25 Jahre Wissenschaftskolleg zu Berlin 1981–2006
25 Jahre Wissenschaftskolleg zu Berlin 1981–2006
Herausgegeben von Dieter Grimm in Zusammenrbeit mit Reinhart Meyer-Kalkus
Akademie Verlag Abbildungen der Einbandgestaltung: Wallotstraße 19 (Foto Heiner Wessel) und Architekturzeichnung (Archiv Wissenschaftskolleg)
ISBN-10: 3-05-004053-X ISBN-13: 978-3-05-004053-0
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006
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Einbandgestaltung, Layout und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza
Printed in the Federal Republic of Germany Inhaltsverzeichnis
Dieter Grimm Vorwort VII
Wolfgang Frühwald Wirkungen der Freiheit 1 Gespräch Dieses Haus hatte Fortune … 33 Peter Glotz Wie es anfing 57 Peter Wapnewski Die ersten fünf Jahre 69 Wolf Lepenies Ein Dutzend und drei Jahre 87 Dieter Grimm Veränderter Kontext und neue Aufgaben 111 Yehuda Elkana A Theater for the Enactment of the Anthropology of Knowledge 127 Lorraine Daston Hans Castorp in the Grunewald: Twenty-Five Years of the History of Science 141 Rüdiger Wehner Theoretische Biologie 149 Raghavendra Gadagkar The Evolution of a Biologist in an Interdisciplinary Environment 167 drei Kulturen ... und zurück 181 Robert Pippin Philosophy among the Disciplines 191 Jürgen Kocka Konjunkturen der Geschichte 199 Stephen Greenblatt Against Exceptionalism: Literary Studies in Dialogue 211 Horst Bredekamp Das Visuelle und sein Logos. Wendungen der Kunstgeschichte 221 Navid Kermani Moderne und Islam 229 Michael Maar Exotische Vögel und platonische Ideen. Writers in Residence 243 Dominique Jameux Les Plaisirs de l‘Île enchantée 249
Anhang Chronik des Wissenschaftskollegs zu Berlin 1981–2006 259 Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats 1981–2006 265 Zu den Autoren 269 Bild- und Textnachweise 273 Personenregister 275 Vorwort
Verfolgt man das in diesem Buch veröffentlichte Gespräch, in dem sich einige der Beteiligten an die Gründungsphase des Wissenschaftskollegs erinnern, so gewinnt man vor allem anderen den Eindruck des Unwahrscheinlichen. Ja, einmal alles zusammen genommen, was eine solche Tat voraussetzt, war es unwahrscheinlich, dass es zur Gründung jener Einrichtung kam, die nun seit 25 Jahren besteht und ohne die man sich die deutsche Wissenschafts- landschaft nicht mehr vorstellen möchte. Für Deutschland war eine solche Einrichtung etwas Neues. Aber auch außerhalb des eigenen Landes gab es nur wenige Exemplare dieser Gattung: das Institute for Advanced Study in Princeton, das kurz vor dem erzwunge- nen Exodus vieler Wissenschaftler aus Deutschland gegründet und dann zur neuen wissenschaftlichen Heimat von Gelehrten wie Einstein und Panofsky geworden war; das Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford; in Europa das auf Mathematik und Physik spezialisierte Institut des Hautes Etudes Scientifiques in Bures-sur-Yvette, Frankreich, sowie das Nether- lands Institute for Advanced Study in Wassenaar. Brauchte man so etwas in Deutschland? Und wenn überhaupt: War Berlin der richtige Ort? Das Gespräch sammelt die vielen Faktoren, die zusammenkommen muss- ten, damit das Kolleg entstehen konnte: Eine Idee und ein politischer Wille, sie zu verwirklichen. Es gehört bereits zu den Unwahrscheinlichkeiten, dass beides in der Person eines Politikers zusammentraf, der zudem noch tatkräf- tig und einflussreich war. Sodann tüchtige und begeisterungsfähige Beamte, die die Idee in ein genehmigungsfähiges Projekt verwandelten. Des weiteren Für sprecher, die den Widerstand der Bedenkenträger übertönten. Danach Geld geber, die es lohnend fanden, in die Idee zu investieren, und ihre Ent- scheidungsgremien davon überzeugen konnten, dass die Mittel gut angelegt seien. Alsdann ein adäquates Haus. Zu alledem schließlich eine Person mit Qualitätsbewusstsein und Stilempfinden, die den Plan in die Tat umsetzen und das Haus mit Leben füllen konnte. Weniger unwahrscheinlich, obwohl alles andere als sicher, war es nach dieser Gründungsgeschichte schon, dass die Institution die Erwartungen er- füllte, die zu ihrer Gründung geführt hatten. Wenn man nur die durch das ganze Buch fortlaufende Zeile mit den Namen der mittlerweile über 1000 Fel- lows liest, findet man bestätigt, dass das Unterfangen erfolgreich war. Viele nach 1933 aus Deutschland vertriebene Gelehrte haben aufgrund einer Ein- ladung ans Wissenschaftskolleg ihre alte Heimat erstmals wieder betreten. Viele Zier den ihres Fachs und viele, die später zu Zierden ihres Fachs wurden, waren Fellows. Ebenso bereitwillig kamen die eingeladenen Künstler. Kaum einer aus der Garde der großen Komponisten moderner Musik, der nicht am Wissenschaftskolleg gewesen wäre. Doch würde der Nutzen des Kollegs unterschätzt, wenn man ihn nur bei den eingeladenen Personen suchte. Das Wissenschaftskolleg reflektiert wis- senschaftliche Entwicklungen in Deutschland und der Welt und hat seiner- seits solche Entwicklungen angestoßen. Darüber berichtet das Buch ebenfalls anhand ausgewählter Disziplinen. Die Geschichte des Kollegs ist selbst ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Ein Teilnehmer an dem Gespräch der Väter des Wissenschaftskollegs lebt nicht mehr: Peter Glotz. Er war jener ideenreiche und durchsetzungsstarke Politiker, von dem alles ausging. Kurz vor seinem Tod am 25. August 2005 wirkte er noch an diesem Jubiläumsbuch mit. Ihm ist es gewidmet.
Dieter Grimm Wolfgang Frühwald Wirkungen der Freiheit
1. Soziologie der Mahlzeit
Im ‚Memorandum zur Gründung eines Institute for Advanced Study in Berlin‘ (vom 7. Januar 1980), der Gründungsschrift des Wissenschaftskollegs zu Ber- lin, finden sich zwei harmlos klingende, im Grunde nur beschreibende Sätze, die aber im Alltag des Kollegs noch immer für Aufregung sorgen. Sie lauten: „Neben wissenschaftlichen Veranstaltungen spielen für die Kommunikation überall [das heißt: in allen weltweit bekannten Institutes for Advanced Study] gemeinsame Mahlzeiten eine wesentliche Rolle; diese werden ‚gemeinsam‘ durch ihre Anziehungskraft, nicht durch Verpflichtung, an ihnen regelmä- ßig teilzunehmen.“ Wer jemals an einer der fröhlichen Tischrunden im New Europe College in Bukarest teilgenommen hat, am Mittagessen in einem briti- schen College oder wer in der ungezwungen-fröhlichen Atmosphäre einer ame- rikanischen Forschungsuniversität mit Kollegen zu Mittag gegessen hat, weiß, wovon hier die Rede ist. Das Mittagessen ist in solchen Colleges und Uni- versitäten ein Ritual, das niemand verpasst, der ‚dazugehören‘ möchte. Diese Essen entwickeln ihre eigene Dynamik. Dort treffen sich Kollegen, die in ge- trennten Fakultäten arbeiten, dort hört man nicht nur den Campus-Klatsch (den auch), sondern von den Schwierigkeiten des Kollegen, der Kollegin bei der Lösung eines scheinbar ganz abseitigen Problems und erhält plötzlich eine unvermutete Perspektive auf ein eigenes Arbeitsvorhaben, ohne sich der Anregung zunächst noch bewusst zu sein. Das soziale Gebilde der Mahlzeit, über das Georg Simmel 1910 nachdenklich und informativ geschrieben hat, vereinigt ja in sich die physische Notwendigkeit der absolut ichbezogenen Nah rungsaufnahme mit der Häufigkeit des Zusammenseins und knüpft dem- nach „eine Gewöhnung an das Vereinigtsein […], wie sie durch höher gelegene und geistige Veranlassungen nur selten erreichbar ist“. Dieses Grundprinzip des gemeinsamen Essens haben schon die Romantiker (an antiken, sokratisch- platonischen Vorlagen geschult) auf ihr Prinzip des Symphilosophierens, der MONA ABAZA · CAROLYN ABBATE · ANOUAR ABDEL-MALEK · BUTRUS ABU-MANNEH ·
10 gemeinschaftlichen und freundschaftlichen Ideen- und Gedankenbildung, übertragen und daraus, theoretisch und praktisch, auf die Nähe zwischen kör- WOLFGANG FRÜH WOLFGANG perlichen und geistigen Genüssen geschlossen. „Das gemeinschaftliche Essen“, meinte Novalis, „ist eine sinnbildliche Handlung der Vereinigung. […] Alles Genießen, Zueignen und Assimilieren ist Essen, oder Essen ist vielmehr nichts als eine Zueignung. Alles geistige Genießen kann daher durch Essen ausge- drückt werden.“ Die romantische Partei an der reformierten (neuen) Universi- W
ALD tät in Heidelberg hat sich demgemäß 1805/07 von ihren rationalistischen Gegnern äußerlich sichtbar vor allem durch Kleidung, durch die andere Möb- lierung ihrer Wohnungen und durch eigene gemeinsame Essenszeiten abge- grenzt. So ist es nicht verwunderlich, dass sich ein scheinbar so abseitiges Thema wie das des gemeinsamen Mittagessens in Kritik und Zustimmung durch die Berichte aller Jahrgänge des Wissenschaftskollegs zieht. Von „Zwangsernäh- rung“ ist da die Rede, aber auch von einem „convivium“, einem wohlschme- ckenden „geselligen Essen“ und sogar von der Assoziation eines „Wasserlochs“ in der südafrikanischen Savanne. Christian Graf von Krockow, Fellow im Jahr- gang 1982/83, meinte gar, das Kolleg sei eine Institution, die um ein gemeinsa- mes Mittagessen herum gebaut sei. Auf dieses Essen nämlich haben vom Jahr der Gründung an alle Rektoren des Wissenschaftskollegs Wert gelegt, auf das gemeinsame tägliche Mittagessen mehr als auf gemeinsame Abendessen, auch wenn Peter Boerners Goethevortrag im Kolleg vor allem deshalb bei den Gästen und den Fellows in Erinnerung geblieben ist, weil beim anschließen- den Abendessen Hecht serviert wurde, zubereitet nach einem Rezept, das der Berliner Musikdirektor Carl Friedrich Zelter seinem Freund Johann Wolfgang Goethe nach Weimar gesandt hatte. Die Auseinandersetzung um das gemeinsame Mittagessen, um den rituel- len Gong, der zum Essen ruft und auch „verlässliche Frühstücksfeinde“ dazu zwingt, die klösterliche Arbeitszelle zu verlassen und „um 13 Uhr ins Refekto- rium zu kommen“, nimmt von den Anfangsjahren bis in die jüngste Zeit fast ideologische Züge an. Bei der Debatte um ein gemeinsames Essen nämlich pral- len Weltanschauungen aufeinander, etwa die der ‚Durcharbeiter‘, die mittags gerade erst in Schwung gekommen sind, und die der Frühaufsteher, die schon um elf Uhr wieder hungrig sind und es kaum erwarten können, dass zum Essen gerufen wird. Aber nicht nur Weltanschauungen geraten hier miteinan- der in Konflikt, sondern lange eingeübte Lebensgewohnheiten, so dass der in diese Gewohnheiten einbrechende Mittagsgong die in ‚Einsamkeit und Frei- heit‘ versunkenen Fellows des Wissenschaftskollegs daran erinnert, dass der Mensch ein ‚animal sociale‘ ist, dass er sich seines Ichs ohne ein Du nicht be- wusst werden kann, dass es in dieser handverlesenen Versammlung von ge- lehrten und entsprechend sensibilisierten Individualitäten doch – wie Péter NASR HAMID ABÛ-ZAYD · BRUCE A. ACKERMAN · KONRAD ADAM · ROBERT MCC. ADAMS ·
Esterházy sagte – „ein wir [gibt], in dem man fehlen kann, in dem man ver- 11 misst wird“. Schon im ersten Jahrgang, dem von 1981/82, von Gershom Scho- lem ironisch „die Trockenmieter“ genannt, brach dieser dem Wissenschafts- FREIHEIT DER WIRKUNGEN kolleg strukturimmanente Konflikt zwischen dem Rektor und einigen der damals erst 18 Fellows auf. Noch im Rückblick auf den ersten Jahrgang, den Hartmut von Hentig am 22. Oktober 1986, aus Anlass des Rektoratswechsels von Peter Wapnewski auf Wolf Lepenies, gab, klingt die Auseinandersetzung nach. Was diesen Jahrgang denn geeint habe, fragt sich Hartmut von Hentig und gibt die Antwort ex negativo: „Genügt haben uns jedenfalls für die Ge- meinsamkeit nicht ein geheimer oder offener Widerstand gegen Peter Wap- newskis Stil, Regelkunst und Autorität; nicht die Kritik an der mittäglichen Zwangsernährung, nicht die Unterstellung, wir seien Elite und also unzeitge- mäß […]. So etwas kann einigen. Es hat es nicht getan. Dafür waren wir zu gründlich geteilter Meinung, auch beispielsweise über ‚König Artus und seine Runde‘, die uns der ‚Spiegel‘ bescherte und von der ich alsbald den Verdacht hatte, Peter Wapnewski habe sie selbst geliefert.“ Der Gründungsrektor, der sein Kolleg gerne „der Gnade angelsächsischen akademischen Wesens“ teilhaftig ge- sehen hätte, in dem sich für ihn „Strenge und Anmut, Lässigkeit und formale Sicherheit unreflektiert verbinden“, sah sein Formkonzept, gemessen an die- sem starken Stilwillen, misslungen. Dabei gab es unter den Fellows durchaus Stimmen, die dem Rektor applaudierten und noch viel weiter gehen wollten als dieser. Im Archiv des Kollegs ist zum Beispiel das Neunpunkteprogramm eines Fellows aus dem zweiten Jahrgang (1982/83) „zur Einnahme der gemein- samen Mahlzeit im Wissenschaftskolleg zu Berlin“ erhalten, in dem die for- malen Konsequenzen aus der Behauptung gezogen werden, die gemeinsame Mahlzeit sei „tatsächlich die originelle Besonderheit des Kollegs, dasjenige, was ihm seinen Charakter“ gebe. Das Kolleg sei schließlich „kein Experimen- tierfeld antiautoritärer Erziehung, sondern ein Ort, an dem europäische Kul- tur auch gelebt werden sollte“. Wer die französische Esskultur kennt, wird sich nicht wundern, dass der Vorschlag (der Verfasser selbst nannte ihn eine ‚Denkschrift‘), aus dem gemeinsamen Essen ein ausgedehntes tägliches Mit- tagsmahl „an einer hufeisenförmig angeordneten, mit weißen Tischtüchern bedeckten und blumengeschmückten Tafel“ zu machen, von einem lange Jahre in Paris und in Straßburg lebenden Kultursoziologen kam. Nicolaus Sombart hat durch sein ‚Journal intime 1982/83‘ (publiziert 2003) die Ausein- andersetzung um das gesellige Konzept des gemeinsamen Essens über das Kolleg hinausgetragen. Aus dem (oft allzu ‚intimen‘ und mit Indiskretionen kokettierenden) ‚Journal intime 1982/83‘, dem immerhin Ijoma Mangold in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ Talleyrandsche Unterhaltungsqualitäten bestä- tigt hat, wird, noch mehr als 20 Jahre danach, deutlich, dass der Streit um das gemeinsame Mittagessen nur ein Symptom für Spannungen gewesen ist, an JEREMY D. ADLER · ADONIS · AD AERTSEN · GIORGIO AGAMBEN · PER AHLMARK · ENGIN D. AKARLI ·
12 denen das freiheitliche Konzept des Wissenschaftskollegs zu scheitern drohte. In der aufgeregten Atmosphäre der politischen Auseinandersetzungen um WOLFGANG FRÜH WOLFGANG die Stationierung von Mittelstreckenraketen im Osten und im Westen Euro- pas verliefen im Mai 1983 (nach Ansicht des französischen Literaturwissen- schaftlers Jean Bollack) die Fronten im Kolleg zwischen „altmodischer Autori- tät“ und „jakobinischer Toleranz“. Vielleicht muss man neben Sombarts intimes Tagebuch Christa Wolfs (1982/83 erschienene) Erzählung ‚Kassandra‘ W
ALD legen. Nicht nur um den krassen Unterschied von männlicher und weiblicher Schreibweise zu erkennen, sondern auch den Ernst einer Situation, in welcher der Sturz in die atomare Katastrophe nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien. Sombart hat unter dem (kuriosen) Motto Joh. 11,49–53 am 13. April 1983 im Kolleg einen Vortrag zur historisch kontroversen Beurteilung des letzten deutschen Kaisers gehalten. An der Sitzordnung von dessen Hoftafel aber war die Hierarchie des Wilhelminischen Reiches abzulesen. Theobald von Bethmann-Hollweg, Reichskanzler von 1909–1917, hatte an dieser Tafel seinem militärischen, nicht seinem politischen Rang entsprechend ziemlich weit unten Platz zu nehmen. Auch Sitzordnungen sind gelegentlich histori- sche Quellenzeugnisse von einigem Aussagewert. Die Sitzordnung des Kollegs jedenfalls wurde von der Opposition im Kreis der Fellows als ‚wilhelminisch‘ denunziert. Es ist das Verdienst der Rektoren des Wissenschaftskollegs, die Auseinan- dersetzungen um das gemeinsame Essen entschärft und einen kommunikati- ven Mittelweg gefunden zu haben. Sie haben am gemeinsamen Mittagessen (viermal pro Woche) und einem gemeinsamen Abendessen am Donnerstag festgehalten, ohne daraus einen Grundsatzkonflikt zu machen und ohne die Dienstagskolloquien und die öffentlichen Vorträge der Fellows, die regelmä- ßigen Konzerte und die Vernissagen, die mit zum Ritualensemble des Kollegs gehören, dagegen abzuwerten. Der Kieler Soziologe Lars Clausen, Fellow im Jahrgang 1996/97, fällte schließlich über den (sanften) Zwang zum gemeinsa- men Essen ein versöhnliches, soziologisches Urteil: Diese Regelung sei „sehr klug“, weil sie von Natur aus wenig sozial veranlagte Wissenschaftler dazu zwinge, (äußerlich und innerlich) ihre Einsiedlerklausen zu verlassen und täglich wenigstens einmal gesellig zu sein. Im dritten Jahr des Kollegs freilich musste Peter Wapnewski – mit deutlichem Bedauern – feststellen, dass „die Jeans-und-Bart-Generation […] jetzt auch das Bild der professoralen Welt [be- stimmte] und die Prädominanz des amerikanischen Elements […] den legeren Ton“ verstärkte. Um diese Zeit (schon in den frühen 80er Jahren also) ist es geschehen, dass die Tische im Restaurant des Kollegs, die er in U-Form hatte stellen lassen, wobei der Rektor und seine Gäste an der Stirnseite saßen, als Einzeltische gestellt wurden. Noch in dem Gespräch mit den Gründern des Kollegs, nach mehr als 20 Jahren, ist Peter Wapnewskis Groll über diese ‚stille MUZAFFAR ALAM · SADIK J. AL-AZM · AZIZ AL-AZMEH · RÉKA ALBERT · GÜNTER ALBRECHT-BÜHLER ·
Revolution‘ nicht zu überhören. Der High Table eines britischen College ent- 13 sprach nicht dem Stil der Gemeinsamkeit, den sich die Mehrzahl der Fellows wünschte: „Man nutzte [so berichtet Peter Wapnewski] eine zeitliche Abwe- FREIHEIT DER WIRKUNGEN senheit des Rektors, um die U-Form aufzuheben und stattdessen Einzeltische zu formieren, damit zerrann mein Traum vom Berliner Oxford.“ In seiner Rede zur Rektoratsübergabe an Wolf Lepenies hat er diesem Groll ebenso frei- mütig und drastisch Ausdruck gegeben, wie Hartmut von Hentig bei der glei- chen Gelegenheit dem Widerspruch.
2. Der Stil des Hauses
Das Wissenschaftskolleg hat von Anfang an Wert auf gute Umgangsformen gelegt, auf einen Stil des Hauses, auf eine gewisse Ästhetik des Alltags, das heißt u.a. auch auf ein Mahl der Goethezeit, wenn es im öffentlichen Vortrag um diese Zeit und ihre Atmosphäre, um die Freundschaft zwischen Goethe und Zelter ging. Die Umgangsformen sollten dem entsprechen, was beim ge- selligen Mahl, in der Muße des Mittags, bei Tischgesprächen verhandelt wurde, die spürbar und hörbar über small talk hinausgingen, ohne in die Strenge der wissenschaftlich-argumentativen Diskussion zu münden. Die freilich rasch beendete Debatte um (angeblich gewünschtes) Silberbesteck für das Kolleg und das damals modische Freiheitsgefühl, das Peter Wapnewski mit den Wor- ten charakterisierte „Zu jedem Anlass Adidas, man raucht bei Tisch und duzt sich mit jedem“, bildeten die Pole eines Konfliktes um Formen, der auch ein Inhaltskonflikt gewesen ist, ohne dass Etiketten wie links und rechts, fort- schrittlich oder konservativ darauf anzuwenden sind. Das Kolleg wurde in den Jahren gegründet, in denen die Nachwehen der gesellschaftlichen Um- brüche aus den 68er Jahren noch spürbar und sichtbar waren. Damals (1968/ 69) galt es als modern, seinem Leben proletarische Formen zu geben. Schon im Jahr nach der Eröffnung des Kollegs aber schienen sich die Kontroversen aus der Zeit des Umbruchs zu erneuern. Am sichtbarsten ist dies an dem Do- kumentarfilm abzulesen, den Paul Karalus unter dem Titel ‚Das Elite-Institut‘ vom zweiten Jahrgang des Kollegs gedreht hat. Er wurde 1983 im WDR gesen- det. In diesem Film wird die Elite-Debatte um die ‚Privilegien‘ der Fellows pe- netrant nicht nur mit dem polnischen utopischen Schriftsteller Stanislaw Lem, dem Rektor und den Fellows, sondern auch mit Hausmeister, Fahrer und Verwaltungspersonal geführt. Karalus fand dabei sogar einen Fellow, der dem Kolleg das Etikett des 19. Jahrhunderts angeheftet hat. Sein Film belegt, mit welch überflüssigen Debatten sich die Wohlstandsgesellschaft mitten im Kal- ten Krieg beschäftigt hat. Umso bemerkenswerter ist die Standfestigkeit von Bildungspolitikern wie Hellmut Becker und Peter Glotz, die (1978) an der RACHID AL-DAIF · GADI ALGAZI · EDWAR AL-CHARRAT · SVETLANA ALPERS · MIRAL AL-TAHAWI ·
14 Wiege des Kollegs standen. Sie haben sich auch von der Häme politischer Freunde nicht beirren lassen, auf der Berliner Insel Rahmenbedingungen WOLFGANG FRÜH WOLFGANG dafür zu schaffen, dass ein weit gestreuter, international geprägter wissen- schaftlicher Dialog beginnen und sich dauerhaft fortsetzen konnte. Gäbe es dieses Kolleg nicht, müsste man es heute gründen. Doch ob dies mit der glei- chen Argumentation wie in den späten 70er und den frühen 80er Jahren noch immer möglich wäre, wage ich zu bezweifeln. Zeit, Ort und Umstände waren W
ALD der Gründung geneigt. Hans Magnus Enzensberger hat 1988 die von ihm lange vertretene These von der restaurativen Bundesrepublik dahingehend korrigiert, dass sich „die Rückkehr zur Vorkriegszeit als Chimäre“ erwiesen habe: „Als in den sechziger Jahren die Gerüste fielen, war eine völlige Neukonstruktion zu besichtigen.“ Die Gerüste aber sind in den sechziger Jahren tatsächlich gefallen. Enzensber- ger nämlich – so belegte Helmuth Kiesel – hat recht präzise beschrieben, was die Protestbewegung im westlichen Deutschland geleistet hat: „Sie hat die traditionalistischen Drapierungen der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft, Talare und Uniformen, Konventionen und Reglements, moralische Gebote und strafgesetzliche Verbote, so weit wie möglich abgeschafft und hat dadurch deutlich werden lassen, was 1945 und 1949 auf den Weg gebracht worden war: ein demokratischer Staat mit einer autonomen und pluralistischen Zivil- oder Bürgergesellschaft, getragen von einer Bevölkerung, die sich keineswegs nach alten Zeiten sehnte, sondern mehrheitlich demokratisch und modern sein wollte.“ Dieser harte demokratische Kern der Bürgergesellschaft in Deutsch land hat die mörderischen Attacken der RAF und auch den Deut- schen Herbst ohne gravierende Beschädigung des Rechtsstaates überstanden. Menschen, die unbestreitbar zu diesem harten Kern gehörten, haben aller- dings häufig genug den Abbau von Gerüsten mit Revolution verwechselt, den Verzicht auf gutes Benehmen mit Demokratisierung und waren deshalb gegen den Primat der Form und einen bestimmten Umgangston auch dort empfindlich, wo deren Wurzeln nicht in den gemeinsam verabscheuten „ob- soleten Hierarchien wilhelminischer Etikette“ oder in „konservativer Passion“ lagen. Diesen Vorwürfen aber fühlte sich Peter Wapnewski ausgesetzt. Er sah das von ihm gewünschte und stimulierte, gebildete Tischgespräch als bil- dungsbürgerlich denunziert und war – mit Recht – verletzt. Im Kolleg spiegelte sich in nuce ein Konflikt, der die europäische Gesell- schaft – im Osten anders akzentuiert als im Westen, aber im Grunde gleich- laufend – mehr als zwanzig Jahre lang in Atem gehalten hat. Es war der Streit um Demokratisierung und Individualisierung, der häufig auch gewaltsame Formen angenommen hat, ein Konflikt in der Endphase des gebildeten Bür- gertums, das den Höhepunkt seines politisch-sozialen Einflusses schon am Ende des 19. Jahrhunderts überschritten hatte. Deshalb mussten die ersten SHAHID AMIN · STEFAN AMSTERDAMSKI · PERRY ANDERSON · GIL ANIDJAR · SORIN ANTOHI ·
Jahrgänge des Kollegs noch mit dem Vorwurf kämpfen, eine privilegierte Elite 15 zu sein, ein Vorwurf, der für Fundamentaldemokraten an der Spitze aller bür- gerlichen Abscheulichkeiten stand. Schließlich erzeugte die Götzenvereh- FREIHEIT DER WIRKUNGEN rung einer nackten égalité schon in der Französischen Revolution den Hang zum Gesinnungszwang. Wahre Eliten, sagte Hartmut von Hentig 1986, rede- ten nicht darüber, ob sie Eliten sind. Gershom Scholem und Ivan Illich, damals am Ende ihres großen, von Flucht und Widerspruch geprägten, auf Con vivia- lität angelegten Lebenswerkes angekommen, waren offenkundig ‚voll kom- men immun‘ gegen das für sie ephemere Elitethema. „Helga Nowot ny, Mazzino Montinari, Rudolf zur Lippe und Hartmut von Hentig dagegen hatten gleich in den ersten drei Wochen einen Brief der Gewerkschaften bekommen: Wir sollten uns in der neuen, zu unserer angeblich linken Vergangenheit nicht passenden Rolle äußern. Das waren die Unterschiede.“ Das Leben im Wissenschaftskolleg also war von Anfang an nicht jene Idylle, als die es im Rückblick manchem Fellow erschienen ist. Es war und ist, trotz der Paradieseslieder, die auf das Kolleg inzwischen gesungen werden, kein Leben im ‚hortus conclusus‘, in einem auf kurze Zeit wieder zugängli- chen Garten Eden des Zeithabens und der Muße, von Arbeitskonzentration und ausschließlich selbstbestimmter Arbeit. Das Kolleg ist der Entwurf einer ‚respublica literaria‘, die nicht im luftleeren Raum existiert, sondern einge- bunden ist in wechselnde soziale und kulturelle, politische und ökonomische Spannungen. Diese multiplizieren sich umso deutlicher, je internationaler eine Gruppe ist, die sich zum gemeinsamen Gespräch, zum Gedankenaus- tausch und auch zum kreativen Konflikt in der Wallotstraße in Berlin zusam- menfindet. Das Kolleg versucht bekanntlich, für jeden einzelnen Forscher und jede einzelne Forscherin „einen Zusammenhang zu stiften und zwar einen Zusammenhang, der sich an der Universität selten ereignet. Es ist ein Zusammenhang [heißt es in der Selbstbeschreibung von 2004] gerade nicht allein mit Kollegen des eigenen Fachs und der vertrauten Wissenskultur und Wissenschaftstradition, sondern auch mit dem Fremden und Ungewohnten, dem scheinbar Irrelevanten für die eigene Forschung“. So ereignen sich hier auch alle jene Ein- und Zufälle des Lebens, die das Leben schön und leidvoll zugleich machen, die ihm lebenswerte Spannung geben: Geburt, Krankheit und Tod, Glück und Unglück, Trauer und Freude, Enttäuschung und Erkennt- nis. Wer die Bände des Jahrbuchs des Wissenschaftskollegs seit 1981/82 durch- blättert, wird, neben den großen wissenschaftlichen Themen, auf die Eigen- dynamik des intellektuellen und künstlerischen Lebens und zugleich auf elementar-menschliche Ereignisse stoßen. Was bedeutet schon die Enttäu- schung radikaldemokratischer Hoffnungen und deren Forderung nach Re- chenschaft (über das scheinbar unzeitgemäße Bekenntnis zur Elite) gegen- über den Drohungen „irgendwelcher Möchtegernmörder“, die Wolf Biermann PHILIPPE ARIÈS · MOHAMMED ARKOUN · ROBERT ARONOWITZ · KONSTANTIN ASADOWSKI ·
16 (1997/98) monatelang im Wissenschaftskolleg mit Drohanrufen, Briefen und Faxmitteilungen terrorisierten? In seinem Büro im Wissenschaftskolleg musste WOLFGANG FRÜH WOLFGANG eine Fangschaltung eingebaut werden. „Es war“, schreibt Biermann, „wie ein ironisches Zitat aus DDR-Zeiten, wo meine Wohnung in der Chausseestraße bis ins Klo und in die Küche von den Abhörspezialisten des MfS verwanzt wor- den war. Nun aber waren die Spezialisten der Staatsmacht immerhin schon auf meiner Seite. Insofern erlebten wir am Kolleg ein hübsches Beispiel für W
ALD einen gesellschaftlichen Fortschritt in Deutschland – trotzalledem. […] Man lächelt in solcher Situation und spielt womöglich auch sich selbst den Eiser- nen Gustav vor, man lässt die Kinder nichts und die Freunde nur wenig mer- ken, aber in Wahrheit zittert das Herz doch.“ Nein – ein Idyll ist das Wissen- schaftskolleg nicht, ist es nie gewesen. Ein Paradies ist es nur für Menschen, die wissen, dass wir in verlorenen Paradiesen leben und dass uns gerade jene Sektoren menschlicher Energie von der Rückkehr ins Paradies abhalten, die im Kolleg besonders gepflegt werden: Bewusstheit, Intellektualität, Ästhetik, Reflexion.
3. Der uneinholbare Abstand?
Am Kolleg, meinte der Hamburger Kunsthistoriker Martin Warnke, Fellow des Jahrgangs 1983/84, sei „alles mit Überzeugung für die Wissenschaftler, für eine schöpferische Atmosphäre unter Forschern getan [worden], und doch wusste man die wissenschaftliche Arbeit in einem uneinholbaren Abstand zur poetischen, künstlerischen Arbeit.“ Zum Stil des Hauses nämlich gehört seit dem ersten Jahrgang 1981/82 die Einladung von Künstlern, von Schrift- stellern, Komponisten und Musikern. Der von Martin Warnke noch festge- stellte Wettstreit zwischen den intellektuellen und den ästhetischen Formen „schöpferischer Phantasie“ im Kolleg scheint mir im Lauf der Jahre von der Vorstellung eines „uneinholbaren Abstands“ entlastet worden zu sein. Das lag vielleicht zunächst daran, dass neue Künstlergenerationen (ungleich den von apokalyptischen Visionen umgetriebenen Autoren am Ende des 20. Jahrhun- derts, den Frisch, Dürrenmatt, Hildesheimer und Johnson) nicht den Abstand zur Wissenschaft, sondern eher das Verbindende suchten, vor allem aber daran, dass hier versucht wird, auch die künstlerische Arbeit in die allen ge- meinsamen Arbeits- und Gesprächszusammenhänge einzubetten. Ein erfolg- reiches und sogleich einleuchtendes Beispiel dafür ist die Karriere, die das Artemis-Quartett gemacht hat. Im Grunde begann die Laufbahn dieses Quar- tetts, das heute zu den besten und bekanntesten Streichquartetten der Welt gehört, 1998/99 im Wissenschaftskolleg. Damals nämlich ging Walter Levin, Primarius des LaSalle-Quartetts und Fellow des Kollegs schon im Jahrgang MITCHELL ASH · ALEIDA ASSMANN · JAN ASSMANN · LETICIA AVILÉS · PETER AX ·
1991/92, mit dem Artemis-Quartett in Klausur, um, vor dem Beginn eines in- 17 tensiven Tournee-Lebens, noch ein Konzert für die Kleine Philharmonie in Ber- lin zu erarbeiten – Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartett d-moll, KV 421; FREIHEIT DER WIRKUNGEN György Ligeti: Streichquartett Nr. 2; Hugo Wolf: Italienische Serenade für Streich quartett g-dur; Giuseppe Verdi: Streichquartett e-moll. Zusammen mit dem Sender Freies Berlin und dem Berliner Philharmonischen Orchester wurde das ehrgeizige Unternehmen ins Werk gesetzt. Zwei Gesprächskon- zerte hat Walter Levin damals mit dem Artemis-Quartett am Kolleg gegeben, die jeweils am Sender Freies Berlin wiederholt wurden. Im Juni 1999 ist dann „das Artemis Quartett schließlich zum ersten Mal im Kammermusiksaal der [Berliner] Philharmonie aufgetreten“. Wolf Lepenies hat – stellvertretend für ein breites Publikum – besonders das Erlebnis moderner Musik hervorgeho- ben, weil hier György Ligetis Streichquartett Nr. 2 „aus einem fremden zu einem vertrauten Musikstück“ gemacht wurde. Ligeti ist, vermittelt durch Márta und György Kurtág, im Jahrgang 2000/2001 selbst als Fellow ans Kolleg gekommen und hat dort an seiner 18. Klavier-Étude gearbeitet. Am meisten, schreibt Ligeti in seinem kurzen Arbeitsbericht, habe er „von den drei [zu- gleich mit ihm im Kolleg anwesenden] Fledermausfoschern gelernt“. Es wäre reizvoll, den Einflüssen der Fledermausforscher in der Musik Ligetis nachzu- spüren. In Reinhart Meyer-Kalkus aber sei er, so nochmals György Ligeti, einem Mit arbeiter des Wissenschaftskollegs begegnet, dessen ungewöhnliches Urteils- vermögen auf dem sonst so verschlossenen Feld moderner Musik kaum zu übertreffen sei. Ohne kenntnisreiche, gebildete und selbstlose Mitarbeiterin- nen und Mitarbeiter ist ein Kolleg wie das Berliner nicht zu betreiben. Von Joachim Nettelbeck, seit 1981 Sekretär des Kollegs, bis zum Bibliotheks- und dem EDV-, dem Empfangs-, Telephon- und Küchendienst ist die in der Tat dezen te und effiziente Verwaltung unermüdlich bemüht, den kleinen Cam- pus im Grunewald zu einem Ort zu machen, an dem kreatives Denken mög- lich wird, an dem es – wie in Princeton – keine strengen Pflichten für die Fel- lows, aber Möglichkeiten in Fülle gibt („no duties, only opportunities“). Die Stimulation zu schöpferischer Arbeit geht von der Atmosphäre dieses Hauses aus. Sie zu pflegen, zu erhalten, sie Jahrgang für Jahrgang zu erneuern, ist das Kunststück, das nur einem in Bescheidenheit und Anregung gleichermaßen geübten und gut geleiteten Team gelingt. Die kunstfördernden Leistungen des Kollegs sind demnach keineswegs zufällige Farbtupfer auf einem breiten Gemälde von Gelehrsamkeit, sondern entstanden aus intensiver Tätigkeit in der freien Luft der Wallotstraße. Dort wird ein Rahmen geschaffen für Leistungen, die sich auf allen Gebieten von Gelehrsamkeit und Kunst abheben vom Niveau des Durchschnitts und von Beginn an auf Weltgeltung zielen. Ähnlich wie um Musiker und Komponisten DAVID ROBERT AXELRAD · VICTOR V. BABENKO · BRAHIM BADAOUI · KLAUS BADE · CRISTIAN BADILITA ·
18 wirbt das Kolleg auch um Schriftsteller und Dichter aller Nationen. So waren – als Beispiel unter vielen – große ungarische Prosaautoren unseres Jahrhun- WOLFGANG FRÜH WOLFGANG derts Fellows im Grunewald und haben für ihre Arbeit dort ebenso profitiert, wie ein Schimmer ihres Ruhmes auf das Kolleg zurückgefallen ist. Péter Ester- házy, Träger eines Namens, der über Jahrhunderte hin gleichbedeutend war mit ‚Ungarn‘, der trotzdem meinte, sein Name habe sich nicht besonders in sein Leben eingemischt (er habe ihn zwar ab und an berührt, ihn aber nicht W
ALD ins Stolpern gebracht und nicht geblendet), war Fellow im Jahrgang 1996/97. Imre Kertész, der in Berlin am 10. Oktober 2002 die Nachricht erhielt, dass ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen worden sei, und den das Kolleg vor der über ihn hereinbrechenden Sturzflut des öffentlichen Interesses beschützte, war Fellow des Jahrgangs 2002/2003. In dem Roman ‚Liquidation‘, der 2003 auch in deutscher Sprache erschienen ist, ist sein Dank an das Wissenschafts- kolleg nachzulesen. Im gleichen Jahrgang wie Imre Kertész war Péter Nádas, der Melancholiker unter den modernen ungarischen Prosaautoren, Fellow am Kolleg. Er arbeitete am zweiten Band seines Buches ‚Parallelgeschichten‘. Offensichtlich ist es ihm schwerer gefallen als dem satirisch veranlagten Péter Esterházy, sich in die Gemeinschaft des Kollegs einzuleben. Ihm blieb – auch in der Diskussion um sein Buch ‚Der eigene Tod‘ – „der Abstand schmerzlich bewusst, der das Wahre vom Schönen“, die auf möglichste Objektivität ver- pflichtete Wissenschaft von der Literatur trennt. „Ohne der Ordensregel mei- nes Fachs den Rücken zu kehren, kann ich das Terrain des Ichs auch beim besten Willen nicht verlassen“, heißt es in seinem Arbeitsbericht. Um Mitter- nacht fuhr er auf seinem klapprigen Fahrrad häufig in die kleine Bibliothek, um „noch etwas nachzuschlagen oder rasch eine dringende Frage zu klären. Keinen habe ich dort je zu dieser Stunde gesehen. Einmal einen Nachtwäch- ter. Oder doch. Zweimal habe ich Yehuda Elkana im Treppenhaus getroffen und wir haben oben bei ihm noch einen guten Wein getrunken“. Sie werden Ungarisch gesprochen haben, wenn sie überhaupt gesprochen haben beim mitternächtlichen Wein. Denn Yehuda Elkana, seit 1987 Perma- nent Fellow am Kolleg, spricht auch diese Sprache. Von den Mitarbeitern wird er, liebevoll und voller Respekt für das sprühende Potential seiner Anregun- gen, für das anscheinend unerschöpfliche Füllhorn lebendiger Ideen, „der Herzschrittmacher des Wissenschaftskollegs“ genannt. Der Rektor des Kollegs ist dessen öffentlich sichtbarer Repräsentant, der Qualitätsanspruch aber, den dieser Ort des freien geistigen Austausches stellt, wird in einer verborge- nen, gleichwohl ungemein lebendigen Ideenwerkstatt verwirklicht, in wel- cher der Rektor und die Permanent Fellows ebenso ihren Platz haben, wie die an administrativer Exzellenz kaum zu übertreffende Verwaltung und der wis- senschaftliche Beirat. Das Ungarische (gerade diese kleine, so schwer zu erler- nende, nicht-indogermanische Kultursprache) scheint eine der am Kolleg oft BORIS BAER · ISSAKA BAGAYOGO · PATRICK BAHNERS · ANNETTE C. BAIER · CAROLINE BAILLIE · und gerne gesprochenen Sprachen zu sein, was so gar nicht zum verbreiteten 19 Eindruck von der unaufhaltsamen Anglophonisierung der Wissenschafts- sprachen passen will. Der im westrumänischen Timisoara geborene, in den FREIHEIT DER WIRKUNGEN USA lehrende Politologe Andrei S. Markovits, Fellow des Jahrgangs 1998/99, meinte dazu: „[…] if one looks at the small but crucial fact that not since my father’s untimely death in 1990 had I spoken as much Hungarian as I did with co-Fellows at the Kolleg, the year […] needs to be gauged as a rousing suc- cess. Because to me, the bottom line of this amazing year’s legacy will not be its in tel lectual glitter and brilliance, but its quiet humanity and palpable Mensch lichkeit.“ Ich stelle mir vor, dass in vielleicht 75 Jahren, wenn das Kolleg seinen 100. Geburtstag feiert, eine mit digitalen Methoden intertextuell arbeitende Doktorandin der Familienthematik in der europäischen Literatur (sagen wir: seit Lessing) nachgeht und dabei auf jene ‚Harmonia caelestis‘ überschriebene, von Anspielungen und Zitaten überquellende Familienchronik Péter Esterhá- zys stößt, in die der Familienroman und die das 19. wie auch das 20. Jahrhun- dert literarisch prägende Auseinandersetzung mit der väterlichen Autorität mündet. Sie findet in den Materialien zum Epos eines überzeugten Joyce- ianers den Mahnbrief des Wissenschaftskollegs zu Berlin vom 28. Oktober 1996, doch möglichst rasch das Arbeitsvorhaben mitzuteilen, denn alle Mit- glieder des neuen Jahrgangs seien schon sehr neugierig, wer wohl was bear- beiten werde. Sie findet auf diesem von Christine von Arnim unterschriebe- nen Brief (karikaturistische) Versuche des Autors, mit wenigen Strichen ein Porträt seines Vaters zu zeichnen, was dieses Arbeitsvorhaben deutlicher be- schreibt als alle vergilbten Papiere. So findet sie in diesen Materialien auch Namen, die ihr aus der Belletristik nicht geläufig, über einen Link ihres Such- programms aber leicht zu entschlüsseln sind, Namen von Menschen, deren Anregungen der Autor während des Jahres am Wissenschaftskolleg begierig aufgesogen und seinem Buch von der himmlischen Eintracht einmontiert hat: Peter Wapnewski, Wolf Lepenies, Renate Lachmann, Christine Landfried u. a. Und sie findet (im Archiv in der Wallotstraße) schließlich einen kleinen Vermerk darüber, dass Péter Esterházy am 24. Januar 2002 „alle aufs Wissen- schaftskolleg bezüglichen Stellen aus seinem Roman ‚Harmonia caelestis‘“ vorgelesen habe. Sie rechnet nach: Zu diesem Zeitpunkt war der Autor bereits aus seinem ureigenen Paradies, der unbeschwerten und liebevollen Erinne- rung an den Vater, vertrieben. Im Jahr 1999 hat Péter Esterházy ‚Harmonia caelestis‘ abgeschlossen, im Jahr 2000 ist das Buch in ungarischer, 2001 auch in deutscher Sprache erstmals erschienen. Am 28. Januar 2000 aber hatte er Einblick in jene drei braunen Dossiers bekommen, aus denen unzweifelhaft hervorging, dass sein Vater, der geliebte und in ‚Harmonia caelestis‘ gefeierte Vater, Mátyás Graf Esterházy, ein Agent der ungarischen Staatssicherheit ge- ZOLTÁN BALÁZS · BENJAMIN BARBER · JONATHAN BARNES · WLADYSLAW BARTOSZEWSKI ·
20 wesen ist. Am 30. Januar 2000 also begann er jenes Buch zu schreiben, das er im deutschen Text – unter Anspielung auf den vorangehenden Roman – ‚Ver- WOLFGANG FRÜH WOLFGANG besserte Ausgabe‘ nannte. 2002 ist dieses Buch in ungarischer Sprache unter dem Titel ‚Javított kiadás – melléklet a Harmonia caelestishez‘, 2003 in deut- scher Sprache erschienen. Es erzählt die Geschichte eines Schocks, die Ge- schichte der Dekonstruktion der in ‚Harmonia caelestis‘ geschaffenen „gro- ßen Gestalt des Vaters“, eine Geschichte auch von Verrat und Schuld und von W
ALD der Natur und Not des Landes Ungarn nach dem gescheiterten Aufstand 1956, von den blutigen Spuren des Verderbens, welche die Diktaturen des 20. Jahr- hunderts durch Europa gezogen haben: „In ‚Verbesserte Ausgabe‘ habe ich die (neue, verbesserte, verschlechterte, eine andere, die andere) Geschichte mei- nes Vaters erzählt, die, um es so zu sagen, für meinen Vater nicht typisch ist, auch für meine Familie nicht, […] sie repräsentiert uns nicht. Doch sehr wohl repräsentiert diese Geschichte die Situation des Landes nach 1956, zumindest etwas davon. […] Das Leben meines Vaters ist ein unmittelbarer (und abstoßen- der) Beweis für die Freiheit des Menschen.“ So begibt sich die Doktorandin des Jahres 2081, die ich mir vorstelle, nun auf die Suche nach dem Abenteuerplatz der Freiheit, genannt Wissenschaftskolleg zu Berlin, nach all den auf diese Freiheit bezogenen Stellen in einem übermütig als himmlische Harmonie bezeichneten Roman, in dem eines sicher ist: der Zusammenhalt der Familie, die Liebe des Vaters zu seinen Kindern, die er mit der ganzen ihm verbliebe- nen Kraft seines Lebens zu verteidigen schien. Doch sie begibt sich auch auf die Suche nach jenem Erschrecken, das von Péter Esterházy mit dem Schock verglichen wurde, den die USA und die Welt am 11. September 2001 (am omi- nösen Tag ‚nine eleven‘) durch die terroristischen Attentate in New York und Washington erlitten haben. Es war der Verlust des nach dem Zweiten Welt- krieg wieder mühsam aufgebauten und in der Euphorie der Wendejahre nicht mehr befragten Vertrauens in die moralische Kraft menschlicher Zivili- sation. Mit diesem Erschrecken wurde in Israel wie in Deutschland, in Ungarn wie in Russland, in China wie in Japan und in vielen anderen Ländern und zahllosen Familien der Welt das blutige 20. Jahrhundert abgeschlossen. Die Hoffnung auf ein friedlicheres Folgejahrhundert entschwand. REINHARD BAUMGART · MICHAEL BAXANDALL · ULRICH BECK · ELISABETH BECK-GERNSHEIM ·
4. An einem besonderen Ort, in einer besonderen Zeit 21
In den späten 70er und den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts schien FREIHEIT DER WIRKUNGEN die durch Berlin real verlaufende, weithin (angeblich sogar vom Mond aus) sichtbar die beiden Machtblöcke der Welt trennende Mauer auf 100 Jahre und länger festzustehen. Die Mitglieder des Wissenschaftsrates, der damals verpflichtet war, seine Vollversammlungen im leerstehenden Gebäude des Reichs tags abzuhalten, kannten die Buslinie 69 mit der Endstation ‚Reichs tag‘ nur allzu gut. Diese Linie fuhr schon fünf Stationen vor der Endstation leer durch die Straßen und endete dort, wo der Todesstreifen mit Wachtürmen, Hundepatrouillen, der Mauer und Abhöranlagen begann. Die Kreuze, gleich hinter dem Reichstagsgebäude, zeugten von gescheiterten Fluchtversuchen; der ‚antifaschistische Schutzwall‘, wie die Mauer in der DDR offiziell genannt wurde, wurde vor allem nach innen verteidigt. Die (1984 abgebauten) Selbst- schussanlagen an den Grenzbefestigungen der DDR richteten sich gegen Flüchtlinge aus dem eigenen Land, der Übergang von West- nach Ostberlin am S-Bahnhof Friedrichstraße glich (nicht nur vom Westen aus gesehen) dem Ein- gang in den Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Damals hat ein Ostber- liner Verleger seinen Kollegen aus der Bundesrepublik in der Leipziger Straße an die nach Westen schauenden Fenster seines Büros geführt, ihm die Mauer (von der ‚anderen Seite‘) gezeigt und stolz gesagt: „Sehen Sie, bis hierher sind wir schon gekommen.“ Das Wissenschaftskolleg zu Berlin also wurde auf der von einer Mauer umschlossenen Westberliner Insel vom Westberliner Senat im Andenken an jenen Ernst Reuter gegründet, der als letzter frei gewählter, von der sowjeti- schen Besatzungsmacht nicht anerkannter Oberbürgermeister ganz Berlins (1947) und als erster Regierender Bürgermeister Westberlins (seit 1950) die stets bedrohte Freiheit dieser Stadt, zumal in den Zeiten der Berlin-Blockade und der Luftbrücke (von Juni 1948 bis Mai 1949), eindrucksvoll verteidigt und den Widerstandswillen der Berliner gestärkt hat. Das Land Berlin und das Wissenschaftskolleg zu Berlin e.V. gründeten im Dezember 1980 die Wissen- schaftsstiftung Ernst Reuter, deren Auftrag die finanzielle Förderung des Wissenschaftskollegs ist. Im Mai 1982 (es war meine zweite Sitzung als Mit- glied dieses wissenschaftspolitischen Beratungsgremiums des Bundes und der Länder) hat der Wissenschaftsrat dann auf seiner Berlin-Sitzung empfoh- len, die „Wissenschaftsstiftung Ernst Reuter in die gemeinsame Förderung durch Bund und Länder nach Artikel 91b des Grundgesetzes aufzunehmen“. Doch erst im fünften Jahrgang des Kollegs, als erstmals auch die seither maß- gebende Zahl von 40 Fellows erreicht wurde, hat das damalige Bundesminis- terium für Forschung und Technologie, an Stelle der Volkswagenstiftung (ohne deren großzügige Hilfe das Kolleg nie auf die Beine gekommen wäre) PETER BEHRENS · MARK BEISSINGER · DAVID A. BELL · JEAN VINCENT BELLISSARD · HANS BELTING ·
22 50 Prozent der Kosten übernommen und teilt sich die Finanzierung seither mit dem Land Berlin. Der langwierige und zähe Streit um den endgültigen Finan- WOLFGANG FRÜH WOLFGANG zierungsmodus hat das Rektorat Peter Wapnewskis bis zum Schluss belastet. Der Name Ernst Reuters allerdings war in mehr als einem Sinne charakte- ristisch für den Geist der Zeit, in der das Kolleg gegründet wurde. Der 1953 gestorbene Regierende Bürgermeister galt in Ost und West nach der Berlin- Blockade als Symbolfigur der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. W
ALD Ernst Reuter, der sich als deutscher Kriegsgefangener in Russland früh der Bewegung Lenins angeschlossen hatte und Volkskommissar für wolga-deut- sche Angelegenheiten in Saratov geworden war, kehrte 1918 (mit Karl Radek) nach Deutschland zurück. Er gehörte 1918/19 zu den Gründern der KPD, wurde 1921 sogar zu deren Generalsekretär gewählt, aber 1922 aus der Partei ausgeschlossen, weil er die finanzielle und politische Unabhängigkeit der KPD von der Komintern gefordert hatte. Der 1922 zur USPD und schließlich zur SPD übergetretene Ernst Reuter kannte also die dogmatisierende Gewalt des Kommunismus von innen her und hatte sie selbst erfahren. Als ein pro- filierter Gegner des Nationalsozialismus wurde er 1933/34 im Konzentra- tionslager Lichtenburg inhaftiert, konnte 1935 über England in die Türkei emigrieren, wo er in Ankara als Professor für Städtebau, dann im türkischen Verkehrsministerium (bis 1946) als Berater tätig war. Durch Vermittlung der Labour Party gelang ihm nach dem Krieg eine rasche Rückkehr nach Deutsch- land; schon 1946 war er wieder (wie schon einmal 1926) Berliner Stadtrat für Verkehr. Der noch immer vorzüglich funktionierende Nahverkehr in Berlin verdankt Ernst Reuter viel. So sehr im Jahr 1978 der Name Ernst Reuters in Westberlin die Gründung des Wissenschaftskollegs begünstigte, so sehr rief er Misstrauen im Osten hervor, wo man auf die Dissidenten der frühen Jahre des Kommunismus mit großem Argwohn reagierte. So ist es nicht verwunder- lich, dass die Neugründung international zwar bald Fuß fassen konnte, dass ihr die DDR aber verschlossen blieb und Anknüpfungsversuche zunächst nicht beantwortet wurden. Den Rektoren und den Fellows gelang es aber rasch, den Verdacht des kruden Antikommunismus zu zerstreuen. Im Jahrgang 1988/89 war erstmals ein Fellow aus der DDR am Kolleg, der Psychologe Fried- hart Klix, der sein Fellow-Jahr „in ziemlicher Abgeschiedenheit zugebracht“ hat. Zwei Jahre vorher schon berichtete der neue (1986 gewählte) Rektor Wolf Lepenies von „der beeindruckenden Normalität“ der Kontakte seiner Fellows „zur Humboldt-Universität [in Ostberlin] und zur Akademie der Wissenschaf- ten in der DDR“. 1990/91 waren dann der Ostberliner Wissenschaftstheoreti- ker Hans-Peter Krüger und, als Gast des Rektors, der Berliner Philosoph Gerd Irrlitz am Kolleg, die bereits im Juni 1989 in Ost-Berlin (in der Akademie der Wissenschaften der DDR) mit einer westdeutschen Arbeitsgruppe die Situa- tion der Geisteswissenschaften in Deutschland beraten hatten. Bei dieser offi- REINHARD BENDIX · ANGELA DE BENEDICTIS · BERND A. BERG · HARTMUT BERGHOFF · ziell genehmigten Tagung war es ihnen auch gelungen, ein Mitglied der 23 westdeutschen Delegation, den offiziell in der DDR nicht gern gesehenen Phi- losophen Jürgen Habermas in eine Privatwohnung mit interessierten Gästen FREIHEIT DER WIRKUNGEN zu einem Gesprächskreis einzuladen. Im Juni 1989 galten solche Treffen noch als konspirativ, seit dem Kolleg-Jahrgang 1991/92 aber (Manfred Bierwisch, ein prominenter Linguist aus der Akademie der Wissenschaften der DDR, ge- hörte ihm an) war die politische Unterscheidung von Deutschland-Ost und Deutschland-West Vergangen heit. Ernst Reuter war nicht nur die weithin sichtbare Symbolfigur des Wider- stands gegen die kommunistischen Expansionsbestrebungen, sein Name und seine Biographie knüpften auch die Verbindungen zur Tradition des deut- schen Widerstands gegen den Nationalsozialismus und zum Schicksal jenes anderen Deutschland, das in Exil und Emigration Denktraditionen zu bewah- ren und weiterzuentwickeln suchte, die im Deutschland Hitlers vertrieben, verfolgt und blutig unterdrückt wurden. Im Beschluss des Berliner Abgeord- netenhauses vom 6. Oktober 1978 heißt es so auch zu den Gründen, weshalb das Wissenschaftskolleg ins Leben gerufen wurde: „Um Initiativen der großen Wissenschaftsstiftungen aufzunehmen, um die durch Nationalsozialismus und Krieg unterbrochenen Verbindungen zu wichtigen geistigen Strömungen wieder zu knüpfen, die teilweise bis heute in Deutschland unterrepräsentiert sind, um die Stadt fester in die internationale Kommunikation der Wissen- schaften einzubeziehen und bedeutende Gelehrte nach Berlin zu bringen, hat der Senat beschlossen, eine internationale Wissenschaftsstiftung zu errichten, die aus Anlass des 25. Todestages Ernst Reuters, der wie viele andere das Schicksal von Verfolgung und Emigration tragen musste und nach der Besei- tigung der nationalsozialistischen Herrschaft entscheidend zu einer frei- heitlichen Entwicklung dieser Stadt beitrug, dessen Namen tragen soll.“ Das In stitute for Advanced Study in Princeton (USA), dessen Erfolgsgeschichte un- trennbar mit großen Namen der deutschsprachigen Emigration wie Albert Einstein und Erwin Panofsky verknüpft ist, ist in seinem wissenschaftlichen Qualitätsanspruch seit dem Gründungsmemorandum Vorbild und Maßstab des Wissenschaftskollegs. An die in Deutschland durch Terror und Vertrei- bung abgebrochenen Wissenschaftstraditionen wieder anzuknüpfen, gehört implizit und explizit zu den Zielen des Kollegs in Berlin. Dass es gelungen ist, in Deutschland auch neue Forschungsrichtungen auf dem Umweg über das Kolleg zu etablieren, ist auf diesen Impuls zurückzuführen. Insbesondere stand der Freiheits- und der Humanitätsgedanke des Exils, als Gegenbewegung gegen die politische Formierung der Wissenschaften im nationalsozialis- tischen Deutschland, Pate bei der Gründung. Das (von Peter Wap newski, Christoph Schneider von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Jochen Stoehr von der Berliner Wissenschaftsverwaltung gemeinsam verfasste) Grün- DIETZ BERING · UDO BERMBACH · GARY D. BERNARD · PETER BERNHOLZ · RICHARD BERNSTEIN ·
24 dungsmemorandum widmet zwei ganze Kapitel (IV und V) der Frage des Standorts und beschreibt darin die Vorzüge (West-)Berlins für die Ansiedlung WOLFGANG FRÜH WOLFGANG eines internationalen Wissenschaftskollegs auf höchstem Qualitätsniveau: die kulturellen und wissenschaftlichen Möglichkeiten, welche die Stadt bie- tet, Westberlin als einen Ort, „an dem gegenwärtig weltpolitische Tendenzen, Friktionen, Konflikte und Konfliktlösungen in besonderer Weise konkret und sinnfällig werden“, Berlins spezifische Urbanität mit „Sonderkulturen, Alter- W
ALD nativkulturen und Ausländer-Mischkulturen“, die wirtschaftlichen Restrik- tionen, denen die Stadt in ihrer Insellage unterlag, die durch wissenschaft- liche Einrichtungen auf Weltniveau kompensiert werden konnten. Das Wissenschaftskolleg also wurde an einem Ort errichtet, an dem Frei- heit und Unterdrückung, West und Ost, intellektuelle und ästhetische Kultur, die unterschiedlichsten Kulturkreise und Kulturformen aufeinandertrafen, sich oftmals explosiv mischten und kreativ ergänzten. Berlin sei, meinte Fania Oz-Salzberger (Fellow des Kollegs im Jahrgang 1999/2000), im Unterschied zu dem (vielleicht) allzu fröhlich über die Zeit als ‚Hauptstadt der Bewegung‘ hinweggehenden München, eine Stadt, die ihre „Narben offen“ trage. Sie sei auch für Israelis ein Aussichtsturm, ein düsteres, aber trotz allem „ein mögli- ches Tor nach Europa“. Diese Stadt, in der schließlich 1989 die Mauer zwi- schen den Machtblöcken sichtbar gefallen ist, in der sich ein oft symbolisch zum Ort der Abschließung ausgerufenes Tor sichtbar geöffnet hat, konnte damit seit 1989/90 zum Ausgangspunkt von Tochtergründungen des Wissen- schaftskollegs in den Ländern Mittel- und Osteuropas werden, mit dem Ziel, Eliten dort wieder zu bilden, wo Begriff und Realität der wissenschaftlichen und künstlerischen Eliten über vier Jahrzehnte hin unterdrückt waren und als konterrevolutionär galten. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin war an der Gründung des Collegium Budapest ebenso beteiligt wie an der Gründung und - lege (NEC) in Bukarest, der Graduate School of Social Research der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, der Bibliotheca Classica in St. Pe- tersburg, einem Zentrum für fortgeschrittene Studien (CAS) in Sofia etc. Die- ser energische und erfolgreiche Ausgriff des Kollegs in die europäischen Transformationsländer scheint mir (keineswegs das einzige, aber) das sicht- barste Kennzeichen des 15 Jahre dauernden Rektorats Lepenies zu sein. Wolf Lepenies hat die Chancen, die sich mit der Implosion des Ostblocks öffneten, frühzeitig erkannt und das von seinem Vorgänger aufgebaute und konsoli- dierte Kolleg zum Mutterhaus einer Reihe stattlicher und sehenswerter Töch- ter gemacht. Berlin, einst eine Insel im steinernen Meer des Ost-West-Konflik- tes, wurde nun zum Tor in einen Teil Europas, durch das die Westeuropäer insgesamt zögerlicher gegangen sind als die leitenden Personen des Berliner Wissenschaftskollegs. GÁBOR BETEGH · ANDRÉ BETEILLE · GIUSEPPE BEVILACQUA · ABBAS BEYDOUN · KLAUS VON BEYME ·
Neben dem innerdeutschen und (west-) europäischen Blick auf Berlin gab 25 es (und gibt es) im Wissenschaftskolleg einen Blick auf die Stadt, der sie ver- fremdet und entdeckt, in dem sie als die Zentrale staatlich gelenkten Terrors FREIHEIT DER WIRKUNGEN in den Jahren zwischen 1933 und 1945, als der Asylort von Flüchtlingen aus dem Herrschaftsbereich Stalins und Ulbrichts, als die Stadt neuer Freiheiten und Freizügigkeiten abstoßend und anziehend zugleich erscheint. Seit Alfred Döblin in seinem in alle Weltsprachen übersetzten Roman ‚Berlin Alexander- platz. Die Geschichte von Franz Biberkopf‘ (1929) die Stadt Berlin selbst, das Kollektiv Stadt, zum Helden eines modernen Epos gemacht hat, gibt es eine spezifische Form von Großstadtliteratur, die am Paradigma Berlin die schrof- fen Brüche und die verborgenen Kontinuitäten der Geschichte im blutigsten Jahrhundert der Moderne, im 20., all denen bewusst macht, die „in einer Men- schenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, näm- lich vom Leben mehr zu verlangen als ein Butterbrot“. In den 60er Jahren entwickelte sich dann in Ost und West, am Vorbild von Christa Wolf und Uwe Johnson, eine ‚Mauerliteratur‘, die nach 1989 in eine neue Art des Berliner Stadtmythos mündete. Diese Literatur deutet am Beispiel der Stadt der vielen Kulturen, der Begegnung und des Erschreckens, Entwicklungen des neuen Jahrhunderts vor. Durs Grünbeins ‚Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen‘ (2001) gehört zu dieser neu perspektivierten Berlin-Literatur ebenso wie Fania Oz-Salzbergers Buch ‚Israelim‘ (deutsch unter dem Titel: ‚Israelis in Berlin‘) aus dem Jahr 2001, das (für deutsche Leser jedenfalls) eine Fülle jüdischer Stadtliteratur entdeckt und wiederentdeckt hat. Grünbein hat nach dem Schnellkurs in Kosmopolitismus, den er, aus der Mauerhaft befreit, im Jahr- zehnt nach 1990 nehmen konnte, einen Rückblick auf die Dekade der Versöh- nung und des Weltvertrauens gewagt, in deren Euphorie alles zu verschwin- den schien, Krieg und Gewalt, globale Bedrohung und Atomkrieg, Sozialneid und Elend: „Jetzt ist alles wieder da. Das Gedächtnis meldet sich wie ein diensthabender Wachmann, der nur eben eingeschlafen war, und nun reibt er sich verstohlen die Augen und bemerkt mit einem kurzen Blick auf den Kalender, dass ein ganzes Jahrzehnt vergangen ist.“ Dass dies in Berlin geschah, ist nachzuvollziehen, denn Berlin macht nicht nur den Israelis, die (seit Gershom Scholem, dem ‚ersten‘ aller Fellows) in großer Zahl an den Jahrgängen im Wissenschaftskolleg beteiligt sind, „das Geschenk der Erinnerung“. Fania Oz (die Historikerin aus Haifa) hat am Ende ihres Berlin-Jahres ein Buch publiziert, das zu schreiben sie niemals geplant hatte. Es ist aus der Begegnung mit der Stadtpersönlichkeit Berlins und mit dem Wissenschaftskolleg entstanden und fasst wie in einem Brennspiegel die vielen historischen und aktuellen Begegnungen von Israelis mit einer Stadt zusammen, die sie verabscheuen, weil in ihr der Genozid an den europäi- schen Juden geplant und in der bekannten Villa am Wannsee auch admini s- AMIT BHADURI · CRISTINA BICCHIERI · PETER BIERI · WOLF BIERMANN · RICHARD BIERNACKI ·
26 trativ eingeleitet wurde. Mit einer Stadt auch, die sie fasziniert, weil darin, zu unterschiedlichen Zeiten der Geschichte, von der Kaiserzeit bis in die Zeit WOLFGANG FRÜH WOLFGANG nach dem Fall der Mauer (und, wie bei Herbert Strauss nachzulesen ist, selbst in der Zeit der Verfolgung, bis etwa 1942) jüdisches (und dann auch israeli- sches) Leben außerhalb ‚Erez Israel‘ pulsiert. In dieser Stadt waren Erich Käst- ners Emil und seine Detektiv-Freunde, waren Pünktchen und Anton zuhause, die in der hebräischen Übersetzung so traumhaft ortlos zu leben scheinen: W
ALD „Berlin opens up secrets from books read long ago. Here is suddenly Erich Kästner, a beloved part of many Israeli childhoods. I went to see the very Nol- lendorfplatz where Emil and his detectives chased the thief, chased him all the way from my old Kibbutz library where the metal shelves were dusty and a cotton field glimmered beyond the window in the hot air. But the old Nol- lendorfplatz was dead and gone. Instead, I found the city of my childhood books, the early dreamlike imagining of a wintry European city, in corners of Charlottenburg and Moabit and Wedding.“ Das Buch, das Fania Oz-Salzberger schließlich, trotz der Bedenken von Jürgen Habermas, veröffentlichte, ist ein innerisraelischer Dialog über Tel Aviv und Berlin, über den Unterschied von Jerusalem und Tel Aviv, dem deutsche Leser zuhören mögen, wenn sie es denn wollen. Dieser Dialog erinnert mich an einen, mich in den 80er Jahren noch erschreckenden Vergleich, den ein israelischer Freund anstellte, als ich ihm den Unterschied zwischen West- und Ostberlin erklären wollte. „Wenn ich an der Ostküste der USA aus dem Flugzeug steige“, so meinte ich in diesem Ge- spräch, „fühle ich mich zuhause, in einer mir vertrauten Welt. Hinter dem Übergang am Bahnhof Friedrichstraße aber öffnet sich mir eine andere, mir ganz und gar fremde, unbekannte Welt.“ „Jetzt weißt Du“, hat mir der israeli- sche Freund geantwortet, „wie es mir ergeht, wenn ich von Tel Aviv nach Jeru- salem komme.“ Ich habe lange gebraucht, um diese trockene Art israelischen Humors, die Scherz auch mit dem Entsetzen treibt, zu verstehen. Bei Fania Oz-Salzberger gibt es einsichtige Erklärungen dafür. Aber das Buch von Fania Oz-Salzberger eröffnet auch anderen Nationen als den Israelis, nicht zuletzt den Deutschen, einen neuen Blick auf die Stadt, auf deutsche Geschichte, auf das deutsche Verhältnis zu Israel, das mit dem schlechten deutschen Gewissen gegenüber ‚den Juden‘ nicht in eins gesetzt werden darf. Vielleicht hilft ein solches Buch, sich zumindest des Rätsels be- wusst zu werden, weshalb „Grosny tot, Stalingrad-Wolgograd erstarrt und in die Ferne gerückt“ scheinen, während das im Jahr 1945 ebenso zerstörte Ber- lin „sich aus seiner Geschichte wie ein Phönix aus der Asche erhebt“. Das Ber- lin-Buch von Fania Oz ist ein Text, der zwischen Israelis und Deutschen genau das erstrebt, was das Wissenschaftskolleg mit jedem neuen Jahrgang von Fel- lows aus allen Ländern der Erde zu erreichen versucht: dass sie sich und uns näherkommen, dass wir uns und sie sich gegenseitig über die Grenzen der MANFRED BIERWISCH · NORMAN BIRNBAUM · HENDRIK BIRUS · JUSTIN KALULU BISANSWA ·
Sprachen, der Kulturen, der Wissenschaftsstile und -methoden hinweg zu 27 kennen beginnen, „but really know; not merely stereotype each other over and over again“. Ein solches Kennen geschieht – wenn es gut geht – im Kolleg FREIHEIT DER WIRKUNGEN wöchentlich, vielleicht sogar täglich. Freilich ist die in die Gesprächskultur des Kollegs eingebettete Begegnung – wie Fania Oz sagt: „the particular set of stimuli supplied by the Wissenschaftskolleg, the discursive threads woven through its colloquium discussions and daily lunch table talk and Thursday dinner table talk and newspaper-reading-room chats and bumping-into-fel- lows-at-the-photocopier prattle, all this lively fabric of Wiko intercourse“ – dem ursprünglichen Arbeitsvorhaben oftmals feindlich gesinnt. Sie erzeugt aber offenkundig jenen Innovationsschub im Denken und im Handeln, den sich die Gründer des Kollegs erträumt hatten. So ist es kein Zufall, wenn Joa- chim Nettelbeck den Eindruck hat, im Kolleg sei in 25 Jahren nur das umge- setzt worden, was Peter Wapnewski, Christoph Schneider und Jochen Stoehr 1980 im Memorandum zur Gründung des Wissenschaftskollegs aufgeschrie- ben haben. Dass er das eigene Licht damit unter den Scheffel stellt, sollte nicht verschwiegen werden.
5. Die Kontextualisierung des Wissens
Wer die Existenz des Wissenschaftskollegs partout theoretisch begründet sehen möchte, ist unter anderem auf Wolf Lepenies und Yehuda Elkana ver- wiesen. Das Kolleg, verdeutlicht Elkana zurecht, hat sich eben nicht am Leitfa- den einer vorgegebenen Theorie oder gar eines wissenschaftsphilosophischen Programms entwickelt. Es ist entstanden aus der Erkenntnis eines „zuneh- menden Bedarfs an wissenschaftlichen Synthesen“, im Blick auf eine Wissen- schaft, die sich weiterhin unaufhaltsam in die elfenbeinernen Türme der Spezialisierung und Überspezialisierung zurückzieht, statt, bei aller notwen- digen Spezialisierung, den (freilich reduktionistischen) Blick für die Zusam- menhänge und die produktive Verarbeitung der vielen Detailergebnisse zu größeren, fachübergreifend verständlichen Sektoren zu stärken. „Im Ideal- fall“, heißt es im Gründungsmemorandum, „sind Synthese und Vereinfachung selbst ein Schritt in Neuland und Ausgangspunkt für weitere Forschung.“ Im Weiteren aber enthält das Gründungsmemorandum, unter Berufung auf bereits existierende Institutes for Advanced Study in den USA und in Europa, lediglich die Formulierung von pragmatischen Vorschlägen, wie und wo ein solches Institut in Deutschland gegründet werden sollte. Trotzdem konnte Yehuda Elkana beim Rückblick auf 25 Jahre der Ent- wicklung konstatieren, dass der bleibende Eindruck von der Arbeit des Kol- legs in jener „Kontextualisierung des Wissens“ besteht, die der Philosoph MARIAN BISKUP · ANDREJ BITOW · ELKE BLUMENTHAL · GISELA BOCK · GOTTFRIED BOEHM ·
28 Ernst Cassirer schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine neue, die Aufklärung fortschreibende und sie zugleich öffnende Maxime des WOLFGANG FRÜH WOLFGANG Denkens empfohlen hat, „a Cassirerian contextualization of knowledge, rich in emphasizing the social and political influences on, or rather, interaction with, new ideas in all areas of knowledge“. Die Interaktion des disziplinär er- arbeiteten Wissens mit benachbarten, aber auch entfernten Formen und Fel- dern des Wissens und der Erfahrung, für die das Wissenschaftskolleg einen W
ALD fruchtbaren Boden zu bereiten sucht, gehört vermutlich in den Zusammen- hang jener Anthropologisierung des Wissens, die im 19. Jahrhundert abge- brochen ist, weil die zunehmende (und zunächst notwendige) Spaltung der Wissensfelder, die Entwicklung von experimentellen Naturwissenschaften auf der einen und emphatisch verstandenen Geisteswissenschaften auf der anderen Seite, die Institutionalisierung einer Gesamthumanwissenschaft Anthropologie scheinbar überflüssig machte. Odo Marquard (Fellow am Kol- leg 1982/83) hat 1985 – unter Hinweis auf Wolf Lepenies – verdeutlicht, dass und wie im 19. Jahrhundert „statt der Anthropologie die Biologie erfolgreich institutionalisiert [wurde]. Aus ihr wurde das Thema der Besonderheiten und Sonderbarkeiten des Menschen ausgeschlossen; seiner nahmen die Geistes- wissenschaften sich an: so […] kam es gewissermaßen als Konsequenz der miss- lungenen Institutionalisierung der Anthropologie gegen Ende des 19. Jahr- hunderts zur endgültigen theoretischen und institutionellen Durchsetzung der Geisteswissenschaften“. Die moderne Wissenschaftstheorie versucht seit langem, auf der Basis hoch entwickelter Detailwissenschaften zu jener Kontextualisierung und An- thropologisierung der in allen Wissenschaften gleichartig wirkenden Denk- formen zu kommen, von denen aus neue Wege, begehbare Wege auch durch die immer undurchdringlicheren Datengebirge der experimentellen Fächer, ihren Ausgang nehmen könnten. Yehuda Elkana hat als (normaler Einjahres-) Fellow im Wissenschaftskolleg (1988/89) das gleiche Erweckungserlebnis ge- habt wie viele Fellows vor ihm und nach ihm. Er kam in das Kolleg mit dem gut vorbereiteten Plan, ein Buch über Ernst Cassirer zu vollenden, „with spe- cial emphasis on the contextual sociology of knowledge framework, under- lying Cassirer’s work, which superficially looks like a history of embodied ideas“; er verließ es mit einem zwar unfertigen, aber im Konzept völlig verän- derten Buch: „Much more political, with a sharper and I hope deeper look into 20th century intellectual history and its social determination.“ Das also ist es, was täglich im Wissenschaftskolleg geschieht und dort auch geschehen soll, die Kontextualisierung disziplinär bereits weit entwickelter Pläne und damit ihre Neuperspektivierung, die nicht nur auf das je einzelne Projekt, sondern auf die fortan veränderte Arbeitsweise des Verfassers/der Verfasserin Einfluss hat. „Western capitalistic society“, lautet die nicht überall geteilte, PETER BOERNER · ORIOL BOHIGAS · TZOTCHO BOIADJIEV · JEAN BOLLACK · ROBERT BOYD · aber des Nachdenkens werte These Yehuda Elkanas, „reached its success due 29 to a series of values: universalism, absolutism, positivism, scientism and re- lentless technological progress“. Doch die aus eben diesem Erfolg entstehen- FREIHEIT DER WIRKUNGEN den, scheinbar unlösbaren (jedenfalls bisher ungelösten) globalen, sozialen und ökologischen Probleme können vermutlich nur durch einen neuen Wis- senstyp gelöst werden, „which is contextual, relativistic, comparative and man-centered“. Das Wissenschaftskolleg ist keineswegs die kühl rational ar- beitende und genial geplante Gedankenschmiede eines solchen Wissenstyps. Aber derart kontextualisiertes und deshalb umperspektiviertes Wissen ent- steht dort jeden Tag (emergent, das heißt: nicht rückführbar) und pflanzt sich von dort aus fort in Universitäten, Instituten und Gelehrtenstuben in aller Welt. Die Aufnahme von bisher insgesamt 1000 Fellows zählte das Kolleg im Jahr 2005. Wer unter ihnen einmal die Fülle der Anregungen erfahren hat, die von einer solchen Wissensgemeinschaft ausgeht, sucht sie auch in seiner nä- heren Umgebung zu etablieren. Vermutlich sind dies die stärksten (überindi- viduellen) Wirkungen der Freiheit, die das Kolleg gewährt. Sie einzeln aufzu- zählen, ist kaum möglich. Denn großenteils ist es ‚tacit knowledge‘, das im Kolleg entsteht und weitergegeben wird, ein persönliches, gleichsam habitu- elles Wissen, das in einer Zeit, in der ein scheinbar gleicher Wissensstand durch moderne Kommunikationsmedien schnell an allen Orten der Welt her- gestellt wer den kann, innovierend und oftmals auch wettbewerbsentschei- dend wirkt. Eines der gravierenden Probleme der längst prozesshaft verlaufenden Wissenschaft ist die (von Reinhart Koselleck, Fellow im Jahrgang 1987/88, so genannte) modernisierungstypische Beschleunigung des Erfahrungswandels. Das verbreitete Gefühl, einer reißenden Zeit ausgesetzt zu sein, macht den weltweit entfesselten Wettbewerb der Intensivforschung anfällig für Irrtü- mer, Fälschung und mechanische Wiederholung. Die durch den Eingriff des Menschen beschleunigte Evolution scheint aus sich heraus eine zweite Evolu- tion hervorzutreiben, deren Entwicklungsrichtung und Gesetzmäßigkeiten unbekannt sind. Jeder, der darüber nachzudenken versucht, steht selbst im Prozess des beschleunigten Erfahrungswandels und bildet damit jene blinden Flecken aus, die der Lösung des bedachten Problems entgegenstehen. Selbst jene, die einst den Gedanken einer dringlichen Entschleunigung des wissen- schaftlichen Wettbewerbs als frommen Wunsch belächelt haben, sehen in- zwischen, angesichts der sich häufenden Betrugsfälle, keinen anderen Ausweg, als einer solchen Entschleunigung das Wort zu reden. Die bislang unge löste Preisfrage allerdings lautet, wie es gelingen könnte, einen Prozess zu verlang- samen, der von wirtschaftlichen Gewinnerwartungen angetrieben wird, in den immer neue Akteure, ganze Völker und Wirtschaftssysteme eintreten? Es könnte sein, dass die den Institutes for Advanced Study in aller Welt zugrunde NICHOLAS BOYLE · ANDRÁS TAMÁS BOZÓKI · MAARTEN C. BRANDS · REINHARD BRANDT ·
30 liegende, recht einfache Idee, in der kreativen Ruhe eines anregenden Um- felds das eigene Arbeitsvorhaben noch einmal zu überdenken, das bisher ein- WOLFGANG FRÜH WOLFGANG zig wirksame Element einer solchen Entschleunigung ist. Paradoxerweise ist gerade das Faktum, dass junge, experimentell arbeitende Lebens- und Natur- wissenschaftler – ihrer Karriere und des sich verschärfenden Wettbewerbs wegen – von solchen Instituten eher abgeschreckt als angezogen werden, der beste Beleg dafür, wie notwendig gerade in diesen, einem globalen Wettbe- W
ALD werb nahezu hilflos ausgelieferten Fächern die Entschleunigung ist. Um der Entwicklung der Fächer selbst willen, nicht wegen ihrer Angleichung an an- dere Denk- und Arbeitsformen, ist möglichst vielen ihrer Akteure jene ent- schleunigende Möglichkeit zu wünschen, die Yehuda Elkana als die Praxis des „leaning back and rethinking the field you are working in“ bezeichnet hat. Gerade die experimentellen Lebenswissenschaften, denen häufig der Vorwurf gemacht wird, sie seien „overnewsed and underinformed“, bedürfen der Ent- schleunigung. Sie allein kann zu einer neuen Theoriebildung führen. Der Zürcher Zoologe Rüdiger Wehner, Permanent Fellow am Berliner Kolleg seit 1990, hat 1997 darauf hingewiesen, dass in der Biologie „auf vielen Gebieten von einer weiteren Vermehrung der experimentellen Datenbasis kein Wissen- schaftsfortschritt zu erwarten sein [dürfte], solange nicht theoretische Kon- zepte neue Wege weisen“. Die bisherigen Rektoren des Kollegs, Peter Wapnewski, Wolf Lepenies, Dieter Grimm, haben mit unterschiedlichem Temperament unterschiedliche Schwerpunkte in ihrer Arbeit gesetzt. Peter Wapnewski hatte mit den Schwie- rigkeiten des Anfangs zu kämpfen, mit der Anstiftung von Qualitätstraditio- nen, die im Kolleg inzwischen als selbstverständlicher Standard gelten. Wolf Lepenies hatte in drei Amtszeiten die Zeit und die Energie, zumal nach der Öffnung der Mauer, die ganze Fülle der Möglichkeiten des Kollegs auszu- schöpfen. Zur Zeit seines Rektorats wurden berühmte und erfolgreiche Ar- beitsschwerpunkte gebildet, die unmittelbar übergingen in das kulturelle und akademische Leben (nicht nur in Deutschland). Ihm gelang es, gleichzei- tig in den USA, in Mali und in Osteuropa präsent zu sein, ein Netzwerk von Institutes for Advanced Study zu bilden, Preise zu stiften, das Institut (auch in der Finanzierung) zu europäisieren, etc. etc. Dieter Grimm aber hatte die Mög- lichkeit, nach dem starken Rektorat des in allen Himmelsrichtungen tätigen Wolf Lepenies, sich wieder deutlicher auf das Kolleg selbst und seine Fellows zu konzentrieren. Er hat diese Chance genutzt. Wahrscheinlich ist der Streit um die Tischordnung und das gemeinsame Essen tatsächlich charakteristisch für die Mühen des Anfangs. Den Stil des Hauses in der Zeit, in der Wolf Lepe- nies Rektor war, hat wohl am besten (wenn auch satirisch) Péter Esterházy be- schrieben, der seinem Vortrag im Kolleg am 10. Juli 1997 einen Appendix, Sätze, angefügt hat. Einer davon lautet: „Srini – Professor Mandyam V. Sriniva- JOCHEN BRANDTSTÄDTER · RUDOLF BRAUN · PHILIPPE BRAUNSTEIN · HORST BREDEKAMP · san – meint, dass das deutsche Deutsch schwerer sei als das schweizer Deutsch. 31 Er versteht – zum Beispiel – manchmal kaum, was unser Herr Rektor sagt. Oh, WIRKUNGEN DER FREIHEIT DER WIRKUNGEN Srini. Der Grund dafür ist, dass es in jedem Lepenies’schen Satz mindestens 6 Anspielungen gibt, von denen er selber etwa 5 mitkriegt, die weltbesten Fach- leute höchstens 3, wir normal Sterblichen so zwischen 0,4 und eins. Außer Jens: er versteht 2, von denen er aber eine immer missversteht.“ Für das Rekto- rat Grimm aber scheint mir charakteristisch zu sein, dass die Zuwendung der Fellows zum Kolleg, als einem Ort des Glücks, niemals vorher so konkret greif- bar war wie in den Jahren seit 2001/2002. Mir haben sich die Worte des rumä- nischen Architekten Kázmér Tamás Kovács (aus dem Jahrgang 2002/2003) eingeprägt, der seinen Glücksstern preist, der ihn ins Kolleg geführt habe. Das Motto seines Abschlussberichtes ist der Paradiesesvision aus ‚Alice in Wonder- land‘ entnommen. In seinem Bericht aber heißt es: „One’s confidence in hu- mankind cannot but come out strengthened, after having had the privilege of being a Wiko Fellow. […] When I left the Wallotstraße (it was scented with the blossom of the linden tree), it seemed as if I was closing behind me the door of childhood.“ Schlagwortartig – und damit gewiss ungerecht – ist der unter- schiedliche Stil der Rektorate kurz mit gebildet, europäisch-gelehrt und kom- munikativ zu charakterisieren. Auf das rektor-orientierte Kolleg folgte das fellow-zentrierte Kolleg. Für alle anderen Orientierungen ist an diesem freies- ten (und vielleicht anregendsten) Ort im europäischen Wissenschaftssystem noch genügend Raum. Erstaunlich – nach so vielen Möglichkeiten unter- schiedlicher Gewichtung – ist aber, dass ein Leser, der die Bände des Jahrbuchs ohne Kenntnis der wechselnden Rektorate läse, zwar die politischen und sozi- alen Einschnitte der vergangenen 25 Jahre sehr wohl bemerkte, sich des jewei- ligen Wechsels im Rektorat aber eigens versichern müsste. Dies liegt an der gleichbleibend hohen und schon im Gründungsmemorandum angezielten, wissenschaftlichen Qualität der Fellows, an der Qualität der Betreuung auf höchstem Niveau, an der Vitalität und Kreativität fördernden Atmosphäre des Kollegs, die sich, wenn überhaupt möglich, von Jahrgang zu Jahrgang ver- dichtet hat. Im Blick vieler (des Vergleichs fähiger) Fellows hat das Wissen- schaftskolleg zu Berlin, nicht nur wegen seiner der Gemeinsamkeit förderli- chen Größe, sondern wegen der energisch angestrebten Interna tionalität und wegen der hier möglichen Symbiose der Fächer, der Stile, der Individualitä- ten, sein Vorbild Princeton an Qualität überholt. Unter dem Rektorat Lepenies hat sich das Kolleg aus einem Ort, der For- schung stimuliert, zu einem Ort entwickelt, an dem auch Forschung stattfin- det. Das Prinzip ‚Forschen mit‘, statt ‚Forschen über‘ hat sich dabei als ein zu- kunftweisendes Konzept (auch und gerade gegenüber der islamischen Welt) bewährt. Nicht alle Arbeitsschwerpunkte waren gleichermaßen erfolgreich, drei dieser Schwerpunkte aber haben ernstgemacht mit der Kontextualisie- JOHN BREUILLY · ÉRIC BRIAN · JOHN S. BRIGGS · GUNNAR BROBERG · FREDERICK K. BROWAND ·
32 rung des Wissens, ein sozialwissenschaftlicher, ein lebenswissenschaftlicher und ein geisteswissenschaftlicher Schwerpunkt. Der Schwerpunkt zur Wis- WOLFGANG FRÜH WOLFGANG senschaftsforschung (mit Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie) war zunächst gedacht als Anregungspotential (mit Orientierungsanspruch) für die Gemeinschaft der Fellows. Sie sollten auch darüber nachdenken, weshalb „das Vertrauen in Wissenschaft und Technik schwindet“, so dass „die Legitimität der Industriezivilisation im Kern be- W
ALD droht“ ist. Für Wolf Lepenies nämlich ist „Aufklärung über Wissenschaft“ ein unentbehrlicher Bestandteil wissenschaftlicher Ausbildung und Forschung. Trotz des Willens, Wissenschaftsforschung nicht disziplinär zu verfestigen, stand dieser Arbeitsschwerpunkt des Kollegs im Grunde schon seit 1983/84 (mit Thomas P. Hughes, Timothy Lenoir und anderen) Pate für das 1993 in Ber- lin gegründete Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Dass es nicht gelungen ist, die Wissenschaftsforschung (außer z. B. in Bielefeld) auch an den deutschen Universitäten fest zu verankern, dass im Gegenteil die wenigen wissenschaftsgeschichtlichen Lehrstühle deutscher Universitäten heute vom Aussterben bedroht sind, ist nur ein Beleg dafür, wie fern kontextualisierte Wissensentstehung den Universitäten noch immer liegt, wie notwendig (und singulär) das Berliner Kolleg ist. Der Schwerpunkt Theoretische Biologie, den Rüdiger Wehner entscheidend und entschieden geprägt hat, stand 1993/94 an der Wiege des Innovationskollegs gleichen Namens an der Berliner Hum- boldt-Universität und war ursächlich für das Institut für Theoretische Biolo- gie, dem ersten seiner Art im deutschen Sprachraum, an der gleichen Univer- sität. Am 27. Juni 1997 wurde es gegründet. Rüdiger Wehner hat aus diesem Anlass in der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ einen informativen und verständli- chen Aufriss des Faches gegeben, in dem die Wissenschaft, die es mit dem De- sign und der Funktionsstruktur biologischer Systeme zu tun hat, als „die Wissenschaft vom Komplexen“ definiert und somit in unterschiedlichen Wis- sens- und Forschungsfeldern als wirksam erkannt wird: „Eine allgemeine Theorie des evolutiven Wandels zu entwerfen, rückt in den Bereich des Mögli- chen. Gleichzeitig dürften sich damit die Gewichte in Jacques Monods ‚Le Ha- sard et la Nécessité‘ ein wenig mehr zum Notwendigen hin verschieben.“ Der dritte weithin sichtbare und in seiner Notwendigkeit kaum der Rechtferti- gung bedürftige Schwerpunkt gilt dem Thema Moderne und Islam. Ein – eng mit der Freien Universität verzahnter – Arbeitskreis dieses Namens wurde 1994/95 gegründet und 2001 für weitere fünf Jahre verlängert. Der in Siegen geborene Islamwissenschaftler Navid Kermani, der heute als freier Schriftstel- ler in Köln lebt, kam 2001 als Long-Term-Fellow ans Kolleg und traf dort auf den syrischen Poeten und Essayisten Adonis. Der iranische Religionsphilo- soph und Reformpolitiker Abdolkarim Soroush, der in seinem Vortrag über Dschelaleddin Rumi „die Bescheidenheit als Grundvoraussetzung religiösen HENRIK BRUMM · JACQUES BRUNSCHWIG · LÁSZLÓ BRUSZT · GÜNTER DE BRUYN ·
Erlebens“ verkündete und verkörperte, folgte ihnen im Jahrgang 2004/05. Die 33 Gelehrsamkeit und die Poesie des Orients, die Weisheit von dessen Mystik, zieht seit 1994/95 verstärkt ein ins Wissenschaftskolleg und trifft sich dort FREIHEIT DER WIRKUNGEN zum Disput mit jüdischer und christlicher Gelehrsamkeit. Mit dem politisch aufgeladenen Stichwort Islamdialog ist das hier begonnene Gespräch über Religion, die nach abendländisch-aufklärerischer Tradition der Modernisie- rung nicht zugänglich ist und doch zu einem Element der rationalisierenden Moderne wurde, nur unzureichend gekennzeichnet. Vielleicht hat das, was hier zu verhandeln ist, am deutlichsten Navid Kermani am 25. November 2001 im Kolleg erläutert, wenn er davon sprach, dass „die Auffassung vom dichterischen Akt als einem mit Gott rivalisierenden und daher potentiell frevlerischen Verhalten […] zu einem Grundthema der arabischen Literatur [wurde]“. Aus heutiger Sicht verbinde die arabischen Poeten „gerade die An- fechtung des orthodoxen oder auch nur althergebrachten Glaubens ‚mit dem prometheischen Unternehmen der modernen Dichtung‘, wie es Octavio Paz bezeichnet, nämlich ‚dem gegenüber, was uns die heutigen Kirchen bieten, ein neues Heiliges‘ schaffen zu wollen“. Am Beispiel von Adonis hat er diesen Prozess der ‚Enthäutung‘ der Poesie von Religion verdeutlicht: „Sein Werk lässt sich als eine leidenschaftliche, manchmal gewalttätige, manchmal ins Zärtliche über gehende Auseinandersetzung mit der eigenen geistigen und ästhetischen Tradition lesen. Ein religiöser Zug durchzieht es und macht es gleichzeitig unfromm.“ Ähnlich hat schon Goethe über den persischen Dich- ter Hafis, seinen Bruder im Geiste der Poesie und des Weines, und über den geheimnisvollen Dschelaleddin Rumi, „das Orakel der Sufis, die Nachtigall des beschaulichen Lebens“, gesprochen: „Verweilst du in der Welt, sie flieht als Traum, / Du reisest, ein Geschick bestimmt den Raum.“ Im Westen lange latent vorhandene Traditionen werden im Wissenschaftskolleg in der Begeg- nung mit dem Osten wieder erweckt.
Die Querelen, welche die Anfangsjahre des Wissenschaftskollegs belasteten, sind vom Fortgang der Zeit überholt, behoben, geklärt. Die Tür in den Osten Europas ist weit geöffnet, der (auch damals, 1982/83 schon, fehlgehende) Vor- wurf des Eurozentrismus ausgeräumt. Die Behauptung, dass Frauen am Kol- leg unterrepräsentiert seien, ist durch die Realität der Jahrgänge widerlegt, auch wenn es bis zum Jahrgang 2004/05 gedauert hat, ehe die feministische Debatte mit Wucht im Kolleg angekommen ist. Fünfzehn der Fellows dieses Jahrgangs waren Frauen, der Umgangsstil, meinte Ute Frevert, die den Ver- gleich zum Jahrgang 1989/90 hatte, habe davon profitiert, die Gesprächsat- mosphäre schien ihr „lockerer, witziger, weniger agonal“. Kinder sind am Kol- leg eine Selbstverständlichkeit, die – oftmals gelehrten – Partnerinnen und Partner der Fellows fühlen sich angenommen, aufgenommen, betreut, als ob TILMAN BUDDENSIEG · ANSGAR BÜSCHGES · PETER BURKE · MYLES BURNYEAT · PHILIPPE BURRIN ·
34 sie selbst Fellows wären, und haben deshalb keinen Grund, mit ihrem Status zu hadern. Die vom Kolleg angebotenen Deutschkurse erweisen sich immer WOLFGANG FRÜH WOLFGANG deutlicher als Kitt der Gemeinsamkeit, auch wenn das Problem der Sprache am Kolleg weiterhin ein Dauerbrenner ist und auf Deutsch gehaltene Vor- träge und Kolloquien aus der Befürchtung heraus, unter mangelnder Teilneh- merzahl aus dem Kreis der Fellows leiden zu müssen, selten geworden sind. Die theoretischen Natur- und Lebenswissenschaften (in denen Englisch die W
ALD unbefragte Arbeitssprache ist) sind zu einem festen Bestandteil der Arbeit des Kollegs geworden. Auch jüngere Fellows scheinen sich inzwischen am Kolleg wohlzufühlen, 2004/05 war ein Viertel aller Fellows und Gäste jünger als 40 Jahre. In Berlin ist das Kolleg als ein wichtiger Faktor im kulturellen und im akademischen Leben der Stadt fest verankert, das Kolleg ist lebendiger denn je. Es ist – durch die sorgfältige, betont internationale Zusammenset- zung seiner Jahrgänge, durch die Schwerpunktsetzungen und das stimulie- rende Gespräch – den wirklich brennenden Themen der Zeit nicht nur auf der Spur, sondern meist einen Schritt voraus. Vermutlich fühlen sich die Fellows am Kolleg noch immer so, wie dies in den Selbstbeschreibungen des Instituts in den 90er Jahren nachzulesen ist: Sie leben „ein Jahr lang in der Fremde, wie Ethnologen in einem höchst exotischen Stamm – einem Stamm, der nur aus Ethnologen besteht“. Die Aufgabe des Kollegs aber ist auch weiterhin die je- nige, welche Wolf Lepenies (1986), am Beispiel eines Zitats aus dem Essay ‚The Limitations of Dickens‘ von Henry James, erläutert hat. Henry James nämlich meinte: „A community of eccentrics is impossible.“ Auch in Zukunft, sagte dagegen Wolf Lepenies, werde „das Wissenschaftskolleg vor der Aufgabe ste- hen, Henry James Jahr für Jahr zu widerlegen – in der Hoffnung, dass aus drei Dutzend gelehrten Exzentrikern eine Gruppe, eine Gemeinschaft, ein vis ible college wird“. Damit hat er das Kolleg ähnlich positioniert, wie sein Nachfol- ger im Amt des Rektors, der die gesellschaftspolitische Akzentsetzung noch- mals zuspitzte. „Produktive Irritation“, sagte Dieter Grimm bei der Übernah me des Rektorats (am 2. Oktober 2001) sei der Kern dessen, was die Fellows im Haus an der Wallotstraße erfahren. Daraus ergebe sich heute die „gesteigerte Not- wendigkeit“ des Kollegs: „Es gehört zu jenen – abnehmenden – Inseln des Nicht-Kommerziellen, von denen aus die Konsequenzen der vorherrschenden technisch-ökonomischen Rationalität überhaupt noch unabhängig beobach- tet und beurteilt werden können.“
Anmerkung Ich danke den Gesprächspartnern (Fellows, Gästen, Wissenschaftlern, Admi- nistratoren), die mir zu Auskünften über das Wissenschaftskolleg zu Berlin zur Verfügung standen, und hoffe, dass ich ein Profil des Kollegs zeichnen konnte, das auch ihren Erfahrungen entspricht. IAN BURUMA · ERHARD BUSEK · AXEL VON DEM BUSSCHE · CAROLINE WALKER BYNUM ·
Insbesondere danke ich Reinhart Meyer-Kalkus, der mir Material aus dem 35 Archiv des Wissenschaftskollegs zugänglich gemacht und meine vielen De- tailfragen mit immer gleich bleibender Geduld und souveräner Kenntnis be- FREIHEIT DER WIRKUNGEN antwortet hat. Ich danke auch Dorothea Koch (der ehemaligen Sekretärin des Gründungsrektors), die mir ihre sorgsam gehüteten Materialien aus der Grün- dungsphase des Kollegs, darunter den Film des WDR, anvertraut hat. Wallotstraße 19, Vorderansicht.
Wallotstraße 19, Seitenansicht. Salon der Wallotstraße 19 um 1930.
Clubraum der Wallotstraße 19 im Jahr 2006. Neubau, Wallotstraße 21, Straßenansicht.
Neubau, Wallotstraße 21, Gartenansicht. Weiße Villa, Koenigsallee 21.
Villa Jaffé, Wallotstraße 10. Villa Walther, Koenigsallee 20. Dieses Haus hatte Fortune ...
Peter Glotz, Otto Häfner, Joachim Nettelbeck, Christoph Schneider, Jochen Stoehr, Peter Wapnewski im Gespräch
Joachim Nettelbeck: Statt einen Historiker mit der Rekonstruktion der Geschich te des Wissenschaftskollegs zu beauftragen, schien es uns angemes- sener und reizvoller, die Hauptakteure bei der Gründung der Institution nach ihren Erinnerungen zu befragen. Die unterschiedlichen Akzente, die Sie dabei setzen, können etwas von Interessen, Sichtweisen und Temperamenten ver- deutlichen, die damals zusammengekommen sind – wie auch von den rück- wirkenden Interpretationen, die in Kenntnis der nachfolgenden Geschichte des Wissenschaftskollegs entstanden sind. – In der Wochenzeitschrift ‚Focus‘ haben Sie, Peter Glotz, kürzlich jene Leistung genannt, auf die Sie in Ihrem Leben besonders stolz seien: die Gründung des Wissenschaftskollegs zu Berlin im Jahr 1980. Das war in Ihrer Zeit als Senator für Wissenschaft und For- schung in Berlin. Peter Glotz: Ich bin 1977 Senator geworden. Im Frühjahr 1978 machte ich dann eine zweimonatige Informationsreise durch die USA, um Universitäten und akademisch-wissenschaftliche Institutionen kennenzulernen. Die Idee von Institutes for Advanced Study wurde damals in der Bundesrepublik vieler- orts diskutiert, und so habe ich nicht versäumt, die Institute in Princeton (Institute for Advanced Study) und in Stanford (Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences) zu besuchen. Auch führte ich eine Reihe von Gesprä- chen mit Professoren und Intellektuellen, darunter mit meinem Lehrer Eric Voegelin, u. a. zu der Frage, ob man ein solches Institut auch in Deutschland aufbauen könne. Bei meiner Rückkehr nach Berlin ergaben sich dann auf un- vorhersehbare Weise zwei Umstände, die die Umsetzung dieser Idee beschleu- nigten: So forderte mich der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe auf, mir Gedanken darüber zu machen, wie man des 25. Todestags des ersten Re- gierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter, angemessen gedenken könne. Ernst Reuter hatte Verfolgung und Emigration unter den Na tional- sozialisten erlitten und später entscheidend zur freiheitlichen Entwicklung der Stadt beigetragen. Ich schlug dem Senat die Errichtung eines Ernst-Reuter- ISO CAMARTIN · SCOTT CAMAZINE · MICHAEL CAMILLE · NANCY CARTWRIGHT · JOSÉ CASANOVA ·
42 Zentrums für internationale wissenschaftliche Begegnung und eines Instituts für fortgeschrittene Studien in Erinnerung an den ersten Regierenden Bürger- G
ES meister vor. Senat und Abgeordnetenhaus machten sich diese Idee im Oktober P RÄ 1978 zueigen. In dem Beschlusstext heißt es u. a., dass mit dieser Initiative an C
H die „durch Nationalsozialismus und Krieg unterbrochenen Verbindungen zu wichtigen geistigen Strömungen“ wieder angeknüpft werden solle, die „teil- weise bis heute in Deutschland unterrepräsentiert sind, um die Stadt fester in die internationale Kommunikation einzubinden und bedeutende Gelehrte aus aller Welt nach Berlin zu bringen“. – Damit war die politische Grundlage für die Schaffung eines Institute for Advanced Study in Berlin geschaffen. Ein weiterer Zufall kam hinzu: Dem Senat wurde eine renovierungsbedürftige repräsentative Villa in der Wallotstraße 19 am Halensee vermacht, die nach dem Kriege bis 1976 als Offizierskasino der Briten gedient hatte. Es entstand die Idee, zwei Institutionen dort unterzubringen, die zusammenzupassen schienen: einmal die sogenannten Dahlem-Konferenzen, die seit den 70er Jahren internationale Workshops zu Themen aus den Life Sciences organisier- ten, sowie das neu zu schaffende Reuter-Zentrum. Dass diese Symbiose sich nach einigen Jahren wieder auflösen und die Dahlem-Konferenzen ein eige- nes Domizil außerhalb der Wallotstraße finden sollten, konnten wir damals nicht voraussehen. Joachim Nettelbeck: Was war Ihre wissenschaftspolitische Motivation dafür, sich für ein Institute for Advanced Study in Berlin einzusetzen? Peter Glotz: Die Situation an den Berliner Universitäten, vor allem an der Freien Universität, war infolge der Nachbeben von 1968 immer noch schwie- rig und das Bild von Berlin als Wissenschafts- und Forschungsstandort in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit entsprechend problematisch. Man musste versuchen, neue Institutionen zu schaffen, um den Ruf Berlins wieder- herzustellen. Das konnte man mit naturwissenschaftlichen Institutionen tun, die von politischen Querelen unbehelligt waren, oder aber mit Einrichtungen wie dem Wissenschaftskolleg. Ein anderer, für mich wichtiger Aspekt war der Wunsch, jener Intelligenz, die nach 1933 Deutschland verlassen musste, wie- der eine Heimstatt in Berlin zu geben. Das betraf zum einen die jüdische Intel- ligenz, zum anderen aber aus politischen Gründen Vertriebene wie viele Ge- lehrte in meinem eigenen Fach, der Politischen Wissenschaft. Am Beispiel meines Lehrers Eric Voegelin hatte ich erleben müssen, wie miserabel viele dieser Emigranten nach dem Krieg in Deutschland behandelt wurden. Da lag die Überlegung nahe, institutionelle Grundlagen dafür zu schaffen, dass wir solche Gelehrte zumindest für ein akademisches Jahr zurückholen konnten. All das amalgamierte sich mit der Idee eines Institute for Advanced Study. Es sollte eine von den Universitäten unabhängige Institution sein, um zu vermei- den, dass ihre Entscheidungen zum Gegenstand inneruniversitärer Auseinan- CESARE CASES · GERHARD CASPER · MARCELLO DE CECCO · ABDELMAJID CHARFI · dersetzungen würden. Andererseits sollten vielfältige Beziehungen zwischen 43 dem Institut und den Universitäten zu beider Vorteil entstehen: Rektor und G
Permanent Fellows sollten von den Universitäten berufen werden und dort RÜNDUNGSGES lehren, ihre eigenen Präsidenten in der Mitgliederversammlung des Instituts mitwirken. Otto Häfner: Aus meiner Sicht gab Peter Glotz den entscheidenden politi- schen Anstoß zur Gründung des Wissenschaftskollegs. Es ist aber wichtig zu C sehen, dass die Zeit für die Idee, Institutes for Advanced Study in Deutschland HI C zu etablieren, einfach reif war. Es hatte bereits eine ganze Reihe von Anläufen HTE dazu gegeben. Sie scheiterten zunächst vor allem daran, dass es für ein derar- tiges Unternehmen weder beim Bund noch in den Ländern Unterstützung gab. Die gab es dann in Berlin dank Peter Glotz. Es gehört zur Vorgeschichte der Berliner Gründung, dass bereits 1964 recht weit gediehene Pläne für eine ‚Gesellschaft für kultur- und sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung‘ (Richard Alewyn, Helmut Schelsky, Ernst-Joachim Mestmäcker und andere) an die VolkswagenStiftung herangetragen worden waren. Das Kuratorium der Stiftung zeigte zunächst Interesse an dem Projekt, zögerte aber letztlich, den Vorschlag aufzugreifen. Überlegungen, die die Kuratoren Walther Killy und Richard Löwenthal Anfang der 70er Jahre verfolgten, wie auch der 1977 von Gerd Brand (dem Vorstandsmitglied der Thyssen-Stiftung) entwickelte Plan für ein deutsches Wissenschaftskolleg stießen kurzfristig auf Resonanz, konn- ten aber aus je unterschiedlichen Gründen nicht realisiert werden: Rolle und Form der Beteiligung der Universitäten waren strittig, die Standortwahl schwierig, hohe einmalige Investitions- und laufende Kosten schreckten, vor allem aber fehlte es an Unterstützung aus Politik und Wissenschaftsverwal- tung. – Um angesichts gestiegener Lehrbelastungen dennoch Freiräume für die Forschung zu schaffen, bot die VolkswagenStiftung ab 1971 Hochschulleh- rern, die eine größere Arbeit beginnen oder abschließen wollten, die Finan- zierung zusätzlicher Freisemester (‚Akademie-Stipendien‘) an; auch im Kon- text mit dem Ausbau der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel zu einer Studien- und Forschungsstätte der Frühen Neuzeit wurde die Idee eines Cen- ters for Advanced Study mit internationaler Anziehungskraft erwogen. Die VolkswagenStiftung unternahm dann 1977 einen neuerlichen eigenen An- lauf: Edith Hagenguth, Referentin der Abteilung Geistes- und Gesellschafts- wissenschaften, besuchte Institutes for Advanced Study in den USA sowie in den Niederlanden und informierte sich eingehend über deren institutionelle Anlage, Arbeitsweise, Finanzierung, Leitungsstrukturen etc. Die aus dieser Recherche entstandene Denkschrift einschließlich der daraus für eine ver- gleichbare Einrichtung in Deutschland zu ziehenden Schlussfolgerungen waren Peter Glotz bei seiner USA-Reise bekannt, und sie sind dann auch in die vorbereitenden Gespräche zur Gründung des Kollegs im Aspen Institute Ber- PARTHA CHATTERJEE · ABDALLAH CHEIKH-MOUSSA · KARINE CHEMLA · KEN CHENG ·
44 lin eingeflossen. Die VolkswagenStiftung hatte angesichts dieser Vorgeschich- te ein starkes eigenes wissenschafts- und stiftungspolitisches Interesse an G
ES einer derartigen Institution in Deutschland. Ohne ihre Zusage im Sommer P RÄ 1980, mit 3,5 Mio. DM den Haushalt des Wissenschaftskollegs zusammen mit C
H dem Land Berlin in der Startphase zu tragen, wäre die Gründung wohl nicht zustande gekommen. Jochen Stoehr: Ich erinnere mich, wie Peter Glotz aus Amerika zurückkam. Er hatte dort einiges kennengelernt und sagte: „So was machen wir auch!“ Die Berliner Wissenschaftspolitik war auf Sinnsuche: Was kann man tun, um diese Stadt attraktiver zu machen? Für die Dahlem-Konferenzen hatte Silke Bernhard, deren Leiterin, das Haus in der Wallotstraße 19 gefunden, das sollte ausgebaut werden. In dieser Situation sagte Peter Glotz: „Ich mache etwas ganz anderes!“ Der Konflikt mit Silke Bernhard war dann freilich unvermeidlich. Über Nacht verlor sie praktisch das Haus und wurde Untermieterin in der Wallotstraße. – Ich selber kam erst später ins Spiel, etwa im Herbst 1979. Eines Tages erhielt ich einen Anruf von Peter Glotz, ich hätte mich im Reichstagsge- bäude einzufinden, wo gerade der Wissenschaftsrat tagte. Dort ging er mit einem hoch gewachsenen, englisch gekleideten Herrn auf und ab. Das war Peter Wapnewski. Peter Glotz stellte mich ihm vor: „Das ist der Herr Stoehr, der wird sich darum kümmern.“ Von dem Augenblick an habe ich das Projekt betreut, und ich muss sagen, es hat mein Leben verändert durch die Ansprü- che, die es stellte, und die Kontakte, die sich daraus ergaben. Peter Wapnewski: Ich erinnere mich an den Wandelgang im Reichstag, wo wir einander vorgestellt wurden, ich entsinne mich des eminent skeptischen Gesichtsausdrucks, mit dem Sie mich begrüßten. Christoph Schneider: Aus der historischen Rückschau stimmt zwar alles, was gesagt worden ist zu diesem Willensakt von Peter Glotz, aber es war nicht der erste in seiner Politik zugunsten einer Veränderung der akademischen Land- schaft in Berlin. Er war einer von mehreren, und diese staffeln sich wie eine Serie von kleinen Willensexplosionen, aus Berlin ein Zentrum der geistigen Auseinandersetzung mit der Zeit zu machen. Es gab – parallel zum Wissen- schaftskolleg – die Erneuerung der Philosophie an der FU mit der Berufung von vier neuen Professoren und andere Projekte. Glotz verstand sich als Einzel- ner, der politische Verantwortung trägt und politische Zeichen setzen wollte. Jochen Stoehr: Peter Glotz brachte tatsächlich Unruhe und den Hauch der großen weiten Welt in dieses Provinznest. Er umgab sich mit einem Küchen- kabinett unkonventioneller Gestalten. Er rüttelte alles durcheinander und brachte Tempo und Ideen ins Geschäft. Berlin war ja in dieser Zeit behäbig geworden, weil es sich um nichts kümmern musste, es lief alles von allein, weil die Alliierten für uns zuständig waren. Peter Glotz tanzte natürlich auf vielen Hochzeiten, er war immer schwer zu kriegen. Man musste ihn immer MURAT ÇIZAKÇA · GREGORY CLARK · KARL CLAUSBERG · LARS CLAUSEN · BERNHARD I. COHEN · wieder einfangen, aber wenn man ihn eingefangen hatte, dann konnte man 45 sich auf ihn verlassen, weil er große Durchsetzungskraft und ein gutes Stan- G ding bei der Berliner SPD hatte und auch mit Vertretern der Opposition spre- RÜNDUNGSGES chen konnte. Ohne diese politische Durchsetzungskraft hätte man die vielen Widerstände gegen das Wissenschaftskolleg aus den beiden Berliner Universi- täten nicht überwinden können. : Herr Glotz war es auch, der Herrn Wapnewski als Grün-
Christoph Schneider C dungsbeauftragten der neuen Institution von seiner Professur in Karlsruhe HI C nach Berlin lockte. HTE Peter Glotz: Wir kannten uns zwar vorher schon aus dem Kuratorium des Goethe-Instituts, doch eigentlich kennengelernt habe ich Peter Wapnewski erst im Herbst 1978, als ich ihn in Baden-Baden aufsuchte und ihm das Vorha- ben erläuterte. Es war ja klar, dass ich keinen prononcierten Berliner Links- intellektuellen zum Gründungsbeauftragen machen konnte. Ich brauchte einen bedeutenden und angesehenen Gelehrten, der uns gegenüber den eher konservativen Wissenschaftsorganisationen der ‚Heiligen Allianz‘ den Rücken freihielt. Nur wenn die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsge- meinschaft und andere mitmachten, konnte es gelingen. Es durfte keine Ver- anstaltung des Berliner Senats allein sein. Wenn ich mich recht erinnere, war es Hellmut Becker, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsfor- schung, der mich auf den Gedanken brachte, Peter Wapnewski zu berufen. Peter Wapnewski: Es fing tatsächlich mit einem Anruf von Hellmut Becker im Spätsommer 1978 an. Er erläuterte mir am Telefon, was man sich in Berlin ausgedacht hatte. Ich war sehr beeindruckt von diesem Vorhaben, doch muss ich gestehen, dass ich mich ohne das Drängen meiner Frau wahrscheinlich nicht auf dieses Abenteuer eingelassen hätte. Sie wollte in das aufregende, großstädtische Berlin, ich wollte es nur zögernd, konnte mich aber dem Reiz der Aufgabe nicht entziehen. Es sollte dann tatsächlich das Schönste und Wichtigste werden, was ich in meinem beruflichen Leben tun durfte. Auf Ein- ladung von Peter Glotz reisten wir im Spätherbst 1978 nach Berlin. Während eines Abendessens im Restaurant ‚Don Camillo‘ haben wir Einvernehmen über alles Wesentliche erzielt, über das Vorhaben, seine Grenzen und Mög- lichkeiten und meine denkbaren Fähigkeiten, diesem Anspruch gerecht zu werden. Wir haben uns gewissermaßen durch Handschlag geeinigt. Christoph Schneider: Das neue Institut sollte einen Spagat zwischen der Ber- liner Wissenschaft und der internationalen Scientific Community vollbrin- gen. Die Berliner Universitäten mussten also zu Mitträgern des Instituts wer- den. Nur so konnte es glaubwürdig in Berlin verankert werden. Doch war dies, angesichts der damaligen Berliner Wissenschaftslandschaft, keineswegs un- problematisch. Sie selber, Herr Wapnewski, kannten sie ja aus eigener leidvol- ler Erfahrung. MARK R. COHEN · ROBERT S. COHEN · JAMES S. COLEMAN · DIETRICH CONRAD · SEBASTIAN CONRAD ·
46 Peter Wapnewski: Wichtig erschien mir von Anfang an, dass der Rektor des Wissenschaftskollegs einen Lehrstuhl an einer der Berliner Universitäten G
ES haben müsse. Der Rektor soll ein tätiger Professor sein und kein dem akade- P RÄ mischen Leben entfremdeter Wissenschaftsfunktionär. Doch gab es Schwie- C
H rigkeiten, mich von Karlsruhe nach Berlin zu transferieren. Es hätte meine dritte Berufung an die FU werden können, doch funktionierte dies trotz der Bemühungen meines Freundes Eberhard Lämmert, des damaligen Präsiden- ten der FU, nicht. Er konnte die Gremien der FU nur in Millimeterschrittchen davon überzeugen, dass es vorteilhaft wäre, den Altgermanisten Peter Wap- newski ein weiteres Mal zu berufen. Die Technische Universität (TU), pragma- tisch wie sie organisiert war, reagierte schneller. Sowohl ihr Präsident Jürgen Starnick als auch die geisteswissenschaftliche Fakultät, nicht zuletzt der Lite- raturwissenschaftler Norbert Miller und der Althistoriker Werner Dalheim, traten für meine Berufung an ihre Universität ein und haben innerhalb von wenigen Wochen einen Lehrstuhl für mich geschaffen, den es noch gar nicht gab. Ich habe dort meine Vorlesungen und Übungen gehalten und – wenn auch in begrenztem Rahmen – als normaler Professor gelehrt. Für die Vitali- tät ihrer freundschaftlichen Gefühle bin ich der TU noch heute dankbar. Jochen Stoehr: Bei politischen Willensakten neigt das Wissenschaftssystem zu Abstoßungsreaktionen. Insofern war es uns wichtig, eine Persönlichkeit als Rektor zu gewinnen, die einen Namen in der Wissenschaft hatte und zu- gleich ein Garant dafür war, dass sie mit den Institutionen umgehen kann. Man sagte sich dort, na ja, der Herr Glotz ist ein bisschen unruhig, aber wenn Herr Wapnewski das macht, dann wird das schon gehen. Er war zu dieser Zeit ja wohl auch als Vorsitzender des Wissenschaftsrates im Gespräch. Peter Wapnewski: Der Gründerheros des Wissenschaftskollegs zu Berlin aber ist Peter Glotz. Sein politischer Wille war ausschlaggebend. Doch gab es besonders günstige Umstände dafür, dass Berlin diese Frucht in den Schoß fal- len konnte. Dazu gehörte auch der Kalte Krieg und die relative Isolation Ber- lins. Berlin musste mit seinem verzweifelten Selbstrechtfertigungs- und Be- hauptungswillen sagen können: Hier blüht etwas, hier gedeiht etwas, hier strahlt etwas, hier ist Aktivität und Vitalität, und wir sind die Stadt, die eine Anziehungskraft für bedeutende Köpfe aus aller Welt hat. Hier wird die Mauer gelüpft, und Berlin wird beweisen, dass es ungeachtet seiner beschädigten und gefährdeten Situation geistige Initiative und geistige Energie besitzt. Otto Häfner: Aus dem Kuratorium der VolkswagenStiftung kann ich berich- ten, dass der Aspekt Berlin dort einige Male kritisch diskutiert wurde. Natür- lich sah man auf der einen Seite die großartige wissenschaftliche Infrastruk- tur der Stadt, auf der anderen Seite wollte die Stiftung aber eine spezifische, rein quantitative Berlin-Förderung vermeiden. Die Stiftung würde nur mit- machen, wenn kein Berlin-Institut entstand, sondern ein Institut für die KARL CORINO · LEO CORRY · FLORIAN COULMAS · PETER COULMAS · FRIEDRICH CRAMER · GIULIANO CRIFÒ ·
deutsche Wissenschaft in Berlin – mit eigenem Profil und internationaler Öff- 47 nung. G
Peter Wapnewski: Deswegen waren wir auch gut beraten, als Titel für dieses RÜNDUNGSGES Haus nicht zu sagen ‚Wissenschaftskolleg in Berlin‘, denn dann wären wir eine Berliner Institution unter anderen geworden. Die Präposition ‚Wissen- schaftskolleg zu Berlin‘ rückt die Institution an den Rand einer geographisch präzisen Lokalisierbarkeit. C Christoph Schneider: Für Institutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft und HI C ihren damaligen Präsidenten Reimar Lüst war entscheidend, dass das neue HTE Institut die Stärken des Standortes Berlin für die ganze Bundesrepublik nutz- bar machte, indem es von dort aus internationale Ausstrahlung entfaltete. Dieses Argument hat wesentlich zur Konsensfindung darüber beigetragen, dass das Institut in Berlin gegründet werden sollte. Die klare Aussage von Rei- mar Lüst „Ich bin dafür!“ war sehr wichtig. Es ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig zu erwähnen, dass er mit Peter Wapnewski befreundet war. Solche personellen Verflechtungen spielten immer eine entscheidende Rolle. Die Wirksamkeit von Reimar Lüst wäre eine Monographie wert, wenn man über das deutsche Wissenschaftssystem in seinen Verästelungen und Verflech- tungen nachdenkt. Er konnte aus den unwahrscheinlichsten Positionen Ein- fluss auf laufende Entscheidungsprozesse nehmen. Peter Wapnewski: Es ist ganz richtig, meine freundschaftlichen Beziehun- gen zu Reimar Lüst waren in hohem Maße hilfreich. Doch ohne den politi- schen Willen von Peter Glotz und ohne den Idealismus, den Arbeitseifer und die Kompetenz von Christoph Schneider und Jochen Stoehr hätte es dieses Haus nicht gegeben. Nur so haben wir die Aufbauphase bewältigen können, und diese Aufbauphase dauerte ja fast zwei Jahre lang, von Herbst 1979 bis zur offiziellen Eröffnung des Wissenschaftskollegs am 6. November 1981. Joachim Nettelbeck: Damit sind wir schon bei der Umsetzung der von Peter Glotz lancierten Idee. Nachdem Peter Wapnewski als Gründungsbeauftragter gewonnen war, musste ein Konzept entwickelt werden, das sogenannte Me- morandum, eine rund 70-seitige Denkschrift über die Gründung des Wissen- schaftskollegs zu Berlin, die dann der Gründungsversammlung vorgelegt wurde. Und dafür war der im Senat für die geistes- und sozialwissenschaftli- che Forschung Verantwortliche, Jochen Stoehr, zuständig, der sich seinerseits mit Christoph Schneider zusammentat. Jochen Stoehr: Ich kannte Christoph Schneider aus der Deutschen For- schungsgemeinschaft, wo wir auf der Arbeitsebene der Wissenschaftsverwal- tung miteinander kooperierten. Ich war damals in der Senatsverwaltung für die überregionale Wissenschaftsförderung zuständig, ich kannte deshalb die Diskussionen in der DFG über Sonderforschungsbereiche, die Entwicklung bestimmter Wissensfelder und Defizitbereiche. Wollte man in Berlin eine HOLK CRUSE · PEDRO CRUZ VILLALÓN · ZHIYUAN CUI · HENRIETTE DAGRI-DIABATÉ · INGOLF U. DALFERTH ·
48 Institution mit internationalem Anspruch aufbauen, die zugleich in den Wis- senschaftsinstitutionen der Bundesrepublik verankert war, dann benötigte G
ES man jemanden, der eine genaue Kenntnis von Institutionen und verantwortli- P RÄ chen Personen hatte, der die Verfahren kannte und die Weise, wie man neue C
H Projekte durchsetzte – das war Christoph Schneider, damals Senatsassistent der DFG. Das war vielleicht mein bester Einfall in dieser Geschichte. Dass die DFG ihn dann für dieses Projekt freistellte, war die wichtigste Vorentschei- dung auf operativer Ebene. Etwas Störfeuer kam von Reimar Lüst, der glaubte, dass damit eine Vorentscheidung über den künftigen Generalsekretär des Wissenschaftskollegs getroffen worden war; er fand Christoph Schneider für diese Aufgabe zu jung. Christoph Schneider: Jochen Stoehr hatte mich irgendwann nach einer Sit- zung auf dieses Projekt angesprochen und mich gefragt, ob ich Interesse an dieser Sache hätte. Ich fand es etwas abenteuerlich, aber reizvoll und sagte zu. Die DFG stellte mich frei, nachdem die Berliner Senatsverwaltung zugesagt hatte, die Stelle eines Vertreters für mich zu finanzieren. Das Berliner Aspen Institute mietete eine Wohnung für mich, damit ich während meiner Berli- ner Zeit hier einen Pied-à-terre hätte. Die ursprüngliche Abmachung bezog sich auf ein Jahr, sie ist dann noch einmal – trotz eines gewissen Widerwillens im Präsidium der DFG – um ein weiteres halbes Jahr verlängert worden. Achtzehn Mo nate war ich wohl insgesamt freigestellt, um zusammen mit Peter Wapnewski und Jochen Stoehr das Memorandum für das zu gründende Institut zu schreiben und die Gründungsformalitäten vorzubereiten. Peter Wapnewski: Es war ein besonderes Glück, in der Anfangsphase von Christoph Schneider und Jochen Stoehr unterstützt zu werden. Herr Stoehr hat das Kunststück fertiggebracht, mit absoluter Loyalität zugleich seinem Dienst herrn wie auch uns gegenüber zu handeln. Unvergesslich für sein lei- den schaft liches Engagement (und das seiner Crew) ist der Aufschrei eines der Haushälter in der Senatsverwaltung. Als Jochen Stoehr wieder einmal Gelder verlangte, schrie dieser auf: „Alle Menschen sind sterblich, nur Wapnewski ist …“ Jochen Stoehr: Dieser Haushälter hatte nicht vergessen, was Sie ihm einmal geantwortet hatten: Das Wissenschaftskolleg sei schließlich kein Postamt. Christoph Schneider: Jochen Stoehr ist derjenige gewesen, der als erster aus der Wissenschaftsverwaltung mit der neuen Idee von Peter Glotz vertraut ge- macht wurde. Ich habe ihn als unglaublich ideenreichen Teamspieler mit Weitblick und Mut zum Risiko kennengelernt. Sein politisch-administrativer Instinkt sagte ihm, dass man eine solche Einrichtung, die ja keine lokale Ber- liner Einrichtung sein sollte, nur in einer arbeitsteiligen Partnerschaft mit den alten Wissenschaftsinstitutionen der Bundesrepublik aufbauen könne. Andere Projekte, die Herr Stoehr betreute, liefen nach derselben Technik. Er MARTIN DALY · SARA DANIUS · ROBERT DARNTON · LORRAINE J. DASTON · CATHÉRINE DAVID · verstand es dabei, sich stets die richtigen Partner auszusuchen, auch wenn er 49 das Vorhaben selber konzipierte, dirigierte und zu Ende führte. Er und ich G bildeten die Arbeitsebene für Herrn Glotz und Herrn Wapnewski. Wir haben RÜNDUNGSGES ein ganzes Pflichtenheft zusammengestellt: Was wann zu geschehen habe und mit wem als nächstes zu reden war. Wir mussten das Projekt vorstellen und um Unterstützung werben, die verschiedenen Impulse mussten dabei aufgenommen werden. Niemand kannte sich in der Berliner Landschaft so C gut aus wie Jochen Stoehr, und er verfügte über den langen Atem, um auch HI C Stagna tionen oder Rückschläge zu überwinden. HTE Peter Glotz: Irgend jemand in meinem Haus war auf die Idee gekommen, dass man das Institut nicht ohne den ‚Institutsleiterkreis‘ durchsetzen könne, den der Direktor des Berliner Aspen Institute, Shepard Stone, leitete. Es war eine Gruppe von Direktoren und Verwaltungsleitern Berliner Wissenschafts- institutionen, die alle vergleichbare Probleme mit ihren Geldgebern hatten. Ohne die Zustimmung der in diesem Kreis versammelten Institutionen und Personen käme man nicht weiter. Hier sollte das Vorhaben zunächst disku- tiert und die Schritte zur Umsetzung vorbereitet werden. Dieser Kreis Berliner Wissenschaftsinstitutionen war allerdings sehr heterogen zusammengesetzt, es gab aufgeschlossene Personen wie Meinolf Dierkes vom Wissenschaftszen- trum, Georges Fülgraff vom Bundesgesundheitsamt und andere, die weniger aufgeschlossen waren. Da es sich überwiegend um naturwissenschaftliche Institutionen handelte, gab es eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Idee eines Wissenschaftskollegs. Man sagte sich zu Recht oder zu Unrecht, das könne ja nur eine weitere geistes- und sozialwissenschaftliche Institution wer- den. In dieser Situation war es wichtig, dass Shepard Stone sich für das Vorha- ben einsetzte. Ich dachte mir, wenn er das Vorhaben in der Vorbereitungs- phase moderiert, so sind wir gegenüber dieser Flanke geschützt. Jochen Stoehr: Shepard Stone war mit dem General McCloy nach Deutsch- land gekommen. Er hatte nicht nur großes institutionelles Gewicht, sondern aufgrund seiner urbanen Art und Weise auch ein hohes persönliches Anse- hen. Er schätzte das Projekt, auch wenn er dem Gründungsbeauftragen Peter Wapnewski skeptisch gegenüberstand. Er hätte wohl lieber einen public intel- lectual wie Ralf Dahrendorf in dieser Position gesehen, der damals aber nicht permanent in Berlin hätte sein können. Die erste Vorstellung des Vorhabens im Institutsleiterkreis durch Herrn Wapnewski, Christoph Schneider und mich war denn auch nicht frei von Spannungen. Dennoch war Shepard Stone so etwas wie der Schirmherr des Instituts in dessen Embryonalphase. Er hat das Vorhaben konkret gefördert, über das Aspen Institute liefen auch die fi- nanziellen Mittel für die vorbereitenden Arbeiten. Das Aspen Institute wurde von der Senatskanzlei finanziert, und da war es naheliegend, dass es als Zu- wendungsempfänger fungierte. ARNOLD I. DAVIDSON · PAUL DEDECKER · LOUIS C. VAN DELFT · ROBERT DELORT · PETER DEMETZ ·
50 Joachim Nettelbeck: Shepard Stone scheint später auch ein wenig stolz auf seine Mitarbeit beim Zustandekommen des Wissenschaftskollegs gewesen zu G
ES sein. Als wir in der ersten Broschüre des Wissenschaftskollegs die Gründungs- P RÄ geschichte skizzierten und vergaßen, ihn und das Aspen Institute zu erwäh- C
H nen, hat er sich darüber beschwert. Hatte er nicht aus Amerika recht genaue Vorstellungen davon mitgebracht, was ein Institute for Advanced Study leis- ten solle, und zweifelte er nicht deshalb, ob jemand, der ein Spezialist für mit- telalterliche deutsche Literatur war, ein solches Institut aufbauen könne? Otto Häfner: Shep Stone pflegte damals die Sitzungen der Institutsleiter mit der Frage zu eröffnen: „Wollen wir es demokratisch machen, oder soll ich die Sitzung selber leiten?“ Ich war das eine oder andere Mal bei diesen Sitzungen, auch bei den Gesprächen über das Wissenschaftskolleg dabei. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Stone prononcierte eigene Vorstellungen für ein Institute for Advanced Study in Deutschland hatte. Peter Wapnewski: Shepard Stone hat mit seinen eigenwilligen Abneigun - gen unsere Arbeit gewiss nicht immer gefördert, doch hat er mit seiner jovia- len Vorliebe für Machtspiele und mit dem Aspen Institute als Schirmherr für die Gründungsphase letztlich am Zustandekommen der Institution mitge- wirkt. Für die Konzeption des Instituts und seine weiteren Schritte war mit Sicherheit Hellmut Becker, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungs- forschung, wichtiger. Er hat sowohl aufgrund seiner gewichtigen Persönlich- keit als auch aufgrund seiner weit gespannten Beziehungen sehr viel mehr dazu beigetragen, ratgebend, helfend und warnend. Mit Hilfe seiner immen- sen Personenkenntnis hat er uns in der Anfangsphase auf wichtige Persön- lichkeiten der internationalen Wissenschaftsszene hingewiesen und die Kon- takte vermittelt. Ihm ist zum Beispiel die Berufung von Yehuda Elkana, dem damaligen Direktor des Van Leer Jerusalem Institute, in den Wissenschaftli- chen Beirat des Wissenschaftskollegs zu verdanken, dem dieses Haus ja bis heute in so hohem Maße verpflichtet ist. Hellmut Becker war – um einen Ver- gleich aus dem italienisch-französischen Opernfach zu wählen – der Père noble im Kavaliersbariton. Er wurde dann auch in den Stiftungsrat der Wis- senschaftsstiftung Ernst Reuter als Vertreter der Wissenschaft berufen. Peter Glotz: Hellmut Becker hat mir gegenüber als Erster den Namen Peter Wapnewski für das Amt des Gründungsbeauftragten erwähnt. Und er hat uns später auf Wolf Lepenies, den Nachfolger von Peter Wapnewski, sowie auf Joachim Nettelbeck, den ersten Sekretär und Verwaltungsleiter, aufmerksam gemacht. Er war die Éminence grise der Berliner Wissenschaftspolitik. Joachim Nettelbeck: Doch damit sind wir vorausgeeilt. Wir sind noch in den Jahren 1979 und 1980, als der Gründungsbeauftragte mit seinen beiden Hel- fern dabei war, das Memorandum für das zu gründende Institut zu entwer- fen. Der Name stammt wohl von Ihnen, Herr Wapnewski? JEAN-LOUIS DENEUBOURG · BETTINA DENNERLEIN · ERHARD DENNINGER · LUDGER DERENTHAL ·
Peter Wapnewski: Worauf es mir bei dem Namen der Institution ankam, das 51 war die Verbindung zur Humboldt-Tradition. Der Name Humboldt war leider G schon vergeben. Eine Zeit lang erwog ich den Namen von Adolf von Harnack, RÜNDUNGSGES des großen Gelehrten und Wissenschaftsorganisators der wilhelminischen Zeit, doch gab es Einwände gegen die Assoziation mit dem Kaiserreich, und ein Harnack-Haus existierte bereits in Berlin. Einwände wurden übrigens auch gegen den etwas schwerfällig klingenden Namen Wissenschaftskolleg C vorgebracht, etwa von Richard Löwenthal, der meinte, ‚Kolleg‘ sei zu stark mit HI C Lehraufgaben assoziiert, als dass sich eine Wissenschaftsinstitution damit HTE charakterisieren könne. Christoph Schneider: Nach den vorbereitenden Gesprächen im Aspen Insti- tute haben wir zu dritt, Peter Wapnewski, Jochen Stoehr und ich, eine Reihe von amerikanischen Institutionen besucht, in Washington DC, Palo Alto und Princeton, um mehr über die Funktionsweisen der Institutes for Advanced Study zu erfahren. Wir kehrten voller Respekt von dieser Reise zurück. Man muss diese Institutionen gesehen haben, um zu erahnen, wessen es bedarf, um dergleichen aufzubauen. Es war uns klar, dass wir die schöne Ostküstenar- chitektur, die dazugehörigen Ländereien und Traditionen mit Einstein und anderen Größen nicht per Dekret nach Berlin transplantieren konnten. Der Anspruch musste ein anderer sein: Berlin war einmal eine Hauptstadt der Wissenschaften gewesen, durch die Zeit der Naziherrschaft war es das nicht mehr; jetzt galt es, an die Traditionen vor 1933 wieder anzuknüpfen und ein Zeichen für die Wissenschaft in Berlin zu setzen. Das war aus meiner Perspek- tive die entscheidende Motivation, um eine Verankerung in der deutschen Wissenschaftslandschaft mit Energie voranzutreiben. Selbst das niederländi- sche Institute for Advanced Study in Wassenaar (NIAS) konnte uns darin nicht beirren: Als wir es besuchten, fiel uns als erstes eine Gruppe holländischer Professoren auf dem Volleyballplatz auf. Wir hatten mehr Intellektualität im Sinn. Von den sozialen Funktionen des Tischtennis-Spiels in der Wallotstraße wussten wir damals noch nichts. Joachim Nettelbeck: Ergebnis dieser Gespräche und Reisen war das Memo- randum, eine Denkschrift, welche Aufgaben, Funktionsweisen, Organe, Raum- bedarf, Finanzbedarf und vieles mehr für das künftige Institut detailliert be- schreibt. Wer diese Schrift heute wieder liest, wird zugestehen, dass sie ein Musterbeispiel von Verwaltungsprosa ist, weil sie so geschrieben ist, dass sie nirgends aneckt, und doch nicht trivial oder beliebig ist. In den ersten Jahren meiner Amtstätigkeit als Sekretär von 1981 an habe ich mich immer wieder nur als Vollstrecker dieses Memorandums gefühlt. Ich hatte den Eindruck, ich vollziehe nur, was dort niedergelegt ist – bis hin zu der Aussage, dass das Aus- bauziel 40 Fellows pro Jahr sein solle. ASHOK V. DESAI · HEINRICH DETERING · MAMADOU DIAWARA · FRIEDRICH DIECKMANN ·
52 Jochen Stoehr: Christoph Schneider hat sich irgendwann zurückgezogen und den Text geschrieben, im Dialog mit Peter Wapnewski und in Kenntnis G
ES des ganzen institutionellen Kontextes, den wir gemeinsam erlebt hatten. P RÄ Christoph Schneider: Dieser Text, der nach vielen Fassungen Anfang 1980 C
H seine endgültige Gestalt fand, ist das Resultat dessen, was ich aktives Zuhören nennen möchte. In der Tat kultivierten wir in der DFG diese Fähigkeit, und es gibt viele dort, die sie meisterhaft beherrschen. Aktives Zuhören heißt, dass man in Gesprächen versucht herauszubekommen, was der andere tatsächlich zum jeweiligen Thema denkt und was er will, und dass man sich dies zueigen macht, ohne seine eigenen Zielsetzungen dabei aus dem Blick zu verlieren. Dieses aktive Zuhören bei unseren Besuchen vergleichbarer Institutionen und bei den vielen Gesprächen, die wir über Monate hinweg führten, mit dem großen Reichtum an Überlegungen und institutioneller Erfahrung, die dabei zur Sprache kamen, sollte in das Memorandum eingehen. Mir selbst war an- fangs noch keineswegs so selbstverständlich und deutlich, was Ihnen, Herr Wap newski, offenbar schon von Anfang an vorschwebte. Jetzt galt es, diese Überlegungen in einen normativen Text zu fassen und ganz unzweideutig auszudrücken. Wir wollten eine Institution, die sich jeglicher Anfechtung von politischer und sonstiger außerwissenschaftlicher Seite erwehren konnte aufgrund ihrer internen Struktur und aufgrund ihrer Orientierung an dem, was wir als die innere Urgesetzlichkeit wissenschaftlichen Arbeitens verstan- den. Deswegen die wiederholt geäußerten Grundsätze von der vollständigen Freiheit der Fellows, der Unabhängigkeit von Evaluierungen, dem kollegialen Verhältnis der Fellows untereinander usw. Diese Grundsätze sind auch in die Satzung aufgenommen worden, weil sie aus unserer Sicht, Ihrer, Herrn Stoehrs und meiner, das konstitutive Element dieses Hauses sein sollten. Jochen Stoehr: Die Weichenstellung für das ganze Vorhaben war tatsächlich das Memorandum. In der Weise, wie es geschrieben ist, hat es eine raffinierte Einfachheit, zugleich ist es überzeugend in der Argumentation. Eigentlich steht alles drin, so auch, dass man sich keineswegs auf die Geisteswissenschaf- ten beschränken, sondern nach Möglichkeit auch Naturwissenschaftler einla- den will, was allerdings von den jeweiligen Forschungsvorhaben und sonsti- gen Möglichkeiten abhängt. Joachim Nettelbeck: Das Vorbild Princeton legte es nahe, die Naturwissen- schaften mit einzubeziehen, orientierte man sich hingegen an dem Institut in Palo Alto, dem National Humanities Center (North Carolina) und dem Ne- therlands Institute for Advanced Study (NIAS), so konnte man sich auf die Geistes- und Sozialwissenschaften beschränken. Peter Wapnewski: Eine solche Beschränkung war niemals unsere Absicht. Das Kolleg sollte von vornherein offen sein für Fellows jeder wissenschaft- lichen Disziplin, jeder Herkunft und Konfession. Weshalb wir mit der Ein- ULF DIECKMANN · EFIM DINABURG · LAJOS DIÓSI · ROLAND DOBRUSHIN · DIETRICH DÖRNER · ladung von Naturwissenschaftlern erst langsam Erfahrung gewannen, beruht 53 ja darauf, dass die Koryphäen des Faches Labors und andere technische Ein- G richtungen für ihre Forschungen benötigen. RÜNDUNGSGES Christoph Schneider: Gerade die Frage Naturwissenschaftler am Kolleg hat uns viel Kopfzerbrechen bereitet. Denn wir konnten ja keine Labors und an- dere technische Forschungseinrichtungen im Wissenschaftskolleg bereitstel- len. Und damals war es ja noch keineswegs üblich, dass ein Naturwissenschaft- C ler mit den Datensätzen in seinem PC anreist und ein Jahr lang über diesen HI C brütet. Deshalb steht im Memorandum, dass Naturwissenschaftler wohl nicht HTE der Regelfall bei den Einladungen sein können. Andererseits wird die Biologie als ein besonders zukunftsträchtiges Gebiet für das Wissenschaftskolleg er- wähnt, was sich dann ja mit einiger Verzögerung auch als zutreffend heraus- stellen sollte. Peter Wapnewski: Wir haben uns dann bemüht, einen Naturwissenschaft- ler als Permanent Fellow zu gewinnen. Im zweiten Jahr des Wissenschaftskol- legs war Hubert Markl praktisch schon berufen, als er das Angebot erhielt, Präsident der DFG zu werden. Wir haben uns auch mit einiger Hoffnung um einen angesehenen Mathematiker bemüht, doch auch diese Berufung ließ sich nicht verwirklichen. Erst als Gunther S. Stent 1985 und Rüdiger Wehner 1990 als Permanent Fellows berufen wurden, nahm der Bereich der theoretischen Biologie im Wissenschafts kolleg Gestalt an. Joachim Nettelbeck: Wie kam es zu dem Passus in der Satzung, dass neben Wissenschaftlern auch „Persönlichkeiten des geistigen Lebens“ eingeladen werden sollten? Peter Wapnewski: Wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass ich entge- gen der theoretisch-abstrakten Zweckbestimmung des Hauses von Anfang an den Beitrag künstlerischer Kreativität sehr hoch veranschlagt habe, höher als man dies an einem Institute for Advanced Study gewöhnlich tat. In Princeton zum Beispiel gab es damals keine Künstler. Rückblickend auf über 20 Jahre Wissenschaftskolleg wissen wir, was die Künstler für dieses Haus bedeutet haben, sie waren oft die Hefe im Teig, sie haben uns nicht nur unzählige anre- gende und die Gespräche bestimmende Abende geschenkt, sondern Einblicke in die künstlerische Arbeit gewährt, die überraschende Parallelen zur wissen- schaftlichen aufweisen kann. Wir waren klug, diesen Zustrom an kreativer Intelligenz von Josef Tal bis zu György Ligeti, von Vargas Llosa bis zu Hans Mag- nus Enzensberger zu pflegen und nie außer Acht zu lassen. Christoph Schneider: Ich erinnere mich an den Widerstand, den die Formu- lierung „Persönlichkeiten des geistigen Lebens“ damals provozierte. Andreas Heldrich, der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, kommentierte sie mit der Äußerung: „Das wird eine Kreuzung aus Princeton und der Villa Massimo.“ Diese Äußerung hätte tödlich gewirkt, wenn die anderen Wissenschaftsorga- BESHARA B. DOUMANI · HORST DREIER · YEHEZKEL DROR · PIERRE B. DUCREY · HANS PETER DUERR ·
54 nisationen, allen voran Reimar Lüst für die Max-Planck-Gesellschaft, nicht be- reits ihr Placet gegeben hätten. Wir wollten als Fellows Professoren, die auch G
ES die Gabe haben, ihr Fach öffentlich zu vertreten, die also am öffentlichen Dis- P RÄ kurs teilnehmen können. Umgekehrt sollten natürlich auch Intellektuelle C
H und Künstler willkommen sein, die keine Professoren waren. Gelehrte Arbeit erschien uns als eine Spezifikation des geistigen Lebens, das viel umfassender ist als nur Forschung im engeren Sinne. Wir dachten, dass ein Institute for Advanced Study diesem weitergehenden Anspruch gerecht werden müsse. Joachim Nettelbeck: Im ersten Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses aus dem Jahre 1978 heißt es, dass man an die geistigen Traditionen vor dem Na tionalsozialismus wieder anknüpfen wolle. Welche Rolle hat bei dem Grün- dungs prozess der Gesichtspunkt des deutsch-jüdischen Verhältnisses gespielt? Peter Wapnewski: Die Einladung von Gershom Scholem im ersten Fellow- jahr war ein einzigartiger Glücksfall, den wir einmal mehr der Vermittlung von Hellmut Becker verdanken. Gershom Scholem wurde gewissermaßen unser erster Fellow und hat bei der offiziellen Eröffnung des Wissenschafts- kollegs am 6. November 1981 die Festrede gehalten. Besser als in Gershom Scholem konnte sich unser Gründungsauftrag nicht darstellen. Wir meinten es ernst mit unserer Absicht, die zerrissenen oder zerriebenen Fäden zur Emi- gration wieder zu knüpfen. Dies hatte in der Gründungsphase natürlich auch gute taktische Gründe: Wir konnten sagen, dass wir an die ehemalige Blüte des geistigen Lebens in Berlin, die vor allem eine Blüte jüdischer Geistigkeit war, wieder anschließen wollten. Das klang gut und leuchtete jedermann ein und hat uns sicherlich auch in den einzelnen Institutionen, deren Unterstüt- zung wir brauchten, sehr geholfen. Christoph Schneider: Wenn ich an die Gründungsgeschichte zurückdenke, hat es mir persönlich manches Kopfzerbrechen bereitet, wie man denn diesen Auftrag in einer adäquaten Art und Weise mit der Gründung verbinden könne. Ich gestehe, dass ich persönlich bei weitem nicht genug darüber wusste, wen es eigentlich in der großen weiten Welt aus der Generation derjenigen noch gab, die aus Deutschland emigriert waren und die man ans Institut holen konnte. Die Tatsache, dass in späteren Jahren viele Intellektuelle aus Is- rael und jüdische Intellektuelle aus anderen Ländern ans Wissenschaftskol- leg kamen, hatte mit diesem Gründungs auftrag ja nur indirekt zu tun. Joachim Nettelbeck: Es war wohl nicht zuletzt Yehuda Elkana, der von Be- ginn an dem Kolleg verbunden war, der uns klar gemacht hat, dass die Verbin- dung mit Israel und der jüdischen Intelligenz einfach ein wissenschaftlich attraktives Potential darstellt. Die Publizistin Sybille Wirsing wies 1986 in einem Artikel der FAZ zu unserem Erstaunen nach, in welchem von uns gar nicht intendierten Umfang wir tatsächlich jüdische Gelehrte als Fellows ein- geladen hatten. VOLKER DÜRR · ELIZABETH DUNN · CATHERINE C. ECKEL · LUTZ H. ECKENSBERGER ·
Peter Wapnewski: Die Vorstellung von Berlin als einer Drehscheibe zwischen 55 Ost und West hat unser Handeln damals mehr geprägt, als wir uns dessen G heute vielleicht bewusst sind. Besonders gegenüber den osteuropäischen RÜNDUNGSGES Ländern wollten wir aktiv werden, wir wollten Polen und Ungarn einladen, später vielleicht auch einmal Tschechen und DDR-Bürger und damit die Zwei- staatentheorie durchlässig machen. Im ersten Jahrgang waren unter den 18 Fel lows nicht weniger als vier Polen, und diese Tradition hat sich in den C 80er Jahren fortgesetzt mit der Einladung auch anderer Osteuropäer, vor HI C allem Ungarn. 1988 kam der erste DDR-Bürger hinzu, bis wir dann in der HTE Wende 1989 – unter der Ägide von Wolf Lepenies – daran gingen, von Berlin aus neue institutionelle Initiativen unserer früheren Fellows in Osteuropa zu unterstützen. Doch das verdiente eine eigene Darstellung. Peter Glotz: Aus politischer Warte sieht das noch einmal anders aus. Um 1980 waren wir Entspannungspolitiker und hatten deshalb keine ausgepräg- ten Kontakte zu den osteuropäischen Dissidenten – was diese uns später vor- warfen. Unsere Partner waren die Regierungen. Rückblickend erscheint es in einem ganz anderen Licht, dass das Wissenschaftskolleg Personen wie György Konrád oder Wladyslaw Bartoszewski, den späteren polnischen Außenminis- ter, einladen konnte, die unabhängige Köpfe und gute Wissenschaftler zu- gleich waren und an die wir als Politiker nie gedacht hätten. Jochen Stoehr: Wir sollten in diesem Zusammenhang die besondere Organi- sationsstruktur des Wissenschaftskollegs erwähnen, die ihm in allen wissen- schaftlich-akademischen Fragen vollständige Unabhängigkeit gegenüber der Politik gewährt. Eine solche Struktur aufzubauen war unser Ziel. Niemand sollte in diese Institution hineinregieren können. Die Umsetzung dieser Ab- sicht verquickte sich aber auf eine heute schwer nachvollziehbare Weise mit der Situation des Kalten Krieges. Eigentlich hatten wir beabsichtigt, das Wis- senschaftskolleg mittelfristig in die sogenannte Blaue Liste von wissenschaft- lichen Institutionen aufnehmen zu lassen, die von Bund und Ländern ge- meinsam gefördert werden. Doch mussten wir befürchten, dass wir keine Einladungen nach Osteuropa würden aussprechen können, wenn der Bund in den Entscheidungsgremien saß. Aus dieser Zwangslage haben wir dann einen Ausweg gefunden, indem wir zwei Ebenen unterschieden: die Wissenschafts- stiftung Ernst Reuter und der Verein Wissenschaftskolleg. Zweck der Stiftung ist es, dem Verein Wissenschaftskolleg die nötigen finanziellen Mittel zur Durchführung seiner Aufgaben – der Förderung der Wissenschaft durch die Förderung einzelner Wissenschaftler – zur Verfügung zu stellen. Im Stiftungs- rat sind der Bund und das Land Berlin vertreten. Handelnder ist aber nicht die Stiftung, sondern der Verein Wissenschaftskolleg, in dem der Staat nicht ver- treten ist. Diese Konstruktion hatte gleich mehrere Vorteile: Einerseits erhielt das Wissenschaftskolleg damit die Freiheit, Einladungen nach Osteuropa aus- ELIEZER L. EDELSTEIN · CHRISTOFER EDLING · BARRY EICHENGREEN · DALE EICKELMAN ·
56 sprechen zu können, andererseits stärkte sie seine Autonomie gegenüber den Geldgebern. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass ein Ministerium wie das G
ES BMFT mit seinen mächtigen Referaten in die wissenschaftlichen Einrichtun- P RÄ gen bis in Details hineinregierte. Wir wollten die Förderung, aber nicht den C
H Einfluss. Die organisatorische Zweistufigkeit zwischen Wissenschaftsstiftung und Wissenschaftskolleg, zwischen Stiftungsrat und Mitgliederversammlung hat uns die Gewähr dafür gegeben, dass akademisch-wissenschaftliche Ent- scheidungen unabhängig von jeder Einflussnahme gefällt werden konnten. Allerdings gab es dann ein gewisses Unverständnis auf Seiten von Edzard Reu- ter, der natürlich gerne gesehen hätte, dass das Kolleg den Namen seines Va- ters getragen hätte – und nicht nur die wenig sichtbare Trägerorganisation. Christoph Schneider: Es galt, in den Institutionen, die in Deutschland die Wissenschaftspolitik bestimmten, das Gefühl dessen zu wecken, was die Ame- rikaner als ‚ownership‘ bezeichnen. Sie mussten das neue Institut, für das es ja in Deutschland nichts Vergleichbares gab, als ihre Sache betrachten. Des- halb sind die Präsidenten für ihre Institutionen Mitglieder in der Mitglieder- versammlung des Wissenschaftskollegs geworden und nicht die Institutionen als Körperschaften. Im Einzelnen waren es die Präsidenten der Max-Planck- Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Wissenschaftsrats, der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Deutschen Akademischen Aus- tauschdiensts. Weitere Mitglieder waren die Präsidenten der beiden Berliner Universitäten und der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Uns kam es darauf an, dass wirklich die Präsidenten der deutschen Wissenschafts- organisationen das Wissenschaftskolleg trugen, und nicht irgendwelche Refe- renten. Die Personen sollten sich mit dem Gewicht ihrer Institutionen enga- gieren. Andererseits war uns klar, dass wir eine Verankerung des neuen Insti tuts in Berlin nicht erreichen würden ohne die förmliche Mitgliedschaft der Präsidenten der Berliner Universitäten im Wissenschaftskolleg. In unse- ren vorbereitenden Gesprächen war immer wieder davon die Rede, „wie wir die Berliner Universitäten einfangen“ könnten. Wir brauchten sie ja auch ganz praktisch, denn das neue Institut sollte ja von der wissenschaftlichen Infrastruktur Berlins profitieren können, etwa im Hinblick auf die Bibliothe- ken. Eine Gelehrtengemeinschaft ohne Zugang zu Bibliotheken und Archiven war schwer vorstellbar. Es gab also materielle wie ideelle Gründe, die Berliner Universitäten mit ins Boot zu nehmen. Ich erinnere mich noch, wie feierlich die Audienzen waren, die uns von der FU in der Altensteinstraße und von der TU in der Straße des 17. Juni gewährt wurden. Die Universitäten meinten na- türlich, dass die Förderung des neuen Instituts auf ihre Kosten ging und dass sie die mit ihm verbundenen Zielsetzungen selber besser erfüllen könnten. Sie hatten ihre Erfahrungen mit neuen Institutionen wie dem Wissenschafts- zentrum machen müssen, mit dem das Wissenschaftskolleg schon damals SHMUEL NOAH EISENSTADT · ÖRJAN EKEBERG · ROBERT S. ELEGANT · YEHUDA ELKANA · häufig verwechselt wurde. Das Wissenschaftszentrum erschien ihnen als eine 57 Gegenuniversität gegen die zu linken Universitäten, als eine Art von BMFT- G nahem Beratungsinstitut für Sozialwissenschaften. Obgleich unter dem RÜNDUNGSGES Nachfolger von Peter Glotz, Wilhelm Kewenig, diesem Eindruck massiv entge- gengesteuert wurde, hatten die Universitäten einen gewissen Reflex ausgebil- det nach dem Motto: „Das geht nun also schon wieder los, die Politik gründet wieder eine neue Institution, weil sie mit den Universitäten, ihren Paritäten C und schwierigen Entscheidungswegen nicht zufrieden ist.“ Hier bedurfte es HI C großer Überzeugungsarbeit. HTE Peter Wapnewski: Wobei uns die Verbindung mit Eberhard Lämmert, dem damaligen Präsidenten der FU, sehr zugute kam, der selbst in einer heiklen Situation war: einerseits die alte kollegiale Freundschaft mit mir, anderer- seits die Vorbehalte der Gremien seiner Universität. Er musste wohl gewisse Briefe schreiben, doch hat er uns in Wirklichkeit den Rücken gegenüber viel massiverer Kritik innerhalb der FU freigehalten. Christoph Schneider: Die Stärken Westberlins als Wissenschaftsstandort lagen damals nicht in erster Linie auf jenen Feldern, die man sich für das Wissen- schaftskolleg als privilegierte Arbeitsfelder gewünscht hätte. Dies war nicht zuletzt eine Schwierigkeit in unserer Argumentation gegenüber den bundes- republikanischen Wissenschaftsorganisationen. Wir wussten, dass unsere Argumentation, das Institut stehe in Berlin, weil die wissenschaftlichen Stär- ken dieses Standortes dies rechtfertigen, nur die halbe Wahrheit war. Über- zeugender war da schon die Absicht einer Integration in die internationale Wissenschaftslandschaft, exemplarisch die Öffnung gegenüber Osteuropa. Joachim Nettelbeck: Eng mit der Frage der Organisationsstruktur war die nach der Finanzierung der Institution verbunden. Christoph Schneider: Wir hofften damals auf die Großzügigkeit der Volkswa- genStiftung, die neben dem Berliner Senat die Kosten für den Haushalt des Wissenschaftskollegs tragen sollte. Das finanzielle Engagement von Berlin war damals auf 1,2 Mio. DM pro Jahr beziffert und reichte gerade einmal für die Hälfte aller Fellows, alles weitere musste von woandersher kommen. Dass die VolkswagenStiftung uns im günstigsten Falle eine Anschubfinanzierung geben konnte, und dass man deshalb mittelfristig die Bundesregierung in die Pflicht nehmen müsse, war uns auch klar. Das BMFT erschien uns für eine gemeinsame Förderung als der natürliche Partner auf Seiten des Bundes. Im Memorandum hatten wir noch formuliert, dass es im Laufe des Jahres 1982 eine Entscheidung darüber geben solle, ob das Wissenschaftskolleg eine Insti- tution der Blauen Liste werden würde. Wir wissen, dass diese Entscheidung sehr viel später getroffen wurde, und zwar in dem Sinne, dass das Wissen- schaftskolleg zwar von Bund und Land Berlin gefördert wird, aber außerhalb der Blauen Liste, was sich rückblickend als großer Vorteil erweist. SUSANNA K. ELM · AMOS D. ELON · DONATA ELSCHENBROICH · JON ELSTER · GEORG ELWERT ·
58 Jochen Stoehr: Im Forschungsministerium führten wir frühzeitig Gesprä- che auf allen Ebenen, um eine Zusage für eine Weiterfinanzierung nach einer G
ES erfolgreichen Startphase zu erhalten. Für das BMFT war die Unterstützung P RÄ des Wissenschaftskollegs eine forschungspolitische Entscheidung. Inwiefern C
H man sich da im Einzelnen für die Institution interessierte, ist mir unklar. Wir erhielten auch keinerlei Vorgaben von Seiten des Ministeriums. Wichtig war die Stellungsnahme des Ministers Hauff, die gewiss unverbindlich, aber auch freundlich war und uns die Hoffnung auf ein Engagement des Ministeriums nicht nahm. Peter Glotz: Man muss in diesem Zusammenhang noch andere Personen erwähnen, die bei der Durchsetzung des Vorhabens hilfreich waren, etwa Hansvolker Ziegler im Bundesministerium für Forschung und Technologie. Das BMFT hatte, anders als das Bundesministerium für Bildung und Wissen- schaft, das nötige Geld und auch eine gewisse Fördertradition für eine solche Institution, deshalb war es ein wichtiger Partner bereits in der Gründungs- phase. Herr Ziegler war mir sehr behilflich dabei, dass das BMFT einen Brief schrieb, in dem eine solche künftige Förderung durch das Ministerium zu- mindest nicht ausgeschlossen wurde. Christoph Schneider: Weiterhin entscheidend bei diesem ganzen Prozess war wohl die Tatsache, dass es uns gelang, den in der VolkswagenStiftung für diesen Bereich Verantwortlichen, nämlich Otto Häfner, zu überzeugen, dass es sich um ein Projekt handelt, das zu verfolgen sich lohnt. Ihm und seinen Kollegen verdanken wir eine Investition der Stiftung in Höhe von 3,5 Mio. DM, die auch nach damaligem Standard bedeutend war. Mehr noch: Berlin und die Bundesregierung wurden dadurch unter Zugzwang gesetzt, sich ihrer- seits zu engagieren. Otto Häfner: In der VolkswagenStiftung haben wir von den Gründungsplä- nen wohl erstmals durch Shepard Stone erfahren. Frau Hagenguth hat dann bis zu ihrem Ausscheiden bei der Stiftung Ende 1979 die ersten Gespräche in Berlin geführt. In der Stiftung, im Kuratorium und in der Geschäftsstelle, galt es, in der Folgezeit auch manche Vorbehalte gegenüber den Berliner Plänen auszuräumen; ein sogenannter Selbstläufer war die Angelegenheit nicht. Über zeugend erschien mir jedoch von Beginn an der umsichtige Planungs- prozess und das ungewöhnliche persönliche Engagement des Senators und seiner Mitarbeiter. Die Stiftung konnte letztlich auch einigermaßen zuver- sichtlich sein, dass nach ihrer Startförderung die Anschlussfinanzierung gesi- chert werden würde, auch wenn eine dazu eingeholte Stellungnahme des BMFT zwar freundlich, aber hinhaltend ausfiel. Peter Glotz legte der Stiftung im März 1980 den Antrag vor, Aufbau und Arbeit des Wissenschaftskollegs in der Startphase zu fördern. Dem auch von ausländischen Experten begutachte- ten Antrag wurde drei Monate später, am 20. Juni 1980, entsprochen. AUGUSTIN EMANE · PIETER C. EMMER · HINDERK M. EMRICH · ANDREAS K. ENGEL · TRISTRAM ENGELHARDT ·
Jochen Stoehr: Das übliche Marketing bei der Durchsetzung solcher Vorha- 59 ben besteht ja darin, dass man nach verschiedenen Seiten hin verhandelt, um G der einen Seite zu signalisieren, die andere sei gerade dabei, eine positive Ent- RÜNDUNGSGES scheidung zu treffen. Peter Glotz hat im Senat denn auch relativ früh gesagt, dass die VolkswagenStiftung wohl zusagen werde, was die Senatsmehrheit beruhigte. Gleichzeitig haben wir aber mit dem BMFT verhandelt. Die Volks- wagenStiftung ist aber der eigentliche Pate des Wissenschaftskollegs, auch C bei der Frage der Häuser zur Unterbringung, worauf wir ja noch kommen HI C werden. HTE Otto Häfner: Die Stiftung hat sich angesichts ihres wissenschafts- und stif- tungspolitischen Interesses an dem Projekt immer auch in einer kritisch-bera- tenden Funktion gesehen. Bei den erforderlichen Abstimmungs- und Ent- scheidungsprozessen gab es hilfreiche persönliche Querverbindungen zu den Ministerien auf Bundesebene. Der damalige Generalsekretär der Stiftung Wal- ter Borst stammte aus dem BMFT und fühlte dort vor. Kontakt bot sich auch zu Eberhard Böning im Bildungsministerium (BMBW); seine Meinung zu kennen war wichtig, auch wenn das BMBW als Financier nicht in Frage kam. Im Bewil- ligungsschreiben vom Juni 1980 hat die Stiftung Herrn Wapnewski dann empfohlen, im ersten Jahr nicht mehr als 20 Fellows einzuladen, um die not- wendige Qualität zu gewährleisten. Abzusehen war, dass die von der Stiftung bewilligten Mittel für mehrere Fellow-Jahrgänge reichten, und so war es dann auch. In Hannover waren wir recht sicher, dass nach ersten gelungenen Jah- ren Lösungen für die Folgezeit gefunden würden. Peter Wapnewski: Der erste Jahrgang ist in der Tat erstaunlich rasch und mit viel Glück zusammengekommen, es wurde eine gute Crew, wenn auch in der fachlichen Zusammensetzung etwas ungleichgewichtig, von Uwe Pörksen zu Bruno Hillebrand und von Hartmut von Hentig zu Hans-Martin Gauger und zu Hans Egon Holthusen, und nicht weniger als vier Polen. Im Zentrum stand freilich Gershom Scholem, auch wenn er nur die ersten Monate bei uns sein konnte. Er taufte diesen Jahrgang „die Trockenmieter“, entsprechend der alten Berliner Sitte, Beziehern von noch feuchten Neubauwohnungen Miet- nachlässe zu gewähren. Joachim Nettelbeck: Was die Unterbringung der Fellows anbelangt, so gab es zunächst eine Ruine, und dann plötzlich gab es drei Häuser. Wie kam es dazu? Jochen Stoehr: Als ich dieses Haus in der Wallotstraße 19, die Villa Linde, zum ersten Mal betrat, erlebte ich etwas Merkwürdiges: Aus dem Durcheinan- der dieser heruntergekommenen Villa, die als britisches Offizierskasino ge- dient hatte, trat mir ein SS-Mann in vollem Ornat entgegen. Da wurde gerade ein Film gedreht. Silke Bernhard hatte dieses 1910 von dem Staatsanwalt Franz Linde gebaute Haus für die Dahlem-Konferenzen gefunden; der Stifter- VOLKER ENSS · HANS MAGNUS ENZENSBERGER · STEPHAN R. EPSTEIN · CAROLA ESCHENBACH ·
60 verband für die deutsche Wissenschaft wollte, dass wir es mit Senatsmitteln zu einem Konferenzzentrum ausbauten. Doch dann kam Peter Glotz aus den G
ES USA zurück und sagte, ich mache etwas ganz anderes, ich will ein Institut wie P RÄ in Princeton gründen. Und wir sagten, dann nehmen wir doch das Haus in der C
H Wallotstraße dazu und bringen die Dahlem-Konferenzen wie das Wissen- schaftskolleg darin unter. Allein für die Dahlem-Konferenzen, die ein oder zweimal im Jahr Tagungen veranstalteten, war das Haus zu groß. Dement- sprechend waren wir glücklich, als Peter Glotz sagte: „Tun wir doch beide rein!“ Das Haus war 1976 aus britischer Hand in Bundeseigentum übergegangen und wurde von dem Bundesverband für den Selbstschutz (der Nachfolgeorga- nisation des Bundesluftschutzverbandes) verwaltet. Zur Geschichte der Villa gehört, dass Hermann Görings Reichsluftschutzbund die Villa im Jahre 1935 erworben hatte. Der Bund überließ sie dann dem Berliner Senat zur Nutzung unter der Bedingung, dass dieser sie renovierte und für nichtkommerzielle Zwecke nutzte. Die Villa musste natürlich hergerichtet werden, denn so wie ich sie zum ersten Male gesehen habe, war sie in ziemlich heruntergekomme- nem Zustand. Das Bezirksamt Wilmersdorf hat den Senat sogar gedrängt, etwas mit diesem Haus zu machen, da es als Schande empfunden wurde, dass ein solcher Bau in diesem feinen Viertel einfach verkam. Christoph Schneider: Die Dahlem-Konferenzen waren eine ganz besondere, von Silke Bernhard ersonnene und über viele Jahre betreute Form von Konfe- renzen in den Lebenswissenschaften, wie man das heute nennt, bei denen sämtliche Konferenzbeiträge vorher schriftlich verteilt wurden. Die Konferen- zen dauerten dann über eine Woche, die Teilnehmer setzten sich mit den schriftlichen Beiträgen der anderen auseinander. Aus Beiträgen und Diskus- sionsprotokollen entstand binnen kurzer Zeit ein Buch. Es gelang Silke Bern- hard, die international renommiertesten Wissenschaftler zu den jeweiligen Themen einzuladen. Alle diejenigen, die daran teilgenommen haben – und das war eine hochelitär ausgesuchte Gesellschaft von Biowissenschaftlern und Medizinern –, haben bekundet, dass sie eine so intensive wissenschaftli- che Diskussion als einzigartig empfanden. Jochen Stoehr: Der Erfolg der Dahlem-Konferenzen war sehr stark mit der Person von Silke Bernhard verbunden, die mit allen teilnehmenden Wissen- schaftlern intensive freundschaftliche Beziehungen aufbauen konnte. Joachim Nettelbeck: Sie war als Person außergewöhnlich, als Institutionen- vertreterin aber für denjenigen, der mit ihr Auseinandersetzungen zu bewäl- tigen hatte, schwierig, wie sich dann im Zusammenleben herausstellte. Zu Anfang waren die Dahlem-Konferenzen in vier Räumen untergebracht, und als dies nicht mehr ging, haben wir Frau Bernhard eine Villa in der Delbrück- straße zur Verfügung gestellt, die wir angemietet hatten. Es gab nur zwei Konferenzen, die hier stattgefunden haben. PÉTER ESTERHÁZY · ALEXANDER ETKIND · EFIM ETKIND · OTTMAR ETTE · FRANÇOIS EWALD ·
Christoph Schneider: Das Raumangebot des Hauses hat in starkem Maße un- 61 sere Überlegungen mitbestimmt, was hier stattfinden solle. Es war ja nahe G lie gend, dass der große Raum Konferenz- und Vortragsraum sein und auch den RÜNDUNGSGES Flügel aufnehmen würde, den als erster Reinhard Praßer, der erste Angestellte des Kollegs, bei der Trauerfeier für Gershom Scholem öffentlich gespielt hat. Wir haben das Haus allerdings nie als Konferenzzentrum betrachtet. : Wir hatten dank der Vermittlung durch den Stifterverband
Jochen Stoehr C den technischen Direktor aus der Bauabteilung der Schering AG, Herrn Lang- HI C ner, gewonnen, um die Renovierung der Villa zu überwachen, vor allem was HTE Zeit- und Kostenpläne anbelangte. Herr Langner war einer von den vielen Glücksfällen in der Geschichte des Kollegs, ein persönlich reizender und zu- gleich kompetenter Mann. Er kannte das Berliner Baugewerbe, und so haben wir relativ preiswert gebaut. Die Berliner Architektin Dorothea Haupt war für die Gestaltung der Innenräume des Hauses verantwortlich, mit ihrer Holztä- felung und dem Charakter eines englischen College. Sie hat dabei – wie sich jeder überzeugen kann – großes Stilgefühl bewiesen. Wir haben dann aber sehr schnell gemerkt, dass das Haus selbst für das Wissenschaftskolleg allein niemals ausreichen würde. So haben wir Überlegungen im Hinblick auf die Nebengrundstücke angestellt. Und hier kam uns wiederum ein Glücksfall zu Hilfe: Die VolkswagenStiftung feierte ihr 20-jähriges Jubiläum, und sie wollte zu diesem Anlass etwas für die Wissenschaft tun. Das wussten wir. Wir sind deshalb ständig mit gierigen Blicken durch die Umgebung gezogen und haben mit dem Bezirksamt gesprochen. Plötzlich erfuhren wir, dass das Haus an der Ecke Wallotstraße/Koenigsallee zum Verkauf stand. Als wir das Haus zusammen mit Herrn Nehls von der VolkswagenStiftung besichtigten, lief je- mand Unbekanntes an unserer Seite mit und wollte uns seine Visitenkarte zustecken. Später stellte sich heraus, dass dies der Makler war. Wir wollten von ihm nichts wissen, doch klagte er nachher gegen uns, ging bis zum Ober- landesgericht Celle und behielt sogar Recht. Berlin hat den Prozess verloren und der Makler sein Geld erhalten. Das mit diesem Herrn verbundene Immo- bilien milieu machte dann noch durch eine Schießerei in einer Tiefgarage von sich reden. Otto Häfner: In der Tat war es einer dieser Glücksumstände, die die Grün- dung begleiteten, dass die Stiftung zu ihrem 20-jährigen Jubiläum dem Wis- senschaftskolleg ein zweites Haus schenken konnte. Der zusätzliche Raumbe- darf war schnell offenkundig, wie ich bei meinen Besuchen im Kolleg und als Gast in den Mitgliederversammlungen erkannte. (Eine Nebenbemerkung: Unvergesslich sind mir die Finanzverhandlungen mit dem Abgesandten des Berliner Finanzsenators, der immer sagte: „Det könn’ wa überrolln.“) Als ich einmal mit Herrn Stoehr die Umbauten beobachtete, hat er recht melancho- lisch aus dem Fenster auf ein Nachbargrundstück geblickt und gesagt: „Schade, JOHANNES FABIAN · JEAN-LOUIS FABIANI · DANIEL P. FAITH · RAPHAEL FALK · BRIGITTE FALKENBURG ·
62 dass wir das nicht auch noch haben konnten, das gehört nun einem Wein- händler.“ Das war die Villa Habel. Mit Blick auf das Stiftungsjubiläum, dessen G
ES Feier in Berlin stattfinden sollte, und auf der Suche nach einem öffent lich- P RÄ keits wirksamen Gastgeschenk, habe ich die Idee eines weiteren Gebäudes C
H für das Kolleg stetig in die Geschäftsstelle der Stiftung geträufelt. Die Schlüs - selüberga be für das Haus Koenigsallee 21 durch den Vorsitzenden des Stif- tungskurato riums Werner Remmers an Peter Wapnewski als Rektor und Wil- helm A. Kewenig, den Nachfolger von Peter Glotz und Günter Gaus im Amt des Wissenschaftssenators, erfolgte am 18. Juni 1982. Das Geschenk war in- sofern ungewöhnlich, als die Stiftung bislang nur Verfügungsbauten finan- ziert hat te, die von den jeweiligen wissenschaftlichen Einrichtungen genutzt wurden. Eigentümer blieb die Stiftung. Hier wurden erstmals Fördermittel zum Erwerb einer Immobilie bewilligt, um sie dann dem Wissenschaftskolleg zu schenken. – Aus Anlass des Jubiläums erschien übrigens eine Publikation der Stiftung: ‚20 Jahre Wissenschaftsförderung, 20 Forschungsbeispiele aus Berlin‘, in der der Publizist Malte Buschbeck den ersten Artikel über das Wis- senschaftskolleg schrieb. Joachim Nettelbeck: Die VolkswagenStiftung hat dann in einem Schreiben an den Senat festgelegt, dass diese Villa nur unter der Bedingung gekauft werde, dass das Land Berlin das Grundstück in der Wallotstraße neben dem Hauptgebäude, das zur Bebauung noch freistand, selber mit eigenen Mitteln erwirbt und bebaut. Jochen Stoehr: Dieses Grundstück nebenan hatten wir bereits in unser ers- tes Raumprogramm 1979 einbezogen. Es sollte ein wichtiger Teil des Gesamt- komplexes des Kollegs werden, vor allem für Arbeitszimmer für Fellows. Es gab freilich auch die Vorstellung, dass dort eine Tiefgarage mit Parkplätzen eingerichtet werden sollte, was vermutlich auf Unterhaltungen mit den Be- zirksbauverwaltungen zurückging, die hier zu viele Autos geparkt sahen. Aller dings war das Geld dafür in absehbarer Frist nicht gesichert, als wir die Beschlüsse über die Gründung herbeiführten. Joachim Nettelbeck: Das Land Berlin hat später immer gesagt, sie würden die notwendigen Erweiterungsbauten für das Wissenschaftskolleg errichten, aber es passierte nichts. Es wurden keine Mittel zur Verfügung gestellt. Aller- dings hatte die VolkswagenStiftung in ihrem Bewilligungsschreiben darauf hingewiesen, sie gehe davon aus, dass das Land Berlin das Nebengrundstück in der Wallotstraße bebauen werde. Aufgrund dieser Auflage hat das Land Berlin am Ende dann doch die notwendigen Mittel bereitgestellt. Praktisch hat uns die VolkswagenStiftung durch diesen Schachzug zwei Gebäude ge- schenkt. – Zum Schluss unseres Gesprächs: Was haben Sie sich damals ge- dacht, wie das Institut nach zehn Jahren aussehen würde? Christoph Schneider: Wir haben das so nicht erwartet. JÜRGEN FALTER · SURAIYA FAROQHI · ERNST FEHR · MORDECHAI FEINGOLD · RIVKA FELDHAY ·
Peter Wapnewski: Wir haben es vielleicht gehofft. 63 Jochen Stoehr: Daran habe ich damals keine Gedanken verschwendet, es war G anstrengend genug, das erst einmal hinzustellen, das Geld zusammenzukrie- RÜNDUNGSGES gen, eventuell in die Blaue Liste aufgenommen zu werden usw. Und wer konnte sich von uns damals zum Beispiel den Gärtner und Fahrer des Rektors, Herrn Volck, vorstellen oder den Hausmeister Herrn Riedel oder schon gar Frau Klöhn, die Leiterin der Hauswirtschaft, oder Gesine Bottomley, die die C Bibliothek aufgebaut hat – und wie sie alle heißen? HI C Peter Wapnewski: Eigentlich war es eine unmögliche Gründung. Es ist ja ein HTE Wunder, wie aus dieser Unmöglichkeit eine Möglichkeit und dann schließ- lich sogar Wirklichkeit wurde. Es gab nichts mit dem Wissenschaftskolleg Vergleichbares. Es gab auch noch keinen Rektor. Ich bestand auf diesem Titel, um den akademischen Charakter dieser Funktion deutlich zu machen, übri- gens gegen eine Abstimmung, die damals gegen mich ausging. Ich wollte die unmittelbare Beziehung zur Universität und zur alttradierten Bezeichnung des Universitätsobersten. Meine Vorstellungen waren natürlich auch britisch- oxfordisch geprägt. Im Bereich des akademischen Lebens hat mich nichts so beeindruckt wie meine Gastprofessuren in Cambridge und Oxford. Die Form hat eine kreative Funktion, das war und ist meine Überzeugung, die Form wirkt mit an der geistigen Entwicklung dessen, der von ihr geprägt wird. Das wollte ich gern im Rahmen des Möglichen durchsetzen. Dies habe ich dann auch ein paar Jahre versucht. Wir hatten beispielsweise die Tische im Speise- saal in U-Form aufgestellt, der Rektor mit seinen jeweiligen Gästen an der Stirnseite. Bei den Essen stellte ich die Gäste jeweils vor, damit deutlich würde, wer von woher kam und welche Disziplin vertrat. Dann ergab es sich aber, dass dieses vielleicht allzu eng ans britische College-Modell angelehnte Konzept durch eine stille Revolution umgestürzt wurde. Man nutzte eine zeitweilige Abwesenheit des Rektors, um die U-Form aufzuheben und statt dessen Einzel- tische zu formieren, damit zerrann mein Traum vom Berliner Oxford. Joachim Nettelbeck: Sie waren und Sie sind auch heute noch in vielerlei Hin- sicht für den Stil des Hauses prägend. Sie haben Formen des Zusammenlebens und Arbeitens geschaffen, die den besonderen Charakter dieses Hauses be- stimmen. Ihre Kritik an bestimmten Verhaltensformen bei Fellows wie bei Mitarbeitern brachten Sie auf die Formel: „Das entspricht nicht dem Stil des Hauses!“ Peter Wapnewski: Nicht verwunderlich, dass es dann eine Kette von Angrif- fen gegen unser Haus, gegen seine soziale Wirklichkeit und gegen seinen Rektor gab, teils aus dem Kreise der Fellows, teils von außerhalb, was mich sehr bedrückte. Joachim Nettelbeck: Die Anfangsjahre des Wissenschaftskollegs sind in der Öffentlichkeit mit der sogenannten Elite-Diskussion verbunden. GERALD D. FELDMAN · EBERHARD E. FETZ · WOLFGANG FIETKAU · BARBARA L. FINLAY ·
64 Otto Häfner: Aus meiner Sicht beginnt die Elite-Diskussion erst im Frühjahr 1980 und wurde ab 1981 intensiviert. In der eigentlichen Gründungsphase G
ES des Wissenschaftskollegs spielte sie hingegen keine erkennbare Rolle. Es ist P RÄ aufschlussreich, dass in keiner der Denkschriften für ein Institute for Ad- C
H vanced Study der Begriff zu finden ist. Einer der Gutachter der Volkswagen- Stiftung schrieb zu dem Antrag von Peter Glotz, dass „in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahrzehnten zu wenig für die Förderung von Spitzenbega- bungen aller Altersstufen, für den im guten Sinne elitären Kern der Gemein- schaft aller Wissenschaftler“ getan werde. Doch dies ist der einzige Anklang an den Elite-Begriff. Peter Wapnewski: Damals war der Begriff Elite tatsächlich noch ein Schimpf- und Scheltwort in der Bundesrepublik, während er heute ganz selbstverständ- lich zur Rhetorik der Bildungspolitik gehört. Ich habe damals umherreisend eine Vielzahl von Vorträgen zum Thema Elite gehalten und dazu auch publi- ziert, um den Unterschied zwischen Geburts- und Leistungselite darzulegen. Man kann den Widerstand gegen diesen Begriff in der damaligen Hoch- schulöffentlichkeit heute kaum noch ermessen. Ich habe diese Diskussion auch in den Wissenschaftsrat getragen, der später eine Resolution zugunsten der Elite-Förderung herausgab. Christoph Schneider: Wenn man das Memorandum noch einmal liest, so stößt man nirgends auf den Begriff Elite, was natürlich Absicht war. Stattdes- sen ist von allen möglichen Synonyma die Rede, von Spitzenleistungen und dergleichen. Joachim Nettelbeck: Wir reden heute so, als ob das Wissenschaftskolleg nach seiner Gründungsphase eine reine Erfolgsgeschichte gewesen sei. Doch war die Institution bis zur Aufnahme der BMFT-Finanzierung und sogar noch im Jahr danach konkret in ihrer Existenz gefährdet. Die Bundestagsabgeordne- ten hatten im zweiten Jahr der Bundesförderung die Reduzierung auf zwei Drittel der Mittel beschlossen, und es bedurfte erheblicher Anstrengungen, um das wieder in ein normales Maß zu bringen. Doch das betrifft eine spätere Zeit. Peter Wapnewski: Rückblickend auf die Gründungsphase drängt sich mir das Wort Fortune auf. Dieses Haus hat vom ersten Augenblick an auf eine ge- radezu magische Weise Fortune gehabt. Diese Fortune materialisierte sich in menschlichen Figuren, Beziehungen und Glücksfällen, die in ihrer Kumulie- rung geradezu unwahrscheinlich anmuten. Peter Glotz: Auch wenn ich am Anfang der Gründung stand: Dass aus die- sem Haus etwas wurde, hing von denen ab, die hier tätig waren, und da muss man einfach sagen: Wir hatten gewaltiges Glück mit den Rektoren und mit der Verwaltung. Allerdings fand das meiste statt, als ich längst nicht mehr Senator war und keinerlei Einfluss mehr auf die Geschicke des Hauses hatte. Peter Glotz Wie es anfing
In meiner Berliner Zeit habe ich viele Mittag- und Abendessen im ‚Don Ca- millo‘, einem Nobelitaliener in der Schloßstraße, einen Steinwurf vom Char- lottenburger Schloss entfernt, mit den unterschiedlichsten Leuten hinter mich gebracht. Eines davon, an einem windigen Spätherbstabend 1978, werde ich nie vergessen. Ich traf mich mit Monica und Peter Wapnewski. Ich wollte Wapnewski, damals Professor in Karlsruhe, an einer guten Technischen Uni- versität, an der Altgermanisten im wohltuenden Schatten leben, weil sie nicht von künftigen Deutschlehrern überlaufen werden, zum Gründungsbeauftrag- ten eines Institute for Advanced Study machen. Das war für Berlin eine sanfte Provokation. Wapnewski war an der FU Professor gewesen, hatte sich aber in- digniert abgewandt, als die 68er Revolte ihre ersten Wendungen ins Vulgär- Geistfeindliche nahm. Wapnewski war für die Freie Universität (und auch die Ber liner SPD) der Inbegriff des Elitären. Genau aus diesem Grund wollte ich ihn. Der große, etwas gebeugt gehende Mann war (und ist) nämlich nicht ein- fach ein Professor. Er ist ein Intellektueller, der ein beeindruckend weites Spek- trum von Neigungen und Interessen hat; über viele Jahre arbeitete er mehr über Richard Wagner als über Walther von der Vogelweide oder das ‚Hilde- brandslied‘. Später haben wir auf Wapnewskis Vorschlag hin beschlossen, in unser Ins titut ‚Persönlichkeiten des geistigen Lebens‘, also nicht nur Akademiker, sondern auch Schriftsteller, Komponisten, Kreative jeder Art einzuladen. Es kamen Enzensberger, Vargas Llosa, Ligeti. Wapnewski war für mich der Ga- rant für intellektuelles Niveau und für eine Atmosphäre, die schöpferisches Arbeiten ermöglichte. Er konnte schroff sein, gewiss, konnte mit Halbsätzen töten, war der große Maliziöse, aber er war blendend vernetzt, im Wissen- schaftsrat, im Deutschen Akademischen Austauschdienst, in der Deutschen Forschungsgemeinschaft – und trotzdem kein organisierender Großordina- rius, sondern ein verletzlicher Selbstdenker. LUDWIG FINSCHER · MENACHEM FISCH · JENS MALTE FISCHER · PHILIP FISHER · TECUMSEH W. FITCH ·
66 Der Patron kam mit einem Wagen an den Tisch, auf dem die Pasta, das Fleisch, die Fische unter einer Folie ausgestellt waren. Im Grunde wussten wir PETER schon beim ersten Zuprosten mit einem gut gekühlten Weißwein aus dem Friaul, dass wir uns einig werden würden. Monica Wapnewski, eine Künstle- G LOTZ rin, wollte aus der beschaulichen badischen Provinz in die Groß stadt. Wir wurden uns einig, nicht über Einzelheiten und nicht über die Bezüge (die mit der Administration dann noch zu einem Kampf führten), aber über das Prin- zip. Wenn ich etwas – oder jemanden – will, kann ich zäh sein. Die Vorgeschichte dieses Arbeitsessens, das ein Vergnügen war, ist schnell erzählt. Eines Tages hatte mich der Regierende Bürgermeister zu sich gebeten und ersucht, eine Idee zur Ehrung Ernst Reuters, des großen Berliner Bürger- meisters, zu seinem 25. Todestag zu entwickeln. Ungefähr zur gleichen Zeit kam einer meiner besten Beamten, Jochen Stoehr, aus der Forschungsabtei- lung zu mir und erzählte von einer alten Villa im Grunewald, in einer geboge- nen Nebenstraße der Koenigsallee, der Wallotstraße. „Zauberhaft“, schwärmte der Senatsrat, der dort die hochrangigen internationalen ‚Dahlem-Konferen- zen‘, lebenswissenschaftliche Workshops mit den Spitzen von Biologie und Medizin, unterbringen wollte. Aber wie sollte man die Restaurierung dieses holzgetäfelten, teppichstillen Schmuckstücks mit einem löcherigen Dach und abgeschraubten Beschlägen bezahlen, fragten wir uns, als wir durch die kalte, schon lange leerstehende Villa streiften, die nach 1945 ein britisches Offi- zierskasino beherbergt hatte. Da fiel mir Ernst Reuter ein – und meine Idee eines Zentrums, in das man die besten Köpfe der Welt für eine gewisse Zeit einladen könnte. Das würde Berlin doch gut tun. Ich war im Frühsommer in den Vereinigten Staaten herumgereist, in Princeton, Palo Alto und im Wood- row-Wilson-Center gewesen, hatte lange mit Harry Woolf, dem damaligen Direktor des Institute for Advanced Study in Princeton, geredet und mir in den Kopf gesetzt, in Berlin ein vergleichbares Institut – kleiner, ohne Phy sik- Fakultät, konzentriert auf Geistes- und Sozialwissenschaften – zu gründen. Das war es: ein Ernst-Reuter-Institut für Advanced Study. Es war also, wie oft bei wichtigen Gründungen, ein zufälliges Zusammenschießen nicht zusam- menhängender Elemente: Ernst Reuter, das Haus in der Wallotstraße, die Idee Advanced Study. Nun gab es, wie es sich herausstellte, zwei dicke Mauern, die wir überwin- den mussten. Sollte das Institut wirklich erstklassig werden, brauchte es die Unterstützung der großen Wissenschaftsorganisationen, deren Präsidenten sich in einer selbstironisch ‚Heilige Allianz‘ genannten lockeren Runde zusam- mengeschlossen hatten. Die meisten damaligen Mitglieder dieser harmlos daherkommenden, aber mächtigen Superstruktur vertrauten mir zwar – man kannte sich aus Bonn –, aber sie alle wussten, dass Senatoren immer wie der wechseln. Eine ‚Berliner Institution‘, bei der man vom jeweiligen Senat ab- EGON FLAIG · KURT FLASCH · MARIE THERES FÖGEN · DAGFINN FØLLESDAL · KLAUS FOPPA · hängig wäre, wollten sie unter keinen Umständen. Also schraubten wir am 67 Konzept – das zum 25. Todestag Reuters 1978 ja vom Abgeordnetenhaus be- schlossen war – solange herum, bis eine zweistufige Lösung herauskam. WIE ES AN Die Ernst-Reuter-Stiftung war nur die Trägerorganisation eines ‚Wissen- schaftskollegs‘, das auch nicht einfach ‚Wissenschaftskolleg Berlin‘, sondern F höchst absichtsvoll ‚Wissenschaftskolleg zu Berlin‘ genannt wurde. Die Finan- ING zierung kam zuerst einmal (immerhin 3,5 Millionen Mark) von der Volkswa- genStiftung. Otto Häfner, der zuständige Abteilungsleiter der Stiftung, hatte sich mit großer Kraft engagiert. Die Stipendien für die Fellows, die Gäste, kamen teils aus Berlin, teils vom Bonner Forschungsministerium Volker Hauffs. So ging es dann, aber auch nur, weil Reimar Lüst, der Präsident der Max-Planck- Gesellschaft, auf seine Kollegen immer wieder einwirkte. Ohne Lüst, den wohl mächtigsten und oft genug stillsten deutschen Wissenschaftsorganisator der letzten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts, hätte ich das Wissenschaftskolleg nie durchsetzen können. Wapnewski, der mit Lüst befreundet war, sagte gele- gentlich bewundernd: „Ja, ja, der war U-Boot-Fahrer.“ Die zweite dicke Mauer, die es zu überwinden galt, war die strikte Ableh- nung, die die Berliner Linke jeder ‚elitären‘ Einrichtung entgegenbrachte. ‚Elite‘ war ein Unwort für die Berliner SPD. Aber auch die anderen Parteien und die Mehrheit der Bevölkerung hielten Elite für ein Synonym für Paradies- vögel. 1980 fasste ich schließlich den Mut, im ‚Spiegel‘ den Essay ‚Die Linke und die Elite‘ zu publizieren, dessen Kernsätze lauteten: „Die deutsche Linke würde einen katastrophalen Fehler machen, wenn sie sich auf den naheliegenden Reflex angewiderter Ablehnung beschränken würde. Eine solche Haltung wäre realitätsfern und unpolitisch.“ Aber was Glotz (in bezug auf Paradiesvö- gel) im ‚Spiegel‘ schrieb, war ‚Feuetong‘; das Abgeordnetenhaus hätte es nie beschlossen. Deswegen rühme ich das Memorandum zum Kolleg, verfasst von Jochen Stoehr und seinem von der Forschungsgemeinschaft entliehenen Kol- legen Christoph Schneider, als hohe Verwaltungskunst. Sie begründeten die Erfindung einer Eliteinstitution, ohne das Wort Elite ein einziges Mal zu ge- brauchen. Ich muss noch – Berlin war eine Enklave der Alliierten – einen baumlan- gen, kahlen, vor Energie sprühenden Amerikaner erwähnen, Shepard (Shep) Stone, der das von Berlin finan zierte Aspen Institute leitete und großen Ein- fluss in der Stadt hatte. Er hat sicher dreimal mit mir im ‚Seehof‘ gegessen und mich mit seiner überdimensionalen Mont-Blanc-Füllfeder beeindruckt, um zu verhindern, dass ich den früheren APO-Mann Ekkehard Krippendorf ans John F. Kennedy Institute berief. Aber man muss zugeben, dass Shep, der Berlin aus den 30er Jahren her kannte, eine Deutsche geheiratet hatte und als enger Mitarbeiter General McCloys ins zerstörte Deutschland zurückgekom- men war, nicht nachtragend war. Ich habe Krippendorf berufen, und dennoch REMIGIUSZ FORYCKI · KEVIN R. FOSTER · KENNETH FRAMPTON · ELI FRANCO · ÉTIENNE FRANÇOIS ·
68 hat Shep, als das Projekt Wissenschaftskolleg anstand, in seinem Kreis mit den Leitern der Berliner Wissenschaftsorganisationen geholfen. Er liebte PETER Wapnewski nicht. Aber er liebte Berlin. Irgendwo in meinen Kisten muss noch ein Foto sein, das er mir geschenkt hat: Wie er – damals Mitte sechzig – mit G LOTZ nacktem Oberkörper vor seinem Landhaus in Vermont Holz hackt. Shep hat auch in seiner Wahlheimat Berlin allerhand Bäume, die im Weg standen, zu Kleinholz verarbeitet. Mein stärkstes politisches Argument für das Kolleg lautete: Wir wollen von den Nazis vertriebene Gelehrte – Ernst Reuter war auch von den Nazis vertrieben worden – wenigstens für ein akademisches Jahr nach Berlin zurück- holen. So war Gershom Scholem, unter dem Namen Gerhard Scholem der engste Freund Walter Benjamins, Fellow des ersten Jahres. Es ging uns aber nicht nur um Juden; das Kolleg war nie ein ‚hebräischer Verein‘ (wie das eine oder andere feindliche Blatt insinuierte). Der Verein hatte allerdings erkannt, dass der Kontakt mit Israel aus wissenschaftlichen Gründen von Bedeutung war; das war vor allem ein Verdienst des Permanent Fellows Yehuda Elkana. Der kam allerdings erst nach meiner Amtszeit ans Kolleg. Hier ist der Ort, von Hellmut Becker zu sprechen, dem Direktor des Berli- ner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, der in dieser Stadt von zu- rückbleibender Lebenssubstanz zu den übriggebliebenen Großbürgern, den souveränen Verbindungskünstlern gehörte. Becker, der Sohn des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, war einer der Väter der Bildungsreform in Deutschland, saß in zahllosen Gremien, war ein großer Reisender und konnte so gut wie kein anderer raten, warnen und fördern. Wapnewski hat ihn später den ‚père noble‘ des Gründungsprozesses genannt. Die Idee, Wap- newski nach Berlin zurückzuholen, wurde mir von Becker nahegebracht ge nauso wie der Vorschlag, Joachim Nettelbeck, der vorher an der damals linksradikalen und mittelmäßigen Fachhochschule für Wirtschaft Verwal- tungsleiter gewesen war, zum ‚Sekretär‘ des Kollegs zu machen. Nettelbeck ist seit einem Vierteljahrhundert ein sich niemals in den Vordergrund spielen- der Generalsekretär, dem der Komment des Kollegs verbietet, den General im Titel zu führen. Auch Wapnewskis kongenialer Nachfolger, der Soziologe Wolf Lepenies, muss eine Idee Beckers gewesen sein – das war lange nach meiner Zeit. Lepe- nies war, weil er nicht gesinnungstüchtig genug war, von der Freien Universi- tät mit einer C3-Professur abgefunden worden. Princeton allerdings riss sich um ihn. Mein Nachfolger Kewenig berief ihn schließlich mit innerem Wider- streben, weil er lieber einen Naturwissenschaftler gehabt hätte. Becker war der Stichwortgeber im Hintergrund, der leise, nachdrückliche, kenntnisrei- che, listige Nebenbemerkungskünstler, der ohne formelle Zuständigkeit und ohne große Position die Institution prägte. Als er starb, hörte der mit dem Ju- STEVEN A. FRANK · NIGEL R. FRANKS · NANCY FRASER · DOROTHEA FREDE · MICHAEL FREDE · dentum und Israel eng verbundene Becker – so erzählen Freunde – fast nur 69 noch Tristan. Der Antisemit Wagner war ein großer Komponist und Becker einer der letzten Repräsentanten des aussterbenden Berliner Bürgertums. Er WIE ES AN konnte unterscheiden. Was will diese Miszelle über das Kolleg sagen? Dass es heute eine der ange- F sehensten Einrichtungen seiner Art in der ganzen Welt ist. Ich stand ganz am ING Anfang, griff in die Luft und fügte per Zufall vorbeischwebende Chancen zu- sammen. Meine größte Lebensleistung – ein geistesgegenwärtiges Zupacken auf Zufälle, die vorbeischwebten wie die Christbaumkugeln des sich drehen- den Baums, den der ‚Stille-Nacht-Heilige-Nacht‘ klimpernde Christbaumstän- der meiner Großmutter drehte. Dass das Kolleg aber so gut wurde, wie es ist, ist nicht mein Verdienst, sondern das Ergebnis der Arbeit der Lebendigen und der Toten, die ich hier gepriesen habe. Peter Wapnewski und Peter Glotz, 1980.
Beratungsrunde des Arbeitsausschusses Institute for Advanced Study im Aspen Institute am 17. Dezember 1979. Von oben links umlaufend: Peter Glotz, Shephard Stone, Peter Wapnewski, Hanna-Beate Schöpp- Schilling, Meinolf Dierkes, Jochen Stoehr (stehend), Horst-Eberhard Richter, Harry Woolf, Wolfram Fischer, Thomas A. Trautner, Günter Sauerbrey, Gerhard W. Becker, Edith Hagenguth, NN, Werner Knopp, NN. Peter Glotz und Reimar Lüst, 1980. Hellmut Becker.
Gershom Scholem bei seinem Festvortrag Shepard Stone, zusammen mit Peter Wapnewski und anlässlich der Eröffnung des Wissen- Bundespräsident Karl Carstens, im Hintergrund schaftskollegs am 6. 11. 1981. Senator W. A. Kewenig, 1983. Joachim Nettelbeck, 1983. Peter Wapnewski, 1983.
Otto Häfner und Wolf Lepenies im Gespräch am 6. 11. 1981. Fellows im Gespräch mit Bundespräsident Karl Carstens (vorne rechts), 1983.
Dienstagskolloquium (am 26. 10. 2004 mit Bernard Wasserstein). Wolf Lepenies und Willy Brandt am 11. 12. 1989 im Wissenschaftskolleg.
Dieter Grimm und Richard von Weizsäcker, im Hintergrund Jürgen Engert, 2001. Imre Kertész, Fellow des Jahres 2002/03, nach der Verleihung des Literaturnobelpreises, am 16. 12. 2002 bei der Veranstaltung ‚Ungarische Lebenswelten‘ im Wissenschaftskolleg, links neben ihm Yehuda Elkana.
Dieter Grimm, 2005.
Peter Wapnewski Die ersten fünf Jahre
Die Zeiten, sie sind nicht so, dass in unseren Hohen Schulen ein gelehrter und kreativer Kopf sich in Konzentration und Kontinuität seiner forscherischen Aufgabe hingeben kann. Und: Die Zeiten, sie sind nicht so, dass die Gesell- schaft gleich welchen Landes und welcher Kultur es sich leisten könnte, auf den Ertrag der kreativen Arbeit des gelehrten Kopfes zu verzichten. Dies ist die sehr einfache Überlegung, die zur Konzeption und Gründung eines Wissen- schaftskollegs zu Berlin geführt hat. Einer Institution, die es auf deutschem Boden noch nicht gab, die auch den anderen europäischen Ländern kaum ver- traut war, für deren Funktion aber die USA eindrucksvolle Beispiele geliefert haben, allen voran das nun schon über ein Dreivierteljahrhundert blühende und auch vom Efeu des Legendären umrankte Princeton. Wer anfängt, hat die Chance, Traditionen zu stiften. Von diesen Tradi- tionen und wie sie aus dem Miteinander der Fellows und der Institution ent- standen, sollen im Folgenden einige Streiflichter festgehalten werden. Zen- trale Fragen des Wissenschaftskollegs sieht man hier im Entstehen: Sollen nur Einzelwissenschaftler eingeladen oder nicht vielmehr Themenschwer- punkte gebildet werden, zu denen kleinere Gruppen von Fellows eingeladen werden? Wie sollen die wissenschaftlichen Kolloquien der Fellows gestaltet werden – mehr für die Öffentlichkeit oder mehr zur internen Selbstverständi- gung gedacht? Wie kann man Naturwissenschaftler von den besonderen Chancen eines Aufenthalts am Wissenschaftskolleg überzeugen? Welche Mög- lichkeiten bieten sich an, um die Zusammensetzung der Jahrgänge im Hin- blick auf Alter, Geschlecht und Herkunft der Fellows zu diversifizieren? Wel- ches Minimum an Regeln für ein gemeinsames Leben und Arbeiten am Wis- senschaftskolleg erweist sich als unabdingbar? All diese Fragen sind Themen mit Variationen, und so werden sie auf den folgenden Seiten auch zu lesen sein. Sie wurden begleitet und akzen tuiert durch das zuweilen leise und karge, zuweilen heftige und überquellende Gespräch der Fellows miteinan- der, untereinander, gegeneinander – wie auch mit dem Rektor, seinen akade- ECKART FREHLAND · NORBERT FREI · UTE FREVERT · BRUNO S. FREY · ANGELA FRIEDERICI ·
78 mischen Beratern und der Ver wal tung. Zwischen den Zeilen der folgenden Seiten mag etwas von dem deut lich werden, was als Voraussetzung und Folge PETER WA der wissenschaftlichen Kommunikation die Lebenswirklichkeit dieses ‚convi- vium‘ geprägt hat, das Miteinander in Spannung und Gelassenheit, in Provo-
P kation und Konsens, in Respekt und Fairness, woraus zuweilen auch Freund- NE schaft wurde. W
SKI Um einen Eindruck von der Lebendigkeit dieser Traditionsbildung in den Anfangsjahren zu vermitteln, habe ich davon abgesehen, mich allein auf das täuschende Zeugnis des eigenen Gedächtnisses zu verlassen. Ich nehme viel- mehr Überlegungen und Beobachtungen auf, die in die Vorreden der Jahrbü- cher des Wissenschaftskollegs zu den fünf ersten Jahrgängen eingegangen sind – aus dem unmittelbaren Eindruck der einzelnen Jahre.
1981/82
„Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage.“ Diese Feststellung des ostpreußischen Berliners E.T.A. Hoffmann leitete die Feier- stunde ein, mit der am 6. November 1981 die Arbeit des Wissenschaftskollegs zu Berlin offiziell begann. Um die ersten 18 Fellows waren die Freunde und Patrone des Hauses versammelt, unter ihnen der Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker und der Berliner Senator für Wissenschaft und Kunst Wilhelm A. Kewenig; aus der Regierungsstadt Bonn war unter anderen der Bundesminister für Forschung und Technologie Andreas von Bülow gekom- men. Das eigentliche Ereignis aber war die Festrede des großen alten Mannes Gershom Scholem. Weisheit und Wissen, Gelehrsamkeit und Witz waren darin, und ein Rest von Geheimnisvollem, das sich aller Aufschlüsselung ver- weigert, weil es angesiedelt ist in dem Bereich, der höher ist denn alle Ver- nunft. Seine Rede bildete das Zentrum dieser Feierstunde, so wie er selber ungewollt zum Zentrum der ersten Fellow-Crew geworden war – die mehr verlor als nur einen großen Kollegen, als er nach den Weihnachtsferien 1981/82 nicht mehr zu uns zurückkehren konnte. Die erste Crew, die der Pilgerväter und -mütter, hatte in vieler Hinsicht das Glück und die Last des Anfangs zu tragen. Sie konnte Tradition begrün- den, nicht aber sich schon auf Tradition stützen. Sie konnte Zeichen setzen, nicht aber sich an schon gesetzte Zeichen halten. Dieser erste Jahrgang war in höherem Maße als eigentlich wünschenswert aus Improvisation und Zufall komponiert, doch hat er die Chance der Nullpunkt-Situation genutzt, ohne sich durch ihre Nachteile wesentlich irritieren zu lassen. Die Zusammenset- zung unterstand nicht zuletzt pragmatischen Gesichtspunkten: Es war keine Zeit geblieben, um die Vorauswahl und Auswahl aus dem notwendigen Ab- ALBERT FRIEDLANDER · SAUL FRIEDLÄNDER · LAURENCE M. FRIEDMAN · JUDIT FRIGYESI · stand von etwa zwei oder drei Jahren zu betreiben. So mancher, den das Kol- 79 leg sich als Fellow der ersten Stunde gewünscht und der seinerseits gern sein D
Jawort gegeben hätte, musste fernbleiben, weil die Umstellung der Arbeits- IE ERSTEN FÜN und Lebensumstände binnen kurzer Zeit nicht gelingen konnte. Die Auswahl war darauf bedacht, die notwendigen Prämissen zu beachten, als da sind: die angemessene Mischung von Deutschen und Ausländern, von männlichen und weiblichen Wissenschaftlern, von Jugend und Alter und von sich berüh- F JAHRE renden und ergänzenden Fachdisziplinen. Doch konnte eben dieser Entwurf nur in einem Punkte konsequent durchgehalten werden: in dem satzungsbe- dingten Willen, keine Konzession an die wissenschaftliche Qualität zu ma- chen. Dieses Haus hat sich nie lauthals gerühmt, eine Pflege- und Bildungs- stätte für eine Elite zu sein. Aber die Tatsache der Bereitstellung öffentlicher Mittel zum Zwecke einer von allen Lehrverpflichtungen dispensierenden freien Forschungszeit bedeutet eine Privilegierung, die sich nur rechtfertigen lässt durch die Leistung. Mit den improvisatorischen Momenten der Vorbereitungsphase hing es zusammen, dass bestimmte Fächer im ersten Jahr unterrepräsentiert waren, dass vor allem die Naturwissenschaften fehlten – was alles andere als ein ge- wollter konzeptioneller Akt war. Aber es zeigte sich, dass Naturwissenschaft- ler schwerer herauszulösen sind aus ihrem Tätigkeitsfeld, dass sie stärker eingebunden sind in Team und Apparatur als die geisteswissenschaftlichen Kol legen und dass man ihnen mehr Zeit geben muss zur Vorbereitung und Entscheidung. Deutlich wurde, dass die erwünschte Konfiguration von Interessen, Me- thoden und Fächern nur durch eine stärker planende Systematik zu verwirk- lichen ist. Die Frage, ob am Anfang die themenbestimmte Gruppe (Cluster) stehen soll oder der jeweils Einzelne, der mit dem jeweils anderen Einzelnen dann zum themenbestimmten Verbund zusammenwächst, blieb eine stän- dige Zweifelsfrage – und sie ist es in gewisser Weise bis zum heutigen Tag ge- blieben. Sie wurde im Wissenschaftskolleg auf dem Wege des Kompromisses gelöst, und zwar insofern, als sich aus den vielfältigen Diskussionen mit dem Wissenschaftlichen Beirat und den Fellows Schwerpunkte herauslösten, auf die hin Einzeleinladungen ausgesprochen wurden. Allerdings wurden Fellows nie nur im Hinblick auf ein Schwerpunktthema eingeladen, sondern stets als Einzelpersonen mit ihrem spezifischen Forschungsprojekt. Bestimmten Wis- senschaftlern in als zentral eingeschätzten Feldern wurde bei der Vorplanung die Frage gestellt nach jenen Kollegen (auch anderer Disziplinen), mit denen sie sich eine sinnvolle und fruchtbare Zusammenarbeit vorstellen konnten oder wünschten. Auf solche Weise entstanden in jedem Jahr etwa drei oder vier Gravitationsfelder. Zwischen ihnen bewegten sich dann, verbindend oder auch in schöner Beschränkung auf das Eigene, die freischwebenden Gelehr- BRUNO FRITSCH · JANE F. FULCHER · RAGHAVENDRA GADAGKAR · WULF GAERTNER · HEINZ P. GALLER ·
80 ten, auf die wir, Erfahrungsbegriffe wie Einsamkeit und Freiheit und einen sich schützenden Individualismus respektvoll achtend, nicht verzichten woll- PETER WA ten. Als praktische Regel hat sich herausgestellt, dass in keinem Jahrgang mehr als 40 Prozent aller Einladungen im Hinblick auf Schwerpunktthemen
P ausgesprochen werden sollten. NE Schon aus der Zusammensetzung der ersten Crew ergab sich sehr bald W
SKI und zwanglos eine Schwerpunktlandschaft, gebildet aus den Bereichen Lite- ratur und Literaturwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Ökonomie. Dabei machten wir die überraschende Erfahrung, dass es nicht die scheinbar oder tatsächlich durch Thematik und Fach vorge- gebene Interaktion war, die den wissenschaftlichen Austausch bewegte, son- dern der Grenzverkehr zwischen den scheinbar einander nicht zugewandten Provinzen. Die Literaten und Literaturwissenschaftler etwa ließen sich be- stimmen von Impulsen, die aus den Arsenalen der anderen Geisteswissen- schaften kamen. Eine produktive Enttäuschung, der gleichen wir viele erlebt haben mit jenen um Schwerpunktthemen grup pierten Fellow-Einladungen. Das Wissenschaftskolleg lebte in diesen Anfangsjahren von Mitteln der Öffentlichen Hand und der – damals so genannten – Stiftung Volkswagen- werk (heute: VolkswagenStiftung). Es hatte die Pflicht, eben dieser gebenden Öffentlichkeit die angemessene Verwendung der Mittel darzulegen. Das konnte nur mit Hilfe jener Instrumente geschehen, welche die der geförder- ten Institution sind: mit Hilfe also der öffentlichen wissenschaftlichen De- monstration. So stand am Anfang aller diesem Komplex geltenden Überlegun- gen die unbezweifelte Konzeption öffentlicher Kolloquien. Dass eine jede solche Veranstaltung Funktion des Temperamentes, der Wissenschaftlichkeit des Themas und der Äußerungsformen des jeweiligen Vortragenden ist, wurde nur allmählich verstanden. Hier musste Flexibilität erst eingeübt wer- den, um zu lernen, dass es dem Vortragenden und seinem Gegenstand in souveräner Freiheit anheimgegeben ist, die Praxis seines Auftritts selber zu gestalten. Er mochte eine öffentliche Vorlesung in großem Hörsaal halten, einer Seminarsitzung präsidieren mit vorbereiteten Ko-Referenten oder ohne sie; er mochte in kolloquialem Stil Fragmentarisches bieten oder in ausge- feilter Rede ein in sich geschlossenes Werk vorstellen; er mochte im kleinen Kreise der Fellows Vor- und Nachbereitung üben oder die Öffentlichkeit ein- schränken auf die Teilnahme nur einiger fachlicher Experten aus den Berli- ner wissenschaftlichen Instituten; er mochte schließlich aus seiner Arbeit heraus einen Workshop bilden mit Teilnehmern von nah und von weither, der sich über Tage hinzog – all diese unterschiedlichen Formen der Vorstel- lung sollten möglich und willkommen sein. Interesse und Engagement der Berliner Öffentlichkeit, insbesondere der Kollegenschaft aus der Freien Universität und der Technischen Universität, JOHAN GALTUNG · MAURICE GARDEN · ALDO GIORGIO GARGANI · MERRILL GARRETT · waren von Anfang an groß. Die akademisch-intellektuelle Welt bedarf der 81 Kristallisationspunkte für die ungezwungene, aber doch der Disziplin gemein- D samer Denkanstrengung unterworfene Zusammenkunft. Das Wissenschafts- IE ERSTEN FÜN kolleg hatte die Chance, die Funktion eines von wechselnder wissenschaft - licher Thematik strukturierten akademischen Clubs wahr zunehmen. Die akademische Welt ist, wie allgemein bekannt, ein in sich schwieriger und von heiklen Kräften und Emotionen bewegter Komplex, dem man in höherem F JAHRE Maße als die deutsche Universität und ihr zur Ideologie empor gesteigerter Individualismus es will, die Chance zur Übung von Zwischenmenschlichkeit und Geselligkeit geben muss. Die Beziehungen des Wissenschaftskollegs zu den beiden großen West- Berliner Universitäten waren anfangs, jenseits des erwähnten allgemeinen Interesses und der Neugier, auf beiden Seiten von Zurückhaltung geprägt. Aber alle Beteiligten scheuten die Auseinandersetzung nicht, daraus wurde schließlich eine Haltung der Über einkunft, wie sie sich aufs eindrucksvollste niederschlug in der ‚Koope ra tions verein ba rung zwischen den Universitäten des Landes Berlin (Freie Universität Berlin und Technische Universität Berlin) und dem Wissenschaftskolleg zu Berlin – Institute for Advanced Study‘. Die beiden Universitätspräsidenten und der Rektor des Kollegs unterzeichneten sie im Juni 1982. Das Wissenschaftskolleg war bestrebt, das Maß der ordnungsstiftenden Regularien und der bindenden Verpflichtungen für seine Fellows auf das un- erlässliche Minimum zu beschränken. Das Bewusstsein, ein Service-Unterneh- men zu sein für die Entfaltung kreativer intellektueller Energien, gehörte zu den grundsätzlichen Voraussetzungen des Engagements und der Tätigkeit eines jeden Mitarbeiters. Auf der anderen Seite waren sich auch die Fellows dessen bewusst, dass sie zu einer bloßen Addition von wissenschaftlichen Mo- naden zerfallen würden, wenn sie nicht bestimmte For mationen des Gemein- samen und der Gemeinsamkeit bildeten, anerkannten und ihnen auch einen Teil der persönlichen Willkür zu opfern bereit waren. Die gemeinsame Mahl- zeit fünf Mal in der Woche; die Bereitschaft, als Gast des Wissenschaftskollegs zu Berlin konsequent am Ort sich aufzuhalten; und das Akzeptieren und Üben bestimmter, den Umgang miteinander erleichternder und prägender Formen waren und sind die gewiss nicht unangemessenen Verpflichtungen. Der erste Jahrgang bewährte seine Substanz nicht nur in dem, was er aus dem Angebotenen nutzte und umsetzte in wissenschaftliche Arbeit, sondern auch in dem, was er (allermeist klaglos) entbehrte. So lebhaft der Applaus für die Leistung der Bibliothek war, so deutlich war das Missvergnügen angesichts von Unzulänglichkeiten des Fellow-Sekretariates, und mit gedämpfter Stim me wurde auch die Qualität des Essens getadelt. Dies und anderes konnte mit eini- gen entschiedenen Maßnahmen geändert werden, und schon die Fellows der KEVIN J. GASTON · HANS-MARTIN GAUGER · ALEXANDER GAVRILOV · PETER GAY · CLIFFORD GEERTZ ·
82 zweiten Crew genossen die Früchte der Saat des Entbehrens ihrer Vorgänger. Besonderer Erwähnung bedarf, mit welch großem Maß an Takt, verzeihen- PETER WA dem Verstehen und überlegenem Improvisationsvermögen die Misshelligkei- ten bewältigt wurden, die aus dem Bezug unfertiger Wohnungen entstanden.
P Hier war das Kolleg auf peinliche Weise im Stich gelassen worden von den NE zuständigen Firmen und Handwerkern, und niemandem wäre es zu verargen W
SKI gewesen, hätte er auf solche Unzulänglichkeiten mit unwirschem Protest rea- giert. Stattdessen entwickelte sich sehr bald eine Art von Kompen sationsethik, die mit Wohlgefallen auf die zwischenmenschlichen Kontakte verwies, wie sie sich notwendig ergeben aus dem Zwang der nachbarlichen Hilfe und Bera- tung: der Mangel als Voraussetzung der Begegnung, der Defekt als Mittel der Kooperation.
1982/83
Dieses neue Jahr sollte nicht vor allem Fortsetzung, sondern auch ein neuer Anfang sein. Gemäß dem Willen des Planungskonzepts steigerte sich die Zahl der Stipendiaten auf 25. Sie wurde noch erhöht durch Gäste des Rektors, die für einige Wochen kamen, um durch ihre Kompetenz Arbeitsvorhaben und Seminarunternehmungen zu komplettieren und einzelne Fellows zu unter- stützen. Die Zusammensetzung des Jahrgangs war noch ohne eine systemati- sche Schwer punktbildung vorgenommen worden. So bestand er aus Vertretern vieler, vielleicht allzu vieler Disziplinen: Mathematik, Biophysik, Psy chologie, Soziologie, Politologie, Rechtsgeschichte, Volkswirtschaftslehre, Philosophie, Geschichte, Klassische und Mediävistische Philologie, Literaturwissenschaft und Musik. Teilte man diese Gebiete statistisch auf, so zeigte sich, dass keinem von ihnen auch nur zwei Fellows verbunden waren. Das bunte Bild mochte seine Vorzüge haben und eine gewisse Lebhaftigkeit garantieren, aber die Planung der nächsten Jahre sollte dank dem größeren zeitlichen Vorlauf dazu führen, die organische Struktur von Forschungsfeldern und ihre gewünschte Überschneidung oder Berührung strikter zu betreiben. Ungebärdiger als der Staat, der die Autonomie des Hauses sorgsam respek- tierte, meldete die Öffentlichkeit ihre Erwartungen und Forderungen an und wünschte teilzuhaben an der Arbeit des Kollegs und seiner Gäste. Die nach- haltigste Form einer solchen Präsentation war die der Kolloquien. Wie schon im ersten Jahr galt die Bitte an jeden Fellow, einmal in den zehn Monaten seines Berliner Aufenthaltes aus seinem Arbeitsbereich zu berichten – in wel- cher Form auch immer: als Vortrag, als Seminar, als Laborstunde, sei es vor einer unbegrenzten (nur durch die Raumgegebenheiten eingeschränkten) Öffentlichkeit oder vor wenigen zusätzlich geladenen Fachgenossen oder THOMAS GELZER · JÜRGEN GERHARDS · ROBERT GERNHARDT · RAYMOND GEUSS · MICHAEL T. GHISELIN · auch nur vor der vertrauten Kollegenschaft der Fellows. Diese Zusammen- 83 künfte fanden in den ersten vier Jahren nicht an den später kanonisierten D
Dienstagvormittagen, sondern an Mittwochabenden statt. Die sich anschlie- IE ERSTEN FÜN ßenden Debatten mit dem abschließenden Glas Wein sollten für das intellek- tuelle Berlin ein wichtiger Ort werden, an dem wissenschaftlicher Diskurs und gesellige Kommunikation sich trafen und verbanden. Freilich war unver- kennbar, dass bereits diese Form der Verpflichtung von manchen der Fellows F JAHRE als belastend empfunden wurde. Tatsächlich unterstand der Veranstaltungs- kalender des Hauses auf irrationale Weise dem Gesetz der sich mehrenden Termine: Ein Unternehmen erzeugte aus sich heraus weitere und zog andere nach sich, und in der Praxis wurde nahezu jede Arbeitswoche akzentuiert durch mindestens einen gemeinsamen Abend. Neben diesen öffentlichen Veranstaltungen gewannen die das innere Leben des Instituts strukturierenden internen Workshops zunehmend an Ge- wicht. Sie erstreckten sich meist über zwei bis vier Tage, zu ihnen wurden kompetente Fachgenossen aus dem In- und Ausland als Gäste des Kollegs gela- den, und sie ließen zuweilen auch, je nach Art des Themas und Tempera- ments des Veranstalters, eine limitierte Zahl Berliner Teilnehmer zu. Von in- tensiver Ausstrahlung war ein fast einwöchiges Seminar, das der französische Historiker Philippe Ariès vorbereitet hatte und unter dem Titel ‚L‘Espace privé‘ durchführte: Eine von romanischer Clarté, angelsächsischer Pragmatik und deutschem Problembewusstsein stimulierte Veranstaltung, die in vielen Zungen französisch sprach und die neben anderen willkommenen Gästen auch Norbert Elias ins Haus brachte. Zu den ermutigenden Posten der Bilanz gehörten auch die praktischen Erfahrungen im persönlichen und sachlichen Umgang mit den beiden gro- ßen Universitäten Berlins (deren Präsidenten Mitglieder des das Kolleg tragen- den e.V. sind). Die Kooperationsverträge hatten nach ihrer Unterzeichnung Klimatrübungen, wie sie anfangs die Beziehung unnötig irritierten, bereinigt. Die Konsultationen – insbesondere die Einladungen von Fellows betreffend – verliefen reibungslos und zu beiderseitigem Nutzen. Auch Senat und Abge- ordnetenhaus von Berlin demonstrierten weiterhin ihre Verantwortung für das Kolleg und sicherten die sogenannte mittelfristige Finanzierung – soweit das Land Berlin beteiligt war. Dem Abgeordnetenhaus wurde der Abschlussbe - richt, die Errichtung der Wissenschaftsstiftung Ernst Reuter betreffend, vor- gelegt. Die Stiftung Volkswagenwerk, ohne hin verdient um das Kolleg durch ihre großzügige Initialförderung, machte zu ihrem Ehrentage anlässlich ihres 20-jährigen Bestehens dem Kolleg ein imposantes Geschenk: nämlich das des gegenüberliegenden Hauses Koenigsallee 21 (Weiße Villa). Es konnte mit Mit- teln der Klassenlotterie umgebaut und den Zwecken unseres Instituts dien- lich gemacht werden, mit sechs Einzel-Appartements, der im ersten Stock MICHAEL GIELEN · ALFRED GIERER · INGRID GILCHER-HOLTEY · CLAUDE GILLIOT · MICHAL GINSBURG ·
84 untergebrachten Biblio thek und dem im zweiten Stock untergebrachten, da- mals so genannten Fellow-Sekretariat. Der Bedeutung dieser Erweiterung PETER WA entsprach es, dass Ende Januar 1983 der Bundespräsident Karl Carstens das Haus besuchte und seiner Bestimmung übergab.
P Zwischen den Fellows dieses Jahrgangs und dem Rektor und seiner Ver- NE waltung gab es lebhafte Diskussionen über die Regularien eines solchen In- W
SKI stituts. Einige Fellows betrachteten die temporäre, durch wissenschaft liche Bindungen begründete Interessengemeinschaft Wissenschaftskolleg als eine Kor poration, deren Funktion und Organisation durch ein hohes Maß von so genannter Demokratisierung möglichst weitgehend auf alle verteilt werden sollte. So war es denn auch überraschend für Leitung und Mitarbeiter des Hauses, dass im Einzelfall immer wieder Protest gegen die Einrichtung der gemeinsamen Mahlzeit laut wurde oder auch gegen den Versuch des Rektors, das von Widersprüchen nicht freie Leben des Gemeinwesens (eines Corpus ir- regulare) durch ein Mindestmaß sanfter Formerfüllung und behutsamer Ein- übung in ordnende Gewohnheiten zu gliedern. Da dieses mit Zurückhaltung praktizierte Reglement in keinem Falle oktro yiert und da niemals etwa die Frage der Präsenz am Ort oder zu den Mahlzeiten zu einer Sache der Kontrolle gemacht wurde, blieb es verwunderlich, dass Einzelstimmen mit dem negativ gemeinten Urteil „Sehr deutsch!“ zu vernehmen waren. Ein Zeugnis, das sich freilich schnell relativierte, als man auf das Gewicht verwies, das eine entspre- chende Zensur in einer britischen oder französischen Institution ähnlicher Art gehabt hätte. Auch das die Stipendienhöhe der Fellows regelnde Prinzip ‚no gain – no loss‘ geriet in die Kritik, nachdem sich herumsprach, dass einige Stipendiaten des Kollegs – bedingt durch die Anrechnung ihres heimischen Gehaltes – ein Einkommen in doppelter Höhe dessen bezogen, was anderen Stipendiaten zuerkannt worden war (und zwar bei extremer Nutzung der rechtlich gegebe- nen Möglichkeiten im Sinne der jeweiligen Anhebung). Dieses war gewiss kein glücklicher Zustand, doch war die Alternative, ihn etwa zugunsten eines weit- gehend egalisierten Gehaltes aufzuheben, noch weniger verlockend, weil sie den Verzicht auf die Einladung hoch dotierter und in Ländern mit starker Währung tätiger Wissenschaftler bedeutet hätte. Alles in allem: Die Phase unserer Gründerzeit war übergegangen in die des Jugendstils. Wir erwarteten, was auf sie folgen würde, im Gefühl der Neu- gier und der Hoffnung. CARLO GINZBURG · LUCA GIULIANI · PETER GLOTZ · LÁSZLÓ GLOZER · MAURICE GODELIER ·
1983/84 85 D
Wie die Planung es vorsah, hatte die Zahl der Einladungen sich wieder erhöht. IE ERSTEN FÜN Im dritten Jahr arbeiteten 30 Fellows am Wissenschaftskolleg. Was die Länder- statistik betrifft, so stammte etwa die Hälfte von ihnen – genau 13 – aus der Bundesrepublik, elf aus den USA, drei aus Frankreich, drei aus Israel und je einer aus den Niederlanden und aus Italien. Auffallend bei solcher Streuung F JAHRE war die Massierung der amerikanischen Wissenschaftler, man konnte hierin ein Symptom sehen für die führende Stellung dieser Nation in den Bereichen vor allem der naturwissenschaftlichen Forschung. ‚Die Besten‘ arbeiten offen- bar zu gutem Teil in Amerika, zumindest werden sie von Gutachtern und Be- ratern dort am deutlichsten wahrgenommen. Hatte die Auswahl für die ersten beiden Jahre sich im Wesentlichen zu- frieden geben müssen mit der Chance, die Besten zu finden, gleichviel auf welchem Gebiet, so konnte bei langfristig angelegter und systematischer Vo rausplanung nunmehr der Gedanke einer Bildung von Feldern, einer Her- stellung von Schwerpunkten mit systematischer Konsequenz praktiziert wer- den. Das dritte Jahr war das erste mit Erfahrungen auf diesem Gebiet. Die Einladungen ließen klar abgrenzbare, aber sich bewusst auch überschnei- dende Bereiche erkennen, vor allem ein eindeutiges Gravitationsfeld in der Naturwis senschaft: Biologie, Genetik, Wissenschafts theo rie und -geschichte (etwa die Hälfte der Einladungen); daneben kleinere Schwerpunkte im Be- reich mikro- öko nomischer Fundierung makro-ökonomischer Modelle und der Kunst ge schichte. Die Vorzüge solcher Struktur waren kalkuliert worden. Das unverbindliche, wenngleich im Einzelfall reizvolle und stimulierende Nebeneinander wich der Zentrierung kleiner Gruppen um ein Thema gemein- samer Bemühung und gemeinsamen Interesses, damit konzentrierte sich die fachliche Diskussion und versachlichte sich die Debatte. Auch intensivierte sich der Kontakt zu anderen, an der strengen und kontinuierlichen Erörte- rung der Probleme interessierten Forschern in Berlin. Um es mit einem Schlagwort anzudeuten: Die wissenschaftliche Atmo- sphäre wurde professionalisiert. Aber in ebensolcher Entwicklung zur Grup- pierung und Konzentration lag natürlich auch ein Nachteil, vielleicht eine Gefahr: Die Arbeit mochte sich gelegentlich egalisieren zu einer Art von Pro- jektforschung (welche besser an dafür spezialisierten Instituten durchgeführt wird). Auch war die (unbewusste und ungewollte) Neigung zu einer gewissen Abschließung zu beobachten (etwa der Ökonomen), was gegenüber anderen Fellows die Wirkung einer gewissen Distanzierung haben konnte. Daraus war zu lernen, was man freilich zuvor schon vermuten konnte: Bei der Bildung wissenschaftlicher Gruppen ist es eine Sache des Kunstgeschicks, das rechte Maß für Nähe wie für Ferne zu finden. Das will heißen: Der Nähe bedarf es, RAINER GOEBEL · LYDIA GOEHR · ALTAN GOKALP · NILÜFER GÖLE · JACOB GOLDBERG ·
86 um die Intensität kompetenter wissenschaft licher Kommunikation zu ermög- lichen, das intime sachgerechte wechselseitige Verstehen; der Ferne wie- PETER WA derum bedarf es, um die durch Fremdheit und Unbefangenheit sich bietende überraschende Idee, die weiterführende Wendung zu finden. Bei solcher Er-
P kenntnislage aber ist es für die Planung der Jahre und ihrer dominierenden NE Wissenschaftsfelder geboten, sich des grundsätzlich spekulativen und vorläu- W
SKI figen, weitgehend im Bereich von Hoffnung und Erwartungen angesiedelten Charakters aller Voraussicht bewusst zu bleiben. Einfacher ausgedrückt: Eine Auswahl im Sinne disziplinärer Gruppenzugehörigkeit ist sinnvoll und an- strebenswert, doch darf sie die Planung nicht vorrangig beherrschen. Die Einladung eines jeden einzelnen Wissenschaftlers muss sich nach wie vor aus sich selbst heraus rechtfertigen. Die finanzielle Basis des Wissenschaftskollegs wurde nach wie vor von den staatlichen Zuwendungsgebern und ihrem Wohlwollen getragen. Hier bedurfte es weiterhin der beharrlichen und nicht ermüdenden Bemühungen beider Seiten. Die der Initialförderung dienenden Mittel der Volks wagen - Stiftung liefen 1984 aus, ihr Anteil wurde seit 1985 durch das Bundesministe- rium für Forschung und Technologie und das Land Berlin übernommen. Der geplante Neubau auf dem Nachbargrundstück Wallotstraße 21, dringend er- forderlich für die Erweiterung der Arbeitsräume der Fellows, konnte finan- ziell abgesichert werden. Es gehört zu den Schwierigkeiten bei der (immer wieder von außen er- warteten) Selbstdarstellung eines Hauses wie des Wissenschaftskollegs, dass die eigentliche Arbeit, nämlich die individuelle Forschungsleistung, sich im Stillen und unvermerkt vollzieht – so liegt es in ihrem Wesen und im Wesen des Fellow-Stipendiums. Aber das Bild der Institution wird nach außen hin ge prägt und akzentuiert durch wissenschaftliche Aktivitäten des zweiten Gra- des, nämlich durch Veranstaltungen mit (begrenztem) Öffentlichkeits cha rak- ter: Kolloquien, Seminare, Workshops, Symposien. Die Liste der Veranstaltun- gen des dritten Jahres war groß, manche meinen: zu groß. Aber es gab eine berechtigte und verständliche Erwartungshaltung des intellektuellen und akademischen Berlin. Ihr gerecht zu werden, war nicht nur eine Geste der Fellows gegenüber den Gastgebern, sondern bedeutete zugleich eine Berei- cherung auch für sie selbst, indem sie in stärkerem Maße mit der Wirklich- keit der Stadt, ihren Bewohnern und ihren Kollegen in Berührung kamen. Viele Besucher visitierten das Haus und seine Fellows, zuweilen kamen sie in kleinen Gruppen und von weither – so aus Japan – angereist und waren begierig, von unseren Erfahrungen zu hören. Die Zahl der öffent lichen Kollo- quien betrug 29, diese Veranstaltungen wurden vorbereitet, ergänzt oder be- gleitet durch hausinterne Seminare, die mit gewisser Regelmäßigkeit sich über Monate hinzogen. Der Schwerpunkt des einen: Geschichte, Soziologie ESTHER GOODY · JACK GOODY · VICTOR GOUREVITCH · ANTHONY GRAFTON · GYÖRGY GRANASZTÓI · und Philosophie der Wissenschaften. Der des anderen war den ökonomischen 87 Wissenschaften zugeordnet. D
Merklich und jedem Kenner der ersten beiden Jahre auffallend war eine IE ERSTEN FÜN Veränderung der Atmosphäre, des Umgangsstils, des Miteinanders. Die Jeans- und Bart-Generation bestimmte jetzt auch das Bild der professoralen Welt, und die Prädominanz des amerikanischen Elements verstärkte den legeren
Ton. Vielleicht lässt sich der veränderte Zustand in die Formel fassen: Anfangs F JAHRE wurde Formlosigkeit nicht als störend empfunden. Heute werden Formen nicht als störend empfunden. Der Grundsatz, dass im Wissenschaftskolleg jeder sich in der Sprache ausdrücken soll, in der er sich und seine Wissen- schaft am klarsten verständlich machen kann, brachte es mit sich, dass das amerikanische Englisch tonführend wurde und man beim Besuch der Mahl- zeiten oder der gemeinsamen wissenschaftlichen Veranstaltungen das Gefühl haben konnte, Gast in einer amerikanischen Universität zu sein. Dieser Zu- stand war gewiss kein Anlass zu kulturkritischen Jeremiaden, sondern be- stärkte uns in der Absicht, im Gegenzug Deutsch als Wissenschaftssprache vor allem auf dem Felde der Geisteswissenschaften und ihrer genuin europäi- schen Tradition nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Zu diesem Zweck werden seit 1986 begleitende Deutschkurse für Fellows und ihre Familienan- gehörigen angeboten, seit dem Jahre 2000 gibt es im September jeden Jahres einen sechswöchigen vorbereitenden Deutschkurs. Erneut bedacht und mit den Vertretern der Fellows erörtert werden musste die Praxis des öffentlichen Kolloquiums. An der Idee sollte nicht gerüt- telt werden, doch musste es möglich sein, den Fellows das Prinzip dieser Ver- anstaltung deutlicher zu machen, als dies bisher gelang. Denn es ging ja um nichts anderes, als dem Fellow die doch gewiss auch ihm erwünschte Gelegen- heit zu geben, sich seines Arbeitsvorhabens zu vergewissern; darzulegen, welcher Art das ihn beschäftigende wissenschaftliche Problem ist, welche Mittel zu seiner Lösung führen können und wie weit der Weg zu einer solchen Lösung schon beschritten worden ist. In des Wortes präzisem Sinne also: Werk stattgespräch. Zu seinem Wesen gehört das Fragmentarische, das Unvoll- kommene, das Fragende und Fragliche, ein Selbstgespräch vor der Zeugen- schaft interessierter Fachgenossen oder aber auch mitdenkender Laien, das dann, falls gewünscht und angemessen, in eine weiterführende Diskussion übergehen kann. Eine solche provozierte Selbst vergewisserung wird am An- fang des Jahres ein anderes Gesicht haben als in seinem weiteren Verlauf und zu seinem Ende, je nach dem Stadium der Arbeit und ihrem Fortschreiten. Dieses Konzept wurde nicht von allen verstanden oder angenommen. Viele Fellows zogen es vor, sich mit einem sachlich wie stilistisch abgerundeten und abgeschlossenen Vortrag zu präsentieren – was niemandem verwehrt werden darf, auch wenn die Idee des Kolloquiums die des Blicks in den jeweili- STEPHEN GREENBLATT · CHRISTOPHER GREGORY · JAMES R. GRIESEMER · STEN GRILLNER · DIETER GRIMM ·
88 gen Zustand eines Arbeitsprozesses und der ihn treibenden Motive sein sollte: eben Work in Progress. PETER WA
P 1984/85 NE W
SKI Das Wissenschaftskolleg wuchs in diesem vierten Jahr allmählich heraus aus der juvenilen Phase der diskutierenden Selbstbefragung, Sinnerörterung und Zweckbegründung. Das Haus hatte 35 Fellows eingeladen, wiederum ein Kon- zept anbietend, das eine Kombination von Themenfeldern und von Einzelgän- gern darstellte. Die Schwerpunkte verteilten sich auf die Gebiete: Geschichte und Wesen des Dramas; Bach-Jubiläumsjahr (1685/ 1985); Antike Philosophie; Politische Ökonomie; Ther modynamik. Um diese Bereiche gruppierten sich die Einzeleinladungen, von denen zu hoffen war, dass sie sich durch die Gravi- tationsfelder jeweils angezogen fühlten. Gliederte man die Fellows nach ihrer Herkunft auf, so dominierten die Bundesdeutschen (13) und die US-Amerika- ner (12). Die übrigen Gruppen schlossen sich dem auf unerwünschte Weise dis- propor tioniert an: drei Polen und je ein Repräsentant Großbritanniens, Israels, Frankreichs, Österreichs und der Schweiz. Dass der Nahe und Ferne Osten, dass Südamerika so spärlich vertreten waren, widersprach durchaus der Absicht der Planungen und entzog sich weitgehend rationaler Erklärung. Das Gleiche galt für einige europäische Nationen wie Spanien oder Griechenland. Zu den negativen Posten dieser Bilanz zählte wiederum die Ergebnislosigkeit unserer Bemühung um Kollegen aus der DDR wie aus anderen osteuropäischen Län- dern. Wir ließen freilich nicht ab von unserem Werben und konnten erstmals im Jahre 1988/89, also noch vor dem Fall der Berliner Mauer, einen Fellow aus der DDR begrüßen. Eine andere Statistik spiegelt das Alter, die dritte das Geschlecht der Fel- lows. Wir waren nachdrücklich bestrebt, auch junge Wissenschaftler zu ge- winnen. Die Schwierigkeit lag darin, dass in vielen Fällen ihre Reputation verständlicherweise noch nicht fixiert, das Urteil der Fachgenossen also zu- rück haltend war. Andererseits fürchten viele junge Wissenschaftler, in einem Augenblick, der für ihre Karriere entscheidend ist, ihr Labor zu verlassen, um eine Einladung ans Wissenschaftskolleg anzunehmen. Wenn zu bedauern war, dass nur fünf der Fellows weiblichen Geschlechts waren, so sollte man bedenken, dass das Wissenschaftskolleg bei der Auswahl vergleichbaren Schwierigkeiten gegenübersteht wie bei der Suche nach Nach- wuchs-Wissenschaftlern. Auch in dieser Sache sollten die Bemühungen nicht nachlassen. Wir hatten den Ehrgeiz, wenigstens in unserem kleinen Bereich die erbärmliche Zahlen-Relation weiblicher und männlicher Professoren an den deutschen Universitäten zu konterkarieren. RUSLAN S. GRINBERG · VALENTIN GROEBNER · PASCAL GROSSE · RAINER GRUENTER · HAJO GRUNDMANN ·
Die räumlichen Gegebenheiten des Kollegs waren zwar nicht bedrän- 89 gend, aber doch nach wie vor unzulänglich. Und zwar sowohl, was die Arbeits- D möglichkeiten der Fellows und der Mitarbeiter wie auch, was die Wohnungen IE ERSTEN FÜN betraf. Auch hier aber konnte man zuversichtlich sein. Der nachbarliche Neu- bau in der Wallotstraße 21 (Architekt Burckhardt Fischer) wuchs sichtlich und eindrucksvoll. Die Belästigung durch den Arbeitslärm hielt sich in den
Grenzen des Zumutbaren, und mit der Fertigstellung war im Sommer des F JAHRE Jahres 1986 zu rechnen, so dass schon der nächste Jahrgang davon profitier- ten konnte. In diesem Neubau (wie er seitdem heißt) befinden sich drei wei- tere Großraum-Appartements und 18 Studios, außerdem die Wohnung des Haus meisters – was der Wohlfahrt aller Fellows zugute kommt. Was die Fellow-Wohnungen anging, so war der aktuelle Zustand insofern misslich, als sie verstreut und dem Kolleg nicht immer nah genug gelegen waren. Damit musste das Wissenschaftskolleg notgedrungen auf die Vorzüge eines Campus verzichten, die in dem nicht forcierten, sondern selbstverständ- lich herbeigeführten Kontakt aller mit allen bestehen. Das sollte sich zum Besseren wenden, als dann 1986 in der Koenigsallee ein Wohnkomplex (Villa Walther) entstand, der es erlaubte, nahezu sämtliche Fellow-Familien in einer Distanz von fünf Gehminuten zum Mutterhaus in der Wallotstraße unterzu- bringen. Die wissenschaftliche Arbeit und damit die raison d‘être des Kollegs wurde im vierten Jahr stärker noch als in den Jahren zuvor akzentuiert durch Gruppenbildungen, das heißt, durch die sich um bestimmte und lang voraus- geplante Schwerpunkte und Interessenfelder sammelnden forschenden, dis- kutierenden, referierenden Aktivitäten. Dabei handelte es sich um Gruppen in den Bereichen Antike Philosophie, Thermodynamik, Politische Ökonomie, Musik sowie Geschichte und Wesen des europäischen Dramas. Diese Arbeits- kreise setzten sich jeweils aus drei bis fünf Teilnehmern zusammen, im Ein- zelnen fluktuierte die Zahl gemäß der Fluktuation der Interessen. Aus ihrer Mitte bildeten sich wie schon in früheren Jahren und gewissermaßen mit or- ganischer Logik Pläne für Symposien (Konferenzen, Workshops, Kolloquien), die sich in Realität umsetzen konnten – nicht zuletzt dank der Förderungswil- ligkeit von Stiftungen und dem Kolleg wohlgesonnenen Institutionen. An ihnen nahmen neben den Fellows viele Fachkollegen von den Berliner Univer- sitäten, aus der Bundesrepublik und dem Ausland teil. Es gab Innovationen institutioneller Art: Die Altfellows – immerhin gab es schon drei Jahrgänge – schlossen sich zu einem e.V. zusammen, was aus rechtlich-finanziellen Gründen geboten war, und viele von ihnen besuchten, freudig wiederbegrüßt, das den akademischen Jahresabschluss markierende Sommerfest. Weiterhin bildete sich ein Freundeskreis des Wissenschaftskol- legs zu Berlin, eine Kongregation, die sich auf die dankenswerte Initiative der ANTONIA GRUNENBERG · ANDREAS GRUSCHKA · ROSSITZA GUENTCHEVA · DAVID GUGERLI ·
90 Stiftungsratsmitglieder E. H. Bernhard Plettner und Edzard Reuter hin zu- sammengefunden hatte, um dem Kolleg Förderungsmittel zugute kommen PETER WA zu lassen, die von der Öffentlichen Hand nicht gewährt werden konnten. Die wichtigste Veränderung betraf die innere und administrative Struk-
P tur des Kollegs in Gestalt eines zweiten Permanent Fellows. Wolf Lepenies trat NE dieses Amt im September 1984 an, nachdem er seit 1982 im Wissenschaftlichen W
SKI Beirat tätig gewesen war. Seine Präsenz prägte das innere Leben der Institution in entscheidendem Maße und sorgte dafür, dass ihr Zentrum das wissenschaft- liche Gespräch blieb und dass dieses Zentrum an Intensität und Aus strahlung wuchs. Der Biologe Gunther S. Stent (Berkeley) wurde zum externen Perma- nent Fellow ernannt, um dem Bereich der Biologie am Wissenschaftskolleg stärkeres Profil zu verleihen, wie dies der Wissenschaftsrat in seinem Gutach- ten aus dem Jahre 1982 vorgeschlagen hatte. G. S. Stent verbrachte in den fol- genden Jahren jeweils mehrere Monate als regelmäßiger Gast am Wissen- schaftskolleg. Eine Veränderung erfuhren die Mittwochabend-Kolloquien. Die gestie- gene Erwartung der Berliner Öffentlichkeit hatte dazu geführt, dass die vor- tragenden Fellows zwischen der Scylla der Expertenformel und der Charybdis populärer Aufklärung einen stets gefährdeten Kurs suchen mussten. Das konnte nicht immer gut gehen, und wir änderten demgemäß unser Konzept, indem wir die allgemeinen Veranstaltungen (auf die Berlins akademische Öf- fentlichkeit Anspruch hat) auf eine begrenzte Zahl beschränkten und jeweils am Donnerstagabend (seit 1998 am Mittwochabend) durchführten. Die inter- nen Kolloquien mit der ihnen gebührenden Arbeitsatmosphäre der intimen gelehrten Debatte wurden dagegen der Zahl nach vermehrt und auf den Dienstagvormittag gelegt – eine scheinbar nebensächliche Reform, deren Be- deutung nur der ermisst, der weiß, welches Gewicht das gemeinsame Kollo- quium im Leben eines jeden Fellows hat. Ist es doch die Gelegenheit, sein billet d‘entrée zu präsentieren und mit seinem Forschungsthema in den allgemei- nen Diskurs der Communitas einzugehen.
1985/86
Im fünften Jahr konnte die im Planungskonzept vorgesehene optimale End- zahl von 40 Fellows erreicht werden. Die Fellows kamen aus mehr als zehn Län dern, und endlich war auch die sogenannte zweite und dritte Welt spür- bar vertreten. Die Einladungen gruppierten sich gemäß den Vorstellungen des Wissen schaftlichen Beirats um die Schwerpunkte Naher Osten, Soziale Gerechtigkeit und soziale Verteilung sowie Architek turgeschichte (im Wech- selbezug zur Internationalen Bauausstellung – IBA – Berlin). Ferner eine RAMACHANDRA GUHA · ARSENJI GULYGA · KLAUS GÜNTHER · LARS GUSTAFSSON ·
Gruppe von Biologen und Medizinern, eine andere von Literaturwissenschaft- 91 lern und schließlich, wie gewohnt und bewährt, eine Anzahl freischweben- D der Gelehrter unterschiedlicher Disziplinen. Das Wissenschaftskolleg trat ein IE ERSTEN FÜN in das Stadium einer gewissen Normali tät – ein Zustand, der freilich alles an- dere war als Verfestigung im Sinne von Schematisierung und Erstarrung. Unter den 40 Fellows des Jahrgangs machten die Bundesdeutschen die
Majorität aus. In der nationalen Repräsentation folgten zahlenmäßig die US- F JAHRE Amerikaner und die Italiener (je fünf). Insgesamt waren 14 Nationen vertre- ten, unter ihnen einige zum ersten Mal, nämlich Japan, Indien, Marokko, die Türkei und Australien. Das Durchschnittsalter mochte insgesamt nach wie vor als zu hoch erscheinen, und mit Gewissheit blieb die Unter repräsentanz weiblicher Forscher ein Ärgernis. Gruppierungen, insbesondere nationale, sind in einem Hause wie dem Wissenschaftskolleg, das auf schwer definierbare Weise die Atmosphäre eines Seminars mit der eines Clubs verbindet, einem Familienverband vergleich- bar. Um es an einem Beispiel vorzuführen: Das Haus profitierte in diesem Jahr von dem Umstand, dass italienische Gelehrte – Frauen wie Männer – dem Ideal des uomo universale am nächsten gediehen sind. Die fünf transal pi- nen Kollegen, so unterschiedlich sie nach Mentalität und Charakter sein mochten, wirkten durch die humanen Impulse ihres Temperaments als Fer- ment der Komposi tion und führten der wissenschaftlichen wie der politi- schen Debatte die gleichen stimulierenden Energien zu wie sie als Experten der Kochkunst Formen sinnlichen Glücks in Theorie und Praxis lustvoll ver- wirklichten. Das Feld der wissenschaftlichen Arbeit formierte sich wie schon in den Jahren zuvor in Gruppen, die durch gemeinsame Kompetenz und forscheri- sche Interessen gebildet waren. Jede von ihnen nahm gemäß der Übung frü- herer Jahre die Chance wahr, eine Konferenz durchzuführen und kompetente auswärtige Gäste hinzuzuladen. Von den Seminarveranstaltungen mit Fel- lows und auswärtigen Gästen sollte die von Saul Friedländer organisierte Tagung besonders erwähnt werden, ihr Thema lautete ‚Collective Memory and Traumatic Events. A Comparison between some Strategies of Group Me- mory among Germans and Jews in Relation to the Nazi-era‘. Diese Tagung zeichnete sich aus durch seismographische Sensibilität, indem sie das ter- restrische Beben ankündigte, das wenige Wochen später ausbrach, als eine geschichtswissenschaftliche und erinnerungspolitische Dis kussion um die Bewertung der nationalsozialistischen Verbrechen in den Vernichtungsla- gern (und nicht nur in ihnen) entbrannte: der sogenannte Historikerstreit. Es erwies sich einmal mehr, was auch zuvor schon Erfahrungsbesitz gewor- den war: Trotz seiner Zugehörigkeit zu einer Schwerpunktgruppe ist jeder Fellow primär um seiner selbst willen einzuladen – so wünschenswert seine MARTIN C. GUTZWILLER · ULRICH HAARMANN · ALOIS M. HAAS · PETER HÄBERLE · RUTH HACOHEN ·
92 Zugehörigkeit zu einer solchen fachwissenschaftlich definierten Gruppie- rung auch sein mag. Nicht nur in diesem Jahr zeigte sich, dass sich reizvolle PETER WA Konstellationen durch ungeplante Begegnungen bilden und die alten Ent- würfe von neuen Wirklichkeiten sinnvoll überholt werden. In diesen Zusam-
P menhang gehört auch die Beobachtung, dass die Papierform einer Einla- NE dung durch eine merklich abweichende Realitätsform korrigiert werden W
SKI kann, was nie ohne Auswirkungen auf erdachte wissenschaftliche Zusam- menhänge bleibt. Was die Finanzierung der Fellowships betraf, so verstärkte sich die Ten- denz einer Kostenbe teiligung durch Dritte. Alle Bundesländer sind zu der Praxis übergegangen, ihre Hochschullehrer für die Forschungsperiode am Wissenschaftskolleg unter Fort zahlung der Bezüge zu beurlauben. In sol- chem Falle erstattet das Wissenschaftskolleg dann die Kosten der Vertretung an der Heimatuniversität. Ähnlich verfahren auch die Hochschulverwaltun- gen der Schweiz, Frankreichs und Italiens. Mehr und mehr Fellows von US- amerikanischen Universitäten nehmen ihr Sabbatical in Anspruch, so dass das Wissenschaftskolleg sich auf ein Topping-up beschränken kann, um die auslandsbedingten Mehrkosten auszugleichen. Das Wissenschaftskolleg kann auf diese Weise mehr und mehr indirekte Subventionen einwerben, die das wachsende internationale Ansehen der Institution dokumentieren. Das Ende des akademischen Jahres wurde markiert durch zwei bedeut- same Einschnitte, die auf je unterschiedliche Weise den Fortgang in Richtung auf Normalisierung manifestierten. Der zum Beginn des akademischen Jah- res 1986/87 bezugsfertige Neubau im Nachbarhaus Wallotstraße 21 sollte nicht nur eine räumliche Erweiterung sein, sondern auch den Lebens- und Arbeitsstil wesentlich verändern. Denn nunmehr standen auch jenen Fellows, die nebst ihren Familien außerhalb des Wissenschaftskollegs domizilierten, Arbeitszimmer innerhalb des Institutskomplexes zur Verfügung. Das bedeu- tete einerseits die Chance der Konzentration im eigenen Studio, anderseits die des ständigen, freilich nicht forcierten, sondern naturgegebenen Kontak- tes durch das wissenschaftliche Gespräch mit dem Kollegen auf dem Flur oder vor dem Fotokopierer. Überdies wurde die Teilnahme an den täglichen Mahlzeiten in der Wallotstraße durch die räumliche Nähe erleichtert. Diese Möglichkeit, ungeachtet des Rechts auf Rückzug in die eigene Privatexis- tenz, sich in die communitas der Kollegen eingefügt zu wissen, sollte sich in den kommenden Jahren noch verbessern, als nämlich das Corps der Fellows mitsamt ihren Familien in der Villa Walther in Rufweite des Zentrums Wal- lotstraße unterkam. Am 1. Oktober 1986 übernahm ein neuer Rektor die Verantwortung für das Haus. Wolf Lepenies, Professor der Soziologie an der Freien Universität und seit September 1984 Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg, löste ALOIS HAHN · WILHELM HALBFASS · PETER A. HALL · JOHN HAMILTON · PETER HAMMERSTEIN · den ersten Rektor ab, der nunmehr seinerseits dem Wissenschafts kolleg als 93 Ständiges Wissenschaftliches Mitglied verbunden bleiben sollte. Auch dieser D
Schritt war ein Symptom für die Stabilisierung der Verhältnisse. Die Satzung IE ERSTEN FÜN des Wissenschaftskollegs sieht vor, dass der Rektor für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt wird (das sechste Jahr des ersten Rektors erklärt sich aus dem Umstand, dass sein erstes eines der Übung am Phantom war, eines ohne
Fellows, ohne Haus und mit einem Stab von drei Mitarbeitern). Der schei- F JAHRE dende Rektor der ersten Amtsperiode schätzte sich am Ende seiner Amtszeit glücklich, einen Ausblick auf klare Konturen werfen und das Wissenschafts- kolleg und sein Glück einem in seiner Exzellenz längst bewährten Nach- folger anvertrauen zu dürfen. Er konnte sicher sein, dass dieser Bewahrens- wertes bewahren und dem überlieferten Fundus die Segnungen neuer Inten tionen, Ideen und Entwürfe angedeihen lassen würde.
In einer handschriftlichen Aufzeichnung aus dem Sommer 1982, also am Ende des ersten Jahres, finde ich drei Versuche, meine Erfahrungen mit dem Wissenschaftskolleg pointiert zusammenzufassen: es sei „ein Ort für gelenkte Zufälle“; „ein Ort osmotischer Prozesse“; „ein Ort, an dem die hilfreiche Ein- samkeit die Freiheit hat, sich temporär von sich zu dispensieren“. Diese alter- nativen Formeln klingen mir heute wie ein vorausklingendes Echo auf das Erlebnis jenes an Überraschungen und Anregungen so reichen kollegialen Miteinanders, das sich mit jedem Fellow-Jahrgang immer wieder neu und immer wieder anders einstellt – und das das Wissenschaftskolleg auch in Zu- kunft prägen wird.
Wolf Lepenies Ein Dutzend und drei Jahre
An das ‚Princeton an der Spree’, wie die Zeitungen es nannten, kam ich 1984 aus Princeton, wo ich – nach einem ersten Aufenthalt 1979/80 – seit 1982 Mit- glied des Institute for Advanced Study war. Das Institut war 1930 von Abra- ham Flexner gegründet worden, dem großen Universitätsreformer, den seine Erfahrungen an der Johns Hopkins University in Baltimore stark beeinflusst hatten – für Flexner die deutscheste aller amerikanischen Universitäten. Der Verlust, den Deutschland durch die Vertreibung jüdischer Gelehrter erlitten, der Reichtum, den Amerika dadurch gewonnen hatte, wurde an der Präsenz von Gelehrten wie dem Historiker Felix Gilbert und dem Ökonomen Albert O. Hirschman sichtbar, für die Princeton zur zweiten Heimat geworden war. In Princeton wurde mir deutlich, wie notwendig und angemessen der dem Wissenschaftskolleg von seinen Gründern gegebene Auftrag war, wo immer möglich die Verbindung zu in der Nazizeit aus Deutschland vertriebenen Wis- senschaftlern wiederherzustellen. Das Wissenschaftskolleg war mir vertraut: Im Mai 1982 wurde ich als Mit- glied des Wissenschaftlichen Beirats berufen. Peter Glotz, den Gründungs- senator, kannte ich aus Münchner Studententagen: Er war einer meiner ers- ten akademischen Lehrer gewesen. Den Höhepunkt des ersten Fellow-Jahres konnte ich miterleben: Gershom Scholems Vortrag über die Kabbala am 6. No- vember 1981. 1984 wechselte ich als Permanent Fellow an das Wissenschafts- kolleg; die Arbeit an dem in Princeton begonnenen Buch ‚Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft‘ (München 1985) wurde in Berlin beendet. 1986 wurde ich als Nachfolger Peter Wapnewskis zum Rektor gewählt und konnte meinen Respekt für das von ihm Geleistete und meinen Dank für eine Kollegialität, aus der bald Freundschaft wurde, nicht besser zum Aus- druck bringen, als dass ich Karl Gutzkow zitierte: „Man macht hier sein Glück, wenn man eine Zeitlang der Stellvertreter eines Andern war.“ ABDELLAH HAMMOUDI · MICHAEL HAMPE · PÉTER HANÁK · BARBARA HANAWALT · FOLKER HANEFELD ·
96 Den Rückblick auf die drei Amtszeiten meines Rektorats (1986–91, 1991–96, 1996–2001) will ich in vier Abschnitte gliedern: 1. Wissenschaftsforschung, WOL 2. Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa: Institutionen bauen mit Ideen, 3. Mo- F
derne und Islam, 4. Das Wissenschaftskolleg als Beispiel: Die Europäisierung L E P
ENIES nationaler Institutionen.
1. Wissenschaftsforschung
Im Wissenschaftskolleg wird jeder Fellow, welches Fach er auch immer zu Hause vertritt, zum Ethnologen auf Zeit. Ein Jahr lang lebt er unter den Ein- geborenen eines ihm vertrauten und zugleich fremden Stammes: Es ist ein Stamm, der nur aus Ethnologen besteht. Zu den Zielsetzungen der Institu- tion, die diesen Stamm beherbergt, zählt es, in einem Milieu unterschiedli- cher individueller Forschertemperamente, nationaler Theorietraditionen und fachspezifischer Orientierungen ein Klima wechselseitiger Herausforderun- gen und Anregungen zu schaffen. Jeder einzelne Fellow soll dieses Klima opti- mal nutzen. Angestrebt wird dabei eine produktive Verunsicherung: Das Nachdenken über die Selbstverständlichkeiten, denen man in der eigenen wissenschaftlichen Arbeit bis jetzt gefolgt ist. „Was tut man eigentlich, wenn man das tut, was man immer tut?“ – so hat der Anthropologe Clifford Geertz, der die School of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton aufbaute, die entsprechende Frage formuliert. Die Verunsicherung kann dabei weit gehen: Es ist gleichermaßen legitim und erwünscht, während des Aufenthaltes am Wissenschaftskolleg ein gutes Buch zu schreiben – oder ein schlechtes Buch nicht zu schreiben. Als Ausdruck produktiver Verunsicherung mag man es deuten, dass die Arbeitsberichte der eingeladenen Wissenschaftler – jeder von ihnen wird ge- beten, einen solchen Bericht nach Ablauf seines Fellowship vorzulegen – in der Regel ein hohes Maß an Selbstironie enthalten. Diese Selbstironie verrät nicht nur etwas über den Charakter des einzelnen Forschers, sondern auch über die Arbeits- und Lebenszusammenhänge, in denen er/sie sich ein Jahr lang aufgehalten hat. Im multidisziplinären Milieu des Wissenschaftskollegs muss man sich anders behaupten als in einer monodisziplinären Organisa- tion: Fachspezifische Selbstironie liefert dabei höhere Chancen zur Anerken- nung durch andere als das Imponiergehabe des Spezialisten. Für den Wissenschaftsforscher ist das Kolleg ein aufregendes Beobach- tungsfeld. Es ist, um an die Beobachtung gesteigerter Selbstironie anzuknüp- fen, eine Institution, in welcher der einzelne Fellow – bekannte Künstler oder Schriftsteller bilden die Ausnahme – von seiner mitgebrachten Reputation nicht zehren kann. Meist kennt der Soziologe den Mathematiker nicht, und HOWARD J. M. HANLEY · CHRISTOPHER M. HANN · CHRISTOPH HARBSMEIER · ROBERT HARMS · dem Theologen ist der Name des Ökonomen Hekuba. Es ist daher spannend 97 zu beobachten, wie sich in jedem Kollegjahr individuelle und kollektive Repu- E tationen aufbauen: Nicht nur die Wahrnehmung einzelner Kollegen, auch IN D
das Bild ganzer Fächer und Fächergruppen verändert sich. Es gibt keinen DREI JAHRE UTZEND UND Zwang für den einzelnen Fellow, sich auf diese Reflexionsprozesse einzulas- sen – entgehen kann er ihnen kaum: Das Wissenschaftskolleg versteht sich als eine Institution, die nicht nur die Forschung, sondern auch das Nachdenken über Forschung befördern will. Zu den Schwerpunkten meiner eigenen Arbeit als Soziologe hatte – lange vor der Berufung ans Wissenschaftskolleg – die Wissenschaftsforschung ge- hört. Dabei standen disziplingeschichtliche Fragestellungen im Vordergrund. Aus dem kleinen, an der Peripherie einzelner Fächer angesiedelten ‚invisible college‘ der Historiker der Human- und Verhaltenswissenschaften hatten sich professionelle Institutionen entwickelt, in denen eine kontinuierliche diszi- plinhistorische Forschung betrieben wurde. Die Kontinuität der Disziplinentwicklung, wie sie die traditionelle Wis- senschaftsgeschichte vor allem für die Naturwissenschaften nachzeichne te, hatte lange Zeit angeblich keiner soziologischen Analyse bedurft; die aktuell gültigen kognitiven Standards der jeweiligen Fachdisziplin galten als ausrei- chend, um in der Vorgeschichte des Fachs die Spreu vom Weizen zu trennen und um die vielen Irrenden von den wenigen Vorläufern zu sondern, die sich auf einer schmalen, doch gerade verlaufenden Bahn auf die Wahrheiten der Gegenwart zu bewegten. Wie Teile der Geschichtswissenschaft, zu der sie an- sonsten nur lockere Verbindungen aufwies, prägte eine derart verstandene Wissenschaftsgeschichte das tiefsitzende Vorurteil, ohne wissenschaftstheo- retische und erst recht ohne soziologische Analysen des Wissenschaftsprozes- ses auskommen zu können. Erst allmählich setzte sich die Einsicht durch, dass die Entwicklung der Wissenschaften eher von Brüchen geprägt als durch eine stetige Erwei terung disziplingeschichtlicher Erkenntnisse gelenkt wird. Sie führte zu sozialge- schichtlich informierten, alle Fächer umfassenden Studien der Pro duktion, Selektion und Speicherung wissenschaftlicher Alternativen. Institutionelle Selbstthematisierungen nahmen in allen Wissenschaftskulturen zu und be- wirkten – oft ausgelöst und meist verstärkt durch die massive Politisierung der Sozial- und Verhaltenswissenschaften seit den 60er Jahren – erhebliche Veränderungen im Theorienspektrum und folgenreiche Umschichtungen von Forschungsprioritäten, Lehrinhalten und Organisationsstrukturen. Bei der frühen Schwerpunktsetzung des Kollegs im Bereich der Wissen- schaftsforschung spielte Yehuda Elkana eine zentrale Rolle. Seine disziplinäre Herkunft aus der Physik erwies sich dabei ebenso von Vorteil wie seine kon- textbezogene Neugier, die vor keiner Disziplin halt machte. Gemeinsam wurde BENJAMIN HARSHAV · GEOFFREY HARTMAN · FRANÇOIS HARTOG · JONATHAN H. HARWOOD ·
98 für uns die Wissenschaftsforschung wichtig, weil sie in einer Art Hausre vision lange Zeit gültige Selbstverständlichkeiten in Frage stellte. Die Wissenschafts- WOL soziologie versuchte, die Vorstellung von der Eigensteuerung des Wissen- F
schaftssystems durch den Nachweis seiner politischen Lenkbarkeit bis in De- L E P
ENIES tails der Forschungsplanung zu korrigieren; die Wissenschaftsgeschichte erinnerte daran, dass die Entwicklung einzelner Disziplinen kein bruchloses Fortschreiten, sondern auch ein Überleben von Irrtümern, eine Reihung von Revolten und Revolutionen und daher auch eine Geschichte des Vergessens und der Unterdrückung ist; die Wissenschaftstheorie schließlich relativierte, in ihrer radikalsten Ausprägung, die als universal angesehene, erkenntnislei- tende Kraft westlicher Rationalität. Elkana sprach in diesem Zusammenhang von einem Neu- und Über -Denken der Prämissen und Schlussfolgerungen der Aufklärung. Im Kolleg bildeten sich – geplant und ungeplant – von Jahr zu Jahr Schwer- punktgruppen, die sich mit Fragestellungen der Wissenschaftsforschung be- schäftigten; noch wichtiger aber war, dass solche Fragestellungen zu einem durchlaufenden Motiv unserer Arbeit wurden. Dabei zeigte sich, dass die Be- reitschaft einzelner Fellows, sich kontinuierlich und kritisch mit dem Selbst- verständnis des eigenen Faches auseinander zu setzen – und die Auseinander- setzungen in anderen Fächern mitzuverfolgen –, ihre Grenzen hatte. Die Aufforderung zur Dauerreflexion erzeugte auch Widerstand, und im diszi- plinenübergreifenden Seminar Comparative Epistemology konnten wir bei- spielsweise erfahren, wie schnell aus einem roten Faden ein rotes Tuch wer- den kann: Dissidenten spalteten sich ab und veranstalteten an der Basis, d. h. im Keller, ein Kontrastprogramm, in dessen Mittelpunkt die Lektüre des latei- nischen Originals der ‚Germania‘ von Tacitus stand. Deutlich wurde dabei auch, dass die Chance zum disziplinen übergreifenden Kontakt vor allem dann gegeben ist, wenn eine ihrer Sache sichere, spezialisierte Kompetenz Mut und Lust zur Grenzüberschreitung macht. In der Wissenschaftsforschung verlagerte sich das Schwergewicht immer mehr von der Individuen- zur Institutionen-bezogenen Disziplin geschichte. Auch im Wissenschaftskolleg blieb dabei die Entwicklung des Schwerpunkt- bereichs mit dem Namen herausragender Individuen – Fellows und Gäste – verbunden. Eine Fallstudie zur Wissenschaftsforschung bildete im Mai 1987 das Seminar ‚The Institutionalization of Philosophy‘, das ich zusammen mit Pierre Bourdieu und Richard Rorty veranstaltete – zwei Gelehrten, die sich mit großer Wirkung zum Selbstverständnis ihres eigenen Faches (Soziologie, Philosophie) geäußert hatten und weiter äußern sollten. Im einige Jahre später konzipierten Schwerpunktbereich ‚Economics in Context’, für den als Permanent Fellow (1990–2000) Jürgen Kocka verantwort- lich zeichnete, verkörperte Albert O. Hirschman, der mehrere Male ans Wis- MUSHIRUL HASAN · GALIT HASAN-ROKEM · SCHEHERAZADE QASSIM HASSAN · RICHARD J. HAUSER · senschaftskolleg kam, die Alternative zu einer szientifisch überdeterminier- 99 ten Wirtschaftswissenschaft in einem besonders überzeugenden Fall. Albert E Hirschman ist in der Ökonomie ein Außenseiter geblieben und gleichzeitig – IN D
mit großer Auswirkung bis in entfernte Nachbardisziplinen der Ökonomie DREI JAHRE UTZEND UND hinein – ein Klassiker zu Lebzeiten geworden. Sein Denken prägt der Möglich- keitssinn, die Weigerung, sich mit etablierten Wirklichkeiten abzufinden, das prinzipielle und immer ein wenig spitzbübische Gegen-den-Strich-Argu- mentieren, die augenzwinkernde Lust am Probehandeln. Dem triumphieren- den „So ist es!“ der großen Theoriebildner, an denen die Sozialwissenschaften überreich sind, setzt er seine bescheiden klin gende, aber unendlich wirkungs- vollere Frage entgegen: „So ist es?“ Und dann kommt sein herausforderndes Ausrufezeichen: „Das wollen wir doch mal sehen!“ Für Albert Hirschman ist die Welt ein einziges großes Überraschungsfeld. Seine Präsenz war für das Kol- leg in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Dass Gelehrte wie der in Berlin geborene Albert Hirschman, der vor den Nazis aus seiner Geburtsstadt flüch- ten musste, regelmäßig die Einladungen des Kollegs annahmen und nach Berlin zurückkehrten, half uns nicht nur, Aufgaben des Kollegs zu erfüllen, wie sie in unserer Satzung festgehalten sind. Darin kamen der Geist und die Überzeugungen zum Ausdruck, die unsere wissenschaftliche Arbeit bis heute bestimmen und weiter bestimmen werden. Mit Georges Canguilhem (1904–1995) besuchte ein Gelehrter im Frühjahr 1989 das Kolleg, der als Lehrstuhlinhaber an der Sorbonne und als Nachfolger Gaston Bachelards sowohl der Wissenschaftsgeschichte als auch der Episte- mologie neue und vielversprechende Wege gewiesen hatte. Im Rahmen eines Foucault-Seminars, das unser Fellow François Ewald veranstaltete, sprach Can- guilhem über seine eigene Arbeit – und es war ein unvergessliches Ereignis mitzuerleben, wie Studenten und junge Wissenschaftler von der Präzision und Leidenschaft eines großen Gelehrten beeindruckt wurden. Zur praxisbezogenen Wissenschaftsforschung gehörte es, dass in Zu sam- menarbeit mit der Pariser Maison des Sciences de l‘Homme und geför dert durch die VolkswagenStiftung (damals hieß sie noch Stiftung Volkswagen- werk Hannover) das Wissenschaftskolleg ein Stipendienprogramm für deut- sche Geistes- und Sozialwissenschaftler entwickelte; Joachim Nettelbeck war darin besonders stark engagiert. Auch daraus sollte eine Institutionengrün- dung werden: die Maison Suger – bis heute eine bevorzugte Heimstatt deut- scher Forscher, die in Paris arbeiten. Administrator der Maison des Scien ces de l‘Homme war Clemens Heller (1917–2002), der nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der Ford Foundation die Sozialwissenschaften in Frankreich tatkräf- tig gefördert hatte. Heller wurde zu einem wichtigen, von uns regelmäßig befragten Ratgeber für die externen Aktivitäten des Kollegs. Von ihm konnte man beispielsweise die Vorzüge schwacher Institutionalisierung lernen und SUSANNE HAUSER · ROBERT HALL HAYNES · JOHAN HEILBRON · BETTINA HEINTZ · LADISLAV HEJDÁNEK ·
100 begreifen, warum man sich in der auswärtigen Kultur- und Wissenschaftspo- litik vor bilateralen Arrangements hüten soll: (mindestens) tres faciunt colle- WOL gium. F
Die entscheidenden institutionellen Konsequenzen aus unseren Aktivitä- L E P
ENIES ten im Bereich der Wissenschaftsforschung ergaben sich in Berlin. Ein Jahr nach meinem Amtsantritt wurde – in enger Zusammenarbeit des Wissenschaftskollegs mit der Freien Universität und der Technischen Univer- sität – der Berliner Forschungsverbund Wissenschaftsgeschichte gegründet. Ein Ziel des Verbundes war es, unter Einschluss der Technikgeschichte die In- ternationalisierung des Faches in Deutschland zu befördern: Dabei waren die Anregungen von Tom Hughes (Fellow 1983/84), der die Arbeit des Verbundes kontinuierlich begleitete, unschätzbar. 1990 richtete der Forschungsverbund das für Nachwuchswissenschaftler bestimmte Wal ther-Rathenau-Stipendien- programm ein und veranstaltete zum Auftakt ein Rathenau gewidmetes Kol- loquium; zu den Teilnehmern gehörte Jürgen Kuczynski (1904–1997), der Rathenau noch persönlich gekannt hatte. Das Hauptgebäude des Wissen- schaftskollegs liegt in unmittelbarer Nähe der Kreuzung Koenigsallee-Wallot- straße. Hier fiel am 24. Juni 1922 der Reichsaußenminister Rathenau einem Attentat zum Opfer. Wie keine andere Persönlichkeit der ersten deutschen Republik verkörperte Walther Rathenau, der „Systembildner“, wie Tom Hughes ihn nannte, die für die Moderne spezifische Verknüpfung von Wirtschaft und Politik, Technik und Wissenschaft, Geist und Macht. Im März 1994 erfolgte in Berlin die Gründung des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte; die zwei Gründungsdirektoren (Lorraine Das- ton, Jürgen Renn) waren Fellows des Wissenschaftskollegs gewesen – ebenso wie Lorenz Krüger, dessen früher Tod im gleichen Jahr die Aufnahme seiner Tätigkeit am Institut verhinderte. Danach wurde Hans-Jörg Rheinberger als dritter Direktor berufen – auch er ein Fellow des Wissenschaftskollegs. Im erinnernden Rückblick wird deutlich, dass die Kolleg-typische Anre- gung zur disziplinären Selbstreflexion zu fachlichen Neuorientierungen im eigenen und in fremden Fächern führte, deren Konsequenzen zum Teil erst jetzt in überraschender Kontinuität sichtbar werden. Ich gebe dafür zwei Bei- spiele. Heute gehört das quer durch alle Disziplinen laufende Thema Bildlichkeit zu den Schwerpunktbereichen des Wissenschaftskollegs. Das Projekt einer Bildwissenschaft ist eng mit den Namen von Hans Belting (Fellow 1994/95 und 1999/2000), Gottfried Boehm (Fellow 2001/02) und Horst Bredekamp (Fellow 1991/92, jetzt Permanent Fellow) verbunden. Mit mir war 1984 auch der Mole- kularbiologe Gunther S. Stent (Berkeley) ans Kolleg gekommen. Stent wurde 1924 in Berlin geboren; er besuchte bis 1938 in Dahlem die Private Wald- schule Kaliski, bevor die USA zu seiner neuen Heimat wurden, werden muss- BERNARD HELFFER · ERIC J. HELLER · BARBARA HELLRIEGEL · CARL G. HEMPEL · MARTIN HENGEL · ten. Stent blieb bis 1990 dem Wissenschaftskolleg als Permanent Fellow 101 verbunden und widmete, als Vorgänger Rüdiger Wehners, seine besondere Auf- E merksamkeit den Biowissenschaften. Im Juni 1987 hielt Gunther S. Stent im IN D
Wissenschaftskolleg einen Vortrag ‚Wahrheit des wissenschaftlichen Weltbil- DREI JAHRE UTZEND UND des‘. Es war der Bericht über ein Forschungsprojekt „mit dem Ziel, das Netz von Zellen im Nervensystem des Blutegels zu identifizieren, das die wellenar- tigen Schwimmbewegungen dieses einfachen Tieres erzeugten“. Dabei griff Stent auf Untersuchungen und Abbildungen von Leonardo da Vinci zurück. Er beschrieb es als „eine der interessan testen Entdeckungen über die Funk- tion des Nervensystems […], dass es Sinneseindrücke gemäß hermeneutischen Prinzipien interpretiert“. Daraus ergab sich der Plan zu einem Schwerpunkt- bereich Hermeneutik bildgebender Verfahren. Er ließ sich nicht realisieren, weil die dafür unverzichtbaren Mediziner für längere Aufenthalte am Wissen- schaftskolleg unabkömmlich waren. Die Fragestellungen aber, die Stent für sein eigenes Fach entwickel te, sind heute in anderen Fächern fruchtbar auf- genommen worden. Und die Bildwissenschaft – oder die Vorstufe dazu – ver- knüpft sich wie selbstverständlich mit systematischen und historischen Fra - gestellungen in den Lebenswissenschaften. 1994 fragten der Kunsthistoriker Hans Belting und der aus Mali stam- mende Ethnologe Mamadou Diawara – beeindruckt vom Provisorium der alten Dahlemer Museumslandschaft, in der Kunstmuseum und Ethnologi- sches Museum in aufregender Nachbarschaft miteinander lebten –: „Wie stellt man andere Kulturen und wie stellt man überhaupt Kulturen aus? Die Frage führt auf direktem Wege zu der Überlegung, ob unsere Museen noch legiti- miert sind für ihr Monopol in der Präsentation, und übrigens in der Repräsen- tation, anderer Kulturen […]. Nach einem gemeinsam verbrachten Kollegjahr ließ sich das so beschriebene Museum mühelos mit der westlichen Wissen- schaft, die wir alle mehr oder weniger überzeugt an diesem Ort betrieben, vergleichen. Was ändert sich, mochten wir uns insgeheim fragen, wenn Exper- ten aus anderen Kulturen, statt Experten für andere Kulturen, zu gemeinsamen Gesprächen an einem westlichen Wissenschaftszentrum zusammenkom- men.“ Von Belting und Diawara wurde damit das Stichwort einer Forschung mit, statt einer Forschung über aufgenommen, das in meinen Überlegungen zur Gründung des Arbeitskreises Moderne und Islam eine zentrale Rolle ge- spielt hatte. Heute erkennt man die von Belting und Diawara skizzierte Pro- grammatik in der Konzeption des Humboldt-Forums wieder, das die Mitte des neuen, aus Ost und West wieder zusammengewachsenen Berlins auch zu einem intellektuellen Zentrum machen soll. ROLAND HENGSTENBERG · WILHELM HENNIS · DIETER HENRICH · JOSEPH HENRICH ·
102 2. Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa: Institutionen bauen mit Ideen WOL F
1988 wurde Berlin Kulturstadt Europas. Unser Beitrag zum Kulturstadtjahr L E P
ENIES war die gemeinsam mit den Berliner Universitäten im Jagdschloss Glienicke veranstaltete Sommeruniversität mit 100 Studenten aus 22 Ländern. Das Jagd- schloss liegt unmittelbar an der damals Berlin nicht nur durchschneidenden, sondern die Stadt auch umgebenden Mauer; DDR-Grenzsoldaten patrouillier- ten demonstrativ; in der Nacht hörte man das Kläffen der Suchhunde, die Re- publikflüchtige aufspüren sollten. Für das Kulturprogramm der Sommeruni- versität gewannen wir Luigi Nono, dessen ‚Prometeo‘ in der Philharmonie auf geführt wurde, und die aus Paris kommende, einst mit Walter Benjamin befreundete Gisèle Freund, in deren unvergleichlichen Porträtfotos sich seit den 30er Jahren die literarische Moderne spiegelte. In einem Punkt blieben wir erfolglos. Wir hatten unbedingt Studenten aus der DDR als Teilnehmer der Sommeruniversität gewinnen wollen. Aber selbst das Versprechen Manfred von Ardennes – den Besuch in seinem riesi- gen privaten Forschungsinstitut am Weißen Hirsch in Dresden hatte Fried- rich Dieckmann vermittelt –, sich beim Politbüro der SED für uns zu verwen- den, half nicht. Die Teilnahme eines DDR-Studenten von der TH Dresden wurde zwar versprochen, doch kam in letzter Minute die Absage. Umso auffal- lender und erfreulicher waren die vielen Kontakte, die Fellows mit Kollegen der Humboldt-Universität in Ostberlin und Instituten in anderen Städten der DDR knüpften. Im Mai 1987 wurde der Rektor des Wissenschafts kollegs zu einer Rede vor der Akademie der Wissenschaften der DDR eingeladen; dafür hatte sich besonders Günther Kröber eingesetzt, einer der Direktoren des Aka- demie-Instituts für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft. Ich gab meiner Hoffnung Ausdruck, dass bald auch Fellows aus der DDR ans Wissenschaftskolleg kommen würden. War es der Winter 1988/89, in dem wegen starker Schneefälle im Osten Europas der Schnellzug Moskau-Berlin-Paris erhebliche Verspätung hatte? Im Bahnhof Zoo stand, von Hand mit Kreide auf eine Tafel geschrieben: „Der Zug von gestern fährt morgen!“ Jedenfalls war es das letzte Akademische Jahr, in dem auch für die Arbeit des Wissenschaftskollegs die zur Routine gewordene Anormalität der Stadt Berlin prägend war. Veränderungen kündigten sich an: Endlich gelang es, mit dem Psychologen Friedhart Klix den ersten Fellow aus der DDR ans Wissenschaftskolleg zu berufen. Nach der Wende erschien es uns als selbstverständlich, Kontakte mit Kol- legen aus der DDR aufrechtzuerhalten, mit denen wir bereits vor 1989 koope- riert hatten. Dabei waren die Ratschläge eines Juristen, unseres Fellows Hasso Hofmann (1989/90) besonders nützlich. Wissenschaftler aus der DDR, deren HARTMUT VON HENTIG · HANS WERNER HENZE · TOMÁS HERBEN · ULRICH HERBERT ·
Arbeit in Lehre und Forschung unterdrückt und behindert worden war, 103 kamen daraufhin ins Wissenschaftskolleg und kritisierten die Weiterpflege E unserer Kontakte mit den früheren Offiziellen. Deutlich wur de: Es gab nicht IN D
nur ein Ost-West, es gab auch, vielleicht gab es vor allem ein Ost-Ost-Problem. DREI JAHRE UTZEND UND Lösbar war es nicht – insbesondere nicht für uns im Westen, die wir nicht un- beteiligte, aber weitgehend kaum betroffene Zuschauer gewesen waren. Umso unerträglicher war die Selbstgerechtigkeit vieler westlicher Individuen und Institutionen, die im Osten aufräumen wollten. ‚Die Geschichte vom Herrn K.‘ hieß die Rede über eine wahre Begebenheit (und einen früheren Fellow), die ich vor Ministerialbeamten in Bonn, der deutschen Noch-Hauptstadt, hielt: „Wir sind in Deutschland dabei, Biographien wie die vom Herrn K. ohne Wenn und Aber zu entlegitimieren, wir entwürdigen einen Lebenslauf und wir tun Unrecht daran. Die Entlegitimierung von Biographien verbaut Zukunftspers- pektiven. Rechtfertigen lässt sie sich kaum, kompensieren ließen sich ent- sprechend tiefreichende Sanktionen nur, wenn der eine deutsche Staat über attrak tive Angebote zu einer neuen, starken, in gemeinsamer Anstrengung gelingenden Identitätsfindung verfügte. Über ein solches Angebot verfügen wir derzeit in Deutschland nicht.“ Die revolutionären Veränderungen in Mittel- und Osteuropa und die Im- plosion des SED-Regimes in der DDR prägten zunehmend Leben und Arbeit im Wissenschaftskolleg. Die Fellows waren von diesen Veränderungen fas- ziniert, viele wurden in die Veränderungsprozesse mit hineingerissen, man- che wechselten unter dem Druck der Ereignisse zeitweilig das Metier. Wissen- schaftler wurden zu Journalisten, Buchprojekte mussten Kommentaren und Kolumnen weichen. Historiker und Soziologen kannten sich bald in Bitterfeld so gut aus wie in Berkeley. Von den Fellows schrieb Robert Darnton ein Berlin- Tagebuch (‚Der letzte Tanz auf der Mauer. Berlin-Journal 1989–1990‘, Mün- chen, Hanser, 1991) – und Friedrich Dieckmann, als zweiter DDR-Fellow beru- fen, bewahrte uns davor, den Mauerfall und seine Folgen nur aus westlichem Blickwinkel zu sehen. In Kooperation mit der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel veran- stalteten im September 1989 Robert Darnton und ich das erste ‚East-West Se- minar in Eighteenth-Century Studies‘, das junge Wissenschaftler aus Ost und West im Wissenschaftskolleg zusammenführte. Im Oktober besuchte Iván Berend, der Präsident der Ungarischen Akade- mie der Wissenschaften, das Kolleg. „Warum gründen wir nicht auch in Buda- pest ein Wissenschaftskolleg?“, fragten wir uns bei seiner Abreise. Einen Tag später rief Berend aus Budapest an: Meine Frage, ob es für die ungarische Re- gie rung noch ein (West-) Berlin-Problem gebe, verneinte er. Es war die in den Ländern des Warschauer Paktes mit unterschiedlicher Hartnäckigkeit auf- rechterhaltene These von der besonderen politischen Einheit West-Berlin, die BERND HERRMANN · CARLA A. HESSE · AMOS HETZ · DOUGLAS A. HIBBS · ERWIN N. HIEBERT ·
104 es schwierig, in manchen Fällen unmöglich gemacht hatte, Fellows aus be- stimmten osteuropäischen Ländern zu berufen. Aus dem gleichen Grunde WOL wäre es noch wenige Jahre zuvor für eine (West-) Berliner Institution unmög- F
lich gewesen, sich östlich des Eisernen Vorhangs Institutionen bildend zu be- L E P
ENIES tätigen und dabei mit Einrichtungen aus der Bundesrepublik zu kooperieren. Berends Antwort wischte alle diese Probleme vom Tisch – so, wie das Durch- schneiden des Grenzzauns zwischen Ungarn und Österreich die Ost-West- Tei lung Europas de facto aufhob. Und so begann das aufregende, viele Kapitel umfassende Abenteuer ‚Insti- tutionen bauen mit Ideen‘. Die Schwierigkeiten waren größer, als ich es mir je hätte vorstellen können – und noch größer war die Freude, die meisten Schwie rigkeiten schließlich doch – in enger Kooperation mit Joachim Nettel- beck – überwinden zu können. Unvergesslich werden mir unsere Spazier- gänge bleiben, die wir in der Absicht begannen, mindestens zwei Projekte ab- zubrechen und in der Regel mit Ideen für drei neue Projekte beendeten. Am Ende des Abenteuers ‚Institutionen bauen mit Ideen‘ standen das Col- legium Budapest, das New Europe College in Bukarest, die Bibliotheca Classica in Sankt Petersburg und das Centre for Advanced Study (CAS) in Sofia – „geis- tige Tauschplätze“, um Jacob Burckhardt variierend zu zitieren, der gewusst hat te, worin das Besondere eines geistigen Tauschplatzes besteht: „Dort haben die Leute einander etwas zu sagen und machen auch Gebrauch davon.“ In Budapest und Bukarest, in St. Petersburg und Sofia wurden Erfolgs- geschichten geschrieben – aber es gab, natürlich, auch Misserfolge. In Prag scheiterten verschiedene Projekte an der Widerständigkeit der Regierungs- stellen; in Warschau ließ sich für eine begrenzte Zeit – in einer durch die Ge schichte nahegelegten sächsisch-französischen Kooperation und in Zusam- menarbeit mit George Soros – die Graduiertenschule unseres früheren Fel - lows Stefan Amsterdamski an der Akademie der Wissenschaften fördern, eine Ausweitung dieser Aktivitäten gelang aber nicht. Nach dem Fall des Kommunismus wurde der Umgang mit Mentalitäts- brüchen und der behutsame Ausgleich von Mentalitätsdifferenzen zu einer großen Herausforderung für die europäische Politik und für die Sozialwissen- schaften. Ich benutzte den Ausdruck Politik der Mentalitäten, um deutlich zu machen, dass es jetzt nicht mehr um die Anwendung eingespielter Verfahren zur Lösung kurzfristiger Probleme ging, sondern um die Notwendigkeit, auf lange Sicht ein neues Instrumentarium für die Beantwortung bis dahin nicht gestellter Fragen zu finden. Im Geiste dieser Politik der Mentalitäten begann das Wissenschaftskolleg beim Aufbau neuer und beim Umbau bestehender Institutionen in Mittel- und Osteuropa zu helfen. Unser vorrangiges Ziel war die Stärkung lokaler Wissenskulturen. Auf der einen Seite ging es darum, wie Gottfried Keller einst seinen miesepetrigen MANFRED HILDERMEIER · BRUNO HILLEBRAND · WALTER HINDERER · ALBERT O. HIRSCHMAN ·
Zeitgenossen ins Stammbuch schrieb, „besser nichts zu hoffen und das Mögli- 105 che zu schaffen, als zu schwärmen und nichts zu tun“, auf der anderen Seite E kam es darauf an, Elfenbeintürme zu errichten – also Bauwerke, von denen IN D
aus man weit sehen kann, wenn man nur hoch genug hinauswill. DREI JAHRE UTZEND UND Im Folgenden will ich einige Prinzipien benennen, denen wir bei unseren Institutionen-bildenden Aktivitäten folgten. a) Lokale Kontexte ernstnehmen Glokalität ist ein schreckliches Wort, aber es gibt einen wichtigen Tatbestand angemessen wieder: In der zusammenwachsenden Welt werden Loka litäten immer wichtiger. Gerade unter den Bedingungen der Globalisierung stellen sich personale und Gruppen-Identitäten immer stärker in regionalen Kontex- ten her. Dem muss im Wissenschafts- und Kulturbereich jede Institutionenbil- dung Rechnung tragen. Es geht um die Stärkung lokaler Wissenskulturen. b) Lernen wollen Wir lernten, dass unter den Bedingungen des Mangels und der Misere im Osten Europas Wissenskulturen überlebt und Forschungsstile sich herausge- bildet hatten, die zu bewahren sich lohnte. Wir erkannten, dass traditionelle Formen der Gelehrsamkeit notwendige Modernisierungen keineswegs behin- dern müssen, sondern zu ihrer Beförderung und Beschleunigung oft mehr beitragen als die hyperaktuelle Überanpassung wissenschaftlicher Denkstile und Handlungsformen. Anders als die deutsche (und auch die französische) Außenkulturpolitik förderten wir nicht bestehende Institutionen (und damit die alten Eliten), sondern versuchten neue Strukturen zu entwickeln. c) Kein Mitleid Wichtig ist die Haltung, mit der auf eine Stärkung lokaler Wissenskulturen hingearbeitet wird. Beinahe so nachteilig wie das Nichtstun ist eine demons- trativ-herablassende caritas, die bei denen, denen man helfen will, das Gefühl des Zurückgebliebenseins und der eigenen Unzulänglichkeit noch verstärkt. Unser Motto war nicht „Wir helfen Euch!“, sondern: „Wir brauchen einander!“ d) Bilaterale Arrangements vermeiden Wir hatten nicht für einen Augenblick daran gedacht – und haben uns später gegen Ansinnen dieser Art stets gewehrt –, deutsch-ungarische oder deutsch- rumänische Institutionen zu gründen. Die Kultur- wie die Wissenschaftspoli- tik sind ja keineswegs die unschuldigen Varianten jener großen Politik, wel- che die Franzosen die politique politicienne nennen. Im Gegenteil: In der Kulturpolitik sind Vorurteile besonders stark und Verdächtigungen erfolgen schnell. Jede bilaterale Initiative ruft die Eifersucht der Nachbarn wach, und ROLF HOCHHUTH · MIRIAM HOEXTER · OTFRIED HÖFFE · MARTIN HOFFMANN · ALBRECHT HOFHEINZ ·
106 während es ansonsten stimmt, dass Konkurrenz das Geschäft belebt, gilt in der Kultur- und Wissenschaftspolitik, dass Konkurrenz Kräfte oft unnütz bin- WOL det und Mittel vergeudet. Multilaterale Engagements produzieren einen über- F
aus wünschenswerten Effekt: Nationale Vorurteile neutralisieren einander. L E P
ENIES e) Olympia als Vorbild Unser Ziel war es, beim Aufbau europäischer/internationaler Institutionen in den Metropolen Mittel- und Osteuropas zu helfen. Mit dem latinisierenden Namen Collegium Budapest wurde beispielsweise an ein gemeinsames, Ost und West überspannendes, in das Mittelalter zurückreichendes europäisches Erbe angeknüpft. Wichtig war, dass in der ungarischen Hauptstadt kein Colle- gium Hungaricum entstand. Das Collegium Budapest – dies brachte sein Name unverwechselbar zum Ausdruck – entstand nicht als eine nationale Einrichtung, sondern als eine europäische Institution in Bu dapest. Institutes for Advanced Study sind in dieser Hinsicht Olympischen Spielen vergleichbar: Auch diese finden nicht in Ländern, sondern in Städten statt. Urbane oder lo- kale Kontexte, nicht nationale Milieus prägen sie.
f) PPP Wir haben stets darauf geachtet, in der Finanzierung unserer Projekte eine Mischung aus öffentlichen Zuwendungen und privaten Spenden zu errei- chen. Public-Private Partnerships haben sich nicht zuletzt in Mittel- und Ost- europa als außerordentlich wirksam und Vorbild stiftend erwiesen. Man kann auf diese Weise fast beiläufig zeigen, worin das Wesen der Demokratie auch besteht: im Zusammenwirken staatlicher Institutionen mit Einrichtun- gen der Bürgergesellschaft.
g) Matthäus- und Paulus-Prinzip Auch in der Wissenschaft muss man die Schwachen achten, doch gilt es hier vor allem, die Starken wo immer möglich noch stärker zu machen: „to make the peaks even higher“, wie James B. Conant einmal formulierte. Die Kultur des shareholder value hat nirgends eine größere Berechtigung als in der Wis- senschaft. Und dennoch: Der starre Blick auf die Höhen verführt manches Mal dazu, Entwicklungen auf den etwas tiefer liegenden Hängen zu übersehen, die innovationsträchtig sind und zu den Spitzenleistungen von morgen werden könnten. Man darf sich daher nicht nur am Matthäus-Prinzip orientieren: „Denn jedem, der etwas hat, dem wird noch mehr gegeben werden, und er wird übergenug haben.“ (Matthäus 25, Vers 29). Man muss auch dem Paulus- Prinzip folgen: „Euer Überfluss soll jetzt ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluss später Eurem Mangel abhelfen kann und es zum Ausgleich kommt.“ (2. Korinther 8, Vers 14). GESINE HOFINGER · HASSO HOFMANN · WOLFRAM HOGREBE · GERTRUD HÖHLER · STEPHEN HOLMES · h) Einholen und Überholen 107 Zu den größten Fehlern der westlichen Wissenschafts(hilfe)-Politik in Mittel- E und Osteuropa gehörte es, Institutionen zweitrangig auszustatten, nach dem IN D
Motto: Die hatten ja gar nichts, für die ist auch Gebrauchtes noch gut genug. DREI JAHRE UTZEND UND Nichts ist falscher. Gerade in Prozessen nachholender Modernisierung muss man sofort Chancen zum Überholen bieten und das etwaige Überholt-Werden akzeptieren. i) Netzwerke bilden Die Institutionen, an deren Gründung wir uns beteiligten, sind durch persön- liche und organisatorische Netzwerke miteinander verbunden. Daraus erge- ben sich ungeahnte Verstärkereffekte – nicht zuletzt beim Versuch, lokale zu regionalen Wirkungsbereichen zu erweitern.
Am 15. Dezember 1992 wurde das Collegium Budapest feierlich eröffnet. An der Zeremonie im Alten Rathaus von Buda, einem wunderbar renovierten Ba- rockbau, nahm auf deutscher Seite Bundespräsident Richard von Weizsäcker teil. Erster Rektor wurde der Rechtswissenschaftler Lajos Vékás; es gelang, den bekannten Ökonomen János Kornai als Permanent Fellow zu gewinnen. Un- sere Initiativen zur Gründung und Unterstützung von Institutionen in Mittel- und Osteuropa hatten eine erste, modellhaft weiterwirkende Etappe erreicht. Die Zuwendungsgeber, die diese „einmalige europäische Erfolgsgeschichte“ (Ralf Dahrendorf) miteinander geschrieben haben, kommen aus sechs Län- dern: aus der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Schweden, Frankreich und Deutschland, genauer gesagt, aus Baden-Württemberg und Berlin. Unter ihnen finden sich staatliche Instanzen ebenso wie öffentliche und private Stiftungen. Zu letzteren gehören die Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr aus der Schweiz, die Fonds der Schwedischen Reichsbank sowie die Wallenberg- Stiftungen, die niederländische Lotterie und aus Deutschland die Fritz Thyssen Stiftung, die VolkswagenStiftung, die Krupp-Stiftung und der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, nebst der Boehringer Stiftung und der Preußi- schen Seehandlung. Die Académie Française und der Verlag Walter de Gruyter in Berlin haben die Bibliothek des Collegium Budapest großzügig ausgestat- tet. Schließlich gelang es, auf unseren Vorschlag und nach langwierigen Vorarbeiten in Brüssel, in das V. Rahmenprogramm der Europäischen Kom- mission einen neuen Förderbereich aufzunehmen: Centers of Excellence in Central and Eastern Europe. Durch diese Initiative wurden 34 Institute in Mit- tel- und Osteuropa gefördert; in der nach einer Evaluation erstellten Rang- folge belegte das Collegium Budapest den zweiten Platz. Ohne die Gründung des Collegiums wäre eine solche Initiative schwerlich zustande gekommen. TONIO HÖLSCHER · HANS EGON HOLTHUSEN · JERZY HOLZER · AXEL HONNETH · CHRISTOPH HORN ·
108 Als das Wissenschaftskolleg gegründet wurde, dienten vor allem zwei ame rikanische Institutionen als Vorbild: das Institute for Advanced Study in WOL Princeton und das Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences F
(CASBS) in Palo Alto (Stanford). Nach der Gründung gab es bald Kontakte auch L E P
ENIES zum National Humanities Center (NHC) in Research Triangle Park (North Ca- rolina). Hinzu kamen, als ältere europäische Schwestern, NIAS, das Nether- lands Institute for Advanced Study in the Humanities and the Social Sciences in Wassenaar und das Swedish Collegium for Advanced Study in the Social Sciences (SCASSS) in Uppsala, dem das Wissenschaftskolleg bereits als Vorbild gedient hatte. Aus einem informellen Treffen der sechs Direktoren wurde ein informeller Zusammenschluss: SIAS (Some Institutes for Advanced Study). Wir verabredeten, uns jährlich in einem unserer Institute zu treffen. Ziel die- ser Treffen war ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch über Programme und Personen. Gemeinsam bewegte uns in den Anfangsjahren von SIAS insbesondere die Frage, wie wir nach dem Ende des Kommunismus in den Staaten des War- schauer Paktes dazu beitragen konnten, unseren Kollegen in Mittel- und Ost- europa bessere Arbeitsbedingungen zu verschaffen. Das Ergebnis unseres Nach denkens war der New Europe Prize. Er war mit 75.000 DM dotiert und wurde in jedem Jahr an zwei Preisträger verliehen, die Fellows an einem unse- rer Institute gewesen waren. Die Auswahl der Preisträger trafen die Direkto- ren. Der Preis wurde einer Person zugesprochen, das Preisgeld sollte jedoch entweder der Heimatinstitution des Preisträgers zukommen oder dem Auf- bau einer neuen Institution dienen. War es schon nicht die Regel, dass europäische und amerikanische Insti - tutionen mit Blick auf die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa der art eng miteinander kooperierten, so war die gemeinsame amerikanisch-euro- päische finanzielle Förderung eines solchen Preises erst recht ungewöhnlich. Zu den fördernden Institutionen gehörten auf europäischer Seite die Fritz Thyssen Stiftung, der Swedish Council on Higher Education und das niederlän- dische Ministerie van Onderwijs en Wetenschappen, auf der amerikanischen Seite die John D. and Catherine T. MacArthur Foundation. Im gleichen Jahr begann ein Stipendienprogramm der amerikanischen Andrew W. Mellon Foun- dation, das dem Wissenschaftskolleg die Einladung exzellenter Nachwuchs- wissenschaftler aus den mittel- und osteuropäischen Ländern erleichterte. Am 11. November 1993 wurde in einer Feier im Wissenschaftskolleg der New Europe Prize zum ersten Mal verliehen. Die Preisträger waren der Klassi- sche Philologe Alexander Gavrilov aus Sankt Petersburg, der Fellow in der School of Historical Studies des Institute for Advanced Study in Princeton, und der rumänische Kunsthistoriker und Religionswissenschaftler Andrei RICHARD M. HORNREICH · HERBERT HRACHOVEC · KENNETH HSÜ · THOMAS P. HUGHES ·