APuZAus Politik und Zeitgeschichte 61. Jahrgang · 31–34/2011 · 1. August 2011

50 Jahre Mauerbau

Günter Kunert Im Rückspiegel

Hope M. Harrison Walter Ulbrichts „dringender Wunsch“

Gerhard Wettig Chruschtschow, Ulbricht und die Berliner Mauer

Hans-Hermann Hertle „Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten“

Andreas Kötzing Ein Hauch von Frühling

Daniela Münkel Mauerbau und Staatssicherheit

Dirk Schindelbeck Die Mauer und ihre Bilder

Sybille Frank Der Mauer um die Wette gedenken Editorial In der Nacht zum 13. August 1961 geschah mitten in Ber- lin Unvorstellbares. Mit Stacheldrahtverhauen und Ziegelmau- ern begannen die Machthaber in der DDR damit, die Grenzen zum Westen zu schließen und eine Millionenstadt zu teilen. Die nachts taghell erleuchteten Sperranlagen, die Spanischen Rei- ter und das „freie Schussfeld“ wurden bis 1989 zur gruseligen Normalität: für West-Berliner eher eine Unannehmlichkeit, für Ost-Berliner die tägliche Erinnerung daran, dass sie wie in ei- nem streng bewachten Gefängnis lebten.

Mindestens 136 Menschen sind an der Mauer in Berlin getötet worden oder kamen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die SED-Führung behauptete stets, die Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ habe dem Frieden gedient. Tatsächlich beendete das monströse Bau- werk die Massenflucht aus der DDR und sicherte der Staatspar- tei die Macht für weitere fast 30 Jahre.

In den Archiven findet sich eine Fülle von Belegen dafür, dass der Erste Sekretär der SED, , treibende Kraft bei der schließlich von den Sowjets befohlenen Abriegelung gewe- sen ist. Kreml-Chef Nikita Chruschtschow hatte lange gezö- gert. , ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, setzte den Mauerbau mit den „Freunden“ generalstabsmäßig um. Auch wenn eine „heiße“ Eskalation des Kalten Kriegs vermieden wer- den konnte: Der brachiale Schritt desavouierte das sozialistische Lager. Mit dem Beginn des Mauerbaus stand aller Welt vor Au- gen, wie gering die Attraktivität der DDR unter den Bedingun- gen der Systemkonkurrenz war. Jene, die unter diesen Verhält- nissen lebten, mussten mit Gewalt daran gehindert werden, den Arbeiter-und-Bauern-Staat zu verlassen.

Hans-Georg Golz Günter Kunert Da hörte man dann, im amtlichen Ton ver- lesen, die unschöne Bescherung: Heute Nacht haben unsere Sicherungskräfte (oder so ähn- lich) den Schutz der Grenze und so weiter Im Rückspiegel übernommen. Der genaue Wortlaut hat sich mir nicht eingeprägt, was auch nicht nötig war; man wusste, was geschehen ist. Und Essay dennoch: Man ist sich über die Konsequen- zen und Folgen der sogenannten „Maßnah- er Sonntag hatte so schön begonnen. men“ in diesem Moment nicht klar gewesen. DWunderbares Wetter verlockte zu einer Spritztour an den Müggelsee. Zwar sollte es Vielleicht handelte es sich nur um eine ver- zu einer Spritztour stärkte Kontrolle des Innerberliner Verkehrs, Günter Kunert kommen, doch anders vielleicht würde man zwischen Treptow, wo Dr. h. c., geb. 1929; Erzähler als gedacht. Draußen wir wohnten, und Neukölln seinen Ausweis und Lyriker, Präsident des PEN- in der Straße Stille zeigen müssen, vielleicht Taschen öffnen oder Zentrums deutschsprachiger und kein Passant. Wie einen Obolus entrichten müssen – die Naivi- Autoren im Ausland; 1979 Aus- friedlich die Welt ei- tät war groß, insbesondere meine. Es war ja reise aus der DDR, lebt seitdem nem doch vorkommen unvorstellbar, dass man die Stadt radikal tei- in der Nähe von Itzehoe. konnte. Die örtliche len und die Einwohner voneinander separie- Historie schien einge- ren könne. Obschon ein durch Erfahrung schlafen zu sein. War doch unser sächsischer gebranntes Kind, konnte ich mir nicht vor- Duodezkönig im April mit seiner Aktion, stellen, was da entstand. Ach, ich kannte aus West-Berlin in eine „freie Stadt“ zu verwan- meiner Kindheit die Sprüche der Erwachse- deln, glücklich (nicht für ihn) gescheitert. Da nen: Es wird schon nichts so heiß gegessen durfte man mit Adenauer sagen: Keine Expe- wie gekocht, bis sie selber in dem für sie her- rimente. Und der neue junge Präsident, Lieb- gestellten Orkus verschwanden. Ich hätte es ling der Götter, hatte sich mit dem dicken besser wissen müssen. Viele haben es besser Chruschtschow im Juni in Wien getroffen, gewusst, die vor diesem Tag sich auf die So- frisch, fromm, fröhlich, frei. Ja, Wien bleibt cken gen Westen gemacht hatten. Und dann Wien und Berlin im alten Status. klingelte es an der Wohnungstür.

Wahrscheinlich hatte sich Kennedy für die Karl-Heinz, der Anrufer, erschien, in den missglückte Invasion auf Kuba im April ent- Armen irgendwelche Kleidungsstücke, die schuldigt und versprochen, solche dummen Augen gerötet, die Nase schniefelnd, aufge- Späße nie mehr zu wiederholen. Chru­sch­ regt, aufgelöst. Im Wohnzimmer, nachdem tschow strahlte über das ganze Bratkartoffel- er die Sachen abgelegt hatte, sank er in einen gesicht. Für ihn brachte der April nur Trium- Sessel, zog sein Taschentuch heraus und tupf- phe: der erste Mensch im All, unser Gagarin! te sich das Gesicht ab. Solltest du nicht schon Neunzehn Orden hatten sie dem Erdumkrei- fern in Mainz oder München sein, Karl- ser angeheftet (ich habe sie gezählt!). Und un- Heinz? Und Karl-Heinz gestand den größten sere wie stets informationsfreudige Presse Fehler seines Lebens ein. Er und seine Frau ehrte sich selber mit einem Extrablatt: „Kom- und die beiden Kinder sollten heute Vormit- munismus verwirklicht kühnste Träume der tag von Tempelhof abfliegen, zu der Familie Menschheit!“ Letztere bestand zurzeit gera- seiner Frau, die irgendwo im Hessischen eine de mal aus drei Milliarden von Träumern, die Textilfabrik betrieb. Flugtickets, Geld, alles jetzt gefälligst ihre kühnsten Träume als ver- da. Und nun sitze seine Gattin nebst Nach- wirklicht anzusehen hatten. Kleinigkeiten wie wuchs in der Abfertigungshalle des Flug- Elend, Not, Krieg spielten dabei keine Rolle platzes und warte auf ihn, der nicht mehr und würden auch künftig keine ­spielen. kommen könne und – was er kaum ahnte – niemals wieder mit ihr und den Kindern zu- In diese Träumerei klingelte das Telefon, sammen sein würde. und vorerst verwirklichte sich ein Albtraum. Am Apparat eine aufgeregte Stimme. Karl- Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allge- Heinz: „Stellt sofort das Radio an …“, und meinen Zeitung (FAZ) vom 3. 1. 2011; Nachdruck aufgelegt. mit freundlicher Genehmigung der FAZ GmbH.

APuZ 31–34/2011 3 Warum bist du denn um Gottes Willen eintreten, es könne die Weissagung sich be- noch einmal zurückgekommen?! Taschen- wahrheiten und die Apokalypse ausbrechen, tuch, Augenbetupfen. Wieso? Um Abschied verstaute ich neben Wintersachen den ver- zu nehmen. Die letzte Nacht mit Monika … storbenen Heizlüfter, als handele es sich um (Ob er es als Strafe für das sündige Verhältnis einen kleinen Sonntagsausflug zu Freunden zu einer Geliebten empfand, erfuhr ich nie.) und Bekannten. Und was sind das für Kleidungsstücke, Karl- Heinz? Die Mäntel von meiner Frau und Unsere Straße war menschenleer wie auch meinen Kindern, sie hatten sie in Ost-Ber- die folgenden. Durch halb Ost-Berlin bis Un- lin vergessen … Sie oder du? Waren die Sa- ter den Linden kaum Passanten. Hier und da chen sein Alibi, noch einmal zurückzukeh- ein Militärfahrzeug, ansonsten eine Reglo- ren? Ihr müsst ihr die Sachen zum Flugplatz sigkeit, eine dumpfe Stille, wie man sie auch bringen. Jetzt? Wie denn? Ihr habt doch die an sonstigen Sonntagen nicht kannte. Lang- Grüne Karte! sam die Linden Richtung Brandenburger Tor. Plötzlich wurde das Plastiklenkrad feucht. Ja, die Grüne Karte. Das war ein Berechti- Mit jeder Radumdrehung verwandelten sich gungsschein, mit dem Auto nach West-Berlin meine Innereien in einen zusammengeball- zu fahren. Manche Ärzte besaßen die Kar- ten Klumpen Gedärm. Schon sah ich aus dem te, um Patienten (lukrativ) in Charlottenburg Wachtgebäude rechterhand einen Polizisten oder Dahlem behandeln zu können. Auch kommen und sich in der Mitte der Fahrbahn Historiker und irgendwelche Wissenschaft- aufbauen. Außer meinem war kein Privat- ler. Ich, als Amateurzeitgeschichtler auf den wagen in Sicht. Vor dem Grünuniformierten Spuren der trostlosen deutschen Vergangen- hielt ich an und stieg aus. heit, beantragte eines Tages frech diese Kar- te zum Besuch von Bibliotheken und zur In- Wo wollen Sie hin?, wollte er wissen, und augenscheinnahme historischer Stätten, über ich zog wie ein Zauberkünstler auf der Bühne die ich zu schreiben gedachte. Und das Wun- seinen Stab meine Grüne Karte („Propusk“ der geschah: Ich, nein, wir bekamen diese auf DDR-Deutsch) aus der Jacke und präsen- Karte, ausgestellt auf das Ehepaar Kunert, tierte sie dem amtlichen Argusauge. Dann also für zwei Personen. Da zu jener Zeit die verschwand der Wächter mit der Karte. Grenze ohnehin noch offen war und ich mei- nen Wartburg kaum in Berlin W. auf den Solche Minuten des Wartens kennt jeder, Markt bringen würde, stellte man mir die der zwischen Ost- und Westdeutschland die Karte aus: Übergangsstelle Brandenburger städtische oder die Landesgrenze passierte: Tor. Ihr habt doch die Karte, versucht es doch Man fühlte sich bereits schuldig, bevor sich einfach! Taschentuch, Augentupfen, betteln- überhaupt etwas ereignet hatte. Wer erinnert der Blick. Na gut. sich nicht an den stechenden Blick des Zerbe- rus, der das Gesicht des Bittstellers (und po- Da meinte meine Frau eine glänzende Idee tentiellen Klassenfeindes) und sein Konter- zu haben: Unser Heizlüfter (Siemens-Pro- fei im Ausweis verglich. Ich erlebte Einsteins dukt, Geschenk von Tante X.), der doch ka- Relativitätstheorie am eigenen Leibe. Nach putt sei, könnte bei dieser Gelegenheit, falls offenkundig wenigen Minuten, die für mich es klappen würde, wir kennten doch Gerd Tage dauerten, kehrte der Wächter zurück: Hoffmann, du weißt doch, der aus dem Elek- Sie können fahren, Ihre Frau aber nicht! Oho! troladen in Tegel, da könnten wir doch … Dieser Mensch, dieser Verordnungshütejun- Auch der defekte Heizlüfter landete im Kof- ge – der kannte meine Frau nicht! Sie sprang ferraum. Während in der Friedrichstraße aus dem Wagen, hielt dem Kerl die Grüne russische und amerikanische Panzer aufzo- Karte unter die Nase: Können Sie nicht lesen? gen; während Leute verzweifelt versuchten, „Mit Frau“ steht da! Ein Befehlsempfänger sich aus den Fenstern von Grenzhäusern in wagt keine Widerrede. Er legte verlegen die die Arme West-Berliner Feuerwehrmän- Hand an die Mütze und wünschte in seiner to- ner zu stürzen; sich die Schicksale von Mil- talen Verlegenheit und Verwirrung uns noch: lionen Menschen auf einen Schlag änderten, „Gute Fahrt!“ Dann rollten wir zum letzten Zukunftspläne erloschen, die ganze Welt ge- Male für die nächsten Jahrzehnte durch das bannt „auf diese Stadt“ starrte, voller Be- Berliner Wahrzeichen. Im Schritttempo. Den fürchtung, nun könne der berüchtigte Fall X Blick starr geradeaus gerichtet.

4 APuZ 31–34/2011 Hinter dem Tor eine Reihe grauer Gestal- Nun drängte die Zeit. Abfahrt zurück zu mei- ten, die auseinander traten, so dass ich an ih- nen Eltern und zu ­Mariannes Brüdern. nen vorbeifahren konnte. Im Rückspiegel sah ich, wie sich die Reihe wieder schloss. Je mehr wir uns dem Tiergarten näherten, Die Tour nach Tempelhof überstanden wir desto belebter wurden die Straßen und Alle- schweigend: Was sollte man dazu noch sagen, en. Wo die Siegessäule stand, ballte sich bereits es war doch eindeutig, was geschehen war. eine Menschenmasse zusammen. Ich musste Ich hatte das Empfinden, mich in einer lan- den Platz umrunden, um auf die „Straße des gen Filmsequenz zu befinden, als sähe ich mir 17. Juni“ zu kommen, aber das war leichter selber zu, abgetrennt von dem Ich hinter dem gedacht als getan. Die Menge umschloss un- Lenkrad; desgleichen erlebt man nur in seinen ser Auto, meine Bänglichkeit wuchs, obzwar Träumen. Automatisch schalten, bremsen, niemand den Wagen berührte. Aber ich kam kuppeln, weiter bis zum Luftbrückendenk- nur zentimeterweise voran, die Gesichter mal, wo wir in einer Seitenstraße parkten. rund um mich wirkten nicht gerade freund- lich, und ich konnte mir denken, was in den Mit den Mänteln über dem Arm zur Ab- vielen Köpfen vorging. fertigungshalle. Da hockte Karl-Heinzens Familie in einer Bankecke, verstört, reglos. Mehrere Male kroch ich im Schneckentem- Nach Übergabe der Kleidungsstücke be- po im Kreis durch die unübersehbare Flut von langlose Worte voller falschem Trost. Die Leuten, die sich zögernd vor mir öffnete und „Maßnahme“ werde sicher Ausnahmen zu- hinter mir, wie ich im Spiegel bemerkte, wie- lassen, Karl-Heinz würde schon eine Mög- der massiv schloss. Es schien keinen Ausweg lichkeit finden nachzukommen, und was des zu geben. Da ertönte von ferne eine unüber- Unsinns mehr war, an den man weder beim hörbare Lautsprecherstimme: Den Ostwagen Reden noch beim Zuhören wirklich glaub- durchlassen! Und es öffnete sich eine Schnei- te. Den wahren Grund seiner Abwesenheit se, durch die ich meinen Mitberlinern entkam. verschwieg ich. Die Situation war ohnehin Außerhalb des dichten Zirkels der Retter: ein katastrophal genug. Dann die hastige Tren- Polizeiwagen, aus dem Anweisungen ertön- nung, eine von vielen Trennungen, die ich er- ten. Das restliche Wegstück ohne Neugierige, leben musste. So erreichten wir über Reini- Zornige, Verzweifelte, von der „Maßnahme“ ckendorf, Tegel endlich das wie eh und je vor schockierte Bürger. Bis zum Brandenburger sich hin dämmernde Heiligensee. Eine über­ Tor nur noch Niemandsland, an dessen Ende sonnte Nekropole. sich Bewaffnete abzeichneten, ein Panzerwa- gen, Zivilisten. Wie mit einem Kamerazoom Am Ziel angekommen, öffnete uns Ger- rückte näher, was für die Ewigkeit von den hard H., der Stromspezialist, die Gartenpfor- Erbauern erdacht erschien. te mit ungläubiger Miene, überrascht und ver- wundert. Und als ich den Heizlüfter aus dem Dabei hatte doch noch vor wenigen Tagen Kofferraum vorführte, hielt er mich wahr- der oberste Dienstherr verkündet: Niemand scheinlich für geistesgestört. Und genauso hat die Absicht, in Berlin eine Mauer zu bau- kam ich mir danach auch vor. Und wie der Of- en. Vorerst bestand sie aus einem über die gan- fizier in Stendhals „Schlacht von Waterloo“, ze Breite des Tores gespannten Stacheldraht. der abseits des Gemetzels durch die Fluren rei- Vor dem stoppte ich. Ein Mann mit einer Ma- tet, ohne sich zurechtzufinden. In einem Zu- schinenpistole um den Hals ergriff den Sta- stand von starker Gespanntheit und Realitäts- cheldraht und zog ihn hoch und hielt ihn fest. verkennung versprach ich, das reparierte Stück Wir blieben ohne Blickkontakt. Ob er dassel- nächste Woche abzuholen. Ich besaß ja die be dachte wie ich? Unter dem Draht hindurch. Grüne Karte: Da sie heute gewirkt hatte, wa- Friedrichstraße. Alexanderplatz. „Die Heimat rum sollte sie nicht auch morgen gelten? Doch hat uns wieder …“, hätte jetzt ein Zyniker ge- ich hatte die soeben von der DDR-Führung sagt, doch zu diesem Charakteristikum fehl- exemplifizierte Perfektion der Abriegelung te mir das Talent. Man hätte wissen müssen, überschätzt. Honecker, der „Maßnahme“- dass weder die Sowjets noch die DDR-Füh- Meister, hatte bloß vergessen, die Grünen rung dem sich rapide beschleunigenden Aus- Karten einzuziehen. Dergestalt gelangten an bluten des staatlichen Kunstgebildes auf Dau- diesem Sonntag noch eine Anzahl von Ärz- er tatenlos zusehen würden. Und doch und ten und Wissenschaftlern von Ost nach West. dennoch: Wie viele hatten die zu erwartenden

APuZ 31–34/2011 5 Konsequenzen verdrängt! Ein bisschen Nor- sandten höherer Provenienz in den Wagen, malität des Daseins bewahren. Befürchtungen und wir landeten am Köllnischen Park, nahe nicht nachgeben. Abwarten. In Deutschland dem Märkischen Museum, wo in einem Bä- ist immer zu lange abgewartet worden, bis renzwinger ein einsames, ziemlich motten- die Ereignisse mit ihrem Eigengewicht nicht angefressenes Tier seinen einsamen Lebens- mehr aufzuhalten gewesen sind. abend verbrachte.

Parole: Keine ideologische Koexistenz. Ein Plötzlich entdeckte man überall Symbole. Befehl aus dem 19. Jahrhundert. Die wacke- Assoziationen, Anspielungen und Andeu- ren Maurer an der Spitze hatten vergessen, tungen zuhauf. Wir liefen zu einem Gebäu- dass nach ihrer Jugend diverse elektronische de, Backsteinbau, Krankenversicherungs- Erfindungen gemacht worden waren, von de- stil einer früheren Epoche. Über die Fassade ren Macht sie nichts ahnten. Der Versuch, spannte sich ein rotleuchtendes Transparent den Leuten auf die Bude zu rücken, um ihre mit der bewegenden Aufschrift „Achtet auf Antennen in die Richtung der glücklichen Agenten, Diversanten und Spionen“. Das hob Zukunft zu drehen, scheiterte; jetzt im Juni meine Stimmung. Ganz gewiss würde ich ab hatte der Klassenfeind sogar einen zweiten sofort auf Spionen achten. Vorausgesetzt, ich Fernsehsender geplant. Was tun? Nun, Deut- bekäme einen entsprechenden Hinweis. Aber sche sind ein Bastlervolk. Als das ZDF zu den sollten wir ja nun innerhalb des Gebäu- senden anhob, bauten geschickte Hände klei- des erhalten. Großer Saal, bis auf den letzten ne Kästchen, bestückt mit Transistoren, die Platz gefüllt, natürlich alles Dichter, alles an- man vor dem Antenneneingang seines Ge- gehende Goethes und Schillers. Vorn auf dem rätes einklinkte: Schon war man dem heimi- Podium hinter dem Rednerpult ein Zwerg na- schen Augenpulver entflohen. mens Klaus Gysi. Er würde uns informieren und instruieren und sonst wie ­bepredigen. Der Erfindungsreichtum der Leute erhielt einen enormen Schub. Heimwerker kons- Mein bisheriger Reisebegleiter hatte mir truierten Heißluftballons und entschweb- bereits im Auto glückstrahlend erklärt, jetzt ten durch die Luft, Benzintanks wurden (im endlich, da der Klassenfeind zu uns nicht Westen) ausgebaut, um Platz für einen staats- mehr eindringen und wühlen könne, würden unwilligen Bürger zu schaffen (mit drei Litern wir uns eine größere Offenheit leisten dürfen. über die Grenze und zurück). Und ein beson- Dinge beim Namen nennen, ohne befürchten ders Schlauer ließ sich von seiner geschick- zu müssen, dem Feind in die Hände zu arbei- ten Freundin eine amerikanische Uniform ten. Ich hatte vordem nie geahnt, mit was für schneidern und spazierte gemächlich über die Narren ich es einmal zu tun haben könnte. Frontlinie des immer kälter werdenden Krie- Tatsächlich hatten sich manche Schriftstel- ges. Derlei Eulenspiegeleien waren an jenem ler und Künstler dieser Illusion hingegeben, berüchtigten Sonntag noch ­unvorstellbar. bis die amtlich verordnete Wirklichkeit sie ei- nes Schlechteren belehrte. Mir war doch von So fuhren wir niedergedrückt heim. Kaum den ersten Minuten an klar gewesen, dass ge- waren wir zurück in unserer Wohnung, rade jetzt, da wir alle in der Falle saßen, der tauchte überraschend ein Besucher auf, ein Dompteur die Dressurakte ausweiten und Autor, wohl Mitglied der Parteileitung des steigern würde, ohne noch Rücksicht neh- Schriftstellerverbandes, ein Jemand, von dem men zu müssen. Der Käfig als Instrument der ich nie eine Zeile gelesen und auch nicht das Disziplinierung. Bedürfnis danach hatte. Er wolle mich abho- len, wir seien zusammengerufen worden, wir Als gewohnheitsmäßiger Hinterbänkler in würden Informationen über die Lage erhal- einer der letzten Reihen vernahm ich von ten, Auskunft über weitere Entwicklungen, dem, was aus des Genossen Gysi Mund quoll, und unten warte der Wagen. Karl Marx hatte, glücklicherweise sehr wenig. Es waren ohne- zwar leichthin aphoristisch, doch nicht ganz hin nur die tausendmal auch sonst überhör- stimmig, behauptet, der Tragödie folge un- ten Phrasen. Eine Vorstellung, für die ich kei- weigerlich die Posse. Nun hatte die Tragödie nen Eintritt bezahlt hätte. Vorläufig entlassen gerade erst begonnen, und schon wurde man nach draußen, wo es vermutlich keineswegs mittels diverser Possen unterhalten, wenn mehr von Spionen wimmelte, wo der tris- auch mittelmäßig. Ich stieg mit dem Abge- te Meister Petz in der Sonne den besonderen

6 APuZ 31–34/2011 Jahrestag verschlief, wo sich die Zuhörer teils vor, die in West-Berlin beschäftigt gewesen kopfnickend und befriedigt, teils bedrückt waren. Mit ihnen wurde entsprechend den und schweigend zerstreuten. Merklich froh Direktiven umgesprungen: wahrscheinlich waren jene Autoren, denen es Mühe machte, sowieso alles Spionen! Mein Vater hatte inso- einen Bleistift zu halten: Sie bekamen Ober- weit Glück, als meine Mutter als alte Genos- wasser, wie die paar kritischen Geister unter sin und Opfer nicht mitbestraft werden soll- den Geistesarmen bald merken würden. Im- te: Er durfte einen Laden für Flaschen und merhin brachte man mich wieder nach Hau- Altpapier in eigener Regie führen. Das nennt se, wo meine Frau irgendetwas zum Essen man doch Vertrauen! Nebenbei: Sein OdF- bereitet hatte, vielleicht war es gekochte Pap- Status war ihm aberkannt worden, weil er pe oder gedünstetes Sperrholz: Ich schmeck- keine DDR-Flugblätter den von ihm herge- te nichts, aß kaum etwas, und dann meldeten stellten Heften beilegen wollte. Er würde nie wir uns bei meinen Eltern an. Auf zur nächs- mehr seine „Arbeitsbude“ betreten. (Unter ten Fahrt. anderen Papieren fand ich nach seinem Tod vor Erreichung des Rentenalters eine Post- Dimitroffstraße 143, früher Elbinger. Eine karte des West-Berliner Senats des Inhalts, Ecke weiter hatte ich das Kriegsende erlebt, seine Maschinen seien verschrottet worden.) die Rote Armee begrüßend, ohne deren Ein- marsch ich garantiert nicht über alles Folgen- Am Abend endlose Debatten mit Freunden de hätte räsonieren können. Ich war ja auf der und Bekannten. Immer aufs Neue der auffla- richtigen Seite gewesen. Meine Mutter trat ckernde Wahn, irgendetwas werde sich doch 1919 in die SPD ein, so dass ich schon mit der so regeln, dass wenn auch eingeschränk- Muttermilch eine gewaltige Portion sozialis- te menschliche Bindungen erlaubt bleiben tischer Nährstoffe zu mir nahm. Meine Ent- würden. Träumereien an erloschenen preu- wicklung lag mit mir zusammen in der Wie- ßischen Kaminen. Die Resignation griff erst ge fest. An dieser Wiege stand die Fee Utopia später epidemisch um sich. Assoziationen und versprach mir den Himmel auf Erden, an eingemauerte Wohnstätten waren unaus- der, wie ich mehr und mehr merkte, eher den bleiblich, aber nicht im Geringsten tröstlich. sich zu Adlern aufplusternden Spatzen ge- Karl-Heinz, der am folgenden Morgen erneut hörte. Mein Vater war der Kontrahent mei- aufkreuzte, brachte außer seiner Depression ner Mutter, und sein tägliches Gebet hieß: eine Flasche „Hennessy“ mit – diese Mar- Wirtschaft in Ketten ist Tod der Wirtschaft. ke könnten wir künftig vergessen. Dennoch: Er hielt sich nebbich für einen Unternehmer Auch er klammerte sich an den Kinderglau- und produzierte in der Kommandantenstra- ben, es würde Sondergenehmigungen geben, ße, Nähe Moritzplatz in einem Stockwerk Ausnahmen, von Institutionen befürwor- eines alten Fabrikgebäudes Schreibblocks, tet, Familienzusammenführungen – doch bis Durchschreibebücher, Hefte. Er war sein ei- es viel später zu derartigen Übereinkünften gener Chef, sein eigener Arbeitgeber, sein ei- kam, existierte Karl-Heinz nicht mehr. Von gener Vertreter und sein eigener Lieferant – einer Reise zurück, ruhte er sich auf einer alles in Personalunion. Nun saßen wir am Treppenstufe zu seiner Wohnung im dritten Küchentisch zusammen. Über die Zukunft Stock aus, und zwar für die Ewigkeit. zu sprechen lohnte nicht. Was würde mein Vater machen, wenn er nicht mehr zu seinen Im Dezember dieses Jahres ging ein anderes paar Maschinen zurück durfte? Meine Mut- Leben zu Ende, ich muss gestehen, zu mei- ter war Rentnerin, OdF, ein „Opfer des Fa- ner Befriedigung. In Jerusalem wurde Adolf schismus“, und erhielt somithin eine höhere Eichmann zum Tode verurteilt und fünf Mo- Rente als der Durchschnittsbürger. Davon nate später aufgehängt. Das war zwar im konnte man leben. Vergleich zu seinen Untaten kein wirkliches Äquivalent, dennoch: Wenigstens einen von Mein Vater sprach kaum ein Wort, er hat- den vielen Eichmännern hatte man erwischt. te wohl das Gefühl, recht behalten zu haben: Wie viele noch an diesem Sonntag vor den Der Tod der Wirtschaft war nun im Osten Bildschirmen saßen und zufrieden dem Un- mit allen Begleiterscheinungen eingetreten. glück der Zeitzeugen zusahen, wird uns kein Die Versager hatten ihren Laden zugemacht: Hellseher verraten können. Das war’s. Wenig später knöpften sich die Kämpfer für Humanität und Recht alle jene

APuZ 31–34/2011 7 Hope M. Harrison konnte er nüchterner als Nikita Chru­sch­ tschow die Gefahr eines persönlichen Macht- verlusts einschätzen, und nichts lag ihm näher Walter Ulbrichts als der Erhalt seiner Macht. „dringender Ulbricht und Chruschtschow Ulbrichts Persönlichkeit und die Beziehungen zwischen ihm und Chruschtschow sind sehr Wunsch“ aufschlussreich, wenn man die Entscheidung, die Grenze zu schließen, verstehen will. Bei alter Ulbricht, der Erste Sekretär des der Lektüre der Akten in den Archiven von WZentralkomitees der SED, war die trei- Moskau und Berlin springt Ulbrichts Selbst- bende Kraft hinter der Grenzschließung und bewusstsein, seine Arroganz, seine Recht- dem Mauerbau in Ber- haberei im Umgang mit Chruschtschow ins Hope M. Harrison lin vor fünfzig Jah- Auge. Das läuft der weit verbreiteten Annah- Geb. 1963; Associate Profes- ren. Acht Jahre lang me zuwider, Ostdeutschland sei nur ein Sa- sor of History and Internati- hatte er sich um Zu- tellitenstaat Moskaus gewesen. Ganz sicher onal Affairs, Elliott School of stimmung der So­wjet­ verhielt sich Ulbricht nicht so, und er wurde International Affairs, George union bemüht, die von Chruschtschow auch nicht so behandelt. Washington University, Grenze abzuriegeln, 1957 E Street, NW Suite 412, um den Flüchtlings- Chruschtschow beklagte sich oft über Ul- Washington, DC 20052/USA. strom einzudämmen, bricht, aber er enthob ihn nicht seines Pos- [email protected] aber die Sowjets hat- tens. Überhaupt tangierte die Tatsache der ten sich widersetzt. Stationierung von fast 500 000 Sowjetsol- Die führenden Köpfe im Kreml wussten, daten in der DDR nicht die politischen und dass die Grenzschließung einer Kapitulation persönlichen Beziehungen zwischen Chru- gleichkäme und ihnen selbst und der sozialis- schtschow und Ulbricht. Welche Bedeutung tischen Sache erheblich schaden würde. Chrusch­tschow der DDR und der Person Ul- brichts für die Sowjetunion und den gesam- Im März 1953, kurz nach Stalins Tod, teilten ten Ostblock beimaß, zeigt sich anschaulich dessen Nachfolger im Kreml Ulbricht mit, die in Bemerkungen von Anastas Mikojan, sei- Abriegelung der Sektorengrenze sei „politisch nes engsten Mitstreiters und stellvertreten- unannehmbar und allzu einfach“. Ein solcher den Vorsitzenden des Ministerrats, gegenüber Schritt würde „zur Störung der vorhande- ostdeutschen Kadern im Juni 1961. Mikojan nen Ordnung des städtischen Lebens führen, erklärte: „In der DDR wird sich unsere Welt- die Wirtschaft der Stadt in Unordnung brin- anschauung, unsere marxistisch-leninistische gen“ und „bei den Berlinern Bitterkeit und Theorie beweisen müssen (…). (G)egenüber Unzufriedenheit hinsichtlich der Regierung Westdeutschland können und dürfen wir uns der DDR und der sowjetischen Streitkräfte in einen Bankrott nicht leisten. Wenn der So- Deutschland hervorrufen“. Außerdem würde zialismus in der DDR nicht siegt, wenn der er „die Beziehungen der Sowjetunion zu den Kommunismus sich nicht als überlegen und USA, England und Frankreich (…) nur kom- lebensfähig erweist, dann haben wir nicht ge- plizieren, was wir vermeiden können und siegt. So grundsätzlich steht für uns die Fra- müssen“. ❙1 Die Sowjets übten Druck auf Ul- ge. Deshalb können wir auch bei keinem an- bricht aus, dass er sich in seinem unnachgie- deren Land so herangehen. Und das ist auch bigen innenpolitischen Kurs mäßigen und das Leben in der DDR für ihre Bürger lebenswer- Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Juliane Lochner, ter gestalten solle. Ulbricht hatte jedoch nicht Leipzig. im Sinn, in der DDR notwendige Reformen ❙1 Archiw Wneschnei Politiki Russkoi Federazii, durchzuführen. Sein Argument lautete: „Wir Moskau (Außenpolitisches Archiv der Russischen stehen an der vordersten Stelle. Wir sind das Föderation/AWP RF), fond 06, opis 12, portfel’ 283, papka 18, 18. 3. 1953. am weitesten im Westen befindliche Land des ❙2 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisa- sozialistischen Lagers. Wir können uns sol- tionen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), che Dinge nicht erlauben.“ ❙2 Wahrscheinlich DY 30/IV 2/1/163.

8 APuZ 31–34/2011 der Grund, dass die DDR bei Verhandlungen tig duldsam“ – gegenüber dem Widerstreben oder bei Krediten an erster Stelle kommt.“ ❙3 der Westmächte, die DDR anzuerkennen; er, ­Ulbricht, wolle ihnen da keine Ruhe geben. ❙5 Ulbricht gelang es, dem Kreml zusätzliche Hilfen abzunötigen und eine Änderung sei- Ein zweites Beispiel. Bei einem Treffen mit ner eigenen Politik zu vermeiden. Ulbricht Chruschtschow im November 1960 in Mos- meinte die Bedürfnisse der DDR weitaus bes- kau geriet Ulbricht mit Außenminister Andrej ser zu verstehen als die Sowjets. Er war stolz Gromyko und mit Chruschtschow in Streit darauf, Lenin noch persönlich kennenge- darüber, ob die Bundesrepublik ein souveräner lernt zu haben, im Unterschied zu Chrusch­ Staat sei. Ulbricht sagte, er sehe die Bundesre- tschow. Der ostdeutsche Machthaber war publik nicht als einen von Rechts wegen sou- davon überzeugt, Lenins und Stalins treuer veränen Staat an; Gromyko beharrte darauf, Gefolgsmann zu sein, nicht aber Chru­sch­ dass die Sowjets das sehr wohl täten. Schließ- tschows, der es in seinen Augen mit der Kri- lich schaltete sich Chruschtschow ein: „Wie tik an Stalin zu weit trieb. Ulbricht schien die DDR diese Frage intern sieht, ist ihre inne- zu meinen, dass Chruschtschow letztlich ein re Angelegenheit. Wir werden bei unserer Po- Bauerntölpel war, der weder eine Ahnung da- sition zu diesem Thema bleiben. Wir sind nicht von hatte, wie man ein sozialistisches Land verpflichtet, uns Ihrer Position anzuschließen. führen musste, noch davon, was für die DDR Wir unterhalten diplomatische Beziehungen zu das Beste war. Zudem war Chruschtschow in beiden deutschen Staaten und denken, dass sie Ulbrichts Augen zu verständnisvoll gegen- beide souverän sind.“ ❙6 Dass Chruschtschow über den Westmächten. betonte, er sei nicht verpflichtet, die ostdeut- sche Position zu übernehmen, belegt, wie weit In den Beziehungen zwischen den ostdeut- er sich durch Ulbrichts Auftreten in die De- schen und den sowjetischen Spitzenfunkti- fensive gedrängt fühlte, und der angespannte, onären gibt es viele Beispiele für Ulbrichts unnachgiebige Ton dieses Wortwechsels war selbstsicheres, zuweilen herrisches Verhalten der einer Unterredung auf Augenhöhe: Ul- gegenüber Chruschtschow. Als erstes sei ge- bricht demonstrierte selbstsicher sein Recht, nannt, dass Ulbricht im Herbst 1960 im Al- die ostdeutsche Politik zu bestimmen und die leingang die Prozeduren an der Berliner Sek- Sowjets auf einen Weg zu drängen, den er für torengrenze änderte. Er setzte durch, dass richtig hielt, und die Sowjets wiesen ihn nicht westliche Amtsträger beim Außenministeri- nachdrücklich in die Schranken. um der DDR eine Genehmigung zur Einreise nach Ost-Berlin und in die DDR beantragen Ein fünfzehnseitiger Brief an Chrusch­ mussten, statt sich auf den Vier-Mächte- tschow im Januar 1961 kann als drittes Bei- Status von Berlin verlassen zu können und spiel dienen. Darin stellte Ulbricht eine Reihe es dabei nur mit sowjetischen Repräsen- von Maximalforderungen auf, insbesonde- tanten zu tun zu haben. Die Sowjets waren re jene nach „Beseitigung des Besatzungs- „erstaunt“ über diese ostdeutsche Maßnah- regimes in Westberlin“. Der Ton des Schrei- me und „sehr besorgt“, dass die Westmäch- bens ist sehr beeindruckend. ❙7 Wie üblich bat te kontern würden, indem sie sowjetischen Ulbricht den Ersten Sekretär auch um mehr Amtsträgern den Zugang zu West-Berlin er- wirtschaftliche Unterstützung. Diesmal je- schweren. ❙4 In einem Brief an Chruschtschow doch formulierte er die Anfrage anders als tat Ulbricht diese Besorgnis ab. Er formulier- sonst, indem er das Argument vorbrachte, te in aller Deutlichkeit, er finde, die Sowjet- dass die Sowjetunion auf Grund ihrer har- union verhalte sich zu nachsichtig – „unnö- ❙5 Brief von Ulbricht an Chruschtschow, 18. 10. 1960, ❙3 Politbüroprotokoll Nr. 24 vom 6. 6. 1961, Anla- SAPMO-BArch, in: DY 30/3507. ge 2: Niederschrift über die wichtigsten Gedanken, ❙6 Sapis bessedy towarischtscha N. S. Chru­sch­ die Genosse Mikojan in einem Gespräch mit dem Ge- tschowa s towarischtschom W. Ulbrichtom, 30 no- nossen Leuschner in kleinstem Kreis (…) äußerte, in: jabrja 1960 goda, in: AWP RF, f. 0742, op. 6, por. 4, SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/766. pap. 43; engl. Übs. in: Hope M. Harrison, Ulbricht ❙4 Der stellvertretende Außenminister Johannes Kö- and the Concrete „Rose“, in: Cold War International nig berichtete Ulbricht von zwei spannungsreichen History Project, Working Paper No. 5, Washington, Unterredungen mit O. P. Seljaninow von der sowje- DC, May 1993. tischen Botschaft: Briefe von König an Ulbricht, 23. ❙7 Brief von Ulbricht an Chruschtschow, 18. 1. 1961, und 27. 9. 1960, in: SAPMO-BArch, DY 30/3497. in: SAPMO-BArch, DY 30/3508.

APuZ 31–34/2011 9 schen Wiedergutmachungspolitik nach dem blik­flucht“ auf die leichte Schulter nehme und Zweiten Weltkrieg den Ostdeutschen Wirt- sich allzu sehr auf „administrative und repres- schaftshilfe schuldig sei: „Während wir in den sive Maßnahmen“ stütze, um dem Ausbluten ersten zehn Nachkriegsjahren die Wiedergut- der DDR entgegenzuwirken. Chruschtschow machung leisteten durch Entnahme aus den wurde dessen überdrüssig und konzentrierte bestehenden Anlagen und aus der laufenden sich nun darauf, die Westmächte aus West- Produktion, leistete Westdeutschland keine Berlin hinauszudrängen und/oder einen Frie- Wiedergutmachung aus der laufenden Pro- densvertrag mit beiden Teilen Deutschlands duktion, sondern erhielt obendrein von den zu unterzeichnen. Mit Chruschtschows Note USA größere Kredite, (…) Milliardenhilfe vom 27. November 1958 begann die Zwei- (…). Das ist der Hauptgrund dafür, dass wir te Berlin-Krise (die erste bestand in der Blo- in der Arbeitsproduktivität und im Lebens- ckade der Westsektoren Berlins 1948/1949 standard so weit hinter Westdeutschland zu- durch Stalin). Darin drohte er den Westmäch- rückgeblieben sind. Der konjunkturelle Auf- ten, dass, falls diese nicht binnen sechs Mo- schwung in Westdeutschland, der für jeden naten mit den Sowjets und den Ostdeutschen Einwohner der DDR sichtbar war, ist der in Verhandlung über Berlin als neutrale „Freie Hauptgrund dafür, dass im Verlaufe von zehn Stadt“ sowie über einen Friedensvertrag trä- Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere ten, die Sowjetunion einen separaten Frie- Republik verlassen haben.“ Im Grunde mach- densvertrag mit der DDR abschließen und te Ulbricht die Sowjets für die aktuelle Krise der ostdeutschen Führung uneingeschränkte einschließlich der Massenflucht verantwort- Souveränität über ihr Territorium garantieren lich. Der Brief entspricht dem, was Chru­sch­ würde. ❙10 Die allgemeine Erwartung war, dass tschows ehemaliger Berater Oleg Trojanows- damit die DDR dem Flüchtlingsstrom Einhalt ki im Sinn hatte, als er sagte: „Es gab Zeiten, gebieten würde. Ulbricht war indes nie davon in denen Moskau buchstäblich mit Mitteilun- überzeugt, dass es zu einer Vereinbarung der gen und Telefonanrufen aus Ostberlin bom- Westmächte mit Chruschtschow oder gar zu bardiert wurde.“ ❙8 einem Friedensvertrag kommen würde. Er glaubte, Chrusch­tschow verschwende ­seine In einem Gespräch am 1. August 1961, das Zeit, eine Ansicht, die er mit dem chinesi- als letztes Beispiel genannt werden soll, er- schen Führer Mao Zedong teilte. ❙11 örterten Ulbricht und Chruschtschow wie- der einmal wirtschaftliche Fragen sowie die Während sich Ulbrichts politischer Kurs Abriegelung der Grenze in Berlin. Chrusch­ in der DDR mit der Zwangskollektivierung tschow bedauerte, dass die DDR sich nicht an der Landwirtschaft ab 1960 verschärfte und einen Vertrag hielt, demzufolge sie der UdSSR sich die Ost-West-Krise in Berlin zuspitzte, Schiffe verkaufen sollte: „Im Vertrag wird ver- schwoll der Flüchtlingsstrom aus Ost-Ber- einbart, was Ihr zu machen habt, und was wir. lin weiter an. Im letzten Jahr vor dem Mauer- Ihr verpflichtet euch, den Schiffsmotor in Eng- bau legte es Ulbricht zunehmend darauf an, land oder der BRD zu kaufen. Aber Ihr tut es an der Sektorengrenze das Heft selbst in die nicht.“ Ulbrichts Antwort: „Dann heißt es, ich Hand zu nehmen. Sowjetische Diplomaten in sei antisowjetisch.“ ❙9 Dieser spitze und sarkas- der Botschaft in Ost-Berlin schickten unzäh- tische Ton spricht Bände über die Beziehung lige Warnsignale nach Moskau, Ulbricht habe zwischen den beiden Spitzenfunktionären. vor, auf eigene Faust die Grenze zu schließen. Die Ost-West-Krise in Bezug auf Berlin fand ihr Gegenstück in einer Krise zwischen den Ulbrichts Alleingänge Verbündeten im Ostblock.

Im Laufe der Jahre wurde Ulbricht wiederholt Im Zuge von Ulbrichts Maßnahmen an der von den Sowjets gerügt, weil er die „Repu­ Sektorengrenze im September 1960 infor-

❙8 Oleg A. Trojanowski, Tscheres gody i rasstojanija, Moskau 1997, S. 209. ❙10 Vgl. Note der Sowjetregierung vom 27. 11. 1958 ❙9 Niederschrift eines Gesprächs des Genossen N. S. an die drei Westmächte, in: Heinrich von Siegler Chruschtschow mit Genossen W. Ulbricht am 1. 8. 1961, (Hrsg.), Dokumentation zur Deutschlandfrage. Von in: Die Welt Online, 30. 5. 2009, online: www.welt.de/ der Atlantik-Charta 1941 bis zur Berlin-Sperre 1961, politik/article3828831/Das-Gespraech-zwischen-Ul- Hauptband 2, Bonn-Wien-Zürich 1961. bricht-und-Chruschtschow.html (24. 6. 2011). ❙11 Vgl. ebd.

10 APuZ 31–34/2011 mierte Michail Perwuchin, der sowjetische den.“ ❙16 Im März legte Ulbricht bei einem Tref- Botschafter in Ost-Berlin, die Führung in fen der Staaten des Warschauer Paktes in Mos- Moskau in seinem Jahresbericht, dass die Po- kau seinen Genossen dar: „Westberlin stellt litik der DDR in Bezug auf West-Berlin „in (…) ein großes Loch inmitten unserer Repu- der Regel einseitig“ und „in erster Linie ad- blik dar, das uns jährlich mehr als eine Mil- ministrativer Art“ sei und „alle möglichen liarde Mark kostet.“ ❙17 Ungeachtet Chrusch­ Beschränkungen des Verkehrs zwischen bei- tschows Mahnung, vor seinem Treffen mit den Teilen der Stadt“ zur Folge habe. ❙12 Der Kennedy Anfang Juni 1961 in Wien keine wei- zweite Sekretär der sowjetischen Botschaft teren Maßnahmen zu ergreifen, wurde der auf berichtete, die SED wünsche „die Aufhebung Ulbricht lastende Handlungsdruck immer der Bewegungsfreiheit über die Sektoren- größer. Am 19. Mai teilte Perwuchin Außen- grenze“. Sein Ratschlag lautete, „es wäre an- minister Gromyko mit, dass die Ostdeutschen gebracht, auf entsprechender Ebene mit unse- eine sofortige Schließung der Sektorengren- ren Freunden über die Frage des Regimes an ze verlangten: „Unsere Freunde würden ger- der Sektorengrenze in Berlin zu sprechen“. ❙13 ne jetzt eine Kontrolle an der Sektorengrenze Daraufhin forderte Chruschtschow von Ul- (…) einführen, (um) ‚die Tür in den Westen‘ bricht, dass „keine Maßnahmen durchgeführt zu schließen und so die Abwanderung der Be- werden, welche die Situation an der Grenze völkerung aus der Republik zu verringern (…). von Westberlin ändern würden“. ❙14 Der sow- (U)nsere deutschen Freunde (sind) manchmal jetische Parteichef strebte ein Gipfeltreffen ungeduldig und nehmen eine einseitige Hal- mit dem neu gewählten amerikanischen Prä- tung zu diesem Problem ein (…).“ ❙18 sidenten John F. Kennedy an, bei dem er die- sen dazu zu bewegen hoffte, einen Friedens- Als Chruschtschow auf dem Wiener Gip- vertrag zu unterzeichnen und West-Berlin in fel mit Kennedy zusammentraf, stimmte der eine „Freie Stadt“ umzuwandeln. Chrusch­ US-Präsident, ganz wie es Ulbricht vermutet tschow bestand darauf, dass Ulbricht bis hatte, weder Chruschtschows Forderungen zum Gipfeltreffen „keine einseitigen Schritte nach einer „Freien Stadt“ West-Berlin noch (…) unternimmt (…). Dies betrifft vor allem einem Friedensvertrag innerhalb von sechs das Kontrollregime für die Überquerung der Monaten zu. Der Gipfel endete damit, dass Sektorengrenze in Berlin.“ ❙15 Chruschtschow seine Forderungen erneu- erte. ❙19 In Laufe der sich nach diesem fehlge- Dessen ungeachtet forcierte Ulbricht Pläne, schlagenen Gipfeltreffen verschärfenden Ber- die Abwanderung der ostdeutschen Flüchtlin- lin-Krise machte sich Torschlusspanik breit, ge über die „offene Grenze“ nach West-Ber- was den Druck auf Ulbricht verstärkte. Wa- lin zu unterbinden. Im Januar 1961 ernann- ren im Mai 17 791 Ostdeutsche geflohen, so te er eine Politbüro-Kommission, bestehend stieg diese Zahl im Juni auf 19 198. ❙20 Im ers- aus dem Sicherheitschef der SED Erich Ho- ten Halbjahr 1961 waren über 100 000 Men- necker, dem Innenminister Karl Maron und schen aus der DDR geflohen. ❙21 dem Minister für Staatssicherheit Erich Miel- ke, „die eine Reihe Vorschläge macht, wie die ❙16 Republikflucht entschieden eingedämmt wird Schlussbemerkungen des Genossen Ulbricht, 10. 1. 1961 (Fortsetzung der Sitzung vom 4.1.), in: (…). Sie muss zum großen Teil abgestoppt wer- SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/743. ❙17 SAPMO-BArch, DY 30/3386. ❙18 Perwuchin an Gromyko, 19. 5. 1961, in: AWP RF, ❙12 M. G. Perwuchin, Ottschjot o rabote Possolstwa fond: Referentura po GDR, op. 6, por. 34, pap. 46; in SSR w GDR sa 1960 god, 15. 12. 1960, in: Rossiskiy engl. Übs. abgedruckt in H. Harrison (Anm. 6). Gosudarstveniy Arkhiv Noveyshey Istorii, Moskau ❙19 Zu den Protokollen der Wiener Gipfelgespräche vgl. (Zeitgeschichtliches Archiv der russischen Regie- Foreign Relations of the United States (FRUS), 1961– rung/RGANI), r. 8948, f. 5, op. 49, d. 287. 1963, Bd. 14, Berlin Crisis 1961–1962, Washington, DC ❙13 Sapis bessedy s sekretarem berlinskogo okrusch- 1993, und Gerhard Wettig (Hrsg.), Chruschtschows koma SEPG G. Daneliisom, 17. 10. 1960, Tagebuch Westpolitik 1955–1964. Gespräche, Aufzeichnungen von A. P. Kasennow, 24. 10. 1960, in: RGANI (ebd.), und Stellungnahmen, Bd. 3: Kulmination der Berlin- d. 288. Krise (Herbst 1960-Herbst 1962), München 2011. ❙14 Brief von Chruschtschow an Ulbricht, 24. 10. 1960 ❙20 Vgl. Ann Tusa, The Last Division. A History of SAPMO-BArch, in: DY 30/3683. Berlin, 1945–1989, Reading, MA 1997, S. 252. ❙15 Zusammenfassung des Treffens zwischen Chru- ❙21 Vgl. Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung schtschow und Ulbricht am 30. 11. 1960, in: M. G. aus der SBZ/DDR, 1945/1949–1961, Düsseldorf 1994, Perwuchin (Anm. 12). S. 339.

APuZ 31–34/2011 11 Ulbrichts Pressekonferenz um die Grenzen auch ohne Zustimmung der Westmächte zu kontrollieren. In der Folge des Wiener Gipfels wollte sich Ulbricht rückversichern, dass Chrusch­tschow Seine Entschlossenheit, dem Flüchtlings- tatsächlich in Berlin aktiv werden würde. strom einen Riegel vorzuschieben, lässt sich Chruschtschow hatte die Westmächte unter auch aus anderen Äußerungen gegenüber den Druck gesetzt und Ulbricht versprochen, dass Journalisten herauslesen. So nannte er die er einen separaten Friedensvertrag mit der Notwendigkeit, „die sogenannten Flücht- DDR unterzeichnen und ihm die Kontrolle lingslager in Westberlin“ zu schließen. Zwin- über die Verkehrswege zwischen der Bundes- gen müsse man auch „die Personen, die sich republik und West-Berlin sowie die uneinge- mit dem Menschenhandel beschäftigen, West schränkte Herrschaft über das Territorium Berlin (zu) verlassen“. Ferner verteidigte er der DDR einschließlich aller Zufahrtswege seinen Anspruch, den „Organen der DDR“ nach West-Berlin übertragen würde. Doch die alleinige Befugnis zuzusprechen, „die Er- Ulbricht war noch immer skeptisch. Folglich laubnis (…) die DDR zu verlassen“ zu erteilen musste er weiter auf ihn einwirken und die oder eben zu verweigern. ❙23 Ulbricht pochte Souveränität der DDR immer wieder auf den bei der Pressekonferenz darauf, dass die DDR Tisch bringen. Zu diesem Zweck startete die die Kontrolle über ihr souveränes Staatsgebiet SED-Spitze eine groß angelegte Öffentlich- ausüben werde. Er hatte definitiv die Absicht, keitskampagne. Kaum war der Gipfel vorüber, die Grenze nach West-Berlin zu schließen. legte die Politbürokommission für Agitation am 5. Juni einen Plan „über die Behandlung wichtiger politischer und außenpolitischer Aktion „Rose“ Fragen (…) durch die Redaktionen der Pres- se, des Rundfunks und des Fernsehens“ vor. Als Chruschtschow drohte, er werde einen se- Die Kampagne zielte auf West-Berlin und die paraten Friedensvertrag mit Ulbricht abschlie- Landeshoheit der DDR. Die internationale ßen, falls Kennedy einem Friedensvertrag und Pressekonferenz am 15. Juni gehörte zu Ul- der Umwandlung West-Berlins in eine neut- brichts Plan, den Westmächten und der Sow- rale, „Freie Stadt“ nicht zustimmte, erwiderte jetunion vorzuführen, dass es sein Recht war, Kennedy, er werde es nicht zulassen, dass die über alle Teile seines Territoriums einschließ- Three Essentials angetastet w ürden: die Freiheit lich der Grenzen der DDR zu West-Berlin die der West-Berliner Bürger, das Recht der west- Herrschaft auszuüben. lichen Alliierten, sich in West-Berlin aufzuhal- ten, sowie der freie Zugang der Westmächte Das wird nicht nur deutlich in seiner weit- nach West-Berlin. Kennedy unterstrich, dass hin bekannten Erklärung zu einer „Mauer“. jede Beeinträchtigung dieser drei Grundsät- Auf die Frage, ob „die Bildung einer Freien ze einer Kriegserklärung gleichkäme. Zu den Stadt (West Berlin) Ihrer Meinung nach be- Bevölkerungsbewegungen zwischen Ost- und deutet, daß die Staatsgrenze am Brandenbur- West-Berlin äußerte er sich nicht. ❙24 ger Tor errichtet wird“, erwiderte Ulbricht: „Ich verstehe Ihre Frage so, daß es Menschen Chruschtschow hatte kein Bedürfnis, ei- in Westdeutschland gibt, die wünschen, daß nen Krieg mit den USA heraufzubeschwö- wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR ren. Also wendete er eine Verzögerungstak- dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. tik an und erwog die Optionen. Auch Anfang Mir ist nicht bekannt, daß eine solche Absicht Juli war sich der sowjetische Machthaber noch besteht (…). Niemand hat die Absicht, eine nicht sicher, wie er die Flüchtlingskrise in den Mauer zu errichten.“ ❙22 Der Staatsratsvorsit- Griff bekommen sollte. In einem ausführ- zende ließ indes keinen Zweifel daran, dass lichen Bericht an Gromyko legte Botschaf- es seiner Meinung nach sein gutes Recht sei, ter Perwuchin die Möglichkeiten dar. ❙25 Man die Grenzen zu kontrollieren, und dass dieser Punkt in einem Vertrag geregelt werden kön- 23 ne. Seine Verlautbarungen bei der Pressekon- ❙ Ebd. ❙24 ferenz ebenso wie sein vorheriger Austausch Vgl. FRUS (Anm. 19). Vgl. auch Frederick Kem- pe, Berlin 1961. Kennedy, Khrushchev, and the Most mit Chruschtschow belegen, was er vorhatte, Dangerous Place on Earth, New York 2011, S. 247. ❙25 Perwuchin an Gromyko, 4. 7. 1961, in: AWP RF ❙22 SAPMO-BArch, NY 4182/2. (Anm. 18).

12 APuZ 31–34/2011 könne „entweder eine wirksame Kontrolle des lich äußerte sich in einem Interview kürzlich Verkehrs der deutschen Bevölkerung zwischen Anatolij Grigorjewitsch Mereschko, stell- Westberlin und der BRD in allen Verkehrsmit- vertretender Leiter der Operationsabteilung teln, einschließlich des Luftverkehrs, einführen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in oder die Sektorengrenze in Berlin schließen“. Deutschland und einer der für das Unterneh- Perwuchin gab ersterem den Vorzug, wobei er men der Grenzschließung zuständigen sow- aber klarstellte, „der Westen werde sich wahr- jetischen Militärbeamten: „Die Lösung der scheinlich nicht stillschweigend mit der Kon- Aufgabe wurde dadurch erleichtert, dass Ul- trolle der Luftkorridore durch die DDR ab- bricht schon früher diese Frage nach der Ein- finden“, weshalb der DDR eine Möglichkeit führung der Grenzkontrolle Chruschtschow eingeräumt werden müsse, „um den Luftraum mehrmals gestellt hatte. Chruschtschow aber verletzende Flugzeuge zum Landen zwingen wollte diesen Schritt lange nicht tun. Aber zu können“. Mit dem Bild von DDR-Militär- die Vorbereitungsarbeiten in den Organen maschinen, die westliche Flugzeuge zum Lan- der DDR waren deutlich im vollen Gang.“ ❙28 den zwingen, dürfte Perwuchin erreicht haben, dass Chrusch­tschow, der einen Krieg vermei- Chruschtschow sicherte schon drei Wo- den wollte, die Kontrolle über die Luftkorrido- chen vor dem 13. August die Vorbereitun- re keinesfalls der DDR übergeben würde. gen der DDR zur Schließung der Grenze rings um West-Berlin militärisch ab. Die so- Perwuchin führte an, dass „bei einer Zuspit- wjetischen und die ostdeutschen Drahtzie- zung der politischen Lage geschlossene Gren- her in Militär und Politik arbeiteten eng zu- zen notwendig werden könnten. Deshalb ist es sammen, um dafür gewappnet zu sein, die notwendig, auch einen Maßnahmeplan für den Pläne in der Nacht vom 12. zum 13. August Fall der Einführung eines Staatsgrenzregimes 1961 auszuführen. ❙29 Hochrangigen Stasi- an der Sektorengrenze auszuarbeiten.“ Er be- Offizieren schärfte Erich Mielke ein: „Ge- fürchtete, „dass wir im äußersten Fall die Sek- gen die Republikflucht werden Maßnahmen torengrenze in Berlin schließen müssen. Es ist getroffen (…). Die gesamte Aktion erhält die offensichtlich, dass wir (…) politische Schwie- Bezeichnung ‚Rose.‘“ ❙30 Chruschtschow be- rigkeiten zu erwarten hätten.“ Die Schließung fand sich nun in der Situation, die Perwu- der Sektorengrenze würde „alle Berliner und chin umrissen hatte: „(I)m äußersten Fall Deutschen gegen die Sowjetunion und das müssen wir die Sektorengrenze in Berlin ostdeutsche Regime aufbringen“. Perwuchin schließen.“ erwähnte auch die technischen Probleme: „Es wäre erforderlich, auf der gesamten Län- Acht Jahre lang hatten sich der sowjetische ge der innerstädtischen Grenze (46 km) bauli- Staatschef und seine Genossen dieses Vor- che Hindernisse zu errichten, eine große Zahl habens erwehrt – in der Hoffnung, dass Ul- von zusätzlichen Polizeiposten hinzuzufügen bricht andere Wege finden würde, es den ost- und permanente Polizeikontrollen an Stellen deutschen Bürgern schmackhaft zu machen, einzuführen, wo S-und U-Bahn die Grenze in der DDR zu bleiben. In seinen Memoiren überqueren.“ ❙26 Perwuchin hatte möglicher- schrieb Chruschtschow: „Hätte es die DDR weise Kenntnis davon, dass die DDR-Organe geschafft, das moralische und materielle Po- bereits daran arbeiteten. tential (ihrer Bürger) zu erschließen, dann wäre der Übergang zwischen Ost- und West- Da Ulbricht nicht locker ließ, die Flücht- Berlin in beide Richtungen uneingeschränkt lingskrise eskalierte und Chruschtschow kei- nen Krieg mit den Westmächten vom Zaun bre- ❙28 chen wollte, ging er schließlich auf Ulbrichts Manfred Wilke/Alexander J. Vatlin, Interview mit Generaloberst Anatolij Grigorjewitsch Mereschko, Appelle ein und befahl, die Grenze zu schlie- „Arbeiten Sie einen Plan zur Grenzordnung zwi- ßen. Später erklärte Chruschtschow dem west- schen beiden Teilen Berlins aus!“, in: DA, 44 (2011) 2, deutschen Botschafter Hans Kroll in Moskau: online: www.bpb.de/themen/NAWPSE,0,Arbeiten_ „Die Mauer ist auf dringenden Wunsch Ul- Sie_einen_Plan_zur_Grenzordnung_zwischen_bei- brichts von mir angeordnet worden.“ ❙27 Ähn- den_Teilen_Berlins_aus!.html (24. 6. 2011). ❙29 Vgl. Matthias Uhl/Armin Wagner (Hrsg.), Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer, München 2003. ❙26 Ebd. ❙30 Protokoll über die Dienstbesprechung am 11. 8. ❙27 Hans Kroll, Lebenserinnerungen eines Botschaf- 1961, in: Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ters, Köln-Berlin 1967, S. 512, S. 526. (BStU), ZAIG, 4900; vgl. H. Harrison (Anm. 6).

APuZ 31–34/2011 13 durchlässig geblieben.“ ❙31 Für ihn stand fest: nicht auf den Rechten der Alliierten in allen Es war Ulbrichts Schuld, dass dieser Fall Teilen Berlins. ❙35 nicht eintrat. Im Sommer 1961 äußerte Kennedy ver- traulich gegenüber seinen Beratern: „Man Krisenszenarien und Reaktionen kann es Chruschtschow nicht zum Vorwurf machen, dass er aufgebracht ist“ über den Die ostdeutsche wie die sowjetische Führung Flüchtlingsstrom aus Ostdeutschland. „Er brüsteten sich damit, dass die Grenzschlie- wird etwas unternehmen müssen, um den ßung so erfolgreich und ohne nennenswerten Exodus zu stoppen. Möglicherweise durch Widerstand der Westmächte über die Bühne eine Mauer. Wir werden es nicht verhindern gegangen war. Ulbricht berichtete im Sep- können.“ ❙36 In Kennedys Augen handelte es tember: „Die Durchführung des Beschlusses sich bei der Grenzschließung um einen de- über die Schließung der Grenze um Westber- fensiven Schritt, um die DDR zu retten, nicht lin ist planmäßig erfolgt (…). Man muss sagen, um einen aggressiven Akt gegenüber dem dass der Gegner weniger Gegenmaßnahmen Westen. So äußerte er seinem Freund Ken- unternommen hat, als zu erwarten war.“ ❙32 neth O’Donnell gegenüber: „Warum sollte Chruschtschow stimmte ihm zu: „Sie haben Chruschtschow eine Mauer errichten wollen, es alles großartig durchgeführt – schnell und wenn er tatsächlich vorhätte, sich West-Ber- unter strikter Geheimhaltung.“ ❙33 lins zu bemächtigen? (…) Es ist zwar keine feine Lösung, aber eine Mauer ist immerhin Aus diesem Wortwechsel ergibt sich die verdammt besser als ein Krieg.“ ❙37 Frage, welchen Krisenplan Chruschtschow und Ulbricht in der Hinterhand hatten für Kennedy war der tiefen Überzeugung ge- den Fall, dass die Westmächte eingegriffen wesen, dass die Verhinderung der Grenz- hätten, wenn sie zum Beispiel die Stachel- schließung es nicht wert gewesen wäre, einen drähte entfernt oder die Mauer in ihrem An- Krieg zu riskieren. Bei einer Fernsehanspra- fangsstadium mit Baggern abgetragen hätten, che am 25. Juli, die als verspätete Erwide- wie es US-General Lucius D. Clay ­vorhatte. ❙34 rung auf Chruschtschows Wiener Drohge- Leider sind die Militärarchive in Moskau bärden bezüglich West-Berlin gedacht war, weiter unter Verschluss, und wir haben kei- fügte er Gedanken zum Krieg im Atomzeit- ne Informationen darüber, ob es Krisenpläne alter an. „Dreimal in meinem bisherigen Le- gab. Was wir jedoch wissen, ist, dass Kenne- ben waren mein Land und Europa in Kriege dy nicht gewillt war, bei der Schließung der verwickelt, und jedes Mal wurden auf beiden Grenze einzugreifen. Eher war er erleich- Seiten schwerwiegende Fehleinschätzungen tert, dass auf diese Weise die Flüchtlingskri- getroffen, die Zerstörungen zur Folge hat- se ohne einen militärischen Konflikt been- ten. Jetzt aber könnte durch irgendeine er- det war. Kennedys Politik in Bezug auf die neute Fehleinschätzung (…) innerhalb we- Geschehnisse in Berlin wird in jüngsten Un- niger Stunden mehr Vernichtung auf uns tersuchungen sehr kritisch beurteilt, denn er niederkommen, als wir es je in unserer Ge- verhielt sich allzu zaghaft und sandte den So- schichte erlebt haben.“ ❙38 Chruschtschow wjets etliche Signale, dass sie nach Belieben in nahm diese Botschaft zur Kenntnis. So sagte Ost-Berlin und an der Grenze schalten und er zu seinen Genossen beim Treffen der Staa- walten könnten, solange sie nicht den Alliier- ten des Warschauer Paktes Anfang August, ten in West-Berlin in die Quere kamen. An- der Westen habe sich „als weniger hart er- ders als seine Vorgänger beharrte Kennedy wiesen als (…) angenommen (…). (D)ie bis- lang stärkste Einschüchterung, das ist die ❙31 Khrushchev Remembers. The Glasnost Tapes, Boston 1990, S. 456. ❙35 Vgl. F. Kempe (Anm. 24); Fabian Rueger, Ken- ❙32 Ulbricht an Chruschtschow, 15. 9. 1961, in: SAPMO- nedy, Adenauer and the Making of the Berlin Wall, BArch, DY 30/3509. 1958–1961, Diss., Stanford University, 2011. ❙33 Aleksandr Fursenko, Kak byla postrojena berlins- ❙36 F. Kempe (Anm. 24), S. 259, S. 316. kaja stena, in: Istoritscheskije Sapiski, (2001) 4, S. 81. ❙37 Ebd., S. 379. ❙34 Vgl. Honoré M. Catudal, Kennedy and the Ber- ❙38 Ebd., S. 308. Zum Text der Rede vgl. Report by lin Wall Crisis, Berlin 1980, S. 133; Nikita Chrusch­ President Kennedy to the Nation on the Berlin Cri- tschow, Chruschtschow erinnert sich, Reinbek 1992, sis, 25 July 1961, in: Documents on Germany, 1944– S. 429. 1985, Washington, DC 1985.

14 APuZ 31–34/2011 Rede Kennedys (vom 25. Juli).“ Andererseits Grenzregime. Er versicherte, dass die DDR- räumte er ein, „dass niemand die Garantie Führung keinerlei Kontrolle über die Gren- dafür geben kann, dass es keinen Krieg ge- ze hatte, die seiner Ansicht nach weniger eine ben wird“. Man solle besser „vom Schlimms- ostdeutsche Grenze als vielmehr eine „zwi- ten ausgehen“. ❙39 schen zwei Welten“ im Kalten Krieg gewesen sei. Zu seiner Verteidigung erinnerte Krenz Auch noch nach Schließung der Grenze be- an die Worte Ronald Reagans, der 1987 vor klagten sich Funktionäre wie Marschall Iwan dem Brandenburger Tor eben „nicht gerufen S. Konew, Außenminister Gromyko und Ver- (hatte), ‚Honecker oder Krenz, öffnen Sie die teidigungsminister Rodion J. Malinowski, Mauer!‘ Er hat gesagt: ‚Gorbatschow, öffnen dass die ostdeutsche Führung zu eilig und zu Sie die Mauer!‘“ ❙42 häufig auf Menschen schießen lasse, die ver- suchten, illegal die Grenze zu überqueren; au- Doch selbst wenn der Befehl, die Grenze ßerdem verweigere man in unangemessenem abzuriegeln, aus Moskau kam, wie Krenz ver- Maße den westlichen Alliierten den Zugang sicherte und einige Wissenschaftler und hohe zu Ost-Berlin. Beides, so fürchteten die So- Militärs der DDR bestätigten, gibt es doch wjets, könne „unerwünschte und gravieren- hinreichende Belege in den Archiven, dass de Folgen haben“. ❙40 Tatsächlich schrieb Ken- nicht die gesamte Verantwortung der ostdeut- nedy zwei Monate nach der Grenzschließung schen Befehlshaber für den Mauerbau den an Chruschtschow und äußerte seine Besorg- Moskauer Machthabern zugewiesen werden nis darüber, dass Ulbricht noch mehr Macht kann. ❙43 Da Ulbricht nicht genügend militäri- über die Grenze zugestanden werden würde: sche Rückendeckung hatte, um die geschlos- „Dieses Gebiet würde (…) weniger friedlich sene Grenze allein abzusichern, und ihm klar werden, wenn die Wahrung der Interessen wurde, dass er die Sowjetunion dafür brauch- der Westmächte zum Spielball eines kapriziö- te, war er es selbst, der die Grenzschließung sen ostdeutschen Regimes würde. Einige der auf die Tagesordnung setzte und zäh dafür Ulbricht’schen Äußerungen zu dieser Frage kämpfte. Immer wieder führte er Chru­sch­ stimmen nicht mit Ihren Zusicherungen, ja tschow vor Augen, welche Probleme die of- nicht einmal mit seinen eigenen überein, und fene Grenze verursache, und mehrere Male, ich glaube nicht, dass einer von uns beiden wenn er befürchtete, Chruschtschow handle einen Dauerzustand von Zweifel, Spannung zu zögerlich, agierte er in eigener Regie. und lauernden Krisen herbeisehnt, der dann ein noch umfangreicheres Aufrüsten auf bei- Die Ost-West-Krise über Berlin ging mit den Seiten nach sich ziehen ­würde.“ ❙41 einer Krise in den Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR im Zusammenhang mit dem Vorgehen in Berlin einher. Die Sowjet- Treibende Kraft union widersetzte sich lange der Grenzschlie- ßung. „Die Mauer ist auf dringenden Wunsch Seit dem Mauerfall 1989 ist immer wieder Ulbrichts von mir angeordnet worden“: Aus versucht worden, die Verantwortung der ost- diesen Worten Chruschtschows geht hervor, deutschen Führung für die Mauer in Frage dass die Politik und Persönlichkeit von Ul- zu stellen. Egon Krenz, der letzte SED-Chef, bricht von entscheidender Bedeutung bei der gab beim Prozess um die Toten an der Gren- Errichtung der Berliner Mauer waren. ze den Sowjets die Schuld an dem tödlichen ❙42 Spiegel-Streitgespräch, „Grenze zwischen zwei Welten.“ Der letzte SED-Chef Egon Krenz und ❙39 Chruschtschows Rede, 4. August 1961, in Bernd Staatsrechtler Wolfgang Seiffert über die Frage, ob Bonwetsch/Alexei M. Filitow (Hrsg.), Chru­sch­ die DDR ein Rechtsstaat war, in: Der Spiegel, Nr. 34 tschow und der Mauerbau, in: Vierteljahrshefte für vom 18. 8. 1997, S. 36. Zeitgeschichte, 48 (2000) 1, S. 181, S. 195. ❙43 Vgl. Krenz-Verteidiger läßt Souveränität prüfen, ❙40 Vgl. Bruce Menning, The Berlin Crisis from the in: Berliner Zeitung vom 20. 12. 1996; DDR-Forscher Perspective of the Soviet General Staff, in: William enthüllt Mauer-Geheimnis. Berliner Mauer: Wa- W. Epley (ed.), International Cold War Military Re- ren „die Russen“ 1961 schuld?, in: SUPERIllu vom cords and History, Washington, DC 1996, S. 49–62. 24. 3. 2011; Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer, Ber- ❙41 Brief von Präsident Kennedy an Khrushchev, Hy- lin 2011; Heinz Keßler/Fritz Streletz, Ohne die Mau- annis Port, 16. 10. 1961, in: FRUS (Anm. 19), Vol. VI: er hätte es Krieg gegeben, Berlin 2011. Kennedy-Khrushchev Exchanges, Washington, DC 1996, S. 41.

APuZ 31–34/2011 15 Gerhard Wettig der Blockade 1948/49 für die Westeuropäer das Unterpfand des amerikanischen Engagements auf dem Kontinent war. Wenn die USA Ber- Chruschtschow, lin räumten, würde ihnen kein Vertrauen mehr entgegengebracht werden. Die atlantische Al- Ulbricht und lianz verlöre ihre politische Basis. Für die DDR trat Chruschtschow nur inso- die Berliner Mauer weit ein, als es um die Sicherung ihrer Existenz als Grundlage seiner Position in Europa ging. m 27. November 1958 richtete die UdSSR Alle weitergehenden Interessen des SED-Regi- Adas erste Berlin-Ultimatum an die West- mes waren für ihn zweitrangig. Zu Walter Ul- mächte: Binnen sechs Monaten sollten sie sich brichts Leidwesen lehnte er stets ab, wenn ihm an einem Friedensver- die Westmächte die Anerkennung der DDR Gerhard Wettig trag mit beiden deut- und der deutschen Ostgrenze und die Einstel- Dr. phil., geb. 1934; bis 1999 schen Staaten betei- lung aller unerwünschten Einwirkungen aus Leiter des Forschungsbereichs ligen. Demnach hat- West-Berlin, ja sogar einen Verzicht auf das Außen- und Sicherheitspolitik ten sie West-Berlin originäre Besatzungsrecht anboten, wenn er am Bundesinstitut für ostwis- aufzugeben, das zwar dafür Präsenz und Zugang akzeptiere. Es kam senschaftliche und internatio- als „Freie Stadt“ wei- ihm vor allem auf den Schlag gegen die NATO nale Studien (BIOst) in Köln. ter das kapitalistische an; er wollte auch das Flüchtlingsproblem der [email protected] System behalten soll- DDR nicht durch Schließung der Sektoren- te, aber bezüglich der grenze, sondern durch Kontrolle über die Zu- Verbindungen zur Außenwelt und aufgrund gangsstrecken, vor allem die Luftwege, lösen. von Wohlverhaltensverpflichtungen völlig der Anders als Ulbricht, der in Moskau schon seit DDR überantwortet werden würde. Falls die Langem auf die Sperrung der innerstädtischen Westmächte diese Regelung ablehnten, wollte Grenze drang, scheute er die gewaltsame Zer- der Kreml den Friedensvertrag einseitig mit der reißung einer Stadt, auf die sich die Blicke der DDR schließen, um dieser dann ohne westli- Weltöffentlichkeit richteten. Auch fürchtete er che Einwilligung die Kontrolle über die Tran- zu Recht, man würde einen solchen Schritt als sitwege nach West-Berlin zu übergeben und so Eingeständnis werten, dass das sozialistische die westliche Position in der Stadt unhaltbar System in Deutschland dem Wettbewerb mit zu machen. Sollten daraufhin die Westmäch- dem Westen nicht gewachsen war. te versuchen, den Zugang durch bewaffnete Konvois oder andere militärische Aktionen Chruschtschow drohte zwar mit Krieg, zu öffnen, würde die UdSSR das als Aggressi- wollte ihn aber auf keinen Fall führen. Er hatte on gegen ihren ostdeutschen Verbündeten an- nicht nur die Verwüstungen vor Augen, die sein sehen und ihrer Verpflichtung zur Beistands- Land in einem Kernwaffenkonflikt erleiden leistung nachkommen. ❙1 Ein Nuklearkrieg, so würde, sondern war sich auch der globalstrate- hieß es, wäre die Folge. Mit dieser Aussicht gischen Überlegenheit der USA bewusst. Seine wollte der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow die USA, von deren Der Aufsatz fasst Ergebnisse von Forschungen zu- Haltung die westliche Reaktion abhing, zum sammen, die primär auf sowjetischen Archivalien Einlenken bewegen. Der wertlose Außenpos- beruhen; vgl. meine Publikationen: Chruschtschows ten West-Berlin, so betonte er in Gesprächen Berlin-Krise, München 2006; Sowjetische Deutsch- land-Politik 1953 bis 1958, München 2011; Doku- immer wieder, lohne das Kernwaffendesaster mentation: Chruschtschows Westpolitik, Bd. 3: Hö- nicht, das Westeuropa völlig vernichten und hepunkt der Berlin-Krise, München 2011. Vgl. auch Nordamerika schwer treffen würde. meine Texte in Stefan Karner et al. (Hrsg.), Der Wie- ner Gipfel 1961, Innsbruck 2011. Der Kürze halber Der sowjetische Führer hatte es nicht auf die wird hier auf Fußnoten verzichtet, soweit ich mich Stadt als solche abgesehen und auch nicht nur nicht auf andere Publikationen beziehe. Wenn Tages- daten ohne Fußnoten genannt werden, beruhen die auf die Anerkennung der DDR und der deut- Angaben auf einem Dokument der Dokumentation. schen Zweistaatlichkeit. Er wollte der UdSSR ❙1 Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD), das Übergewicht im Ost-West-Konflikt ver- hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Be- schaffen, indem er die NATO „ruinierte“. Er ziehungen, IV. Reihe, Bd. 1/1, Frankfurt/M. 1971, wusste, dass die Verteidigung West-Berlins seit S. 151–177.

16 APuZ 31–34/2011 Behauptung, die UdSSR sei mindestens ebenso Wirtschaften im Rahmen des Sowjetblocks – stark, ja, wie er glaube, sogar noch stärker, war befreien. Auch wenn sich die DDR zunächst ein Bluff. Er meinte aber, dass die Westmächte den Bedingungen Bonns fügen musste, soll- durch die ihnen zugeschobene Wahl zwischen te sie wirtschaftlich standfest werden, bevor Krieg oder Frieden zum Zurückweichen ver- es zur Konfrontation kommen könnte. Chru- anlasst würden, so dass er kein Risiko eingehe. schtschow war zuversichtlich, dass sich dies er- Das erwies sich als Irrtum. Auch sein Argu- reichen lasse, und meinte auch, dass der zum ment, die Westeuropäer seien Geiseln in seiner Präsidenten der USA gewählte John F. Kenne- Hand, die er vernichten könne, wenn die Ame- dy ein politisches Leichtgewicht sei, mit dem rikaner in der Berlin-Frage auf ihrer „aggres- er relativ leicht fertig werde. Am 30. Novem- siven“ Haltung beharrten, blieb ohne die er- ber 1960 teilte er daher dem Ersten Sekretär hoffte Wirkung: Das Genfer Gipfeltreffen 1959 der SED mit, er werde den Friedensvertrag im endete ohne Ergebnis. Chruschtschow hielt nächsten Jahr auf jeden Fall durchsetzen. aber an seinem Ziel fest und hoffte, Präsident Dwight D. Eisenhower, der ihn in die USA Anfang Januar 1961 ließ Ulbricht das Polit- eingeladen hatte, werde zugänglicher sein als büro der SED einen Beschluss fassen, der die Außenminister John Foster Dulles. Das war Prioritäten festlegte. Wie er Chruschtschow eine Illusion, schon deswegen, weil die Ame- schrieb, sollten vor allem das Besatzungsre- rikaner nicht ohne die Verbündeten verhandel- gime in West-Berlin beseitigt, die von dort in ten und daher nur einen Gedankenaustausch die DDR ausgestrahlten Rundfunksendun- zuließen. Die Pariser Gipfelkonferenz Mitte gen eingestellt und die Tätigkeit der Alliier- Mai 1960 ließ Chruschtschow platzen, als Ei- ten Luftsicherheitszentrale beendet werden, senhower die geforderte, demütigende Ent- die den Verkehr in westlichen Flugkorridoren schuldigung für einen Spionageflug über der ermöglichte. Er bezweifelte aber, dass sich die UdSSR verweigerte. Mit einem solchen Mann Westmächte zu dieser Totalkapitulation bereit könne er sich nicht mehr an einen Tisch setzen. finden würden. Daher griff er auf den frühe- Damit waren die Berlin-Verhandlungen bis zur ren sowjetischen Vorschlag einer Zwischenlö- Wahl des neuen US-Präsidenten Mitte Novem- sung zurück, der zufolge sie die Forderungen ber aufgeschoben. zunächst nur teilweise, nach Ablauf einer Frist von ein bis zwei Jahren, aber ohne Einschrän- kung erfüllen sollten. Da der Flüchtlingsstrom Wiederaufnahme der politischen demzufolge vorerst noch nicht durch Kon- Berlin-Offensive trolle des West-Berliner Flugverkehrs gestoppt werden würde, wollte er dies auf andere Weise Chruschtschow sah sich 1960 zu einer Neuein- gewährleisten. Daher ließ er das Politbüro den schätzung der Lage bewogen. Das beharrliche „Kampf gegen die Republikflucht“ und ent- westliche Festhalten an West-Berlin führte er sprechende „Maßnahmen“ beschließen. Damit darauf zurück, dass die östlichen Truppen auf waren Vorarbeiten zur Schließung der Gren- dem europäischen Schauplatz, den er bis da- ze in Berlin gemeint. Davon durfte freilich hin als unwichtig erachtet hatte, die Gegensei- Chruschtschow nichts wissen. Ulbricht klag- te offenbar nicht genügend beeindruckt hatten. te zwar am 29. März 1961 auf der Tagung des Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse erschie- Warschauer Pakts über die Folgen des Exodus nen in neuem Licht. Als Bonn im Herbst auf aus der DDR, ließ das Thema aber sowohl bei die Einführung einer Genehmigungspflicht für dieser Gelegenheit ❙2 als auch gegenüber dem Besuche in Ost-Berlin mit der Kündigung des Kremlchef zwei Tage später unerwähnt. Abkommens über den innerdeutschen Handel reagierte, sah er, dass die ökonomischen Ver- ❙2 Laut Jan Šejna, der im Frühjahr 1968 aus Prag in flechtungen zwischen beiden deutschen Staa- den Westen überlief, folgte der Rede eine Diskussi- ten nicht die Bundesrepublik, sondern die on, in der Ulbricht gefragt wurde, welche Möglich- DDR abhängig machten. Diese konnte ohne keit der Abhilfe er sehe, und antwortete, dass man die Lieferungen aus Westdeutschland nicht aus- Grenze in Berlin schließen könne. Das sei von den kommen, während Bonn den Warenaustausch versammelten Parteichefs mehrheitlich abgelehnt nicht benötigte. Chruschtschow war zusam- worden, vgl. Honoré M. Catudal, Kennedy and the Berlin Wall Crisis, Berlin 1980, S. 49 f. Šejnas Aussa- men mit Ulbricht der Ansicht, man müsse gen haben sich sehr oft als unzutreffend erwiesen. Im sich aus der Abhängigkeit durch „Störfreima- vorliegenden Fall gibt es in den sowjetischen Akten chung“ – durch Umstellung auf ein autarkes weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung.

APuZ 31–34/2011 17 Chruschtschow lehnte nach wie vor jede rung der Sektorengrenze kam zwar nicht in Diskussion über eine Sperrung der Sektoren- Betracht, weil Chruschtschow sie nicht zu- grenze ab. Wie er am 24. April dem westdeut- ließ, doch hegte der SED-Chef durchaus diese schen Botschafter Hans Kroll erklärte, den er Absicht. Seine Gedanken kreisten darum, und wegen seiner eigenwilligen, oft von der Bon- deswegen hatte er die Frage nach den Rechts- ner Politik abweichenden Haltung schätzte folgen des für West-Berlin vorgesehenen Sta- und daher öfters ins Vertrauen zog, könne die tus als Frage nach einer physischen Abriege- DDR zwar „nicht mit offener Tür leben“ und lung missverstanden. Vor Kurzem hatte er müsse als souveräner Staat „Ein- und Ausreise überdies dem Kreml unter Hinweis auf die kontrollieren“, doch müsse die Kontrolle auf anschwellende Massenflucht die Errichtung den Land-, Wasser- und Luftwegen der DDR von Sperren ausdrücklich nahe gelegt. Nur durchgeführt werden. „Andernfalls wird es wenn man die Menschen gewaltsam zurück- nötig sein, eine Festungsmauer um West-Ber- halte, ließen sich die Versorgungsschwierig- lin herum zu bauen oder ein Sonderregime zu keiten überwinden. Ende Juni dramatisierte errichten. Das ist [aber] unmöglich, weil Ber- er die Lage. Es müsse etwas geschehen; bei of- lin ein einheitliches Wirtschaftsgebiet ist, die fener Grenze sei der Zusammenbruch nicht zu Einwohner Berlins in verschiedenen Stadttei- verhindern. Werde nicht bald gehandelt, lehne len arbeiten, Verwandte haben usw.“ Dem- er jede Verantwortung ab, denn dann könne gemäß war es auf der Tagung des Warschau- er die Kontrolle nicht aufrecht erhalten. er Pakts nur um den Friedensvertrag und die Verstärkung und Koordination der verbün- deten Streitkräfte gegangen. Schließung der Grenze in Berlin

Bevor sich Chruschtschow mit Kennedy Chruschtschow ignorierte Ulbrichts Appell. traf, sondierte er beim amerikanischen Bot- Nach wie vor wollte er in Berlin den fatalen schafter, ob der Präsident auf seine Forderun- Eindruck eines brutalen Grenzregimes ver- gen eingehen werde. Die ablehnende Antwort meiden. Seiner Ansicht nach bauschte Ul- bewertete er als Kriegserklärung der USA. Er bricht die Probleme auf. Erst als Berichte sei- führte am 26. Mai intern aus, dass er Kennedy ner eigenen Leute Anlass zur Sorge gaben, mit aller Härte erklären wolle, der Friedens- wurde er aufmerksam. Am 20. Juli 1961 mel- vertrag werde auch dann abgeschlossen wer- dete der KGB-Vorsitzende Alexander Sche- den, wenn die Westmächte sich verweigerten. lepin, die Lage in der DDR sei bedrohlich, Vor einer gewaltsamen Unterbrechung des und zog den Schluss, die Massenflucht müsse westlichen Flugverkehrs werde er nicht zu- rasch beendet werden, um ein ökonomisches rückschrecken. Am 3. und 4. Juni 1961 behan- Ausbluten zu verhindern. Sonst sei ein bal- delte er den Präsidenten in Wien von oben her- diges Ende des ostdeutschen Staates zu be- ab und erneuerte zum Schluss das Ultimatum. fürchten. Um diese Gefahr zu bannen, müsse Ende des Jahres werde er den Friedensvertrag sofort etwas getan werden. ❙4 so oder so abschließen. Triumphierend kehr- te er nach Moskau zurück. Kennedy war de- Chruschtschow zog widerwillig den primiert, denn er fühlte sich in die Rolle eines Schluss, eine Schließung der Grenze in Ber- Schuljungen versetzt. Durch Festigkeit wollte lin lasse sich nicht vermeiden. Diese lasse sich er den Kremlchef künftig davon überzeugen, auch benutzen, um zu testen, wie die USA auf dass er so nicht mit sich umspringen lasse. den einseitigen Abschluss eines Friedensver- trags reagieren würden. Von seinem Urlaubs- Auf einer internationalen Pressekonferenz ort aus wies er den sowjetischen Botschafter in am 15. Juni 1961 gab Ulbricht auf die Frage Ost-Berlin, Michail Perwuchin, an, den Ober- einer westdeutschen Journalistin, ob die Bil- befehlshaber der sowjetischen Truppen in der dung einer Freien Stadt die Errichtung einer DDR, Armeegeneral Iwan Jakubowski, zu be- „Staatsgrenze am Brandenburger Tor“ bedeu- auftragen, sofort Vorbereitungen einzuleiten. te, die überraschende Antwort: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ ❙3 Das ❙4 war richtig und falsch zugleich. Eine Sper- Schelepin an Chruschtschow, 20. 7. 1961, in: Očerki istorii rossijskoj vnešnej razvedki, Bd. 5: 1945–1965, Moskau 2003 (russ.), S. 701–705; Aleksandr Fursen- ❙3 Vgl. DzD (Anm. 1), IV, 6/2, Frankfurt/M. 1975, ko/Timothy Naftali, Khrushchev’s Cold War, New S. 933 f. York-London 2006, S. 373.

18 APuZ 31–34/2011 Dieser bestellte, ohne dass er Ulbricht vorher Chruschtschow hatte demnach keinen Wi- gefragt oder auch nur unterrichtet hätte, Ver- derstand beim Bau von Sperranlagen an der teidigungsminister Heinz Hoffmann, Staats- Sektorengrenze zu befürchten. Trotzdem be- sicherheitschef Erich Mielke und den für die kundete er gegenüber John McCloy, dem Ab- Polizeiorgane zuständigen Innenminister Karl rüstungsberater des Präsidenten, am 27. Juli Maron noch am selben Tag zu sich nach Wüns- seine heftige Empörung und sprach erneut dorf. Als man dort darüber sprach, wie der von einer amerikanischen Kriegserklärung. Auftrag auszuführen sei, stellte er fest, dass seine Gesprächspartner bereits konkrete Vor- Am 1. August erläuterte Chruschtschow Ul- stellungen hatten und alle Fragen sofort beant- bricht im persönlichen Gespräch, wie die Ab- worten konnten. Nachdem man die Planung riegelung durchzuführen sei. Die sowjetischen in groben Zügen festgelegt hatte, übertrug Ja- Truppen würden einen Ring um Berlin legen, kubowski die Ausarbeitung der Einzelheiten während die vorderen Positionen von Polizei- dem stellvertretenden Leiter seiner operativen kräften der DDR, die hinteren von der Natio- Stabsabteilung, Oberst Anatoli Mereschko. ❙5 nalen Volksarmee (NVA) besetzt würden. Die Aktion werde dem Abschluss des Friedens- Noch am 18. Juli hatte das SED-Politbüro vertrags vorausgehen und ein Druckmittel zur Feier von Karl Liebknechts 90. Geburtstag sein. Man werde der westlichen Seite vor Au- am 14. August eine Großkundgebung auf dem gen führen, dass man es ernst meine. „(W)enn Potsdamer Platz direkt an der Demarkations­ man uns einen Krieg aufzwingt, wird es Krieg linie zu West-Berlin beschlossen. Die Vorbe- geben.“ Zudem diene die Maßnahme der Ver- reitungen dazu liefen zunächst zum Schein ringerung des Exodus. Der Bericht des sowje- weiter, damit es keinen Hinweis auf die nun für tischen Generalstabs mache deutlich, dass die den Vortag terminierte Aktion gab. Die mili- UdSSR alles Notwendige unternehme. Sie gra- tärischen und polizeilichen Dispositionen, die be Panzer an der Grenze zur Bundesrepublik bis dahin räumlich gegen die Bundesrepublik ein und halte das zum Schein geheim, damit und zeitlich auf das Jahresende ausgerichtet ge- der Westen davon Kenntnis nehme. Er hoffte wesen waren, wurden eilig auf das Gebiet um überdies, die Sperranlagen gegenüber der Öf- Berlin und einen baldigen Einsatz umorien­ fentlichkeit mit der Erklärung rechtfertigen tiert. Der Bau eines tief gestaffelten, fünf Ki- zu können, dass die Gegenseite mit Krieg dro- lometer breiten Kontrollstreifens an der in- he. Deswegen wolle man sich vor der Entsen- nerdeutschen Grenze ab Sommer 1960 wurde dung von Spionen schützen. unterbrochen; die dafür gelagerten „Pionier- materialien“ – vor allem Betonpfosten und Es war vorauszusehen, dass eine solche Stacheldrahtrollen – wurden heimlich in die an den Haaren herbeigezogene Begründung Umgebung von Berlin transportiert. Sie wa- kaum überzeugend wirken würde. Chrusch­ ren zusammen mit ursprünglich für den Woh- tschow war darum bemüht, so wenig wie nungsbau bestimmten Hohlblocksteinen als möglich als Befürworter der Grenzschließung Baumaterial für die Sperranlagen vorgesehen. aufzutreten. Daher ließ er Ulbricht das – von ihm vorher geprüfte – Plädoyer auf der War- Am 25. Juli gab Kennedy Maßnahmen zur schauer-Pakt-Tagung in Moskau vom 3. bis Stärkung der amerikanischen Streitmacht auf 5. August vortragen und erklärte sich bloß dem europäischen Schauplatz bekannt und de- einverstanden. Alle stimmten dem vorberei- finierte die drei „wesentlichen“ Erfordernisse teten Beschluss zu, doch nur der polnische (essentials), auf denen er in Berlin unbedingt Parteichef Władysław Gomułka unterstütz- bestehen werde: Präsenz, Zugang und Lebens- te ihn ausdrücklich. Chruschtschow nann- fähigkeit. Das bezog sich nur auf die Westsek- te Berlin eine „offene Stadt“, denn er wollte toren; von einer Aufrechterhaltung des Status nach Abschluss des Friedensvertrags, wenn quo in der Stadt als Ganzer war keine Rede. ❙6 die Massenflucht durch die DDR-Kontrollen an den Zugangswegen gestoppt sein würde, ❙5 Interview von Alexander J. Vatlin und Manfred die Sperranlagen an der Sektorengrenze wie- Wilke am 9. 9. 2010 in Wolgograd mit Generaloberst der beseitigen. Das wurde klar ausgesprochen a. D. A. Mereschko, in: Deutschland Archiv, 44 (2011) 2, in der am 13. August publizierten Erklärung online: www.bpb.de/themen/NAWPSE,0,Arbeiten_ Sie_einen_Plan_zur_Grenzordnung_zwischen_bei- des östlichen Bündnisses: Die Notwendigkeit den_Teilen_Berlins_aus!.html (3. 6. 2011). der Grenzschließung werde entfallen, „so- ❙6 Vgl. DzD (Anm. 3), IV, 6/2, S. 1348–1356. bald die Friedensregelung mit Deutschland

APuZ 31–34/2011 19 verwirklicht ist und auf dieser Grundlage die derung durch geduldiges Verhandeln zu be- spruchreifen Probleme gelöst sind“. ❙7 gegnen. Mit der Verstärkung seines Militärs glaubte er genug Festigkeit bewiesen zu haben, Trotz inneren Widerwillens stand Chru- um zu einem Kompromiss zu gelangen. Chru- schtschow zu der Entscheidung. Als Bot- schtschow sah darin einen Hinweis auf einen schafter Kroll ihn am 9. November 1961 beginnenden Wandel in seinem Sinne. Um die- aufforderte, die Grenze in Berlin wieder zu sen sich weiter entwickeln zu lassen, wollte er, öffnen, bekannte er sich unumwunden zu ih- wie er gegenüber dem früheren NATO-Gene- rer Schließung. „Ich leugne das nicht. Natür- ralsekretär Paul-Henri Spaak am 19. Septem- lich hätte die DDR ohne uns die Grenze nicht ber zu erkennen gab, den Termin für den Ab- geschlossen. Wozu sollen wir uns hier hinter schluss des Friedensvertrags eventuell über das dem Rücken von Gen[ossen] Ulbricht verste- Jahresende hinaus verschieben. cken? Der ist doch in diesem Fall gar nicht so breit. Natürlich, wir haben die Grenze ge- schlossen, das geschah auf unser Betreiben Chruschtschows neue Berlin-Politik hin. Technisch hat das die DDR durchgeführt, weil das eine deutsche Frage ist.“ Es entsprach Chruschtschow suchte die Westmächte durch der Logik des Kalten Krieges, dass die so­wje­ die Demonstration militärischer Stärke ein- tische Führungsmacht – und nicht das auf ih- zuschüchtern. Anfang Juli hatte er Nuklear- ren Schutz angewiesene SED-Regime – den wissenschaftler mit dem Bau einer 100-Me- Entschluss gefasst hatte, denn nur sie war in gatonnen-Superbombe beauftragt, die der der Lage, für die Konsequenzen einzustehen, Gegenseite einen gehörigen Schrecken einja- die sich aus dem Konflikt mit den Westmäch- gen sollte. Diesem Zweck diente auch das Ma- ten, namentlich mit den USA, ergaben. Sie növer „Burja“, mit dem die sowjetische Füh- wollte daher auch die Kontrolle darüber aus- rung erstmals den Nuklearkrieg in Europa üben, wie weit dieser Konflikt getrieben wur- übte. Das Ergebnis aber war ernüchternd: de, dessen Risiko sie zu tragen hatte. Die großflächige Verstrahlung erlaubte kein schnelles Vordringen bis zum Atlantik; be- Die Westmächte waren auf die Aktion züglich Organisation und Koordination gab „Rose“ am 13. August 1961 nicht vorberei- es große Defizite. Washington beantwortete tet und nahmen die Absperrung der Sekto- die Drohgebärden mit Hinweisen auf Resul- rengrenze widerstandslos hin – aus der Sicht tate der neuen Satellitenaufklärung: Die USA Moskaus und Ost-Berlins ein gewaltiger Er- waren der UdSSR in quantitativer wie quali- folg. Kennedy sah freilich keinen Grund zur tativer Hinsicht globalstrategisch überlegen. Sorge; im Gegenteil. Mit dem Stopp der Mas- Nicht sie, sondern die Russen hatten einen senflucht aus der DDR habe die Gegenseite er- Nuklearkrieg zu fürchten. Sie hatten mit der reicht, was sie wolle. Der Konflikt sei demnach Vernichtung ihres Landes zu rechnen, wäh- ausgestanden. Erst allmählich stellte sich her- rend Nordamerika kaum bedroht war. aus, dass dies eine Fehleinschätzung war. Der Präsident musste sich zudem von seinen Bera- Chruschtschow sah ein, dass seine Ein- tern sagen lassen, dass die Westdeutschen und schüchterungsversuche gescheitert waren. vor allem die West-Berliner von der Schlie- Am 17. und 27. Oktober 1961 ließ er auf dem ßung des Tores zu ihren Landsleuten im Osten XXII. KPdSU-Parteitag das Friedensvertrags­ schwer getroffen waren und sich von den USA ultimatum fallen, betonte aber die Entschlos- allein gelassen fühlten. Durch Bekundungen senheit, auf der Erfüllung aller Forderungen der Solidarität – wie die Entsendung von Vize- zu bestehen, und erklärte, einen langen Auf- präsident Lyndon B. Johnson und die Ernen- schub der Regelung werde er nicht zulassen. ❙8 nung des „Helden der Blockade“ von 1948/49, Als General Clay Ende Oktober am Check- General Lucius D. Clay, zu seinem persönli- point Charlie Panzer auffahren ließ, um, wie chen Beauftragten in Berlin – meisterte Ken- es schien, die Sperren an der Sektorengren- nedy die Vertrauenskrise. Als sich zeigte, dass ze durch Räumgerät zu beseitigen, ­fürchtete die UdSSR die Offensive gegen West-Ber- Chrusch­tschow, die USA wollten im Bewusst- lin keineswegs beendet hatte, sondern weiter sein ihrer Stärke einen militärischen Konflikt verschärfte, suchte Kennedy der Herausfor- ❙8 Vgl. DzD (Anm. 1), IV, 7/1, Frankfurt/M. 1976, ❙7 vom 13. 8. 1961. S. 725f, S. 902.

20 APuZ 31–34/2011 anzetteln. Tatsächlich ging es aber nur darum, he-Zusammenstöße mit westlichen Zivilma- ein Gegenaufgebot zu provozieren, das zeigte, schinen herbei. Deren Flüge wurden trotz- dass die UdSSR – nicht die DDR – für Ost- dem fortgesetzt. General Clay, Bürgermeister Berlin verantwortlich war. Als das gelungen Willy Brandt und die Bonner Botschafter der war, ließ sich die Konfrontation zur Erleich- USA und Großbritanniens benutzten, jeweils terung des Kremlchefs beenden. nach öffentlicher Ankündigung, demonstra- tiv bedrohte Flugzeuge. Nach fast zwei Mo- Nach dem Abrücken vom Ultimatum stand naten vergeblichen Bemühens wurden die Chruschtschow vor der Frage, wie er seine Zie- Störungen eingestellt. Auch Chruschtschows le anders erreichen konnte. Aufgrund der Ab- Hoffnung auf zunehmende materielle Stran- riegelung West-Berlins schien ihm die Lage gulierung der Stadt erfüllte sich nicht, denn nun günstig genug, um vorerst keine Ände- die Bundesrepublik war stark genug, um die rung anzustreben. Die UdSSR müsse sich nicht Hilfen im notwendigen Umfang zu erhöhen. um eine Übereinkunft bemühen, sondern kön- ne die anomale Situation einfach bestehen las- Angesichts des scheiternden Bemühens sen und damit der Welt vor Augen führen, dass um die Zerstörung der Existenzgrundlagen die Stadt nur existieren könne, wenn sie sich West-Berlins suchte Chruschtschow eine vom westlichen Besatzungsregime befreie. Auf sich ihm bietende Chance zur Veränderung der Sitzung des ZK-Präsidiums am 8. Januar der sowjetisch-amerikanischen Kräfterela- 1962 erläuterte er, dass der Knochen im Hals, tion zu nutzen. Im ausgehenden Frühjahr der vor dem 13. August die eigene Seite ge- 1962 wurde mit Kuba die Stationierung so- plagt habe, jetzt im Hals der Westmächte ste- wjetischer Mittelstreckenraketen auf der In- cke. „Sollen sie damit leben. Wir schaffen jetzt sel vereinbart. Das würde die UdSSR in die Schwierigkeiten für West-Berlin, und sie sagen Lage versetzen, diese ihr zahlreich verfügba- selbst, dass das zum Absterben führen kann. ren Systeme auf wichtige politische und wirt- Und was ist das? Das ist der Knochen. So ist schaftliche Zentren der USA zu richten. Da- es nicht an uns, diesen Knochen herauszuneh- mit sollte der Führung in Washington klar men, um das Leben West-Berlins anzuregen.“ gemacht werden, dass sie sich kein Kriegsrisi- ko wegen West-Berlin leisten könne, obwohl Bei anderer Gelegenheit wies er darauf hin, die Gegenseite nur geringe interkontinenta- dass auch wichtige Betriebe nun West-Berlin le Fähigkeiten besaß. Die Niederlage in der verließen. Die Stadt trockne zunehmend aus Kuba-Krise Ende Oktober 1962 machte die- und sei zum allmählichen Absterben verur- ser Erwartung ein Ende. Der Kreml sah sich teilt. Zur Bekräftigung wies er auf die Äuße- fortan zu mehr Vorsicht in Berlin veranlasst. rung eines führenden westdeutschen Indus- triellen hin, nach der West-Berlin höchstens Die Berliner Mauer ermöglichte es zwar noch zehn Jahre zu halten sei, und erklärte dem SED-Regime, sich innenpolitisch zu be- die Absicht, dem Niedergang durch ständigen haupten, diskreditierte aber das sozialisti- Druck nachzuhelfen. Da er nun längere Fris- sche System. Chruschtschow hatte sie darum ten ins Auge fasste, kam eine baldige Öffnung nie gewollt, und doch war sie das einzige Er- der Grenze in Berlin nicht mehr in Betracht. gebnis, das er erzielte. Er hatte stets alle Zu- Die provisorisch errichteten Sperren erhielten geständnisse der Westmächte abgelehnt und Dauer und wurden allmählich zu einer festen erhielt nichts, weil er beharrlich auf der Erfül- Mauer. Den ersten Schritt in dieser Richtung lung aller Forderungen bestand. Das war für genehmigte Chruschtschow im Gespräch mit Deutschland ein großes Glück. Hätte Chru- Ulbricht am 2. November 1961. schtschow die westlichen Kompromissange- bote angenommen, wäre die Verhandlungs- Die UdSSR begann bald mit den vorgese- masse nicht mehr vorhanden gewesen, auf der henen Pressionen. Ihr Vertreter in der Al- die Bonner Ostverträge und die Regelung des liierten Flugsicherheitsbehörde erklärte ab Berlin-Konflikts durch die Vier Mächte 1970 Anfang Februar 1962 immer wieder die Luft- bis 1972 beruhten. Zudem hätte die dann er- korridore der Westmächte wegen militäri- folgte Anerkennung der deutschen Zweistaat- scher „Übungsflüge“ für gesperrt. Als dem lichkeit eine wesentliche Voraussetzung für Flugverbot, das allen Regelungen wider- die Vereinigung von 1990 zunichte gemacht. sprach, nicht Folge geleistet wurde, führten sowjetische Jagdflugzeuge mehrfach Beina-

APuZ 31–34/2011 21 Hans-Hermann Hertle Grenzposten an der Mauer getötet wurden. ❙1 Die tödliche Bilanz des DDR-Grenzregimes: Von den mindestens 136 Todesopfern an der „Grenzverletzer Berliner Mauer wurden 90 erschossen; unter ihnen waren 67 DDR-Flüchtlinge, aber auch sind festzunehmen 15 Einwohner und Besucher von West-Berlin und acht DDR-Bürger ohne Fluchtabsichten. An der innerdeutschen Grenze, den Grenzen oder zu vernichten“ zu Drittstaaten und in der Ostsee kamen bei Fluchtversuchen mehrere Hundert Menschen m 24. Aug ust 1961, el f Tage nach der Abr ie - u m s Leben , von denen m i nde s t en s 128 er schos - Agelung der Sektorengrenzen mit Stachel- sen wurden. Darüber hinaus erlitten mindes- draht und kurz nach der Errichtung der ersten tens 33 Personen durch Erd- oder Splittermi- Teilstücke der Berliner nen tödliche Verletzungen. ❙2 Eine bis heute Hans-Hermann Hertle Mauer aus Hohlblock- unbekannte Anzahl von Menschen wurde bei Dr. phil., geb. 1955; wissen- steinen, peitschen im Fluchtversuchen in Berlin und an der inner- schaftlicher Mitarbeiter am Grenzbereich nahe der deutschen Grenze zudem durch Schusswaffen Zentrum für Zeithistorische Charité und unweit und Minen zum Teil schwer verletzt. Forschung (ZZF) Potsdam, Am des Reichstagsgebäu- Neuen Markt 1, 14467 Potsdam. des Schüsse auf. Trans- [email protected] portpolizisten haben Schießbefehl von einer S-Bahn-Brü- cke aus einen jungen Mann entdeckt, der durch Der Schießbefehl auf Flüchtlinge war neben den Humboldthafen nach West-Berlin flüch- schwer überwindbaren Sperranlagen und ten will. Er hat das westliche Ufer fast erreicht, einer dichten Staffelung von Grenzposten als ein Grenzposten eine Salve aus seiner Ma- der dritte und entscheidende Eckpfeiler des schinenpistole auf den wehr- und schutzlosen DDR-Grenzregimes. Von Beginn an hegte Schwimmer abfeuert. Von einer Kugel in den die SED-Führung keinen Zweifel daran, dass Hinterkopf getroffen, versinkt er im Kanal. nur durch die Androhung des Todes – und in Am frühen Abend wird er tot aus dem Was- letzter Konsequenz die Tötung – eine ausrei- ser gezogen. Günter Litfin ist der erste Flücht- chend abschreckende Wirkung zu erzielen ling, der an der Mauer erschossen wird. Er ist war, um die massenhafte Flucht der Bevöl- 24 Jahre alt. kerung dauerhaft zu unterbinden und so den Fortbestand des Regimes zu sichern. Fast 28 Jahre danach, in den späten Abendstun- den des 5. Februar 1989, nähern sich zwei junge Bereits am 22. August 1961 beauftragte das Männer den Sperranlagen am Britzer Zweigka- SED-Politbüro den ZK-Sekretär für Pro- nal, der an der Sektorengrenze zwischen Trep- paganda, Albert Norden, bei der Nationa- tow und Neukölln liegt. In der Annahme, der len Volksarmee (NVA) und der Volkspoli- Schießbefehl an der Grenze sei ausgesetzt und zei (VP) zu veranlassen, dass von Gruppen, hoher Staatsbesuch in Ost-Berlin eine günstige Zügen und Kompanien schriftliche Erklä- Voraussetzung für eine erfolgreiche Flucht, ver- rungen darüber abgegeben würden, „dass suchen die beiden, die Sperranlagen zu überwin- jeder, der die Gesetze unserer DDR ver- den. Den letzten Grenzzaun vor Augen, wer- den sie von Wachposten entdeckt und aus zwei 1 Richtungen unter Beschuss genommen. Auch ❙ Vgl. hierzu und zum Folgenden: Hans-Hermann ein letzter Versuch, den Zaun zu überklettern, Hertle/Maria Nooke u. a., Die Todesopfer an der Berliner Mauer. Ein biographisches Handbuch, hrsg. scheitert. Die jungen Männer müssen aufgeben. von der Stiftung Berliner Mauer und dem Zentrum Mit dem Rücken zum Grenzzaun stehend, wird für Zeithistorische Forschung Potsdam, Berlin 20092, der 21-jährige Chris Gueffroy aus 40 Metern sowie www.chronik-der-mauer.de. Entfernung gezielt mit Einzelfeuer beschossen. ❙2 Vgl. zur Problematik der Zahlenangaben Hans- Ein Schuss trifft ihn direkt ins Herz. Er stirbt Hermann Hertle/Gerhard Sälter, Die Todesopfer an innerhalb weniger Minuten. Mauer und Grenze, in: Deutschland Archiv (DA), 39 (2006), S. 667–676; siehe dazu auch Hansgeorg Bräu- tigam, Die Toten an der Mauer und an der innerdeut- Litfin und Gueffroy sind der erste und schen Grenze und die bundesdeutsche Justiz, in: DA, der letzte Flüchtling, die durch Schüsse von 37 (2004), S. 969–976.

22 APuZ 31–34/2011 letzt – auch wenn erforderlich – durch An- 1980er Jahre täglich in den Todesstreifen ge- wendung der Waffe zur Ordnung gerufen schickt. Überall an der Grenze, so Honecker wird“. ❙3 Weil Hunderten von Menschen auch 1974 – inzwischen SED-Generalsekretär und noch in den ersten Wochen nach dem Mau- Vorsitzender des Nationalen Verteidigungs- erbau die Flucht gelungen war und sich 85 rates der DDR –, müsse „ein einwandfreies Volkspolizisten in den Westen abgesetzt hat- Schussfeld gewährleistet werden“; nach wie ten, bekräftigte Erich Honecker als für die vor „muss bei Grenzdurchbruchsversuchen Abriegelungsaktion zuständiges SED-Polit­ von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch büro­mitglied am 20. September 1961 noch gemacht werden, und es sind die Genossen, einmal die Weisung, dass „gegen Verräter die die Schusswaffe erfolgreich angewandt und Grenzverletzer (…) die Schusswaffe an- haben, zu belobigen“. An diesen Bestimmun- zuwenden“ sei. ❙4 Im ersten diesbezüglichen gen, fügte er noch hinzu, werde sich „weder Befehl des Verteidigungsministers vom Ok- heute noch in Zukunft etwas ändern“. ❙8 Tat- tober 1961, der sich in den Folgejahren nur sächlich verschaffte die Volkskammer der leicht verändert in den Dienstvorschriften Praxis der Todesschüsse mit dem „Gesetz wiederfand, hieß es, dass die Schusswaffe an- über die Staatsgrenze der Deutschen De- zuwenden sei „zur Festnahme von Personen, mokratischen Republik (Grenzgesetz)“ vom die sich den Anordnungen der Grenzposten 25. März 1982 eine gesetzliche Fassade. ❙9 Es nicht fügen, indem sie auf Anruf ‚Halt – ste- sollte, so formulierte es das Landgericht Ber- henbleiben – Grenzposten!‘ oder nach Abga- lin, „der Eindruck einer allen rechtsstaatli- be eines Warnschusses nicht stehenbleiben, chen Grundsätzen entsprechenden Legitima- sondern offensichtlich versuchen, die Staats- tion geschaffen werden, ohne dass dadurch grenze der DDR zu verletzen und keine an- irgendeine Änderung der bisherigen Praxis dere Möglichkeit zur Festnahme besteht“. ❙5 herbeigeführt werden sollte“. ❙10 Die Schießausbildung, befahl der Verteidi- gungsminister 1962, sei so zu organisieren, ❙8 Protokoll der 45. Sitzung des NVR der DDR am „dass die Ausbildung jedes Grenzsoldaten zu 3. 5. 1974, in: BA, DVW 1/39503, Bl. 34. einem ausgezeichneten Schützen gewährleis- ❙9 Die Anwendung von Schusswaffen war in § 27 tet und dieser in der Lage ist, jedes unbeweg- des Grenzgesetzes geregelt. Er lautete: „(1) Die An- wendung der Schusswaffe ist die äußerste Maßnah- liche und sich bewegende Ziel mit dem ers- me der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Die ten Schuss (Feuerstoß) bei Tag und Nacht zu Schusswaffe darf nur in solchen Fällen angewendet vernichten“. ❙6 In späteren Vorschriften wurde werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder der Schusswaffeneinsatz durch den Hinweis mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich ergänzt, dass „der Gebrauch der Schusswaf- keinen Erfolg verspricht. (…) (2) Die Anwendung fe (…) die äusserste Maßnahme der Gewalt- der Schusswaffe ist gerechtfertigt, um die unmittel- bar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung anwendung gegenüber Personen (ist). Er ist einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nur dann zulässig, wenn alle anderen Maß- nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerecht- nahmen erfolglos bleiben oder dann, wenn es fertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Ver- auf Grund der Lage nicht möglich ist, andere brechens dringend verdächtig sind. (3) Die Anwen- Maßnahmen zu treffen.“ ❙7 dung der Schusswaffe ist grundsätzlich durch Zuruf oder Abgabe eines Warnschusses anzukündigen, so- fern nicht eine unmittelbar bevorstehende Gefahr „Grenzverletzer sind festzunehmen oder nur durch die gezielte Anwendung der Schusswaf- zu vernichten“: Mit diesem mündlichen Be- fe verhindert oder beseitigt werden kann. (4) Die fehl wurden die Grenzsoldaten bis in die Schusswaffe ist nicht anzuwenden, wenn a) das Le- ben oder die Gesundheit Unbeteiligter gefährdet werden können, b) die Personen dem äußeren Ein- ❙3 Protokoll Nr. 45/61 der Sitzung des Politbüros des druck nach im Kindesalter sind oder c) das Hoheits- ZK der SED, 22. 8. 1961, in: Bundesarchiv (BA), DY gebiet eines benachbarten Staates beschossen würde. 30/J IV 2/2/787, S. 1 ff. Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach ❙4 Protokoll über die Lagebesprechung des zentralen Möglichkeit Schusswaffen nicht anzuwenden. (5) Bei Stabes [der SED] am 20. 9. 1961, in: BA, VA-01/39573, der Anwendung der Schusswaffe ist das Leben von Bl. 97. Personen nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ❙5 Befehl Nr. 76/61 des Ministers für Nationale Ver- ist unter Beachtung der notwendigen Sicherheits- teidigung der DDR vom 6. 10. 1961. maßnahmen Erste Hilfe zu erweisen.“ Gesetzblatt ❙6 Vgl. Befehl Nr. 101/62 des Ministers für Nationale der DDR, 1982 I, S. 197–202. Verteidigung der DDR vom 23. 11. 1962. ❙10 Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache ❙7 DV-30/10 des Ministers für Nationale Verteidi- gegen Heinz Keßler u. a., 2 Js 26/90 Ks (10/92), vom gung der DDR vom 1. 5. 1964. 16. 9. 1993, S. 109 f.

APuZ 31–34/2011 23 „Bearbeitung von Leichenvorgängen“ Um eine weitgehende Geheimhaltung bei Schüssen und erst recht von Erschießungen In vielen Fällen wurden an der Mauer Men- zu gewährleisten, war die „Bearbeitung von schen erschossen, die ihren Fluchtversuch er- Leichenvorgängen, soweit es sich um Vor- kennbar aufgegeben hatten und verzweifelt kommnisse an der Staatsgrenze zu Westber- einen Weg zurück aus dem Grenzgebiet such- lin handelt“, ❙12 dem MfS übertragen und dort ten. Und nicht wenige wurden getötet, die durch „Ordnungen“, „Weisungen“ und „Fest- gar nicht fliehen wollten. Es ist kein einziger legungen“ geregelt. Die Grenztruppen über- Fall bekannt, in dem die politische und mili- führten verletzte oder getötete Flüchtlinge tärische Führung der DDR ihre Befehle und aus dem Todesstreifen nicht ins nächstgelege- Vorschriften bzw. später das Grenzgesetz so ne Hospital, sondern hatten sie in festgeleg- ernst genommen hätte, dass Ermittlungen ge- te Krankenhäuser einzuliefern – bevorzugt gen Todesschützen eingeleitet worden wären, in das VP-Krankenhaus in Berlin-Mitte und um die Rechtmäßigkeit des Schusswaffenein- in das Armeelazarett Drewitz bei Potsdam, satzes zu prüfen. Im Gegenteil: Die Grenzsol- oder eben zur Obduktion in das Gerichtsme- daten wurden für Tötungen in aller Regel aus- dizinische Institut der Humboldt-Universi- gezeichnet und belohnt: mit der „Medaille für tät (Charité) oder das Zentrale Armeelazarett vorbildlichen Grenzdienst“, mit Geld- und Bad Saarow. Um bei der Grenzbevölkerung Sachgeschenken und mit Beförderungen. kein Aufsehen zu erregen, wurde schon zu Beginn der 1960er Jahre darauf verzichtet, Anstelle der Todesschützen gerieten die verletzte Flüchtlinge mit Krankenwagen, Getöteten und ihre Angehörigen ins Visier Blaulicht und Martinshorn aus dem Grenz- und die Fänge der DDR-Untersuchungsorga- gebiet abzuholen. Der Transport erfolgte ne. Denn so sehr die SED-Führung das Tö- stattdessen in der Regel auch bei Schwerst- ten billigend in Kauf nahm, war ihr doch stets verletzten auf der Ladefläche von Armeelast- auch bewusst, dass Gewalttaten an der Gren- wagen oder „Kübel-Trabis“ – ohne jede ärzt- ze im Westen polizeilich registriert und von liche Versorgung. der Staatsanwaltschaft bearbeitet wurden und dass die Zentrale Erfassungsstelle der Landes- Nach der Ankunft im Krankenhaus oder bei justizverwaltungen in Salzgitter alle bekannt der Gerichtsmedizin übernahm die Staatssi- werdenden Fälle in strafrechtlicher Hinsicht cherheit die Regie – zuständig waren die Unter- untersuchte und dokumentierte. Schüsse an suchungsabteilungen („Linie IX“) der beiden der Mauer erhöhten zudem den Misskredit des Bezirksverwaltungen in Berlin und Potsdam SED-Regimes in beiden Teilen Deutschlands und in besonders wichtigen Fällen die Haupt- und waren der internationalen Reputation der abteilung (HA) IX der MfS-Zentrale. Verletz- DDR und ihrer sowjetischen Vormacht ab- te Flüchtlinge wurden im VP-Krankenhaus träglich. Oberstes Ziel war es deshalb, Todes- in Isolierzimmern abgeschirmt, bewacht und fälle an der Grenze wann immer möglich zu sobald als möglich ins MfS-Haftkrankenhaus verheimlichen und zu verschleiern. Politische oder in die Stasi-Untersuchungsgefängnisse in Schadensvermeidung war gemeint, wenn es im Berlin oder Potsdam überführt. Über die To- Zusammenhang mit der Tötung des Flücht- ten hatte das MfS die alleinige Verfügungsge- lings Michael Bittner an der Mauer im Novem- walt: Sie übernahm deren Hab und Gut, Ef- ber 1986 in einem Bericht des Ministerium für fekten und Asservate; im Fall von Christian Staatssicherheit (MfS) heißt: „Die politische Buttkus nahm sie selbst die bei der Obduktion Sensibilität der Staatsgrenze zu Berlin (West) entfernte tödliche Kugel an sich und archivier- machte die Verschleierung des Vorkommnisses te sie. Die Stasi allein bestimmte den Umgang notwendig. Es musste verhindert werden, dass mit der Leiche: angefangen von der Obduk- Gerüchte über das Vorkommnis in Umlauf tion über die Ausstellung des Totenscheins, geraten bzw. dass Informationen dazu nach die Beantragung der Anlegung eines „Lei- Westberlin oder [in die] BRD abfließen.“ ❙11 chenvorganges“ bei der Abteilung I A (poli- tische Straftaten) des Generalstaatsanwaltes,

❙11 Abschlußbericht des MfS/KD Pankow zur OPK „Morgentau“, 25. 7. 1988, in: Bundesbeauftragter für ❙12 Vgl. Ordnung [des MfS] für die Bearbeitung von die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe- Leichenvorgängen, o. O., o J., in: BStU, MfS, HA IX maligen DDR (BStU), Ast. Berlin, AOPK Nr. 5895/88, Nr. 5134, Bl. 10–16. Vergleichbare Anweisungen gab Bl. 118. es auch für die innerdeutsche Grenze.

24 APuZ 31–34/2011 die Führung der Staatsanwaltschaftsakte, die Es sei „nicht ratsam, sofort mit der Tür ins Entgegennahme des Obduktionsergebnisses, Haus zu fallen“, heißt es in der „Ordnung für die Ausstellung der Sterbeurkunde im Stan- die Bearbeitung von Leichenvorgängen“ des desamt Berlin-Mitte, die Entgegennahme des MfS. Bei der noch unwissenden Witwe, dem Bestattungsscheines, bis hin zur Überführung Vater oder der Mutter zunächst mit einem und Verbrennung der Leiche, die in der Regel allgemeinen Gespräch zu beginnen, „kön- im Krematorium Baumschulenweg stattfand. ne noch manchen wertvollen Hinweis zum Gegenüber all diesen Einrichtungen – und Grenzverletzer ergeben“. ❙15 Der Umfang der auch gegenüber den Angehörigen – hatte sich dann folgenden Information über den Todes- der verantwortliche MfS-Mitarbeiter mit fal- fall erfordere „ebenfalls großes Fingerspitzen- scher Identität „als im Auftrage der General- gefühl“. Bewährt hätten sich folgende Mittei- staatsanwaltschaft von Groß-Berlin handeln- lungen: „a) … ist durch eine selbstverschuldete der VP-Angehöriger“ auszugeben. ❙13 Grenzprovokation ums Leben gekommen, b) … ist durch Selbstverschulden tödlich ver- Die Grenztruppen schrieben über jeden unglückt, c) … ist im Grenzgewässer ertrun- Fluchtvorgang Meldungen und Berichte. Bei ken.“ Da bei der Variante b) mit vielen Zusatz- Todesfällen landeten diese gewöhnlich auch fragen über den Ort des Geschehens gerechnet auf dem Schreibtisch von Honecker. Ihre werden müsse, solle von der Variante a) Ge- weiteren Untersuchungen konzentrierten brauch gemacht werden, „da so leichter zu be- sich auf die Beseitigung von Schwachstellen gründen ist, warum über den genauen Ereig- im Grenzsicherungssystem, die den Flucht- nisort keine Auskunft gegeben werden kann“. versuch begünstigt haben konnten. Die ei- Das „Zeigen der Leiche“ sei den Angehörigen gentliche Tatortuntersuchung, die Sicherung zu verweigern und ihr Einverständnis zu ei- von Spuren und Beweismitteln sowie die Be- ner Urnenbeisetzung zu erreichen. Die Sta- fragung und Vernehmung von Zeugen ein- si übernahm die Bestattungskosten, beglich schließlich der beteiligten Grenzsoldaten, ob- sie jedoch nicht selten mit dem Geld, das sie lag federführend den MfS-Abteilungen IX den Getöteten aus der Tasche gestohlen hatte. in Berlin und Potsdam, insbesondere deren Einigen Hinterbliebenen, so der Familie von „Spezialkommissionen“, die dabei eng mit ei- Karl-Heinz Kube, wurde die Urne gar per ner weiteren Stasi-Linie, der HA I, kooperier- Post zugestellt. Einer „Festlegung“ der Pots- ten. ❙14 Die Abdeckung der Tat und des Tator- damer Bezirksverwaltung des MfS zufolge tes hatte für diese „Untersuchungsorgane“ war den Angehörigen mitzuteilen, dass „eine jedoch immer dann Vorrang vor der Spuren- Trauerfeier grundsätzlich nicht stattfindet“. ❙16 sicherung, wenn dadurch Beobachtungen und Erst bei der Urnenbeisetzung dürfe gestat- Feststellungen auf West-Berliner Seite verhin- tet werden, dass „eine Trauerfeier im engsten dert werden konnten. Die Mitarbeiter der Ab- Rahmen durchgeführt wird, zu der auch ein teilungen IX ermittelten regelmäßig konspi- Prediger ausgesucht werden kann“. rativ über die Getöteten und ihre Familien sowie über Motive und Mitwisser. Zugleich Durch ihre Teilnahme an fast allen Beiset- hatten sie die Aufgabe, die nächsten Angehö- zungen nahmen MfS-Mitarbeiter selbst dem rigen der Verstorbenen zu informieren und Abschied von den Toten noch die Privatheit; gegebenenfalls Familie, Verwandte, Freunde, sie überwachten die Predigten und beschatte- Arbeitskollegen und Nachbarn unter Beob- ten die Trauernden. Im Gespräch mit den An- achtung und Kontrolle zu nehmen. gehörigen sei zu erreichen, „dass über das Vor- kommnis nichts an die Öffentlichkeit dringt, wobei geeignete Momente aus den Ermitt- ❙13 Ebd. lungsergebnissen zur Erreichung dieses Zie- ❙14 Die MfS-Hauptabteilung I war in der NVA und in den Grenztruppen unter der Bezeichnung „Verwal- les geschickt ausgenutzt werden (moralisch tung 2000“ oder auch „Bereich 2000“ tätig und für verkommene Personen, kriminell Angefalle- „Militärabwehr“ zuständig. Dazu gehörte vor allem ne u. ä.)“. Was genau den Angehörigen über die die Verhinderung von Fahnenfluchten durch die Ge- winnung von inoffiziellen Mitarbeitern und eine um- fassende Bespitzelung der Armeeangehörigen sowie ❙15 Ordnung (Anm. 12), Bl. 13 f.; dort auch die folgen- die Aufdeckung und Untersuchung von Fluchtversu- den Zitate. chen. Vgl. Stephan Wolf, Hauptabteilung I: NVA und ❙16 Weisung des Leiters der BVfS Potsdam, 20. 5. 1970, Grenztruppen, MfS-Handbuch, Teil III/13, hrsg. von in: BStU, Ast. Potsdam, BdL Dok. Nr. 400576, Bl. der BStU, Berlin 20052. 3–11, Zitat Bl. 10; dort auch die folgenden Zitate.

APuZ 31–34/2011 25 Ursachen des Todes mitgeteilt werde, sei vom • Getarnt als Kriminalpolizisten unterrich- Ergebnis der Ermittlungen abhängig – vor al- teten MfS-Mitarbeiter die Familienan- lem davon, was bereits über „westliche Organe gehörigen darüber, dass Johannes Spren- und Propaganda, Verletzte und Festgenomme- ger am 20. Mai 1974 stranguliert in einem ne, andere DDR-Bürger“ über das „Vorkomm- Waldstück nahe des Klinikums Buch auf- nis“ an die Öffentlichkeit gedrungen sei. gefunden worden sei: ein „einwandfrei- er Selbstmord“, wie sie sagten. Tatsächlich Viele Todesfälle wurden der Öffentlichkeit war Sprenger zehn Tage zuvor an der Sek- und den Angehörigen aus den verschiedens- torengrenze zwischen Treptow und Neu- ten Gründen bekannt. In mehr als 30 Fällen kölln erschossen worden. wurden Familienangehörige jedoch – zumeist • Herbert Halli, so wurde dessen Angehöri- ohne Angabe der genauen Umstände – zwar gen mitgeteilt, sei stark alkoholisiert in eine über den Tod informiert, aber zum Schwei- Baugrube nahe der tschechoslowakischen gen oder zum Lügen gegenüber Dritten ver- Botschaft gestürzt und dort am 4. April pflichtet oder aber schlicht über die Todesur- 1975 ohne Ausweis tot aufgefunden wor- sachen belogen: den. Die durchgeführten Untersuchungen hätten ergeben, dass er ohne Fremdeinwir- • Die Mütter von Hans Räwel und Walter kung ums Leben gekommen sei. Tatsäch- Hayn wurden informiert, ihre Söhne seien lich war er am Tag zuvor bei einem Flucht- ertrunken. In Wirklichkeit waren beide bei versuch in der Nähe der Wilhelmstraße in Fluchtversuchen erschossen worden: Räwel Berlin-Mitte erschossen worden. am 1. Januar 1963, Hayn am 27. Februar 1964. Weil dessen Angehörige der ihnen mitgeteil- ten Version keinen Glauben schenken woll- In mindestens elf Fällen wurde der Tod ten, wurde ihnen angedroht, „dass sie sich selbst auf Nachfrage nicht bestätigt und die strafbar machten, wenn sie über diese Ange- Namen von Todesopfern – obwohl der Sta- 17 legenheit Gerüchte in Umlauf“ setzten. si bekannt – geheim gehalten. ❙ Mitarbei- ter der gerichtsmedizinischen Institute, der • Die Eltern von Joachim Mehr, der bei ei- Krankenhäuser, der Staatsanwaltschaft, der nem Fluchtversuch am 3. Dezember 1964 Volkspolizei, der Standesämter, der Bestat- erschossen wurde, wurden darauf ver- tungsinstitute, des Krematoriums Baum- pflichtet, den Tod ihres Sohnes nach außen schulenweg und der Friedhofsverwaltungen als „Verkehrsunfall“ auszugeben – ebenso kooperierten mit der Staatssicherheit oder die Witwe von Klaus Garten, die Angehö- dienten ihr als Instrumente und beteiligten rigen des Ehepaares Weckeiser, von Klaus- sich auf deren Wunsch oder Anweisung an Jürgen Kluge, von Christian Peter Friese der Manipulation von Beweismitteln und und vielen anderen bis hin zur Ehefrau und an der Fälschung amtlicher Dokumente wie den Eltern von Lutz Schmidt. Totenscheine und Sterbeurkunden. Nach 1990 bildeten beteiligte Ärzte, Staatsanwäl- In einigen Fällen wurden falsche Todesum- te, Volkspolizisten, Mitarbeiter des Stan- stände konstruiert und Beweismittel wie Lei- desamts, des Krematoriums und der Fried- chenfundberichte, Totenscheine und Sterbe- hofsverwaltungen darüber gemeinsam mit urkunden gefälscht: den Stasi-Verantwortlichen eine Art Schwei- gekartell. Das spurlose Verschwinden der • Der 10-jährige Jörg Hartmann und der Leichname von Dr. Johannes Muschol, Ro- 13-jährige Lothar Schleusener wurden bei land Hoff, Siegfried Noffke, Dieter Beilig, einem gemeinsamen Fluchtversuch am Silvio Proksch und Michael Bittner ließ sich 14. März 1966 in Treptow erschossen. Der bis heute nicht aufklären. ❙18 Großmutter von Jörg wurde erzählt, ihr En- kel sei ertrunken und mit Schiffsschrauben- ❙17 Siehe die Darstellungen zu Roland Hoff, Erich verletzungen in Köpenick geborgen worden. Kühn, Paul Stretz, Siegfried Krug, Heinz Müller, Ge- Der Mutter von Lothar wurde weisgemacht, rald Thiem, Dieter Beilig, Manfred Gertzki, Dr. Jo- ihr Sohn sei in Espenhain bei Leipzig durch hannes Muschol, Silvio Proksch und Michael Bittner, in: H.-H. Hertle/M. Nooke (Anm. 1). einen Stromschlag verunglückt. Eine ge- ❙18 Siehe die Texte über Dr. Johannes Muschol, Ro- fälschte Sterbeurkunde des Standesamtes land Hoff, Siegfried Noffke, Dieter Beilig, Silvio Leipzig sollte dies ­beglaubigen. Proksch und Michael Bittner in: ebd.

26 APuZ 31–34/2011 Aufhebung des Schießbefehls, Es waren jedoch keine Warn-, sondern To- desschüsse, die Chris Gueffroy sieben Wo- der nie existierte chen später, am 5. Februar 1989, ins Herz tra- fen. Dem Proteststurm, der danach losbrach, Die Wahrheit über die Todesumstände ihrer war die SED-Führung politisch nicht mehr Angehörigen erfuhren viele Familien oft erst in gewachsen. Unter massivem Druck der So­ den 1990er Jahren nach der Öffnung der DDR- wjet­union hatte die DDR Mitte Januar 1989 Archive und im Zuge der strafrechtlichen Auf- das Wiener KSZE-Abkommen unterzeichnet. arbeitung der Gewalttaten an der Grenze. In Darin ging sie die Verpflichtung ein, das Recht den Strafverfahren wegen der Todesschüsse eines jeden auf Ausreise aus jedem Land, da- gegen Flüchtlinge bestritten die Mitglieder der runter seinem eigenen, und auf Rückkehr in ehemaligen politischen und militärischen Füh- sein Land uneingeschränkt zu achten. Die rung der DDR vehement, dass es jemals einen Sowjetunion ging auf Distanz zum Schießbe- Schießbefehl gegeben habe. Formaljuristisch fehl ihres Verbündeten; die westlichen Staa- betrachtet musste ihnen Recht gegeben wer- ten hatten ein Instrument, um die DDR auf den, denn die Gesetze, Dienstvorschriften und die Anklagebank zu setzen, und die DDR- Befehle zum Schusswaffengebrauch begründe- Führung fürchtete, ihre Kreditwürdigkeit ge- ten lediglich, so auch die Strafgerichte, einen genüber dem Westen zu verlieren. „Erlaubnistatbestand“, nicht jedoch die Ver- pflichtung zum Todesschuss. In dieser Situation hob Honecker klamm- heimlich den Schießbefehl, der angeblich nie Doch politische Strafgesetze, die Flucht- existiert hatte, auf. „Lieber einen Menschen versuche unter bestimmten Bedingungen als abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Verbrechen definierten, eine Ideologie, wel- Situation die Schusswaffe anzuwenden“, ließ che die jungen Soldaten zum bedingungslo- der Generalsekretär seinen verblüfften Mili- sen Hass auf den Feind erzog, sowie Belo- tärs verbindlich ausrichten. ❙20 Am 3. April 1989 bigungen und Prämien für Todesschützen wurden die Grenztruppen angewiesen, „die rückten die „Erlaubnis“ nahe an die Pflicht. Schusswaffe (…) zur Verhinderung von Grenz- Passte es dagegen der SED-Führung politisch durchbrüchen“ nicht länger anzuwenden. ❙21 Die nicht ins Konzept, dass an der Grenze ge- Aufhebung des Schießbefehls war indes gera- schossen wurde – etwa im Umfeld von Staats- de fünf Tage alt, als erneut in Berlin geschos- besuchen –, wurde der Schießbefehl für eine sen wurde. Mit einem Warnschuss stoppte ein kurze Periode außer Kraft gesetzt, so beim Passkontrolleur am 8. April 1989 zwei Flücht- Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt linge, die den Grenzübergang Chausseestra- in der DDR im Dezember 1981. ße zu überrennen versuchten. Die Szene wur- de von West-Berlin aus fotografiert, die Bilder Vor 1990 schreckten Mitglieder der SED- veröffentlicht und der Vorfall international an- Führung, waren sie ganz unter sich, nicht da- geprangert. Hintergrund dieses Zwischenfalls vor zurück, den Schießbefehl beim Namen war, dass die Passkontrolleure lediglich als Ver- zu nennen. „Der Schießbefehl wird natürlich kleidung die Uniformen der Grenztruppen tru- nicht aufgehoben“, tönte etwa Stasi-Minister gen, tatsächlich aber Angehörige des MfS wa- Erich Mielke im engsten Kreis bei der Vor- ren. Das MfS aber war über die Aufhebung des bereitung von Sicherheitsmaßnahmen für die Schießbefehls nicht informiert worden – was Weltjugendfestspiele 1973 in Ost-Berlin. Und nun schleunigst nachgeholt wurde. ❙22 Honecker gab dem Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Hans Otto ❙20 Bräutigam, am 19. Dezember 1988 bei des- DDR-Grenztruppen/Chef des Stabes, Nieder- schrift über die Rücksprache beim Minister für Na- sen Verabschiedung mit auf den Weg, Vertei- tionale Verteidigung, i. V. Generaloberst Streletz, am digungsminister Heinz Keßler habe kürzlich 3. 4. 1989, O. U., den 4. 4. 1989, in: BStU, MfS, HA I erklärt, „dass es keinen Schießbefehl (mehr) Nr. 5753, Bl. 4. gebe. (…) Wenn jetzt noch Schüsse fallen, ❙21 [MfS-]HA I beim Kommando der Grenztruppen, dann seien es Warnschüsse.“ ❙19 Niederschrift, Pätz, 12. 4. 1989, in: BStU, MfS, HA VI Nr. 1308, Bl. 27. ❙22 Vgl. [MfS-]HA VI, Vermerk über eine Beratung ❙19 Vermerk über ein Gespräch zwischen Erich Ho- mit den Stellvertretern Passkontrolle der Abteilungen necker und Hans Otto Bräutigam am 19. 12. 1988, in: VI der BV mit Staatsgrenze zur BRD und Westberlin, BA, DY 3023/1360 (Büro Günter Mittag). Berlin, 13. 4. 1989, in: BStU, MfS, HA VI Nr. 137.

APuZ 31–34/2011 27 Mielke machte aus seiner menschenverach- Andreas Kötzing tenden Haltung auch Wochen später auf einer Dienstkonferenz keinen Hehl: „Ich will euch überhaupt mal etwas sagen, Genossen“, ver- Ein Hauch von traute er seinen leitenden Mitarbeitern Ende April 1989 an, „wenn man schon schießt, ­Frühling dann muss man das so machen, dass nicht der Betreffende noch wegkommt, sondern dann muss er eben dableiben bei uns. (…) Was ist ine der beliebtesten Metaphern zur Kul- denn das: Siebzig Schuss loszuballern und der Etur des „Kalten Krieges“ ist das Wetter. So rennt nach drüben und die machen eine Rie- werden die Jahre nach Stalins Tod beispielswei- senkampagne?“ Nur widerwillig beugte sich se gerne als ­Periode des der Stasi-Chef der neuen, für ihn schlimmen „Tauwetters“ bezeich- Andreas Kötzing Zeit: „Wo noch etwas mehr revolutionäre Zei- net, da den Kunst­ M. A., geb. 1978; Doktorand ten waren, da war es nicht so schlimm. Aber schaffenden in der So­ am Historischen Seminar der jetzt, nachdem alles so neue Zeiten sind, muss wjet­union und in an- Universität Leipzig, Lehrstuhl man den neuen Zeiten Rechnung tragen.“ ❙23 deren Staaten des Ost- für Neuere und ­Zeitgeschichte, Das Politbüro, so mochte Mielke schon ah- blocks vergleichsweise ­Beethovenstraße 15, nen, war den neuen Zeiten nicht gewachsen. große Freiräume einge- 04107 Leipzig. räumt wurden. Andere [email protected] An die Gestaltung eines politischen Sys- Jahre, die von stärke- tems, das die Mauer überflüssig gemacht hät- ren Restriktionen geprägt waren, gelten hinge- te, war kein Gedanke verschwendet wor- gen als kulturpolitische „­Eiszeiten“. den. Pläne der Grenztruppen von 1988/1989 für den „weiteren pionier- und signaltech- Überträgt man die Metapher auf die DDR, nischen Ausbau der Staatsgrenze der DDR dann war die Kulturpolitik der SED in etwa zur BRD und zu Berlin (West) in den Jah- so beständig wie das englische Wetter. Gele- ren 1991 bis 1995/2000“ stellten dementspre- gentlich schien für die Künstler in der DDR chend nicht darauf ab, die Grenzsicherung zu zwar die Sonne, doch zumeist zogen schnell lockern, sondern lediglich „die Ansatzpunk- wieder dunkle Wolken auf. Stürmische Win- te zur Hetze gegen die DDR für den Gegner“ de wechselten die Richtung, regelmäßig gab durch den Einsatz moderner elektronischer es krachende Gewitter, welche die aufgela- Technik zu verringern. ❙24 Die Installierung dene Spannung entluden und einen tristen von Infrarotschranken, elektronisch gesteu- Nieselregen nach sich zogen. Dieser Wechsel erten Erschütterungsmeldern und Übersteig- von kurzzeitigen „Hochs“ und langanhalten- sicherungen sollte die Arrestierung der Be- den „Tiefs“ hat sich als tragfähiges Paradig- völkerung auch über das Jahr 2000 hinweg ma für die wissenschaftliche Auseinanderset- garantieren. Die SED hatte sich an den Besitz zung mit der SED-Kulturpolitik etabliert. ❙1 der „Staatsinsassen“ (Joachim Gauck) durch Freizügigere Phasen, in denen die Staats- die Mauer gewöhnt, nicht aber die Bevölke- macht den Künstlern punktuelle Freiräume rung an deren Existenz. Sieben Monate nach gewährte, wechselten sich mit Zeitabschnit- der Aufhebung des Schießbefehls fiel in Ber- ten ab, in denen die Kunst stärker ideologisch lin die Mauer – und kein Schuss störte das vereinnahmt wurde. Die ersten Jahre nach ­Freudenfest. dem Mauerbau, um die es im Folgenden ge- hen soll, gelten dabei gemeinhin als eine Pha- se größerer Freizügigkeit. Und in der Tat gab ❙23 Referat des Ministers für Staatssicherheit, Erich es ab 1962 in der DDR Anzeichen für eine – Mielke, auf der zentralen Dienstbesprechung des MfS in Berlin am 28. 4. 1989, in: BStU, MfS, ZAIG/ zumindest ­partielle – Offenheit innerhalb der Tb/3/K 1-1 (Tonbandmitschnitt). ­Kulturpolitik. ❙24 Zit. nach Wolfgang Rathje, Der Ausbau der Berli- ner Mauer 1975–1989 und die Perspektivplanung bis zum Jahr 2000 im Spiegel der Grenztruppen-Akten, Künstlerische Aufbruchstimmung Magisterarbeit, Kiel 1996, S. 143; siehe dazu auch: ders., „Mauer-Marketing“ unter Erich Honecker, Kiel 2001, S. 769 ff. So entstanden bei der DEFA vermehrt Spiel- filme, die sich mit dem individuellen Leben der Menschen in der DDR beschäftigten, da-

28 APuZ 31–34/2011 runter „Beschreibung eines Sommers“ von Kritik, die die bestehenden Machtverhält- Ralf Kirsten. ❙2 Mit „Ole Bienkopp“ von Er- nisse in Frage stellte. win Strittmatter und „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf konnten 1963 zwei gesell- Die Grenzen, innerhalb derer sich die Künst- schaftskritische Romane erscheinen, die in ler bewegen konnten, blieben auch nach dem der Öffentlichkeit zum Teil kontrovers dis- Mauerbau vergleichsweise eng. Stefan Heym kutiert wurden und große Resonanz fan- konnte seine kritische Kolloquiums-Rede den. Zu einem kulturellen Großereignis ge- beispielsweise nicht in der DDR veröffentli- riet im Mai 1964 das Deutschlandtreffen der chen – er publizierte sie stattdessen in der Bun- Freien Deutschen Jugend (FDJ), an dem über desrepublik. Charakteristisch für die kultur- 500 000 Jugendliche teilnahmen, darunter politische Phase nach dem Mauerbau ist nicht auch mehrere Tausend aus der Bundesrepu- zuletzt, dass gesellschaftskritischere Kunst- blik und West-Berlin. Im Dezember dessel- werke zwar entstehen konnten, ihre Veröffent- ben Jahres fand in Ost-Berlin ein interna- lichung jedoch erheblich eingeschränkt oder tionales Schriftstellerkolloquium statt, auf gar verhindert wurde. Ein prägnantes Beispiel dem Stefan Heym die in der DDR praktizier- hierfür ist der außergewöhnliche Dokumentar- te Zensur kritisierte. Derartige „Freiheiten“ film „Deutschland – Endstation Ost“, den der waren allerdings weniger das Ergebnis einer Belgier Frans Buyens für die DEFA drehte. tatsächlichen Liberalisierung innerhalb der DDR. Sie waren vielmehr taktisch motiviert, hoffte die SED doch, durch die Lockerung „Deutschland: Endstation Ost“ ihrer kulturpolitischen Vorgaben die grund- sätzliche Akzeptanz ihrer Herrschaft in der Frans Buyens wurde im Herbst 1963 das Pro- Bevölkerung steigern zu können. ❙3 jekt angetragen, einen Dokumentarfilm über das Leben der Menschen in der DDR zu dre- Doch unabhängig vom machtpolitischen hen. ❙5 Er war zwei Jahre zuvor in die DDR Kalkül der SED entwickelte sich in der ers- gekommen und hatte in Ost-Berlin den Bau ten Hälfte der 1960er Jahre bei vielen Intel- der Mauer miterlebt. Die Initiative zum Film lektuellen und Künstlern in der DDR eine ging vom Ministerium für Auswärtige Ange- Aufbruchstimmung: Getragen von der Aus- legenheiten aus. Neben der Verbreitung in der sicht, aktiv an der Gestaltung der Gesell- DDR sollte der fertige Film auch für Image- schaft mitwirken zu können, thematisierten kampagnen im Ausland eingesetzt werden. sie in Büchern, Filmen und anderen Kunst- Insgesamt wurde das Projekt von politischer werken auch die unübersehbaren Probleme Seite nachdrücklich gefördert: Zu den Unter- innerhalb der DDR. ❙4 Dahinter verbarg stützern zählten Werner Lamberz, langjäh- sich – ähnlich wie bei vielen anderen Künst- riger FDJ-Funktionär und innerhalb des ZK lern in den Staaten des Ostblocks – die Hoff- der SED verantwortlich für den Bereich „Aus- nung, das sozialistische Gesellschaftsmodell landsinformation“, und Günter Witt, Lei- reformieren zu können. Allerdings waren ter der Hauptverwaltung Film im Ministeri- die Spielräume begrenzt. Nach wie vor gab um für Kultur. Buyens willigte ein, allerdings es rigide Eingriffe in die Arbeit der Künst- unter der Voraussetzung, den Film ohne po- ler: Grundsätzlich duldete die SED keine litische Einflussnahme realisieren zu können. Die Dreharbeiten begannen im Frühjahr 1964. ❙1 Vgl. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Buyens reiste mehrfach durch die DDR, inter- 1945–1990, Köln 1994. viewte mit seinem Team Passanten in Ost-Ber- 2 ❙ Vgl. Erika Richter, Zwischen Mauerbau und Kahl- lin, sprach mit Grenzsoldaten an der Mauer, schlag, in: Ralf Schenk (Red.), Das zweite Leben der mit LPG-Bauern, mit Arbeitern, mit halb- Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946–1992, Berlin 1994, S. 171 ff. staatlichen Unternehmern und mit Studenten. ❙3 Ähnlich war die Situation auch in anderen Berei- Dabei entstanden Interviews mit einer Ge- chen, u. a. in der Jugendpolitik. Vgl. Monika Kaiser, samtlänge von etwa 25 Stunden, wobei einige Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funkti- onsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsitu- ationen 1962–1972, Berlin 1997, S. 133–231. ❙5 Vgl. hierzu und im Folgenden Thomas Heimann, ❙4 Vgl. hierzu die umfassende Studie von Henning Wie ein Ausländer die DDR mit eigenen Augen se- Wrage, Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fern- hen wollte. Frans Buyens bei der DEFA, in: apropos: sehen in der DDR der 1960er Jahre. Eine Kulturge- Film 2001. Jahrbuch der DEFA-Stiftung, Berlin 2001, schichte in Beispielen, Heidelberg 2008. S. 105–132.

APuZ 31–34/2011 29 Gespräche nur auf Ton und nicht im Bild fest- heißt es: „Welcher Mensch könnte unberührt gehalten wurden. Der fertige Film mit dem Ti- bleiben bei der Feststellung, dass sich hier in tel „Deutschland – Endstation Ost“ hatte am diesem Land ein Wunder der modernen Zeit Ende eine Länge von 82 Minuten – das restli- vollzieht, das wichtigste vielleicht für die Zu- che Filmmaterial gilt heute als verschollen. ❙6 kunft Europas: Die Veränderung der deut- schen Denkart, die Verwandlung des Ungeis- Buyens’ Film ist aus heutiger Perspektive tes in Geist.“ ❙9 Neben solchen Äußerungen, bemerkenswert, weil er sich deutlich von an- die keinen ernsthaften Zweifel am erfolgrei- deren zur gleichen Zeit in der DDR entstan- chen „Aufbau des Sozialismus“ aufkommen denen Dokumentarfilmen unterscheidet. Die ließen, finden sich in „Deutschland – Endsta- wenigen Dokumentationen und Wochen- tion Ost“ jedoch bemerkenswert viele kriti- schauen der DEFA, die sich mit dem Mauer- sche Äußerungen von DDR-Bürgern, die von bau und seinen Auswirkungen beschäftigen, Skepsis, Unzufriedenheit und Ablehnung ge- sind zumeist von ihrer ideologischen Pro- prägt sind. pagandafunktion geprägt. Filme wie „Das Ganze halt!“ von Dieter Mendelsohn (1961), Charakteristisch für den Grundtenor des „Schaut auf diese Stadt“ von Karl Gass (1962) Films sind beispielsweise die Gespräche mit oder „Brüder und Schwestern“ von Walter Ost-Berliner Passanten, die Buyens nach ihrer Heynowski (1963) verklären die Mauer zum Meinung zum Bau der Mauer befragte. Insge- „antifaschistischen Schutzwall“ und machen samt kommen in dieser Sequenz 13 Menschen allein die „revanchistischen Militaristen aus zu Wort: Neun befürworten die Schließung Bonn“ für die Spaltung Deutschlands verant- der Grenze oder äußern sich zumindest eher wortlich. ❙7 Buyens zeichnet in seinem Film woh lwol lend über d ie Mauer, d ie letzt l ich doch hingegen ein widersprüchlicheres Bild. der Sicherung des Friedens diene. Mehrfach nennen die Befragten die Abwerbung von Ar- Grundsätzlich ist „Deutschland – Endstati- beitskräften durch die Bundesrepublik als Ar- on Ost“ ein wohlwollendes Plädoyer für die gument für die Schließung der Grenze. Aber DDR: Die Politik der SED wird nicht in Fra- auch die Gefahr, die DDR könne von westli- ge gestellt; positive und negative Meinungsäu- chen Agenten unterwandert werden, kommt ßerungen sind stets so gewichtet, dass die Zu- zur Sprache. Diese Argumentation entsprach stimmung überwiegt. Bisweilen äußern sich weitestgehend der SED-Propaganda und der Buyens’ Gesprächspartner sogar derart kon- öffentlichen Berichterstattung über die Mauer formistisch und ideologisch korrekt, dass ihre in der DDR. Vier Passanten drücken hingegen Antworten wie aufgesetzt und auswendig ge- ihre eindeutig ablehnende Haltung aus. Ein lernt wirken. Buyens war ein überzeugter flä- junger Mann antwortet auf die Frage, was er mischer Sozialist und solidarisierte sich mit der über die Mauer denkt: „Nüscht Jutes!“ Nach politischen Entwicklung der DDR. ❙8 Deutlich kurzem Zögern fügt er hinzu: „Die Mauer, wurde dies nicht zuletzt im Off-Kommen- die hätte hier gar nicht hinkommen sollen.“ tar des Films, den Buyens geschrieben und Als Buyens ihn nach den Gründen fragt, zö- selbst gesprochen hat. In seinem Schlusswort gert der Mann, schüttelt mehrfach den Kopf und schweigt mehrere Sekunden. Schließlich ❙6 Der Film trug zunächst den Arbeitstitel „Die DDR ergänzt er etwas resignierend: „Ach, wissen mit den Augen eines Ausländers gesehen“. 2008 ver- Sie, das ist so eine Sache mit der Mauer. Die öffentliche die DEFA-Stiftung in Zusammenarbeit hätte von Vornherein gar nicht gemacht wer- mit „Neues Deutschland“ eine DVD-Edition, die den dürfen.“ Ein anderer Mann bleibt anfangs über den Verleih „defa spektrum“ bezogen werden zurückhaltend, ganz offensichtlich aus Angst kann. Vgl. zu den unterschiedlichen Fassungen des vor möglichen Konsequenzen. „Man weiß ja Films Jeanpaul Goergen, Endstation Filmarchiv. Was die überlieferten Kopien zu Deutschland – Endsta- gar nicht, mit wem man hier noch sprechen tion Ost (DDR 1964) aussagen, in: Filmblatt, Nr. 35 kann“, entgegnet er Buyens auf dessen Frage, (Herbst 2007), S. 77–82. was er von der Mauer hält. Auf eine Nachfra- ❙7 Vgl. Matthias Steinle, Vom Feindbild zum Fremd- ge hin äußert er sich dann doch: „Die Mauer bild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und passt hier überhaupt nicht her. Wir sind ja hier DDR im Dokumentarfilm, Konstanz 2003, S. 193– eingesperrt, sozusagen!“ 202 und S. 226–234. ❙8 Vgl. „Ich glaube nicht an objektive Wahrheit.“ Ein Gespräch mit dem Regisseur Frans Buyens, in: film ❙9 Diese und alle folgenden Zitate aus dem Film basie- (velber), (1965) 11, S. 20 f. ren auf der erwähnten DVD-Fassung (Anm. 6).

30 APuZ 31–34/2011 Noch deutlicher wird eine Frau, die gerade ten. Die politische Indoktrination der Solda- an einem Gemüsestand einkauft. Sie bemerkt ten wird ebenso spürbar wie ihre allgemeine die Dreharbeiten und mischt sich ein: „Nein, Verunsicherung im Umgang mit Flüchtlin- die Mauer muss weg! Man kann ja nicht zu gen. Bemerkenswert ist, dass die Soldaten seinen Verwandten! Also, ich bin im staatli- bestätigen, notfalls auf DDR-Bürger schie- chen Handel, aber ich würde jedes Wochen- ßen zu müssen, um sie an einer Flucht zu ende zurückkommen, denn man hatte ja vor- hindern – auch dies ein Tabu in der DDR- her die Gelegenheit zu gehen. Und dann habe Berichterstattung über die Mauer. ich eine Mutter von 78 Jahren, die würde auch wieder zu ihrer Tochter gehen. Aber mal, so Aus vielen anderen Teilen des Films ließen wenigstens alle vier Wochen, müssten wir sich weitere Beispiele anfügen, die den beson- schon rüber können, ohne Kommentar, denn deren Charakter von „Deutschland – Endsta- wir tun ja hier unsere Pflicht, also es müsste tion Ost“ belegen. Hier soll noch eine Szene sein. Die Mauer muss weg, unbedingt!“ Auf detailliert erwähnt werden, die im Hinblick Nachfrage von Buyens, wer schuld an der auf den Mauerbau von besonderer Bedeutung Mauer sei, entgegnet die Frau: „Na, wissen ist, weil sie sich auf die eingeschränkten Rei- Sie, einer allein ist nie schuld. Ich sage, wie es semöglichkeiten der DDR-Bürger bezieht. In ist. Aber was soll ich noch mehr sagen? Kom- einer Gesprächsrunde mit Arbeitern wirft mentar überflüssig! Hoffentlich beschneiden Buyens die Frage auf, ob sie sich in der DDR sie das nicht, was ich hier gesagt habe.“ Sze- frei fühlen würden. Wiederum sind die Ant- nen wie diese wirken authentisch, weil sie worten im Film so montiert, dass die wohl- offensichtlich spontan und ohne Vorberei- wollenden Stimmen überwiegen und das Le- tung gedreht wurden. Es entsteht der Ein- ben in der DDR insgesamt in einem positiven druck, dass die Menschen ihre kritische Mei- Licht erscheint. Ein Arbeiter, der im bishe- nung sprichwörtlich „aus dem Bauch“ heraus rigen Gesprächsverlauf stumm im Hinter- ­wiedergeben. grund gesessen hat, durchbricht jedoch das harmonische Bild. „Die Freiheit ist für mich Derartige Ansichten zum Mauerbau sind ein Problem“, merkt er mit ruhiger Stimme einzigartig für einen ostdeutschen Doku- an. „Ich möchte gerne reisen, mal was von mentarfilm. Eine vergleichbare Offenheit der Welt sehen. Und das kann ich hier nicht. findet sich zumindest in keiner anderen be- Ich bin zwar im letzten Jahr eine ganze Zeit kannten Produktion des DEFA-Dokumen- in Ungarn gewesen, und es hat mir auch sehr tarfilmstudios. Buyens’ Film ist darüber gut gefallen, aber ehrlich gesagt, ich möchte hinaus auch in ästhetischer Hinsicht ein zum Beispiel auch mal Belgien kennen lernen Unikat: Während in den Produktionen der oder England. Und die Möglichkeit hab ich DEFA und des DDR-Fernsehens kaum De- hier nicht. Ich möchte mal nach Schweden. tailaufnahmen von der Grenze zu sehen sind, Ich würde alles dafür hingeben, was ich habe, werden in „Deutschland – Endstation Ost“ aber es geht nicht, ist nicht drin. Darin fühle gleich mehrfach lange Einstellungen von der ich mich in meiner Freiheit beschnitten, ganz Mauer gezeigt. Die (nach innen gerichteten) schön sogar.“ Wenngleich dieses Statement Sperranlagen und Stacheldrähte sind dabei im Film als Einzelmeinung stehen bleibt, ist ebenso im Bild wie die bewaffneten DDR- seine Aussagekraft doch ungemein groß, da Grenzsoldaten. Buyens griff die Situation an ähnliche Stimmen in anderen Dokumentar- der Mauer unmittelbar auf, indem er Solda- filmen der DEFA oder des DDR-Fernsehens ten zu ihrer Arbeit befragte. Die Interviews, grundsätzlich ausgespart blieben. die unweit des Checkpoint Charlie stattfan- den, konnten zwar nur nach zähen Verhand- lungen mit dem ZK der SED, dem Ministe- Vorweggenommener „Kahlschlag“ rium für Nationale Verteidigung und der Nationalen Volksarmee (NVA) geführt wer- Nach der Fertigstellung des Rohschnitts fand den. Aber trotz der eingeschränkten Dreh- im September 1964 die erste Abnahme von möglichkeiten sind die Äußerungen, die „Deutschland – Endstation Ost“ statt. Dabei für den Film verwendet wurden, sehr auf- handelte es sich um einen offiziellen Begut- schlussreich. Die Interview­auszüge berüh- achtungsprozess, den jeder Film durchlaufen ren sensible Themenfelder, wie zum Beispiel musste, ehe er für eine öffentliche Vorfüh- die moralische Verantwortung der Wachpos- rung in der DDR freigegeben wurde. Neben

APuZ 31–34/2011 31 Buyens nahmen Vertreter aus dem DEFA- Annelie und Andrew Thorndike, die grund- Dokumentarfilmstudio daran teil, darunter sätzlich auf eine stärkere ideologische Aus- Inge Kleinert, die Direktorin des Studios. richtung des Leipziger Festivals drängten. Außerdem waren einzelne Funktionäre aus dem ZK der SED und der Hauptverwaltung Buyens erfuhr erst nach Beginn des Festi- Film im Ministerium für Kultur zugegen. vals von der Absetzung seines Films. Trotz Trotz vereinzelter Kritik verlief die Abnah- einer Erkrankung reiste er daraufhin per- me insgesamt positiv: Buyens erhielt den Auf- sönlich nach Leipzig und drohte damit, die trag, den Film rechtzeitig zur VII. Leipziger Auseinandersetzung öffentlich zu machen. Dokumentar- und Kurzfilmwoche im No- Daraufhin wurde am vorletzten Tag des Fes- vember 1964 fertigzustellen. Kleinert schlug tivals doch noch eine Vorführung organi- sogar vor, den Film am Eröffnungsabend des siert. Der Film erntete großen Applaus und Festivals vorzuführen. ❙10 Dies war eine be- wurde überwiegend wohlwollend aufgenom- sondere Würdigung, da die Leipziger Film- men. Buyens erinnerte sich später, dass Inge woche nicht nur das größte Filmfestival der Kleinert ihn in der Nacht nach der Auffüh- DDR war, sondern auch international zu den rung telefonisch über die jüngsten Entwick- wichtigsten Dokumentarfilmfestivals zählte lungen aus dem ZK der SED informiert habe. und zahlreiche ausländische Gäste anzog. Demnach habe sich Walter Ulbricht den Film inzwischen persönlich angesehen. Er Zu der feierlichen Premiere am Eröffnungs- sei begeistert gewesen und habe vorgeschla- abend kam es jedoch nicht. Im unmittelbaren gen, den Film überall in der DDR zu zeigen. Vorfeld war innerhalb des ZK der SED eine Ob Ulbricht sich jedoch tatsächlich für den kontroverse Debatte über „Deutschland – Film ausgesprochen hat, ist fraglich. Zumin- Endstation Ost“ entbrannt, bei der sich eine dest blieb die Stimmung auf dem Leipziger Mehrheit gegen eine Aufführung des Films Festival gespalten: Die für den kommenden aussprach. Daraufhin wurde er kurzfristig Vormittag anberaumte Pressekonferenz zu aus dem Programm gestrichen. Er sollte nach „Deutschland – Endstation Ost“ wurde noch Möglichkeit gar nicht oder allenfalls im Rah- in derselben Nacht wieder abgesagt. ❙13 menprogramm des Festivals gezeigt werden. Die genauen Umstände, die zu dieser Ent- Trotz des Konfliktes in Leipzig arbeitete scheidung führten, lassen sich nicht mehr re- Buyens zunächst weiter in der DDR. Im Früh- konstruieren. Die Informationen basieren wei- jahr 1965 entwickelte er mehrere neue Projekte testgehend auf den Erinnerungen von Buyens für die DEFA. Sogar die Einrichtung einer ei- selbst. ❙11 Belegbar ist, dass einzelne Vertreter genständigen Arbeitsgruppe unter seiner Lei- des ZK der SED harsche Kritik an der inhalt- tung war im Gespräch. Doch im Verlauf des lichen Ausrichtung des Films übten und sich Jahres 1965 verschärfte sich die kulturpoliti- Werner Lamberz, der sich nach wie vor für sche Situation in der DDR, so dass die Hand- den Film aussprach, mit seiner Meinung nicht lungsspielräume für kritische Stimmen immer durchsetzen konnte. ❙12 Bei der Auseinander- enger wurden. Innerhalb der SED setzten sich setzung um „Deutschland – Endstation Ost“ die dogmatischen Funktionäre durch, die Re- machten anscheinend auch DEFA-Regisseure formansätze ablehnten und sich gegen die „li- ihren politischen Einfluss geltend, vor allem beralistischen“ Tendenzen in der Kultur- und Jugendpolitik stellten, allen voran Erich Ho- ❙10 Vgl. Vorschlag für das Eröffnungsprogramm der necker und Kurt Hager. Zuvor war es in der VII. Internationalen Dokumentar- und Kurzfilm- Sowjetunion nach dem Machtantritt von Le- woche Leipzig 1964: „Die DDR mit den Augen ei- onid Breschnew bereits zu einer Kehrtwende nes Ausländers gesehen.“ Anlage zum Schreiben von in der Kulturpolitik gekommen – diese Ent- Inge Kleinert an Günter Witt, Berlin, 20. 10. 1964. BArch Berlin, DR 1/4272. wicklung verlieh der Gruppe um Honecker 14 ❙11 Vgl. ausführlich T. Heimann (Anm. 5), S. 122 ff. und Hager zusätzlichen Auftrieb. ❙ Heimann hatte 1999 und 2000 die Möglichkeit zu zwei Zeitzeugeninterviews mit Buyens; Frans Buyens Im Dezember 1965 markierte schließlich starb im Mai 2004. das 11. Plenum des ZK der SED das Ende ❙12 Vgl. Heinz Kimmel, Information über den Stand aller freiheitlichen Entwicklungen in der der Vorbereitung der VII. Internationalen Leip- ziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche vom 14.– 21. 11. 1964. BArch Berlin, SAPMO, DY 30/IV A ❙13 Vgl. T. Heimann (Anm. 5), S. 122 ff. 2/9.02/74. ❙14 Vgl. M. Kaiser (Anm. 3), S. 167 ff.

32 APuZ 31–34/2011 DDR-Kultur. Auf dem Plenum, das aufgrund anscheinend keine Versuche mehr, sich weiter seiner rigiden Eingriffe auch als „Kahl- für den Film einzusetzen. Abgesehen von ei- schlag-Plenum“ bezeichnet wird, ❙15 wurde nigen Vorführungen in geschlossenen Veran- eine allgegenwärtige Bedrohung durch den staltungen war „Deutschland – Endstation Westen beschworen. Insbesondere der kultu- Ost“ in der DDR nicht mehr zu sehen. relle Einfluss der Bundesrepublik und ande- rer kapitalistischer Staaten sei verantwortlich für vermeintlich „dekadente“ Erscheinun- Fazit gen in der DDR-Kultur. Die Kritik zielte ge- gen Intellektuelle und Literaten, namentlich Anhand von „Deutschland – Endstation Ost“ vor allem Wolf Biermann, Stefan Heym und lässt sich die kulturpolitische Situation in der Robert Havemann; in erster Linie wurden DDR nach dem Mauerbau sehr gut nachvoll- jedoch zahlreiche Filmemacher öffentlich ziehen. Einerseits zeigt sich, dass es kurzzei- angegriffen und für ihre nicht linientreuen tig ein Umfeld gab, in dem Kunstwerke ent- Filme gerügt. Insgesamt wurden zwölf Spiel- stehen konnten, die sich um einen alternativen, filme nach dem Plenum verboten oder wäh- weniger dogmatischen Blick auf das Leben in rend der Produktion gestoppt. Der kulturel- der DDR bemühten, ohne dabei den Machtan- le „Kahlschlag“ hatte gravierende Folgen für spruch der SED grundsätzlich in Frage zu stel- das Filmwesen der DDR, von denen sich die len. Frans Buyens plädierte mit seinem Film DEFA nie mehr vollständig ­erholte. ❙16 nachdrücklich für den Aufbau des Sozialismus in der DDR. Er ließ jedoch auch kritische Stim- Die Auseinandersetzung um „Deutsch- men zu Wort kommen, die ein widersprüchli- land – Endstation Ost“ veranschaulicht, dass ches Bild auf die tatsächliche Entwicklung der sich die kulturpolitische Situation in der DDR DDR-Gesellschaft warfen. Andererseits zeigt bereits im Vorfeld des 11. Plenums deutlich die Art und Weise, wie mit dem fertigen Film verschlechtert hatte. Im Frühjahr 1965 kamen umgegangen wurde, dass die Handlungsspiel- alle Ambitionen zum Erliegen, Buyens’ Film räume der Künstler nach wie vor sehr begrenzt doch noch einer breiten Öffentlichkeit zu- waren. Denn obwohl „Deutschland – Endsta- gänglich zu machen. Der ursprünglich vorge- tion Ost“ zunächst politische Unterstützung sehene Start in den DDR-Kinos kam nicht zu fand, konnte er schlussendlich nie öffentlich in Stande. Abgesehen von einigen Berichten im den Kinos der DDR gezeigt werden. Bezeich- Anschluss an die Vorführung im Rahmen des nend ist, dass Buyens keinen regimekritischen Leipziger Festivals ❙17 gab es keine Rezensio- Film gedreht hatte, im Gegenteil: Er zeichnete nen oder Artikel über den Film. In der Fach- ein positives Bild vom Leben in der DDR. Sein zeitschrift „film-wissenschaftliche Mitteilun- Plädoyer für den weiteren Aufbau des Sozia- gen“ erschien im Frühjahr 1965 zwar noch ein lismus thematisierte lediglich unterschiedliche ausführliches Interview mit Buyens, in dem Meinungen – das reichte aus, um ihn ins Ar- er über die Arbeit an seinem Film und sei- chiv zu verbannen. ne persönlichen Motive berichtete – die Aus- gabe der Zeitschrift wurde jedoch nach dem Buyens’ Film fiel einer kulturpolitischen 11. Plenum aus dem Verkehr gezogen. ❙18 Auch Entwicklung zum Opfer, die Ansätze ei- einstige Befürworter des Projektes wie Wer- ner kritisch-künstlerischen Auseinanderset- ner Lamberz oder Inge Kleinert unternahmen zung mit der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR im Keim erstickte. Greift man den ❙15 Vgl. ausführlich Günter Agde (Hrsg.), Kahlschlag. Vergleich zum Wetter auf, dann schien in der Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und SED-Kulturpolitik nach dem 13. August 1961 Dokumente, Berlin 2000. zwar gelegentlich die Sonne, die dunklen Re- ❙16 Vgl. Dagmar Schittly, Zwischen Regie und Re- gime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA- genwolken verzogen sich jedoch nie. Künst- Produktionen, Berlin 2002, S. 127–163. ler, die auf einen länger anhaltenden „Früh- ❙17 Vgl. Klaus Lippert, Zwischen Capitol und Börse. ling“ hofften, wurden bitter enttäuscht: Mit Zum Abschluss der VII. Internationalen Leipziger dem 11. Plenum ereignete sich in der DDR ein Dokumentar- und Kurzfilmwoche, in: Filmspiegel, kulturpolitisches Gewitter, das einen frosti- (1964) 25, S. 2. gen Dauerregen nach sich zog, wie man ihn ❙18 Vgl. Heinz Baumert/Brigitta Hansen, Die DDR, mit den Augen eines Ausländers gesehen. Gespräch selbst in England nicht alle Tage erlebt. mit Frans Buyens, in: film-wissenschaftliche Mittei- lungen, (1965) 2, S. 515–526.

APuZ 31–34/2011 33 Daniela Münkel Ulbricht persönlich über die bevorstehende Grenzschließung in Kenntnis gesetzt. Um ein Uhr in der Nacht zum 13. August 1961 wurde Mauerbau und die Aktion ausgelöst. Über die Rolle der Staatsicherheit bei der Durchführung der Aktion „Rose“ und ihre Staatssicherheit Einschätzung der Lage in den folgenden Ta- gen und Wochen wusste man bislang wenig. uf einer Dienstbesprechung der Leitungs- Die bisherige Forschung stützte sich überwie- Aebene des Ministeriums für Staatssicher- gend auf den gut dokumentierten SED-inter- heit (MfS) ❙1 sprach Erich Mielke am 11. August nen Informationsstrang, in dem sich vor allem 1961 den viel, aber nicht die Bevölkerungsstimmung abbildet. ❙5 Bisher Daniela Münkel alles sagenden Satz: unbekannte und nun erstmals publizierte Do- Dr. phil. habil., geb. 1962; „Wenn in den nächsten kumente der „Zentralen Informationsgruppe“ Projektleiterin in der For- Tagen entscheidende (ZIG) ❙6 des MfS geben weiteren Aufschluss schungsabteilung des Bundes- Maßnahmen beschlos- über die Rolle der Staatssicherheit beim Mau- beauftragten für die Unterlagen sen werden, muss erbau, über Stimmungen und Reaktionen der des Staatssicherheitsdienstes ­jegliche Feindtätigkeit Bevölkerung in Ost-Berlin und der gesamten der ehemaligen DDR (BStU) und verhindert werden.“ ❙2 DDR sowie über die Erkenntnisse des DDR- apl. Professorin an der Leibniz- Ohne den genauen Geheimdienstes über die Reaktionen und Universität Hannover; BStU, Zeitpunkt und konkre- Entscheidungsprozesse der Westalliierten so- 10106 Berlin. te Maßnahmen zu be- wie der Berliner und Bonner Politik. ❙7 [email protected] nennen, skizzierte der Minister anschließend Über die Aktion „Rose“ und die „Reak- die Aufgaben, die das MfS bei dieser Operati- tion auf die Maßnahmen zur Sicherung der on zu übernehmen habe. Das MfS müsse den Gesamtüberblick über die Lage haben. Mit der ❙1 Aktion werde eine neue Phase der „tschekisti- Teilnehmer waren die Leiter aller operativen Dienst­ einheiten und der Bezirksverwaltungen des MfS. schen Arbeit“ beginnen; nun würde sich zei- ❙2 BStU, MfS, ZAIG 4900, Bl. 1–9, hier: Bl. 3. gen „ob wir alles wissen und ob wir überall ❙3 Ebd. verankert sind. Jetzt müssen wir beweisen, ob ❙4 Vgl. Armin Wagner, Walter Ulbricht und die ge- wir die Politik der Partei verstehen und richtig heime Sicherheitspolitik der SED. Der Nationale durchzuführen in der Lage sind.“ ❙3 Auch einen Verteidigungsrat der DDR und seine Vorgeschichte Namen bekam die Aktion zwei Tage vor dem (1953–1971), Berlin 2002, S. 448. ❙5 Vgl. u. a. Elke Stadelmann-Wenz, Widerständiges Mauerbau: „Rose“ lautete das Codewort. Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära, Pader- Dass Mielke auch noch rund 30 Stunden vor born 2009, S. 39 ff.; Patrick Major, „Mit Panzern kann Beginn der Grenzschließung in Berlin nicht man nicht für Frieden sein“. Die Stimmung der DDR- offen vor den führenden MfS-Kadern sprach, Bevölkerung zum Bau der Berliner Mauer am 13. Au- gehörte in das Konzept der absoluten Geheim- gust 1961 im Spiegel der Parteiberichte der SED, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, haltung der Aktion. Nicht einmal die gesamte (1995), S. 208–221; ders., Vor und nach dem 13. Au- Führungsriege der SED war über das Vorha- gust 1961: Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf ben zu diesem Zeitpunkt informiert. Neben den Bau der Berliner Mauer, in: Archiv für Sozialge- Walter Ulbricht, der die Federführung nicht schichte, 39 (1999), S. 325–354; Armin Mitter/Stefan aus der Hand gab, waren nur Erich Mielke, Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der Innenminister Karl Maron, Verteidigungs- DDR-Geschichte, München 1993, S. 297 ff. ❙6 Zur ZIG, später umbenannt in Zentrale Auswer- minister Heinz Hoffmann, Verkehrsminister tungs- und Informationsgruppe (ZAIG), und der Ent- Erwin Kramer, Willi Stoph sowie Paul Ver- wicklung des Berichtswesens des MfS vgl. ausführlich ner (1. Parteisekretär Berlin) und Alois Pisnik Roger Engelmann/Frank Joestel, Die Zentrale Auswer- (1. Parteisekretär Magdeburg) involviert. ❙4 Als tungs- und Informationsgruppe, Berlin 2009, S. 17 ff. 7 Leiter des unmittelbar vor dem 13. August ge- ❙ Diese neuen 17 Berichte und alle übrigen geheimen bildeten Zentralen Einsatzstabes fungierte Berichte der ZIG des Jahres 1961 an die Staats- und Parteiführung sind jetzt vollständig veröffentlicht in: Erich Honecker. Erst am 12. August zwischen Daniela Münkel (Bearb.), Die DDR im Blick der Stasi 21 und 22 Uhr wurden die übrigen Mitglie- 1961. Mit 6 Abbildungen und einer CD-ROM, Göt- der des Ministerrats und des Staatsrats von tingen 2011.

34 APuZ 31–34/2011 DDR“ wurden bis zum 16. August zwölf Be- Abbildung: Bericht des Ministeriums für Staats­ richte verfasst, davon allein fünf noch am 13. sicherheit vom 13. August 1961 und vier am 14. August (s. die Abbildung). Von da an wurde (bis zum 3. September) zu die- sem Thema nur noch einmal täglich berichtet. Wichtigste externe Adressaten der Berichte waren – neben sowjetischen Verbindungsoffi- zieren – der Zentrale Einsatzstab, der unter der Leitung von Honecker stand und für die Um- setzung der Abriegelungsmaßnahmen zustän- dig war. Ulbricht steht nur selten im Verteiler, ihm dürften die Berichte aber von Honecker oder Mielke, dem oftmals mehrere Exemplare zur Verfügung standen, zugänglich gemacht worden sein. MfS-intern gingen die Berich- te – außer an Mielke – in der Regel an seinen Stellvertreter Bruno Beater, an einen internen Einsatzstab unter der Leitung des späteren Ministerstellvertreters Alfred Scholz und häu- fig auch an die Auswertungsabteilung VII des Stasi-Auslandsspionagebereichs (HV A) oder später direkt an ihren Chef, Markus Wolf.

13. August 1961

„Nach vorliegenden Meldungen wurden die bewaffneten Kräfte entsprechend dem Zeit- plan zum Einsatz gebracht. Sie befinden sich im Marsch zu den laut Plan vorgesehenen Ein- satzorten. Bisher keine Vorkommnisse. Stim- mung normal.“ Mit diesem Satz beginnt der erste Bericht des MfS am frühen Morgen des 13. August 1961. Bei der Aktion hielt sich die Staatssicherheit – entsprechend ihren Aufga- Quelle: BStU, MfS, ZAIG 31066, Bl. 344. ben als Kontroll- und Sicherungsorgan – zu- meist im Hintergrund. Wie die Dokumente durchgeführt wurden.“ ❙9 Diese Formulierung belegen, musste sie aber auch direkt in das ist fast schon unterkühlt, denn die Unterbre- Geschehen eingreifen, um Versäumnisse an- chung des U-, S- und Fernbahnverkehrs war derer Stellen auszugleichen. eine der zentralen Maßnahmen zur Sperrung der Grenze. Als die Einheiten der Trans- Eine ernste Panne gleich in der Nacht der portpolizei nach fünf Uhr endlich an ihren Grenzschließung machte ein direktes Eingrei- Einsatzorten eintrafen, war diese Arbeit im fen des MfS erforderlich: „Der Gesamtverlauf Wesentlichen bereits getan. Zwölf S- und U- der Aktion ist bisher zufriedenstellend, bis Bahnlinien zwischen Ost- und West-Berlin auf den Einsatz der Transportpolizei, die we- waren gekappt, 48 S-Bahnhöfe gesperrt und gen falscher Einsatzzeit (X+4) ausfiel“, ❙8 heißt 13 U-Bahnhöfe ganz geschlossen worden. ❙10 es im ersten Bericht vom frühen Morgen des 13. August. Im zweiten Bericht des Tages – Die Staatssicherheit hob jedoch nicht nur wenige Stunden später – schob das MfS die ihre Fähigkeit hervor, Versäumnisse anderer Information hinterher: „Der Einsatz der Tra- Sicherheitsorgane zu kompensieren, sondern po erfolgte auf mehreren Bahnhöfen später als der Einsatz des MfS. Wodurch die Maß- ❙9 Information 414/61. nahmen in den meisten Fällen vom MfS allein ❙10 Vgl. Bernd Eisenfeld/Roger Engelmann, 13. 8. 1961: Mauerbau. Fluchtbewegung und Machtsicherung, ❙8 Information 413/61. Berlin 2001, S. 49.

APuZ 31–34/2011 35 empfahl sich auch als übergeordnete Kontroll- nur weitergereicht. In der besonderen sicher- instanz, die in jeder Situation den Überblick heitspolitischen Situation nach der Grenzsper- behielt und die richtigen Entscheidungen traf. rung, als die innenpolitische Situation und die So wusste sie zu berichten: „Gegen 3.00 Uhr Reaktion des Westens nicht zu trennen waren, kam es im Raum Mahlow auf Westberliner ging das MfS von dieser Praxis ab. Die meisten Boden zu einer Konzentration von Bürgern Berichte weisen eine thematische Dreiteilung aus der DDR, die sich in Westberlin aufgehal- auf: westliche Reaktionen, gegnerische Tätig- ten hatten und zunächst von der VP [Volkspo- keit (unter dieser Rubrik sind Meldungen aus lizei] an der Rückkehr in die DDR gehindert dem Westen und dem Osten gemischt) sowie wurden. Lage wurde durch entsprechende Bevölkerungsstimmung in der DDR. Anweisungen des MfS, diese Personen sofort in die DDR einzulassen, ­normalisiert.“ ❙11 Reaktionen des Westens Ein besonders heikler Punkt im Vollzug der Aktion „Rose“ war der Einsatz der sogenann- Sehr zeitnah hat das MfS über die interne Mei- ten Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Ope- nungsbildung sowohl bei den Westalliierten als rativ spielten die Feierabendkämpfer der SED auch in der West-Berliner und Bonner Politik zwar keine entscheidende Rolle, dafür war aber informiert, was angesichts der weltpolitisch ihre propagandistische Funktion von eminen- heiklen Situation nicht nur für die DDR- ter Bedeutung, sollten sie doch die Beteiligung Führung, sondern auch für die Sowjets von der Bevölkerung an der Sicherung der DDR eminenter Bedeutung war. In den Berichten durch den „antifaschistischen Schutzwall“ werden zum einen die offiziellen Verlautbarun- symbolisieren. Bereits am 13. August vermerk- gen westdeutscher, britischer, amerikanischer te das MfS jedoch „Mängel in der Benachrich- oder französischer Politiker sowie ein Teil der tigung der Kampfgruppenmitglieder“. ❙12 Tat- Berichterstattung der Westmedien zusammen- sächlich waren in Berlin – wie man aus anderen gefasst. Zum anderen werden Informationen Dokumenten weiß – sieben Stunden nach Aus- aus wie es heißt „internen“ oder „verlässlichen“ lösung des Alarms erst 13 Prozent der Kampf- Q uel len , a lso von Agenten bescha f f tes Mater ia l , gruppenmitglieder einsatzbereit. ❙13 Die Grenz- präsentiert. Nach einer sehr kurzen Phase der schließung war zu diesem Zeitpunkt schon Unsicherheit wusste die Staatssicherheit schon abgeschlossen. In scharfem Kontrast mit der nach wenigen Tagen, dass massivere westliche späteren Heroisierung der Rolle der Kampf- Gegenmaßnahmen nicht zu erwarten waren. gruppen durch die offizielle Propaganda stell- te die Stasi bei ihnen schon nach drei Tagen Am 13. August schrieb die Stasi noch: „In Einsatz eine „verschlechterte Stimmung“ fest. der ersten offiziellen Reaktion führender po- Es gebe Klagen, dass „dringende persönliche litischer Kreise Bonns, Westberlins und der Wünsche einzelner“ nicht berücksichtigt wür- Westmächte wird von schärfsten Protesten den. ❙14 Forderungen nach einer Reduzierung gegen die Maßnahmen der DDR und von der Mannschaften wurden laut, „ein Viertel ­s o genannten Gegenmaßnahmen ­gesprochen, der Kräfte“ würden ausreichen. jedoch zugleich vor ‚Unbesonnenheit‘ ge- warnt.“ ❙15 Auch in „führenden Westberliner Charakteristisch für viele Berichte des MfS CDU-Kreisen“ herrsche, so das MfS, „eine zum Mauerbau ist die Kombination von DDR- gewisse Unsicherheit. Man glaube einerseits Inlandsinformationen mit Meldungen aus dem nicht mehr daran, dass die ‚Berlinkrise‘ mit Westen, die zumeist von der HV A stammten. friedlichen Mitteln beigelegt werden kann. (…) Das ist insofern eine Besonderheit, als in der Andererseits glaube man nicht daran, dass die gewohnten MfS-Berichterstattung Inlands- USA in ihrer Politik in der Westberlinfrage bis und Auslandsinformationen in aller Regel zum äußersten gehen würden.“ Ein „Offizier scharf getrennt waren. Die Berichte der HV A des Bundesnachrichtendienstes“ wird von ei- wurden von der ZIG an die politische Führung ner „zuverlässigen Quelle“ mit der Aussage zi- tiert, „die Amerikaner in Westberlin müssten jetzt zeigen, was ihre Versprechen wert sind. ❙11 Information 413/61. Man müsse jetzt auf alles vorbereitet sein.“ ❙16 ❙12 Information 415/61. ❙13 Vgl. u. a. B. Eisenfeld/R. Engelmann (Anm. 10), S. 51. ❙15 Information 417/61. ❙14 Information 436/61. ❙16 Information 416/61.

36 APuZ 31–34/2011 Im Laufe des 14. August wurde die Be- Reaktionen in der DDR richterstattung entspannter. Jetzt stellte das MfS die Bereitschaft der Westmächte in Fra- Ulbricht hatte den Beginn der Aktion „Rose“ ge, Forderungen der Bundesregierung und nicht zufällig auf die Nacht von einem Sams- des Berliner Senats nach entschlossenen Ge- tag auf Sonntag gelegt. Als die Kunde von der genmaßnahmen und Rückgängigmachung Grenzschließung die Runde machte, waren der Grenzschließung nachzukommen. Mit- die meisten „Werktätigen“ zuhause. Ein von arbeiter des britischen Geheimdienstes hät- den Betriebsbelegschaften ausgehender Auf- ten die Auffassung geäußert, „dass man sich ruhr wie am 17. Juni 1953 war an diesem Tag mit den gegebenen Tatsachen abfinden müs- auszuschließen. Noch saß das „Juni-Trauma“ se. Einen Krieg würden die Westmächte auf beim SED-Chef tief. Laut Erinnerungen des Grund der Maßnahmen der DDR keinesfalls sowjetischen Diplomaten Julij A. Kwizins- riskieren.“ ❙17 In einem weiteren Bericht wur- kij hatte er einige Wochen zuvor gegenüber de die Information nachgeschoben, dass der Botschafter Michail G. Perwuchin geäußert, amerikanische Stadtkommandant von Ber- „man müsse mit Massenaufläufen, offenen lin, Albert Watson, bereits am 13. August bei Versuchen des Ungehorsams, Schlägereien führenden CDU-Politikern (u. a. Ernst Lem- und vielleicht sogar mit Schießereien“ ❙22 rech- mer und Franz Amrehn) mit einer zynischen nen. Es lag auf der Hand, dass die Staatssi- Äußerung für Empörung gesorgt hatte: Bei cherheit die Stimmung der Bevölkerung und der Grenzschließung – so Watson laut MfS – aufkeimende Proteste besonders sorgfältig handle es sich „nur um eine Verkehrsbehinde- beobachtete. ❙23 rung innerhalb Berlins“, „von der die Freiheit der Bevölkerung Westberlins nicht betroffen Am Morgen des 13. August meldete das MfS werde“. ❙18 Das MfS vermutete, dass in diesem zunächst: „Nach der bisherigen Übersicht ist Zusammenhang „möglicherweise auch die die Lage an den Grenzübergängen als ruhig verschiedenen widersprüchlichen Meldungen einzuschätzen. Es ist sogar auffällig, dass bis über den Grad der Einsatzbereitschaft der zu diesem Zeitpunkt noch keine oder kaum amerikanischen Streitkräfte in Westberlin zu neugierige Passanten sich von den eingeleite- sehen“ ❙19 seien. ten Maßnahmen überzeugten.“ ❙24 Diese „ab- wartende Haltung“ der Bevölkerung würde Bald verdichteten sich in den Berichten der von Erkenntnissen aus (abgehörten) Telefo- Staatssicherheit die Hinweise, dass mit keiner naten bestätigt. Doch schon wenige Stunden für die DDR in irgendeiner Form bedrohlichen später musste die Geheimpolizei berichten: Situation zu rechnen sei. Dass das MfS „Ent- „An einer Reihe von Grenzübergängen zwi- warnung“ geben konnte, lag nicht zuletzt an schen dem demokratischen Berlin und West- Top-Meldungen aus „führenden Westberliner berlin gab es Ansammlungen von ca. 50 bis SPD-Kreisen“. Bereits am 15. August wusste 100 Personen, die sich teilweise negativ über die Staatssicherheit zu berichten, „Brandt habe die von der Regierung der DDR getroffenen sich mit den westlichen Kommandanten darü- Maßnahmen äußerten. Vielfach wird dabei ber geeinigt, dass alles unternommen werden erklärt, dass der Westen diese Schritte nicht soll, um von Westberlin aus keinerlei Anlass hinnehmen werde. Deshalb würden die Maß- für weitere Komplikationen zu geben“ ❙20. Aus nahmen der DDR nur kurze Zeit aufrecht­ gleicher Quelle meldete das MfS am 17. Au- erhalten werden können.“ ❙25 Um 9.30 Uhr gust, „dass Brandt erstmalig seit längerer Zeit zum Sitz der westlichen Militärkommandan- 22 ten bestellt und ihm dabei klargemacht wurde, ❙ Julij A. Kwizinski, Vor dem Sturm. Erinnerungen wer in Westberlin zu bestimmen hat. Brandt eines Diplomaten, Berlin 1995, S. 180. ❙23 Vgl. dazu allgemein Ilko-Sascha Kowalczuk, Die sei noch einmal darauf hingewiesen worden, innere Staatsgründung. Von der gescheiterten Revo- dass die Westmächte ‚nur ihre Rechte‘ in West- lution zur verhinderten Revolution 1961, in: Torsten berlin verteidigen würden.“ ❙21 Diedrich/ders., Staatsgründung auf Raten? Auswir- kungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR, ❙17 Information 421/61. Berlin 2005, S. 341–378; B. Eisenfeld/R. Engelmann ❙18 Information 423/61. (Anm. 10), S. 73ff; E. Stadelmann-Wenz (Anm. 5), ❙19 Ebd. S. 105ff; P. Major, Stimmung (Anm. 5). ❙20 Ebd. ❙24 Information 414/61. ❙21 Ebd. ❙25 Information 415/61.

APuZ 31–34/2011 37 sammelte sich auf dem Bahnhof Friedrich- erst die „positiven Stimmen“ wiedergegeben straße eine Traube von 20 bis 30 Personen, die werden. Es werde begrüßt, dass der „Repu- versuchte, auf den Bahnsteig A zu gelangen, blikflucht ein Riegel vorgeschoben“ und den der seit den frühen Morgenstunden für Ost- „Grenzgängern und Schiebern das Hand- Berliner nicht mehr zugänglich war. werk gelegt“ ❙31 worden sei. Die Maßnahmen seien „ein Schlag gegen die Agententätig- Einen besonderen Unruheherd bildeten die keit und gegen die von Westberlin ausgehen- sogenannten Grenzgänger – Ost-Berliner, die de Unterminierung der DDR“. Hier wurden bisher in West-Berlin arbeiteten und die jetzt offensichtlich die Äußerungen von Funktio- nicht mehr zu ihren Arbeitstellen gelangen nären und SED-Mitgliedern wiedergegeben, konnten. ❙26 Bereits am Morgen des 13. August die auf Geheiß der Ost-Berliner Parteileitun- entstand vor dem Rathaus Pankow eine „Zu- gen den ganzen Tag zu „Agitationseinsätzen“ sammenrottung von Westgängern“, die, ob- ausgeströmt waren, um an den Hauptbrenn- wohl es Sonntag war, „Auskunft über neue punkten die Stimmung zu beeinflussen. Wie Arbeitsverhältnisse im demokratischen Ber- so oft dienten dem Regime die eigenen Insze- lin forderten“. ❙27 Auch Protesthandlungen, die nierungen als Beleg für einen Konsens, den es sich bereits in den frühen Morgenstunden er- in Wirklichkeit nicht gab. eignet hatten, wurden jetzt von der Staatssi- cherheit gemeldet. So hatte der Tankwart der Doch ungeachtet dieses obligatorischen, Tankstelle Grünau (im äußersten Süden des diktaturimmanenten Selbstbetrugs nehmen Ostberliner Bezirks Treptow) „einem Mitar- die „negativen“ Äußerungen in der MfS- beiter der Sicherheitsorgane“ den Verkauf von Berichterstattung einen deutlich breiteren Benzin mit den Worten verweigert, „wenn alle Raum ein. An erster Stelle stehen „Verglei- streiken, streike er auch“, denn: „Die Schlie- che mit der Situation am 17. Juni 1953“, die in ßung der Grenzen nach Westberlin richte sich Berlin etwa in „Ansammlungen“ an S- und gegen die Arbeiter.“ ❙28 Aus dem östlich von U-Bahnhöfen und an „mehreren Grenzüber- Berlin gelegenen Kreis Strausberg wurde das gängen“ angestellt würden. ❙32 Es fiel auch der „Anschmieren von Hetzlosungen“ und die Begriff „KZ“. Das scheint kein Einzelfall ge- Festnahme von Jugendlichen gemeldet, „die wesen zu sein; in einem Bericht des Folgeta- gegenüber Angehörigen der Grenzpolizei ges heißt es, „Provokateure“ würden „in ei- provokatorisch auftraten“. ❙29 ner Reihe von Fällen die Maßnahmen der DDR mit faschistischen Maßnahmen verglei- Im letzten noch am 13. August verfassten chen“. Vielfach wurde auch geäußert, durch Bericht stellte die Staatssicherheit fest, „die diesen Schritt werde „die Spaltung vertieft“. Maßnahmen der Regierung“ würden „in al- Auch der Ruf nach freien Wahlen wurde im- len Bevölkerungskreisen lebhaft diskutiert“, mer wieder laut. Vereinzelt kam es zu „Auf- und versuchte, die Stimmung zu bilanzieren. forderungen an Arbeiter, am Montag den Be- Es sei zwar nicht möglich, „das Verhältnis trieben fernzubleiben“. zwischen positiven und negativen Stimmen umfassend einzuschätzen“, doch „aufgrund Wie stark die Befürchtungen waren, dass es der bisher vorliegenden Informationen“ wür- zu Streiks kommen könnte, zeigt die Bericht- den „die positiven Stellungnahmen weit über- erstattung des 14. August, bei der vor allem wiegen“. ❙30 Diese rituelle Feststellung einer die Ost-Berliner Großbetriebe unter verstärk- zustimmenden Haltung der Bevölkerungs- ter Beobachtung standen. ❙33 Die Staatssicher- mehrheit zur Politik der Führung ist typisch heit stellte umgehend fest, „dass Beschäftigte für MfS-Stimmungsberichte und dürfte nur volkseigener Betriebe zu Beginn der Ar- selten empirisch fundiert gewesen sein. Eben- beitsaufnahme unentschuldigt fehlten“. Beim so typisch für diese Textgattung ist, dass zu- VEB Bergmann-Borsig waren nur 60 Prozent der Belegschaft erschienen. Zwar konnte das ❙26 Zur Grenzgängerproblematik vgl. allgemein MfS Entwarnung geben: Es ermittelte, dass Frank Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerpro- „die fehlenden Arbeitskräfte aus den Rand- blem. Verflechtung und Systemkonkurrenz vor dem gebieten Berlins, vorwiegend aus dem Kreis Mauerbau, Berlin 2008. ❙27 Information 416/61. ❙28 Information 415/61. ❙31 Information 414/61. ❙29 Information 416/61. ❙32 Information 417/61. ❙30 Information 417/61. ❙33 Information 421b/61.

38 APuZ 31–34/2011 Oranienburg“, stammten und wegen Schwie- offenbar nicht besonders schwierig war. ❙37 Bei rigkeiten im S-Bahnverkehr und verschärf- einer stichprobenmäßigen Überprüfung von ter Kontrollen (als Begleiterscheinungen der sieben Personen, die am 15. August von fünf Grenzschließung) nicht pünktlich zur Ar- bis sieben Uhr den Ostsektor am Übergang beit erschienen waren. Gleichwohl blieb es Brunnenstraße mit einem West-Berliner Aus- in den Betrieben nicht durchgängig ruhig. Im weis verlassen hatten, erwies sich, dass vier von Betonwerk Berlin-Grünau versuchten Ar- ihnen auf diese Weise geflohen waren „und bei beiter gleich zu Schichtbeginn „eine Resolu- der Befragung nach dem Aufenthalt falsche tion gegen den Regierungsbeschluss zu ver- Angaben machten“. ❙38 Das „Amt für Zoll und fassen“. Im Ost-Berliner VEB Kühlautomat Kontrolle des Warenverkehrs“, zu dieser Zeit wurde der Parteisekretär nach einer Diskus- noch für die Passkontrolle zuständig, war of- sion, „bei der er positiv aufklärend auftrat“, fenbar überfordert. Wenig später wurde dieses niedergeschlagen. Im Oranienburger VEB Aufgabenfeld wie viele andere, die direkt oder Holzbau streikten Arbeiter gar mit der For- indirekt im Zusammenhang mit dem Mauer- derung nach „Rückgängigmachung der Maß- bau standen, vom MfS übernommen. nahmen um Berlin“.

Das MfS kam schon am Tag nach der Grenz- Schlussbemerkungen sperrung nicht umhin zu bilanzieren: „All- gemein ist festzustellen, dass bei negativen Die Berichte des MfS an die Parteiführung wäh- Erscheinungen in der DDR und im demokra- rend des Mauerbaus und danach verdeutlichen, tischen Berlin die Jugendlichen eine beson- dass die DDR-Führung nicht nur umfassend dere Rolle spielen.“ ❙34 Viele ostdeutsche Ju- und schnell über die Reaktionen im eigenen gendliche orientierten sich an der westlichen Land, sondern auch über offizielle und interne Freizeitkultur und konnten, zumindest wenn Stimmen in westalliierten Stellen, der Bundesre- sie in Ost-Berlin und im Berliner Umland gierung, im Berliner Senat und bei West-Berliner wohnten, bei ihren Besuchen in West-Ber- Parteien informiert war. Letzteres versetzte die lin daran teilhaben. Als dieser Weg versperrt DDR-Machthaber in die Lage, abzuschätzen, war, reagierten sie vielfach wütend. Aus dem dass sie ihre Pläne zur weiteren Grenzabdich- nördlich von West-Berlin liegenden Hennigs- tung ohne größere Risiken verfolgen konnte. dorf berichtete die Staatssicherheit schon am 14. August, Jugendliche hätten gedroht, „sie Auch die Rolle des MfS während und nach würden einen Grenzdurchbruch unterneh- dem Mauerbau nimmt schärfere Konturen men, wenn sie nicht mehr nach Westberlin an: Der Staatssicherheit gelang es, Versäum- gelassen werden“. ❙35 Andere beließen es nicht nisse und Mängel anderer Organe zu identi- bei Drohungen. Unter denjenigen, welche die fizieren und zu kompensieren. Offenbar sah Flucht durch die in den ersten Tagen noch die MfS-Führung, namentlich Erich Mielke, keineswegs hermetisch abgesperrte Grenze den Mauerbau als Chance, die Stellung der wagten, waren viele Jugendliche. Vor allem Staatssicherheit im Herrschaftsgefüge des das Schwimmen durch die Berliner Grenz- SED-Staates weiter auszubauen. Nicht zu- gewässer war anfangs noch ein aussichtsrei- letzt durch ihre spezifischen Mittel der Infor- cher Fluchtweg. Am 17. August meldete die mationsbeschaffung besaß die Geheimpolizei Staatssicherheit gleich mehrere solcher Fluch- tatsächlich eine Art Gesamtüberblick. Sie be- ten durch die Spree und den Teltowkanal. Sie nannte Entwicklungen, die im Hinblick auf war in diesem Zusammenhang auch beunru- die Herrschaftssicherung und die Stabilität higt, dass „ein verstärkter Ankauf von Sport- der DDR Probleme aufwarfen, und versuch- taucherausrüstungen erfolgt“. ❙36 te dies – wie sich bald zeigen sollte – teilweise in eigene Kompetenzerweiterungen und eine Großes Kopfzerbrechen bereitete den MfS- personelle Expansion umzumünzen. Verantwortlichen auch die Tatsache, dass die Flucht mithilfe von falschen oder gefälschten 37 West-Berliner Personalausweisen zunächst ❙ Vgl. Marion Detjen, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989, München 2005, S. 95 ff. ❙34 Ebd. ❙38 Information 414/61. ❙35 Ebd. ❙36 Information 440/61.

APuZ 31–34/2011 39 Dirk Schindelbeck und deren Botschaft eingegangen, aber der Kommunikationsprozess selbst mit seinen komplexen Entstehungs-, Verbreitungs- und Die Mauer und Rezeptionsbedingungen ist noch kaum in ihre Bilder den Blick genommen worden. ❙1 Sender und Moderatoren m Zusammenhang mit der Errichtung der IBerliner Mauer haben sich kaum ein Dut- Bekanntlich tat „der Westen“ politisch gegen zend Bilder unserem kollektiven Gedächtnis den Mauerbau „nichts“ – eines dafür umso eingebrannt. Zu dem ausgiebiger: Er dokumentierte ihn. Zahllose Dirk Schindelbeck kleinen Kanon gehö- Fotografen und Kameraleute aus aller Welt, Dr. phil., geb. 1952; Pub- ren das Plakat mit dem Presseagenturen, Beauftragte des Berliner lizist und Dozent an der Ulbricht-Porträt und Senats, Mitarbeiter von Verlagen, Privatleu- PH Freiburg/Br. -Zitat „Niemand hat te – sie alle sorgten dafür, dass sich schon in- [email protected] die Absicht, eine Mau- nerhalb weniger Tage ein riesiger Fundus an er zu errichten …“, das Bildmaterial anhäufte. Wie war damit umzu- von bewaffneten DDR-Organen abgeriegelte gehen im Hinblick auf Auswahl, Moderation, Brandenburger Tor, dramatische, mittels ver- Kommentierung? knoteter Bettlaken erfolgte Fluchten aus hoch gelegenen Fenstern an der Bernauer Straße, an Mit den Absperrungsmaßnahmen vom Laternenmasten sich hochziehende Menschen, 13. August 1961 war die Ära des deutsch- die ihren Freunden und Verwandten im Ost- deutschen Propagandagrabenkampfes de- sektor zuwinken, zugemauerte U-Bahn-Stati- finitiv zu Ende gegangen. Was von nun an onen, sich gegenüberstehende Panzer der US- geschah, ereignete sich vor den Augen der Army und der Roten Armee an der Friedrich- Weltöffentlichkeit. Das hatte Auswirkungen straße und natürlich das weltberühmt geworde- auf das Verhältnis von Wort und Bild. Was ne Foto des Grenzsoldaten Conrad Schumann, zuvor im innerdeutschen Schlagabtausch der mit einem kühnen Satz über den Stachel- noch vielfach über das Wort erfolgen konn- draht den „Sprung in die Freiheit“ wagte. Mitte te – wovon der bis Anfang 1962 andauern- Juli 1962 kamen die erschütternden Bilder vom de „Phonkrieg“ über die Mauer mit Laut- qualvollen Sterben Peter Fechters hinzu. sprecherattacken („Eure Schande wird um die Welt gehen!“) noch ein mattes Nachspiel Wenn wir diesen Kanon Revue passieren gab – war nun zunehmend auf das Bild als lassen, nach einem gemeinsamen Nenner su- Medium verwiesen. chend für das, was er beschreibt, so fällt auf, dass alle Bilder emotional hoch aufgeladen So verschieden die Absender auch waren, sind. Auf seine Weise hat jedes den Rang ei- die fortan Kommunikationspolitik betrie- nes „Zeugen der Anklage“. Gleichwohl wird ben, angefangen vom Gesamtdeutschen Mi- niemand behaupten können, es handele sich nisterium Ernst Lemmers über den Berliner um manipulierte Dokumente – dennoch ist Senat, informelle Gruppierungen wie das die von ihnen ausgehende propagandistische Kuratorium Unteilbares Deutschland, die ge- Wirkung überaus stark. Der Versuch, diese samte Presselandschaft bis hin zu einzelnen Qualität zu analysieren, hat davon auszu- gehen, dass sie das Ergebnis eines sich über ❙1 50 Jahre hinziehenden Kommunikationspro- Vgl. Wanderausstellung und Katalog des Hau- ses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zesses sind, an dem mindestens drei konsti- (21. 5. 2009 bis Sommer 2011), Köln 2009, insbesonde- tuierende Faktoren beteiligt waren: die Sen- re den Beitrag von Elena Demke, Mauerbilder – Iko- der (Produzenten, Moderatoren, Medien), nen im Kalten Krieg, S. 109–119. Eine semiotische die Bilder selbst (Botschaft, „Format“, De- Analyse derselben Fotos unternahm schon Gunter sign) und die Rezipienten (Selbstverständnis, Holzweißig, Bilder im Westen, Sprachregelung im Mentalität, Sehgewohnheiten). Osten. Die Darstellung des Mauerbaus in den deut- schen Medien, in: Unsere Medien – unsere Republik, Heft 2:1961: Getrennte Lebenswege, hrsg. vom Adolf Bislang ist im Rahmen ikonografischer Grimme-Institut in Zusammenarbeit mit dem Deut- Analysen zwar mehrfach auf einige Fotos schen Hochschulverband, Marl 1992, S. 20 ff.

40 APuZ 31–34/2011 Verlagen ❙2 – über die politisch-moralische Be- weit entfernt. So stand auf der bereits im Sep- wertung des Bildmaterials bestand Einigkeit. tember 1961 vom Gesamtdeutschen Ministe- Die Titel verschiedener umlaufender Bro- rium produzierten und in großer Auflage ver- schüren der frühen 1960er Jahre sprechen für teilten Broschüre „Sperrmaßnahmen gegen sich: „Ulbrichts Mauer“, „Stacheldraht um Recht und Menschlichkeit“ auf dem Titelcover Berlin“, „Mauer der Schande“, „Verbrechen die „Eilmeldung“ aus dem Nachrichtenticker am Stacheldraht“. zu lesen, „starke kommandos der kommu- nistischen volkspolizei“ hätten die Sektoren- Dennoch sind einige der Moderatoren aus grenzen abgeriegelt. Auf dem dazugestellten der Frühphase der „Mauerkommunikation“ Foto waren aber gar keine Volkspolizisten zu heute vergessen. Zu ihnen gehörten Schrift- sehen, sondern Betriebskampfgruppen in re- steller wie Wolfgang Paul, Arno Scholz und lativ entspannter Haltung – eigentlich das ty- Wolfdietrich Schnurre. Letzterer ist heraus- pische Propagandamotiv der Ostseite. In der zuheben, weil seine beiden Bild-Text-Bände zweiten, „durchgesehenen und erweiterten“ („Die Mauer des 13. August“, Dezember 1961, Auflage von 1963 wurde das Bild ausgetauscht sowie „Eine Stadt wird geteilt“, Mai 1962) sehr und durch eines ersetzt, das den Gewaltaspekt persönlich gehaltene Auseinandersetzungen durch ein gepanzertes Fahrzeug im Branden- mit dem Thema bieten. Schnurre konnte gar burger Tor deutlich unterstrich. nicht anders als diese welthistorische Zäsur mit eigenen Worten zu verarbeiten. Indem er Die Unsicherheit betraf nicht nur die Frage das tat, begriff er, wie einsam er war: Kaum nach dem Verhältnis von Bild und Text, son- einer seiner Kollegen fühlte sich herausgefor- dern forderte eine grundsätzliche Entschei- dert, ebenfalls seine Stimme dagegen zu erhe- dung: Brauchen Mauerfotos überhaupt einen ben. Schnurre zog die Konsequenz und trat Kommentar? Ist nicht jede Bildunterschrift 1962 aus Protest gegen das kollektive Schwei- schon ein Zuviel an Deutung, die Widerspruch gen des PEN-Clubs zum Mauerbau aus dem herausfordert und die beabsichtigte Wirkung Verband aus. In „Die Mauer des 13. August“ eher schwächt? Einer der ersten, der diese Mei- stellt er die Stadt wie seinen eigenen, an Ab- nung vertrat, war der Schriftsteller Kurt Ihlen- schnürung leidenden Körper dar: „Ein Ber- feld. In seinem „Berliner Tagebuch“ schrieb er lin mit Würgemalen am schienengeäderten unter dem 5. Juli 1962: „Allein schon der lei- Hals.“ ❙3 Schnurres Bildbände sind deswegen der hier üblich gewordene Ausdruck ‚Schand- aufschlussreich, weil sich in ihnen der Bildka- mauer‘ schießt übers Ziel hinaus … Lasse man non, so wie wir ihn kennen, noch nicht ver- doch die Mauer auch sprachlich in ihrer bruta- festigt hat beziehungsweise haben konnte. ❙4 len Nacktheit wirken.“ ❙5 Dafür macht er seiner Empörung Luft und lässt es – ebenso wie Arno Scholz in seinem Zu derselben Einsicht war zu dieser Zeit Buch „Stacheldraht um Berlin“ – nicht an auch der Berliner Senat gekommen, als er eine so manchem bitteren Kommentar fehlen, sei aufwendig produzierte Kassette herausgab, dies der häufige Verweis auf das „Ulbricht- die als Dokumentationsmaterial für den poli- KZ“ oder die bewusste Wiedergabe von Fo- tischen Unterricht in der Erwachsenenbildung tos möglichst zynisch blickender Grenzer. gedacht war. Neben diversen Büchern, etlichen Broschüren und Zeitungsausgaben (auch des Auch die Bundesregierung war von einer „Neues Deutschland“) enthielt sie „absichtlich souveränen Bildpolitik in dieser Phase noch nicht in eine Reihe gestellte“ Dias und Fotos: „Das vorliegende Studienmaterial soll Ihrer Gruppe dabei behilflich sein, die Berlin-Situa- ❙2 Z. B. bonner berichte, Bund der Vertriebenen, Ku- tion richtig zu erkennen. Sie sollen die Möglich- ratorium Unteilbares Deutschland, hinzu kamen Verlage wie arani, Hohwacht oder Bechtle, die sich keit haben, sich aus einer Fülle von Dokumen- des Themas besonders annahmen. ten selbst eine Stellungnahme zu erarbeiten. Sie ❙3 Ein halbes Jahr später – die erste gerade schulter- werden feststellen, daß das Material ohne eige- hohe Mauer aus Hohlblocksteinen ist fertig gestellt – ne Arbeit gar nicht verwendbar ist (…). Es war legte Schnurre in „Eine Stadt wird geteilt“ das Proto- unser Bemühen, ein Höchstmaß an Objekti- koll dieser „Krankheitsgeschichte“ nieder. vität zu wahren. Politische Propaganda kann ❙4 Die beiden „berühmtesten“ Fotos (Conrad Schu- manns gelungene Flucht am 15. 8. 1961 sowie Pe- ter Fechters tödlich verlaufener Fluchtversuch am ❙5 Rudolf Hartung (Hrsg.), Hier schreibt Berlin, 17. 8. 1962) tauchen in diesen Büchern noch nicht auf. München 1963, S. 25.

APuZ 31–34/2011 41 im Zusammenhang mit den Absperrmaßnah- Natürlich hatte Hildebrandt Tribut an die men des 13. August der Stellung Berlins nur sich Mitte der 1960er Jahre abzeichnende Phase schaden.“ Interessant ist, dass die „eigene Ar- der Entspannungspolitik zu leisten. Das war beit“ des Rezipienten betont wird und das ent- am nachlassenden Interesse der Medien am scheidende Stichwort „Propaganda“ fällt: Jeder Thema Mauer deutlich zu spüren. Besucher ka- auch nur noch so leise Verdacht, es handele sich men ja nicht in das Museum, um sich Dutzen- um einen subtilen Beeinflussungsversuch, soll- de von Bildern von erschossenen Flüchtlingen te im Keim erstickt werden. anzusehen, sondern um Zeichen der Hoffnung mit nach Hause zu nehmen. Einerseits war Daher konnte es dem Senat nur recht sein, Hildebrandt somit gefordert, die Mauer als nicht der (alleinige) Absender solcher Bot- „Bauwerk der Unmenschlichkeit“ angemessen schaften zu bleiben. Ab Sommer 1962 „über- darzustellen und sie nicht zu verniedlichen – nahm“ eine private Initiative die Bildpolitik im andererseits eben auch Hoffnungszeichen ❙9 Hinblick auf die Mauer: die Arbeitsgemein- genügend Raum zu geben. Der Vergleich ver- schaft 13. August (später Haus am Checkpoint schiedener Auflagen des Ausstellungskataloges Charlie) des Gründers der Kampfgruppe gegen „Es geschah an der Mauer“ bestätigt das. Nicht Unmenschlichkeit (KgU) Rainer Hildebrandt. nur wurde das in der 1966er Ausgabe noch be- Auch er verfolgte – wie der Senat – schon früh stehende Unterkapitel „Mord“ durch „Tote, eine Kommunikationsstrategie des „die Mau- die Symbole wurden“ ersetzt, auch die Zahl der er spricht selbst“. Erst heute, sieben Jahre nach abgebildeten Maueropfer sank deutlich. Das dessen Tod, wird deutlich, wie sehr Hilde- Foto des toten Klaus Brüske etwa, am 18. April brandt unsere Wahrnehmung von der Mauer 1962 beim Versuch, mit einem LKW die Mau- über Jahrzehnte hinweg bestimmt hat. Bei sei- er zu durchbrechen erschossen, wurde ebenso nem Projekt stand er von Anfang an vor der Fra- weggelassen wie die Doppelseite mit fünf Fotos ge, ob „das Unrecht an der Mauer“ überhaupt aus dem Lebenslauf des ersten dokumentierten ausstellbar sei. Durch den intensiven Kontakt Maueropfers Günter Litfin (24. August 1961). mit geflohenen Grenzsoldaten ❙6 reifte in ihm die Einsicht, dass von den Bildern und Objek- ten seiner Ausstellung keinesfalls eine provo- Bildbotschaften kative, sondern eine deeskalierende Wirkung ausgehen müsse. Bereits in der frühen Bro- Um die Botschaft vom „Bauwerk der Un- schüre „Die Mauer. The Wall. Le Mure“ von menschlichkeit“ dennoch sinnfällig zu ma- 1964 wird der ehemalige Grenzsoldat Michael chen, waren Bilddokumente unverzichtbar, die Mara zitiert: „Es können unter den Grenzpos- Menschen in unmittelbarem, schicksalhaftem ten und Offizieren noch viel mehr Verbünde- Kontakt mit ihr zeigten, tragisch an ihr schei- te gewonnen werden. Es muß an der Grenze terten oder sie heldenhaft überwanden. So be- ein solches Maß an Gewaltlosigkeit geschaf- gann sich der Fokus zwangsläufig auf „den fen werden, daß sich die Mauer gegen ihren Mauerspringer“ Conrad Schumann und „das Erbauer kehrt!“ ❙7 Diese Politik wurde in dem Maueropfer“ Peter Fechter zu konzentrieren weit über eine Million Mal verkauften Aus- und geradezu zu verengen. Jahrzehntelang ha- stellungskatalog „Es geschah an der Mauer“ ❙8 ben diese beiden Fotos, als Stellvertreter aller konsequent weiterverfolgt – etwa in der Kam- gelungenen oder misslungenen Fluchten, un- pagne „Durchschaut die Uniform!“ ser Bild von der Mauer bestimmt. ❙10 Welche

❙6 Vgl. Kontrollpunkt Kohlhasenbrück. Die Geschich- ❙9 Da ab Mitte der 1960er Jahre erfolgreiche Fluchten – te einer Grenzkompanie des Ringes um West-Berlin die zudem noch dokumentiert und somit ausstellungs- (Text: Rainer Hildebrandt, hrsg. vom Bundesministe- fähig waren – in Berlin sehr rar geworden waren und rium für gesamtdeutsche Fragen), Bonn 1963, S. 116. inzwischen meist nur noch mithilfe immer kompli- ❙7 Die Mauer/The Wall/Le Mur, Berlin o. O. (ca. zierterer technischer Geräte gelangen, nahmen diese 1964). sogenannten Fluchtmobile (Mini-U-Boote, Sessellifte, ❙8 Die erste Auflage des Katalogs zu den Ausstellun- Flugzeuge, Ballons) immer mehr Raum in der Ausstel- gen der Arbeitsgemeinschaft 13. August e. V. (fünf- lung ein und wurden zu den größten Attraktionen. sprachig) erschien 1966 (112 S.). Mit der 18. Aufla- ❙10 Bis Ende der 1970er Jahre war die Wahrnehmung ge 1992 (128 S.) wurde die Marke von einer Million der Mauer durchweg schwarzweiß. Das änderte sich in verkaufter Exemplaren überschritten. Der Katalog den 1980er Jahren durch Hildebrandts Projekt „Über- wurde immer wieder angepasst, überarbeitet und er- windung der Mauer durch Bemalung der Mauer“. Erst gänzt, zuletzt durch das Kapitel „Der 9. November – in jüngster Zeit wird die Mauer auch als Architek- die siegreiche Revolution“. turphänomen wahrgenommen. Vgl. z. B. Leo Schmidt

42 APuZ 31–34/2011 Bedeutung gerade diese beiden „Fälle“ für un- kam. ❙12 Davon konnte er jetzt profitieren – und sere kollektive Erinnerung haben, offenbart im richtigen Sekundenbruchteil auf den Aus- sich in der Tatsache, dass sie Anlass zur Er- löser drücken. Zur nachhaltigen Wirkung des richtung von Denkmälern wurden. Fotos gehörte auch seine ihm „eingeschriebe- ne“ Botschaft. Sie lautet: Weil dieser Soldat die Ihre Wirkungsmacht berührt noch heute, Unrechtmäßigkeit des Systems, dem er dienen so, als spräche „die Mauer selbst“. Dennoch sollte, verabscheute, ergriff er die Chance zur täusche man sich nicht: Ein Foto bleibt im- Flucht, spontan und unter Lebensgefahr. ❙13 mer Kunstprodukt – es ist stets nur Zeichen von etwas, nicht die Wirklichkeit selbst. Zu- Die dahinter liegende Realität war kom- dem gibt das „stehende Bild“ zwangsläu- plexer. Als Unteroffizier war Schumann der fig nur einen Ausschnitt einer komplexeren Vorgesetzte zweier Soldaten, die mit ihm zu- Wirklichkeit wieder. Was bewegte Bilder sammen an diesem Grenzabschnitt eingesetzt nicht vermögen, erreicht es dafür mit Leich- waren. Er allein hatte scharfe Munition in sei- tigkeit: Es rafft, konzentriert, pointiert und ner Kalaschnikow; ihre Magazine waren leer. regt die Phantasie der Rezipienten an, sich ein Er allein durfte an den Stacheldraht herantre- „Davor“ und „Danach“ auszumalen. ten. Zudem gab es zu dieser Zeit, nach allem, was wir wissen, noch keinen „Schießbefehl“; Dies wird besonders deutlich, wenn man auf das Problem von „Republikfluchten“, die die Flucht Conrad Schumanns in beiden vor- zugleich Fahnenfluchten waren, war das SED- liegenden Formaten vergleicht. Weltberühmt Regime noch nicht eingestellt. Von dieser Seite wurde allein das Standfoto, das bereits am aus drohte Schumann keine Gefahr. Das größ- 16. August in der „Bild“-Zeitung erschien und te Risiko war der Stacheldraht selbst, denn er schon kurz darauf durch die Weltpresse ging. hätte hängenbleiben können. Also konzen- Aufgenommen hatte es der Volontär der Bild- trierte er sich darauf, einen günstigen Au- agentur Contipress Peter Leibing. Die kurze genblick zur Flucht abpassen. Beobachter auf Filmsequenz des Kameramanns Dieter Hof- der Westseite berichteten, er habe stunden- mann, die es sogar als Berlin-Souvenir zum lang nervös geraucht, sodass sich viele fragten: Daumenkino verarbeitet gibt, fällt dagegen „Springt der?“ Die nonverbale Kommunikati- deutlich ab. Hier wirkt Schumann geradezu on „über den Stacheldraht hinweg“ ❙14 funkti- hüftsteif, von seiner Vitalität und Eleganz im onierte deutlich besser als diejenige zwischen Standfoto ist kaum etwas zu ­spüren. ❙11 ihm und seinen Kameraden. Schumann konn- te gar nicht anders als in die Kamera „hinein- Für die überlegene Wirkungsästhetik des zuspringen“: So entstand das perfekte Bild. Fotos von Leibing gibt es plausible Gründe. Zum einen bot die Aufnahmeposition direkt Es mag pietätlos erscheinen, doch auch die gegenüber der Stacheldrahtabsperrung, auf Dokumentation von Peter Fechters qualvol- die er sein Objektiv scharf eingestellt hatte, lem Sterben ist zu den „perfekten Bildern“ zu die ideale Voraussetzung. Zum anderen wurde rechnen. Dennoch ist auch hier die außeror- „das Objekt“ optimal getroffen, da Schumann dentliche „Prägekraft des Visuellen“ (Chris- den Stacheldraht des verhassten Systems noch toph Hamann) nicht von der Hand zu weisen. im Sprung niedertrat. Symbolhaltiger hätte Sie wurden zu Kronzeugen dafür, dass die kein Foto sein können. Das Ergebnis war kein Zufall, sondern offenbarte große Professio- ❙12 Vgl. Na, springt der? Interview mit Peter Leibing, nalität. Als Sportfotograf hatte Leibing beim in: Junge Freiheit vom 10. 8. 2001. 13 Springderby in Hamburg Gelegenheit gehabt, ❙ Welche Langzeitwirkung dieses Foto weltweit ein springendes Pferd so ins Bild zu bringen, hatte, wurde 1987 anlässlich der 750-Jahr-Feier der Stadt offenbar, an der in West-Berlin auch Ronald dass es exakt über dem Hindernis zu stehen Reagan teilnahm. Es war der persönliche Wunsch des ehemaligen Hollywood-Schauspielers, Conrad et al. (Hrsg.), Die Berliner Mauer. Vom Sperrwall zum Schumann, der durch seinen Sprung in James-Bond- Denkmal (Schriftenreihe des Deutschen Nationalko- Manier gezeigt hatte, was er vom „Reich des Bösen“ mitees für Denkmalschutz), Bd. 76/1, Berlin 2009. hielt, auf der Ehrentribüne zu sehen. ❙11 Vgl. auch Stefan Küpper, Der Sprung seines Le- ❙14 In Jochen Voigts Fernseh-Dokumentation „Sprung bens, in: Augsburger Allgemeine vom 6. 5. 2010, on- in die Freiheit – eine Flucht, die nie zu Ende ging“ line: www.augsburger-allgemeine.de/panorama/Der- (WDR 1998) erklärt Schumann im Interview, er habe Sprung-seines-Lebens-id7791041.html (11. 7. 2011); sich „durch Handzeichen mit der West-Berliner Be- dort auch das Foto. völkerung“ über seine Fluchtabsicht „verständigt“.

APuZ 31–34/2011 43 Abbildung 1: PSK-Flugblatt (1960er Jahre) auf den Rücken. Mit einer Hand hielt ich mei- ne Leica M2 hoch und drückte ab. Ich rannte zu den Amis am Checkpoint Charlie, bat um Hilfe: Auf Alliierte durfte ja nicht geschos- sen werden. Doch der GI sagte: ‚Nicht un- ser Bier.‘ Scheinbar endlos viel Zeit verging. Ich holte eine Leiter, ein Teleobjektiv. Konnte noch fotografieren, wie die vier Grenzer den Toten wegschleppten.“ ❙15

Erstmals hatte ein Kameraauge hinter die dunkle, die Ostseite der Mauer geblickt. Und es waren neben dem Opfer selbst auch die für das Geschehen (mit-)verantwortlichen Gren- zer im Bild, mitsamt ihren hilflos wirkenden Gesten: eine konzentrierte Anklage. Chris- toph Hamann hat detailliert herausgearbeitet, welche Professionalität in diesem Foto steckt. In seiner Komposition erinnert es an die Tra- dition christlicher Ikonographie, welche die Kreuzabnahme und Bergung des Leichnams Jesu Christi darstellen, etwa bei Rubens, Raf- fael, Rembrandt und vielen anderen. ❙16 Indes- sen: Fechter hatte seinen Fluchtversuch nicht allein unternommen, sondern zusammen mit seinem Freund Helmut Kulbeik. Ihm gelang es, die Mauer zu überklettern, Fechter nicht. Kulbeik, der ein Schumann hätte sein kön- nen, ist vergessen, die Erinnerung an Fechter begleitet uns bis auf den Tag. Wenn die Mauer Archiv des Autors. „selbst sprach“, brauchte sie einsame Helden oder einsame Opfer.

Mauer nichts anderes war als das „Bauwerk Es mag deutlich geworden sein, welch hoher der Unmenschlichkeit“. Sie gipfelten in jenem Anteil ästhetischen Kategorien im Wahrneh- Bild, das die Bergung des Erschossenen durch mungsprozess zukommt. Bis heute glauben vier Uniformierte zeigt – wobei der Gesichts- viele, dass diese Bilder die „ganze“ Wahrheit ausdruck des Gefreiten Lindenlaub den gan- zeigen und nichts als sie. Ein Blick auf die in- zen Schrecken des Hergangs ­widerspiegelt. nerdeutsche Auseinandersetzung nach dem 13. August 1961 fördert andere Facetten zu- Auch hier gab es – wie im Falle Schu- tage. In den Kampagnen der Psychologischen manns – im Vorfeld Kommunikation „über Kampfführung der Bundeswehr (PSK) etwa, die Mauer hinweg“. Das bestätigte der Fo- zwischen 1961 und 1972 abgeschirmt vor den tograf Wolfgang Bera, der die Fotos machte, Augen der westdeutschen Öffentlichkeit und nachdem er Schüsse gehört hatte: „Ich rannte mit großer Intensität gegen die DDR betrieben, zum Ruinengrundstück an der Zimmerstra- war die Mauer keineswegs dieses ­Monstrum. ❙17 ße. Nichts zu sehen. Ich wollte schon wieder gehen, da sah ich im 4. Stock im Haus gleich ❙15 Interview mit Wolfgang Bera, in: Bild vom 4. 3. auf der Ostseite eine alte Frau. Sie zeigte mit 1997. dem Finger auf die Mauer neben mir. Zog die ❙16 Dort auch das Foto: Christoph Hamann, Schnapp- Gardine schnell wieder zu. Ich verstand so- schuss und Ikone. Das Foto von Peter Fechters fort. Da musste einer liegen. Ich kletterte an Fluchtversuch 1962, in: Zeithistorische Forschungen, der Mauer hoch. Die war damals noch aus 2 (2005) 2, online: www.zeithistorische-forschun- gen.de/site/​40208419/default.aspx (9. 6. 2011). Ziegeln gemauert. Obendrauf Moniereisen ❙17 Vgl. Dirk Schindelbeck, Flugblattschlachten an mit Stacheldraht. Da sah ich ihn: Ein junger den Zonengrenze. Propaganda als politisches Mit- Mann, direkt unter mir. Er fiel von der Seite tel im innerdeutschen Konflikt, in: Forum Schul-

44 APuZ 31–34/2011 Freilich war hier auch nicht die Weltöffent- Abbildung 2: Propagandakissen lichkeit der Adressat, sondern die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR. Auf Millio- nen von Flugblättern, per Wetterballon in die DDR geschickt – bis zu 80 Tonnen im Jahr – schrumpfte das „Bauwerk der Unmenschlich- keit“ zum Mäuerlein oder, um mit Wolfdietrich Schnurre zu sprechen, zum „Brombeerge- strüpp“: „Wenn die Mauer schon von Schnee und Wind umfällt“, so ein Text, sei der eigene „große Sprung“ nach Schumann-Muster doch für jeden halbwegs durchtrainierten Soldaten nur eine kleine sportliche Herausforderung (Abbildung 1). Der in der Westpresse zum to- desmutigen Helden Verklärte gab hier also nur den Vorturner ab. Genüsslich wurden immer wieder Namen von geflüchteten Kameraden samt Diensteinheit ausgebreitet, so etwa auf einem Propagandakissen mit der Auflistung von 36 allein 1964 geflüchteten Grenzern ne- ben dem Schumann-Foto. Darüber die provo- Quelle: E. Demke (Text-Anm. 1). kative Verhöhnung der NVA als „Nach Vorn Abgehauen“: Das war nichts anderes als Zer- setzungspropaganda (Abbildung 2). den waren, es automatisch auch als Bauwerk der Unrechtmäßigkeit wahrnahmen. Schließ- lich wurden elementare Menschenrechte wie Adressaten und Rezipienten Selbstbestimmung und Freizügigkeit mit Fü- ßen getreten. Unversehens war aus der emo- Implizite Propaganda, welche die Weltöffent- tionalen eine politische Qualität erwachsen – lichkeit gewinnen will, arbeitet anders. Sie und ein propagandistischer Effekt. versucht Bilder, deren augenscheinliche Un- mittelbarkeit und Authentizität sie in den Diese weltweite Wirkung der Mauerbilder Rang unbestechlicher Zeugen eines Gesche- brachte das SED-Regime in Rage. Vor allem hens erhebt, so zum Sprechen zu bringen, dass gegen den immer mitschwingenden Vorwurf die Empfänger deren „eingeschriebene“ Bot- der Unrechtmäßigkeit wehrte es sich vehement. schaft ausdeuten (wie es 1961 schon der Ber- Wie jedermann das Recht habe, seine Haustür liner Senat erkannt hatte). Den letzten Schritt zu verschließen, so habe auch ein Staat das Recht im Kommunikationsprozess leisten also die auf Sicherung seiner Grenzen. Wer diese verlet- Rezipienten. Sie erst setzen – gewissermaßen ze, sei dafür selbst verantwortlich. In Wahrheit in ihrem Kopf – die „richtige“ Bildunterschrift habe die Mauer („Sie steht ganz ruhig da!“), unter das Foto, wobei ihnen dessen artifiziel- welche den Kriegsplänen der Bonner Kriegs- ler Charakter nicht bewusst ist. ❙18 Gleichwohl treiber einen Riegel vorgeschoben habe, den konnte man gewiss sein, dass, wann immer das Weltfrieden gerettet. Deswegen gebühre ihr der „Bauwerk der Unmenschlichkeit“ über solche Ehrenname „antifaschistischer Schutzwall“. ❙19 Bilder beschworen wurde, Menschen, die in demokratischen Systemen sozialisiert wor- ❙19 Als Erfinder der Formel „Antifaschistischer Schutzwall“ gilt ZK-Mitglied Horst Sindermann, stiftung. Zeitschrift für die katholischen Freien der im Auftrag des SED-Politbüros im Herbst 1961 Schulen der Erzdiözese Freiburg, Heft 49, (2008), eine ideologische Begründung für den Mauerbau zu S. 94–116. erarbeiten hatte. Zur Rechtfertigung erklärte Sinder- ❙18 Insofern arbeiteten diese Bilder schon nach dem mann im Mai 1990 dem „Spiegel“: „Wir wollten nicht Prinzip der „Visuellen Kommunikation“, wie sie von ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokra- Werner Kroeber-Riehl in den 1970er Jahren für die tische Ordnung, die es in der DDR gab, erhalten. In- Werbewirtschaft entwickelt und etwa in der Kampa- sofern halte ich meinen Begriff auch heute noch für gne der visuell „geöffneten Horizonte“ („Wir machen richtig.“ Zit. nach: Siegfried Prokop, Die Berliner den Weg frei!“) für die Volksbanken/Raiffeisenban- Mauer (1961–1989). Fakten, Hintergründe, Probleme, ken umgesetzt wurde. Werder/Havel 2009, S. 56.

APuZ 31–34/2011 45 Abbildung 3: Warum Mauer, wie lange Mauer? (1965)

„Die westdeutschen Militaristen ver- Westdeutschland friedliche demokra- suchen, diese Politik der Verständi- tische Verhältnisse herrschen. Davon gung mit der antikommunistischen hängt alles ab!" Hetze zu torpedieren. Möge doch einmal jeder gründlich darüber nachdenken, wem der Antikommunis- mus nützt und wem er schadet. Walter Ulbricht schlug in diesem Viele können sich noch entsinnen, Zusammenhang mehrfach die Bildung daß auch Hitler und Goebbels mit gemeinsamer Kommissionen aus derselben Methode des Antikommu- \/ertretern beider deutscher Staaten und nismus gearbeitet haben, um die einer Freien, entmilitarisierten Stadt Bevölkerung vor ihren Kriegskarren Westberlin vor. Diese Kommissionen zu spannen. Das heißt, der Antikom- könnten z. B. Regelungen für die munismus ist nichts anderes als eine Zusammenarbeit auf den Gebieten des Barriere gegen den Frieden und Reiseverkehrs und des Gütertransportes, gegen soziale Sicherheit. Und diese der Wirtschaftsbeziehungen, der Barriere ist tausendmal unange- Volksbildung, der Kultur, des Gesund- nehmer als die Mauer in Berlin. heitswesens, der Rechtsbeziehungen und anderen wichtigen Lebensfragen Deshalb ist es richtig, anstatt sich die erarbeiten. Mauer in Berlin anzusehen, nach Alles das wären gute Schritte zur Ver- Bonn zu fahren und sich dort die sachlichung und Normalisierung der Minister anzusehen, die die Spaltung gegenseitigen Beziehungen, zu Entspan- Deutschlands zementieren, die nung und Verständigung, um allmählich atomare Aufrüstung betreiben und die die deutsche Spaltung zu überwinden. Notstandsgesetze durchpeitschen Trotz aller Meinungsverschiedenheiten wollen. verbinden uns hierbei gewichtige Wir mußten an unserer Staatsgrenze gemeinsame Interessen. Sorgen Sie also Sicherheitsmaßnahmen durchführen, mit dafür, wenn Sie ehrliche Verhand- eben weil es die Bürger Westdeutsch- lungen mit dem Ziel einer Verständigung lands unterlassen haben, im eigenen wollen. Erheben Sie offen Ihre Stimme Lande den Frieden gegen die Ostland- und treten Sie konsequent für gleichbe- ritter und die wichtige Staatsfunkti- rechtigte Verhandlungen mit der DDR ein! onen beherrschenden Nazis zu Wer sonst soll denn der Vernunft und dem sichern. Die Frage der Beziehungen guten Willen in Westdeutschland und der Familien hüben und drüben hängt Westberlin zum Durchbruch verhelfen, davon ab, was die westdeutschen wenn nicht Sie selbst mit allen Kräften Bürger tun, damit endlich in dazu beitragen!

Es erhebt sich die Frage: Will der Senat Pas- sierscheine und Verwandtenbesuche in der Hauptstadt der DDR oder will er die Fort- setzung des kalten Krieges? Eines schließt das andere aus. Darum muß er den Unruhestiftern das Handwerk legen und die Attentäter und Mörder ihrer gerechten Strafe zuführen. (Lemmer, der Schutzpatron der Westberliner Spionageorganisationen)

Quelle:

o. O. und o. J.

46 APuZ 31–34/2011 Als die gebetsmühlenartige Wiederholung Sybille Frank dieser Argumentation nicht verfing, rüstete man entsprechende, für Westbesucher pro- duzierte Broschüren massiv mit Bild­mate­rial auf (Abbildung 3). ❙20 Es entstand ein peinli- Der Mauer um die cher Wettlauf um die grausamer zugerichteten „Maueropfer“. Was sich auf Ostseite aufbieten ließ, waren aber ausschließlich Angehörige der Wette gedenken (bewaffneten!) Grenztruppen, die von eige- nen Kameraden oder bei Schusswechseln mit n Deutschland vollzieht sich seit einigen der West-Berliner Polizei zu Tode gekommen IJahren ein regelrechter Geschichtsboom: waren. Eine „eingeschriebene“ Botschaft hat- Städte reinszenieren und rekonstruieren auf- ten diese Fotos ebenfalls nicht. In weitschwei- wändig (wie Frankfurt figen, von der Staatssicherheit gedrechselten am Main) ihre versun- Sybille Frank Bildunterschriften sollte glaubhaft gemacht kenen Altstadtviertel Dr. phil., geb. 1972; wissen- werden, dass gedungene „Meuchelmörder“ oder bauen (wie Pots- schaftliche Mitarbeiterin im hinter diesen „Attentaten“ steckten. ❙21 dam) ihre zerstörten ­LOEWE-Schwerpunkt „Eigenlogik Stadtschlösser wieder der Städte“ an der Technischen Das kam allzu offensichtlich als Propaganda auf. Jeden zweiten Tag Universität Darmstadt, Bleich- daher. Ein genauerer Blick auf die Details zeigt, eröffnet ein neues Mu- straße 2, 64283 Darmstadt. dass man noch immer mit den schon zu Stalins seum, wobei der Anteil frank@stadtforschung. Zeiten praktizierten Tricks (Inszenierungen, privater Museen stän- tu-darmstadt.de Montagen, Fälschungen) arbeitete. Dies galt dig steigt. Fast jeder sogar für das Foto, das eine hohe Bedeutung Mensch ist wohl schon einmal über einen Mit- für die Binnenpropaganda der DDR erlangte, telaltermarkt geschlendert, und viele mögen indem es vier Betriebskampfgruppenmitglie- zudem einen der zahlreichen Histotainment- der als lebenden Schutzwall vor dem Branden- Parks besucht haben, in denen immer Mittel- burger Tor zeigte. Schon die Art und Weise, in alter oder Römerzeit ist. Auch die jüngere Ge- welcher die Helden passgenau vor die vier Säu- schichte erfreut sich immer größerer Beliebt- len drapiert worden waren, offenbarte, dass es heit: An der Berliner Museumsinsel bietet ein ein gestelltes Foto war. Als beim Berlin-Ju- privates DDR-Museum die „DDR zum An- biläum 1987 die Erinnerung daran sinnfäl- fassen“ an, und wer von Trabis und FKK ge- lig gemacht werden sollte, wurde es vor einer nug hat, kann sich ein paar Straßenzüge weiter Pappkulisse des Brandenburger Tores nachge- in der Stasi-Kneipe „Zur Firma“ stärken. stellt. Die pompöse Inszenierung war freilich ein Notbehelf. Das Originalfoto war seit Jah- Schon dieser kurze Aufriss zeigt, dass sich ren für den Wiederabdruck gesperrt. Die alten um das historische Erbe, um „Heritage“, in- Kämpfer gab es nicht mehr. Nicht in der DDR. zwischen eine erlebnisorientierte Heritage- Alle vier waren geflohen. ❙22 Industrie rankt. Von ihr profitieren nicht nur kommunale, nationale und internationale öf- fentliche, sondern in zunehmendem Maße ❙20 Die Broschüre „Was ich von der Mauer wissen muss“ (etwa 1962) kommt noch ganz ohne Bildmate- auch unterschiedlichste private Akteurinnen rial aus, im Gegensatz zu „Warum Mauer, wie lange und Akteure. Historische Stoffe, begriffen Mauer?“ von 1965. als ein für die Gegenwart relevantes und da- ❙21 Die Behauptungen in den Bildunterschriften haben her erhaltenswertes Erbe, haben und machen sich allesamt als Fälschungen erwiesen. Am 18. 4. 1962 in Deutschland Konjunktur. war Jörgen Schmidtchen „von einem fahnenflüchti- gen NVA-Offiziersschüler erschossen“, am 23.5. Peter Göring „von einem Querschläger aus der Waffe eines Bis vor kurzem dominierte hierzulande West-Berliner Polizisten tödlich getroffen“; vgl. Hans- eine fachwissenschaftlich geprägte Form der Hermann Hertle, Die Berliner Mauer/The Berlin Wall. Vergangenheitsbetrachtung, die das materiel- Monument des Kalten Krieges, Bonn (bpb) 2009, S. 109. le historische Objekt, das durch Vitrinen ge- Gleiches galt für Reinhold Huhn oder Egon Schultz. schützte „Original“, und eine quellenbasier- ❙22 Vgl. Volker Koop, Armee oder Freizeitclub? Die te, textzentrierte Vermittlung historischer Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR, Bonn 1997, S. 351, Bildanhang, Bild Nr. 14. „Fakten“ in ihr Zentrum stellte. Der ame- rikanische Geograph David Lowenthal hat diese westeuropäisch-modern geprägte Form

APuZ 31–34/2011 47 der Vergangenheitsbetrachtung als „Histo- liert, da Diplomaten sowie Mitarbeiter der ry“ bezeichnet. ❙1 Seit dem Umbruch zu „He- Alliierten Streitkräfte in Berlin Freizügigkeit ritage“ als neuer dominanter Vergangenheits- genossen. betrachtungsform aber werden historische Stoffe, oft unter Zuhilfenahme von Rekon- Bis zum Fall der Mauer entwickelte sich struktionen und Mitmachangeboten, von ei- der Checkpoint Charlie zum berühmtesten nem sich immer weiter auffächernden Anbie- Grenzübergang der Stadt. Bereits im Okto- terspektrum zunehmend als personalisierte, ber 1961 wurde er fast zum Schauplatz einer erlebnis- und emotionsorientierte, sich mit „heißen“ Konfrontation im Kalten Krieg, dem Alltag der Menschen eng verknüpfende, als sich hier amerikanische und sowjetische sinnstiftende Narrationen von der Vergan- Panzer mit laufenden Motoren gefechtsbereit genheit ­präsentiert. gegenüberstanden. Ein Jahr später verblute- te der 18-jährige Peter Fechter in der Nähe Dem Heritage-Boom steht eine große Zö- des Checkpoint Charlie bei einem geschei- gerlichkeit der deutschen Politik und Wissen- terten Fluchtversuch. Zugleich konnte es der schaft gegenüber, sich mit den neuen, hier- Kontrollpunkt wegen mehr als 1200 geglück- zulande oft vorschnell als „kommerziell“, ter Fluchten zur Berühmtheit bringen, denn „populistisch“ oder „disneyhaft“ verpönten, viele DDR-Bürgerinnen und -bürger nutzten touristisch jedoch enorm erfolgreichen, er- seinen Sonderstatus, um den Grenzübergang, lebnisorientierten Geschichtsvermittlungs- als Diplomaten oder Soldaten verkleidet, un- angeboten zu beschäftigen. ❙2 Wie wichtig kontrolliert zu passieren. 1963 eröffnete auf eine solche Auseinandersetzung allerdings der westlichen Seite des Kontrollpunkts das wäre, da es in Deutschland längst zu einer Museum Haus am Checkpoint Charlie seine „marktförmigen Strukturierung der Erin- Türen. Es dokumentierte die Geschichte der nerungskulturen“ ❙3 gekommen ist, illustriert Mauer sowie Fluchtschicksale und entwi- besonders eindrucksvoll das Beispiel des seit ckelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem dem Fall der Mauer heftig als Erinnerungsort der meistbesuchten Museen West-Berlins. umkämpften Checkpoint Charlie. Nicht zuletzt war der Checkpoint Charlie auch deshalb international bekannt, weil er für ausländische Touristinnen und Touristen Vom Checkpoint zum Scheckpoint das Nadelöhr für ihre Einreise nach Ost-Ber- lin darstellte. Der Checkpoint Charlie wurde im Septem- ber 1961 von den in Berlin stationierten bri- Mit dem Fall der Mauer wurde der Kon­ tischen, französischen und amerikanischen trollpunkt über Nacht obsolet. Bereits im Juni Truppen eröffnet. Er war für den inner- 1990 wurden die Grenzanlagen abgetragen; berliner Grenzverkehr von Diplomatinnen das plötzlich in der neuen Mitte der bald wie- und Diplomaten, Mitgliedern der Alliierten dervereinigten Stadt gelegene Gelände wurde Streitkräfte und ausländischen Touristinnen zu einem attraktiven Anlageprojekt. Als Be- und Touristen reserviert. Allerdings wurden werberin trat die Central European Develop- nur letztere am Checkpoint Charlie kontrol- ment Corporation (CEDC) auf, eine auf Im- mobilienprojekte in Osteuropa spezialisierte ❙1 David Lowenthal, „History“ und „Heritage“. Wi- internationale Investmentgesellschaft, die am derstreitende und konvergente Formen der Vergan- Checkpoint Charlie ein American Business genheitsbetrachtung, in: Rosemarie Beier (Hrsg.), Ge- Center errichten wollte. Bereits im Okto- schichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt/M. ber 1991 wurde der Grundstein gelegt. Doch 2000, S. 71–94. geriet die Investorin aufgrund des Überan- ❙2 Für einen strukturierten Überblick über die Sta- tionen der im angloamerikanischen Raum lebhaft gebots von Büroflächen in Berlin bald in fi- geführten Heritage-Debatte vgl. Sybille Frank, Der nanzielle Nöte. Als die CEDC im Jahr 2003 Mauer um die Wette gedenken. Die Formation einer in die Insolvenz und der Checkpoint Char- Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie, lie in den Besitz einer Bankaktiengesellschaft Frankfurt/M.-New York 2009, S. 25–149. überging, waren nur drei der geplanten fünf ❙3 Claus Leggewie/Erik Meyer, Visualisierung und Gebäude errichtet worden. Virtualisierung von Erinnerung. Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft, in: zeitenbli- cke, 3 (2004) 1, online: www.zeitenblicke.de/​2004/​ Angesichts der verbliebenen Brachen und 01/leggwie/Leggewie.pdf (24. 6. 2011). der steigenden touristischen Nachfrage nach

48 APuZ 31–34/2011 Abbildung 1: Plymouth Rock Abbildung 2: Ehemaliger Mauerverlauf

Foto: Avishai Teicher, gemeinfrei unter http://he.wikipedia.org/ wiki/156. © Sybille Frank.

Zeugnissen der Berliner Teilungsgeschich- vergangene Lebensweisen in Form kleiner te versuchten in den folgenden Jahren un- Szenen näher bringen und zur Interaktion mit terschiedliche Anbieter, den demontierten der Stätte auffordern. Die amerikanische An- früheren Grenzübergang in den Stand des thropologin Barbara Kirshenblatt-Gimblett Erinnerungswürdigen zu erheben. Diese hat den Mehrwert einer solchen Verknüpfung Versuche werden im Folgenden vorgestellt. von topographisch genau markierten histori- Dabei wird gezeigt, dass der Checkpoint schen Schauplätzen und künstlerischen Sym- Charlie, international betrachtet, als typi- bolen („exhibition as knowledge“) mit museal sche Heritage-Industriestätte gelten kann. präsentierten Originalen und räumlichen Re- Dies belegt ein kurzer Exkurs zu einer ih- konstruktionen („exhibition as museum dis- rer Pioniereinrichtungen, der Plimoth Plan- play“) sowie der Aufführung von Kultur als tation an der Ostküste der USA. In der Nähe Heritage („exhibition as performance“ ❙4) wie des heutigen Plymouth war einst die „May­ folgt erklärt: „The ‚actual‘ must be exhibited flower“ ­angelandet. alongside the ‚virtual‘ in a show of truth.“ ❙5

Die hier vorgestellte Kombination ähnelt Checkpoint Charlie der am Checkpoint Charlie aufzufindenden als typische Heritage-Stätte auf frappierende Weise. Wie am Plymouth Rock findet sich am Checkpoint Charlie mit Bereits im 18. Jahrhundert war in Plymouth einer im Auftrag des Berliner Senats 1997 im die Stelle, an der 1620 die erste Pilgerin ihren Asphalt verlegten Doppelpflastersteinreihe Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hat- eine topographisch genaue Markierung des te, mit einer Gravur versehen worden (Ab- ehemaligen Mauerverlaufs, also des „The- bildung 1). Der so markierte Plymouth Rock mas“, das für die internationale Bekanntheit wurde 1920 mit einem kunstvoll gestalte- des Ortes sorgte (Abbildung 2). ten Portikus überbaut, der den Fels weithin sichtbar machen sollte. Um auch die Lebens- Eine im Jahr darauf eingeweihte Leuchtkas- welt der Pilgerinnen und Pilger anschaulich teninstallation mit den Porträts eines ameri- werden zu lassen, wurde in den 1940er Jah- kanischen und eines sowjetischen Soldaten ren ganz in der Nähe die Plimoth Plantation zeugt, wie der Portikus in Plymouth, vom eröffnet. Sie bestand aus einem Museum, das Wunsch des Senats, die Mauermarkierung Fundstücke der Ausgrabungsstätte des alten auf Höhe des früheren Grenzübergangs mit Pilgerdorfs präsentierte, und Plimoth Villa- ge, einer Rekonstruktion des Dorfes, das mit ❙4 Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Destination Cul- epochengerecht kostümierten Schauspiele- ture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley– rinnen und Schauspielern belebt war. Diese Los Angeles–London 1998, S. 149. sollten den Besucherinnen und Besuchern ❙5 Ebd., S. 195.

APuZ 31–34/2011 49 Abbildung 3: „Pilgerfrau“, Touristin Abbildung 4: „Grenzbeamte“, Touristin

Quelle: www.picasaweb.google.com (18. 10. 2008).

einem weithin erkennbaren zeitgenössischen Symbol anzureichern. Das bereits erwähnte Museum Haus am Checkpoint Charlie stiftete dem ehemaligen Kontrollpunkt im Jahr 2000 eine Rekonstruktion der 1990 demontierten © Sybille Frank. Kontrollbaracke. Zusammen mit einer Kopie des mittlerweile im Museum ausgestellten be- rühmten Schildes „You are leaving the Ame- play“) und der Schauspielstudierenden („ex- rican Sector“ dient sie, wie in Plymouth das hibition as performance“ ❙6) lassen sich also als rekonstruierte Plimoth Village, dazu, den frü- Angebote verstehen, deren Zusammenspiel heren Grenzübergang auch räumlich erneut Heritage-Stätten weltweit charakterisiert. erlebbar zu machen (Abbildungen 3 und 4).

Seit 2004 finden sich am früheren Check- Checkpoint Charlie point Charlie zudem täglich als Grenzsolda- als außergewöhnliche Heritage-Stätte ten kostümierte Schauspielstudierende ein, die vor der Kontrollbarackenkopie posie- Und doch ist der Checkpoint Charlie ein ren und sich gegen Bezahlung mit Touristin- ganz besonderer Fall. Denn international be- nen und Touristen fotografieren lassen, Ori- trachtet treten bei der Planung und Gestal- ginal-Grenzstempel in Pässe drücken oder tung von Heritage-Stätten nationale oder lo- auch „Bananenkontrollen“ in Kofferräumen kale Regierungen üblicher Weise als Struktur durchführen. Diese Aktion lässt sich als Ver- vorgebende Akteurinnen auf, die Heritage such interpretieren, den bisher durch rekonst- als ökonomisches Entwicklungsmodell, po- ruierte Artefakte gekennzeichneten ehemali- litisches Herrschaftsinstrument oder als Me- gen Grenzübergang anhand kleinerer Szenen dium kultureller Verständigung nutzen und und Interaktionen um die Erfahrung der so- hierzu hoch regulierte Allianzen mit privaten zialen Dimension der Berliner Teilungsge- Akteuren schmieden. Am 1992 privatisierten schichte zu bereichern. Checkpoint Charlie allerdings gibt es keine eine solche Struktur vorgebende öffentliche Die Initiativen des Senats („exhibition as Akteurin. Entsprechend zeigt sein Beispiel knowledge“), des Museum Haus am Check- point Charlie („exhibition as museum dis- ❙6 Ebd.

50 APuZ 31–34/2011 die Entstehung einer Heritage-Industrie ab- in den 1990er Jahren an der Grenze zwi- seits geregelter Verfahren. Als ein Ort, der schen den Bezirken Mitte (Ost) und Wedding in Reaktion auf die touristische Nachfrage (West) errichteten Gedenkort Bernauer Stra- in zahlreichen unverbundenen, zudem mit- ße, wo sich viele dramatische Fluchtgeschich- einander konkurrierenden Einzelaktionen ten abgespielt hatten, zu verkopft und für entwickelt wurde, markiert der Checkpoint Touristinnen und Touristen nur schwer zu Charlie ein Handlungsfeld unterschiedlicher erreichen sei. Demgegenüber sei der Check- privater und öffentlicher Erinnerungsanbie- point Charlie ein international bekanntes ter, die um die Deutungshoheit über den Ort Symbol der Weltenteilung, und so sei es nur und die mit ihm verbundenen Profite ringen. folgerichtig, an diesem zentral gelegenen tou- ristischen Ort auch der Opfer dieser Welten- Wohin ein solches ­Steuerungsdefizit führt, teilung zu gedenken. illustriert die Konstruktion des Checkpoint Charlie als Opfer-Ort. Dieser Prozess wur- Laut Hildebrandt sollten also nicht die de ab 2004 maßgeblich von Alexandra Hilde- Touristinnen und Touristen zu den Gedenk- brandt, der Chefin des 2002 privatisierten orten, sondern vielmehr das Gedenken an die Museums Haus am Checkpoint Charlie vo- touristischen Aufenthaltsorte reisen. Dort rangetrieben, das den Schrecken der Mauer sollten die Kreuze die Symbolik der Mauer und die Unüberwindbarkeit der Grenze the- und ihrer Opfer unmittelbar und drastisch matisierte. Dass die Schauspielstudierenden vermitteln und Emotionen auslösen. Im Ge- mit ihrem Angebot den Grenzübergang – gensatz zum – in der Tradition der „History“ und damit die Durchlässigkeit der Gren- stehenden – fachwissenschaftlich geprägten ze – betonen, stellte für Hildebrandt, eben- Angebot des Gedenkorts Bernauer Straße, so wie die Präsenz zahlreicher fliegender der eine abgeschlossene künstlerische Rekon- Händlerinnen, die am Checkpoint Charlie struktion der Berliner Mauer, ein Mauer-Do- DDR-Devotionalien feilbieten, eine „Ver- kumentationszentrum sowie eine Gedenk- höhnung der ­Opfer“ ❙7 der Teilung und ein kapelle aufwies, wurde das Mauermahnmal „Vergehen an der Geschichte“ ❙8 dar. Um der am Checkpoint Charlie als erlebnisorientier- Geschichtsinterpretation des Museums auch te Heritage-Stätte präsentiert, die sich in ers- ­räumlich Aus­druck zu verleihen, eröffnete ter Linie an den Erwartungen internationaler sie daher im Oktober 2004 auf den von ihr für Besucherinnen und Besucher orientierte. einige Monate gepachteten Brachen des eins- tigen American Business Centers ein privates Maueropfermahnmal. Es bestand aus der Re- Authentizität als Kampfbegriff konstruktion eines etwa 200 Meter langen Teilstücks der Mauer und 1065 im ehemaligen In Berlin stieß die Thematisierung kaum ver- Todesstreifen angesiedelten schwarzen Holz- gangenen menschlichen Leids in einem tou- kreuzen. Jedes der übermannshohen Kreu- ristischen Kontext durch eine private An- ze symbolisierte ein Todesopfer des DDR- bieterin, ebenso wie die Rekonstruktion der Grenzregimes, dessen Namen, Lebensdaten Mauer, auf ein höchst kritisches Echo. Dabei und gegebenenfalls Foto es trug. schälte sich „Authentizität“ als zentrales Un- terscheidungsmerkmal zwischen der öffentli- Obwohl Hildebrandt vom Bezirk Mitte chen Gedenkstätte und dem privaten Mahn- lediglich eine „temporäre Kunstaktion“ ge- mal heraus. nehmigt worden war, erklärte die Museums­ chefin nach der Einweihung des Mahnmals, Die britischen Heritage-Forscher John Tun- ihre Installation stehenlassen zu wollen. Ihr bridge und Gregory Ashworth haben gezeigt, Argument lautete, dass das bisherige „offizi- dass unterschiedliche Auslegungen des Be- elle“ Mauergedenken am von Bund und Land griffs eines der häufigsten Szenarien für Kon- flikte um die Präsentation einer Vergangen- ❙7 Alexandra Hildebrandt, zit. nach: Veronika Ni- heit als Heritage darstellen. ❙9 Historikerinnen ckel, Checkpoint Charlie. Wieder eine Baracke ver- hüllt, in: die tageszeitung vom 4. 6. 2004. ❙8 Pressemitteilung des Museums Haus am Check- ❙9 Vgl. John E. Tunbridge/Gregory J. Ashworth, Dis- point Charlie, zit. nach: Felix Müller, Ein Gespenst sonant Heritage. The Management of the Past as a geht um am Checkpoint Charlie, in: Berliner Mor- Resource in Conflict, Chichester-New York-Bris- genpost vom 3. 6. 2004. bane 1996.

APuZ 31–34/2011 51 und Kustodinnen verstünden unter „Authen- ge befassten Regierungsvertreterinnen und tizität“ gewöhnlich eine fixe Wahrheit, die -vertreter, Wissenschaftlerinnen und Wissen- „Echtheit“ eines historischen Originals, das schaftler sowie Denkmalexpertinnen und -ex- Authentizität „besitze“ und somit einen Wert perten auf Authentifizierung von einer priva- an sich habe. Demgegenüber definierten He- ten Anbieterin herausgefordert wurde. Da die ritage-Planerinnen und Tourismusanbiete- Einflussmöglichkeiten der politischen Akteu- rinnen Authentizität den Bedürfnissen der re auf den privatisierten Checkpoint Charlie Konsumentinnen und Konsumenten entspre- begrenzt waren, musste die ins Wanken gera- chend. Für diese gilt all das als authentisch, tene soziale Ordnung auf dem Feld der Ge- was den Erwartungen entspricht: Menschen, schichtspflege nundiskursiv wiederhergestellt die einen Ort gezielt aufsuchen, bringen üb- und dieses Recht mit Hilfe des Disneyfizie- licherweise ein vorgefertigtes Bild von diesem rungs-Vorwurfs kulturell verteidigt werden. Ort mit, das sie sich zuvor über unterschied- liche Medien angeeignet haben. Besucherin- Während in Berlin eine breite Koalition nen und Besucher des Checkpoint Charlie aus Opferverbänden und Tourismusanbie- erwarten beispielsweise, vor Ort Relikte des tern Hildebrandts Mahnmal dafür lobte, dass berühmten Kontrollpunkts und der Mauer zu angesichts der drastischen Symbolik des To- finden. Originale sind dabei nicht unbedingt desstreifens mit den Kreuzen am Checkpoint notwendig, denn als Träger einer historischen Charlie „selbst ein Tourist aus Japan sofort be- Information oder auch Impression, einer au- greift, was die Mauer für Berlin bedeutete“, ❙11 thentischen Erfahrung, vermag eine gute Ko- verurteilte eine nicht minder breite Koalition pie ebenso gut zu taugen wie ein „Original“. aus Regierungsvertreterinnen, Kulturfunk- tionären, Denkmalexpertinnen und Kurato- Laut Tunbridge und Ashworth durch- ren den Checkpoint Charlie als einen durch mischen sich beide Auffassungen von Au- „Kunstbausteine“ charakterisierten und da- thentizität in der Praxis sehr häufig, was die her „disneyfizierten“ Ort: Der Standort der Forscher nicht nur auf die Akteursvielfalt, Mauerrekonstruktion sei, so hieß es, nicht au- sondern auch auf die besondere Organisati- thentisch, da leicht verschoben, die verwende- onsstruktur der Heritage-Industrie zurück- ten originalen Mauersegmente hätten nie am führen: „(D)ie verwendeten Materialien, das Checkpoint Charlie gestanden, der frühere heißt Museen, denkmalgeschützte Gebäude, Grenzübergang sei niemals ein Ort des Mas- historische Stadtbilder und so weiter, stehen sensterbens gewesen, und die emotionalisier- unter der Obhut von Personen oder Instituti- te Darstellungsform sei insgesamt ungeeignet, onen, die ein angebotszentriertes Verständnis Lehren aus der Geschichte zu vermitteln. ❙12 ihrer Arbeit haben, während die Produzen- tinnen von Heritage ein nachfragorientiertes Diese Argumentation führte jedoch in ein Verständnis aufweisen.“ ❙10 Trete ein Konflikt Dilemma. Denn angesichts des längst voll- um konkurrierende Definitionen von Authen- zogenen Abrisses der Mauer musste auch das tizität auf, so äußere dieser sich meist in Form „offizielle“ Mauergedenken an den meisten wechselseitiger Vorwürfe des Elitismus bzw. Orten der Stadt ohne historische Substanz der Trivialisierung – so zum Beispiel, wenn auskommen. Überdies war auch der Mauer- touristische Anbieter mit einer nachfrageori- gedenkstätte am Gedenkort Bernauer Straße entierten Auffassung von Authentizität He- von ihren Kritikerinnen und Kritikern stets ritage kommodifizierten und in diesem Zu- ein Authentizitätsdefizit attestiert worden: sammenhang „Themenparks“ entstünden, die Die von „Mauerspechten“ skelettierten dor- von Produzentinnen mit einer angebotsorien- tigen Mauerreste waren einer umfassenden tierten, quellenbasierten Auffassung von Au- Betonsanierung unterzogen worden. Auch thentizität üblicherweise als „unauthentisch“ diese Gedenkstätte zeigte keine „authenti- oder „disneyhaft“ abgelehnt werden. sche“, sondern eine künstlerisch überhöhte

Diese Konstellation spiegelt auch die De- 11 batte um den Checkpoint Charlie wider. Sie ❙ So der Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte Ber- illustriert den Moment, in dem das Recht der lin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, zit. nach: Thomas Loy, Botschaft mit Kreuzen, in: Der Tages- bisher mit der Aufgabe der Geschichtspfle- spiegel vom 2. 11. 2004. ❙12 Für eine ausführliche Schilderung und Analyse ❙10 Ebd., S. 11 (Übs. der Autorin). der Debatte vgl. S. Frank (Anm. 2), S. 259–305.

52 APuZ 31–34/2011 Rekonstruktion des Todesstreifens, und auch onal bekanntes Mediensymbol der Teilungs- an der Bernauer Straße hatte nie ein Sterben geschichte und daher am besten dazu geeig- hunderter Maueropfer stattgefunden. net sei, bei Touristinnen und Touristen sowie Nachgeborenen „authentische Gefühle“ her- In dieser misslichen Lage entwickelte der vorzurufen. Damit standen sich das vom Senat Senat ein modernisiertes Authentizitätskon- verfochtene Modell des authentischen „Ortes zept, das auch ohne historische Relikte aus- des Geschehens“ und das ursprünglich von kommt. Es kann als „am Ort des Gesche- Hildebrandt propagierte, nun vom Bund se- hens angesiedelt“ tituliert werden. Es schrieb kundierte Modell des „Ortes der (inter)natio- einem Ort eine spezifische, sich jeweils aus nalen Aufmerksamkeit“ erneut gegenüber. dem dortigen historischen Geschehen ab- leitende Thematik zu, für die dann nur die- Wie reagierte der Senat auf diese schwierige ser Ort Authentizität beanspruchen konnte. Situation? Und was wurde aus dem Check- Dieser Sichtweise zufolge sollte am demon- point Charlie? tierten Checkpoint Charlie allein die Thema- tisierung des Einsatzes der Alliierten für Ber- lin als authentisch gelten. Legitimer Ort des Checkpoint Gallery: Maueropfergedenkens zu sein, wurde allein der Bauzaun als Manifest der Bernauer Straße zuerkannt – auch wenn das international wohl berühmteste Mauer- Heute befindet sich am Checkpoint Charlie opfer, Peter Fechter, am Alliierten-Kontroll- die Checkpoint Gallery, eine vom Regieren- punkt gestorben war. Hier lautete die vom den Bürgermeister von Berlin beauftragte, historischen Geschehen abgeleitete Begrün- 2006 eröffnete Open-Air-Ausstellung, wel- dung, dass die Bernauer Straße, lokal betrach- che die bis heute brachliegenden privatisier- tet, Schauplatz besonders vieler dramatischer ten Gelände des einstigen American Business und einiger tödlicher Fluchten gewesen sei. Centers umstellt. Sie widmet sich drei The- men: Erstens präsentiert sie die geglückten In die erbitterte Konkurrenz der (auf der und gescheiterten Fluchten über den Check- Relevanz der lokalen Perspektive beharren- point Charlie, womit sie das Museum Haus den) öffentlichen und der (international aus- am Checkpoint Charlie seines Privilegs auf gerichteten) privaten Mauergedenkstätte kam die Darstellung der Fluchtschicksale am ehe- erst 2005 erneut Bewegung, als die Bankak- maligen Kontrollpunkt beraubt. Zweitens tiengesellschaft, auf deren Grundstück das führt die Gallery die Bedeutung des ehemali- touristisch enorm erfolgreiche private Mahn- gen Grenzübergangs als Symbol der interna- mal stand, Räumungsklage gegen die Muse- tionalen Blockkonfrontation im Kalten Krieg umschefin einreichte. Hildebrandts Appel- vor und somit die Geschichtsinterpretation le an die Öffentlichkeit, für den Erhalt ihres des Senats ein. Und drittens präsentiert die Mahnmals einzutreten, verhallten in Ber- Gallery das Themenspektrum aller weiteren, lin, für das der „Ausländerübergang“ stets abseits der touristischen Routen gelegenen ein „fremder Ort“ gewesen war, weitgehend Berliner Gedenkorte an die Mauer. Auf diese ungehört. Nur kurz von einigen ehemali- Weise findet sich das vom Senat verfochte- gen Stasi-Häftlingen aufgehalten, die sich ne Konzept des „Orts des Geschehens“ am aus Protest gegen die mangelnde Würdigung Checkpoint Charlie letztlich mit dem Kon- der Opfer der SED-Diktatur in Berlin an die zept des „Orts der internationalen Aufmerk- Kreuze angekettet hatten, konnten die Bag- samkeit“ amalgamiert: Die internationale Be- ger ihre Arbeit pünktlich verrichten. kanntheit des früheren Kontrollpunkts wird nun dazu genutzt, vor Ort über die dezent- Und doch hatte das private Mahnmal ein ral gelegenen Mauergedenkorte, die je spezi- unerwartet langes Nachleben: 2005 empfahl fische, an „authentischen Orten“ platzierte ein fraktionsübergreifender Antrag des Deut- Themen adressieren, zu informieren und so- schen Bundestages das Brandenburger Tor mit auch das lokale Authentizitätskonzept zu als Gedenkort an die Mauer und ihre Opfer. bewerben. Die Abgeordneten argumentierten, dass das (für die Berlinerinnen und Berliner über Jah- Die Probleme, die durch die Privatisierung re nicht zugängliche) Brandenburger Tor, im und die mangelnde politische Steuerung der Gegensatz zur Bernauer Straße, ein internati- Entwicklungen am Checkpoint Charlie her-

APuZ 31–34/2011 53 vorgerufen wurden, sind allerdings unge- schaften bereits kurz nach diesen Ereignissen löst geblieben. Zum einen sehen sich heu- in Heritage verwandelt werden müssen – so tige Besucherinnen und Besucher mit einer sensibel dieser Prozess angesichts bestehen- schier unüberschaubaren Dichte von kon- der Zeitzeuginnenschaften auch sein mag. kurrierenden Informationen, Interpreta- Die lokal unwillkommene, aber von Touris- tionen und Angeboten konfrontiert. Zum tinnen und Touristen unbeirrt in Eigenregie anderen ist der Disneyfizierungsvorwurf vorgenommene Umgestaltung des „Ground nach wie vor schnell zur Hand, wenn es da- Zero“ in New York zu einer globalen Herita- rum geht, sich gegen erlebnisorientierte Ge- ge-Stätte ist hierfür nur ein weiteres berühm- schichtsvermittlungsangebote privater Ak- tes ­Beispiel. teure ­abzugrenzen. Umso wichtiger wäre es also für die Politik Doch stehen die Touristinnen und Touris- nicht nur in Berlin, die Ökonomisierung und ten vor der Tür, und das, was hierzulande als Globalisierung von Vergangenheitsbezügen „disneyhaft“ gilt, ist zum Beispiel für Men- im Kontext einer sich internationalisierenden schen aus den USA oder Japan in der Regel Heritage-Industrie zu akzeptieren, zu steu- ein höchst attraktives Angebot. Wenn sich die ern und stadtentwicklungspolitisch nutz- öffentliche Hand der von Heritage-Touristin- bar zu machen. Und umso wichtiger wäre es nen nachgefragten Themen nicht annimmt, für die Wissenschaft, diese Prozesse vorur- so tun dies private Anbieter, wie der eingangs teilsfrei zu untersuchen und professionell zu erwähnte Fall des privaten DDR-Museums moderieren. Ein erster Schritt in diese Rich- an der Berliner Museumsinsel zeigt. Entspre- tung wird in Berlin bereits getan: Um sich im chend illustriert das Beispiel des Checkpoint Wettbewerb um das Gedenken an die Mau- Charlie, dass historische Ereignisse von inter- er einen festen Platz zu sichern, wird der Ge- nationalem Rang in einem globalisierten, von denkort Bernauer Straße inzwischen zu einer Reisetätigkeit geprägten Zeitalter von Gesell- „Erlebnislandschaft“ umgebaut.

Vom Bau der Mauer bis zu ihrem Fall: Persönliche Hier bestellen: Geschichten und harte Fakten im DIN-A6-Format. www.bpb.de/publikationen 248 Seiten mit zahlreichen, z.T. unbekannten Fotos. Bestellnummern: Autor: Hans-Hermann Hertle. 2.051 (deutsch), 2.050 (englisch)

54 APuZ 31–34/2011 Herausgegeben von Jetzt neu: der Bundeszentrale für politische Bildung „APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86 53113 Bonn Aus Politik und Zeitgeschichte Redaktion Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail über die neuen Ausgaben. Dr. Hans-Georg Golz (verantwortlich für diese Ausgabe) Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell Dr. Asiye Öztürk Johannes Piepenbrink Anne Seibring (Volontärin) Telefon: (02 28) 9 95 15-0 www.bpb.de/apuz [email protected] Redaktionsschluss dieses Heftes: 22. Juli 2011

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Günter Kunert 3–7 Im Rückspiegel Der Sonntag hatte so schön begonnen. Wunderbares Wetter verlockte zu einer Spritztour. Im Radio hörte man dann, im amtlichen Ton verlesen: Heute Nacht haben unsere Sicherungskräfte den Schutz der Grenze übernommen.

Hope M. Harrison 8–15 Walter Ulbrichts „dringender Wunsch“ Um den Flüchtlingsstrom einzudämmen und seine Macht zu festigen, drängte Ulbricht jahrelang die Sowjetunion, der Schließung der Grenze in Berlin zuzu- stimmen. Die sowjetischen Machthaber widersetzten sich bis Ende Juli 1961.

Gerhard Wettig 16–21 Chruschtschow, Ulbricht und die Berliner Mauer Im November 1958 leitete Chruschtschow mit dem Berlin-Ultimatum die längste Krise des Kalten Krieges ein. Die Grenzschließung in Berlin, die er nie gewollt hatte und die zur dauernden Mauer wurde, blieb das einzige Ergebnis seines Bemühens.

Hans-Hermann Hertle 22–28 „Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten“ Der Schießbefehl war der entscheidende Eckpfeiler des DDR-Grenzregimes. Die SED-Führung hegte keinen Zweifel daran, dass nur so eine abschreckende Wirkung zu erzielen war, um die massenhafte Flucht der Bevölkerung zu unterbinden.

Andreas Kötzing 28–33 Ein Hauch von Frühling Nach dem Mauerbau war die SED-Kulturpolitik von größeren Freiräumen geprägt. Der Umgang mit dem Dokumentarfilm „Deutschland – Endstation Ost“ zeigt in- des, dass diese Freiräume bereits vor dem 11. Plenum eingeschränkt wurden.

Daniela Münkel 34–39 Mauerbau und Staatssicherheit Das MfS berichtete über die Grenzschließung sowie über Reaktionen der Bevöl- kerung und der Westalliierten. Neue Dokumente geben Aufschluss über die Rolle des MfS beim Mauerbau und die Lage in der DDR.

Dirk Schindelbeck 40–47 Die Mauer und ihre Bilder Mit der Errichtung der Berliner Mauer haben sich kaum ein Dutzend Bilder un- serem kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Es handelt sich nicht um manipulierte Dokumente – dennoch ist die propagandistische Wirkung überaus stark.

Sybille Frank 47–54 Der Mauer um die Wette gedenken Historische Stätten haben und machen in Deutschland Konjunktur, wobei der Anteil privater Angebote steigt. Die Vorgänge am Checkpoint Charlie sind ein Beispiel für die Entstehung einer Heritage-Industrie abseits geregelter Verfahren.