterschiedlichen Maßstä- Wenn sie sich da mal nicht täuschen. ben unterliegen. Unternehmen und Hoch- Saarland An den Universitäten ist der Kurs Umstellung für Bayern schulen vertrauen kaum noch allein auf Schüler, die ab des schulischen Reifebeweises den Abiturdurchschnitt von Bewerbern ziemlich abgestürzt. „Das Abitur, 2001/02 das Baden- und prüfen lieber noch einmal in eigener Gymnasium Württemberg Quelle: Kultus- eine Errungenschaft des preußi- Regie nach, was eigentlich die Lehrer be- beginnen ministerkonferenz schen Kulturstaats, verkommt zuneh- stätigen sollten: Dieser Schüler, diese Schü- mend zu einem Hochschuleintrittsbil- lerin ist reif für das Leben, für das sie ja an- lett von zweifelhaftem Wert“, be- geblich gelernt haben. Verwaltungsakt, das zeigten die amtlichen hauptet etwa der Präsident der Technischen Moritz Wilkening, 19, vom Münchner Stempel auf den Aufgaben, das streng re- Universität München, Wolfgang Herrmann. Willi-Graf-Gymnasium, nahm das Abi 2002 glementierte Kartenziehen für die Sitz- Der Professor spricht aus, was die Mehr- ziemlich cool. „Wenn man das System plätze im Prüfungsraum. heit seiner Kollegen an den deutschen Schule kapiert hat“, meint er, „reicht ein Und dann kam die „Hasenkatastrophe“. Hochschulen denkt. Nur gut jeder zehnte Tag Vorbereitung auf die Prüfung.“ Am Von . Den Titel hatte der Prüf- Universitäts- und Fachhochschullehrer hält Abend vor dem Schriftlichen trank er mit ling noch nie gehört. Erschließen Sie den das Abitur für einen sicheren Nachweis der seinen Eltern ein Bier, und dann noch eins. Text, hieß die Vorgabe im Deutsch-Abitur, Studierfähigkeit, ergab eine Umfrage des Morgens war er doch etwas aufgeregt und vergleichen Sie, wie die Natur zum Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im und eine Dreiviertelstunde zu früh vor der Fortschreiten der Handlung beiträgt. Ein vergangenen Jahr. Fast die Hälfte der Be- Schule in der Nähe des Olympiaparks. Er Hund jagt da ein Hasenkind, und Moritz fragten traut dem Abgangszeugnis nur teil- machte die Tür seines Autos auf und hör- Wilkening fühlte sich wie das gehetzte Häs- weise oder gar nicht, rund 40 Prozent hal- te laut Musik. Der Puls ging hoch, als er chen. „Es ging mir schlecht“, sagt er und ten es immerhin „überwiegend“ für einen dann die Treppe zum dritten Stock hin- tröstete sich nur damit, dass es den ande- Ausweis tatsächlicher Hochschulreife. aufstieg. Da standen die Tische mit dem ren noch schlechter ging. Entsprechend skeptisch fällt das Urteil Schild „Kein Zugang. Abitur“, die Moritz Inzwischen hat der schwer Geprüfte das über die Qualität der Studienanfänger aus. Wilkening schon seit der fünften Klasse Abitur dann doch bestanden – wie rund In den drei Schulfächern, die von den Pro- mit ehrfürchtigem Schauder gesehen hat- 240000 andere deutsche Gymnasiasten und fessoren als die wichtigsten eingestuft wer- te. Jetzt ging es um einen bedeutsamen Fachoberschüler in diesem Jahr. Dass der den, gibt es viele schlechte Noten. 41 Pro- zent der Hochschullehrer bescheinigen den Erstsemestern wenig oder gar nicht ausge- prägte Kenntnisse in Mathematik. Ein Drit- tel konstatiert erhebliche Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Etwas besser sieht es bei Englisch aus: Da kritisieren nur ein gutes Viertel der Befragten den Aus- bildungsstand der Abiturienten. In weite- ren sechs Fächern sind jedoch sogar mehr als die Hälfte der Professoren unzufrieden mit den Jungakademikern: in der zwei- ten Fremdsprache, Geschichte, Wirtschaft, Philosophie, Kunst und Musik. Erhebliche Defizite bemängeln die Hoch- schullehrer auch bei den Grundlagen wis- senschaftlicher Arbeit. Es fehle den neuen Studenten an analytischen Fähigkeiten und Abstraktionsvermögen, meint über ein Drittel der Befragten. Rund die Hälfte der Professoren bekunden, die Abiturienten

MARC DARCHINGER MARC * Bei der Überreichung der Zeugnisse am 26. März in Kanzler Schröder, Abiturientin*: Auf dem zweiten Bildungsweg nach oben Dessau.

der spiegel 26/2002 63 BILDUNGSSERIE TEIL 7 ABITUR verfügten über keine ausreichende sprach- minare und Vorlesungen berichteten, oder schlechteren Schüler müssen auf die Real- liche Ausdrucksfähigkeit. Alles in allem hal- Exkursionen an Universitäten und Fach- schule, das bringt nichts, alle durchzupeit- ten ein knappes Drittel der deutschen hochschulen, doch im Unterricht selbst fehlt schen.“ So sieht es auch ihre Schulleiterin Hochschullehrer den Nachwuchs, der ih- die Vorbereitung auf das akademische Ar- Gabriele de Tinseau: „Das Abitur kann nicht nen von den Gymnasien geliefert wird, beiten. Ein wenig Einführung in struktu- leisten, die Schüler so auf die Hochschule schlicht nicht für das Studium geeignet. relles Denken im Geschichtskurs oder im vorzubereiten, wie die sich das vorstellt.“ Gewiss spiegeln diese negativen Ein- zwölften Schuljahr eine Lektion, wie man Wie die Berliner Abiturienten denken vie- schätzungen auch das übliche Vorurteil der selbständig mitschreibt und einen Ordner le junge Deutsche mit dem frisch erworbenen älteren Bildungselite gegenüber der an- führt, das war’s – „ich habe nie ge- geblich von Computerspiel und Fernseh- lernt, richtig zu lernen“, sagt Ve- „Das Abitur, eine Errungenschaft des soap verflachten Generation wider. Doch rena Jaeschke, die Grundschul- preußischen Kulturstaats, verkommt die so gescholtenen Kids zweifeln selbst, ob pädagogik studieren möchte. sie das Gymnasium wirklich auf das Le- Schon der normale Stoff kommt zunehmend zu einem Hochschuleintrittsbillett ben an der Hochschule vorbereitet. zu kurz, wenn Lehrer – wie in der von zweifelhaftem Wert.“ „Ich habe schon Angst, dass mir an der elften Klasse – wochenlang ausfal- Uni viele Grundlagen fehlen“, sagt Fabian len, ohne dass sie vertreten werden, und Berechtigungsschein für das Studium. 80 Pro- Dannenberg, der gerade an der Georg-Her- Fächer wie Erdkunde nur das halbe Schul- zent der Studienanfänger des Wintersemes- wegh-Oberschule in Berlin-Hermsdorf Ab- jahr unterrichtet werden können. „Die Leh- ters 2000/2001 bekannten bei einer Befra- itur gemacht hat. Und seine Mitschülerin rer sind echt überlastet“, gibt Khûe Phamin gung ernsthafte Wissens- und Fähigkeitsde- Khûe Phamin weiß schon: „Ich werde aus zu. Doch sie meint, dass die Qualitätsmän- fizite am Beginn ihrer akademischen Lauf- allen Wolken fallen an der Uni.“ gel des Abiturs auch am Bildungssystem bahn. Nach der Studie des Hochschul-Infor- Zwar gab es an ihrer Schule Studenten, liegen, das eine möglichst hohe Quote mations-Systems (HIS) in Hannover meint die in der Oberstufe von der Welt der Se- von Hochschülern produzieren will: „Die ein Drittel der Befragten, die Schule habe sie schlecht auf die Universität Berliner Abiturienten*: „Ich werde aus allen Wolken fallen an der Uni“ vorbereitet. Besonders Medizi- ner, Sprach- und Kulturwissen- schaftler sowie Studenten der Mathematik und Naturwissen- schaften beklagen sich darüber. Das Ausmaß an Selbstkritik bei den Abiturienten stimmt erstaunlich genau mit der Schelte der Professoren über- ein. Nur in der Gewichtung ih- rer Unfähigkeiten setzen die Erstsemester andere Akzente. Sie halten sich für weit fitter in Deutsch (67 Prozent), als die Dozenten sie einschätzen, und vermissen am meisten prakti- sche Computerkenntnisse (41 Prozent) – da trauen ihnen die wohl nicht so computererfah- renen Dozenten erheblich mehr zu. Den Schulen, ver- muten die HIS-Forscher, ist gar nicht bekannt, „welches Wissen und welche Fähigkei- ten für die Aufnahme eines Studiums in den verschiede- nen Studienrichtungen vor- ausgesetzt werden“. Statt jeden mit Abitur an die Uni zu lassen, würden sich die Professoren ihre Studen- ten am liebsten selbst aussu- chen. Fast 80 Prozent der Be- fragten in der IW-Studie wol- len die Hochschulen an der Auswahl beteiligen, teils nur bei Fächern mit Bewerber- überhang, fast die Hälfte aber grundsätzlich bei jedem Studium. Wenn er nur einen Wunsch frei hätte, um die

* Der Georg-Herwegh-Oberschule Ber- lin-Hermsdorf, in der ersten Reihe Khûe

WOLFGANG BELLWINKEL / OSTKREUZ BELLWINKEL WOLFGANG Phamin (2. v. r.). Werbeseite

Werbeseite BILDUNGSSERIE TEIL 7 ABITUR FALK HELLER / ARGUM HELLER FALK Münchner Abiturient Wilkening: Am Abend vor dem Schriftlichen zwei Bier mit den Eltern deutschen Universitäten zu ändern, meint schwerwiegenden Konstruktionsfehler: Ab- müssen sich die Professoren schon selbst der langjährige Präsident der kaliforni- gelehnte Bewerber können letztlich als engagieren.“ schen Stanford University, Gerhard Cas- Nachrücker über das Zuteilungssystem der Die TU München, deren Präsident Herr- per, „würde ich der Hochschule das Recht ZVS doch an die Uni gelangen. mann vehement für eine Uni-Auswahl gewähren, sich ihre Studenten selbst aus- Da verzichten viele Hochschullehrer lie- ficht, sucht zum Wintersemester in sechs zuwählen“. ber auf langwierige Gespräche mit den In- Studiengängen mit Eignungsfeststellungs- Sogar die Abiturienten, deren Reife- teressenten, delegieren den Aus- zeugnis bei solchen Verfahren abgewertet wahljob an Assistenten oder ver- „Es kann den Hochschulen nicht wird, sind keineswegs total gegen solche lassen sich doch auf die Abitur- zugemutet werden, dass sie jeden Testverfahren. Knapp die Hälfte, so die HIS- noten, die allenfalls entsprechend Befragung, sind ganz oder mit Einschrän- der Studienrichtung nach be- aufnehmen, selbst wenn er kungen für Aufnahmeprüfungen. „Das ist stimmten Fächern gewichtet wer- das Abitur mit Note vier gemacht hat.“ total gut“, meint Jonas Jacek, 19, der gera- den. Bayerns Wissenschaftsminis- de am Gymnasium Eppendorf in Hamburg ter Hans Zehetmair ärgert sich über diese verfahren, wie die Tests amtlich heißen, das Abitur geschafft hat, „da werden die Bequemlichkeit. „Wenn sie wollen, dass nach den Besten, etwa bei Mathematik. In rausgefiltert, die es wirklich wollen.“ Seine die ,richtigen‘ Studenten auch zu den ,rich- Briefen an alle Gymnasialdirektoren warb Kollegin Christin Lübcke, die in den USA ei- tigen‘ Professoren kommen, dann müssen Herrmann für seine Initiative „Abi + nen Mathe-Test kennen gelernt hat, hält die sie das Selbstauswahlverfahren auch ernst (Chancen für Jede und Jeden)“. Neben Ab- Auswahl durch die Unis für gerechter: nehmen“, fordert der CSU-Politiker, „da gangszeugnis und Lebenslauf sollen die In- „Dann sind die Vorausset- teressenten zunächst auf ein bis zwei Sei- zungen für alle gleich.“ ten begründen, warum sie das Fach und die Einen Teil der Studenten TU gewählt haben. könnten die Universitäten Wer diese Hürde nimmt, darf in einem schon jetzt selbst auswählen. Gespräch von 20 Minuten zeigen – so der In Numerus-clausus-Fächern Leitfaden im Internet –, ob er „erwarten wie Psychologie, Medizin lässt, das Ziel des Studiengangs mit seiner oder Betriebswirtschaft dür- anwendungsorientierten Ausrichtung auf fen die Unis seit knapp zwei wissenschaftlicher Grundlage selbständig Jahren 20 Prozent der Stu- und verantwortungsbewusst zu erreichen“. dienanfänger durch Bewer- So sollen Motivation und Grundverständ- bungsgespräche aussuchen – nis für das angestrebte Fach erforscht wer- ab dem nächsten Winterse- den. Wie die „Handreichungen“ der Kul- mester gar 24 Prozent. In Ba- tusminister versichern, könnten so auch den-Württemberg sind es auf „individuelle Lebensumstände und Ein- Grund einer Sonderregelung zelschicksale“ berücksichtigt werden. sogar 40 Prozent. Bei privaten Hochschulen sind Tests oh- Doch bis jetzt machen sich nehin die Regel, die Elite-Unis leisten sich wenige Hochschulen wirk- aber weit aufwendigere Aufnahmeprüfun- lich die Mühe eines inten- gen. Die Hamburger Bucerius Law School siven Tests. Denn das der- lässt die Aspiranten für den Juristenberuf zeitige Verfahren hat aus etwa im schriftlichen Test auch einen Essay Sicht der Professoren einen verfassen. Selbst beste Abiturnoten helfen

66 der spiegel 26/2002 nicht, wenn der Prüfling dabei versagt. Im bugsieren und so die hohen Abbrecher- Dagmar Schipanski (CDU) aus Thüringen, mündlichen Teil müssen die Bewerber und Wechselquoten zu reduzieren. meint: „Es kann den Hochschulen nicht nicht nur in Einzelgesprächen bestehen, Doch selbst perfekte Auswahlverfahren zugemutet werden, dass sie jeden aufneh- sondern auch bei Vorträgen und Diskus- würden nichts an dem Problem ändern, men müssen, selbst wenn er das Abitur mit sionen mit Konkurrenten brillieren. dass die Gymnasien aus Sicht von Profes- Note vier gemacht hat.“ Solche luxuriösen Veranstaltungen wer- soren wie Studenten nur unzureichend auf Natürlich studiert schon jetzt nicht jeder, den sich staatliche Hochschulen mit ihren die Hochschule vorbereiten. Und wenn der Abitur hat. Während in den siebziger Massenfächern wohl nie gestatten können. wirklich bundesweit alle Unis ihre Erst- Jahren noch rund 90 Prozent der Besitzer Die Tester von der TU München halten semester aussuchen würden – was sollte einer „Hochschulzugangsberechtigung“ sich immerhin zugute, Interessenten mit aus jenen Abiturienten werden, die bei von dieser auch Gebrauch machten, waren völlig falschen Vorstellungen vom gewähl- keinem Eignungstest durchkommen? Die es in den neunziger Jahren rund 70 Pro- ten Fach in die richtige Studienrichtung zu Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, zent. Die Abiturienten drängten beispiels-

steine dieser Naturstoffe sind die Aminosäu- ren. Zeichnen Sie die allgemeine Strukturfor- mel eines Aminosäuremoleküls. Kennzeich- nen Sie in der Formel die funktionellen Grup- pen und benennen Sie diese. (Saarland)

Biologie In Georgia (USA) erbeutet der Habicht sowohl Wachteln als auch Nagetiere. Die Nagetiere ernähren sich unter anderem von den Eiern der Wachteln, die diese Feld-

BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO BOSTELMANN BERT hühner als ursprüngliche Bewohner ausge- dehnter Zwergbuschsteppen in ausgescharr- ten Bodenmulden ablegen. Die Jäger in diesem amerikanischen Bundesstaat, „Voller Bauch studiert nicht gern“ in dem der Habicht vom Gesetzgeber vor der Bejagung geschützt ist, setzen seit einigen Aufgaben für das Abitur 2002 an deutschen Schulen Jahren verstärkt auf landschaftsgestaltende Maßnahmen wie das Anpflanzen von Erdkunde Die Firma Booky will eine Fernsehwerbung Hecken, um ihre Erfolge bei der Wachteljagd Definieren Sie kurz den Begriff Ökosystem starten, wenn ihr Bekanntheitsgrad unter 60 zu erhöhen. Erklären Sie die Zusammenhän- und erläutern Sie, inwieweit sich das Prozent liegt. Die Entscheidung soll auf der ge zwischen den oben beschriebenen städtische von dem naturnahen Ökosystem Grundlage einer Umfrage unter 1200 zufällig Räuber-Beute-Beziehungen und den Maß- unterscheidet. (Aufgabe aus dem Saarland) ausgewählten Personen getroffen werden. nahmen der Jäger. (Saarland) Benutzen Sie zur Berechnung die Normalver- Geschichte teilung als Näherung. Ein altes Sprichwort lautet: „Ein voller Bauch Vergleichen Sie die Möglichkeiten der politi- Bestimmen Sie eine Entscheidungsregel mit studiert nicht gern.“ Erläutern Sie diese schen Mitwirkung in der Weimarer Reichs- einem möglichst kleinen Annahmebereich Aussage aus der Sicht des Stoffwechselbio- verfassung mit denen in der Verfassung des für die Einleitung der Werbekampagne, bei logen! (Bayern) deutschen Kaiserreichs! (Bayern) der die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Werbekampagne irrtümlich unterlassen wird, Ratten werden als Überträger der Pest seit Deutsch höchstens 5 Prozent ist. (Bayern) Jahrhunderten gejagt und vergiftet. „Eine fertige Weltanschauung verträgt keine Ein Problem bei ihrer Bekämpfung besteht Dichtung“ – Robert Musil Physik darin, dass sie zunächst nur geringe Mengen Prüfen Sie – ausgehend von den vielfältigen Die Erde nimmt Strahlungsleistung von der von ihnen bisher unbekannten Objekten Möglichkeiten der Dichtung – die Gültigkeit Sonne auf, und sie strahlt selbst ins Weltall annagen. Erst wenn sich diese als genießbar dieser These. Konkretisieren Sie Ihre Gedan- ab. Die Solarkonstante 1,37 kW/m2 gibt erweisen, fressen sie in den nächsten Tagen ken an einem oder mehreren literarischen die Leistung an, die eine Fläche von 1 m2 allmählich mehr davon. Charakterisieren Beispielen. (Mecklenburg-Vorpommern) empfängt, welche in der Erdentfernung Sie dieses für Ratten vorteilhafte Verhalten 1,50·10 11 m senkrecht von der Sonnen- aus der Sicht des Verhaltensforschers! Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstap- strahlung getroffen wird; von der eingestrahl- Schlagen Sie eine Erfolg versprechende Ver- lers Felix Krull. ten Leistung werden an der Erdoberfläche giftungsmethode vor und erklären Sie Erörtern Sie, wie Krulls Narzissmus entsteht 70% absorbiert. Die Erde als Strahlungsquel- diese unter Verwendung der Fachsprache! und welche Rolle er in Lebensgestaltung und le wird idealisiert angesehen als kugelförmi- (Bayern) Erzählweise Krulls spielt! (Saarland) ger Temperaturstrahler ohne Atmosphäre. 2 (Hinweis: Kugeloberfläche Ok = 4 ȏr ). Sport Mathematik Weisen Sie nach, dass die Erde die Strah- Die Vergabe der Olympischen Spiele 2008 Eine Firma produziert 200er Packungen lungsleistung 1,22·1017 W absorbiert. nach China hat weltweit ein zwiespältiges Leuchtdioden, die ca. 1% defekte Dioden Welche Gesamtleistung strahlt die Sonne Echo ausgelöst: Jubel und Zustimmung bei enthalten. Berechnen Sie die Wahrschein- ab? (Saarland) den Befürwortern, Skepsis und strikte lichkeiten, dass sich in einer Packung A: Ablehnung bei den Gegnern. Diskutieren Sie genau zwei, B: mindestens eine, C: weniger Chemie die Gründe, die für und gegen Peking als als vier defekte Dioden befinden. Proteine spielen in fast allen Organismen Austragungsort Olympischer Spiele spre- (Mecklenburg-Vorpommern) eine entscheidende Rolle. Die kleinsten Bau- chen, und nehmen Sie Stellung! (Saarland)

der spiegel 26/2002 67 BILDUNGSSERIE TEIL 7 ABITUR BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO BOSTELMANN BERT Abiturprüfung (am Goethe-Gymnasium in Frankfurt am Main): „Wir gewinnen nicht mit Wissen, sondern mit Persönlichkeiten“ weise in Bank- oder Kaufmannslehren, die frage des Dortmunder Instituts für Schul- letzten Jahre in Fächern wie Biologie, Ma- bislang Realschülern vorbehalten waren. entwicklungsforschung landesweit ein- the oder Physik. Nach dreimaligem Durch- Aber ist es sinnvoll, dazu vorher eine Gym- heitliche Prüfungen zum Schulabschluss. arbeiten fühlte sich der Münchner Gym- nasial-Kollegstufe zu durchleiden? Die Gelehrten allerdings streiten sich, nasiast Wilkening „ziemlich perfekt – das Wenn aber die Uni-Auswahl als Abitur- ob das Zentralabitur wirklich entschei- Prinzip, nach dem die Aufgaben konstruiert ersatz nur bedingt brauchbar ist, dann dend etwas an der deutschen Bildungs- sind, ist leicht durchschaubar“. muss die allseitige Kritik am Wert der Rei- misere ändert. Die Bildungsforscher des Nur einmal in den neunziger Jahren hat- feprüfung zu Veränderungen an den Gym- Berliner Max-Planck-Instituts, das die ten die Benutzer der Abi-Trainer ein Pro- nasien selbst führen. Die eingängigste For- blem, als die Schulbürokratie von derung ist die nach einem Zentralabitur in Das Zentralabitur allein, das sehen einem Jahr aufs andere in Biolo- allen Bundesländern, am besten sogar bun- auch seine heftigsten Verfechter, gie die Struktur der Aufgaben än- desweit einheitlich. So wünschen es sich derte. die Unternehmen, die sich vergleichbare hilft wenig – dazu muss auch eine „Von der Fairness ganz in Ord- Zeugnisse von Bewerbern erhoffen, eben- Reform der Oberstufe kommen. nung“ findet Wilkening das Zen- so wie die Hochschulrektorenkonferenz, tralabitur – doch es bleibt das stu- die damit den angeblichen Billig-Abis man- internationalen Mathe- und Naturwissen- re Lernen nach Schema: „das Problem der cher Länder den Garaus machen will. schafts-Tests Timss und auch die Pisa- Sinnlosigkeit von diesem ganzen Kram“. In Bayern, Baden-Württemberg, dem Studie betreut, meinen, dass auch die Der Berliner Bildungsforscher Volker Ha- Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thü- einheitlichen Aufgaben für das Abitur gemeister fürchtet, „dass zentrale Stan- ringen und Mecklenburg-Vorpommern ge- nicht generell das Leistungsniveau stei- dards, die in Prüfungen eingesetzt wer- ben die Kultusministerien schon länger die gern. Unterschiede zwischen den Schulen den, negative Rückwirkungen haben“. Die Aufgaben für die schriftlichen Abschluss- des Landes gibt es dennoch. Erziehung zur Bildung bleibe auf der prüfungen an allen Gymna- Die Spitzenländer bei Strecke: „Die kurzzeitig prüfbare Leistung sien vor. Brandenburg will den Vergleichstests, Bayern wird zum faktisch bedeutsamsten Ziel der das Zentralabitur im Schul- und Baden-Württemberg, Schule.“ jahr 2004/2005 einführen. halten zwar beide ein Zen- Das Zentralabitur allein, das sehen auch Neben einer besseren Ver- tralabitur ab. Aber unter seine heftigsten Verfechter, hilft wenig – gleichbarkeit angesichts den Hinterbänklern der dazu muss eine Reform der Oberstufe kom- „immer individuellerer Bil- neuesten Pisa-E-Rangfolge men. Die letzte Großreform gilt als obso- dungsmöglichkeiten“, so finden sich ebenfalls Län- let: Mit der Einführung des Kurssystems der zuständige Minister der mit Einheitsprüfung an der dann so genannten Kollegstufe woll- Steffen Reiche (SPD), soll wie Mecklenburg-Vorpom- ten die Kultusminister in den siebziger Jah- damit auch eine Entlastung mern oder das Saarland. ren die Gymnasiasten an das freie System der Lehrer erreicht werden. Die Praxis des Zentral- der Vorlesungen und Seminare in der Uni- Auch in Hamburg, Hessen abiturs gleicht oft einem versität heranführen – es war die hohe Zeit und Niedersachsen wird schlichten Pauken. Die der Bildungsdemokratie auch an den Schu- über die Einführung der bayerischen Abiturienten len. Nun rollt das System wieder rück- Einheitsprüfung debattiert. etwa bereiten sich dank ih- wärts, zu eingeschränkter Fächerauswahl Die Forderung ist unge- res zentralistischen Systems und engeren Klassenverbänden in der

mein populär. Rund 90 GEORG JANSSEN mittels Abi-Trainern auf die Oberstufe. Prozent der Deutschen Uni-Präsident Herrmann Prüfung vor. Die Bücher „Einen Weg zu mehr Konzentration, verlangen nach einer Um- 20 Minuten für ein Gespräch enthalten die Aufgaben der zur Stärkung von Orientierung, zur Sta-

68 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite BILDUNGSSERIE TEIL 7 ABITUR RONALD FROMMANN RONALD Aufnahmeprüfung an der Hamburger Bucerius Law School: Perfektes Auswahlverfahren bilisierung eines Fundaments“ verlangt beste Weg, um das Abitur wieder zu einem Denn die Schulen der Zukunft brauchen Edmund Stoibers Kompetenzfrau für Bil- Zeugnis von Wert zu machen. Denn die eine neue Freiheit, um diesen Anforde- dung, Annette Schavan. In Baden-Würt- Anforderungen des Lebens an die Schule rungen entsprechen zu können. Das meint temberg schreibt die Kultusministerin gehen künftig in eine Richtung, die sich auch Bundesbildungsministerin Edelgard künftig sieben verbindliche Fächer für alle nicht so leicht in Tests oder Prüfungen ab- Bulmahn (SPD): „Die Schulen müssen er- in der Oberstufe vor – Deutsch, Mathe- fragen lässt. Nach Interviews mit etwa 80 heblich mehr Rechte und Eigenständigkei- matik, Geschichte, zwei Fremdsprachen Führungskräften und Bildungsexperten ten erhalten, den Unterricht zu organisie- und zwei Naturwissenschaften. Im Abitur kommt die Unternehmensberatung Boston ren, Lehrer einzustellen und zu bewerten.“ gibt es dann fünf statt bisher vier Prü- Consulting Group (BCG) zu dem Schluss: Schon jetzt müssen die Gymnasien vie- fungsfächer. „War der Unterricht bislang in erster Linie lerorts wegen sinkender Schülerzahlen wie In eine ähnliche Richtung geht auch Hes- wissensorientiert, so verlangt die Arbeits- Unternehmen im Wettbewerb um ihre ju- sen unter CDU/FDP-Führung. Das sozial- welt der Zukunft von der Schule, fähig- gendliche Kundschaft werben. Dabei wird demokratisch regierte Niedersach- zunehmend eine Rolle spielen, was die sen führt eine „Profiloberstufe“ „Die Schulen müssen erheblich mehr Schule an Besonderheiten bieten kann – mit beschränkteren Wahlmöglich- Rechte und Eigenständigkeiten ein breites oder auch originelles Angebot keiten ein, die auch im benach- an Kursen, die Zusammenarbeit mit ande- barten Hamburg erprobt wird. Das erhalten, den Unterricht zu organisieren, ren Institutionen wie Hochschulen und Fir- Profil kann naturwissenschaftlich, Lehrer einzustellen und zu bewerten.“ men, die Qualität der Lehrer und damit sprachlich oder künstlerisch-mu- schließlich den spezifischen Wert des Ab- sisch sein, zwei Fächer aus dem Schwer- keitsorientiert auszubilden.“ Oder, wie es iturs dieses Gymnasiums. punkt sind bindend vorgeschrieben, etwa Ulrich Leitner, Direktor für Corporate Als Wert an sich hat das Abitur dagegen Biologie und Chemie bei den Naturwissen- Organization bei DaimlerChrysler, griffig nicht bestanden. Man muss schon ein biss- schaften, und die Gruppe wird pro Woche formuliert: „Am Ende werden wir nicht mit chen verrückt sein, um noch wirklich dar- mindestens 16 Stunden zusammen unter- Wissen gewinnen, sondern mit Persönlich- an zu glauben, wie die Soziologie-Profes- richtet. keiten.“ sorin Sibylle Tönnies am Beispiel von zwei Die sonst so vorbildlichen Bayern ha- Natürlich kommen da Anforderungen ältlichen Insassen einer psychiatrischen An- ben dagegen vergangenen Monat die ge- auf die Schulen zu, die manchen erstarrten stalt zeigt. Die beiden Damen litten uner- plante Kollegstufenreform erst mal ge- Lehrkörper erschrecken: Dynamik und Ei- träglich darunter, dass sie kein Abitur stoppt – und damit auch das vorgesehene geninitiative, Kreativitätstechniken und hatten. Eine mitleidige junge Ärztin baute Abi mit fünf Pflichtfächern. Das schon im Recherchierfähigkeit, Argumentationsleh- schließlich einen langen Tisch auf und ver- Ministerrat beschlossene Konzept soll nun, re und Ideenentwicklung sollen die Gym- anstaltete für die beiden Abi-Losen eine ungewöhnlich genug, noch einmal in einer nasien vermitteln, fordert die BCG-Studie feierliche Prüfung. „Die beiden Alten“, be- Expertenkommission diskutiert werden. „Die Zukunft bilden“. Von der „einseitigen richtet die Professorin, „sollen zwar wei- Kultusministerin Hohlmeier verspricht sich Fixierung auf das Abitur“ hält die für Bil- terhin verrückt, aber seither glücklich ge- davon eine „Debatte ohne Tabus“. Doch dungsprojekte zuständige BCG-Vizepräsi- wesen sein.“ Michael Schmidt-Klingenberg zumindest soll bis zu den Landtagswahlen dentin Antonella Mei-Pochtler nichts, im nächsten Jahr Ruhe an der Bildungs- ebenso wenig wie vom Zentralabitur. Das Im nächsten Heft: front herrschen – die Reformpläne hatten tauge allenfalls für gewisse Standardabfra- Pisa und die Folgen nämlich zu erheblichem Aufruhr unter gen, dazu aber müssten die einzelnen Was lehrt uns Pisa-E, der innerdeutsche Länder- Lehrern und Schülern geführt. Schulen entsprechend ihrem Profil „indi- vergleich? – Die gespaltene Ranking-Liste – Vielleicht ist ja die stärkere Reglemen- viduelle Module, zum Beispiel auch in den Wie funktioniert Lernen? tierung der Oberstufe auch gar nicht der musischen Fächern“, prüfen.

70 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland KLAUS MISCHKA / KÖLNISCHE RUNDSCHAU KLAUS MISCHKA / KÖLNISCHE Jubilar Wienand (5. v. l.), Gratulant Schmidt (5. v. r.)*: Stets wohl behütet im Schoß der Partei

nungsanlage (MVA) 6,4 Millionen Mark an Für die Ermittler gibt es sogar „An- AFFÄREN Schmiergeldern kassiert hat, weil er das haltspunkte“ dafür, dass das „installierte Geschäft einfädelte. Der einstige Spitzen- Korruptionssystem“ auch „für den Fall der Klein-Palermo sozi sei zentrale Figur einer geradezu Strafverfolgung fortgesetzt werden sollte“. „mafiösen Struktur“ gewesen, heißt es in Zehn Millionen Mark – ein Beschuldig- Wienands Haftbefehl. Diese „deutlichen ter spricht gar von zehn Millionen Schwei- am Rhein Strukturen der Organisierten Kriminalität“ zer Franken – soll Trienekens schon vor hätten dazu geführt, befinden die Staats- Jahren in der Schweiz ausgegeben haben Rund um das SPD-Urgestein Karl anwälte, dass Politik am Rhein käuflich ge- mit einem einzigen Ziel: zu verhindern, wesen sei – Sizilien lässt grüßen. dass dort laufende Ermittlungen wegen Wienand haben Staatsanwälte Drei Monate vor der Bundestagswahl ebenfalls dubioser Anlagenbaugeschäfte eine „mafiöse Struktur“ ausgemacht. gewinnt der SPD-Spenden- und Schmier- nach Deutschland überschwappen. Sollten In Köln sei Politik käuflich geldsumpf von Köln damit eine neue Di- also Ermittlungsbeamte bestochen werden? gewesen, behaupten die Ermittler. mension. Zu dem „engen Beziehungsge- Zumindest sei es dem Müll-Manager dar- flecht von Tätern, die in einem System von um gegangen, „das Aufdecken der Straf- trippenzieher, Frontschwein, Mann taten“ unmöglich zu ma- fürs Grobe, Spinne im Netz – kaum chen, vermerkt der Haft- Sein Sozialdemokrat der Nachkriegs- befehl gegen Trienekens. zeit hat dem Bild des durchtriebenen Politi- Sein Anwalt widerspricht. kers wohl so entsprochen wie Karl Wienand, Dies seien „haltlose Spe- der frühere Geschäftsführer der SPD-Bun- kulationen“. destagsfraktion. Insgesamt, bilanzieren Einen rheinischen Haudrauf nannten ihn die Kölner Staatsanwälte bewundernd die eigenen Leute, einen ihre bislang knapp vier Klüngler und Stimmenfänger. Und selbst Monate dauernden Er- als Wienand 1996 wegen Spionage für die mittlungen, sei es „allen DDR verurteilt wurde, blieb er stets wohl Beteiligten“ darum ge- behütet im Schoß der Partei. SPD-Frak- gangen, „Profit zu erzie- tionschef Peter Struck setzte sich für seine len“. Kronzeuge für diese Begnadigung ein. Altkanzler Helmut Erkenntnis ist ein Mann, Schmidt kam Ende vergangenen Jahres zu der selbst 9,5 Millionen Wienands 75. Geburtstag ins Bergische Mark kassiert haben soll: Land, begleitet von seinen früheren Spit- Ulrich Eisermann, einst EXPRESS KÖLN zenkräften Manfred Schüler und Hans-Jür- STADTANZEIGER / KOELNER GROENERT MAX als Sozialdemokrat Leiter gen Wischnewski („Ben Wisch“). Partner Rüther, Trienekens: Sizilien lässt grüßen des Hauptamts in der Köl- Solch Solidarität und Genossenwärme ner Stadtverwaltung und wird Wienand, nach drei Jahrzehnten Vorteilsgewährungen eingebettet waren“, dann Geschäftsführer der Abfallentsor- überstandener Skandale und Skandälchen, zählen aus Sicht der Staatsanwaltschaft vor gungs- und Verwertungsgesellschaft (AVG), nun vermissen. Der „Ausputzer der Partei“ allem auch der Ex-Chef des SPD-Bezirks die den Müllofen errichten und betreiben („“) sitzt in Untersuchungshaft. Mittelrhein, Norbert Rüther, sowie der sollte. Trienekens war vom Start weg an Und wenn es stimmt, was die Staatsanwäl- Müll-Tycoon Hellmut Trienekens. Beide der AVG mit 25,1 Prozent beteiligt. te über ihn und seine einstigen Genossen sitzen ebenfalls in Haft. Zwar lief für den Bau der MVA ein offi- zusammengetragen haben, war und ist zielles Bietverfahren, aber intern war längst Köln so etwas wie Klein-Palermo. * Mit den SPD-Politikern Ingrid Matthäus-Maier (l.), Hans- ausgemacht, wer den Zuschlag als Gene- Nicht nur, dass Wienand nach Überzeu- Jürgen Wischnewski (2. v. l.), Manfred Schüler (r.) sowie ralunternehmer bekommen sollte: die Sigfrid Michelfelder (4. v. r.) am 15. Dezember 2001 bei der gung der Ermittler beim Bau der 800 Mil- Feier zu Wienands 75. Geburtstag im Restaurant „Winter- Gummersbacher Firma Steinmüller. SPD- lionen Mark teuren Kölner Müllverbren- scheider Mühle“ im Bergischen Land. Urgestein Wienand hatte AVG-Chef Eiser-

72 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland mann und Steinmüller-Boss Sigfrid Michel- felder zusammengebracht. Schnell war klar, so die Ermittler, wie UNION der Deal abgewickelt werden sollte. Mi- chelfelder verpflichtete sich demnach, drei Prozent der Auftragssumme, über 21 Mil- Heiße Kartoffel lionen Mark, in die Schweiz zu transferie- ren, wo das Geld später verteilt wurde. Die Auch die CSU hat nun eine Finanzaffäre am Hals. Von einem erste Rate datiert vom 7. März 1994, die letzte vom 26. Januar 1999. Ein Rätsel ist Millionär ließ sich ein Abgeordneter 100000 Mark in bar den Ermittlern bislang, wo Wienands An- zuschieben – veröffentlicht wurde die Großspende jedoch nicht. teil hinging. Der Alte, der Ende vergange- ner Woche aus der Partei austrat und da- ie Affäre begann mit ein paar Zei- mitten im Bundestagswahlkampf eine pein- mit einem Rauswurf zuvorkam, hat bislang len, die nett klingen sollten. Am liche Spendenaffäre. im Knast geschwiegen. D1. April schnappte sich der Starn- Denn die Dorfposse aus dem schönen Auch Rüther soll, Eisermanns Angaben berger Millionär Siegfried Genz, 61, einen bayerischen Voralpenland ist aus zweier- zufolge, kräftig kassiert haben – vor allem Notizblock und schrieb an seinen Spezl, lei Gründen skandalös: Zum einen hatte für die Partei. Rüther und seine Anwälte den heimischen CSU-Abgeordneten Klaus Gröber das Geld schon 1995 in einem bestreiten dies nachdrücklich: „Hier steht Gröber. Kuvert von Millionär Genz erhalten, Aussage gegen Aussage.“ Eisermann je- „Hallo Dr. Gröber!“, kritzelte der stein- „zur Unterstützung meiner politischen denfalls habe, so ein Staatsanwalt, in die- reiche Flugzeugverkäufer Genz mal eben Arbeit“, wie der CSU-Mann heute sagt. sem Punkt „glasklar“ ausgesagt. Danach unter das Werbe-Label eines Segelboot- Die Partei freilich sah nach eigenem Be- habe Rüther ihn, Eisermann, nach der Verleihers, „der Fairness halber“ wolle er kunden keinen Pfennig, der Spender blieb MVA-Auftragsvergabe gefragt, wie viel melden, dass alle großzügigen Spenden, anonym. er denn einstreiche. Eisermann will die Gesamtsumme seiner Bestechungsgelder „bewusst auf vier Millionen Mark ge- schmälert“ haben, um Rüther in seiner Forderung drücken zu können. Denn der soll sinngemäß gesagt haben: „Da kriegen wir aber die Hälfte von.“ „Wir“ – das sei die SPD gewesen, erzählte Eisermann den Staatsanwälten. Ein Jahr später habe Rüther seine Forderungen aus den Provisionszahlungen nochmals unter- mauert. Er brauche dringend Knete für die politische Arbeit, erinnerte sich Eisermann an Rüthers Worte, „insbesondere für die Wahlkämpfe der SPD bei den Kommunal-, Landes-, Bundes- und Europawahlen“. Darüber hinaus habe ihm Rüther gesagt, er müsse „seine vielfältigen Verbindun- gen“ spielen lassen, um Widerstände gegen den Bau der MVA zu brechen, gab Eisen- mann den Ermittlern zu Protokoll. Aus ih- rer Sicht war Rüther somit „in entschei-

dendem Maße“ in das kriminelle Geschäft FUCHS XAVER FRANZ FOTOS: „eingebunden“, „da er die von ihm be- Spendenempfänger Gröber*: „Christlich-soziale Scheinheiligkeit“ herrschten politischen Beziehungen zu den verschiedenen Entscheidungsträgern in das die er bislang geleistet habe, nunmehr im Gröber will die Summe sieben Jahre lang bestehende System einführte“. Auf diese Internet veröffentlicht seien. „Nehme an, im Tresor seines Sohnes gehortet haben, Weise habe er „wesentlich“ dazu beigetra- dass diese Sache bereits der Vergangenheit um sie zu einem geeigneten Zeitpunkt an gen, dass der Bau der MVA „politisch ge- angehört!? Bitte R., falls erforderlich über den Ortsverband weiterzuleiten. Der schien nehmigt“ worden sei. mein Handy …“ ihm ausgerechnet im April gekommen, just Bevor Kronzeuge Eisermann vergange- Fair, wie er war, legte Genz dem Notiz- nachdem ihm Genz freundlicherweise mit- ne Woche gegen Kaution auf freien Fuß zettel dann auch die umfangreiche Spen- geteilt hatte, dass die Sache jetzt bekannt gesetzt wurde, hatte er nach insgesamt 17 denliste bei, darauf der Vermerk: „100000 sei. Ein klarer Verstoß gegen das Parteien- Tagen Vernehmungen noch einmal sein DEM, Dr. Gröber, CSU (persönlich).“ Und gesetz, dem zufolge Spenden über 20000 Gedächtnis strapaziert. Weitere Genossen, der Fairness halber sorgte irgendjemand Mark veröffentlicht werden müssen – und deren Namen bislang öffentlich nicht ge- auch gleich dafür, dass die Liste kurz dar- womöglich ein Fall für den Staatsanwalt. nannt sind, beschuldigte er schwer. Sie hät- auf an eine Starnberger Lokalzeitung ge- Zum Zweiten scheint der umtriebige ten, ebenso wie Rüther, auf krumme Wei- langte – die großzügige Gabe wurde publik. Geschäftsmann Genz mit der milden Ga- se Gelder für die SPD beschafft. So beschert Klaus Gröber, 57, Arzt, be gewisse, möglicherweise nicht ganz Auch Trienekens machte erstmals An- CSU-Landtagsabgeordneter, Ortsvorsit- lautere Erwartungen verknüpft zu haben. gebote, um freizukommen. Er brachte ei- zender und Gemeinderat im idyllischen Unweit des stattlichen Pferdehofs von Grö- nen dreistelligen Millionenbetrag ins Ge- Seeort Berg, Kreis Starnberg, der CSU nun ber nämlich residiert der Verlagsinhaber, spräch – das wäre die höchste Kaution, die Technologieberater und frühere Dornier- in Deutschland je gezahlt wurde. * Mit der stellvertretenden CSU-Ortsvorsitzenden Clau- Manager Genz auf der Berger Maxhöhe Georg Bönisch dia Keilitz am vergangenen Mittwoch in Berg. im Kreise seiner Villen, Koppeln, Stallun-

74 der spiegel 26/2002 Genz-Anwesen in Berg am Starnberger See: „Unwohl, wenn wir die Türen zuschlagen“ gen und zahlreichen Schwarzbauten. Wie zuvor seiner Partei überwiesen. Offenbar pel drohten Gröber, als die merkwürdige sehr die Gemeinde auch versuchte, die hatte er sich irgendwann die Zeit genom- Behandlung der Barspende bekannt ge- Genzschen Bauvorhaben zu stoppen und men, den angeblich im Safe gebunkerten worden war, mit einem Parteiausschluss- schwarz errichtete Gemäuer abreißen zu D-Mark-Betrag noch in die neue Währung verfahren – es wäre nicht das erste gewe- lassen – in Geldempfänger Gröber fand umzutauschen. sen. Eines hat Gröber, ein Polit-Rambo der der Millionär stets einen Fürsprecher. Die CSU – die anders als CDU und SPD urbayerischen Art, bereits überstanden. So wuchsen seit Mitte der neunziger Jah- im laufenden Wahlkampf noch keine Spen- Doch der Lokalmatador vom Starnber- re bei Genz ein Turm für die familieneige- denaffäre am Hals hatte – reicht die 51130 ger See kam den CSU-Oberen dann doch ne Mörsersammlung, ein Schafstall, Scheu- Euro nun herum wie eine heiße Kartoffel. zuvor. Mit einem theatralischen Auftritt nen, Mauern, ein Schuppen und Garagen Kaum war die Summe bei der Schatz- vor dem Ortsverband verkündete er vori- ungenehmigt aus dem Wäldchen der Max- meisterin des Ortsverbands Berg, Waltraud gen Mittwochabend „mit Ende des heuti- höhe hoch über dem See; Gröber kämpfte Vinzens, eingegangen, tat Generalsekretär gen Tages“ seinen Austritt aus der CSU gegen den Abriss. „Mir ist unwohl, wenn Thomas Goppel kund, das Geld sei als an, der er 29 Jahre lang angehört hatte. wir die Türen zuschlagen“, sagte er seinen „Privatvermögen“ Gröbers zu betrachten, Die Basis applaudierte. Im Vergleich zu Kollegen im Rathaus. Und: „Solange Sitt- und der solle es wiederhaben. Noch am Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble, be- lichkeitsverbrecher nach einer Strafe reso- vorigen Mittwoch musste die Kassenwartin fand ein Anwesender mit Verweis auf die zialisiert werden, muss auch Genz nach ei- die Belege für die Rücküberweisung in die CDU-Schwarzgeldkonten, habe sich Grö- nem Baufehler resozialisiert werden.“ CSU-Zentrale nach München faxen. Aber ber doch anständig verhalten. Geholfen hat des CSU-Mannes Einsatz auch Gröber fasst das Geld nicht an: Er In der CSU-Zentrale wird die Freude am Ende nichts. Gröbers Gönner, der Ge- werde es auf ein Sonderkonto legen und über den Parteiaustritt Gröbers hingegen schäfte in aller Welt betreibt, wahlweise in Genz zurückgeben. Falls der es nicht mehr wohl nicht lange anhalten. Der Abgeord- Nigeria, Innsbruck sowie am Starnberger nehme, wolle er es einem nete kündigte an, er werde See lebt und sich schon mal mit dem Hub- guten Zweck zuführen. künftig als Fraktionsloser schrauber vor der Haustür absetzen lässt, Womöglich wird das im Landtag den einstigen verlor den Baustreit gegen die Gemeinde hektische Hin- und Herge- Parteifreunden Paroli bie- vor Gericht; über die Berufung ist noch schiebe der CSU allerdings ten. Schließlich hätten die nicht entschieden. nicht helfen. Bundestags- „in grundsätzlichen Din- Fühlte sich Genz deshalb, weil nach der präsident Wolfgang Thierse gen“ versagt. Spende der Erfolg ausblieb, nicht mehr an (SPD) prüft derzeit, ob er So schnell kann einer, die jahrelang geübte Diskretion gebunden? der Partei wegen der of- wenn’s nötig ist, von Re- War daher im April der Zeitpunkt für eine fenbar illegalen Barspende gierung auf Opposition Art Rache gekommen? Erschien ihm Grö- das Doppelte der Summe, umschalten. ber gar erpressbar? Spekulationen über 102 260 Euro, als Strafe Glück und Goppel, die Spekulationen, die nun in Berg die Runde aufbrummt. Für die ewig ihn wegen der Annah- machen. klamme CSU wäre das im me der Genz-Spende öf- Verlässlich jedenfalls ist nicht zu erfah- teuren Wahlkampf ein her- fentlich kritisiert hatten, ren, warum der spendable Genz, Mäzen ber Schlag. Dem Abgeord- wirft Gröber seinerseits von örtlichen Vereinen, Kirchen, sozialen neten Gröber droht zu- nun „durchsichtige Effekt- Einrichtungen und Unterstützer aller Par- dem ein Ermittlungsverfah- hascherei“ vor. „Das ist teien, seinen Kumpel Gröber und dessen ren wegen Steuerhinterzie- Spender Genz gelebte christlich-soziale CSU letztendlich auffliegen ließ. Genz hung. Die Staatsanwalt- „Bitte R., falls erforderlich“ Scheinheiligkeit.“ Denn selbst sei nicht zu sprechen, hieß es bis schaft prüft, ob die Spende schließlich habe die CSU, Ende vergangener Woche in seinem Un- – da er sie jahrelang für sich behielt – als ebenfalls von Genz, 1999 für den Ober- ternehmen. Im Internet jedenfalls gibt es persönliches Einkommen des Parlamenta- bürgermeister-Wahlkampf in München von der ominösen Spendenliste keine Spur. riers zu versteuern gewesen wäre, was die- eine der größten Spenden ihrer Geschich- Wie auch immer – Gröber wäre es heu- ser nicht tat. te, 600000 Mark, „gerne“ genommen. te lieber, sagt er, er hätte das Geld nie be- Massiven Ärger mit der eigenen Partei Nur in einem waren die Parteioberen kommen. „Ich habe damals einen Fehler hat sich Gröber, der innerhalb der CSU geschickter. Anders als Gröber ließ die gemacht“, gestand er vergangenen Mitt- schon länger als Querulant galt, jedenfalls Münchner CSU die Genzsche Gabe ord- woch vor dem CSU-Ortsverband Berg. bereits eingehandelt. Der oberbayerische nungsgemäß auf dem Parteikonto verbu- 51130 Euro hatte der Abgeordnete kurz Bezirkschef Alois Glück und General Gop- chen. Conny Neumann

der spiegel 26/2002 75 Werbeseite

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Werbeseite RETO ZIMPEL RETO Landwirt K. (1997), kontaminierter Hof im fränkischen Neuendettelsau: Wahllos in die Lagertanks gepumpt, was gerade kam

dettelsau-Reuth läuft nicht so recht, Schul- UMWELT den drücken auf die morsche Scheune und das rustikale Bauernhaus mit den Spitzen- gardinen. „Cocktail aus Chemie“ 1996 kommt K. die Idee, ins Biogas- geschäft einzusteigen. Die junge Techno- Jahrelang entsorgte ein bayerischer Bauer logie verspricht Fördermittel und Gewin- ne – eine saubere Art, Geld zu verdienen. vor den Augen der Behörden illegal riesige Mengen Giftmüll. Das Prinzip ist so umweltfreundlich wie Ein Großteil davon landete auf seinen Äckern. effizient: In einem so genannten Fermen- ter werden Gülle, Kompost und natürli- er „Hotspot“ liegt mitten im weiß- Dieses Urteil könnte jetzt auf den Mi- che Fette zur Gärung gebracht, das so blauen Idyll. Eine schmutzig-brau- nister selbst zurückfallen. Denn ausge- entstehende Gas erzeugt Strom fürs öf- Dne Stelle aus verkrusteten Erd- rechnet Schnappaufs bayerische Umwelt- fentliche Netz. klumpen, voller abgestorbener Insekten bürokratie machte den Giftmüll-GAU Ohne größere Probleme erhält K. im und deformierter Pilzgewächse. In der offenbar erst möglich. Dank einer un- November 1996 vom Landratsamt Ansbach schwülen Sommerhitze klebt der säuerlich- glaublichen Pannenserie in der Kommuni- die Genehmigung, eine solche Biogas- beißende Gestank nach ranzigem Fett. kation zwischen der Abfallbehörde des anlage zu bauen. Um den Reaktor herum Das Flurstück Nummer 658 vor dem zuständigen Ansbacher Landratsamts und muss er ein kleines, gelb verputztes Häus- Ortsteil Reuth der Gemeinde Neuendet- dem Landesamt für Umweltschutz (LfU) chen errichten, damit der malerische Dorf- telsau ist ein totes Stück Boden, dessen in Augsburg konnte aus dem inzwischen kern nicht verschandelt wird. Erdreich eher chemischem Kampfstoff verhafteten Bauern – quasi über Nacht K. füttert sein Minikraftwerk zunächst gleicht: Spuren von Anilin, einem Kon- und mit behördlichem Segen – ein Groß- ordnungsgemäß mit Gülle und Grünzeug. taktgift, das über die Haut eindringen und unternehmer in Sachen Gift werden. Jah- Dann kommen dem jungen Landmann das Blut zerstören kann, sind ebenso vor- relang sahen Beamte weg und ermöglich- merkwürdige Gedanken: Dem Biobrenn- handen wie das leberzersetzende Lö- ten damit erst, dass eine der möglicher- stoff will K. plötzlich Klärschlamm beimi- sungsmittel Pyridin, dazu giftiger Poly- weise größten Umweltkatastrophen der schen – eine zusätzliche Einnahmequelle, merlack und Ameisensäure in 32-prozenti- Republik entstehen konnte. die satte Entsorgungsgebühren verspricht. ger Konzentration. Wären die Auswir- Dafür allerdings be- Der verdorrte Acker in der fränkischen kungen nicht so verhee- nötigt K. eine „immis- Provinz ist das Epizentrum eines Um- rend, würde das Wort sionsschutzrechtliche Ge- weltskandals, der seit Wochen den bayeri- Posse den Fall wohl am nehmigung“ des Land- schen Freistaat erschüttert. Offenbar über ehesten beschreiben. So Wo bleibt der ratsamts – und weil er Jahre hinweg hatte ein örtlicher Landwirt aber ist es ein handfes- Giftmüll? die erforderlichen Un- nahezu ungestört mehr als 3995 Tonnen ter Skandal. terlagen nicht vorweisen Giftmüll akquiriert, einen Großteil davon Peter K., 35, ist Land- BUNDESWEIT kann, versickert der An- auf seinen Feldern verklappt und damit wirt und Geschäfts- gibt es über 6000 trag bald im Dickicht einen ganzen Landstrich verseucht; die mann. Ein Franke mit zugelassene Entsorger des Behördenverkehrs. toxische Brühe lieferten Firmen aus ganz mäßigem Berufsschul- für Sonderabfälle. Stattdessen kommt Deutschland an, meist diskret nach Ein- abschluss, gern gese- dem geschäftstüchtigen bruch der Dämmerung. hen bei der freiwilligen IN BAYERN Bauern eine andere Als die kriminelle Entsorgungspraxis Feuerwehr und beim Idee. Seit 1993 führt das aufflog, brach ein Sturm der Entrüstung Bauernstammtisch, trotz sind rund 450 Bayerische Landesamt los. Besonders Bayerns Umweltminister seines etwas zu großen Entsorgungsunter- für Umweltschutz eine Werner Schnappauf (CSU) sparte nicht mit Hangs zum Glücksspiel nehmen tätig. „Verwerterdatenbank“, Empörung über die „Riesensauerei“, die und zur Geselligkeit, Quelle: Umweltbundesamt, in der Entsorgungsun- seine „Vorstellungskraft“ übertreffe. „Auf über den im Ort getu- Landesamt für Umweltschutz Bayern ternehmer kostenlos ih- übelste Art“, polterte er Anfang Juni, sei schelt wird. Der Hof re Dienste anpreisen hier „Recht grob missachtet“ worden. seiner Eltern in Neuen- dürfen. Die Internet-Kar-

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Mercedes-Traktor mit angekoppeltem Gül- lefass, so der Vorwurf, verspritzte der Bau- er die Brühe auf seine Äcker – die darauf- hin mal schwarz, mal rot, mal brombeer- farben zu schimmern begannen. „Das Gras“, erinnert sich ein Anwohner, „das abends noch grün war, war am Morgen nur noch hellgraues, krankes Gestrüpp.“ Als Spezialisten im April auf K.s Hof den Deckel des „Fermenter II“ öffneten, bot sich ihnen ein Bild, das ein Ermittler beschreibt als „Cocktail aus allem, was die organische Chemie hergibt“. Die naive Sorglosigkeit des Landrats- amts zeigte sich auch stets, wenn ein Lie- ferant seine Ladung in K.s Grube gekippt hatte. Dann meldete er dies der Behörde in Ansbach. Der Bauer, der den Erhalt des

JÖRG KOCH / DDP JÖRG KOCH Sondermülls quittieren musste, tat das Giftmüllverseuchter Acker: Mal schwarz, mal rot, mal brombeerfarben Gleiche. Der Job der Umweltbeamten be- stand jetzt nur noch darin, die angege- tei dient der deutschen Sondermüll-Branche wegsahen, vergrößerte Landwirt K. nach benen Mengen zu vergleichen und nach- als Kontaktbörse. Um das Anmeldeformu- und nach sein Entsorgungsrepertoire, of- zuschlagen, ob der Abfallcode passte – lar herunterzuladen, reicht ein Mausklick. fenbar nach Bedarf seiner jeweils neuen schon ging der „Entsorgungsnachweis“ in Anfang 1998 dann, so K., habe er einen Geschäftspartner. die Post. Müllmakler aus dem Hessischen getroffen, Seit K.s Name in der offiziellen Verwer- Niemandem will dabei aufgefallen sein, der ihm das nötige Verwaltungs-Know-how terkartei stand, bestürmten ihn Müllmak- wie sich das bayerische Kontrollsystem vermittelte. Danach geht alles sehr schnell. ler wie die Firmengruppe Jakobi mit An- so jahrelang selbst ad absurdum führte. Beim Ausfüllen des Formblatts trägt K. geboten, die furchterregendsten Stoffe in Auch dann nicht, als Ende Juli 2001 eine zunächst die Giftstoffe ein, die er zu ent- seiner Biogasanlage zu verwerten. K. will Nachbarin Anzeige erstattete; ihre Be- sorgen gedenkt, und kreuzt bei der Frage für seinen Job im Schnitt nur 15 Euro schwerde über K.s stinkende Giftküche „Ist die Anlage genehmigt?“ dreist einfach pro Tonne erhalten haben – ein knappes wiegelte ein Inspektor ab. Er stellte nur das Kästchen „Ja“ an. Das scheint den Prü- Zwanzigstel des Normalpreises. „dorftypischen Güllegeruch“ fest. fern im Ansbacher Landratsamt als Nach- Im September 2000 regi- Lediglich einmal drohte der weis zu genügen. Eilig schicken sie das For- striert die ministeriale Müllda- Gift-Tango des Bauern mit den mular weiter ins LfU. Auf die Idee, den tenbank in Augsburg 85 teils Behörden aus dem Takt zu ge- Antrag vorher zu prüfen, kommen sie nicht hochgefährliche Stoffe, die K. raten. Im Juni 2001 hatte ein – eine entsprechende Anweisung aus dem entsorgen darf – unter ande- Ansbacher Sachbearbeiter das Ministerium sei damals nicht bekannt ge- rem „Mutterlaugen aus der Umweltministerium angerufen wesen, heißt es heute im Amt. Herstellung von Pharmazeu- und sich nach dem Sinn einer So trägt der Antrag, der wenig später tika“ und Chemieschlämme. neuen BSE-Verordnung erkun- das LfU erreicht, weder Stempel noch Un- Die Beamten denken sich of- digt. „Ganz einfach“, antwor- terschrift, was die Augsburger jedoch nicht fenkundig nichts dabei. Im- tete der Ministeriumsmann: Es weiter zu stören scheint. Für sie gilt der mer häufiger beobachten da- solle nur sichergestellt wer- Vorgang als geprüft – schließlich kommt er gegen K.s Nachbarn Tanklast- den, dass nichts Verseuchtes ja aus der zuständigen Genehmigungs- züge, die vor dem beschauli- auf die Felder komme.

behörde. So schicken die Landesbeamten chen Hof in Neuendettelsau EINBERGER / ARGUM THOMAS Da fiel dem Ansbacher Be- den Akt zurück nach Ansbach, mit dem stoppen. Wahllos wird in die Minister Schnappauf amten sein Stammkunde K. Vermerk, dass K. nunmehr in die „Positiv- Lagertanks gepumpt, was ge- „Auf übelste Art“ ein. Der hatte ja schließlich liste“ der bayerischen Abfallentsorger auf- rade kommt. auch mit Verseuchtem zu tun. genommen sei – für ihn die Eintrittskarte Zu K.s Kundschaft gehörten Unterneh- Jetzt plötzlich sollte K. schriftlich versi- ins lukrative Sondermüllgeschäft. men ersten Ranges. Die Lufthansa-Technik chern, dass er keinen Unfug damit treibe. „Das war kein großes Ding“, sagt K.s etwa entsorgte „öl-und fetthaltige Reini- „Hiermit erkläre ich“, schrieb K. daraufhin Verteidiger Manfred Neder heute. „Schub- gungsschlämme“, der Auto-Riese Ford lud wunschgemäß zurück, dass „das Lösemit- lade auf, Formular raus – und ein paar Tage rund 100 Tonnen wässriger Suspensionen tel der Firma Agfa“ nicht „auf landwirt- später war die Bestätigung im Briefkasten. mit Farben und Lacken ab und Agfa 140 schaftliche Flächen ausgebracht wird“ – Nicht mal Schmiergeld war nötig.“ Tonnen „Lösungsmittel-Wasser-Gemisch“ und der Beamte war zufrieden. „Das war ein riesengroßes Missver- (SPIEGEL 25/2002). Agfa-Beauftragte hatten Nun müssen die Böden um Neuendet- ständnis“, entschuldigt sich Landrat Ru- den Gifthof sogar persönlich besichtigt: Dass telsau entgiftet werden, was wohl einen dolf Schwemmbauer (CSU) heute. Sein K.s „Zwischenlager“ nur aus einer Einfüll- zweistelligen Millionenbetrag kosten wird. Vorgänger, der den unglaublichen Vorgang klappe direkt neben dem Misthaufen be- Minister Schnappauf will die Kontrollen letztlich zu verantworten hat, ist mittler- stand, schien die Herren nicht zu stören. seiner Behörden verbessern – höchste Zeit. weile im Ruhestand und nicht zu sprechen. Ans Aufbereiten der gefährlichen Stoffe Bei dem Vorhaben könnte Landwirt Vor Schwemmbauers Amtsantritt im Mai in seiner Biogasanlage dachte der Land- K., der vor der Staatsanwaltschaft bislang hatte ihm der Parteifreund schon düster wirt schon lange nicht mehr – die toxischen zu den Vorwürfen schweigt, dem Mi- prophezeit: „Da wird noch einiges auf dich Substanzen hätten seinen Reaktor ge- nister nützliche Tipps geben – in der Un- zukommen.“ Und es kam. sprengt. Und so wählte K. einen anderen tersuchungshaft schreibt er gerade an Denn mit der unfreiwilligen Hilfe der Entsorgungsweg: War die Betongrube voll, einer „Chronologie“ seiner Giftmüllkar- Behörden, die auch weiterhin immer nur ging es aufs Feld. Aus seinem grün-weißen riere. Sebastian Knauer, Sven Röbel

80 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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Werbeseite Trends Wirtschaft

LUFTFAHRT Jahren soll die Flotte um 50 Maschinen wachsen und, anders als herkömmliche Billig-Airlines, sogar Fernstrecken bedienen. Der Ticketverkauf erfolgt unter Führung der TUI über das Internet und TUI startet Aldi-Airline die konzerneigenen Reisebüros. Kommt die neue Airline bei den Kunden an, gerät Weber in Bedrängnis. Die TUI-Büros bescheren ufthansa-Chef Jürgen Weber muss beim Abwehrkampf gegen der Lufthansa zurzeit rund eine Milliarde Euro Umsatz pro Jahr. Ldie Invasion von Billigcarriern in Deutschland mit einem wei- Ein Teil dürfte künftig bei Frenzels Aldi-Fluglinie landen. teren gefährlichen Konkurrenten rechnen. TUI-Chef Michael Frenzel will schneller als erwartet mit einer eigenen Niedrigpreis-Airline an den Start gehen. Helfen soll ihm dabei ein alter Geschäftspartner, Germa- nia-Chef Hinrich Bischoff. Wie In- sider berichten, wollen beide Un- ternehmen eine Gemeinschaftsfir- ma gründen, an der Bischoff rund 80 Prozent der Anteile und TUI vorerst knapp 20 Prozent halten werden. Die neue Gesellschaft soll zunächst fünf Boeing-Jets aus dem Besitz des Germania-Chefs und die bereits existierenden Strecken von Berlin nach Frankfurt und Köln

übernehmen. In den nächsten drei / DDP MATZERATH FABIAN

Germania-Jet (in Berlin)

ENTSORGUNGSINDUSTRIE KREDITINSTITUTE Hoffen auf Helena Bund will 120 Millionen von der Dresdner Bank it Hilfe der Bank Merck Finck sucht die ie Dresdner Bank muss möglicherweise 120 Millionen Euro Steuergelder an MLandbell AG neue Aktionäre. Seit Jah- Ddie Bundesrepublik Deutschland und den Freistaat Bayern zurückzahlen. ren bemüht sich die Minifirma, eine Konkur- Die Forderung ist eine neue Facette im Wirtschaftskrimi um den bayerischen renz zum „Grünen Punkt“ der Duales Sys- Mittelständler Reiner Pilz, der nach der Wende eine CD-Fabrik in Thüringen tem Deutschland AG (DSD) aufzubauen. errichtet hatte. Für das Projekt hatte die Bank einen Kredit über 240 Millionen Bislang ohne Erfolg – „Die Firma arbeitet Mark arrangiert, für den die damalige Treuhandanstalt sowie die Bayerische ohne Umsatz und Gewinn“, bestätigt Land- Landesanstalt für Aufbaufinanzierung (LfA) bürgten. Als Pilz 1993 vor der In- bell-Hauptaktionär Frank Binder. Doch jetzt solvenz stand, stellte die Bank die Bürgschaft fällig und die Steuergelder wur- stehe Landbell kurz davor, als DSD-Konkur- den ausgezahlt. Bankinterne Papiere, die in einem Strafprozess gegen Pilz auf- rent in Hessen ins Geschäft zu kommen. tauchten und dem SPIEGEL vorliegen, belegen nun, dass ein Teil der Kredit- Gleichwohl will Binder, der 75 Prozent der summe – mit Wissen der Bank – Aktien hält, seinen Anteil auf 51 Prozent gar nicht für die CD-Fabrik ver- reduzieren. Insider behaupten sogar, er wolle wendet werden sollte. Knapp sich ganz von dem unrentablen Investment 30 Millionen Mark waren für trennen. Auf seine Offerte, die unter dem eine Steuerzahlung des Unter- Codenamen Helena läuft, meldete sich unter nehmers Pilz vorgesehen, weite- anderem die RWE Umwelt AG. Ob die RWE- re 11 Millionen sollten das Eigen- Tochter der Müll- kapital einer anderen Pilz-Firma firma zum Durch- stärken. Damit wurde nach Mei- bruch verhilft, wird nung der staatlichen Anstalten von Experten be- der Bürgschaftsvertrag verletzt.

zweifelt. Schon Die LfA hat den von ihr bezahl- / DPA HIRSCHBERGER RALF früher hatten sich ten Bürgschaftsbetrag, rund CD-Fabrikant Pilz (1992) Konzerne für das 40 Millionen Euro, bereits teure Müllprojekt zurückgefordert, lehnt jedoch jede Stellungnahme dazu ab. Die Treuhandnach- engagiert und folgerin BvS bestätigt lediglich, dass sie mit der Dresdner Bank diesbezüglich sprangen bald ent- in Schriftverkehr stehe. Sollte es zu keiner Einigung kommen, müssten die Be- nervt wieder ab. amten das Geld einklagen, um sich nicht dem Verdacht der Untreue auszuset- zen. Die Dresdner, eine Tochter der Allianz, bestreitet die Rechtmäßigkeit der Müllsammlung der Forderung. Allerdings wird wegen dieses Vorgangs gegen verschiedene Mana-

Landbell AG PFEIFFER-GOLDSTEIN DANIEL ger der Bank – darunter den heutigen Vorstandschef Bernd Fahrholz – ermittelt.

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STAATSBEIHILFEN HAUSHALT Post will nicht leiden Müllers chlaue Juristen bei der Deut- Sschen Post glauben, einen Weg gefunden zu haben, um die von Milliarden-Last der EU-Kommission geforderte Rückzahlung von unzulässigen ie Weigerung von Wirtschaftsminister Staatshilfen für das Unternehmen DWerner Müller, der Fusion von Kre- sehr schonend zu gestalten – zu ditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und Lasten der Kunden. Falls es Post- Deutscher Ausgleichsbank (DtA) zuzu- chef Klaus Zumwinkel nicht ge- stimmen, kommt den Bund teuer zu ste- lingt, die Strafe durch eine Einst- hen. Vor zwei Jahren wollte die KfW, die weilige Anordnung des Europäi- Bund und Ländern gehört, für die Über- schen Gerichtshofs abzuwenden,

nahme der bundeseigenen DtA rund 1,5 / DDP MATZERATH FABIAN wird erwogen, den Betrag – mit Milliarden Euro an Finanzminister Hans Müller Zinsen etwa 850 Millionen Euro – Eichel überweisen. Diese Summe kann er als „Sonderlast“ in die Verhand- nun abschreiben, denn die wirtschaftliche Situation der DtA hat sich gefährlich zugespitzt lungen mit der Regulierungsbehör- – 2001 verzeichnete sie operativ sogar 200 Millionen Euro Verlust. „Heute stellt sich nicht de über das Briefporto einzubrin- mehr die Frage, wie viel wir für die DtA bezahlen, sondern wie viel wir investieren müs- gen. Zurzeit schätzen Experten sen, um sie zu sanieren“, bemerkt ein KfW-Manager. „Müllers Verweigerungshaltung“, den Spielraum für Preissenkungen schimpft ein Eichel-Mitarbeiter. „hat den Bund richtig Geld gekostet.“ Müller lässt sich pro Jahr auf 260 bis 280 Millionen davon nicht beirren. Ungeachtet der Finanzlage will er die DtA mit einem neuen Mit- Euro. Der schnurrt auf 110 bis 130 telstandsprogramm belasten, das am Montag wahlkampfwirksam vorgestellt wird. Es Millionen Euro zusammen, wenn sieht vor, dass Gründer einen Kleinkredit bis zu 25000 Euro bekommen, ohne dass ihre die Rückzahlung der Staatshilfe Kreditwürdigkeit genauer überprüft wird oder Sicherheiten hinterlegt werden. Da die an- wegen unzulässiger Dumpingpoli- geschlagene DtA ihre Risikovorsorge erheblich verringert hat, müsste der Bund die Haf- tik im Paketsektor als Sonderlast tung übernehmen, wenn die neuen „DtA-Mikrodarlehen“ faul werden. auf fünf Jahre verteilt würde. Der Vorteil der Aktion: Der Bund wür- de die 850 Millionen einsacken. Die Post könnte wegen der gerin- gen Belastung dennoch einen Ge- zwischen Dortmund und winn von ungefähr 2,6 Milliarden Düsseldorf beteiligt werden, Euro auswerfen, was sich günstig obwohl ihre Tochter DE Con- auf den Aktienkurs auswirken sult im Wettbewerb von dürfte. Das wiederum nützt dem sechs Bietern nicht zu den Bund, der noch 69 Prozent der drei Favoriten des Landes Postaktien besitzt und bald weitere zählte. In ihrem Nachprü- Anteile privatisieren möchte. Zu fungsantrag bemängelt die leiden hätten bei diesem Szenario DB-Kanzlei Fritze Paul nur die Briefkunden, die mit weit Schmitt einen „wettbewerbs- geringeren Preissenkungen leben verzerrenden Wissensvor- müssten als ohne das Brüsseler sprung“ der favorisierten Verdikt. Bieter; ferner seien „Aus- wahl und Anwendung der Wertungskriterien fehler- haft“. Da ein langer Rechts- Metrorapid (Computersimulation) streit die von NRW erstrebte Fertigstellung der Strecke zur VERKEHR Fußball-Weltmeisterschaft 2006 unmöglich machen würde, bietet die DB listig einen Bahn bremst Ausweg an: Die drei ausgewählten Kon- sortien sollten die unterlegenen Konkur- Metrorapid aus renten, darunter natürlich DE Consult, durch Unteraufträge an dem Projekt betei- ordrhein-Westfalen (NRW) gerät mit ligen. „Bei einem derartigen Verfahren“, Nseinen Planungen für den Metrorapid heißt es in einem Brief des DB-Vorstands in Verzug. Auf Antrag der Deutschen an NRW-Verkehrsminister Ernst Schwan- Bahn (DB) hat die Vergabekammer der hold, könnten die entstandenen „Irritatio- Bezirksregierung Düsseldorf dem Land nen geheilt werden“, auch wäre „die Ge- vor wenigen Tagen untersagt, Ingenieur- fahr der Projektverzögerung durch einen leistungen für das Großprojekt zu verge- vermeidbaren Rechtsstreit gebannt“. Wie

ben. Grund: Die Bahn will unbedingt an das Großvorhaben finanziert werden soll, KIMMING / VISUM ULLA der Trassenplanung für die Schnellstrecke bleibt derweil unverändert offen. Briefträgerinnen

84 der spiegel 26/2002 Geld

Aktien von Spirituosenherstellern in Euro Quelle: Thomson Financial Datastream 36 105 16 40 2001 2002 2001 2002 2001 2002 2001 2002 34 100 15 36 32 95 30 14 90 32 28 85 13 26 80 28 24 12 22 75 11 24 20 REMY COINTREAU70 PERNOD RICARDDIAGEO CAMPARI 18 65 10 20 S ONDFMAMJ J SONDFMAMJ J SONJDFMAMJ SONJDFMAMJ

SPIRITUOSEN-AKTIEN Ricard, die sich zu einer Bietergemein- zern, entstanden aus dem Zusammen- schaft zusammengeschlossen hatten, lan- schluss von Grand Metropolitan und ge um die Zustimmung der Kartellwäch- Guinness, sehen die Analysten ebenfalls Hochprozentiges ter bangen. Doch nun können die auf gutem Weg, obwohl die Fast-Food- Sieger die Früchte des kurz vor Weih- Kette Burger King, die seit langem ver- nachten genehmigten Milliarden-Deals kauft werden soll, immer noch nicht Wachstum ernten. Um 90 Prozent will Pernod im ausgegliedert wurde. Auch der italieni- laufenden Jahr den Umsatz mit Wein sche Schnaps-Primus Campari hat sich er Ausstieg des Seagram-Konzerns und Schnaps steigern und dabei den nach seinem schwachen Börsenstart im Daus dem Spirituosen-Geschäft hat operativen Gewinn verdoppeln. Ent- vergangenen Jahr inzwischen gut ent- die Getränkeindustrie kräftig durch- sprechend positiv sind die Einschätzun- wickelt. Durch weitere Akquisitionen einander gewirbelt. Mehr als 250 Mar- gen einiger Analysten für die Nummer soll der Umsatz 2002 nach Schätzung ken, darunter Chivas-Regal-Whisky, eins unter den französischen Schnaps- von Analysten um 25 bis 30 Prozent stei- Martell-Cognac und Captain-Morgan- herstellern, die sich jetzt weit vom gen. Zurzeit arbeitet Campari an der Rum, wurden neu verteilt. Zwar muss- Erzkonkurrenten Rémy Cointreau abge- Übernahme eines großen Weinprodu- ten die Firmen Diageo und Pernod setzt hat. Den britischen Diageo-Kon- zenten.

ISRAELISCHE AKTIEN ALTERNATIVE INVESTMENTS Warten auf den Frieden Banken setzen auf Hedge-Fonds och immer steht der israelische Aktienmarkt im Zeichen m auch in schlechten Zeiten Geld zu verdienen, bauen vie- Nder blutigen Auseinandersetzungen des Nahost-Konflikts. Ule große Banker ihre Hedge-Fonds-Engagements aus. Die Ausländische Investitionen gibt es praktisch nicht mehr, selbst HypoVereinsbank, sie verwaltet in dem Bereich zwei Milliar- israelische Fonds und Versicherungen investieren derzeit lieber den Euro Kundengelder, hat ihre Hedge-Fonds-Aktivitäten nun nicht im eigenen Land. Der Tel Aviv Stock Exchange Index weltweit gebündelt, sie will zudem die Produktpalette erwei- (TASE) stürzte allein in diesem Jahr um rund 17 Prozent ab – tern. Während die Bank bislang nur Fonds in ihr Portfolio obwohl viele Aktienexperten israelischen Firmen großes Poten- nahm, die Aktien kauften oder leer verkauften – also geliehene zial zutrauen – vor allem den rund 420 Software-Firmen. Einige Aktien auf den Markt werfen, um sie nach einem Kurssturz bil- davon haben sich auf die Sicherheit im Internet spezialisiert lig zurückzukaufen –, wird sie künftig auch andere Fondsstrate- und erwirtschaften teilweise enorme Renditen. So hat der IT- gien anbieten. Dazu zählen Entwickler Check Point Hedge-Fonds, die blitzschnell auf Hedge-Fonds 550 im ersten Quartal dieses Unternehmensnachrichten reagie- Tel Aviv 5 Anzahl Jahres vor allem durch ren. Derartige Fonds tragen oft zu in Tausend SE General den Verkauf seiner so dramatischen Kursstürzen wie 4 500 Index S-Box gegen Hackeran- bei MLP nach der Veröffentli- 3 griffe bei 105 Millionen chung der Bilanzunstimmigkeiten 2 Dollar Umsatz 64 Millio- bei. Obwohl es weltweit inzwi- 1 450 nen Dollar Gewinn ge- schen über 6000 Hedge-Fonds mit macht. Kurssteigerungen einem Anlagevolumen von etwa 1991 2001 sind jedoch erst zu er- 600 Milliarden Dollar gibt, ma- Vermögen 400 500 warten, wenn sich die chen Aktienspezialisten die ag- in Milliarden Dollar 400 politische Lage stabili- gressiven Vermögensverwalter Quelle: siert hat. Denn auch die nicht für den generellen Abwärts- 300 New York Times/ 350 Hennessee Group besten Unternehmen trend an den Börsen verantwort- 200 sind so lange schlecht lich. Wohl aber könnten Hedge- 100 Quelle: Thomson Financial Datastream 300 bewertet, wie den Anle- Fonds einzelne Werte kurzfristig 2000 2001 2002 gern das Vertrauen fehlt. stark beeinflussen. 1991 2001

der spiegel 26/2002 85 Wirtschaft

KONZERNE Getriebene des Erfolgs Nun hat es auch die Pharmaaktien erwischt: Die Anleger reagieren auf die Verheißungen ewigen Wachstums durch immer neue Pillen und Arzneien zunehmend mit Misstrauen. Mit Recht: Vielen Konzernen fehlen neue Erfolgsprodukte – und für ihre alten laufen die Patente ab.

gor Landau ist nicht der Typ, der beim wie GlaxoSmithKline, Roche oder Bayer – Anblick von 200 berufsbedingt skepti- im Parallelflug stürzten sie ab, vergleichbar Ischen Analysten ins Schwitzen gerät. allenfalls mit dem kollektiven Niedergang Selbstbewusst, die Hände in den Taschen, der Informationstechnologie. setzte der neue Aventis-Chef seinen Zuhö- Schon wird an der Börse spekuliert, ob rern aus aller Welt am Dienstag voriger nach dem Platzen der Internet- und der Woche im Londoner QE II Conference Telekommunikationsblase nun die Luft aus Center auseinander, warum der deutsch- den – allerdings weit weniger gestiegenen französische Pharmariese die Konkurrenz – Pharmaaktien gelassen wird. Inzwischen locker abhängen werde. notieren die Kurse von Konzernen wie Das Ergebnis werde in den kommenden Bristol-Myers Squibb, Merck und Schering drei Jahren um 25 bis 30 Prozent wachsen, Plough auf dem tiefsten Stand seit drei pro Jahr natürlich, sagte der Nachfolger Jahren. des Aventis-Gründers Jürgen Dormann Sicher ist: Die grassierende Vertrauens- voraus. Bis 2006 werde das Unternehmen, krise hat auch den Pharmasektor erfasst; vor drei Jahren aus der Fusion von Hoechst den Verheißungen auf Wachstum durch mit Rhône-Poulenc hervorgegangen, die immer neue Pillen und Arzneien begeg-

Zahl der Medikamente mit einem Umsatz / JOKER LOHMEYER HARTWIG nen Anleger zunehmend mit Misstrauen. von über einer Milliarde Euro von jetzt US-Börse Wall Street Es bedarf inzwischen keiner spekta- drei auf sieben mehr als verdoppeln. „Wir Absturz im Parallelflug kulären Panne mehr, um Pharmaaktien ins bleiben“, versprach Landau siegessicher, Rutschen zu bringen. Im Falle Aventis „eines der am schnellsten wachsenden Mit Aventis hat es auch den letzten Phar- reichte der Rückzug zweier Medikamen- Pharmaunternehmen der Welt.“ mariesen erwischt. Keine andere Branche ten-Kandidaten in der Anfangsphase der Am gleichen Tag brach die Aventis-Ak- ist in wenigen Monaten so tief gesunken, Erprobung und die Botschaft, dass sich der tie um 5,2 Prozent ein – „völlig unerklär- wie die bisher mit brillanten Zahlen glän- Aventis-Bestseller Allegra gegen Patent- lich“, wie ein Landau-Mitarbeiter säuer- zenden Medikamenten-Produzenten. Ob anfechtungen wehren muss. lich fand. An der kraftvollen Präsentation US-Riesen wie Pfizer, Bristol-Myers Squibb Noch Ende vorigen Jahres, als die Bör- jedenfalls könne es nicht gelegen haben. oder Merck & Co., ob Europas Pharmaelite se schon von Schwächephase zu Schwäche- DIRK REINARTZ / AVENTIS DIRK REINARTZ

86 der spiegel 26/2002 +200 Pharma-Riesen weltweit Pharma- Netto- Markt- Angaben in Milliarden US-DollarUmsatz gewinne kapitali- +150 Wertveränderung 2001 2001 sierung in Prozent Welt-Internet-Index 25,48 7,8 225,3 +100

24,70 4,4 127,1 +50 Welt-Telekom-Index

21,35 7,3 118,6 0

Welt-Pharma-Index 16,48 3,0 68,7 –50

15,66 1,4 51,7 – 100 1999 2000 2001 2002 phase taumelte, galt die Pharmabranche ka, der mit einem Umsatz von allein 175 der nächsten fünf Jahre vom US-Pharma- als sicherer Hafen für verunsicherte Anle- Milliarden Dollar größte Pharmamarkt der dienstleister Merck-Medco projektierten ger. Woche für Woche meldeten Pharma- Welt, legte im Schnitt der vergangenen fünf Verdoppelung des Umsatzes sollen Herz- firmen von den drei Hauptmärkten USA, Jahre sogar über zwölf Prozent jährlich zu. mittel und Psychopillen bringen. Japan und Europa Umsatz- und Gewinn- Auch in Deutschland läuft das Geschäft Glänzende Aussichten für die Pillen- rekorde. Ob große wie Pfizer aus Amerika mit Medikamenten ungebremst. Auf dem branche also. Aber warum stürzen die Ak- (Gewinnplus 109 Prozent) oder kleine Ni- reglementierten Markt – gut 80 Prozent tien der Pharmabranche dann ab? schenanbieter wie Stada aus Bad Vilbel der Deutschen sind in der Pflichtversiche- Die Bosse von Big Pharma sind inzwi- (plus 38 Prozent) – in Zeiten der Krise prä- rung – wird verschrieben wie nie zuvor. schen zu Getriebenen ihres eigenen Er- sentierte sich Pharma neben Öl als profi- Während etwa die gesetzlichen Kassen ihre folgs geworden. Um ein jährliches Wachs- tabelste Branche der Welt, konjunktur- an die Entwicklung der Löhne gekoppelten tum von zehn Prozent durchzuhalten – mit resistent, terrorfest und stimmungsimmun. Einnahmen nur um 1,6 Prozent steigerten, weniger mag inzwischen kein Pharmama- Die Erfolge im abgelaufenen Jahr schie- sprangen ihre Ausgaben für Arzneimittel nager mehr vor seine Aktionäre treten – nen wieder einmal zu bestätigen, dass der um 11,2 Prozent in die Höhe. wird ein jährlicher Nachschub von vier bis Markt für Medikamente offenbar gren- Geht es nach den Dormanns dieser Welt, fünf so genannten Blockbustern benötigt, zenlos ist. Jahr für Jahr wachsen die Aus- hält der Trend auf unabsehbare Zeit an. Präparate, die mindestens eine Milliarde gaben für Pillen und Spritzen weltweit zwi- Das Geschäft biete noch derart enorme Po- Dollar Umsatz bringen. schen fünf und zehn Prozent. Nordameri- tenziale, so der Aventis-Gründer, „dass wir Die inzwischen erreichten, Schwindel darauf unsere ganze Kraft konzentrieren erregend hohen Umsatz- und Gewinnzah- wollen“. len allerdings bergen hohe Risiken – und Für Dormanns Theorie spricht vieles. das ist den Anlegern wohl klar geworden. Grenzen für die Erforschung und Anwen- Nur mit einem stetig steigenden Etat für dung von Wirkstoffen, mit denen das Vertrieb und Werbung lassen sich neue Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit, die Blockbuster am Markt unterbringen und Gesundheit oder die Lebenserwartung ge- der Erfolg alter verlängern. Schmerzmittel steigert werden können, sind für die im wie Celebrex von Pharmacia und Vioxx Schnitt immer älter und reicher werdende von Merck bringen zusammen weltweit Bevölkerung in den westlichen Industrie- 5,7 Milliarden Dollar Umsatz – obwohl sie staaten nicht zu erkennen. 30000 Krank- bis zu 60-mal teurer sind als das wirkungs- heiten haben die Pharmaforscher und Ärz- gleiche, aber weit weniger beworbene te bislang definiert. Davon wird bisher ge- Motrin von McNeil. rade einmal ein Drittel therapiert. Vor allem aber ist es der 20 Jahre nach Zudem fördert wachsender Wohlstand Anmeldung eines neuen Wirkstoffs wäh- nicht nur den Absatz von Luxuslimousi- rende Patentschutz, an dem das Wohl und nen, sondern vor allem auch den Verkauf Wehe der Konzerne hängt. teurer Mittelchen, die das Leben angeneh- Was es bedeutet, plötzlich ohne Schutz mer und vor allem länger machen sollen. dazustehen, erlebte der US-Pharmakon- Folglich sind es gerade die indifferenten zern Eli Lilly vorigen August, als sein bis Alltagspillen, die Massenware gegen Blut- dato umsatzstärkstes Produkt, das Anti- hochdruck, Cholesterin und Schmerz, die depressivum Prozac, von einem Tag zum den Umsatz der Pharmaindustrie auf Trab anderen der Konkurrenz ausgesetzt war. In halten. Mehr als die Hälfte der innerhalb nur zwei Monaten wurden in den USA 80 Prozent aller Prozac-Verschreibungen Aventis-Tablettenproduktion (in Kansas City) durch günstigere Nachahmer ersetzt. Im Kampf um jeden Tag Patentschutz vierten Quartal ist der weltweite Prozac-

der spiegel 26/2002 87 Wirtschaft

klafft im Merck-Geschäftsplan der Zenecas Prilosec/Losec, mit 6,2 Milliarden nächsten Jahre ein Milliardenloch. Dollar Umsatz im Jahr 2000 noch das best- Der Vioxx-Umsatz sollte bis 2005, verkaufte Arzneimittel der Welt, aus. Seit- wenn Nachfolgearzneien markt- her streitet AstraZeneca mit den Generika- reif werden, auf vier Milliarden Herstellern über zusätzliche Patente – und Dollar steigen. Nach der Warnung verkauft munter weiter zum alten Preis. sehen Analysten Vioxx nur noch Mit einer „Mauer von Patenten“ will bei einer Milliarde. AstraZeneca-Chef Tom McKillop sein Pri- Gleichzeitig aber verliert losec bis ins Jahr 2007 retten. Inzwischen Mercks Cholesterinsenker Zocor ist jedes Medikament der Großen im den Patentschutz. Generika für ei- Schnitt von zehn Patenten umgeben, wie nen Bruchteil des Zocor-Preises die Generika-Hersteller gezählt haben. werden dann den Umsatz inner- „Bald sind wir so weit“, schimpfte Senator halb weniger Monate erfahrungs- Charles Schumer im Handelsausschuss des gemäß um rund 80 Prozent US-Senats, „dass die nur noch die Farbe drücken. Bis 2006 soll Zocor jähr- ihrer Pillen ändern.“ lich 6,6 Milliarden Dollar Umsatz Neue Patente, leicht veränderte Versio- bringen – rund ein Drittel des nen, die neuen Patentschutz erlauben, gesamten Merckschen Medika- Schutzzahlungen an Generika-Hersteller, mentenverkaufs. sich über den Ablauf des Patents hinaus vom Insgesamt laufen in den nächs- Markt fern zu halten: Die Großen der Bran- ten fünf Jahren allein in den USA che kämpfen inzwischen bis an den Rand Patente für 40 Milliarden Dollar des Legalen um ihre Blockbuster – zu Lasten Manager Dormann: „Ganze Kraft konzentrieren“ Umsatz aus. Weltweit wird der ab- der Patienten und ihrer Versicherungen. Die Kritik an solchen Ge- Absatz um 66 Prozent auf nur noch 225 schäftspraktiken wächst, der Millionen Dollar abgesackt. Druck im US-Kongress nimmt Je höher der Umsatz, desto tiefer der zu, die Schlupflöcher für die Fall, wenn der Schutzwall bricht. Als An- Verlängerung der Pharmapa- fang der siebziger Jahre die ersten Gene- tente zu stopfen. rika auf den Markt kamen, konnte sich das Vor drei Wochen haben Original noch lange halten. Preisabschläge 29 Bundesstaaten Bristol-Myers setzten sich nur zögernd durch, der Um- Squibb verklagt. Dem Konzern stieg auf Nachahmer lief behäbig. wird vorgeworfen, sich durch Das hat sich geändert – zum Nachteil abgesprochene Scheingefechte der forschenden Pharmaindustrie. Generi- vor Gericht jahrelang einen ka-Hersteller wie Ratiopharm, Stada oder verlängerten Patentschutz für Hexal, die in Deutschland den Markt an- das Krebsmedikament Taxol führen, schlagen kurz nach Ablauf des erschlichen zu haben.

Schutzes zu. Die alten Wirkstoffe unter BRENT MEYER / GETTY IMAGES Um sich die Rechte auf zu- neuem Namen kosten dann bald nur noch Gründer Waksal: Verhaftung wegen Insiderhandels kunftsträchtige Medikamente die Hälfte. zu sichern, hatte sich der Kon- Umso wichtiger ist es für die Großen, auf laufende Patentschutz einen Umsatz von zern zudem – viel zu teuer – beim Bio- die Verschreibepraxis der Ärzte in über 60 Milliarden Dollar treffen. „Wir ste- tech-Unternehmen Imclone eingekauft. Deutschland einzuwirken und deren Treue hen“, klagt Novartis-Chef Daniel Vasella, Doch die amerikanische Gesundheits- zum teuren Original zu belohnen. Erfolg „unter enormem Druck.“ behörde verweigerte dessen Krebsmittel oder Misserfolg dieser Bemühungen ist an Kein Wunder, dass sich die Pharmariesen Erbitux die Zulassung, der Aktienkurs des der Medikamentenrechnung abzulesen, die immer neue Tricks einfallen lassen, wie sie Unternehmens brach ein – und er stürzte von den Krankenkassen zu bezahlen ist. ihre Verkaufsschlager über das Ablaufda- noch weiter ab, als der Gründer der Bio- Wie existenzbedrohend die Abhängig- tum des Patents hinaus schützen können. tech-Firma Samuel Waksal wegen Insider- keit von wenigen Medikamenten sein Bei Milliardenumsätzen zählt jeder Tag. handels verhaftet wurde. kann, erfuhr Deutschlands größter Phar- In den USA, dem mit Abstand wichtigs- Inzwischen gilt Bristol-Myers Squibb so- mahersteller Bayer im vorigen Jahr. Wegen ten freien Pharmamarkt der Welt, nutzen gar als Übernahmekandidat. Er wird nicht Nebenwirkungen mussten die Leverkuse- die bedrängten Konzerne inzwischen eine der letzte bleiben. ner ihren Milliardenhit, den Cholesterin- Besonderheit des amerikanischen Patent- Trotz der gegenwärtigen Branchen- senker Lipobay, vom Markt nehmen. Ar- rechts exzessiv. Danach ist es den Patent- krise sieht Aventis-Gründer Dormann beitsplatzabbau, rote Zahlen in der Bilanz haltern gestattet, ihren ursprünglich auf keinen Grund, von seinen Überzeugun- und eine Umstrukturierung des ganzen 20 Jahre gewährten Schutz mit weiteren, gen abzurücken. Pharma und nur Phar- Konzerns war die Folge. nachgeschobenen Patenten anzureichern. ma, so predigt Dormann, der jetzt als Rund 50 Milliarden Dollar pro Jahr gibt Kurz vor Ablauf der 20-Jahres-Frist ver- Aufsichtsratsvorsitzender sein Werk über- die Pharmaindustrie für Forschung und klagt dann der Patenthalter die nachdrän- wacht, garantiere im unsicheren Auf Entwicklung aus. Bleibt der Nachschub pa- genden Generika-Hersteller, mit ihren und Ab von Wirtschaftszyklen und poli- tent- und damit preisgeschützter Massen- Nachahmerprodukten gegen diese Zusatz- tischen Krisen steigenden Umsatz und ware aus, dann kommen selbst die Größten patente zu verstoßen. Bis der Rechtsstreit zweistelligen Gewinnzuwachs. Daran der Branche ins Trudeln. geklärt ist, genehmigt das US-Gesetz dem werde auch der derzeitige Einbruch nichts Etwa der US-Riese Merck: Nach einer Originalhersteller eine zusätzliche Schon- ändern. Warnung der amerikanischen Gesund- zeit von 30 Monaten. Dormann ist sich sicher: „Pharma ist heitsbehörde FDA, Mercks Blockbuster Und die wird genutzt. Ende vorigen Jah- keine momentane Geschichte.“ Vioxx könne Herzbeschwerden forcieren, res lief die 20-jährige Schonzeit für Astra- Heiko Martens

88 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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BAUARBEITER „Kieken, wer da stärker ist“ Auf zwei Berliner Großbaustellen verhindern Gewerkschaftsposten, dass arbeitswillige Ausländer ihren Streik unterlaufen. Aber sie wissen: Es ist das letzte Gefecht der deutschen Männer vom Bau.

s ist fünf Uhr morgens. Aus der Däm- merung kommt eine Frau in som- Emerlicher Abendgarderobe und auf hohen Hacken auf Wilfried V. zu, Polier und Maurer im Streik. Seit zwei Stunden bewacht er am vergangenen Mittwoch die Zufahrt zur Baustelle „DomAquarée“, schräg gegenüber dem Palast der Republik. Der Polier wartet mit einer Hand voll Kol- legen auf angekündigte Streikbrecher. Stattdessen steht diese Frau vor ihm, und der Kapitalismus ist ihre Mission: Auch sie als Selbständige habe einen Stundenlohn von wahrscheinlich nur fünf Euro, „so ist die Welt“. Da mache ein Streik alles nur schlimmer: „Ihr schaufelt euch euer eige- nes Grab.“ Der Polier, 59 Jahre alt, aber mit den Jeans und dem Büschel sonnengebleichter

Bau- Streik MROTZKOWSKI WOLFGANG FOTOS: Beschäftigte Arbeitswillige Portugiesen vor dem „Beisheim-Center“: „Gegenseitig die Nase putzen?“ am Bau gesamt März 2002 Haare unter der verkehrt aufgesetzten ro- und der Maurer mit dem Musketierbart 845 673 ten IG-Bau-Kappe wie ein Skater im besten sitzt vor dem Bauzaun auf einem türkis- Monatlicher Alter wirkend, verschränkt die Arme vor blauen Campingstuhl. „Hauptsache, ich Bruttotariflohn der Brust und ruft wütend zurück: „Wir bin gesund, und meine Frau arbeitet, sag im Bauhauptgewerbe WEST OST sind doch schon längst im Grab. Wir kieken ich immer.“ bloß noch mal raus.“ Die mitstreikenden ostdeutschen Arbei- mittlere Der Streik auf prominenten Baustellen ter sind aber auch so etwas wie Lohndum- Lohngruppe 2168 ¤ 1933 ¤ in Mitte wie dem DomAquarée per, schließlich liegt der Osttarif unter dem ohne Zuschläge und dem „Beisheim-Center“ am Pots- Westentgelt. Am Biertisch nebenan, wo es damer Platz ist auch ein Streik der Alten. Würstchen und Kaffee gibt, will einer die Ungelernte 1759 ¤ 1570 ¤ Der Enthusiasmus, mit dem sie ihn betrei- Mauer wieder aufbauen, „aber diesmal aus ohne Zuschläge ben, wird mit von dem Gefühl befeuert, Glasbausteinen. Dann könnt ihr sehen, wie vielleicht ein letztes Mal Macht zu haben. es uns bald wieder gut geht“. Beim Bau des DomAquarées, eines Jetzt warten sie gemeinsam auf die noch mächtigen Hotel- und Bürokomplexes, billigeren Kollegen, darauf, dass die ver- werden die deutschen Facharbeiter, die suchen, die Streiklinie zu durchbrechen. über Jahre das Land mit aufbauten, von „Können ruhig kommen“, brummt Polier Darum wird gestreikt den Unternehmen kaum noch gebraucht. Wilfried. „Mal kieken, wer da stärker ist.“ Am ersten großen Bau-Arbeitskampf der Bauen können andere, Portugiesen, Ost- Am Dienstag hätten sie ihr letztes Ge- Nachkriegszeit beteiligten sich bis zum ver- europäer und junge ungelernte deutsche fecht beinahe schon verloren gehabt. Da gangenen Freitag über 20 000 Arbeiter auf Arbeiter, genauso gut – vor allem billiger. hatte die Sicherheitsfirma neben dem sonst 1506 Baustellen. Die IG Bau fordert So werkeln hier nur noch 40 Mann des eher schmächtigen Wachpersonal auch ein 4,5 Prozent mehr Lohn, die Unternehmer Generalunternehmers Strabag, aber 200 paar Bodyguards aufgeboten. „So richtige boten zuletzt 3 Prozent, allerdings erst ab Arbeiter von Subunternehmen, die meis- Disco-Türsteher, Arme wie aufgeblasen“, September. ten Ausländer. beschreibt einer mit Zopf und Sonnenbril- Außerdem verlangt die IG Bau eine Anglei- Er könne, sagt Joachim Z., 52, einen Satz le. Die Streikbrecher, Polen und Rumänen, chung der Ost- an die Westmindestlöhne einfach nicht mehr hören. Der heißt: „Ihr warteten ein paar Meter entfernt im Bus, und einen Mindestlohn für Facharbeiter. seid zu teuer.“ Z. kommt aus dem deut- „und wir haben vor dem Tor eine Mauer Obwohl beide Seiten für diese Woche neue schen Osten, hat vor der Wende die Cha- gebildet wie beim Fußball“. Die Body- Gespräche vereinbart haben, will die Ge- rité-Erweiterung und den Palast der Repu- guards seien aber durch wie nichts. „Bei werkschaft den Streik am Montag massiv blik und nachher das Nobelhotel Adlon diesen Typen geht man freiwillig zur Sei- ausweiten. mitgebaut und ist stolz darauf. Jetzt bleiben te“, sagt der Mann mit der Sonnenbrille. ihm gerade mal 1000 Euro netto im Monat, Aber die Streikbrecher hätten begriffen,

90 der spiegel 26/2002 Da greift der Zimmerer Die Portugiesen setzen sich unter ein und Einschaler Erhard provisorisches Holzdach und trinken ein Strobel, 57, zum Megafon. Bier. Sie dürfen nicht reden über ihren „Kollegen“, spricht er Job, mit niemandem, nur mit Offiziellen langsam, „lasst euch nicht vom Arbeitsamt. Das haben ihnen die als Streikbrecher miss- Leute von Ramos & Varela gesagt. Alex- brauchen. Sollen wir uns ander Morim-Neves, 40, inzwischen in ei- gegenseitig die Nase put- nem deutschen Unternehmen beschäftigt, zen?“ Die Portugiesen schaut bei seinen Landsleuten vorbei. „Für ziehen sich zurück. sie ist es gerade sehr schwer. Wenn sie nicht Nun versucht es einer arbeiten, bekommen sie kein Geld.“ von der Unternehmersei- Einer der Portugiesen gestikuliert wild. te. Gunnar Winter, Ober- „Er sagt, er darf nicht mal seinen Chef an- bauleiter des Bauunter- rufen, um zu fragen, ob er reden darf. nehmens Pöttinger, will Dann fliegt er raus“, sagt Morim-Neves. Polizist Tölle, Streikposten: „Hier regiert die IG Bau“ auf seine Baustelle. Aber „Nein“, schreit ein Unternehmensvertreter nur mit Polizeischutz. Da ins Telefon, die Leute könnten reden, mit umarmt der Justiziar der wem sie wollen – „aber lassen Sie unsere Berliner Polizei, Oliver Arbeiter in Ruhe“. Tölle, den zwei Köpfe Mit den Streikbrechern, die am Don- größeren Bau-Mann von nerstagmorgen vor dem DomAquarée ein- hinten und beginnt, ihn treffen, kommt auch Axel Kluth vom durch die rote Mauer zu Generalunternehmer Strabag. Der Streik, pressen. Wieder schrillen bilanziert er, koste die Firma pro Tag auf die Trillerpfeifen, „Skla- dieser Baustelle rund 150000 Euro, es fie- venhändler“, hallt es über len 2000 Arbeitsstunden aus. die Straße. Winter gibt Im Schnitt, sagt Kluth, werde immer auf. Ziehe sich der Streik noch ein Gebäude von vieren von Stra- länger als zwei Wochen bag-Bauarbeitern gebaut, „obwohl unsere hin, sagt Winters Kollege Leute wesentlich teurer sind“. In der mas- Klaus Hanne, werde es siven Form wie früher könnten Deutsche für seine Firma finanziell nicht mehr beschäftigt werden, das sei un- eng, „sehr eng“. wirtschaftlich: „Wir müssen konkurrenz- Die Polizisten sitzen fähig bleiben.“ Und dann sagt er über die Bodyguards am Bauzaun: „Arme wie aufgeblasen“ längst wieder im Mann- teuren Westdeutschen noch, dass ein Un- schaftswagen, das letzte ternehmen „aber auch eine gewisse Sozial- „dass die nicht so einfach durchkommen, Häuflein der Portugiesen sammelt sich, kompetenz braucht“. Das beeindruckt den und wollten keinen Ärger“. Nicht einer sichtlich verschreckt vom andauernden Strabag-Mann selbst am meisten. stieg aus, der Bus fuhr wieder ab. „Hier regiert die IG Bau“. Die Streikposten „Warum soll ich streiken“, fragt der Ser- Ein paar Portugiesen haben sich am heu- klatschen. „Sieg“, brüllt einer und dann be Amin Kamil, 32, „ich werde doch nie tigen Mittwoch beim Beisheim-Center zu- im Chor: „Geht nach Hause.“ Sie gehen. den Tariflohn bekommen.“ Dann treiben mindest in die Nähe der Baustellenzufahrt Ihr Zuhause sind neun orangefarbene die Streikposten die Arbeitswilligen vor gewagt. 10 von ihnen stehen, Hände in den Container auf einer Brache an der Ro- sich her, bis hinter das Gebäude der Wirt- Hosentaschen, aufgereiht an der Bord- senthaler Straße. Ein Bauschild kündet von schaftswissenschaftlichen Fakultät. Die ro- steinkante, weiter hinten warten noch ein- der künftigen Bestimmung als Bürostand- ten Bauarbeiter brüllen ihnen nach: „Hoch mal 20. Ihnen gegenüber 150 Streikposten ort, ein weggeworfener Computer und ein die internationale Solidarität.“ Vier Mal. mit Trillerpfeifen, aus zwei Mannschafts- Sofa von der alten Nutzung als Müllhalde, Doch dann verstummen sie plötzlich. So, wagen der Polizei steigen 15 Beamte in und vor der Tür parkt der Kleinlaster der als hätten sie sich dabei erwischt, einen Kampfanzügen und setzen die großen Firma Ramos & Varela, die die Arbeiter unanständigen Gedanken laut ausgespro- weißen Helme auf. eingeflogen hat und bezahlt. chen zu haben. Caroline Schmidt

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im Juni 2000 knapp 60 Millionen Euro die Finn gehörte. Die Kontrolleure stimm- NEUER MARKT in die Kassen. Finn selbst verkaufte, laut ten zwar zu – forderten Finn aber auf, sei- einem Schreiben des Aufsichtsrats, für nen Anteil an jener Excenga Technologies Skelette hinter etwa 9 Millionen Euro Anteile, seine Frau GmbH bis spätestens Ende 2001 auf unter später noch mal für rund 4 Millionen 25 Prozent zu reduzieren, was nicht ge- Euro. schehen ist. den Türen Heute aber kämpft die Firma ums Über- Die Excenga habe der Amatech in min- leben. Und schuld daran sei Finn, behaup- destens drei Fällen Maschinen verkauft. Der Gründer und Ex-Chef der tet der Vorsitzende des Aufsichtsrats, Jus- Der Preis aber habe mindestens um das tus Fischer-Zernin. 2,5fache über den Herstellungskosten ge- Amatech AG soll dem Der Gründer, den das Kontrollorgan im legen, für welche die Amatech diese Geräte Unternehmen wertvolle Patente März 2002 als Vorstandschef feuerte, habe noch wenige Monate zuvor selbst gebaut und Lizenzen entzogen haben. die Firma regelrecht ausgeplündert. „An habe, behauptet der Aufsichtsratschef. Als Die Staatsanwaltschaft ermittelt. jeder zweiten Türe, die wir aufmachen, die Amatech die überhöhten Preise nicht fällt uns ein Skelett entgegen“, sagt Fischer- umgehend bezahlen konnte, gab sie der ür markige Sprüche im Vorfeld des Zernin, die Firma drohe „eine leere Hülle“ Excenga ein weit reichendes Schuldaner- Börsenganges war der Firmengrün- zu werden. Vor knapp drei Wochen erstat- kenntnis – das Finn, ohne Wissen des Auf- Fder David Finn immer zu haben: Die tete der Aufsichtsrat deshalb Strafanzeige sichtsrats, selbst unterschrieben hat. Moskauer Metro, aber auch die U-Bahnen gegen Finn. Die Staatsanwaltschaft Augs- Außerdem habe Finns Excenga Teile des in London und Rom sowie die Lufthansa – burg ermittelt inzwischen wegen des Ver- Firmengebäudes von der Amatech für ei- sie alle bauten auf Amatech, verkündete er dachts auf Untreue. nen „deutlich zu niedrig“ angesetzten Preis im Mai 2000. „Finns Raubzug“, so der Aufsichtsrats- gemietet. Und zwar zu einem Zeitpunkt, Genauer gesagt auf die kleinen Plastik- chef, „begann mit der Krise der Amatech als Finn noch Amatech-Chef war. Tickets seines Start-ups aus Pfronten im AG.“ Das Anfang der neunziger Jahre ge- Nach Finns Abgang merkten die Kon- trolleure, dass die Excenga neben den 45 Amatech- Schutzrechten aus dem Bereich Maschi- Aktienkurs nenbau auch alle wesentlichen Patente und seit Börsengang Lizenzen aus dem Kernbereich der Ama- 40 in Euro tech, also der Kartenproduktion, nutzen darf. Die aber waren ein wesentlicher Wert beim Börsengang der Firma. 35 Ein besonders pikantes Kernstück der Verschiebeaktion ist dabei eine Vereinba- 30 rung, die David Finn „persönlich, mit sich selbst“, so Fischer-Zernin, abgeschlossen hat – und in der die Amatech Finn das 25 Recht erteilt, eben jene Patente und Li- zenzen zu nutzen. Ein Preis für die Nut- zungsrechte wird dabei nicht genannt. 20 Doch heißt es: „Jede der beteiligten Par- teien bestätigt, ein Exemplar dieser Ver- einbarung erhalten zu haben.“ Links unter 15 dem Datum unterzeichnete David Finn als Geschäftsführer der Amatech Automation GmbH, bei der die Schutzrechte liegen, 10 rechts unterschrieb er als Privatperson. Quelle: Vor allem mit dieser, aber auch mit wei- Thomson teren Vereinbarungen habe Finn, am Auf- Financial 5 Datastream sichtsrat vorbei, seine Befugnisse „weit überschritten und dem Unternehmen ex- trem geschadet“, so Fischer-Zernin. Finn dagegen bezeichnete die Vorwürfe 2000 2001 2002

ERWIN ELSNER / DPA ERWIN ELSNER seines ehemaligen Aufsichtsratschefs all- Amatech-Gründer Finn: Persönliche Vereinbarung mit sich selbst? gemein als „Spielchen“, die „weder Hand noch Fuß haben“. Zu einzelnen Punkten Allgäu, die ihre Informationen an ein Ma- gründete Start-up-Unternehmen verfehlte und Details sowie zu den strittigen Verein- gnetfeld senden und damit wie von Geis- seine Umsatz- und Gewinnziele – und der barungen, die dem SPIEGEL vorliegen, terhand die Absperrungen öffnen. Aufsichtsrat schätzte die Situation im April wollte er sich jedoch nicht äußern. „Wir bestimmen den Markt“, behaupte- 2001 laut Protokoll als „in hohem Maße Sollten die Verträge Bestand haben, te Finn. Schließlich verfüge Amatech über bedrohlich“ ein. wäre „das Kerngeschäft der Amatech AG 72 Patente im Zusammenhang mit der Das Gremium beschloss, Amatech solle in hohem Maße gefährdet“, heißt es in drahtlosen Kartentechnologie. Zudem sich auf das ertragreiche Kerngeschäft, also der Strafanzeige. Zumal Finn – „trotz sei- baue seine Firma auch die Lesegeräte samt die Produktion der drahtlosen Chip-Kar- nes Wettbewerbsverbots“, wie Fischer- der Software und obendrein die Maschi- ten, konzentrieren. Der in einer Tochter- Zernin bemängelt – bereits anfangen will, nen für die Herstellung der smarten Kar- firma, der Amatech Automation GmbH, im Kerngeschäft der Amatech zu wil- ten. „Wir sind ein Komplettanbieter“, gebündelte Geschäftsbereich Maschinen- dern: Eine Gruppe hoch qualifizierter prahlte Finn, „der über eine geschlossene bau sollte eingestellt werden. Mitarbeiter aus diesem Bereich sei jeden- Wertschöpfungskette verfügt.“ Die Notie- Stattdessen wurde das Geschäftsfeld aus- falls bereits zu Finns neuer Firma ge- rung am Neuen Markt brachte Amatech gegliedert und in eine GmbH eingebracht, wechselt. Wolfgang Reuter

94 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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UMWELT Kanzler contra Kommissarin Wieder einmal fühlt sich die deutsche Industrie durch einen Plan der EU bedroht. Es geht um den Handel mit Schadstoff-Emissionen.

m gepflegten Poloclub zu Barcelona erregte Isich Bundeskanzler Ger- / LAIF KLEIN hard Schröder spätabends Kohlekraftwerk (in Neurath): 60000 Arbeitsplätze in Gefahr? über Margot Wallström, die EU-Kommissarin für Um- dert, kann überzählige Ver- Falsch, sagt die Kommissarin. Durch die weltschutz. Die Schwedin, schmutzungsrechte an andere Wahl eines vernünftigen Basisjahres für die in deren Heimatland es Firmen verkaufen, die Mühe Festlegung der erlaubten Schadstoffmenge so gut wie keine Chemie- haben, ihre Obergrenzen ein- könne man die „early action“ der Deut- industrie gebe, betreibe eine zuhalten. So soll der Giftaus- schen einbeziehen. Trittin schlägt das Jahr realitätsferne Politik. „Wenn stoß dort verringert werden, 1990 vor. Die Unternehmen vom Rhein ihre Vorstellungen Wirk- wo das zu den geringsten Kos- würden dann sogar Zertifikate verkaufen

lichkeit werden, dann hätten / DPA CERLES GERARD ten erfolgen kann. können und den Profit maximieren. Die wir auch in Deutschland Kommissarin Wallström Doch wie der Kanzler so- Branche findet diese Vorstellung „naiv“, bald keine Chemieindustrie Streit mit der Industrie wie die Chemie- und Strom- wie es in einer internen Bewertung heißt. mehr“, zürnte der Kanzler, bosse hat auch Wirtschafts- Wirtschaftsminister Müller erwartet, „das müssen die in Brüssel endlich minister Werner Müller vor allem Angst, dass die EU-Richtlinie am Ende auf die kapieren.“ die Deutschen würden von den Eurokraten ganze Wirtschaft ausgedehnt wird: Im Mo- Das war beim EU-Gipfel in Spanien vor mal wieder über den Tisch gezogen. Die ment würden zwar nur große Verschmut- drei Monaten, am Freitag voriger Woche deutsche Industrie habe, anders als viele zer einbezogen, nur etwa 46 Prozent der ließ Schröder Taten folgen: Kanzleramts- andere Mitgliedstaaten, ihre Kyoto-Zusa- EU-CO2-Verschmutzung seien handelbar. chef Frank-Walter Steinmeier trug in Brüs- gen schon fast erfüllt. Versprochen haben Das führe zu Wettbewerbsverzerrungen sel die deutschen Bedenken vor. die Deutschen, zwischen 2008 und 2012 mit den noch verschonten Kleinemittenten. Wallströms Plan, der die deutschen Che- den Ausstoß von Treibhausgasen gegenü- Langfristig würden die Brüsseler deshalb miebosse und den Kanzler so in Wallung ber dem Referenzjahr 1990 um 21 Prozent jeden Taxifahrer kontrollieren. Wallström bringt: ein europaweiter Handel mit Rech- abzusenken. 19,1 Prozent sind erreicht, feh- wiegelt ab: Es sei Sache der Mitgliedstaa- ten für Kohlendioxid-Emissionen, um die len noch 1,9 Prozent. Belgien, Spanien ten, Kleinfirmen mit Hilfe des Ordnungs- im Protokoll von Kyoto zugesagte Minde- oder Dänemark müssen noch erheblich rechts oder durch Selbstverpflichtungen rung der Treibhausgase zu erreichen – und mehr schaffen (siehe Grafik). zur Umweltfreundlichkeit zu zwingen. das zu den geringstmöglichen Kosten. Diese Umweltvorleistungen, so die In- 60000 Arbeitsplätze würde die EU-Re- Die deutsche Industrie fühlt sich dabei be- dustrievertreter, würden nicht anerkannt. guliererei in Deutschland kosten, befürch- nachteiligt. Man habe weit mehr für die Um- tet Gewerkschaftschef Hubertus Schmoldt. welt getan als andere und werde nun mit Veränderung der Treibhaus- Kyoto-Ziel nach Wie könne das sein, wundern sich Brüsse- den notorischen Umweltsündern in Europa gas-Emissionen 1990–2000 EU-Lastenteilung ler Fachleute, da doch der deutschen In- auf eine Stufe gestellt, wird argumentiert. in Prozent für 2008 – 2012 dustrie nicht mehr an Umweltschutz zuge- Diejenigen aber, die bisher nichts getan mutet werde, als sie freiwillig zu leisten fei- – 45,1 Luxemburg – 28,0 hätten, könnten das CO2 billiger mindern. erlich gelobt habe – und Emissionshandel So sieht es auch der Kanzler – sein Um- –19,1 Deutschland – 21,0 von Wissenschaft wie Unternehmen lange weltminister aber ist ganz anderer Mei- –12,6 Großbritannien – 12,5 als effizienteste Methode propagiert wurde. nung. Wie Wallström glaubt auch Jürgen Die Deutschen wissen, dass sie die Kom- Trittin, dass Emissionshandel der Umwelt –4,1 Finnland 0,0 missarin nicht umstimmen können. Des- nützt und die Wettbewerbsfähigkeit der In- –1,9 Schweden +4,0 halb wollen sie erreichen, dass der Emis- dustrie eher stärkt als schwächt. Minderung –1,7 Frankreich 0,0 sionshandel nur einstimmig ausgeformt Seit Jahren fordern Ökonomen, den Han- und eingeführt werden kann. Kommission –1,7 Dänemark – 21,0 del als marktwirtschaftliches Mittel einzu- und die Mehrheit der Mitgliedstaaten sind setzen, um Umweltziele am kostengünstigs- Niederlande +2,6 Erhöhung – 6,0 jedoch überzeugt, dass nach den Regeln ten zu verwirklichen. Nach Wallströms Österreich +2,7 – 13,0 der EU eine qualifizierte Mehrheit genügt. Entwurf wird er ab 2005 verbindlich ein- Italien +3,9 – 6,5 Trittin sieht es genauso. Doch vor der geführt. Die Betreiber von Verbrennungs- Sitzung des EU-Umweltministerrats an die- und Produktionsanlagen in der Energie- Belgien +6,3 –7,5 sem Dienstag haben ihn seine Kabinetts- wirtschaft, der Stahl-, Zement-, Zellstoff- Griechenland +21,2 +25,0 kollegen Müller und Verkehrsminister Kurt und Papierindustrie sowie in der Glas- und Irland + 24,0 +13,0 Bodewig schriftlich gebeten, die Frage der Keramikindustrie erhalten Zertifikate für Einstimmigkeit – gegen seine eigene Über- Portugal +30,1 +27,0 eine feste Menge CO2-Emissionen zugeteilt. zeugung – noch einmal zur Diskussion zu Wer seinen Klimagift-Ausstoß stärker min- Spanien +33,7 +15,0 stellen. Winfried Didzoleit

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Werbeseite Designer Armani, Präsentation in Mailand (2001): „In der Mode ist zwei mal zwei nicht immer vier“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Das Metier ist gnadenlos“ Modeschöpfer Giorgio Armani, 67, über das Pathos seiner Branche, Fusionszirkus wie Rezessionsgeschrei der Konkurrenz und die Frage, wie zickig Hollywood-Diven sind SPIEGEL: Herr Armani, Sie verkaufen Ro- bringt, der sich dann ein Ventil sucht. Ich zusehen oder Krawatten von Cardin. Luxus ben, die selten unter ein paar 1000 Euro zu kann mit dem heutigen Luxusbegriff nichts bedeutet Zeitlosigkeit, die über die Mode haben sind. Sie sieht man seit Jahrzehnten anfangen, bei dem das Produkt selbst eine hinausgeht. Bei Armani steckt dahinter eine nur in dunklen Arbeitshosen und Shirts. immer unbedeutendere Rolle spielt. Als ich saisonunabhängige, dauerhafte Integrität. Warum sind die Top-Kreativen der Mode- vor 30 Jahren begann, fuhr ich noch nach SPIEGEL: Ihre Kollegen in der Modebranche szene oft am langweiligsten angezogen? Paris, um mir Schaufenster von Hermès an- litten schwer unter dem 11. September und Armani: Das ist so eine Art Abwehr- erholen sich seither nur mühsam von haltung – so, wie Friseure oft unrasiert Mode-Marke 1272 den Folgen fürs Geschäft. sind. Zudem ist es eine Frage der Be- Armani: Nicht alle, aber fast alle, ja. Armani-Umsatz 52% quemlichkeit: In meinem Job bin ich in Millionen Euro Parfum, 24% SPIEGEL: Designer wie Tom Ford von ständig in Bewegung. Da helfen Ihnen Kleidung Kosmetik Gucci präsentieren weit schrillere Jackett und Krawatte wirklich nicht. Töne und leiden unter der Rezession Und ein gewisser Narzissmus spielt 886 nach Segmenten nun auch am meisten. Ist wieder auch eine Rolle: Dunkle Farben lassen 2001 Schlichtheit angesagt? mich einfach jünger aussehen. 728 Accessoires, Armani: Toms große Stärke ist, dass er SPIEGEL: Kürzlich sagten Sie, Luxus sonstiges ein genialer Vermarkter seiner selbst ekle Sie an. Woher dieser Ausbruch? ist. Er versteht es, altbekannten Din- 24% Armani: Das war nach einer Moden- 493 gen seine entschlossene Handschrift schau, die immer viel Stress mit sich 19951997 1999 2001 zu verpassen und sie plötzlich mo-

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dern erscheinen zu lassen. In die- verkaufen mussten, um sich über Wasser Angst, zu spät zu kommen, Märkte er- sem Sinne ist er ein großer Förde- zu halten? schlossen wurden, die gar keine waren, nur rer seiner selbst. Armani: Mein damaliger Teilhaber Sergio um der Erste zu sein. Aber ich gebe zu: SPIEGEL: Ideen klaut doch in der Galeotti und ich brauchten Geld für ein Man konnte leicht in diesen Teufelskreis Branche jeder bei jedem. Büro, das ganz in der Nähe unserer Mai- geraten. Am Ende hat sich meine Vorsicht Armani: Verstehen Sie mich nicht länder Wohnung lag. Und wir mussten ei- ausgezahlt. falsch. Tom ist ein toller Typ – nen Angestellten bezahlen. Einen! Aber SPIEGEL: Auch Ihr Unternehmen lebt frecher, aggressiver, lauter als an- Geldmangel machte mir nie Angst. Ich nicht von der Haute Couture. Den Profit dere. Und eben gewaltsam in sei- habe nie das Drama erlebt, eine Rechnung bringt das Geschäft mit Parfums, Acces- ner Art, Mode zu machen. nicht bezahlen zu können. soires, Jeans. SPIEGEL: Wie Gucci leidet auch Ihr SPIEGEL: Nachdem Ihr Lebensgefährte und Armani: Das ist nicht wahr. Wir sind wahr- Mailänder Konkurrent Prada. Teilhaber Galeotti 1985 starb, mussten Sie scheinlich die Einzigen, die mit Mode in Armani: Weil es nicht nur ein Pra- selbst sich um die Finanzen kümmern. Si- allen Bereichen Geld verdienen. Als ich da gibt, sondern viele. Jedes Jahr cher nicht leicht für einen Kreativen, oder? anfing, bekannt zu werden, hätte ich mei- wird dort nach einer neuen Ge- Armani: Damals kam ich mir vor, als nen Namen für viel Geld ausschlachten schichte gesucht. Diese Saison sind müsste ich meine eigene Firma neu kennen können. Aber ich wollte nicht, dass man es diese kleinen Damaströckchen lernen. Und ich musste mich plötzlich ge- Armani an jeder Straßenecke findet. Sicher mit den engen Blüschen darüber. gen Leute wehren, die wie Sergio einst habe ich viel Geld verdient. Aber dazu Prada hat keine echte Identität. Es dachten, ich sei nun mal ausschließlich der brauchte ich 25 Jahre. Das hat also ein suchte immer seinen Platz. Und kreative Part: Anwälte, Steuerberater, auch ganzes Leben lang gedauert. der Platz heißt Eklektizismus. Kunden. Aber heute sitze ich hier… SPIEGEL: Wo liegt die Grenze des eigenen SPIEGEL: Heute zählt das schnelle SPIEGEL: … mit einem Umsatz von rund Wachstums? Image doch ohnehin am meisten. 1,3 Milliarden Euro. Haben Sie dennoch Armani: In meiner Entscheidung. Die Ver- Armani: Leider ja. Ich weiß nicht, Fehler gemacht? gabe von Lizenzen wäre eine lukrative Ein- wie lange das noch gut geht. Denn Armani: Keine großen. Manchmal bestand nahmequelle gewesen. Aber das war nicht irgendwann müssen die Leute ja mein Fehler in zu großem Vertrauen. Ich mein Weg. entdecken, dass viele Marken un- musste mir anhören: Warum gibst du kei- SPIEGEL: Wie viele Übernahmeangebote be- stimmig sind und nur aus aufge- ne Verantwortung ab? Also delegierte ich. kamen Sie in den vergangenen Jahren? blasener Werbung bestehen. Wer Vielleicht aus Angst, ich selbst könnte mich Armani: Es gab eine Hand voll bedeutender. sich heute ein Kleid kauft, muss es ja auch mal irren. Aber es gab Momente, Wirklich wichtig waren zwei. in sechs Monaten wegwerfen. Es wo sich dann eben gar nichts bewegte, weil SPIEGEL: Wir nehmen an, dass Bernard muss immer das Neueste sein, um alles so gut lief. Das sind aber gerade die Arnault, Chef des französischen Luxus- jeden Preis. Momente, wo sich et- SPIEGEL: Die Klientel spielte das was bewegen muss. Spiel bislang doch gern mit. SPIEGEL: Vor einigen Armani: Man muss es leider sagen: Jahren geriet die italie-

OLYMPIA PUBLIFOTO / ACTION PRESS / ACTION PUBLIFOTO OLYMPIA Die Leute sind unkritisch. Heut- nische Modeindustrie zutage werden die Kunden viel ins Visier der Steuer- stärker von einer Reklameaussage gelenkt fahnder. Auch Sie wur- als vom eigentlichen Produkt. Schauen Sie den zu einer neunmo- sich den Osten an. Dort wird alles gekauft: natigen Haftstrafe auf Schönes, Hässliches, Hauptsache, es klebt Bewährung verurteilt. eine Marke dran. Eine Klientel ohne Sinn Hatten Sie die Zahn- für Ästhetik. bürste fürs Gefängnis SPIEGEL: Was machen Sie anders, dass Ar- schon bereitgelegt? mani im Gegensatz zur Konkurrenz noch Armani: Davor fürchte- immer von einem Umsatzrekord zum te ich mich nicht. Aber nächsten rauscht? davor, dass ich nicht für Armani: Das eigentliche Geheimnis meines schöne Kollektionen in Erfolgs sehe ich darin, dass ich über all die den Zeitungen stehen

Jahre Produkte schuf, die logisch waren, sollte, sondern für den DEFD (L.); PRESS (R.) / ACTION BAUER RANDY erfindungsreich, aber auch an den Bedürf- Vorwurf, ich sei ein Armani-Träger Gere*, Pfeiffer: „Völlig verrückter Wettlauf“ nissen der Leute orientiert – und zudem für Betrüger. alle sozialen Schichten offen. SPIEGEL: Was lernten Sie daraus? Multis LVMH, Sie ebenso schlucken woll- SPIEGEL: Nun ja, ein Abendkleid für 5000 Armani: Dass Vertrauen – auch zu einem te wie Domenico De Sole von Gucci. Euro… Steuerberater – gut ist, Kontrolle aber im- Armani: Ja, aber auch Maurizio Romiti… Armani: …ist nur ein winziger Ausschnitt mer besser. Damals kam wohl hinzu, dass SPIEGEL: … der Chef des italienischen meiner Palette, aber auch das repräsentiert ein Exempel statuiert werden sollte an ei- Mischkonzerns HdP… diese Dauerhaftigkeit. Ich habe immer nem besonders klingenden Namen. Armani: …kam zwei-, dreimal. Die Herren versucht zu berücksichtigen, dass mein SPIEGEL: Armani blieb immer unabhängig gingen vorsichtig zu Werke, sehr charmant, Metier keine Mission ist, keine Gottes- von den großen Luxuskonzernen. Hatten sehr überzeugend. Und ich sagte nicht gabe, sondern dass es vom Bedarf der Sie nie Angst, im grassierenden Expan- gleich Nein, weil die Angebote sehr Menschen lebt. Die Leute suchen Quali- sionswahn unter die Räder zu kommen? schmeichelhaft waren. tät. Qualität steht für Sicherheit, für Wahr- Armani: Es gab eine Zeit, als jede Mode- SPIEGEL: Warum wurde nichts daraus? heit. Gerade in unruhigen Zeiten. Dazu marke sich einen Palast mit sieben Ge- Armani: Ich hätte mit einem Verkauf meine gehört übrigens auch eine vorsichtige schossen bauen musste, wenn der Kon- persönliche Situation verbessert, nicht die Expansionspolitik. kurrent gerade fünf präsentiert hatte. Als des Unternehmens. Eigentlich wusste ich SPIEGEL: Stimmt die Legende, dass Sie zu Geschäfte auch dort eröffnet wurden, wo Beginn Ihrer Karriere Ihren VW Käfer sie sich nie lohnen würden. Als aus lauter * Im Film „American Gigolo“ von 1980.

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SPIEGEL: Warum hat es Sie nie an die Soundso trägt Armani, auch wenn es gar Börse gedrängt wie momentan etwa nicht nach Armani aussieht? Prada und Burberry? SPIEGEL: Bekanntheit. Armani: Wer an die Börse geht, braucht Armani: Solche Strategien zerstören jede Geld. Mein Unternehmen hat sich Art von Glaubwürdigkeit. Das ganze Hol- aber immer aus sich selbst heraus lywood-Geschäft ist längst ein völlig finanziert. Es war immer liquide. Kurz: verrückter Wettlauf geworden: Visagisten, Ich hatte es einfach nicht nötig. Friseure, Schuhverkäufer, Accessoire-Pro- SPIEGEL: Man kann sich auch schwer duzenten, Modemacher. Das hat die Schau- vorstellen, dass jemand wie Sie ein- spielerinnen auch sehr verwöhnt. Und es mal pro Jahr seinen Kleinaktionären machte sie hysterisch, alles serviert zu Rechenschaft ablegt. bekommen. Leider treffen sie am Ende Armani: Ich wäre vom Markt dirigiert mitunter auch eine grauenvolle Wahl. worden, ja. Jede Saison muss dann ein SPIEGEL: Gibt es Schauspielerinnen, die Sie Umsatzplus im zweistelligen Bereich gar nicht anziehen würden? bringen. Und Aktionäre wollen Zah- Armani: Ich will nicht unhöflich sein. Es len sehen. In der Mode ist zwei mal gibt sie, aber ich möchte keine Namen nen- zwei aber nicht immer vier. Es ist nen. Lieber freue ich mich darüber, dass schwer, solchen Leuten zu erklären, etwa Michelle Pfeiffer mir und meiner dass ein Fest in Los Angeles durch- Mode seit Jahrzehnten treu ist. aus eine Million Euro kosten kann und SPIEGEL: Gianni Versace soll Ihnen auf trotzdem ein Gewinn ist. Finanzleute der Spanischen Treppe in Rom einst an- verstehen solche Feinheiten nicht. vertraut haben, er ziehe die Schlampen an, Aber mein Beruf ist voller solcher Sie die Damen. Details. Armani: Der Ausdruck, den Gianni be- SPIEGEL: Sie waren wahrscheinlich der nutzte, war ein sehr italienischer für Per- erste Modemacher, der Hollywood sonen, die – sagen wir mal – unterhaltsam als Werbeplattform entdeckte. 1980 sind. Aber den werden Sie von mir nicht statteten Sie den Richard-Gere-Film mehr hören, weil seine Schwester Dona- „American Gigolo“ aus. tella sich ziemlich aufgeregt hat, als die

SERGEI KARPUKHIN / REUTERS Armani: Und ich habe wirklich nicht Geschichte bekannt wurde. Armani-Schau in Moskau (Juni 2002) geglaubt, dass das eine große Sache SPIEGEL: Hat Claudia Schiffer nicht zu Ar- „Die Mode soll auffallen, nicht das Model“ wird. Gere sah einfach sehr gut aus in mani gepasst? In der Ära der Supermodels meinen Anzügen. schickten Sie sie einst vom Laufsteg. immer, dass ich noch keine Lust habe, mich SPIEGEL: Mittlerweile geben Modemacher Armani: Damals war sie blutjung und wun- auf die kreative Seite zurückzuziehen, in Millionen dafür aus, dass Schauspielerinnen derschön. Aber dann sah ich sie auf dem einem Büro in Saint-Tropez zu sitzen und sich von ihnen einkleiden lassen. Machen Laufsteg in meinen doch eher ätherischen mir von irgendwelchen Abteilungsleitern Sie diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten mit? Kleidern – und sie konnte einfach nicht ge- sagen lassen zu müssen: Mach dies, mach Armani: Die Wahrheit ist: Ich gab dafür hen. Nach dem zweiten Auftritt nahm ich das, die Läden laufen schlecht et cetera. Viel- noch keine halbe Lira aus. Natürlich ver- sie raus. Es ging einfach nicht. Sagten alle. leicht bin ich in drei, vier Jahren anderer schenke ich die Kleider. Aber ich zahle SPIEGEL: Danach machte sie bei anderen Meinung. Ich verkaufe ganz oder gar nicht. doch nicht noch dafür, dass sie getragen Häusern wie Valentino, Versace und Cha- SPIEGEL: Yves Saint Laurent wurde von werden. Wenn Julia Roberts oder Jodie nel Weltkarriere. Gucci übernommen, Jil Sander von Prada Foster Armani anziehen, dann einfach, weil Armani: Und sie hat auch viel gelernt seit- geschluckt. Erfolgreicher wurden die we- sie sich darin wohl fühlen. her. Sie wurde ein Star, eine Figur des Jet- nigsten Marken nach dem Verkauf. SPIEGEL: Wie weit verbiegen Sie sich, um sets. Das ist ein anderer Weg. Damals zog Armani: Weil es typische Beispiele sind: Jil den Geschmack einer Film-Diva zu treffen? ich Mannequins vor, die weniger auffielen baute ihr Unternehmen ganz auf dem eige- Armani: Überhaupt nicht. Wenn ein Star als die Kleidungsstücke. Ich würde das nen Image auf, wurde übernommen und eine romantische Robe sucht, soll er wo- immer wieder tun. Nicht das Model soll sah sich plötzlich von Leuten umgeben, die anders schauen. Sie entscheiden sich für auffallen, sondern die Mode. für sie die Entscheidungen trafen. Für einen meinen Stil oder einen anderen. Hol- SPIEGEL: Stört es Sie, mittlerweile als Dik- echten Kreativen ist derlei sehr deprimie- lywood ist voller Schneidereien, die Ihnen tator im eigenen Reich zu gelten? rend. Ich will ja nicht nur einen schönen alles nähen. Ich bin aber Stylist. Was habe Armani: Ich habe sicher sehr genaue Vor- Rock entwerfen. Ich will auch dafür sorgen, ich davon, wenn die Leute sagen: Frau stellungen von meinem Haus. Das macht dass er auf eine ganz bestimmte Art und dem einen oder anderen mitunter Angst. Weise beworben und verkauft wird an eine Aber immerhin bin ich Eigentümer, Ge- Klientel, die ich obendrein gern bediene. sicht und Kopf des Unternehmens. Jede Vielleicht war Jil aber auch ein wenig müde letztgültige Entscheidung treffe ich, kein von dem gnadenlosen Tempo des Geschäfts. anderer. Das hat aber nichts mit einer Dik- SPIEGEL: Ist Mode so zermürbend? tatur zu tun, sondern mit Unternehmer- Armani: Die Branche gönnt einem keine geist. Und es macht mir immer noch Spaß, Pause. Man geht ins Kino und arbeitet. von morgens um neun bis abends um acht Man fährt in die Ferien und arbeitet. Man hier im Büro zu sein. läuft durch eine Stadt, schaut sich Men- SPIEGEL: Was ist für Sie selbst noch wahrer schen und Geschäfte an – und arbeitet. Das Luxus? Metier ist gnadenlos. Armani: Sagen zu können, was man denkt.

ALBERTO CONTI / CONRASTO / AGENTUR FOCUS / AGENTUR CONTI / CONRASTO ALBERTO Das ist wirklich Luxus. * Mit den Redakteuren Thomas Tuma und Hans-Jürgen Firmenchef Armani beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Herr Armani, wir danken Ihnen Schlamp in Armanis Mailänder Büro. „Ich verkaufe ganz oder gar nicht“ für dieses Gespräch.

102 der spiegel 26/2002 Wirtschaft KEYSTONE ZÜRICH / DPA KEYSTONE Modell des Mystery Park: Kollektives Abdriften am Fuße der Berner Alpen bis zur Eröffnung ver- SCHWEIZ terdarstellungen im Wüs- GELDANLAGE schlingen, finanziert wird tenboden des peruani- es mit Hilfe von Wandel- geplanter schen Nazca. Dass es sich Drei Esel für anleihen, Sponsoren wie Bern Mystery- dabei um Zeichen von Ein- Coca-Cola und Aktien, die Park geborenen handelt, die seit längerem an den Bör- Interlaken damit die Außerirdischen die Mayas sen in Bern und Berlin „wieder herbeirufen“ woll- gehandelt werden. Neben ten, hält er zwar für die Nach den Ideen des Ufo-Phantasten deutschen und schweizeri- wahrscheinlichste Erklä- schen Kleinanlegern gehört die Pensions- rung. Aber wenn die Park-Besucher künftig Erich von Däniken entsteht kasse der Siemens Schweiz AG zu den per Multimediashow über das, so Däniken, in der Schweiz die Erlebniswelt risikofreudigen Aktionären. „Synonym eines Weltphänomens“ kreisen, Mystery Park. Die Anleger Schärz operiert als Verwaltungsratsprä- sollen sie einfach nur staunen. träumen von galaktischen Renditen. sident des Freizeitparks. Doch Aushänge- Eines der größten Rätsel des Mystery schild, Initiator und Ideengeber ist ein an- Park dürfte allerdings gelöst sein. Die bis ür Unternehmer Oskar Schärz, 66, derer: Erich von Däniken, der einst alle vor kurzem wackelige Finanzierung gilt sind Volltreffer reine Routine. Seit ungelösten Welträtsel auf das Werk von seit wenigen Tagen als gesichert. Nachdem FJahren verkauft der frühere Oberst- Außerirdischen zurückführte und damit die zweite Aktienemission gefloppt hatte, leutnant der Schweizer Armee weltweit Weltruhm errang. Bis heute hat der End- scheint eine soeben platzierte Wandelan- Panzer-Simulatoren der Luxusklasse. Erst sechziger, der über 60 Millionen Bücher leihe über 24 Millionen Euro im letzten kürzlich orderten die Militärs der Arabi- verkaufte, eine treue Fangemeinde. Moment die nötigen Investitionsmittel in schen Emirate Hightech-Gerät für über 30 In einem seiner acht knallblauen Stan- die Kasse zu bringen. Millionen Euro. dardsakkos hetzt Däniken von Termin zu Auf dem früheren Flugplatz der Schwei- „Sehr ökologisch“, preist Schärz die aus- Termin und preist sein begehbares Denk- zer Luftwaffe beschleunigt das frische Ka- gefeilte Technologie, die bald nicht nur Sol- mal. „Kein Ufo-Park, keine Esoterik- pital jetzt die Bauarbeiten. Noch ist der daten, sondern auch mindestens 500000 Zi- veranstaltung, keine religiösen Gefühle Park ein Rohbau. Vollständig materialisiert vilisten jährlich begeistern soll. Im schwei- verletzen“, hämmert er den Journalis- sind nur die rustikale Bauarbeiterkantine zerischen Interlaken baut seine Mannschaft ten immer wieder ein. Die Angst, mit dem und ein Stall mit drei Eseln davor. „Die derzeit an zwei U-Boot-Simulatoren, mit Mystery Park abgehobenen Weltraum-Sek- Tiere sorgen dann im Mayaland fürs mexi- denen Freizeitkapitäne in das Rätsel um ten ein Mekka zu errichten, ist allgegen- kanische Flair“, erzählt Park-Präsident die Stadt Atlantis eintauchen können. wärtig. Schärz, der stolz auf seine rigorose Kos- Das kollektive Abdriften am Fuße der Stattdessen will der inzwischen vorsich- tenkontrolle verweist. Berner Alpen gehört zu einer der Haupt- tigere Däniken, dass die Menschen „das „Der Park hat immer Saison“, begrün- attraktionen des Mystery Staunen wieder lernen“. det von Däniken seinen Glauben an die Park. Ob ägyptische Py- Zu den Rätseln sollen im galaktische Rendite der Ufo-Aktie, „bei ramiden, die Steinzeit-In- Park jeweils Fragen und der Neugier haben die Menschen keinen stallation von Stonehen- Erklärungsansätze ver- freien Willen, sie müssen einfach zu uns ge oder altindische Vima- schiedener Experten prä- kommen.“ Jährlich fahren über 600 000 na-Raumschiffe – ab Mai sentiert werden. Katego- Touristen auf das Jungfraujoch, „bei nächsten Jahres sollen auf rische Behauptungen um- schlechtem Wetter gehen sie in den einem alten Militärflug- fährt der Kettenraucher Mystery Park“, lautet seine simple Über- platz Heerscharen von dagegen großräumig, zu legung. Die Leser seiner Bücher „kommen Touristen durch Raum oft wurde der „prähis- sowieso“. und Zeit schweben und in torische Astronautiker“ Experten von PricewaterhouseCoopers sieben Themengebäuden (Däniken über Däniken) haben die budgetierten Besucherzahlen die ungelösten Rätsel der als Spinner verspottet. positiv beurteilt. Dennoch gilt die Aktie

Welt erleben. / LOOKAT LATZEL MARC Diese Vorsicht gilt auch in Börsenkreisen als „Liebhaberpapier“, Rund 60 Millionen Phantast Däniken für die kilometerlangen in Berlin ist sie für rund 14 Euro zu Euro dürfte das Projekt „Keine Esoterikveranstaltung“ Linien, Muster und Göt- haben. Beat Balzli

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Werbeseite Trends Medien

PROGRAMMHANDEL der klemmt beim Ver- tragspartner – und Sie Streit um TV-Messen dann vor derselben Situation stehen wie RD, ZDF und die nordrhein-westfä- im Mai dieses Jahres: Alischen Standortförderer um Minis- Kirch ist Ihnen noch 80 terpräsident Wolfgang Clement streiten Millionen Euro aus der sich weiter um eine gemeinsame deut- vorigen Saison schul- sche TV-Messe. Die öffentlich-rechtli- dig geblieben. chen Programmvertreiber „ZDF Enter- Holzhäuser: Natürlich prises“ und „German United Distribu- ist das ein Problem. Ich tors“ (ARD) bestehen auf der eigenen weiß ja nicht, wer die Fernsehmesse „German Screenings“ am

UWE SPECK / WITTERS neuen Eigner von Jahresende. Die vergangene Woche in „Ran“-Fußballübertragung KirchMedia sein wer- Köln zu Ende gegangene NRW-Veran- den. Deshalb gibt es auf staltung „Cologne Screenings“ eigne meiner Prioritätenliste sich nicht als Verkaufsmarkt für Produk- „Infames einen Punkt drei: Wenn tionen: Kaum internationale Kunden, irgendetwas passiert, die „gähnende Leere“ sei „peinlich“, sollten die Rechte nicht heißt es bei den öffentlich-rechtlichen Spiel“ nur zurückfallen an Programmhändlern. Die Veranstaltung die DFL, sondern wir am Rande des Medienforums NRW sei Bayer-Leverkusen-Manager Wolfgang sollten sie sofort wie- vor allem Standortpolitik, der Termin Holzhäuser, 52, über das Geschacher der neu vermarkten um die Bundesliga-Rechte können.

BACHT / ACTION PRESS / ACTION BACHT SPIEGEL: Das ist auf SPIEGEL: In dieser Woche will die Deut- Holzhäuser Grund der Vertragslage sche Fußball Liga (DFL) darüber ent- derzeit offenbar strittig. scheiden, welche Sender in der kommen- Holzhäuser: Klar ist: Ein Abschluss mit den Saison die Bundesliga übertragen einem Partner, der nicht KirchMedia sollen. Was hat bei den Verhandlungen heißt, ist juristisch schwieriger. Auf der für Bayer Leverkusen Priorität? anderen Seite hat KirchMedia eindeutig Holzhäuser: Zwei Dinge: erstens finanzi- erklärt, dass es bestehende Verträge

elle Sicherheiten und zweitens eine Sen- nicht erfüllen will und kann. Das be- PRESS / ACTION GUIDO OHLENBOSTEL degarantie im Free-TV. rechtigt uns zumindest, mit anderen zu Clement, Thoma SPIEGEL: Ist das auch die einheitliche verhandeln. Meinung unter den 36 Clubs der ersten SPIEGEL: Das 300-Millionen-Euro-An- zu nah an den großen Messen in den und zweiten Liga? gebot von Aim, der Firma von Her- USA und Frankreich. Die seit 26 Jahren Holzhäuser: Soweit ich die Kollegen ken- bert Kloiber, hat KirchMedia unter an wechselnden Orten stattfindende ne, sehen sie das auch so. Wir wollen Handlungsdruck gesetzt. Die DFL „German Screenings“ wiederum wird eine Garantie, dass die vereinbarten klagte zuletzt, KirchMedia spiele auf in der Branche als „internes Treffen Gelder auch bezahlt werden. Aus Er- Zeit. öffentlich-rechtlicher Vertriebsleute“ fahrung wird man ja klug. Und wir den- Holzhäuser: Ich halte es für infam, auf kritisiert, da private Programmverkäufer ken an den Fußballzuschauer, der eben dem Rücken der Vereine, die große Li- nicht zugelassen sind. Eine Annäherung keinen Pay-TV-Anschluss hat. quiditätsprobleme haben, mit den Mög- scheint indes möglich. Beide Seiten SPIEGEL: Wenn Sie mit der insolventen lichkeiten des Insolvenzrechts zu spie- sind sich grundsätzlich einig, dass nur KirchMedia abschließen, laufen Sie Ge- len. Wir haben jetzt eine komfortable eine gemeinsame Veranstaltung fahr, dass es ähnlich wie bei Philipp Situation: Es gibt wieder einen Wett- „die kritische Masse erreichen kann“, Holzmann nach einem Jahr schon wie- bewerb. so Clements Medienberater Helmut Thoma.

PRESSE will. Nach dem schon länger beste- se“ war auf der Höhe des Börsenbooms henden und jetzt umgesetzten Plan im Januar 2000 gegründet worden „Wirtschaftswoche“ sollen Teile der 60-köpfigen „Tele- und produzierte wegen der Anzeigen- börse“-Redaktion flaute zuletzt deut- übernimmt „Telebörse“ den Geldteil der lich steigende Ver- „Wirtschaftswoche“ luste. Für den „Tele- ie Düsseldorfer „Wirtschaftswo- verstärken; außer- börse“-Chefredak- Dche“ übernimmt ihr verlustreiches dem möchten die teur Roland Tichy Schwesterblatt, die in Frankfurt er- Düsseldorfer so das sucht der neue scheinende „Telebörse“. Beide Anzeigen- und Handelsblatt-Ge- Magazine gehören zur angeschlage- Abonnentengeschäft schäftsführer nen Verlagsgruppe Handelsblatt, die des Anlegerblatts Michael Grabner mit dem Schritt ihre Verluste zumindest in Teilen verlagsintern (2001: 6,3 Millionen Euro) reduzieren retten. Die „Telebör- neue Aufgaben.

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VERLAGE ein aussichtsloses Unter- fangen. Das Ganze war „Eigensinn hat’s Ausdruck von Übermut und journalistischer immer schwer“ Lebensfreude, einer Non- chalance, die zu den bes- Der in der Hauptstadt lebende Lyriker seren Eigenschaften der Durs Grünbein, 39, über die Ankündi- Neuberliner gehört. Es gung der „Frankfurter Allgemeinen“, ging auf diesen Seiten um zum Monatsende die Berliner Lokal- so weltbewegende The- seiten einzustellen men wie das Leben der glücklichen Arbeitslosen SPIEGEL: Herr Grünbein, sind Sie ent- oder die verschiedenen

täuscht? BILDERDIENST / ULLSTEIN WALLOCHA Türklinkenarten in den Grünbein: Ja, das ist ein trauriger Fall für Dichter Grünbein Wohnungen der Berliner uns Leser und ein neuer Beweis für die Prominenz. Am meisten These von der Trennung von Markt und schrieben. Wie ging es denn zu in der mochte ich die Rubrik „Berliner Chro- Publikum. Der Markt ist, wie sich über- Redaktion? nik“, von der jetzt im Berliner Alexan- all zeigt, längst dabei, sich von den Kon- Grünbein: Es war eine Spielwiese, vor der Verlag eine Auswahl erscheint. sumenten zu verabschieden. Gleichzeitig allem für junge Autoren: Hauptstadtbe- SPIEGEL: Mit einem Vorwort von Ihnen. braucht er diese jedoch und muss sie richterstattung als schönste Nebensache Offenbar fehlte es den Berliner Seiten ständig umwerben. Deshalb ist die Wer- der Welt. Natürlich war das Ganze nur auch an Leserzuspruch. bung mittlerweile wichtiger geworden denkbar inmitten finanzieller Über- Grünbein: Eigensinn wird es immer als das Produkt. So bleibt nur das Para- schüsse – eine Seifenblase der „bubble schwer haben. In einer gesunden dox: Wegen rückläufiger Anzeigenange- economy“, die vorübergehend auch Ökonomie gedeiht er wie das Blaue bote wird der Kunde als Erster um das deutsche Tageszeitungen erfasst hatte. im Roquefort-Käse. Geld hin oder her, gebracht, was ihm am Herzen liegt. Im Grunde war es die Wettfahrt der Ge- es bleibt eine Schande, dass eine so SPIEGEL: Sie selbst haben auch gele- neration Golf mit den Kapitänen der mächtige Zeitung sich einen Haupt- gentlich für die Berliner Seiten ge- Mercedes-S-Klasse, also von Anfang an stadtteil nicht mehr leisten will.

QUOTEN mit seinen „Lach- und Sachgeschich- ten“ in der Regel 50 Prozent Marktan- Zu früher Sandmann teil bei den in dieser Zeit vor dem Gerät sitzenden Knaben und Mädchen, ulturelles Erschauern ging vergan- ähnlich gehe es auch dem ZDF-Konkur- Kgene Woche durchs Land: Deutsch- renten „Löwenzahn“. Zum Platz auf lands Kinder zwischen 3 und 13 „ver- der Hitliste reichen diese vormittägli- schmähen ihr Programm“ („FAZ“) und chen Anstrengungen jedoch nicht – der sehen im Fernsehen am liebsten moderne junge Mensch sieht mehrheit- pädagogisch wenig Sinnvolles. Das lich lieber am Abend fern. Und da herr- Institut Media Control hatte eine Hit- scht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen liste kindlicher TV-Genüsse ermittelt. Schweigen. Um 19 Uhr muss nach dem Wenig verwunderlich erwies sich, dass „Sandmännchen“ der Kinderkanal „Wetten, dass…?“ und „Asterix“ die (Kika) dem kunstsinnigen Arte wei- Spitzenposition belegen – was gibt es chen. Viel zu früh sagt die Qualität gute für die Kleinen Schöneres, als mit den Nacht, liebe Kinder. Eltern am Samstag die Bett- gehzeit zu überziehen? Er- klärungsbedürftiger ist da Die größten TV-Hits bei Kindern 2002 schon der Erfolg des pädago- Zuschauer von 3 bis 13 Jahren in Millionen gisch bedenklichen RTL-II- Animationsspektakels „Dra- Wetten, dass...? Quelle: GfK gon Ball Z“, in dem rie- ZDF, 2. März, 20.15 Uhr* 1,19 senäugige Comicfiguren aus japanischer Produktion um die Vorherrschaft auf der Asterix und Obelix Welt kämpfen. Haben die gegen Cäsar 1,09 Kinder der Qualität den Sat.1, 30. März, 20.15 Uhr Rücken gekehrt? Der Verant- wortliche des Kinderpro- Dragon Ball Z gramms beim WDR, Sieg- RTL II, 6. Mai, 0,82 mund Grewenig, verneint 19.30 Uhr* dies: „Die Sendung mit der *jeweils Maus“, das Kultobjekt am erfolgreichste Einzelsendung Dragon Ball Z

Sonntagvormittag, erreiche II RTL

106 der spiegel 26/2002 Fernsehen TV-Vorschau Lebensträume Montag, 21.45 Uhr, ARD Er war Mitglied der FDP und – heim- lich – der SED, Millionär und Mar- xist, Vorzeigeunternehmer und Spion: Hannsheinz Porst machte aus den Fo- togeschäften seines Vaters eine Firma von Weltruf. Das Unternehmen über- stand sogar die Verurteilung Porsts, 1969 wegen Landesverrats, zu 33 Mo- naten Gefängnis. Er habe in dieser Sache „überhaupt kein Unrechtsbe- wusstsein“, sagt Porst, inzwischen 79,

vor der Kamera des Dokumentarfil- ARTE mers Marvin Entholt. Auch Stasi- Szene aus „Wie werde ich Demokrat?“ Chef Markus Wolf, ebenfalls von Ent- Wie werde ich Demokrat? WM-Endspiel holt zur Affäre Porst befragt, ist Donnerstag, 22.30 Uhr, Arte Sonntag, 13.00 Uhr, ZDF immer noch sehr „Umerziehung nach der Stunde Null“ Letzte Frage vor dem Anpfiff: „...En- stolz über seinen heißt der heutige Themenabend, an dem de, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es gelungenen Coup Dieter Reifarth erstmals diesen Doku- geht vielleicht zu Ende...“ – stammt von damals. Der mentarfilm zeigt: den unkommentierten dieses Zitat von a) David Beckham, Film über Fotokö- Zusammenschnitt von Wochenschau- b) Samuel Beckett, c) Franz Becken- nig Porst ist der beiträgen, in denen sich die Siegermäch- bauer oder d) Heribert Faßbender? vierte und letzte te um die Reeducation der von den Na- Sicher ist: Die Fußballweltmeister- Teil der Reihe zis verblendeten Deutschen bemühten. schaft geht am kommenden Sonntag „Lebensträume“ Deutlich ist zu spüren, wie sich der Ton zu Ende, das Endspiel kommentiert (SPIEGEL 23/2002), der Demokratieerzieher von strenger für das ZDF Béla Réthy, und die tief-

DPA die spannend und Verachtung für die Deutschen zu wer- sinnigsten Sport-Weisheiten („Trotz Porst anschaulich Auf- bender Milde wandelt – eine Folge des Tennis – die Dinge sind so“) stammen stieg und Fall ver- beginnenden Kalten Krieges. immer noch von Beckett. schiedener Wirtschaftswundergrößen skizziert – Fortsetzung dringend er- wünscht. TV-Rückblick verwurschtelte sich dabei zuweilen im eigenen, unübersichtlich gewordenen Rohat – Sonne, Berlin Mitte Satzbau. Der Außenminister gab Kost- die die Nacht vertreibt proben seiner ungebrochenen Bega- 20. Juni, ZDF bung zur Sottise („Es würde mich in Donnerstag, 22.15 Uhr, Südwest Maybrit Illner ist die informierte und eine persönliche Krise stürzen, wenn Die Nachwuchs-Filmemacherin schlagfertige Nachfragerin unter den ich das Vorbild für Guido Westerwelle Juliane Hohl, 32, glaubt fest an das prominenten TV-Polit-Talkern – doch im sein sollte“), doch auch er war nicht in große Glück: „Total. Ganz naiv und fast einstündigen Gespräch mit Joschka Topform. Über weite Strecken lieferte wirklich mit aller Kraft.“ Solche Her- Fischer übertrieb sie es ein wenig mit er das solide Graubrot des Wahlkampfs, zensenergie ist auch nötig, um die den Haken und Ösen, wirkte merkwür- und selbst der interessierte Zuschauer Liebesgeschichte zwischen Annika dig angespannt, nervös und unruhig. hofft jetzt schon inständig, dass schönes (Sandra Nedeleff) und dem unter Allzu viele vertrackte Themen – von Sommerwetter der abendlichen Flucht Mordverdacht stehenden türkischen der Ökosteuer bis zur Scharia in Afgha- in den Biergarten förderlich sein möge. Bauarbeiter Hassan (Yüksel Yolcu) nistan, von der Riester-Rente bis zum Bleibt die professionelle Herausforde- zum glücklichen Ende zu führen. Nahostkonflikt – wollte sie abhaken und rung: für den Spitzenkandidaten der Wenn der Zuschauer bedenkt, Grünen, dessen pflichtgemäßer Opti- worauf eine solche Story (Buch: Ulri- mismus erst noch durch die Aura des ke Stegmann) aus der renommierten angriffslustigen Kämpfers beglaubigt Reihe „Debüt im Dritten“ in werden muss – und für die Spitzen- früheren Zeiten hinausgelaufen wäre moderatorin des ZDF, die fürs Kanzler- – Ausländerproblematik, Polizei- kandidaten-Duell im Spätsommer viel- terror, Liebestragödie mindestens –, leicht ein bisschen Lockerheit trainieren kann er heute guten Gewissens er- sollte. Dann sitzen ihre Fragen viel- leichtert sein. „Rohat“ wirkt leicht auch wieder wie fluoreszierende weder flach noch seicht, sondern hat Giftpfeile.

Charme. ZDF Illner, Fischer 107 „GZSZ“-Stars in Jubiläums- pose: Jeanette Biedermann, Susan Sideropoulos, Nina Bott und Felix von Jascheroff

TV-SERIEN Das Gesetz der Serie RTL Sie galt als „Souterrain des Niveaus“ und nicht überlebensfähig. Doch auch nach der 2500. Folge ist die Seriensucht ungebrochen: Die Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ ist die Geldmaschine von RTL. anchmal bekommt Mandy noch nun sind 2500 daraus geworden, und auch auch hier: „Wir müssen das Känguru durch Zitterkrämpfe, wenn Felix aus nach zehn Jahren ist kein Ende in Sicht. den deutschen Schäferhund ersetzen“, Mdem Studio kommt. Sie kann Dabei sah es anfangs gar nicht gut aus: Kri- glaubte Thoma, und komischerweise be- dann vor Aufregung kaum die kleine Ka- tiker wähnten sich im „Souterrain des Ni- hielt er Recht. Nachdem die Charaktere mera halten, auf die sie pausenlos drückt: veaus“ („Tagesspiegel“), und die Zuschau- entstaubt worden waren und mehr Raum Felix vor den grauen Studiohallen in Pots- er offenbar auch: Die Quote war so mager, für Beziehungsprobleme der Jugendlichen dam-Babelsberg – 160 verwackelte Bilder dass der RTL-Beirat vom damaligen Sen- da war („Ich glaub, ich hab mich verliebt.“ hat die 17-Jährige in den vergangenen acht derchef Helmut Thoma die Absetzung ver- – „Ich denke, ihr wolltet nur Freunde Wochen von dem Seriendarsteller ge- langte. sein?“), setzte so etwas wie das Gesetz der macht. Thoma hatte die Serie aus Australien im- Serie ein – ein zehn Jahre dauernder Er- Ihre Freundin Nicole, 15, hat die Phase portiert. Doch die altersschwache Vorlage, folgsschub, für den kein kausaler Zusam- der Zitterkrämpfe schon hinter sich. Seit sie eine hausbackene Endlosgeschichte über menhang erkennbar war. Außer dem Mut ihr Idol Tokessa Möller-Martinius bei einer flotte Jugendliche, die nie arbeiten und teu- zur erbarmungslosen Wiederholung der Autogrammstunde „näher kennen lernte“, re Cabrios fahren, interessierte hier kaum ewig gleichen Probleme vielleicht. sei ihre Nervosität „leicht zurückgegan- jemanden. Das Format war so prüde, dass Schon bald wurde die Serie zur Geld- gen“. Mädchen und Jungen nur in Ausnahme- maschine des Senders. Die Produktions- Mandy und Nicole sind Fans von „Gute fällen abends zusammen weggehen durften kosten sind gering, die Werbeeinnahmen Zeiten, schlechte Zeiten“, der erfolgreichs- – das Wort „Scheiße“ war verboten. immens – „GZSZ“ trug im vergangenen ten Fließbandserie im deutschen Fern- Dennoch wirkte die Serie auf die aus- Jahr geschätzte 80 Millionen Euro zum 361- sehen. 100 Folgen der so genannten Soap- tralischen Jugendlichen wie ein Sog, und Millionen-Vorsteuergewinn der RTL-Group Opera hatte RTL im Mai 1992 nur geplant, auf diese Abhängigkeit spekulierte Thoma bei. Hinzu kommen Millionenerlöse für

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Serien-Nippes wie „GZSZ“-Becher, -Ku- kommt gleich. Ich spüre das.“ Über Laut- neuerdings, „immer nervös ihre Haare scheltiere und -Tischfeuerwerk. sprecher ruft der Regisseur zur nächsten zurückwirft“. Bereits Anfang jedes Jahres ist ein Groß- Szene. 20 Minuten Zeit hat er dafür, ge- Mit noch größeren Problemen hatte der teil der Werbezeiten ausgebucht. „Nie- dreht wird im Akkord. erste Producer Hans-Henning Borgelt zu mand schaut intensiver zu und leidet mehr Frank-Thomas Mende hält diesen Takt kämpfen. Die australischen Co-Produzen- mit als 10- bis 19-jährige Mädchen“, sagt seit zehn Jahren durch. Er ist einer der ten hätten ihm „einfach Leute von der Maya Götz, Medienwissenschaftlerin und beiden Schauspieler, die durchkamen, Straße geschickt“, sagt Borgelt – die meis- Autorin des Buches „Alles Seifenblasen?“, deren Rollen 2500 Folgen überlebten. ten aus Ost-Berlin, um die Kosten zu in dem die Bedeutung von „Daily Soaps“ Am 11. Mai 1992 trat er als Clemens Rich- drücken. „Here is a good face“, hätten die im Alltag von Kindern und Jugendlichen ter mit den Worten „Was ist denn?“ an, gemeint und etwa den Kfz-Schlosser An- untersucht wird. Rund 50 Prozent Markt- das deutsche Fernsehen zu verändern. dreas Elsholz „reingeschoben“ – wenig anteil hat die Serie in dieser Altersgruppe. Mende sagte die Worte zu Lisa Riecken, später der erste Soap-Star im deutschen Was Götz „Definitionsmacht“ und „Stil- die damals seine Frau spielte, vor einer Fernsehen. Borgelt, Grimme-Preisträger diktat“ nennt, das umschreiben Marke- Telefonzelle stand und kein Kleingeld da- und bis dahin Spezialist für anspruchsvol- tingstrategen geschmeidig mit „optimalem bei hatte. les Kinderfernsehen, habe gesagt: „Der Werbedruck“: Nirgendwo kann man etwa Zwischen Studenten und Fotomodels kann doch gar nicht spielen.“ Darauf hät- einem Deo- oder Slipeinlagenproduzenten waren die beiden anfangs die einzigen Be- ten die Australier geantwortet: „Nach 50 höhere Aufmerksamkeit garantieren als in rufsschauspieler: Riecken, ebenfalls seit Folgen kann er das.“ der Zielgruppe von Mandy und Nicole. Beginn im Einsatz und eine Art Betriebs- Weil anfangs nichts klappte, musste Die beiden Mädchen haben in der Serie rätin, die bei der Produktionsfirma Grun- Borgelt in der Dekoration schlafen. Er stell- Menschen sterben, untergehen und durch- dy Ufa bezahlten Urlaub für die Ange- te Schauspiellehrer ein, die noch in den drehen sehen. Nach einer Vergewaltigung stellten durchsetzte – und Mende, der bis- Drehpausen mit den Laiendarstellern die sind ihnen die Tränen gekommen. Sie ha- her nur einmal eine längere Auszeit von Dialoge probten – was bis heute nötig ist. ben gespürt, wie Erfolg zerrinnt und Trends vier Monaten brauchte. „Da konnte ich Borgelt strich Worte wie „Todesstrafe“ aus vergehen – ihr halbes Leben lang. Mit sie- nicht mehr“, sagt er. der australischen Vorlage und verzweifel- ben Jahren begann Nicole zuzuschauen. Mende verschwand nach Hawaii, und te an den kitschigen Dialogen, die das Mit neun Jahren saß sie erstmals auf der be- kurz vor seinem Wiedereinstieg griff ihn Adolf-Grimme-Institut „zu den trostloses- kritzelten Holzbank vor dem Studio und abends in Berlin eine alte Frau am Arm ten Diskursen dieses Jahrzehnts“ zählte. wartete auf einen kurzen Gruß ihrer Idole. und sagte: „Herr Richter, Sie müssen sofort Nichts wurde angedeutet, alles musste ver- Dort feierte sie auch ihren zehnten Ge- zurück, Ihre Frau hat eine Affäre mit einem quasselt werden, es gab kein Ahnen, nur burtstag – allein mit ihrer Schwester. Gra- anderen Mann.“ Mende grinst und sagt: endlosen Redezwang. „Wir waren Maßstab tuliert habe keiner, aber es sei „schöner ge- „Wir sind eben Volkseigentum.“ Er hat mit für schlechtes Fernsehen“, sagt Borgelt. wesen als zu Hause“, sagt Nicole. der Serie graues Haar bekommen, aber ist Was ihn dennoch reizte, war „die lange Die Serie hat sich in ihren Alltag gegra- ein Perfektionist geblieben: Selbst die Sze- Strecke“. Man wolle das „mindestens ein ben: Als Grundschülerin war die Sendung nen, in denen er kein Wort spricht (wie an halbes Jahr laufen lassen“, hatten ihm die ihre Gutenachtgeschichte, heute räumt sie diesem Tag, wo er nur zum Zuprosten bei Produzenten versprochen. sich dafür den Abend frei – wenn sie sich einem Polterabend gebraucht wird), über- Nach dem stotternden Anfang zog die nicht wie an diesem Nachmittag mit ihren prüft er abends vor dem Videorecorder. Quote an und hörte lange nicht mehr auf Freundinnen in Potsdam-Babelsberg trifft. Neulich hat er wieder Ermüdungserschei- zu steigen. Längst waren realitätsnähere Die Folgen, die sie dann verpasst, nimmt nungen beobachtet, „schreckliche Ticks“, Soaps wie „Marienhof“ und „Verbotene sie auf Video auf. wie Mende findet. Er habe „ständig die Liebe“ auf Sendung, längst warnten Wis- In einer Vitrine im Studioflur hängen linke Schulter hochgezogen“, und eine Kol- senschaftler davor, dass die Seriensucht bei zwei Sätze aus dem Drehbuch: „Andy legin musste er darauf hinweisen, dass sie Kindern Alpträume auslösen und das Vor-

„GZSZ“-Dreh in Potsdam-Babelsberg: Akkordproduktion im 20-Minuten-Takt Fortsetzung folgt Zuschauer von Daily-Soaps in Millionen 5,34 4,94 5 4,75

4,09 4,55 4

3 2,77 2,76

2 2,05

Quelle: RTL, ARD *Durchschnitt bis 18. Juni 1

NORBERT MICHALKE NORBERT 19921994 1996 1998 2000 2002*

der spiegel 26/2002 109 bild zwanghaft schlanker Darstellerinnen zu Magersucht führen könne – doch bei keiner Soap war die emotionale Resonanz höher, das Identifikationspotenzial breiter. Bis RTL II vor zwei Jahren mit „Big Bro- ther“ den Voyeurismus im Zuschauer weckte. Das Format zeigte nicht viel an- deres als erbärmliche Beziehungsdramen – nur diesmal eingesperrt und live. Die „GZSZ“-Kurve sackte nachhaltig ab, und Michael Ammann wurde verpflichtet, für bessere Zeiten zu sorgen. Der Producer sammelte die Storyliner um sich und spitz- te das Drehbuch zu. „Wir mussten wieder Schulhofgespräch werden“, sagt Ammann. Er ließ Rollen herausschreiben, etwa die der Charlotte Bohlstädt: Von einer Erblin- dung geheilt, hatte sie mit einem Erpresser geschlafen, um die Karriere ihres Geliebten zu retten. Anschließend fand sie, dass ihre Brust zu klein war und ließ sich operieren – eigentlich ein ganz normales Seifen- opernleben. Ammann fand ihre Geschich- te „auserzählt“, außerdem vermochte die Brust-OP nicht für Quote zu sorgen. Die Darstellerin Stefanie Julia Möller wehrte sich gegen ihre Kündigung und be- kam vor dem Arbeitsgericht Potsdam Recht. Zwar sah ihr Standardvertrag eine kurzfristige Kündigung vor, wenn „die Rol- le des Darstellers nicht mehr in der Serie enthalten ist“ – doch diese Klausel der Bil- ligproduzenten schien den Richtern zu will- kürlich. Die Produktionsfirma Grundy Ufa, RTL Seriendarsteller Mende und Riecken Die Einzigen, die durchkamen die bei längerfristiger Beschäftigungsga- rantie eine Kostenexplosion fürchtet, ging in Berufung, und Ammann strich weiter: Zum Jubiläum an diesem Montag wird die Bar „Daniel’s“ in die Luft fliegen und ein paar Darsteller begraben. „Die Deko da drin hatte sich überlebt“, sagt Ammann. Aus seinem Fenster sieht Ammann auf die mit Herzen übersäte Holzbank vor dem Studio. Peter und Sarah sind gekommen, Freunde von Mandy und Nicole. „Bei uns passiert das nie, dass wir mal Krebs ha- ben, geheilt werden, uns trennen, sterben, und dann irgendwie doch nicht tot sind“, sagt Peter. „So ein Leben wie unseres wär eben total langweilig“, sagt Sarah. Ammann schaut auf die vier Jugendli- chen. „Wenn man es gut macht“, sagt er, „kann eine Soap ewig laufen.“ Nils Klawitter

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PROZESSE „Was haben wir gelacht“ Darf ein Klatschreporter verraten, dass in seinem Blatt über Rudolf Scharping gejohlt wird? Die „Bunte“ ließ das gerichtlich klären.

dem soll er einen Entschuldigungsbrief an Scharping schreiben. „Den Schaden, den Minister Schar- ping erlitten hat“, sagt Richter Harald Wanhöfer, „den hat er doch schon durch die Veröffentlichung der Bilder in der ,Bunten‘ gehabt.“ Stefan Söder, dem Anwalt der „Bun- ten“, geht es aber gar nicht um Schar- pings Schaden. Er sagt, die „Bunte“ habe einen Schaden erlitten, weil nun poten- zielle Interviewpartner womöglich fürch- ten, dass man sie hinter ihrem Rücken verhöhnt. Und dass dann vielleicht auch noch die Öffentlichkeit davon erfährt.

CIRA MORO / ZEITENSPIEGEL CIRA „Hat denn schon jemand ein Inter- Ex-Chefreporter Maußhardt view wegen des Maußhardt-Artikels ab- Schaden für Scharping? gesagt?“, fragt der Richter. Das könne er so direkt nicht beantwor- s ist heiß im Gerichtssaal, die Kli- ten, sagt der „Bunte“-Anwalt, es gebe da maanlage rappelt vergeblich gegen wohl so eine Zurückhaltung seitens der Edie Hitze an. Der Richter trägt Prominenten. Richter Wanhöfer sieht nicht kurzärmelig, genau wie der Verteidiger. so aus, als ob ihn das sehr überzeugt. Der Anwalt der „Bunten“ trägt lange Als Maußhardts Anwalt vorschlägt, Ärmel und wirkt förmlicher. Er ist nicht Scharping selbst zu laden und nach sei- zum Spaß hier. nem erlittenen Schaden zu befragen, Philipp Maußhardt schon, jedenfalls muss der Richter das erste Mal grinsen. ein bisschen. Maußhardt, 44, jetzt Der Prozess ist ein Gütetermin, hier Prozessgegner der „Bunten“, hat mal als wird kein Urteil gesprochen, sondern Chefreporter bei der Illustrierten gear- ausgelotet, wie ein eventuelles Haupt- beitet. Seit Anfang des Jahres ist er frei- verfahren ausgehen könnte – um dann er Journalist, und im April hat er in der vorher vielleicht eine gütliche Einigung „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszei- zu erreichen. tung“ geschildert, wie es bei der „Bun- Die soll nach dem Willen des Richters ten“ zugegangen sein soll, als im ver- so aussehen: Maußhardt wird künftig gangenen Sommer die Bade-Fotos von nicht mehr verbreiten, bei der „Bunten“ Rudolf Scharping auf dem Tisch lagen. sei gelacht worden. Die „Bunte“ verlangt Ein strunzverliebter Minister beim keinen Schadensersatz mehr. Und Ru- Plantschen mit der Geliebten – laut dolf Scharping wird einen Brief erhal- Maußhardt herrschte eine „ausgelasse- ten, in dem Maußhardt seine Darstellung ne Schullandheimstimmung“ in der Re- aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- daktion, Zitat: „Was haben wir gelacht. tagszeitung“ ein wenig zurücknimmt. Nein: Gejohlt!“ Es geht noch um den genauen Wort- Jetzt sitzt Maußhardt vor dem Ar- laut der Entschuldigung. Soll Maußhardt beitsgericht München, weil die „Bunte“ schreiben, er habe „bestimmte Interna meint, Maußhardt hätte das nicht schrei- aus der ‚Bunten‘ überspitzt dargestellt“? ben dürfen. In seinem Arbeitsvertrag Oder „pointiert dargestellt“? Und: Ist da habe er sich verpflichtet, über Redak- überhaupt ein Unterschied? Was wäre tionsinterna Stillschweigen zu bewahren, für wen die bessere Lösung? auch über das Vertragsende hinaus. Es ist heiß im Gerichtssaal, viel zu heiß Derlei Klauseln sind in Verträgen üb- für semantische Feinheiten. Draußen war- lich – rechtlich zu würdigen war also am tet der Biergarten. „Überspitzt“, sagt der Mittwoch vergangener Woche die Frage, „Bunte“-Anwalt. „Okay“, sagt Maußhardt. ob Lachen über Scharping ein Betriebs- Und das Ganze per Einschreiben mit geheimnis ist oder nicht. Rückschein, damit der Minister den Brief Die „Bunte“ meint Ja und verlangt auch sicher erhält. Und damit er weiß, von ihrem Ex-Reporter Schadensersatz dass die „Bunte“ zu ihm hält. in noch festzustellender Höhe. Außer- Ansbert Kneip

der spiegel 26/2002 111 Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

UNGARN Premier im Visier ie Absicht der ungarischen Regie- Drungskoalition, weiter mit dem schwer belasteten Ministerpräsidenten Péter Medgyessy an der Spitze in Richtung EU-Beitritt zu steuern, sorgt bei den künftigen Partnern in der Eu- ropäischen Union für Kopfschütteln. Das Eingeständnis des erst seit vier Wochen amtierenden Premiers, von 1977 bis 1982 als Offizier für die Spio- nageabwehr im kommunistischen Un- garn gearbeitet zu haben und den- noch weiterregieren zu wollen, wurde beim EU-Gipfel in Sevilla vergange- nes Wochenende als Zeugnis man- gelnder demokratischer Reife bewer- tet: „Vergangenheitsbewältigung kann

FRANK BEHLING FRANK kein Thema für die Europäische Kom- Deutsches Unterseeboot U31 auf der Kieler HDW-Werft mission sein, wohl aber ein Thema für einen demokratischen Staat wie Un- RÜSTUNG garn“, streute ein Sprecher der EU- Einfach aufkaufen ffenbar wusste die Bundesregierung und Waffensysteme zu liefern, mit denen Oschon vor Monaten, auf welchen es sich gegen einen Überfall Pekings zur trickreichen Umwegen deutsche U-Boot- Wehr setzen könnte. Er versprach der In- Technologie nach Taiwan exportiert wer- selrepublik neben Zerstörern wie ge- den könnte. Bereits im April hatte Wirt- wünscht acht konventionelle U-Boote. schaftsminister Werner Müller dem chi- Im Frühjahr besuchte eine US-Marine- nesischen Spitzenfunktionär Zeng Peiyan Delegation Taipeh und klopfte den Deal gesteckt, Berlin rechne damit, dass Blau- weiter fest. Da die USA seit Jahrzehnten pausen und technisches Gerät des neues- nur noch atomare U-Boote fertigen, wer- ten deutschen Tauchboots U31 über die den die von der HDW-Werft gebauten USA an Taiwan geliefert werden – die Tauchboote favorisiert. Im März über- beiden Politiker waren am Rande des nahm das amerikanische Finanzkonsor-

Deutschlandbesuchs von Pekings Partei- tium „One Equity Partners“ (OEP) eine / REUTERS BALOGH LASZLO und Staatschef Jiang Zemin im April zu- Mehrheit an der HDW. Trotz Vorbehalten Regierungschef Medgyessy sammengekommen. Wie das Protokoll der Europäischen Union, die befürchtet, vermerkt, habe sich Zeng, der in Peking dass auf dem Umweg über den Kauf der Kommission. 18 Monate vor dem ge- der Planungskommission vorsteht, sehr HDW nun Spitzenerzeugnisse europäi- planten Beitrittsdatum werde es aber für den Erwerb deutscher Rüstungs- und scher Rüstungstechnologie in die USA keine Einmischung von außen mehr besonders U-Boot-Technologie interes- gelangen (SPIEGEL 25/2002), gehen Di- geben: „Das müssen die Ungarn siert. Müller habe daraufhin erklärt, dass plomaten in Berlin davon aus, dass das schon selbst lösen.“ Die Europäer deutsche Gesetze den Export in Span- Kanzleramt keine Bedenken mehr gegen halten den Premier dennoch für nungsgebiete wie China und Taiwan nicht das Geschäft hat. kaum mehr tragbar. erlaubten. Anschließend habe Müller Medgyessy hatte nach anfänglichem hinzugefügt: „Ich kann Ihnen aber sa- Leugnen vergangenen Mittwoch ge- gen, wie Taiwan das macht. Die lassen standen, dass er tatsächlich als „Ge- die Werft einfach aufkaufen.“ Das Ge- nosse D-209“ der Staatssicherheits- sprächsprotokoll vermerkt, Zeng habe abteilung III/II-7 gedient habe. Seine sich sehr konsterniert gezeigt und mit er- Arbeit, so der Regierungschef, habe heblichen Schwierigkeiten gedroht, falls damals dem patriotischen Ziel gegol- das von China als abtrünnige Provinz be- ten, Ungarn gegen den Widerstand trachtete Taiwan deutsche U-Boote be- Moskaus in den Internationalen komme. Dass die Lieferung dennoch zu Währungsfonds zu lotsen. Zur Art Stande kommt, halten Rüstungsexperten seiner Berichte und zur kolportierten für kaum noch abwendbar. US-Präsident üppigen Entlohnung für seine Stasi- George W. Bush hatte bereits kurz nach Tätigkeit in Höhe von 5500 Forint in-

Amtsantritt zugesagt, „alles zu tun, um DPA klusive Offiziers- und Fremdspra- Taiwan bei der Verteidigung zu helfen“ Minister Müller, Planungschef Zeng chenzulagen wollte Medgyessy sich nicht äußern.

der spiegel 26/2002 113 Panorama

VEREINTE NATIONEN Allianz mit der Achse des Bösen S-Präsident George W. Bush hat die Ufeste Absicht, Krieg gegen den Irak zu führen – doch in den Vereinten Natio- nen schließt er neuerdings Allianzen mit Saddam Husseins Regime wie auch mit Iran. Das soll einem höheren Gut dienen:

Demonstration von Abtreibungsgegnern in Washington

dem Kampf gegen die permis- Bush in mehrere Uno-Gremien entsandt sive Sexualmoral in den libe- hat. Sie machen dort gemeinsame Sache ralen westlichen Staaten, die mit den Regierungen islamischer Staaten. weltweit zur Legalisierung der Neben Iran und Irak gehören Libyen und Abtreibung und zur Gleichstel- Sudan zu den bevorzugten Partnern. Ame- lung Homosexueller führe. Vor- rika und 50 moderate bis radikale islami- angetrieben wird die Allianz sche Staaten bilden nun einen machtvollen

SPENCER PLATT / GETTY IMAGES SPENCER PLATT von christlichen Organisatio- Block in der Uno. Ihr Debüt gab diese neue Uno-Hauptquartier während der Aids-Konferenz 2001 nen, deren Vertreter Präsident Allianz auf der Aids-Sonderkonferenz in

ZEITGESCHICHTE kriegsordnung bezeichnete der konser- vative Premier den selbstgefälligen Füh- Attacken gegen rer des „Freien Frankreich“ in einem Schreiben an US-Präsident Franklin D. de Gaulle Roosevelt als „größten einzelnen Feind für den Frieden in Europa“; in einem ie kritisch Winston Churchill sei- Telegramm an Harry Truman be- Wnen französischen Verbündeten im schimpfte er ihn gar als „schlimmsten Zweiten Weltkrieg, Charles de Gaulle, Feind Frankreichs“. Churchill nahm de sah, enthüllt eine Sammlung von Tele- Gaulle vor allem übel, dass er „sich als grammen, Briefen und Vermerken des Retter Frankreichs aufspielen will, ohne britischen Premiers, die jetzt vom Lon- einen einzigen Soldaten zur Operation doner Public Record Office veröffent- beizusteuern“. Seinen Informations- licht werden. Mit Blick auf die Nach- minister wies der Premier an, Journalis- ten zu übermitteln, dass de Gaulles „Persönlichkeit und Verhalten das größte Hinder- nis“ für die Beziehungen zwi-

schen Frankreich und den / REUTERS FEDOSENKO VASILY Angloamerikanern seien. Wie Lukaschenko wenig Letztere dem späteren französischen Präsidenten ver- WEISSRUSSLAND trauten, zeigte sich, als sie ihn erst fünf Tage vor dem Beginn Neuer Maulkorberlass der Invasion in der Normandie im Juni 1944 über die kriegsent- lleinherrscher Alexander Lukaschenko, scheidende Offensive informier- A47, leidet immer mehr unter Realitäts- ten. Dies wiederum verzieh der verlust. Per Regierungsbeschluss stellte er eitle de Gaulle den Briten nie – jetzt Weißrusslands Demoskopen unter und nahm 1963 späte Rache, als staatliches Kuratel: Demnach müssen alle er die Aufnahme Großbritan- politischen Meinungsumfragen vorher mit

AKG niens in die EWG mit seinem einer 15-köpfigen Regierungskommission Alliierte Churchill (M.), de Gaulle (2. v. r.) 1941 Veto torpedierte. abgesprochen werden. Diese prüft den Auf-

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Leben gekommen, etwa jeder zehnte New York vorigen Juni. Dort Einwohner des zentralafrikanischen wollten westliche Staaten in ei- Landes. Letzten Mittwoch hatten die ner Deklaration zum Schutz ersten der geplanten 11000 Dorfgerichte von Prostituierten, Drogenab- die Arbeit aufgenommen. Die mit je 19 hängigen und „Männern, die gewählten Männern und Frauen besetz- Sex mit Männern ausüben“, ten Gremien sind zum Teil ermächtigt, vor der Epidemie aufrufen. lebenslange Haftstrafen gegen Mörder Bei der Kinderkonferenz im zu verhängen. Amnesty-Sprecher Chris- Mai dieses Jahres blockte die topher Hall sprach jedoch von „wertloser Bush-Regierung mit Unter- Gerichtsbarkeit“, da die Laienrichter stützung des Vatikans und is- parteiisch und nicht qualifiziert seien – lamischer Staaten eine Reso- die meisten sollen selbst Angehörige bei lution, mit der „reproduktive den Massakern von 1994 verloren ha- Gesundheitsdienste“ unter- ben. In Ruandas überfüllten Gefängnis-

stützt werden sollten – was die / REUTERS NJUGUNA ANTONY konservativen US-Organisa- Gerichtssitzung im Distrikt Kanombe tionen mit Abtreibung gleich-

THEW SHAWN / GAMMA / STUDIO X / STUDIO / GAMMA THEW SHAWN setzen. Die neue Macht ver- RUANDA suche, „erreichte Grundsatz- übereinkünfte, so zum Frauenrecht und zur Heikles Justiz- Familienplanung, wieder auszuhebeln“, klagt ein europäischer Uno-Diplomat. Da Experiment sich die selektive Zusammenarbeit mit Staa- ten, die Terrorismus unterstützen und Mas- uandas neue Dorfgerichte, die so senvernichtungswaffen besitzen oder an- Rgenannten Gacaca-Tribunale, sind streben, fast unbeobachtet in Uno-Gremien von Amnesty International scharf kriti- / REUTERS NJUGUNA ANTONY abspielt, musste Präsident Bush den merk- siert worden. Die Menschenrechtsorga- Schädel von ermordeten Tutsi würdigen Tatbestand noch nicht öffentlich nisation nannte das Gacaca-System ein rechtfertigen. „Glücksspiel mit der Justiz“, das die sen warten noch 115000 mutmaßliche Standards für faire Prozesse nicht im Täter auf ihren Prozess. Nach Auffas- mindesten erfülle. Die Gerichte – Gaca- sung der Kritiker erfordert das Gacaca- ca bedeutet Gras und steht für die vor- System auch einen kaum zu bewältigen- koloniale Gemeindejustiz unter freiem den logistischen Aufwand, da bis zu traggeber, die Finanzierung sowie die Me- Himmel – sollen zusätzlich zu dem von 258000 Richter zum Einsatz kommen thoden der Erhebung und hat das Recht, der Uno eingesetzten Strafgerichtshof in und Hunderttausende Zeugen aussagen eine „Richtigstellung“ der Umfrageergeb- Arusha den Völkermord von 1994 aufar- sollen. Gleich am ersten Tag kam es bei nisse zu publizieren – sofern diese die beiten, andernfalls würden sich die Ver- einem Tribunal in der Provinz Kibuye Wirklichkeit „verzerren“; auch bleiben fahren über 100 Jahre hinziehen. Bei zum Eklat: Einer der Richter wurde be- die Befragten nicht mehr anonym. Welche den damaligen Massakern waren schuldigt, während der Massaker selbst Unterstützung Lukaschenko tatsächlich 800000 Tutsi und gemäßigte Hutu ums eine junge Frau vergewaltigt zu haben. noch im Volk besitzt, ist bei Durchsetzung dieses Maulkorberlasses kaum noch fest- stellbar. Auch Weißrusslands Wirtschafts- statistiken sind wertlos geworden: Für die letzten fünf Monate weisen sie ein drei- CHINA prozentiges Wachstum aus. In Wirklich- keit erwirtschaften rund 50 Prozent der Internet im Untergrund Industriebetriebe Verluste, meist wird auf Halde produziert, die Landwirtschaft ist er Brand in einem illegalen Pekin- forderlich. Folge: Die meisten Unter- fast völlig bankrott. Eine Privatisierung Dger Internet-Café, bei dem 25 Men- nehmen arbeiten schwarz. Die Polizei durch russische Investoren aber verzögert schen ums Leben kamen, hat Chinas nutzte derweil die Tragödie zu einem Lukaschenko. Den Rücktritt seines Wirt- Öffentlichkeit schockiert und gleichzei- Schlag gegen Tausende offizieller und schaftsministers vorletzten Freitag verste- tig ungewöhnliche Kritik an den Behör- inoffizieller Internet-Cafés. Dass es da- hen Beobachter deshalb als Signal gegen den ausgelöst. So beklagten zahlreiche bei nicht nur darum ging, ähnliche Ka- die Willkür des Präsidenten. Auch poli- Staatsmedien, darunter die Nachrich- tastrophen zu verhindern, machten KP- tisch manövriert sich der ehemalige tenagentur Xinhua, dass die Behörden Kader deutlich. Internet-Cafés seien Kolchoschef immer mehr ins Abseits. An- mit bürokratischen Nachstellungen zahl- „Opiumhöhlen“, in denen die Jugend fang Juni jagte er die letzten Diplomaten reiche Cyber-Cafés in den Untergrund verdorben werde, befand zum Beispiel der OSZE-Beobachtergruppe aus dem trieben. Von den 2400 Etablissements Pekings Vizebürgermeister Liu Zhihua. Land und düpierte einmal mehr den Wes- in Peking operierten knapp 2200 illegal. Als Beleg dienen die zwei Jugendlichen, ten. Jetzt ging sogar Russlands Präsident Weil die Regierung den freien Informa- die nach einem Streit mit dem Personal auf Distanz: Mit seinen überzogenen For- tionsfluss kontrollieren will, müssen die das Feuer legten. Sie hatten zuvor, so derungen zur angestrebten Union beider „Netzbars“ Dutzende von Vorschriften die Pekinger Regierung, regelmäßig die Staaten wolle Lukaschenko „um jeden erfüllen. Für eine Lizenz sind Stempel Schule geschwänzt und ihre Zeit mit Preis die Sowjetunion wiederherstellen“, von vier Ministerien und Behörden er- Computerspielen verbracht. beschwerte sich Putin öffentlich.

der spiegel 26/2002 115 Ausland

USA Die zweite Welle Stolz vermeldet Washington immer größere Erfolge im Kampf gegen das Terrornetz der Qaida. Doch trotz aller Verhaftungen formieren sich die Anhänger Osama Bin Ladens neu: Gemeinsam mit Extremisten aus Pakistan und dem Nahen Osten organisieren sie tödliche Anschläge.

Netzwerks nach dem Krieg in Afghanistan mitverantwortlich sein. Welchen Plänen zwei Pakistaner und drei Nordafrikaner nachgingen, die kürz- lich in Paris in Haft genommen wurden, ist noch nicht klar. Die fünf verkehrten regel- mäßig im selben Internet-Café, von dem aus der so genannte Schuhbomber Richard Reid seine E-Mails in alle Welt verschick- te. Die französische Polizei untersucht auch noch immer, wer dem britischen Klein- kriminellen, der zum Islam übertrat, den Sprengstoff in die Schuhsohlen zauberte, den er an Bord einer American-Airlines- Maschine vergebens zu entzünden ver- suchte. Rechnet man die Verhaftung Jose Padil- las hinzu, der den Kampfnamen Abdullah al-Muhajir annahm und davon träumte, eine „schmutzige Bombe“ in den USA zu zünden, kommt eine ganz imposante Zahl vereitelter Anschläge in jüngster Zeit zu-

ALEX WONG / GETTY IMAGES ALEX sammen – zumindest ein schwacher Trost US-Präsident Bush: Todfeind Nummer eins für das Netzwerk nach dem Rundum-Versagen von FBI und CIA vor dem 11. September. Polizei und ie Prince Sultan Air Base liegt ziem- denn er war in seine Heimat geflohen. In Geheimdienste sorgten denn auch in lich isoliert in der saudi-arabischen der vorigen Woche aber kam die sudane- den beiden vergangenen Wochen fast im DWüste, rund 80 Kilometer südöst- sische Regierung dem Washingtoner Tagestakt für die Verbreitung der guten lich von Riad, der Hauptstadt des König- Wunsch nach und lieferte den Rädelsfüh- Nachrichten. reichs. Der amerikanische Stützpunkt steht rer des Attentats nach Saudi-Arabien aus. Die frohe Kunde mischt sich jedoch mit unter strengster Bewachung. Von einem Geschmeidige internationale Zusam- schlechter: Bin Ladens Terror-Netzwerk geglückten Anschlag auf die verhassten menarbeit, gepaart mit massivem politi- lebt und brütet global Attentate aus. Eini- Ungläubigen in seinem Geburtsland träumt schem Druck aus Washington, zeigte gleich ge Ideengeber und al-Qaida-Gründer wie Osama Bin Laden – wenn er denn lebt – mehrmals in kurzer Zeit Ergebnisse: Ein Mohammed Atif mögen tot, etliche hun- seit Jahren. französischer Justizbeamter gab stolz zu, dert Fußsoldaten in Afghanistan oder Der Traum wäre fast in Erfüllung ge- dass eine „anti-terroristische Polizeiopera- Guantanamo in Haft sein – die Reste aber gangen. Ihm sei es erstaunlich leicht gefal- tion im Einklang mit den Interessen des sammeln sich unter neuer Führung, und len, in den äußeren Sicherheitskordon der Westens“ zur Verhaftung dreier Sau- Air Base einzudringen, erzählte der Suda- di-Araber in Marokko geführt habe. nese Abu Husifa nach seiner Verhaftung. Sie wollten Schlauchboote kaufen, Mit zwei Boden-Luft-Raketen vom Typ mit Sprengstoff beladen und vor Gi- SA-7 wollte er aufsteigende US-Maschinen braltar in amerikanische oder briti- vom Himmel holen. Die Überreste einer sche Kriegsschiffe steuern. abgefeuerten Rakete fanden sich auf dem Dann ging Abu Subeir ins Netz, Gelände – Husifa war anscheinend nicht den die marokkanischen Sicher- nahe genug an sein Zielobjekt herange- heitsdienste ziemlich hoch im Esta- kommen. blishment der Terroristen ansiedeln. Die CIA ordnet Husifa den mittleren Der Saudi-Araber könnte eine Art Rängen des Qaida-Netzwerks zu, das sich Koordinator der Anschläge im Mit- seit der Vertreibung aus Afghanistan neu telmeer gewesen sein. Er soll im formiert. Die saudi-arabische Polizei Übrigen für den Wiederaufbau des brauchte einige Wochen, um den Anschlag aufzuklären und insgesamt 13 Verdächtige * Vom Sender al-Dschasira am 15. April aus- zu verhaften. Mit Husifa taten sich Saudi- gestrahlte Botschaft; links: al-Qaida-Führer al- / REUTERS AL-JAZEERA Araber und Amerikaner am schwersten, Sawahiri. Bin-Laden-Video*: „Das Spiel wird beginnen“

116 der spiegel 26/2002 die zweite Welle terroristischer Anschläge nach dem 11. September rollt an. Nicht alle werden rechtzeitig aufgedeckt. In Karatschi starben am 14. Juni zwölf Pakistaner, als eine Autobombe vor dem US-Konsulat hochging. Und wie enorm die Anspannung in Washington ausfällt, zeig- te sich vergangenen Mittwoch, als Teile des Weißen Hauses evakuiert wurden. Ein Privatflieger war in seiner Cessna dem Präsidentensitz zu nahe gekommen – aus Versehen, wie er glaubhaft versicherte. Für den Nationalfeiertag am 4. Juli gilt in den amerikanischen Großstädten und an Gedenkstätten wie der Freiheitsstatue höchste Alarmstufe – Alltag im Krieg ge- gen den Terrorismus, der lang, zäh und mit Niederlagen gespickt sein wird, wie Präsident George W. Bush unablässig wissen lässt. Doch wer sind diese neuen Terroristen, die weltweit Großanschläge aushecken, als sei Afghanistan nur ein kleines Malheur gewesen? Wer sind die neuen Köpfe? Und wie spielt sich die Zusammenarbeit zwi- schen den amerikanischen Geheimdiensten und ihren Verbündeten im Alltagskrieg ge- gen die Terroristen ab? Vorige Woche gaben erst die US- Geheimdienste und dann am Freitag auch Syriens Außenminister Faruk al-Schara zu, Mohammed Haydar Zammar, 41, be- finde sich in Gewahrsam. Den USA war dies Geständnis aus mehreren Gründen peinlich. Erstens ist Zammar, deutscher Staats- bürger syrischer Herkunft, in Syrien im Gefängnis – in einem Land, das als Mentor von Hamas und Hisbollah gilt und in Ame- rika auf der erweiterten Liste der Schur- kenstaaten steht. FBI und CIA haben den- noch zumindest zu den Verhörprotokollen freien Zugang, wahrscheinlich sogar zum Häftling selbst. Zweitens hatten deutsche Behörden seit dem 27. Oktober, dem Tag, als Zammar nach Casablanca flog, regel- mäßig bei den Amerikanern um Auskunft über seinen Aufenthaltsort gebeten. Man habe leider keine Ahnung, lautete die Antwort – eine ziemlich freche Un- wahrheit, die abermals den Ruf der ameri-

Frankreich USA

Terroristenfahndung des FBI im Internet Marokko Pakistan „Operateure“ – jüngste Anschläge Saudi- vermutete Drahtzieher mit al-Qaida- Arabien jüngster Anschläge Hintergrund

Festnahmen von in Afghanistan getöteter mutmaßlichen al-Qaida- al-Qaida-Terrorist Mitgliedern

der spiegel 26/2002 117 CORBIS SYGMA US-Soldaten mit inhaftiertem Qaida-Kämpfer in Guantanamo: Radikale Phantasien junger Islamisten kanischen Dienste bestätigte: Sie verlan- Beobachtung genommen hatte, ein Tele- gen viel, aber geben wenig. fonat mit, dessen Bedeutung die Beamten Zammar war Einpeitscher und Werber aber erst mit großer Verzögerung verstan- für das Terror-Netzwerk in Hamburg. Als den. Der Anrufer wollte wissen, wo Zam- sich die Clique junger Islamisten um Mo- mar sei. Antwort: nicht zu Hause, weil er hammed Atta radikalen Phantasien hin- Mohammed, Ramzi und Said treffe; er sei gab, ermunterte er sie nach Zeugenaussa- unter 76751830 erreichbar – dem Anschluss gen, in den Dschihad zu ziehen. „Ihr müsst in der Terroristen-WG in der Marienstraße. etwas für euren Glauben tun“, habe er im- Mohammed war der Todespilot Atta, Ram-

mer wieder gefordert. MÜLLER KNUT zi Binalshibh und Said Bahaji waren zwei Aber zu einem Haftbefehl reichte es Al-Qaida-Werber Zammar seiner wichtigsten Helfer. nicht. Zammar, seit 1982 deutscher Staats- Wie heiße Ware gehandelt Dass Zammar als Werber für die Qaida bürger, reiste aus. Den Amerikanern war arbeitete, belegt auch ein anderer Vorgang: das ein erneuter Beleg des aus ihrer Sicht beantwortete das Außenministerium in Kurz bevor die Flugzeuge wie Bomben im laschen Vorgehens der Deutschen. Für den Washington eine Frage, die niemand so ge- World Trade Center und im Pentagon ex- Trip nach Marokko bekam Zammar vom stellt hatte: Nein, von einem in den USA plodierten, machten sich zwei weitere Bezirksamt Hamburg-Nord im Oktober verhafteten Deutschen sei nichts bekannt. frisch von Zammar Rekrutierte auf die lan- einen neuen Reisepass ausgestellt. Auf dem Da war Dreistigkeit wohl schon in Verle- ge Reise zum Hindukusch. Der 140-Kilo- kleinen Dienstweg erfuhr das FBI die genheit übergegangen. Mann (Spitzname: „Bruder Haydar“) habe Nummer des Passes und das Reiseziel. Zammar, der eine Kfz-Schlosserlehre ab- die Route dargelegt und zu festem Schuh- Offenbar mit Hilfe der marokkanischen solviert hatte, wird wie eine heiß begehrte werk und warmer Kleidung geraten, er- Sicherheitsdienste wurde Zammar verhaf- Ware gehandelt. Das hat mit seiner Schlüs- zählten sie später ihren Vernehmern. tet, nach Syrien überstellt und dort wirk- selrolle in Deutschland zu tun. Für die jun- Auch deutsche Fahnder glauben inzwi- sam verhört. Sein Bruder, im Glauben an gen Fundamentalisten in Hamburg war er schen, dass Zammar den Atta-Zirkel in eine Entführung, schrieb einen Brief an eine Autorität: Er soll schon 1991 eine Aus- Kontakt mit al-Qaida brachte. Nur gibt es Joschka Fischer: „Die Regierung zahlt ja bildung in den Camps der Qaida genossen bislang keinen Beleg, dass er wusste, was Millionen für andere Deutsche, um sie frei- und sich am Heiligen Krieg in Bosnien und Bin Ladens Organisation mit der Gruppe zukaufen, ich hoffe, dass sie für meinen Afghanistan beteiligt haben. Noch nach dem plante. Was Zammar in Syrien ausgesagt Bruder dasselbe tut.“ 11. September, als sich viele Islamisten erst hat, ist den Deutschen nicht bekannt. Sie Die Bundesbehörden aber mussten sich einmal wegduckten, hetzte Zammar munter haben die befreundeten amerikanischen mit ständig wechselnden Ausreden hinhal- weiter. „Die größten Terroristen kommen Dienste, formell und informell, um Mittei- ten lassen. Zuerst bekamen sie von den aus der so genannten zivilisierten Welt“, lung gebeten – vergebens. Marokkanern zu hören, Zammar sei „mit sagte er dem SPIEGEL zehn Tage später. Bei den US-Diensten liegen die Nerven unbekanntem Ziel“ wieder ausgereist. Am 17. Februar 1999 hörte der Verfas- blank, auch bei National Security Agency Dann hieß die Auskunft, er sei nach Spa- sungsschutz, der Zammar wegen seiner (NSA), dem geheimsten aller Geheimdiens- nien abgeschoben worden. Wenig später verdächtigen Verbindung zum zuvor in te. Er hört über Satelliten und weltweit ver- wiederum sollte es ein anderes, leider un- Bayern verhafteten Bin-Laden-Finanzchef streute Horchposten die elektronische Kom- bekanntes Land sein. Vergangene Woche Mamduh Mahmud Salim monatelang unter munikation ab – zwei Millionen Telefonate

118 der spiegel 26/2002 Ausland und E-Mails pro Stunde. Vorige Woche kam Durch die Vertreibung aus Afghanistan US-Behörden ist er „einer der wichtigsten NSA-Chef Michael Hayden um ein Einge- ist zudem die alte Bin-Laden-Hierarchie Terroristen, hinter denen wir her sind“. ständnis im Kongressausschuss, der das Wir- durcheinander geraten. Mohammed Atif, Die detaillierten Kenntnisse über den ken aller Geheimdienste vor dem 11. Sep- der militärische Kommandeur im Füh- veränderten Binnenkosmos der Terroristen tember untersucht, nicht herum. rungstrio, ist tot; ob der Stratege Sawahiri haben die amerikanischen Geheimdienste Am 10. September hatten Lauscher zwei noch lebt, ist ungeklärt. Die Entscheidung von der viel geschmähten NSA erhalten. seltsame Botschaften in arabischer Spra- über konkrete Anschläge aber liegt jetzt Die neue Garde der Qaida kommuniziert che abgefangen: „Das Spiel wird in Kürze offenkundig bei den handelnden Terroris- häufig über das Internet. Nur die Websites, beginnen“ und „Morgen ist die Stunde ten – bei den „Operateuren“. Ein zentra- die sie benutzt, haben sich geändert. null“. Am 12. September lagen beide Tele- les Kommando wie vor dem 11. September Nirgendwo gibt es in diesen Tagen so fonate in Übersetzung vor. gibt es nach Einschätzung der Terrorismus- viele Terroristen wie in Pakistan. Dort ha- Die Anhörungen sind eine ungemein Experten derzeit nicht. ben islamistische Organisationen, die ent- schmerzhafte Prozedur für die Direktoren Sieben „Operateure“ gelten heute als weder jahrelang und unter Duldung der von NSA, CIA und FBI, weil dabei klar die Köpfe bei den Anschlägen in Saudi- Regierung in Afghanistan die Russen und wird, dass die Geheimdienste der einzigen Arabien und Pakistan: die Nordallianz bekämpft haben oder den Supermacht vieles wussten und wenig ver- • Chalid Scheich Mohammed soll die Idee Guerrillakrieg in Kaschmir führten, mit standen. Heute jedoch seien NSA, FBI und für die Attentate in New York und Wa- den Kadern Osama Bin Ladens eine neue CIA auf dem Laufenden, versichern die shington gehabt haben. Der Kuweiter Dachorganisation gegründet: die Lashkar-e- Chefs einträchtig. ist ein Veteran im islamischen Terroris- Omar – Ahmed Omar Said Scheik zu Eh- Allen Diensten gilt als einigermaßen ge- mus. Er hatte schon den (vereitelten) ren, dem mutmaßlichen Auftraggeber für sichert, dass eine kleine Gruppe neuer Plan mit ersonnen, an einem Tag im die Entführung und Ermordung des US- Qaida-Führer derzeit Angriffe in fragilen Januar 1995 zwölf Flugzeuge auf dem Korrespondenten Daniel Pearl. Staaten wie Pakistan, Ägypten, Saudi-Ara- Weg nach Amerika zu sprengen. Auch Weil Präsident Pervez Musharraf, unter bien und Jordanien bevorzugt. Das sind an den Anschlägen auf die US-Bot- Trommelfeuer aus Washington, die Extre- jene „muslimischen Länder im Herzen der schaften in Nairobi und Daressalam im misten nun im eigenen Land festsetzen islamischen Welt“, von denen Aiman al- August 1998, bei denen über 200 Men- lässt, ist er der zweite Todfeind. Nachdem Sawahiri, der zweite Mann nach Bin La- schen das Leben verloren, soll er betei- viele Taliban-Kämpfer über die Pässe aus den und zuständig für Strategie, in seinem ligt gewesen sein. Afghanistan gekommen sind, besteht al- Handbuch zum Heiligen Krieg geschrieben • Seif Al-Adl, ein Saudi-Araber, soll dem lerdings kein Rekrutierungsproblem. hat. Zugleich demonstriert der gescheiter- Rat der Qaida angehört haben, in dem Drei Anschläge erlebte Pakistan inner- te Anschlag auf die Prince Sultan Air Base bislang Operationen gebilligt werden halb eines Vierteljahres: Am 17. März star- in Saudi-Arabien, wer Teufel Nummer eins mussten. Er bildete somalische Mili- ben fünf Menschen, als Granaten in einer aus Sicht der Terroristen bleibt: Amerika, zionäre aus, die im Oktober 1993 meh- protestantischen Kirche in Islamabad ex- die Vormacht der Ungläubigen. rere US-Kampfhubschrauber vom Typ plodierten. Am 8. Mai tötete ein Terrorist Für die Attentate schließen sich allem „Black Hawk“ abschossen. elf französische Ingenieure, die an einem Anschein nach Terroristen aus den mittle- • Abdullah Ahmed Abdullah, ein Ägyp- U-Boot-Projekt für die pakistanische Re- ren Rängen des Netzwerks mit Extremis- ter, soll seit Anfang der neunziger Jah- gierung arbeiteten, sowie drei Einheimi- ten aus Pakistan und dem Nahen Osten re Osama Bin Laden als Berater gedient sche vor dem Sheraton in Karatschi. Und zusammen. Diese Gruppen geben sich haben. Vor dem Anschlag in Kenia wäre das Konsulat nicht aufwendig be- neue Namen – „Das Gesetz“ nennt sich kundschaftete er angeblich die Botschaft wacht und bewehrt gewesen, wären am 14. jene, die in Karatschi das US-Konsulat aus, während Fahid Mohammed Ally Juni viel mehr Menschen gestorben. einäschern wollte. Die neuen Allianzen er- Msalam, ein Kenianer, den Toyota- Durch Karatschi sind sie früher oder spä- streckten sich, sagt ein hoher amerikani- Pick-up, voll gepackt mit Sprengstoff, ter alle gezogen: der zum Islam bekehrte scher Beamter, von Nordafrika bis Süd- vor die Botschaft fuhr. Amerikaner Padilla, der Schuhbomber ostasien: „Da hat sich eine Internationale • Fazul Abdullah Mohammed, geboren auf Reid, Abu Subeida, der Personalchef al- des Dschihad herausgebildet, die auf län- den Komoren, war Chefplaner in Kenia, Qaidas, den die Amerikaner an unbe- gere Sicht eine starke Macht sein wird.“ der Ägypter Muhsin Mussa Matwalli At- kanntem Ort in Pakistan verhören. Auch wah Cheforganisator des Anschlags. Das die in Marokko und Saudi-Arabien Ver- * US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld am 13. Juni Bombenattentat in Tansania bereitete hafteten brachen aller Wahrscheinlichkeit in Islamabad. Mustafa Mohammed Fadhil vor. Für die nach aus Pakistans größter Stadt auf. Und Osama Bin Laden? Seine letzten Verlautbarungen per Vi- deo stammen wohl noch aus dem Dezem- ber. Dass er sich damals im Tora-Bora- Gebirge aufhielt, gilt als Tatsache. Dass er lebend aufbrach, erzählten den amerika- nischen Verhörspezialisten gleich mehrere Subalterne Osama Bin Ladens. Für seinen möglichen Tod gibt es allerdings ebenfalls Indizien: Seine Leibgarde hat sich an- geblich aufgelöst; die Soldaten sollen sich alleine oder in kleinen Gruppen nach Pakistan durchgeschlagen haben. Gerücht oder Wahrheit: Solange sein Tod nicht verbürgt ist, bleibt Osama Bin Laden, der Amerika angreifen ließ, Wa- shingtons Staatsfeind Nummer eins. Dominik Cziesche, Georg Mascolo, HO-PID / AFP / DPA Gerhard Spörl Staatschef Musharraf, Gast*: Nirgendwo so viele Terroristen wie in Pakistan

der spiegel 26/2002 119 Ausland

Wenn die Hamas aber breite Zustimmung erhält, dann wegen ihrer vielfältigen so- TERRORISMUS zialen Einrichtungen, die sie mit Spenden- geldern, vor allem aus den Golfstaaten, be- treibt. Dadurch ist sie sehr in der Bevölke- „Bin Laden muss sich zeigen“ rung verankert. SPIEGEL: Dann kann man nicht von einem Der Islam-Experte Gilles Kepel über Versagen der Extremisten sprechen. Kepel: Was die politischen Ziele anbelangt, das politische Versagen des Fundamentalismus, den Einfluss schon. Hamas ist als internationaler Ver- der Qaida-Extremisten in der islamischen Welt handlungspartner nicht akzeptabel: Und die und den Kampf radikaler Palästinenser gegen Israel Frustration der Palästinenser wächst, die nicht länger den Preis für den militanten gefährden. Ihr Ziel, das angebliche Prole- Kurs zahlen wollen. Auch wenn Hamas und tariat zu mobilisieren, hat die RAF ver- andere Gruppen wie der Islamische Dschi- fehlt. Und ähnlich ergeht es auch den ge- had noch auf der Welle des Heroismus waltbereiten Islamisten: Mit ihrem Terror haben sie inzwischen die fromme Mittel- klasse eher verschreckt als gewonnen, sie- he das Beispiel Algerien. SPIEGEL: Doch anders als seinerzeit An- dreas Baader und Ulrike Meinhof im Deut- schen Herbst werden Bin Laden und seine

GILLES LEINDORFER / RAPHO / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / RAPHO LEINDORFER GILLES Anhänger für ihre Anschläge in der isla- mischen Welt von Millionen gefeiert. Kepel, 46, zählt zu den renommiertesten Kepel: Viele haben ihn zwar bejubelt als Islam-Forschern. Der Arabist, Soziologe eine Art Robin Hood; einen nachhaltigen und Politologe studierte in Paris sowie Mobilisierungseffekt aber hat das nicht be- Kairo und ist heute Professor am Pariser wirkt. Zudem ist in der arabischen Welt Institut für Politikwissenschaften. die Halbwertzeit von Helden sehr gering – vor allem, wenn deren Strategie nicht auf- SPIEGEL: Professor Kepel, führende Sicher- geht, wie bei Bin Laden. heitsexperten warnen vor Selbstmord- SPIEGEL: Inwiefern hat sich der Qaida-Füh- anschlägen mit Massenvernichtungsmitteln rer denn verkalkuliert? auch auf europäische Ziele. Wie passen Kepel: Die Terroranschläge sollten nur die solche Terrorpläne zu Ihrer These vom erste Stufe in Bin Ladens Strategie sein. Ende des islamischen Extremismus? Das eigentliche Ziel war, US-Soldaten nach Kepel: Es wird immer Fanatiker geben, die Afghanistan zu locken und ihnen dort auf zu Gewalttaten bereit sind. Ich bezweifle dem Schlachtfeld das Grab zu schaufeln, auch nicht, dass der religiöse Radikalismus wie einst den Sowjets. Erst dann wäre er eine Bedrohung bleibt. Aber die Gefahr, tatsächlich zum Idol geworden. So aber dass er auf Dauer die arabischen Massen blieben die Demonstrationen gegen den

mobilisieren kann, halte ich für gebannt – Westen nur ein Strohfeuer … / AFP (L.); AP (R.) AL-SAYYED KHALED insofern spreche ich von der Ohnmacht SPIEGEL: … das aber schnell wieder ent- Kronprinz Abdullah von Saudi-Arabien (l.), Mitglieder des militanten Islamismus. facht werden könnte, etwa durch die Es- SPIEGEL: Können sich die nahöstlichen Po- kalation des Nahost-Konflikts. schwimmen – die Extremisten werden mer- tentaten beruhigt zurücklehnen, weil sie Kepel: Natürlich gibt es in der arabischen ken, dass die Palästinenser selbst des Leids Aufstände nicht mehr fürchten müssen? Welt große Anteilnahme am Schicksal müde sind. Sie wollen Ergebnisse sehen. Kepel: Zu Ausschreitungen kann es immer der Palästinenser. Für die Familien der als SPIEGEL: Könnten die Islamisten dann sogar kommen. Aber die Gefahr einer Revolution, Märtyrer gefeierten Selbstmordattentäter Frieden mit Israel schließen? bei der Arbeiter, Studenten, werden allein in Saudi-Arabien Kepel: Für militante Muslime besitzt der Händler und der Mittelstand ge- große Summen gesammelt. Staat Israel keinerlei Existenzberechti- meinsam auf die Straße gehen, „In der Aber die Mordtaten bringen die gung. Für sie ist Palästina auf immer und wie 1979 in Teheran gegen den arabischen Palästinenser ihrem Ziel, einem ewig ein islamisches Land, in dem die Schah, sehe ich nicht mehr. Ihre Welt ist eigenen Staat, keinen Schritt Juden unter den Gesetzen des Koran als politische Sprengkraft als gesell- die Halbwert- näher. Und das ist das Problem tolerierte Minderheit leben dürfen. Kom- schaftliche Alternative hat die is- zeit von der Radikalen: Sie bestimmen promisse sind für diese Islamisten genau- lamistische Idee verloren. Helden sehr die Schlagzeilen und beherr- so wenig denkbar wie auf der anderen SPIEGEL: Mit den Anschlägen schen die Straße, aber ihre Ver- Seite für radikale Juden. Ein Frieden ist da vom 11. September haben der Is- gering.“ sprechungen können sie nicht nicht möglich, allenfalls ein Waffenstill- lamist Osama Bin Laden und des- einlösen. stand. Aber auch das wäre schon ein sen Organisation al-Qaida doch alles ande- SPIEGEL: Dieses vermeintliche Versagen Fortschritt. re als Ohnmacht demonstriert. scheint der extremistischen Hamas nicht SPIEGEL: Hat Demokratie überhaupt eine Kepel: Die Fähigkeit zu unfassbaren Ge- zu schaden. Umfragen prophezeien ihr gro- Chance in der arabischen Welt? walttaten lässt aber keine Rückschlüsse auf ßen Zuspruch, sollte sie bei den zum Jah- Kepel: Früher hatte ich da mehr Hoffnun- die politische Macht einer Gruppe zu. resende geplanten Wahlen antreten. gen, vor allem im Hinblick auf die jungen Auch die Rote Armee Fraktion hat einst Kepel: Zuerst einmal bestätigen Wahlen in Herrscher in Syrien, Marokko und Jorda- mit Anschlägen viel Aufsehen erregt, ohne der arabischen Welt zumeist die jeweiligen nien. Immerhin kennen die den Westen, jedoch das System der Bundesrepublik zu Machthaber, in diesem Fall Jassir Arafat. sind dort ausgebildet worden und sollten

120 der spiegel 26/2002 eigentlich wissen, dass sie ihre Regime öff- SPIEGEL: Wie sicher ist die Herrschaft der mehr Geld bitten. Und wie immer sie dann nen müssen. Nur wagen sie diese Öffnung Al Saud, die über die weltgrößten Erdöl- auch gegen die Extremisten vorgingen – nicht wirklich, weil sie fürchten, dann hin- vorräte gebieten? Kritik bräuchten diese Herrscher nicht zu weggespült zu werden. Kepel: Terror in Saudi-Arabien kann sich fürchten. Schauen Sie sich an, welche Men- SPIEGEL: Von militanten Islamisten? die Weltwirtschaft nicht leisten. Deshalb schenrechtsverletzungen sich Russland im Kepel: Interessant ist, dass gemäßigte werden die USA alles tun, um die Stabilität so genannten Kampf gegen den Terror in Islamisten bereits ihre Chance wittern des Landes zu garantieren. Die eigentliche Tschetschenien erlauben kann, ohne dass und den Schulterschluss mit der säku- Gefahr für das Herrscherhaus aber ist das der Westen protestiert. laren Opposition suchen. So wollen sie enorme Bevölkerungswachstum. Da tickt SPIEGEL: Die Zurückhaltung hängt wohl eine Art muslimische Demokratie ent- eine Zeitbombe. Die aufgeschlosseneren auch mit der Angst zusammen, dass die wickeln. Kreise haben das erkannt und drängen auf Militanz auf die islamischen Gemeinden SPIEGEL: Geben Sie solchen Reformkräften Liberalisierung. in Europa überspringen könnte. Schon gab auch in einem rigiden islamischen Regime SPIEGEL: Drohen dem Königreich gesell- es in Frankreich Anschläge auf Synagogen. wie Saudi-Arabien eine Chance? schaftliche Erschütterungen? Kepel: Gerade in Frankreich leben jüdische Kepel: Der Spielraum für Reformen ist dort Kepel: Das wohl nicht. Viele Saudi-Araber wie muslimische Immigranten aus dem sehr eng, und alle Reformversuche sind ein murren, weil die Öleinnahmen ihrer Mei- Maghreb in den großen Vorstädten sehr

der königlichen Familie, islamische Extremisten vor Gericht (in Kairo): „Intern gibt es durchaus eine ernsthafte Debatte“

Drahtseilakt für das Herrscherhaus. Es be- nung nach nicht gerecht verteilt werden. dicht beieinander. Beide Gruppen hat der zieht seine Legitimation aus der Verant- Doch noch fürchten sie, durch einen Um- Palästina-Konflikt radikalisiert. wortung für die heiligen Stätten Mekka sturz mehr zu verlieren als zu gewinnen. SPIEGEL: Neben diesen eher spontanen und Medina und ist vom Wohlwollen der SPIEGEL: Aus Angst vor den Islamisten ver- Ausschreitungen sind auch gefährliche ter- Ulama, der Religionsgelehrten, abhängig. urteilt der Herrscherclan alle Angriffsplä- roristische Netzwerke enttarnt worden. Aber nur mit Reformen, mit der politi- ne der USA auf den Irak. Könnte ein neu- Hätten deren Attentate das öffentliche Le- schen Einbindung der Bevölkerung, wird er Krieg gegen Saddam Hussein den Radi- ben lahm legen können? die Herrscherfamilie Unruhen und Auf- kalen weitere Unterstützung bringen? Kepel: Ich bezweifle, dass diese ultra-radi- stände verhindern können. Kepel: Natürlich werden die Flammen so- kalen Gruppen dazu in der Lage sind, auch SPIEGEL: Bislang zeigen weder der kranke fort hoch schlagen. Das Geschrei wäre wenn sie sich um Männer bilden, die in König Fahd noch der eigentliche Regent, groß, würde aber zu nichts führen. Vor al- Afghanistan ausgebildet wurden und zu Kronprinz Abdullah, Reformwillen. lem dann nicht, wenn es den Amerikanern Terroranschlägen bereit sind. Unter ihren Kepel: Intern gibt es durchaus eine ernst- gelänge, Saddam Husseins Regime genau- Glaubensbrüdern sind sie jedoch ziemlich hafte Debatte zwischen den erzkonserva- so rasch zu stürzen wie das der Taliban. isoliert. Nun liegt es auch an uns, durch In- tiven Kreisen, denen das Königshaus zu Daran sind allerdings Zweifel erlaubt. tegration und eine Lösung des Palästina- sehr auf den Westen ausgerichtet ist und SPIEGEL: In jedem Fall wird ein Angriff auf Konflikts dafür zu sorgen, dass diese Grup- die auch hinter Bin Laden und den radi- den Irak Zulauf für die Radikalen bedeu- pen nicht weiteren Zulauf bekommen. kalen Scheichs stehen, sowie jungen, im ten, die selbst in vergleichsweise liberalen SPIEGEL: Ist Osama Bin Laden für diese Westen ausgebildeten Bürgerlichen und muslimischen Ländern wie Ägypten oder Gruppen ein Vorbild? Prinzen, die das Land modernisieren wol- Jordanien die Regime unter Druck setzen. Kepel: Wenn Bin Laden seine Bedeutung len. Auch wird der Einfluss dieser jungen Kepel: Natürlich würden die Extremisten behalten will, muss er sich bald zeigen. Technokraten, die zur Entourage von versuchen davon zu profitieren, aber auch Wenn er noch leben sollte, ist jeder Tag im Kronprinz Abdullah zählen, auf die Ent- die jeweiligen Regime. Die werden sofort in Versteck ein Eingeständnis der Niederlage. scheidungen größer. Washington um mehr Unterstützung, um Interview: Dieter Bednarz, Romain Leick

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NAHOST „Bald bist du im Paradies“ Aus Empörung über den Tod ihres Freundes ließ sich die palästinensische Studentin Arin Ahmed für einen Selbstmordanschlag anheuern. Ihre Aussagen liefern israelischen Ermittlern Einblicke in das Netz des Terrors. YOSSI ALONI / GETTY IMAGES (R.) / GETTY IMAGES ALONI YOSSI Ausgestiegene Selbstmordattentäterin Arin, Anschlagsort in Rischon le Zion am 22. Mai: „Der größte Fehler meines Lebens“

ls sie ihr die Bombe zeigten, die sie ren geübt. Das Auto, das sie den beiden Worauf hatte sie sich da eingelassen? Mit zünden sollte, blieb sie ruhig, ver- gegeben hatten, erwies sich als Schrott- jedem Kilometer wuchsen ihre Zweifel. Aspürte keinen Anfall von Panik. Der karre, deren Bremsen nicht richtig funk- Nach vier scheinbar endlosen Stunden Sprengsatz war diesmal nicht in einem tionierten und deren Scheinwerfer be- waren sie am Ziel, einem städtischen Park. Gürtel untergebracht, er steckte vielmehr schädigt waren. Issa und seine Komplizin Issa sollte sich neben den Tischen in die in einem schwarzen Rucksack, gefüllt mit sorgten sich, die israelische Polizei könne Luft sprengen, an denen tagaus, tagein die Dynamit, Schrauben und Metallkugeln. sie anhalten. Karten- und Schachspieler saßen. Arins Arin Ahmed setzte ihn auf. „Er ist zu Sie wollten sogar schon umkehren. Position war nahe der Straße. Dorthin, so schwer“, klagte die junge Palästinenserin. Doch als sie den vor ihnen herfahrenden das Kalkül, würden die Leute in Panik nach Die zehn Kilo Gewicht empfand sie wie Lotsen Ibrahim Sarahna auf dem Handy der Explosion der ersten Bombe fliehen. In mindestens 30 Kilo. „Es hilft nichts, du anriefen, beruhigte er sie: „Alles ist okay.“ diesem Moment sollte die junge Palästi- musst das so machen“, meinte Mahmud, Damit sie nicht in letzter Minute absprin- nenserin inmitten der Fliehenden den ein Mitglied der Tansim-Milizen, des be- gen konnten und womöglich die Atten- zweiten Sprengsatz zünden – ihr Selbst- waffneten Arms der Fatah-Bewegung von tatspläne verrieten, war Sarahnas Num- mord sollte das Blutbad vergrößern. Palästinenser-Präsident Jassir Arafat. Dann mer die einzig wählbare auf dem Apparat, „Es war vielleicht der größte Fehler mei- zeigte er der angehenden Selbstmord- den die Tansim-Kämpfer ihnen gegeben nes Lebens“, sagt Arin heute. Sie sitzt auf attentäterin, wie sie den Zündknopf betäti- hatten. einem Hocker in einer Vernehmungszelle gen sollte, der vorne, an ihrer Brust, ver- Auf der Fahrt zu ihrem Einsatzort frag- in Jerusalem. Bereitwillig gibt sie Auskunft, steckt war. te Arin ihren sichtlich nervösen Komplizen doch ihre Stimme bleibt emotionslos, als Die Fahrt zum Anschlagsort im etwa 50 am Steuer, warum er sich in die Luft spren- ginge es um einen Diebstahl, nicht um den Kilometer entfernten israelischen Rischon gen wolle. „Ich mache es aus Überzeu- Plan eines grausigen Gewaltverbrechens. le Zion kam der 20-jährigen Betriebswirt- gung“, presste der nur hervor. Damit Issa Vor vier Wochen, mitten in der Nacht, schaftsstudentin vor wie die längste Reise nicht zu arabisch aussah, hatte er seine hatten israelische Soldaten sie in ihrem ihres Lebens. Am Steuer saß der 16-jähri- Haare gebleicht. Arin trug aus ähnlichen Haus in Beit Sahur bei Betlehem verhaftet. ge Issa Badir, der eine zweite Bombe trug. Gründen ein viel zu knappes, bauchfreies „Sie hat wohl auf uns gewartet“, sagt ein Issa fuhr schlecht, am Morgen hatten die T-Shirt, so wie es junge Israelinnen lieben. Ermittler. Er scheint mit der Gefangenen Guerrilleros mit ihm noch einmal das Fah- Die Muslimin fühlte sich unwohl darin. durchaus zufrieden. Sie kooperiert und

122 der spiegel 26/2002 sagt, was die Israelis gern hören und ihr vielleicht sogar abnehmen: „Bomben sind der falsche Weg.“ Deshalb darf sie sogar mit Journalisten reden, natürlich unter Auf- sicht des Geheimdienstes Schin Bet. Schutzwall gegen den Terror Arin stieg aus, bevor sie ihren Auftrag erfüllt hatte. Die Folgen des Anschlags, den Hightech und Stacheldraht sollen ihr junger Komplize schließlich allein aus- das Leben der Israelis wieder sicher machen. führte, sah sie im Fernsehen. Da erfuhr sie auch erstmals, in welche Stadt sie gefahren rausamer hätte sich die israeli- meter der grünen Linie bleiben vorerst waren. Auf ihre Fragen hatte der Kurier sche Regierung kaum bestätigt unbefestigt. Sarahna bloß geantwortet: „Den Ort ken- Gfühlen können: Gerade hatte Hoch sensible Bewegungsmelder, nen nur Gott und ich.“ sie den Bau eines 115 Kilometer langen Radaranlagen und Videokameras sollen Widerwillig hatte er die junge Frau wie- Elektrozauns zwischen Israel und den die Wirksamkeit des stacheldrahtbe- der nach Betlehem zurückgefahren, als ihre Palästinensergebieten im Westjordan- wehrten Elektrozauns erhöhen, Beob- Zweifel – oder ihre Ängste – überhand ge- land begonnen, da starteten Ex- achtungsballons und Aufklärungsflug- nommen hatten und sie ihre Position im tremisten eine neue Terrorwelle. Ver- zeuge der Luftwaffe die Grenzbarrieren Park einfach aufgab. Auch der junge Issa gangene Woche starben bis zum Sams- aus der Luft überwachen. war plötzlich seiner Sache nicht mehr si- tagmorgen bei Anschlägen 31 Israelis, Um Angreifer daran zu hindern, mit cher. Doch Sarahna ließ ihn mit Tansim- darunter eine Mutter mit ihren drei Autos die Absperrung zu durchbre- Führern telefonieren, und die redeten ihm Kindern in der Siedlung Itamar bei chen, werden zudem Metallpfeiler, Erd- ins Gewissen. Mehrere Stunden trieb sich Nablus. „Jeder Tag ohne Zaun kostet wälle und andere Hindernisse errichtet. der Junge in Rischon herum, dann zünde- uns mehr Leben“, rechtfertigte Vertei- Grenzpolizei und Armee sollen entlang te er seine Bombe. digungsminister Benjamin Ben-Elieser des Sperrwerks patrouillieren. Doch die Die Wucht der Explosion am 22. Mai tö- das umstrittene Projekt. bereits überstrapazierte Armee weiß tete zwei Israelis – den krebskranken Garri Der Wall, der an Stellen, wo es gar nicht, ob sie für diese Aufgabe Tausniaski, 65, und den 16-jährigen Elmar bereits zu Schießereien gekommen genügend Soldaten hat. Deschabrijelow, der sich gerade mit Freun- ist, durch Mauern verstärkt wird, Die Regierung glaubt, künftig eine den im Park treffen wollte. Hätte Arin wie soll verhindern, dass palästinensische „Mehrzahl“ von Anschlägen durch den geplant die zweite Bombe gezündet, hätte es Selbstmordattentäter in israelische Schutzwall verhindern zu können. sehr viel mehr Opfer gegeben. Städte gelangen. Zermürbt vom Ter- Doch Sicherheitsexperten warnen. Warum hatte sie das nicht von Anfang an ror, billigt eine Mehrzahl der Israelis „Auch der Zaun wird den Terror nicht bedacht? „Alles ging so schnell“, sagt sie. die räumliche Trennung von ihren beenden, er kann ihn nur bremsen“, Sie habe vorher noch nicht einmal über- Gegnern. sagt Joram Schweizer vom Anti-Terror- legt, ob sie im Moment der Explosion et- Zunächst nur im Nordabschnitt der Institut in Herzlija. Die Erwartungen was spüren würde. Was dachte sie, würde „grünen Linie“ soll der elektrische an die Absperrung seien „viel zu hoch“. sie nach der Tat sehen? Das Paradies? Arin: Zaun vor allem solche palästinensi- Die Friedensbewegung verlangt, „Eher die Hölle. Ich hatte Angst, Gott zu schen Städte zu Israel hin abriegeln, parallel zum Schutzzaun endlich Ver- missfallen.“ Sie ist eine gläubige Muslimin, die als Hochburgen des Terrors gelten: handlungen über die Räumung von jü- dischen Siedlungen zu beginnen. Ohne grüne Grenze 10 km eine solche Doppelstrategie, so die Kri- geplantes tiker des Regierungskurses, werde die Barrieren- Dschenin System Sperre nur den Hass der Palästinenser auf Israel und damit auch die Motiva- Tulkarm Netanja tion der Bomber erhöhen. Nablus Sprecher der Autonomiebehörde ver- Kfar urteilten den Sicherheitsstreifen bereits Saba Kalkilja WEST- als „Apartheid wie in Südafrika“. Denn der Wall trennt arabische Familien und Tel Aviv JORDAN- LAND Dörfer diesseits und jenseits der Linie. Zudem werden vermutlich Tausende Ramallah ISRAEL Hektar arabischen Landes enteignet. Doch auch die jüdischen Siedler sind Jerusalem wütend. Sie sehen den Zaun als Rück- zugslinie Israels an und indirekt als An- Betlehem SVEN NACKSTRAND / AFP / DPA NACKSTRAND SVEN erkennung der Existenz eines Palästi- Israelischer Panzer, Trennungsmauer nenser-Staates. „Der Zaun wird den Terror nicht beenden“ Tulkarm, Kalkilja, Dschenin und Na- Für den Zaun – voraussichtliche Kos- blus. Damit auch der Weg nach Jeru- ten mindestens 115 Millionen Dollar –, die fünfmal am Tag betet. „Wir haben kein salem nicht länger offen bleibt, sollen der in einem Jahr fertig gestellt sein Recht zu töten“, sagt sie jetzt, „auch nicht an den Grenzen der Heiligen Stadt soll, hofft Israel auf Hilfe aus den USA. uns selbst.“ ebenfalls Absperrungen errichtet wer- Doch Washington beurteilt den Schutz- Warum ließ sie sich dennoch anheuern? den. Doch wegen der engen Ver- wall skeptisch. „Ich denke nicht, dass Schuld daran sei der Tod ihres Freundes schachtelung arabischer und jüdischer ein Zaun ein bleibendes Zeichen von Dschadd gewesen, sagt sie: „Wir wollten Wohnbezirke ist hier eine Trennung Frieden ist“, kritisierte selbst Präsiden- heiraten. Mit ihm starb meine Zukunft.“ Es der verfeindeten Völker extrem schwie- tengattin Laura Bush. ist das einzige Mal, dass sie Rührung zeigt. rig. Auch die restlichen rund 250 Kilo- Annette Großbongardt Dschadd Attallah, 26, war Aktivist im Terroruntergrund von Betlehem. Nach

der spiegel 26/2002 123 Ausland israelischen Angaben beteiligte sich der führt wird. Die Gruppe der Aksa-Brigaden arbeitslose Schneider an der Vorberei- sei verantwortlich für mehrere Anschläge, tung mehrerer Anschläge, darunter in Bomben und Überfälle. Ihr Kurier Sarah- dem orthodoxen Jerusalemer Viertel Beit na fuhr im März auch die 18-jährige Selbst- Is-rael, bei dem zehn Menschen star- mordbomberin Ajat al-Achras zu einem ben. Am 8. März kam Attallah bei einer Supermarkt in Jerusalem, wo sie die fast Explosion ums Leben. „Das waren die Is- gleichaltrige Israelin Rachel Lewi tötete. raelis“, sagt Arin. Israelische Militärs Dass sich immer mehr junge Frauen zu behaupten, er sei beim Bombenbasteln Todeskommandos anheuern lassen, zeigt gestorben. den Terrorermittlern, wie einfach die Re- Zuerst fühlte sich Arin „wie gelähmt“. krutierung der Bomber inzwischen gewor- Dann wollte sie Rache. Und sie wusste, an den ist. „Die Bereitschaft zum Märtyrer- wen sie sich wenden musste – Dschadds Freunde bei den Tansim-Milizen. Gleich nach ihrem Anruf an einem Freitag traf sie sich mit einem Kontaktmann. Am Dienstag spürte der sie auf dem Campus auf: „Wir akzeptieren dich. Halte dich bereit.“ Arin sagt, sie fühlte sich überrum- pelt, als er bereits am nächsten Morgen vor der Uni auf sie wartete: „Heute müssen wir die Sache durchziehen.“ Gemeinsam fuhren sie zum

Haus eines Freundes, wo ihr / AFPMOHAMMED SABER / DPA der Sprengstoffrucksack über- geben wurde. Dort nahm sie – in ein Palästinensertuch gehüllt – auch ein Abschiedsvideo auf. Sie sprach ihr Gebet. Arin sagt, die hastigen Vor- bereitungen habe sie „wie er- froren“ erlebt. Sie war ent- täuscht, wie wenig sich die Milizen um sie bemühten. „Kei- ner fragte mich, was ich denke, warum ich das überhaupt tun will.“ Sie versprachen ihr ledig- lich: „Bald bist du bei deinem Freund im Paradies!“

Vielleicht wollte Arin nur / GETTY IMAGES SILVERMAN DAVID irgendwo dazugehören. Das Hamas-Aktivisten in Gaza, Rettungsarbeiten in Jerusalem* Kind wuchs bei Großmutter „Wir wollen endlich aktiv werden“ und Tante auf, nachdem es früh seinen Vater verloren hatte. Als Arin sechs tum geht durch alle Schichten der palästi- war, heiratete die Mutter erneut und ging nensischen Gesellschaft.“ nach Jordanien. „Arin hat immer Nähe und Arin erklärt die Todesbereitschaft so vie- Aufmerksamkeit gesucht, sie wirkte ein- ler junger Palästinenser mit der Situation in sam“, erinnert sich eine Lehrerin. den besetzten Gebieten: „Unser Land ist „Junge Leute wie Arin sind ideale Kan- gestohlen. So viele Unschuldige wurden didaten für die Terrorwerber“, heißt es getötet, auch Kinder. Wir wollen endlich beim Jerusalemer Geheimdienst. „Sobald aktiv werden.“ In ihrem nie gezeigten die Freiwilligen in einem Moment der Ver- Abschiedsvideo klagt sie „die arabischen zweiflung sagen, ich würde auch so einen Herrscher“ an, „die nichts tun“ für die Anschlag ausüben, lassen sie sie nicht mehr Palästinenser. Auch Arafat, kritisiert sie, los.“ Die palästinensischen Universitäten „hat uns nichts Gutes gebracht“. seien bevorzugte Anwerbeplätze, die meis- Die Reumütigkeit der Gefangenen be- ten Selbstmordattentäter Studenten. Der rührte sogar Verteidigungsminister Ben- Hamas-Bomber, der vorige Woche in ei- jamin Ben-Elieser, der die Beinahe-Terro- nem Jerusalemer Bus 19 Israelis tötete, stu- ristin aufsuchte: „Ich wollte verstehen, dierte Islamwissenschaft in Nablus. was die Selbstmordbomber antreibt.“ Israelische Ermittler wissen, dass Arin Nach dem Gespräch räumte er ein, dass in das Netz einer Terrorzelle geriet, die die israelischen Militäroperationen, so not- von einem Betlehemer Bruderclan ange- wendig sie seien, „Frustration, Hass und Verzweiflung entzünden, in denen neuer * Nach dem Anschlag auf einen Bus am 18. Juni. Terror brütet“. Annette Großbongardt

124 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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SPANIEN „Viva España, zurück nach Kölle“ Aus der Traum? Der Ruf von Deutschlands 17. Bundesland verblasst, Mallorca meldet stark rückläufige Besucherzahlen. Selbst schuld, sagen viele Deutsche, die sich über hohe Preise und strenge Auflagen ärgern. HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS SCHWARZBACH HARTMUT Deutsche Strandurlauber in El Arenal: Energische Maßnahmen gegen die Auswüchse des Vulgärhedonismus

ine weiße Villa voll Licht und Luxus, binat fremdenfeindlich, wie Lea Schütt um-Zug-Geschäft: D-Mark gegen Sonnen- Terrasse mit Pool, eingebettet in Kas- meint? schein. Integration war auf beiden Seiten Ekaden von flammenden Bougainvil- Der Zuzug von Fremden, so hat Insel- noch nie besonders gefragt. Am wenigsten leen, ein Paradies hoch im Berg mit einem ratspräsidentin Maria Antònia Munar von bei den Deutschen. Die meisten deutschen narkotisierenden Blick über die Bucht von der nationalistisch orientierten Mallorqui- Immobilienbesitzer, die seit mehr als fünf Calvià. Was braucht der Mensch noch nischen Union erklärt, müsse gestoppt wer- Jahren auf der Insel wohnen, verstehen mehr für einen ausgeglichenen den, sonst drohe die Heimat nicht mal genug Spanisch, um sich im Rat- Ruhestand? zum zweiten Hongkong zu ver- haus nach dem nächsten Müllabfuhrtermin „Nein, die Wirklichkeit hier, kommen. Für ein Inselvolk, das zu erkundigen. das sind Nationalismus und fast ausschließlich vom Frem- Der Bruch der Kulturen an der Via Dra- Korruption, und abends vorm denverkehr lebt, könnten die gonera in Santa Ponça hatte eine denk- Schlafengehen schmeißen sie Mallorquiner ruhig ein biss- würdig triviale Ursache: Der spanische Ihnen eine tote Ratte über den chen freundlicher zu den Frem- Hausbesitzer zur Linken habe nach seinem Zaun“, klagt die Rentnerin Lea den sein. Derzeit jedenfalls Einzug den Müllcontainer, der regulär auf Schütt aus Santa Ponça. Sie sind sie dabei, ihren Ruf als der Straße an der Grundstücksgrenze zu wollte hier in Frieden ihre gute Gastgeber leichtfertig zu stehen habe, mehr und mehr in Richtung letzten Jahre genießen. Aber verschreddern. auf die Schüttsche Haustür geschoben. vor dem Tod, so sagt sie, kom- Gewiss, eine Herzensbin- Aber Lea Schütt, 80, und ihr Ehemann

me auf Mallorca manchmal lei- STAR MONIKA GUMM / WHITE dung sind die deutsch-mallor- Armin, 83, die seit fünf Jahren hier woh- der die Hölle. Wird Europas Premier Antich quinischen Beziehungen nie nen, sind wehrhafte Kolonisten. Sie scho- größtes Fremdenverkehrskom- Schikanöse Allüren gewesen. Eher eine Art Zug- ben den Müllbehälter wieder zurück. Der

126 der spiegel 26/2002 Spanier, sagt Lea Schütt, habe darauf rea- deutsche Urlauber auf ihrer Insel so be- Der Abscheu vor der Heimsuchung giert wie ein angestochener Konquistador. nehmen, als wäre sie das 17. Bundesland, durch die Alemanes ist erst jüngeren Da- „Er rüttelte am Tor und schrie: Nazi, Nazi, in dem auch noch das ganze Jahr über tums. Früher konnten die Mallorquiner kaputt, kaputt!“ Dazu habe er die Geste Rosenmontag herrscht. ganz gut damit leben, weil sie sich auf ei- des Halsabschneidens gemacht und ihnen „Sauftouristen sollen sich ein anderes nen kleinen Teil der Insel beschränkte. Er zu verstehen gegeben, dass sie irgendwann Ziel suchen“, hat Fremdenverkehrsminister kochte erstmals richtig über, als Filmema- mal in dem Müllcontainer enden würden. Celestí Alomar verfügt. Er wolle den Mas- cher Bernd Eichinger 1997 in „Ballermann Der Nachbarknatsch um den Standort sentourismus auf 20 Prozent herunterfah- 6“ (Verballhornung von „Balneario 6“) den der Abfalltonne beschäftigt inzwischen das ren. Stattdessen sollten Golfer und Som- deutschen Krawalltouristen thematisierte, Landgericht und das deutsche Konsulat in merfrischler kommen, die sich an der der zu Liedern von Guildo Horn und Hans Palma, die Botschaft in Madrid und das Kunst und den landschaftlichen Schönhei- Albers in sein Sauerkraut pinkelt, um es Auswärtige Amt in Berlin. ten der Insel delektierten. anschließend zu vertilgen. Kurz nachdem der Film in die Kinos gekommen war, er- griff der Inselrat energische Maßnahmen gegen die Auswüchse des deutschen Vul- gärhedonismus. Fortan durfte nicht mehr mit Schaschlik geschmissen, nicht mehr nackt auf Tischen getanzt und nicht mehr das Panzerlied zum Stechschritt gesungen werden. „Hasta los cojones“, sagten viele Einwohner. Auf Deutsch, ein wenig geschönt: Wir haben die Schnauze voll. Die Regierung mischte sich auch ins Allerheiligste der Ballermänner ein. Sie schrieb ihnen sogar vor, wie viel Rum und Rotwein die Sangría enthalten darf, die sie mit langen Strohhalmen aus Plastikeimern soffen. Im Sommer 2000 wurden erstmals fünf Lokale in der Schinkenstraße in Arenal an der Playa de Palma geschlossen, nachdem jedes von ihnen 30-mal wegen massiver Ruhestörung verwarnt worden war. Die Folge war ein Aufstand von wütenden Bal- lermann-Touristen – mit aggressiven Paro- len und brennenden Mülleimern.

MONIKA GUMM / WHITE STAR MONIKA GUMM / WHITE Aber nach einer Woche waren die Lo- Golfplatz „Son Vida“ bei Palma: „Der Goldesel Tourismus lahmt“ kale alle wieder auf. Es heißt, die Fälle von öffentlich ausgeübtem Geschlechtsverkehr Die erste Hälfte seines Ziels war schnel- seien zurückgegangen. Aber die alkoholi- Urlaub von Mallorca? 325 206 ler erreicht, als Minister Alomar lieb sein schen Exzesse gingen weiter. Ankünfte deutscher Fluggäste kann. Statt gut vier Millionen werden für Was soll die Regierung auch machen? auf der Ferieninsel dieses Jahr nur noch knapp drei Millionen Sie kann ja nicht verhindern, dass die deut- Durchschnitt 243 792 246 897 Deutsche erwartet. Und letztes Jahr hatten schen Saurauslasser ihre Schlabbersangría 1999 bis 2001 sie auch schon ein Minus. Teile des mal- mit Weinbrand aus Flachmännern scharf 2002 188 697 lorquinischen Fremdenverkehrsgewerbes machen. Und wenn sie erst mal richtig ab- stehen jetzt vor dem Kollaps, weil zwar ein gefüllt sind, finden sie auch schnell wieder 158 603 Quelle: 140 575 Gutteil der Besucher, die Minister Alomar zur alten Form zurück. Immerhin hat der Ibatur als Pöbel empfindet, weggeblieben, das „Bierkönig“, das grölende Epizentrum des 88 093 Premium-Publikum aber bisher noch nicht deutschen Dauerbebens (4000 Plätze), jetzt 68 558 im erwünschten Umfang nachgerückt ist. ein bewegliches Glasdach, das zur Sperr- Die Kräfte des Marktes sind unbere- stunde um Mitternacht geschlossen wird. chenbar und nur begrenzt regulierbar. Weil Im „Bierkönig“ treten neuerdings auch die vorhandenen Kapazitäten nun mal zehn Table-Dance-Mädchen auf. Sehr Januar Februar März April genutzt werden müssen, damit sie keine züchtig, sehr kultiviert. Discjockey Chris Defizite produzieren, sind britische Veran- Marlow wüsste was Besseres. „Mir ist es –22,2% –11,4 % +1,3 % –42,0 % stalter mit Billigstangeboten in die Bresche lieber, die Gäste tanzen auf den Tischen.“ gegenüber den Vorjahren gesprungen. Liverpool–Palma und retour Das zechende Volk und seine Marke- für umgerechnet unter 50 Euro, inklusive tender haben wenig Verständnis für die Alltagszwist, wie es ihn überall auf der Transfer. Die werte Klientel wird spät- Schurigeleien der Behörden. „Dat Jeschäft Welt gibt. Neu auf Mallorca ist nur der nachmittags vom Flughafen Palma zu den hier is nit mehr, watt et war“, sagt der Hau- hässliche nationalistische Zungenschlag der Abfüllstationen in Magaluf und Palmanova sierer Paul Schneider aus Köln, der am Affäre. Wobei freilich auch die Schütts sich gebracht. Dort säuft es sich eine Nacht und Strand von Arenal gekühltes Dosenbier nicht eben als Pioniere der Völkerfreund- einen Tag lang bis zum Eichstrich voll, um aus Putzeimern und Gummikrokodile ver- schaft verstehen. dann, ohne übernachtet zu haben, abends kauft. „Wenn datt hier so weiterjeht, dann Das deutsch-mallorquinische Verhältnis zurück nach Liverpool zu fliegen. Das ist tun mir dä Deckel druff up datt Jeschäft, ist schlecht. Viele Mallorquiner wollen natürlich auch nicht das Niveau, von dem und mer machen wieder ’ne Bratwurst- nicht mehr tolerieren, dass sich zu viele Minister Alomar träumt. bude in Nippes auf. Viva España, mer jonn

der spiegel 26/2002 127 Ausland zurück nach Kölle.“ Er hat wo die Immobiliengesell- wenigstens noch Alter- schaft Espacio die Siedlung nativen. „Grand Folies“ baut, hat Die Euro-Wende im Ja- die Wohnung aber in den nuar hat dem Billigtou- letzten zwei Jahren unbe- rismus ebenfalls schwere wohnbar gemacht. Wunden geschlagen. Hier Wedel hatte Glück, dass haben die Teuro-Piraten ihm Espacio nicht wie an- noch rabiater hingelangt deren Wohnungseignern als in Deutschland. In die Sicht auf die Bucht zu- Arenal kostet eine Nor- gebaut hat. Aber es hat malportion Matsch-Paella ihm gereicht. „Die haben 15 Euro. Im „Oberbayern“ mit acht Tackern gleich- zahlt man für ein großes zeitig den ganzen Berg Bier fünf Euro. Inzwischen ausgehöhlt und gnadenlos gilt auch für viele Deut- Mallorcas schönste Bucht sche: Hasta los cojones. verhunzt. Irrsinnig klotzig, Das „Mallorca Maga- über hundert Wohnungen zin“ meint zu wissen, war- auf einmal.“

um die Deutschen ihre STAR MONIKA GUMM / WHITE Mathias Kühn, der Lieblingsinsel nicht mehr Maklerkönig Kühn: „Die Preise stabilisieren sich auf hohem Niveau“ Maklerkönig von Mallor- lieb haben: „Die unsachli- ca („Die Preise stabilisie- che Diskussion um die Ökosteuer, die auf die in gemieteten Ferienhäusern oder auf ren sich auf hohem Niveau“), macht jetzt breiter Front an die europäische Spitze ge- ihrer Hochseeyacht wohnen, sind davon bei Besichtigungsflügen mit seinem Hub- stiegenen Preise, offene und latente Frem- befreit. Und das ist auch so beabsichtigt. schrauber immer einen Bogen um Cala denfeindlichkeit, der Sprachenkrieg, vie- Die Steuer soll vor allem die Pauschaltou- Llamp. Das Einzige, was Dieter Wedel an lerlei Bau- und Umweltsünden sowie das in risten treffen. der Sache freut: „Von hundert Wohnun- diesem Frühjahr ungewöhnlich schlechte Die oppositionelle Volkspartei hat ver- gen haben die bislang kaum eine ver- Wetter summieren sich zu einem Berg von sprochen, dass sie die Steuer wieder ab- kauft.“ Er räumt aber ein: „Wenn man Problemen.“ Kurzum: „Der Goldesel Tou- schafft, wenn sie im Sommer nächsten Jah- sich erst mal abgeärgert hat, ist es doch rismus lahmt, weil Mallorcas Image erheb- res die Balearen-Wahlen gewinnt. Von den wieder schön.“ Das hat ihn nicht daran lich gelitten hat.“ Bürgerlichen wird erwartet, dass sie auch gehindert, Espacio auf Schadensersatz zu Dazu kommt der Schweinezyklus, wie die von der regierenden Smartie-Koalition verklagen. die Branche ihn nennt. Er bezeichnet die erlassenen Baubeschränkungen wieder Auch Prominenz schützt vor Schikanen Zeitspanne zwischen dem höchsten und lockern. Dabei haben die Restriktionen nicht. Tennis-Mogul Boris Becker muss dem tiefsten Punkt der Popularität eines den Bauboom nicht sichtbar behindert. die Hälfte der tausend Quadratmeter Feriengebiets. Man kann ihn durch Wer- Die Urbanizaciones haben sich in den Wohnfläche auf seiner Finca bei Artà bung und gute Gesten beeinflussen, aber letzten zwei, drei Jahren eher noch hefti- wieder einebnen lassen, nachdem über nicht abwenden. Nur, die bunte Fünf-Par- ger vermehrt. „Der Bauwahn hat eine un- Nacht die Baugenehmigung geändert wor- teien-Regierung von Mallorca macht nicht glaubliche Zerstörung in der Landschaft den war. mal Anstalten, den Trend zu stoppen. angerichtet“, sagt der Hamburger Filme- Kritik an ihrer Politik können die Re- Als besonders rufschädigend wurde die macher und Wahl-Mallorquiner Dieter We- gierenden nicht gut vertragen. Als der Ge- „Ecotasa“ empfunden, eine Ökosteuer, die del. „Man kann hier sehen, was Profitgier schäftsführer der Air Berlin, Joachim Hu- von Hotel- und Pensionsgästen zu entrich- kaputtmachen kann.“ Dabei gilt er nicht nold, ihnen in seinem Bordbuch schikanö- ten ist. Ein viertel bis zwei Euro (je nach eben als Umweltpuritaner. se Allüren und „eitle Selbstgefälligkeit“ Hotelklasse) pro Übernachtung, das ist we- Wedel ist Eigentümer einer Penthouse- vorwarf, ließ sich Premier Francesc Antich niger als die gute alte Kurtaxe in den deut- Wohnung in Cala Llamp bei Andratx. Der eilig bei seinem Außenminister in Madrid schen Ost- und Nordseebädern. Aber es Lärm von der benachbarten Baustelle, melden, um ihn zu einer Demarche in Ber- summiert sich bei einer Familie mit zwei lin aufzufordern. Die in Palma erscheinen- Kindern in drei Wochen auf bis zu 170 Mallorca-Resident Wedel* de „Ultima Hora“ veröffentlichte eine Ka- Euro. Die Großgemeinde Campos packte „Erst mal abärgern“ rikatur, auf der eine Air-Berlin-Maschine dann auch noch eine Strandsteuer von ei- mit anretuschiertem Hitler-Bärtchen zu nem Euro pro Mann und Tag drauf. sehen war. „Bild“ hatte zwar an König Juan Carlos in Obwohl die Grundstückspreise von 1998 einer Schlagzeile appelliert: „Majestät, stop- bis 2002 nach der amtlichen Preisstatistik pen Sie diesen Unsinn.“ Doch der König erneut um 110 Prozent gestiegen sind, gibt hätte gar keinen Einfluss auf die Gesetz- es eine Menge gute Lagen, in denen die gebung der Mallorquiner nehmen können, Preise das Niveau von München-Grünwald selbst wenn er auf „Bild“ gehört hätte. und Hamburg-Blankenese nicht überstie- Der deutsche Umweltminister Jürgen gen haben. Da ist die Nachfrage ungebro- Trittin hat die Ecotasa, als er im Mai in Pal- chen. Regierungschef Antich räumt ein, ma mit EU-Kollegen tagte, wahrscheinlich dass nur ein Drittel der als Baugebiet aus- mit Freuden bezahlt. Das sei für ihn „ein gewiesenen Fläche auf den Baleareninseln normaler Vorgang“. Denn: „Das kenne ich, auch wirklich bebaut ist. seit ich mit meinem Opa im Harz war.“ Gruselige Vorstellung: Wenn alle Grund- Ansonsten wird die Ökosteuer als dis- eigner von ihrem Baurecht Gebrauch ma- kriminierend empfunden. Privatreisende, chen würden, dann hätten die Balearen zwei Millionen Einwohner – statt jetzt einer

* Mit Freundin Dominique Voland. DPA drei viertel Million. Erich Wiedemann 128 Werbeseite

Werbeseite Ausland MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel (am 21. Juni in Sevilla): Eine Phalanx von Profiteuren sperrt sich gegen jede Agrarreform

Bundeskanzler Gerhard Schröder lässt und Jahr 40 Euro an Zuschüssen aus der EUROPA ebenso wenig Zweifel: Die Grenzen der EU-Agrarpolitik – Deutschland muss da- Belastbarkeit Deutschlands seien erreicht. gegen pro Kopf und Jahr 53 Euro nach Krieg der Worte Wenn Brüssel die Direktzahlungen auf die Brüssel überweisen. osteuropäischen Bauern uneingeschränkt Die Direktzahlungen auf Osteuropa aus- Beim Kampf um die Agrar- ausdehne, könne die Kommission gleich zuweiten, erst mal für die Zeit vom Bei- „blaue Briefe in Serie“ an Deutschland auf- tritt 2004 bis zur nächsten Haushaltsauf- Milliarden der EU steht ein hartes setzen, höhnte Schröder vorvergangenen stellung 2006, macht aus Sicht Berlins alles Duell zwischen Berlin und Sonntag in einem Zeitungsbeitrag. Zwei nur noch schlimmer. Langfristig würden Paris bevor. Die Deutschen sitzen der jährlich acht Milliarden Euro extra die Einkommen der Bauern in Polen oder am kürzeren Hebel. müsste Deutschland tragen. Tschechien um durchschnittlich 90 Prozent Nach den USA ist Frankreich der welt- steigen. Für 2006 sieht Schröder so bereits er spanische Chefdiplomat Josep weit zweitgrößte Exporteur von Agrar- eine Phalanx aus alten und neuen Profi- Piqué wusste, wie er Feuer in die gütern. Und die Branche hängt fast voll- teuren voraus, die sich gegen jede Agrar- Dmüde Sitzung der 15 EU-Außenmi- ständig am Tropf von Brüssel: 83 Prozent reform sperren. nister in Luxemburg tragen konnte. Statt der öffentlichen Mittel für die Landwirt- Dass sie die schrittweise Einführung der über Zyperns Weg in die Europäische schaft fließen aus der EU-Kasse. Direktzahlungen („phasing in“) bis 2006 Union zu reden, schlug der Ratsvorsitzen- Beim Berliner EU-Gipfel im März 1999 nicht verhindern können, haben die Deut- de vor, lieber zu diskutieren, wie die EU- schlug der erste Versuch der Nettozahler, schen schon akzeptiert. Aber sie pochen Osterweiterung ab 2004 bezahlt wird. Be- den Subventionssumpf auszutrocknen, dra- darauf, dass die EU-Staaten vor der Oster- sondere Probleme habe damit doch der matisch fehl. Eiskalt führten die Regie- weiterung diese Subventionen reduzieren verehrte Kollege Dominique de Villepin. rungschefs der Länder, die von den Mil- – im Fachjargon: „phasing out“. Beim Gip- Der Franzose zog die Nase sofort zurück liarden profitieren, den Gastgebern Schrö- fel vergangene Woche in Sevilla warnte der – sein Land werde sich „erst später“ zu der der und Fischer ihre Rolle als Zahlmeister Kanzler vor „finanzpolitischem Chaos“, Sache äußern. Darauf gab Piqué das Wort vor Augen. „Nie wieder Berlin“, lautet sollte das bisherige System bestehen blei- an den Deutschen. „Was würdest du sa- seither deren europapolitische Devise. Vor- ben. Im Ernstfall sitzen die Deutschen aber gen“, entgegnete Joschka Fischer lauernd am kürzeren Hebel: Falls Chirac auf Villepin, „wenn auch ich erst später re- droht, mit einem starren Nein die den wollte?“ Nehmerbilanz ... Milliarden ¤ Osterweiterung scheitern zu las- Dann sprach Fischer doch. Er rechnete Netto-Zuwendungen sen, würden die Berliner vermut- dem Franzosen vor, warum die Deutschen aus dem EU-Agrarbereich lich klein beigeben. sich bei den milliardenschweren EU-Direkt- 2 Auch eine unionsgeführte Bun- Frankreich zahlungen für die Bauern nicht endlos mel- 1 desregierung käme um den Krach ken lassen wollen: von den Landwirten in mit Frankreich in der Agrarfrage 0 der alten EU – und dazu künftig auch von 1980 1985 1990 1995 kaum herum. Zwar hat Edmund den zehn Beitrittsländern im Osten des 1 Stoibers Chef-Außenpolitiker Wolf- Deutschland Kontinents. Die Kasse in Berlin sei leer, 2 gang Schäuble seiner Truppe Punkt. Prompt brach Villepin sein Schwei- Zurückhaltung auferlegt: „Wir ha- gen: „Damit können wir nicht leben.“ ... Geberbilanz 3 ben nicht die Hoffnung, die Das Wortgefecht am vorigen Montag es- Netto-Zahlungen in 4 Agrarfragen über Nacht zu än- kalierte, so ein altgedienter Diplomat, zu den EU-Agrarbereich 5 dern“, sagt Schäuble vorsichtig. „einem der härtesten“, das je „auf offener In Wirklichkeit sind die Positio- Bühne“ ausgetragen worden sei. Fischer nen der CDU/CSU aber noch pro- dozierte, beim EU-Gipfel 1999 in Berlin ausschauend hat der Kanzler kürzlich den vokanter für Paris als die der Regierung. habe niemand über Direktzahlungen an EU-Vorsitz für das zweite Halbjahr 2006 Nach den Vorstellungen der Union soll polnische und tschechische Bauern geredet mit Finnland getauscht. Sonst würde die Geld aus Brüssel nur noch erhalten, wer – das sei die „historische Wahrheit“ über Bundesrepublik ausgerechnet dann wieder aus der eigenen Kasse was drauflegt. die Beschlüsse zum EU-Haushalt bis 2006. Ratspräsident, wenn das Budget für die „Ohne Co-Finanzierung in der Agrar- und Die Franzosen behaupten das Gegenteil. Jahre 2007 bis 2013 verhandelt wird. Jetzt Strukturpolitik“, tönte Stoiber noch vor Der „Krieg der Worte zwischen Berlin kann die deutsche Regierung frei von Jahresfrist, „werden wir die Probleme der und Paris“ („Financial Times“) geht erst Rücksicht auf die hinderliche Gastgeber- Finanzierung Europas nicht lösen können.“ richtig los. Präsident Jacques Chirac zieht rolle kämpfen. Das Stichwort „Co-Finanzierung“ gilt offenbar aus dem Wahlerfolg des Nationa- Ohne Einigung zwischen Deutschen und in Frankreich jedoch als Teufelswerk – listen Jean-Marie Le Pen die Konsequenz Franzosen wird es jedoch nicht gehen. Un- deswegen hat selbst Krawallkanzler Schrö- „Frankreich zuerst“. Vor allem die Privi- ter dem Strich kassiert Frankreich nach Be- der mittlerweile darauf verzichtet. legien seiner Bauern gilt es zu verteidigen. rechnungen der Bundesregierung pro Kopf Ralf Beste, Ulrich Deupmann

130 der spiegel 26/2002 Ausland

Die Stunde des Marschalls Der polnische Bauernführer Andrzej Lepper schürt die Angst vor der Europäischen Union.

ndrzej Lepper ist zufrieden mit che Rezepte: „Grenzen zu sich: Sein Gesicht ist gebräunt, für ausländisches Getreide! Ader Anzug sitzt perfekt. An der Der Staat stellt fest, was die Wand seines Parlamentsbüros hängt ein polnischen Bauern produ- polnischer Adler, im Regal steht ein zieren sollen und garantiert Kaffeeservice, verziert mit dem Wap- die Preise.“ Lepper propa- pen seiner Partei „Samoobrona“ – giert Planwirtschaft nach Selbstverteidigung. dem Vorbild des weißrussi- Seine Untergebenen sprechen ihn schen Präsidenten Alexan- mit „Herr Marschall“ an. Denn Lepper, der Lukaschenko, mit dem 48, war Vizemarschall des Sejm, stell- er wegen seines autoritären vertretender Vorsitzender des Parla- Gehabes verglichen wird. ments, bis ihm die Abgeordneten das Mit seinen wüsten At- Amt entzogen – die Regierung hatte er tacken im Sejm gegen das als „Diebe“ und „Rüpel“ beschimpft, Establishment redet er den Außenminister als „Kanaille“. eine Polarisierung herbei, Die Pöbeleien zahlen sich aus. Auf die schon zu Zeiten der le- dem Tisch liegt ein Brotlaib mit der Auf- gendären Gewerkschaft schrift: „Anapol unterstützt Lepper“ – Solidarno£ƒ die politische Anapol ist ein Dorf im armen Osten. Mentalität vieler Polen be- Aus Landstrichen wie diesem kommen stimmte: Wir, das Volk, ge-

Leppers Anhänger. Mit zehn Prozent / AP KEPLICZ ALIK gen die da oben. Nur dass der Stimmen haben sie ihn im Septem- Demagoge Lepper*: Autoritäres Gehabe für Lepper die da oben ber ins Parlament gewählt. Und seitdem heute nicht kommunisti- wird Lepper stärker. In Umfragen klet- Die Anbauflächen sind zu klein, die sche Apparatschiks sind, sondern Ma- terte seine Partei auf 18 Prozent und ist Gerätschaften veraltet. nager, Spekulanten und eine politische damit zur zweitstärksten politischen Doch keine der Regierungen nach Klasse, die sich angeblich mehr dem Kraft in Polen aufgestiegen. der Wende 1989 hat es gewagt, die er- Ausland verpflichtet fühlt als Polen. Vor knapp drei Wochen gelang ihm forderlichen Reformen anzupacken, Diese Botschaft verstehen auch im- ein besonderer Coup. Samoobrona- kritisieren Agrarspezialisten wie der mer mehr Nicht-Bauern. Jüngste Un- Aktivisten, der Marschall vorneweg, Warschauer Professor Jerzy Wilkin. tersuchungen haben ergeben, dass Sa- stürmten nahe Warschau einen Güter- Unpopuläre Eingeständnisse wären moobrona auch von Arbeitslosen so- zug und verstreuten die Ladung auf den notwendig gewesen – beispielsweise, wie Kleinunternehmern unterstützt Gleisen: Getreide aus Deutschland, das dass viele der heutigen Bauern in Zu- wird, die sich vor ausländischer Kon- ausgerechnet Zbigniew Komorowski, kunft in anderen Branchen ihr Aus- kurrenz fürchten. ein Unternehmer und Politiker der mit- kommen finden müssen, im Tourismus Zudem erschloss Lepper ein neues regierenden Bauernpartei PSL, aus oder im Dienstleistungsgewerbe. Reservoir von Anhängern – Jung-Aka- Deutschland eingeführt hatte. Denn Um neue Arbeitsplätze zu schaffen, demiker, die nach der Uni keine Jobs schon lange ist Getreide in der EU bil- wären gewaltige Investitionen nötig. finden. Der Marschall umgibt sich der- liger zu haben als in Polen. „Die Politi- Doch hat es Warschau nicht einmal ge- zeit mit einem ganzen Stab solcher ker lassen die polnische Landwirtschaft schafft, die von Brüssel für den Struk- glänzend ausgebildeten Arbeitslosen. vor die Hunde gehen“, turwandel vorgesehe- Im Mai gründete Samoobrona eine Ju- wettert Lepper. Umfrageergebnisse nen Gelder vollständig gendorganisation. Lepper hat ihr 40 Das Schlimme ist: der „Samoobrona“- 18% abzurufen. Der Grund: Prozent der Listenplätze bei den Re- Der Mann hat damit Partei Die Verwaltung ist gionalwahlen im Herbst versprochen – zum Teil Recht. Seit schlicht überfordert. da tun sich dem Nachwuchs Aufstiegs- zehn Jahren schon 14% Viele Bauern fühlen chancen auf, die es bei den anderen diskutiert Polen über sich durch den nahen- Parteien so nicht gibt. die Landwirtschaft als den EU-Beitritt den Seinen Kampf gegen die EU will schwerste Bürde des 9% Marktkräften schutzlos Lepper in den nächsten Wochen noch Landes auf dem Weg ausgeliefert. Und Lep- verstärken: Er hat spektakuläre Pro- nach Brüssel. Mit Quelle: PBS per bietet ihnen einfa- testaktionen angekündigt. Das Regie- knapp einem Fünftel rungslager und Lepper rüsten, fürchtet der Erwerbstätigen ar- die polnische Ausgabe des Wochenma- 3% * Bei der Protestaktion gegen beiten zu viele Men- 2001 2002 gazins „Newsweek“, „für die entschei- Aug.Dez. Jan. Juni deutsches Importgetreide am schen im Agrarsektor. 6. Juni. dende Schlacht“. Jan Puhl

der spiegel 26/2002 131 Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

Was haben Sie da gedacht, Herr Budesheim?

Der Wasserwacht-Leiter Jens Budes- heim, 31, über seinen Taucheinsatz im schwäbischen Diedorf

„Ich sollte zwei vermisste Personen aus der Tiefgarage bergen. Vor Ort wurde mir schnell klar, dass das eine Lei- chenbergung wird. Der erste Gedanke in so einer Situation ist immer: Scheiße. Trotzdem habe ich gehofft, dass sich eine Luftblase gebildet hat. Hoffen tut man immer. Meine Kollegen haben die Leichen geborgen. Ich habe mich um das Auto gekümmert, ein Stahlseil am Abschlepphaken befestigt, so dass die Feuerwehr den Wagen rausziehen konnte. Mich ärgert, dass die Menschen die Gefahr von Wasser noch immer unterschätzen. Man kann reden, so viel man will, die Leute werden erst hell-

hörig, wenn etwas passiert ist.“ / AP PITMANN JAN

Budesheim bei Bergungsarbeiten

TOURISMUS ist der Fuhrpark ihrer Firma „Ber- PSYCHOLOGIE linsight“ komplett. Mit der Wissen- Reisen mit „Charly“ schaftlerin an der Spitze geht es ab Männer prahlen, Frauen Hackescher Markt leise surrend zu tadtführungen bringen meistens historisch eher unbekannten Zielen. schmeicheln Swunde Füße oder Atemnot im Etwa in jene Straße am Prenzlauer Bus. Eine Berliner Literaturwissen- Berg, in der der erste deutsche Film aum macht der schaftlerin bietet nun eine neue gedreht wurde, ein Experimental- KMensch den Mund Lösung für dieses Problem: Tatjana werk von Max Skladanowsky. Oder auf, schon fängt er an zu Walter, 31, führt ihre Touristen auf zum Grab von Agnes Wabnitz, der lügen. Wissenschaftlich „Charlys“ – das sind im sächsischen Mantelnäherin und Mitbegründerin nachgewiesen hat das Zschopau hergestellte Elektroroller des ersten Arbeiterinnenvereins im jetzt der US-Psychologe – durch die Hauptstadt. Seit Juni Jahr 1885 in Preußen. Die Fahrten Robert Feldman von der sind kulturhistorisch mit Universität Massachu- Schwerpunkt Literatur setts. Er ließ die Ge-

ausgerichtet, aber auch spräche von 121 Stu- / UNION-NEWS BOB STERN bei Hans Rosenthals dentenpaaren per Vi- Feldman („Dalli Dalli“) Geburts- deo aufzeichnen und haus wird Halt ge- analysieren. Sein Ergebnis: Innerhalb von zehn macht. Die Idee für die Minuten logen 60 Prozent der Probanden mindes- umweltschonenden tens einmal, durchschnittlich aber zwei- oder Touren hatten Dag dreimal. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Männer Schulze, 35, und Nor- lügen anders als Frauen. Männer täuschen in ei- man Heeg, 31, beide ner Unterhaltung gern aufregende Erlebnisse oder Geschäftsführer der Pläne vor, um sich in ein gutes Licht zu rücken. Zschopauer „Solarmove Auch Frauen prahlen gern. Doch sie flunkern weit GmbH für solare Mobili- häufiger als Männer, um ihrem Gesprächspartner tät“ – eine langsame Mo- ein gutes Gefühl zu geben. Sie stimmen ihrem bilität in diesem Fall. So Gegenüber auch dann zu, wenn sie beispielsweise langsam, dass auf einen bei der Bewertung eines Spielfilms anderer Mei- Helm verzichtet werden nung sind. Den Versuchspersonen wurden ihre kann: Ihre Charlys eigenen Dialoge vorgeführt, laut Feldman waren

ANNE-KATHRIN PISCHELT ANNE-KATHRIN fahren maximal 20 Stun- die Studenten selbst überrascht: „Sie hatten deut- Walter (r.), Touristen denkilometer schnell. lich mehr gelogen, als sie erwartet hatten.“

der spiegel 26/2002 133 Szene Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE ben es schwer. Seit die Nachricht von der makabren Verkleidung sogar im In- ternet erschien, wird nach Verrätern ge- sucht, die den Vorfall publik machten. Hitler und die Narrenfreiheit „Wir kriegen sie noch“, prophezeit der Chef des Karnevalsvereins. „Wir Warum in Gehren ein Verräter gesucht wird halten die Ohren offen.“ Immer wieder werden neue Namen genannt, kursie- ber 57 Jahre ist es her, die Alten ken dieser Art, die in Deutschland ver- ren neue Gerüchte. Petzte ein Neider wissen es noch, dass das Ge- boten sind, gibt es in Tschechien zu vom konkurrierenden Karnevalsverein? Üsicht Adolf Hitlers aus dem kaufen. Oder wollte ein Auswärtiger die Stadt in Städtchen Gehren verschwand. Es war Als lustiger Adolf tollte Ronny S. stun- Verruf bringen? an einem Sonntag im April 1945, über- denlang zwischen Indianern, Scheichs Ins Zwielicht geraten ist auch die all qualmten Feuer. Verbrannt wurden und Prinzessinnen durch den Festsaal des Familie O. Deren Mitglieder hatten es Akten, NSDAP-Mitgliederlisten – und Gehrener Rathauses – mit großem Erfolg. als Einzige gewagt, die Prämierung der Führerporträts. Bloß weg mit dem „Die Leute jubelten mir zu“, erinnert er Hitler-Maske auf dem Ball offen zu kri- Zeug. sich. „Es gab nur positive Signale.“ Bei tisieren. „Nehmt den Preis zurück, Nun ist das Gesicht der Prämierung der origi- sonst gibt es böses Blut“ beschwerte Hitlers in Gehren wieder nellsten Kostüme bedach- sich Werner O. bei den Vereinsoberen aufgetaucht, sozusagen te die Jury, bestehend aus – doch nichts passierte. zum Spaß. Und nur we- zwei Frauen vom Karne- Seit dem Maskenball wird die altein- nige in der Kleinstadt valsverein, die Hitler-Mas- gesessene Familie bedroht, wird Werner können verstehen, dass es ke mit einem Preis. O. als Nestbeschmutzer beschimpft. Menschen gibt, die das Inzwischen würde der „Wir sind jetzt die Dussels“, klagt Ehefrau nicht lustig finden. Preisträger die Verleihung Marianne O. „Wir werden uns hüten, „Warum gucken die gern rückgängig machen: noch jemals den Mund aufzumachen.“ Leute nicht auf das, was Die Maskerade trug ihm Eigentlich sollte die Geschichte ge- hier nach der Wende ge- ein Verfahren wegen „Ver- heim gehalten werden. Erst als ein un- schaffen wurde?“, fragt bekannter Anrufer den Hartmut Breternitz, der Vorfall anprangerte und Bürgermeister, verweist mit der Staatsanwalt- auf die neue Turnhalle, schaft drohte, entschloss das Seniorenheim, die sich der Karnevalsverein renovierte Schlossruine zur Selbstanzeige. Und und seufzt. Der CDU- erst als ein junger Lo- Mann leidet darunter, kaljournalist den Appell dass kaum jemand außer- ignorierte, den Fall doch halb Thüringens je von bitte zu verschweigen, Gehren gehört hat. gelangte die Nachricht Und jetzt, da endlich über Gehren hinaus.

was über sein Städtchen in DÖRING / VISUM SVEN Kritik von außen ist der Zeitung steht, sogar in Aus der „Thüringer Allgemeinen“, Hitler-Maske jedoch unerwünscht. amerikanischen Blättern „Wir hier halten alle zu- bis hin zur „San Diego Union-Tribune“, wendens von Kennzeichen verfassungs- sammen“, versichert der arbeitslose muss es so was Dämliches sein. widriger Organisationen“ ein. Die Hitler- Schlosser Jörg E., einer von jenen Geh- Schuld daran ist Ronny S., allein ste- Maske liegt, Ordnung muss sein, in der renern, die sich als Verlierer fühlen, nach hend, gelernter Fußbodenverleger, 28 Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft dem siebten Bier in der Parkschänke. Jahre alt. Aufgewachsen bei der Oma, Meiningen. Die Ermittlungen haben in Mehr als 20 Prozent sind ohne Job, Mitglied im Motorradverein, bekannt in Gehren, 4000 Einwohner, 34 Vereine, Em- Fabrikruinen künden vom Verfall. Die der ganzen Stadt. „Ein lieber, normaler pörung ausgelöst. „An Fasching herrscht Holzindustrie liegt danieder, von der Junge“, findet eine Jugendbetreuerin. Narrenfreiheit“, behauptet Sozialarbei- großen Spielzeugfabrik ist nur das klei- „Ein lustiger Mensch“, urteilt der Bür- terin Marie-Luise Jakobs. Im Übrigen sei ne „Plüsch-Paradies“ geblieben. „Da germeister. „Ein Spaßvogel“, ergänzt der Gehren „eine ganz normale Stadt“ – so soll man uns wenigstens feiern lassen, Vorsitzende des Karnevalsvereins. normal, wie viele Städte im Osten. wie wir wollen“, fordert ein anderer Zum Maskenball am Rosenmontag Im Jugendclub „Underground“ ran- Gast in der „Parkschänke“, Hitler hin, hatte sich der kräftige, ein wenig unter- dalieren gelegentlich ein paar Rechts- Hitler her. „Schließlich haben wir Mei- setzte Handwerker mit den kurzen, radikale, auch zur Feier der Jugendwei- nungsfreiheit.“ Das findet nun auch die blonden Haaren einen besonderen Spaß he im Stadthaussaal mischen sich schon Staatsanwaltschaft. Die Maskerade des ausgedacht: Er zwängte sich in den alten mal Glattrasierte mit Bomberjacken un- Ronny S. sei zwar „grob geschmack- Nadelstreifenanzug seines Urgroßvaters ter die Gäste. „Die Typen kommen alle los“, aber nicht strafbar. und zog dazu schwarze Lackschuhe an. von außerhalb“, versichert Bürgermeis- Verdruss bleibt. Gehren ist in die Über den Kopf stülpte er eine Gummi- ter Breternitz. Ronny S. jedenfalls, dafür Weltpresse geraten. Und für viele Leu- maske, die karikaturhaft verzerrte Züge verbürge er sich, sei kein Neonazi. te in San Diego wird es nun wohl die von Hitler aufwies, mit Hitler-Bärtchen, Die wenigen in der Stadt, die dessen deutsche Stadt sein, in der man Hitler- langer Nase und großen Ohren. Mas- Scherz als Provokation ablehnen, ha- Masken trägt. Bruno Schrep

134 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite Besucher im Reichstag: Amerikaner sagen, ihr Held sei Bill Gates – bei den Deutschen ist es Oliver Kahn MARKUS WAECHTER

MODERNISIERUNG Mission Deutschland Alle sind sich einig, dass vieles anders werden muss: weniger Steuern, weniger Stillstand, weniger Arbeitslosigkeit. Aber wie? Ein Streifzug durch ein Land der Reformer und Blockierer. BERLIN, UNTER DEN LINDEN Manchmal Es ist einer jener Abende, an denen man liche Antreiber, der sich austrainiert und fragt Herbert Henzler, ehemals Chef von sich sehr schlecht fühlt als Deutscher. Weil braun gebrannt als Vorbild der Leistungs- McKinsey Deutschland, seine Studenten die Deutschen so viel falsch machen und gesellschaft präsentiert. in Amerika, wer ihre Helden seien. Bill die anderen so viel richtig. Das Thema ist Ein Abend mit diesen Herren beginnt Gates, sagen sie dann, der Gründer von „Deutschlands internationale Wettbe- immer mit Kleinreden: zu viel Bürokratie, Microsoft. Stellt Henzler seinen deutschen werbsfähigkeit – was ist zu tun?“, und ein starrer Arbeitsmarkt, das falsche Steu- Studenten die gleiche Frage, kommen fol- außer Henzler sitzen noch fünf weitere ersystem, schlechte Schulen. Wenn das Pu- gende Antworten: Schumi, Oliver Kahn. Herren auf dem Podium, darunter Guido blikum dann ganz verzweifelt ist, heißt es, Es wird sehr still im Atrium der Deut- Westerwelle, Vorsitzender der FDP, und ganz so schlimm sei es doch nicht. Am schen Bank, Unter den Linden, als Henz- Hilmar Kopper, bis vor kurzem Aufsichts- Ende einigt man sich auf Mittelmaß, Note ler diese Geschichte erzählt. Die Zuhörer ratschef der Deutschen Bank. Es sind jene drei für den Standort Deutschland, mit haben sich schon anhören müssen, dass die Männer, die immer auftreten, wenn es dar- Tendenz nach unten. Kopper jedenfalls Dänen alles besser machen, die Iren und um geht, die Bundesrepublik in die Re- sieht „mit Schrecken nach vorne“. Es sei die Holländer. London sei „das absolute formfähigkeit zu reden. Das ist ihre Mis- denn, jetzt würde das Land aus seiner Eldorado“, hat Henzler gesagt, und jetzt sion, die Mission Deutschland. Erstarrung aufwachen, jetzt würden die noch die Demütigung: ein Rennfahrer, ein Jeder von ihnen füllt dabei eine be- Reformen angepackt, jetzt kämen die Torwart als Helden der Nation. Kein Un- stimmte Rolle aus: Westerwelle ist der ewig Gewerkschaften zur Vernunft. ternehmer. Wo soll da das Wachstum her- naseweise Jungrevoluzzer, Kopper der al- Schließlich soll noch jeder die Reform kommen? tersmilde Mahner, Henzler der unermüd- nennen, die er für die wichtigste hält. Wes-

136 der spiegel 26/2002 Gesellschaft terwelle wünscht sich eine neue Regierung, tiven und einer hyperventilierenden Kul- konstruktive Lust: „Finanzpolitik als Henzler neue Bücher für die Grundschu- tur-Grünen seine Zahlen madig machen schöpferische Zerstörung“, das ist Sarra- le, in denen Unternehmer die Idole sind. lassen. „Das ist eben Demokratie“, sagt zins Maxime. Weiter werden gefordert: Computer in je- Sarrazin, „heute ging es noch.“ Angenommen, er wäre Vorsitzender ei- dem Klassenzimmer, freie Zuwanderung Es steht schlecht mit der Reformfähigkeit nes Wohlfahrtsausschusses, allmächtiger für alle Ausländer, die gebraucht werden. Deutschlands. Das Land wird immer älter, Konkursverwalter des Modells Deutsch- Jemand aus dem Publikum meldet sich und die Alten gehen häufiger zur Wahl als land – welches wären seine ersten fünf De- noch und sagt, früher, als alles besser war, die Jungen: „In einigen Jahren werden die krete? Er denkt nur kurz nach: „1. Den hätte nahezu jeder 250 Anschläge in der über 55-Jährigen die Mehrheit der Wähler Beamtenstatus abschaffen. 2. Die Arbeits- Minute auf der Schreibmaschine schreiben stellen. Und das sind die, denen an Verän- losenhilfe mit der Sozialhilfe zusammen- können. Das müsse das Volk neu lernen, derung am wenigsten gelegen ist.“ legen. 3. Ein radikal vereinfachtes Steuer- auf dem Keyboard diesmal. Dann werde al- Wie dann noch an Reformen glauben? system mit einem Spitzensatz von 40 Pro- les wieder gut. Thilo Sarrazin ist kein Charismatiker. Sei- zent, aber weitgehend ohne Ausnahmen. 4. ne öffentliche Rede ist schwer zu verstehen Den Länderfinanzausgleich so umbauen, BERLIN, FINANZBEHÖRDE Die Kunst des und entbehrt jeden Feuers. Er hat die dass die Länder ihre Einnahmebasis selbst Politikers besteht darin zu sagen, was die Gabe, sich mit wenigen Sätzen unbeliebt gestalten können. Und, 5., eine staatliche Leute hören wollen, und zu machen, was zu machen. Als Treuhandmanager über- Mindestrente, die durch eine beitrags- er für richtig hält. Sagt Thilo Sarrazin. „Die warf er sich mit dem Finanzminister, als finanzierte Zusatzrente ergänzt werden meisten Politiker machen es sich jedoch zu Bahnmanager krachte er mit Mehdorn an- kann. Das wäre natürlich“, sagt er zufrie- einfach und tun, was ihnen am wenigsten einander. Sein größter Fehler aber ist un- den, „eine vollständig andere Republik.“ Ärger einbringt. Ich sage und tue, was ich verzeihlich: Er hat meistens Recht. Diese für richtig halte. Deswegen werden die Stadt braucht keinen Senator. Berlin KIRCHHEIM/TECK-NABERN, INDUSTRIE- Volksmassen nie hinter mir stehen.“ braucht einen Konkursverwalter. Oder die PARK Ferdinand Panik, 59, soll das Auto Damit hat Berlins Finanzsenator zwei- Übernahme durch eine feindliche Macht. der Zukunft entwickeln, ein Auto, das fellos Recht. Er gilt als Party-Pooper unter Dieser Mann ist pedantisch, weiß alles kaum noch Dreck macht. Er leitet seit 1997 Deutschlands Politikern. Der Fettnapf ist besser und sieht keinen Anlass, damit hin- das Brennstoffzellen-Projekt bei Daimler- sein Biotop. Zehnprozentige Gehalts- term Berg zu halten. Doch im Innersten ist Chrysler und ist ein unruhiger Geist. Stän- kürzung für alle Landesdiener! Stellen- Thilo Sarrazin vom Geiste Bakunins, des dig springt er auf, wirft ein Koordinaten- abbau! Studiengebühren! Schließung von Anarchisten. Tief in ihm glimmt eine de- kreuz auf das Flipchart, rennt zur Tür, um Schwimmbädern und Thea- von der Sekretärin ein Schau- tern! Und für Thilo Sarrazin bild zu holen, läuft wieder ist das erst der Anfang. Was zum Flipchart, weil ihm noch wohl wäre, wenn so einer eine Kurve eingefallen ist. die Bundespolitik bestimmen Die Amerikaner, erklärt Pa- würde? Im Kampf gegen zu nik, erwarten dreierlei Dinge hohe Steuern, zu viel Büro- vom Brennstoffzellenauto: kratie? Erstens: Ökologische Nach- In einer Stadt, die immer haltigkeit. Zweitens: Unab- nur gebauchpinselt wurde, hängigkeit von Importen. Drit- spielt dieser Mann den Peit- tens: Rentabilität – wenn schenschwinger. Wo Senator die Brennstoffzelle tatsächlich Sarrazin mit seinen Folien auf- eine Schlüsseltechnologie ist, taucht, ist die Stimmung im Ei- dann muss sich damit ein Hau- mer. Er soll die Finanzen einer fen Geld verdienen lassen. Stadt in Ordnung bringen, die Also stellte das US-Energie- sich von ihren Politikern über ministerium einen Zwölfjah- Jahrzehnte hinweg betrügen, resplan auf. Plötzlich wollten

einlullen und in den Bankrott MICHALKE NORBERT alle Autohersteller dabei sein, führen ließ. 40 Milliarden Euro Ex-Bankier Kopper (3. v. l.)*: „Mit Schrecken nach vorne blicken“ weil jeder wusste: Wer hier Schulden. Zinsen, die jede Er- nicht mitmacht, kann sich vom sparnis durch Schwimmbad- amerikanischen Markt verab- oder Kita-Schließung binnen schieden. Tagen aufgefressen haben. Währenddessen streiten die Und vermutlich sind noch gar Deutschen um Grundsätzli- nicht alle fiskalischen Zeit- ches. Ob man den Wasserstoff bomben bekannt. auch aus Methanol gewinnen „Die Leute sagen, ich wür- dürfe; ob sich das Tankstel- de Berlin hassen. Dabei hasse lennetz umrüsten lasse oder ich nur seine Finanzen“, sagt ob man ein neues Netz aus der Senator. Er sitzt in der Wasserstofftankstellen auf- Kantine des Abgeordneten- bauen müsse. In den USA, hauses beim Fleischkäse. Den sagt Panik, werde eine neue ganzen Vormittag lang musste Technologie als Chance gese- er sich im Haushaltsausschuss hen, „wir sehen sie als Ge- von altklugen Jungkonserva- fahr“. Der Streit um Ne- bensächlichkeiten macht ihn * Oben: Bei einer Podiumsdiskussion in nervös.

Berlin; unten: mit dem Regierenden Bür- ARIS Zum Beispiel das Umwelt- germeister Klaus Wowereit. Berliner Finanzsenator Sarrazin (l.)*: „Schöpferische Zerstörung“ bundesamt (UBA) in Ber-

der spiegel 26/2002 137 Bankenviertel in Frankfurt am Main: Note drei für den Standort Deutschland, mit Tendenz nach unten lin. Dessen Präsident Andreas Troge kriti- man sagt „spirit“. Und Konferenzen heißen Website Waren im Wert von 280 Millionen sierte die hohen Energieverluste bei der „company meeting“. Euro verkauft. Im April 2000 gab es 766000 Herstellung und Aufbereitung des Wasser- Die Firma „Ebay“ ist ein Internet-Auk- Besucher, im April 2002 6,5 Millionen. stoffs. Aus heutiger Sicht, kritisierte das tionshaus, in dem das Volk kaufen und ver- Die Zahlen könnten bedeuten, dass die Amt, sei der Einsatz „nicht zu befür- kaufen kann, was es zum Leben braucht. Idee überlebt hat; dass in Dreilinden bei worten“. Autos, Briefmarken, Teddybären, einen Berlin die New Economy aufersteht; dass Panik ist seit 30 Jahren bei Daimler. Gulfstream Jet, die Lederjacke von Freddie die Revolution doch noch über Deutsch- Schon immer haben sie in Stuttgart auch an Mercury. land kommt. neuen Technologien geforscht. „Wenn es Ebay ist ein Mitglied dieser weltweiten Philipp Justus trägt das Band mit der etwas Besseres geben sollte“, lautet ihre Jugendbewegung, die sich den Namen Chipkarte am Hals und das Hemd offen. Er Philosophie, „dann sollten wir die Ersten „New Economy“ gab. Vor drei Jahren sieht aus wie der letzte Überlebende die- sein, die es finden.“ Auf einmal hat er es schwappte sie aus Amerika nach Deutsch- ser Jugendbewegung, wie einer, den der mit Leuten zu tun, denen Visionen suspekt land. Es war eine Idee, deren Jünger glaub- Sensenmann vergessen hat. Er sagt: „Wir sind. Irgendwann haben sie dann die Dis- ten, sie sei eine Revolution. Sie glaubten sind ein Unternehmen, das sich so verhält, kussion mit dem UBA darüber abgebro- ans Internet und an die Börse und an flache als hätte es uns schon länger gegeben.“ chen, „weil sie nicht ziel- New Economy? „Wir haben’s nicht so mit führend war“. „In Deutschland“, sagt der deutsche Transrapid- diesem Begriff“, sagt Justus, 32 Jahre alt, Vor kurzem waren Bun- drei Kinder, früher Unternehmensberater desinnenminister Otto Schi- Manager in China, „bangt man um den bei Boston Consulting und seit zwei Jahren ly und Hans Martin Bury Frosch, der nicht mehr laicht. Das ist krank.“ Geschäftsführer von Ebay Deutschland. da, der Staatsminister im Er hat alte Begriffe wie „Budget“ und Kanzleramt. Sie haben sich das Projekt Hierarchien. Das verkrustete Deutschland „Controlling“ neu eingeführt in diese Welt Brennstoffzelle noch einmal erklären las- glaubte an Umsatz und Gewinn, das mo- und dafür gesorgt, dass Ebay sogar einen sen, man ist im Gespräch. „Ich glaube, jetzt derne Deutschland an die Kraft der Idee. Personalchef hat. Ebay fördert Ausbil- hat’s geschnackelt“, sagt Panik. Die Idee hat sich in Luft aufgelöst, ihre dungsprogramme, mit dem Arbeitsamt und Er sieht ein wenig müde aus. Väter sind gestutzt oder pleite. Paulus Neef der Industrie- und Handelskammer. von Pixelpark, Thomas Haffa von EM.TV Wahrscheinlich ist Ebay erfolgreich, weil DREILINDEN BEI BERLIN, GEWERBEGEBIET oder Peter Kabel von Kabel New Media. Philipp Justus die Moderne gekillt hat. Drinnen sieht es aus, als gäbe es kein Die New Economy war eine Utopie, und Oder das, was mal für Moderne gehalten Draußen. Drinnen ist die Welt flirrend, mit Utopien lässt sich kein Geld verdie- wurde. Seine Belegschaft wird demnächst bunt, jugendlich, anders. Draußen ist die nen. Die Moderne war ein Intermezzo in einen Betriebsrat gründen. Welt zusammengebrochen. Deutschland. Drinnen, in einem Gebäude aus Glas So sieht es aus, wenn man aus diesem PEKING, CHINA LIFE TOWER Wenn Thys- und Stahl am früheren Grenzübergang Glaspalast in Dreilinden hinausguckt auf senKrupp-Manager Hartmut Heine aus Dreilinden, stehen auf jeder Etage kleine die Welt da draußen. seinem Bürofenster im 22. Stock schaut, Sessel, die aussehen wie große Bonbons, Und drinnen? Drinnen sitzt der Mann wird sein Blick weit, und der Mensch un- gelbe, grüne, rote. Die Menschen, die hier für Öffentlichkeitsarbeit und versorgt das ten ist klein wie ein Punkt. Glitzernde Wol- arbeiten, tragen Bänder um den Hals, an Land quartalsweise mit neuen Superzah- kenkratzer bis zum Horizont, mehrstöcki- denen Chipkarten hängen. Sie öffnen da- len. Seit 2001, dem Jahr, in dem die New ge Stadtautobahnen. „Alles neu, alles mit die Glastüren in ihrem Gebäude, Economy zu Tode kam, schreibt Ebay in smooth“, sagt Heine, alles nicht so grau Schlüssel sind nicht mehr modern. Man re- Deutschland schwarze Zahlen. Zwischen und depressiv wie vor 21 Jahren, als er Pe- det auch nicht von Unternehmensgeist, Juli und September hat Ebay über seine king das erste Mal sah. Alles neu, jeden

138 der spiegel 26/2002 Gesellschaft

Tag. Man solle ihn nicht un- les hier laufe, sonst glaube er es nicht. Von Vor vier Jahren hatte die wohl berühm- terschätzen, den Chinesen, Terminschwierigkeiten, von Kosten, die die teste Feldhamsterkolonie Deutschlands auf sagt Heine. Staunen bloß. Chinesen nicht tragen wollen, vom gegen- dem Uni-Gelände für einen Baustopp ge- Mit Respekt. Der Chinese, seitigen Misstrauen, von einer Schwebe- sorgt. Die zuständige Generaldirektion der sagt Heine, kenne „kein bahn, die China kürzlich selbst baute, Europäischen Gemeinschaft wurde bemüht, Rumdiskutieren, er macht“. spricht Heine nicht. Das 1,3 Milliarden und die Staatsanwaltschaft Göttingen ging An der Wand neben dem Euro teure Prestigeprojekt, mit dem China der Frage nach, ob während des Baus viel- Fenster hängt Heines Vision: Weltführer werden würde, muss auf die leicht ein geschützter Hamster unter die Buntgemarkerte Landkarten Schienen, pünktlich, ohne Hindernisse. Dampfwalze gekommen sein könnte. Da mit Linien, die kreuz und Dann erst verhandelt China über weitere sich keine Leichen fanden, durfte man am quer durch das riesige Land Strecken, Peking–Schanghai etwa, 1300 Ki- Ende doch bauen, ein 25 Millionen Euro führen. 8800 Kilometer für lometer zur Olympiade 2008. teures Biozentrum sowie ein Physikinstitut. Chinas neue Magnetschwe- Den Termin für die Pilotfahrt habe der Dennoch galt Cricetus Cricetus, der bebahn, acht ist eine Glücks- Chinese sogar vorverlegt. Einen Tag früher Feldhamster, bei Umweltschützern als der zahl in China. Die Schwebe- als geplant, man könnte auch sagen ein moralische Sieger. Er war der neue Ver- bahn aus Deutschland, der Jahr, am 31. Dezember 2002, soll Minis- bündete im Kampf gegen Großprojekte. Transrapid, der Deutschen terpräsident Zhu Rongji die 31 Kilometer Tatsächlich tauchten plötzlich Feldhamster Sorgenkind. 1984 bis 1991 mit Tempo 430 entlangschweben, in sie- auf, wo man sie nicht vermutet hätte: In entwickelt auf einer Test- ben Minuten. Im Anschluss die Silvester- Sachsen verzögerten etwa 70 Tiere den strecke im Emsland, Anfang party. Der deutsche Bundeskanzler, habe Bau eines Gebrauchtwagenzentrums von 2000 verschmäht für die der Chinese neulich gescherzt, sagt Heine DaimlerChrysler, bei Mannheim standen Strecke Hamburg–Berlin. Im und grinst, sei mit von der Partie. Deutsch- sie einer Veranstaltungshalle im Weg, und Januar vergangenen Jahres land sei dran, und bald, sagt Heine, wer- bei Aachen musste die nordrhein-west- endlich verkauft an China. de der Transrapid auch in Deutschland fälische Landesregierung rund 1,3 Millio-

HANS-GÜNTHER OED Seit März 2001 bauen Tau- schweben. nen Euro für ein Zucht- und Wieder- sende Chinesen in himmel- Neben seiner Vision an der Wand hat ansiedlungsprogramm ausgeben, um einen blauen Overalls und orangefarbenen Hel- Heine das Bild eines chinesischen Künstlers geplanten Gewerbepark zu retten. men sieben Tage die Woche die Zubrin- hängen lassen. Darauf ein Glatzkopf im Jetzt wird in Göttingen wieder gebaut. gerstrecke vom Pudong-Flughafen ins Fi- Lotussitz. „Buddha in der Wüste“, sagt Aber diesmal wird an die Feldhamster ge- nanzzentrum von Schanghai. Siemens und Heine. Diese Zuversicht, diese Geduld. dacht. Sie werden noch einmal umziehen ThyssenKrupp liefern Technik und Züge. müssen. Auf der anderen Seite der Straße Das Sagen aber hat Commander Wu, ein GÖTTINGEN, UNIVERSITÄT Natürlich sind soll bis zum Jahr 2006 eine 8,4 Hektar Topmann, laut Heine. Die beiden Bahn- keine Hamster zu sehen. Wäre ja auch ein große Ausgleichsfläche bereitstehen, hams- höfe stehen schon. 2500 Pfeiler, die den Wunder, schließlich sind die Tiere so sel- tergerecht bewirtschaftet und mit einem Fahrweg tragen werden, durchpflügen die ten, dass sie geschützt werden müssen. Und Zaun geschützt. Endres ist zufrieden, auch Gemüsebeete von Pudong. 5000 Bauern außerdem ist hier, am Rande des Univer- wenn die Ausgleichsmaßnahme für viele wurden umgesiedelt, niemand hatte sie ge- sitätsgeländes in Göttingen, eine Riesen- Tiere zu spät kommen wird. „Es geht nicht fragt. In Deutschland bange man mit dem baustelle entstanden – genau dort, wo unbedingt um das einzelne Tier“, sagt er. „Frosch, der nicht mehr laicht“, sagt Hei- eigentlich die Hamster herumspazieren „Es geht um das Prinzip Feldhamster.“ ne, „das ist krank“. sollten. Immerhin: Jürgen Endres vom Na- Nach Schanghai kommt jetzt oft hoher turschutzbund Deutschland entdeckt in der HAMBURG, BEHÖRDE FÜR INNERES Ein Besuch aus Deutschland, der müsse mit ei- Nähe einen frisch ausgehobenen Bau. Es Baugerüst mit Stacheldraht verhüllt die genen Augen sehen, wie reibungslos das al- gibt also noch Feldhamster zu verteidigen. Behörde für Inneres, als ob sie sich schüt- ANDY RIDDER (L.);ANDY PRESS (R.) AXEL KIRCHHOF / ACTION Erfinder Panik, Internet-Firma Ebay: Die Jünger der New Economy glaubten, dies sei eine Revolution

der spiegel 26/2002 139 DPA Werftarbeiter bei Betriebsversammlung (im Emsland): Die Gesellschaft so umbauen, dass sie den Unternehmen nützt? zen will. Im vierten Stock eine Parade ver- bahnhof Europas größte offene Drogen- ganisierten Kriminalität, kein Wort zum schlossener Türen und das Büro des In- szene ihr Zuhause hatte. Kampf gegen den Terror in jener Stadt, in nensenators. Zwei Leibwächter lümmeln Schill hat 2,5 Millionen Euro für Über- der Mohammed Atta und seine Freunde im Nebenraum, eine Vorzimmerdame stunden von Polizisten bereitgestellt und den Anschlag auf das World Trade Center wacht vor einem Gemälde in Öl, das ihren 25 Millionen für 530 neue Beamte und An- vorbereitet haben. Chef zeigt. Den Kopf leicht zur Seite ge- gestellte. Er hat die Polizeikräfte auf St. Vor einer Schrankwand aus hellem Holz, legt, die Hände nach vorn gestreckt, soll Georg konzentriert und den Einsatz von darin juristische Fachliteratur und auch der das Porträt Dynamik und Nachdenklich- Brechmitteln bei Festnahmen angeordnet. Jubiläumsband „100 Jahre Deutscher Fuß- keit ausdrücken, es wirkt sehr kitschig. Statt Platzverweise gibt es jetzt Haftbefeh- ball-Bund“, spricht Schill über „Vomitiv- Im Raum dahinter sitzt Ronald Barnabas le. Rund 100 der insgesamt 140 bekannten mittelvergabe“ und „Abschiebungen von Schill, 43, seit 1. November Innensenator Intensiv-Dealer sitzen im Gefängnis. Viele ausreisepflichtigen Ausländern“. Es ist der von Hamburg, vor sich zwei langweilige Jargon eines Juristen im geho- Blatt Papier aus dem Com- Die größte permanente Reformbewegung benen Dienst. Schill ist so wenig ein Poli- puter eines Referenten: die tiker wie seine Partei eine Partei ist, zu- Bilanz seiner sieben Mo- des Landes? Vielleicht sind es McKinsey sammengeflickt aus Freunden und Verirr- nate im Amt. Es ist eine und seine Kollegen Unternehmensberater. ten, ohne Programm und ohne Basis. positive Bilanz. Europas Das Wenige, was Schill seinen Wählern größte offene Drogenszene gibt es nicht von ihnen sind Afrikaner unbekannter Na- versprach, hat er so schnell wahr gemacht, mehr. tionalität, sie sollen abgeschoben werden, dass man sich fragt, womit er den Rest sei- Manchmal, so scheint es, kann Politik dem afrikanischen Land, das sie aufnimmt, ner Amtszeit verbringt und warum ihn die so einfach sein. Eine kleine Idee, ein biss- verspricht Schill 5000 Euro pro Dealer. Leute ein zweites Mal wählen sollen. chen Wille, ein wenig Macht. Es scheint einfach zu sein, Deutschland Womöglich weiß er das selbst nicht. Vor ein paar Monaten noch hieß es, die zu verändern. Man muss sich nur wenig Aber er weiß, dass sein Leben schwieriger Stadt muss leben mit Junkies und mit Dea- vornehmen. wird. Denn jetzt muss er sparen. Und Jun- lern, Diebstählen, Prostitution. Sie muss Schill war mit zwei Versprechen zur Wahl kies und Dealer, Überfälle, Diebstähle, sich damit abfinden, dass die Polizei einen angetreten: Er wollte die offene Drogen- Prostitution, totgespritzte Heroinabhängi- Dealer erwischt und dass er am nächsten szene zerschlagen. Und er wollte innerhalb ge – das alles gibt es natürlich immer noch Tag wieder Drogen verkauft. Und sie muss von 100 Tagen die Kriminalität in Hamburg in Hamburg. Man sieht sie nur nicht mehr. am Ende jeden Jahres eine hässliche Sta- halbieren. Noch nicht mal im Amt, nahm er tistik ertragen. 102 Drogentote, 10000 Jun- das zweite Versprechen zurück. DÜSSELDORF, KÖNIGSALLEE Es ist Mit- kies, 2200 Dealer waren es im Jahr 2001. Eine kleine Idee, ein bisschen Macht, tagszeit, und in der Zentrale von McKinsey Irgendwie schien die Stadt fast ein wenig ein wenig Wille – lieb gewonnen haben ihn & Company in Düsseldorf brechen die Be- stolz zu sein auf ihre liberale Politik und die Hamburger trotzdem nicht. Sie ver- rater auf, um in den Restaurants rund um darauf, dass im Viertel um den Haupt- missen eine Strategie: kein Wort zur Or- die Kö-Galerie einen Salat mit Puten-

140 der spiegel 26/2002 Gesellschaft bruststreifen zu essen. Sie kommen in klei- Manager: Politiker aller Parteien reden wie nen geht die Reinigungsbrigade an die Ar- nen Gruppen, und einmal sind es vier Män- Unternehmensberater. beit, und in seinem Kongressbüro sitzt ner in einer Reihe, sie tragen dunkle Ho- Oft, sagt Jürgen Kluge, werde er gefragt, Frank Bsirske, der Chef der Dienstleis- sen und weiße Oberhemden, dazu Kra- ob seine Arbeit demokratisch legitimiert tungsgewerkschaft Ver.di und telefoniert. watten in gedeckten Farben. Sie sind alle sei. Meist sagt er, seine Firma arbeite mit Bsirske empfängt im steingrauen Cord- schlank, und ihre Bewegungen sind schnell. allen größeren Parteien zusammen, bevor- anzug und sagt, er versuche, „Vernet- Sie wirken wie eine zivile Spezialeinheit, zuge niemanden. Eine etwas krumme Ant- zungsprozesse“ anzustiften. Er wolle seine die im Auftrag einer geheimnisvollen wort auf eine sinnlose Frage. Es geht doch riesige Organisation mit fast drei Millio- Macht unterwegs ist. eher darum: Weiß die Gesellschaft, wohin nen Mitgliedern „von hinten führen“, das Jetzt gehen sie nur essen, aber es sind sie grundsätzlich will mit ihren Reformen? heißt, nicht vorneweg marschieren mit genau solche Trupps, die heimlich die Ge- Hurra, „und dann dreht man sich um, und sellschaft umbauen, die unermüdlich dar- BERLIN, ICC Die DGB-Delegierten kom- da ist keiner mehr“. an arbeiten, dass dieses Land effizienter men heraus mit Gesichtern, als hätten Seit Bsirske sich müht, „eine Brücke in wird, dass sich so ziemlich jeder Lebens- sie endlich Feierabend. Der DGB-Bun- die Gesellschaft“ zu schlagen, kämpft er bereich durch und durch ökonomisiert. deskongress ist zu Ende, an der Fassade gegen diese größten unsichtbaren Feinde, McKinsey Deutschland beschäftigt über des Messegebäudes ist der Slogan „Neue gegen das Image der gewerkschaftlichen tausend Berater. Sie waren in jedem größe- Zeiten, Neue Chancen“ aufgespannt, drin- Bremser, deren Herzen links schlagen, ren Unternehmen, sie waren in aber die im Kopf nicht richtig Stadtverwaltungen, in Theatern, ticken. bei Kirchen, bei Parteien. Sie wa- Doch was will er stattdessen? ren fast überall. McKinsey und die Er spricht über die Zweiteilung anderen Unternehmensberatun- der Welt in links und rechts, in gen sind die größte permanente Gewerkschaften und Unterneh- Reformbewegung des Landes. mer. Manche finden es langwei- Jürgen Kluge ist der Chef von lig, wenn man über so etwas McKinsey Deutschland. Er hat das spricht, aber, fragt er, wieso findet Gesicht eines Jungen und ein net- es niemand langweilig, wenn die tes Lächeln, das er oft zeigt. Sein Arbeitgeber sagen, Streiks passen Büro in Düsseldorf hat gläserne nicht in die Landschaft? „Das sa- Wände. Offenheit, das empfehlen gen die seit 150 Jahren. Und dabei die Berater von McKinsey auch haben sie die Kompetenzvermu- ihren Kunden. Was sie vortragen, tung auf ihrer Seite.“ klingt immer vernünftig. Wer Kompetenzvermutung. Ein

kann schon etwas gegen Effizienz / STERN MICHAEL WOLF Wort mit 18 Buchstaben. Wie sagen? zieht man die auf sich? Und wie Kluges liebstes Thema ist Bil- kommt man auf die Idee, man dung. Er sagt, für den Standort sei könne den Leuten damit signali- vor allem das Humankapital wich- sieren: Wir haben ein Ziel? tig. Man solle vorn anfangen, sagt Ver.di hat sich gerade auf die er, am besten bei den Babys in Gesundheit gestürzt und will ein den Krippen. „Was wir vorn inves- großes Rad drehen. Nach tausend tieren, kriegen wir später mit verpufften Reformen soll endlich Verzinsung raus.“ die große gesellschaftliche Debat- Bei ihm klingt das Thema Bil- te stattfinden über Effizienz, über dung so, als sei die Schule nichts Patientenrechte, über Kosten und anderes als eine Kadettenanstalt medizinischen Fortschritt, über für die Wirtschaft. Ihm fällt das das ganze weite Feld. selbst auf, und er sagt, er komme Ver.di trommelt Kirchen, Kas- da „sehr aus dem industriellen sen, Ärzte und Wohlfahrtsver- Denken“, aber man könne eine bände zusammen, bestellt wissen- Menge von der Industrie lernen. TAGEBLATT / GÖTTINGER HINZMANN CHRISTINA schaftliche Expertisen, aber nicht McKinsey wird demnächst ei- für Gemaule, nein: Man wolle nen Kongress veranstalten zum „die Gesellschaft nicht für, son- Thema Bildung. Man will sich ein- dern mit den Menschen ent- mischen, man will nicht nur Un- wickeln“. Die Gewerkschaften ternehmen umbauen, sondern die hätten Kraft zur Gestaltung. Sie Gesellschaft. Man will die Gesell- seien nicht nur „Tarifmaschinen“. schaft so umbauen, dass sie den Ist das eine Drohung? Keine Unternehmen nützt. Drohung, sagt Bsirske. Aber „die Alles ist eine Standortfrage. Das Politik registriert aufmerksam kann man im Reform-Kraftwerk diese Entwicklung“. McKinsey lernen. Aber hat nicht die Gesellschaft insgesamt diese BERLIN-CHARLOTTENBURG, PARIS Perspektive längst übernommen? BAR Wieder so ein Tag. Morgens Gibt es eine Reformdebatte, in der war das Fernsehen da. Zwi- die treibende Kraft nicht die Per- schendurch riefen die Zeitungs-

spektive der Wirtschaft einnimmt? GUNTER GLÜCKLICH fritzen an, vier, vielleicht fünf Mehr Effizienz, Strukturen eines Transrapid-Bauer Heine, Göttinger Feldhamster, Senator Schill Interviews. Und der Salon war Unternehmens, Handeln wie ein Eine kleine Idee, ein bisschen Macht – reicht das schon? sowieso voll, 20 Köpfe hatte er

der spiegel 26/2002 141 Gesellschaft

Ein Friseur als Gesellschaftspate der neuen Republik. Es gibt kein Königshaus wie in London in dieser Republik, es gibt keinen Michael Jackson. Es gibt eine Ge- sellschaft, die von einem Friseur gelenkt wird, tagsüber aus seinem Salon, abends aus der Paris Bar. In den sechziger Jahren hat er Ulrike Meinhof die Haare gefärbt, bevor die in den Untergrund ging. Als es bekannt wurde, meinten manche, er sei ein Sympathisant der RAF. Die Wahrheit war, dass er gar nicht wusste, wer die Meinhof war. „Ich war dumm wie fünf Meter Feldweg“, sagt er. Inzwischen lassen sich die Raus bei ihm behandeln und Frau Merkel und der Kanz- ler. Er hat für Gerhard Schröder eine ei- desstattliche Versicherung abgeben, in der stand, dass die Haare nicht gefärbt seien. Er ist jetzt so etwas wie der deutsche Staatsfriseur. FALK HELLER / ARGUM HELLER FALK Betende Muslime (in Nürnberg): Manche erzählen zu Hause, die Deutschen seien nett FRANKFURT, GOETHE-UNIVERSITÄT Den Konsensvorschlag trägt Peter vor, er hat zwischen den Fingern. Jetzt braucht er Rot- stadt, und mit der neuen Hauptstadt gibt es seinen Namen mit Filzstift auf Kreppband wein. die neue „Berliner Gesellschaft“. Jetzt geschrieben und vor die Brust geklebt, „Nicht den billigen und nicht den teu- heißt es, diese Gesellschaft sei spannend über ihm leuchtet das schiefe Achteck aus ren“, sagt er. und modern. Es heißt auch, dass Udo Walz einem Overhead-Projektor von der Wand Der Kellner bringt einen Saint-Emilion die neue Berliner Gesellschaft erfunden im Hörsaal IV. Es ist Samstagvormittag, es Grand Cru und zeigt das Etikett. hat oder zumindest an ihren Strippen zieht. geht ums große Ganze, Peter sagt: „Attac „Mach schon auf, damit Luft ran- Udo Walz, Friseur und Erneuerer. streitet für eine neue Weltwirtschaftsord- kommt“, sagt er. Gebe es Udo Walz nicht, dann hätte es nung, die Gerechtigkeit schafft“, Beifall, Dann bringt der Kellner geschnittenes zum Beispiel das Phänomen Shawne Borer- „wie das genau aussehen soll, müssen wir Baguette, pur. Fielding womöglich nie gegeben. Als die noch diskutieren.“ „Ratschlag“ von Attac, „So was ess ich nur mit Butter und Di- Botschaftergattin noch neu war in Berlin Bundestreffen der deutschen Globalisie- jon-Senf, sonst kannst du’s gleich wieder und eine unbekannte Maus aus Texas, rungskritik. 400 Leute sind da, manche ste- mitnehmen“, sagt er. schleppte er sie einmal ins „Borchardt“, hen kurz vor der goldenen Hochzeit, an- Er redet wie ein kleiner Kotzbrocken, auch so ein Wohnzimmer von ihm. Er stell- dere kurz vor dem Abitur. Attac-Mitglieder aber das täuscht. Es ist ein Spiel, sein Spiel. te sie Franz Josef Wagner vor, seinem aus ganz Deutschland, dazu ein paar Funk- Udo Walz, der kleingewachsene Haare- Freund, der damals Chefredakteur der Bou- tionäre vom DGB-Saar, von Pro Asyl, von schneider, der in Berlin „Prominentenfri- levardzeitung „BZ“ war. Wagner fand, Frau Medico International, von Pax Christi. seur“ heißt, sitzt auf der Terrasse der „Paris Borer-Fielding sei ein irrer Schuss. Von da Vor drei Jahren, da machten die Fran- Bar“. Es ist ein Lokal, das er sein „zweites an stand sie immer in Wagners Zeitung. zosen schon lange Furore, gab es sie in Wohnzimmer“ nennt. In Deutschland noch gar der Paris Bar ist die nicht. Jetzt ist die Rede Berliner Gesellschaft zu von 6500 Mitgliedern. Hause. Die Tische in der „Es kommen Leute, die Paris Bar sind immer re- resigniert hatten“, sagt serviert, aber wenn man Hugo Braun aus Düssel- mit Udo Walz verabredet dorf, 65, einer der An- ist, kann man sich einen führer, „es kommen aussuchen. welche, die ihren jahre- Walz lebt seit 1963 in lang aufgestauten Un- Berlin, es gab immer mut loswerden wollen, Prominenz in seinem und die meisten kom- Salon. Inge Meysel, men bei Attac zum ers- Nadja Tiller, Walter Gil- ten Mal in die Politik.“ ler. Das war vor der Sie wollen kämpfen Wende. Wäre die Wen- getreu des Mottos: Eine de nicht gekommen, andere Welt ist möglich. „dann wäre Udo Walz Und anders werden ein Lokalprominenter muss mindestens alles. geblieben“. Er redet Die WTO, die EU, der über sich selbst häufig in IWF, die G-8, GATS und der dritten Person. Jetzt TRIPS und TRIMS und gibt es die neue Haupt- überhaupt. Ein ernst-

BREUEL (L.); (R. O.); ENDERS STEFAN (R. U.) BERND SETTNIK / DPA hafter „Attacki“ kann * Mit Tanzpartnerin Sabine Friseur Walz*, Unternehmensberater Kluge (o.), Gewerkschafter Bsirske (r.) alle Kürzel der Welt- Christiansen. Ein Haareschneider als Gesellschaftspate der neuen Republik wirtschaft entziffern. Es

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Werbeseite unter Englisch, und dass die Leute den Glauben an die Wissenschaft hätten. Zu Hause in Hyderabad sei die Verwaltung großteils digitalisiert. Wer ein Baby be- kommt, geht zum nächsten kommunalen Computer und meldet das Kind an. Wer sein Baby dagegen in Berlin-Rei- nickendorf bekommt, der fragt sich rasch, in welcher Welt er lebt. Im März bekamen die Turumellas eine Tochter. Sie sollte Sivaani heißen, die „Friedens- stifterin“. Doch es bedurfte einer Woche, vier Besuche im Rathaus („Bitte warten Sie, bis Ihre Nummer aufgerufen wird“), zweier Termine in der Botschaft und schlussendlich eines Wutanfalls, bis Sivaa- ni ihren Namen tragen durfte. Die Beamtin verlangte ein Zertifikat, dass Sivaani ein weiblicher Vorname sei.

DARKO BANDIC / AP BANDIC DARKO Turumella lief zur Botschaft und holte sich Globalisierungskritiker*: Leute, die ihren jahrelang aufgestauten Unmut loswerden wollen eine Bescheinigung. Er dachte: „Die Deut- schen erlauben, dass ein Mann mit einem geht um Gerechtigkeit, weltweit. Um Frie- an der Volkshochschule, liest indische Philo- Mann Hochzeit feiert. Aber sie fragen, wel- den. Um den Stopp aller Ausbeutung. Um sophie und sei ein „citizen of the world“. ches Geschlecht ein Vorname hat?“ ein gutes Leben für alle. Was ihn nicht daran hindert, wortreich und Dann fragte die Beamtin, weshalb Turu- Ohne Geschäftsordnung geht es nicht. In gebildet zu begründen, weshalb Indien gegen mella das deutsche Namensrecht anwen- Frankfurt rangeln sie schon um Delegier- Pakistan in den Krieg ziehen müsse. den wolle. „Ich sagte, das sei mir egal, ich tenschlüssel und Konsensprinzip, um „Deutschland ist keine Stimmrechte, Frauenquoten, Räte, Fristen. moderne Gesellschaft“, sagt Deutschland, sagt der IT-Mann aus Nach dem rauschhaften Anfang der ersten Turumella und fügt tröstend Monate beginnen die Mühen der Ebene hinzu, dass dieses Land Indien, sei nicht zurückgeblieben – verglichen mit dem Wort: „Strukturdebatte“. durchaus nicht zurückge- mit Dubai, Zypern oder Saudi-Arabien. Was wird aus Attac in Deutschland? Wo blieben sei, verglichen mit es so schwer ist, außerhalb geordneter Bah- Dubai, Zypern oder Saudi-Arabien, ande- wollte nur einen Namen für mein Kind.“ nen zu denken? Wo auch soziale Bewe- ren Ländern, in denen Turumella gearbei- Die Beamtin schüttelte den Kopf, „sie woll- gungen irgendwann im Vereinsregister ein- tet hat: „Es ist ein Land voller Rohstoffe. te einen Beweis, dass ich Turumella heiße getragen sind? Und Spendenquittungen Doch für IT braucht man immaterielle Din- und dass dies ein echter Nachname sei. steuerlich absetzbar? Ist sie möglich, die ge: brains.“ Der Vorteil Indiens sei, dass Mein deutscher Führerschein und mein andere Welt? In Deutschland? alle Menschen drei Sprachen sprächen, dar- Pass reichten ihr nicht.“ Aber es reichte Madhava Turumella: „Ich ohrfeigte BERLIN, FORSA-INSTITUT Im Juni ver- mich und schrie: Helfen Sie mir bitte! gangenen Jahres kam Madhava Turu- Wir sind keine Flüchtlinge. Wir sind mella per Greencard nach Deutsch- eingeladen. Wir sind nicht arm. Ihr land. „Aus kulturellem Interesse“, sagt wollt etwas von uns haben, nicht um- er. Natürlich hätte er auch in den USA gekehrt.“ oder in Australien arbeiten können. Er Seine Frau lag zu diesem Zeitpunkt spricht zehn Sprachen und hat ein von noch im Krankenhaus, im Koma. Es Bill Gates persönlich unterzeichnetes hatte Komplikationen bei der Geburt Diplom als Systemingenieur. Es sei nicht gegeben. Das Baby pendelt mit dem wegen des Geldes: „Mein Großvater Kopf und hält keinen Blick. war 1941 in Berlin. Er war Unabhängig- „Nun, es gibt eben Bürokraten, und keitskämpfer und hatte seine rechte es gibt Deutsche. Ihr müsst euch än- Schulter verloren, als er eine Bombe dern, weil die Welt sich ändert. Modern herumschleppte. Er erzählte immer von sein heißt, die Situation ohne jedes Berlin und wie nett die Leute dort sei- ‚aber‘ zu akzeptieren, wie in Hydera- en.“ Das habe ihn neugierig gemacht. bad.“ Seine Frau ist Mathematikerin Turumella arbeitet als IT-Manager und Absolventin einer Eliteuniversität. beim Meinungsforschungsinstitut For- Sie möchte Deutschland so schnell wie sa. Er ist 34, spricht rasend schnell und möglich verlassen. „Sie mag nicht an ei- hat ein Grübchen, wenn er lacht. Und nen Unglücksfall bei der Geburt glau- er lacht oft. Die Welt als solche ist kein ben“, sagt Turumella. „Aber ich denke, Problem für einen IT-Experten. Turu- wir bleiben trotzdem noch ein wenig. mellas Computer meldet ihm täglich, Dann werde ich mich selbständig ma- wie viel Euro er für Benzin, Steuern, chen.“ In Australien oder Indien. Versicherung ausgegeben hat und über- Uwe Buse, Fiona Ehlers, weist automatisch jeden Überschuss an Ullrich Fichtner, Matthias Geyer, Hauke Goos, Lothar Gorris, einen Zukunftsfonds. Er lernt Deutsch (O.); VARNHORN ANDREAS MIKE HUGHES (U.) Ralf Hoppe, Dirk Kurbjuweit, Claus „Attac“-Treffen in Frankfurt, Zuwanderer Turumella Christian Malzahn, Alexander Smoltczyk * Im Juli 2001 in Genua. Ohne Geschäftsordnung geht nichts

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

AUTOREN „Ludergeruch des Genres“ Der Germanist und „Budden- SPIEGEL: Gilt diese De- brooks“-Herausgeber Eckhard finition in beiden Fäl- Heftrich, 73, über den Schlüs- len, wo es ganz offen- selroman am Beispiel des um- sichtlich um den jüdi- strittenen Walser-Buchs „Tod schen Kritiker Marcel eines Kritikers“ Reich-Ranicki geht? Heftrich: Ich kenne bis- SPIEGEL: Herr Heftrich, in dieser her nur den Roman Woche erscheinen zwei Bücher, von Walser – der natür- die im Ruf stehen, Schlüsselroma- lich weiß, welcher Lu- ne zu sein: „Tod eines Kritikers“ dergeruch diesem Gen- A. J. SCHMIDT A. J. SOPHIE CALLE von Martin Walser und Bodo re anhaftet, das seine Sophie-Calle-Projekt „B, C, W“ (1998) Kirchhoffs „Schundroman“. Was Heftrich Herkunft aus dem Res- genau ist ein Schlüsselroman? sentiment nie ganz ver- KUNST Heftrich: Ganz einfach ein Text in bergen kann. Daher lehnt er den Begriff Romanform, in dem reale Personen und für sich ab. Die schamlose ihre Schicksale in leicht verfremdeter SPIEGEL: Und beruft sich auf Thomas Form auftreten und von den Zeitgenos- Manns Klassiker „Buddenbrooks“, den Schattenfrau sen unmittelbar erkannt werden kön- Sie soeben im Rahmen der neuen nen. Zweck ist die Enthüllung, das Frankfurter Ausgabe textkritisch ediert eit Jahren verwirrt die französische Lächerlichmachen; zumeist versucht der und ausgiebig kommentiert haben. SKünstlerin Sophie Calle, 48, ihr Pu- Autor, Rache zu nehmen. Heftrich: Interessant, dass Walser sich blikum – lange Zeit wurde sie deshalb auf Mann beruft, den er jahrzehntelang nicht ernst genommen, mittlerweile aber geschmäht hat. Jedenfalls beruft er sich wird sie geradezu verehrt. Calle erzählt auf die damalige „literarische Praxis“, drollige Geschichten, die zwar unglaub- womit er eigentlich das Missverständnis lich klingen, für die sie aber stets Bewei- der zeitgenössischen Leser meint. Er hat se vorlegt. Da wäre das Adressbuch, das insofern Recht, als die „Buddenbrooks“ sie auf der Straße gefunden haben will. tatsächlich kein Schlüsselroman sind. Sie telefonierte die Nummern ab, erkun- Thomas Mann wollte weder die Lübe- digte sich nach dem Besitzer – und ver- cker Bürger bloßstellen noch gar Rache öffentlichte die Ergebnisse ganz indis- an ihnen nehmen – liegt das bei Walser kret in einer Tageszeitung. Oder sie bat nicht doch anders? ihre Mutter, einen Privatdetektiv zu be- SPIEGEL: Durchaus, aber auch Thomas auftragen, um sie zu beschatten. Sie Mann hatte immer wieder Ärger, wenn selbst verfolgte einen flüchtigen Bekann- er Zeitgenossen als Modelle benutzte. ten von Paris bis nach Venedig. Mal ließ Heftrich: In der Tat. Das Problem be- sie sich der Abwechslung halber in ei- gleitete ihn lebenslang, mit allen Recht- nem Hotel als Zimmermädchen anstel- fertigungszwängen und Skrupeln. Für len, öffnete fremde Koffer und Papier- ihn machte die „Beseelung“, nicht körbe und fotografierte den Inhalt. Was die Erfindung den Dichter aus, und stimmt, wie viel ist Fiktion, und spielt er hat sich ausgiebig in der Realität es überhaupt eine Rolle, ob sich Calles bedient. Realität genau so zugetragen hat? SPIEGEL: Ging es dabei auch um Juden? Längst geht es ihr nicht mehr nur um Heftrich: Ja, und ein einziges Mal ist

die unterhaltsame Psychologie des Vo- ZÜRICH / DPA / KEYSTONE THOMAS-MANN-ARCHIV Hass bei ihm schöpferisch geworden, yeurismus, sondern um ernsthafte, aber Thomas Mann (1954) ausgerechnet gegen einen jüdischen nicht minder verzwickte Seiten der Kritiker, Theodor Lessing. Der aller- Wirklichkeit: um Erinnerungen und dings hatte selbst einen anderen Juden, Deutungen. Sie fragte blinde Menschen den Thomas Mann schätzte, mit anti- nach ihrer Vorstellung von Schönheit semitischen Stereotypen karikiert. Im und fotografierte trostlose Plätze in Ost- „Joseph“-Roman taucht Lessing als Berlin, an denen einst pompöse Denk- böser Zwerg Dûdu auf, als Sexual- mäler standen. Das Sprengel Museum in protz, was übrigens erst nach 60 Jah- Hannover widmet der klugen Phantastin ren aufgedeckt wurde. An dem Beispiel vom kommenden Wochenende an eine lässt sich zeigen, worin der Unterschied Ausstellung – enthalten in diesem Hom- zwischen einem ressentimentgelade- mage-Paket ist der „Spectrum“-Preis nen Schlüsselroman und der klugen PETER PEITSCH / PEITSCHPHOTO.COM PETER PEITSCH für internationale Fotografie. Aber der SECEN DARIO Verschlüsselung einer realen Figur ist beinahe zu real, um nach Calles Ver- Kirchhoff Walser besteht. ständnis wahr zu sein.

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LITERATUR Auf der Flucht arry ist ein Mann Hohne Leidenschaf- ten – alles, woran sein Herz einst hing, hat er verloren. Stumpf lebt er vor sich hin, bis die schöne Sonja sein Taxi besteigt und sich nach Luxemburg kutschieren lässt. Bald hat Harry ernsthafte Probleme am Hals: Er hat vier Millionen Dollar und ein Mädchen im Wagen, beides will die russische Mafia zurück. Und Harrys Tod wollen sie obendrein. So rasant beginnt der Münchner Schriftsteller Günter Ohne- mus, 56, seinen Roman „Reise in die Angst“, ein Buch wie ein abenteuerliches Roadmovie, ein spannender Thriller und gleichzeitig eine bewegende Liebesge- Proben zur Berliner Inszenierung der Oper „Saint François d’Assise“ schichte. Während Harry und Sonja durch Europa und Amerika gehetzt werden, MUSIKTHEATER entwickelt Harry in wehmütigen Erinne- rungsrückblenden das Drama seiner Ver- gangenheit: Er erzählt, was vor mehr als Ein Heiliger und 49 Würfel 20 Jahren mit seiner Frau Ellen und seiner Tochter Jessie passierte, warum er seine as gottgefällige Überlängsel „Saint François d’Assise“, die einzige Oper des französi- Arbeit als Schriftsteller aufgab, wie er sei- Dschen Neutöners und Ornithologen Olivier Messiaen (1908 bis 1992), gilt mit seinen ne sexuellen und sozialen Kontakte auf aparten Klangfarben, multikulturellen Einflüssen und seinem exotischen Tirili als Schlüs- Puffbesuche beschränkte. Der preisge- selwerk avantgardistischer Eigenbrötlerei – und als Stück, bei dem die Opernhäuser Mut krönte Autor Ohnemus erlaubt sich amü- und Muskeln zeigen können: Auch 19 Jahre nach der Pariser Premiere sind Aufführungen sante Schlenker, etwa Betrachtungen über des neutönerischen Hochamts sehr selten. Am kommenden Samstag wagt sich nun die Deut- die russische Seele und ostdeutsche Skins, sche Oper Berlin an das seltsame szenische Oratorium, allerdings nicht ganz nach Plan. Ur- und verhindert so jegliche Gefühlsduselei. sprünglich wollten sich der Architekt Daniel Libeskind, 56, der Erbauer des Jüdischen Mu- Sein elegant geschriebener Roman ist seums in Berlin, als szenischer Konzeptkünstler, Bühnenbildner, Kostümschneider sowie auch eine poetisch-zärtliche Hymne auf Johann Kresnik, 62, als Regisseur und Choreograf die Arbeit teilen. Das „Zusammentref- einen romantischen Melancholiker. fen zweier ganz unterschiedlicher Perspektiven und Arbeitsweisen“, ließ sich Libeskind noch im jüngsten Hausmagazin der Bühne vernehmen, sei „Bestandteil unseres gemein- Günter Ohnemus: „Reise in die Angst“. Droemer Ver- samen Denkens“. Doch Mitte Mai war Schluss mit der Gemeinsamkeit: Die „inhaltlichen lag, München; 304 Seiten; 18,90 Euro.

Kino in Kürze

„Mord nach Plan“. Im Sog infantiler Größenphantasien begehen „Sexy Beast“ zeigt den zwei High-School-Schüler den scheinbar perfekten Mord – „Gandhi“-Darsteller Sandra Bullock als ruppige Kriminalistin holt die beiden durch Ben Kingsley als beharrliche Indiziensuche in die tödliche Realität zurück. Mit Mann, der Gewalt Blick auf den historischen Mordfall Leopold/Loeb (Chicago, predigt und über Lei- 1924) hat Barbet chen geht. 20 Jahre Schroeder diesen lang stand der Star in der Filmge- unter dem Fluch der schichte oft zitier- guten Tat, suchte mit ten Stoff halb als fast jeder neuen Rolle

Psychodrama fra- verzweifelt das Böse FILM SENATOR giler Individuen im Menschen und hat Szene aus „Sexy Beast“ im Spannungsfeld es nun endlich gefun- zwanghafter Ver- den: Zum Killer, bei dessen Anblick selbst hartgesottene strickungen und Gangster bereits in Leichenstarre zu verfallen scheinen, stili- halb als konventio- siert ihn der Werbe- und Videoclip-Regisseur Jonathan Glazer nellen, bisweilen in seinem Spielfilmdebüt. In dieser ambitionierten, manchmal

WARNER BROTHERS WARNER doch zähgängigen sehr kargen, dann wiederum ziemlich wüsten Genre-Variation Bullock in „Mord nach Plan“ Thriller inszeniert. aus England liefert Kingsley sein Meisterschurkenstück.

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BEUTEKUNST Appell zur Offenlegung ie Denkmalschutzbehörde von Kali- Dningrad, dem früheren Königsberg, will verschollene deutsche Kunstschätze aufspüren, die sich in russischem Privat- besitz befinden – dies sei 57 Jahre nach Besetzung der einstigen Ostpreußen- Metropole ein überfälliger Schritt zur Ge- Libeskind schichtsbewältigung. Im örtlichen Fern- sehen wurde vorige Woche dazu aufge- und ästhetischen Posi- rufen, in Frage kommende Gegenstände tionen beider Künstler“ begutachten zu lassen und zumindest hätten sich als „zu un- kurzzeitig internationalen Fachleuten zu- terschiedlich“ erwiesen, gänglich zu machen – im Rahmen einer meldete die Intendanz; Ausstellung, die zu Jahresende im Ge- Kresnik verzichtete. Da- bietsarchiv gezeigt werden soll. Rückgabe mit stand der (bis auf der Kulturgüter und Anonymität der Be- eine Saarbrücker „Tris- sitzer werden zugesichert. Gerade in den tan“-Ausstattung) uner- Händen der Kaliningrader befinden sich

FOTOS: BERND UHLIG FOTOS: fahrene Opern-Regis- noch immer viele deutsche Objekte. seur Libeskind allein vor Auch Teile der einst im Schloss unterge- der gigantischen Aufgabe, die er jetzt stan- brachten Prussia-Kollektion, eine der be- desgemäß zu bewältigen versucht – archi- deutendsten archäologischen Sammlun- tektonisch. Dreh- und Angelpunkt seines gen Europas, befinden sich noch in der Konzepts ist eine Anlehnung an jene „Ar- Stadt: Ein Ex-KGB-Offizier hat die besten chitecture Writing Machine“, die er für die Stücke in seinen Besitz gebracht – für Biennale in Venedig entworfen hat. Die Ber- die Herausgabe fordert er 50000 Dollar. liner Bühne wird von einer nach hinten aufsteigenden quadratischen Fläche be- herrscht, deren Spitze in den Zuschauer- raum zeigt. Diese Spielfläche besteht aus sieben mal sieben Würfeln, die nach einer von dem Mathematiker Cecil Balmond be- rechneten Matrix rotieren, deren vier sicht- bare Seiten unterschiedlich gestaltete Ober- flächen aufweisen und die bei raffinierter Lichtregie eine Vielzahl von Stimmungen und Effekten erzeugen kann. Mal sehen, ob Libeskind mit seinem Rotationsprinzip die

Quadratur des Kreises gelingt. AKG Königsberger Schloss, Schlossmöbel

AUSSTELLUNGEN Verspielter Hesse r begann, wie so oft, auf der freien Rückseite eines alten Brie- Efes: „Dreimal wird X geboren“, notierte Hermann Hesse An- fang 1932. Der Held, erst „kleiner Häuptling“ oder „Regenma- cher“, dann Reichsgründer, Mönch und endlich „jetziger X“, wird später Josef Knecht heißen. Doch schon im Entwurf ist er am Ziel „höchster Perlenspieler“. Tastend, aber präzise beginnen so die Notizen für den Roman „Das Glasperlenspiel“ (1943). Jetzt, zu Hesses 125. Geburtstag, erzählt das Marbacher Schiller- Nationalmuseum die Entstehungsgeschichte des Welterfolgs (Gesamtauflage: über 5 Millionen). In liebevoller Spurensuche belegt die neue Direktorin Heike Gfrereis, dass die historischen Recherchen für den Dichter ein Ausgleich zum Grauen des Kriegs wurden. Aber auch manches Spiel im Spiel kommt ans Licht: So ließ sich Hesse beim erfundenen lateinischen Buchmot-

K. DETTNER to vom Kölner Freund und Zigarrenhändler Joseph Feinhals hel- Hesse (1938) fen – und verewigte ihn dann listig als Herausgeber „Collofino“.

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JONATHAN FRANZEN Talkshow aus. Franzen hat zwei ältere Geschwister landete im Sommer 2001 in den USA einen Sensa- und wuchs in einem Vorort von St. Louis auf, sein tionserfolg: „The Corrections“, jetzt auf Deutsch Vater war Bauingenieur, seine Mutter Hausfrau. Er erschienen*, wurde als „Meisterwerk“ („Publisher’s studierte Germanistik am Swarthmore College in Weekly“) gefeiert und stand 29 Wochen lang in der Pennsylvania und in Berlin. Sein erster Roman „The US-Bestsellerliste. Franzen, 43, provozierte einen Twenty-Seventh City“ erschien 1988. Die Politsatire Skandal, als er sich abfällig über den Buchclub von gefiel zwar den Rezensenten, war aber, ebenso wie Oprah Winfrey äußerte, in den die populäre TV- sein zweites Buch „Strong Motion“ (1992), kein Moderatorin seinen Roman aufgenommen hatte – Verkaufserfolg. Franzen war mit der Autorin Valerie Winfrey lud den Schriftsteller daraufhin aus ihrer Cornell verheiratet und lebt in New York.

SPIEGEL-GESPRÄCH „Das Leben ist wie Godzilla“ Der Schriftsteller Jonathan Franzen über die Herausforderung, einen Gesellschaftsroman zu schreiben

SPIEGEL: Mr. Franzen, Ihr brillant erzählter, mit skurrilen, quicklebendigen Szenen gefüllter Familienroman „Die Korrektu- ren“ wird in den USA gefeiert wie kein anderes Buch seit Jahren. „Großartig, alles, was wir von einem Roman verlangen“, preist ihn die „New York Times“. Seit mehr als 20 Jahren mühen Sie sich als Autor ab – nun das. Hat Sie das Ausmaß des Erfolgs überrascht? Franzen: Ich habe mir nie die Mühe ge- macht, mir vorzustellen, wie erfolgreich mein Buch sein könnte. Ich wusste aber, dass ich mir etwas Schwieriges vorgenom- men und mein Projekt vollendet hatte. SPIEGEL: Was war Ihr Plan? Franzen: Ich wollte ein ernsthaftes Buch schreiben, das nicht bloß einem Publi- kum für ernsthafte Bücher gefallen würde. Mit so etwas kann man leicht auf die Nase fallen. Ich wusste aber, dass Autoren wie David Foster Wallace oder Don De- Lillo, Schreiber, die ich respektiere und bewundere, mein Vorhaben verstehen würden. Jede Rezeption, die darüber hin- ausgehen würde, war für mich nicht greifbar. Eines allerdings war für mich wichtig: Ich wollte gute Besprechungen in den Zeitungen. Alles andere hätte mich schockiert. SPIEGEL: Wann wussten Sie, dass Ihnen ein Bestseller gelungen war? Franzen: Als mein Verleger Jonathan Gal- lassi von Farrar, Straus und Giroux das Ma- nuskript innerhalb von zwei Tagen gele- sen hatte, und auch die Europäer sich vor Enthusiasmus kaum mehr halten konnten. Auf einmal verkauften wir jeden Tag die Rechte für ein anderes Land.

* Jonathan Franzen: „Die Korrekturen“. Aus dem Ame- rikanischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek; 784 Seiten; 24,90 Euro. Das Gespräch führte Redakteur Thomas Hüetlin in

New York. SCHREIBER T. HARALD Autor Franzen 150 gesehen war mein Problem, dass ich eine Roman Konkurrenz durch das Kino. Das unausgesprochene Rivalität mit Winfrey Fernsehen schließlich entband den Roman spürte. Nach dem Motto: Die populäre fast völlig von den oben genannten Aufga- Herangehensweise ist ein Kennzeichen ben. Ich spreche hier nicht nur von Nach- meiner Arbeit – wozu brauche ich da richtensendungen und Dokumentationen; Oprah? Oprah und ich – wir waren zu nah auch in einer Sitcom erfahren Sie viel über beieinander. Zwei große Egos in einer unsere Gesellschaft. Der Roman hat seine Küche, wo nur Platz für eins ist. soziale Rolle verloren, der Romanautor SPIEGEL: Auf der anderen Seite wurde Ihr kann sich also in unserer Kultur nicht mehr Buch als eine moderne Version der „Bud- als bedeutende Figur fühlen. Dies ist ent- denbrooks“ gelobt, Sie selbst wurden mit mutigend. Vor allem, weil es ziemlich an- Thomas Mann verglichen. Denkt man in strengend ist, Bücher zu schreiben. solchen Augenblicken nicht: Die Welt ist SPIEGEL: Autoren wie DeLillo und Thomas verrückt geworden? Pynchon würden diese Diagnose wahr- Franzen: Ich nahm den Vergleich mit Mann scheinlich ungern hören. Ihre Obskurität als Kompliment, und die „Buddenbrooks“ stellen diese Schriftsteller wie eine Art mo- habe ich daraufhin diesen Januar gelesen. dernes Dandytum zur Schau, aber es gibt Es war so eine Art Buch, welches eigentlich doch keinen Zweifel darüber, dass beide

AP in jeder Schule automatisch einmal dran- versuchen, die Welt analytisch-erzählerisch Schriftsteller Hemingway (1939) kommen müsste, nur in meiner wurde es zu durchdringen? „Ich mag Menschen“ anscheinend vergessen. Egal. Ich musste Franzen: Absolut. Beide Autoren waren lan- es also nachholen. Ein meisterhaftes Werk, ge Zeit Vorbilder für mich. Durch die Art, SPIEGEL: Allein in den USA haben etwa auch wenn der Schluss, diese Häufung von wie sie, ständig vom Fernsehen und der eine Million Menschen „The Corrections“ Verfallsmotiven, etwas angestrengt wirkt. Atombombe bedroht, versuchten, eine gekauft. Was bedeutet eine solche Zahl für Diese Geschichte vom Ende der Familie möglichst vollkommene soziale Totalität Sie, außer dass Sie reich geworden sind? zeigt vor allem, dass der Schreiber ein sehr abzubilden und zugleich einen ironischen Franzen: Nicht viel, ich bekomme eher ein junger Mann, etwas über 20 Jahre, war. Abstand zur Welt zu wahren, in der wir Gespür für den Erfolg, wenn ich in einer SPIEGEL: Mann wurde als Deuter und leben. Man muss smart sein, um dies zu Buchhandlung 200 Bücher signiere und die Gewissen seiner Zeit verstanden, Sie da- leisten, und selbstbewusst, aber mir hat Leute während meiner Lesungen lachen. gegen haben in einem Essay 1996 darüber diese postmodern-spielerische Ironie nicht SPIEGEL: Wie viele von der Million Käufer, geklagt, dass der moderne Schriftsteller mehr genügt. Ich wollte einen Roman, in glauben Sie, lesen Ihr Buch wirklich, wie immer mehr an Be- viele legen es als Statussymbol auf den deutung verliert und „Der Romanautor kann sich in unserer Kultur nicht Couchtisch? seine Arbeit von Jahr Franzen: Als jemand, der sich unglück- zu Jahr weniger ge- mehr als bedeutende Figur fühlen.“ licherweise intensiv mit den Lesegewohn- braucht wird. War heiten der Leute befasst hat, weiß ich dar- dieser Essay damals der Aufschrei eines dem ich all diese Fragen, zum Beispiel die über ziemlich genau Bescheid. Es ist halbe, frustrierten Autors, der Aufmerksamkeit Verwüstung des öffentlichen Diskurses halbe. Etwa eine halbe Million liest mein erregen wollte, oder bleiben Sie noch heute durch das Fernsehen, ebenso behandeln Buch, die Übrigen sind damit zufrieden, bei Ihrer Diagnose? konnte wie die schlichten Gefühle, die eine es nur zu besitzen. Franzen: Es gab eine Zeit, da kannte der Mutter im Mittleren Westen an Weihnach- SPIEGEL: Einen Teil Ihres Erfolgs verdanken Roman keine Konkurrenz. Er sorgte dafür, ten hat. Man hat Angst, die Liga der großen Sie der Tatsache, dass Ihr Buch von der dass die Bourgeoisie unterhalten wurde Schriftsteller nie betreten zu dürfen, wenn Talkmasterin Oprah Winfrey in deren und klärte dazu auf über die sozialen Ge- man sich mit solch vermeintlich nichtigen, Buchclub aufgenommen wurde. Als Sie gebenheiten in der Gesellschaft – entweder menschlichen Gefühlen befasst. selbst mit dieser Auszeichnung öffentlich in der Form, wie zum Beispiel Dickens SPIEGEL: Was hat Sie ermutigt, diese Angst haderten, wurde Ihnen vorgeworfen, ein über Gefängnisse und Armenhäuser am Ende zu ignorieren? „undankbarer Dreckslappen“ zu sein. Ha- schrieb, oder in der Art, wie Autoren die Franzen: Es war ein Buch mit dem Titel ben Ihnen diese Beschimpfungen etwas an- Normen, Werte und Lebensweisen des „Was am Ende bleibt“ von einer Autorin haben können? Bürgertums reflektierten. Dann bekam der namens Paula Fox. Es beschreibt das Franzen: Es war schmerzhaft, Wochenende eines kinderlosen weil das Image, welches von mir Paares in Brooklyn. Die Frau präsentiert wurde, so ziemlich wird von einer Katze gebissen. das Gegenteil von dem ist, was Das ist die ganze Geschichte. ich eigentlich bin. Ich wurde por- Ansonsten handelt das Buch trätiert als ein leidender elitärer noch von allem, was die ameri- Hochkultur-Schreiber, der die kanische Gesellschaft im Jahr Massen verachtet. Dabei habe 1968 bewegt hat. Dieses Werk ich gerade deshalb so viele Jah- zeigte mir, dass das unmögliche re für dieses Buch gebraucht, Projekt, ein Buch über alles in weil ich beides wollte: eine un- der Welt zu schreiben, möglich bestreitbare literarische Leistung wird, sobald man diesen uni- und eine Reihe von Charakte- versellen Anspruch fallen lässt, ren, welche die Gefühle des Pu- und einen einzigen Charakter in blikums ansprechen. Mit ande- einem Augenblick großer Not ren Worten – ich tat etwas Ähn- begleitet. In solch eine Krise liches wie Oprah Winfrey: ernst kann die ganze Welt hineinge-

sein und gleichzeitig zugänglich GEORGE BURNS / AP spiegelt werden. Diese Methode und aufregend. Psychologisch Talkmasterin Winfrey (r.), Gast Cher: Unausgesprochene Rivalität von Paula Fox scheint mir der-

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sor, sondern landet bei einer betrügeri- schen Internet-Company in Litauen. Trotz- dem lachen Sie sich nicht ins Fäustchen, wie zum Beispiel der Schriftsteller Rick Moody, wenn Ihre Figuren auf die Nase fallen. Fiel Ihnen die Sympathie, die Sie dieser strauchelnden Familie, den Lam- berts, entgegenbringen, schwer? Franzen: Ich kann mir nicht helfen, ich mag Menschen. Vielleicht kommt es daher, dass ich wie eine Reihe amerikanischer Schrift- steller, die ich sehr schätze, im Mittleren Westen geboren und dann weggegangen bin. Mark Twain, Fitzgerald, Hemingway – sie alle haben diesen Weg hinter sich ge- bracht. Außerdem würde ich es nicht als Scheitern bezeichnen, wenn einer einige Zielvorstellungen der amerikanischen Ge- sellschaft nicht erreicht. Vielleicht kann das ja auch ein Erfolg sein. Auch aus diesem Grund heißt das Buch „The Corrections“. Chip, zum Beispiel, glaubt von sich, er soll- te groß rauskommen als Foucaultscher Theoretiker, und trotzdem ist er die ganze Zeit unglücklich. Schließlich wird er ge-

AKG feuert. Gut gemacht, Chip, denke ich da, Franzen-Thema Eheprobleme*: „Man benötigt Optimismus, um scheitern zu können“ weil, wäre er eine weniger interessante, weniger starke Person, würde sein Leben zeit die einzig mögliche. Für alles andere len Eltern ihn in New York besuchen geradliniger verlaufen. Man benötigt schon würden Sie 3000 Seiten und 20 Jahre Zeit kommen. Als ich Mitte der neunziger Jah- eine gute Portion Kraft und Optimismus, brauchen. Und wer weiß, wie die Welt in re fast mein ganzes Manuskript in den Müll um scheitern zu können und sich zu öffnen 20 Jahren aussehen wird? Jedenfalls völlig warf, war dies die einzige Szene, die ich für die Möglichkeiten und Freiheiten, die anders als der Kosmos, den wir uns heute aufhob. Dann ist da Gary, der ältere Bru- sich daraus ergeben. vorstellen können. der, ein sozialer Aufsteiger … SPIEGEL: Sie betrachten, ganz unzeitgemäß, SPIEGEL: Sie lösten die Aufgabe, indem Sie SPIEGEL: … ein Banker, der von seiner Frau das Scheitern und das Verlieren im Leben einen Roman über eine fünfköpfige Fami- und seinen Kindern tyrannisiert wird. Des- als große Chance? lie aus dem Mittleren Westen schrieben. sen letzte Freude im Leben ist es wohl, im Franzen: Ich beziehe mich da auf das Mot- Die Mutter Enid geht mit ihrem unter Par- Garten zu grillen, nur um mit ansehen zu to zu Dostojewskis „Die Brüder Karama- kinson und an beginnendem Alzheimer lei- müssen, wie seine denden Mann Alfred auf Kreuzfahrt. Das Kinder das Fleisch „Lass uns ein paar Charaktere in eine unangenehme eigentliche Anliegen der Mutter besteht je- wegwerfen und ei- doch darin, ihre drei über das Land ver- nen Pizzaservice an- Wirklichkeit packen und auf die Flucht schicken.“ streuten Kinder noch einmal zu Hause zu rufen … haben – für ein letztes gemeinsames Weih- Franzen: Dann die Schwester, eine hippe sow“, das besagt: Die Frucht, die im Baum nachtsfest. Ein vermeintlich einfacher Plot Gourmet-Küchenchefin, die dabei ist, ihre hängt, vertrocknet; die Frucht, die zu Bo- mit verwundbaren, abgründigen Charak- Sexualität zu erforschen. Beruflich hoch den fällt, sorgt dafür, dass neue Früchte teren. Wie kamen Sie zu Ihren Personen? ambitioniert, hat sie keine Ahnung, wie es gedeihen. Mir scheint, dass Amerikaner Franzen: Chip, den jüngeren Sohn der Fa- in ihrem Herzen aussieht. Ihren Part eine Riesenangst vor dem Scheitern ha- milie, trug ich zehn Jahre in meinem Kopf schrieb ich zuletzt. ben, ebenso wie vor Krankheiten und Tod. herum. Er ist ein gescheiterter Akademiker SPIEGEL: Alle Familienmitglieder scheitern, Dabei gehört das zum Leben, und nur die und Drehbuchschreiber, der seine teuren können ihre Träume nicht verwirklichen. Furcht davor ist destruktiv und macht ei- Foucault-Ausgaben im Antiquariat ver- Chip zum Beispiel wird nicht Star-Profes- nen zum seelischen Krüppel. Also dachte setzt, um sich Klamotten ich mir, warum nicht ein wenig Spaß haben aus Leder und teure Res- mit der Angst. Lass uns ein paar Charak- taurants leisten zu können. tere in eine unangenehme Wirklichkeit Amerikanische Universitä- packen und auf die Flucht schicken vor ten sind voll mit solch einer Realität, die hinter ihnen hertram- bedürftigen Charakteren. pelt wie Godzilla. Chip möchte sehr gern sehr SPIEGEL: Macht es Ihnen Spaß, als Autor cool sein, und deshalb das Monster Godzilla zu spielen? dachte ich, es reicht nicht, Franzen: Godzilla, das bin nicht ich – God- dass ich in der Eröffnungs- zilla ist wie das Leben, Godzilla ist Alz- szene dafür sorge, dass sei- heimer, Godzilla kann eine Ehefrau sein, ne Freundin ihn verlässt, die einer wegen ihres Geldes geheiratet ich sorge auch noch dafür, hat. Aber ich als Autor bin nicht Godzilla. dass seine grotesk uncoo- Vieles von dem, was ich beschrieben habe, beruht auf meinen eigenen Erfahrungen.

* Gemälde „Zimmer in New York“ CNN SPIEGEL: Gemeinhin werden die neun- von Edward Hopper (1932). TV-Bild am 11. September: Mit schlauen Sprüchen konfrontiert ziger Jahre in den USA als eine lang an-

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ein Ereignis nicht mehr erfahren zu kön- nen, ohne es sofort interpretieren zu müssen. Alles wurde totgeredet, hübsch verpackt konnten die Leute die Katastro- phe ablegen. Vielleicht werden wir erst in fünf Jahren wissen, was der 11. September bedeutet hat. SPIEGEL: Waren Sie für die kriegerischen Aktionen in Afghanistan? Franzen: Es nicht zu tun wäre undenkbar gewesen. Amerika ist in eine Menge Din- ge verwickelt, welche ich stark kritisiere. Das Land hat Blut an den Händen. Aber die Vertreibung der Taliban gehört sicher nicht in die Top-20-Liste der schlimmen Dinge, die die USA in ihrer Geschichte an- gestellt haben. Trotzdem hat dieser Feldzug nicht unser grundsätzliches Problem gelöst, welches darin besteht, dass wir eine Supermacht sind, die nicht zuletzt auf das Öl aus den arabischen Staaten angewiesen

REUTERS ist. Aber wenigstens war der Krieg gegen US-Präsidentenfamilie Bush: „Für einen Schriftsteller ein abstoßender Stoff“ die Taliban nicht so verlogen wie der Golf- krieg, jenem Gipfel der politischen Heu- haltende Glücksexplosion beschrieben mit Romanschriftstellerei aufgeben würde, chelei, wo uns eingeredet wurde, es gehe dem längsten Boom der amerikanischen diese absolut sinnlose Tätigkeit, die nie- um Prinzipien, dabei war der Regierung Geschichte. Sie beschreiben die Düsternis, mand braucht, die sehr schwierig ist und nur eines wichtig: Öl. die unter dieser vermeintlich strahlenden mit der man niemals reich wird. Ich dachte, SPIEGEL: Sie sind jetzt Experte für Familien- Oberfläche liegt. Seit wann misstrauen würde ich bei einem Internet-Start-up an- romane: Halten Sie die Bush-Dynastie, die Sie den falschen Blasen des amerikanischen fangen, samt Aktienoptionen und Riesen- im Machtgefüge der USA seit Jahrzehnten Glücks? einkommen, könnte auch ich glücklich eine Spitzenposition einnimmt, für lite- Franzen: Viele Amerikaner glaubten wäh- sein. Ich ließ es bleiben und dachte dar- rarisch verlockend? Würde der Clan ein rend dieser Epoche, die Geschichte sei an, nach Mexiko zu emigrieren, wo ich gutes Buch abgeben? an ihrem Ende angekommen, und nun sei mein Leben unauffällig verbringen könnte, Franzen: Nein, ich kann diese Familie nicht es an der Zeit, neue Regeln aufzustel- schließlich schämte ich mich, als Roman- leiden. Und ein Stoff, der in einem solchen len. Nach dem Motto: Die Regeln des schriftsteller einfach aufzugeben. Ich ließ Maße abstoßend ist, eignet sich eigentlich alten Wirtschaftens gelten nicht mehr, auch dies bleiben. In jetzt wird gelebt nach der New Economy. Mexiko wäre mir „Bush senior war vor allem ein Ölmanager, Wir werden dem Schicksal einfach davon- auch nichts anderes laufen. Das Dumme daran ist nur: Es eingefallen, als zu der Sohn ist nicht einmal das.“ funktioniert nicht – nie. Aus dieser Kon- schreiben. stellation entsteht die Tragödie und gleich- SPIEGEL: Was hat der 11. September für nie für einen Schriftsteller. Ich kann mir zeitig die Komödie: Hallo, aufwachen, das Amerika bedeutet? nicht vorstellen, dass irgendein ernst zu neue Spiel läuft nicht. Die Geschichte wird Franzen: Ich weiß es nicht. Kaum hatte uns nehmender Schreiber Gefallen an dieser auch dich erwischen. Auch du wirst eines die schreckliche Katastrophe getroffen, Sippe findet. Der Ursprung der Heuchelei Tages sterben. wurden wir mit Fernsehbildern und schlau- in diesem Clan liegt so lange zurück, dass SPIEGEL: Es gibt einen Spruch: Nichts macht en Sprüchen konfrontiert. Das Image be- es dort niemanden mehr gibt, welcher eine den Menschen unglücklicher, als wenn alle kam sofort einen Titel: „America under Ahnung davon hat, wie es in einem echten um ihn herum reich werden und er nicht. Attack“, mit der dazugehörigen prompten Menschen aussieht. Der Vater war vor Lag nicht ein Teil Ihrer fatalistischen Welt- Interpretation. Der 11. September war die allem ein Ölmanager, der Sohn ist nicht sicht darin begründet, dass Sie als erfolg- Apotheose dieser Zivilisationskrankheit, einmal das. Er wird uns als Präsident unse- loser Autor keinen Anteil res Landes verkauft, obwohl er höchstens in hatten am Boom? der Lage ist, einen Baseball-Club zu führen. Franzen: Sicher. Den Tief- SPIEGEL: Sie haben Teile Ihrer Studienzeit punkt erreichte ich, als in Deutschland verbracht. Treibt Sie Ihr ich ein Jahr lang in einem kritisches Verhältnis zu den USA dem- Viertel wohlhabender Leu- nächst wieder in die Fremde? te in Philadelphia wohnte. Franzen: Nein, denn in diesem Land war es Ich war umgeben von die- mir möglich, bequem zu leben, während sen weißen reichen Fami- ich ein seltsames Buch schrieb. Dies ist ein lien, die alle im Bank- Land, in dem mir niemand reingeredet hat, oder Justizgeschäft arbei- was in diesem Buch zu stehen hätte. Und teten, und ich saß allein zu dies ist ein Land, in dem ich über die Fa- Hause, in dieser tagsüber milie des Präsidenten sagen kann, was ich tödlich ruhigen Nachbar- möchte, ohne dass ich Angst haben müsste, schaft, und versuchte zu dass mir jemand Gewalt antut. Wie sollte schreiben. Ich war sehr un- ich unter diesem Land ernsthaft leiden?

glücklich. Ich dachte, wenn PRESS BERND HEINZ / ACTION SPIEGEL: Mr. Franzen, wir danken Ihnen ich nur diese dämliche Autor Franzen, Fans: „Ich schämte mich aufzugeben“ für dieses Gespräch.

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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom AUSSTELLUNGEN Fachmagazin „Buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher Nackte 1 (1) Donna Leon Das Gesetz der 1 (2) Dalai Lama Der Weg zum Glück Lagune Herder; 16,90 Euro Wahrheit Diogenes; 19,90 Euro 2 (1) Waris Dirie Nomadentochter Blanvalet; 21,90 Euro Er malt Transvestiten, dicke Frauen 3 (3) Werner Tiki Küstenmacher/ Lothar J. Seiwert Simplify – und die Queen. Jetzt Zwei Muschelfischer your life Campus; 19,90 Euro ehrt London den exzentrischen wurden gemeuchelt – Maler Lucian Freud mit Commissario Brunetti 4 (–) Petra Schürmann stößt auf eine Und eine einer umfassenden Retrospektive. Mauer des Schweigens Nacht vergeht wie ein Jahr enschen, so hat er gesagt, mag 2 (2) Henning Mankell Wallanders Droemer; 19,90 Euro er am liebsten, wenn sie „wie erster Fall und andere Erzählungen MTiere“ sind: nackt, unverstellt und Zsolnay; 24,90 Euro Die bewegende Liebes- ganz sie selbst. erklärung einer Mutter Immer wieder ist es Lucian Freud, 79, 3 (3) Günter Grass Im Krebsgang an ihre tödlich gelungen, solche animalischen Zeitgenos- Steidl; 18 Euro verunglückte Tochter sen in sein Atelier zu locken, sie mit langen 4 (4) Jean M. Auel Ayla und der Stein Gesprächen und gutem Essen nächtelang 5 (6) Peter Scholl-Latour Der Fluch des des Feuers Heyne; 25 Euro bei Laune zu halten, um sie auf seinen neuen Jahrtausends C. Bertelsmann; 22 Euro Bildern unnachahmlich lebenswahr fest- 5 (9) Joanne K. Rowling Harry Potter 6 (4) Kathrin Finke/Rainer Karchniwy zuhalten. und die Kammer des Schreckens „Erzählt mir doch nich, dasset Und wegen seiner einzigartigen Kunst nich jeht!“ Mitteldeutscher Verlag; 15 Euro Carlsen; 14,50 Euro der Körperlichkeit halten viele den Enkel 7 (8) Dona Kujacinski/Peter Kohl von Sigmund Freud für den bedeutendsten 6 (8) Paulo Coelho Der Alchimist Hannelore Kohl – Ihr Leben gegenständlichen Maler der Gegenwart. Diogenes; 17,90 Euro Droemer; 19,90 Euro Aber nur wenige seiner Modelle – von 7 (6) Joanne K. Rowling Harry Potter 8 (7) Traudl Junge Bis zur letzten Aristokraten (angezogen) bis zu seinen und der Gefangene von Askaban Stunde – Hitlers Sekretärin erzählt Töchtern (nackt) – konnten den Maler zu- ihr Leben Claassen; 19 Euro Carlsen; 15,50 Euro sätzlich durch das faszinieren, was ihn am 9 (11) Stephen Hawking meisten reizt: „extreme Körper“. 8 (5) John Grisham Der Richter Das Universum in der Nußschale So malte er die übergewichtige Sach- Heyne; 24 Euro Hoffmann und Campe; 25,95 Euro bearbeiterin im britischen Sozialministe- 9 (7) Joanne K. Rowling Harry Potter 10 (9) Helmut Schmidt/Sandra rium, Sue Tilley, in der Kunstgeschichte Maischberger Hand aufs Herz längst als „Big Sue“ ein Begriff, in all und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro Econ; 20 Euro ihrer überbordenden Fleischlichkeit in 10 (10) Eoin Colfer Artemis Fowl – 11 (16) Spencer Johnson einem Sessel schlummernd. Massige Brüs- Die Verschwörung List; 18 Euro Die Mäuse-Strategie für Manager te, unförmige Schenkel und ein Bauch, Ariston; 14,90 Euro der wie ein eigener Körper-Kontinent die 11 (11) Joanne K. Rowling Harry Potter Bildmitte beherrscht. und der Stein der Weisen 12 (12) Katja Kullmann Generation Ally Eichborn; 14,90 Euro Aber Lucian Freud, der in Berlin gebo- Carlsen; 14,50 Euro ren wurde, seit der Emigration 1933 in 13 (5) Oskar Lafontaine Die Wut wächst Großbritannien lebt und seit 1939 die bri- 12 (12) Der menschliche Econ; 22 Euro Makel Hanser; 24,90 Euro tische Staatsbürgerschaft hat, ist ein dis- 14 (–) Stefan Aust/Cordt Schnibben kreter Voyeur. Er male, hat er in einem 13 (15) Umberto Eco Baudolino (Hg.) 11. September – Geschichte seiner raren Statements über sich selbst eines Terrorangriffs DVA; 24,90 Euro Hanser; 24,90 Euro gesagt, um „Wahrheit zu erzählen“. 15 (13) Donata Elschenbroich „Big Sue“ oder der ebenfalls oft por- 14 (–) Henning Mankell Die Brandmauer Weltwissen der Siebenjährigen trätierte übergewichtige Performance- Zsolnay; 24,90 Euro Kunstmann; 16,90 Euro Künstler Leigh Bowery, der als Transvestit 15 (19) John Irving Die vierte Hand 16 (–) Susanne Fröhlich/Constanze auftrat, sind bei ihm keine Attraktionen Diogenes; 22,90 Euro Kleist Jeder Fisch ist schön – einer Monstrositätenschau, sondern eine wenn er an der Angel hängt schlafende Frau oder ein exhibitionistischer 16 (18) Martin Suter Ein perfekter Freund W. Krüger; 16,90 Euro Mann, die beide zufällig einen Körper Diogenes; 19,90 Euro 17 (14) Brigitte Hamann haben, der den Maler herausfordert. Winifred Wagner oder Hitlers 17 (20) Eoin Colfer Artemis Fowl Die übergroßen Aktporträts von Tilley Bayreuth Piper; 26,90 Euro List; 18 Euro und Bowery sind die spektakulären Stücke 18 (–) Axel Brauns Buntschatten und einer umfassenden Retrospektive, mit 18 (16) Elke Heidenreich Der Welt den Fledermäuse der das Londoner Museum Tate Britain Rücken Hanser; 15,90 Euro Hoffmann und Campe; 21,90 Euro Lucian Freud im Jahr seines 80. Geburts- 19 (15) Bettina Dahse Romy – „Ich hätte tags ehrt (bis 22. September). 19 (13) Ildikó von Kürthy Herzsprung Ihnen so gern noch was gesagt…“ Die Schau zeigt Arbeiten aus gut 60 Jah- Wunderlich; 16,90 Euro Hoffmann und Campe; 34,90 Euro ren. Ein an Cézanne erinnerndes Stillleben, 20 (–) Christa Wolf Leibhaftig 20 (–) Wilfried Erdmann Allein gegen „Apfelkiste in Wales“ von 1939, eröffnet Luchterhand Literatur; 18 Euro den Wind Delius Klasing; 22,90 Euro die Ausstellung, ein schonungsloses Selbst-

156 der spiegel 26/2002 porträt aus dem Frühjahr stellten, ob nackt oder des Menschen. Schattierungen, Adern, dieses Jahres beschließt nicht, ob Baby oder Greis, Blau- und Rottöne gewinnen bei ihm eine sie. Dazwischen liegt die als leidende, in Würde sprechende, reliefartige Plastizität. Je grö- Dokumentation einer vegetierende Wesen prä- ber im Lauf der Jahre die Pinselstriche wer- Künstlerbiografie, die auf sentieren. den, desto überzeugender gerät ihm der der Leinwand und im Le- Ein Menschenbild, das Effekt. Professionelle Modelle lehnt der ben außergewöhnlich ver- Freud selbst auch in sei- Künstler ab. Sie seien ihm zu „abgebrüht“ laufen ist. nem Staatsoberhaupt ent- und hätten sich bei ihrem Job längst „eine Ohne sich um die je- deckt: Die Queen ließ zweite Haut“ zugelegt, weil sie „zu oft an- weiligen Trends der Mo- er mit Diadem auf dem geschaut“ worden seien. derne zu scheren, fand Kopf zu den Sitzungen Unverbrauchte Modelle fand Freud im- Freud schon ziemlich antreten und malte sie mer wieder in seiner Familie. Zwei Ehen

früh, nach sanften Anklän- BRUCE BERNARD als alternde stoische Frau, hat er hinter sich, beide Damen hat er aus- gen an die Neue Sach- Maler Freud (1994) deren Gemütsverfassung giebig und unbestechlich ehrlich gemalt und lichkeit, seinen Stil und Liebe zu extremen Körpern zwischen nobler Verbit- auch den bisweilen desaströsen Zustand seine Sujets. terung und mildem Trotz der Ehe auf seinen Bildern festgehalten. Die Schau dokumentiert dennoch auch changiert. Die Königin hat das für ein Freuds berühmte Töchter Bella (Mode- Beispiele für frühe, sogar mit dem Reper- Staatsporträt provozierend kleinformatige designerin) und Esther (Schriftstellerin) toire des Surrealismus spielende Bilder wie Bild (23,5 cm x 15,2 cm) für die Schau posierten für ihn, auch manche seiner das ungewöhnlich bunte Interieur „The nicht ausgeliehen. Sie zeigt es derzeit in zahlreichen Liebhaberinnen. Seine der- Painter’s Room“ von 1943/44, das von ei- ihrer eigenen Queen’s Gallery am Bucking- zeitige Gefährtin, die Journalistin Emily nem überdimensionalen Kopf eines gelb- ham Palace. Bearn, 27, ist ebenfalls auf einigen Bildern roten Zebras beherrscht wird. Doch der Während sein Großvater Sigmund mit präsent. Kurator der Ausstellung, William Feaver, der Psychoanalyse die Verwerfungen der Aber immer wieder taucht in der Tate beteuert, das habe nun weniger mit phan- Seele freilegte, die inneren Konflikte in ein Modell auf, das ihn beschäftigte wie tastischen Visionen à la Dalí oder de Chi- Sprache fasste und nach außen stülpte, geht kein zweites: seine Mutter Lucie, nach der rico zu tun, sondern mal wieder nur mit der Enkel Lucian den umgekehrten Weg er seinen Vornamen bekam. der Wirklichkeit. und nähert sich von der bloßen Darstellung Als 1970 sein Vater Ernst Freud, ein Ar- Damals habe der Künstler einen solchen der Oberfläche her einer verborgenen chitekt und jüngster Sohn Sigmunds, starb, Tierkopf besessen und ihn einfach in sein inneren Wahrheit. verfiel die Mutter in eine tiefe Depression. Bild aufgenommen. Und die liegt bei ihm manchmal buch- Der Sohn kümmerte sich um sie, indem Beherrschend in der chronologisch stäblich auf der Hand. Kein Maler der er sie porträtierte: lesend, ruhend, ver- gehängten Rückschau ist natürlich Freuds Gegenwart hat etwa die Haut so gemalt löschend und – 1989 als intime Abschieds- Spezialität: die Porträts, die die Darge- wie Lucian Freud – als das größte Organ zeremonie – auf dem Totenbett. Diese Koh- GREGG STANGER / NEW YORK GREGG STANGER Freud-Werke „Night Portrait, Face Down“ (1999/2000), „The Painter’s Room“ (1943/44) Die Tiefe der Oberfläche

lestiftzeichnung zeigt einen eingefallenen Kopf mit großen, geschlossenen Augen- höhlen und wirrem Haar. Auch der Tod ist für Freud kein Anlass zur Verklärung. 12 der insgesamt 156 Arbeiten in London stammen aus den vergangenen zwei Jah- ren. Eine 13. soll, wenn alles gut geht, noch irgendwann bis zum Ende der Retrospek- tive dazukommen. Denn derzeit sitzt dem Meister eine junge Britin Modell, die als Mannequin berühmt wurde: die Magerkeitsikone Kate Moss. Und nun rätseln die Kunst-Freu- dianer wieder: Wird der Meister die Muse wohl nackt oder angezogen vor-

JOHN RIDDY führen? Joachim Kronsbein 157 Kultur

Münchner Fußballstadion für die Weltmeisterschaft 2006 (Computermodell), Tate Modern in London: Erstaunliche Fähigkeit, aufs

BAUKUNST Der Spieltrieb kleiner Jungen Die Basler Jacques Herzog und Pierre de Meuron, Architekten des neuen Münchner Fußballstadions, haben sich mit ihrer Experimentierlust in die Liga der weltbesten Architekten vorgekämpft.

lles begann mit einer Achterbahn. Während sie vor sich hin werkelten, Glück für die beiden Freunde, dass sie sich Sie war aus Pappe, vielleicht knie- sprachen sie nicht viel. Pierre de Meuron beinahe wortlos verstanden. Ahoch, eine reichlich fragile Kon- stammte aus einer Familie, in der eher die Sie ließen nicht voneinander, 46 Jahre struktion, aber ohne diese Achterbahn hät- französische Sprache gepflegt wurde, bei lang nicht. Sie gingen zusammen nach te es die beachtliche Karriere der beiden Herzogs hingegen sprach man überwie- Zürich zum Studium, wurden Assistenten Basler Architekten Jacques Herzog und gend Schwyzerdütsch – es war ein großes beim selben Professor, eröffneten 1978 in Pierre de Meuron möglicherweise ihrer Heimatstadt ein Büro und fin- nie gegeben. gen wieder an zu entwerfen und zu Sie waren gerade einmal sechs bauen: am Anfang bescheidene Ga- Jahre alt, als sie mit Schienen ragen und Wintergärten, bald dar- und Wagen herumbastelten und auf Einfamilienhäuser und Indu- einfach nicht aufhören konnten, bis striegebäude, mittlerweile sind es die sie davon überzeugt waren, ein ganz großen Projekte. Das ernährt Meisterwerk vollbracht zu haben. inzwischen auch noch zwei Partner Als die Achterbahn fertig war, lag und 150 Mitarbeiter. draußen vor dem Kinderzimmer Gemessen an der Güte der Aus- der erste Schnee, und so war es zeichnungen, die sie bekommen ha- gar keine Frage, dass das Modell ben, und gemessen an der breit den Witterungsbedingungen an- gefächerten Auftragslage dürften gepasst werden musste. Die klei- Jacques Herzog, 52, und Pierre de nen Perfektionisten besorgten sich Meuron, 52, spätestens in diesem Wattebäuschchen und klebten Sommer in die Liga der vielleicht

weiße Wolken an die Kurven und & DE MEURON HERZOG zehn wichtigsten Architekten der Stützpfeiler. Architekten de Meuron, Herzog: Elegante Maskerade Welt vorgedrungen sein: Die Träger

158 der spiegel 26/2002 siert hat, ein Frank Gehry auf metallisch-glitzernde Wackelgebäude –, wenden sich die Schweizer gegen diesen Trend. Sie üben sich im Versteckspiel und in der eleganten Maskerade. Kei- nes ihrer Gebäude scheint dem anderen zu ähneln. Ihr Stil: der Stilwandel. Eher verhalten und ge- rade deswegen effektvoll wirkt das Gebäude, mit dem ihnen der große Durchbruch gelang: Als sie 1997 ein stillgelegtes Kraft- werk am Londoner Them- se-Ufer zum weltweit größ- ten Museumsbau für zeit- genössische Kunst – die Tate Modern – umwandel- ten, da wirkte es so, als wä- ren sie mit der Pinzette vor- gegangen. Einen radikalen Umbau des Backsteinbaus lehnten sie ab, wagten le- diglich dezente Lichtein- schnitte und setzten leicht und nobel zwei gläserne Stockwerke obenauf. Die frühere Turbinen- BONGARTS MARGHERITA SPILUTTINI MARGHERITA halle ließen sie leer, der Bescheidenste zu kleckern und aufs Fröhlichste zu klotzen Raum ist 155 Meter lang und atemraubende 35 Me- ter hoch, so dass sich der Besucher in diesem erha- benen Nichts fühlt wie in einer von Asketen errich- teten Kathedrale. Der Bau kommt an: Allein im ers- ten Jahr ihres Bestehens konnte die Tate Modern einen Rekord von über 5 Millionen Besuchern aufweisen. In München hingegen, wo Herzog und de Meu- ron jetzt den Grundstein für das neue Fußballsta- dion legen, gehen sie alles andere als behutsam vor: Sie setzen mit großem Selbstbewusstsein einen 280-Millionen-Euro-Koloss aufs freie Feld, einen weit-

Prada-Shop in Tokio (Modell): Bauen als Extremerfahrung & DE MEURON HERZOG hin leuchtenden Riesen- ring, der den bescheiden- des begehrten Pritzker-Preises haben den denken. Nicht weniger als 40 Projekte sind beschaulichen Stadtteil Fröttmaning für im- Wettbewerb für den Bau des neuen Fuß- es, auf die sie sich zeitgleich stürzen. mer verändern wird. ballstadions in München gewonnen. Sie Doch es ist gar nicht so sehr die schiere Ihre Fähigkeit, verschwenderisch und bauen – ebenfalls in München – für das Masse der Bauten, die in wirtschaftlich streng zugleich zu sein, aufs Bescheidens- Passagennetz „Fünf Höfe“ einen beträcht- doch eher lauen Zeiten so erstaunt, es te zu kleckern, um dann aufs Fröhlichste zu lichen Teil der Innenstadt um. In Abu Dha- ist vielmehr die verblüffende Vielfalt des klotzen – diese Fähigkeit verdanken sie bi basteln sie an der größten Moschee der Ausdrucks. ihrer jahrzehntelangen, beinahe symbio- Welt. Im schicken Westen Moskaus soll es Während die meisten Star-Architekten tischen Verbindung. Aus zwei mach eins – ein großes Einkaufszentrum sein. In New darauf versessen sind, eine leicht erkenn- dieses Verfahren haben sie bis zum Exzess York errichten sie den US-Firmensitz der bare Marke zu etablieren – ein Daniel trainiert. Es sitzt. Modefirma Prada, für die sie in Tokio wie- Libeskind sich etwa auf labyrinthisch-ver- Doch genauso wenig, wie sie sich einem derum ein psychedelisches Geschäft er- winkelte Gebilde des Schreckens speziali- Stil verschreiben wollen, behagen ihnen

der spiegel 26/2002 159 Werbeseite

Werbeseite Kultur

Rollenzuweisungen. Alle Fragen, wer von reichen Melodram von Luigi Pirandello – beiden welchen Einfluss auf einzelne Pro- FILM eine verzweifelte Frau spielt, die sich, voll jekte ausübe, wehren sie beinahe brüsk ab. Selbstekel auf der Flucht vor sich selbst, in „Wir ergänzen uns“, sagt Jacques Herzog eine andere Identität stürzt, als könnte das lapidar, mehr ist ihm nicht zu entlocken. „Wie du mich die Erlösung sein: Sie ist einem verzwei- Auch die Gesetze ihrer Freundschaft felten Mann begegnet, der aus Liebeswahn bleiben ihr Geheimnis: Mehr als dass sich willens ist, in ihr seine vor zehn Jahren die beiden Familienväter auch noch die willst“ spurlos verschwundene Frau wiederzu- Zeit nehmen, samstags, notfalls mit Kind erkennen, und nimmt deren Rolle an. und Kegel, auf den Fußballplatz zu gehen, Sechs Personen bilden drei Camille nun, die Schauspielerin (Jeanne geben sie nicht preis. Paare, aber auch drei Dreiecke, Balibar), spielt diese verzweifelt-verrückte Noch eiserner schweigen sie über ihren wie Jacques Rivettes erotische Pirandello-Frau in der Inszenierung ihres Schaffensprozess – vielleicht, weil sie gar Sommerkomödie „Va Savoir“ zeigt. italienischen Gefährten Ugo auf einer nicht erst darauf hinweisen wollen, dass Tournee in Paris. Da steht ihre Arbeit immer noch vom Eifer kleiner sie im Niemandsland zwi- Jungen, von deren Lust am Experiment schen zwei Identitäten, und Schabernack gekennzeichnet ist. zwei Existenzen an der So kamen sie etwa für das Münchner Rampe und ruft in den Stadion auf die Idee, die Hülle nicht etwa dunklen Saal, sie sei nur aus Glas, aus Beton oder Stein zu kon- noch ein Körper ohne Na- struieren, sondern aus aufblasbaren Kunst- men, ruft mehrmals und stoffkissen, die sich zu allem Aberwitz ver- recht pathetisch: „Un cor- färben können. Weil das Stadion nach der po senza nome“ – und da- Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als ge- mit sind wir auf dem meinsame Spielstätte der Vereine TSV 1860 Spielfeld der Romantik München und FC Bayern München her- schon mitten in einem Le- halten soll, wird die Hülle mal in der Ver- benstheaterfilm, wie ihn einsfarbe der Löwen, Blau, mal in der nur Jacques Rivette, 74, Vereinsfarbe der Bayern, Rot, leuchten. ersinnen und erzählen Während eines Spiels soll sich die Intensität konnte. der Farbe auch noch ändern – je nach In „Va Savoir“ spinnt er Spielstand und Erregungszustand der Fans. (seit seinem Erstling „Pa- Im Moment steigern sich die Baumeister ris gehört uns“ vor gut sogar in die Vorstellung hinein, sie könnten 40 Jahren als Wieder- anstelle eines konventionellen Dachs ein Pirandello-Szene in „Va Savoir“*: Ein Körper ohne Namen holungstäter etwa zum Luftschiff entwerfen, das Promis bei fünften oder sechsten großen Spielen vom Flughafen abholen amille ist die Frau, die wähnt, von Mal) um eine Theateraufführung herum und sich dann auf dem Stadion niederlas- der Liebe geheilt zu sein. Sie sei, sagt eine Filmgeschichte, um den Wahlver- sen soll. Ein schwebendes Dach – sie mei- Csie, nicht mehr dieselbe wie damals wandtschaften oder Wechselwirkungen nen es ernst. vor drei Jahren, als sie ohne Abschied vor der Rollenspielerei in Kunst und Leben Bei ihrem Bibliotheksbau im branden- Pierre und ihrer Liebe nach Italien floh. Nun nachzuspüren. burgischen Eberswalde ließen sie sich auch aber, zum ersten Mal zurück in Paris, fühlt Wie immer bei Rivette steht eine schöne, von einer Schnapsidee leiten und setzten sie sich mit ihrem neuen, italienischen Ge- neugierige junge Frau im Mittelpunkt, die diese konsequent um – zum Vergnügen des fährten Ugo auf so sicherem Grund, dass sie sich auf eine Entdeckungsreise begibt, doch Betrachters. Sie bedruckten die Fassade glaubt, ein kleines, freundschaftlich-unver- auch diesmal weitet der Blick sich auf vollständig mit Fotos: Man sieht einen fängliches Wiedersehen mit Pierre könne sie eine Konstellation nahezu gleichwertiger Hirschkäfer und einen Totenkopf, an an- keinesfalls umwerfen. „Ich bin eine andere.“ Figuren: Es geht um drei Paare, die kraft derer Stelle den Reichstag, umtost von ei- Also eines Vormittags einfach mal hingehen eines erotischen Magnetismus zugleich drei nem Fahnenmeer, und wieder woanders und an seiner Wohnungstür klingeln … Dreiecke bilden, und am Ende setzt sich einen Ausschnitt aus Lorenzo Lottos Von diesem Moment an kommt, wie zu gegen Pirandellos Paranoia eine Maskera- Gemälde „Venus und Cupido“. erwarten, alles ganz anders, als zu erwar- denheiterkeit à la Goldoni durch, und Für den Spieltrieb der Herren lassen sich ten war. Denn wir befinden uns zwar im Peggy Lee darf mit ihrem Hit „Senza Fine“ unzählige Beispiele anführen: So bauten Paris von heute, doch auf dem Spielfeld dem, der’s glaubt, verkünden, dass die sie im kalifornischen Napa Valley eine der Romantik, als die Menschen noch Zeit Liebe ohne Ende sei. Weinkellerei, ersannen dafür eine Außen- und Hingabebereitschaft hatten für die Rivette liebt das Theater, weil es so wand aus Gitterkörben, die sie über und phantastischen Treibhausblüten ihrer Ge- künstlich ist, macht aber eben deshalb über mit Steinen füllten. Die Fassade fügt fühle, auf dem Spielfeld der Romane und selbst lieber Filme; und er liebt es, weil sich nicht nur vortrefflich in die sanfte Melodramen des 19. Jahrhunderts, die ihre er die Komödiantinnen liebt. Seine Filme Hügellandschaft, sie erfüllt auch eine un- ironische Widerspiegelung in der Literatur sind immer zu lang und kommen kaum je gewöhnliche Funktion: Sie ersetzt die des 20. fanden und in der Verlängerung bis ohne Kürzungen in die Kinos. Diesmal, bei Klimaanlage, absorbiert Kälte und Hitze, zum entscheidenden Treffer weiter und „Va Savoir“, hat er freiwillig gekürzt, auf so dass die Temperatur im Inneren des weiter gespielt werden. „Ich bin immer die- gut zweieinhalb Stunden: aus Liebe zu Gebäudes immer gleich bleibt. selbe“, sagt Camille, von Beruf Schauspie- seinen Schauspielern, denen er die Chan- Bauen ist für Jacques Herzog und lerin, „nämlich immer eine andere.“ Aber ce eines großen Publikums geben wollte – Pierre de Meuron nichts anderes als eine vielleicht ist das ein Zitat. und der Erfolg hat ihm selbst in Frankreich Extremerfahrung. Die Achterbahn hat „As You Desire Me“ hieß 1932 der Film, die Chance gegeben, für treue Fans seinen sich in ihrem Kopf festgesetzt. So wie in dem Greta Garbo – nach einem erfolg- Director’s Cut ins Kino zu bringen. Dort alles begann, soll es immerzu weiter- läuft nun „Va Savoir +“, dreieinhalb Stun- gehen. Susanne Beyer * Sergio Castellitto und Jeanne Balibar. den lang. Urs Jenny

der spiegel 26/2002 161 Kultur

Mann zu sehen, und enthüllt dann, dass und geschlossenen Vorhängen. Seit dem Hanson eine Frau ist. Sie genießt den Sex, Watergate-Thriller „Die Unbestechlichen“ liebt die Politik, und tut beides mit Lei- (1976) von Alan J. Pakula hat kein Film denschaft. über amerikanische Politik das Schillern Rod Luries Polit-Drama „Rufmord“ (im zwischen Aufklärung und Verdunkelung Original nur „The Contender“ betitelt) ist so meisterhaft in ein Wechselspiel von eine mitreißende Selbstbefragung der ame- Licht und Schatten übersetzt. rikanischen Demokratie und ihrer Ideale. „Rufmord“ ist naturgemäß ein Film, in Denn die Senatorin Laine Hanson, gespielt dem viel, fast unaufhörlich geredet wird. von der großartigen Joan Allen, sieht sich Doch wenn sich die Dinge nicht mehr auf im Nu einer Phalanx vermeintlicher Sau- den Begriff bringen lassen, finden Lurie bermänner gegenüber, denen kein Mittel und sein Kameramann Denis Maloney Bil- zu schmutzig ist, um ihre Ernennung zur der für die Geschichte jenseits der Wörter. Vizepräsidentin zu verhindern. Eine Szene beginnt mit einer Großauf- Als Vorsitzender des Überprüfungsaus- nahme von Runyon, der gerade isst. Dann schusses für die Eignung der Kandidatin bewegt sich die Kamera ein Stück zur Sei- te, erfasst den Tisch, an dem er sitzt, und blickt in die Tiefe des Raumes: Hanson kommt einen langen Flur entlang, nähert sich Runyon und setzt sich zu ihm. Schritt für Schritt baut sich im Zuschauer während dieser Ein- stellung das Gefühl auf: Länger, unangenehmer und demütigen- der kann auch der Gang nach Canossa kaum gewesen sein. Lurie zieht den Zuschauer mitten in die inneren und äuße- ren Konflikte einer Frau hinein, die ihren Freunden bisweilen

FOTOS: HELKON MEDIA HELKON FOTOS: mehr Widerstand entgegenset- Präsidenten-Darsteller Bridges, Allen als Kandidatin: Relikt aus besseren Zeiten zen muss als ihren Feinden: Ker- mit Newman (Sam Elliott), Be- konfrontiert der Republikaner Shelly rater des Präsidenten, bedrängt Hanson, KINO Runyon (Gary Oldman) Hanson mit Fotos sich zu den Vorwürfen zu äußern. Immer aus ihrer Collegezeit: Auf ihnen ist eine wieder wechselt die Schärfe zwischen den Des Oberhauptes Frau zu sehen, die mit zwei Männern Gesichtern der beiden hin und her, scheint gleichzeitig Sex hat. Würden die Bilder sich wie die Heldin nicht entscheiden zu einen Mann mit zwei Frauen im Bett zei- können. Doch dann verweilt der Blick auf Unterleib gen, erschiene er in den Augen der ameri- Hanson, die in diesem Moment sagt: „Das kanischen Öffentlichkeit als Hengst. Doch wäre unter meiner Würde.“ In Rod Luries brillantem Polit- Laine Hanson, die beharrlich schweigt, Sätze wie dieser wirken in „Rufmord“ steht auf einmal als Schlampe da. niemals hohl, sondern gewinnen eine un- Drama „Rufmord“ kämpft Was befindet sich unter der Gürtellinie geahnte Wahrhaftigkeit und eine manch- Joan Allen als US-Senatorin um – ein Rock oder eine Hose? Um diesen mal fast elementare Wucht. Dieser Film, Würde, Integrität und das kleinen Unterschied dreht sich der gesam- der bereits vor zwei Jahren gedreht wurde zweithöchste Amt des Staates. te Film. Wie bei Clintons Lewinsky-Affäre, und als letzter Nachzügler der Clinton-Ära bei der es irgendwann nur noch um des nun wie ein beglückendes Relikt aus bes- er Präsident steht vor einer schwe- Oberhauptes Unterleib ging, muss sich seren Zeiten wirkt, meint es ernst mit den ren Entscheidung. Sein Vize ist ge- Hanson Fragen gefallen lassen, die nicht Werten, für die er streitet, und kommt da- Dstorben, und nun muss das Amt nur an die Nieren gehen, sondern weit bei bis zum Ende fast ohne Pathos aus. umgehend neu besetzt werden. Seine Be- tiefer dringen: Einmal steht gar der Zu- Aus dem bis in die letzte Nebenrolle rater reden auf ihn ein und nennen allerlei stand ihrer Eierstöcke zur Debatte. glänzend besetzten Ensemble ragt neben Namen, doch sein Entschluss steht fest: Der transparente Präsident, durch- Joan Allen und Gary Oldman vor allem „Ich will Hanson!“ leuchtet bis in den letzten Winkel – das ist Jeff Bridges als lebenslustiger, humorvoller, Direkt in der nächsten Szene schrillt das niemandem zu wünschen, sagt Lurie mit verschlagener Präsident heraus, der dau- Telefon, während ein Liebespaar – halb seinem Film und setzt diese Überzeugung ernd Hunger hat und sich Leckereien ins ausgezogen, aber ganz hingegeben – Sex in Bilder um. Hanson, die ihre Privatsphä- Oval Office kommen lässt, weil er genau hat. „Nein, lass es klingeln“, fleht die Frau re verteidigt wie den letzten Sicherheits- weiß: Essen kommt vor der Moral. den Mann an. Doch er hält inne, steht auf kordon der Seele, stellt er fast nur in offe- Diesem Genussmenschen vertraut Han- und nimmt ab. Nach einigen Sekunden ne und helle Räume. Immer wieder fällt son am Ende des Films an, wie es damals reicht er ihr den Hörer und sagt: „Es ist der sanftes Licht auf ihr Gesicht und erweckt wirklich war, auf dem College, mit den Präsident. Er will dich sprechen.“ den Anschein, als strahlte sie von innen – zwei Männern. Da fällt der Film dann in Mit diesem Täuschungsmanöver öffnet welches Geheimnis sie auch verbirgt. jene kleinliche Sexualmoral zurück, gegen der Film „Rufmord“ den Zuschauern Ihr Kontrahent Runyon, der behauptet, die er zuvor zwei Stunden lang ankämpf- gleich zu Beginn die Augen und konfron- die Wahrheit ans Licht bringen zu wollen, te. Hanson behält Recht: Ihr Geheimnis tiert sie mit ihren eigenen Vorurteilen: Er sitzt dagegen meist in halb dunklen Räu- geht niemanden etwas an. Nicht einmal schürt absichtsvoll die Erwartung, einen men, hinter heruntergelassenen Jalousien den Zuschauer. Lars-Olav Beier

162 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite Kultur

zutraute wie heute der HOLLYWOOD Potente. Doch für die Kins- ki blieb die große, konti- Durchbruch nuierliche Hollywood-Kar- riere nur ein unerfüllter Traum. für Franka Potente dagegen hat nach dem Überraschungs- Nun ist die Schauspielerin Franka erfolg von „Die Bourne Identität“ nun die Chance, Potente auch in den USA ein Star: ihre kluge und bedachte Ihr neuer Thriller „Die Bourne Karriereplanung wie bisher Identität“ spielte in nur drei Tagen fortzuführen – allerdings fast 30 Millionen Dollar ein. auf höherem Niveau. Ge- nauso wichtig wie die Rol- ie wechselt die Farbe ihrer Haare öf- len, die man spielt, sind die, ter und schneller als andere Men- die man ablehnt. Sschen ihre Hemden. Und dennoch gilt So sieht sie ihre Zukunft Franka Potente bis heute noch immer als auch nicht allein in Holly- die rote Lola, die sie vor vier Jahren wood, sondern wird noch berühmt machte. Wohin sie auch kam, der in diesem Sommer in Berliner Feuerkopf mit den schnellen Bei- Deutschland für Rolf Schü- nen war schon vor ihr allgegenwärtig. bels „Blue Print“ in einer In ihrem neuen Film, dem Thriller „Die Doppelrolle als menschli- Bourne Identität“, trägt die 27-jährige im cher Klon vor der Kamera Münsterland geborene Schauspielerin zu stehen. Und danach steht Beginn lange braune Haare, doch wenn sie „The Tulse Luper Suit- sich bewegt, erkennt man rote Strähnen. cases“ an, das neue Kino- Bleibt sie ihrem Image verhaftet? Nein, die Experiment des britischen Strähnen wachsen heraus – und eine neue Starregisseurs Peter Green- Franka Potente kommt zum Vorschein. away. Potente wird vorerst Über 27 Millionen Dollar hat der Film eine Wandlerin zwischen

auf dem nordamerikanischen Markt am GREGG DEGUIRE / WIREIMAGE den Welten bleiben. Startwochenende eingespielt – viermal so Schauspielerin Potente: Natürlich, offen, bezwingend spröde Dennoch ist es für sie viel wie „Lola rennt“ während seiner ge- gewiss nicht leicht, sich aus samten Laufzeit in den Staaten. Und be- Journaille sofort zu Vergleichen mit dem der drohenden Umarmung Hollywoods reits nach zehn Tagen hat „Die Bourne größten Filmstar greift, den Deutschland je zu befreien: Anfang Juni stand sie neben Identität“ Potentes US-Debüt „Blow“ an hervorgebracht hat. Dabei könnten die Un- Matt Damon bei der Verleihung der MTV der Kasse hinter sich gelassen. Im Eiltem- terschiede kaum größer sein. Movie Awards auf der Bühne und vergab po ist es der Schauspielerin gelungen, in Erscheint die Dietrich in ihren Filmen einen der Preise – ein Ritterschlag der Hollywood ein Star zu werden. oft wie eine glamouröse Lichtgestalt, die Jugendkultur. Während sie in „Blow“ an der Seite von nie den Boden der Tatsachen betritt, so Die Schattenseiten des Ruhms bekam Johnny Depp kaum eine Hand voll größe- wirkt die Potente noch immer wie das Mäd- sie aber genauso schnell zu spüren – rer Szenen hatte und bereits nach 30 Minu- chen von der Straße, natürlich, offen und allerdings eher in Deutschland. Die Tren- ten aus dem Film schied (weil die von ihr auf eine bezwingende Art spröde. Für den nung von Tom Tykwer, ihrem Lebensge- Dargestellte stirbt), spielt sie diesmal neben Glamour scheint sie nicht geboren. Doch fährten und Regisseur bei „Lola rennt“ Matt Damon die zweite Hauptrolle, und der Boulevard hat entschieden: Franka muss sowie „Der Krieger und die Kaiserin“, das über die volle Distanz. Und schauspie- für Deutschland spielen. Die nationale Ver- wurde in der Presse breit ausgewalzt. Und lerisch kann sie dem Star, der sie auch einnahmung des Stars ist in vollem Gange. ihre Affäre mit dem Schauspieler Elijah an Körpergröße nicht überragt, durchaus Ähnliches geschah vor über 20 Jahren Wood, mit dem sie in diesem Frühjahr Paroli bieten. bei Nastassja Kinski, der man damals ein die Komödie „Try Seventeen“ drehte, wird Der Thriller erzählt, nach einem Best- vergleichbares internationales Potenzial von Paparazzi verfolgt. seller von Robert Ludlum, von einem Doch sie wird sie alle Mann, der aus dem Mittelmeer gefischt abhängen, auch ohne Jog- und plötzlich von Killern verfolgt wird. ging und mit einer Packung Warum, weiß er nicht, denn er hat sein Zigaretten am Tag. Wer Gedächtnis verloren. Dafür findet er in sie einmal aus der Nähe er- Zürich die Deutsche Marie Kreutz (Poten- lebt hat, macht sich aus te), die ihn quer durch Europa kutschiert. der Ferne um sie wenig Die Farbe ihres Wagens: Rot. Sorgen: Menschen, die ab- Die amerikanischen Kritiker sind begeis- heben, sehen anders aus. tert. Die „Chicago Tribune“ schwärmt von Wenn sie in einer Szene in „ihrer unkonventionellen Schönheit“ und „Die Bourne Identität“ ihrem „erdverbundenen Sex-Appeal“, das aufwacht und sich umsieht Branchenblatt „Variety“ hebt ihre Wärme wie ein neugeborenes Kind, und ihr uneitles Spiel hervor. weiß der Zuschauer auf „Die rote Lola“ – so heißt ein berühm- Anhieb: Diese Augen las-

ter amerikanischer Film mit Marlene Die- DEFD sen sich so leicht nicht trich, und so verwundert es kaum, dass die Damon, Potente in „Die Bourne Identität“: Weltenbummlerin blenden. Lars-Olav Beier

164 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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Werbeseite Prisma Wissenschaft · Technik

GENTECHNIK Super-Mais aus Biolabor orscher der amerikanischen Rut- Fgers-Universität haben eine neue, besonders nahrhafte Maissorte zusam- mengebastelt, ohne dabei die her- kömmliche Methode der Genmanipu- lation zu verwenden: Meist wird dem natürlicherweise vorhandenen Erbgut ein kleines Stückchen fremden Erbguts hinzufügt. Die neue Methode dagegen ist eleganter. Denn auch natürlicher Mais produziert ein bestimmtes Spei- chereiweiß, das reich an der lebens- wichtigen Aminosäure Methionin ist. Die Forscher suchten einfach die Stelle im Mais-Erbgut, die das „Rezept“ für dieses Eiweiß enthält, und veränderten

die Signalsequenzen in den Erbgutre- PRESS / PICTURE WARTENBERG P. FRANK gionen daneben. „Der Mais produziert Junge mit Golden Retriever also immer noch dasselbe Eiweiß wie vorher“, sagt Joachim Messing, Leiter MEDIZIN des Waksman Institute of Microbiology, „aber wir haben sozusagen die Regler rechts und links davon etwas aufge- Haustiere fördern die dreht, damit er mehr davon herstellt.“ Messing hat seinen Tuning-Mais bereits Kindergesundheit inder, die mit Haustieren aufwachsen, haben ein stabileres Immunsystem als KAltersgenossen, die auf ein Streicheltier verzichten müssen. Zudem fehlen sie seltener in der Schule. Zu diesem Ergebnis sind Forscher von der University of War- wick gekommen, die Speichelproben von 138 Schülern untersuchten und gleichzeitig die Abwesenheitslisten in der Schule durchforsteten. Das Ergebnis fiel eindeutig für die Haustiere, in der Regel Hunde, aus: Fünf- bis achtjährige Schüler etwa, die einen vierbeinigen Freund besaßen, kamen pro Jahr auf bis zu 18 Schultage mehr als ihre Mitschüler ohne Kuscheltier. Auch die Speicheltests bewiesen, dass die Zahl der Ab- wehrzellen im Blut seltener von den Idealwerten abwich. Vorsicht ist nach Ansicht

ANTOINE DEVOUARD / REA LAIF DEVOUARD ANTOINE der Forscher lediglich vor Krankheitserregern geboten, die von Haustieren auf Genmanipulierter Mais den Menschen übertragen werden können. Von Hunden ausgeschiedene Spul- wurmeier beispielsweise, die, oral aufgenommen, in die Verdauungsorgane wan- als Hühnerfutter getestet. Er hofft, dern, können bei den Kindern Beschwerden auslösen, die von Bauchschmerzen bis dass seine Genmanipulation light schon hin zu Lungenschädigungen reichen. Alles in allem aber, resümieren die Experten, bald armen Ländern wie Bolivien „scheint der Nutzen von Haustieren bei Kindern jedes mögliche Risiko bei weitem helfen könnte, Eiweißmangel in der zu übersteigen“. Bevölkerung zu lindern.

BUCHGESCHICHTE von Shakespeares „Ham- am Ende sind mit einer let“. An einer Stelle des gipsartigen Schicht über- Notebooks der Werks spricht der Prota- zogen. Das darauf mit gonist von „Tafeln“, auf Tinte notierte Kochre- Renaissance denen alles Geschriebene zept, glaubt Stallybrass, „gelöscht“ werden könne hätte der Besitzer bei Be- ab es schon im ausgehenden 16. – und das zu einer Zeit, darf mit einem Schwamm GJahrhundert Vorläufer heutiger als mit Tinte geschrieben oder einem ähnlichen Notebooks? Peter Stallybrass, Anglis- wurde, die sich eigentlich Utensil „löschen“ und

tikdozent an der University of Pennsyl- nicht mehr entfernen SHAKESPEARE LIBRARY MOWREY/FOLGER F. J. durch neue Texte erset- vania, ist überzeugt, dass schon vor ließ. Doch der Dichter Notizbuch von 1604 zen können. Zu Shake- 400 Jahren handliche Bücher verwendet hat offenbar nicht phan- speares Zeiten, vermu- wurden, in denen Notizen „gespei- tasiert: In der Folger Shakespeare Bi- tet der Gelehrte, seien bereits Tausen- chert“ und nach Belieben gelöscht wer- bliothek in Washington entdeckte Stal- de solcher Notizbücher mit speziell den konnten. Auf die Spur der ersten lybrass jetzt ein kleinformatiges Notiz- beschichteten Speicherblättern in Ge- Notebooks kam Stallybrass beim Lesen buch aus dem Jahr 1604. Einige Seiten brauch gewesen.

der spiegel 26/2002 167 Prisma Wissenschaft · Technik

TIERE Leuchtende Killer uffällige Farbmuster dienen ATieren dazu, Partner zu ver- führen oder Feinde zu verjagen. Für reglos auf Beute harrende Jä- ger indessen, glaubten die Zoolo- gen, bringe auffällige Körperbema-

FOTOS: JEAN CHRISTEN / REM JEAN CHRISTEN FOTOS: lung keinen Nutzen. Am Beispiel Bemalter Becher Doppelausgusskanne mit Gottheit Panflöte einer australischen Stachelspinnen- art hat der US-Verhaltensforscher ARCHÄOLOGIE lung („An die Mächte der Natur – Mythen Mark Hauber jetzt diese Lehrmei- der alt-peruanischen Nasca-Indianer“), die nung widerlegt. Die Mythen der am 20. Juli in den Mannheimer Reiss- am Rücken gelb- Engelhorn-Museen eröffnet wird, zeigt an schwarz gestreiften Nasca-Indianer 138 Beigaben aus altindianischen Grabstät- Krabbeltiere, so ten, wie die Ureinwohner Perus ihren von fand er heraus, ie altperuanischen Nasca behaupteten den Gesetzen der Natur bestimmten Le- locken umso erfolg-

Dihren Lebensraum am Fuße der bensraum erforschten und die Beobach- reicher Beute in E. HAUBER MARK Anden gegen Dürren und tropische Regen- tungen in formschönen Bildern und in ge- ihre Netze, je ver- Australische güsse, sie gruben Bewässerungskanäle für heimnisvollen Zeichen einer weltweit ein- führerischer ihr far- Stachelspinne Felder und verteidigten ihre Ernte gegen zigartigen Textilkunst festhielten. Von Ge- benfrohes Rücken- einfallende Vogelschwärme oder Heere beten, Beschwörungen und Opferriten bis muster funkelt. Umgekehrt erziel- von Fröschen. Im Kampf gegen die Widrig- hin zum Menschenopfer an ein mythisches ten die Spinnen schlechte Jagd- keiten der Natur schufen die Indianer in Wesen, das Regen und Fruchtbarkeit ergebnisse, wenn der Forscher den den Jahrhunderten um die Zeitenwende schenken, aber auch Unheil über die Nasca Körperschmuck übermalte. Die auf dem schmalen Küstenstreifen Südperus bringen konnte, berichten die mehrfarbi- Fallensteller gaukeln Insekten of- eine einzigartige Hochkultur. Eine Ausstel- gen Vasenmalereien. fenbar schmackhafte Blüten vor.

MEDIZIN Brüstle: ES-Zellen bieten weiterhin entscheidende Vorteile. An- ders als die adulten Stammzellen lassen sie sich beispielsweise fast unbegrenzt im Labor vermehren. Außerdem sind wir bei „Rivalität vermeiden“ den ES-Zellen in Tierversuchen schon sehr nah an ersten The- rapiemöglichkeiten ... Der Bonner Mediziner Oliver Brüstle, 39, über neue Ent- SPIEGEL: ... US-Forschern ist es gerade gelungen, Ratten mit Hil- deckungen der Stammzellforschung fe embryonaler Stammzellen von parkinsonähnlichen Sym- ptomen zu befreien. SPIEGEL: Ein Team um die Forscherin Catherine Verfaillie von Brüstle: Genau. Auch haben sich ES-Zellen beispielsweise in In- der University of Minnesota hat aus dem Knochenmark von sulin bildende Zellen oder Herzmuskelzellen verwandeln lassen. Ratten adulte Stammzellen isoliert, die sich zur Zucht zahlrei- Der wesentlichste Vorteil der ES-Zellen ist jedoch die Möglich- cher Gewebetypen eignen könnten. Wie bewerten Sie keit, sie genetisch zu verändern. So könnten künftig die Ergebnisse? etwa Gene, die für die Krankheitsentstehung wichtig Brüstle: Die Arbeit belegt eindrucksvoll, dass sich adul- sind, gezielt entfernt oder inaktiviert werden. Es könn- te Stammzellen in mehr Zelltypen verwandeln lassen te möglich werden, Zellen herzustellen, die etwa feh- als bisher angenommen. Auch können sie offenbar im lende Funktionen im Gehirn kompensieren. Ob so etwas erwachsenen Organismus in Gewebe wie etwa Lunge mit adulten Stammzellen geht, ist noch völlig ungewiss. und Darm einwandern. Ob solche Zellen auch für SPIEGEL: In Deutschland wird ab Juli mit dem neuen therapeutische Zwecke brauchbar sind, lässt sich je- Stammzellgesetz der Import von ES-Zellen zu For-

doch noch nicht sagen. H. DARCHINGER J. schungszwecken erlaubt sein – allerdings nur von Zell- SPIEGEL: Die jetzt untersuchten adulten Stammzellen Brüstle linien, die vor dem 1. Januar aus Embryonen gewon- sollen eine ähnliche Verwandlungsfähigkeit besitzen nen wurden. Reicht Ihnen diese Regelung? wie die ethisch umstrittenen embryonalen Stammzellen (ES- Brüstle: Gerade die Stichtagregelung ist unglücklich und könn- Zellen), für deren Gewinnung Embryonen abgetötet werden te uns bald Probleme auf EU-Ebene bescheren. Das neue EU- müssen. Ist Forschung an ES-Zellen nun überflüssig? Forschungsrahmenprogramm wird sicherlich auch Projekte Brüstle: Jede Rivalität zwischen der Forschung an embryona- mit menschlichen Stammzellen fördern. Es könnte die para- len und adulten Stammzellen sollte vermieden werden. Beide doxe Situation entstehen, dass Forscher aus dem europäischen Bereiche liefern derzeit faszinierende Befunde. Ich kann mir Ausland mit deutschen Steuergeldern Vorhaben durchführen, vorstellen, dass künftig für manche Anwendungen adulte, für die für deutsche Wissenschaftler einen Straftatbestand dar- andere embryonale Stammzellen die besseren Kandidaten sind. stellen und mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden SPIEGEL: Warum kann auf die ES-Zellen nicht ganz verzichtet können. Hier muss unbedingt eine sinnvollere Lösung gefun- werden? den werden.

168 der spiegel 26/2002 Werbeseite

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MEDIKAMENTE Angriff auf den Antikörper Ein neuartiges Medikament aus dem Genlabor soll Allergikern das Leben erleichtern. Patienten erwarten die Arznei voller Ungeduld. Mediziner preisen die Substanz, die jetzt in Australien für die Behandlung von Asthmatikern zugelassen wurde, schon als größte Erfindung seit dem Cortison.

s war eine Sternstunde der Moleku- beginnt eine neue Ära in der Behandlung Allergien. In den reichen Ländern jedoch, larbiologie, die sich 1985 in einer von Allergien“, prophezeit Ulrich Wahn. so vermuten Allergologen, stürzen sich die EBerner Pizzeria ereignete. Bei einer Der Kinderallergologe testete an der Ber- arbeitslos gewordenen Moleküle statt- Strategiebesprechung hatte der damalige liner Charité für Novartis das neue Medi- dessen auf an sich harmlose körperfremde Entwicklungschef des Chemiemultis Ciba- kament in einer Studie mit schwer heu- Gegner wie Pollen, Tierhaare oder Stoffe Geigy gerade erklärt, der allergieerzeu- schnupfenkranken Kindern. „So muss sich im Essen – und verursachen so Asthma gende menschliche Antikörper Immunglo- mein Vater, auch ein Kinderarzt, gefühlt und Allergien aller Art. bulin E, kurz IgE, müsse endlich besiegt haben, als das Cortison erfunden wurde.“ Im Körper eines Wohlstandsbürgers werden. Bereits seit Jahren zerbrachen sich Tatsächlich setzt der IgE-Blocker so früh kann das Einatmen etwa von Birkenpollen Wissenschaftler die Köpfe, wie man die in der allergischen Reizkaskade an, wie dazu führen, dass IgE-Moleküle genau die- Wirkung dieses Moleküls hemmen könnte, dies bisher kein anderer Stoff vermochte. ses Allergen als feindlich einstufen und mit das Allergikern das Leben schwer macht. Im Laufe der Evolution brachte der diesem „Wissen“ im Blut und im Gewebe Da kritzelte der Ciba-Forscher Christoph menschliche Organismus verschiedene Im- der Schleimhäute zirkulieren. Schließlich Heusser in der Mittagspause vor den Au- munglobuline hervor, die bei der Abwehr docken die IgEs an den Rezeptoren der so gen des Entwicklungschefs auf eine Pa- von Krankheitserregern und eindringen- genannten Mastzellen an – ähnlich wie ein pierserviette, wie der dringend gesuchte den Fremdsubstanzen helfen. Als einziger Schlüssel ins Schloss greift. Mastzellen sind Gegenspieler des Übeltäters im Immun- möglicher natürlicher Einsatzzweck des die Munitionskammer im Abwehrsystem: system aussehen könnte: Am wirksamsten, Immunglobulins E ist bisher die Abwehr In ihnen sind Histamine und andere rei- trug Heusser vor, würden sich die fehlge- von Parasiten wie Würmern bekannt. In zende Abwehrstoffe gespeichert. steuerten Abwehrmoleküle durch einen der Dritten Welt scheint IgE mit dieser Auf- Hat der Körper dieses Programm ein- künstlich erzeugten Antikörper blockieren gabe auch noch ausgelastet zu sein; dort mal gelernt, ist der Mensch zum Allergiker lassen – einen Anti-Antikörper. leiden die Menschen nur äußerst selten an geworden. Geraten im nächsten Jahr wie- „Das war damals eine sehr unkonventio- nelle Idee“, erzählt Heusser, „und dafür be- Blühende Wiese im Schwarzwald: Im Frühling mit dem Fernseher in den Keller kommt man leider nicht immer gleich meh- rere Labors spendiert.“ Im Management des Konzerns sprang man zunächst nicht so recht auf die Idee mit dem Anti-IgE an – selbst dann nicht, als Heusser aus Mäusezellen bereits ein Maus-Anti-IgE gewann. Elektrisiert waren die Manager des Phar- makonzerns erst, als zwei Jahre später eine winzige US-Biotechnologie-Firma namens Tanox mit einem neuen Patent Aufsehen erregte: Die Amerikaner hatten ein Prinzip für ein menschliches Anti-IgE entwickelt. Nun war klar: In dem, was Heusser einst auf seiner Serviette skizziert hatte, steckt das Potenzial für ein Milliardengeschäft. Ciba-Geigy, heute mit Sandoz zum Giga- Konzern Novartis fusioniert, kaufte sich eilig bei Tanox ein, um die Zusammen- arbeit zu sichern. Bald darauf stieg noch die US-Firma Genentech mit ins Boot. In der vergangenen Woche nun erhielt das erste künstlich hergestellte Anti-IgE unter dem Markennamen Xolair (Wirk- stoff: Omalizumab) zunächst in Australien die lange erwartete Zulassung für die Be- handlung von allergischem Asthma. Kein Zufall: 30 Prozent der Australier, vor allem Kinder und Jugendliche, haben Asthma – mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Doch die Nachricht löste auch in Deutschland Begeisterung aus: „Für uns 170 liche Antikörper, der alle drei bis vier tentschutz für das Verfahren auslaufen. Wochen unter die Haut gespritzt werden Dann fallen die Preise. muss, Hoffnung zu bringen. Denn er greift Zwar sind bei der Anwendung des IgE- viel früher in die Kaskade der Allergie ein: Blockers bisher „praktisch keine Neben- Er erkennt das schädliche IgE und setzt wirkungen bekannt geworden“, bestätigt sich an dessen Schlüsselbart fest. Die Brunello Wüthrich, Leiter der Allergie- solchermaßen erblindeten IgEs können station am Zürcher Universitätsspital. Er nicht mehr an den Mastzellen andocken – bewertet das Anti-IgE als innovativstes deren Munition kommt gar nicht erst zum Therapiekonzept seit langem. „Aber der Einsatz. liebe Gott hat dem Menschen das IgE nicht

RONALD FROMMANN / LAIF FROMMANN RONALD Besonders profitieren könnten davon gegeben, damit er allergisch wird. Es muss Allergietest Multiallergiker. Selbst Fachleute neigten auch eine natürliche physiologische Be- Arbeitslose Abwehr? dazu, deren Leidensdruck zu unterschät- deutung haben.“ zen, sagt Allergologe Wahn. Er hofft, für Eine britische Forschungsarbeit etwa der Pollen in die Nase, wird der Organis- schwere Fälle im nächsten Jahr schon die lässt Vermutungen zu, IgE habe einen hem- mus sofort von Heerscharen darauf ge- Arznei aus Australien zu bekommen. „Wir menden Einfluss auf das Tumorwachstum. eichter IgE-Moleküle überschwemmt. Die- haben in unserer Spezialambulanz multi- „Man weiß nicht, was man sich mit der se docken an den nächstbesten Mastzellen allergische Patienten, die beim ersten Früh- Gabe von Anti-IgE einhandelt“, warnt an und machen Jagd auf Pollen. Beim lingshauch für Wochen mit dem Fernseher auch Wolfgang Becker-Brüser, Herausge- Feindkontakt mit dem IgE zerplatzt die in den Keller ziehen. Kinder, die gegen den ber des pharmakritischen „Arzneimittel- Hülle der Mastzelle. Ihre ätzende Fracht ganzen Garten allergisch sind. Dagegen Telegramms“. „Theoretisch könnten dabei ergießt sich ins Gewebe. Die Folge: aller- kommt eine Desensibilisierung nicht an.“ alle möglichen Infektionen auftreten.“ Bei gische Reaktionen wie Schwellungen und Das Anti-IgE könnte als eine Art „Breit- Studien mit nur ein paar tausend Proban- Schleimfluss (siehe Grafik). band-Anti-Allergikum“ theoretisch auch den können solche Nebenwirkungen leicht Manchen Heuschnupfen-Kandidaten Menschen mit Bäcker-Asthma oder viel- unerkannt bleiben. Allergien seien zudem hilft es, ihren Organismus in einer lang- fältigen und komplizierten Nahrungsmit- komplexe Regelkreise. „Ein Antikörper, wierigen Prozedur an die Allergene zu ge- telallergien helfen. und ich habe keine Allergien mehr“, wöhnen („Desensibilisierung“). Andere Dass Anti-IgE vor dem Jahr 2004 auch in dämpft Becker-Brüser die Begeisterung, Kranke kurieren ihre Symptome mit Anti- Deutschland in die Apotheken kommt, ist „das ist doch zu schön, um wahr zu sein.“ histaminen oder mit der Allzweckwaffe indes nicht zu erwarten. Anders als in Die Anwendung von Xolair soll denn Cortison, welche die körpereigene Immun- Australien haben die europäischen und US- auch zunächst beschränkt bleiben auf Pa- abwehr unterdrückt – allerdings oft mit Ne- amerikanischen Behörden die ursprüng- tienten mit mittelschwerem und schwerem benwirkungen. lich für das vergangene Jahr vorgesehene Asthma. Karl-Christian Bergmann von der Für diejenigen Allergiker, denen her- Marktzulassung erst einmal verschoben. Allergie- und Asthma-Klinik Bad Lipp- kömmliche starke Medikamente nicht Sie erwarten von Novartis weitere Studien, springe begrüßt diese Entscheidung: mehr ausreichen, scheint der neue künst- um zum Beispiel mögliche Nebenwirkun- „Wenn wir eine völlig neue Medikamen- gen besser zu ermitteln. tenklasse einführen, deren Langzeitwir- Der Pharmakonzern muss nun unter kung wir nicht kennen, dann müssen wir Hochdruck neue Daten liefern. Denn in je- vorsichtig bei denen anfangen, für die wir dem Jahr, das bis zur Markteinführung ver- sonst nichts haben.“ Alle 90 Minuten, dar- geht, gehen gigantische Geldmengen ver- auf weist Bergmann hin, stirbt in Deutsch-

EMMLER / LAIF EMMLER loren: In etwa zehn Jahren dürfte der Pa- land ein Mensch an Asthma. Einige schwer

Blockade gegen Heuschnupfen Wie Omalizumab, Produktname Xolair, wirkt

Allergen Histamin

IgE

Allergene Stoffe wie Pollen rufen die Bildung von Anti- Das Medikament Xolair wird vor dem nächsten Pollen- körpern (IgE) hervor . Diese setzen sich an Mastzellen flug gespritzt . Die immer wieder neu gebildeten in der Schleimhaut der Atemwege fest . Damit ist das Im- Mastzellen tragen zu diesem Zeitpunkt noch keine IgE munsystem auf diesen Pollentyp programmiert. Bei erneu- an der Oberfläche. Durch Pollenflug neu gebildete IgE tem Kontakt mit diesen Pollen veranlassen die angedock- werden durch Xolair blockiert . Das Andocken und ten IgE die Mastzellen, Histamine auszuschütten . damit die Ausschüttung von Histamin unterbleiben .

Histamine bewirken allergische Reak- Ohne Histamine fehlen tionen wie Schwellungen und Schleimfluss auch Heuschnupfen-Symptome

der spiegel 26/2002 171 kranke Patienten, denen Bergmann im Rahmen einer klinischen Studie Xolair ver- abreichte, konnten ihre Cortison-Menge um 60 bis 70 Prozent absenken. Das hat den Mediziner überzeugt: „Anti-IgE ist ein Meilenstein.“ Wenn mit diesen Patienten mehr Erfah- rungen gesammelt wurden, meint der Lun- genexperte, könne man daran denken, das Medikament auch Menschen mit schwe- rem Heuschnupfen zu spritzen. Zwei bis drei Jahre werde es nach der Marktein- führung dauern, schätzt Novartis-Ent- wicklungschef Jörg Reinhardt, bis das An- wendungsgebiet erweitert werden könnte. Vor allem der Preis dürfte jedoch dafür sorgen, dass Xolair nicht so schnell zu einem Massenprodukt gegen juckende Nasen wird. Noch hat der Konzern sich nicht festgelegt;

doch mit 500 bis 750 Euro pro Monat sei EBERLEIN LUTZ wohl zu rechnen, bestätigt Reinhardt. Frachtschiff „Magdalena Oldendorff“ in der Antarktis (2001): Im Würgegriff des Treibeises „Für die meisten Menschen, die unter ei- ner Pollenallergie leiden“, sagt Kurt Blaser vom Schweizerischen Institut für Allergie- EXPEDITIONEN und Asthmaforschung in Davos, „gibt es ja ohnehin billigere, gut einsetzbare Mittel, die diesen Patienten genauso gut helfen.“ „Alles läuft hier schief“ Doch ähnlich wie in Australien wächst auch in Europa die Zahl der schwer Lei- 79 russische Polarforscher stecken in der Eisfalle: Ihr deutsches denden. Bei Kindern und Jugendlichen ist Asthma bereits die häufigste chronische Charterschiff liegt in der Antarktis fest. Eine Rettung im Krankheit. Laut Deutschem Grünen Kreuz Polarwinter ist riskant. Hat der Kapitän das Desaster verursacht?

apitäne in Seenot fürchten kaum ei- „Magdalena Oldendorff“ beinahe im Dun- nen Moment mehr als jenen, in dem kel des antarktischen Winters verschollen Kdie Glut der letzten Zigarette an – und niemand hätte helfen können. Bord erlischt. Dann schwillt die Nervosität Kurz nachdem die „Magdalena Olden- der Seeleute, die Stimmung droht zu bers- dorff“ von der Schelfeiskante der Antark- ten – manchmal entlädt sich der Frust so- tis abgelegt hatte, erhob sich ein gewaltiger gar in einer Meuterei. Sturm. „Wind von Stärke elf peitschte den Das deutsche Frachtschiff „Magdalena Schnee über das Deck und trieb die Eis- Oldendorff“ ist in Seenot. Vom Eis der Ant- schollen zusammen“, erzählt Martianow. arktis eingeschlossen, geht der Mannschaft Immer dichter und dicker wurde das Eis. langsam der Proviant aus. „Zucker und Öl Vibrierend quälte sich das über 10000 PS sind schon aufgebraucht“, berichtet Wja- starke Schiff mit weniger als zwei Knoten tscheslaw Martianow, der Expeditionsleiter durchs Eis. Vor dem Bug lag das brenzligs- der an Bord ausharrenden 79 russischen te Stück der über 4000 Kilometer langen Wissenschaftler. Auch die Brotvorräte wür- Heimreise: der antarktische Küstenstrom.

NORBERT MICHALKE NORBERT den wohl nicht mehr lange reichen. Entgegen dem Uhrzeigersinn dreht sich Kinderallergologe Wahn All dieser Mangel sei ja noch auszuhalten, diese Meeresströmung einmal um die „Unterschätzter Leidensdruck“ krächzt die Stimme des 50-Jährigen über ganze Antarktis herum. „Diese Strömung das Satellitentelefon. Jetzt aber seien auch führt einen mehrere 100 Kilometer breiten gibt es ein Drittel mehr asthmakranke Kin- noch die Zigaretten aufgeraucht. „Für die Gürtel aus tückischem Treibeis mit sich“, der als noch vor sechs Jahren – und die meisten von uns“, sagt Martianow, „sind beschreibt Martianow den Kordon aus meisten dieser Erkrankungen gehen auf Zigaretten so wichtig wie Sauerstoff.“ scharfgezackten Schollen, die urplötzlich Allergien zurück. 13 Expeditionen hat der Polarforscher in von Kälte, Wind und Wellen zu einer un- Auf der Suche nach Abhilfe ist manchem die Eiswüste des südlichsten Kontinents der durchdringlichen Masse zusammenge- Heuschnupfen-Geplagten nahezu jedes Erde schon unternommen. „Und nun läuft schweißt werden können. Mittel recht. Ein japanischer Parasitologe zum ersten Mal etwas richtig schief“, flucht Am 30. Mai zeigte das Außenthermo- machte sich die Rolle des IgE als körper- er und korrigiert sich, „nicht etwas läuft meter weit unter Minus 20 Grad. Plötzlich eigene Parasiten-Polizei zu Nutze. Koichiro hier schief, sondern alles läuft schief.“ verstummte das Knirschen des berstenden Fujita verschluckte mit Bandwurmlarven Ende Mai hatte die „Magdalena Olden- Eises unter dem Schiffsrumpf. „Wir saßen infizierten Lachs und beherbergte bald dar- dorff“ sein Team von der russischen For- fest“, sagt Martianow. Das Schiff hatte sich auf einen bis zu 15 Meter langen Schma- schungsstation Nowolasarewskaja abge- im Eis eingefressen und war von nun an rotzer in seinem Gedärm. holt. Sehr spät, denn am Südpol hatte be- Spielball der Naturgewalten. „Der Küsten- „Der Wurm hat mein Immunsystem ge- reits der Winter eingesetzt. In aller Eile strom riss uns mit in Richtung des Wed- stärkt“, glaubt der Forscher. „Ich habe fest- steuerte das Schiff Richtung Kapstadt – dellmeeres“, so Martianow. gestellt, dass ich seitdem keinen Heu- und nahm so direkten Kurs in die Kata- Damit drohte eine Reise ohne Wieder- schnupfen mehr habe.“ Beate Lakotta strophe. Von Treibeis eingekeilt, wäre die kehr: Das Weddellmeer erstreckt sich in

172 der spiegel 26/2002 Wissenschaft

Russische Antarktis- lena Oldendorff“ zu einem finanziellen Station Nowolasarewskaja Fiasko. Die Rettung wird am Ende mehre- Heimweg versperrt re Millionen Euro kosten. Allein die Heu- er für die „Agulhas“, so schätzen Seefahrt- has“ aus Südafrika und experten, kostet pro Tag rund 20000 Euro der argentinische Eisbre- – plus Treibstoff. Zwar verkünden ALCI in cher „Almirante Irizar“ Südafrika und die Oldendorff-Reederei in herbei. Die „Agulhas“ Lübeck: Solange die Aktion noch läuft, soll voraussichtlich an wolle man über die Frage, wer das Ganze diesem Dienstag am zahlt, nicht reden. Doch Russen und Deut-

AARI Rand des Eisgürtels ein- sche haben sich bereits getroffen, um über treffen; doch den Durch- den Streitpunkt zu sprechen. einer riesigen Einkerbung östlich bruch durch den Eiskor- Denn die russischen Antarktis-Forscher der Antarktischen Halbinsel (sie- don kann sie alleine nicht erheben schwere Vorwürfe gegen den deut- he Karte). Unermüdlich treibt schaffen. Diesen Weg soll schen Betreiber der „Magdalena Olden- der Küstenstrom seine Eisfracht ihr die „Irizar“ bahnen. dorff“ und den Kapitän an Bord. „Das in diese Bucht. „Wenn wir dort Sturm, Kälte und Dun- Schiff verfügt höchstens über 30 Prozent gelandet wären, hätte uns keiner kelheit können diese Plan- seiner eisbrechenden Eigenschaften, wie sie retten können“, beschreibt Mar- spiele aber durchkreuzen. im Vertrag zwischen uns und der Reederei tianow die „dramatischsten Mo- Nichts ist an diesem ver- stehen“, behauptet Alexej Turchin, der mente“ seines Forscherlebens. lassenen Flecken Erde in Cheflogistiker: „In ihrem jetzigen Zustand Genau diese Katastrophe hat- dieser Jahreszeit sicher. hätte sie es nie durch den Eisgürtel ge-

te einst eine Expedition von Sir / AARI MARTYANOV „Die ‚Agulhas‘ war im schafft.“ Ernest Shackleton ereilt. Der bri- Polarforscher Martianow Winter noch nie in der So sei die „Magdalena Oldendorff“ viel tische Antarktis-Pionier verirrte „Panik machte sich breit“ Antarktis“, sagt Kevin zu leicht. „Sie muss sich aber auf das Eis sich 1915 in die Weddellsee, sein Tate, Kapitän des Schiffs. draufschieben und es mit ihrem Gewicht Schiff „Endurance“ wurde vom Eis zer- Sicher ist nur eins: Die Männer der brechen“, so Turchin. Und wegen eines malmt. Monatelang trieb er mit seiner „Magdalena Oldendorff“ können unmög- Defekts laufe eine Maschine nicht auf vol- Mannschaft auf Eisschollen und ernährte lich den gesamten antarktischen Winter, ler Kraft. Außerdem habe der an Bord sich von Robben und Pinguinen. der bis November dauert, ohne Hilfe stationierte Hubschrauber einen Rotor- Verzweifelt versuchte der ukrainische durchhalten. Der Proviant wäre Mitte Juli schaden und könne deshalb nicht zu wich- Kapitän, diesem Schicksal zu entrinnen. aufgebraucht, der Treibstoff spätestens tigen Erkundungsflügen eingesetzt werden. Immer wieder setzte er das Schiff vor und Ende August. Um Energie zu sparen, Den schwersten Vorwurf erheben die zurück, um es wieder freizubekommen. sind Swimmingpool und Sauna längst russischen Forscher allerdings gegen den Doch das Schiff ist für die Eisbedingun- abgestellt. Kapitän der „Magdalena Oldendorff“. Er gen mit 173,7 Metern sehr lang und damit Rettung soll aus der Luft kommen. Auf sei von der russischen Forschungsstation nicht wendig genug, um sich durch das Eis der „Agulhas“ stehen zwei Oryx-Hub- Nowolasarewskaja auf direktem Kurs nach zu winden. Am 11. Juni funkte der Kapitän schrauber der südafrikanischen Luftwaffe Kapstadt aufgebrochen – eine besonders die Heimatreederei in Lübeck an und for- bereit. „Sie sind mit Langstreckentanks riskante Strecke. „Wahrscheinlich wollte derte Hilfe. „An diesem Tag machte sich ausgerüstet und können die ‚Magdalena der Kapitän sich die zwei Tage Umweg spa- Panik breit“, erinnert sich der Chef- Oldendorff‘ nach und nach mit zehn Ton- ren und ist geradewegs in das dicke Eis logistiker der russischen Antarktis-Forscher nen Proviant versorgen“, sagt Gerald hineingefahren“, vermutet Turchin. in St. Petersburg, Alexej Turchin, an ein Hagemann, Chef von Antarctic Logistics Die Reederei Oldendorff will die Vor- Telefonat mit seinem Kollegen Martianow. Centre International (ALCI), einer süd- würfe nicht im Detail kommentieren. „Wir Fast zwei Wochen lang trieb die „Mag- afrikanischen Firma, die die Rettungs- organisieren jetzt erst einmal die Rettung dalena Oldendorff“ im Würgegriff des aktion koordiniert. Doch Antarktis-Exper- der Besatzung. Später werden wir sorg- Treibeises. Dann gelang es doch noch, das ten wissen, dass im Sturm die Hubschrau- fältig untersuchen, wie unser Schiff in die Schiff freizubekommen und in die sichere ber unter Deck bleiben. Neben der Gefahr momentane Lage geraten ist“, entgegnet Muskeg-Bucht zu manövrieren. „Zumin- für die Menschen an Bord entwickelt sich Peter Bagh, Sprecher des Lübecker Schiffs- dest sind wir nun aus der gefährlichen Strö- die Eisfahrt der betreibers. Die Antarktis-Fahrt der „Mag- mung heraus“, sagt Martianow. Aber der Das südafrikanische Ver- „Magda- dalena Oldendorff“ könnte ein rechtliches Heimweg bleibt versperrt. sorgungsschiff „Agulhas“ Nachspiel haben. Seit über einer Woche läuft nun soll am Dienstag im Ziel- Zu dem ganzen Drama wäre es vermut- gebiet eintreffen eine der riskantesten Ret- Kapstadt lich gar nicht gekommen, wenn die rus- tungsaktionen in der Ge- Tage später folgt sischen Forscher ihr eigenes Schiff ge- schichte der Antarktis- der argentini- nommen hätten. Im Februar wurde sche Eisbrecher Position der Forschung. Zur Hilfe ei- „Magdalena Oldendorff“ die „Akademik Fjodorow“ noch im len das eisgängige Ver- „Almirante Irizar“ Dock der MWB-Werft in Bremer- sorgungsschiff „Agul- Buenos Muskeg-Bucht haven gewartet. Die Zeit drängte. Aires Im März sollte das Schiff zur Versorgungsfahrt in die Antark- Seenot Weddell- tis aufbrechen. Doch dazu kam meer Station Nowo- lasarewskaja es nicht. im Südpolarmeer Beim letzten Test der Ma- Küstenströmung ANTARKTIS schine flog den Mechanikern mit Treibeis der Motor fast um die Südpol Ohren. Ihre Diagnose: Die Packeisgrenze Reparatur werde viele Monate Rettungsschiffe dauern. Gerald Traufetter 173 Wissenschaft

MEDIZIN „Aus vielen Richtungen angreifen“ Strahlentherapeut Michael Molls über die Angst der Patienten vor der Bestrahlung, die Überschätzung der Chemotherapie und neue Strategien gegen den Krebs

SPIEGEL: Der Früherkennung, so hoff- Michael Molls nungsfroh sich das Wort auch anhört, sind ist Direktor der Klinik für im wirklichen Leben ziemlich enge Gren- Strahlentherapie der Tech- zen gezogen … nischen Universität Mün- Molls: …das ist leider wahr. Um wirklich chen und leitet das Tumor- heilen zu können, müssen wir den Tumor zentrum München. Diese möglichst erkennen, ehe sich Metastasen „interdisziplinäre Poli- bilden. Aber wir können leider diese Toch- klinik“ gilt deutschland- tergeschwülste nicht diagnostizieren, so- weit als Vorbild einer lange sie noch mikroskopisch klein sind. fachübergreifenden Krebs- Wir brauchten ein Mikroskop, das uns den behandlung. Gemeinsam Einblick in das Körperinnere gewährt und entscheiden Chirurgen, selbst winzige Tumor-Absiedelungen sicht- Strahlentherapeuten und bar macht. Ein solches Instrument steht je- internistische Krebs- doch auf absehbare Zeit nicht zur Verfü- experten (Onkologen) in gung. jedem Einzelfall darüber, SPIEGEL: Wie groß muss eine Metastase welches Vorgehen den denn sein, damit sie sich auf herkömmliche

WOLFGANG M. WEBER WOLFGANG größten Erfolg verspricht. Weise diagnostizieren lässt? Molls: Ungefähr wie eine kleine Erbse. Sie besteht zu diesem Zeitpunkt schon aus SPIEGEL: In Heidelberg beginnt in diesen Richtung der Krebstherapie und der Krebs- rund zehn Millionen Zellen… Wochen der Bau einer „Schwerionen-The- forschung nicht stimmt? SPIEGEL: …und jede einzelne kann die bös- rapieanlage“, Baukosten rund 75 Millio- Molls: So weit würde ich nicht gehen. Mir artige Krankheit weitertragen. nen Euro. Was versprechen sich Deutsch- gefiele es besser, wenn Sie sagten: Wir set- Molls: Ja, das ist die Crux. Ich habe hier lands Strahlentherapeuten von so einer zen die falschen Akzente. Ich denke, wir eine Grafik (siehe Seite 176), da ist die Riesenmaschine? sollten uns von der falschen Hoffnung ver- Grenze zwischen mikroskopischen, also Molls: Eine ganz neuartige Bestrahlung, die abschieden, irgendwann werde es das eine unsichtbaren, und makroskopischen, mit vielen Krebskranken neue Chancen eröff- Medikament geben, welches das Krebs- bloßem Auge erkennbaren, Metastasen nen wird. Wir können damit präziser und problem löst. Der Fortschritt findet nur in eingezeichnet. effizienter auf die bösartigen Zellen zie- kleinen Schritten statt. Es wird leider keinen SPIEGEL: Man sieht, dass jede Anti-Krebs- len; das gesunde Gewebe der Umgebung – Einstein der Medizin geben, dem – wie Strategie den Krebs erst mal unter die zum Beispiel im Gehirn – wird geschont. Sichtbarkeitsschwelle zu drücken vermag. SPIEGEL: Das würde dem Ruf Ihres Fachs Trotzdem erliegen aber am Ende zwei von sicher gut tun. Viele Krebskranke empfin- drei Patienten ihrer Krebskrankheit. den die Strahlentherapie als besonders Molls: Die drei Anti-Krebs-Strategien sind furchterregend. nicht gleichermaßen wirksam. Man muss Molls: Ja, das stimmt. In der öffentlichen sie intelligent miteinander kombinieren. Wahrnehmung kommt die Chirurgie deut- Der Chirurg entfernt den primären Tumor lich besser weg, Strahlen- und Chemothe- an seinem Ursprungsort, gegebenenfalls rapie hingegen nicht so gut. Ich glaube, dass auch benachbarte, befallene Lymphkno- ein Grund für das korrekturbedürftige ten. Auch die Strahlentherapie ist eine lo- Image der Strahlentherapie darin liegt, dass kale Behandlungsmaßnahme – bei einer es immer noch Leute gibt, die Atomkraft, Reihe von Tumoren, vor allem in früheren

Tschernobyl und Strahlentherapie in einem / LAIF FROMMANN RONALD Stadien, kann auch sie allein heilen. Atemzug nennen. Das ist völliger Unsinn, Chemotherapie-Patienten bei der Infusion SPIEGEL: Bei welchen denn? bleibt aber nicht ohne Wirkung. „Wir setzen die falschen Akzente“ Molls: Zum Beispiel bei Haut-, Gebärmut- SPIEGEL: Nun stehen Krebstherapeuten terhals- oder Prostatakrebs. Außerdem ver- auch aus anderen Gründen in der Kritik. seinerzeit bei den keimtötenden Antibioti- nichtet die Strahlentherapie Tumorzellen, Der berühmte Biochemiker Erwin Char- ka – auf einmal der große Wurf gelingt. die trotz Operation im Gewebe verblieben gaff, ein großer alter Mann der Wissen- SPIEGEL: Die kleinen Schritte, mit denen es sind. Somit verbessert sich die Chance ei- schaft, hat eine deprimierende Bilanz ge- vorangehen soll, können Sie die benennen? ner lokalen Heilung deutlich, etwa bei zogen. Er sagt: „Bei der Krebsbekämpfung Molls: Wir müssen aus vielen Richtungen Brustkrebs. Es ist wahr: Unsere Patienten ist viel herausgekommen, dicke Arbeiten, angreifen. Zuerst kommt die Früherken- haben oft zu Beginn der Behandlung Angst schöne Preise und Medaillen. Nur, wo die nung: Je früher wir einen Tumor erken- vor den Strahlen. Ist aber die Therapie be- Kranken sterben, ist fast nichts herausge- nen, desto bessere Chancen haben wir, ihn endet, meist nach sechs Wochen, fällt das kommen.“ Kann es sein, dass die ganze auch wirklich dauerhaft zu heilen. Urteil deutlich positiver aus. Viele Patien-

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Werbeseite Wissenschaft Drei Waffen gegen den Krebs ten sagen, die Chemotherapie sei viel reichen. Dies ist unter anderem die Folge schwerer zu ertragen. einer nicht ausreichenden Durchblutung he bösartig wuchernde Krebszellen die ersten SPIEGEL: Wenn man noch einen Blick auf sowie übergroßer Transportstrecken. Krankheitszeichen auslösen und als Tumor Ihre Grafik wirft, so kommt die Chemo- SPIEGEL: Und wenn die Chemotherapie sichtbar werden, haben sie sich, meist über meh- therapie offenbar nicht nur subjektiv, son- nicht alle krebskranken Zellen erreicht... rere Jahre unerkannt, bereits in Millionen von Zel- dern auch objektiv schlecht weg. Gibt es Molls: ...wenn sie nur in einer einzigen klei- len geteilt. Das Ziel jeder Behandlung ist die rest- dabei keine Heilung, keine Verminderung nen Ecke ein paar Tumorzellen am Leben lose Beseitigung aller Krebszellen, doch sind die der Tumorzellen auf null? lässt, dann ist das Rezidiv fast unaus- herkömmlich angewendeten Standardmethoden Molls: Die Chemotherapie setzt anders an weichlich. Viele Patientinnen mit Brust- – Operation, Strahlentherapie, Chemotherapie – als Chirurgie und Strahlentherapie. Denn krebs, die im Rahmen der Erstbehandlung unterschiedlich Erfolg versprechend. Unterzieht die Medikamente werden ja in der Regel in eine Chemotherapie, zum Teil sogar eine sich ein Krebspatient der Chemotherapie, so sind den Kreislauf injiziert und erreichen auf sehr aggressive Hochdosis-Chemotherapie nach mehreren Behandlungen oft keine Tumoren dem Blutweg sämtliche Körperregionen, zur Vernichtung mikroskopischer Metasta- mehr erkennbar, doch der Erfolg ist nur vorüber- ausgenommen das Gehirn. sen erhalten, entwickeln einen Rückfall. gehend, denn eine Vielzahl mikroskopisch kleiner Metastasen überlebt die Wirkstoff-Attacke. SPIEGEL: Theoretisch wäre sie also als ein- SPIEGEL: Wie viele Patientinnen profitieren zige Therapieform geeignet, sowohl mikro- denn von dieser Behandlung? Quelle: Tannock/Molls skopische als auch makroskopische Meta- Molls: Man geht davon aus, dass allenfalls stasen erfolgreich zu beseitigen. zehn Prozent der Brustkrebs-Patientinnen Molls: Theoretisch schon. Bei „flüssigen Tu- mit Mikrometastasen von der Chemothe- wie erklären Sie sich dann den unverdros- moren“ – damit meine ich bösartige Wu- rapie profitieren und geheilt werden kön- senen Optimismus, mit dem diese Thera- cherungen im Blut bildenden und lympha- nen. Dieser Prozentsatz gilt in etwa auch pierichtung weiterverfolgt wird? tischen System, also Leukämien und Lym- für die anderen soliden Tumoren. Molls: Das ist auch für mich nicht in allen phome – hat die Chemotherapie große Er- SPIEGEL: Deprimierende Zahlen. Details nachvollziehbar. Das eigentliche folge. Aber bei den soliden Tumoren – dazu Molls: Ja. Wir Ärzte, die Krebskranke be- Ziel der Tumortherapie besteht ja in der zählen vor allem die weit verbreiteten Kil- handeln, müssen grundsätzlich akzeptie- Vernichtung aller Tumorzellen. Beachtet ler-Krebse der Brust, der Prostata, der Lun- ren, dass wir einen Teil unserer Patienten man diesen Maßstab, so muss man sagen, ge und des Verdauungstraktes – ist die Effi- nicht heilen können, nämlich die Patienten, dass die Effizienz der zytostatischen Me- zienz der Chemotherapie nicht gut. die Metastasen entwickeln. Dann geht es dikamente wenig erfolgreich ist. SPIEGEL: Woran liegt das? nur darum, das Leben zu verlängern, bei SPIEGEL: Trotzdem konzentriert sich die Molls: Vor allem in biologisch „kritischen“ möglichst guter Lebensqualität. Krebsforschung vor allem auf die moleku- Arealen des Tumors lässt sich in den kran- SPIEGEL: Wenn die Chemotherapie von den laren Strukturen der Zelle. ken Zellen keine ausreichend hohe Kon- drei Behandlungsarten bei Krebs letztlich Molls: Alle neuen Verfahren, inklusive der zentration und Effizienz des Wirkstoffs er- die enttäuschendsten Ergebnisse bringt, gentherapeutischen, der immunologischen Abnahme der vorhandenen Tumorzellen bei ...... Chemotherapie SPIEGEL: Aber dieser weit ver- SPIEGEL: In welche Richtung würden Sie 1. 2. 3. 4. 5. 6. Behandlung größere breitete Glaube, wie Sie es nen- denn gern gehen? Tumoren 100 Millionen nen, setzt in der Wissenschaft Molls: Wir wollen Strahlen- und Genthe- gegenwärtig die Akzente. rapie kombinieren, um über Modulierung 10 Millionen Sichtbarkeitsgrenze Molls: Leider. Es muss die Fra- an den Genen die kranken Zellen gegen- 1 Million ge erlaubt sein, ob eine For- über Strahlen empfindlicher zu machen. schungsförderung, die den Tu- Und wir wollen mit den Strahlen millime- 100 000 mor so gut wie ausschließlich tergenau zielen können, um das gesunde 10 000 mikro- als molekulare, medikamentös Gewebe der Umgebung zu schonen. Gute ... Strahlentherapie skopisch zu beeinflussende Struktur be- Ansätze sind da: die hochpräzise geführte 1000 kleine Tumoren greift, überhaupt eine Chance Strahlenbehandlung am Linearbeschleuni- 100 hat, in den kommenden Jah- ger, etwa für kleinere Tumoren im Bereich ... Operation ren auf breiterer Front Erfolge des Gehirns, der Leber und der Lunge. 10 zu erreichen. Diese Ansätze müssen gefördert werden. 0 SPIEGEL: Was schlagen Sie statt- SPIEGEL: Dazu bedarf es spezialisierter Tu- 0 1 2 3 4 5 6 7 Monate der dessen vor? mor-Zentren wie hier in München. Aber Behandlung Molls: Jeder dritte Krebspatient manch einer Ihrer Kollegen wird nicht mit- stirbt nicht an Metastasen, son- ziehen, weil er die Fahne „Therapiefreiheit“ und der gegen die Neubildung von Blut- dern daran, dass der Tumor örtlich um- hochhält. Kaum ein Klinikchef will seine Pa- gefäßen im Tumor gerichteten, halten einer grenzt weiterwächst, zerstörend und das tienten an ein Therapiezentrum weiterrei- kritischen Betrachtung nicht Stand. Die ge- gesunde Gewebe verdrängend. Wenn wir chen, schon der eigenen Betten wegen, die weckten Erwartungen waren groß, die Er- diesen Kranken in Zukunft besser helfen dann vielleicht leer ständen. Könnten die gebnisse eher klein. Es gab und gibt da könnten... Ergebnisse der Anti-Krebsbehandlung bes- eine Menge wissenschaftlicher Träume… SPIEGEL: Durch Stahl und Strahl? ser sein, wenn die Ärzte sich auf verbindli- SPIEGEL: …die sich von den Fakten in den Molls: …ja, dann wäre schon viel erreicht. che Therapierichtlinien einigen würden? Krankenstationen und der Realität der Dazu bedarf es aber weiterer Forschung. Molls: Ganz ohne Zweifel. Wir dürfen nicht Therapie weit entfernt haben? Wir Strahlentherapeuten haben in den letz- nur von der Interdisziplinarität, der Zu- Molls: Leider ist selbst unter Experten der ten Jahren durch die Anwendung genauer sammenarbeit der verschiedenen Fachge- naive Glaube verbreitet, das alleinige Ver- Diagnoseverfahren, durch Informatik und biete, reden, wir müssen sie tagtäglich ständnis bestimmter molekularer Schlüs- Physik die Zielgenauigkeit der Behandlung praktizieren. Und das bedeutet, wir müs- selfunktionen, beispielsweise der Gene, lie- erhöht und die Nebenwirkungen deutlich sen in Deutschland entsprechende Struk- fere den direkten Zugang zur Lösung des vermindert. Aber wir sind nicht am Ende turen schaffen. Krebsproblems. So ist es nicht. unseres Weges. Interview: Johann Grolle, Hans Halter Wissenschaft

trickreich aufgerüsteten Granulat: Es könn- Golfplätze grün. An trockenen Tagen ge- HYGIENE te den Urin, den es aufnimmt, mittels Io- ben sie das aufgesogene Wasser allmählich nenaustausch gleich entsalzen. Für die Win- wieder ab. Und im Kanaltunnel zwischen Wunderpulver im delherstellung wäre das ein großer Sprung. Frankreich und England hält das Granulat Denn die Salze, die im Urin gelöst sind, be- die Wände dicht: Es quillt auf, sobald Was- schränken bislang das Saugvermögen des ser einsickert, und stopft das Leck. Schrumpfpaket Pulvers. Reines Wasser dagegen fassen die Die Windel bleibt aber vorerst der wich- famosen Körnchen in gewaltigen Mengen – tigste Anwendungsfall. Die Forscher ver- Die Einwegwindel ist zu einem bis zum 500fachen ihres Volumens. Noch bessern deshalb unentwegt ihre Verfahren. dünnere Windeln kämen damit in Betracht. Sie gießen simulierten Urin in pinkelfähi- Hightech-Produkt herangereift. Die Der Chemiekonzern BASF entwickelt ge Babypuppen, die sie mit granulatgefüll- dafür entwickelten Saugkügelchen nach einer anderen Methode extra dünne ten Teebeuteln gewickelt haben. Sie testen kommen sogar auf Golfplätzen und Saugpolster für Windeln, die aussehen wie den Saugkörper beim Laufen, im Sitzen in Tunneln zum Einsatz. normale Höschen. Auch diskrete Einlagen und im Härtefall – wenn das Kind auf den für Erwachsene, die mit Inkontinenz ge- Hintern plumpst. Eine Lage Löschpapier ie Wegwerfwindel muss sich nicht schlagen sind, wären damit möglich. verrät das Rückhaltevermögen. verstecken neben dem Computer- Schon jetzt ist die bescheidene Windel Beim Windelhersteller Procter & Gam- Dchip. Die Macht des Erfindergeis- ein Wunder der Problemstofflogistik: Die ble („Pampers“) in Schwalbach kommen tes verkörpert sie ebenso gut: Sie ist erste Schicht, ein feines Kunststoffgewebe, sogar regelmäßig Testeltern vorbei, die ge- kaum noch halb so dick wie vor 20 Jahren, lässt alle Flüssigkeit durch. Das Vlies dar- füllte Windeln ihrer Kinder abliefern. Die saugt aber das Vierfache an Flüssigkeit unter verteilt den Zulauf möglichst gleich- Forscher machen sich dann an die Au- weg. Und in den Labors der Windelfor- mäßig über die Absorber im Saugpolster. topsie. Oder sie durchleuchten die Objek- te mit Röntgenapparaten, um den heiklen Flüssigkeitstransport zu ergründen. Die kühnsten Pioniere wagen sich schon an den Angstgegner der Windelforschung: das „Fäkal-Management“. Degussa-For- scher Schmidt hat „in jüngster Zeit auffal- lend viele Patente“ auf diesem Feld regi- striert. Angemeldet wurden bereits Win- deln mit ausgetüftelten Taschen, in denen die Exkremente verschwinden sollen. Eine schwere Aufgabe, sagt Pampers-For- scher Bert Reher – schon wegen der „gewal- tigen Bandbreite an Stuhlkompositionen“. Aber ein neues Windelmodell für die Kleins- ten, versichert Reher, bewältige bereits „flüs-

HORACEK / BILDERBERG HORACEK sig bis pastos“. Es hat innen eine Netzschicht

Gewickelte Babys: Ein Standardschwall ist in 20 Sekunden weggesogen schung entsteht derzeit schon die nächste Nach außen dichtet eine atmungs- Generation. fähige Hülle das Paket ab. Die Saugleistung moderner Windeln Ein Standardschwall ist binnen verdankt sich einem Granulat von enor- 20 Sekunden weggesogen. Die Win- mer Quellfähigkeit. Dieses Pulver („Super- del fasst, ohne zu nässen, die Pro- Windelproduktion*: Superabsorber im Saugkörper absorber“) fasst gut das 30fache seines Vo- duktion einer ganzen Nacht. Das lumens an Urin – und gibt es obendrein kann rund ein viertel Liter sein, bestehend mit extra groben Poren. Der Stuhl wird durch nicht mehr her. Vorbei die Zeit der alten aus drei bis vier „Zugaben“, wie die Win- die Bewegungen des Kindes eingerieben. Zellstoffwindel, die unter Druck bereitwil- delforscher sagen. Die alte Stoffwindel kann da längst nicht lig troff wie ein Schwamm. Eine Schwäche allerdings muss Schmidt mehr mithalten. Die Ökobilanz aber, lan- Superabsorber sind netzartig verknäulte beim „Urin-Management“ einräumen: Die ge umstritten, ist immer noch unklar: Die Kunststoffmoleküle. Werden sie berieselt, Forscher suchen noch nach Methoden, den Hightech-Windeln zum Wegwerfen ver- quellen sie auf und saugen jedwede Flüssig- Urin rasch und ebenmäßig übers gesamte mehren – und seien sie noch so dünn – keit mit Macht in ihre Hohlräume. Gibt Polster zu verteilen. Andernfalls, sagt den Abfall, die waschbaren Mehrwegwin- man zwei, drei Teelöffel des feinkörnigen Schmidt, drohe immer wieder Überlastung deln dagegen das Abwasser. Pulvers in ein Glas Wasser, kann man das an der „Zugabestelle“. Das Magazin „Ökotest“ bleibt deshalb Glas danach getrost umdrehen: Die Masse Unterdessen erschließen die Hersteller bei einem salomonischen Unentschieden. wackelt wie Pudding, aber sie stürzt nicht. auch windelferne Einsatzgebiete für ihr Auch die Firma Procter & Gamble räumt Der Windelforscher Harald Schmidt hat Wunderpulver: Im Landbau halten die Kü- ein, dass das Rennen wohl Kopf an Kopf schon das Saugpolster neuen Typs im Blick. gelchen, in den Boden gepflügt, bereits weitergehen wird: „Die Waschmaschinen“, Beim Chemiekonzern Degussa in Krefeld sagt eine Sprecherin, „werden ja auch im- arbeiten seine Leute gerade an einem * Bei Procter & Gamble in Euskirchen. mer besser.“ Manfred Dworschak

178 der spiegel 26/2002 AUTOMOBILE Superbillig, supercool Eine wunderliche Fangemeinde feiert Spießerautos der siebziger Jahre als Kultgefährte – zum Entsetzen konventioneller Ford- und Opel-Liebhaber. eunundzwanzig Jahre, sagt An- dreas Haller, hat sein jüngst erwor- Nbenes Auto auf ihn gewartet. Der Wagen, meint der Hamburger Werbetex- BEN BEHNKE ter, sei „ein Geisterschiff, eine Flaschenpost „Motoraver“-Redakteure, Kultfahrzeuge: Vorliebe für Zombies aus dem Land der Drachentöter“. Zweifellos anspruchsvolle Metaphern Auch die konventionellen Liebhaber al- sind dies für einen Fahrzeugtyp, der bisher ter Opel- und Ford-Modelle (ohnehin ein kaum Beachtung fand – schon gar nicht eher kleiner Kreis) bleiben auf Distanz. bei Leuten wie Haller. Der Reklame-Poet „Jeder hat eine andere Vorstellung vom mit Rock’n’Roll-Spleen und Wangenbart Erhalt eines Fahrzeugs“, sagt Hayo Schön- fährt neuerdings einen Ford Granada. ke, Präsident bei Ford Classik Berlin e.V. Das „Hüftschwung-Coupé“ von 1973 Und die bestandsfördernde Mission des genießt bald amtlichen Oldtimer-Status, Motorave ist in Schönkes Kreisen strittig. wenngleich der Begriff „Liebhaberfahr- Auf den Parkplatz-Partys sieht man zeug“ bei diesem Modell eher befremdlich deutlich mehr Reifenqualm als polierten klingt: Dereinst wurden Granadas für ge- Chrom. Für Granada-Raver Haller etwa wöhnlich nicht geliebt. Sie galten als große, zählt ein beherzter Tritt gegen die Fahrer- vergleichsweise billige Nutztiere, belast- tür mit den Worten „I fuck you, baby“ bare Packesel auf Bosporus-Kurs – Autos durchaus zum guten Umgangston mit dem kurzum, an die man keine Gefühle ver- historischen Fahrzeug – aus Sicht von Ford schwendete. Mit Gruselfarben (braunme- Classic e.V. eine indiskutable Form von tallic, mattorange) und Vinylbedachung Traditionspflege. sprachen sie nicht gerade stilsichere Kun- Ein Granada der ersten Baureihe ist eine den an und verschwanden klanglos wieder Rarität, weit seltener als mancher Ferrari. aus dem Straßenbild. Etwa 200 gut erhaltene Exemplare, schätzt Ebenso unversehens wurde der Grana- Clubpräsident Schönke, sind in Deutsch- da nun zum Protagonisten eines neuen Au- „Motoraver“-Titel land zugelassen. Ob Hallers Coupé (we- tokults. Eine wunderliche Szene kreativer „Komm, fahr ihn kaputt“ gen des Hüftschwungs ein besonders sel- Freaks, teilweise jünger als die Autos selbst, tenes Stück) noch lange dazugehört, ist entdeckt die einstigen Spießerkarossen und kreuzbraven Bausparern garagengepflegt schwer vorherzusagen: „Vielleicht werde stilisiert sie zum Kulturgut hoch. wurden? Die biederen Gebrauchtwagen, ich ihn in 20 Jahren meinem Sohn in die Die Bewegung hat ihren Ursprung in der sagt „Motoraver“-Chefredakteur Tobias Hand geben und sagen: ,Komm, fahr ihn Liebhaberszene amerikanischer Straßen- Meyer (Hauptberuf: Rechtsanwalt), haben kaputt.‘“ kreuzer, nennt sich „Motoraver“ und ver- zwei entscheidende Qualitäten: „Sie sind Schon mangels verfügbarer Fahrzeug- leiht seiner seltsamen Vorliebe seit einem superbillig und supercool.“ zahl werden Ford und Opel womöglich Jahr durch ein gleichnamiges Magazin Opel- und Ford-Modelle der siebziger bald nicht mehr die zentralen Marken sein, (Druckauflage: 15000) Ausdruck. Jahre tragen noch die Design-Gene der um die sich der Motorave dreht. Ausgabe Vier Hefte sind inzwischen erschienen. amerikanischen Mutterkonzerne. Die kan- drei der Kult-Gazette widmete sich bereits Die erste Ausgabe würdigte in einem zehn- tige brachiale Formensprache, der die deut- ausgewählten Proll-Sportwagen japani- seitigen Dossier das Kultmobil Granada. schen US-Töchter längst zu Gunsten aero- scher Herkunft. Nummer zwei adelte ähnlich umfänglich dynamisch weich gespülter Karosserien Als neuer Trend zeichnet sich schon ein einen nicht minder grenzwertigen Auto- abgeschworen haben, trifft offenbar das breiter Ansturm auf die traditionelle deut- Zombie: den Opel Commodore. Lebensgefühl der Motoraver. Denn in je- sche Luxuswagenmarke ab: Schwere Mer- Die Redaktion, kultgerecht platziert in dem alten Taunus steckt das Wesen eines cedes-Modelle der siebziger Jahre passen einer Hamburger Gewerberuine mit Rie- Ami-Schlittens. offenbar exakt ins Beuteschema der Mo- senparkplatz, ist zum Brennpunkt der „Ford und Opel“, sagt Meyer, „sind im toraver. Ausgabe fünf soll Ende Juli mit ei- Szene avanciert. Hunderte bizarrer Alt- Prinzip Marken, die cool klingen und cool nem großen Report über den legendären autos – mal spektakulär aufgemotzt, mal sind. Nur sind die Hersteller so ziemlich die „W 116“ erscheinen, das letzte Mercedes- total kaputtgegurkt – finden sich dort zu Einzigen, die davon nichts mitkriegen.“ Flaggschiff mit Chromstoßstangen breit wie „Parkplatzraver“-Partys ein. Versuchte Kontaktaufnahmen der „Moto- Leitplanken. Was begeistert junge Web-Designer, raver“-Redaktion blieben bisher unbeant- Chefredakteur Meyer: „Wer heute Ford Werber und andere Leitfiguren postmo- wortet. In beiden Firmen wird Traditions- Taunus fährt, fährt morgen S-Klasse.“ derner Lässigkeit an Autos, die einst von pflege nicht gerade großgeschrieben. Christian Wüst

der spiegel 26/2002 179 Fußball-WM GREG WOOD / DPA Manndecker Linke (gegen den Amerikaner Donovan): „Die Zuschauer sehen diese Spieler gar nicht“ Torschütze Ballack (beim 1:0

DEUTSCHE NATIONALELF Die Abräumer Um das Vorankommen ins Halbfinale zu erklären, wird gern der Mythos von deutschen Fußballtugenden bemüht. Niemand verkörpert sie mehr als der Manndecker Thomas Linke. Von Alexander Osang

m Anfang der Woche hatte Rudi bauer vor, die Mannschaft in einen Sack zu bisschen komisch, aber da ist mein Groß- Völler angekündigt, dass Deutsch- stecken und draufzuhauen. Nur Oliver vater wichtiger für mich gewesen. Der hat Aland die USA auch für Fritz Walter Kahn müsse nicht in diesen Sack. für einen kleinen Verein in Leubingen ge- besiegen könne, der am Montag gestor- Niemand dachte mehr an Fritz Walter. spielt. Das ist in Thüringen. Er hat viel von ben war. Am Ende der Woche sagte Team- Da ging die Tür noch mal auf, und Tho- früher erzählt und mit mir am Garagentor begleiter Reiner Calmund, dass Deutsch- mas Linke erschien. Er kam von der Do- Fußball geübt.“ land „Oliver Kahn und dem Papst für den pingkontrolle und strahlte. Thomas Linke Kann er denn was mit den deutschen Sieg danken“ solle. ist Verteidiger bei der Nationalmannschaft. Fußballtugenden anfangen, für die Fritz Die deutsche Nationalmannschaft hatte Linke lobte Oliver Kahn wie alle vor Walter stand? auf wundersame Weise das Halbfinale der ihm. Wie alle wies er darauf hin, dass sie „Sicher. Ich lebe ja von den deutschen Fußball-WM erreicht. Sie hatte schlecht ge- erst ein Gegentor bekommen hatten. Zu Tugenden“, sagt Linke. „Disziplin, Kampf- spielt, aber gewonnen. Einmal hatte Tors- seiner Leistung wollte er sich lieber nicht kraft, Ordnung. Das sind ja im Prinzip mei- ten Frings einen Ball mit der Hand hinter äußern. ne Stärken. Das ist ja auch die Grundlage der Torlinie gestoppt, ohne dass es jemand „Ich will niemanden hervorheben“, sagt jeder Mannschaft.“ merkte. Es ging alles. Als Oliver Kahn er- er ruhig und lächelt. Er redet oft von der Mannschaft. Er sieht klärte, dass Deutschland wieder zu den Auch er hatte an diesem Abend den die Weltmeisterschaft nicht als Chance, sich vier besten Mannschaften der Welt gehö- Trauerflor für Fritz Walter getragen. anzubieten oder vorzustellen. Er sieht den re, klang das wie eine Lüge. Aber die deut- „Fritz Walter ist ein großer deutscher Sinn darin, sich dem Team unterzuordnen. schen Journalisten begriffen nun, dass sie Spieler gewesen, aber ich habe keine rich- In ihm zu verschwinden, wenn man so will. noch eine weitere Woche hier bleiben tige Beziehung zu ihm gehabt. Ich habe In den letzten Wochen ist Linke oft gelobt mussten. Nicht alle schienen sich darüber ihn auch nie gesehen.“ Linke schweigt ei- worden. Völler hat gesagt, dass er neben zu freuen. Zuletzt schlug Franz Becken- nen Moment. Dann sagt er: „Es klingt ein Klose zu den positiven Überraschungen des

180 der spiegel 26/2002 Linke war immer klein, so klein, dass sie ihn fast von der Sportschule schickten. Aber dann machten sie eine Handwurzelmessung, stell- ten fest, dass er doch über 1,80 werden würde und ließen ihn weitermachen. Irgendwann stieß Linke auf den Nachwuchstrai- ner Schnuphase. Er glaubt, dass Schnuphase sich selbst in ihm wiedererkannte. Schnuphase war Erfurter Nationalspieler, er fuhr als 20-Jähriger mit zur WM 1974 nach Westdeutschland. Heu- te ist er Nachwuchstrainer im Thüringer Fußball-Ver- band. „Kann schon sein, dass wir uns ähnlich waren“, sagt Rüdiger Schnuphase. „Ich musste mir auch alles er- arbeiten. Thomas war so 16, als ich ihn übernahm. Er war ein sachlicher Spieler. Nicht spektakulär, nicht mal über- trieben ehrgeizig. Er war schnell, solide und kopfball-

AMY SANCETTA / AP AMY SANCETTA stark. Die Zuschauer sehen gegen die USA): Mittelmäßigkeit, Glück und der Glaube an die Angst der Gegner diese Spieler gar nicht. Aber wir müssen sie sehen.“ WM-Teams zählt. Er ist einer der wenigen, reits Verteidiger. Und blieb es für immer. „Wenn ich einen anderen Trainer gehabt über dessen Aufstellung nicht diskutiert „Ich habe mich da hinten ganz wohl ge- hätte, einen Joachim Streich zum Beispiel, wird. Er hat jede WM-Minute gespielt. Lin- fühlt“, sagt er. Er war nie ein Talent. Aber der hätte mich wahrscheinlich nicht so ge- ke sagt, dass er von den Ausfällen von er kann sich noch an die Talente seiner Ju- fördert. Der war ein Stürmer“, sagt Linke. Wörns und Nowotny profitiert hat und dass gend erinnern. Jens Krahl zum Beispiel, der Was erkennt Rudi Völler in ihm? sich das auch schnell wieder drehen kann. Libero der Juniorenauswahl. „Der konnte „Ich weiß nicht. Er weiß, dass er sich Aber vielleicht ist es kein Zufall, dass man viel mehr als ich“, sagt Linke. Krahl ist ge- auf mich verlassen kann, denke ich.“ jetzt wieder auf ihn aufmerksam wird. rade mit der zweiten Mannschaft von Grün- Linke hatte viele Trainer. Kurbjuweit, Vielleicht verkörpert ein Spieler wie Weiß Erfurt aus der Stadtliga abgestiegen. Lattek, Schulte, Berger, Stevens, Vogts, Thomas Linke die Idee der Mannschaft Er weiß noch, dass Linke still war und ganz Ribbeck, Hitzfeld. von Rudi Völler. gut in der Schule. An den Fußballer Linke Im Moment scheint Linke viel aus sich Es ist eine Mannschaft, die Prügel aus- von damals kann er sich kaum erinnern. selbst zu holen. Er wirkt sicher. Im Spiel ge- hält und auch kleine Gegner nicht unter- Aber wenn er den Linke von heute im Fern- gen die USA ist er der beste Mann neben schätzt. Eine Mannschaft, der niemand viel sehen sieht, ahnt er auch, warum. Kahn, aber es fällt nur wenigen auf. Linke zutraut, die das Glück hat, zur richtigen „Er ist halt ein Manndecker. Man sieht spielt wie ein Fabrikarbeiter, er sieht eine Zeit am richtigen Platz zu sein. ihn nicht, sie beziehen ihn kaum mit ein. Er gefährliche Situation, klärt sie, klopft sich Eine graue Maus. Aber eine, die es weit ist kein Ronaldo“, sagt Krahl. den Staub von den Sachen und wartet gebracht hat. auf die nächste. Sein Vater Linke sagt: „Ohne Disziplin in der De- ist Schlosser, sein Bruder fensive wirst du vielleicht mal ein Spiel ge- Tischler. Er hat keine Vor- winnen, aber nie den großen Krieg.“ bilder mehr. Er hofft, dass Er ist ein Soldat. Ein Spieler, der sich auf er selbst eins ist. Dinge konzentriert, die er kann. Jemand, der ihn über die Er wurde Weihnachten 1969 in Söm- letzten Jahre beobachtet merda geboren. Sein Vater war mal Tor- hat, ist Carsten Sänger. Sän- wart in der Zweiten DDR-Liga, aber er hat ger ist sieben Jahre älter als ihn nie spielen sehen. Er erinnert sich nur, Linke. Er spielte mit Kirs- wie er manchmal mit Kopfschmerzen nach ten, Thom und Sammer in Hause kam, wenn er an den Pfosten ge- der Auswahlmannschaft. Er sprungen war. kümmerte sich um den jun- Thomas Linke ist schon als Junge Ab- gen Linke, als der in die wehrspieler gewesen. Man wurde in der Männermannschaft stieß. DDR schneller auf eine Position festgelegt, Sänger ist heute Trainer in sagt er. Er hat sich nicht gewehrt. Als er der Landesliga. „Thomas

mit 13 Jahren auf die Kinder- und Ju- PRESS ACTION war sicher kein großes Ta- gendsportschule in Erfurt kam, war er be- WM-Finale 1986: Erst von Argentinien gestoppt lent. Er ist ein Abräumer. Es

der spiegel 26/2002 181 Fußball-WM war nicht immer abzusehen, dass er diese den Fußballer Thomas Linke gesprochen „Ich bin kein Typ, der vorneweg rennt“, Karriere macht“, sagt Sänger. wird. Mir wird da nichts fehlen.“ sagt sogar Michael Ballack, der ja so was Als Sänger vor drei Jahren einen schwe- Er hat eine starke Frau. Eigentlich hat wie der Regisseur der Mannschaft sein soll- ren Autounfall hatte, bat Linke den FC Bay- sie ihn überredet, nach München zu ge- te. „Ich will keine Sonderrolle. Fußball ist ern, vom Training befreit zu werden. Cars- hen. Er wollte nicht. Schalke schien viel ein Mannschaftssport.“ ten Sänger musste ein Unterschenkel am- besser zu ihm zu passen. Womöglich Gegen die USA wechselt Rudi Völler putiert werden. Linke fuhr nach Erfurt, um stimmt es bis heute. Er hat jetzt einen den Soldaten Jeremies für den offensi- Sänger zu besuchen. Sohn. Auch deswegen wollte er nach ven Mittelfeldspieler Schneider ein. Sie ha- Linke hat zusammen mit Sänger im letz- dieser WM aus der Nationalmannschaft ben unfassbares Glück, Kahn zieht die ten Jahr der Ost-Oberliga eine ausge- zurücktreten. Bälle scheinbar an. Aber Völler sagt auch: zeichnete Saison gespielt. Rot-Weiß Erfurt Vor einem Dreivierteljahr hat er das ers- „Es wird halt nicht immer die beste Mann- wurde am Ende überraschend Dritter und te Mal gesagt, dass er aufhören will. schaft Weltmeister. Sonst wäre Brasilien qualifizierte sich damit für die 2. Bundes- Es hat nie jemand reagiert. Nur Bundes- schon vierzehnmal Weltmeister und nicht liga. Sie stiegen sofort wieder ab. Es war trainer Michael Skibbe hat mal versucht, erst viermal.“ eine schlimme Zeit, Linkes Vater wurde ihn zum Weitermachen zu überreden. Vielleicht sind die letzten deutschen arbeitslos, nichts schien mehr sicher. Aber Sie haben ihn erst sehr spät in die Na- Fußballtugenden die Mittelmäßigkeit, das es gab ein paar wichtige Europacupspiele tionalmannschaft geholt. Dies ist seine ers- Glück und der Glaube an die Angst der gegen Groningen und Ajax Amsterdam te Weltmeisterschaft. Linke hat schwere Gegner. Wer weiß. Sie stehen im Halb- und vor allem ein DFB-Pokalspiel gegen Schläge bekommen in dieser kurzen Kar- finale, und jeder erzählt was anderes. Schalke. Dort fiel Linke auf, „Wir reißen uns 90 Minu- er wechselte am Ende der ten den Arsch auf“, sagt Oli- Saison zu Schalke 04. Rot- ver Kahn. Weiß-Erfurt ist nie wieder „Es ist nicht ausgeschlos- aufgestiegen. sen, dass man gegen eine Linke verbrachte sechs namhafte Mannschaft wie- wundervolle Jahre auf der besser spielt“, sagt Oli- Schalke, sagt er. Sie holten ver Bierhoff. den Uefa-Cup. Dann mel- „Die Abwehr ist der deten sich die Bayern. Mit Schlüssel zum Erfolg“, sagt ihnen holte er auch die Titel, Dietmar Hamann. die er noch nicht hatte. Thomas Linke lächelt, als Er hat im Clubbereich al- wisse er mehr, als er sagen les gewonnen, was man ge- kann. Am Tag, als die winnen kann. Mannschaft zum Spiel gegen Menschen wie Linke wer- die USA abflog, nannte den pausenlos unterschätzt, Karl-Heinz Rummenigge die falsch bewertet. Viele halten vier deutschen Spieler, die ihn für einen Klopper, da- ihm bei dieser WM positiv bei ist er einer der Spieler auffielen. Oliver Kahn sei mit den wenigsten Fouls. Im Weltklasse, sagt er. Miroslav Spiel gegen Kamerun war Klose sei explodiert. Diet-

Linke einer der wenigen, die / DPA GUYOT PASCAL mar Hamann spiele intelli- keine gelbe Karte bekom- Handspiel von Verteidiger Frings, Torwart Kahn: „Dem Papst danken“ gent. „Und Thomas Linke men haben. liefert eine prima WM ab.“ Gegen die USA tackelte er den schnel- riere als Nationalspieler. Nach dem 1:5 ge- Thomas Linke beklagt sich nicht dar- len Angreifern McBride und Donovan im- gen England, aber vor allem nach dem 0:3 über, dass er nicht auffällt. Er will es so. mer wieder die Bälle weg. Er bekommt gegen Portugal bei der letzten Europameis- Natürlich weiß er, dass die Stimmung nicht mal eine Ermahnung. terschaft. Damals hat der ZDF-Reporter schnell kippen kann. „Man ist als Vertei- Aber seine Frau hat auch für die WM- Béla Réthy mehrfach gefordert, den Linke diger immer nur das letzte Glied einer Ver- Spiele wieder schlechte Noten für ihn in endlich runterzunehmen. kettung. Aber alle sehen dich, kurz bevor der „Bild“-Zeitung gefunden. „Er be- „Ich hab gelernt, damit umzugehen. das Tor fällt“, sagt Linke. Es ist schwer, als kommt auch oft schlechte Noten, wenn er Wenn du so was mit 18 hörst, dann bist du Verteidiger ein Held zu werden. gut spielt“, sagt sie. fertig mit der Welt. Aber ich war schon re- Linke weiß, dass er nur mit einem Feh- „Die Leute schauen eben bei mir nicht lativ alt, als ich vor der gesamten Nation so ler in die Geschichte eingehen kann. Die noch mal hin. Sie haben ein Urteil, und kritisiert wurde. Da hatte ich schon ge- Leute werden sich an den Fehler erinnern. das war’s. Ich kann die Reporter ja nicht nügend positive und negative Erfahrungen Sie erinnern sich an Ramelows Platzver- bitten, noch einmal über mich nachzuden- gemacht.“ weis gegen Kamerun. Sie erinnern sich an ken“, sagt Linke. Linke spielt am Rande seiner Möglich- die rote Karte von Wörns gegen Kroatien. „Ich bin vielleicht der Typ, der in Me- keiten, wie Deutschland. Es ist wohl kein Das ist der Preis, den die Abräumer zahlen. dien nicht so gut ankommt. Ich bin auch Zufall, dass die erste WM, an die er sich er- Seine Frau hat ihm abgeraten, aber Tho- kein Mensch, der seinen Namen immer in innern kann, die von 1986 ist. Eine WM, in mas Linke hat jetzt noch mal überlegt. Er der Zeitung lesen muss. Ich bin eigentlich der sich eine durchschnittliche deutsche hat beschlossen weiterzumachen, wenn sie froh, wenn ich meine Ruhe habe. Manche Mannschaft bis ins Finale durchrumpelte. Weltmeister werden. Aber weil keiner rich- raten mir: Geh mal ein bisschen offener Auch Ballack, Jeremies und Schneider tig auf seinen Rücktritt reagiert hat, konn- mit der Presse um. Aber, wissen Sie, ich haben ihre ersten Erinnerungen an 1986. te auch niemand auf den Rücktritt vom bin jetzt 32. Ich will mich da auch nicht Sie tauchen unter den Fragen nach ihrer In- Rücktritt reagieren. mehr verbiegen. Vielleicht fällt mir so auch dividualität weg, sie verweisen auf Star- Thomas Linke wird eines Tages weg mein späteres Leben ein bisschen leichter. Ensembles, die ausgeschieden sind, weil sein. Man wird etwas vermissen, aber nicht Ein Leben, in dem nicht mehr nur über sie nicht als Mannschaft funktionierten. genau wissen, was. ™

182 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite Fußball-WM

WORLD CUP 2002 „Entscheidend ist der Spirit“ Arsenal Londons Trainer Arsène Wenger über modernen Arbeitsfußball, die Fehler der Franzosen und Italiener sowie den Kulturschock bei der Weltmeisterschaft

SPIEGEL: Monsieur Wenger, tragen Sie als men. Fatal, dass sie den strapa- Teammanager von Arsenal London eine zierten Zidane noch im letzten Teilschuld am frühen Ausscheiden des Ti- Test gegen Südkorea einsetzten, telverteidigers Frankreich bei der WM? wo er sich prompt verletzte. Sein Wenger: Als Trainer ist man ja im Prinzip Ausfall hatte eine lähmende Wir- immer schuld, wenn irgendwo etwas schief kung auf das Team. Am Ende ka- geht. Aber was meinen Sie genau? men noch Selbstzweifel dazu. SPIEGEL: In Ihrer Mannschaft, die Engli- SPIEGEL: Sind Favoriten wie Frank- scher Meister und Cup-Sieger wurde, stan- reich, Argentinien oder Italien den mit Patrick Vieira, Thierry Henry und auch daran gescheitert, dass Krea- Sylvain Wiltord drei Ihrer Landsleute, die tivspieler beim hier vorherrschen- auch im französischen Nationalteam tra- den Fußball kaum zur Entfaltung gende Rollen spielen. Vor allem Mittel- kommen? Die gängige Spielver- feldmann Vieira wirkte ausgebrannt. Ha- hinderungsstrategie lässt Gestal- ben Sie ihm zu viel zugemutet? tern weder Zeit noch Raum. Wenger: Vieira musste in der Tat 62 Sai- Wenger: Wenn es eine Nivellie- sonspiele bestreiten. Aber was kann ich rung gibt, dann äußert sie sich

dafür, wenn die WM zwei Wochen früher darin, dass es taktisch und auch ROSE / BONGARTS MARTIN stattfindet als üblich? Die Spieler hatten technisch kaum noch Unterschie- Halbfinalist Brasilien*: „Wichtig für die Identität“ nach dem Ende der Meisterschaften in Eu- ropa kaum Zeit, sich zu erholen – weder körperlich noch psychisch. Nehmen wir Zi- Arsène Wenger, nedine Zidane: Der gewinnt mittwochs mit 52, ist einer der renommiertesten Real Madrid die Champions League, sams- Trainer des Profifußballs. Mit dem tags wird er noch Vater, am Mittwoch dar- englischen Premier-League-Club auf fliegt er nach Korea und hat eine Wo- Arsenal London, bei dem er che später die Weltmeisterschaft. Der kann seit September 1996 arbeitet, ge- nicht hundertprozentig bei der Sache sein. wann der Elsässer vor vier Jahren SPIEGEL: War die Termingestaltung das ent- und in dieser Saison jeweils das scheidende Handicap für jene WM-Favo- begehrte Double: Meisterschaft und riten, deren sonst überragende Einzelspie- FA-Cup. Vor seinem Engagement in ler bis kurz vor Turnierbeginn in Europa England trainierte der in Straßburg gefordert waren? geborene Diplomökonom den Wenger: Sicher hatten auch Argentinier und japanischen Club Nagoya Grampus Portugiesen darunter zu leiden. Aber es Eight, den AS Monaco und den gibt noch andere Faktoren, etwa den kul- AS Nancy. turellen Schock, den viele Mannschaften erlebten, als sie dann in Asien waren: eine völlig ungewohnte Atmosphäre, nicht nur de zwischen den Nationalmann- in den Stadien. Es ist keine normale Fuß- schaften gibt. Bei dieser WM er- ballstimmung. Man braucht Zeit, sich in leben wir erstmals unmittelbar die dieser Umgebung zurechtzufinden. Ich Folgen der Fußball-Globalisie- glaube, dass manche Spieler sich im Laufe rung, des internationalen Austau- der WM, etwa bis zum Viertelfinale, auch sches von Spielern und Trainern. geistig wieder regeneriert hätten. Doch in der Spielweise erkennt SPIEGEL: Da waren die Franzosen aber man durchaus noch Charakte- längst abgereist. ristika eines Landes. Nennen Sie Wenger: Gerade die erste Runde zu über- mir ein Team, und ich kann es mit stehen ist ja unter diesen Bedingungen so einem Begriff kennzeichnen. schwer. Dass sie es nicht schafften, heißt SPIEGEL: Einverstanden. Also: Se- nicht, dass Frankreich keine große Mann- negal? schaft hätte. Aber die Franzosen haben Wenger: Athletische Power. auch Fehler in ihrer Vorbereitung gemacht. SPIEGEL: Irland? SPIEGEL: Welche? Wenger: Sie haben wohl zu hart trainiert, * Rivaldo, Roberto Carlos und Edmilson beim auch mit den Spielern, die schon aus- 2:1-Viertelfinalsieg über England am vergan- (U.) GREG WOOD / DPA (O.); / SPORTIMAGE IMAGES / ACTION MORTON ALEX gelaugt im Camp in Clairefontaine anka- genen Freitag in Shizuoka. Frankreichs Superstar Zidane: „Lähmende Wirkung“

184 der spiegel 26/2002 BEN RADFORD / GETTY IMAGES Südkoreas Mannschaft nach dem 2:1-Sieg über Italien im Achtelfinale in Daejon: „Wie unter Strom gespielt“

Wenger: Mentale Stärke. Harmonie, das sieht man. Dieser Geist ist Guus Hiddink sich monatelang auf dieses SPIEGEL: Die USA? wichtig – umso wichtiger, je mehr sich die Event vorbereiten konnte? Wenger: Robust und effizient. technischen, taktischen und athletischen Wenger: Ich habe die Südkoreaner vor ei- SPIEGEL: Und Deutschland? Potenziale der Mannschaften annähern. nem Jahr beim Confederations Cup gese- Wenger: Zweckorientiert, effektiv. Die Ita- Weil keine Mannschaft mehr dominiert, hen und erkenne sie nicht wieder. Wenn liener würden sagen: realistisch. entscheidet der Spirit. man ihre Ausdauer betrachtet, fragt man SPIEGEL: Soll das ein Lob sein? SPIEGEL: Das hat dazu geführt, dass Durch- sich, ob sie einen Zaubertrank gebraut ha- Wenger: Es gibt etwas, das die Deutschen schnittsteams wie die der USA ins Viertel- ben. Man sieht ihnen nicht an, ob sie sich auszeichnet: Sie denken im Angriff auch finale gekommen sind. gerade in der 12. oder 115. Spielminute be- noch kurz vor dem Tor kollektiv. Erinnern Wenger: Man muss sich generell fragen, ob finden. Im Achtelfinale gegen Italien haben Sie sich an den Moment, in dem dieser Nationalmannschaften heute noch die Eli- sie gespielt wie unter Strom. Allerdings Klose das Führungstor gegen Kamerun te repräsentieren. Durch die Globalisie- spielen sie zu Hause. Bei einer WM in Spa- vorbereitet hat: Er spielt und dribbelt nur, rung haben die großen Vereine die besten nien machten sie gar nichts. um den Mitspieler Bode entscheidend in Spieler der Welt. Die Nationalmannschaf- SPIEGEL: Vereinzelt ist ihr aufwendiger, ag- Szene zu setzen. Wenn Sie in gleicher Aus- ten haben nur die besten des Landes. Bei gressiver Stil schon als Fußball der Zukunft gangssituation etwa dem Brasilianer Ro- dieser WM habe ich viele Spiele gesehen, bezeichnet worden. Was können intelli- naldo den Ball geben, handelt der allein in die keinen Spitzenfußball darstellten. Zum gente Mannschaften gegen den permanen- der Absicht, selbst das Tor zu machen. Das Beispiel das Abwehrverhalten bei Ecken ten Druck, den diese Arbeitsbienen auf ist aber nicht immer intelligent. und Freistößen: Hier gibt es Szenen, in de- den ballführenden Gegner ausüben, ei- SPIEGEL: Überrascht es Sie, dass die Art, mit nen ein Angreifer völlig ungehindert ein gentlich ausrichten? der die Deutschen Fußball arbeiten, bis- Tor köpft. Bei Spielen zwischen Spitzen- Wenger: Man muss sie in ihre Hälfte drän- her so erfolgreich war? clubs gibt es das eigentlich nicht mehr. gen und zu Fehlern zwingen. Die Italiener Wenger: Deutschland hatte – ähnlich wie SPIEGEL: Sind WM-Turniere verzichtbar? haben es genau falsch gemacht. In ihrer 1998 die Franzosen – einen einfachen Weg Wenger: Abschaffen sollte man sie nicht. typischen Art haben sie sich nach ihrer zurückzulegen. Wenn man sich vorher Nationalmannschaften sind wichtig für die Führung zurückgezogen. Natürlich sind die Wunschgegner zusammengestellt hätte, Identität eines Landes. Nur sollte man ei- Koreaner beweglicher. Ein 1,80 Meter wären genau die dabei herausgekommen: nen Titelgewinn richtig einschätzen. Man großer Koreaner wiegt fünf Kilo weniger nach Saudi-Arabien, Irland und Kamerun kann nicht mehr sagen: Wer die WM ge- als ein 1,80 Meter großer Europäer. Doch auch noch Paraguay und die USA. Abge- winnt, hat die beste Mannschaft der Welt. auch da hilft wieder nur das eine: Der den sehen davon, dass es in Oliver Kahn einen Spielen wir das Turnier drei Monate später Ball hat, muss genügend anspielbare Mit- Torwart hat, der wie 1998 Fabien Barthez noch einmal von vorn, scheiden ganz an- spieler in seiner Nähe wissen. Schauen Sie die scheinbar unhaltbaren Bälle hält. dere Mannschaften früh aus. sich Mannschaften unter Druck an und SPIEGEL: Erkennen Sie denn einen Unter- SPIEGEL: Aber es werden immer dieselben zählen Sie: Wie viele Spieler wollen den schied zum Auftreten der Deutschen vor einen Wettbewerbsvorteil haben – etwa Ball? So kann man gute von schlechten vier Jahren und bei der EM 2000? Südkorea, das keine Spieler in der aufrei- Teams unterscheiden. Wenger: Natürlich, die Spieler scheinen benden Champions League beschäftigt. SPIEGEL: Haben Sie eine überragende Figur besser zusammenzupassen. Es gibt mehr Wie bedeutsam ist es, dass das Team von bei diesem Turnier entdeckt?

der spiegel 26/2002 185 Werbeseite

Werbeseite Fußball-WM

Wenger: Die Spieler müssen heute extrem viel arbeiten. Individualisten kann sich eine Mannschaft da gar nicht mehr erlauben. NACHRUF SPIEGEL: Kapitulieren Sie da vor dem Pri- mat der Athletik? Wenger: Nein, aber heute geht es nicht Fritz Walter mehr darum, dass ein Einzelner ständig im Blickpunkt steht. Ein Spieler wie der Deut- 1920 bis 2002 sche Michael Ballack dagegen kommt ei- nem wie Michel Platini am nächsten. r sah sich eher als kickenden „Chef“, der nicht nur die genialische SPIEGEL: Viele meinen eher, Ballack habe in Anachronismus denn als histo- Begabung des Pfälzers erkannte und Asien bislang enttäuscht. Erische Figur. Dass Fritz Walter, zur Reife brachte, sondern der ihn Wenger: Ballack war als Vorbereiter und der Stürmer-Star des 1. FC Kaisers- auch als eine Art Geheimwaffe für die Vollstrecker an entscheidenden Szenen be- lautern, „an der Geschichtsgestaltung Verwirklichung seines eigenen Ehrgei- teiligt. Anders als früher Wolfgang Ove- nach 1945 sichtbar mitgewirkt“ haben zes brauchte. rath, der verrückt wurde, wenn er nicht sollte, wie ihm Ex-Bundeskanzler Hel- 1936 hatte Deutschland bei den ständig den Ball bekam, hat auch Platini mut Kohl einmal bescheinigte, emp- Olympischen Spielen in Berlin schmach- auf seine Szene warten können. Er war fand der schüchterne Pfälzer als eine voll gegen Norwegen verloren. 1938 wie ein Jäger. Im richtigen Moment hat er peinliche Übertreibung. Gut, er hatte schied die hochfavorisierte großdeut- dann den Pass gespielt oder selbst das Tor die deutsche Nationalmannschaft 1954 sche Auswahl aus Österreichern und geschossen. Ballack hat letzte Saison 17 zum Sensationssieg über die als na- Deutschen schon zum Auftakt der Bundesligatore erzielt. Für einen Mittel- hezu unschlagbar geltenden Ungarn Weltmeisterschaft in Frankreich ge- feldspieler sensationell. geführt – 3:2 in Bern, Deutschland gen die Schweiz aus. Fortan sann SPIEGEL: Athletisch und taktisch werden war Fußball-Weltmeis- Herberger auf Re- Spieler in ihren Vereinen geschult. Das gilt ter und damit auch vanche. für Senegalesen wie für Italiener. Welchen sonst wieder wer. 1940 bei den Olym- Einfluss übt ein Nationaltrainer noch aus? Aber an jenem reg- pischen Spielen in Wenger: Einen sehr großen. Denn für mich nerischen 4. Juli 1954 Helsinki sollte sie be- ist eine WM heute mehr ein mentaler Wett- war „der alte Fritz“ – ginnen, mit Fritz Wal- bewerb als ein Fußball-Wettkampf. Man ist empfindsam, schüch- ter. Der gab stattdes- 40 Tage zusammen, ständig drohen Kon- tern, zu Weltschmerz sen mit drei wunder- flikte. Die Hälfte der Mannschaft ist unzu- und Zweifeln neigend baren Toren gegen frieden, weil sie nicht spielt. Da ist der Trai- – schon fast 34 Jahre Rumänien seinen Ein- ner gefordert. Diese mentale Steuerung ist alt, eigentlich langsam stand als National- der einzige Bereich im professionellen Fuß- reif für einen Platz spieler. ball, in dem nicht alle Möglichkeiten aus- bei den Alten Herren. Da war schon Krieg, geschöpft sind. Bisweilen kickte er der auch die WM 1942

SPIEGEL: Das klingt, als könnte Sie der Job auch so verzagt. „Al- BAUMANN vereitelte. Der Ober- des Nationaltrainers reizen. lez hopp, Friedrich, gefreite Walter blieb Wenger: Warum nicht? Es wäre eine interes- allez hopp“, feuerten ihn dann seine trotzdem Herbergers Hoffnung. Er sante Erfahrung. Man sieht aber, wie groß Mitspieler an. lenkte sein Geschick aus der Ferne. der Druck für die Trainer bei einer WM ist. Im Grunde hatte außer seinem „Halten Sie sich zurück, machen Sie Schauen Sie sich Giovanni Trapattoni an, „Chef“, Sepp Herberger, nur noch sich selten und sorgen Sie dafür, dass wie er gelitten hat, wie erschöpft er war. Er Fritz Walters Frau Italia daran ge- Ihr Name in den nächsten Wochen ist fast verrückt geworden. glaubt, dass der Fritz noch immer, wie nicht genannt wird“, schrieb er seinem SPIEGEL: Kennen Sie diesen Druck als Trai- der Trainer schrieb, „in der ersten Schützling Weihnachten 1942 nach Ita- ner in der Premier League etwa nicht? Reihe der besten Fußballer der Welt“ lien, wo der stationiert war. Im nächs- Wenger: Doch. Schön spielen ist kein Krite- rangierte. Und „der Friiitz“, der zur ten Jahr diente der Infanterist Walter rium mehr. Wenn du am Spieltag die Zei- schrankenlosen Hingabe gegenüber in der Etappe und kickte bei den „Ro- tung aufschlägst, denkst du, es sei Krieg. Autoritäten fähig war, erfüllte ihre ten Jägern“, einer Fußball-Einheit des Als müssten wir sterben, wenn wir verlieren. Erwartungen. Jagdflieger-Idols Hermann Graf, der SPIEGEL: Was tun Sie dagegen? Gemeinsam schienen die drei die die halbe deutsche Nationalmann- Wenger: Ich versuche, meinen Spielern die Zeit zum Stillstand zu bringen. Fritz schaft um sich versammelt hatte. Lust am Spiel wiederzugeben. Die Lust, die Walter, Jahrgang 1920, der schon als Acht Jahre, die besten seines Fuß- sie hatten, als sie als Zwölfjährige bolzen Jugendspieler 1938 erstmals mit dem ballerlebens, musste Fritz Walter ohne gingen. Sehen Sie: Wenn ich hundert Leu- Kürzel „F.W.“ im legendären Notiz- Nationaltrikot auskommen. Im Wett- ten in der Woche begegne, sagen mir diese buch des Reichstrainers Herberger auf- lauf mit der verlorenen Zeit brachte er hundert: Du musst am Samstag gewinnen. tauchte, wurde zum späten Heroen des es dennoch auf 61 Länderspiele. Sein Ich sage den Spielern: Lasst die alle reden, deutschen Fußballs. Ruf begann ihn bereits zu Lebzeiten zu wir spielen jetzt einfach mal Fußball. Mit 37 Jahren führte er die Deut- überstrahlen. In das Stadion am Bet- SPIEGEL: Beerben Sie Frankreichs Coach schen 1958 in Schweden ins Halbfina- zenberg von Kaiserslautern, das schon Roger Lemerre, wenn man Sie bittet? le der WM. Noch in Chile hätte ihn seit 1985 „Fritz-Walter-Stadion“ heißt, Wenger: Ich bin zurzeit mit mir im Reinen Herberger vier Jahre später gern da- pflegte er so scheu durch das hohe bei Arsenal. Aber es ist wie in einer Ehe: beigehabt. Tribünentor zu schreiten, als betrete er Du drängst nicht gerade auf eine Schei- Dass der „ungekrönte König seiner sein eigenes Mausoleum. dung, wenn du zu Hause glücklich bist. Generation“ (Herberger) den Krieg Fritz Walter, 81, starb am Montag Doch wenn du draußen eine schöne Frau überlebt hatte, verdankte er dem vergangener Woche. siehst, kommst du schon mal ins Grübeln. Interview: Jörg Kramer, Michael Wulzinger

der spiegel 26/2002 187 SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] · Fragen zu SPIEGEL-Artikeln E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 HERAUSGEBER Rudolf Augstein KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, E-Mail: [email protected] Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 CHEFREDAKTEUR Stefan Aust (V. i. S. d. P.) MÜNCHEN Dinah Deckstein, Heiko Martens, Conny Neumann, Ler- Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 chenfeldstraße 11, 80538 München, Tel. (089) 4545950, Fax 45459525 E-Mail: [email protected] DEUTSCHE POLITIK Leitung: Hans-Joachim Noack, Dietmar Pieper STUTTGART Felix Kurz, Alexanderstraße 18, 70184 Stuttgart, Tel. (stellv.). 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188 der spiegel 26/2002 Chronik 15. bis 21. Juni SPIEGEL TV

SAMSTAG, 15. 6. ANSCHLAG Ein palästinensischer Selbst- MONTAG, 24. 6. mordattentäter sprengt sich in Jerusalem 23.15 – 23.55 UHR SAT.1 WAHL In Tschechien gewinnen die Sozial- in die Luft und tötet dabei 19 Schüler. demokraten die Parlamentswahlen mit SPIEGEL TV REPORTAGE knappem Vorsprung. FESTNAHME Die marokkanische Polizei „La Modelo“ – verhaftet einen mutmaßlichen al-Qaida- Verkehrte Welt im Knast von Bogotá SUSPENDIERUNG Die US-Bischöfe beschlie- Terroristen. Er soll zum engeren Kreis 150 Wachleute für 5000 Insassen, in einer ßen auf einer Tagung in Dallas, alle um Osama Bin Laden gehören. Priester, die Minderjährige sexuell miss- Haftanstalt, gebaut für 2400 Mann: Hier hat der Staat nichts zu melden. Das Zen- braucht haben, von der Seelsorge auszu- MITTWOCH, 19. 6. schließen. tralgefängnis der kolumbianischen Haupt- BESCHLUSS Die Deutsche Post AG soll SONNTAG, 16. 6. nach einer Entscheidung der EU-Kommis- sion wegen Wettbewerbsverletzung 572 SCHUTZWALL Israel beginnt mit dem Bau eines Zauns an der Grenze zum West- Millionen Euro an den Bund zurückzahlen. jordanland. NEUANFANG Hamid Karzai wird als Präsi- WAHLSIEG Das bürgerliche Lager um Prä- dent Afghanistans vereidigt und stellt der sident Jacques Chirac gewinnt mit großer Großen Ratsversammlung „Loya Jirga“ Mehrheit auch den zweiten Wahlgang der das neue Kabinett vor. Parlamentswahlen in Frankreich bei sehr niedriger Wahlbeteiligung. DONNERSTAG, 20. 6. ZUWANDERUNG Bundespräsident Johannes SPIEGEL TV MONTAG, 17. 6. Rau unterzeichnet das umstrittene Zu- Haftanstalt „La Modelo“ in Bogotá RÜCKKEHR Zum ersten Mal seit der Par- wanderungsgesetz. Unmittelbar danach teispendenaffäre vor zweieinhalb Jahren kündigen drei unionsgeführte Länder an, stadt wird beherrscht von linksradikaler spricht Altbundeskanzler Helmut Kohl vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Guerrilla und rechtsradikaler Miliz. Viele auf einem CDU-Parteitag. das Gesetz zu klagen. von ihnen sind schwer bewaffnet.

PLEITE Das Amtsgericht München er- FREITAG, 21. 6. DONNERSTAG, 27. 6. öffnet das Insolvenzverfahren gegen 22.20 – 23.15 UHR VOX KirchMedia. ENTLASSUNG Der Aufsichtsrat der Mobil- Com AG entlässt auf Druck von Großak- SPIEGEL TV EXTRA DIENSTAG, 18. 6. tionär France Télécom den bisherigen Chef und Gründer Gerhard Schmid. Vorsicht Mahlzeit! – Wie uns die WAHL II Auf dem CDU-Parteitag in Frank- Lebensmittelindustrie den Appetit verdirbt furt am Main verspricht Kanzlerkandidat ABSCHOTTUNG Der EU-Ministerrat berät Ob BSE, verbotene Arzneien im Schwei- Edmund Stoiber, den „rot-grünen Spuk“ in Sevilla einen Aktionsplan gegen illega- nefleisch oder jetzt Nitrofen: Kaum ein zu beenden. le Einwanderung. Verbraucher weiß noch, was er gefahrlos essen kann. SPIEGEL TV hat bei Tier- GEHALTSKÜRZUNG Die Vorstände der URTEIL Wegen Drogenbesitzes verurteilt züchtern und in Nahrungsmittelfabriken Deutschen Telekom verzichten in diesem ein Gericht in Singapur die 23-jährige nachgeforscht, nahm auch fleischlose Jahr auf Aktienoptionen. Deutsche Julia Bohl zu fünf Jahren Haft. Bio-Nahrung unter die Lupe und stellte fest: Lebensmittel aus industrieller Mas- senproduktion schmecken häufig schal, und eines sind sie ganz sicherlich nicht: gesund.

FREITAG, 28. 6. 22.00 – 24.00 UHR VOX SPIEGEL TV THEMENABEND Nachrichten aus dem All Dokumentationen und Interviews über die Fragen „Sind wir 1969 wirklich auf dem Mond gelandet?“ und „Was wäre, wenn die Außerirdischen kommen?“.

SONNTAG, 30. 6. 22.10 – 23.05 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Jagdszenen aus Brandenburg – der blu- tige Streit zwischen Deutschen und Deutschrussen; Die neue K-Frage – wie Zwei Roboter beim Elfmeterschießen korrupt war die Kölner SPD?; Razzia in während der Eröffnung des RoboCup in Rio – mit Spezialfahndern im Anti-Dro- Fukuoka im Südwesten Japans gen-Einsatz am Zuckerhut. AP

der spiegel 26/2002 189 Register

gestorben pen, darunter dem Sextett des Trompeters Muggsy Spanier. Bis 1998 reiste er zu Fes- Maia Wojciechowska, 74. „Für Kinder tivals nach Europa. Charles Valdez „Truck“ habe ich geschrieben, weil ich mit meiner Parham starb am 5. Juni in Chicago. direkten Art immer irgendwie Kind geblie- ben bin“, erklärte sie einst. Und die Art Raimund Girke, 71. Mehr als zwei, drei der in Warschau geborenen Autorin kam Farben kamen dem Künstler selten auf die bei den Kindern an. Leinwand. Vorzugsweise malte er in Weiß- Ihr bekanntestes und Grautönen: Viele seiner Bilder wirken Buch „Shadow of a trotzdem so dynamisch, als hätten in seiner Bull“ (1964) – in 18 Welt die Gesetze der Schwerkraft keine Sprachen übersetzt Gültigkeit. Mit seinen abstrakten Gemäl- – wird heute in den den passte Girke gut in die westdeutsche USA in der 68. Auf- Nachkriegszeit, die alles Figürliche ver- lage verkauft; 1967 pönte, aber er blieb auch bei seiner vir- erschien es als „Der tuosen Monochromie, als um ihn herum Sohn des Toreros“ die bunte Gegenständlichkeit in die Kunst

unter dem Namen TIMES THE NEW YORK zurückkehrte. Immer wieder wurde er für Maia Rodman in seine Beharrlichkeit und für seine stoische Deutschland. Darin erzählt sie die Ge- Haltung in der Kunst gelobt – zur Beloh- schichte eines spanischen Jungen, der sich nung berief ihn die Berliner Hochschule entscheiden muss, ob er wie sein Vater To- rero wird oder seinen Traum, Arzt zu wer- den, verwirklicht. Wojciechowska bekam dafür den angesehenen amerikanischen Kinderbuchpreis „Newbery Medal“, den Deutschen Jugendbuchpreis und ein Lob der besonderen Art: at- testierte ihr profunde Kenntnis des Stier- kampfs. Kein Wunder, die Schriftstellerin hatte in Mexiko bereits persönlich einen Stierkampf bestanden. Ihre Familie floh

1939 aus Polen über Frankreich und Eng- GALERIE STORMS WALTER land in die USA. Sie jobbte als Privat- detektivin, Tennislehrerin und Bürohilfe. der Künste 1971 zum Professor, 1977 nahm 1952 erschien ihr erstes Kinderbuch „Mar- er an der Documenta in Kassel teil. Noch ket Day for Ti André“, sie veröffentlichte 19 in diesem Jahr hätte ihm der Niedersäch- Bücher, schrieb Kurzgeschichten und Thea- sische Kunstpreis überreicht werden sol- terstücke. Maia Wojciechowska starb am len. Raimund Girke starb, wie erst jetzt 13. Juni in Long Branch, New Jersey. bekannt wurde, am 12. Juni in Köln.

Charles Valdez Richard Lewis, 84. Sein erstes Lebensthe- „Truck“ Parham, ma fand der Literaturstudent aus Chicago 91. Seinen Spitzna- in der Fremde: Als US-Soldat musste er men holte sich der sich in Italien über einen Monat vor deut- Bassist in der wil- schen Truppen verstecken, las dann Mel- den Frühzeit des villes „Moby Dick“ – und erkannte darin Jazz, weil er oft den Amerikaner als neuen, historisch den Band-Bus fah- unbelasteten Menschen. „The American ren musste. Vorher Adam“ hieß das Buch, in dem er diese Idee hatte er Zeitungen von Unschuld und Sündenfall durch die verkauft, als Profi Literatur verfolgte. Es brachte ihn an die bei den „Chicago Elite-Uni Yale und zum zweiten Haupt-

Negro All Stars“ ARCHIVE JAZZ / CHICAGO L. GILLASPIE DEBORAH werk: Seine Biografie der Romanautorin Football gespielt Edith Wharton gewann 1976 sogar den Pu- und als Amateur geboxt. Den starken Jun- litzer-Preis. Geistige Heimat aber blieb für gen engagierte Star-Bassist Walter Page, ihn das Italien der der mit der Count-Basie-Band berühmt Renaissance: Noch wurde, als Leibwächter für nächtliche Aus- voriges Jahr erschien flüge ins Milieu – Parham ließ sich mit Un- von „Professor terrichtsstunden bezahlen. Bald war er gut Dick“, wie er bei genug für den Pianisten Art Tatum. Es folg- Florentiner Freun- ten Engagements in den Bands von Roy den hieß, ein Büch- Eldridge, Fletcher Henderson und Jimmie lein über Dante. Lunceford. Später profitierte Parham vom Richard Lewis starb Dixieland-Revival. Der schwarze Bass-Ve- am 13. Juni in Be-

teran spielte vorwiegend in weißen Grup- UNIVERSITY / YALE ERICKSON CHARLES thany, Connecticut.

190 der spiegel 26/2002 Werbeseite

Werbeseite Personalien

gangene Woche aus der Tagespresse: „Brüssel sagt Nein zur Senkung der Mehr- wertsteuer“ für Restaurants.

Madonna, 43, amerikanischer Popstar, der derzeit auf der Theaterbühne im Londoner West End steht, beherrscht erwartungs- gemäß die Szene mit ihren Launen. Die Madonna in „Up For Grabs“ Sängerin spielt seit dem 23. Mai vor stets ausverkauftem Haus in „Up For Grabs“ sie mit „M“ oder „Mrs. Ritchie“ anspre- (etwa: „Billig zu haben“), geplante Lauf- chen, niemals mit „Madge“. Madonna, die zeit des Stücks acht Wochen. Doch jetzt für ihre Auftritte pro Woche 10000 Pfund warf der gestandene Intendant William In- kassiert und eine rücksichtslose Kunst-

LOUISE OLIGNY / FIGARO OLIGNY MAGAZINE LOUISE grey nach 27 Berufsjahren am Wyndham’s händlerin spielt, die am Schluss mit einer Raffarin Theatre entnervt hin, er konnte nicht mehr bisexuellen Frau vor deren Ehemann länger die Marotten der reichen Künstlerin schläft, um ein Bild zu verkaufen, verlang- Jean-Pierre Raffarin, 53, französischer ertragen. Die Diva hatte unter anderem ver- te obendrein Änderungen, die das Stück Premierminister, kann etliche Wahlver- langt: ständige Anwesenheit von kräftigen amerikanisieren. So musste der Ort des sprechen vermutlich nicht erfüllen. Der ge- Rausschmeißern auf beiden Seiten der Büh- Spiels von Sidney nach New York verlegt, lernte PR-Spezialist – Kürzel: Raff –, po- ne, kompletter Neuanstrich der Räume hin- die Namen zweier Rollen geändert und das EYE COM / EPO ONLINE / PUBLIC SMITH DANIEL pulär wegen seines soliden Provinzlertums ter der Bühne in blassen Farben, Einbau Ende des Stücks umgeschrieben werden. und der Ausrufung einer neuen „Beschei- einer Power-Duschkabine. Der Bühnen- denheit in der Politik“, hatte im Wahl- boden musste um einen halben Meter an- Helmut Schmidt, 83, Altkanzler und kampf der mächtigen Jägerschaft eine Ver- gehoben werden. Theaterkollegen sollten „Zeit“-Herausgeber, beeindruckte Jour- längerung der Jagdsaison auf Was- nalisten mit seiner direkten Art. ser- und Zugvögel und den einfluss- Hartwig Hochstein, Chefredakteur, reichen Restaurantbesitzern die und Dieter Wonka, Politikchef der Senkung der Mehrwertsteuer von „Leipziger Volkszeitung“, hatten mit 19,6 auf 5,5 Prozent zugesichert. Die dem ehemaligen Spitzenpolitiker Verheißungen waren umso glaub- ein Interview geführt, anschließend würdiger, als Raff selbst Jäger ist baten sie um ein Foto mit Schmidt und sich vornehmlich beim Kosten in der Mitte. Der krawattenlose an der Seite von Küchenchefs ab- Schmidt verlangte erst mal gut ge- lichten lässt. Inzwischen hat Brüssel launt: „Entweder bekomme ich von klargestellt, dass von Frankreich mit euch jetzt einen Schlips, oder ihr unterzeichnete EU-Direktiven so- müsst die Dinger abnehmen.“ Da wie Gerichtsurteile eine verlänger- errötete der Politikchef Wonka und te Ballerei auf Vögel untersagen. sagte zu Schmidt: „Sehen Sie, ich Und die Gourmets erfuhren ver- hab’s gewusst, meine Frau wollte,

Ceca Ra¢natoviƒ, 29, serbische Popsängerin und Witwe des als Freischärler berüchtigten ser- bischen Milizenchefs „Arkan“, feierte ein triumphales Comeback- Konzert im Belgrader Maracana- Stadion. Hunderttausend begrüß- ten sie mit ohrenbetäubendem Lärm, Millionen sahen die TV- Live-Übertragung am vorvergan- genen Wochenende. Ceca wid- mete ihr erstes „turbo folk“-Kon- zert seit Arkans gewaltsamem Tod im Januar 2000 ihrem Mann: „Ich werde nie wieder heiraten“, hat- te sie schon vorher verkündet. Das „Konzert im Maracana“ sei der Wunsch ihres verstorbenen

Mannes gewesen. Das Belgrader (R.) (L.); DPA / REUTERS MILUTINOVIC IVAN Stadion war der Ausgangspunkt Ceca Ra¢natoviƒ, mit Ehemann „Arkan“ (1995) für Arkans mörderische Karriere. Der in Belgien, Schweden und Italien bereits als Räuber ver- tern klar, an wen die Songs „Lass ihn mich wiedersehn“ und urteilte Serbe hatte in den frühen neunziger Jahren Fans des „Mein Liebling“ erinnern sollten. Vielleicht aber war auch ein Fußballclubs Roter Stern Belgrad für seine paramilitärische anderer gemeint. Denn die britische Zeitung „Independent“ Truppe geworben, die in Kroatien marodierte. Auch wenn der vermeldete: Cecas Kleid „verhüllte fast nichts“, einschließlich Name ihres Mannes auf der Bühne nicht fiel, schien Beobach- ihrer plastisch wirkenden, „beachtenswerten Brüste“.

192 der spiegel 26/2002 dass ich den blauen Zweireiher anziehe, rantbetreiber beruhigte den misstrauischen und ich sag noch, der Helmut Schmidt ist Spendensammler, der Spendernamen par- viel unkomplizierter.“ Die Herren ent- tout nicht nennen will: „Aber Herr Bun- ledigten sich der Schlipse. deskanzler, bei uns ist mit Reichtum nicht immer Geld gemeint.“ Kohl sei doch „reich Wolfgang Gerhardt, 58, FDP-Fraktions- an Freunden, und das ist es, was bei uns zu chef im Bundestag, wird in Israel bereits als Hause zählt“. künftiger deutscher Außenminister gehan- delt. Zwar musste er bei einem Vortrag vor Günther Beckstein, 58, bayerischer In- dem Israel-EU-Forum in Tel Aviv die Li- nenminister, löste ein Gelübde ein. Weil beralen erneut gegen die von Jürgen Möl- sein Heimatverein 1. FC Nürnberg knapp lemann ausgelösten Vorwürfe des Antisemitismus und der Israel-Feindlichkeit in Schutz nehmen. Doch zum Abendes- sen auf Einladung des früheren Israel-Botschafters in Deutsch- land, Avi Primor, kam Außen- minister Schimon Peres eigens zu Ehren des FDP-Mannes. Seine Botschaft in Berlin hatte ihm zuvor berichtet, dass man sich auf einen Regierungs- wechsel einstellen müsse. Lau- nig erinnerte Peres nun an die Tradition der FDP-Außenpoli- tiker und schmeichelte Ger- hardt beim Zuprosten: „Will- kommen im Club!“ „Ich be-

kenne, dass ich mich für PRESSE / NEUE PASSAUER GEORG WILMERDINGER Außenpolitik interessiere“, pa- Beckstein rierte der Oberhesse artig. „Ist Genscher immer noch der beliebteste Po- den Klassenerhalt in der Fußballbundesli- litiker in Deutschland?“, wollte Peres wis- ga geschafft hatte, pilgerte der CSU-Minis- sen. „Nein“, murmelte Gerhardt, „das ist ter und fränkische Fußballfan am vorver- Joschka Fischer.“ gangenen Wochenende nach Altötting. Bei 32 Grad im Schatten war Beckstein nicht Helmut Kohl, 72, Altkanzler, reagiert in etwa in Wanderkleidung erschienen, son- Gelddingen noch immer gereizt. Bei einem dern marschierte overdressed in Anzug Geburtstagsmahl im „Cinque“, einem ita- und Krawatte. Immerhin sparte sich der lienischen Lokal in Berlin, wurde auch der Herr Minister den schlimmsten Teil der Besitzer von Kohl zum offiziellen Foto hin- Strecke. Gerade mal sechs Kilometer vor zugebeten. Vincenzo Torino, 46, einer der dem Ziel – der Marienkapelle Altötting – größten Freunde Kohls in der Hauptstadt, reihte sich Beckstein in den Pilgerzug un- sagte geschmeichelt, aber ahnungslos: „Was ter der Flagge des 1. FCN ein. für eine Ehre, bei einem so reichen Mann im Arm zu stehen.“ Da aber vermutete Valéry Giscard d’Estaing, 76, Präsident Kohl, selbst bei einem guten Freund, eine des EU-Konvents, der Europa eine Art Ver- Unterstellung, die es sofort zurückzuweisen fassung geben soll, sah sich auf der letzten galt: „Reich? Mein Lieber, Vorsicht! Reich Sitzung einer unziemlich demokratischen bin ich nun wirklich nicht. Du bist einer Frage seines Landsmanns, des sozialisti- der reichsten Italiener und willst mir Reich- schen Europaabgeordneten Olivier Duha- tum nachsagen.“ Der verdutzte Restau- mel, ausgesetzt. Duhamel wollte wissen, was der Präsident den Staats- und Regierungschefs über die Arbeit des Konvents berichten würde. Frage: „Könnten Sie uns Ihren schriftlichen Bericht zu- kommen lassen?“ Antwort: „Un- möglich, es handelt sich um einen mündlichen Bericht.“ Fra- ge: „Ist es möglich, dass Sie uns mündlich einige Worte dazu sa- gen, was Sie den Regierungs- chefs ebenso mündlich sagen

GEORG WILMERDINGER / NEUE PASSAUER PRESSE / NEUE PASSAUER GEORG WILMERDINGER werden?“ Antwort: „Ich werde Kohl, Torino Ihnen schriftlich antworten.“

der spiegel 26/2002 193 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Saarbrücker Zeitung“: „Den Ver- Zitate antwortlichen im Nitrofen-Skandal drohen Geldstrafen bis zu fünf Jahren. Denn Le- Der Deutsche Gewerkschaftsbund in bensmittel müssen frei von schadhaften einer Studie zur Steuerreform Chemierückständen sein.“ über die SPIEGEL-Berichte „Steuern – Das Milliarden-Desaster“ (Nr. 4/2002) und „Steuern – Paradies für Konzerne“ (Nr. 5/2002):

Dass angesichts dieser dramatischen Ein- brüche bei der Körperschaft- und bei der Gewerbesteuer nicht nur in den Medien vielfach von einem „Milliarden-Desaster“ gesprochen wurde, ist nahe liegend. Und dass angesichts zahlreicher bekannt ge- wordener Fälle von Steuerrückerstattun- gen besonders an große Kapitalgesell- schaften und so genannte Global Player der Bundesregierung vorgeworfen wurde, sie habe mit der Unternehmenssteuerre- form ein Paradies für Konzerne geschaffen, kann ebenfalls nicht verwundern. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kritik durch- aus schlüssig vorgetragen erscheint und mit nachprüfbaren Ergebnissen belegt wird. So erhielt nach den unten zitierten Berichten des SPIEGEL z. B. die Deutsche Telekom im vergangenen Jahr etwa 1,4 Mrd. Euro zurück, die beim Fiskus schon fest als Ein- Aus dem TV-Programm des „Coburger nahme verbucht waren. Auch der Ener- Tageblatts“ giekonzern RWE, der Chemie-Riese Bay- er AG, der Telekommunikationsgigant Vo- dafone hielten bei den Finanzbehörden mit Aus der „Dülmener Zeitung“: „Die Lehrer der Forderung nach Steuerrückerstattung der Kardinal-von-Galen-Hauptschule ha- oder -nachlässen die Hand auf und wurden ben „ihre“ Schule am Freitagnachmittag prompt bedient. kaum wieder erkannt. Kurzerhand hatten die Schüler das Zepter in die Hand ge- Andrew Nagorski im US-Magazin nommen und führten nun ihre Eltern mit „Newsweek“ zum SPIEGEL-Titel stolz geschwellten Brüsten durch die Klas- „Das Spiel mit dem Feuer“ (Nr. 23/2002): senräume.“ Es war, als wär ich nie weg gewesen. Als ich vor kurzem nach Deutschland zurück- kehrte, in dem ich Mitte der achtziger und Ende der neunziger Jahre lebte, schien das einzige Gesprächsthema Antisemitismus und das Brechen von Tabus zu sein. Terro- rismus, Naher Osten, Kaschmir, selbst die Fußballweltmeisterschaft waren zweitran- Aus der „Neuburger Rundschau“ gig. Deutschland quälte sich mal wieder mit dem, was ein Berliner Freund „den Drachen der deutschen Schuld“ nannte – ein Drache, der sein Haupt wiederholt während meiner verschiedenen Aufent- halte in diesem Land erhoben hatte. Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ Für den Fall, dass irgendjemand Zwei- fel gehabt haben sollte über dessen Iden- tität, bildete der Presseinformation der Zeitschrift „Mittel- SPIEGEL Hitlers weg 36“: „Jan Philipp Reemtsma kommt in Gesicht ab, das seinem Beitrag ‚Was heißt: Eine Metapher aus den Wolken verstehen?‘ zu dem ihn irritierenden Be- hervorschaut. „Das fund‚ ,dass unsere traditionelle Art und Spiel mit dem Feu- Weise, uns klar zu machen, wie Metaphern er“ lautet die Titel- funktionieren, darin besteht, es ungefähr zeile, gefolgt von wie ein Autist zu tun, wie jemand, der we- der Frage „Wie- der unsere emotionelle noch jenen Teil un- viel Vergangenheit serer kommunikativen Welt mit uns teilt, verträgt die Ge- der ästhetisch determiniert ist‘.“ genwart?“

194 der spiegel 26/2002