BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks

Sendung vom 18.04.2000

Gerhart Rudolf Baum Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Herzlich willkommen, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, bei Alpha- Forum. Zu Gast ist heute Gerhart Rudolf Baum, ehemals Bundesinnenminister im Kabinett von Kanzler . Herzlich willkommen, Herr Baum. Herr Baum, Sie waren über drei Jahrzehnte in der Politik aktiv: Sie waren von 1972 bis 1994 Mitglied im Deutschen , Sie waren parlamentarischer Staatssekretär und Bundesinnenminister, und Sie waren lange Jahre stellvertretender FDP- Bundesvorsitzender. Was macht Gerhart Rudolf Baum denn heute? Baum: Er gewinnt Abstand von der Politik: Das war zunächst einmal ganz wichtig. Ich bin 1994 aus dem Bundestag ausgeschieden und hatte noch die Kraft und die Lust, etwas Neues zu beginnen. Ich hatte zunächst einmal doch die Sorge, dass ich Entfremdungsschmerzen, Ablösungsschmerzen, haben und dass mir etwas fehlen würde. Natürlich ist der Abschied aus der Politik nicht ganz spurlos an mir vorübergegangen, zumal ich ja versucht hatte, noch einmal ein Mandat zu gewinnen. Danach habe ich dann jedoch ganz konsequent gesagt, dass jetzt Schluss sei mit Politik und dass ich mir etwas Neues aufbauen möchte. Ich habe dabei dann doch gemerkt, wie sehr diese Jahrzehnte in der Politik an mir gezehrt haben: Ich habe ein Leben geführt, dass viel zu stark auf die Politik hin ausgerichtet war. Es fehlte daher vieles in meinem Leben: z. B. Freundschaften, Neigungen und Interessen. Aber es fehlte mir auch der Beruf. Jetzt habe ich einen Beruf: Das ist etwas, das ich jahrzehntelang nicht gehabt habe, weil ich Berufspolitiker war. Ich finde also, dass man das jedem Berufspolitiker nur empfehlen kann: Es muss irgendwann einmal Schluss sein damit. Man muss Jüngeren den Weg frei machen. Wenn man das rechtzeitig tut, dann kann man auch neugierig bleiben. Für mich ist das Neugierig-Bleiben ein Schlüssel für mein jetziges Leben: Ich nehme sehr starken Anteil an dem, was in der Politik geschieht, aber ich wirke nicht mehr mit. Reuß: Sie haben einmal gesagt, die Politik sei eine Droge: Was macht einen denn an der Politik süchtig, und hatten Sie in der Tat Entzugserscheinungen? Baum: Ich habe tatsächlich gesagt, dass die Politik eine Droge sei. Denn es gibt dabei eine wirklich sehr starke Droge: Das ist die Droge der Macht, des Einflusses, der Geltung, der Bedeutung. Reuß: Spielt auch Eitelkeit eine Rolle? Baum: Natürlich, es geht schon auch darum, dass man wahrgenommen wird. Ich bin jahrelang quasi immer auf dem Sprung gestanden, ob ich denn nun öffentlich etwas sagen müsste zu bestimmten Dingen, ob ich mich dazu äußern müsste. Es ging darum, darauf zu achten, was die anderen machen und wie man selbst im Spiel bleiben könne. Es herrscht also eine ständige Anspannung, um die politische Position, aber auch um die persönliche Position halten zu können. Das ist alles sehr verführerisch. Ich hatte diese Bemerkung einmal im Zusammenhang mit meinem Privatleben gemacht: Es war eben so, dass ich die Familie vernachlässigen musste, aber dann schon auch über dieses "Muss" hinaus die Politik vorgeschoben habe, um unbequemen Situationen im persönlichen Bereich ausweichen zu können. Ich habe mich also immer wieder in politischen Aktivitäten selbst bestätigt: Dabei habe ich meine Identität gewonnen. Reuß: "Für mich war Politik immer auch eine Frage der Leidenschaft und nie allein eine Frage der kalten Vernunft. Politik ist für mich auch immer eine Sache, mit Verlaub gesagt, der Utopie." So haben Sie das einstmals formuliert. Heute hat man den Eindruck, dass die Politik von Pragmatismus bestimmt wird. Gibt es in der Politik heute überhaupt noch Raum für Utopien? Baum: Das glaube ich schon. Ich habe nach dem Krieg angefangen mit der Politik. Ich bin ein Angehöriger der so genannten "Weißen Generation": Das heißt, ich war im Krieg nicht mehr Soldat, weil ich dafür zu jung war, und danach war ich dann nicht mehr in der Bundeswehr, weil ich dafür wiederum schon zu alt gewesen bin. Aber ich bin durch die Nachkriegsereignisse schon sehr geprägt worden. Ich erlebte den Krieg übrigens auch hier in München, denn ich habe als Flüchtlingskind aus hier in München auch noch Bombenangriffe miterlebt. Ich finde, dass die Politik zwar schon auch immer etwas zu tun hat mit einer Lebensplanung. Es gibt Leute, die sagen sich: "Ich gehe jetzt in die Politik und habe bestimmte Ziele dabei. Ich will ein bestimmtes Mandat erreichen usw." Aber damit allein ist es natürlich nicht getan. Ich finde, man muss schon auch eine politische Vorstellung haben. Ich frage mich heute allerdings sehr wohl bei vielen Politikern, was ich an denen eigentlich festmachen kann: Was treibt sie? Warum sind sie in dieser oder jener Position? Warum wurde Herr X Bundeskanzler? Was will er? Politik heißt also auch, das im Moment scheinbar Unmögliche, also das Utopische, umsetzen zu wollen. In meinem Leben gab es sicherlich viele Dinge, die politisch gescheitert sind, aber einige von den Dingen, von denen alle gesagt haben: "Das geht doch nie!", waren dann plötzlich doch machbar. Das betrifft meinetwegen Bereiche im Umweltschutz usw. Dieses scheinbar Unmögliche zu wollen und zu versuchen, halte ich wirklich für ganz wichtig. Reuß: Es gibt noch ein anderes schönes Zitat von Ihnen. Sie sagten, Sie seien froh, heute in diesem Gewürge nicht mehr dabei zu sein. Hat sich die Politik selbst verändert, oder hat sich die Vermittlung von Politik verändert? Baum: Sicherlich hat sich auch die Vermittlung von Politik verändert. Obwohl ich eigentlich mit diesen neuen Formen der Vermittlung durchaus zurechtkommen würde: Das an sich hätte mir keine Schwierigkeiten gemacht. Es hat sich aber in der Gesellschaft etwas verändert: Bestimmte Themen, die für mich wichtig waren, finden kein Echo mehr. Der ganze Bereich des Rechtsstaatlichen, die potentielle Verletzung der Bürgerrechte: Dafür war in den siebziger Jahren eine ganz andere Öffentlichkeit vorhanden. Ich konnte mich also bei dem, was ich politisch durchgekämpft habe, auf eine kritische öffentliche Meinung stützen – jedenfalls auf einen Teil der öffentlichen Meinung. Das ist heute nicht mehr so. Heute muss man, wenn man aus welchen Gründen auch immer die Freiheit oder die Bürgerrechte einschränken will, dafür keine Gründe mehr angeben. Demgegenüber muss heute derjenige, der das nicht will, sagen, warum er das nicht haben möchte. Das war damals anders. Reuß: Das hat etwas mit Liberalismus zu tun. Wie würden denn Sie den Liberalismus heute griffig definieren? Baum: So wie immer. Ich bin in die Politik mit einem bestimmten Freiheitsverständnis gegangen: Ich wollte nicht abhängig sein von großen gesellschaftlichen Gruppierungen. Ich wollte, dass jeder die Möglichkeit bekommt, im Zweifel für die Freiheit zu sein: mit aller Verantwortung, die damit zusammenhängt. Ich wollte also, dass sich die Bürgergesellschaft entfaltet: mit einem Staat, der sie nicht gängelt. Diese Vorstellung bezog sich auf alle Gebiete des Lebens. Heute bemängle ich an meiner Partei, dass sie zumindest den Eindruck macht, als sei ihr nur die Freiheit in der Wirtschaft wichtig und nicht auch alle anderen Bereiche. Reuß: Sie haben einmal gesagt, dass der Preis für vier Jahrzehnte Politik sehr hoch sei, denn ein solches Leben würde über kurz oder lang zu Deformationen führen. Welche Deformationen waren das? Baum: Eine ganz schlimme Deformation bestand darin, dass man überhaupt keine Zeit mehr hatte, Freundschaften zu pflegen. Man ist in diesem Punkt einfach verödet. Man konnte sein Leben auch nicht mehr lang- bzw. mittelfristig planen. Das ist doch einer der höchsten Preise, die man da bezahlt: Ob man das nun will oder nicht, aber die menschlichen Beziehungen kommen dabei unter die Räder. Reuß: Ich würde unseren Zuschauern gerne den Menschen Gerhart Rudolf Baum näher bringen. Sie sind am 28. Oktober 1932 in Dresden geboren. Ihr Urgroßvater war Schmied, Ihr Großvater und Ihr Vater waren dann ebenso wie Sie bereits Rechtsänwalte. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre ganz frühe Jugend? Baum: Wunderbare. Ich bin ja in Dresden aufgewachsen: Das war damals meiner Ansicht nach eine der schönsten Städte der Welt. Sie hieß ja nicht umsonst auch "Elb-Florenz". Diese Stadt war ja auch lange Zeit vom Krieg weitgehend verschont geblieben. Mein Vater war im Krieg: Das war die erste Zäsur, die unser Familienleben betraf. Dann kam dieser fürchterliche Angriff im Jahr 1945: Kurz vor Beendigung des Krieges haben die Alliierten in einer Nacht, in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, Dresden zerstört. In diesem Flammenmeer haben wir mit Mühe und Not unser Leben gerettet. Das ist die Erinnerung, die sich bei mir eigentlich noch bis heute in sehr traumatischer Weise mit Dresden verbindet: jedes Mal, wenn ich dort bin. Reuß: Sie denken häufig an diesen Bombenangriff? Baum: Ja. Im Grunde war da in einer Nacht alles weg, nicht nur das persönliche Hab und Gut, sondern auch die ganze Umgebung: die Schule, die Schulfreunde usw. Diese bis dahin ja noch geordnete Welt wurde mit einem Schlag zerstört. Dazu kam natürlich dieses schreckliche Grauen, das Sterben, diese vielen toten Menschen: Diese zerstörte, brennende Stadt werde ich nie vergessen. Das besonders Schlimme daran ist ja, dass Dresden nicht wieder aufgebaut worden ist. Das was man heute als Dresden kennt, ist sicherlich sehr schön: Die Stadt liegt an der Elbe, und es gibt dort auch restaurierte Gebäude. Aber die Urbanität dieser Stadt ist nie wieder hergestellt worden. Reuß: Ihr Vater ist im Krieg gefallen, und Sie sind aus Dresden geflohen mit Ihrer Mutter und Ihrem Bruder. Wie muss man sich das vorstellen? Wie ist diese Flucht vonstatten gegangen? Wohin sind Sie gegangen? Baum: Wir hatten ein paar Koffer und sind dann eben aus dem brennenden Dresden irgendwie herausgekommen bis wir in einem Nachbarort ankamen. Da wir in Bayern Freunde hatten, sind wir in den Zug gestiegen und nach München gefahren. Bei dieser Fahrt erinnere ich mich vor allem an die Tieffliegerangriffe: Der Zug stoppte, und wir stürzten alle raus aus dem Zug und in irgendeine Bahnunterführung hinein. Die Flugzeuge kamen und beschossen dann den Zug: Sie nahmen offenbar an, dass das ein Wehrmachtstransport sei. Als wir in München ankamen, waren wir Flüchtlinge. Es gab zu der Zeit natürlich unzählige Flüchtlinge, und so sind wir am Tegernsee in ein Haus einquartiert worden, das man uns zugewiesen hat. Dort haben wir dann versucht zu überleben: meine Mutter mit ihren drei Kindern. Reuß: Danach kamen Sie nach Köln und machten dort auch das . Ich habe nachgelesen, dass Sie dabei auch der Klassenbeste waren und die Rede bei der Abiturfeier gehalten haben. Hatten Sie damals schon einen ganz konkreten Berufswunsch? Baum: Ich habe geschwankt, wie ich sagen muss. Ich habe eine sehr starke Affinität zur Kunst und zu künstlerischen Dingen. Deswegen hatte ich auch einmal eine Zeit lang vor, Kunstgeschichte zu studieren. Da sich jedoch bereits zu der Zeit meine politischen Interessen zeigten, habe ich mir gedacht, dass sich mit dem juristischen Beruf doch die vielseitigsten Möglichkeiten verbinden. So habe ich dann eben Jura studiert: Das hat mir eigentlich gar nicht so wahnsinnig geschmeckt, denn ich war kein leidenschaftlicher Jurist. Die Juristerei hat mir erst Spaß gemacht, als ich vor Gericht mit Menschen zu tun hatte. Das trockene Studium war dagegen nicht so sehr meine Sache gewesen. Meine ursprüngliche Intention hat sich dann auch als richtig erwiesen: Ich war zunächst einmal für kurze Zeit Anwalt, bis ich für einige Jahre den Posten eines Geschäftsführers bei der "Bundesvereinigung der Arbeitgeber" annahm. Von dort aus konnte ich mich dann politisch entwickeln. Reuß: Sie sind noch 1954, sozusagen mit dem Abitur, in die FDP eingetreten. Es war damals für einen jungen Menschen ja nicht unbedingt etwas Selbstverständliches, sich politisch zu engagieren. Warum haben Sie das getan? Warum sind Sie in eine Partei eingetreten und warum gerade in die FDP? Baum: Ich wollte politisch mitwirken. Ich stand unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Diktatur und war motiviert, an diesem politischen Aufbau einer Demokratie mitzuwirken. Das war mein ganz fester Wille: Ich wollte mitwirken an dem, was da neu entstand. Das war also die Motivation, in die Politik zu gehen. In die FDP bin ich gegangen, weil sie damals eine sehr ideologiefreie Partei war: Sie hatte nichts zu tun mit den Gewerkschaften, und sie hatte auch nichts mit den christlichen Traditionen zu tun. In Köln musste man ansonsten entweder katholisch oder evangelisch sein, weil da dann jeweils ein richtiggehender Proporz hergestellt wurde. Ich wollte damit aber nichts zu tun haben. Ich wollte in eine Partei gehen, die von all dem frei war. Sie war allerdings nicht frei von gewissen Resten aus der Nazizeit. Gerade in der nordrhein-westfälischen FDP gab es sehr starke braune Flecken: Gegen die habe ich jahrelang gekämpft mit der Unterstützung von Freunden von hier, aus dem süddeutschen Bereich, also mit der Unterstützung der baden- württembergischen und auch einem Teil der bayerischen FDP. Frau Hamm-Brücher wäre hier als Beispiel für diese Unterstützung zu nennen. Ich habe also versucht, die FDP von innen her zu ändern: Das hat sehr lange gedauert. Reuß: Sie haben einmal gesagt: "Im Deutschen sind Dinge an Intoleranz, an Selbstüberschätzung und Irrationalität angelegt, die mich mitunter erschrecken." Sehen Sie das immer noch so, oder würde Ihre Analyse heute anders ausfallen? Baum: Ich habe diese Worte wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit dem Terrorismus gesagt. Denn damals habe ich festgestellt, dass das Phänomen des RAF-Terrorismus ein typisch deutsches Phänomen ist. Das war in der Tat eine Form von Intoleranz und Radikalität, die über Leichen ging: Das war ein moralischer Rigorismus, dem jedes Mittel recht war. Wir sind aber in unserer Demokratie insgesamt in der letzten Zeit doch etwas pragmatischer und reifer geworden, wie ich glaube. Aber es gibt schon immer noch eine unterschwellige Gefährdung, die man nicht ganz ausschließen kann. Andere Völker sind ruhiger und gefasster gegenüber irrationalen Strömungen als wir. Aber im Moment spielt das keine Rolle. Reuß: Sie waren 1966 bis 1968 Bundesvorsitzender der "Jungdemokraten", also der Jugendorganisation der FDP. Heute sind das die "Jungen Liberalen". Sie zählten schon damals zum eher linken Flügel der FDP, aber gleichzeitig waren Sie Geschäftsführer der "Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände". Gab es zwischen diesen beiden Positionen nicht Reibereien? Baum: Doch, ja, da gab es im Arbeitgeberverband durchaus Stimmen, die gesagt haben: "Was macht der Baum eigentlich bei uns?" Das war aber insofern erträglich, als ich eine Position vertrat, die mit der deutschen Innenpolitik nicht viel zu tun hatte. Ich war acht Jahre lang der Vertreter der Arbeitgeber in Brüssel. Unser Hauptthema in der Jugendorganisation war damals allerdings nicht die Kapitalismuskritik: Das wäre bei den Arbeitgebern unter Umständen dann doch schwierig geworden. Das war aber auch nie meine Position: Das heißt, ich war nie ein radikaler Kritiker des Kapitalismus, denn ich habe die Marktwirtschaft eigentlich nie in Frage gestellt. Unser Thema war damals die Ostpolitik: Wir wollten die Oder-Neiße-Linie anerkennen, wir wollten eine neue Regierung, wir wollten Mende loswerden, wir wollten den "Kalten Krieg" beenden. Das war unser Thema, und dieses Thema konnte man auch in einer solchen Position vertreten. Reuß: Ab 1966 gehörten Sie auch dem Bundesvorstand an. Damals regierte in die Große Koalition. Sie haben schon sehr frühzeitig für einen Schwenk Ihrer Partei hin zur SPD geworben. Warum? Baum: Genau aus den soeben erwähnten Gründen. Ich wollte eine Öffnung nach Osten, und ich habe das dann in meiner Partei zusammen mit anderen auch durchgekämpft. Wir haben 1968 auf dem berühmten Parteitag in Hannover als Jungdemokraten einen Antrag gestellt, der nur aus einem Satz bestand: "Die Oder-Neiße-Linie wird anerkannt." Das war damals absoluter Sprengstoff, und die Partei drohte auch auseinanderzuknallen. Dieser Antrag ist dann in der Weise auch nicht angenommen worden: Stattdessen hat Genscher aus der Ferne irgendeine Kompromissformel geliefert. Aber das zeigte jedenfalls unseren Weg auf: Wir wollten diese Verlogenheit beenden, die darin bestand, die faktischen politischen Verhältnisse einfach zu ignorieren und die Konsequenzen des Krieges in Frage zu stellen. Es gab dafür aber neben der Ostpolitik noch ein zweites Motiv. Ich wollte nämlich wirklich Reformen haben: Ich wollte diese Gesellschaft in der Tat reformieren. Ich war ein Teil dieser achtundsechziger Bewegung, die heute mitunter ganz zu Unrecht verunglimpft wird. Natürlich gab es damals auch Entgleisungen und Intoleranz. Es gab auch böse Ausschläge in extreme Richtungen. Aber im Kern war das die Anstrengung einer ganzen Generation, die Demokratie auch wirklich mit Leben zu füllen: Es ging dabei z. B. um die Mitbestimmung, um Reformen im Strafrecht, um eine Verbesserung der Stellung der Frau usw. All das hat uns damals wirklich sehr bewegt. Einer der damaligen Beobachter, Jan Ross, hat jüngst gesagt: "Damals wurde die Republik zum zweiten Mal gegründet." Darauf bin ich auch stolz. Ich empfinde es auch als wunderbar, dass Herr Gauck bei seiner Rede im Reichstag zum Gedenken der Einheit vor einigen Wochen gesagt hat: "Wir haben es sehr genau bemerkt, was ihr damals gemacht habt. Das ist etwas, das ihr eingebracht habt in unsere Demokratie." Ich finde, das ist sehr gut beobachtet, denn genauso war es auch. Reuß: Sie haben auch Kommunalpolitik gemacht: Sie waren von 1969 bis 1973 Stadtrat in Köln und dort auch Fraktionsvorsitzender der FDP. Kann man in der Kommunalpolitik auch etwas für die ganz große Politik lernen? Baum: Ungeheuer viel. Ich habe das sehr gerne gemacht. Ich war zehn Jahre lang Kreisvorsitzender. Die FDP war davor einmal wieder nicht im Rat gewesen, bis ich zusammen mit meinen Freunden in Köln den Sprung über die Fünf- Prozent-Hürde geschafft habe. Wir standen dort im Rathaus zwar einer absoluten Mehrheit der SPD gegenüber und wurden insofern auch nicht "gebraucht", aber wir waren vorhanden als politische Kraft. Dort kann man lernen, politische Entscheidungen zu beeinflussen, die wirklich ganz nahe sind. Man geht da in der Tat am Abend aus dem Rathaus heraus und kann beim Anblick bestimmter Dinge in der Stadt sagen: "Aha, darüber haben wir heute entschieden." Man begegnet dabei auch den Menschen, die an bestimmten Entscheidungen ein Interesse haben. Man kann da also wirklich diese Unmittelbarkeit der Demokratie erleben: Ich kann daher nur allen jüngeren Leuten empfehlen, ihren politischen Weg dort zu beginnen. Reuß: Sie wurden 1972 in den Bundestag gewählt und danach dann sozusagen stante pede auch gleich parlamentarischer Staatssekretär: Genscher hat Sie nämlich ins Innenministerium geholt. Wie hat sich das ergeben? Baum: Genscher hatte den Instinkt dafür, in seinem Ministerium auch diejenigen Kräfte einbinden zu müssen, die eine starke Minderheit darstellten: Das waren, wenn Sie so wollen, die linksliberalen Kräfte, und ich war eben einer der Repräsentanten dieser Gruppierung. Meine Freunde haben zwar zu mir gesagt: "Na, du gehst jetzt zu Genscher? Der ist vielleicht doch so etwas wie ein 'Polizeiminister' und eher konservativ gestrickt. Da sieh' mal zu, wie du damit fertig wirst!" Es gab dort im Arbeitsstab von Herrn Genscher auch einen gewissen Herrn Verheugen und einen gewissen Herrn Kinkel: Wir drei waren die Berater von Herrn Genscher. Genscher erwies sich dann in der Tat als ein sehr liberaler Mann. Ich muss allerdings dazusagen, dass ich das vorher eigentlich auch schon wusste, denn sonst wäre ich gleich gar nicht in dieses Ministerium gegangen. Ich habe in dieser Tätigkeit gewisse politische Akzente setzen können, die meiner politischen Auffassung entsprochen haben. Er hat mir z. B. in der Zeit den Umweltschutz anvertraut: Er war ja sozusagen überhaupt der Vater der Umweltpolitik hier in der Republik, denn er hat damals damit begonnen. Die Kulturpolitik war ebenfalls wichtig für mich. Im Laufe der Zeit hat sich eine sehr enge Kooperation mit Genscher herauskristallisiert: Er war – genauso wie später als Parteivorsitzender – quasi die Brücke zwischen den Wirtschaftsliberalen und den eher Bürgerrechtsliberalen. Reuß: Machen wir einen kleinen Sprung in der Geschichte. Im Mai 1974 trat u. a. wegen der Guillaume-Affäre als Kanzler zurück. Der damalige Kanzleramtsminister machte damals Genscher große Vorwürfe. Er sagte, Genscher hätte die ganze Sache etwas leichtfertig gesehen, denn man hätte in seinem Ministerium bestimmte Geschichten, die man hätte kennen müssen, nicht mit der nötigen Bedeutung versehen gehabt. Wie haben denn Sie diese Affäre erlebt? Baum: Diese Affäre war schon ziemlich dramatisch. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Brandt nur deswegen zurückgetreten ist: wahrscheinlich war das nicht der Fall. Für Genscher war das eine gefährliche Situation, die er dann jedoch, wie ich meine, unbeschädigt überstanden hat. Es kam freilich auch hinzu, dass die Sozialdemokraten vorsichtig sein mussten, denn sie brauchten uns ja wegen der Mehrheit. Reuß: 1976 hätten Sie Nachfolger von als FDP- Generalsekretär werden können. Sie wollten das jedoch nicht. Warum nicht? Hätten Sie in dieser Position nicht mehr gestalten können? Baum: Nun, ich hatte damals das Gefühl, dass ich die Partei nicht so hinter mich bringen konnte, wie das in der Position notwendig gewesen wäre. Denn als Generalsekretär muss man ja doch auch alle Flügel der Partei einbinden können. Ich wollte aber nicht zu einer Person werden, die lediglich moderiert, anstatt eine eigene und sehr prononcierte Meinung zu vertreten. Da bin ich doch lieber bei meiner damaligen Aufgabe geblieben. Reuß: Sie waren in den siebziger Jahren parlamentarischer Staatssekretär. Diese Jahre waren auch die Jahre des Terrorismus. Das begann im Grunde genommen im Jahr 1974 mit der Ermordung des Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann und setzte sich bis zum traurigen Höhepunkt im Jahr 1977 fort: der Ermordung des Generalbundesanwalts Buback, der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto und der Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer. Wie haben Sie diese Zeit des Terrorismus erlebt? Baum: Ich habe sie an der Seite meines Amtsvorgängers erlebt. Ich war sehr involviert, obwohl ich damals kein Entscheidungsträger war. Als parlamentarischer Staatssekretär ist man ja an sich in einer sehr merkwürdigen Rolle: Man ist kein richtiger Abgeordneter und auch kein richtiger Minister. Das Ganze hat mich damals aber wirklich unmittelbar berührt. Ich habe das alles ja miterlebt im Ministerium: den Überfall auf die Botschaft in Stockholm usw. Ich habe dann aber leider auch miterlebt, wie die Republik überreagiert hat. Man hatte hier das Gefühl – das war sicherlich durch einen Teil der Medien aufgestachelt worden –, als würde die Republik mit diesen Terroristen in einen Kriegszustand eintreten. Die Terroristen waren eine Gruppe von vielleicht 25, 30 oder 40 Leuten. Es wurde in der Zeit quasi der Notstand ausgerufen. Das heißt, man hat in jeder Weise überreagiert: Das betrifft u. a. auch die gesetzlichen Gegenmaßnahmen. Es gab eine allgemeine Hysterie, und es gab den so genannten Radikalenerlass, den man in diesem Zusammenhang sehen muss und den ich dann später abgeschafft habe. Damals gerieten Hunderttausende von jungen Leuten in die Karteien des Verfassungsschutzes, weil sie irgendwelche politischen Aktivitäten unternommen hatten, weil sie bestimmte Zeitungen abonniert hatten, weil sie an bestimmten Kongressen teilgenommen hatten usw. Das Schlimme war nicht allein, dass dies alles registriert und erfasst wurde, sondern dass diese Informationen z. B. hinzugezogen wurden, wenn jemand in den öffentlichen Dienst gehen wollte. Das war schon so etwas wie ein Krieg der Generationen: Es herrschte ein allgemeines Misstrauen, und damit einher ging ein Entfremdungsprozess zwischen den Generationen. Darüber hinaus wurde dabei aber auch der Rechtsstaat beschädigt. Das alles habe ich sehr intensiv miterlebt: Ich versuchte dann auch, als ich Innenminister geworden war, dagegen zu wirken. Reuß: Was hat Ihrer Ansicht zu dieser Eskalation der Gewalt geführt? Wie war damals die psychologische Befindlichkeit? Baum: Nun ja, das war schon auch ein typisch deutsches Phänomen. Es lagen dabei zunächst einmal doch politische Motive vor, die sich dann allerdings ins Kriminelle entwickelt haben. Aber man musste mit dem Terrorismus trotzdem anders umgehen als mit "normalen" Erscheinungen der Kriminalität. Man musste hier danach fragen, was denn die Wurzeln sind, wie denn die Leute dazugekommen sind, z. B. Häuser zu besetzen: Es hatte den Vietnamkrieg gegeben, es gab Ungerechtigkeiten im Nord-Süd- Verhältnis usw. Es hatte bei den Terroristen auch immer wieder die Motivation vorgelegen, auf keinen Fall in der gleichen Weise wie die Väter schuldig zu werden, die damals das Unrecht mit angesehen und nichts dagegen unternommen hatten. Aus dieser moralisch rigoristischen Position heraus war das entstanden. Ich habe dann als Minister versucht, den Terrorismus nicht nur mit der Polizei und der Justiz zu bekämpfen, sondern auch seinen Wurzeln nachzugehen und einen Dialog aufzunehmen: nicht mit den eigentlichen Tätern, das war unmöglich, aber zumindest mit denen, die für ihn eine gewisse Sympathie gezeigt haben. Es war allerdings so, dass Menschen, die damals zur Besonnenheit geraten haben wie z. B. Heinrich Böll, hier in diesem Land einen sehr schweren Stand hatten und als Sympathisanten abqualifiziert worden sind. Ich habe damals ein Buch geschrieben mit dem Titel "Der Staat auf dem Weg zum Bürger": Ich versuchte wirklich, auf diejenigen zuzugehen, die als Sympathisanten des Terrorismus in Frage gekommen sind, um mit ihnen eine Auseinandersetzung zu führen über die politischen Ursachen des Terrorismus. Meine Absicht war, ihn damit zu isolieren. Reuß: 1978 war Ihr Amtsvorgänger Werner Maihofer zurückgetreten: Es ging damals um eine gesetzeswidrige Abhöraktion von Klaus Traube, dem man Kontakte zum Terrorismus nachgesagt hatte. Sie wurden der Nachfolger von Maihofer: dieses jedoch nicht sofort, weil es zuerst einmal eine Suche nach einem geeigneten Nachfolger gegeben hatte. war dafür im Gespräch gewesen ebenso wie Wolfgang Mischnick. Schließlich hat man Sie gefragt. Hat es Sie gekränkt, dass Sie sozusagen als Juniorminister nur zweite oder dritte Wahl waren, wenn ich das einmal so provokant ausdrücken darf? Baum: Ja, das war so, aber ich hatte dadurch natürlich auch ganz im Gegensatz zu jemandem, der erste Wahl gewesen wäre, die Chance zu zeigen, dass ich eben keine wirkliche zweite Wahl war. Meine Arbeit hat die Leute dann doch sehr erstaunt. Sie sagten: "Der wird ja mit allem fertig! Der kommt auch mit den Sicherheitskräften zurecht usw.!" Reuß: Hing dieses Zögern gegenüber einer Ernennung Ihrer Person auch mit Ihrer politischen Position zusammen? Baum: Ja, das glaube ich schon. Denn es herrschte das Vorurteil, dass man einem Linken doch nicht die Polizei anvertrauen könne usw. Es hat dann viele überrascht, dass ich das doch so hingebracht und auch weitgehend das Vertrauen meiner Leute gefunden habe: unabhängig von deren Parteizugehörigkeit. Mein damaliges Ministerbüro bestand nämlich aus lauter CDU-Leuten. Der jetzige Geschäftsführer der CDU, Herr Hausmann, war z. B. mein Büroleiter. Ich habe also versucht, das Amt gemäß den Bedürfnissen des Amtes zu führen und nicht als Parteipolitiker. Natürlich habe ich diesem Amt auch eine politische Prägung verliehen, aber ich habe wirklich versucht, mit dem hervorragenden Potential, das im Ministerium vorhanden war, zu arbeiten. Ich glaube, ich habe auch ganz erfolgreich gearbeitet und dabei auch das Vertrauen der Leute, mit denen ich zu tun hatte, gewonnen. Reuß: Wer prägt eigentlich wen mehr? Das Amt den Amtsinhaber oder der Amtsinhaber das Amt? Baum: Das ist eine gute Frage. Das ist jedenfalls ein ganz fruchtbarer wechselseitiger Prozess. Vieles bringt man dabei sicherlich von außen mit hinein: schon allein aufgrund der ständigen Kontakte, die ein Politiker hat. Denn er ist ja nicht nur im Wahlkampf unterwegs und spricht und trifft sich mit vielen Leuten. Man bringt also etwas mit, aber man bekommt auch etwas. Das Interessante ist dann, diese Spannungen auszuhalten und zu sagen: "Hier muss nun etwas geschehen, das können wir doch nicht so stehen lassen!" Da wird einem dann jedoch zuweilen von den eigenen Leuten gesagt: "Das geht aber nicht, Herr Minister, denn dieses und jenes spricht absolut dagegen!" Ich halte es für wichtig, in solchen Situationen einen Prozess in Gang zu setzen. Man darf sich mit einem solchen Nein nicht zufrieden geben, sondern muss – wie ich das oft gemacht habe – mit den Leuten lange zusammensitzen, um herauszufinden, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, dieses oder jenes nun verändern zu können. In vielen Fällen hat man sich dann auf diese Weise doch gegenseitig beeinflusst. Ich habe aber auch Folgendes gelernt: "Vieles von dem, was du dir so einfach vorgestellt hast, geht wirklich nicht. Das geht aus den verschiedensten Gründen nicht, aus rechtlichen, verfassungsrechtlichen, finanziellen und sonstigen Gründen." Die Mitarbeiter haben aber ihrerseits auch manchmal gesagt, dass bestimmte Ideen von mir vielleicht doch ganz gut seien und dass sie nun doch sehen wollten, ob man da etwas machen könne. Manchmal war es dann auch wirklich so, dass ich ihnen etwas beigebracht habe. Reuß: 1979, Sie waren gerade einmal ein Jahr im Amt, haben Sie einen sehr umstrittenen Schritt getan: Sie haben das Gespräch mit Horst Mahler gesucht, einem der Mitbegründer der RAF, der "Rote Armee Fraktion". Sie machten das zu einer Zeit, in der der Terrorismus noch nicht überwunden war. Das war ja auch für Sie eine politisch nicht ganz ungefährliche Geschichte: Warum haben Sie das getan? Baum: Ich wollte, wie ich das soeben schon angedeutet habe, durch so ein Gespräch mit einem Mann, der seine Strafe abgesessen und der sich vom Terrorismus abgewendet hatte - das war die Voraussetzung dafür –, deutlich machen, was, festgemacht an seiner Person, unter anderem die Ursachen für den Terrorismus waren. Im Grunde war es so, dass wir uns gefragt haben: Er ist Anwalt, ich bin Anwalt, er ist Terrorist geworden, ich wurde Innenminister – was ist da passiert in diesen Lebensläufen? Ich wollte damit Einfluss nehmen auf diejenigen, die immer noch eine Sympathie für den Terrorismus hatten: Deshalb war dieses Gespräch so wichtig. Wäre unmittelbar danach wieder ein Anschlag geschehen, dann wäre ich als Minister aus dem Amt gejagt worden, das war mir vollkommen klar. Aber dieses Risiko wollte ich eingehen. Es gab nach diesem Gespräch von der CDU/CSU-Fraktion einen Misstrauensantrag gegen mich, weil ich angeblich zu einem Sicherheitsrisiko geworden war: Dieses Wort vom Sicherheitsrisiko wurde damals geboren. Trotzdem hielt ich damals dieses Gespräch für notwendig, und so habe ich das dann auch durchgestanden. Reuß: Wie hat denn z. B. der Kanzler darauf reagiert? Baum: Er hätte es selbst sicherlich nicht gemacht. Er hätte auch niemandem empfohlen, das zu machen. Aber insgesamt war mein Verhältnis zum Kanzler sachlich und letztlich doch von gegenseitigem Respekt getragen. Ich habe ihn sehr geschätzt: Er war ein sehr guter Kanzler. Aber er vertrat natürlich nicht alle politischen Ansichten, die wir hatten. Wir haben uns in dieser Koalition eben ergänzt. Ich hatte auch das Gefühl, dass er mich nach anfänglichem Misstrauen auch ernster genommen hat. Reuß: Sie waren ein Minister, der sehr stark polarisiert hat: Für Genscher waren Sie das liberale Gewissen in der sozial-liberalen Koalition. Die Union und insbesondere der damalige Kanzlerkandidat im Jahr 1980, Franz Josef Strauß, hat Sie ein "Sicherheitsrisiko" und einen "Unsicherheitsminister" genannt. Er sagte damals, man müsse heute schon deshalb an die Regierung, um Gerhart Rudolf Baum zum Teufel jagen zu können. Auch der Oppositionschef im Deutschen Bundestag, , meinte, es wäre ein Segen für unser Land, wenn Sie aus dem Amt scheiden würden. Warum waren Sie für die Union das rote Tuch? Baum: Ich hatte eben ein ganz anderes Rechtsstaatsverständnis als sie. Sie waren, um es einmal ein wenig platt zu sagen, -and-Order-Leute. Ich dagegen hatte das Gefühl, dass der Staat auch einmal den Mut zum Risiko der Freiheit haben müsse: Es kann nicht alles geregelt werden, es kann nicht jede Gefahr ausgeschlossen werden. Man kann dem Menschen nicht alles abnehmen. Das war ihnen ganz einfach nicht geheuer. Wir haben uns damals sozusagen gegenseitig bestätigt: Ich war daher auch gar nicht überrascht, wenn wir damals in Vilshofen am Aschermittwoch auf diesen Treffen vorgeführt worden sind. Ich dachte mir, dass das, was ich mache, dann schon stimmen würde, wenn die Reaktion darauf so aussieht. Ich bedaure es wirklich, dass meine Partei heutzutage von der CSU nicht mehr in der Weise vorgeführt wird. Aber damals war das eben so, und wir haben auch in der Abgrenzung gegenüber Franz Josef Strauß Wahlerfolge erzielt. Er hat dementsprechend das Seine getan, indem er sich für seine Klientel abgegrenzt hat. Aber dahinter standen in der Tat auf beiden Seiten politische Überzeugungen, die unvereinbar waren. Reuß: Als Bundesinnenminister waren Sie Verfassungsminister, waren zuständig für Medien, Politik, Sport, Dienstrecht und Dienstrechtsreform, Beamtenbesoldung usw. Was war Ihnen dabei mehr Lust, was war Ihnen mehr Last? Baum: Die Tarifverhandlungen waren Lust. Das war immer ungeheuer spannend... Reuß: Ist man denn dabei als Bundesinnenminister nicht immer der Buhmann, weil man versucht, die Erhöhung möglichst niedrig zu halten? Baum: Ja, das stimmt schon. Aber dieses Spiel, wie man dann letztlich mit allen Finessen zu einem Ergebnis kommt, zu einem Ergebnis, bei dem dann hinterher all diejenigen, die vorher ganz unterschiedliche Ansichten hatten, dieses Ergebnis als ein gemeinsames Ergebnis vertreten: Das hat mich immer sehr interessiert. Die Kulturpolitik hat mir ebenfalls immer großen Spaß gemacht. Wir haben damals überhaupt zum ersten Mal die Bundeskulturpolitik in die Wege geleitet. Reuß: Eine große Tageszeitung kommentierte einmal: "Wer das Prinzip einer offenen Politik verfolgt, steht schnell vor offenen Messern." Würden Sie nach Ihrer Erfahrung als Bundesinnenminister diese Auffassung teilen? Baum: Ja, aber ich würde das nicht in wehleidiger Form tun. Man selbst hat ja auch "Messer". Dass man verletzbar ist, ist klar, aber wenn man politische Freunde hat, die zu einem stehen, dann kann man das schon ertragen. Reuß: Zu Beginn der achtziger Jahre kam die damalige Koalition ins Schlingern. Es gab die Ölpreiskrisen, es gab einige Landtagswahlen, die man verlor, und der NATO-Doppelbeschluss brachte insbesondere die SPD in eine große Krise: War zu Beginn der achtziger Jahre für Sie das Ende der Koalition schon absehbar? Baum: Ja, es war dann spätestens Ende 1981 bzw. zu Beginn des Jahres 1982 absehbar. Aber ich wollte die Koalition eben nicht auf diese Weise beenden. Das war damals eben auch der große Streit zwischen Lambsdorff und Genscher auf der einen und meinen Freunden und mir auf der anderen Seite. Dass sie so beendet worden ist, dass der Eindruck entstand, die FDP verrate ihre politischen Ziele und distanziere sich von ihrem Wahlversprechen, das sie 1980 gegeben hatte, war leider von verheerenden Folgen begleitet. Das heißt, ein Flügel der FDP brach dabei einfach weg. Ich bin schon auch der Meinung, dass die Koalition auf Dauer nicht zu halten gewesen wäre, aber man hätte sie überzeugender beenden müssen, als das geschehen ist. Reuß: Es ist ja immer noch eine Streitfrage, wer denn eigentlich schuld war an diesem Bruch der Koalition: Die SPD sagt, dass es die FDP war, und die FDP sagt, dass Kanzler Schmidt keine Mehrheit mehr hatte in der eigenen Partei, in der SPD. Wer war wirklich schuld? Hatte man sich auseinander gelebt? Baum: Teile der SPD wollten Schmidt als Kanzler nicht mehr: Das zeigen ja auch Äußerungen des heutigen Bundeskanzlers Schröder, der damals Abgeordneter gewesen ist: Sie wollten damals ganz bestimmte Entscheidungen nicht mehr mittragen wie z. B. den NATO- Doppelbeschluss. Sie hatten sich ganz einfach innerlich von der Regierung entfernt. Reuß: Einige Ihrer politischen Mitstreiter haben im Zusammenhang mit diesem Koalitionswechsel die FDP verlassen: z. B. Ingrid Matthäus-Meier, Andreas von Schoeler oder selbst der damalige Generalsekretär Günter Verheugen. Haben auch Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, die FDP zu verlassen? Baum: Ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, in eine andere Partei zu gehen. Das Einzige, das ich mir überlegt habe, war, von der Politik selbst wegzugehen. Reuß: Warum? Baum: Das war damals eine ganz schwierige Situation. Wir haben die Art des Koalitionswechsels kritisiert, und wir haben einen Gegenkandidaten zu Genscher aufgestellt. Es kam dann aber anders: Es gab diese neue Koalition. Viele Leute haben in der Zeit meine damalige Rede im Bundestag gelobt und zu mir gesagt: "Das ist eine klare Position." Ich hatte nämlich im Bundestag zusammen mit Frau Hamm-Brücher für Schmidt und gegen das Misstrauensvotum und damit gegen Kohl gesprochen. Viele verstanden aber nicht, dass ich danach in der FDP weitergemacht habe. Für mich war das eine ganz schwierige Situation, denn meine eigene Glaubwürdigkeit war sehr brüchig geworden: Ich habe sie zusammen mit meinem Freund Hirsch und einigen anderen danach allerdings wieder ein wenig aufbauen können. Zu der Zeit sagte ich mir aber schon manchmal: "Mein Gott, es wäre vielleicht doch besser gewesen, du wärst nicht im aktiven Spiel und im aktiven Politikleben geblieben." Reuß: Einige Ihrer Mitstreiter hofften ja, dass Sie wenige Wochen nach dem Koalitionswechsel, im September 1982, auf dem Bundesparteitag der FDP gegen Genscher als Parteivorsitzender kandidieren würden. Haben Sie mit diesem Gedanken gespielt? Wenn ja, warum haben Sie es nicht gemacht? Baum: Ich habe mir die Folgen überlegt. Stellen Sie sich einmal vor, ich wäre gewählt worden! Die alte Koalition war kaputt, und jedermann ging davon aus, dass jetzt eine neue käme: Das war unausweichlich. Auf diese Weise wäre ich dann plötzlich der Juniorpartner von Herrn Kohl geworden: Das wollte ich nicht. Die Konsequenz lautete, dass es jetzt eine neue Regierung braucht, eine Regierung zusammen mit der CDU. Für diese neue Regierung wollte ich zumindest damals nicht stehen. Reuß: Hans-Dietrich Genscher hatte Sie gefördert, und Sie haben einmal gesagt: "Ich bin von ihm geprägt worden und musste mich von ihm lösen, um mich ihm wieder annähern zu können." Wie war und ist Ihr Verhältnis zu Genscher? Baum: Sehr herzlich. Das ist im Laufe der Zeit immer tiefer geworden. Es ist ein Verhältnis, das von großem Vertrauen geprägt ist: Es ist wirklich ein Vertrauensverhältnis, das ich nicht missen möchte. Er hat mich in manchen Punkten tatsächlich sehr stark geprägt, und so musste ich mich doch zuweilen auch emanzipieren von ihm. Ich habe mich daher auch zeitweise von diesem Einfluss frei gemacht. Reuß: War Ihnen persönlich eigentlich klar, dass nach dem Koalitionswechsel das Ende Ihrer politischen Karriere gekommen war? Baum: Nein, ich habe schon noch irgendwo geglaubt, dass Teile meiner Partei so klug sein würden, diesen Flügel, den ich repräsentierte, auch wieder in die Verantwortung zu nehmen: nicht unbedingt in Form meiner Person, denn es gab ja auch noch andere. Meine große Enttäuschung bestand darin, dass das überhaupt nicht mehr geschehen ist. Im Grunde war es so, dass sie auf Leute wie mich keinen Wert mehr gelegt haben: Wir störten nur noch. Aber meine Hoffnung war eben doch eine andere gewesen. Reuß: Sie haben ja auch gegen Hans Engelhard um das Amt des Bundesjustizministers kandidiert: Diese Wahl haben Sie verloren. Hat Sie das damals gekränkt? Baum: Nein, denn wenn man das jetzt in der Rückschau genauer betrachtet, dann war es lediglich konsequent, dass er gewonnen hat, denn er lag im Mainstream der Partei. Mir war davor das Amt bereits 1982 angeboten worden: Ich sollte Justizminister in der Regierung von Kohl und Genscher werden. Das habe ich damals allerdings abgelehnt, denn das hätte doch kein Mensch verstanden. Reuß: Warum? Baum: Nach dem, was ich da meinen Parteifreunden an Widerstand geleistet hatte? Unser These lautete ja, dass es nicht möglich sei, in dieser neuen Koalition die liberale Politik fortzusetzen. Kein Mensch hätte es also verstanden, wenn ich damals dieses Angebot angenommen hätte. Ich habe das also aus tiefer Überzeugung abgelehnt. Aber ich hätte es werden können. Reuß: Fühlten Sie sich danach eigentlich von der eigenen Partei ausgegrenzt? Waren Sie ein Feigenblatt? Baum: Ja, zeitweise war ich das. Dann kam allerdings wieder Franz Josef Strauß ins Spiel, der mächtig auf die Abgeordneten Baum und Hirsch geschimpft hat. Offenbar hatten wir doch noch einen gewissen Einfluss gegen den Innenminister Zimmermann von der CSU geltend machen können. Es gab also schon noch gewisse Perioden, in denen wir politisch etwas bewirkt haben: Wir waren in Südafrika und haben gegen die Apartheid gekämpft usw. Aber im Grunde genommen war es ab der Zeit eigentlich vorbei. Reuß: Zu Beginn der neunziger Jahre haben Sie noch einmal eine ganz wichtige Aufgabe übernommen, deren Bedeutung zumindest in den Medien häufig unterschätzt wird. Sie waren bis 1998 Chef der deutschen Delegation der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Welche Aufgabe hatten Sie dabei genau? Baum: Es ging um die Entwicklung der Menschenrechtspolitik weltweit. Ich war 1993 auch Delegationsleiter auf der Weltkonferenz in Wien. Das Instrumentarium des Menschenrechtsschutzes und das Bewusstsein für Menschenrechte sollte gestärkt werden. Das war eine Aufgabe, die ich sehr gerne wahrgenommen habe. Ich glaube auch, dass die Menschenrechtspolitik in diesen sechs Jahren ein gutes Stück vorangekommen ist. Das merken wir heute ja auf Schritt und Tritt: Dazu muss man nur auf solche Gestalten wie Pinochet oder auf die existierenden Strafgerichtshöfe sehen. Die Menschenrechtspolitik hat an Bedeutung gewonnen: Die Menschenrechtskommission ist das zentrale Gremium der UNO geworden, das leider, wie Sie richtigerweise sagen, unterschätzt wird. Reuß: Wie würden Sie denn die Menschenrechtssituation heute einschätzen? Baum: In der Realität nicht sehr positiv. Es gibt nach wie vor unzählige Menschenrechtsverletzungen. Aber es ist die Hoffnung vorhanden, dass man gegen Menschenrechtsverletzungen doch erfolgreich kämpfen kann: erfolgreicher als früher. Denn das Menschenrechtsthema ist heute viel stärker geworden in den Beziehungen der Staaten untereinander. Dieses Thema ist aus der Politik heute überhaupt nicht mehr wegzudenken. Das halte ich in der Tendenz für eine sehr erfolgreiche Entwicklung, die freilich nichts daran ändert, dass nach wie vor viele Menschen unterdrückt, gefoltert, hingerichtet werden. Darüber darf man sich nicht täuschen. Aber es lohnt sich jedenfalls, dafür zu kämpfen. Reuß: Kommen wir noch einmal ganz kurz zur Innenpolitik. Der derzeit amtierende FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle hat die Politik der Sozial-Liberalen auch in Ihrer Partei heftig kritisiert. Er tat das u. a. mit dem Begriff der "Gefälligkeitsdemokratie". Er meinte, die Konsensgesellschaft sei zur Konkursgesellschaft geworden. Brauchen wir also heute weniger Korporatismus oder eher wieder mehr? Baum: Ich finde, dass das doch eine gewisse Überheblichkeit ist, die Herr Westerwelle hier an den Tag legt. Er ist ja nicht unbedingt ein erfolgreicher Generalsekretär nach diesen ungefähr 25 verlorenen Wahlen. Ich bin der Meinung, dass wir in der Tat über unsere Verhältnisse gelebt haben. Das betrifft alle zusammen, und nun geht es darum, dass man unser Land reformiert und den Menschen sagt, dass bestimmte Gewohnheiten - die Gewohnheit z. B., ein solches soziales Netz zu haben – nicht mehr aufrechterhalten werden können. In dem Punkt bin ich vollkommen an seiner Seite, nur bin ich der Meinung, dass man das an Werten orientiert machen muss. Man darf dabei eben nicht den Eindruck erwecken, man betreibe sozusagen lediglich die Öffentlichkeitsarbeit des Arbeitgeberverbandes. Meine Partei muss deutlich machen, dass in diesen ganzen Umbrüchen, in denen wir national wie international wegen der Globalisierung leben, die Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, neu hinterfragt werden müssen: Aber sie dürfen dabei nicht aufgegeben werden. Leider macht die FDP jedoch den Eindruck, als täte sie das. Reuß: Eine letzte Frage. Sie sagten einmal: "Im Grunde bestand mein ganzes politisches Leben darin, gegen die Mehrheit der Partei zu kämpfen." Ist das nicht frustrierend? Baum: Nun, ich war ja auch mitunter erfolgreich. Ich war als Minderheit doch auch erfolgreich. Ich kann also jungen Leuten nur sagen: "Habt Mut, macht etwas! Auch die Minderheit hat Einflussmöglichkeiten, denn sie wird berücksichtigt, kann Entscheidungen blockieren und ist unangenehm. Habt also den Mut, im Sinne eurer politischen Ziele anstößig und unangenehm zu sein!" Reuß: Unsere Zeit ist leider zu Ende. Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen für das sehr informative und angenehme Gespräch bedanken. Ich würde gerne mit einem Zitat von Ihnen selbst enden, weil es Sie, wie ich glaube, ganz prägnant beschreibt: "Abweichende Meinungen haben es immer schwer. Ich habe in meinem Leben eine Fülle diesbezüglicher Erfahrungen gemacht. Politik kann im Grunde nur weiterentwickelt werden, wenn einer oder eine mal den Mut hat, abweichende Meinungen zu äußern." Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Baum. Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, das war Alpha-Forum, heute mit Gerhart Rudolf Baum, dem ehemaligen Bundesinnenminister. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

© Bayerischer Rundfunk