Plenarprotokoll 16/222

Deutscher

Stenografischer Bericht

222. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- in Verbindung mit nung ...... 24311 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Absetzung des Tagesordnungspunktes 17 . . . 24312 C Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 24312 D , (Münster), Begrüßung des Vizepräsidenten der Repu- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der blik Gabun, Herrn Daniel Ona Ondo ...... 24323 A FDP: Anti-Rezessionsprogramm auflegen (Drucksache 16/10867) ...... 24344 B Tagesordnungspunkt 15: Rainer Brüderle (FDP) ...... 24344 C () (CDU/CSU) ...... Vereinbarte Debatte: 60 Jahre Grundgesetz 24345 C für die Bundesrepublik Deutschland Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 24347 B (CDU/CSU) ...... 24313 A (SPD) ...... 24349 B Dr. (FDP) ...... 24317 B Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24351 B Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 24320 A Dr. (FDP) ...... 24353 A (DIE LINKE) ...... 24323 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 24354 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 24356 A DIE GRÜNEN) ...... 24326 A Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 24358 B Dr. (CDU/CSU) ...... 24329 A (FDP) ...... 24331 A Tagesordnungspunkt 38: Franz Müntefering (SPD) ...... 24333 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. (DIE LINKE) ...... 24336 B rung eingebrachten Entwurfs eines Sechs- ten Gesetzes zur Änderung eisenbahn- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ rechtlicher Vorschriften DIE GRÜNEN) ...... 24338 A (Drucksache 16/12587) ...... 24359 D (CDU/CSU) ...... 24339 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . 24341 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Internetversteigerung in der Zwangsvollstreckung Tagesordnungspunkt 16: (Drucksache 16/12811) ...... 24359 D Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Solms, Carl-Ludwig Thiele, Jens rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ackermann, weiterer Abgeordneter und der zes zur Erleichterung elektronischer Fraktion der FDP: Wachstumsprogramm Anmeldungen zum Vereinsregister und zur Überwindung der Rezession anderer vereinsrechtlicher Änderungen (Drucksache 16/12887) ...... 24344 B (Drucksache 16/12813) ...... 24359 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Tagesordnungspunkt 39: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- a) Zweite und dritte Beratung des von den zes zur Neuregelung der zivilrechtli- Abgeordneten (Köln), chen Vorschriften des Heimgesetzes (Bremen), Alexander nach der Föderalismusreform Bonde, weiteren Abgeordneten und der (Drucksache 16/12882) ...... 24360 A Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN e) Erste Beratung des von der Bundesregie- eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zur Änderung der Strafprozessordnung zes zur Änderung des Europol-Gesetzes, (Drucksachen 16/7134, 16/12534) ...... 24360 D des Europol-Auslegungsprotokollgeset- b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung zes und des Gesetzes zu dem Protokoll des von der Bundesregierung eingebrach- vom 27. November 2003 zur Änderung ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- des Europol-Übereinkommens und zur kommen vom 9. Juli 2008 zwischen der Änderung des Europol-Gesetzes Bundesrepublik Deutschland und den (Drucksache 16/12924) ...... 24360 A Vereinigten Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Ge- Zusatztagesordnungspunkt 3: biet der Steuern vom Einkommen und a) Antrag der Abgeordneten , vom Vermögen , , (Drucksachen 16/12589, 16/12908) . . . . . 24361 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung der FDP: Energieforschung neu ausrich- des von der Bundesregierung eingebrach- ten – Deutschland, Energieland der Zu- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- kunft trag vom 16. September 2004 zwischen (Drucksache 16/10329) ...... 24360 A der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Vermar- b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, kung und Instandhaltung der gemeinsa- , Patrick Meinhardt, weiterer men Grenze auf den Festlandabschnit- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: ten sowie den Grenzgewässern und die Nachteile für den Forschungsstandort Einsetzung einer Ständigen Deutsch- Deutschland aufheben – Für ein innova- Polnischen Grenzkommission tionsfreundliches Steuersystem (Drucksachen 16/12590, 16/12913) . . . . . 24361 B (Drucksache 16/12474) ...... 24360 B d) Zweite und dritte Beratung des von der c) Antrag der Abgeordneten Gero Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, eines Fünften Gesetzes zur Änderung Dr. , weiterer Abgeordne- des Bundeszentralregistergesetzes ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie (Drucksachen 16/12427, 16/13028) . . . . . 24361 C der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas e) Zweite und dritte Beratung des von der Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeord- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs neter und der Fraktion der SPD: Punkte- eines Gesetzes zu dem Vertrag vom Systematik des Verkehrszentralregis- 12. November 2008 zwischen der Bun- ters in Flensburg einfacher und ver- desrepublik Deutschland und der Re- ständlicher gestalten publik Bulgarien über die Zusammen- (Drucksache 16/12993) ...... 24360 B arbeit bei der Bekämpfung des d) Antrag der Abgeordneten , grenzüberschreitenden Missbrauchs bei , Maria Eichhorn, weite- Leistungen und Beiträgen zur sozialen rer Abgeordneter und der Fraktion der Sicherheit durch Erwerbstätigkeit und CDU/CSU sowie der Abgeordneten von nicht angemeldeter Erwerbstätig- , Petra Ernstberger, Iris keit sowie bei illegaler grenzüberschrei- Gleicke, weiterer Abgeordneter und der tender Leiharbeit Fraktion der SPD: Die Situation von (Drucksachen 16/12588, 16/13017) . . . . . 24361 D Frauenhäusern verbessern f) Zweite Beratung und Schlussabstimmung (Drucksache 16/12992) ...... 24360 C des von der Bundesregierung eingebrach- e) Antrag der Abgeordneten Winfried ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In- Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina ternationalen Übereinkommen vom Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Personen vor dem Verschwindenlassen Erinnerungsprojekt „Zug der Erinne- (Drucksachen 16/12592, 16/13029) . . . . . 24362 A rung“ unterstützen g) Zweite und dritte Beratung des von den (Drucksache 16/12991) ...... 24360 C Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 III

eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge- Zusatztagesordnungspunkt 4: setzes zur Änderung des Treibhausgas- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Emissionshandelsgesetzes schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 16/12853, 16/13022) . . . . . 24362 B und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- h) Beschlussempfehlung und Bericht des ordneten Thilo Hoppe, Marieluise Beck (Bre- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und men), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeord- Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia GRÜNEN: Landrechte stärken – „land Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord- grabbing“ in Entwicklungsländern verhin- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE dern GRÜNEN: Mit Bioraffinerien in (Drucksachen 16/12735, 16/13023) ...... 24363 D Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und zusätzliche Ressourcen er- schließen Tagesordnungspunkt 20: (Drucksachen 16/5529, 16/11220) ...... 24362 C Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- i) Beschlussempfehlung und Bericht des Äl- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- testenrates zu dem Antrag der Abgeordne- lung ten , Bärbel Höhn, – zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer (Ham- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE burg), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Ab- GRÜNEN: Vorbildfunktion der Politik geordneter und der Fraktion der CDU/ für Klimaschutz ernst nehmen – Für CSU sowie der Abgeordneten Rita eine nachhaltige Senkung verkehrsbe- Schwarzelühr-Sutter, Klaas Hübner, Sören dingter CO2-Emissionen des Deutschen Bartol, weiterer Abgeordneter und der Bundestages Fraktion der SPD: Mobilität zukunftsfä- (Drucksachen 16/9009, 16/12800) ...... 24362 D hig machen – Elektromobilität fördern j) Beschlussempfehlung und Bericht des – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- Kauch, Horst Meierhofer, gie (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und – zu der Verordnung der Bundesregie- der Fraktion der FDP: Elektromobilität – rung: Vierundachtzigste Verord- Für einen bezahlbaren und klimaver- nung zur Änderung der Außenwirt- träglichen Individualverkehr schaftsverordnung – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael – zu der Verordnung der Bundesregie- Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich rung: Einhundertachtundfünfzigste (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und Verordnung zur Änderung der Ein- der Fraktion der FDP: Elektromobilität fuhrliste – Anlage zum Außenwirt- durch Änderung von immissionsschutz- schaftsgesetz – und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern (Drucksachen 16/12195, 16/12357 Nr. 2.1, 16/12196, 16/12357 Nr. 2.2, 16/12819) . . 24363 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef Fell, k) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. , weiterer Abgeordne- Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE entwicklung zu der Unterrichtung durch GRÜNEN: Umfassende Förderstrategie die Bundesregierung: Vorschlag für eine für Elektromobilität mit grünem Strom Verordnung des Europäischen Parla- entwickeln ments und des Rates zur Schaffung ei- nes europäischen Schienennetzes für ei- (Drucksachen 16/12693, 16/10877, 16/12097, nen wettbewerbsfähigen Güterverkehr 16/11915, 16/12977) ...... 24364 A (inkl. 17324/08 ADD 1 bis 17324/08 Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär ADD 6) (ADD 1 bis ADD 5 in Franzö- BMVBS ...... 24364 C sisch) KOM(2008) 852 endg.; Ratsdok. 17324/08 Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 24365 C (Drucksachen 16/11721 Nr. A.27, 16/12842) 24363 B Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) ...... 24366 D l)–o) Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 24368 D Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ schusses: Sammelübersichten 561, 562, DIE GRÜNEN) ...... 24369 A 563 und 564 zu Petitionen (Drucksachen 16/12870, 16/12871, 16/12872, Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) ...... 24370 A 16/12873) ...... 24363 C Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 24371 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Tagesordnungspunkt 22: (Drucksachen 16/9433, 16/9028, 16/10257, 16/12201) ...... 24380 C a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der Diana Golze (DIE LINKE) ...... 24381 A SPD eingebrachten Entwurfs eines Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 24382 A Zweiten Gesetzes zur Änderung des Diana Golze (DIE LINKE) ...... 24383 B Conterganstiftungsgesetzes (Drucksachen 16/12413, 16/13025) . . 24372 C Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 24383 C Ina Lenke (FDP) ...... 24383 D – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Wolfgang Spanier (SPD) ...... 24384 D (Drucksache 16/13026) ...... 24372 C Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ b) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) ...... 24386 D Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Michaela Noll (CDU/CSU) ...... 24387 D und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Ilja Seifert, , Dr. , weiterer Abgeordneter Tagesordnungspunkt 24: und der Fraktion DIE LINKE: Soforthilfe a) Zweite und dritte Beratung des von der zur Teilhabe-Ermöglichung für Conter- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ganbetroffene eines Gesetzes zur Änderung des Einla- (Drucksachen 16/11639, 16/13025) . . . . . 24372 D gensicherungs- und Anlegerentschädi- (CDU/CSU) ...... 24373 A gungsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 16/12255, 16/12599, 16/13024, Ina Lenke (FDP) ...... 24374 B 16/13038) ...... 24389 A Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 24375 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 24377 A nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Frank Schäffler, Hans-Michael Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Goldmann, Dr. Hermann Otto Solms, wei- DIE GRÜNEN) ...... 24378 A terer Abgeordneter und der Fraktion der Antje Blumenthal (CDU/CSU) ...... 24379 A FDP: Reform der Anlegerentschädi- gung in Deutschland (Drucksachen 16/11458, 16/13024, 16/13038) 24389 B Tagesordnungspunkt 19: in Verbindung mit a) Große Anfrage der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, , weiterer Zusatztagesordnungspunkt 5: Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ursachen und Folgen von Ar- Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- mut bei Kindern und Jugendlichen nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- (Drucksachen 16/7582, 16/9810) ...... 24380 C ordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion DIE LINKE: Sozialisierung der Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Verluste verhindern – Sicherungsfonds für und Jugend privaten Finanzsektor schaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 16/8888, 16/10610) ...... 24389 B Miriam Gruß, , Ina in Verbindung mit Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Existenz von Kin- Zusatztagesordnungspunkt 6: dern sichern – Familien stärken Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- Deligöz, Markus Kurth, Brigitte ordneten Karin Binder, Ulrich Maurer, Pothmer, weiterer Abgeordneter und Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und der Fraktion DIE LINKE: Verbesse- NEN: Kein Kind zurücklassen – rung des Verbraucherschutzes beim Er- Programm gegen Kinderarmut auf werb von Kapitalanlagen den Weg bringen (Drucksachen 16/11185, 16/12354) ...... 24389 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 24389 C Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Frank Schäffler (FDP) ...... 24390 C Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 24391 B GRÜNEN: Bessere Unterstützung Dr. (BÜNDNIS 90/ für Alleinerziehende DIE GRÜNEN) ...... 24393 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 V

Tagesordnungspunkt 21: Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 24408 C Antrag der Abgeordneten , Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 24409 C , Priska Hinz (Herborn), weite- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ rer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN) ...... 24410 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Problem der ungenutzten Studienplätze in zulassungs- (SPD) ...... 24411 D beschränkten Studiengängen umgehend lösen – Staatsvertrag jetzt vereinbaren Tagesordnungspunkt 25: (Drucksache 16/12476) ...... 24394 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Krista Sager (BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Kultur und Medien DIE GRÜNEN) ...... 24394 C Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 24395 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Patrick Meinhardt (FDP) ...... 24397 A Christoph Waitz, Dr. , Krista Sager (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Frak- DIE GRÜNEN) ...... 24398 A tion der FDP: Klare Rahmenbedin- gungen für den dualen Rundfunk im (Spandau) (SPD) ...... 24398 C multimedialen Zeitalter Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 24400 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Dr. , Tagesordnungspunkt 18: Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Öf- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- fentlich-rechtlicher Rundfunk im desregierung eingebrachten Entwurfs eines Digitalzeitalter Gesetzes zur Änderung des Zugewinnaus- gleichs- und Vormundschaftsrechts – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 16/10798, 16/13027) ...... 24400 D Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE BMJ ...... 24401 A GRÜNEN: Besondere Rolle des Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 24402 D öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompromiss sicherstellen (CDU/CSU) ...... 24403 A (Drucksachen 16/5959, 16/6773, 16/5424, Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ 16/7343) ...... 24412 C DIE GRÜNEN) ...... 24405 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Helga Lopez (SPD) ...... 24406 A Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Reinke, Dr. Lothar Bisky, Klaus Ernst, Tagesordnungspunkt 23: weiterer Abgeordneter und der Fraktion Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, DIE LINKE: Neuregelung der GEZ-Be- Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael freiungstatbestände – Neuverhandlung Goldmann, weiterer Abgeordneter und der des Rundfunkgebührenstaatsvertrages Fraktion der FDP: Arbeitsplätze im Trans- (Drucksachen 16/5140, 16/7345) ...... 24412 D portgewerbe sichern – Mauterhöhung bis c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ende 2009 aussetzen Ausschusses für Kultur und Medien (Drucksache 16/12731) ...... 24407 B – zu der Unterrichtung durch den Beauf- tragten der Bundesregierung für Kultur Tagesordnungspunkt 26: und Medien: Medien- und Kommu- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- nikationsbericht der Bundesregie- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der rung 2008 Abgeordneten Eduard Lintner, Eckart von – zu dem Entschließungsantrag der Ab- Klaeden, Klaus Brähmig, weiterer Abgeord- geordneten Hans-Joachim Otto neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie (Frankfurt), Christoph Waitz, Gudrun der Abgeordneten Lothar Mark, Gert Kopp, weiterer Abgeordneter und der Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, wei- Fraktion der FDP zu der Unterrichtung terer Abgeordneter und der Fraktion der durch den Beauftragten der Bundesre- SPD: Eine starke Partnerschaft – Europa gierung für Kultur und Medien: Me- und Lateinamerika/Karibik dien- und Kommunikationsbericht (Drucksachen 16/9072, 16/9466) ...... 24407 C der Bundesregierung 2008 Lothar Mark (SPD) ...... 24407 D (Drucksachen 16/11570, 16/12135, 16/12909) 24413 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Tagesordnungspunkt 28: (DIE LINKE) ...... 24427 D Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (BÜNDNIS 90/ desregierung eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN) ...... 24428 A Achten Gesetzes zur Änderung des Bun- desvertriebenengesetzes Tagesordnungspunkt 29: (Drucksachen 16/12593, 16/13015) ...... 24413 D Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) ...... 24414 A Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Ab- Maik Reichel (SPD) ...... 24415 B geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Christian Ahrendt (FDP) ...... 24416 B Krankenversicherung für Selbständige be- zahlbar gestalten (DIE LINKE) ...... 24417 A (Drucksache 16/12734) ...... 24428 C Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 24428 D DIE GRÜNEN) ...... 24417 D Dr. (SPD) ...... 24429 D

Tagesordnungspunkt 27: Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 24431 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 24432 A Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und (BÜNDNIS 90/ Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- DIE GRÜNEN) ...... 24432 D geordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin Volker Beck (Köln), , wei- BMG ...... 24433 B terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Be- drohung der Meeresumwelt durch Un- Tagesordnungspunkt 32: terwasserlärm stoppen a) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksachen 16/5117, 16/7168) ...... 24418 B Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag b) Beschlussempfehlung und Bericht des der Fraktionen der CDU/CSU und der Ausschusses für die Angelegenheiten der SPD: Sicherheit, Stabilität und Demo- Europäischen Union zu dem Antrag der kratie im Südkaukasus fördern Abgeordneten Rainder Steenblock, (Drucksachen 16/12102, 16/12726) . . . . . 24433 D Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia b) Beschlussempfehlung und Bericht des Behm, weiterer Abgeordneter und der Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: der Abgeordneten Rainder Steenblock, Einführung eines Europäischen Tags Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck der Meere (Köln), weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 16/8213, 16/12654) ...... 24418 C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 24418 C Demokratie und Sicherheit im Südkau- (CDU/CSU) ...... 24419 B kasus stärken (Drucksachen 16/12110, 16/12727) . . . . . 24433 D Christoph Pries (SPD) ...... 24420 A (CDU/CSU) ...... 24434 A (SPD) ...... 24420 C Eduard Lintner (CDU/CSU) ...... 24435 A Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 24421 C Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 24435 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 24422 B Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 24437 A Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24423 A Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) ...... 24438 D Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24439 A Tagesordnungspunkt 30: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Tagesordnungspunkt 31: tionen der CDU/CSU und der SPD einge- brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- zur Änderung des Gesetzes zur Regelung schusses für Gesundheit zu dem Antrag der der Rechtsverhältnisse der Helfer der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Bundesanstalt Technisches Hilfswerk Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter (Drucksachen 16/12854, 16/13016) ...... 24424 B und der Fraktion DIE LINKE: Krankenhaus- infektionen vermeiden – Multiresistente (CDU/CSU) ...... 24424 B Problemkeime wirksam bekämpfen Gerold Reichenbach (SPD) ...... 24425 C (Drucksachen 16/11660, 16/12925) ...... 24440 A Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 24427 A Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 24440 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 VII

Tagesordnungspunkt 33: ten eingebrachten Entwurfs eines … Geset- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- zes zur Änderung des Strafgesetzbuches – desregierung eingebrachten Entwurfs eines Strafbarkeit der Genitalverstümmelung Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur (Drucksache 16/12910) ...... 24450 D Errichtung einer „Stiftung Denkmal für Ute Granold (CDU/CSU) ...... 24450 D die ermordeten Juden Europas“ (SPD) ...... 24452 B (Drucksachen 16/12230, 16/12976) ...... 24441 B Sibylle Laurischk (FDP) ...... 24453 A Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 24441 C Dr. (DIE LINKE) ...... 24454 A Dr. h. c. (SPD) ...... 24443 A Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . 24443 D DIE GRÜNEN) ...... 24454 D Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 24444 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Nächste Sitzung ...... 24455 D DIE GRÜNEN) ...... 24444 D Berichtigung ...... 24455 B/D Tagesordnungspunkt 34: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Anlage 1 desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sonderver- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 24457 A mögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpa- Anlage 2 piere“ (Schlusszahlungsfinanzierungsge- setz – SchlussFinG) Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede (Drucksachen 16/12233, 16/12905) ...... 24445 D zum Entwurf eines Gesetzes zur Abschaf- fung des Progressionsvorbehalts für Kurzar- beitergeld (221. Sitzung, Tagesordnungs- Tagesordnungspunkt 35: punkt 9) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ desregierung eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN) ...... 24457 D Ersten Gesetzes zur Änderung des Geset- zes über die Errichtung einer Bundesan- stalt für den Digitalfunk der Behörden Anlage 3 und Organisationen mit Sicherheitsaufga- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: ben (BDBOS-Gesetz) (Drucksachen 16/12594, 16/12914) ...... 24446 A – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschä- (CDU/CSU) ...... 24446 B digungsgesetzes und anderer Gesetze Gerold Reichenbach (SPD) ...... 24447 A – Beschlussempfehlung und Bericht: Reform Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 24448 C der Anlegerentschädigung in Deutschland (DIE LINKE) ...... 24449 B – Beschlussempfehlung und Bericht: Sozia- lisierung der Verluste verhindern – Siche- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ rungsfonds für privaten Finanzsektor DIE GRÜNEN) ...... 24449 D schaffen – Beschlussempfehlung und Bericht: Ver- Tagesordnungspunkt 36: besserung des Verbraucherschutzes beim Erste Beratung des von der Bundesregierung Erwerb von Kapitalanlagen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Tagesordnungspunkt 24 a und b, Zusatzta- Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei gesordnungspunkte 5 und 6) Schuldverschreibungen aus Gesamtemis- sionen und zur verbesserten Durchsetz- Dr. (DIE LINKE) ...... 24458 C barkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung Anlage 4 (Drucksache 16/12814) ...... 24450 C Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Tagesordnungspunkt 37: des Zugewinnausgleichs- und Vormund- Erste Beratung des von den Abgeordneten schaftsrechts (Tagesordnungspunkt 18) Sibylle Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Dr. und weiteren Abgeordne- (FDP) ...... 24459 B VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Anlage 5 Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Arbeitsplätze im Transportge- der Beschlussempfehlung und des Berichts: werbe sichern – Mauterhöhung bis Ende Krankenhausinfektionen vermeiden – Multi- 2009 aussetzen (Tagesordnungspunkt 23) resistente Problemkeime wirksam bekämp- fen (Tagesordnungspunkt 31) Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU) ...... 24460 D Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... (SPD) ...... 24462 A 24475 B Jan Mücke (FDP) ...... 24464 A Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 24476 C Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 24464 C Dr. Konrad Schily (FDP) ...... 24477 B Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24465 B DIE GRÜNEN) ...... 24477 C , Parl. Staatssekretär BMG ...... 24478 B Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Anlage 9 Eine starke Partnerschaft – Europa und Latein- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung amerika/Karibik (Tagesordnungspunkt 26) des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung (FDP) ...... 24465 D eines Sondervermögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ (Schlusszahlungsfinan- Anlage 7 zierungsgesetz – SchlussFinG) (Tagesord- nungspunkt 34) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) ...... 24478 D Beschlussempfehlung und Bericht: (Hildesheim) – Antrag: Klare Rahmenbedingungen für (SPD) ...... 24480 B den dualen Rundfunk im multimedialen Zeitalter (FDP) ...... 24480 D – Antrag: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk (DIE LINKE) ...... 24482 B im Digitalzeitalter (BÜNDNIS 90/ – Antrag: Besondere Rolle des öffentlich- DIE GRÜNEN) ...... 24482 C rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompro- miss sicherstellen Anlage 10 Beschlussempfehlung und Bericht: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Antrag: Neuregelung der GEZ-Befrei- des Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- ungstatbestände – Neuverhandlung des lung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver- Rundfunkgebührenstaatsvertrages schreibungen aus Gesamtemissionen und zur Beschlussempfehlung und Bericht: verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprü- chen von Anlegern aus Falschberatung (Ta- – Unterrichtung: Medien- und Kommunika- gesordnungspunkt 36) tionsbericht der Bundesregierung 2008 (CDU/CSU) ...... 24483 A – Entschließungsantrag: Medien- und Kom- munikationsbericht der Bundesregierung (SPD) ...... 24484 A 2008 Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 24485 A (Tagesordnungspunkt 25 a bis c) Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 24486 A (CDU/CSU) ...... 24467 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Marco Wanderwitz (CDU/CSU) ...... 24468 D DIE GRÜNEN) ...... 24486 D (SPD) ...... 24469 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . 24471 D BMJ ...... 24488 C Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) ...... 24473 A Anlage 11 (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24473 D Amtliche Mitteilungen ...... 24489 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24311

(A) (C) Redetext

222. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Die Sitzung ist eröffnet. Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachteile für den Forschungsstandort Es gibt für die heutige Plenarsitzung eine interfraktio- Deutschland aufheben – Für ein innovations- nelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um freundliches Steuersystem die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er- weitern: – Drucksache 16/12474 – Überweisungsvorschlag: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Finanzausschuss (f) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Kompetenzstreit der Bundesregierung bei der Technikfolgenabschätzung (B) Sicherung des Schiffsverkehrs vor Somalia Haushaltsausschuss (D) (siehe 221. Sitzung) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas Brüderle, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Müns- Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ter), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der der CDU/CSU FDP sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und Anti-Rezessionsprogramm auflegen der Fraktion der SPD – Drucksache 16/10867 – Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis- Überweisungsvorschlag: ters in Flensburg einfacher und verständlicher Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) gestalten Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 16/12993 – ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Überweisungsvorschlag: fahren Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Ergänzung zu TOP 38) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann, Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Frak- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Energieforschung neu ausrichten – Deutsch- Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeord- land, Energieland der Zukunft neter und der Fraktion der SPD – Drucksache 16/10329 – Die Situation von Frauenhäusern verbessern Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/12992 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Überweisungsvorschlag: Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Rechtsausschuss Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Arbeit und Soziales 24312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- (C) Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina weit erforderlich, abgewichen werden. Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Tagesordnung 17 wird abgesetzt. Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“ Nach den Ohne-Debatte-Punkten sollen jetzt die Ta- unterstützen gesordnungspunkte 20 und 22 aufgerufen werden. Der Tagesordnungspunkt 24 wird nach dem Tagesordnungs- – Drucksache 16/12991 – punkt 19 aufgerufen und der Tagesordnungspunkt 18 Überweisungsvorschlag: nach dem Tagesordnungspunkt 21. Außerdem rücken Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) die Tagesordnungspunkte 26, 28, 30 und 32 jeweils um Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einen Platz vor. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus- Ausschuss für Tourismus schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Ausschuss für Kultur und Medien aufmerksam: ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- Der in der 205. Sitzung des Deutschen Bundestages sprache überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- (Ergänzung zu TOP 39) lich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Aus- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvor- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- ständen NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/10120 – Landrechte stärken – „land grabbing“ in Ent- überwiesen: wicklungsländern verhindern Rechtsausschuss (f) Innenausschuss – Drucksachen 16/12735, 16/13023 – Sportausschuss Finanzausschuss Berichterstattung: Ausschuss für Arbeit und Soziales Abgeordnete Dr. (B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (D) Dr. Ausschuss für Kultur und Medien Dr. Karl Addicks Dr. Der in der 217. Sitzung des Deutschen Bundestages Thilo Hoppe überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- lich dem Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) zur Mitbe- ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ratung und gemäß § 96 GO überwiesen werden. richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeord- gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur neter und der Fraktion DIE LINKE Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz- buch und anderer Gesetze Sozialisierung der Verluste verhindern – Si- cherungsfonds für privaten Finanzsektor – Drucksache 16/12596 – schaffen überwiesen: – Drucksachen 16/8888, 16/10610 – Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Berichterstattung: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger Ausschuss für Gesundheit Dr. Axel Troost Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: geordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbesserung des Verbraucherschutzes beim Vereinbarte Debatte Erwerb von Kapitalanlagen 60 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik – Drucksachen 16/11185, 16/12354 – Deutschland Berichterstattung: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Abgeordnete die Aussprache drei Stunden vorgesehen. – Ich höre kei- Dr. Barbara Höll nen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24313

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- ben wurde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (C) nächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSU- Das war die Erfahrung aus dieser furchtbaren Zeit. Fraktion. Aber zur gleichen Zeit war im Parlamentarischen Rat (Beifall bei der CDU/CSU) ebenso präsent, dass die Verfassung die Menschenwürde nicht schafft, nicht neu erfindet, sondern dass die Men- schenwürde vor der Verfassung, vor jedem menschli- Volker Kauder (CDU/CSU): chen Recht steht. Deshalb wurde in der Präambel des Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Grundgesetzes folgerichtig formuliert, in Verantwor- Herren! Ein neues geschichtliches Standardwerk be- tung vor Gott werde das Folgende als Verfassung nieder- schreibt in diesen Tagen 60 Jahre Bundesrepublik gelegt. Deutschland als eine geglückte Demokratie. Wer hätte nach unserer Geschichte, nach der Schoah, nach der Zur gleichen Zeit kam eine weitere Erfahrung hinzu, furchtbaren, verbrecherischen Diktatur des Dritten Rei- die wir uns auch in unserer politischen Arbeit immer ches, nach dem von Deutschland verursachten Zweiten wieder vor Augen führen sollten – bei allem, was nun Weltkrieg, der ganz Europa in Schutt und Asche gelegt geregelt und gemacht wird –, nämlich die Erfahrung hat – mit Millionen Toten –, jemals daran gedacht, dass – wie Dietrich Bonhoeffer einmal schön formuliert hat –, wir wieder geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft hier auf dieser Welt würden nur die vorletzten, nicht die und des europäischen Integrationsprozesses werden wür- letzten Dinge geregelt. Aus dieser Erkenntnis heraus den? konnte auch die Kraft zur Beschränkung formuliert wer- den. Und die Deutschen selbst? Nach Jahrzehnten von Selbstzweifeln – sagt uns die Meinungsforschung – bli- Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben die- cken sie zufrieden auf die vergangenen 60 Jahre. Ja, sie sem zentralen Wert, neben dieser zentralen Aussage zur sind stolz auf das Erreichte. Sie nehmen für sich zu Menschenwürde, sind die ersten 19 bzw. 20 Artikel des Recht in Anspruch, dass sie, die Bürgerinnen und Bür- Grundgesetzes jedoch von einem weiteren zentralen ger, den entscheidenden Anteil daran hatten. Und sie for- Wert geprägt, der ebenfalls aus der Erfahrung unserer mulieren völlig unverkrampft: Wir Deutsche sind stolz Geschichte begründet ist, dem der Freiheit. In wesentli- auf unser Vaterland. chen Artikeln des Grundgesetzes wurde die Freiheit des Einzelnen formuliert – die Religionsfreiheit, die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit –, und resultie- bei Abgeordneten der SPD) rend aus Menschenwürde und Freiheit wurde dann in Art. 2 der Schutz des Lebens formuliert. Dies alles ergibt (B) Aber ein abschließendes Urteil über eine glückliche (D) Entwicklung der vergangenen 60 Jahre, der ersten ein Wertesystem, das von einem Menschenbild des mün- 60 Jahre der Bundesrepublik Deutschland, war erst mög- digen und selbstständigen Bürgers ausgeht. lich mit der deutschen Einheit. Mit der deutschen Ein- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der heit wurde die Teilung unseres Vaterlandes überwunden, FDP sowie der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜND- und der Prozess der europäischen Einigung machte ei- NIS 90/DIE GRÜNEN]) nen gewaltigen Schritt voran. Für uns waren Einheit in Freiheit und gemeinsames Europa immer zwei Seiten ein Menschenwürde und Schutz des Lebens gehören un- und derselben Medaille. Dass dies heute erreicht ist, trennbar zusammen. Deswegen bin ich froh, dass wir macht uns froh und glücklich. gestern hier im Deutschen Bundestag eine bemerkens- werte Entscheidung zum Schutz des Lebens bei den (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Spätabtreibungen getroffen haben. FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Einen beachtlichen Anteil an dieser erfolgreichen neten der SPD und der FDP) Entwicklung der ersten 60 Jahre hatte unser Grundge- setz. Die 65 Männer und Frauen des Parlamentarischen Die Freiheit des Einzelnen ist immer begrenzt – dies Rates unter Führung von , 32 davon geht klar aus dem System des Grundgesetzes hervor; so aus der Union, hatten alle ihre eigene persönliche Erfah- steht es nämlich in einigen Artikeln – durch die Freiheit rung aus der Weimarer Republik und mit der Diktatur des anderen, durch die Würde des anderen. Insofern zielt des Dritten Reiches. Sie haben etwas erlebt, was wir der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes auf verantwortete uns gar nicht vorstellen können: Sie haben erlebt, wie Freiheit. Er verlangt immer wieder aufs Neue, die Frei- sich in dieser Diktatur Menschen über Menschen erho- heit zu verteidigen sowie sich zu wehren und da zu wi- ben haben. Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur dersprechen, wo Freiheit in Gefahr ist. Aber es ist gerade menschliches Leben zu unwertem Leben verurteilt und nicht durch den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes ge- ermordet wurde. Ja, zusammenfassend kann man sagen: deckt, Polizisten mit Steinen zu bewerfen und Autos Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur die Menschen- anzuzünden. Das entspricht nicht dem Begriff verant- würde mit Füßen getreten wurde. wortungsbewusster Freiheit, wie er im Grundgesetz for- muliert ist. Deshalb war es aus dieser Erfahrung heraus nur kon- sequent, dass vom Parlamentarischen Rat als Eingangs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie statement, als Leitsatz für die neue Verfassung geschrie- bei Abgeordneten der SPD) 24314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Volker Kauder (A) Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren (Beifall der Abg. Dr. Herta Däubler-Gmelin (C) sich aber auch der Gefährdungen der Verfassung be- [SPD]) wusst. Auch die Weimarer Republik hat Bürgerrechte, einer konkreten Ausformulierung des Rechtsanspruchs hat Freiheiten formuliert, aber es konnte durch die Ver- des Bürgers gegenüber Eingriffsmöglichkeiten des Staa- fassung und den Verfassungsvollzug nicht verhindert tes. Ich wünsche mir, dass diese hohe Akzeptanz des werden, dass diese Freiheit von den Feinden der Verfas- Bundesverfassungsgerichts, die es sich durch seine sung und von den Feinden der Freiheit missbraucht Rechtsprechung erworben hat, auch in Zukunft erhalten wurde. Deshalb wurde im Grundgesetz ein ausgefeiltes, bleibt. Sie bleibt aber nur durch die Rechtsprechung und wesentlich robusteres System gegenseitiger Kontrollen weniger durch viele Interviews und Einmischung in ta- und Machtbegrenzungen formuliert. gesaktuelle Politik erhalten. Entscheidend aber ist die Bestimmung im Grundge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- setz, dass Parteien zwar an der Willensbildung in unserer neten der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Demokratie mitwirken, dass aber Parteien verboten wer- CSU]: Etwas genauer bitte!) den können, wenn sie unsere demokratische Rechtsord- nung verbiegen oder abschaffen wollen. All das wird un- Das Grundgesetz appelliert mit seinen Grundrechten ter dem Begriff der wehrhaften Demokratie und vor allem mit seinen Freiheitsrechten aber auch an zusammengefasst. Unsere Demokratie ist nicht wehrlos den Gesetzgeber, die Freiheit des Einzelnen zu achten gegen ihre Feinde, sondern ist eine wehrhafte Demokra- und zu schützen. Deshalb müssen wir uns, die wir Ge- tie. Ich sage deshalb auch ganz klar: Für mich ist die setze machen, immer dessen bewusst sein, dass eine Ab- NPD eine verfassungswidrige Partei, die unser System wägung zwischen staatlicher Regulierung, staatlicher überwinden bzw. abschaffen will. Gängelung und Bewahrung der Freiheitsrechte erforder- lich ist. Nirgendwo wird dieses Problem so eklatant und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP deutlich wie bei einer zentralen Aufgabe des demokrati- und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des schen Rechtsstaats, nämlich Sicherheit für seine Bürge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rinnen und Bürger zu schaffen. Aber Die Bundesrepublik Deutschland ist als Sozialstaat, (Zurufe von der LINKEN: Aber?) als Rechtsstaat ausgestaltet. Die sozialen Rechte sind von elementarer, existenzieller Bedeutung. Aber diese die oberste Tugend ist die Klugheit. Das Bundesverfas- ganzen Rechte sind dann nicht lebbar, wenn der Staat sungsgericht hat uns klar vorgeschrieben, wann und un- nicht die Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger ter welchen Voraussetzungen ein Verbotsantrag zum Er- (B) gewährleistet. Da bringen neue Herausforderungen neue (D) folg führen kann. Ich kann nur sagen: Ich fordere die Fragen. Nicht umsonst machen wir es uns hier im Deut- Landesregierungen und die Bundesregierung auf, inten- schen Bundestag so schwer, darüber zu entscheiden, wo siv zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. der Staat intensiv hinschauen und hinhören muss, um Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, dann sind wir so- Unheil und Terrorismus abzuwenden, und wo er freiheit- fort dafür, einen Verbotsantrag zu stellen und zum Erfolg liche Bürgerrechte nicht verletzen darf. Dies ist nicht zu führen. Aber ein zweites Mal einen Verbotsantrag zu pauschal in einer einzigen Sentenz zu klären, sondern je- stellen und wiederum keinen Erfolg zu haben, würde die des Mal, in jedem Einzelfall muss im Lichte dieser Ab- wehrhafte Demokratie nicht stärken. Die Voraussetzun- wägung darum gerungen werden. gen müssen erfüllt sein, um zum Erfolg zu kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sichern, geschieht nicht mehr ausschließlich in unserem neten der FDP) Land, in Deutschland. Die Freiheit ist von Außen gefähr- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe det, nicht mehr im Sinne des Kalten Krieges, als wir in davon gesprochen, dass die Verfassung das robuste Sys- erster Linie Landesverteidigung ausgeübt haben, son- tem einer repräsentativen Demokratie geschaffen hat, dern, wie der damalige Verteidigungsminister Peter um Macht zu kontrollieren und Macht auszubalancieren. Struck gesagt hat, auch am Hindukusch. Deshalb ist im Ein Beweis dafür ist auch die Schaffung des Bundes- Grundgesetz folgerichtig – unter Annahme dieser neuen verfassungsgerichts. Nicht die Legislative, nicht die Herausforderung – formuliert, unter welchen Bedingun- Exekutive entscheiden abschließend über das, was ver- gen die Bundeswehr eingesetzt werden kann, um Frei- fassungsgemäß ist oder nicht, sondern das Bundesver- heit für unser Land und die Menschen dieses Landes zu fassungsgericht. Die hohe Akzeptanz der Verfassung erreichen. Auch da ist wieder deutlich geworden, dass hängt auch damit zusammen, dass unser Grundgesetz der Verfassungsgeber der Neuzeit ganz konsequent das Bürgerrechte und Abwehrrechte gegenüber dem Staat, fortgeschrieben hat, was bei den Gründungsvätern und aber auch Teilhaberechte gegenüber dem Staat als di- Gründungsmüttern angelegt war, nämlich den Vorbehalt rekte Rechtsansprüche formuliert hat, die letztlich vor des Parlaments. Wir haben im Grundgesetz einen star- dem Bundesverfassungsgericht einklagbar sind. ken Parlamentarismus angelegt, stärker als in vielen an- deren Ländern Europas. Das mag bei der Umsetzung Die hohe Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts manchmal etwas hinderlich und beschwerlich sein. Aber mit seinen Entscheidungen in den letzten 60 Jahren be- es zeigt eine ausbalancierte Kontrolle und Begrenzung ruht ganz maßgeblich auf seiner beispielhaften Recht- von Macht. Darüber hinaus macht es deutlich, was das sprechung zu unseren Grundrechten, Grundgesetz in dieser repräsentativen Demokratie ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24315

Volker Kauder (A) langt, nämlich ein hohes Maß an Transparenz. Was hier – Ich hoffe, Sie sind auch heute nicht die Einzigen. – (C) im Deutschen Bundestag beraten, diskutiert und ent- Vielmehr wurde auch in unserer Union um eine Antwort schieden wird, ist aufgrund der Medien, die über unsere auf die Frage gerungen, ob die freiheitlich-soziale Arbeit berichten, transparent. Marktwirtschaft das richtige Modell ist oder nicht. Aber mit hatte die Union einen Vertreter, der Das Grundgesetz hat aber auch deshalb eine so er- auf den richtigen Kurs geführt hat. folgreiche Geschichte, weil es puristisch ist. Wer das Grundgesetz liest, ist elektrisiert von den wie in Stein Bei allen aktuellen Problemen ist eines deutlich: Die gemeißelten Sätzen: „Männer und Frauen sind gleichbe- soziale Marktwirtschaft hat unserem Land zu Wohlstand rechtigt.“ „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ verholfen, und sie wird uns auch wieder aus dieser Krise „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleis- herausführen. tet.“ – Diese klare Sprache ist für jeden nachvollziehbar und verständlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Nur in sehr wenigen Fällen hat das Grundgesetz un- bestimmte Zielaufträge formuliert. Das Grundgesetz hat Im Grundgesetz wurde eine dritte elementare Festle- sich ganz bewusst aus tagesaktuellen Zielbestimmungen gung getroffen. Es wurde in einer Zeit erarbeitet, als herausgehalten. In der Verfassungsgeschichte wurde Deutschland geteilt war und von der Einheit noch mei- häufig die Frage gestellt: Was hätte es in der Zeit des lenweit entfernt schien. Dieses Grundgesetz hat sich an schwierigen Wiederaufbaus, der Trümmerfrauen in West alle Deutschen gerichtet, und es hat vor allem die deut- und Ost, bedeutet, wenn wir Staatsziele über das hinaus, sche Politik mit dem Auftrag versehen, die Wiederver- was 1949 im Grundgesetz festgeschrieben wurde, be- einigung immer als Ziel zu haben. schlossen hätten? Indem das Grundgesetz dies nicht ge- Wir haben das Ziel der Wiedervereinigung nie aufge- tan hat, hat es einen Beitrag geleistet zu dem, was der geben. Wir haben immer daran festgehalten, dass es nur Verfassungsrechtler Konrad Hesse einmal formuliert hat: eine deutsche Staatsbürgerschaft gibt – nicht eine In einer Demokratie, die sich auch durch Meinungsstreit westdeutsche und eine ostdeutsche. Dies war unsere auszeichnet und in der der Wettbewerb um die besseren Umsetzung des Wiedervereinigungsgebots. Weil wir an Ideen zum Parlamentarismus gehört, muss eine Verfas- der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten ha- sung, muss ein Grundgesetz Voraussetzungen für Einheit ben – dies haben alle Kanzler der Union getan –, konn- schaffen. Dies hat das Grundgesetz mit seinen puristi- ten die Menschen aus der Botschaft in Prag und aus Un- schen Formulierungen getan. Deswegen sind wir sicher garn als Deutsche ohne Probleme nach Deutschland gut beraten, wenn wir diesen Purismus im Grundgesetz einreisen. auch für die Zukunft bewahren. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wurden von manchen als Gestrige bezeichnet, weil wir aufgrund unserer Überzeugung mit Hartnäckig- Das Grundgesetz hat, ganz im Kontext der parlamen- keit an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehal- tarischen Demokratie, einen offenen politischen Prozess, ten haben. Aber Wiedervereinigungsgebot und das Fest- einen Wettbewerb um die besseren Ideen ermöglicht, halten an der deutschen Staatsbürgerschaft hätten nicht den es mit seinen Wertentscheidungen aber prägt. zum Ziel geführt, wenn nicht die Menschen in Ost- Ein Beispiel, das gerade in der aktuellen Diskussion deutschland selber diese Entwicklung erfolgreich herbei- von großer Bedeutung ist: Das Grundgesetz formuliert geführt hätten. keine Wirtschaftsverfassung, keine Wirtschaftsordnung. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Es gibt aber hierzu einige wesentliche, existenzielle FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Aussagen in diesem Grundgesetz. Da ist zum einen die SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Oskar Aussage des Grundgesetzes, dass die Bundesrepublik Lafontaine [DIE LINKE]) ein sozialer Staat ist. Daraus entsteht die Verpflichtung, für sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft zu sorgen Das Grundgesetz mit seinen klaren Aussagen und wir und für diejenigen da zu sein, die es schwerer haben und, mit unserer Position mögen die Menschen in Ost- zumindest zeitweise, ihr Leben nicht aus eigener Kraft deutschland ermutigt haben. Aber der Mut, auf die gestalten können. Zu den existenziellen Aussagen gehö- Straße zu gehen und ein persönliches Risiko einzugehen ren zum anderen aber auch jene zu Erbrecht, Eigentum – 1989 zum zweiten Mal nach dem 17. Juni 1953 –, nö- und Berufsfreiheit. Aus diesen Eckpfeilern ergibt sich tigt mir unglaublichen Respekt und Dankbarkeit ab. für uns heute fast folgerichtig das Modell der sozialen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Marktwirtschaft, das in dieser Verfassung zwar nicht FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) festgeschrieben, aber doch angelegt ist. Ich komme noch einmal auf meine Eingangssätze zu- Es gab damals einen heftigen Streit um die soziale rück. Ausschließlich wegen des Ereignisses, das sich in Marktwirtschaft, und es waren nicht nur Sozialdemokra- diesem Jahr zum neunzehnten Mal jährt, können wir von ten, die an mehr staatliche Ordnung dachten. 60 Jahren geglückter Demokratie und glücklicher ge- (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Gott sei schichtlicher Entwicklung in unserem Land sprechen. Dank!) Gerade deshalb haben die Menschen in den neuen Bun- 24316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Volker Kauder (A) desländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR einen Weil das so ist, gelten die Wertentscheidungen des (C) so unschätzbar großen Anteil an unserer gemeinsamen Grundgesetzes für jeden, der in diesem Land leben will. Erfolgsgeschichte. Wenn wir wollen, dass die Wertentscheidungen des Grundgesetzes auch in Zukunft Bestand haben und – um (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der noch einmal meinen Verfassungslehrer Konrad Hesse zu FDP) zitieren – zur Bildung von Einheit in unserer Gesell- Ich höre heute wie damals die Rufe auf der Straße: schaft beitragen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass es „Wir sind das Volk!“ Mit diesem Ruf „Wir sind das in unserem Land Parallelgesellschaften und grundwerte- Volk!“ haben die Menschen in der ehemaligen DDR das freie Zonen gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ausformuliert und gesagt, was in unserer Verfassung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie steht, nämlich dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Sehr bald – das muss man sich heute immer wieder vor NISSES 90/DIE GRÜNEN) Augen führen, wenn man über bestimmte Entwicklun- gen spricht – wurde aus dem Ruf „Wir sind das Volk!“ Diesem Verfassungsgebot ist natürlich auch die Inte- der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Mancher wollte das da- grationspolitik unterworfen. Ich bin dafür dankbar, dass mals nicht hören. Mancher wollte die deutsche Einheit sich Menschen, die in diesem Land leben und hier so nicht verwirklicht sehen. Mancher von denen, die hier zusätzlich zu ihrer alten Heimat im Herzen eine neue sitzen, hatte keine Emotionen und kein Herz für das, was Heimat gefunden haben, nach genauer Prüfung bereit er- die Menschen damals in ihren Rufen ausgedrückt haben. klären, als Abschluss eines gelungenen Integrationspro- zesses die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Frau Bundeskanzlerin, für den Einbürgerungsakt, der bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. in dieser Woche stattgefunden hat und durch den die Dr. [DIE LINKE]) Würde dessen, was hier geschieht, in besonderer Weise Diejenigen, die ich meine, sollten jetzt lieber ruhig sein, betont wurde, bin ich dankbar. um mich nicht noch mehr herauszufordern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – neten der FDP) Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie bitte? Heute sitzen einige Bürgerinnen und Bürger, die in Nein!) den vergangenen Tagen Deutsche geworden sind, auf der Umso dankbarer sind wir dafür, dass damals die rich- Tribüne. Ich sage Ihnen: Sie alle, jede und jeder von Ih- tigen Weichen gestellt und die richtigen Entscheidungen nen, sind herzlich willkommen. getroffen wurden. Umso dankbarer sind wir für das, was (B) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) in dieser Zeit geleistet hat. Er ist deshalb Ja, ja! Das sagen ausgerechnet Sie!) zu Recht der Kanzler der Einheit. Wir freuen uns, dass Sie in unserem Land leben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Grund- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- gesetz, die Verfassung unseres Landes, ist, so schreibt NISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. das Bundesverfassungsgericht in zwei denkwürdigen Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) Entscheidungen, weltanschaulich neutral, aber es ist nicht werteneutral. Deshalb ist unsere Verfassung gera- Meine sehr verehrten Damen und Herren, 60 Jahre dezu dazu prädestiniert, in unserem Land Integration zu Bundesrepublik Deutschland, 60 Jahre einer Erfolgsge- ermöglichen. Sie ist weltanschaulich neutral und kultu- schichte, 60 Jahre, auf die die Deutschen zum ersten Mal rell offen, aber nicht werteneutral. in ihrer Geschichte mit Recht stolz sind und mit denen sie zufrieden sind. Wir alle haben in diesen 60 Jahren Mit dieser Aussage stellte das Bundesverfassungsge- miteinander etwas erreicht: eine moderne, geachtete De- richt fest, dass das Grundgesetz für unsere Gesellschaft mokratie, Voraussetzungen für den Wohlstand, auch jetzt einen Wertekanon festlegt, an den sich jeder zu halten in schwieriger Zeit. Wir alle haben dies erreicht, die Bür- hat. Das wird auch an einer weiteren bemerkenswerten gerinnen und Bürger mit ihrem Einsatz, der Deutsche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich. Bundestag und die Regierungen mit ihrer Arbeit. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich schon sehr früh formuliert: Die Grundrechte als zentrale Wertent- Es ist nicht immer einfach in einer repräsentativen scheidungen gelten nicht nur im Verhältnis des Bürgers Demokratie. Wir haben da nicht die Möglichkeit, uns zum Staat, sondern sie entfalten auch eine Drittwirkung vor Entscheidungen zu drücken und zu sagen, das soll in unser gesamtes gesellschaftliches Leben, vor allem eben mal das Volk entscheiden. Damals hat man sich mit natürlich dort, wo sich Starke gegen Schwächere durch- klarer Mehrheit aus SPD-Vertretern, aus CDU/CSU und setzen könnten. Die Drittwirkungsfunktion der Grund- FDP für diese repräsentative Demokratie entschieden, rechte hat selbst in das liberale Bürgerliche Gesetzbuch weil der Impetus des Grundgesetzes heißt, Einheit zu Eingang gefunden. Es ist für uns selbstverständlich ge- schaffen. Auch dies ist eine Besonderheit unseres Sys- worden, dass Grundrechte nicht nur im staatlichen Be- tems: immer darum zu ringen und sich zu bemühen, in reich eine Rolle spielen, sondern dass diese Wertent- wichtigen, zentralen Fragen unserer Gesellschaft – wie scheidungen auch unser gesamtes gesellschaftliches und gestern im Deutschen Bundestag beim Lebensschutz – privates Leben prägen. nicht bloß mit Ja oder Nein zu stimmen, sondern Kom- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24317

Volker Kauder (A) promisse zu finden. Diese Kompromisse zu finden, ist (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der (C) Wesenselement der repräsentativen Demokratie, die wir SPD sowie bei Abgeordneten des BÜND- uns deshalb auch so erhalten sollten, weil sie erfolgreich NISSES 90/DIE GRÜNEN) war. Das war eine gute Lösung. Das Grundgesetz ist die beste (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Visitenkarte nach innen und nach außen. Es gibt keine bessere. Diese 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Demokratie sind für uns kein Anlass, einfach zufrieden zurückzubli- Das Grundgesetz gibt uns die nötige – der Kollege cken und uns auszuruhen, sondern sie sind für uns An- Kauder hat das gesagt – kraftspendende Identität, sporn weiterzumachen. Aber lassen Sie es mich etwas wenn wir sie annehmen wollen. Es erwartet den Bürger leicht pathetisch formulieren: Sie sind für uns auch und nicht den bequemen Untertan. Im Grundgesetz sind Kraftquelle aus den gemachten Erfahrungen, dass wir die unveräußerlichen Rechte niedergelegt, die wir seit mit den Grundlagen, die das Grundgesetz geschaffen Immanuel Kant unter dem Begriff der Menschenwürde hat, auch schwierige Aufgaben mit Mut und Zuversicht kennen. Es hat eine freiheitliche Gesellschaft grundge- bewältigen können. Genau dies ist jetzt in der konkreten legt, die Joachim Fest als eine Gesellschaft beschreibt, Situation von uns auch gefordert, liebe Kolleginnen und die sich auf Voraussetzungen gründen muss, die manch- Kollegen. mal gegen die menschliche Natur sind, wenn sie frei bleiben will. Das Grundgesetz – das gilt für jede Verfas- Wir haben in 60 Jahren etwas errungen, was wir uns sung – muss auch Mechanismen enthalten, die eine Ge- für die Zukunft bewahren müssen und sollten: Einigkeit sellschaft zügeln. Dass eine Mehrheit nicht alles darf und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. und alles kann, gehört zu den Voraussetzungen, die im (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- Grundgesetz normiert sind. fall bei der SPD und der FDP) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN Präsident Dr. Norbert Lammert: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Wolfgang Deshalb weiß das Grundgesetz bei allen Freiheits- Gerhardt für die FDP-Fraktion. rechten auch, dass mit Freiheit sorgfältig umgegangen (Beifall bei der FDP) werden muss. Sie kann nicht zügellos genutzt werden, und das muss eine Gesellschaft begreifen. In diesen Punkten liegt, so schreibt der leider schon verstorbene (B) Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Joachim Fest, das eigentümliche Pathos einer freiheitli- (D) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen chen Ordnung. und Kollegen! Auf die Frage nach der entscheidenden Bedeutung des Grundgesetzes hat Theodor Heuss ein- Das Grundgesetz hat ein Gespür dafür, dass Demo- mal geantwortet, dass sie für ihn in der Versöhnung der kratie zerbrechlich ist und dass Toleranz nicht mit deutschen politischen Eliten mit den parlamentarischen Gleichgültigkeit verwechselt werden darf. Systemen des Westens liege. Ganz ähnlich hat sich im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Übrigen nach meiner Erinnerung auch Carlo Schmid der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- eingelassen – so, als wäre das ein Schlusskapitel in dem SES 90/DIE GRÜNEN) Buch des großen Historikers Heinrich August Winkler „Der lange Weg nach Westen“. Es sichert nach den Katastrophen in unserer Geschichte eine Art zivilisatorischer Bestände und sagt uns: Ihr Theodor Heuss hat das aus tiefer Erfahrung aus der dürft sie nicht dem Amüsierbetrieb freigeben. Weimarer Republik und ihrem Scheitern gesagt, in der eine Gesellschaft weder willens noch in der Lage war, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eine Reichsverfassung zu verteidigen, und schließlich der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- diesem totalitären Angebot unterlag, das Ralf NISSES 90/DIE GRÜNEN) Dahrendorf so prägnant beschrieben hat: auf der Seite der Nazis mit Bindung und Führung und auf der Seite Das ist eine wichtige Aufforderung, die sich an alle poli- der Stalinisten – so drückte er sich aus – mit Bindung tischen Gruppierungen richtet. und Hoffnung. Die Gesellschaft hat das totalitäre Poten- Das Grundgesetz hat sich ohne jeden Zweifel be- zial überhaupt nicht erkannt und ist am Ende trotz einer währt. Es hat sich durchgesetzt, und zwar auch – auch freiheitlichen Verfassung gescheitert. das sage ich an dieser Stelle – durch die kluge und über- Das, was mit dem Grundgesetz nach dem einmaligen zeugende Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- deutschen Abweichen vom Pfad jeglicher Zivilisation richts, das der Parlamentarische Rat zu Recht an die versucht worden ist, war im Kern der Versuch einer not- Spitze der dritten Gewalt gesetzt hat. wendigen neuen Selbstvergewisserung, die man doku- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ mentieren musste und mit der man erneut um Anerken- CSU und der SPD) nung in der Welt nachgesucht hat, dieses Mal endlich zivil und human und nicht totalitär und imperial. Das ist Wir sollten immer sehen, dass neben dem Grundgesetz im Kern die Bedeutung dieses Werkes. die dritte Gewalt in Gestalt des Bundesverfassungsge- 24318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) richts in der politischen Geschichte unseres Landes bleibt Unrecht – und es muss auch so genannt werden (C) Maßstäbe gesetzt hat. dürfen –, wenn man sich im Namen von Gerechtigkeit und Solidarität derart zum Herren über das Schicksal Das Grundgesetz hat nahezu vorausschauend für all von Menschen macht, wie es das politische System der das, was sich später ereignet hat, eine kluge Grundlage DDR getan hat. gegeben: Es hat uns eine Verfassung für die notwendige Integration in Europa gegeben; es hat uns eine Verfas- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der sung für die Zusammenarbeit im Transatlantischen SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Bündnis, für den Eintritt in die NATO, gegeben; es hat SES 90/DIE GRÜNEN) uns eine Verfassung für die Verträge mit den ost- und mittelosteuropäischen Nachbarn der Bundesrepublik Es tut fast körperlich weh, wenn man hört, mit wel- Deutschland gegeben, und es war auch gegen den Ver- chen Argumenten in der letzten Zeit die Grenzen zwi- such der Überdehnung der Freiheit im Namen der Frei- schen Freiheit und Unfreiheit in der Bundesrepublik heit gewappnet, die in einem bestimmten Abschnitt un- Deutschland durch Diskussionsteilnehmer verwischt ser Land heimgesucht hat; wir wissen alle, wovon ich worden sind. Es mag der jeweiligen politischen Bewer- spreche. tung überlassen bleiben, zu entscheiden, ob an dem ei- nen oder anderen Punkt im Lauf der Geschichte Ergän- Das Grundgesetz war weitsichtig und hat den Weg zungen des Grundgesetzes notwendig bleiben und ob sie zur Wiedervereinigung Deutschlands immer offen ge- notwendig waren. Allerdings gilt es, ein Erfordernis an halten. Der Brief Walter Scheels zum Moskauer Vertrag, alle Wünsche des Hinzufügens zu stellen: Sie sollten der diese Option nach langen Verhandlungen, auch mit sich am Maßstab der Schlichtheit und Klarheit des Egon Bahr, ausdrücklich zum Gegenstand des Vertrags- Grundgesetzes orientieren. werks machte, hat gezeigt, dass das nicht nur ein Lippen- bekenntnis war. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Das Grundgesetz war immer eine Einladung an NISSES 90/DIE GRÜNEN) 18 Millionen Deutsche. Es war immer eine ausgestreckte Hand. Diese 18 Millionen können stolz darauf sein, dass Deshalb scheint mir das durchaus diskussionswürdige sie durch eigene Aktivität die Mauer vom Osten aus ein- Vorhaben der Schuldenbremse jedenfalls stilistisch noch gedrückt haben, um diese ausgestreckte Hand zu ergrei- kein Gesamtkunstwerk zu sein, das sich nahtlos einpas- fen. Schon deshalb sage ich: Das Grundgesetz ist nie- sen wird. mandem übergestülpt worden. Es war eine Hoffnung für (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der Millionen in der Geschichte unseres Landes. CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (B) (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie GRÜNEN) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Mit Renaissance und Humanismus haben sich in NISSES 90/DIE GRÜNEN) einem Teil der Welt freiheitliche Lebensweisen und frei- Als der bedeutende Historiker Fritz Stern in der heitliche Verfassungen durchgesetzt. Aber moderne Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deut- Setzungen, so sagt Udo Di Fabio, der Bundesverfas- schen Buchhandels bekam und sich in einer Dankesrede sungsrichter, sind auch gefährdet. Es ist wahr: Unser äußerte, hat er einen ganz einfachen Satz gesagt. Er be- Menschen- und Weltbild ist kulturell und religiös wo- richtete von Schwierigkeiten aus seiner persönlichen möglich voraussetzungsreicher, als wir rationalen Men- Biografie, aufgrund derer er sich mit Deutschland erst schen es uns selbst immer versichern. Es gibt alte spät versöhnt hatte. Er sagte ganz einfach: Ein bisschen Gegengewichte zum Neuen – das stellen wir fest –, die mehr Freude über das Erreichte täte uns gut. – Mehr ist wir in ihrer Heftigkeit nach dem Zusammenbruch der al- dazu gar nicht zu sagen. ten bipolaren Weltordnung so gar nicht erwartet hatten. Sie sind aber da. Es gibt Menschen, die mit solch einer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Gewissheit ihre Positionen vertreten, dass diejenigen, bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- die ihnen die Wahrheit sagen wollen, so sagt ein altes NISSES 90/DIE GRÜNEN) chinesisches Sprichwort, ein schnelles Pferd brauchen. Es gibt Verfassungen, die mehr soziale Grundrechte Die freie Entfaltung von Menschen braucht einen niedergelegt haben, manche im besten Willen, manche Staat, der Frieden und Sicherheit, Meinungsfreiheit und aber auch in bewusster Verachtung der bürgerlichen Versammlungsfreiheit, all diese unersetzlichen Voraus- Freiheitsrechte. Die Verfassungen, die im besten Willen setzungen für menschliches Zusammenleben sichern soziale Grundrechte niedergelegt haben, sind irgend- muss. Sicherheit und soziale Sicherheit sind die Voraus- wann in schwierige Situationen gekommen, weil Staaten setzungen für Teilhabe an der Freiheit. Unser Grundge- – bei allem guten Willen – nie mehr für die Menschen setz macht uns gegen Feinde der Freiheit nicht wehrlos. tun können, als die Menschen für sich selbst tun könnten Vertretern einer konfrontativen Weltsicht müssen wir und sollten. noch längst nicht die Bühne überlassen, in welchen Kos- tümen sie auch daherkommen. Manche Staaten haben versucht, soziale Grundrechte in einer Art und Weise zu verwirklichen, durch die per- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie sönliche Freiheitsrechte nahezu zerstört und erdrückt bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- wurden. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es ist und NISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24319

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Eines gilt aber: Ein Rechtsstaat wird niemals in der Wenn eine Gesellschaft sich selbst nicht mag, dann (C) Auseinandersetzung mit seinen Gegnern seine eigene kann sie niemanden integrieren. Deshalb sind ein norma- ethische Überlegenheit aufs Spiel setzen dürfen. Das les Selbstbewusstsein und ein Stolzsein auf das, was in war der Fehler, den die Führungsmacht Vereinigte Staa- der Bundesrepublik Deutschland erreicht worden ist, ten von Nordamerika im politischen Programm des Wes- richtig. Wir müssen immer wissen, wie viel Verbindlich- tens gemacht hat und der ihrem Ansehen weltweit ge- keiten wir uns leisten können, zu verlieren, und wie viel schadet hat. Wir haben ein massives Interesse, dass der Gemeinsamkeiten wir immer neu schaffen müssen. Des- 44. amerikanische Präsident die Chance ergreift, dieses halb ist die Verfassung auf eine reife Mentalität der Ge- Programm zu ändern, weil wir als Westen nicht eine Art sellschaft angewiesen. Wenn die Verfassung nur ge- politische Geografie sein wollen, sondern der Welt eine schrieben wäre und wir uns nicht danach richten würden, Art politisches Programm anbieten und beispielgebend bekämen wir Probleme. sein wollen. Ich komme zum Schluss. In einer Zeit, in der mehr als (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei eine Generation den Nationalsozialismus gar nicht mehr Abgeordneten der CDU/CSU) erlebt hat und die den Stalinismus nur aus Geschichtsbü- chern kennt, müssen wir immer wieder an die nächste Es gibt keinen besseren Satz als den, den die Harvard Generation weitergeben, wo die Kernpunkte, der Kom- Law School ihren Graduierten in die Diplome schreibt: pass einer freiheitlichen Gesellschaft liegen. Manche „to think of law as wise restraint that makes man free.“ machen Europa zu einer nebensächlichen Angelegen- Es geht um die Selbstdisziplinierung – nicht mehr und heit. Sie wissen gar nicht mehr, warum diese europäi- nicht weniger – freiheitlicher Gesellschaften. sche Politik entstanden ist. Für viele ist sie zu kompli- Unser weltanschaulich neutraler Staat – Herr Kollege ziert. Das ist verständlich. Die ältere Generation hat zwei Kauder hat das angesprochen – schützt sich selbst vor Hyperinflationen erlebt. Der Abschied von der D-Mark Überhöhung durch eine Religion und schützt die Reli- war schon eine gewaltige Anstrengung, die niemand un- gionen im wohlverstandenen Interesse durch eigene terschätzen sollte. Überhöhung vor Übernahme des Staates. Er ist in seiner Kritik und Einwände sollten eines berücksichtigen weltanschaulichen Neutralität niemals Gegner von reli- – ich sage das mit Blick auf die Wahl, die vor uns steht, giösen Bekenntnissen. Er ist auf viele religiöse Aktivitä- ohne parteipolitisch zu werden –: In keinem Abschnitt ten – nehmen wir die Kirchen – in der Gesellschaft ange- der deutschen Geschichte hat es eine solche Leistung des wiesen. Er hat aber das legitime Recht, die Authentizität Poolens von Souveränität, des Verzichtens auf nationale religiöser Bekenntnisse auf ihre Übereinstimmung mit Souveränität in manchen Bereichen gegeben, um nicht Menschenrechten zu hinterfragen, an die er auch selbst wieder einen Rückfall in alte imperative Politiken, in (B) (D) gebunden ist. Politik gegeneinander, zu bekommen. Wir haben jetzt (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei 60 Jahre des Friedens, eine unglaublich lange Periode, Abgeordneten der CDU/CSU) wie sie in den letzten zwei Jahrhunderten kaum eine Ge- neration in Deutschland erlebt hat. Selbst wenn Europa Ich sage das deshalb, weil man in unserer Gesell- nicht mehr gebracht hätte als das, müsste man sagen: schaft manchmal eine irritierende Unsicherheit spürt, Schon das hätte gereicht. wie man damit umgeht. Es ist für uns völlig klar, dass (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD niemand hinter einem religiösen Bekenntnis mit An- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) spruch auf eine Authentizität die Verletzung von Men- schenrechten verstecken kann. Die Zusammenarbeit in Europa ist nicht mehr eine reine Option, sie ist eine unmittelbare und zwingende (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Notwendigkeit, es gibt zu ihr keine Alternative. Wir soll- Abgeordneten der CDU/CSU und der LIN- ten jedenfalls dabeibleiben, mit Kooperation und Inte- KEN) gration als Charakterzüge unserer Verfassung und auch Es muss klar sein, dass Menschenrechte nicht umgangen als Charakterzüge der deutschen Außenpolitik. werden dürfen. Das Grundgesetz bleibt, was es war und ist: ein Kom- Der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus hat pass für die Zukunft einer freiheitlichen Gesellschaft. Es das mit Blick auf die eigene Kirchengeschichte selbstkri- liegt an uns, diesen Kompass zu nutzen. Wir, die Freien tisch festgestellt: Wir sollten nicht überheblich sein. Demokraten, wollen das tun. Auch die katholische Kirche habe im Grunde bis zum Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Zweiten Vatikanischen Konzil gebraucht, bis sie das be- griffen hätte, so sagt er. Deshalb müssten wir etwas Ge- (Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei duld mit anderen haben. Er hat einen Satz geprägt, der der CDU/CSU, der SPD und dem BÜND- fantastisch genau die Sachlage beschreibt: Religionen NIS 90/DIE GRÜNEN) sollen Gott verehren, aber sie sollen nicht selbst Gott spielen. – Mehr ist dazu überhaupt nicht zu sagen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Dr. Däubler-Gmelin ist nächste Redne- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei rin für die SPD. Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 24320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): der Legationsrat Erster Klasse die Tätigkeiten und die (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Berufsmöglichkeiten im Auswärtigen Amt vorstellte. alle sind uns, glaube ich, bewusst, dass die heutige De- Selbstverständlich habe ich hinterher gefragt, wie das ei- batte keine unserer normalen, tagespolitischen Debatten gentlich mit den Chancen für Frauen sei, und bekam die ist. Das haben schon die Reden meiner Vorredner ge- Antwort: Frauen nehmen wir nicht, sie gehören da nicht zeigt. Ich möchte hinzufügen, dass der Rückblick auf hin. Werden Sie lieber Erzieherin! 60 Jahre Grundgesetz und auf 60 Jahre Bundesrepublik (Heiterkeit im ganzen Hause – Dr. Guido Deutschland – was ja eine lange Zeit ist – für unsere Westerwelle [FDP]: Das ist wie heute!) Kinder und Enkel einen Blick in die Geschichte bedeu- tet, für die Angehörigen meiner Generation aber einen Da war sie wieder: die alte Rolle. Sie können sich vor- Blick auf unser ganzes Leben. Das beeinflusst natürlich stellen, wie „gut“ mir das gefallen hat, übrigens nicht das, was wir heraussuchen und hier herausstellen, so nur, weil ich fand, dass der Mann in der neuen Zeit noch auch meine Rede. nicht angekommen war, sondern schlichtweg auch des- halb, weil mich auch diese Missachtung der Erziehungs- Ich bin im Gründungsjahr der Bundesrepublik leistung unheimlich geärgert hat. Deutschland in die Schule gekommen. Ich erinnere mich noch genau an das sehnlichst erwartete Carepaket, dem (Beifall im ganzen Hause) ich eine Schiefertafel und eine Tafel Schokolade – was mir immer in Erinnerung bleiben wird – verdanke, und Geärgert hat mich auch, dass die Auseinandersetzung auch an die Schulspeisung. Und ich habe noch gut in Er- um die Gleichberechtigung von Männern und innerung, wie das damals war, wenn eine ausgebombte Frauen, die ja wirklich erkämpft werden musste – auch Mutter mit vier Kindern in die Wohnung anderer Leute im Parlamentarischen Rat – und bitter erkämpft wurde, eingewiesen wurde, und was es bedeutete, die Kinder ganz offensichtlich völlig an ihm vorbeigegangen war. sattzumachen, wenn der Vater nicht da war, gefallen Elisabeth Selber und ihre Mitstreiterinnen wollten eben oder, wie meiner, in Gefangenschaft war. nicht mehr die alte, unverbindliche Formulierung der Weimarer Reichsverfassung, und sie setzten sich damit Seit dieser Zeit – lassen Sie mich das sagen – habe ich schließlich durch, obwohl sie nur vier Frauen waren, unglaublichen Respekt vor der Leistung der Genera- weil eben die Frauen aus der Generation meiner Mutter tion meiner Mutter. Die Frauen haben ja nicht nur als damals trotz ihrer Belastung gesagt haben: „Das wollen Trümmerfrauen gearbeitet, sie haben auch die Familie wir jetzt endlich einmal wissen, und gleiche Rechte wol- zusammengehalten und damit die Grundlage für den len wir haben“, und das mit massenhaften Postkarten- Wiederaufbau, übrigens in ganz Deutschland, gelegt. aktionen auch durchsetzten. (B) (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- In der Schule haben wir dann vieles über die Eckpfei- SES 90/DIE GRÜNEN) ler der neuen Gesellschaftsordnung, des neuen Staates gelernt. Wir haben gelernt – der Kollege Kauder hat es Mich persönlich hat das natürlich eher angespornt; ausgeführt –, was Demokratie ist, was Rechtsstaatlich- das ist völlig richtig. Ich glaube, hier ist das Wort, das keit ist, warum Menschenrechte so wichtig sind und wa- Wolfgang Gerhardt mit völligem Recht gesagt hat: rum es so wichtig ist, dass alle staatliche Gewalt, ohne „Freude über das Erreichte“, wirklich angebracht. Wir Lücke, an sie gebunden ist. können sehen, dass Frauen heute weitgehend den Platz haben, der ihnen zukommt, auch wenn dort noch eine Ich hatte, in Tübingen aufgewachsen, das Glück, rela- Menge zu tun ist. tiv frühzeitig Persönlichkeiten kennenzulernen, die na- türlich unser Denken und unser Leben geprägt haben. Da (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei uns ist das war Carlo Schmid, der so viele Beiträge zu unserem so!) Grundgesetz geleistet hat, und da war Theodor Heuss, der nie müde wurde, es zu leben und es zu erläutern, und Die Gewöhnung an die Werte und Maßstäbe des der durch seine Sprache – auch er sprach Schwäbisch Grundgesetzes hat insgesamt aber schon noch ein biss- mit deutschem Akzent – chen länger gedauert. Ende der 60er-Jahre war ich zur Ausbildung beim Oberlandesgericht, und ich musste (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dort natürlich Revisionsfälle bearbeiten. Dafür zog ich zusätzlich Identifikation geschaffen hat. die Maßstäbe und Grundwerte des Grundgesetzes heran. Was hörte ich von meinem Ausbilder? – Mir wurde ge- In jener Zeit traf man aber nicht nur solche Persön- sagt: Lassen wir doch dieses neumodische Zeug, wir hal- lichkeiten, man traf auch viele, die in der neuen Zeit ten uns lieber an das bewährte BGB. noch nicht angekommen waren. Das will ich an einem Beispiel deutlich machen: Ich habe mich schon immer Wenn man sich anschaut, wie die Gerichtsurteile in dafür interessiert, was das Auswärtige Amt so tut. den 50er- und 60er-Jahren manchmal aussahen, dann geht einem heute der Hut hoch. Ich will nur an Folgen- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist auch gut des erinnern: so!) Da passte Eltern der Umgang ihrer Tochter mit einem Als ich anfing, zu studieren, ging ich deshalb in eine Jungen nicht; sie bestraften die Tochter mit Essensent- Vorlesung, in der ein damals schon ältlicher Vortragen- zug; sie banden sie ans Bett und an einen Stuhl fest; sie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24321

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) schnitten ihr die Haare so unregelmäßig kurz, dass es sie (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) (C) entstellte. Und zu alledem sagte der BGH: Das sei vom elterlichen Züchtigungsrecht umfasst. Warum war das Das war korrekt, aber die Entscheidung zur Nazi-Justiz so? Das Gericht sagte: Mit 16 Jahren sei man der Strafe war spektakulär und bemerkenswert. der Eltern unterworfen, und wenn man entgegen dem Liebe Kollegen, heute wissen wir alle, dass das Willen der Eltern mit einem Jungen Kontakt pflegen Grundgesetz anerkannt ist, wir teilen die Einschätzung wolle, dann sei man sittlich verdorben. Gustav Heinemanns, dass das Inkrafttreten des Grundge- Dieses Züchtigungsrecht gibt es heute nicht mehr, setzes eine Sternstunde der Geschichte oder auch, wie sondern heute gibt es die elterliche Verantwortung. Die andere es nennen, ein Glücksfall war. Dies wurde aber Stellung der Kinder hat sich grundlegend verändert, und nicht immer so gesehen: Was Ernst Friedländer am ich denke, wir sollten das auch durch Kinderrechte im 19. Mai 1949 in der Zeit geschrieben hat, macht deut- Grundgesetz dokumentieren. lich, unter welch unglaublich beißender Kritik das Grundgesetz 1949 in Kraft gesetzt wurde. Er zitierte (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nicht nur die Kritik von „Grundgesetz gleich Schundge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) setz“, vom Parlamentarischen Rat als einer Versamm- Lassen Sie mich auch an den schrecklichen lung von Langweilern, das Grundgesetz sei langatmig, § 175 StGB erinnern, der damals für verfassungsgemäß und der Mann auf der Straße habe andere Sorgen, son- gehalten wurde. Dieser Paragraf war eine Quelle von dern auch von Kautschukbegriffen – von wegen Ungerechtigkeit, von Diskriminierung, von menschli- Schlichtheit und Klarheit –, und es wurde der Vorwurf chem Leid und von ständiger Erpressbarkeit. Gott sei erhoben, das Grundgesetz sei „keine Kreation schöpferi- Dank haben wir auch den abgeschafft. Auch deswegen scher Fantasie“. Die Verfassungsexperten seien sowieso können wir Freude über das Erreichte empfinden. nicht die Repräsentanten der Bevölkerung gewesen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In der Sache selber hat man auch die Unabänderlich- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der keit der Grundsatzentscheidung für die Menschen- CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) rechte und den Staatscharakter kritisiert, weil die Mehrheit ganz bewusst nicht daran rütteln können Schauen Sie sich auch einmal an, in wie vielen Ge- sollte. Friedländers Folgerung war: „Papier ist gedul- richtsprozessen gerade in den 50er-Jahren Nazitäter ge- dig“, aber auch: Geben wir dem Grundgesetz und denen, schont und Opfer zum zweiten Male diskriminiert wur- die es anwenden müssen, eine Chance zur Bewährung! den. Auch das gehört in die Kette der Erinnerung, die wir bewahren müssen, um Gefahren zu erkennen, die Diese Bewährung hat bis heute stattgefunden, auch (B) jetzt nicht drohen, die aber auch nie wieder drohen dür- wenn viele das am Anfang noch nicht erkannt haben. (D) fen. Das gilt für das Grundgesetz, aber auch für die Bewäh- rung durch die Ausfüllenden und Handelnden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Zehn Jahre später – ich habe die Festveranstaltung CDU/CSU und der LINKEN) 1959 vor Augen – gab es immer noch große Zweifel. Damals hat Bundeskanzler Adenauer es geradezu ent- Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den skandalö- schuldigt, dass es Mängel gebe, und so das Grundgesetz sen Umgang mit den Mördern von Dietrich Bonhoeffer. verteidigt. Ich will Ihnen zusätzlich ein Zitat des damali- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ gen Festredners Jahrreiß nicht vorenthalten. Er stellte CSU und der FDP) fest, der Parlamentarische Rat sei „von seinem eigentli- chen Auftrag abgewichen“. Er habe sich nämlich davon Eindrucksvolle Persönlichkeiten wie Richard Schmid „gelöst, ein bloßes Organisationsstatut zu schaffen“, und oder auch der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer „wie in einem Rausch“ sei er „darüber hinausgegangen, hatten es schwer. Die Rebellion in diesem Bereich be- um sich dann doch vor der größeren, der weiteren Auf- gann eigentlich erst so richtig, als es das Kammergericht gabe des Vollverfassungsgebens als zu schwach zu er- Berlin Mitte der 60er-Jahre übertrieben hatte und auch weisen“. noch Freislers Volksgerichtshof den Charakter eines de- mokratischen, rechtsstaatlichen, unabhängigen Gerichtes Das ist ein bisschen kompliziert ausgedrückt, aber zubilligen wollte. Das war dann wirklich zu viel. Damals eindeutig ein Verriss. kam es zur Kritik durch die Öffentlichkeit und auch zu (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der SPD – den Demonstrationen. Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!) Allerdings wissen wir auch, dass der Bundesgerichts- Was hat sich bis 1969 geändert, dem Jahr, ab dem hof bis ins Jahr 1995 brauchte, um das „folgenschwere dann das Grundgesetz als Sternstunde und Glücksfall be- Versagen“, wie er es nannte, der bundesdeutschen Straf- zeichnet wurde? Ich glaube, dass wir nicht vergessen justiz bei der Auseinandersetzung mit der NS-Justiz zu dürfen, dass in den 60er-Jahren ein erheblicher und kritisieren. Dann allerdings hat er das mit klaren und ein- signifikanter Aufbruch stattgefunden hat. drucksvollen Worten getan, wenn auch möglicherweise von manchem Leser der bittere Unterton bemerkt wird, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass er das aus Anlass der Verurteilung eines DDR-Rich- der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- ters getan hat. SES 90/DIE GRÜNEN) 24322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Das mag manchem heute nicht passen. Mancher mag die (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei (C) Verirrungen und Verbrechen sehen wollen, die einige be- Abgeordneten der CDU/CSU und der LIN- gangen haben. Mancher mag nur sehen, was es an Illu- KEN) sionen oder Fehleinschätzungen gegeben hat. Richtig ist Das dokumentiert aber auch: Im Grundgesetz wird poli- aber, dass in den 60er-Jahren durch eine neue, in Demo- tische Macht als Vollmacht, wie wir Juristen das aus- kratie und Rechtsstaatlichkeit erzogene Generation ein drücken, verstanden, und zwar als inhaltlich und zeitlich Aufbruch angestoßen wurde, dass es einen Aufbruch in gebundene Macht. Das Grundgesetz meint eben nicht der Gesellschaftsordnung gegeben hat und dass man die politische Macht, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber Maßstäbe des Grundgesetzes sehr viel ernster nahm. „denen da oben“ ohnmächtig werden lässt, mit dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, Empfinden: Wir können sowieso nichts machen. Das ist, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE glaube ich, eine ganz wichtige Feststellung, die wir in GRÜNEN) Zukunft besonders berücksichtigen müssen. Neben der Partizipation ist es die Machtbegrenzung, die als Ele- Mich, die ich damals auch demonstrierte, hat damals ment unserer Verfassung und damit unserer Gesell- Gustav Heinemann unglaublich beeindruckt, mit einem schaftsordnung für die Weiterentwicklung unserer Ge- Bild, das er damals gezeichnet hat. Es war die Zeit der sellschaft und unserer Rechtsordnung ganz besonders Osterunruhen 1968. Sie erinnern sich sicherlich: Martin wichtig ist. Luther King war umgebracht worden, und auf Dutschke (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der war geschossen worden. Es gab gewalttätige Krawalle CDU/CSU) und Zerstörungen in Berlin, die selbstverständlich heftig kritisiert wurden, zum Teil auch sehr einseitig. Gustav Lassen Sie mich mit Blick auf das, was von Herrn Heinemann hat gegenüber denjenigen, die kritisiert ha- Gerhardt schon angesprochen wurde und mir unter ei- ben, ein Bild geprägt, das aber gleichzeitig auch an die nem etwas anderen Blickwinkel besonders wichtig zu Demonstrierenden gerichtet war. Er hat gesagt, wer in sein scheint, schließen. Eine der wirklich genialen allgemeinen Vorwürfen „mit dem Zeigefinger auf den Grundentscheidungen von 1949 war – diese Entschei- oder die vermeintlich verantwortlichen Anstifter oder dung hat sich nicht nur bewährt, sondern muss auch auch politisch Verantwortlichen“ zeige, der solle beden- Maßstäbe für die Zukunft setzen; es war eine großartige ken, dass „dabei drei Finger seiner Hand auf ihn selber“ Leistung –, die Gesellschaftsordnung und die Politik, zeigten. Ich glaube, besser kann man nicht ausdrücken, aber auch die Rechtsordnung der neuen Bundesrepublik was im neuen Grundgesetz mit Demokratie gemeint war. Deutschland in die der zivilisierten Völkergemeinschaft einzuordnen. Das war in der Tat eine richtig gute, eine (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unglaublich wichtige Grundentscheidung; dazu gehört (D) der LINKEN) auch das Verbot des völkerrechtswidrigen Angriffskrie- ges; ich hoffe, dass Deutschland helfen kann, die Anti- Dazu gehört immer die Verantwortlichkeit der Han- aggressionskonvention im Rahmen des Internationalen delnden. Dazu gehört aber genauso die Verantwortlich- Strafgerichtshofs durchzusetzen. keit derjenigen, die mitgestalten sollen, die wählen. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht nur zuschauen und LINKEN) hinterher maulen, sondern müssen sich engagieren und einbringen. Nicht umsonst hat Gustav Heinemann im- Wichtig ist die Entscheidung, dass internationales mer davon gesprochen, dass unser „Grundgesetz ein gro- Recht auch unser Recht ist und dass internationales ßes Angebot“ für Meinungsfreiheit sowie unterschiedli- Recht und internationale Gerichtsbarkeit sowohl in Eu- che Auffassungen und Religionen – das wurde hier ropa als auch beim Internationalen Strafgerichtshof nicht schon dargelegt; das ist völlig richtig – darstellt. Er hat nur für andere, sondern auch für uns gelten. Internationa- auch darauf hingewiesen, dass der einzelne Bürger und les Recht darf nie nur Recht für andere sein, genauso we- die einzelne Bürgerin Instrumente in der Hand haben, nig wie die internationale Gerichtsbarkeit. Für diesen die sie befähigen, eigene Rechte durch Demonstrationen Gedanken müssen wir bei Freunden werben; denn erst und Partizipation in Parteien, aber auch durch Petitionen mit einer solchen Einordnung, einer wertegebundenen und auf juristisch-gerichtlichem Weg durchzusetzen. Macht, der Einhaltung der Menschenrechte und vor allen Dingen mit der Förderung von Partizipation lässt sich Über die segensreiche Rolle des Bundesverfassungs- eine menschenwürdige Gesellschaft erreichen. Etwas gerichts ist heute schon gesprochen worden. Wenn man weniger vollmundig ausgedrückt: So können wir einer das fortführt, Herr Gerhardt, und schaut, wie viele gute menschenwürdigen Gesellschaft einen Schritt näher- Ideen und Maßstäbe des Grundgesetzes durch Verfas- kommen, die wir auch auf globaler Ebene wollen. Da sungsbeschwerden der Bürger entstanden sind und in un- müssen wir hin. Da wollen wir hin. sere Lebenswirklichkeit eingebracht wurden, dann zeigt dies die unglaublich wichtige Bedeutung des Instru- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) ments der Verfassungsbeschwerde. Beispiele hierfür rei- chen von der Stellung der Frau über die Stellung der Ernst Bloch, dessen Vorlesungen ich in Tübingen be- Kinder bis in die jüngste Zeit, in der es um Fragen be- suchen konnte und der lange in der damaligen DDR ge- treffend den Persönlichkeitsschutz und den Datenschutz wirkt hat, bevor er gehen musste, hat einmal gesagt: Er- geht. innerung taugt eigentlich nur, wenn wir uns gleichzeitig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24323

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) daran erinnern, was noch zu tun ist. – Ich glaube, das ist dort ebenso wenig Bestandteil der politischen Alltags- (C) völlig richtig. sprache wie in den Vereinigten Staaten. Offensichtlich haben die angelsächsischen Länder eine andere Verfas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sungstradition. Dazu gehört auch das Hinterfragen der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der eigenen Verfassung. So schrieb 1913 in den USA der LINKEN) renommierte Historiker Charles Beard ein aufsehenerre- Sie werden es mir nachsehen, dass ich mit sehr viel kür- gendes Buch. Darin kam er zu dem Ergebnis, dass die zeren, aber das Gleiche ausdrückende Wort von Herbert amerikanische Verfassung die ökonomischen Interes- Wehner ende, der meinte, nein, er hat es eigentlich ge- sen derer widerspiegelt, die sie geschrieben hatten. Ob knurrt: „Nicht nur Gedenken, sondern Gedanken“ sind es einen Verfassungstext gibt oder nicht, in jedem Falle auch gefragt. braucht eine Gesellschaft eine allgemein anerkannte Wertorientierung, die das Fundament des täglichen Le- Herzlichen Dank. bens ist. Diese Wertorientierung ist auch Grundlage der (Beifall im ganzen Hause) jeweiligen Verfassung der Staaten der Welt. Wie aber ist es zu erklären, dass Beard zu dem Schluss kommt, die Verfassung der Vereinigten Staaten spiegele die persönli- Präsident Dr. Norbert Lammert: chen ökonomischen Interessen ihrer Schöpfer wider? Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, Eine Antwort finden wir bereits bei Goethe, ebenso wie möchte ich eine Parlamentarierdelegation aus Gabun bei Marx und Engels. In seinem Faust sagt Goethe: unter Vorsitz des Vizepräsidenten Daniel Ona Ondo auf unserer Ehrentribüne begrüßen, die sich auf Einla- Was ihr den Geist der Zeiten heißt, dung der deutsch-afrikanischen Parlamentariergruppe Das ist im Grund der Herren eigner Geist, hier in der Bundesrepublik aufhält. In dem die Zeiten sich bespiegeln. (Beifall) Marx und Engels schreiben in der Deutschen Ideologie: Wir freuen uns über Ihren Besuch, und wir freuen uns Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in je- ganz besonders, dass Sie an dieser Debatte im Deutschen der Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt, Bundestag heute teilnehmen. Herzlich willkommen! die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herr- Das Wort hat nun der Kollege Oskar Lafontaine für schende geistige Macht. die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (B) Winkelmeier [fraktionslos]) (D) Unsere Sprache formt unsere Wahrnehmung. Wie schwer es ist, der überlieferten Begriffswelt zu entkom- Oskar Lafontaine (DIE LINKE): men, beschrieben Adorno und Horkheimer in der Dia- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- lektik der Aufklärung. Ich zitiere: ren! Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutsch- land wurde 1949 vom Parlamentarischen Rat zur Grund- Es gehört zum heillosen Zustand, dass auch der ehr- lage des gesellschaftlichen und politischen Lebens in lichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die Westdeutschland gemacht. Nach der untergegangenen Neuerung empfiehlt, durch Übernahme des einge- Weimarer Republik und der Nazibarbarei hat es in sei- schliffenen Kategorieapparates und der dahinter nem Geltungsbereich Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlich- stehenden schlechten Philosophie die Macht des keit, Sozialstaat und parlamentarische Demokratie be- Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte. gründet. In Ostdeutschland ist das Vorhaben, nach dem In unsere Zeit übersetzt heißt das: Der Reformer des Zweiten Weltkrieg eine sozialistische Demokratie zu er- Finanzmarktes verstärkt die Macht der Spekulanten, richten, gescheitert, weil, so der mittlerweile verstorbene wenn er sich ihrer abgegriffenen Sprache und ihrer Be- Politiker der PDS Michael Benjamin – ich erwähne ihn griffe bedient. bewusst wegen seines Namens –, die DDR keine Demo- kratie und kein Rechtsstaat war und die Arbeitnehmerin- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert nen und Arbeitnehmer keine Mitbestimmung hatten. An Winkelmeier [fraktionslos]) dem 60. Geburtstag des Grundgesetzes ist die Versu- Das Problem aller Verfassungstexte ist, dass die dort chung groß, mit Stolz auf das Erreichte zurückzublicken verwandten Begriffe nicht definiert sind. Ich nehme bei- und es dabei zu belassen. Da wir aber das Grundgesetz spielhaft aus Zeitgründen den Begriff des Eigentums in als ständige Aufgabe begreifen, Frieden, Freiheit, seinem Spannungsverhältnis zu Freiheit und Demokra- Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und Demokratie zu ver- tie. Was ist eigentlich Eigentum? Im Grundgesetz finden wirklichen, wollen wir heute einen kritischen Blick auf wir auf diese Frage keine konkrete Antwort. Aber in die Gegenwart werfen und unsere Hoffnung für die Zu- § 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches steht: kunft formulieren. Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder Es fällt auf, dass es Demokratien gibt, die keine ge- mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache her- schriebene Verfassung kennen. Das bekannteste Beispiel stellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache … ist Großbritannien. Dort gibt es folglich auch keinen Verfassungsschutz, und das Wort „Verfassungsfeind“ ist (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 24324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Oskar Lafontaine (A) Würden wir diese Bestimmungen ernst nehmen, dann In allen Gesellschaften wurde die ungleiche Eigen- (C) müssten wir unsere Wirtschaftsordnung vom Grunde her tumsverteilung zum Problem, insbesondere wenn sie neu gestalten. von jüdisch-christlichen Ideen geprägt waren. Vor Gott sind alle Menschen gleich, und das muss sich auf das (Beifall bei der LINKEN) Zusammenleben der Menschen auswirken. Darum – so Niemand hat so wie der Aufklärer Rousseau die Be- können wir schon im Alten Testament nachlesen – er- deutung des Eigentums für die bürgerliche Gesellschaft fand Israel das Sabbatjahr. Nach einer Anzahl von Jah- hervorgehoben: ren mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlas- sen werden, und die Verteilung des Ackerlandes wurde Derjenige, der als Erster ein Stück Erde mit einem neu verlost, um wieder Gleichstand herzustellen. Danach Zaun umgab und es als Eigentum bezeichnete und konnte der Wettbewerb der Menschen von Neuem be- Leute fand, die ihm das glaubten, war der Begrün- ginnen. Aber nach einigen Jahren erhielt der Verarmte der der bürgerlichen Ordnung. Er hat unzählige zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Dieses Kriege und den Tod von Millionen Menschen auf Beispiel zeigt, dass es einen tiefen Grund gibt, die Werte dem Gewissen. Er hat gegen elementares Men- Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit als Einheit auf- schenrecht verstoßen: Der Boden gehört nieman- zufassen. dem, die Früchte allen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN) Winkelmeier [fraktionslos]) Rousseau hat keinen Zweifel daran gelassen, wie dem Solange unsere Wirtschaftsordnung systemimmanent zu abzuhelfen sei: wachsender Ungleichheit führt, wird es Freiheit und Die Menschenrechte müssen ergänzt werden durch Brüderlichkeit nicht geben und letztendlich auch keinen einschränkende Bestimmungen über das Eigentum; Frieden. sonst sind sie nur für die Reichen da, für die Schie- ber und Börsenwucherer. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Klingt dieser Satz nicht erstaunlich aktuell? Das Privateigentum gilt in bürgerlichen Gesellschaf- ten als Garant einer freien Gesellschaft und persönlicher (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Freiheit. Nur das Privateigentum führe zu wirtschaftli- Winkelmeier [fraktionslos]) chem Fortschritt, wecke die Eigeninitiative, stärke die Nun gibt es im Geltungsbereich unseres Grundgeset- Selbstverantwortung und gewährleiste die persönliche Entfaltung. Doch nach wie vor hat diese Art von Selbst- (B) zes Eingriffe in das Eigentum. Ich denke an Steuern, (D) Enteignungen zum Zwecke des Ausbaus der Infrastruk- verantwortung einen Schönheitsfehler: Sie gilt nur für tur oder auch an Subventionen. Aber warum wird die wenige und wird der Mehrheit nicht zugebilligt. Vermögensverteilung immer ungerechter? Ist es des- In einer Gesellschaft, in der die übergroße Mehrheit halb, weil das Eigentum in unserer Gesellschaft in vielen kein Vermögen und keine Produktionsmittel besitzt, las- Fällen nicht dem zugesprochen wird, dem es von Rechts sen sich die Privilegien einer besitzenden Minderheit wegen eigentlich zustünde? durch das Argument, sie wirkten persönlichkeitsbildend Die dem § 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches zu- und garantierten die Freiheit, nicht als gesellschaftlich grunde liegende Auffassung vom Eigentum ist keines- nützlich legitimieren. wegs neu. Schon Wilhelm von Humboldt schrieb: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Nun aber hält der Mensch das nie so sehr für sein, Winkelmeier [fraktionslos]) was er besitzt, als was er tut, und der Arbeiter, wel- cher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem In der frühen liberalen Gesellschaftstheorie ergab wahreren Sinne Eigentümer als der müßige Schwel- diese Eigentumsauffassung noch einen Sinn. Das pri- ger, der ihn genießt. vate, weder durch obrigkeitsstaatliche noch durch tradi- tionelle oder religiöse Vorschriften beschränkte Eigen- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert tum war ein Instrument des wirtschaftlichen Fortschritts, Winkelmeier [fraktionslos]) ein Ferment der Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung der staatsbürgerlichen politischen Frei- Abraham Lincoln sagte schon 1847: heit. Für die Väter des Liberalismus war das Privateigen- Die meisten schönen Dinge sind durch Arbeit ent- tum wegen dieser für die ganze Gesellschaft nützlichen standen, woraus von Rechts wegen folgen sollte, Konsequenz legitim. Aber heute sind derartige Legiti- dass diese Dinge jenen gehören, die sie hergestellt mationskriterien fragwürdig und von der Geschichte haben. Aber es hat sich zu allen Zeiten so ergeben, außer Kraft gesetzt worden. Wäre das wirtschaftliche dass die einen gearbeitet haben, und die anderen, Privateigentum auch dann der Garant einer freien Per- ohne zu arbeiten, genossen den größten Teil der sönlichkeit in einer freien Gesellschaft, wenn es nicht Früchte. Das ist falsch und sollte nicht fortgesetzt breit gestreut ist, dann hätte es das nationalsozialistische werden. Deutschland nicht gegeben. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Winkelmeier [fraktionslos]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24325

Oskar Lafontaine (A) Ein Teil der deutschen Großindustriellen verhalf Hitler Nun wird es spannend: Daher laste der Kapitalismus (C) zur Macht, um seine aus dem Privateigentum an Produk- als vermeintlich logische Folge des Liberalismus auf tionsmitteln herrührenden Privilegien durch den Nazi- ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus staat abzusichern. In Deutschland bildete also das un- aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapita- gleich verteilte Privateigentum zu jener Zeit auch die lismus – „Befreiung vom Kapitalismus“ ist vielleicht Grundlage für die Zerstörung der gesellschaftlichen eine bessere Formulierung als „Überwindung des Kapi- Freiheit. talismus“ – sei daher die Voraussetzung seiner Zukunft. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Im Finanzkapitalismus heutiger Prägung wird der größte Teil der Gewinne nicht mehr in moderne Produk- Ähnliches ließ und lässt sich weltweit in vielen Militär- tionsanlagen reinvestiert; vielmehr wird er im weltwei- diktaturen beobachten. ten Spielkasino verzockt, mit verheerenden Folgen für die Menschen, vor allem für die Hungernden und die In der liberalen Gesellschaftstheorie legitimierte sich Kranken dieser Welt. Der Finanzkapitalismus enteignet das wirtschaftliche Privateigentum nur durch den von die Beschäftigten nicht nur dadurch, dass er ihnen den ihm erzeugten gesellschaftlichen Nutzen. Heute kann Zuwachs des Produktivvermögens vorenthält; er ver- diese liberale Gesellschaftstheorie auch dazu herangezo- schärft Jahr für Jahr die ohnehin bestehende soziale Un- gen werden, die Neuverteilung des Eigentums am Ver- gleichheit und Ungerechtigkeit durch fallende Löhne, mögen und am Produktivvermögen zu begründen. So Renten und soziale Leistungen bei gleichzeitigen speku- wie die Neuverteilung des Eigentums ein Ferment der lationsbedingten Preissteigerungen. Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung der bürgerlichen Freiheit war, so ist heute die gerechtere (Beifall bei der LINKEN) Verteilung des Vermögens und des Produktivvermögens Meine Damen und Herren, Art. 14 des Grundgesetzes das Ferment zur Auflösung des Absolutismus in der muss neu und zeitgemäß interpretiert werden. Während Wirtschaft und zur Herstellung einer demokratischen die in Abs. 2 geforderte Verpflichtung, der Gebrauch des Gesellschaft. Eigentums solle auch dem Wohle der Allgemeinheit die- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert nen, in einer Gesellschaftsordnung mit einer anderen Winkelmeier [fraktionslos]) Verteilung des Vermögens und des Eigentums an Pro- duktionsmitteln ebenso seine Gültigkeit behält, ist der Die Beteiligung der Belegschaften an ihren Betrieben Abs. 3 neu zu interpretieren. Wenn eine Enteignung nur eröffnet den Weg zu einer freieren und einer demokrati- zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist, dann ist die in scheren Gesellschaft. Wie kein anderer hat dies der lei- unserem Wirtschaftsalltag Praxis gewordene ständige (B) der viel zu früh verstorbene Liberale Karl-Hermann Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, (D) Flach formuliert – ich zitiere –: die zum Nachteil der Allgemeinheit führt, schlicht grundgesetzwidrig. Heute sehen wir noch viel klarer, dass Privateigen- tum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu ei- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ner immer größeren Ungleichheit führen, welche Winkelmeier [fraktionslos]) die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit Warum ist die ständige Enteignung der Arbeitnehme- kleinerer Gruppen unerträglich einschränkt. Die rinnen und Arbeitnehmer zum Nachteil der Allgemein- Vermögenskonzentration in den westlichen Indus- heit? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil die Arbeitneh- triestaaten führt selbst bei wachsendem Lebensstan- merinnen und Arbeitnehmer das höhere Haftungsrisiko dard und steigender sozialer Sicherung der lohn- tragen – sie haften mit ihrem eigenen Arbeitsplatz, also abhängigen Massen zu einer Disparität, welche der mit ihrer gesamten Existenz –, würden sie verantwortli- Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff cher mit dem Firmenkapital umgehen als Anteilseigner, der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht. die es in der Vergangenheit oft leichtfertig verzockt ha- So äußerte sich ein führender Liberaler vor drei Jahr- ben. Beispiele gibt es wahrlich genug. zehnten. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Winkelmeier [fraktionslos]) Eine durch die Beteiligung der Belegschaften an den Unternehmen geprägte Wirtschaftsordnung dient auch Ich zitiere weiter: der Erhaltung unserer Umwelt. Echte solidarische ge- Das Problem des Kapitalismus besteht nicht darin, sellschaftliche Verantwortlichkeit kann der Mensch bei dass Unternehmen Gewinne erwirtschaften, son- seiner Arbeit nur entwickeln, wenn er im Arbeitsprozess dern darin, dass die ständig notwendige Reinvesti- nicht entmündigt wird. Produktive Arbeit ist Umfor- tion des größten Teiles der Gewinne nicht nur mung der Natur zu Gebrauchsgütern. Wer im Arbeits- moderne Produktionsanlagen und Arbeitsplätze prozess von jeglicher Verantwortlichkeit enteignet wor- schafft, sondern eine ständige Vermögensvermeh- den ist, der wird auch gegenüber dem Gegenstand seiner rung in der Hand der Vorbesitzer der Produktions- Arbeit, der Natur, nicht die notwendige Verantwortung mittel. empfinden. Daher müssten diejenigen, die für einen ver- antwortlichen Umgang des Menschen mit der Natur plä- So Karl-Hermann Flach. dieren, dafür eintreten, dass solidarische Verantwortlich- 24326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Oskar Lafontaine (A) keit im Arbeitsprozess entstehen kann. Es würde nicht Das ist sozusagen das Versprechen: Nie wieder (C) viel nützen, wenn es hin und wieder gelänge, ein Atom- Auschwitz! – So fängt unser Grundgesetz an. kraftwerk stillzulegen oder eine Chemiefabrik zu schlie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ßen, der Mensch in anderen Gebieten aber genauso un- sowie bei Abgeordneten der SPD) verantwortlich weiterproduzierte, genauso ausbeuterisch mit der Natur umginge wie bisher. Der zweite Grund für die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes ist sicherlich die Tatsache, dass unser (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Grundgesetz in Theorie und Praxis eine lernende Ver- Winkelmeier [fraktionslos]) fassung ist. Es wurde immer wieder versucht, dafür zu Aus dem bisher Gesagten folgt: Das Grundgesetz der sorgen, dass die Verfassung mit der gesellschaftlichen Bundesrepublik Deutschland verpflichtet uns zu einer Entwicklung Schritt hält. Denken Sie an die Rechte der anderen, zu einer neuen Wirtschaftsordnung. Es ver- Frauen und den Schutz der natürlichen Lebensgrundla- pflichtet uns, mehr Freiheit und mehr Demokratie zu wa- gen oder auch an die Entwicklung bei den Möglichkeiten gen. demokratischer Meinungsäußerung bis hin zur Ausbil- dung einer Protestkultur in diesem Land. Zu all dem (Anhaltender Beifall bei der LINKEN sowie haben wir, in der Verfassung verankert, gesagt: Ja, das des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – gehört zu uns. Das ist normale moderne Verfassungs- Jörg van [FDP]: Mein Gott, was für ein wirklichkeit. Niveau!) Damit ist aber eines klar: Das sollte hier und heute nicht eine Feierstunde sein, in der man einfach in Zufrie- Präsident Dr. Norbert Lammert: denheit zurückschaut. Herta Däubler-Gmelin hat ja be- Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, reits gesagt, dass es nicht nur um das Erinnern geht, son- Bündnis 90/Die Grünen. dern auch darum, in der Zukunft tätig zu werden. Die Verfassung muss auch heute die Kraft der Erneuerung Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): aufbringen, weil eine Verfassung so etwas wie ein Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre Gesellschaftsvertrag ist, ein Grundkonsens, der aus- Grundgesetz und damit auch 60 Jahre Freiheit und De- drückt: Nach diesen Regeln, mit diesen Werten, in dieser mokratie in Deutschland – das ist beides keine Selbstver- Ausgestaltung wollen wir miteinander leben, unseren ständlichkeit. Als Grüne kann ich sagen: Ich bin stolz Alltag gestalten; das sind die Rechte, die wir haben. auf diese Verfassung. Manche sagen, sie seien stolz auf „60 Jahre Grundgesetz“ ist ein guter Anlass für den Ge- ihr Land. Ich sage: Wir sind stolz auf diese Verfassung. setzgeber, sich zu fragen, ob die Versprechen, die Zusa- (B) Ich weiß, weltweit werden wir darum beneidet. Wir ha- gen des Grundgesetzes den Fragestellungen und Sorgen (D) ben eine Verfassung, die Gewaltenteilung, die demokra- der Gegenwart gerecht werden. tische Prozesse regelt, und wir haben Grundrechte. Im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich das Land diese Ver- sowie bei Abgeordneten der SPD) fassung wirklich angeeignet und in die Realität umge- setzt. Das Grundgesetz ist nicht nur Ausdruck dessen, was gestern gemeinsamer Wert war und auch heute noch ist, Ich sehe heute vor allem zwei Gründe dafür, dass un- sondern auch dessen, wie wir in Zukunft leben wollen, ser Grundgesetz eine solche Erfolgsgeschichte ist. Der wie Freiheit und Gerechtigkeit morgen aussehen. Es ist erste Grund ist, dass dieses Grundgesetz Deutschland zu fragen, ob das, was 1949 im Grundgesetz theoretisch seine Würde wiedergegeben hat, formuliert wurde, was wir nach und nach in der Praxis, zum Teil hart umkämpft – auch dank der Rechtspre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chung des Bundesverfassungsgerichts, die uns über und bei der SPD sowie bei Abgeordneten manche Hürden geholfen hat –, realisiert haben, hin- der CDU/CSU und des Abg. Dr. Guido sichtlich Würde, Freiheit und Gleichheit hinreichend Westerwelle [FDP]) verwirklicht wird. Die Freiheit des Grundgesetzes – das weil es die Menschenwürde ganz konsequent an den wissen wir – ist nicht die Freiheit von selbstsüchtigen Anfang und damit quasi in den Mittelpunkt gesetzt hat. Ichlingen, sondern Menschenwürde, Freiheit und Unser Grundgesetz ist deshalb eine Verfassung, die Gleichheit gelten immer für alle. Es ist die Freiheit zur wirklich vom Menschen her denkt und nicht aus dem gesellschaftlichen Teilhabe, zur Selbstverwirklichung Blickwinkel des Staates: für alle. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat- sowie bei Abgeordneten der SPD) lichen Gewalt. Schauen wir uns einmal an, in welcher Verfassung un- Das ist sozusagen die Botschaft des Humanismus. Der ser Land heute ist. Wir stehen am Beginn des 21. Jahr- Entwurf aus Herrenchiemsee hatte es auf eine etwas an- hunderts. Wir erleben technologische und gesellschaftli- dere Formel gebracht. Da hieß es: che Veränderungen, eine globale Wirtschaft, einen glo- balen Wettbewerb, Dinge, die sich die Mütter und Väter Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der unseres Grundgesetzes nicht einmal im Ansatz vorstel- Mensch um des Staates willen. len konnten. All diese Veränderungen berühren die Frei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24327

Renate Künast (A) heit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gesellschaft. Es Vielleicht ist der Gesetzentwurf zu den Bad Banks der (C) wundert uns nicht, wenn gerade in diesen Tagen viele sa- nächste Anlass dazu. gen: Diese Gesellschaft ist blockiert. Die Versprechen des Grundgesetzes werden nicht eingehalten. Unsere Freiheit wird aber nicht nur durch den wirt- schaftlich verengten Freiheitsbegriff bedroht. Der An- Ich möchte an einigen Punkten aufzeigen, wo wir in griff auf die Twin Towers in New York war zweifellos unserer Verfassung aufgrund der Entwicklungen der ein Angriff auf unsere Art zu leben, auf unsere Werte. letzten Jahrzehnte im 21. Jahrhundert eine Mangelsitua- Aber im Kampf gegen den Terror hat der Staat den, wie tion haben. ich meine, verfassungswidrigen und gefährlichen Weg zum Präventions- und Überwachungsstaat einge- Ich beginne mit dem Begriff der Freiheit. Die Freiheit schlagen. Indem ihm jedes Mittel recht scheint, vertei- des Grundgesetzes wird heute von zwei Seiten bedroht: digt der Staat jetzt nicht etwa die Rechte seiner Bürger, erstens durch einen falsch verstandenen Freiheitsbegriff sondern bedroht ihre Freiheit im Kern. Es gibt in diesem und zweitens durch die Entwicklung des Präventions- Land eine unzulässige Verschiebung der Gewichte zwi- staates in der Sicherheitspolitik. Der Begriff der Freiheit schen Sicherheit und Freiheit zulasten der Freiheit. Das war immer hart umkämpft, von 1848 über 1918, 1949 müssen wir ändern. bis 1989, jetzt vielleicht wieder. In den letzten Jahrzehn- ten drohte die Freiheit in erster Linie eine Freiheit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Wirtschaft zu werden – eine Freiheit der Wirtschaft von des Abg. Dr. h. c. [SPD]) Verpflichtungen für das Gemeinwohl. Da hebe ich mah- nend die Hand und sage: An der Stelle müssen wir auf- Man könnte auch sagen: Der Gesetzgeber testet die Ver- passen, dass unser Grundgesetz die Freiheit heute so ge- fassung aus, obwohl er an sie gebunden ist. Das ist eine währleistet, wie es 1949 versprochen wurde. Art ziviler Ungehorsam von oben. Das aktuellste Bei- spiel dafür ist das neue BKA-Gesetz. Dieses Gesetz, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem wir jetzt wieder das Bundesverfassungsgericht an- und bei der SPD) gerufen haben, bringt Risse in die Freiheit. Alle Bürger Es droht eine Freiheit der Wirtschaft von Verpflich- werden verdächtig, auch derjenige, der einen kennt, der tungen für das Gemeinwohl, obwohl in Art. 14 des verdächtig sein könnte, weil er wiederum einen solchen Grundgesetzes anderes gesagt wird. Der Profit wird ein- kennt. Das ist die Umkehrung der Idee, dass der Staat für behalten. Die sozialen und ökologischen Folgen werden die Bürger da sei. Auch in diesem Sinne müssen wir die externalisiert; die Schulden werden auf die Zukunft ver- Freiheit, wie sie 1949 im Grundgesetz festgeschrieben lagert. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise worden ist, verteidigen. (B) ist so verursacht worden. Nach diesem Prinzip löst sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) ihre Probleme. Aber das entspricht nicht dem Freiheits- begriff des Grundgesetzes. Freiheit ist die Freiheit für Wenn wir uns jetzt aus Anlass von 60 Jahren Grund- alle, zur vollen Teilhabe, sich entwickeln zu können und gesetz Gedanken über die Gefahren für das Grundgesetz auch in Zukunft über die Grundlagen des Lebens ent- in der Realität machen, stellen wir fest, dass in drei Be- scheiden zu können. reichen Veränderungsbedarf besteht. Einen Bereich habe ich schon angesprochen: Diese Gesellschaft muss sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Begriff der Freiheit zurückerobern. Die Freiheit, die sowie bei Abgeordneten der SPD) ich meine, ist die Freiheit, die in der Französischen Re- Wie sieht es aus für ein Kind, das in diesem Jahr ge- volution mit ihrem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brü- boren wurde? Es hat qua Geburt Schulden in Höhe von derlichkeit“ ihren Ausgangspunkt genommen hat. mehr als 19 000 Euro. Wie viel sind das eigentlich mit Die Freiheit, die ich meine, ist die, die in der friedli- Zinsen, wenn das Kind 18 Jahre alt ist? Das Kind wächst chen Revolution 1989 mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ auf mit uns, die wir über unsere Verhältnisse gelebt ha- aufblitzte und durch die das Volk wieder mehr entschei- ben, die wir die natürlichen Lebensgrundlagen, wie es in det, statt dass die globale Wirtschaft Freiheit vorgibt, der Verfassung heißt, nicht hinreichend geschützt haben. Zwänge schafft, Entscheidungsmöglichkeiten des Volkes Es wächst auf mit Klimawandel, Hunger und weltweiter reduziert und ihre Kosten und Lasten der Allgemeinheit Ressourcenknappheit. Welche Freiheit hat dieses Kind aufbürdet. als Erwachsener, wenn dieser in vielleicht 25 Jahren im Deutschen Bundestag sitzt, um Politik zu machen? Wel- Das ist aber nicht alles. Des Weiteren müssen wir in che Entscheidungsspielräume hat er dann noch, seine dieser Gesellschaft neu überlegen: Wofür sind wir ei- Zukunft und die der anderen Bürger zu organisieren? gentlich im Kern verantwortlich? Seit Bestehen des Ich glaube, dass unsere Wirtschaftsweise nicht durch Grundgesetzes 1949 hat die gesellschaftliche Entwick- den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes gedeckt ist. Wir lung eine Pluralisierung von Lebensstilen erlebt. Was da- müssen darauf achten, dass wir in der Verfassungsreali- mals mit dem Begriff des Sozialstaats und mit Art. 6, tät dem Postulat der Verfassung entsprechen, und zwar „Schutz von Ehe und Familie“, geschützt wurde, exis- bei jedem Gesetzentwurf, den wir in Zukunft hier vorlie- tiert heute nicht mehr in der Form wie 1949. Ich kann gen haben. hier nicht in 15 Minuten alle Bereiche des Sozialstaats ansprechen. Man könnte im Zusammenhang mit Solida- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rität und Verantwortung über die sozialen Sicherungs- sowie bei Abgeordneten der SPD) systeme, den Umgang mit alten und kranken Menschen 24328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Renate Künast (A) und Pflege oder den Umgang mit der demografischen wunderbar aufgebaut: mit Checks and Balances, mit Ge- (C) Entwicklung im 21. Jahrhundert reden. waltenteilung und mit Gerichten, die man anrufen kann. Aber im 21. Jahrhundert sehen wir, dass Demokratie Dy- Ich will mich aber im Folgenden darauf konzentrie- namik entwickeln kann. Damit meine ich nicht nur den ren, was in Zukunft im Zentrum des staatlichen Schutzes Ruf „Wir sind das Volk!“. Wir konnten von 1968 bis stehen sollte, und auf die Kinder schauen. Wir müssen jetzt erleben, wie stark sich Bürgerinnen und Bürger en- erkennen: Das Grundgesetz hinkt an dieser Stelle der ge- gagieren wollen. Mittlerweile ist es sogar so, dass jeder sellschaftlichen Entwicklung hinterher. internationale Regierungsgipfel einen Gegengipfel aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN löst. Auch das ist eine Möglichkeit zur Meinungsäuße- sowie der Abg. Christel Riemann- rung. Hanewinckel [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) An anderen Stellen, beispielsweise beim Schutz der na- türlichen Lebensgrundlagen und beim Tierschutz, wurde Heute ist die Erweiterung der Instrumente politischer das Grundgesetz aktualisiert. Eine solche Aktualisierung Willensbildung fällig. Das Angebot kann nicht nur sein, muss auch im Bereich „Familie und Kinder“ stattfinden. sich auf einen langen Weg durch die Parteien zu machen. Demokratie heißt auch nicht, turnusgemäß alle vier Die Familie, wie man sie sich im Jahr 1949 vorge- Jahre zur Wahlurne zu schreiten. Ich meine, dass wir stellt hat, existiert in dieser Form nicht mehr. Im zwei Verbesserungen brauchen: Wir brauchen in der 21. Jahrhundert gibt es alle möglichen Formen von Fa- Verfassung vorgesehene Volksinitiativen, Volksbegehren milie. Es gibt Familien mit Trauschein und ohne Trau- und Volksentscheide sowie das aktive Wahlrecht ab schein, es gibt Patchworkfamilien. Es gibt homo- und 16 Jahre. heterosexuelle Eltern; es gibt biologische und soziale El- ternschaft. Die Frauen nehmen sich ihr Recht auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gleichstellung. Drei von zehn Kindern in diesem Land Frau Bundeskanzlerin, es ist schön, wenn Sie Migran- werden von alleinerziehenden Müttern oder Vätern und tinnen und Migranten ihre Einbürgerungsurkunden über- von Eltern ohne Trauschein erzogen. Die Antwort darauf reichen, obwohl dies rechtlich gesehen ein irrelevanter darf nicht sein, dass man im Grundgesetz weiter an Leit- Akt ist, weil die Einbürgerung Ländersache ist. Besser bildern vergangener Zeiten festhält. wäre es aber, wenn in dieser Gesellschaft nicht mehr auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN grund ethnischer Herkunft oder Religion ausgegrenzt sowie bei Abgeordneten der SPD) würde – das ist nämlich Gift für unsere Kultur –, wenn wir also dafür sorgen würden, dass sich Migrantinnen 60 Jahre Grundgesetz und Gleichheitsanspruch – und (B) und Migranten hier einbringen können, zum Beispiel in- (D) doch erfahren Kinder in dieser Gesellschaft immer mehr dem wir ein kommunales Wahlrecht für sie einführen. eine Blockade. Der Grund liegt nicht nur in der Fokus- sierung auf die Familie im engeren Sinne, sondern auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den mangelhaften Bildungschancen. 83 Prozent der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Studierenden in Deutschland – in einer der führenden In- LINKEN) dustrienationen mit einer Verfassung, die stark auf Ge- rechtigkeit und Freiheit abzielt – stammen aus höheren Präsident Dr. Norbert Lammert: Schichten. 8 Prozent der Kinder verlassen die Schule Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Redezeit. ohne Abschluss. Knapp ein Viertel der 15-Jährigen ist auf Grundschulniveau. Das ist eine blockierte Gesell- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaft. So haben sich die Mütter und Väter des Grundge- setzes das nicht vorgestellt. Ich habe drei Bereiche genannt, die in der Verfassung an das 21. Jahrhundert angepasst werden müssen. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte Ihnen aber eines sagen: Diese Aufgabe betrifft und bei der SPD) nicht nur uns selbst. Wir haben auch eine Vorbildfunk- Auch angesichts von Vernachlässigung, Gewalt und tion für Europa. Europa ist als Friedensprojekt gestartet Missbrauch, denen manche Kinder ausgesetzt sind, muss und wurde als Wirtschaftsprojekt weitergeführt. Nun die Antwort des Grundgesetzes lauten: Die Sorge gilt muss es endlich ein soziales und ökologisches Europa den Kindern und nicht dem Trauschein. Statt Art. 6 in werden. Unsere Verfassung kann die Standards dafür set- seiner jetzigen Form zu belassen, müssen Kinder endlich zen. Sie kann begeistern und zeigen, wie man eine mo- zum Subjekt der Verfassung werden; sie dürfen nicht derne Verfassung schreibt, in der sich alle entwickeln weiter Objekt in der Beziehung zu ihren Eltern bleiben. und ihre Lebensgrundlage halten können. Das ist unser Auftrag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Wir brauchen das eigenständige Recht der Kinder auf Gysi [DIE LINKE]) eine gesunde und gewaltfreie Entwicklung, auf Förde- rung und Bildung sowie auf eine gesunde Umwelt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Mein letzter Aspekt behandelt das Thema Demokra- Dr. Peter Ramsauer ist der nächste Redner für die tie. Ja, wir haben die Demokratie in diesem Land ganz CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24329

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Trittin nommen hat, fand in einer Haltung und Gesinnung statt, (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie jetzt die politisches Handeln anderen als nur menschlichen für das Grundgesetz?) Maßstäben verantwortlich weiß. Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): den Menschen, … Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 60 Jahre So beginnt die Präambel unseres Grundgesetzes. Damit Grundgesetz, das ist für uns alle ein Grund zur Freude. wird eine Orientierung jenseits von politischem Angebot Der Deutsche Bundestag hat – man kann sagen: partei- und politischer Nachfrage markiert, die wir alle brau- und fraktionsübergreifend – Grund zu dieser Freude. Wir chen und uns allen guttut. sollten diesen Tag in Einigkeit und Dankbarkeit bege- Die Präambel der bayerischen Verfassung ist von ei- hen. nem Sozialdemokraten, dem unvergessenen Wilhelm Hoegner, im gleichen Geiste geschrieben worden: (Beifall bei der CDU/CSU) Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- Wir alle stehen mit unserer politischen Arbeit und mit und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewis- unserer Politik insgesamt auf einem stabilen Fundament, sen und ohne Achtung vor der Würde des Men- das unser Land und unseren Staat 60 Jahre sicher getra- schen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges gen hat. Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kom- konnten die Menschen unseres Landes eine so lange Pe- menden deutschen Geschlechtern die Segnungen riode der Stabilität und des Friedens genießen, wie sie des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes unserer und der Generation unserer Eltern zuteil gewor- dauernd zu sichern … den ist. Die Männer und Frauen, die 1948 im Parlamen- tarischen Rat in Bonn mit ihrer Arbeit an einer Verfas- Ich glaube, man kann den Irrwegen, auf die sich die sung für einen damals noch nicht einmal in Umrissen deutsche Politik in den zwölf Jahren zwischen 1933 und erkennbaren neuen deutschen Staat begannen, hätten 1945 begeben hat, keine feierlichere und beschwören- sich in ihren kühnsten Visionen gewiss nicht träumen dere Absage erteilen als die von Hoegner verfasste. lassen, welch ein Werk von Dauer und politischer Nach- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haltigkeit sie schaffen würden. neten der SPD) Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist Das Grundgesetz hat der Politik klare Handlungsauf- für das deutsche Volk zu einem Dokument des Glücks träge gegeben. Einen Auftrag, vielleicht den wichtigsten, (B) geworden. Auch wenn es in den sechs Jahrzehnten sei- haben wir erfüllt: die Einheit unseres Vaterlandes zu (D) ner Gültigkeit mancherlei Ergänzungen und Veränderun- erreichen. Der Appell, der hierzu in der ursprünglichen gen erfahren hat, blieben sein Kern und seine Substanz Präambel stand, wurde durch den Einigungsvertrag vom immer unangetastet. Ich glaube, wir alle sind gut bera- 3. Oktober 1990 hinfällig. Er wurde nicht hinfällig, weil ten, mit demokratischer Leidenschaft dafür zu sorgen, etwa das Grundgesetz, wie Sie, Herr Müntefering, neu- dass dies auch in Zukunft so bleibt. lich meinten, den Menschen in der ehemaligen DDR (Beifall bei der CDU/CSU) übergestülpt worden wäre. Herr Müntefering, nichts wurde übergestülpt. Vielmehr hat die letzte, frei ge- Meine Fraktion erteilt allen Überlegungen, die dahin ge- wählte Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundes- hen, mit diffusen Begründungen grundsätzliche Verän- republik Deutschland und damit die Übernahme des derungen am Grundgesetz vorzunehmen und es sozusa- Grundgesetzes für das ganze Deutschland in Freiheit be- gen mit überflüssigen Zutaten zu befrachten, klipp und schlossen. klar eine Absage. Nicht die Quantität, sondern die Quali- tät zeichnet unsere Verfassung aus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Ihr Parteifreund Richard Schröder hat Ihnen zu Recht entgegengehalten, dass den Menschen in der DDR dieser Das Grundgesetz zog die Lehren aus den Schwächen Beitritt damals gar nicht schnell genug gehen konnte. der Weimarer Republik und stellte ein starkes und glaub- würdiges Kontrastprogramm zu jenen zwölf Jahren deut- Hände weg vom Namen der Bundesrepublik Deutsch- scher Geschichte und deutscher Politik dar, die aufgrund land und von einem überflüssigen Herumbasteln an un- der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, des Krie- serem Grundgesetz! ges und des Massenmordes an den Juden in Deutschland (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und in Europa im bittersten Sinne des Wortes Jahre des Unheils waren. Franz Josef Strauß hat die Wurzeln allen Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass Ergänzungen Übels dieser teuflischen Jahre im verhängnisvollen Ab- und Veränderungen nicht dort vorgenommen werden fall vom christlichen Sittengesetz und dessen Normen können oder auch müssen, wo dies zwingend erforder- gesehen. lich ist. Die Ergebnisse der Föderalismuskommission II sind ein Beispiel dafür. Auch hier sollte es mehr auf die (Beifall bei der CDU/CSU) Substanz als auf die Länge des zu ergänzenden Textes ankommen. Der Aufbau eines neuen und demokratischen deutschen Staates, der mit unserem Grundgesetz seinen Anfang ge- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) 24330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Peter Ramsauer (A) Natürlich darf ich einen persönlichen, gewissermaßen (Beifall bei der CDU/CSU) (C) heimatlichen Bezug zum Anlass und Thema der heuti- gen Debatte nicht vergessen. Zu meinem Wahlkreis 60 Jahre Grundgesetz unseres Landes – dieses Jubi- – Traunstein und das Berchtesgadener Land – gehört be- läum fällt in eine wirtschaftlich äußerst schwierige Zeit. kanntlich der Chiemsee. Auf einer Insel im Chiemsee Jammern hilft uns aber nicht weiter. Vielleicht hilft ein wurde Verfassungsgeschichte geschrieben. Liebe Frau Blick zurück in jene Zeit, in der das Grundgesetz ent- Kollegin Künast, es freut und erstaunt mich, dass ausge- stand und das politische Leben wieder begann. Halten rechnet Sie auf den Geist von Herrenchiemsee hingewie- wir uns die damalige Lage und die Lebensumstände der sen haben. Menschen vor Augen – die Not und das Elend, den Trümmerhaufen, den Deutschland damals darstellte –, so (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- können wir nur den Mut und die Tapferkeit sowie den NEN]: Ich habe zwei Staatsexamen! Da Fleiß und den Willen unserer Eltern und Großeltern be- kommt man nicht drum herum!) wundern, anzupacken, aufzubauen und die Dinge zum Auf Einladung der auch damals schon CSU-geführten Besseren zu wenden. Aus dieser Haltung, fernab von Re- Bayerischen Staatsregierung trat im Alten Schloss auf signation und Wehleidigkeit, gilt es auch heute zu ler- der Herreninsel ein Ausschuss von Bevollmächtigten der nen. damals bestehenden elf deutschen Länder in den westli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. chen Besatzungszonen und des Magistrats von Berlin Florian Toncar [FDP]) zusammen. Dieser Verfassungskonvent tagte vom 10. bis zum 23. August 1948. Er erstellte einen Bericht, An dieser Stelle ist es angebracht – eine solche Be- der auch den Entwurf eines Grundgesetzes enthielt, der merkung habe ich in dieser Debatte noch nicht gehört –, Grundlage der Arbeit des Parlamentarischen Rates Dank zu sagen, Respekt zu zollen und Anerkennung zu wurde. So gesehen hat das Grundgesetz der Bundesrepu- leisten für die großartige Integrationsleistung und Auf- blik Deutschland durchaus auch bayerische Wurzeln. bauarbeit, die Heimatvertriebene und Flüchtlinge in den Nachkriegsjahrzehnten geleistet haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Eine Verfassung lebt vom Geist, von dem sie erfüllt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist, und wird lebendig durch die Politik, die auf ihrer neten der FDP) Grundlage gemacht wird. Hier hat meine Partei in sechs Ohne diese großartige Aufbauleistung wäre Deutschland Jahrzehnten des Bestehens des Grundgesetzes ihre poli- heute nicht das, was es ist. Ohne die Charta der Hei- tische Pflicht für das ganze Deutschland erfüllt. Wir ha- matvertriebenen aus dem Jahre 1950, diesen Verzicht ben – auch im Wechselspiel zwischen Regierungsverant- (B) auf Rache und Vergeltung, was eine großartige, friedens- (D) wortung und Opposition – Verantwortung getragen, stiftende Leistung war und womit ein Zeichen gesetzt haben nicht nach Bequemlichkeit, sondern nach der wurde, wäre auch Deutschland nicht das, was es heute Richtigkeit des zu beschreitenden Weges gefragt, in al- ist. len wichtigen, weichenstellenden Fragen unseres Lan- des. (Beifall bei der CDU/CSU) Die politische Kompetenz einer Partei, die Richtigkeit Die Probleme sind groß, aber auch unsere Chancen ihres Kompasses und ihr Mut erweisen sich nicht nur in sind groß. Besinnen wir uns auf unsere Stärken. Geben der Regierung, sondern natürlich auch in der Opposition. wir ihnen im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft Die von Franz Josef Strauß durchgesetzte Klage des Raum und Entfaltungsmöglichkeiten. Nur mit der be- Freistaates Bayern zum Grundlagenvertrag zwischen währten Ordnung dieser sozialen Marktwirtschaft wer- der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im den wir die gegenwärtige Wirtschaftskrise überwinden. Jahr 1973 war – das müssen wir auch und gerade am Es sind falsche Propheten, die den Menschen jetzt Kon- heutigen Tag im Rückblick sagen – ein deutschlandpoli- zepte der Staats- und Zwangswirtschaft – ob sie nun So- tischer Meilenstein. zialismus oder Kommunismus heißen – als Ausweg ein- (Beifall bei der CDU/CSU) reden möchten; denn all diese Konzepte sind krachend gescheitert. Das Verfassungsgericht schob damals allen offenen und schleichenden Bestrebungen zur Anerkennung einer Ich glaube, ein lebendiger und selbstbewusster deutschen Zweistaatlichkeit oder einer eigenen DDR- Patriotismus, wie er anderen Ländern der Welt immer Staatsbürgerschaft entschlossen einen Riegel vor. Meine schon ganz selbstverständlich zu eigen war, steht auch Partei hat sich mit dieser Klage gegen den damaligen uns Deutschen, steht auch unserem Volk zu. Zeitgeist gestellt. Sie hat den zum Sturm gewordenen Gegenwind der öffentlichen Meinung nicht gefürchtet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie hat es ausgehalten, dass die damalige Bundesregie- Gerade in diesen Krisenmonaten muss gelten: Wir ste- rung die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in hen zusammen. Wir wollen unserem Land, unseren Bür- dieser Frage regelrecht als Anschlag auf die Entspan- gerinnen und Bürgern dienen. Linke Klassenkampfrhe- nungspolitik bezeichnete. Wir haben uns davon nicht be- torik ist von gestern. Die Bereitschaft zur Verantwortung irren lassen. Durch die Verfassungsklage meiner Partei für das Große und Ganze ist das Gebot der Stunde. wurde die deutsche Frage und damit das Tor zur deut- schen Einheit offengehalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24331

Dr. Peter Ramsauer (A) Wir Deutschen stehen zu unserem Land. Umfragen len Bedrohung ihrer Freiheit. Freiheit und Demokratie (C) aus den letzten Tagen unterstreichen das. Wir Deutsche erscheinen ihr selbstverständlich. Werner Finck sagte vertrauen auf unsere Leistungsbereitschaft, wir ver- einmal: trauen auf unser Pflichtbewusstsein, und wir vertrauen Es geht uns mit der Freiheit wie mit der Gesund- auf unsere Weltoffenheit. Ich finde, das alles sind exzel- heit: Erst wenn man sie nicht mehr hat, weiß man, lente Grundlagen, um die gegenwärtige Krise zu über- was man an ihr hatte. winden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das gemeinsame Vaterland verbindet zu gemeinsa- der CDU/CSU und der SPD) mer Anstrengung. Ich bin überzeugt: Das Grundgesetz hat unserem Patriotismus ein verlässliches und solides Diese Gefahr der Gewöhnung rechtzeitig zu erken- Fundament gegeben. nen und diesen Ausspruch zu widerlegen, müssen unser Ziel und unsere Aufgabe in den nächsten Jahren sein. Vielen Dank. Garantiert uns das Grundgesetz, dass die Erfolgsge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schichte der Bundesrepublik weitergeht? Das kann es neten der SPD und der FDP) nicht, und das war auch nicht die Absicht seiner Väter und Mütter. Der Staatsrechtler Rudolf Smend hat den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sinn und Zweck des Grundgesetzes als Integration be- Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Toncar von der zeichnet und damit einen Prozess ständiger Erneue- FDP-Fraktion. rung, dauernden Neu-erlebt-Werdens gemeint. So ist das Grundgesetz nicht statisch, sondern lebend. Der (Beifall bei der FDP) Kern seiner Werte, wie zum Beispiel die Menschen- würde, der überragende Wert des einzelnen Menschen, Florian Toncar (FDP): ist zeitlos. Aber er ist in die Zukunft offen. Er kann für Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zukünftige, heute noch gar nicht bekannte Herausforde- ren! Die Geschichte unseres Grundgesetzes ist eine rungen Antworten bieten. einzigartige Erfolgsgeschichte. Es gibt keine einzige his- torisch bedeutsame Frage in der Geschichte der Bundes- Gegenwart und Zukunft stellen uns schon heute vor republik, in der es nicht seine Rolle gespielt hätte. Es ist schwierige Entscheidungen. Es geht zum Beispiel um aus einer historischen Katastrophe heraus entstanden die Möglichkeiten der modernen Medizin und Fragen und wurde von Menschen erarbeitet, die von dem, was des Schutzes der Privatsphäre angesichts ganz neuer sie erlebt hatten, gezeichnet waren. Auch die Nach- technischer Möglichkeiten. Es ist ohne großen Aufwand (B) kriegsgeneration, die die schlimmste Zeit in unserer Ge- möglich, eine DNA-Analyse jedes Menschen zu erstel- (D) schichte nicht mehr selbst erlebt hat, war immerhin noch len und auszuwerten. Solche Entscheidungen können stark geprägt durch die Bewältigung der Folgen von mit dem Grundgesetz bewältigt werden. Sie sind nicht Krieg und Diktatur. leicht. Sie werden sicherlich auch in Zukunft nicht leich- ter. Aber das, was eine Verfassung leisten kann, um sie Die Menschen in Ostdeutschland haben erst 1989/90 zu beantworten, liefert das Grundgesetz. Eine Restver- ihre Freiheit erkämpft, sodass die meisten von ihnen antwortung der Gesellschaft, die Wertungen des Grund- noch sehr unmittelbar wissen, wie es ist, in einem Un- gesetzes, die Menschenwürde immer wieder neu zu defi- rechtsstaat zu leben. Doch wenn in diesem Jahr der nieren und auszubuchstabieren, bleibt. Das kann uns 17. Deutsche Bundestag gewählt wird, wird es in ganz keine Verfassung dieser Welt abnehmen. Deutschland keinen einzigen Erstwähler mehr geben, der sich noch selbst an die deutsche Teilung wird erin- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nern können. Unsere Gesellschaft wird immer stärker der CDU/CSU und der SPD) geprägt werden von Menschen, die das Glück und das Deswegen möchte ich bezüglich aller Debatten über Privileg hatten, in Frieden in einem geeinten Europa und die Frage, ob wir eine neue Verfassung brauchen, sa- in einer freiheitlichen Demokratie groß zu werden. gen: Ich kann nicht erkennen, dass wir das, was vor uns (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten liegt, mithilfe des Grundgesetzes nicht bewältigen kön- der CDU/CSU und der SPD) nen. Diejenigen, die laufend neue Vorschläge machen, was noch hineingeschrieben werden könnte oder mögli- So stellt sich an diesem 60. Jahrestag die Frage, wie cherweise fehlt, müssen sich die Frage stellen lassen, ob es mit dem großartigen Erbe des Grundgesetzes weiter- man die Autorität des Grundgesetzes nicht eher dadurch geht. Ich bin davon überzeugt, dass die jungen Deut- beschädigt, dass man ständig den Eindruck erweckt, es schen die Werte unserer Verfassung tief verinnerlicht ha- sei unvollständig, lückenhaft und verbesserungsbedürf- ben. Meine Generation ist in ihrer großen Mehrheit tig. Das ist nicht so, und das sollte man auch nicht stän- tolerant, verantwortungsbewusst und skeptisch gegen- dig so darstellen. über Extremen aller Art. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) der CDU/CSU und der SPD) Ich will aber auch auf Entwicklungen eingehen, von Sie ist stolz auf ihr Land, ohne sich dabei über andere zu denen ich glaube, dass wir in Zukunft auf sie achten und erheben. Ihr fehlt allerdings das Erlebnis der existenziel- vorsichtig sein müssen. Ich meine damit zum einen un- 24332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Florian Toncar (A) seren Umgang mit den Grundrechten und zum anderen jeder Ebene ermöglicht, den Schwarzen Peter bei einer (C) die Frage der Lebendigkeit unserer Demokratie. Die anderen Ebene abzuladen, und schlussendlich den Bür- Grundrechte sind der Teil des Grundgesetzes, der un- ger ratlos zurücklässt? sere Bürgerinnen und Bürger selber in ihrem Alltag un- mittelbar betrifft. Sie stellen den Menschen in den Mit- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten telpunkt und verpflichten den Staat, den Menschen zu der CDU/CSU) dienen. Gehen wir eigentlich immer fair mit unseren Kom- Aber wie wird im politischen Alltag mit den Grund- munen um, die an immer umfangreichere Regeln ge- rechten umgegangen? Ich habe das Gefühl, dass Grund- bunden werden, dabei immer größere Finanzierungspro- rechte oder zumindest das Bundesverfassungsgericht, bleme haben und schlussendlich über den goldenen das sie anwendet, zunehmend als lästiges Hindernis Zügel von Zuschüssen gesteuert und alimentiert werden? empfunden werden. Ich möchte fragen, ob es sich eine Ich glaube, dass man sich nicht wundern muss, dass es in freiheitliche Gesellschaft eigentlich erlauben kann, dau- vielen Kommunen immer schwerer wird, Menschen zu ernd und immer wieder das Bundesverfassungsgericht finden, die sich für kommunales politisches Engagement zu strapazieren, um eigentlich elementare Grundent- begeistern. scheidungen unserer Verfassung durchzusetzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU und der SPD) Teilhabe findet jedenfalls nicht ausschließlich auf parla- So lange es so ist, dass in Parlamenten Mehrheiten mentarischen Abenden statt, sondern beginnt in unseren immer wieder bereit sind, Grundrechte, oft aufgrund von Kommunen. Extremsituationen, unverhältnismäßig einzuschränken, so lange – das muss man sagen – ist das Immunsystem Ich vermisse auch eine Debatte über die Rolle und das unserer Gesellschaft gestört. Diese Kontrolle kann nicht Selbstverständnis dieses Parlaments. Wer sollte sie ei- auf Dauer von einem Gericht wahrgenommen werden. gentlich anführen, wenn nicht die Abgeordneten des Bundestages selbst? Womöglich wird sie auch deshalb (Beifall des Abg. [FDP]) vermieden, weil wir uns mit dem zu erwartenden Ergeb- nis nicht zufriedengeben können. Ich meine, dass der Entlarvend ist im Übrigen die Formulierung, die in Bundestag seinen Einfluss gegenüber der Exekutive unserer politischen Alltagssprache sehr oft auftaucht: dringend stärken müsste. Ich habe nichts gegen Ministe- Das Parlament müsse Vorgaben des Bundesverfassungs- rialbeamte. Die meisten von ihnen machen gute Arbeit. gerichts umsetzen. Das wird bei dem BKA-Gesetz, beim (B) Aber wenn ein Ministerialbeamter Gesetzgeber sein (D) Lauschangriff und bei vielem anderen gesagt. Das Bun- möchte, dann möge er sich für eine Wahl bewerben, wie desverfassungsgericht macht uns überhaupt keine Vor- wir das alle auch tun müssen; er muss sich mit seinen gabe. Es definiert lediglich rote Linien, die wir nicht Argumenten stellen und dann wählen und bestätigen las- überschreiten dürfen. Wenn wir immer so tun, als ob die sen. Aber Gesetzgeber ohne vorherige Wahlen kann man rote Linie – die letzte Möglichkeit, die das Verfassungs- nicht sein. gericht lässt – eine Vorgabe des Gerichts sei, dann gehen wir immer wieder an die Grenzen unserer Verfassung, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der strapazieren sie und verschieben so die Achse unserer CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Grundrechte nach außen. Wir sehen, dass EU-Rechtsakte im Ministerrat der EU (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von Beamten ausgehandelt werden und dass der Bun- der CDU/CSU und der SPD) desrat in der Praxis weitgehend eine Beamtenveranstal- Ich möchte auch noch auf den Zustand unserer tung ist und dass die Ministerialbürokratie leider auch Demokratie eingehen. Es gibt zum Glück heute in auf unsere Parlamentsarbeit einen erheblichen Einfluss Deutschland nur noch sehr wenige Unverbesserliche, die ausübt, sich prinzipiell gegen die Idee der Demokratie wenden. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider Für diese brauchen wir das Konzept der wehrhaften De- wahr! – [CDU/CSU]: Sehr gu- mokratie. Aber auch an einem Feiertag wie heute soll ter Hinweis!) nicht verschwiegen werden, dass unsere Demokratie leb- hafter sein könnte und dass die Lebendigkeit unserer De- wobei das Vorbereiten von Sprechzetteln für Abgeord- mokratie aus der Mitte der Gesellschaft bedroht ist, weil nete in der Regierungskoalition noch eine möglicher- es Ermüdungs- und Gewöhnungserscheinungen gibt. weise harmlose Peinlichkeit darstellt. Nicht mehr harm- los wird es dann, wenn Anträge, die im Parlament eine Man kann das im Rahmen einer solchen Rede nicht Mehrheit hätten, durch das Veto eines Ministeriums ge- abschließend analysieren, aber ich möchte einfach einige stoppt werden. Ein Parlament, das so mit sich umsprin- Fragen aufwerfen: Ist es einem Bürger heute eigentlich gen lässt, setzt sein Ansehen und seine Autorität aufs noch möglich, einen für eine Maßnahme politisch Ver- Spiel. Ich vermisse auch in diesem Hause hierfür das nö- antwortlichen auszumachen? Haben wir nicht weiterhin tige Problembewusstsein. ein großes Durcheinander an Zuständigkeiten von Europa über Bund und Länder bis hin zu den Kommu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen, das Verantwortung systematisch verschleiert und es der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24333

Florian Toncar (A) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das Grund- Werten im Grundgesetz steht, wird dem gerecht, was wir (C) gesetz stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Es stellt in dieser Gesellschaft von unserem Miteinander erwar- in unserer Demokratie das Parlament als die direkte Ver- ten. Deshalb muss man nichts daneben oder gar darüber tretung dieser Menschen in den Mittelpunkt. Meine Ge- stellen, sondern versuchen, dem Grundgesetz gerecht zu neration hat das Glück, diese Errungenschaft zu erben. werden. Damit fängt unsere Verantwortung aber erst an. Ich freue mich auf die Zukunft. Vier Jahre nach Ende von Nazideutschland schrieben die Väter und Mütter des Grundgesetzes in die Präam- Vielen Dank. bel, dass sie es beschließen, „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Frieden der Welt zu dienen“. Das war ein Zeichen von SPD) Demut, von „Wir haben verstanden und wollen es besser machen“. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Franz Müntefering von der Das eigentlich Entscheidende war aber, dass 1952 mit SPD-Fraktion. der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und 1957 mit den Römischen Verträgen die europäischen (Beifall bei der SPD) Länder auf uns zukamen, Deutschland eingeladen haben. Ich habe das, ich weiß, erst sehr spät begriffen – und Franz Müntefering (SPD): viele von uns hatten es damals noch nicht begriffen –, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im dass uns Frankreich und Italien, die Niederlande – durch Mai 1949, als das Grundgesetz entstand, war zum Feiern die wir dreimal mit Stiefeln gezogen waren –, Belgien niemand zumute in Deutschland. Das Land lag in Trüm- und Luxemburg damals, Mitte der 50er-Jahre, die Hand mern, es gab Not, es gab Elend, Witwen und Waisen, gegeben haben, als sie gesagt haben: Lasst uns Europa Vertriebene. machen! Da entstand das Grundgesetz. Das Grundgesetz war Das muss für uns alle ein Ansporn sein, Ländern, die ein Fanal, es war eine Botschaft. Die Tage waren domi- heute den Kontakt suchen zu uns, zur Demokratie, zu niert von den Sorgen des Alltags. Aber wir haben Schritt Europa überhaupt, nicht zu sagen: Ihr seid noch weit jen- für Schritt begriffen: Wir haben hier ein robustes Grund- seits von Demokratie! Auch Deutschland hatte damals gesetz für die Verfasstheit unseres Staates. In diesem keine große demokratische Tradition. Man hat uns eine Grundgesetz standen und stehen Werte, die unverzicht- Chance gegeben. Nun müssen wir mit unserer Demokra- bar sind für ein menschliches Miteinander. Diese Werte tie dazu beitragen, anderen Völkern in Europa und da- (B) gelten auch heute. Die Frage ist: Werden wir dem ge- rüber hinaus die Chance zu geben, in die Demokratie hi- (D) recht in unserer Zeit? Denn Werte müssen mit dem, was neinzuwachsen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. die Zeit von uns verlangt, immer wieder abgeglichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden. Das Gerüst unseres Grundgesetzes, was die der CDU/CSU, der FDP, des BÜND- Verfasstheit des Staates angeht, steht. Die Frage ist aber: NISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Werden wir dem gerecht, was diese Werte uns abverlan- gen? Art. 1 – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – ist angesprochen worden. Als Johannes Rau Bundesprä- Etwas, was mir an der Rede des Kollegen Toncar gut sident wurde, hat er gesagt: Da steht „Die Würde des gefallen hat, war der Hinweis – so habe ich ihn verstan- Menschen ist unantastbar“, da steht nicht „Die Würde den –, dass unsere permanente Debatte darüber, was im des deutschen Menschen ist unantastbar“. Das gab da- Grundgesetz verändert, korrigiert oder erweitert werden mals eine größere Diskussion. Aber das ist der Kern des- müsste, nicht dazu führen darf, dass wir in die Gefahr sen, was im Grundgesetz steht: „Die Würde des Men- kommen, das Grundgesetz gleich um eine Gebrauchs- schen ist unantastbar.“ anweisung zu erweitern. Bei all dem, was wir machen, müssen wir immer die Frage stellen: Ist das nötig, ist das (Beifall bei der SPD, der FDP und dem unabdingbar? Das Grundgesetz muss mehr sein – und et- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- was anders – als das, was in Gebrauchsanweisungen üb- geordneten der CDU/CSU, der LINKEN und licherweise steht. des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Das heißt: Alle Menschen, die in diesem Lande wohnen, Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- welche Hautfarbe sie haben, welchen Namen sie haben, NISSES 90/DIE GRÜNEN) welche Religion sie haben – oder auch nicht haben –, ge- hören im Sinne unseres Grundgesetzes dazu, gleichwer- Wenn man in Deutschland keine grundwertefreien tig, unveränderlich. Das ist die Aussage dieses Grundge- Zonen haben will, sollte man von dem Gedanken ablas- setzes und die Voraussetzung dafür, dass wir die sen, Leitkulturen neben das Grundgesetz zu stellen. Probleme der Integration in den nächsten Jahren in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland lösen können. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Alle Menschen, die in Deutschland leben, sind dem der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Grundgesetz verpflichtet. Wer sich an das hält, was an GRÜNEN) 24334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Franz Müntefering (A) In den Art. 10 und 13 des Grundgesetzes steht etwas 60er-Jahren gewesen ist. Beim Blick zurück tun wir im (C) über das Briefgeheimnis und die Unverletzlichkeit der Westen manchmal so, als ob das alles schön, gut, offen, Wohnung. Damals kannte man noch nicht die neuen liberal und tolerant gewesen sei. Es gab aber eine ganze Kommunikationstechnologien, die es heute gibt. Ich bin Menge aufzuarbeiten. Ich schaue dabei keine Fraktion mir aber sicher: Wenn Carlo Schmid, Theodor Heuss, besonders an, aber das ist die Wahrheit, die Erfahrung Konrad Adenauer und die anderen das, was wir heute meiner Generation. haben, gekannt hätten, dann hätten sie einen kurzen, prä- zisen Satz auch dazu gefunden, der deutlich gemacht Ich hatte noch Lehrer – 1946 bin ich in die Schule ge- hätte: Die Arroganz der totalen Kontrolle kann die Sache kommen –, von denen in der Geschichte keiner weiter nicht sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Privat- als bis zum Kaiserreich kam, weil sie alle ihre eigenen sphäre und die Daten des Einzelnen geschützt sind, zum Befangenheiten hatten. Wir haben Mitte der 60er-Jahre Beispiel auch dann, wenn es um die Interessen der Ar- damit angefangen, die Eltern und die anderen zu fragen, beitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. – Es kann wie das eigentlich war und was geworden ist. Deshalb ist nicht sein, dass das so läuft, wie das im Augenblick in mit „mehr Demokratie wagen“ viel aufgebrochen wor- Deutschland der Fall ist. den. Man könnte vieles aufzählen; ich lasse das beiseite. Es war aber eine wichtige Entscheidung. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Dieser Willy Brandt hat, als er als Parteivorsitzender bei Abgeordneten der LINKEN) meiner Partei ging, gesagt: Wenn ihr mich fragt, was das Wichtigste ist, dann sage ich euch: neben dem Frieden „Eigentum verpflichtet“ – Art. 14 Abs. 2 –: Schöner die Freiheit. kann man es nicht sagen. Das gilt nicht nur für die Pro- duktionsmittel, sondern auch für das Geld; das ist über- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP haupt keine Frage. Darüber werden wir hier noch man- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ches Mal zu diskutieren haben. Ich sage hier aber ganz Wie immer wir das alles wenden und wie immer wir die klar: Wer im Jahre 2009 25 Prozent Gewinn auf sein soziale Gerechtigkeit und die Solidarität beschreiben Eigenkapital fordert, während Hunderttausende in und definieren: Es fängt bei der Freiheit des Einzelnen Deutschland Angst um ihren Arbeitsplatz und ihr Ge- an, die ihre Grenze an der Freiheit des anderen findet. spartes haben, der geht mit dem Eigentum nicht vertrau- Das ist die Grundbedingung für alles, was in dieser Ge- enswürdig und nicht vertrauensbildend um, sondern der sellschaft geschieht. zerstört das Vertrauen. Weil das so ist, sind Bildung und Erziehung so un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten endlich wichtig. Wenn wir wollen, dass die Menschen, (B) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE die hier aufwachsen, die Kinder, Demokratinnen und (D) GRÜNEN) Demokraten werden und nach dem Grundgesetz leben Der Art. 14 Abs. 1 soll nicht vergessen sein. Danach können und wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass wird Eigentum gewährleistet. Ich meine hier das geistige sie Bescheid wissen und nicht für dumm verkauft wer- Eigentum. Die totale Digitalisierung bringt Gefahren den. Es war die große Idee auch der Arbeiterbewegung, für die Kunst und für die Kultur in diesem Land mit sich. dafür zu sorgen, dass die Menschen Informationen ha- Wir kennen die Debatte, und wir sind gut beraten, sie ben und Bescheid wissen. Deshalb ist Bildung keine ab- nicht einfach beiseitezuschieben. geleitete ökonomische Größe, sondern ein Grundrecht und Menschenrecht, das wir in dieser Gesellschaft um- Die Freiheit der Kultur ist die Voraussetzung für die setzen müssen. Kultur der Freiheit. Dass es Vermögen mit der Erwar- tung eines jährlichen Gewinns von 25 Prozent gibt, wäh- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem rend es gleichzeitig für normal erklärt wird, dass Kultur- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- güter und Kunst – geistiges Eigentum – geklaut werden geordneten der FDP und der LINKEN) dürfen, ist nicht normal und nicht im Sinne unseres Das führt mich zu den Art. 20 und 21. Wir sind ein Grundgesetzes. Hier müssen wir ansetzen, und dagegen demokratischer und sozialer Bundesstaat. Wir haben das müssen wir etwas tun. gelernt mit dem Bundesstaat und dem Föderalismus, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten seine großen Vorteile, aber auch seine Schwierigkeiten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hat. Ich glaube, dass wir auf der langen Strecke nicht da- rum herumgekommen, uns darüber Gedanken zu ma- In den Art. 1 bis 16 stehen die Grundrechte. Es geht chen, wie wir die Aufgaben von Bildung und Integra- unter anderem um die Freiheit des Einzelnen, die Rechte tion und die Kombination von beidem – das ist eine und die Pflichten des Individuums, die individuellen Le- dringende Aufgabe für die nächsten ein bis zwei Jahr- bensentwürfe, in die Staat und Gesellschaft sich nicht zehnte – lösen können, wenn wir uns in der Politik in einzumischen haben, die Freiheit, in der die soziale Ge- unterschiedliche Zuständigkeiten verlieren. rechtigkeit gesucht wird und die in Solidarität mündet, um die Freiheit als dem ersten Wert. Alle Menschen, die in diesem Lande leben, haben das Recht, als Individuum im Ganzen wahrgenommen und 1969, als Willy Brandt Kanzler wurde, hat er davon geachtet zu werden, und sie haben das Recht, dass wir gesprochen, dass wir mehr Demokratie wagen müssen. uns nicht auf unsere Zuständigkeiten berufen und sagen, Herta Däubler-Gmelin hat beschrieben, wie es in den dass eine andere Ebene zuständig ist. Denen ist es ziem- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24335

Franz Müntefering (A) lich egal, ob die Bundeskanzlerin, der Ministerpräsident nellen Zusammenhängen in unserem Land? Ich habe (C) oder der Oberbürgermeister es bezahlen. Sie wollen an- keine Antwort darauf, aber das Problem ist da. ständige Kitas, Krippen und hochqualifizierte Schulen. Das müssen wir miteinander hinbekommen und nötigen- Ein Staat, der nicht dafür sorgt, dass die Menschen – ob falls auch intensiver darüber sprechen, als wir es bisher Heranwachsende oder andere – Zugang zu verlässlichen tun. und belastbaren Informationen haben, wird Demokra- tie nicht organisieren können. Vielleicht müssen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Ganze umkehren. Vielleicht müssen uns die Jünge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ren – die Menschen in Ihrem Alter, Herr Toncar – sagen, CDU/CSU) wie das in der Zukunft gehen könnte, wie man Men- Wir dürfen nicht an dem Gefühl der Menschen vor- schen in den Städten und Gemeinden mit neuen Techni- beigehen. Es gibt keine Versammlungen, in denen wir ken an Demokratie beteiligt, sie rechtzeitig informiert nicht auf diese Zusammenhänge und die Schwierigkei- und ihnen Möglichkeiten gibt, an der Meinungs- und ten, um die es dabei geht, angesprochen werden. Wir Entscheidungsbildung in den Städten und Gemeinden, dürfen die Kommunen bei dieser Aufgabe nicht alleine an der Politik insgesamt teilzuhaben. lassen, sondern wir müssen darüber sprechen, was wir Meine Generation hat Lesen gelernt, nicht den Um- tun können, damit wir eine Bildungs- und Integrations- gang mit der neuen Technik. Das gilt zumindest für politik aus einem Guss bekommen. Es wird unweiger- mich. Aber wir müssen begreifen, dass sich das, was lich um das Miteinander von Europa, Bund, Ländern und 1949 noch gang und gäbe war, fundamental verändert Gemeinden gehen. hat. Damals hat man noch wirklich gelesen. Man hat (Beifall bei der SPD – [BÜND- noch Bücher und Zeitungen miteinander gelesen, sodass NIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch mal eine Föde- man daraus eine gemeinsame Debatte entwickeln ralismusreform heißt das!) konnte. Wer erlebt das denn bei uns noch? Wenn man heutzutage jemanden trifft, dann sagt er beispielsweise, Art. 146 ist schon angesprochen worden: dass er gestern um 21.45 Uhr etwas gelesen, gesehen Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Ein- und gehört hat. Wo, weiß er nicht mehr. Damit ist das heit und Freiheit Deutschlands für das gesamte Gespräch zu Ende. Wir haben so wenige gemeinsame deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Dinge, die etwas mit unserer Demokratie vor Ort zu tun Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von haben und über die wir gemeinsam sprechen können. dem deutschen Volke in freier Entscheidung be- schlossen worden ist. Wenn wir das Grundgesetz in seinem Anspruch ernst (B) nehmen, den Menschen die Chance zu geben und ein (D) Nun ist die Frage, ob das eine banale Aussage für Angebot zu sein, wie es Gustav Heinemann gesagt hat, Feierstunden oder ein Abgesang auf Nie und Nimmer ist Bescheid zu wissen und dazu beizutragen, dass Demo- oder ob es die Möglichkeit zum Handeln eröffnet. Mehr kratie gelingt, dann müssen wir uns Gedanken darüber will ich nicht sagen. Ich bin überzeugt, dass wir in machen, was in den Bereichen der Information und der Deutschland gut beraten sind, wenn wir die Debatte über Informationstechnik in diesem Land stattfindet und wie den demokratischen und sozialen Bundesstaat nicht nach das in Zukunft in dieser Gesellschaft buchstabiert wer- dem Motto „Nun ist alles geklärt, und nun machen wir es den soll. Das ist nicht fertig. Das war es auch damals so“ führen, sondern immer wieder prüfen, ob die Werte, nicht. Trotzdem sind die Gedanken, die sich damit ver- die in diesem Grundgesetz enthalten sind, mit den Zielen binden, wichtig. und Regeln der praktischen Politik, in denen wir zur- zeit stehen, übereinstimmen. Deswegen muss es erlaubt Demokratie braucht Partei im Sinne von Partei- sein, darüber zu sprechen, wie sich das zueinander ver- nahme. Es gibt in Deutschland ganz viele Menschen, die hält, wie wir den Menschen erklären können, was dieses ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden und Organisatio- Grundgesetz für uns bedeutet, und wie wir gemeinsam nen mithelfen, dass Demokratie gelingt. Demokratie aus dieser Situation heraus Politik für die Zukunft be- braucht aber auch Parteien – Art. 21 des Grundgesetzes –, stimmen wollen. die bei der politischen Willensbildung des Volkes mit- wirken. Sie dürfen sich nicht mit Exekutive, Legislative (Beifall bei der SPD) und Rechtsprechung verwechseln. Es gibt keine Staats- Ich will einige letzte Sätze zu etwas sagen, was uns parteien. Aber die Parteien sind bei der Meinungsbil- auch Gedanken machen muss. Demokratie braucht in- dung insgesamt wichtig. Die Art und Weise, wie wir zu- formierte Menschen. Die Frage ist: Wie ist das mit der lassen, dass in diesem Land abfällig zwar weniger über Information in unserer Gesellschaft? Was passiert hier Demokratie, aber über Staat, Politik und Parteien insge- eigentlich? Die Vielfalt, die wir haben, hat ihren samt gesprochen wird, Charme. Aber sie hat auch ihre Risiken. (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) hat ihre Grenze. Ich empfehle uns sehr, mit ein bisschen Bei meinen Besuchen in den Lokalredaktionen der Zei- mehr Selbstbewusstsein an die Sache heranzugehen. tungen wird Jahr für Jahr gestöhnt – das kennen Sie auch –: wieder 3 Prozent weniger. Wie sieht es mit Kon- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP takten und Informationen aus? Was läuft an informatio- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Franz Müntefering (A) Es kann sein, dass wir Fehler machen – ja, das ist ganz Mächten besetzt, aber Österreich ist ein Land geblieben. (C) sicher der Fall –, aber das Engagement ist das Entschei- Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Lieber das halbe dende. Demokratie wird nur gelingen können, wenn wir Deutschland ganz als das ganze halb. – Die im Osten hinreichend viele Menschen haben, die bereit sind, sich dachten genauso. Ich glaube, die vier Mächte hätten gar zu engagieren und mitzuhelfen, Dinge zu verändern. nichts machen können, wenn wir alle gesagt hätten: Wenn ich nach einer Wahl abends höre, wie irgendje- Nein, wir gründen nur einen Staat zusammen. – Wie hät- mand vor laufender Kamera einen anderen voller Mitleid ten sie das verhindern sollen? Aber wir hatten diese Ge- fragt, warum er nicht habe zur Wahl gehen und abstim- duld nicht. men können, dann frage ich mich: Was ist eigentlich in (Zuruf von der CDU/CSU: Es ist nicht zu fas- den Köpfen los? Was können wir dafür tun, dass wieder sen!) klarer wird, dass Parteinahme und Parteien in dieser Ge- sellschaft und Demokratie unverzichtbar sind? Das geht Was wäre eigentlich daran so schlimm gewesen, wenn vor allem dadurch, dass wir denjenigen Mut machen, die wir diesen Weg zusammen gegangen wären? Gut, wir mitmachen. Deshalb sage ich stellvertretend für alle an- wären nicht in der NATO oder im Warschauer Vertrag deren, die ich meine: Denjenigen, die sich in Sozialver- gewesen, so wie Österreich. Na und?, kann ich nur sa- bänden, Sportvereinen und kommunalpolitischen Insti- gen. Ich sehe darin keine Katastrophe. Wir hätten auf die tutionen mit großem zeitlichen Aufwand und manchmal Art und Weise die Spaltung verhindern können. Sie dür- auch mit eigenem Geld engagieren und viele Stunden in fen übrigens nicht vergessen, dass zuerst die Bundesre- Kleinigkeiten investieren, über die Golfspieler und Ten- publik Deutschland ohne den Osten gegründet worden nisspieler gar nicht reden mögen, weil sie etwas anderes ist und erst danach die DDR. Nachdem die vier Mächte zu tun haben, muss man sagen: Jawohl, ihr seid ein gro- das alles mitgetragen und mitorganisiert hatten, da wa- ßer Teil dieser Demokratie. Das sind nicht nur wir, son- ren sie sich einig, den Kalten Krieg hier zwischen bei- dern das seid auch ihr. Wir sagen euch von hier aus ein den deutschen Staaten auszutragen. Machen wir uns herzliches Dankeschön. nichts vor: Wäre es zu einem dritten Weltkrieg gekom- men, existierte Deutschland heute nicht mehr. Das war In diesem Sinne alles Gute und vielen Dank für die zwischen ihnen verabredet. Es gab Politiker, auch wie- Aufmerksamkeit. der in Ost und West, die das erkannten und zu verhin- (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei dern versuchten. Das ist gelungen. der CDU/CSU, der FDP und dem BÜND- Wenn wir darüber reden, dann müssen wir auch sa- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- gen, dass die Besetzung Ostdeutschlands durch die ten der LINKEN) Sowjetunion doch ein Zufall war. Stellen Sie sich einmal (B) vor, die sowjetischen Truppen wären anders vorgedrun- (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen und nach Bayern einmarschiert. Dann wäre aus Bay- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von ern eine Art DDR geworden. Herr Ramsauer würde der Fraktion Die Linke. heute die Kompliziertheit seiner Biografie erklären, und wir alle würden leicht arrogant zuhören. Das ist die (Beifall bei der LINKEN) Wahrheit.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Ich will damit sagen: Das, was ich nicht mag, ist, wenn Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung jemand, der nur in der Bundesrepublik Deutschland ge- der Bundesrepublik Deutschland kann man nicht spre- lebt hat, einer ehemaligen Bürgerin oder einem ehemali- chen, wenn man nicht wenigstens ein oder zwei Sätze zu gen Bürger der DDR erklärt, wie er in der DDR gelebt der vorangegangenen Zeit sagt. Die Gründung eines hätte, wenn er dort gelebt hätte. Er kann es eigentlich neuen Staates wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die nicht wissen und sollte einen gewissen Grad an Beschei- deutsche Gesellschaft, wenn das deutsche Volk das denheit diesbezüglich an den Tag legen. Naziregime verhindert hätte. Aber dieses Regime hat von 1933 bis 1945 existiert. Nicht nur seine Methoden (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- waren in einer bis dahin nie gekannten Art und Weise neten der SPD und des Abg. Dr. Guido verbrecherisch. Vielmehr hatte dieses Regime aus- Westerwelle [FDP]) schließlich verbrecherische Ziele, keine anderen. Inso- Das Grundgesetz ist zweifellos eine hervorragende fern sage ich: Der 8. Mai 1945 war – das müssen endlich Verfassung. Es erstaunt mich, wie tief zwei Sätze aus alle begreifen – ein Tag der Befreiung, egal wie es da- dem Grundgesetz im Denken und Fühlen der Menschen mals aussah. Es konnte nur ein Tag der Befreiung sein. verankert sind. In fast jedem zweiten Brief, den ich be- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten komme, wird entweder der eine oder der andere Satz des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zitiert. Der eine Satz lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und der zweite Satz lautet „Eigentum Dann war Deutschland besetzt, zuerst von vier Sie- verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der germächten. Es stellte sich die Frage, was jetzt gesche- Allgemeinheit dienen.“ Immer wieder kommen diese hen sollte. Ich glaube, dass die deutschen Politiker in Ost Sätze vor. Das kriegt keiner mehr aus dem Kopf. Selbst und West nicht die Geduld der Österreicherinnen und wenn jemand heimlich darüber nachdenken würde, diese Österreicher hatten; denn auch Österreich war von vier Sätze zu streichen – dafür wird es, glaube ich, in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24337

Dr. Gregor Gysi (A) Deutschland niemals eine Zweidrittelmehrheit geben, diese Umverteilung muss gestoppt und umgekehrt wer- (C) sodass das ausgeschlossen und auch gar nicht gestattet den. ist. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Nach 19 Jahren sind die Renten im Osten im Durch- schnitt noch um 15 Prozent niedriger als im Westen; das Heute sind der zweite und der erste Satz nach wie vor ist ein Problem. Die Löhne im Osten sind durchschnitt- von großer Bedeutung. Beide Sätze beschreiben doch lich ein Drittel niedriger als im Westen, und zwar bei keinen Istzustand. Nie kann eine Gesellschaft behaupten, gleicher Arbeit und längerer Arbeitszeit. Der Niedrig- das sei verwirklicht. Aber es muss ein Ringen darum ge- lohnsektor umfasst 41 Prozent im Osten und 19 Prozent ben, und in den letzten Jahren gab es mir zu wenig Rin- im Westen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so gen darum, die Würde des Menschen wirklich für hoch. unantastbar zu erklären und die soziale Eigentumsver- Das größte kulturelle Defizit liegt in der häufigen pflichtung herauszuarbeiten. Das Gegenteil haben wir Missachtung ostdeutscher Biografien. Geradezu sym- in der Krise erlebt. bolisch und massiv kommt dies in der Ausstellung (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert „60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ zum Ausdruck: Winkelmeier [fraktionslos]) Die Geschichte der DDR wird nicht als Teil der deut- schen Geschichte begriffen. Es gibt kein Bild, keine Das Grundgesetz unterstreicht die politischen und demo- Plastik von einem Maler oder Bildhauer der DDR, nicht kratischen Grundrechte sehr deutlich, die sozialen von John Heartfield, nicht von Wolfgang Mattheuer, Rechte werden weniger betont. Dazu ist hier schon eini- nicht von Fritz Cremer, nicht von Otto Niemeyer- ges gesagt worden. Holstein, nicht von Jo Jastram, nicht von Bernhard oder Aber wir müssen in der Geschichte weitergehen. Die Johannes Heisig, nicht von Hartwig Ebersbach, nicht Mauer fiel friedlich, die deutsche Einheit kam friedlich von Willi Sitte, nicht von Werner Tübke, nicht von zustande. Das ist ein großes Verdienst und ein großes Albert Ebert, nicht von Wieland Förster, nicht von Arno Glück in unserer Geschichte, woran wir früher über- Mohr. Das ist nach 60 Jahren Grundgesetz, nach 60 Jah- haupt nicht geglaubt hatten. Trotzdem sage ich: Seitdem ren Bundesrepublik Deutschland nicht vertretbar. gibt es einen ungeheuren Fortschritt für die ostdeutsche (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bevölkerung; denn sie lebt in Freiheit und Demokra- NEN]: Jetzt mal die Frauenliste!) tie, was sie vorher nicht kannte. Es war eine Zäsur in der – Ja, das war genauso einseitig. (B) Geschichte, aber die Einheit erfolgte leider durch Bei- (D) tritt, nicht durch eine neue Verfassung und nicht durch (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rolf Vereinigung. Es gab zwei Mängel, die sich bis heute aus- Stöckel [SPD]) wirken. Es gab vielleicht noch mehr, aber ich nenne zwei, die mir wichtig sind. Eine Ursache, warum wir ge- sellschaftlich immer noch gespalten sind, sehe ich darin, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass die ostdeutschen Eliten in Kultur, Wissenschaft und Herr Gysi, kommen Sie bitte zum Schluss. anderen Bereichen nicht am Einigungsprozess beteiligt, sondern abgewickelt wurden. Die zweite Ursache sehe Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): ich darin, dass das westdeutsche System eins zu eins auf Ich bin sofort fertig. den Osten übertragen wurde und Erfahrungen, die dort existierten, nicht berücksichtigt wurden. Lassen Sie mich noch eines sagen: Meine Generation hatte Schwierigkeiten mit dem eigenen Land. Das lag an (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert der Geschichte vor 1945, mit der umzugehen so kompli- Winkelmeier [fraktionslos]) ziert war. Ich habe zur Fußball-Weltmeisterschaft eine So nahmen viele Westdeutsche die Einheit zwar erfreut neue junge Generation kennengelernt, auf die ich meine zur Kenntnis, aber sie konstatieren, dass es seit der Ein- Hoffnung setze. heit auch im Westen wirtschaftlich und sozial bergab geht. Viele glauben, schuld daran sei der Osten, der Mil- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: liarden erhalte, ohne dass sich die wirtschaftliche Lage Herr Gysi, bitte! dort und im Westen verbessere. Obendrein seien die Ost- deutschen zum Teil auch noch unzufrieden und wählten Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): komisch. Letzteres passiert zunehmend auch im Westen, sodass wir uns diesbezüglich schon vereinigen. Ich glaube, diese Generation will keine Nation mehr unter sich haben und auch keine über sich. Sie erfüllt da- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) mit einen Traum Brechts. Ich glaube, dass diese junge Generation die Teilung unserer Gesellschaft überwindet. Aber die gegenwärtige Krise beweist, dass die Thesen Sie wird deutsch, aber auch europäisch und vor allem zur Wirtschafts- und Soziallage falsch sind. Der weltbürgerlich sein. Sozialabbau im Westen und auch im Osten erfolgt doch nicht wegen des Ostens, sondern überall wegen der gi- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gantischen Umverteilung von unten nach oben. Genau neten der SPD) 24338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Erfinder, da waren Tüftler, da waren Fußballmannschaf- (C) Das Wort hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt von ten und Musiker. Aber alles und jedes konnte sofort auf- Bündnis 90/Die Grünen. hören, wenn es nicht systemkonform war oder schien, wenn eine Person in Ungnade fiel oder wenn ein Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schiedsrichter gegen die Mannschaft pfiff, die nach NEN): Meinung des Staatsapparates zu gewinnen hatte. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nein, es ist Unrecht, wenn Grenzen dicht sind, wenn Ja, Herr Gysi, auch ich glaube daran, dass diese junge Justiz einer Parteidoktrin folgt und Zigtausende in Ge- Generation in Einheit leben und die Teilung überwinden fängnissen psychisch und physisch gequält werden, möchte. Ich glaube allerdings auch, dass Sie und die wenn eine Gesellschaft vom Kindergarten bis zum Alter Linke etwas dafür tut und tun will, dass es möglichst ideologisch durchherrscht und militarisiert wird und nicht geschieht. wenn in ihr Altenheime heruntergekommene Massenein- richtungen sind, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei ruf von der LINKEN: Eine Unterstellung!) der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Als es nach der friedlichen Revolution um einen ge- in der es nur eine Meinung geben darf und Abweichung meinsamen Verfassungsentwurf ging, hatten die Men- bestraft wird. Wie wollen eigentlich Herr Ramelow und schen vermutlich andere Fragen, Sorgen und Pläne, und andere Geschichtsklitterer das denen erklären, die im Ju- das wird wohl auch heute so sein. Wolfgang Ullmann gendwerkhof saßen oder aus der Hochschule flogen, und andere dürfen hier trotzdem nicht unerwähnt bleiben im Hinblick auf ihr Bemühen, über eine gemeinsame (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Verfassung zu diskutieren. der CDU/CSU, der SPD und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denen damit gedroht wurde, ihnen ihre Kinder wegzu- sowie bei Abgeordneten der SPD) nehmen, wenn sie nicht mit der Stasi kooperierten, oder auch den Eltern von Mauertoten? Ich halte es für zy- Es ging darum, das, was auf den Transparenten stand, in nisch, wenn die DDR im Rückblick zu einer kleinen Verfassungswirklichkeit umzuwandeln. Da standen wü- Idylle gemacht wird. tende Parolen wie „Stasi in die Produktion“. Da stand aber auch „Keine Gewalt“. Da wurde der Hoffnung mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei den Worten „Gorbi, hilf uns!“ Ausdruck verliehen. Au- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) (B) (D) ßerdem stand da „Wir sind das Volk“ und „Alle Macht Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nicht umsonst geht vom Volk aus“. standen zentrale Werte unserer Demokratie auch für den Mehr als alles andere war es dieser urdemokratische Aufbruch 1989 – Meinungsfreiheit, Versammlungsfrei- und friedlich vorgetragene Anspruch, der den SED-Staat heit, Pressefreiheit, Selbstbestimmung –, und wohl jedes am Ende zusammenbrechen ließ. Es lohnt sich heute, zu zweite Transparent in dem wunderbaren Herbst 1989 be- fragen, wie es um Freiheit und Demokratie bestellt ist. zog sich auf diese friedlichen Werte, für die die Men- Es reicht nicht, stolz auf die Glanzpunkte von 60 Jahren schen einstanden, obwohl sie sich nicht sicher sein konn- zu zeigen. Demokratie ist nämlich kein Zustand; sie ist ten, dass sie nicht dafür im Knast landen würden. ein Prozess, in dem Mitsprache und Beteiligung immer (Zuruf von der CDU/CSU: Die waren mutig!) wieder gelernt und vor allen Dingen möglich gemacht werden müssen. Grundrechte sind vor allem Freiheitsrechte. Es geht um Freiheit, sich zu entfalten, mitzureden, aktiv das ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gene Leben zu gestalten. Genau über diese Freiheit müs- sowie bei Abgeordneten der SPD) sen wir auch heute reden. Dabei geht es nicht nur darum, Wir haben Demokratie lernen müssen und wissen, wie von Steuerlasten frei zu sein. Freiheit braucht Vorausset- gefährdet sie immer wieder ist. zungen, soziale, kulturelle, wirtschaftliche und auch ökologische Voraussetzungen. Wir brauchen Streit. Streiten gehört zum Wesenskern in der Demokratie. Zum Glück werden Meinungen nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfügt wie in der DDR, sondern auf den Prüfstand ge- und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- stellt. Sie müssen Gegenargumente aushalten. Unser de- ten der SPD und der FDP) mokratisches Zusammenleben braucht Streit. Was wir aber nicht brauchen, das ist eine Politik, die sich auf Dazu passt es auch nicht – ich sage das bewusst auch Wut, auf Ressentiments oder populistische Anbiederun- als Bürgerin der Ex-DDR, in der jeder Lebensbereich gen aufbaut, wenn auf Stimmungen gesurft wird. durchleuchtet wurde –, dass wir Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte heute zur Disposition gestellt se- Was soll denn die Debatte um den Unrechtsstaat hen, zum Beispiel in der Wirtschaft. Es kann doch nicht DDR? Dabei geht es nicht um das, was trotzdem statt- sein, dass wir es als normal erachten, dass Verkäuferin- fand, ein Leben, das sich immer wieder normal anfühlte, nen quasi per se unter Verdacht gestellt und durchsucht nicht nur im Persönlichen übrigens. Ich hatte auch eine oder von Sicherheitskräften betatscht werden, wenn sie ganz begeisterte Lehrerin, die kein Bonze war. Da waren den Laden verlassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24339

Katrin Göring-Eckardt (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten, in der DDR zu bleiben, als letzte Zuflucht und (C) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der gab ihnen Hoffnung. Das muss, wie ich glaube, noch CDU/CSU) hinzugefügt werden. Es kann nicht sein, dass Unternehmen unter dem Deck- Gleichwohl muss gesagt werden: Die Tatsache, dass mäntelchen der Prävention Krankenakten führen und das Grundgesetz die deutsche Wiedervereinigung als po- dann Mitarbeiter unter Druck setzen. Wir sind ein freies litisches Ziel beibehalten hat, ist nicht allein hinreichend Land. Dafür müssen wir kämpfen, auch in diesem Be- dafür gewesen, dass das Grundgesetz der Bundesrepu- reich. blik Deutschland dann zu unserer gemeinsamen deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Verfassung geworden ist, sondern dazu trug auch und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der der überragende Erfolg bei, den die auf dem Fundament CDU/CSU) des Grundgesetzes gewachsene Bundesrepublik Deutsch- land nach dem Krieg hatte. Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mein Sohn hat gerade seine Abiturklausur über die Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) schichte der Demokratie geschrieben. Er ist ganz hinge- Dieser Erfolg hat die Menschen in Ostdeutschland und rissen von dieser Frage, ebenso seine ganze Klasse, darüber hinaus die Menschen im gesamten damaligen wenn sie davon erzählen, wie großartig sie es finden, ei- sowjetischen Einflussbereich nicht eine Sekunde lang gentlich ein bisschen in der Vorstellung, wie es wohl ge- zögern lassen bei der Antwort auf die Frage, welcher wesen wäre, wenn sie selbst dabei gewesen wären. Das Gesellschaftsaufbau die optimalen Entfaltungschancen liegt nur ein ganz kleines bisschen an elterlicher Erzie- für alle bietet und welchen man im eigenen Land anwen- hung; das liegt vor allen Dingen an einer wunderbaren den soll. Insofern hat das Grundgesetz der Bundesrepu- Geschichtslehrerin, die erklärt, begeistert, übt und blik Deutschland auch den Weg für die Einheit Europas kämpft. Es ist katastrophal, dass die Auseinandersetzung bereitet. mit der eigenen Geschichte und der Geschichte der De- mokratie wie mit der Diktatur in unseren Schulen immer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wieder hinten herunterfällt. Das müssen wir ändern, neten der SPD und der FDP) denn dort ist die Wiege der Demokratie für die Zukunft. Man muss außerdem sagen: Das lag nicht allein am (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Grundgesetz, sondern auch an den Personen, die damals bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) daran gearbeitet haben, dass der Geist des Grundgeset- Diejenigen, die dafür 1989 auf die Straße gegangen sind, zes in der damaligen Situation umgesetzt wurde. Da bin (B) haben allen Grund, heute nicht damit zu hadern, dass die ich Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ganz be- (D) Demokratie nicht das Paradies ist. Sie ist aber das Beste, sonders dankbar, dass sie damals für die Einheit gearbei- was uns passieren konnte. tet haben und sich nicht wie andere, die das zum Teil noch heute tun, gegen die Einheit gestellt haben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei neten der FDP) der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Peter Ramsauer hat schon den Slogan aufgegriffen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der uns gelegentlich entgegengehalten wird, nämlich Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/ dass das Grundgesetz den Menschen in Ostdeutschland CSU-Fraktion. übergestülpt worden sei. Ich möchte die Kritik an die- sem Slogan gerne noch etwas verstärken. Hinzuzufügen (Beifall bei der CDU/CSU) wäre etwa, dass diese Aussage eigentlich Ausdruck un- geheurer Arroganz ist, nämlich einer Arroganz gegen- Arnold Vaatz (CDU/CSU): über der freien Entscheidung der Menschen in Ost- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und deutschland. Herren! Dass das Grundgesetz der Bundesrepublik (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland die deutsche Wiedervereinigung als poli- neten der SPD und der FDP) tisches Ziel aufrechterhalten hat und damit dazu bei- getragen hat, zu verhindern, dass eine eigene DDR- Man versucht, diese Menschen nachträglich für unmün- Staatsbürgerschaft anerkannt wurde, war eine der dig zu erklären nach dem Motto: Sie wussten ja nicht, Grundvoraussetzungen für die deutsche Wiedervereini- was sie taten. Aber genau das stimmt nicht. Sie wussten gung. Dafür bin ich ganz besonders dankbar. genau, was sie taten, und sie würden es heute wieder so tun. Man kann nur dann auf die Idee kommen, ihnen ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- entsprechendes Unwissen zu unterstellen, wenn man un- neten der FDP) berücksichtigt lässt, was für ein Albtraum es für die Ost- Diese Tatsache bewirkte aber noch mehr: Sie hat deutschen gewesen wäre, wenn sie diese geschichtliche nicht nur den Flüchtlingen, die damals die Botschaften Stunde, die ihnen plötzlich die nicht mehr für möglich besetzt hatten, Mut gegeben und es ihnen ermöglicht, gehaltene deutsche Wiedervereinigung eröffnete, ver- ungeschädigt in den Westen zu gelangen, sondern sie stolpert hätten. Genau dies wollten sie unter allen Um- diente auch all denjenigen, die sich damals entschlossen ständen vermeiden. Deshalb sind sie kein Risiko einge- 24340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Arnold Vaatz (A) gangen. Und, meine Damen und Herren, das war richtig niemanden, der sagt, in der DDR habe es nicht das ge- (C) so. ringste bisschen Gute gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Zuruf von der FDP: So ist es!) bei Abgeordneten der SPD) Diese Frage ist auch nicht relevant in Bezug darauf, Um ein Stück weit zu illustrieren, wie gefährlich die ob man die DDR als Unrechtsstaat qualifiziert. Lage damals war, möchte ich einiges in Erinnerung ru- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen. Ich will zwar unter gar keinen Umständen alle Mit- glieder der Sozialdemokratischen Partei in einen Topf Denn wer die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet, der be- werfen – viele von ihnen haben Enormes für die deut- streitet nicht, dass es in dieser DDR absolut vernünftige sche Wiedervereinigung und auch für das Wachhalten Vorschriften gegeben hat. Die Straßenverkehrsordnung, des Gedankens daran getan; dazu zähle ich Willy Brandt, vielleicht abgesehen von der Tempo-100-Regelung, war Henning Voscherau und andere –, aber doch daran erin- eine vernünftige Regelung. nern, welche Auffassung Oskar Lafontaine damals ver- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) treten hat. Oskar Lafontaine hat im Dezember 1989 ge- sagt, man müsse den Zugriff der Übersiedler aus dem Das Gleiche gilt für das Zivilrecht. Der frühere Minister- Osten auf die Solidarsysteme im Westen einschränken. präsident de Maizière hat allen Grund, immer wieder Das war seine Auffassung. Auch Herr Schröder hat ge- darauf hinzuweisen, was passiert wäre, wenn man alle sagt: Wir müssen verhindern, dass sich die DDR-Bürger Verwaltungsakte aufgehoben hätte. Dann wären nämlich über Gebühr an den Leistungen bedienen, für die die alle Ehen in der damaligen DDR geschieden gewesen. Westdeutschen Beiträge gezahlt haben. Also Unsinn! Das heißt, es bestand überhaupt kein uni- verseller Korrekturbedarf für alle Entscheidungen der (Zurufe von der CDU/CSU: Ungeheuerlich! – DDR. Auch das besagt der Begriff Unrechtsstaat nicht. Was sagt Herr Gysi dazu?) Der Begriff Unrechtsstaat besagt etwas anderes. Er be- sagt, dass diejenigen, die sich in der DDR das Recht zur Das war die damalige Situation. Dies hat Herr Schröder Gesetzgebung angemaßt haben, dieses Recht nicht hat- noch am 27. Januar 1990 gesagt. Daran erkennen Sie, ten, weil sie dazu nicht durch freie Wahlen legitimiert wie dringend es für uns gewesen ist, in dieser Frage waren. klare Verhältnisse zu schaffen. Ich bin dankbar dafür, dass es gelungen ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – SES 90/DIE GRÜNEN) (B) Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Wissen Sie, (D) dass die Demokratie auch zur Wahrheit ver- Deshalb war die DDR selbstverständlich ein Un- pflichtet?) rechtsstaat. Dieser Unrechtsstaat ging weit über die bloße Tatsache der Nichtlegitimation der Volkskammer – Selbstverständlich, Herr Lafontaine, habe ich davon et- hinaus. Denn er hat zusätzlich auch noch dafür gesorgt, was gehört. Zur Wahrheit hätte aber auch gehört, dass dass es keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Ge- Sie heute an dieser Stelle zu Ihren damaligen Reden kor- richtsbarkeit und insbesondere keine Verfassungsge- rekt Stellung genommen hätten. Das haben Sie nicht ge- richtsbarkeit gab, tan. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- der FDP) ruf von der CDU/CSU: Ja, das wäre an der mit der die Bürger die eigentlich in der damaligen DDR- Zeit! Ein bisschen Selbstbeschäftigung!) Verfassung festgeschriebenen Grundrechte gegen den Als ich hier Ihre eigentumsphilosophische Vorlesung Staat hätten einklagen können. Diese Tatsachen qualifi- verfolgt habe, habe ich bedauert, dass Sie in Ihrem Saar- zieren die DDR als einen Unrechtstaat. land nicht die Möglichkeit hatten, die Umsetzung Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ideen in Ostdeutschland persönlich mitzumachen und bei Abgeordneten der SPD) mitzuerleben. Sie wären ein hervorragender Leiter der staatlichen Plankommission des Bezirks Karl-Marx- Ich hatte gehofft, dass man sich dieser Tatsache ge- Stadt geworden, Herr Lafontaine. rade in der jetzigen Diskussion etwas stärker bewusst wird. In der damaligen DDR haben wir selbstverständ- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der lich im Fernsehen gesehen, wie man gleichzeitig mit FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dem Bestehen des Repressionsregimes in der DDR im Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Westen mit der Bundesrepublik Deutschland umgegan- gen ist. In den 70er-Jahren wurde die Bundesrepublik Meine Damen und Herren, derzeit diskutieren wir Deutschland als ein Polizeistaat, als alles mögliche Ne- über die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder gative bezeichnet, unter anderem auch von Herrschaften, nicht. Der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg- die hier mit im Raum sitzen. Vorpommern sagt, er wolle durch diese Diskussion die DDR gegen den Vorwurf verteidigen, es hätte in diesem (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Staat auch nicht das geringste bisschen Gute gegeben. NEN]: Hier dürfen Sie sich direkter ausdrü- Diesen Vorwurf erhebt niemand. Ich kenne überhaupt cken! Wir sind hier nicht in der DDR!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24341

Arnold Vaatz (A) Der Beweis dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland Besuch kommen durfte und dass auch wir nach 1961 (C) kein Polizeistaat war, ist, dass man ihn einen Polizeistaat nicht mehr die Möglichkeit hatten, mitzuerleben, wie es nennen durfte. der Familie meiner Schwester ging. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) 1968 legte die DDR eine neue Verfassung vor, über die in einer Volksabstimmung entschieden werden sollte. Dass die DDR ein Polizeistaat war, beweist die Tatsache, Das war die einzige Volksabstimmung, die zu DDR-Zei- dass die Polizei kam, wenn man diesen Staat so nannte. ten stattfand. Damals war ich 21 Jahre alt und als Buch- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und händlerin im Volksbuchhandel beschäftigt. Im Vorfeld der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) dieser Abstimmung sollte innerhalb eines jeden sozialis- tischen Kollektives – das betraf auch den Volksbuchhan- Das alles ist zum Glück vorbei. del – unterschrieben werden, dass bei der Volksabstim- Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Das tut mir au- mung jeder und jede von uns natürlich mit Ja stimmt. ßerordentlich leid; denn ich habe noch eine ganze Menge Das habe ich abgelehnt mit dem Verweis darauf, dass mehr vorbereitet. Vielleicht kann ich das beim nächsten nach der Verfassung der DDR, die ja noch galt – das Mal sagen. wurde dann übrigens auch in die neue Verfassung über- nommen –, freie, geheime und allgemeine Wahlen ( [CDU/CSU]: Beim 70.!) durchgeführt werden müssen. Indem ich die Unterschrift Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. verweigert habe, habe ich nicht nur das Ansehen des Kollektivs geschädigt – das war für die anderen sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie schlimm –, sondern mein Verhalten hatte auch für mich bei Abgeordneten der SPD) persönlich Konsequenzen. Mir wurde nach vielen Dis- kussionen und zähem Ringen mein Arbeitsplatz im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Volksbuchhandel gekündigt. Das bedeutete faktisch Be- Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kol- rufsverbot; denn es gab fast nur Volksbuchhandlungen legin Christel Riemann-Hanewinckel von der SPD-Frak- und kaum noch private Buchhandlungen. Ich war zwei tion das Wort. Jahre arbeitslos – und das in einem Staat, der mit seinen Gesetzen garantierte, dass jeder Mann und jede Frau ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Recht auf Arbeit und Beschäftigung hat.

Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Auch die 1968 geänderte Verfassung beinhaltete Ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! sammlungs-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit. (B) Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen im Außerdem galten die Unverletzbarkeit der Wohnung und (D) Plenarsaal des Deutschen Bundestages! Ich möchte das Post- und Fernmeldegeheimnis. Doch genau diese meine Rede in dieser Debatte mit einer persönlichen Ge- Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem schichte beginnen. Ich habe mir 1962 eine Ausgabe der Staat hebelten die SED und die Staatssicherheit Artikel Verfassung der Deutschen Demokratischen Repu- für Artikel aus. Diese Verfassung hatte keinerlei Verfas- blik gekauft. Warum, weiß ich nicht mehr. Damals war sungswirklichkeit. ich 15 Jahre alt. In dieser Verfassung, die ich bei der (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Genau!) Vorbereitung auf diese Rede wiedergefunden habe, habe ich damals verschiedene Artikel und Punkte angestri- In den Stasiakten ist nachzulesen, wie eng die Zusam- chen. Im Rückblick auf das, was ich in den vergangenen menarbeit zwischen der Staatsanwaltschaft, den Rich- 19 Jahren im Deutschen Bundestag erlebt habe, finde ich tern, den SED- und CDU-Funktionären und der Staats- das, was ich angestrichen habe, besonders interessant sicherheit war. Sie arbeiteten Hand in Hand gegen die und in dieser Debatte erwähnenswert. Bürgerinnen und Bürger. Rechtsstaatlichkeit konnte we- der erlebt noch eingeklagt werden. Denn eine Trennung Es gab in der DDR-Verfassung von 1949, die in Tei- von Justiz und Staatsapparat, also eine Gewaltenteilung, len an die Weimarer Verfassung von 1919 angelehnt war, gab es nicht. Das oberste Gericht der DDR war der den Abschnitt „Rechte des Bürgers“, und zwar in einem Volkskammer bzw. – wenn die Volkskammer nicht tagte – Kapitel mit der Überschrift „Inhalt und Grenzen der dem Staatsrat verantwortlich. Staatsgewalt“. Ich habe mir damals den Art. 9 angestri- chen, der besagte, dass alle Bürger das Recht haben, „in- Das sind Erfahrungen, die ich zu DDR-Zeiten mit vie- nerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze len anderen teilte. Wir wollten Veränderungen in diesem ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern“. Bereits für Land bewirken. Wir wollten mitgestalten. Wir wollten mich als 15-Jährige war relativ schnell klar, dass das dazu beitragen, dass in der DDR Demokratie nicht nur 1962 nicht mit der Realität übereinstimmte. auf dem Papier stand, sondern auch erlebbar, fühlbar wurde. Wir waren nämlich davon überzeugt, dass Demo- Auf der gleichen Seite befand sich Art. 10, den ich kratie die Grundlage dafür ist, dass Menschen sich frei doppelt unterstrichen habe. Darin hieß es: „Jeder Bürger entfalten können. ist berechtigt, auszuwandern.“ Das war 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau. Meine Schwester hatte dieses Wir hatten also ähnliche Beweggründe, als wir uns in Recht 1955 für sich in Anspruch genommen und war in den 80er-Jahren in der DDR in den unterschiedlichsten die Bundesrepublik zu ihrem Liebsten ausgewandert. Gruppen engagierten. Die Rufe nach demokratischer Das hatte zur Folge, dass sie nicht mehr in die DDR zu Teilhabe und Mitgestaltung sowie danach, die in der 24342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Christel Riemann-Hanewinckel (A) Verfassung niedergeschriebenen Rechte durch den Staat Meine Damen und Herren, das Engagement vieler (C) zu garantieren, wurden immer lauter. Immer mehr Men- Menschen brachte das System der DDR im Herbst 1989 schen, vor allem junge, fanden sich in Friedens- und zum Einsturz. In der Folge wurden Vorschläge für eine Umweltgruppen zusammen. Die Folgen davon waren gemeinsame deutsche Verfassung erarbeitet. Das vermehrte Repressalien. Grundgesetz wurde von seinen Müttern und Vätern im Jahre 1949 nämlich als vorläufig betrachtet und sollte Ein Beispiel. Obwohl in Art. 28 der Verfassung von bis zur deutschen Einheit Bestand haben. In Art. 146 des 1968, also in der veränderten Verfassung, das Recht auf Grundgesetzes kommt das bis heute sehr gut zum Aus- Versammlung und auf Nutzung von Versammlungsge- druck. bäuden und -plätzen festgeschrieben war, wurde es von staatlicher Seite nicht gewährt. Im Klartext bedeutete Statt eines Verfassungsrates arbeitete von 1991 bis dies das Verbot jeglicher Art von Versammlungen, aber 1994 lediglich eine Gemeinsame Verfassungskommis- auch von Demonstrationen, obwohl die Formulierung sion von Bundestag und Bundesrat. Ich bedaure das des entsprechenden Artikels anders lautete. Denn Ver- noch heute – so geht es vielen –, weil das eine gute sammlungen außerhalb der Parteien der Nationalen Chance gewesen wäre, unsere Erfahrungen mit einzu- Front und der sozialistischen Massenorganisationen wa- bringen und nicht nur die Grundrechte und die Freihei- ren nicht möglich. ten, die wir haben, in ganz Deutschland bekannt zu ma- chen, sondern auch deutlich zu machen, dass dies die Die Evangelische Kirche bot Raum für Friedens- und einzig mögliche Grundlage eines demokratischen Staats- Umweltgruppen und für die Mitarbeit am Konziliaren gebildes ist. Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Das waren damals drängende Themen. Wie (Jan Mücke [FDP]: Aber das hat es damals ich aus Nachrichtensendungen wusste, waren das auch doch gegeben!) drängende Themen in der Bundesrepublik Deutschland. – Nein, das hat es nicht gegeben. Das hat es deshalb Die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ breitete sich in nicht gegeben, weil die Verfassungskommission exklu- den 80er-Jahren aus. siv tagte. Was es gegeben hat, lieber Herr Kollege – hier Viele junge Menschen haben massiv unter den Ein- stimme ich Ihnen zu, das war auch richtig und gut so und griffen des Staates gelitten. Sie wurden zum Teil von der hat bewiesen, wie viele Männer und Frauen in der Lage Schule verwiesen. Sie bekamen keine Berufsausbildung gewesen wären, sehr konstruktiv mitzuarbeiten –, waren bzw. nicht die Berufsausbildung, die sie wollten. Sie Tausende von Zuschriften zu Art. 3 des Grundgesetzes, wurden inhaftiert oder – so hieß das damals – von der als es darum ging, dass niemand wegen einer Behinde- Stasi zugeführt. rung diskriminiert werden darf. (B) (D) Wer nach 1990 einmal die Möglichkeit hatte, sich den (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, genau!) Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau von innen an- Diese Formulierung war in der Verfassungskommis- zusehen, dem wurde ganz schnell deutlich, was viele sion sehr umstritten. junge Männer und Frauen und Minderjährige erleiden mussten, ohne dass es zuvor ein Verfahren gegeben hatte. (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) Was die Volksbildungsministerin Margot Honecker die- Die Kolleginnen und Kollegen von der Union wollten sen jungen Menschen angetan hat – viele leiden noch sie nicht in das Grundgesetz aufnehmen. Ihre Begrün- heute unter den Folgen –, wurde nie gesühnt, weil dies dung lautete: Wenn wir Menschen mit Behinderung er- rechtsstaatlich sehr problematisch ist. An dieser Stelle wähnen, welche anderen Personengruppen müssen wir wird für mich besonders deutlich, dass die DDR ein Un- dann noch alles aufzählen? – Es wurde also das Argu- rechtsstaat war. ment angeführt, dass eine gewisse Beliebigkeit einsetze. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Ich bin sehr froh, dass die Behindertenverbände und FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- viele Einzelpersonen dafür gekämpft haben und eine SES 90/DIE GRÜNEN) Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission da- mals dafür votiert hat, diesen Zusatz in Art. 3 des Grund- Diejenigen, die den Mut hatten, etwas anderes zu den- gesetzes aufzunehmen. ken und das, was sie anders gedacht haben, laut zu sa- gen, gerieten mehr und mehr unter Druck. Die Verfas- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sung bot ihnen keinen Schutz, obwohl in ihr noch so – Ja, da kann man auch heute noch klatschen, erst recht, etwas Ähnliches wie Grundrechte formuliert waren. Im weil durch die Konvention der Vereinten Nationen über Gegenteil: Auf die dort niedergeschriebenen Rechte zu die Rechte der Menschen mit Behinderungen deutlich verweisen, führte oft zu strafrechtlicher Verfolgung. geworden ist, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Es Es gab zum Beispiel den Straftatbestand der Zusam- muss ein Grundrecht sein, vor Diskriminierung ge- menrottung, der dann erfüllt war, wenn man sich mit schützt zu werden. Gleichgesinnten getroffen hat, oder den Straftatbestand (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der ungesetzlichen Verbindungsaufnahme, der dann vor- lag, wenn Bürger der DDR es wagten, sich mit Gleichge- Andere Diskriminierungverbote wurden allerdings sinnten in der Bundesrepublik Deutschland kurzzu- nicht ins Grundgesetz aufgenommen. Natürlich können schließen, sich zu informieren und sich vielleicht sogar wir jetzt sagen: Es ist prima, dass uns die europäische im Osten Berlins zu treffen. Gesetzgebung eingeholt hat. – Vielleicht ist es tatsäch- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24343

Christel Riemann-Hanewinckel (A) lich etwas tröstlich, dass das eine oder andere, was wir Erstens. In Art. 20 Abs. 2 steht: „Alle Staatsgewalt (C) nicht in unsere Verfassung aufnehmen konnten, nun von geht vom Volke aus.“ Das bedeutet für uns als Parlamen- anderer Seite beigesteuert wird. tarierinnen und Parlamentarier, dass wir unsere Aufga- ben im Auftrag der Bürgerinnen und Bürger dieses Für die Gruppen in den östlichen Bundesländern, die Landes erfüllen. Das heißt für mich und für die Sozial- damals Vorschläge erarbeitet und sich sehr intensiv mit demokratische Partei, dass auch dem Volke eine Beteili- der Frage „Welchen Inhalt sollte eine gemeinsame deut- gung zu ermöglichen ist. Volksinitiativen, Volksbegeh- sche Verfassung haben?“ beschäftigt haben, war es sehr ren und Volksentscheide gehören deshalb in das enttäuschend, dass auf ihre Zuarbeit und Mitarbeit weit- Grundgesetz. Bisher gab es dafür in diesem Haus keine gehend verzichtet wurde. Mehrheiten. Die zweite Volkspartei will diese Art der Eine entscheidende Festschreibung der Mütter und Beteiligung auf Bundesebene nicht. Das haben wir 1994, Väter des Grundgesetzes von 1949 haben wir noch im- aber auch in der Folge, als wir entsprechende Anträge mer nicht erfüllt. Ich zitiere Art. 146: eingebracht haben, sehr deutlich gehört. Lieber Koali- tionspartner CDU/CSU, welche Befürchtungen haben Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Ein- Sie eigentlich im Hinblick auf die unmittelbare Bürger- heit und Freiheit Deutschlands für das gesamte beteiligung? Die Antwort auf diese Frage sind Sie dem deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Parlament, aber auch dem deutschen Volk bis heute Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von schuldig geblieben. dem deutschen Volke in freier Entscheidung be- schlossen worden ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ Das können wir jederzeit nachholen. Denn das heißt CSU]: Das ist doch klar geregelt! Sie sollten nichts anderes, als dass wir einen Volksentscheid durch- den nächsten Satz auch noch vorlesen!) führen und unserer Verfassung, dem Grundgesetz, in veränderter Form zustimmen; darauf komme ich noch – Das entwertet das, was ich gefordert habe, überhaupt zurück. nicht. Meine Damen und Herren, ich gratuliere dem Grund- Zweitens. Noch immer werden Kinder in Deutschland gesetz zum 60. Geburtstag. Ich habe mittlerweile nach Art. 6 über die Rechtsbeziehung ihrer Eltern defi- 19 Jahre mit dem Grundgesetz erlebt und bin darüber niert. Noch immer gibt es in Deutschland den Status des sehr froh. Ich danke den Männern und vor allen Dingen nichtehelichen Kindes. Das bedeutet, dass ungefähr den Frauen, die damals an seiner Erarbeitung beteiligt 45 Prozent der Kinder, die im Osten geboren werden, waren, für ihr Engagement und ihren Mut, nach den dieses Etikett angeklebt wird. Noch immer werden Men- (B) furchtbaren Erfahrungen mit der Nazidiktatur die Prinzi- schen, die in Lebenspartnerschaften Verantwortung für- (D) pien der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichbe- einander übernehmen, nicht vom Grundgesetz geachtet. rechtigung und der Gleichheit in den Mittelpunkt zu stel- Es gab entsprechende Vorschläge, die vor 15 Jahren lei- len. der auch keine Mehrheit erhalten haben. Ich beglückwünsche die Bundesrepublik Deutschland Kinderrechte gehören jetzt unbedingt ins Grundge- dazu, dass sie sich auf der Basis dieses Grundgesetzes, setz. dieses Regelwerkes organisieren konnte. Unsere Erfah- rungen in der DDR waren genau umgekehrt: Der Staat (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie hat sich konstituiert, nach seinem Bedarf bzw. seiner In- der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE terpretation eine Verfassung geschrieben und in der GRÜNEN]) SED-Diktatur die Rechte ausgehöhlt. Auch das machte Sie müssen Richtschnur des politischen Handelns von den Unrechtsstaat aus. Bund, Ländern und Kommunen sein. Eine Aufnahme Glückwünsche zum 60. Geburtstag sind heutzutage der Kinderrechte ins Grundgesetz würde bedeuten, dass Wünsche an die jungen Alten. Ich kann das so locker sa- Deutschland endlich die 1992 erklärten Vorbehalte gen; denn ich habe das selbst vor zwei Jahren hinter gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückneh- mich gebracht. men könnte. (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mit (Beifall bei der SPD) Erfolg!) Drittens. Das Grundgesetz enthält am Ende, nach – Vielen Dank. – Auch das Grundgesetz gehört dazu. Es Art. 146, einen Auszug aus der Weimarer Verfassung, hat die 60 Jahre mit Erfolg hinter sich gebracht und kann die 1919, vor 90 Jahren, beschlossen wurde. Das bedeu- durchaus zu den jungen Alten gezählt werden. Sie wis- tet, dass diese Artikel, die praktisch als Anhang im sen, dass mit 60 Jahren noch vieles offen ist: Verände- Grundgesetz stehen, auch 90 Jahre alt sind. Diese Arti- rungen und Entwicklungen sind möglich und auch kel beschreiben das Verhältnis des Staates zur Kirche. nötig. Das gilt genauso für das Grundgesetz. Eine Ver- Als Mitglied der evangelischen Kirche und Theologin fassung kann und muss immer wieder überarbeitet und hatte ich 1994 die Hoffnung, dass die Gemeinsame Ver- gestaltet werden. Unsere Gesellschaft stellt sich immer fassungskommission eine neue Vereinbarung dazu vorle- wieder neuen Anforderungen; das muss sich auch im gen würde. Leider wurde eine solche Vereinbarung we- Grundgesetz widerspiegeln. Deshalb ist noch einiges zu der von weiten Teilen der Verfassungskommission noch tun. Ich möchte ein paar Anliegen nennen. von den beiden großen Kirchen gewünscht. Damals hät- 24344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Christel Riemann-Hanewinckel (A) ten wir zumindest eines tun können bzw. aus meiner Pause nicht stattfinden wird, sondern die Beratungen (C) Sicht tun müssen: Wir hätten wenigstens Begriffe wie durchgehend fortgesetzt werden. „Reich“ und „Heer“ durch Begriffe ersetzen müssen, die unserer Realität entsprechen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle von der Das Verhältnis des Staates zu den Kirchen muss für FDP-Fraktion. das 21. Jahrhundert in unserer Verfassung neu geregelt und gestaltet werden. (Beifall bei der FDP) Viertens. Kommunales Wahlrecht für Migrantin- nen und Migranten aus Nicht-EU-Ländern. Wenn In- Rainer Brüderle (FDP): tegration gelingen soll – und sie muss gelingen –, dann Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen ist dieses Wahlrecht für die betroffenen Männer und Stunden wird das Ergebnis der Steuerschätzung vorge- Frauen ein entscheidender Punkt. tragen. Das ist eine Bankrotterklärung für die Bundesre- gierung und auch eine persönliche Niederlage für Herrn 60 Jahre lang hat sich das Grundgesetz bewährt. Es Steinbrück. Minister Steinbrück wird von der Financial hat Veränderungen erfahren. Die Menschen aus dem Os- Times Deutschland als „diplomatische Neutronen- ten Deutschlands erleben seit 19 Jahren den Schutz bombe“ bezeichnet; auf jeden Fall ist er der größte durch Grundrechte. Deshalb kann ich sagen: Das Grund- Schuldenmacher in der Geschichte der Bundesrepublik gesetz ist auch für uns zum Glücksfall geworden. Ich be- Deutschland. Die kleinste Recheneinheit bei den Schul- danke mich bei all denen herzlich, die 40 Jahre lang, bis denlöchern ist mittlerweile die Milliarde; man könnte vor 20 Jahren, intensiv dafür gearbeitet haben, dass wir auch sagen: ein Peer. Das Ergebnis der Steuerschätzung die Chance bekommen haben, daran teilzuhaben. beweist: Mit Steuererhöhungen bringt man öffentliche Vielen Dank. Haushalte nicht in Ordnung. Man braucht Wachstum und Ausgabendisziplin, um sie in Ordnung zu bringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP) Drei Jahre lang hat die FDP-Fraktion gefordert: Sorgt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für die mageren Jahre vor! Drei Jahre lang haben Sie uns Ich schließe die Aussprache. verhöhnt und unsere liberalen Sparbücher ins Lächer- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatz- liche gezogen. Sie haben den Bundeshaushalt von punkt 2 auf: 260 Milliarden Euro auf 300 Milliarden Euro aufge- (B) bläht. Jetzt müssen die Bürger Ihre Rundum-sorglos- (D) 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Politik teuer bezahlen. Deutschland braucht nach Aus- Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, kunft der Konjunkturforscher bis 2013, um wieder das Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Wohlstandsniveau von 2008 zu erreichen. Das ist das Er- Fraktion der FDP gebnis Ihrer Politik. Schwarz-Rot hat den Aufschwung nicht genutzt, um Deutschland besser aufzustellen und Wachstumsprogramm zur Überwindung der auf erkennbar schwierige Zeiten vorzubereiten. Ihr Re- Rezession gierungsmotto war: Investieren, Sanieren und Reformie- – Drucksache 16/12887 – ren. Das Erbe, das Sie hinterlassen, ist: Blamieren, Dilet- Überweisungsvorschlag: tieren und Ruinieren. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Das klassische Konjunkturmuster in Deutschland Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung war: Getrieben vom Export springt die Wirtschaft an; Haushaltsausschuss lässt die Exportnachfrage nach, springen die Investitio- nen an und dann der private Konsum. Dieser Mechanis- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer mus funktioniert in Deutschland schon länger nicht Brüderle, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Müns- mehr. Die strukturelle Schwäche ist die Binnenkonjunk- ter), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tur. Der Sachverständigenrat hat immer wieder darauf FDP hingewiesen. Für die schwache Binnenkonjunktur tragen Anti-Rezessionsprogramm auflegen die letzten Bundesregierungen – Grün-Rot und Schwarz- Rot – die Verantwortung. Das geht von den kleinen Ge- – Drucksache 16/10867 – meinheiten wie der Praxisgebühr bis zu den großen Überweisungsvorschlag: Hammerschlägen wie der Mehrwertsteuererhöhung. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Die Konsequenz ist: Die Unternehmen haben sich im die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt letzten Jahrzehnt noch stärker den Auslandsmärkten zu- es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. gewandt. Die Exportquote betrug ein Drittel; heute liegt sie bei rund 50 Prozent. Das hat mit unserer Pro- Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen duktionspalette zu tun, aber vor allen Dingen mit der noch mitteilen, dass die für 13.30 Uhr angekündigte Schwäche des Binnenmarktes. Die Exportquote ist aber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24345

Rainer Brüderle (A) unnatürlich hoch. Daran trägt die Bundesregierung, Rot- gramm, das Deutschland passieren könnte, wäre eine an- (C) Grün wie Schwarz-Rot, eine entscheidende Mitschuld. dere, eine bessere Regierung. Stellen Sie sich einen Moment vor, die 75 Milliarden Vielen Dank. Euro, die Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung bei den (Beifall bei der FDP) Bürgern abkassiert haben, wären heute noch in den Hän- den der Bürger! Der Abschwung wäre dann halb so schlimm. Dies wären Kräfte, um die Binnenkonjunktur Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zu aktivieren. Das Wort hat der Kollege Laurenz Meyer von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich möchte mit einer Mär aufräumen, die insbeson- neten der SPD) dere die Sozialdemokraten verbreiten: Die USA werden von der Rezession viel härter getroffen als Deutschland. – Das ist falsch. Deutschland hat ein Minus von 6 Prozent, Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): die Vereinigten Staaten haben ein Minus von 3 Prozent. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- Uns trifft es doppelt so hart wie die Vereinigten Staaten. nächst einmal möchte ich mich bei der FDP dafür bedan- Das hat seine Ursache in der Schwäche dessen, was in ken, dass sie das Thema Wachstum auf die Tagesord- Deutschland entwickelt wurde. nung gebracht hat. Wir haben schon im November letzten Jahres ein An- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- tirezessionsprogramm vorgeschlagen; wir haben es NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte die Große heute wieder auf der Tagesordnung. Das haben Sie nicht Koalition auch mal tun können!) zur Kenntnis genommen; Sie haben es ignoriert. Statt- Gleichzeitig möchte ich mich bei ihr bedanken, weil ich dessen haben Sie im Hinblick auf die Wahl in Hessen ein hoffe, dass möglichst viele – Herr Brüderle, das muss ich schuldenfinanziertes Ausgabenprogramm auf den Weg in allem Ernst sagen – am Fernseher und hier im Saal zu- gebracht. Herausgekommen ist Murks: Abwrackprämie gehört haben. mit einem Volumen von 6 Milliarden Euro, Strohfeuer- effekt, Vorzieheffekt, Mitnahmeeffekte. (Jan Mücke [FDP]: Das hoffen wir auch!) Aber das Vorziehen der Steuerentlastungen bei den Schon durch den Titel Ihres Antrages wird deutlich, Kassenbeiträgen war angeblich nicht möglich. Wir ha- dass Sie in einer völligen Fehleinschätzung dessen le- ben vorgeschlagen, sie auf den 1. Januar 2009 vorzuzie- ben, worum es hier geht. (B) (D) hen. Das wäre eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Euro gewesen. Von den Mitteln der Konjunkturpakete der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang werden Fußbodenheizungen für Eisbärengehege und Ra- Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dargeräte zum Abschröpfen der Autofahrer angeschafft. NEN]) Das sind Sickerverluste und prozyklische Elemente. Sie schreiben: „Wachstumsprogramm zur Überwindung (Ute Berg [SPD]: In welchem Land leben Sie der Rezession“. Das ist keine Rezession. Weil es keine eigentlich?) normale Rezession ist, Herr Brüderle, helfen Ihre plat- Besonders dreist finde ich es, dass Herr Steinbrück ten, einfachen Antworten, die Sie vor dieser Krise gege- jetzt vor der Inflation warnt. Seine Schuldenpolitik ist ben haben und die Sie heute geben, nicht weiter. Das ist der größte Inflationstreiber in Deutschland. leider Gottes wahr. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Da legt einer selbst den Brand, um anschließend Feuer- NIS 90/DIE GRÜNEN]) wehr zu spielen. Absurder geht es nicht mehr. Wir haben es in Deutschland mit einer höchstkompli- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ zierten Situation zu tun. Deswegen helfen keine einfa- DIE GRÜNEN]: Haben Sie außer den Sprü- chen Antworten. Die Antworten werden kompliziert sein chen etwas Inhaltliches?) müssen. In dieser Situation erleben wir in Teilen unserer Wirtschaft abbruchkantenartige Entwicklungen, wäh- Der Finanzminister profitiert von den inflationären Ent- rend es in anderen Teilen kaum Auswirkungen gibt. Das wicklungen. Die Zeche zahlen andere: Rentner, Gering- ist eine höchst diffuse Lage. verdiener und Sparer. Sie werden kalt enteignet. In dieser Situation geben Sie hier sozusagen die Stan- Die Vorboten der inflationären Entwicklung sind un- dardantworten. Ich habe Ihnen das schon einmal gesagt: übersehbar. Das ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Ich habe den Eindruck – hier leider wieder –, dass Sie (Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- eine Reihe von richtigen Komponenten und Antworten, Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die Sie in Ihrem Antrag erwähnen und die ich auch mit- tragen würde, vom Computer per Zufallsgenerator stän- Wir wissen: Wenn das Geld schlecht wird, dann kann al- dig durcheinandermischen lassen, sodass es nach einem les ins Rutschen kommen. Das beste Konjunkturpro- neuen Text aussieht. Dieser wird dann hier als Antrag 24346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Laurenz Meyer (Hamm) (A) eingebracht. Das geht so nicht. Das ist nicht verantwor- die Sorge um die notwendige Finanzierung mittelständi- (C) tungsbewusst; scher Unternehmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eines ist mir in letzter Zeit – schon zu Beginn der neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Krise, aktuell und auch heute Morgen in der Debatte – GRÜNEN) immer wieder aufgefallen: Bei einer Analyse der Lage stellen wir fest, dass es nicht darum geht, ob wir mehr das muss ich Ihnen wirklich sagen. Ich bin zwar in vie- Staat brauchen. Wir brauchen mehr und klarere Rah- len Punkten nahe bei Ihnen. Aber in dieser Form geht es menbedingungen, zum Beispiel für die Finanzwirt- wirklich nicht. schaft. Wo ist denn das Versagen am größten gewesen? Das war doch eher bei den staatlichen Bankinstituten der Seit Herbst letzten Jahres brennt es in Deutschland. Fall. Ich weiß überhaupt nicht, wie man auf die Idee Wir haben am Anfang nur gelöscht. In einem ersten kommen kann, einer Verstaatlichung dieser Systeme das Schritt haben wir, angefangen von der Erklärung der Wort zu reden. Das ist doch absoluter Unsinn. Diejeni- Bundeskanzlerin zur Absicherung der Sparer bis hin gen, die das fordern, haben offensichtlich nicht richtig zum Finanzmarktstabilisierungsgesetz, gelöscht und an- hingesehen. Zwei Drittel unserer Probleme sind bei schließend die Schäden analysiert. Dann haben wir über staatlichen Banken aufgetreten. das kommunale Investitionsprogramm und Anreize für Investitionen bis hin zu Regelungen zur degressiven Ab- (Beifall bei der CDU/CSU) schreibung sowie zu Steuern und Abgaben einen zweiten Schritt getan. Das liegt nicht an zu viel Privatwirtschaft, sondern an zu viel Staat und zu wenig Wettbewerb in diesem Land, an Der britische Botschafter hat letztlich in einem Ge- einer falschen Ausgangssituation und an falschen Ge- spräch – ich will ihn hier nicht über Gebühr zitieren; schäftsmodellen, die diese Leute verfolgt haben. aber das ist ein für mich ganz wichtiger Punkt – zum (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dann ver- Ausdruck gebracht, dass es zu seinem Bedauern das, was stehe ich gar nicht, warum Sie die FDP kriti- wir soziale Marktwirtschaft nennen, und damit Instru- siert haben! Das ich doch eine Unterstützung mente wie die Kurzarbeit in dem System der sozialen der FDP!) Absicherung in Großbritannien in dieser Form nicht gibt. Wir brauchen klarere Rahmenbedingungen; das ist ein typisches Merkmal der sozialen Marktwirtschaft. Ich will an dieser Stelle für unsere Fraktion ganz be- Wir brauchen mehr langfristiges Denken, sowohl in den wusst sagen: Angesichts all der Unternehmerbeschimp- Unternehmen wie auch beim Staat. Viele Probleme, mit (B) fung, die wir in den letzten Monaten gehört haben, ist es denen wir uns jetzt beschäftigen, sind auf zu kurzfristi- (D) im Zusammenhang mit der Kurzarbeit und dem verant- ges Denken und Lenkungsmechanismen, die Anlass zu wortungsvollen Umgang der Unternehmer mit den Ar- kurzfristigem Handeln geben, zurückzuführen. Das fängt beitnehmern in den Betrieben, besonders in den mittel- bei den Managergehältern an, geht über die Quartalsab- ständischen Betrieben, an der Zeit, für das Miteinander schlüsse und endet bei den Investitionen des Staates in ein herzliches Dankeschön zu sagen. Bereichen wie Bildung und Familie. Langfristig führt (Beifall bei der CDU/CSU) das auch zu Fragen hinsichtlich der Höhe der Steuern und Abgaben. Hier haben in den vergangenen Monaten viele sehr Hier geht es nicht einfach um die Frage einer Absen- große Verantwortung gezeigt, sonst sähen unsere Ar- kung der Prozentzahlen und noch nicht einmal um die beitslosenzahlen angesichts der drastischen Einbrüche Frage, in welchen konkreten Schritten wir den Verlauf ganz anders aus. der Steuerkurve korrigieren. Es geht darum, endlich Ich kann mich an ein Gespräch aus der vorletzten Wo- deutlich zu machen, dass dieses Land gerade in der che mit einem Unternehmer eines Zuliefererbetriebes Situation, in der wir uns befinden, die Motivation aller aus der Lkw-Branche erinnern. Er musste einen Auftrags- Leistungsträger braucht. Die normalen Arbeitnehmer einbruch von 90 Prozent verkraften. Trotzdem sagte der – die Durchschnittsverdiener, die Handwerker, die Fach- Mann: Wir versuchen, mit Kurzarbeit über die Runden arbeiter – müssen im Mittelpunkt unseres Handelns ste- zu kommen. Wir werden durchstarten, wenn es wieder hen. Das muss die Botschaft sein. losgeht. – Diese Haltung stelle ich in vielen Firmen fest. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Davor habe ich Hochachtung. Diese Menschen haben neten der SPD) unser System nach vorne gebracht und etwas für die Ar- beitnehmer und das Land getan. Das bezeichne ich als Wir brauchen diese Leute, um den Karren aus dem gesunden Patriotismus und Heimatliebe. Diese Men- Dreck zu ziehen. schen identifizieren sich mit ihren Leuten vor Ort und Deshalb sage ich – auch an meine Partei gewandt –: mit der Region. Deshalb an dieser Stelle ein ganz herzli- Es ist richtig, dass wir diese Diskussion führen. Wir ches Dankeschön. müssen diese Diskussion vor der Wahl, bevor ein Wahl- (Beifall bei der CDU/CSU) programm verabschiedet wird, führen, damit die Men- schen vor der Wahl Klarheit bekommen, dass wir in der Derzeit geht es um die Frage der Funktionsfähigkeit nächsten Legislaturperiode den normalen Arbeitnehmer der Finanzmärkte, Stichwort Bad Bank. Dahinter steckt in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen stellen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24347

Laurenz Meyer (Hamm) (A) Wir brauchen langfristiges Denken. Forschung und Die heutige Steuerschätzung geht allein für dieses (C) Entwicklung sind das Thema. Bei der steuerlichen An- Jahr von einem Steuerausfall von 45 Milliarden Euro rechnung von Verlusten in Existenzgründungs- oder aus. Der Finanzminister, der im Jahre 2011 eine Wachstumsbetrieben, , sind wir mit schwarze Null schreiben wollte, muss sich so hoch ver- unserem Koalitionspartner leider nicht weitergekom- schulden, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik men. Da sind Sperren in den Köpfen. Ich wundere mich noch nie der Fall war. Dennoch fordert die FDP verbis- wirklich, wie jemand, der bereit ist, der Deutschen Post sen eine Politik der Steuersenkung. Das ist nicht nur jeden Monat 40 Millionen Euro Mehrwertsteuer zu weltfremd, das ist auch volksverdummend. schenken, bei Kleinigkeiten, die den Unternehmen wirk- (Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter lich helfen würden, dann, wenn es um die Zukunft des Haustein [FDP]: Nein, diese Politik ist rich- Landes geht, alles blockieren kann, was sinnvoll und tig!) notwendig ist. Diese Weltfremdheit ist kein Privileg der FDP. Auch (Beifall bei der CDU/CSU) die Kanzlerin hält trotz der katastrophalen Steuerschät- Die Investitionsbremsen müssen gelockert werden im zung an ihrem Vorhaben fest, die Einkommensteuersätze Bereich Energie, im Bereich Verkehr – bei Straße, zu senken. In die letzte Bundestagswahl ist die Opposi- Schiene und Flughäfen –, aber auch im Bereich Breit- tionsführerin Merkel mit der Ankündigung gegangen, bandnetze. Das ist langfristiges Denken. die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte zu erhöhen. Kaum war die Oppositionsführerin Kanzlerin, wurde ge- Herr Brüderle, in Ihrem Antrag taucht wieder auf, meinsam mit der SPD der größte Wahlbetrug dass Sie Veränderungen im Arbeitsrecht, Stichwort Kün- digungsschutz, wollen. Ich frage Sie – darüber sollten (Volker Kauder [CDU/CSU]: Der hat in der Sie einmal nachdenken – ganz konkret: Wollen Sie wirk- DDR bei Kommunalwahlen stattgefunden, wo lich in so einer Situation zusätzlich Millionen Menschen Sie noch Verantwortung hatten!) in diesem Lande in Angst und Schrecken versetzen? Da in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg ge- machen wir nicht mit. Das ist nicht unsere Politik. Wir bracht: Aus 2 Prozentpunkten Mehrwertsteuererhöhung wollen nicht Angst verbreiten, sondern wollen die Leute wurden 3 Prozentpunkte. motivieren und sie in eine bessere Zukunft mitnehmen. Wir wollen Startchancen schaffen. Das ist, glaube ich, Wessen Steuersätze will die Kanzlerin senken, und der richtige Weg. wer soll das bezahlen? Das ist die Frage. In den letzten zehn Jahren war es immer so, dass die Steuersenkungen (Beifall bei der CDU/CSU) für die Reichen von den Geringverdienern, Rentnern, (B) Ein klares Bekenntnis zum Industriestandort Deutsch- Alleinerziehenden und Arbeitslosen bezahlt wurden. (D) land gehört gerade in der jetzigen Situation dazu. (Peter Rauen [CDU/CSU]: Völliger Unfug!) Zusammenfassend will ich sagen: Wichtig ist jetzt, Die Wählerinnen und Wähler sollten diese dreiste Um- nicht die alten Antworten zu geben, sondern Mut zu zei- verteilung bei der nächsten Bundestagswahl stoppen. gen, Verantwortung zu zeigen und klare Ziele nach dem Denken zu äußern. Wenn wir es schaffen, alle Kräfte zu (Beifall bei der LINKEN) mobilisieren, dann werden wir durchstarten können. Ich Wir, die Linke, wollen Geringverdiener, Arbeitslose, bin sicher, dass wir am Ende des Prozesses zwar in einer Alleinerziehende, Familien und Rentner entlasten, und veränderten Situation sind; aber es muss keine schlech- wir sagen auch ehrlich, wie wir das finanzieren wollen, tere sein, wenn wir es richtig machen und die Verantwor- nämlich mit einer höheren Besteuerung derjenigen, die tung und den Mut zeigen, der jetzt nötig ist. in den letzten zehn Jahren schwindelerregende Gewinne Vielen Dank. auf Kosten der Allgemeinheit angehäuft haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN – Laurenz Meyer neten der SPD) [Hamm] [CDU/CSU]: Wie kann man nur so lange so einen Quatsch erzählen?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Im FDP-Antrag wird die Unternehmensteuerreform Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der angegriffen, durch die schon jetzt eine jährliche Entlas- Fraktion Die Linke. tung der Unternehmen von ungefähr 10 Milliarden Euro erreicht wird. Die FDP möchte die Unternehmen noch (Beifall bei der LINKEN) weiter entlasten, doch sie sagt nicht, wer für diese Steu- erausfälle aufkommen soll. Das ist keine seriöse Steuer- Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): und Haushaltspolitik. Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter Haustein Damen und Herren! Wenn man den Antrag der FDP [FDP]: Ihr versteht es nicht!) liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass es keine Finanzkrise gibt und die Märkte auch ohne staatliche Sie wollen in Ihrem Antrag, dass sich die Bundes- Eingriffe funktionieren. Dabei liegen die neoliberalen regierung dafür einsetzt, dass sich die Marktkräfte frei Glaubenssätze längst auf dem Müllhaufen der Ge- entfalten können und dass sich der Staat zurückzieht. schichte. Wenn der Staat das getan hätte, dann wären die Märkte 24348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Gesine Lötzsch (A) schon jetzt komplett zusammengebrochen, und dann Machen wir es doch einmal praktisch und nehmen wir (C) gäbe es heute auch keine Commerzbank und damit zum an, ein Autohaus habe auf Kredit 100 Geländewagen des Beispiel auch keine Spenden an die FDP mehr. Typs Hummer H 2 gekauft. Dieser Geländewagen mit einem durchschnittlichen Benzinverbrauch von 22 Li- (Rita Pawelski [CDU/CSU]: So ein Quatsch! – tern auf 100 Kilometer ist in der Krise unverkäuflich. Jan Mücke [FDP]: Absurde Geschichten!) Glauben Sie wirklich, dass der Autohändler diese Sprit- Eine Forderung in dem FDP-Antrag möchte ich zitie- fresser in den nächsten 20 Jahren verkaufen kann? Diese ren: Vorstellung ist doch abenteuerlich und hat mit Ökono- mie überhaupt nichts zu tun. Dieser Kredit ist und bleibt Die Bundesregierung wird aufgefordert, weitere tot. Maßnahmen einzuleiten, die den Geldkreislauf wie- Oder betrachten Sie eine Bank, die 100 Häuser in den derbeleben mit dem Ziel, die Kreditversorgung der USA finanziert hat. Es handelt sich um Holzhäuser mit Wirtschaft zu sichern. Einfachverglasung, ohne Wärmedämmung und mit einer Was denn nun? Wollen Sie nun, dass der Staat ein- Klimaanlage in jedem Zimmer. Glauben Sie wirklich, greift und Banken mit Steuergeldern rettet, oder wollen dass man diese Häuser in 10 oder 20 Jahren mit Gewinn Sie plötzlich keinen freien Markt mehr, der sich ohne verkaufen kann? Staat selbst reguliert? Ihr toxisches Gerede hat nur einen Zweck: Sie wollen (Jan Mücke [FDP]: Wir geben Ihnen noch den Wählerinnen und Wählern Glauben machen, dass einmal eine Lesehilfe!) nicht sie, sondern die Aktionäre die Zeche zahlen sollen. Nein, es muss Schluss sein mit den unkontrollierten Mil- Es ist völlig unklar, was Sie eigentlich wollen. liarden für die Banken. Die Bundesregierung gibt allerdings vor, den Ban- (Beifall bei der LINKEN) kensektor strenger regulieren zu wollen. Gegenwärtig Eine Verstaatlichung der privaten Banken nach dem erleben die Menschen aber nur, dass die Regierung Mil- schwedischen Modell, wie sie die Linke fordert, hat mit liarden Euro in marode Banken steckt und nur eine Sozialismus übrigens nur sehr wenig zu tun, sondern ist kleine Gruppe von Politikern und Bankmanagern über reine Marktwirtschaft. Wer das Geld gibt, der hat das Sa- die Vergabe von Milliarden entscheidet, ohne dass sie gen. Jetzt ist es aber so: Der Steuerzahler gibt das Geld, vom Bundestag wirksam kontrolliert werden können. hat aber gar nichts zu sagen. Diese Regierung hat das Das ist ein Zustand, den wir nicht länger hinnehmen Einmaleins der Marktwirtschaft noch immer nicht ver- können. (B) standen. (D) Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bringt es auf den (Beifall bei der LINKEN) Punkt – ich zitiere –: Natürlich darf bei den FDP-Forderungen auch die … wird das Geld wahllos den Bankern hinterherge- Flexibilisierung des Arbeitsrechts nicht fehlen. Sie mei- worfen, und die zahlen sich dafür Milliarden an nen damit natürlich den Abbau des Kündigungsschut- Boni und Dividenden aus. Wir Steuerzahler werden zes. Sprechen Sie es doch ehrlich aus und schreiben Sie praktisch ausgeraubt, um die Verluste einiger sehr es auch so auf, wie Sie es meinen! Herr Brüderle, sagen wohlhabender Leute zu verringern. Das muss sich Sie mir doch bitte, welche Unternehmen, welche Banken dringend ändern. jetzt in den Konkurs gehen, weil das Arbeitsrecht nicht flexibel war? Diese Unternehmen gibt es nicht; Sie kön- (Dr. [DIE LINKE]: Recht nen kein einziges nennen. Ich kann Ihnen aber genügend hat er! – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ Unternehmen nennen, die pleitegegangen sind, weil sie CSU]: Sie haben eben noch gegen Steuerent- von Heuschrecken überfallen wurden. Dazu steht kein lastungen gesprochen!) Wort in Ihrem Antrag. Der Bundesfinanzminister verbirgt sich mit den (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben ei- Banklobbyisten hinter einer Mauer des Schweigens. Die nen ganzen Staat pleite gemacht!) Informationen, die wir als Abgeordnete bekommen, sind häufig komplett wertlos, und es werden Begriffe ver- Das wundert mich nicht, kann man doch von der FDP, wendet, die wie Nebelbomben wirken. dem parlamentarischen Arm der Heuschrecken, nichts anderes erwarten. Die FDP lebt weiter in ihrer Sharehol- Welche Wirkung soll zum Beispiel der Begriff „toxi- der-Value- und Boni-Welt. sche Papiere“ auf die Bürger haben? Vorsicht, bitte nicht öffnen, Lebensgefahr? Ich will genau wissen, welche Wir als Linke kennen die harte Wirklichkeit und die schlechten Kredite der Finanzminister aufkauft, für die Probleme der Menschen. er gute Staatsanleihen ausgeben will, und ich will auch (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ja, weil Sie genau wissen, wie aus diesen toxischen Krediten in sie ausgelöst haben!) 10 oder 20 Jahren durch Geisterhand wieder jungfräuli- che Kredite werden. Das ist Voodoo-Ökonomie; um ein- Deshalb sind wir für einen gesetzlichen Mindestlohn. mal den Sprachgebrauch von Herrn Steinbrück zu benut- Denn wir sehen, dass viele Menschen in diesem Land zen. nicht von ihrem Lohn leben können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24349

Dr. Gesine Lötzsch (A) Wir sind für eine Börsenumsatzsteuer, weil wir sehen, auf ungefähr 350 Milliarden Euro belaufen werden. Wer (C) wie die gierigen Finanzchaoten unsere Gesellschaft zer- in dieser Lage Steuersenkungen fordert, hat offenbar stören. den Schuss noch nicht gehört. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Wir sind für mehr öffentliche Investitionen, weil wir se- DIE GRÜNEN) hen, dass diese Regierung in den letzten Jahren die öf- Hinzu kommen – das ist bereits absehbar – die stei- fentliche Infrastruktur – insbesondere die Sanierung von genden Ausgaben bei den Sozialversicherungen und die Schulen, Hochschulen und Krankenhäusern – sträflich Ausfälle durch den Bankenrettungsfonds. Klaus vernachlässigt hat. Zimmermann, der Präsident des Deutschen Instituts für (Beifall bei der LINKEN) Wirtschaftsforschung, hat mit seiner Einschätzung un- sere Position bestätigt: Zum Schluss habe ich eine Frage an die SPD, Herrn Müntefering und Herrn Steinmeier. Sie schließen eine Der Ruf nach Steuersenkungen ist auf absehbare Koalition mit der FDP nicht aus. Deshalb frage ich Sie, Zukunft unverantwortlicher Populismus. wie Sie in einer Koalition mit der Haifisch-FDP, wie sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) überall auf den Wahlplakaten zu sehen ist, Ihr Wahlpro- gramm durchsetzen wollen. Wir haben daher andere Konzepte zur Krisenbewäl- tigung entwickelt. Wie Sie wissen, steuern wir mit drei (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das fragen wir Maßnahmenpaketen aktiv gegen die Krise an. Erstens uns auch!) haben wir einen Rettungsschirm über die Banken ge- Am besten plakatieren Sie: Haifischfutter würde SPD spannt, um die Geldversorgung aufrechtzuerhalten. Ich wählen! weiß, dass es dabei noch ein wenig hakt. Wir sind gerade dabei, nachzujustieren. Des Weiteren haben wir die (Beifall bei der LINKEN) Spareinlagen der Bürgerinnen und Bürger gerettet.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Wort hat die Kollegin Ute Berg von der SPD- der CDU/CSU) Fraktion. Frau Lötzsch sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht nur die Höherverdienenden, sondern auch die nor- malen Bürgerinnen und Bürger im Blick haben. (B) Ute Berg (SPD): Zweitens haben wir bereits im November 2008 das (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu erste Konjunkturpaket in Höhe von 30 Milliarden Euro Ihrer Frage, Frau Lötzsch: Wir werden die FDP positiv und drittens zu Beginn dieses Jahres das zweite Paket beeinflussen. Das fällt uns sicherlich nicht schwer, Herr beschlossen. Damit unterstützen wir Unternehmen wie Brüderle. auch die Beschäftigten in einem Umfang von 50 Milliarden Euro. Das ist mit 80 Milliarden Euro ins- (Heiterkeit bei der FDP) gesamt das größte Konjunkturpaket in der Geschichte Nachdem uns gerade Frau Lötzsch das Einmaleins der Bundesrepublik. Damit – das wiederhole ich aus- der Marktwirtschaft erklärt hat, komme ich auf Ihren drücklich – sichern wir Arbeitsplätze. Die FDP hat uns Antrag zurück, Herr Brüderle. Die FDP hat, wie ich die ganze Zeit bei allen Maßnahmen beschimpft und da- finde, einen glasklaren Schaufensterantrag vorgelegt. gegengestimmt, aber nichts Eigenes entwickelt. Damit meine ich, dass Ihre Absichten leicht zu durch- Wir setzen bewusst auf einen Maßnahmenmix. Ich schauen sind: Sie brauchen noch Munition für den Wahl- konzentriere mich auf vier Punkte: Wir setzen Impulse kampf. Bisher haben Sie nichts zur Bewältigung der für Investitionen und stärken gleichzeitig die Binnen- Krise beigetragen. Außerdem haben Sie ein Sammel- nachfrage durch Entlastungen der Bürgerinnen und Bür- surium von Einzelpunkten vorgelegt, das den Anspruch ger von Steuern und Abgaben. Wie gesagt, mehr geht jeglicher Seriosität vermissen lässt. nicht. Wir helfen mit dem Wirtschaftsfonds kleinen und (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das sehen wir großen Unternehmen und sichern damit die Arbeits- anders!) plätze vieler Beschäftigter. Wir stützen mit der Ab- wrackprämie die von der Krise besonders betroffene Au- Ganz oben auf dem Forderungskatalog steht wieder tomobilbranche. In der gestrigen Anhörung ist noch die altbekannte Forderung nach niedrigeren Steuern. einmal deutlich geworden, dass wir hier offensichtlich (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das ist gut so!) sehr erfolgreich sind. Wir treiben zudem den Breit- bandausbau in Deutschland massiv voran. Ich kann es nicht mehr hören. Dabei müsste es sich in- zwischen auch bis zu Ihnen herumgesprochen haben, Damit nenne ich nur einige Maßnahmen, die wir be- dass jetzt aus einer großen Steuerreform nichts wird, schlossen haben. Insgesamt handelt es sich um einen weil es dafür absolut keinen Spielraum gibt. Die aktuel- ausgewogenen Mix aus kurzfristig und mittelfristig wir- len Zahlen der amtlichen Steuerschätzung liegen noch kenden Maßnahmen, die bereits ihre Wirkung entfalten. nicht vor; aber Peer Steinbrück hat bereits festgestellt, Das zeigt nach wie vor die, wie ich finde, erstaunlich sta- dass sich die Steuerausfälle für die nächsten vier Jahre bile Binnennachfrage in Deutschland. 24350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Ute Berg (A) Zum Glück – dank der Politik aus der rot-grünen Re- Es geht aktuell aber auch darum, die Grundlage für (C) gierungszeit – sind wir in die jetzige Krise relativ stark den nächsten Aufschwung zu legen. Von zentraler Be- hineingegangen. Hinter uns liegt eine Zeit des Abbaus deutung sind dabei erstens gut qualifizierte Fachkräfte der Arbeitslosigkeit um etwa 2 Millionen Menschen. Es und zweitens die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Inno- wurde damit mehr Beschäftigung aufgebaut, als nun be- vationen. Wie Sie alle wissen, haben wir die Bezugs- droht ist. Das befriedigt nicht, ist aber ein Trost. Wenn dauer des Kurzarbeitergeldes von 12 auf 18 Monate ver- wir nicht so gut regiert hätten, hätte es noch viel bedroh- längert und die Bedingungen unter anderem durch licher ausgesehen. Qualifizierungsangebote attraktiver gestaltet. Wir sehen an der starken Annahme dieses Angebots, dass Unter- Auf zwei Punkte unserer Konjunkturmaßnahmen nehmen offensichtlich ihre Arbeitnehmerinnen und Ar- möchte ich noch detaillierter eingehen, da Sie diese zwar beitnehmer wirklich halten und sie nicht in die Arbeits- in Ihrem Antrag erwähnen, dabei aber vergessen, was losigkeit entlassen wollen. wir bereits beschlossen haben. Ich meine erstens Investi- tionen in Bildung und Infrastruktur und zweitens Entlas- In einem zweiten Schritt werden wir – das hat Olaf tungen der Bürgerinnen und Bürger von Steuern und Ab- Scholz schon mit BDA und DGB vereinbart – die Be- gaben. Sie scheinen wirklich vergessen zu haben, was zugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 24 Monate verlän- wir hier getan haben. Beides sind wichtige und richtige gern und die Arbeitgeber ab dem siebten Monat Kurzar- Stellschrauben, um in einer Situation, in der die Export- beit vollständig von den Sozialabgaben entlasten. Wir märkte wegbrechen, die Binnenkonjunktur zu stützen. wollen die Unternehmen dabei unterstützen, gemeinsam mit ihren Beschäftigten durch die Krise zu gehen, damit Punkt 1, Impulse für mehr Investitionen. Mit unse- sie dann, wenn diese Krise vorbei ist, mit qualifizierten rem kommunalen Investitionsprogramm finanzieren wir Fachkräften wieder durchstarten können. zu zwei Dritteln Investitionen in den Bildungsbereich und zu einem Drittel Investitionen in die Modernisierung Damit tun wir wirklich etwas, um Arbeitsplätze zu si- der Infrastruktur. Wir haben zusätzlich Mittel für den chern, und handeln nicht wie Sie, meine Herren von der Ausbau und die Erneuerung der Bundesverkehrswege, FDP – ich sehe, im Moment sind nur noch Herren da –, aber auch im Bereich der IuK-Technik bereitgestellt. Wir (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nur keine haben zudem die Mittel für die Förderprogramme der Diskriminierung!) Kreditanstalt für Wiederaufbau aufgestockt, um weitere Investitionen anzustoßen, insbesondere für die energeti- die Sie mit Ihrer Forderung nach einem flexibleren Ar- sche Gebäudesanierung. Alles in allem summieren sich beitsrecht verschleiern, was Sie wirklich wollen. Was die Ausgaben für Investitionen auf 25 Milliarden Euro in das nämlich im Klartext heißt, sehen wir in Ihrem Wahl- (B) den kommenden zwei Jahren. Mit einer deutlichen Ver- programm: Kündigungsschutz nur für Betriebe mit mehr (D) einfachung des Vergaberechts haben wir außerdem si- als 20 Beschäftigten und erst nach zwei Jahren Beschäf- chergestellt, dass öffentliche Aufträge schnell und unbü- tigungsdauer. Gleichzeitig wollen Sie die betriebliche rokratisch – auch und gerade kleinen und mittleren Mitbestimmung deutlich einschränken und am liebsten Unternehmen – erteilt werden können. Im Moment den- ganz abschaffen. Das ist eine Politik gegen Beschäftigte ken wir darüber nach, in diesem Bereich ein wenig nach- und auch gegen Unternehmen. Gerade in der Wirt- zujustieren und weitere Erleichterungen für KMUs vo- schaftskrise zeigt sich nämlich, dass Unternehmen und ranzubringen. Beschäftigte eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die ge- meinsam an einem Strang zieht. Ich gehe davon aus, Punkt 2, Entlastung von Steuern und Abgaben. dass auch Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind und Durch unsere bereits beschlossenen Maßnahmen entlas- hören, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesen ten wir die Bürgerinnen und Bürger. Dabei haben wir be- Zeiten sehr einig sind und gemeinsam Konzepte umset- sonders einkommensschwächere Haushalte im Blick, da zen, die wir entwickelt haben, um die Unternehmen zu hier das zusätzliche Geld direkt in den Konsum geht. stärken und die Beschäftigten in den Unternehmen zu Das beginnt mit der Absenkung des Eingangssteuersat- halten. zes auf 14 Prozent und der Anhebung des Grundfreibe- trags auf 8 004 Euro. Das geht weiter mit dem Kinderbo- Genauso wichtig für die Zukunft unserer Wirtschaft nus in Höhe von 100 Euro, den die Familienkassen sind Investitionen in Forschung und Entwicklung. In bereits ausgezahlt haben, sowie der Erhöhung des Kin- diesem Bereich wird in Krisenzeiten leider häufig ge- derregelsatzes beim Arbeitslosengeld II und der Sozial- spart, und zwar auf Kosten der Innovationsfähigkeit der hilfe ab dem 1. Juli 2009. Nicht zuletzt haben wir bereits Betriebe und des Standortes Deutschland insgesamt. Ich die Sozialabgaben gesenkt. habe mir in der vorletzten Woche ein positives Gegen- beispiel angeschaut. Die Firma Phoenix Contact, ein Alles in allem entlasten wir die privaten Haushalte mittelständischer Betrieb aus meiner Region, steuert be- mit Augenmaß um insgesamt rund 30 Milliarden Euro. wusst in der Krise dagegen und verstärkt trotz Kurzar- Herr Fuchs, das heißt, eine Familie mit zwei Kindern hat beit in der Produktion ihre Anstrengungen im Bereich in diesem Jahr netto 679 Euro und im Jahr 2010 Forschung deutlich; denn, so einer der Geschäftsführer, 614 Euro mehr in der Tasche. Hinzu kommen die bes- die Firma möchte nach der Krise in der Poleposition sere Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und ver- sein. Um generell Firmen Anreize zu geben, ähnlich wie besserte Abschreibungsmöglichkeiten für Unterneh- Phoenix Contact zu agieren, haben wir die Mittel für das men. Das alles sind Maßnahmen, die auch den Konsum Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand um insge- und die Investitionstätigkeit anregen. samt 900 Millionen Euro erhöht und damit den Etat für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24351

Ute Berg (A) Forschungsförderung im innovativen Mittelstand fast eingangs Folgendes sagen: Ich finde, Sie haben hier ei- (C) verdoppelt. nen akrobatischen intellektuellen Akt zur Aufführung gebracht. Ich hoffe, Sie haben sich dabei nicht verletzt. (Beifall bei der SPD) Es ist schon erstaunlich, dass Sie die gerade veröffent- Die Regierungsfraktionen haben in der aktuellen lichten Steuerschätzungen – die vorgelegten Zahlen sind Krise zügig und entschlossen gehandelt und Verantwor- dramatisch, was Steuerausfälle angeht – als Hinweis da- tung für unser Land übernommen. Das wird auch in den rauf interpretieren, dass weitere Steuersenkungen not- kommenden Wochen das Prinzip unseres Handelns sein, wendig sind. Das muss Ihnen schon einmal jemand wenn es nämlich darum geht, die nach wie vor bestehen- nachmachen. Das zeigt, mit welcher Ignoranz Sie mit den Probleme unseres Bankensystems durch die Einrich- dieser Krise umgehen. tung von Bad Banks in den Griff zu bekommen und die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kreditversorgung der Wirtschaft zu sichern. In diesem Punkt möchte ich allerdings Herrn Meyer Dazu noch eines – Sie propagieren Steuersenkungen ausdrücklich widersprechen. Es ist mitnichten so, dass schon seit langem; Sie haben sie vor und nach der Krise der Staat zu großen Teilen der Versager war. Natürlich propagiert; Sie wiederholen sich ständig –: Ich kenne haben auch staatliche Banken ihren Teil dazu beigetra- keine Regierung – an vielen Regierungen war die FDP gen, jahrelang beteiligt –, der es gelungen ist, mit Steuersen- kungen einen wirtschaftlichen Aufschwung auf den Weg (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Zwei zu bringen. Sie haben in keiner einzigen Regierung Steu- Drittel ist mehr als die Hälfte!) ersenkungen durchgesetzt. dass das Bankensystem in Misskredit geraden ist. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Keine Ah- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hat nung von nichts auf hohem Niveau! Denken denn den ganzen Mist beschlossen? Das waren Sie mal an 1986/88, Frau Kollegin! Da waren Sie doch! Wer hat denn in den letzten elf Jah- Sie wahrscheinlich noch nicht im Bundestag!) ren den Finanzminister gestellt?) Obwohl Sie verschiedenen Landesregierungen angehö- Aber dass die Krise von lupenreinen Privatbanken in den ren, ist es im Bundesrat noch zu keiner Initiative gekom- USA ausging, das können Sie, Herr Meyer, wirklich men, die Steuern zu senken. Ich kann nur feststellen: nicht unter den Tisch kehren. Das, dem Sie hier seit Jahrzehnten das Wort reden, ist Wahlbetrug. (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Und (B) von staatlichen Wohnungsbaufinanzierern in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) den USA!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Insofern halte ich die Diskussion, die Sie hier führen, für Sie wollen über Konjunktur und Rezession, wie Sie falsch. Ich glaube, dass der Staat verstärkt regulierend sagen, reden. Ich denke, wir sollten hier über die Krise eingreifen muss, reden und darüber, wie wir aus dieser Krise herauskom- men. Schon die von Ihnen verwendete Begrifflichkeit ist (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: doch eine Verharmlosung. Wir erleben die weltweit Regulierend ja!) größte Krise. Es geht um die Frage, welche Antworten wobei man natürlich auch nicht auf dem „Staatsauge“ wir als Politikerinnen und Politiker haben. Das ist der blind sein darf. Es hat hier aber in allererster Linie ein Punkt. Marktversagen und kein Staatsversagen gegeben. Ich muss schon sagen: Ich wundere mich sehr, dass (Beifall bei der SPD) Sie sich vor dem Hintergrund dieser weltweiten Krise hierhin stellen und behaupten, dass sie etwas mit der Die Politik ist in diesen Wochen gefordert, pragmati- Steuerpolitik in diesem Land zu tun habe. Auch die FDP sche Lösungen für außerordentlich schwierige Probleme müsste endlich erkannt haben, dass die Finanzkrise als zu finden. Anträge wie der Ihre sind im Moment alles systemische Krise, die die Wirtschaftskrise ausgelöst andere als hilfreich. hat, überhaupt nichts mit Steuerpolitik zu tun hat, aber Danke schön. ganz viel mit einem wirklich völlig unbegrenzten, unre- gulierten Neoliberalismus, der sich auf den Finanzmärk- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten durchgesetzt hat. Charakteristisch für ihn ist die der CDU/CSU) Abwesenheit von Regelungen. Der Zustand der Regel- losigkeit im Bereich Finanzmarkt hat uns eine Krise ein- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gebrockt, die mit Steuerpolitik nichts zu tun hat und die Das Wort hat nun Thea Dückert für die Fraktion man mit einer anderen Steuerpolitik nicht bewältigen Bündnis 90/Die Grünen. kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Haben Sie Kollegen! Lieber Herr Brüderle, ich muss Ihnen schon sieben Jahre lang keine Regeln geschaffen?) 24352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Thea Dückert (A) Vielleicht reden Sie den Zustand deswegen klein, weil Weg daran vorbei, beide Krisen in einem, mit ein und (C) Ihre Ideologien dieser Entwicklung den Boden bereitet demselben Ansatz zu lösen. Die ökonomische Krise er- haben. fordert Investitionen; wir müssen unsere Wirtschaft in Gang bringen. Die ökologische Krise erfordert Klima- Die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir aus schutzmaßnahmen. Beides ist machbar. den Krisen, mit denen wir es zu tun haben – Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Klimakrise –, heraus? Vor kurzem hat Jeder einzelne Euro, den wir hier in Deutschland für die Hannover-Messe stattgefunden. Auf ihr waren viele Investitionen in die Hand nehmen, muss in den Bereich Maschinenbauer und mittelständische und kleine Unter- der ökologischen Modernisierung fließen. Darin liegt die nehmen vertreten. Sie haben eines sehr deutlich ge- Chance, meine Damen und Herren. macht: Sie haben in ihren Bereichen eine Chance, wenn sie sich auf die ökologische Modernisierung konzen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trieren. Das war in Hannover Thema; das ging durch Dazu zählen die Bereiche Bildung und erneuerbare En- sämtliche Tageszeitungen. ergien, Gleichzeitig gibt es international – ich sprach von ei- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Die gehören ner weltweiten Krise – Antworten auf die Krise. China auch dazu!) investiert 200 Milliarden Dollar in die ökologische Er- neuerung, in den Klimaschutz, in die ökologische Mo- Biolandwirtschaft, Gesundheit und Pflege. Sie bieten dernisierung. Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen; aber wir brauchen sie auch für unsere Gesellschaft, um in die (Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allem in Zukunft gehen zu können. Das ist eine Palette von Mög- Kernkraftwerke! – Dr. Michael Fuchs [CDU/ lichkeiten – wir werden sie Ihnen auch noch einmal CSU]: Sie bauen 17 zurzeit!) überreichen –, wie man mit breit angelegten Ansätzen Die USA investieren in den nächsten zehn Jahren zur ökologischen Modernisierung eine Million Arbeits- 150 Milliarden Dollar in genau diesen Bereich, also in plätze in Deutschland schaffen kann. erneuerbare Energien, in die ökologische Modernisie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rung. Südkorea hat 80 Prozent der Mittel seines Kon- junkturpakets genau in diese Bereiche investiert. Herr Röttgen hat in der letzten Woche gesagt, mit Sparen könne man die Konjunktur nicht ankurbeln. Er Herr Meyer sagte eben, wir sollten hier für Deutsch- wollte damit ein Argument für die Notwendigkeit von land Mut entfalten und nicht immer die alten Antworten Steuersenkungen liefern. – Es tut mir wirklich leid; ich geben. – Ja, Herr Meyer, das meine ich auch. Allerdings (B) schätze Herrn Röttgen und insbesondere seine Argumen- (D) sollten Sie vor dem Hintergrund dessen, was ich hier ge- tationen sehr, aber hier hat er definitiv einen völlig fal- rade dargestellt habe, genau dies einmal Ihrer Frau schen Gegensatz aufgebaut. Es geht nicht darum, nicht Kanzlerin mitteilen. zu investieren, sondern darum, jeden Euro richtig zu in- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vestieren, also nachhaltig für die Zukunft. Es geht nicht darum, dass wir sparen sollten und deswegen die Steuern Frau Merkel hat in der letzten Woche noch einmal darauf nicht senken sollten – selbstverständlich müssen wir hingewiesen, mit ihr gebe es keine Klimabeschlüsse, die auch sparen –; vielmehr geht es darum, dass wir jetzt Arbeitsplätze in Gefahr bringen. Konjunkturprogramme aufgelegt haben, die für Steuer- Meine Damen und Herren, Entschuldigung, ich senkungen keinen Raum mehr lassen. Eine Debatte glaube, Sie haben wirklich nicht begriffen, dass umge- hierüber müssen wir in diesem Hause führen. kehrt ein Schuh daraus wird. Die Lösung ergibt sich Vor dem Hintergrund der aktuellen Steuerschätzung, durch Klimaschutz, durch Investitionen in ökologische vor dem Hintergrund der historisch größten Verschul- Modernisierung, und zwar in allen industriellen Berei- dung Deutschlands ist es wirklich ein vorbereiteter chen: Maschinenbau, Chemie, Hightech. Solche Investi- Wahlbetrug – das gilt auch für Frau Merkel –, in dieser tionen sind notwendig und werden Arbeitsplätze brin- Situation Steuersenkungen anzukündigen. gen. Hier ist bei Ihnen Fehlanzeige. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist vorbereiteter Wahlbetrug in doppelter Hinsicht: Anders als Sie hat es beispielsweise die Wirtschafts- Erstens werden Sie die Steuern nicht senken können. woche in der letzten Woche auf den Punkt gebracht. Sie titelt „Grün aus der Krise“ und schreibt, dass die deut- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch! Zum sche Industrie mit neuen Ideen eine Million neue Jobs 1. Januar 2010 sowieso schon!) schaffen kann. – Sie sagen „doch“. Prima! – Dann kommt der zweite (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die haben Wahlbetrug zum Tragen: Sie werden es nur tun können, nicht die Grünen gemeint! – Irmingard indem Sie in der Zukunft in Deutschland Sozialabbau Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- betreiben, den Sie hier nicht thematisieren. Das ist wirk- NEN]: Mit den Grünen aus der Krise!) lich unredlich, meine Damen und Herren! Damit ist Folgendes gemeint: Wir haben eine ökonomi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sche Krise und eine ökologische Krise. Es führt kein und bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24353

Dr. Thea Dückert (A) CSU]: Das ist so falsch wie unredlich, was Sie daran schuld, aber sie ist auch nicht unschuldig. Sie hat (C) sagen!) in dieser Legislaturperiode die höchste Steuererhöhung durchgeführt, die wir je erlebt haben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!) Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Über diese höhere Steuerbelastung wollte sie die öffent- lichen Haushalte sanieren. Das hat sie nicht geschafft. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie hat für die schlechten Jahre nicht vorgesorgt, die ja Ich komme zum Ende. zu erwarten waren. Deswegen fehlt ihr jetzt das Geld. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Gott sei Darüber hinaus hat sie mit diesen hohen Belastungen Dank! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: auch noch eine Binnenrezession herbeigeführt. Das ist ja Das ist auch gut so!) die Folge von höheren Belastungen. – Ich glaube gerne, dass Sie das nicht hören wollen. (Beifall bei der FDP – [SPD]: Zum Ende möchte ich Sie auf Folgendes verweisen: Die Binnenwirtschaft ist nicht das Problem, Es ist richtig, zu investieren, aber stoppen Sie nicht, wie sondern der Export!) Ihre Regierung das gerade tut, Investitionen in Berei- Sie können doch keinem erzählen – auch der Parteitag che, wo wir sie brauchen wie beispielsweise im Bil- der Grünen kann das keinem weismachen –, dass man dungsbereich – Herr Steinbrück hat ja den Bildungspakt mit höheren Steuern und höheren Belastungen die Wirt- gerade auf Eis gelegt, indem er einen Haushaltsvorbehalt schaft beleben kann. Nein, all dieses dämpft die wirt- geltend gemacht hat –, und geben Sie das Geld nicht an schaftliche Entwicklung und schwächt das Einkommen der falschen Stelle aus wie zum Beispiel für die Ab- der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dann we- wrackprämie. niger ausgeben können. Das führt im Endeffekt auch zu Bei der gestrigen Anhörung im Ausschuss ist noch geringeren Sozialabgaben und Steuereinnahmen. einmal ganz deutlich geworden, dass diese Abwrackprä- Hinzu kommt, dass die Bundesregierung jetzt zwar mie, für die Sie jetzt noch mehr Geld bereitstellen – Geld einen Rekordstand bei den Schulden erreicht, aber zu- ist also offenbar da –, ökologische Kollateralschäden mit gleich beinahe schon höhnisch behauptet, jetzt bleibe sich bringt. kein Geld mehr für die Entlastung der Bürger. Es ist (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie sind doch grotesk, dass sie für diese blöde Abwrackprämie der Kollateralschaden! – Dr. Georg Nüßlein plötzlich 6 Milliarden Euro in die Hand nimmt, [CDU/CSU]: Sie haben nicht zugehört!) (B) (Ute Berg [SPD]: Wieso 6 Milliarden?) (D)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: aber den Bürgern keine Entlastung gönnt. Wo sind wir Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. denn hier? (Beifall bei der FDP) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bürger sind der Souverän dieses Staates. Sie stehen Ich komme zum Schluss. – Außerdem wird durch die im Mittelpunkt, und nicht die Autos. Abwrackprämie Nachfrage vorgezogen und einem orga- nisierten Betrug mit Altwagen Vorschub geleistet. Es (Klaus Barthel [SPD]: Wer kriegt denn die Ab- gäbe an dieser Stelle noch viel zu diskutieren – das sagen wrackprämie? Doch wohl die Bürger!) die Fachleute, nicht wir. Die Abwrackprämie ist im Übrigen ein Schuss in den Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren: Hören Ofen, weil überwiegend Importautos verkauft worden Sie auf mit falschen Versprechungen und schaffen Sie sind; mit uns zusammen 1 Million neue Arbeitsplätze über eine ökologische Modernisierung. (Klaus Barthel [SPD]: Falsch! – Ute Berg [SPD]: Dummes Zeug! – Volker Kauder Danke schön. [CDU/CSU]: Wir sind doch Europäer, Herr Solms!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die kleinen Reparaturwerkstätten haben nichts mehr zu Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tun, die Gebrauchtwagenhändler gehen pleite, und nach Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für Auslaufen der Abwrackprämie wird es einen Nachfrage- die FDP-Fraktion. einbruch geben. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Das sagen auch die Experten. (Beifall bei der FDP) (Ute Berg [SPD]: Sie hätten einmal zur Anhö- rung kommen sollen, Herr Solms!) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ich will jetzt einmal die Vergangenheit hinter uns las- will in aller Kürze nur noch einmal auf den Kern dieses sen. Die Frage ist nun: Wie kommen wir aus der Rezes- Antrages hinweisen. Die Situation ist: Wir haben eine sion heraus, und was kann der Staat dazu tun, dass wir Rekordrezession. Die Bundesregierung ist nicht allein sie überwinden? Man muss sich immer wieder in Erinne- 24354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Hermann Otto Solms (A) rung rufen, dass 10 Prozent des Sozialproduktes im (Klaus Barthel [SPD]: Warum waren Sie dann (C) staatlichen Sektor erwirtschaftet werden, 90 Prozent dagegen? Lesen Sie Ihre Reden nach! – Wei- aber im privaten Sektor. Also muss ich mich doch in tere Zurufe von der SPD und dem Bündnis 90/ erster Linie darauf konzentrieren, Impulse für Wachs- Die Grünen) tum, für Investitionen und für Beschäftigung im privaten Sektor zu geben, damit sich dieser positiv entwickelt. Warum hat es hinterher einen Wirtschaftsaufschwung Die beiden Konjunkturprogramme konzentrieren ihre gegeben? Es ist doch einfach dumm, sich davon zu dis- Ausgaben aber allein auf den staatlichen Sektor, und tanzieren. Das war doch mit Ihre Leistung. In den 80er- auch hier nur auf einen Teil, nämlich im Wesentlichen Jahren war das genauso. 1986, 1988 und 1990 haben wir eine Steuerreform in drei Etappen durchgeführt, die dazu die Bauwirtschaft. Das hilft einigen Baufirmen und eini- beigetragen hat, dass wir 1989 eine erheblich höhere Be- gen Kommunen – zugegeben –, aber es nutzt der wirt- schäftigung und einen beinahe ausgeglichenen Haushalt schaftlichen Entwicklung so gut wie nichts, sondern gehabt haben. Sonst hätten wir uns die deutsche Einheit führt in erster Linie nur zur Erhöhung der Schuldenlast. noch weniger leisten können. Wir sind ja froh, dass wir Die Steuerentlastungen, die Sie auf den Weg ge- uns in diesem Zustand befanden. bracht haben, waren richtig. Diese haben wir unterstützt. (Beifall bei der FDP) Sie kommen nur zu spät. Die Möglichkeit, Krankenver- sicherungsbeiträge von der Steuer abzuziehen, besteht Genau das brauchen wir auch jetzt. Wenn wir aus der erst ab 2010. Wir hätten diese Regelung aber schon in Rezession heraus wollen, müssen wir die Bürger, die diesem Jahr gebraucht. Sie hätten sie zum 1. Januar die- Wirtschaftssubjekte, die kleinen Unternehmen, die ses Jahres in Kraft setzen sollen. Sie wurden übrigens Selbstständigen und die Arbeitnehmer entlasten, damit dazu genötigt, diese Möglichkeit zu schaffen, weil das ihnen mehr Geld bleibt, um dies auszugeben, damit der Bundesverfassungsgericht das gefordert hat. Aus eige- 90-Prozent-Sektor, die private Wirtschaft, wieder Fahrt nem Antrieb hätten Sie es gar nicht getan. aufnimmt und das Wachstum finanziert werden kann. Das ist übrigens die Basis der Staatseinnahmen. Sie wer- (Beifall bei der FDP) den die Staatseinnahmen nur dann nachhaltig stabilisie- ren, wenn Sie einen viel höheren Beschäftigungsgrad er- Es wird jetzt darauf ankommen, zu entlasten, damit mehr reichen. Dieser Aussage kann eigentlich niemand investiert, mehr Arbeitsbereitschaft ausgelöst wird und widersprechen. damit die Bürger, die Arbeitnehmer mehr Netto vom Brutto behalten, damit sie sich wieder langlebige Ge- Vielen Dank. brauchsgüter, etwa ein Auto, aus eigenem Einkommen (B) leisten können, in ihr Haus investieren können, auch bei- (Beifall bei der FDP – Ute Berg [SPD]: Das stimmt! (D) spielsweise energiesparende Investitionen in den Ge- Aber nicht durch weniger Steuern!) bäude- bzw. Wohnbestand tätigen können. Das ist doch die Voraussetzung dafür. Der gute Wille ist ja zu begrü- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ßen, aber erst einmal müssen Sie den Bürgerinnen und Das Wort hat der Kollege Michael Fuchs für die Bürgern die Möglichkeit dafür schaffen. CDU/CSU-Fraktion. Frau Dückert, ich wundere mich wirklich über Ihr Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) dächtnis. Erinnern Sie sich, dass Sie selbst als Grüne eine Steuerreform mitverantwortet haben. Sie haben al- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): len Grund, Herrn Brüderle zu danken und ihn nicht zu Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- beschimpfen; ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lötzsch, et- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was für Ihr Poesiealbum – schreiben Sie es mit, damit NEN]: Ich renne doch nicht herum und ver- Sie es endlich begreifen –: spreche andauernd Steuersenkungen!) (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Durch denn er hat damals dafür gesorgt, dass Rheinland-Pfalz die Wälder geht ein Rauschen!) im Bundesrat dieser Steuerreform über die Hürde gehol- Hören Sie bitte mit der Umverteilungsarie auf, die Sie fen hat. uns hier immer wieder vorsingen. (Zurufe von der SPD und dem Bündnis 90/Die (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Grünen) Umverteilt haben Sie!) – Nein, das lag nicht an uns. Es ist totaler Unsinn. Das obere Drittel der Haushalte in Deutschland zahlt 62 Prozent der Einkommensteuer. (Klaus Barthel [SPD]: Im Bundesrat waren Sie dagegen und die Grünen dafür!) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Uns kommen die Tränen!) – Das haben wir natürlich gemeinsam miteinander be- sprochen, wie wir das immer tun. Die Steuerreform, Das untere Drittel der Einkommensteuerzahler zahlt Frau Dückert, die Sie zu verantworten haben, hat selbst- 5 Prozent der Einkommensteuer und bezieht 60 Prozent verständlich positive Wirkungen erzeugt. sämtlicher Alimentierungen, sämtlicher Transfers. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24355

Dr. Michael Fuchs (A) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber die meiste krise geschuldet, und das sollten wir alle, auch Sie, zur (C) Steuer kommt aus der Mehrwertsteuer!) Kenntnis nehmen. Das zeigt doch wahrlich, dass wir ein Sozialstaat sind, (Beifall bei der CDU/CSU) dass die Gelder bereits in erheblichem Maße umgeleitet werden. Wir haben eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen er- griffen. Eine Maßnahme war, das „Schmiermittel“ der Darüber hinaus zeigt dies, dass wir aufpassen müssen, Wirtschaft, den Geldkreislauf, wieder in Ordnung zu dass diejenigen, die das erwirtschaften, auch noch Lust bringen. Das ist gelungen. Wir haben erreicht, dass im dazu haben. Wenn wir denen permanent das Geld weg- Bankenbereich endlich wieder ein gewisses Maß an Ver- nehmen, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass ir- trauen herrscht. Ich bin sehr dankbar dafür, dass uns das gendwann demotivierende Faktoren hineinkommen. in Zusammenarbeit mit dem ganzen Haus gelungen ist. Dass wir damals innerhalb einer Woche das berühmte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Finanzierungspaket mit über 500 Milliarden Euro ge- der FDP – Zurufe von der LINKEN) schnürt haben, war wahrlich nicht einfach, aber dringend Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe, dafür notwendig. Ohne dieses Paket wäre der Geldkreislauf zu sorgen, dass wir für diejenigen, die morgens früh auf- nicht wieder in Gang gekommen. stehen, die arbeiten gehen, die richtig schaffen, die Poli- Der Kollege Meyer hat allerdings völlig recht, wenn zeibeamten, Krankenschwestern, die Nachtdienst ma- er darauf hinweist, dass es – das sollte nicht vergessen chen, ein motivierendes Steuersystem schaffen. Das tun werden, und das muss auch beim Thema Bad Bank be- wir nicht, indem wir permanent den Mittelstand in der achtet werden – im Wesentlichen die staatlichen Banken Progression schlechterstellen. Genau das wollen Sie. sind, die die größten Probleme haben. Die anderen Ban- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ken bekommen ihre Probleme in den Griff. Die Deut- Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die sche Bank hat eine Bilanzsumme von 1 Billion Euro und haben Sie gerade belastet mit der Steuer- 22 Milliarden Euro Toxic Assets. Die HSH hat eine Bi- reform!) lanzsumme von 200 Milliarden Euro und toxische Pa- piere in einer Größenordnung von 135 Milliarden Euro. Liebe Kollegen von der FDP, wir freuen uns ja über Dieses Unverhältnis ist ein Beispiel dafür, wie schlecht Debatten zum Mittelstand. Ich kann auch verstehen, dass in Landesbanken gewirtschaftet wird. Deswegen ist es Sie als Opposition Forderungen aufstellen, für deren zwingend notwendig, dass wir im Zusammenhang mit Umsetzung Sie nicht geradestehen müssen. Wir müssen den Bad Assets dafür sorgen, dass die Landesbanken ein aber in diesem Haushalt dafür geradestehen. Zukunftskonzept auf den Tisch legen, bevor wir ihnen (B) (D) Lieber Kollege Brüderle, wir befinden uns in einer helfen. Jetzt besteht die einmalige Chance, da etwas zu Krise, wie es sie noch nie zuvor gab. Machen wir uns ändern. nichts vor: Es ist eine Weltkrise. Zum ersten Mal bricht Auch im steuerlichen Bereich, Herr Kollege Brüderle, überall die Wirtschaft zusammen. Das hat es noch nie haben wir eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Wir ha- gegeben. Es gab bislang regionale Krisen, beispielsweise ben begonnen, die Progression abzubauen. Für 2009 1997/1998 die Finanzkrise in Asien. Wir haben sektorale und 2010 haben wir steuerliche Maßnahmen – zum Teil Wirtschaftskrisen erlebt, zum Beispiel die IT-Blase zugegebenermaßen auf Geheiß des Bundesverfassungs- 2000/2001. Auch in anderen Bereichen gab es Krisen, gerichts – in einer Größenordnung von insgesamt circa beispielsweise im Immobilienbereich. Aber nie gab es 18 Milliarden Euro ergriffen. Das ist nicht wenig. Das eine Krise, bei der die Wirtschaft weltweit flächende- sind fast drei Mehrwertsteuerpunkte, die wir den Bürge- ckend buchstäblich zusammengebrochen ist. Der Kol- rinnen und Bürgern wieder zurückgeben. Aber das ist lege Meyer spricht immer von Abbruchkanten, und er richtig und in dieser Krise dringend notwendig. hat recht damit. Auch bei den Lohnzusatzkosten haben wir einiges Unser Export ist zurzeit das zentrale Problem. Dieser getan. Von Rot-Grün haben wir fast 42 Prozent Lohnzu- ist besonders schwierig anzukurbeln, weil wir nichts da- satzkosten geerbt. Zum 1. Juli dieses Jahres werden sie für tun können, dass die Wirtschaft in anderen Ländern bei 38,65 Prozent liegen. Das heißt, wir haben die Lohn- wieder läuft. Das wäre eigentlich das Wichtigste für uns. zusatzkosten um rund 3,5 Prozentpunkte gesenkt. Das Im Moment läuft es nirgends gut, egal ob Sie zum Bei- hat in den letzten Jahren eine Entlastung von circa spiel nach Russland oder nach China schauen. Ich habe 25 Milliarden Euro mit sich gebracht. Auch das müssen mit dem Außenhandel in meinem früheren Leben viel zu Sie bitte zur Kenntnis nehmen. tun gehabt. Aufgrund der mir vorliegenden Zahlen kann ich Ihnen berichten, dass wir im Außenhandel wirklich Ich weiß, dass wir noch einige weitere Punkte ange- Probleme haben. Einem großen Hamburger Exportunter- hen müssen. Ich hoffe, dass wir mit den Kolleginnen und nehmen mit Wirtschaftsbeziehungen zu China wurden in Kollegen der SPD-Fraktion noch Lösungen für die der letzten Woche 30 Aufträge in China gecancelt. Dabei schwierigen Probleme bei der Unternehmensteuerre- nimmt China keine Rücksicht auf bestehende Verträge. form finden werden und da Regelungen schaffen kön- Sie haben gesagt: Wenn ihr in Zukunft mit uns zusam- nen. Wir müssen die Zinsschranke verändern. Sie er- menarbeiten wollt, dann müsst ihr das akzeptieren. – So weist sich in einer solchen Krisensituation als besonders läuft das momentan. Das sind Abläufe, die die Bundesre- kritisch. Ebenso erweist sich als kritisch, dass wir di- gierung aber nicht in der Hand hat. Sie sind der Welt- verse andere Punkte nicht geregelt haben, jedenfalls 24356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Michael Fuchs (A) nicht in dem Umfang, in dem dies erforderlich wäre. wie es gerade in Ihre Vermarktung passt. Das ist be- (C) Zum Beispiel muss alles, was mit der Gewerbesteuer zu zeichnend. Ich finde Ihr Verhalten nicht unsympathisch, tun hat, noch einmal überprüft werden. Es kann nicht aber es ist leider nicht besonders ehrlich. sein, dass wir hier zu einer Substanzbesteuerung kom- men. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die von Ihnen immer wieder vorgetragene Kernforderung Auch der Verlustvortrag bei der Übernahme von Un- nach einer großen Steuerreform genauer anschaut, dann ternehmen ist noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. erkennt man, dass sich in den nächsten vier Jahren über Ich mache auch gleich einen Gegenfinanzierungsvor- den Daumen gepeilt eine zusätzliche Belastung für die schlag – das müssen wir gemeinsam angehen, liebe Kol- öffentlichen Haushalte durch Einnahmeausfälle in legin Berg –: Die Kollegen, auch Herr Steinmeier, haben Höhe von 152 Milliarden Euro ergibt. Dieser Betrag versprochen, dass das Postmonopol bei der Mehrwert- kommt zu den 320 Milliarden Euro Einnahmeausfälle steuer aufgegeben wird. Da sind 500 Millionen Euro zu- hinzu, die von der Steuerschätzung vorhergesagt wer- sätzliche Einnahmen zu erwarten, und die wollen wir ha- den. Diese Relation muss man sich einmal vor Augen ben. führen. (Beifall bei der CDU/CSU) Im gleichen Moment schwingen Sie sich aber auf – das passt ziemlich gut zu dem Blinden, der plötzlich wieder Das müssen wir jetzt gemeinsam auf den Weg brin- sehen kann –, eine rigide Schuldenbremse zu fordern. gen. Damit können wir die gröbsten Fehler, die wir bei Das ist ausgesprochen witzig. Im ersten Satz erheben Sie der Unternehmensteuerreform gemacht haben, reparie- Forderungen in Bezug auf eine Steuerreform, die Ein- ren. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen! nahmeausfälle in Höhe von 152 Milliarden Euro be- (Beifall bei der CDU/CSU) wirkt. Im zweiten Satz fordern Sie eine rigide Schulden- bremse. Der Ausweg kann nur darin liegen, dass Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: öffentliche Aufgaben sowohl in den Bereichen Bildung und Betreuung als auch in den Bereichen Wirtschaftsför- Das Wort hat nun Kollege Reinhard Schultz für die derung und Infrastrukturausbau eingeschränkt werden. SPD-Fraktion. Dieser Widerspruch ist so offensichtlich, dass Sie sich schon wegen fehlender intellektueller Redlichkeit bei Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): der Öffentlichkeit für diesen Antrag entschuldigen müss- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ten. Kollegen! Es ist schon einigermaßen merkwürdig, dass in den letzten Wochen und Monaten immer wieder die- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (B) selbe Leier in unterschiedlicher Form zur besten Sende- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heinz-Peter (D) zeit vorgetragen wird. In diesem Fall wird von der FDP Haustein [FDP]: Entschuldigt ihr euch doch in der Kernzeit ein Wachstumsprogramm gefordert, das für die Mehrwertsteuererhöhung!) in seinen wesentlichen Bestandteilen schon längst exis- Viele Punkte, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, tiert. Das ist ein wenig Markenpiraterie, die Sie da be- sind nachvollziehbar. Deswegen haben wir sie auch treiben. schon umgesetzt. Sie fordern, dass Investitionen in den Da ich es aber mit Ihnen gut meine und Sie nachher Ausbau der öffentlichen Infrastruktur vorgezogen wer- noch einen Parteitag haben, habe ich einmal nachge- den sollen. Das haben wir gemacht. Es ist der wesentli- schaut, was sonst noch auf Sie zutreffen würde. In die- che Bestandteil unserer Konjunkturprogramme. Das gilt sem Zusammenhang habe ich ein Lied von Hildegard für die Investitionen sowohl auf Bundesebene als auch Knef entdeckt mit dem Titel „Lieber Leierkastenmann“. auf kommunaler Ebene. Sie fordern, den Bürgern mehr Darin gibt es sozusagen eine richtige FDP-Strophe, die Möglichkeiten zu geben, mehr zu investieren und zu ganz gut zu dem Redebeitrag von Herrn Solms passt, der konsumieren. Das haben wir gemacht, indem Handwer- das zweigesichtige Verhalten der FDP bei der Steuer- kerrechnungen besser von der Steuer abgesetzt werden reform im Bundesrat und hier, das angeblich abgespro- können und indem wir in unsere Programme gewaltige chen war, erwähnt hat. In dem Lied heißt es: Abgaben- und Steuersenkungen aufgenommen haben, die ihre Wirkungen entfalten werden. Lieber Leierkastenmann, fang noch mal von vorne an, (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Seit wann von dem schönen Spree-Athen, ist die Mehrwertsteuererhöhung eine Abga- wo sojar die Blinden sehn. bensenkung?) Wo der Mann uff eenem Bein Deswegen ist Ihre Analyse, die in Ihrem Antrag steht abends packt de Krücken ein; und auch in dem Vortrag von Herrn Brüderle vorkam, plötzlich kann er wieder loofen, dass es eine Binnenwirtschaftskrise gibt, geradezu al- denn des Abends ist er uff’n Kien, bern. Denn das Einzige, das im Augenblick einigerma- denn da jeht der Junge schwoofen, ßen funktioniert, ist die Binnenwirtschaft. dafür stammt er schließlich aus Berlin. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo denn?) Das ist ein Lied, das zur FDP passt: Tagsüber spielt sie den Blinden und den Lahmen, und abends geht sie Die Bürger sind nach wie vor in Kauflaune. Der Einzel- aufs Parkett. Bei Ihnen ist alles grundsätzlich möglich, handel weist ein Umsatzplus auf. In allen Bereichen der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24357

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Binnenwirtschaft geht es eher bergauf. Problematisch ist Auch die politische Verantwortung ist, was die Farben (C) allein der Bereich, der von der Außenwirtschaft, also angeht, ziemlich einseitig verteilt. Die Heldenstücke, die vom Export, abhängig ist. Wie Herr Fuchs richtig be- sich Hamburg und Schleswig-Holstein geleistet haben, schrieben hat, haben wir nur wenige Möglichkeiten, da- haben dazu geführt, dass ein von mir sehr geschätzter rauf einen direkten Einfluss zu nehmen, es sei denn früherer Unternehmenschef, der für kurze Zeit Wirt- durch internationale Absprachen. Deswegen hat die schaftsminister in Schleswig-Holstein war, aus Verzwei- Bundesregierung, insbesondere Peer Steinbrück, dafür felung über die Inkompetenz seiner CDU-Kollegen in gesorgt, dass im europäischen und im weltweiten Kon- der Landesregierung den Bettel hingeworfen hat. Daran zert alle Industrienationen auf der gleichen Klaviatur wird deutlich, wie dilettantisch auf dieser Ebene mit dem spielen, was die Strategien zur Bekämpfung dieser Krise Thema Landesbanken umgegangen wird. angeht. Das eigentliche Problem – Stichwort: Lehman Natürlich besteht immer noch das Problem, dass der Brothers – betrifft im Wesentlichen den privaten Sektor. auslösende Faktor, die Finanzkrise, immer noch nicht Auch die HRE ist keine öffentliche Bank; inzwischen ist bewältigt ist. Ich gehe nicht so weit zu sagen, dass der sie es vielleicht, aber sie war es nicht, als die Probleme Interbankenverkehr schon wieder grenzenlos funktio- entstanden sind. Selbst die IKB – das wissen auch Sie – niert. Den Studien, die die KfW gestern veröffentlich war lediglich das Anhängsel eines öffentlichen Kon- hat, ist zu entnehmen, dass entgegen den Verlautbarun- struktes. Sie ist uns seinerzeit sozusagen angedient wor- gen von vor zwei, drei Wochen mittlerweile auch die den, und zwar zur Vermeidung eines Zusammenbruchs. KfW der Meinung ist, dass es bei Mittelstandsfinanzie- Vom Bund wurde erwartet, dass die KfW die damals rungen allmählich wirklich eng wird. notleidende IKB übernimmt. Dass dann mit krimineller Energie bestimmte Entwicklungen vorangetrieben wur- Wir müssen die Banken zwingen, sich von ihren fau- den, deren Folgen wir jetzt mit bergmännischen Metho- len Papieren zu trennen und ihre Bilanzen im Rahmen den sozusagen zutage fördern müssen, ist ein anderes einer längerfristigen Abschreibungsstrategie zu bereini- Problem und in hohem Maße ärgerlich. gen; in der Zwischenzeit müssen sie natürlich genug Ei- genkapital haben, um Kredite ausreichen zu können. Das (Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay- werden wir auch tun, und zwar auf eine Art und Weise, reuth] [FDP]: Wer hatte denn die Aufsicht über die den Steuerzahler nicht belastet; das kann ich für die die IKB, Herr Schultz?) SPD ganz deutlich sagen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein sehr breit angelegtes Programm erarbeitet, um die (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist Wirtschaft flottzumachen. Da die FDP heute mehr frei- bestimmt ein schöner Traum!) (B) händige Vergaben gefordert hat, sage ich Ihnen: Das hat (D) Es wird ein Risikomanagement durchgeführt, bei mit Wettbewerb nichts zu tun – darum geht es in einem dem der Staat zunächst einmal für eine bestimmte Phase anderen Kapitel –, begünstigt eher die Unter-dem-Tisch- als Bürge eintritt. Die Restrisiken müssen aber von den Vergabe und ist ein Riesenproblem. Dennoch haben wir Alteigentümern der Banken selbst getragen werden. Für uns trotz der grundsätzlichen Reform des Vergaberechts, den Fall, dass dann immer noch Geld fehlt, muss im Ge- die wir beschlossen haben, bereit erklärt, die Schwellen setz ein Mechanismus verankert werden, der sicherstellt, für freihändige Vergaben und beschränkte Ausschrei- dass diese Risiken in Form einer Umlage auf den gesam- bungen anzuheben. Das ist bereits geschehen. Das, was ten Finanzsektor abgewälzt werden. Es kann nicht sein, Sie heute fordern, ist also schon längst Gesetz. dass sich die Institute, die ein Fehlverhalten an den Tag Zur Breitbandstrategie. Die Bundesregierung hat eine gelegt haben, letztlich zulasten des Steuerzahlers sanie- Breitbandstrategie, die sie den Regionen wie Sauerbier ren. Das ist eine klare programmatische Aussage, auch anbietet. Das Problem ist, dass manche Unternehmen im Hinblick auf die weiteren Diskussionen über die Ge- dieses Angebot nicht annehmen wollen. In der Region, setzgebung zur Gründung einer Konsolidierungsbank. aus der ich komme, gibt es führende Unternehmen, sogar Hier ist vorgetragen worden, dass das Problem im öf- Hightechunternehmen, die sich immer noch fragen: fentlichen Bankensektor bestehe. Das ist nicht ganz ehr- Brauchen wir das eigentlich? – Vielleicht scheuen sie die lich, lieber Herr Meyer. Natürlich gibt es in der überwie- damit verbundenen Kosten. Hier ist auf jeden Fall noch genden Zahl der Landesbanken erhebliche Probleme. Sie eine Menge Entwicklungsarbeit erforderlich. Die Bun- sind zum Teil darin begründet, dass sich die Träger der desregierung steht allerdings an der Spitze dieser Bewe- Landesbanken, insbesondere die Landesregierungen, gung. noch vor wenigen Wochen geweigert haben, überhaupt Jetzt komme ich zur Beschleunigung des Netzaus- über Fusionen, neue Geschäftsmodelle und Ähnliches baus, die Sie gefordert haben. Ich muss Ihnen sagen: Wir nachzudenken; damit hätte man ihnen nämlich ihr Spiel- haben gerade erst das EnLAG beschlossen, mit dem der zeug aus der Hand genommen. Das gilt für die nord- Netzausbau beschleunigt wird. Es ist wirklich sehr inte- rhein-westfälische Landesregierung genauso wie für alle ressant, dass Sie heute etwas fordern, was bereits in der anderen. letzten Sitzungswoche beschlossen worden ist. (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Ja, ge- Nun komme ich zum wunderschönen Thema Ab- nau! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ja! wrackprämie; man kann sich lange darüber unterhalten. Das habe ich doch gerade gesagt!) Gestern gab es eine Anhörung. Es waren interessante 24358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Figuren der Zeitgeschichte vertreten. Diejenigen, die et- und die Herstellung finanzwirtschaftlicher Stabilität sind (C) was von der Abwrackprämie haben – ich nenne stellver- sicherlich gemeinsame Ziele. Es gibt eine weitere Ge- tretend die Vertreter der Automobilindustrie, des Kfz- meinsamkeit: Wir müssen uns sicher nicht ausgerechnet Gewerbes und der IG Metall –, finden die Abwrackprä- von der Linken das Einmaleins der Marktwirtschaft er- mie super, weil sie Arbeitsplätze rettet und diese Bran- klären lassen, ausgerechnet von der Partei, die in einem che durch die Krise bringt. Die selbsternannten Säulen- großen Feldversuch schon einmal gezeigt hat, wie man heiligen, die Deutsche Umwelthilfe, der BUND und eine Volkswirtschaft ruiniert. andere – auf anderen Gebieten sehr geschätzt –, behaup- ten in fast tibetanischer Gebetsmühlenartigkeit – „tibeta- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) nisch“ habe ich nicht gesagt, sonst gibt es wieder Pro- Ich will meine Ausführungen zu den Gemeinsamkei- bleme mit den China-Politikern –, das sei nicht das ten trotzdem nicht wie vorgesehen ausbauen; denn es hat Richtige, man hätte, wenn überhaupt, für den richtigen mich schon geärgert, was die Kolleginnen und Kollegen ökologischen Impetus sorgen müssen. von der FDP heute hier vorgetragen haben. Man kann Tatsache ist, dass im Wesentlichen Klein- und Mittel- doch nicht so tun, als gebe es hier eine binnenmarktbe- klassewagen mithilfe der Umweltprämie gekauft wur- gründete Rezession, an der ausgerechnet diese Bundes- den. Diese sind moderner als die mindestens neun Jahre regierung schuld ist. Man muss doch sehen, dass wir uns alten Wagen, die abgewrackt wurden. Damit trägt die in einer tiefgreifenden Vertrauenskrise befinden, in der auch die Politik Verantwortung trägt, aber nicht dafür, Prämie garantiert zur Minderung des CO2-Ausstoßes bei. dass sie ausgebrochen ist, sondern dafür, Wege zu fin- den, aus der Krise herauszukommen. Ein großer Gewinner ist hier das Unternehmen Opel, dem man erheblich helfen konnte, die Durststrecke zu (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist ja überwinden. Auch der Verkauf von Kleinwagen der fast wie beim Bahn-Vorstand! Der weiß auch Marke VW wurde gesteigert. Die neuen Zulassungszah- von nichts!) len zeigen, dass weit über 50 Prozent der Autos, die mit- Es ist schon ein Unding –, was hier alles behauptet hilfe der Umweltprämie gekauft wurden, von Unterneh- worden ist –, dass die FDP ein Versagen der Regierung men stammen, die wesentliche Teile der Wertschöpfung konstruiert. Die Äußerungen gipfelten darin – das ist in Deutschland erzielen; ein anderer Teil der Wagen verantwortungslos –, ausgerechnet bei uns in der Bun- kommt aus Europa, nur ein ganz kleiner Teil aus Asien. desrepublik Deutschland Inflationsängste zu schüren, Lassen Sie sich nicht irre machen! Es handelt sich obwohl wir alle wissen, wie sensibel unsere Bürgerinnen hier um ein Gewinnerthema, für diejenigen, die sich ein und Bürger auf dieses Thema reagieren. (B) Auto kaufen konnten, für die Arbeitnehmer, die diese (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jan (D) Autos gebaut haben, aber auch für uns, weil es uns fast Mücke [FDP]: Verantwortungslos ist, wer nichts kostet. Die Maßnahme ist nämlich fast aufkom- Schulden macht! – Horst Friedrich [Bayreuth] mensneutral; fast 20 Prozent des Verkaufspreises be- [FDP]: Warten Sie mal ab, bis Sie die Bürg- kommen wir über die Mehrwertsteuer wieder. schaften bedienen müssen!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich glaube, die FDP muss an dieser Stelle üben, Ver- NEN]: Und was ist nächstes Jahr?) antwortung zu übernehmen; denn ich gehe davon aus, dass sie in naher Zukunft gemeinsam mit uns regieren Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: will. Insbesondere die schwierigen Operationen, die uns Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. beim Thema Bad Banks bevorstehen, bieten einige Mög- lichkeiten, Verantwortung zu übernehmen. Bisher waren Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Sie beim Thema Stabilisierung des Vertrauens in den Fi- nanzbereich nicht sehr hilfreich. Im Gegenteil: Ich erin- Ich denke, diese Anträge sind der zweite Versuch ei- nere mich an die letzte Rede des Kollegen Solms zum ner Abreibung von einer ansonsten geschätzten kleine- Thema HRE-Bank, in der er so getan hat, als sei es eine ren Oppositionspartei. ernsthafte Alternative, die HRE-Bank in die Insolvenz Vielen Dank. zu schicken. Auch das ist unverantwortlich. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: DIE GRÜNEN) Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die Ich erwarte – das sage ich auch im Hinblick auf eine CDU/CSU-Fraktion. denkbare Koalition –, dass Sie jetzt wieder verantwor- tungsvoll mit diesen Fragen umgehen. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist die Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ei- verkürzte Sicht eines CSU-Mandatsträgers!) gentlich wollte ich hier im Sinne einer Captatio benevo- lentiae die Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die es mit Bei den Bad Banks geht es darum, dem Finanzsektor den Kolleginnen und Kollegen von der FDP hinsichtlich wieder Gestaltungsspielraum zu geben, und zwar ohne der Zielsetzungen unstrittig gibt. Arbeitsplatzsicherung den Steuerzahler über Gebühr in eine Haftungssituation Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24359

Dr. Georg Nüßlein (A) zu drängen. Das ist schwierig, wahrscheinlich die öko- und etliche Schritte zur Entlastung – 30 Milliarden Euro – (C) nomische Quadratur des Kreises – das gebe ich zu –, schon unternommen haben. Diesen Weg müssen wir aber wir müssen ernsthaft etwas tun; denn sonst kommt fortsetzen und gleichzeitig auf unsere Haushalte achten. insbesondere der Mittelstand tatsächlich in eine Kredit- klemme. Dem Mittelstand hilft es nicht, wenn wir über Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen, der in die Definition der Kreditklemme diskutieren: Haben wir dieser Krise ganz entscheidend ist: die Kurzarbeit. Ich eine flächendeckende Kreditklemme, oder haben wir sie glaube, dass viele noch nicht eingesehen haben, wie nicht? Für denjenigen, der momentan vor der Aufgabe wichtig und zentral dieses Instrument in dieser Krisen- steht, sein Unternehmen finanzieren zu müssen, gibt es situation ist. Dieses Instrument wird uns nach dem eine Kreditklemme. Der steckt in der Klemme. Wir müs- Durchschreiten dieses Tales, nachdem wir die Brücke sen unseren Beitrag dazu leisten, dass er, wenn er krisen- der Kurzarbeit genutzt haben, in eine positive wettbe- bedingt in dieser Klemme steckt, aus dieser Situation werbliche Situation versetzen und dazu führen, dass wir wieder herauskommt. Wir tun einiges, zum Beispiel im vorankommen. Durch Kurzarbeit können wir das Know- Bereich der KfW. Auch da geht es jetzt um die Details how sichern und auf den Mitarbeitern, die wir nicht in der Umsetzung. Es geht um die Frage, wie wir sicher- die Arbeitslosigkeit geschickt haben, aufbauen. So kön- stellen können, dass das Instrument, das wir geschaffen nen wir gestärkt aus dieser gefährlichen Krisensituation haben, in der Praxis umgesetzt werden kann und uns vo- kommen. ranbringt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Politik Vertrauen wieder zurückgewinnt; das fordere ich Ich breche eine Lanze für den Mittelstand, weil ich ein. Wir müssen Handlungsfähigkeit und Verantwor- glaube, dass der unternehmerische Mittelstand eine tungsbewusstsein zeigen. Deshalb eignet sich die Krise wichtige Säule im Rahmen der Krisenbewältigung ist. nicht, aber auch gar nicht für Wahlkampfgetöse. Wir stellen fest, dass es in diesem Bereich ein hohes Maß an Stabilität gibt. Ich stelle fest, dass insbesondere Vielen herzlichen Dank. diejenigen, die nicht sehr stark export- oder automobil- wirtschaftlich orientiert sind, momentan in der Lage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind, Deutschland wirtschaftspolitisch zu stabilisieren. neten der SPD) Deshalb verdient insbesondere der unternehmerische Mittelstand unsere Unterstützung. Das, was wir in den Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bereichen Investitionen, Innovationsförderung und Ich schließe die Aussprache. Bürgschaften tun, tendiert in diese Richtung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (B) Mir geht es auch darum, dass wir in dieser Situation den Drucksachen 16/12887 und 16/10867 an die in der (D) die Mittelschicht, die Bezieher unterer und mittlerer Ein- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. kommen, die täglich arbeiten, die als Handwerker oder Die Vorlage auf Drucksache 16/12887 soll federführend Facharbeiter ihren Beitrag dazu leisten, dass wirtschaft- beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten lich nicht alles zusammenbricht, nicht vergessen. werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Spruch stammt aber von uns!) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 e sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: Wir haben hier eine relativ kontrovers geführte Debatte über die Frage erlebt, ob wir in der Lage sind, diese 38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Gruppe zu entlasten. Meine Damen und Herren, dies ist gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur aber erst die zweite Frage. Der erste Punkt, den man he- Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften rausstellen muss, ist: Wir haben die Pflicht, sie jetzt zu – Drucksache 16/12587 – entlasten. Die OECD ist zu dem Schluss gekommen, Überweisungsvorschlag: dass die Durchschnittsverdiener nur in zwei anderen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ländern, nämlich in Belgien und Ungarn, steuerlich stär- Innenausschuss ker belastet werden als in der Bundesrepublik Deutsch- Rechtsausschuss land. Daran erkennt man den Handlungsbedarf doch b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ganz deutlich. Den kann man doch nicht leugnen. Also gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die In- ist es richtig, an dieser Stelle anzusetzen. ternetversteigerung in der Zwangsvollstreckung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – – Drucksache 16/12811 – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer regiert Überweisungsvorschlag: denn, Herr Kollege?) Rechtsausschuss – Wenn Sie fragen, wer regiert, dann haben Sie meinen c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Vorrednern von der Koalition nicht zugehört, die viel- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleich- fach deutlich gemacht haben, dass wir in diesem Bereich terung elektronischer Anmeldungen zum Ver- auf einem guten Weg sind einsregister und anderer vereinsrechtlicher Änderungen (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wann denn?) – Drucksache 16/12813 – 24360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Überweisungsvorschlag: sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas (C) Rechtsausschuss (f) Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und Sportausschuss der Fraktion der SPD d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- ters in Flensburg einfacher und verständlicher regelung der zivilrechtlichen Vorschriften des gestalten Heimgesetzes nach der Föderalismusreform – Drucksache 16/12993 – – Drucksache 16/12882 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Frak- Verbraucherschutz tion der CDU/CSU Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Die Situation von Frauenhäusern verbessern gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Europol-Gesetzes, des Europol-Aus- – Drucksache 16/12992 – legungsprotokollgesetzes und des Gesetzes zu Überweisungsvorschlag: dem Protokoll vom 27. November 2003 zur Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Änderung des Europol-Übereinkommens und Innenausschuss Rechtsausschuss zur Änderung des Europol-Gesetzes Ausschuss für Arbeit und Soziales – Drucksache 16/12924 – e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Überweisungsvorschlag: Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Innenausschuss (f) Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak- Auswärtiger Ausschuss tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“ unterstützen ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia (B) Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann, – Drucksache 16/12991 – (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Energieforschung neu ausrichten – Deutsch- Innenausschuss land, Energieland der Zukunft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/10329 – Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Verbraucherschutz ten Verfahren ohne Debatte. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Technikfolgenabschätzung die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/12991, Zu- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia satzpunkt 3 e, soll zusätzlich an den Ausschuss für Tou- Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer rismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- Abgeordneter und der Fraktion der FDP den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Nachteile für den Forschungsstandort Deutsch- beschlossen. land aufheben – Für ein innovationsfreundli- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 o sowie ches Steuersystem Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- – Drucksache 16/12474 – sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- hen ist. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Tagesordnungspunkt 39 a: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Technikfolgenabschätzung neten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bre- Haushaltsausschuss men), Alexander Bonde, weiteren Abgeordneten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 16/7134 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24361

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- (C) schusses (6. Ausschuss) schusses (4. Ausschuss) – Drucksache 16/12534 – – Drucksache 16/12913 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- Abgeordnete Günter Baumann Schwenningen) Wolfgang Gunkel Dr. Christian Ahrendt Christoph Strässer Ulla Jelpke Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Wieland Wolfgang Nešković Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/12913, den Gesetzent- Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12590 an- empfehlung auf Drucksache 16/12534, den Gesetzent- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – sache 16/7134 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- nommen. chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von Tagesordnungspunkt 39 d: CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grü- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- nen und der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unse- regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften rer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Gesetzes zur Änderung des Bundeszentral- Tagesordnungspunkt 39 b: registergesetzes Zweite Beratung und Schlussabstimmung des – Drucksache 16/12427 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Juli Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- schusses (6. Ausschuss) land und den Vereinigten Mexikanischen Staa- – Drucksache 16/13028 – ten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- (B) Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (D) Schwenningen) – Drucksache 16/12589 – Dr. Carl-Christian Dressel Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Jörg van Essen schusses (7. Ausschuss) Sevim Dağdelen Jerzy Montag – Drucksache 16/12908 – Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe empfehlung auf Drucksache 16/13028, den Gesetzent- (Heidelberg) wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12427 an- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt empfehlung auf Drucksache 16/12908, den Gesetzent- dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12589 an- den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ge- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf gen die Stimmen der Linken angenommen. zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Dritte Beratung Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der Linken und der Grünen angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? – Tagesordnungspunkt 39 c: Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor an- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des genommen. von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. Sep- Tagesordnungspunkt 39 e: tember 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Vermarkung und Instandhaltung der gemein- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes samen Grenze auf den Festlandabschnitten so- zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwi- wie den Grenzgewässern und die Einsetzung schen der Bundesrepublik Deutschland und einer Ständigen Deutsch-Polnischen Grenz- der Republik Bulgarien über die Zusammen- arbeit bei der Bekämpfung des grenzüber- kommission schreitenden Missbrauchs bei Leistungen und – Drucksache 16/12590 – Beiträgen zur sozialen Sicherheit durch 24362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Erwerbstätigkeit und von nicht angemeldeter Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C) Erwerbstätigkeit sowie bei illegaler grenz- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- überschreitender Leiharbeit heit (16. Ausschuss) – Drucksache 16/12588 – – Drucksache 16/13022 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Berichterstattung: schusses (7. Ausschuss) Abgeordnete (Konstanz) – Drucksache 16/13017 – Berichterstattung: Eva Bulling-Schröter Abgeordneter Manfred Kolbe Hans-Josef Fell Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- empfehlung auf Drucksache 16/13017, den Gesetzent- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12588 an- Drucksache 16/13022, den Gesetzentwurf der Fraktionen zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12853 in zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- und FDP bei Enthaltung der Grünen und der Linken an- gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter genommen. Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Dritte Beratung Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken angenom- men. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? – Dritte Beratung Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- wurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie in zwei- stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- ter Lesung angenommen. gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem Tagesordnungspunkt 39 f: gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Tagesordnungspunkt 39 h: von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- eines Gesetzes zu dem Internationalen Über- (B) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz (D) einkommen vom 20. Dezember 2006 zum und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Schutz aller Personen vor dem Verschwinden- lassen Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abge- – Drucksache 16/12592 – ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Mit Bioraffinerien in Deutschland die Bio- – Drucksache 16/13029 – masse effizienter nutzen und zusätzliche Res- sourcen erschließen Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- – Drucksachen 16/5529, 16/11220 – Schwenningen) Berichterstattung: Christoph Strässer Abgeordnete Dr. Jörg van Essen Marko Mühlstein Sevim Dağdelen Angelika Brunkhorst Jerzy Montag Hans-Kurt Hill Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Sylvia Kotting-Uhl empfehlung auf Drucksache 16/13029, den Gesetzent- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12592 an- lung auf Drucksache 16/11220, den Antrag der Fraktion zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5529 abzu- zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstim- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- mig angenommen. empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD Tagesordnungspunkt 39 g: und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Tagesordnungspunkt 39 i: Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes richts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abge- – Drucksache 16/12853 – ordneten Winfried Hermann, Bärbel Höhn, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24363

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- (C) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Vorbildfunktion der Politik für Klimaschutz gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen ernst nehmen – Für eine nachhaltige Senkung von CDU/CSU, SPD, FDP und Linken gegen die Stim- verkehrsbedingter CO -Emissionen des Deut- 2 men der Grünen angenommen. schen Bundestages – Drucksachen 16/9009, 16/12800 – Tagesordnungspunkte 39 l bis 39 o. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Norbert Lammert Tagesordnungspunkt 39 l: Der Ältestenrat empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- lung auf Drucksache 16/12800, den Antrag der Fraktion ausschusses (2. Ausschuss) Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9009 für er- Sammelübersicht 561 zu Petitionen ledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die – Drucksache 16/12870 – Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Tagesordnungspunkt 39 j: tungen? – Die Sammelübersicht 561 ist mit den Stim- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- men des Hauses bei Enthaltung der Linken angenom- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- men. nologie (9. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 39 m: – zu der Verordnung der Bundesregierung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Vierundachtzigste Verordnung zur Ände- ausschusses (2. Ausschuss) rung der Außenwirtschaftsverordnung Sammelübersicht 562 zu Petitionen – zu der Verordnung der Bundesregierung – Drucksache 16/12871 – Einhundertachtundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – gen? – Die Sammelübersicht 562 ist einstimmig ange- nommen. (B) – Drucksachen 16/12195, 16/12357 Nr. 2.1, (D) 16/12196, 16/12357 Nr. 2.2, 16/12819 – Tagesordnungspunkt 39 n: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordneter Erich G. Fritz ausschusses (2. Ausschuss) Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord- Sammelübersicht 563 zu Petitionen nungen der Bundesregierung zur Änderung der Außen- wirtschaftsverordnung auf Drucksache 16/12195 und – Drucksache 16/12872 – zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirt- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- schaftsgesetz – auf Drucksache 16/12196 nicht zu ver- tungen? – Die Sammelübersicht 563 ist gegen die Stim- langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – men der Grünen und mit den Stimmen der übrigen Frak- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- tionen angenommen. empfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 39 o: Tagesordnungspunkt 39 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausschusses (2. Ausschuss) richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter- Sammelübersicht 564 zu Petitionen richtung durch die Bundesregierung – Drucksache 16/12873 – Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- schen Parlaments und des Rates zur Schaffung Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- eines europäischen Schienennetzes für einen tungen? – Die Sammelübersicht 564 ist mit den Stimmen wettbewerbsfähigen Güterverkehr (inkl. von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der 17324/08 ADD 1 bis 17324/08 ADD 6) (ADD 1 Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange- bis ADD 5 in Französisch) nommen. KOM(2008) 852 endg.; Ratsdok. 17324/08 Zusatzpunkt 4: – Drucksachen 16/11721 Nr. A.27, 16/12842 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstattung: richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Abgeordneter Winfried Hermann sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) 24364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, – Drucksachen 16/12693, 16/10877, 16/12097, (C) Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), 16/11915, 16/12977 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion Berichterstattung: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter Landrechte stärken – „land grabbing“ in Ent- Winfried Hermann wicklungsländern verhindern Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Drucksachen 16/12735, 16/13023 – Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolf Bauer Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes- Dr. Sascha Raabe regierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Ulrich Dr. Karl Addicks Kasparick das Wort. Dr. Norman Paech (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo Thilo Hoppe Schmitt [Berlin] [CDU/CSU]) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/13023, den Antrag der Fraktion Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12735 abzu- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- nicht klug, einen Rohstoff, der in absehbarer Zeit so empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und wertvoll wie Gold sein wird, einfach im Motor zu ver- SPD gegen die Stimmen der Grünen und der Linken bei brennen. Deshalb brauchen wir eine strategische Neu- Stimmenthaltung der FDP angenommen. ausrichtung des gesamten Mobilitätssektors. Nun kommen wir wieder zu Beratungen. Ich rufe den (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Tagesordnungspunkt 20 auf: Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Wir müssen weg vom Öl und hin zu einer Elektrifizie- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) rung, die sich aus erneuerbaren Energien speist. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas Im Jahre 2004 hat die Bundesregierung die Strategie „Weg vom Öl“ beschlossen. Wir haben in den letzten Ta- (B) Scheuer, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. (D) Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak- gen und Wochen mit großen Schritten, mit einem großen tion der CDU/CSU Nationalen Innovationsprogramm, an dem vier Bundes- sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr- ministerien beteiligt sind, begonnen, das konkret umzu- Sutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer setzen. Am 25. April dieses Jahres hat der Haushaltsaus- Abgeordneter und der Fraktion der SPD schuss des Deutschen Bundestages 500 Millionen Euro bewilligt, damit vier Bundesministerien in einer konzer- Mobilität zukunftsfähig machen – Elektro- tierten Aktion der angeschlagenen Automobilindustrie mobilität fördern helfen können, ein Ziel zu erreichen, von dem wir uns für die deutsche Wirtschaft einen großen Schub verspre- – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael chen: Wir wollen, dass Deutschland der Leitmarkt für Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich Elektromobilität in Europa wird. (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Elektromobilität – Für einen bezahlbaren NEN) und klimaverträglichen Individualverkehr Unser Ziel ist es, dass bis spätestens 2020 1 Million – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Einheiten auf den Straßen ist. Das ist die für den Mas- Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich senmarkt interessante Schwelle, die es den Herstellern (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der erlaubt, mit eigenen Mitteln die Produktion so fortzufüh- Fraktion der FDP ren, dass die Marktkräfte genügend Wind in den neuen Elektromobilität durch Änderung von im- Sektor bringen. missionsschutz– und verkehrsrechtlichen Was die vier Häuser seit der Bewilligung der Mittel Regelungen fördern durch den Haushaltsausschuss erleben, übertrifft alle Er- – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried wartungen. Sowohl im Umweltministerium als auch im Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, Wirtschaftsministerium als auch im Forschungsministe- weiterer Abgeordneter und der Fraktion rium als auch bei uns im Verkehrsministerium geht eine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wahre Antragsflut ein. Die Menschen wollen die neue Mobilität. Sie wissen, dass Erdöl als Rohstoff für Mobi- Umfassende Förderstrategie für Elektromo- lität keine Zukunft hat. Allein bei uns im Verkehrsminis- bilität mit grünem Strom entwickeln terium bewerben sich weit über 130 Regionen darum, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24365

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick (A) Modellregion für Elektromobilität in Deutschland zu land gesichert. Wir glauben, dass wir die Krise in einer (C) werden. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Mi- unserer wichtigsten Branchen, nämlich der Automobil- nisterium arbeiten unter Hochdruck daran, die Anträge industrie, die wir im Moment erleben, nutzen müssen, zu beurteilen und zu bescheiden. Wir hoffen, dass wir um durch komplexe Innovationen wirklich nach vorne Ende des Monats damit durch sind, damit wir Klarheit zu kommen. Damit machen wir die Wirtschaft in bekommen, mit welchen Regionen wir anfangen kön- Deutschland zukunftsfähig und tun gleichzeitig etwas nen. für den Klimaschutz. Es zeichnet sich sowohl bei den Energieversorgungs- Ich darf mich bei den Koalitionsfraktionen dafür be- unternehmen als auch bei den Stadtwerken, in den Kom- danken, dass sie diesen Weg durch ihren Antrag maß- munen, bei den Automobilherstellern und bei den geblich mit unterstützen. Dienstleistern eine Aufbruchstimmung sondergleichen ab. Beispielsweise tun sich Energieversorger mit dem Herzlichen Dank. ADAC zusammen, um das Thema auch mental nach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorne zu bringen. Die deutsche und die französische der CDU/CSU) Seite verständigen sich darüber, wie etwa die Standards für Stromabnehmer und Steckdosen aussehen sollen. Man sieht: Da ist ein Wettbewerb im Gange, der von Tag Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu Tag an Schärfe zunimmt. Das Wort hat nun Kollege Horst Friedrich für die FDP-Fraktion. Wir wollen vonseiten der Bundesregierung unseren Beitrag dazu leisten, dass Deutschland der Leitmarkt (Beifall bei der FDP) wird. Wir wollen die Entwicklung ganz vorne nicht nur mitvollziehen, sondern wir wollen sie bestimmen. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Zunächst einmal gilt ein großer Dank dem Parlament. Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Liebe Kollegin- Sie haben uns mit diesem 500-Millionen-Euro-Pro- nen und Kollegen! Ich glaube, es gibt nur wenige The- gramm in die Lage versetzt, gemeinsam mit der Indus- men im Verkehrs- und im Umweltbereich, bei denen trie jetzt große Schritte nach vorne zu gehen. Wenn man man in der Grundausrichtung einer Meinung ist. Dass das zu den Mitteln für die zweite Technologie addiert, wir neue Antriebsformen brauchen, ist unstrittig. die wir als Ergänzung verstehen, dann verfügen wir in Nach unseren Erkenntnissen gibt es im Wesentlichen Deutschland jetzt über ein Innovationsprogramm, das drei Pfade, die es auszuloten gilt: mit weit über 2 Milliarden Euro gefördert wird. Sie wis- (B) sen, dass das Nationale Innovationsprogramm Wasser- Bei dem ersten Pfad wird parallel gedacht. Es geht um (D) stoff- und Brennstoffzellentechnologie mit 500 Millio- die Verbesserung der Effizienz der jetzigen Antriebsfor- nen Euro dotiert ist. Die Industrie gibt 500 Millionen men und um die Ergänzung durch biogene Treibstoffe. Euro dazu. Für die Elektromobilität werden jetzt eben- falls 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, und die Der zweite Pfad ist, die Nutzung von Wasserstoff ent- Industrie ist in ähnlicher Größenordnung engagiert. weder als reines Antriebsmittel oder als Antriebsmittel für Brennstoffzellen zu verbessern. Wenn Sie sich anschauen, was zurzeit in den For- schungsabteilungen der großen Automobilkonzerne pas- Der dritte Pfad ist das, was wir im Übrigen schon fünf siert, dann sehen Sie, dass es eine große Bewegung hin Monate vor der Regierung vorgeschlagen haben, näm- zur Elektromobilität gibt. Dadurch werden wir in die lich der Ausbau des Bereichs E-Mobility. Lage versetzt, ein nationales Programm zu starten, mit Herr Staatssekretär, vor diesem Hintergrund wundert dem wir den Vergleich mit dem, was in den Vereinigten es mich im Umkehrschluss, dass wir es hier wieder mit Staaten und Japan geschieht, in keiner Weise zu scheuen dem üblichen Reflex der Regierung zu tun haben: Man brauchen. lehnt zunächst einmal Anträge pauschal ab, die kein Ich danke also dem Parlament. In absehbarer Zeit Geld kosten, wenn man die wesentlichen Forderungen werden wir darüber zu diskutieren haben, wie wir die umsetzt, weil sie von der falschen Seite gestellt werden. Mittel verstetigen können; denn wir kommen nicht mit Danach legt man ein Programm auf, einen nationalen einem Jahr hin. Alle Hersteller werden im nächsten bzw. Plan, mit dem in dieser Legislaturperiode wahrschein- übernächsten Jahr Elektrofahrzeuge einführen. Wir wol- lich nichts mehr bewegt werden wird, und sagt: Ich bin len in den Modellregionen gemeinsam mit den Energie- dankbar, dass es mehr Geld kostet. versorgungsunternehmen die komplette Wertschöp- Die fünf wesentlichen Forderungen der FDP, mit de- fungskette bzw. den gesamten Technologiemix von der nen wir unseren Antrag vom November letzten Jahres Batterieherstellung über die Ladestationen und die Rege- ergänzt haben, sind nämlich geeignet, die Rahmenbedin- lungs- und Steuerungstechnik bis hin zum Recycling ab- gungen zu schaffen, die man dem Nutzer, nämlich dem bilden, um, ausgehend von den Ballungsräumen, Bürger, bieten muss. Dazu ist es nicht erforderlich, viel Deutschland mit hohem Tempo auf einen neuen Pfad der Geld in die Hand zu nehmen. Mobilität zu bringen. (Beifall bei der FDP) Das ist gut für den Klimaschutz, und dadurch werden die Beschäftigung und der Innovationsstandort Deutsch- Was verlangt die FDP? 24366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Wir sagen erstens, dass wir eine geeignete Anpassung dass im Lkw-Bereich der komplette Markt weggebro- (C) der Verordnung zur Kennzeichnung von emissionsarmen chen ist. Das ist Ihre Politik. Fahrzeugen brauchen. Das heißt, in der 35. Bundes-Im- missionsschutzverordnung muss geregelt werden, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Elektrofahrzeuge in eine besondere Schadstoffgruppe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eingestuft werden können. Das kostet kein Geld, man Sie vertreten das Ziel, dass Deutschland der Leitmarkt muss es nur tun. für Elektromobilität wird. Dagegen hat niemand etwas Zweitens. Auf dieser Grundlage und in Anpassung einzuwenden. In Deutschland hat die Automobilindus- der Vorgaben in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ord- trie schon 1992 die Hybridtechnologie gekannt. Doch nung ist sicherzustellen, dass mit entsprechenden Plaket- damals war sie nicht marktkonform, und es hat an den ten gekennzeichnete Fahrzeuge von Fahrverboten in notwendigen Begleitumständen gefehlt. städtischen Umweltzonen befreit werden. Auch das kos- (Ute Kumpf [SPD]: Das war doch zu teuer!) tet kein Geld. Man muss es nur wollen. – Sicherlich war es zu teuer, aber das lag daran, dass es Drittens sollte durch eine geeignete Anpassung der an den notwendigen Rahmenbedingungen fehlte. Ich Straßenverkehrs-Ordnung ermöglicht werden, dass die habe meine erste Probefahrt mit einem Elektrofahrzeug Kommunen Vorrang-Parkplätze ausweisen und entspre- 1991 in Bonn unternommen. Es war ein BMW 316 mit chende Parkzonen einrichten, in denen die Batterien einer Batterie von Asea Brown Boveri. Das Problem war während des Parkens wieder aufgeladen werden können, damals, dass die Batterie so teuer war, dass sie sich wenn es nicht über das Antriebsaggregat funktioniert. kaum jemand leisten konnte. Die Produktion hätte in Se- Auch das kostet im Wesentlichen kein Geld. Man muss rie gehen müssen. Das haben Sie bisher immer krampf- es nur wollen. haft verhindert, und das wird auch jetzt wieder passieren. Viertens sollten konkrete Regulierungsschritte unter- Sie haben einen Masterplan „Güterverkehr und Lo- nommen werden, damit Hinweisschilder für Stromlade- gistik“ vorgelegt. Ergebnisse gibt es eigentlich nicht. Sie stellen einheitlich gestaltet und entsprechend normiert haben ein nationales Flughafenkonzept. Das Ergebnis ist werden können, damit jeder weiß, wo er eine Ladesta- eher eine große Katastrophe. tion für seine Batterie findet. Auch das kostet im We- sentlichen kein Geld. Man muss es nur machen. (Jan Mücke [FDP]: Ja!) Als letzter Punkt sollte durch eine geeignete Anpas- Nun setzen Sie noch einen nationalen Entwicklungsplan sung der Fahrzeug-Zulassungsverordnung die Einfüh- für Elektromobilität oben drauf. Wenn das Ergebnis das- (B) rung von Wechselkennzeichen ermöglicht werden, damit selbe sein wird wie bei den anderen Plänen, dann kann (D) ein Fahrzeughalter, der ein Elektrofahrzeug als Zweit- man Ihnen nur raten: fahrzeug nutzt, dasselbe Kennzeichen für beide Fahr- (Jan Mücke [FDP]: Finger weg davon!) zeuge verwenden kann; denn das eine ist besser für den innerstädtischen Bereich geeignet und das andere für die Lassen Sie es endlich bleiben! Schließen Sie sich unse- große Strecke. rem Antrag an! Wir waren erstens schneller. Zweitens ist er besser, und drittens kostet er kaum Geld. Das alles lehnen Sie ab, liebe Kolleginnen und Kolle- gen von der CDU/CSU und der SPD, vermutlich weil (Beifall bei der FDP) der Antrag, wie gesagt, von der falschen Seite kommt, nämlich von der bösen Opposition. Vor dem Hintergrund bitte ich Sie: Fassen Sie sich ein Herz und schließen Sie sich unseren Forderungen an! (Beifall bei der FDP) Denn sonst müssten Sie der gesamten Community erklä- ren, warum Sie unsere Anträge, die in sich schlüssig Sie müssen uns erklären, warum Sie einen großen Natio- sind, ablehnen und auf Ihren neuen Plan setzen, der viel- nalen Entwicklungsplan Elektromobilität mit einer er- leicht irgendwann im Jahr 2012 greift. heblichen Forschungsförderung vorsehen. Die wesentli- chen Fakten sind schon erforscht. Jetzt kommt es darauf (Beifall bei der FDP) an, die Akzeptanz beim Bürger zu erhöhen. Die Erfahrung mit den anderen Antriebsaggregaten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: hat gezeigt, dass eine Substitution der herkömmlichen Das Wort hat nun Kollege Andreas Scheuer für die Brennstoffantriebe nur dann erreicht werden kann, wenn CDU/CSU-Fraktion. dem Nutzer ein genauso einfaches Handling angeboten (Beifall bei der CDU/CSU) wird wie jetzt und die notwendige Infrastruktur geschaf- fen wird. Dazu braucht man kein staatliches Geld, son- dern klare rechtliche Regeln, die auch der Industrie zu- Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): verlässig aufzeigen, in welche Richtung die Entwicklung Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! geht. Ich verstehe die Aufregung des Kollegen Friedrich nicht. Sie machen aber dauernd das Gegenteil. Kaum hatte (Ute Kumpf [SPD]: Er will doch nur beachtet sich für biogene Treibstoffe ein Markt gebildet, haben werden! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie die Steuertatbestände geändert, mit dem Ergebnis, Sie haben mich noch nicht aufgeregt erlebt!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24367

Dr. Andreas Scheuer (A) Wir haben im Ausschuss sehr freundschaftlich und kol- sekretär, damit Deutschland nicht nur in Europa, sondern (C) legial über dieses Antragspaket diskutiert, auch vonsei- weltweit zum Leitmarkt für Elektromobilität wird. ten der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die (Beifall bei der CDU/CSU) Grünen und von eurer Seite, der FDP. Ich bin froh, dass du, lieber Kollege Friedrich, nicht erzählt hast, dass du Wir müssen von den fossilen Energieträgern unab- schon um das Jahr 1900 eine Probefahrt im Lohner-Por- hängiger werden. Natürlich müssen wir uns – dazu wird sche gemacht hast. mein Kollege Vogel sicherlich noch einiges sagen – ver- stärkt Gedanken über die Effizienz des Verbrennungsmo- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Da war ich tors machen. Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundes- noch nicht auf der Welt!) tag haben beispielsweise schon den BMW E-Mini getestet. Die Rückmeldungen lauten in der Regel: Der – Davon gehe ich aus. – Wir haben im Ausschuss das geht aber ab! – Das Image, dass ein Elektroauto in seiner Ministerium gebeten, auch die guten Vorschläge der Op- Dynamik beschränkt ist, wird also durch den Feldver- position, die wir in einem grundlegenderen Antrag der such und das eigene Erleben widerlegt. Man sieht: Diese Koalition zusammengefasst haben, mit in die Elektro- Technologie funktioniert. Wir müssen dafür sorgen, dass mobilitätsstrategie aufzunehmen. auch die Bevölkerung zu dieser Einsicht gelangt und im (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist Alltag Elektroautos nutzt. euer Problem! Ihr gebt es immer ab!) Nehmen wir Opel als Beispiel. Das Unternehmen Ma- gna will sich Gedanken machen, ob es als Investor bei Herr Staatssekretär, Sie haben dazu Stellung genom- Opel einsteigt. Das Unternehmen ist ein hocheffizienter men und Einzelpunkte genannt. Unsere Positionen lie- Zulieferer und Entwickler von Teilen für Elektroautos, gen doch gar nicht weit auseinander, meine Damen und aber auch von ganzen Elektrofahrzeugen. Das kann eine Herren von der Opposition. Die Koalition hat grundle- Chance für die deutsche Automobilindustrie sein, mit gender argumentiert und gesagt: Bevor wir zu den Ein- solchen Produkten zum Leitmarkt in Europa und welt- zelschritten kommen können, müssen wir zuerst eine weit zu werden. grundsätzliche Strategie festlegen, ein Marktanreizpro- gramm auflegen und Haushaltsmittel verstetigen. Sage Herr Staatssekretär, ich melde Passau, meinen Wahl- und schreibe 500 Millionen Euro aus dem Konjunktur- kreis, hiermit als Modellregion an. Ihnen werden sicher- paket sind für diesen Forschungsbereich vorgesehen und lich noch viele Modellregionen gemeldet werden. Ich dienen dazu, die Vision von Elektromobilität Wirklich- biete mich ganz selbstlos an, in der Studentenstadt Pas- keit werden zu lassen. Wir müssen aber genau definie- sau die Elektromobilitätsvision umzusetzen und diese ren, was wir machen, und die Einzelmaßnahmen abstim- Stadt zu einer Modellregion zu machen. Wichtig ist, dass (B) (D) men. erstens die Infrastruktur stimmt, dass zweitens die Batte- rietechnologie weiterentwickelt wird, dass drittens die Ich nähere mich in meiner Position der FDP-Fraktion Speicherqualität verbessert wird und dass viertens die sehr stark an, wenn ich sage: Die Förderung von Wech- Auflademöglichkeiten so flexibel gestaltet werden, dass selkennzeichen muss natürlich in ein Marktanreizpro- ein Pendler sagen kann: Für mich ist ein Vertrag pas- gramm und eine Elektromobilitätsstrategie eingebunden send, wenn der Anbieter es mir erlaubt, mein Auto mit werden. Jedes Elektromobil als Zweitwagen könnte mit Nachtstrom aufzuladen. – Das heißt, er fährt früh mor- einem Wechselkennzeichen ausgestattet sein. Das nor- gens mit dem Elektromobil aus seiner Garage zum male Fahrzeug wird für lange Strecken genutzt, während Arbeitsplatz und anschließend wieder zurück. Dann das kleine Elektromobil für den Stadtverkehr gedacht ist. stöpselt er in der Garage ein und lädt die Batterie über Man tauscht dann die Kennzeichen je nach Bedarf aus. Nacht wieder auf. Er lädt also nur zu Hause auf. Wenn Die guten Ergebnisse aus Österreich zeigen uns, dass ein wir diese Bedingungen für die Bürgerinnen und Bürgern Wechselkennzeichen eine gute Alternative ist. schaffen, dann werden sich die Haushaltsmittel und die Mittel aus dem Konjunkturpaket in Höhe von 500 Mil- Mit Einzelmaßnahmen – Parkplätzen, Ladestationen lionen Euro bezahlt machen; denn wir werden in eine und anderen infrastrukturellen Vorkehrungen – müssen neue Generation der Automobiltechnik investieren, auch wir zu einer Strategie kommen. Genau das ist der Punkt. wenn das Elektroautomobil schon lange erfunden ist, Wir brauchen eine Elektromobilitätsstrategie für den Herr Kollege Friedrich. Jetzt in der Krise besteht die Alltag der Bürgerinnen und Bürger. Erstens muss sich Chance, dass wir unsere Automobilhersteller mit staatli- die Anschaffung eines Elektroautos lohnen. Zweitens cher Förderung dazu bewegen, dass sie die Vision der muss eine entsprechende Infrastruktur vorgehalten wer- Elektromobilität in die Realität umsetzen, die Chance den. Schauen wir uns beispielsweise das Konzept der am Schopfe packen und die Produkte anbieten, die für Firma Better Place an. Wenn man mit dem Elektroauto- Otto Normalverbraucher interessant sind. mobil zum Einkaufen fährt, sind ein paar Parkplätze für das Parken solcher Autos vorgesehen. Dort kann man Schauen Sie sich die Diskussionen in den Fachzeit- das Auto, wenn man zuvor einen Vertrag mit einem An- schriften an, zum Beispiel in der Wirtschaftswoche. bieter abgeschlossen hat, mit einem entsprechend ko- (Ute Kumpf [SPD]: Das ist eine Fach- dierten Stecker an eine Steckdose anschließen. Wenn das zeitschrift?) Auto wieder vollständig aufgeladen ist, wird man wäh- rend des Einkaufens via SMS benachrichtigt. Eine solch Im Dossier Auto beschäftigt sich ein mehrseitiger Bei- hochinnovative Infrastruktur brauchen wir, Herr Staats- trag mit Elektromobilität und alternativen Antriebstech- 24368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Andreas Scheuer (A) niken. Auch die Medien müssen mithelfen. Es bringt uns die das Last- und Lademanagement, die Stromnetze und (C) nichts, wenn wir im Verkehrsausschuss und im For- die notwendige Infrastruktur betreffen, sind zu prüfen. schungsausschuss Visionen diskutieren, aber der Bürger Daher begrüßen wir, dass 5 Millionen Euro für For- diese Chance nicht ergreift und keines dieser Fahrzeuge schung und Entwicklung im Konjunkturpaket II dafür kauft. Wenn die Medien die Visionen der Automobilher- bereitgestellt werden. Die Strategie „Weg vom Öl“ kann steller und der Politik in der Öffentlichkeit bekannt ma- aber nicht heißen, dass wir uns von der Abhängigkeit chen und die Alltagstauglichkeit aufzeigen, dann wird von den Ölmultis geradewegs in die Abhängigkeit von die Diskussion eine ganz neue Qualität erhalten. Ich den Stromkonzernen begeben. Die Autos, die wir bisher freue mich darauf. fahren, werden sicherlich nicht die sein, die wir als Basis für Elektromobilität verwenden können. Es ist zu kurz Die Diskussionen im Fachausschuss über Elektromo- gedacht, einen Elektromotor in einen Golf einzubauen. bilität und alternative Antriebstechniken sind mit dem Es müssen andere Fahrzeuge sein. Auch unser Mobili- heutigen Tag nicht beendet, sondern wir bleiben dran. tätsverhalten muss sich verändern. Herr Staatssekretär, ich freue mich darauf, dass wir in der neuen Legislaturperiode einen Bericht des Verkehrs- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ministeriums bekommen, der den Stand der Diskussion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wiedergibt. Wenn wir das Tal der Tränen, die Wirt- schaftskrise, Beispielsweise sagte letzte Woche ein Bürger aus meinem Wahlkreis zu mir: Ich wollte mein Auto ver- (Ute Kumpf [SPD]: Das ist nur eine Bade- schrotten und die Abwrackprämie dafür kassieren, dass wanne!) ich mir ein Elektroauto anschaffe; ich fahre nämlich nur durchschritten haben, dann muss uns die Bundesregie- kurze Wege und habe Solarenergiezellen auf dem rung am Jahresende darstellen, was sie in den nächsten Dach. – Das funktionierte aber nicht, weil das ge- Jahren plant. Auf diese Diskussion freue ich mich. wünschte Elektroauto drei Räder hat und die Abwrack- prämie hingegen nur bei Kauf eines vierrädrigen Autos Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ausgezahlt wird. Wenn wir fraktionsübergreifend die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Auffassung vertreten, dass Elektromobilität gefördert werden muss, dann sollten wir an dieser Stelle genauer hinschauen und etwas verändern. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Dorothée Menzner für die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Fraktion Die Linke. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Ich möchte für meine Fraktion ganz deutlich sagen: (D) Dorothée Menzner (DIE LINKE): Die Linke steht für eine Verkehrspolitik, die darauf aus- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und gerichtet ist, umweltschonender und ressourcensparen- Kollegen! Liebe Gäste! Elektroautos sind eine feine Sa- der zu wirtschaften, als wir es es viele Jahrzehnte lang che. Für gewisse Bereiche und für gewisse Einsatzge- getan haben. Diese Verkehrspolitik muss bedarfsgerecht biete sind sie durchaus zu begrüßen, zum Beispiel im und sozial gerecht sein. Wir stehen nicht für Konzepte, innerstädtischen Verkehr. Sie sind leise, sie erzeugen die vorsehen – daher rührt unsere Kritik an den Wechsel- keinen Feinstaub und keine Abgase. Aber zu glauben, kennzeichen –, Menschen mit einem guten Einkommen sie könnten unsere grundlegenden Mobilitätsprobleme eine umweltfreundliche Mobilität zu ermöglichen, also lösen, ist doch ein bisschen kurzsichtig. Wir haben da- Menschen, die sich, um ein ökologisch reines Gewissen rüber neulich schon einmal diskutiert. Der WWF ist zu haben, als Zweit- oder Drittwagen ein Elektromobil nicht die einzige Institution, die sagt, dass das keine beschaffen wollen. Wir möchten, dass Menschen unab- kurzfristige Lösungsstrategie ist. Das ist eben schon an- hängig von ihrem Einkommen, unabhängig von ihrer gesprochen worden. So weit ist die Entwicklung noch ökonomischen Lage einen möglichst barrierefreien Zu- nicht. Bei der Klimabilanz und Umweltfreundlichkeit gang zu gutem Verkehr haben. von Elektroautos kommt es entscheidend darauf an, wie der Strom erzeugt wird, mit dem sie gespeist werden. (Beifall bei der LINKEN) Man kann natürlich wie die FDP in ihrem Antrag den Um von dem immensen Verbrauch fossiler Rohstoffe Standpunkt vertreten, die AKWs länger laufen zu lassen. wegzukommen, müssen der öffentliche Personennahver- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo steht kehr und -fernverkehr weiter ausgebaut und attraktiver das im Antrag?) gemacht werden. Auch die Vernetzung mit dem Fahrrad- verkehr muss hinzukommen. Um auf diesem Gebiet vo- Ich sage ganz deutlich: Für uns ist das keine Lösung. ranzukommen, kann der Ausbau der Elektromobilität ein Man sollte sich aber auch überlegen, ob die fossile kleiner Schritt sein. Dafür sind wir sehr aufgeschlossen. Stromerzeugung die Lösung ist. Jeder, der sich Greven- Wir sehen allerdings in ihr nicht die Möglichkeit, mit der broich, die „Hauptstadt der Energie“, und Umgebung wir einfach umsteuern und alles grundlegend verändern mit den im Bau oder schon in Betrieb befindlichen Koh- können. Wir glauben, es werden falsche Hoffnungen ge- lekraftwerken einmal angeschaut hat, wird ins Grübeln weckt. kommen. Wir wissen, dass wir bis heute noch nicht ge- Ich danke. nug Strom auf ökologische und nachhaltige Weise bzw. aus erneuerbaren Energien erzeugen. Aber auch Fragen, (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24369

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es ist allerdings ziemlich unklug, für einen Zeitraum (C) Das Wort hat nun Kollege Winfried Hermann für die von drei Jahren 500 Millionen Euro für Forschung und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Entwicklung auszugeben und gleichzeitig mit der Ab- wrackprämie 5 Milliarden Euro für Fahrzeuge ohne je- den Klimaschutz rauszudonnern. Das ist inkonsistent. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist verspieltes Geld. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zeigt: Es hat sich im Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reich der Mobilität viel bewegt: Man schaue sich nur an, und bei der LINKEN) welche Zukunftsvisionen und Projekte die Autokonzerne Wir wollen es anders machen. Wir wollen mit einem inzwischen anbieten. Es ist noch nicht lange her, dass Marktanreizprogramm gerade die Schwierigkeiten der ers- Personen, die dafür eingetreten sind, etwas für die Elek- ten Jahre überwinden. Heute wissen wir, dass der E-Mini tromobilität zu tun, mit Sätzen wie „Das geht doch von BMW einfach zu teuer ist. Er ist mindestens nicht“ oder „Elektroautos taugen allenfalls als Boxautos 5 000 Euro teurer als ein normaler Mini. auf der Kirmes“ abgespeist wurden. Inzwischen gibt es keinen großen Autokonzern, der sich nicht mit Mobilität (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist beschäftigt und neue Konzepte zu Hybridfahrzeugen und aber ein tolles Auto! – Dr. Andreas Scheuer E-Mobilität entwickelt. Das ist, wie wir finden, gut so. [CDU/CSU]: Loben Sie doch auch einmal!) Ich störe mich überhaupt nicht daran, dass jetzt alle Fraktionen sagen: Das ist etwas ganz Wichtiges; das Das Gleiche gilt für alle anderen Fahrzeuge. Für die wollen wir unterstützen und fördern. Übergangszeit brauchen wir also Fördermittel indivi- dueller Art. Wir sagen: Ab 2010 soll es eine Prämie von Einige wichtige Gründe für die Förderung der Elek- 5 000 Euro, die jährlich um 20 Prozent abgeschmolzen tromobilität sind bereits genannt worden. Aus unserer werden soll, geben. Es handelt sich also nicht um eine Sicht ist bedeutsam – ich sage es noch einmal –: Elektro- Subvention auf Dauer, sondern nur um eine Förderung mobilität hilft uns, weg vom Öl zu kommen. Auch der während der Markteinführung. Klimaschutz ist ein zentrales Ziel der Mobilitätspolitik. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass zahlreiche Ich füge hinzu: Auch weil wir wissen, dass es einen glo- gute Technologien daran gescheitert sind, dass sie am balen Trend zur „Mobilisierung“, vor allem zur Automo- Anfang zu teuer waren. Die Konzerne sind aufgrund bilisierung, gibt – es ist zu befürchten, dass es global in dessen wieder ausgestiegen. Ich erinnere zum Beispiel wenigen Jahrzehnten doppelt so viele Autos wie heute an den Audi A2 und an den 3-Liter-Lupo, mit denen ge- gibt, also statt 1 Milliarde 2 Milliarden –, ist es zwin- nau das passiert ist. Diesen Fehler müssen wir bei der gend, dass wir Autos auf den Markt bringen, die tatsäch- (B) Elektromobilität vermeiden. Wir müssen Anreize schaf- (D) lich umwelt- und klimafreundlich sind. fen. Das Ziel der Bundesregierung – 1 Million Elektro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fahrzeuge – ist zu niedrig gesteckt. Man kann heute sa- gen, dass eine Anzahl von 2 Millionen bis zum Jahre Das müssen wir fördern. 2020 gut erreichbar ist. Ich finde nämlich: Zu einer Stra- Richtig ist: Nur das Elektroauto zu fördern und sonst tegie gehört auch ein ambitioniertes Ziel. keinerlei Mobilitätspolitik zu betreiben, das wäre die fal- Welche Chancen und Möglichkeiten gibt es noch? sche Strategie. Wir teilen die Überzeugung: Wir Wir versprechen uns von der E-Mobilität, dass ein Um- brauchen ein Gesamtkonzept. Wir haben einen Antrag denken in Bezug auf die Nutzung von Autos stattfindet. eingebracht, der auf eine umfassende Förderung der Wir erhoffen uns eine andere Qualität von Autos, näm- Elektromobilität abzielt. Dabei geht es nicht nur um das lich Autos, die weniger Ressourcen verbrauchen und für Elektroauto, sondern auch um den Elektroscooter. Wir eine geringere Geschwindigkeit ausgelegt sind, Autos denken schon weiter – wir haben schon den nächsten für die Stadt, die die Lebensqualität erhöhen, weil sie Antrag eingebracht –: Auch die Bahnen müssen „elektri- leise sind und nicht so viel Fläche brauchen. Das alles scher“ werden; auch Dieselfahrzeuge kann man durch wollen wir unterstützen. Stromfahrzeuge ersetzen. Wir wollen das, wie die FDP, mit ordnungsrechtlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hilfen, Vorteilen beim Parken und bei der Nutzung von Fahrbahnspuren erreichen. Auf diese vielfältige Art wol- Wenn überhaupt, dann sollte man, liebe Kolleginnen len wir zur Nutzung und zum Kauf anreizen. All dies und Kollegen von der Regierungskoalition, schon eine sind Chancen und Möglichkeiten, die Mobilität insge- konsistente Strategie entwickeln. Es macht wirklich samt nachhaltiger zu gestalten. E-Mobilität ist also ein Sinn, Forschung und Entwicklung im Bereich der Batte- wichtiger Baustein für eine bessere und nachhaltige Mo- rietechnik zu fördern. Hier kann und muss die Politik et- bilitätspolitik. was tun. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht das gleiche Problem wie bei den Handys entsteht. Wir haben ja be- Wo liegen die Risiken? Diese möchte ich nicht ver- klagt, dass jedes Handy mit eigenem Ladegerät und schweigen. Es wäre ein Irrweg, wenn wir zukünftig mit eigenem Stecker herausgebracht wurde. Das darf im Elektroautos fahren würden, die mit Atomstrom oder mit Automobilsektor nicht passieren. Wir brauchen eine ein- Strom aus Kohlekraft gespeist sind. Man sieht dann zwar heitliche und praktische Technologie. Das können wir nichts aus dem Auspuff herauskommen und hört auch politisch unterstützen. nichts, aber der Dreck und der Lärm entstehen an ande- 24370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Winfried Hermann (A) rer Stelle. Elektromobilität bedeutet die zwingende För- 180 Milliarden Euro, ganz abgesehen von den Arbeits- (C) derung und Nutzung erneuerbarer Energien. Jegliche plätzen, die in diesem Bereich schon existieren bzw. gebrauchte Energie muss aus erneuerbaren Energien er- noch geschaffen werden. Auch vor dem Hintergrund der zeugt werden. Das ist unser Ansatz. Debatte um CO2-Emissionen bieten Elektrofahrzeuge eine große Chance, da sie helfen, die Emissionen von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CO2 sowie die Lärm- und Schadstoffemissionen in Me- und bei der LINKEN) tropolen zu reduzieren. Es gibt ja heutzutage ein Akzep- Es bleiben noch einige Fragen offen, die ich leider tanzproblem von Verkehr aufgrund der Lärmbelästi- nicht alle ausführen kann. Die Speichertechnik muss gung. verbessert werden, und das Problem der Anschlüsse Ein Nullemissionsfahrzeug, das wir anstreben, ist nur muss gelöst werden; das haben wir schon besprochen. möglich, wenn es durch erneuerbare Energien angetrie- All dies, eingebettet in eine Gesamtstrategie der nach- ben wird. Die FDP dagegen stellt die Versorgungssicher- haltigen Mobilität, ergibt Sinn. Deswegen wollen wir es heit in den Vordergrund und versucht, nicht nur die Tür fördern und unterstützen. In diesem Sinne sind Elektro- für längere Laufzeiten von AKWs, sondern gleich für autos tatsächlich grüne Autos. den Neubau von AKWs aufzustoßen. Das ist nicht der Vielen Dank. Weg, den wir gehen wollen. Wir wollen ein Nullemis- sionsfahrzeug. Das geht nur auf Basis erneuerbarer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Energien. Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das kann man aber auch in Schwarz bestellen! – Horst (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich hätte gern Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Rot! – Jan Mücke [FDP]: Ich nehme Rosa!) Dass endlich Bewegung in den Bereich Elektrofahr- zeuge gekommen ist, liegt daran, dass die Industrie bei Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Entwicklung der Batterietechnik Fortschritte erzielt Das Wort hat nun die Kollegin Schwarzelühr-Sutter hat. So rasant wie in den letzten zwei, drei Jahren ging es für die SPD-Fraktion. schon lange nicht mehr voran. Es ist auch ein Vorteil, dass hier zwei Branchen zusammenkommen, nämlich Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): die Automobilindustrie und die Energieversorgungswirt- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schaft. Zwischen beiden sind noch Fragen zu klären. Ich Kollegen! Ich bin froh, dass wir uns einig sind, dass nenne die Stichworte Schnittstellen und Standardisierun- Elektromobilität nicht mehr nur eine Vision oder ein gen. Es gibt auch unterschiedliche Modelle. Ein Modell (B) Ausweg aus einer Struktur- und Wirtschaftskrise ist, son- wäre zum Beispiel, dass man nicht ein komplettes Elek- (D) dern dass wir wirklich auf dem Weg sind, sie in unseren trofahrzeug mit Batterie kauft, sondern nur das Fahrzeug Alltag zu integrieren. Wir haben gute – ich sage sogar: kauft und die Batterie mietet. All das sind mögliche Ge- beste – Autos in Deutschland. Ich bin davon überzeugt, schäftsmodelle. Diese Geschäftsmodelle sind zugleich dass wir im Jahre 2020 eines der besten Elektroautos an- Zukunftsmodelle und eröffnen einen riesigen Markt. bieten können. Ein französischer Hersteller möchte schon 2012 Elek- Lieber Kollege Friedrich, im Jahre 1991 sind Sie be- trofahrzeuge zu einem Preis von 12 000 bis 14 000 Euro reits mit einem Elektroauto gefahren. Da ihr so lange an anbieten. Ich bin überzeugt, dass unsere Industrie da mit- der Regierung wart, frage ich mich wirklich, warum es hält und insbesondere für den Stadtverkehr Elektrofahr- so lange gedauert hat und wir erst heute ein Elektroauto zeuge zur Verfügung stellt. Ich bin gestern zum ersten auf dem Markt haben. Mal mit dem E-Mini hier in Berlin gefahren. Das ist tat- sächlich ein tolles Fahrgefühl. Man gleitet förmlich mit (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ihr seid einem solchen Fahrzeug durch den Verkehr. Es ist leise viel länger dran, leider, und das ist das Pro- und verhält sich beim Gasgeben nicht wie ein Auto- blem! Ihr macht auch nichts!) skooter, sondern wie ein schnelles, spritziges Auto. Ich bin froh, dass die Bundesregierung jetzt 500 Millio- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das Fahr- nen Euro zur Verfügung stellt und auch schon vorher im zeug gibt nicht Gas! Es gibt Strom!) Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasser- stoff- und Brennstoffzellentechnologie 500 Millionen Ich bin überzeugt, wenn das Fahrzeugkonzept noch wei- Euro zur Verfügung gestellt hat. Es ist wichtig, dass For- terentwickelt wird und ausgereift ist – im Moment sind schung und Innovation in Gang kommen. die Batterien sehr groß; es gibt keinen Platz, um zum Beispiel einen Kinderwagen mitzunehmen –, bietet es (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ihr seid eine gute Möglichkeit, um in Städten mobil zu sein. Das schon elf Jahre an der Regierung, und nichts wäre ein Baustein für nachhaltige Mobilität in den Städ- ist passiert!) ten. Gerade die Verknüpfung zwischen ÖPNV, entspre- chenden Elektrofahrzeugen und Fahrrädern bietet die Die bloße Kennzeichnung von Elektroautos, die sowieso Chance, bis zum Jahr 2020 zu emissionsfreiem Verkehr eine grüne Plakette bekommen, löst keine Innovationen in den Städten zu kommen. aus. Wir aber brauchen Innovationen. Schon heute um- fasst der Markt von Produkten und Dienstleistungen im Heute schon erbringen zum Beispiel einige Kurier- Zusammenhang mit nachhaltiger Mobilität weltweit dienste in Hamburg ihre Dienstleistungen mit Elektro- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24371

Rita Schwarzelühr-Sutter (A) fahrzeugen. Das zeigt, diese Fahrzeuge sind im Kom- Das wollen wir nicht. Es ist unsere Verantwortung, (C) men. Es gibt hier einen riesigen Markt. Auch angesichts dafür zu sorgen, die Probleme, vor denen wir stehen, in der Nachfrage bei den Pilotprojekten in den Modell- den nächsten Jahren zu lösen. Diese Probleme kann man regionen kann ich nur sagen: Endlich haben wir den in zwei Punkten zusammenfassen: Endlichkeit der fossi- Durchbruch geschafft. Endlich wird auch das Elektro- len Ressourcen sowie Kohlendioxid und Schadstoffe, fahrzeug von seinem Image her als zukünftiger Ersatz die das Klima verändern. Deshalb müssen wir jetzt in für das Auto in der Stadt akzeptiert. Deutschland die Weichen richtig stellen. Elektromobili- tät ist ein wichtiger Baustein. Wir dürfen die individuelle Die genannten Kriterien – Unabhängigkeit vom Öl, Mobilität nicht einschränken und müssen den Bedürfnis- keine Feinstaub-, SOx- und CO2-Emissionen, effiziente sen der Wirtschaft Rechnung tragen. Energienutzung, Nutzung von erneuerbaren Energien – machen dieses Konzept eigentlich zur Nummer eins. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollen, dass unsere deutsche Automobilindustrie mit ei- nem solchen Konzept im Wettbewerb auf dem weltwei- Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition ist ten Markt der Elektromobilität besteht und vielleicht ein gutes Instrument. Wir werden schnellstmöglich dafür auch in diesem Bereich zur Nummer eins wird. sorgen, dass elektrische bzw. elektrisch unterstützte An- triebe zur Marktreife kommen und dass Deutschland Herzlichen Dank. – meine Vorredner haben es bereits betont – Leitmarkt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie für die Elektromobilität und für alternative Antriebe bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wird. GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Klar ist – das merken wir gerade in der Krise, in der die erteile ich Kollegen von der CDU/CSU- Automobilwirtschaft steckt –: Dies sichert die Zukunfts- Fraktion das Wort. und Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und Tau- sende von Arbeitsplätzen. Richtig gemacht müssen Öko- (Beifall bei der CDU/CSU) logie und Ökonomie kein Gegensatz sein. Ziel ist es, bis 2020 circa 1 Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Straßen zu haben, allerdings – darüber müssen wir uns Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die im Klaren sein – vorrangig in Ballungszentren. heutige Debatte und auch die Debatte im Ausschuss ha- Auch wenn wir uns an einem automobilen Wende- (B) ben gezeigt, dass wir uns im Grunde genommen über die (D) punkt befinden, müssen wir uns darüber Gedanken ma- Sinnhaftigkeit der Elektromobilität einig sind. Elektro- chen, wie wir den Übergang in die mobile Zukunft ohne mobilität ist eine gute Sache. fossile Brennstoffe gestalten. Wir müssen der Realität Ich möchte den Fokus auf einen anderen Aspekt len- ins Auge schauen: Die herkömmlichen Verbrennungs- ken, nämlich Mobilität. Mobilität ist ein hohes Gut. Den motoren, die wir zurzeit haben, können nicht von heute Mobilitätsstandard, den wir in unserem Land erreicht ha- auf morgen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Ver- ben, müssen wir halten und weiter ausbauen. Dieser He- kehr gezogen werden. Wir werden sie noch viele Jahre rausforderung müssen wir uns in den nächsten Jahren brauchen. Sie werden noch viele Jahre Dienst tun, viel- stellen, nämlich auf Dauer und nachhaltig Mobilität in leicht weniger in den Ballungsgebieten, aber vor allem unserem Land zu sichern, die ökologisch, aber gleichzei- in den ländlichen Siedlungsstrukturen, in den Gegenden, tig für jeden Bürger bezahlbar und attraktiv ist. wo die Infrastruktur weitläufiger ist. Wir dürfen sie für diese Übergangszeit nicht verteufeln, sondern wir müs- (Beifall des Abg. Dr. Andreas Scheuer [CDU/ sen auch hier Anstrengungen unternehmen, um sie noch CSU]) effizienter zu machen und ihre Potenziale noch weiter Aufgabe der Politik ist es, den Bedürfnissen der Men- auszureizen. Dann können sie für diese Übergangszeit schen nach Mobilität im Privaten und natürlich auch im ökologisch und wirtschaftlich attraktiv bleiben. Geschäftlichen Rechnung zu tragen. Beweglichkeit ist ein Stück Freiheit, ist Ungebundenheit und auch Flexibi- Mit dem vorliegenden Antrag der Regierungskoali- lität. Mobilität bedeutet für uns wirtschaftliche Entwick- tion gehen wir die richtigen Schritte. Wir unterstützen lung, Wachstum und Wohlstand. Als Ostdeutscher weiß die Entwicklung, sorgen für Planungssicherheit und set- ich, wovon ich rede. Ich habe die DDR live und grau in zen ein klares Zeichen an die Bürger und die Wirtschaft, grau erlebt. Nicht nur, dass wir in Richtung Westen und dass Elektromobilität eine Zukunft hat. Süden plötzlich vor Mauer und Stacheldraht standen, es Als Ingenieur gebe ich allerdings zu bedenken – das gehörte damals auch zum System des SED-Unrechtstaa- ist heute auch von anderen Rednern schon angedeutet tes, dafür zu sorgen, dass die individuelle Mobilität der worden –, dass der Satz von der Erhaltung der Energie Menschen eingeschränkt war. Schlechte Straßen und gilt; denn das ist ein Naturgesetz: Wenn ich irgendwo et- Wartezeiten von mehr als 15 Jahren auf den eigenen Pkw was herausholen will, dann muss ich vorher etwas hinzu- sind dafür beredte Beispiele. Der dadurch entstandene fügen. wirtschaftliche Schaden wurde von den Machthabern billigend in Kauf gekommen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Richtig!) 24372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Volkmar Uwe Vogel (A) Neben der Elektromobilität brauchen wir deshalb be- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner (C) zahlbare, nachhaltige und effektive Speichersysteme für Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Elektroenergie – das ist sehr richtig –, und wir müssen tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11915 mit dafür Sorge tragen, dass wir die Primärenergie, die wir dem Titel „Umfassende Förderstrategie für Elektromobi- zum Einsatz bringen – dabei weise ich insbesondere auf lität mit grünem Strom entwickeln“. Wer stimmt für die erneuerbaren Energien hin, bei denen wir auf einem diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – guten Weg sind –, in einer Art und Weise produzieren, Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den dass sie für jeden von uns bezahlbar ist. Denn eines ist Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen klar: Mobilität für alle, die wir wollen, muss auch für der Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken ange- alle bezahlbar bleiben. nommen. Ich bitte um Unterstützung unseres Antrages, weil er Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: aus meiner Sicht einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, im Gegensatz zu den anderen vorliegenden Anträgen, a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- die sich nur auf Teilaspekte beziehen, wenn auch viele nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten richtige Hinweise von den anderen Fraktionen gekom- Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung men sind. Ich bin der Meinung, dass wir hier auf einem des Conterganstiftungsgesetzes guten Weg sind, dass wir aber darauf achten müssen, die – Drucksache 16/12413 – Entwicklung nicht nur in einer einzigen Richtung voran- zutreiben; wir müssen vielmehr den gesamten Markt Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- weiter beobachten. Es wird noch viele Entwicklungen ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Ideen geben, über die wir zu gegebener Zeit zu dis- (13. Ausschuss) kutieren und zu entscheiden haben. – Drucksache 16/13025 – Vielen Dank. Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Abgeordnete Antje Blumenthal Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Ina Lenke Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Jörn Wunderlich Ich schließe die Aussprache. Ekin Deligöz Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) (B) schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf gemäß § 96 der Geschäftsordnung (D) Drucksache 16/12977. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- – Drucksache 16/13026 – trags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Berichterstattung: Drucksache 16/12693 mit dem Titel „Mobilität zu- Abgeordnete Dr. Ole Schröder kunftsfähig machen – Elektromobilität fördern“. Wer (Essen) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Otto Fricke dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Roland Claus ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Anna Lührmann Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von FDP und Linken angenommen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion trag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus der FDP auf Drucksache 16/10877 mit dem Titel „Elek- Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter tromobilität – Für einen bezahlbaren und klimaverträg- und der Fraktion DIE LINKE lichen Individualverkehr“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Soforthilfe zur Teilhabe-Ermöglichung für Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Conterganbetroffene Stimmen der FDP mit den restlichen Stimmen des Hau- – Drucksachen 16/11639, 16/13025 – ses angenommen. Berichterstattung: Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Abgeordnete Antje Blumenthal Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12097 mit dem Ti- Ina Lenke tel „Elektromobilität durch Änderung von immissions- Jörn Wunderlich schutz- und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern“. Ekin Deligöz Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und und der SPD liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Linken gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Grünen angenommen. der FDP vor. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24373

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die unbürokratisch zu erteilen. Ich hoffe sehr, dass diese (C) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Vereinbarung bald überall bekannt ist und dass es hier höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wirklich Fortschritte gibt; denn ich weiß, dass die Schwierigkeiten bei der Verordnung von Leistungen Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin durch die Ärzte und bei der Genehmigung durch die Ilse Falk für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Kassen für sehr viele ein großes Ärgernis sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Heute wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf weitere Verbesserungen auf den Weg bringen. Die Ilse Falk (CDU/CSU): Novellierung des Conterganstiftungsgesetzes hat einen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit wichtigen Schwerpunkt, der wesentlich mitveranlasst nunmehr etwa anderthalb Jahren beschäftigen wir uns im wurde, weil sich die Firma Grünenthal – obwohl recht- Deutschen Bundestag intensiv mit der Lebenssituation lich dazu nicht verpflichtet – bereit erklärt hat, weitere contergangeschädigter Menschen. Ausgelöst unter ande- 50 Millionen Euro für die Verbesserung der Situation der rem durch den bewegenden Spielfilm anlässlich des Contergangeschädigten als Zustiftung in die bestehende 50. Jahrestages der Markteinführung des Schlafmittels Conterganstiftung zur Verfügung zu stellen. Der Bund Contergan wurde unsere Aufmerksamkeit auf das stellt aus dem noch vorhandenen Stiftungskapital eben- Schicksal der Betroffenen gelenkt. Hinzu kamen viele falls 50 Millionen Euro zur Verfügung, sodass aus einem Briefe, Interviews und Reportagen, in denen uns vor Au- sich aufzehrenden Stiftungsstock 25 Jahre lang eine jähr- gen geführt wurde, wie schwer das tägliche Leben der liche Sonderzahlung an die Betroffenen geleistet werden contergangeschädigten Menschen ist und zunehmend kann. Mithilfe dieser Sonderzahlung sollen sie beson- wird. Verursacht durch die jahrzehntelange Fehlbelas- dere Bedarfe decken und sich Wünsche erfüllen können, tung von Wirbelsäule, Gelenken, Muskulatur und Zäh- für die kein anderer aufkommt. nen, treten bei allen Betroffenen Spät- und Folgeschäden Die Regelungen dieses Gesetzentwurfes wurden in ei- auf, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen. nem engen Austausch mit den Betroffenen getroffen. Ich muss zugeben: Diese Monate waren auch für Wir haben viele Wünsche und Anregungen aufgenom- mich eine große Herausforderung. Das persönliche Ken- men, unsere ursprünglichen Überlegungen korrigiert und nenlernen vieler Betroffener hat mich beeindruckt und nach der Expertenanhörung in der vergangenen Woche bewegt. Ich habe große Achtung vor allen, die ihr noch weitere Änderungen berücksichtigt. So schlagen Schicksal angenommen haben und denen auch mit einer wir vor, die Ausschlussfrist für die Beantragung von solchen Bürde ein lebenswertes, glückliches Leben ge- Leistungen nicht nur für anderthalb Jahre, sondern voll- (B) lingt. Ich kann aber auch die nicht überhören, denen das ständig aufzuheben. Außerdem soll ab diesem Jahr zu (D) nicht gelingt und die mit ihrem Schicksal hadern und uns den monatlichen Conterganrenten eine jährliche Sonder- als Vertreter und Vertreterinnen zumindest verbal heftig zahlung geleistet werden, deren Höhe vom Grad der angreifen. Der immer wieder gestellten Frage nach Schädigung abhängig ist. Die am schwersten Geschädig- Schuld und Verantwortung müssen wir uns stellen; wir ten erhalten dann 4 200 Euro; dies ist allerdings abhän- müssen versuchen, sie mit Herz und Verstand zu beant- gig davon, wie viele Neuanträge nach Öffnung der Aus- worten. schlussfrist bewilligt werden. Weil wir Politiker – das gilt auch für den Verursacher, Was die jährlichen Sonderzahlungen betrifft, war uns die Firma Grünenthal – uns diese Antwort nicht leicht die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der machen, können wir heute einen guten Gesetzentwurf Betroffenen sehr wichtig, die durch einen gestreckten vorlegen und verabschieden, der die Betroffenen einen Auszahlungszeitraum, gespeist aus Zins und Zinseszins, großen Schritt weiterbringt auf dem Weg, der sicher viel besser erreicht wird als durch eine Einmalzahlung. noch nicht zu Ende ist. Um dem Wunsch der Betroffenen nach einer Erhöhung der Zahlung entgegenzukommen, werden wir die Zah- In zahlreichen Gesprächen mit unterschiedlich orga- lung für 2010 nach der ersten Sonderzahlung im Spät- nisierten Betroffenen und in zwei großen Expertenanhö- herbst 2009 auf Januar 2010 vorziehen. Innerhalb kür- rungen des Familienausschusses haben wir miteinander zester Zeit wird somit eine größere Summe zur Deckung diskutiert, was der Gesetzgeber tun kann, um die Le- von Sonderbedarfen zur Verfügung stehen, für die benssituation der Conterganopfer zu verbessern. Wir ha- schwer geschädigten Opfer immerhin circa 8 400 Euro. ben einiges auf den Weg gebracht. In einem ersten Schritt haben wir die Conterganrenten zum 1. Juli 2008 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) verdoppelt. Zweitens haben wir diese Conterganrenten Der ursprünglich ins Auge gefasste Auszahlungszeit- gegenüber anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches raum für die jährlichen Sonderzahlungen wurde um zehn anrechnungsfrei gestellt. Wir haben drittens Parkerleich- Jahre verkürzt, von 35 auf nunmehr 25 Jahre. Konkret terungen eingeführt. Viertens hat auf unsere Bitte hin das bedeutet dies höhere Einmalzahlungen. Diese Regelung Bundesgesundheitsministerium in Gesprächsrunden mit ist ein Kompromiss zwischen einer Einmalzahlung und den Spitzenverbänden der Krankenkassen für die Ver- Zahlungen über einen sehr lang gestreckten Zeitraum. besserung der Versorgung der contergangeschädigten Menschen geworben. Es ist vereinbart worden, beste- Künftig werden die Conterganrenten automatisch dy- hende Verordnungsmöglichkeiten und Ausnahmetatbe- namisiert, und zwar in Anpassung an die gesetzliche stände auszuschöpfen und Genehmigungen zügig und Rente. Künftig sollen mit den Erträgen des restlichen 24374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Ilse Falk (A) Stiftungskapitals nur noch Projekte gefördert werden, Letzten Montag haben wir zum vorliegenden Gesetz- (C) die den Conterganopfern zugutekommen. Dafür ändern entwurf eine Anhörung durchgeführt, aus der sich für die wir den Stiftungszweck. Die Ausgaben im Zusammen- FDP-Bundestagsfraktion zusätzlicher Änderungsbedarf hang mit Personal- und Sachkosten, die bislang nur zur ergeben hat. Nach dieser Anhörung haben wir gemein- Hälfte aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden, werden sam einige Vorschläge gemacht. Auch wenn der FDP- künftig vollständig aus dem Bundeshaushalt gedeckt und Bundestagsfraktion noch etwas fehlt, wird sie den ge- belasten nicht länger das Stiftungsvermögen, sodass die- planten Änderungen des Conterganstiftungsgesetzes ihre ses Geld den Betroffenen ungeschmälert zugutekommt. Zustimmung geben. Wir haben noch weitere Änderungen vorgesehen. Im Mittelpunkt der Änderungsanträge der Großen Dazu wird die Kollegin Blumenthal ausführlicher Stel- Koalition steht die Abschaffung der sogenannten Aus- lung nehmen, insbesondere zur Änderung der Stiftungs- schlussfrist. Diese Forderung haben wir schon immer er- struktur. hoben. Ich erinnere an das Gesetz über die Contergan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass wir stiftung für behinderte Menschen, das eine Frist zusammen viel erreicht haben. Ganz besonders danke – 31. Dezember 1983 – enthielt. Bis zu diesem Zeitpunkt ich den beiden Berichterstatterinnen der Regierungsko- konnten sich contergangeschädigte Menschen melden; alition, Antje Blumenthal und Marlene Rupprecht, die danach wurden sie nicht mehr einbezogen. Die damalige mit viel Herzblut und großem Einsatz sehr erfolgreich Frist war überhaupt nicht zu halten; das haben wir auch verhandelt haben, sowie den Verantwortlichen im Fa- in der Anhörung gehört. Es gibt Betroffene, die diese milienministerium, die uns zur Seite gestanden haben. Frist ohne Schuld versäumt haben, zum Beispiel Eltern, die sich schämten, einen solchen Antrag zu stellen, oder (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie denen die Conterganschädigung ihres Kindes damals bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht bekannt war, weil die Schädigung nicht an den Gliedmaßen sichtbar war, sondern im Körper aufgetreten Ich freue mich sehr, dass die Kolleginnen und Kolle- ist. gen der anderen Fraktionen dieser Gesetzesänderung ihre Zustimmung geben wollen. Die Grünen wollen sich Ich finde es sehr gut, dass diese Frist mittlerweile offensichtlich enthalten; bei ihnen hat es nicht ganz zur auch von der Koalition als falsch angesehen wird. Wir Zustimmung gereicht. Allerdings glaube ich, dass es ein sind der Auffassung – das ist einer unserer Kritikpunkte –, Zeichen des guten Willens ist, dass wir alle den Weg, dass diese Frist zu kurz ist. Sie soll wegfallen. den wir zum Wohl und zur Verbesserung der Situation der Contergangeschädigten eingeschlagen haben, mittra- Der Gesetzentwurf, über den heute abzustimmen ist, (B) (D) gen. Ich denke, so werden wir vorankommen und bei geht in die richtige Richtung. Am 22. Januar dieses Jah- weiteren Maßnahmen möglicherweise Ähnliches errei- res haben wir über einen Antrag der Fraktionen der chen. CDU/CSU, SPD und FDP abstimmen können. Wir ha- ben das gemeinsam gemacht, um eine angemessene und Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. zukunftsorientierte Unterstützung der betroffenen Men- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie schen sicherzustellen. Schon damals hatten wir Sie gebe- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ten, unsere Forderungen im Gesetzentwurf zu berück- GRÜNEN) sichtigen. Hierbei ging es um folgende Forderungen: Erstens wollten wir, dass sich die neu einzuführende Dy- namisierung der Conterganrenten am Dynamisierungs- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: faktor der Altersrente orientiert; das wurde berücksich- Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke für die FDP- tigt. Zweitens wollten wir, dass auf den früheren Fraktion. Fristausschluss verzichtet wird. Beide Forderungen wur- (Beifall bei der FDP) den im Gesetzentwurf berücksichtigt. Deshalb können wir diesem Antrag zustimmen. Ina Lenke (FDP): Der vorliegende Gesetzentwurf weist noch Defizite Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte auch ich mich dafür bedanken, dass Opposition auf. Deshalb haben wir einen Entschließungsantrag ge- und Regierung bei diesem schwierigen Thema sehr sach- stellt, in dem wir Sie um Zustimmung zu folgenden lich zusammengearbeitet haben. Bei allem Streit, den Punkten bitten: wir manches Mal haben, sollte auch einmal gesagt wer- Erstens. Es muss sichergestellt werden, dass die Con- den: Wir können, wenn wir wollen, und dann klappt es terganrenten – es handelt sich dabei um Entschädigungs- auch. renten, nicht um normale Renten, für die man in die Die Firma Grünenthal hat in die Conterganstiftung Rentenkasse einzahlt – nicht unter das Vorjahresniveau eine Zustiftung in Höhe von 50 Millionen Euro einge- fallen, wenn es dazu kommen sollte – in der letzten bracht; darauf hat Frau Falk schon hingewiesen. Es ist Plenarwoche haben wir darüber diskutiert –, dass die Al- wirklich gut, dass dieses Geld verwendet werden kann, tersrenten sinken. Eine solche Regelung ist bei den Con- um neben der Rente auch jährliche Sonderzahlungen für terganrenten nicht getroffen worden. Ich glaube zwar, den besonderen Bedarf an contergangeschädigte Perso- dass wir hier einer Meinung sind; aber dieser Punkt fin- nen auszuschütten. det sich nicht im Gesetzentwurf wieder. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24375

Ina Lenke (A) Zweitens. Wir sind der Meinung, dass die Contergan- Trotzdem war es schwierig, dieses Gesetz, das aus (C) renten, auch wenn sie sich an den Altersrenten orientie- dem Jahr 1972 stammt, zu ändern. Damals wurde dieses ren, circa alle fünf Jahre überprüft werden sollten. In der Gesetz im guten Glauben verabschiedet. Ich will keine Expertenanhörung haben wir gehört, dass der Hilfebe- Boshaftigkeit oder Gemeinheit unterstellen; ich glaube darf bei den betroffenen Menschen steigt, wenn sie – das vielmehr, dass man von dem damaligen Kenntnisstand wissen wir auch von uns selbst – älter werden. Deshalb ausging und glaubte, mit dem Gesetz etwas Gutes zu tun, ist es wichtig, die Renten, die in den nächsten 25 Jahren soweit das vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grund- gezahlt werden sollen, alle fünf Jahre zu überprüfen. lagen bezüglich Entschädigungs-, Opfer- und Regress- (Beifall bei der FDP) fragen überhaupt möglich war. Ich glaube, es war drin- gend erforderlich, dass wir dieses Gesetz auf den Eine Anmerkung zum Antrag der Linken: Die FDP Prüfstand gestellt haben. Ich spreche in diesem Zusam- lehnt den Antrag der Linken ab, der unter anderem eine menhang immer von drei Schritten. sofortige weitere Erhöhung der Conterganrenten vor- sieht. Man muss dazu wissen, dass die Conterganrenten Wir haben die Rente im letzten Jahr verdoppelt. Na- zum 1. Juli 2008 um 100 Prozent angehoben wurden. türlich gab es Anfragen, warum wir sie nicht versechs- facht haben; schließlich gebe es in anderen Staaten mehr (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Trotzdem ist es Rente als bei uns. Ich denke, Vergleiche mit anderen die niedrigste Rente in Europa!) Staaten hinken immer dann, wenn man deren Sozialsys- Das war eine gute Erhöhung, die den Contergangeschä- teme und deren Sozialleistungen nicht in Betracht zieht. digten auch in den nächsten Jahren zugutekommt; Frau Falk hat es schon gesagt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Ina Lenke [FDP]) Ich habe noch einen kurzen Satz zur Besetzung der zwei Geschäftsführerpositionen zu sagen: Wir haben Wir haben in der Bundesrepublik ein sehr ausdiffe- vorgeschlagen, dass bei gleicher Eignung und Qualifika- renziertes, für die Anspruchsberechtigten oftmals fast tion für diese Position Contergangeschädigte ausgewählt nicht durchschaubares System der Sozialleistungen. Die werden. Das ist meines Erachtens nicht nur eine Frage Leistungen sind in zwölf Sozialgesetzbüchern geregelt. der Gerechtigkeit, sondern von grundsätzlicher Bedeu- Eigentlich stellt das Sozialrecht alle Leistungen zur Ver- tung. fügung. Das heißt, man hat einen Anspruch auf Leistun- gen gemäß den Sozialgesetzbüchern, und zwar unabhän- Deshalb legt die FDP Ihnen einen Entschließungs- gig davon, wie hoch die Conterganrente – so haben wir antrag vor. Ich bitte Sie, im Interesse der Betroffenen un- sie jetzt genannt; ich denke, es ist eingängiger, wenn serem Entschließungsantrag zuzustimmen. (B) man von monatlich eingehenden Conterganrenten (D) (Beifall bei der FDP) spricht – ist. Ich will nur einige dieser Sozialleistungen nennen: Krankenversicherung, Rentenversicherung, Ar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Pflegeversiche- Nächste Rednerin ist die Kollegin Marlene rung, Sozialhilfe, Recht auf Rehabilitation. Manchmal Rupprecht, SPD-Fraktion. gibt es Schwierigkeiten, weil ein Sachbearbeiter vor Ort, dem ein Antrag eines Betroffenen vorgelegt wird, nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der weiß, dass die Conterganrente nicht auf Sozialleistungen CDU/CSU) angerechnet werden darf. Aufgrund der Tatsache, dass die Conterganrente in Deutschland nicht auf Sozialleis- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): tungen angerechnet wird, können wir die Situation in Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Deutschland nicht mit der in anderen Staaten verglei- Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße chen, wo mit den Renten, die gezahlt werden, alle Be- auch die Besucherinnen und Besucher, die selbst betrof- dürfnisse abgedeckt werden müssen. fen sind. Wir haben – Frau Falk hat es gesagt – andert- halb Jahre miteinander verhandelt. Wir haben versucht, Ich würde allerdings nicht sagen, dass es damit jetzt uns an eine Forderung zu halten, die oft an Politiker ge- ein für allemal gut ist. In einem zweiten Schritt haben stellt wird – „Suchet der Stadt Bestes“, so steht es in der wir einen Antrag verabschiedet. Ich habe mir noch ein- Bibel –: Wir haben versucht, die Anliegen der Menschen mal angeschaut, welchen Auftrag wir damit erteilt ha- ernst zu nehmen, sie in Gesetzgebung umzusetzen und ben. Vieles davon haben wir inzwischen auf den Weg geeignete Maßnahmen zu ergreifen. gebracht. Ein wichtiger Aspekt sind die Forschungsauf- gaben: Was sind Folge- und Spätschäden einer Conter- Frau Falk, ich möchte das, was Sie gesagt haben, auf- ganschädigung, und wie müssen sie behandelt werden? greifen: Dafür, dass wir das so hinbekommen haben, ge- Wenn die Forschungsergebnisse vorliegen, müssen wir bührt Ihnen, Frau Humme, Frau Blumenthal, den Mit- die Betroffenen ansprechen – so viel Transparenz müs- arbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium, aber sen wir herstellen; das habe ich mit dem Ministerium ge- auch den Fraktionen, die dieses Thema nicht für partei- klärt – und ihnen die Ergebnisse der Forschung vorstel- politisches Gerangel genutzt haben, sondern in den An- len. In zwei bis drei Jahren, je nachdem, wann das hörungen ganz ernsthaft nachgefragt haben, was nicht Ergebnis vorliegt, wollen wir das Ganze noch einmal immer der Fall ist, Dank. überprüfen und das Gesetz, das wir heute verabschieden, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eventuell nachjustieren. Zum jetzigen Zeitpunkt Dinge 24376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) zu fordern, von denen wir gar nicht wissen, ob sie pass- hineingearbeitet haben, genau wie wir ins Alter kommen (C) genau, ob sie zielgenau sind, halte ich nicht für richtig. und aus dem Beruf ausscheiden. Wir müssen – das war in unserem Antrag enthalten, den wir im Herbst vorge- Wie gesagt: Wir nehmen die Betroffenen ernst; das legt haben – dafür sorgen, dass wir genügend Ärzte be- war 1972 so überhaupt nicht vorgesehen. Das entspricht kommen, die sich in die Thematik hineinarbeiten, auch dem Leitspruch der EU zum Jahr der Behinderten: solange die anderen praktizieren und ihr Wissen weiter- „Nichts über uns ohne uns“. Wir haben gesagt: Im Stif- geben können. tungsrat muss ein Drittel der Sitze von Betroffenen be- legt sein. Diese werden durch Urwahl ermittelt. Das Es nützt nichts, wenn wir hier etwas Gutes machen heißt, alle werden angeschrieben und können Vorschläge und die Umsetzung im täglichen Leben fehlt. Damit machen. Aus den Vorschlägen können sie die Menschen Menschen wissen, zu wem sie gehen können, damit die wählen, von denen sie annehmen, dass sie geeignet sind, weiterempfohlen werden, sind Information und Bera- ihre Interessen zu vertreten. Wir wollten bewusst nicht tung ein ganz zentraler Punkt in der Stiftung, die neu die Verbandsebene als alleinige Ebene für Ansprechpart- konzipiert wird. Frau Blumenthal wird sie nachher noch ner; denn man weiß, dass es bei zwei Verbänden fünf vorstellen. Diese Beratung und Information an einer Meinungen gibt. Wir wollten die Betroffenen, die nicht Stelle zu gewährleisten, bedeutet ein völliges Umden- organisiert sind, hinzuziehen. ken. Das heißt, die Menschen können dort anrufen, wer- den informiert und erfahren eventuell auch, welche Es war ebenfalls ein ganz wichtiges Anliegen, Ärzte geeignet sind, um sie zu behandeln. dass wir die Ausschlussfrist geöffnet haben. Frau Blumenthal, wir können wirklich sagen: Wir hatten am Vieles von dem, was wir en passant gemacht haben, Anfang überhaupt keine Vorstellung, ob es machbar ist zum Beispiel die Erleichterungen beim Parken, haben und was auf uns zukommt. Zahlen und Fakten lagen uns wir auf Zuruf gemacht, nachdem die EU-Verordnung nicht vor. Wir haben nachforschen lassen; wir haben un- kam. Wir haben diese Erleichterungen mit aufgenom- tersuchen lassen. Es ist, so wie es aussieht, überschaubar. men, weil wir hierfür sofort eine Lösung finden und Wir haben im ersten Entwurf die Tür ein bisschen geöff- nicht erst auf einen Antrag warten wollten. Das haben net. Jetzt fällt die Ausschlussfrist völlig weg. Das heißt, wir ziemlich schnell und zügig umgesetzt. die Frist läuft nicht am 31. Dezember 2010 aus, sondern Wir haben eine Petition im Bundestag, was die Mit- Anträge können in den nächsten Jahren weiterhin ge- nahme eines Behindertenbegleithundes in Verkehrsmit- stellt werden, wenn Menschen entdecken, dass sie be- teln angeht. Das heißt, die Mitnahme eines Behinderten- troffen sind. Das wurde aufgrund der Anhörungen ein- begleithundes soll kostenfrei sein. Die Begleitung durch deutig und klar. einen Blindenführhund ist kostenfrei. Bei den Behinder- (B) Wir haben über die jährlichen Einmalzahlungen de- ten ist das nicht der Fall. Wir haben gesagt – ich denke, (D) battiert. Sollen wir vorneweg eine dicke Tranche geben dass man das so formulieren darf, ohne dass es abfällig und dann jährliche Einmalzahlungen? Das kann man na- wirkt –: Wir machen ein Gleichstellungsgesetz für die türlich machen. Ich hätte gern vorgesehen: dicke Tran- Hunde, chen und dann der Rest. Aber wenn Sie rechnen, sehen (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie, dass bei einer Kapitalisierung – diese nehmen wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vor; Stiftungen müssen solide angelegt sein – in der Stif- tung jährlich nicht mehr viel übrig bleibt. Ich denke, es sodass die Blindenführhunde mit den Behindertenbe- ist besser, wenn die Menschen im nächsten Jahrzehnt gleithunden gleichgestellt werden und diese als Beglei- ganz sicher jedes Jahr im ersten Quartal eine Zahlung er- tung genauso kostenlos fahren dürfen. halten. Das halte ich für richtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Damit das Geld, das in der Stiftung ist, den Conter- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gangeschädigten wirklich zugute kommt, haben wir zu- GRÜNEN) gesichert, dass die Verwaltungskosten aus dem Bundes- Das mag für den einen oder anderen eine Nebensächlich- haushalt gezahlt werden. Auch das ist ein Fortschritt. keit sein. Aber für denjenigen, der auf den Hund ange- Ich denke, viele Elemente haben den Gesetzentwurf wiesen und knapp bei Kasse ist, ist das eine wichtige geprägt. Wir wollen all den Menschen, die sich noch Entscheidung. nicht gemeldet haben und jetzt Anträge stellen, mög- Deshalb sage ich: Wenn die Regierung das, was wir lichst zügig helfen. Daher wollen wir, dass die Kommis- noch am Rande ausgehandelt haben, Information der Be- sion, die das behandelt, aufgestockt werden kann. Dies troffenen, Weitergabe der Informationen, Einladung der war bisher begrenzt und ist jetzt möglich. Das heißt, die Betroffenen, damit sie alle auf dem gleichen Sachstand Kommission der Fachleute, der Fachärzte, die die An- sind, Weitergabe der Forschungsergebnisse, umsetzt, träge beurteilen, kann nach Inkrafttreten des Gesetzes dann wird diese Transparenz dazu führen, dass auch in aufgestockt werden. den neuen Parlamenten immer rechtzeitig gegengesteu- ert wird, falls Entwicklungen eintreten, mit denen wir Unser Problem wird nicht darin bestehen, dass durch jetzt nicht rechnen. das Gesetz etwas gehemmt wird. Das Hauptproblem wird vielmehr darin liegen, ob wir genügend Fachleute Dieses Thema werden und müssen wir auch in den haben. Wir wissen inzwischen aufgrund der Behandlung nächsten Jahren begleiten. Ich hoffe, dass wir uns alle im der Betroffenen, dass die Ärzte, die sich in das Thema Haus wieder so einig sind, dass es kein parteipolitisches Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24377

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) Gezänk gibt. Vielmehr müssen wir alle schauen: Wie Ich habe kein Verständnis dafür, dass jetzt, wenn die (C) können wir am besten eine Lösung finden und dabei Ausschlussfrist aufgehoben wird, nicht rückwirkend ge- auch über den Tellerrand nach Europa schauen? Auch zahlt wird. Wieso denn nicht? Die Menschen haben ihre das steht in unserem Papier. In diesem Sinne hoffe ich Probleme seit 50 Jahren, nicht erst seit dem Tag der An- auf Ihre Zustimmung. tragstellung. Wenn Betroffene seit 1983 keine Möglich- keit hatten, Anträge zu stellen, gibt es keinen Grund, Danke. nicht rückwirkend zu zahlen. Das kostet natürlich etwas; (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) aber entweder wir reden von Würde, oder wir reden von Geld; beides passt nicht zusammen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der nächste Punkt. Sie sind jetzt freundlicherweise bereit, ein Drittel der Plätze in den Stiftungsgremien für Nächster Redner ist der Kollege Ilja Seifert, Fraktion die Betroffenen zu reservieren. Was heißt denn „Nichts Die Linke. über uns ohne uns“? Es heißt, die Betroffenen müssten (Beifall bei der LINKEN) mindestens die Hälfte der Sitze, also das Sagen in der Stiftung haben. Das wäre Selbstbestimmung. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Die Betroffenen können Fehler machen, natürlich. Sie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe haben selbstverständlich das gleiche Recht wie jeder an- Kolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, Sie haben dere, Fehler zu machen. Wenigstens würden sie ihre ei- es immer noch nicht begriffen. Es geht eben nicht da- genen Fehler machen, anstatt dass Beamte – die sich rum, dass wir irgendetwas für die Behinderten tun, son- möglicherweise noch selber kontrollieren sollen – in der dern es geht darum, dass man sie selber etwas tun lässt. Stiftung das Sagen haben. (Beifall bei der LINKEN) Ihr Dank am Anfang Ihrer Rede war ziemlich dane- ben. Sie haben nicht den Kolleginnen und Kollegen hier Das Menschenbild, das Ihrer Konzeption zugrunde und erst recht nicht den Beamten im Ministerium zu dan- liegt, ist immer noch das der Fürsorge – etwas für andere ken, die irgendetwas für die Contergangeschädigten tun. zu machen – und nicht das der Selbstbestimmung. Vielmehr haben Sie denjenigen zu danken, die uns ge- zwungen haben, endlich etwas zu tun, die nicht müde (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ich werden, uns zu zeigen, wo es langgeht. Nicht wir müs- spreche Ihnen ab, dass Sie mein Menschenbild sen die anderen informieren, wie ihr Leben ist, sondern kennen, Herr Seifert!) (B) wir müssen uns von ihnen informieren lassen, wie ihr – Ich spreche jetzt nicht von Ihnen persönlich, Frau (D) Leben aussieht, damit wir wissen, was wir zu tun haben. Rupprecht, ich rede jetzt von dem Konzept, das dem Ge- setzentwurf der Koalition zugrunde liegt. (Ina Lenke [FDP]: Das haben wir doch!) Lassen Sie Revue passieren, was die Betroffenen ge- So wird ein Schuh daraus. sagt haben. Sie haben gesagt: Lasst uns wenigstens sel- (Beifall bei der LINKEN – Marlene Rupprecht ber entscheiden, ob wir einen Einmalbetrag oder ob wir [Tuchenbach] [SPD]: Herr Seifert, das war das Geld über 25 Jahre oder wie viele Jahre auch immer nicht notwendig!) ausgezahlt bekommen möchten. Nicht einmal das konn- ten Sie. Wir feiern in diesen Tagen den 60. Jahrestag des Grundgesetzes. In Art. 1 steht – das ist das Allerwich- Wir machen mit unserem Änderungsantrag – dem Sie tigste; das sollten wir nie vergessen –, dass die Würde je- nachher zustimmen können – den Vorschlag, Betroffe- des Menschen unantastbar ist. Das ist verteidigungs- und nen die Summe wenigstens kapitalisieren zu lassen, ähn- schützenswert. Aber als Contergan in den Handel kam, lich wie das mit der monatlichen Conterganrente mög- galt das Grundgesetz schon, auch das Würde-Konzept. lich ist. Das wäre kein Problem, die Voraussetzungen Damals hat ein jämmerliches Gezerre stattgefunden. Das wären schon vorhanden. Doch das soll, wie ich gestern war ein Versagen auf allen Seiten: Die Firma hat versagt, im Ausschuss erfahren habe, nicht gehen, weil die Firma die Pharmaindustrie insgesamt hat versagt, die Justiz hat Grünenthal die 50 Millionen Euro nicht als Spende, son- versagt, die Politik hat versagt. Es gibt noch nicht einmal dern als Zustiftung gibt. eine Entschuldigung. Damals ist ein Vertrag geschlossen Seit anderthalb Jahren bekommt die Firma Grünenthal worden, der sittenwidrig ist. Wir müssen jetzt retten, was jede Woche kostenlos Werbung, weil immer gesagt wird: zu retten ist. Die sind großzügig und geben noch mal 50 Millionen Euro. Dass Grünenthal davon jede Menge absetzen Wir werden dem Gesetzentwurf selbstverständlich kann, davon wird nicht geredet, auch nicht davon, dass zustimmen, auch wenn es nur kleine Verbesserungen für das Geld seit anderthalb Jahren aussteht. Dass jetzt aus- die Betroffenen gibt. Es wäre lächerlich, wenn wir das gerechnet die Verursacher dieser Behinderungen auch nicht täten. Aber wenn wir das Würde-Konzept und das noch darüber bestimmen können, wie das Geld ausgege- Konzept der Teilhabe-Orientierung der UNO-Konven- ben wird, das sie angeblich den Conterganopfern zur tion wirklich ernst nähmen, dann, liebe Frau Rupprecht Verfügung stellen, finde ich mehr als pervers. und liebe andere Kolleginnen und Kollegen, würden wir ganz andere Dinge entscheiden, und zwar schon heute. (Beifall bei der LINKEN) 24378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Ilja Seifert (A) Lassen Sie uns Selbstbestimmung ernst nehmen! Las- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) sen Sie die Betroffenen entscheiden, und Sie werden se- SES 90/DIE GRÜNEN) hen: Sie werden gut entscheiden. Als zweiten Punkt möchte ich die sogenannte Aus- (Beifall bei der LINKEN) schlussfrist exemplarisch herausgreifen. Es geht um den Fall, dass sich jetzt nachträglich Personen melden, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: festgestellt haben, dass etwa ihre inneren Organe Schä- digungen durch Contergan erlitten haben, von denen sie Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, bislang nichts wussten. Es gab durchaus einige Geschä- Bündnis 90/Die Grünen. digte, die schon in der Vergangenheit Leistungen bean- tragt hatten, aber mit Verweis auf die Ausschlussfrist Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): keine Leistungen bekommen haben. Diese können sich Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und jetzt wieder melden. Das ist gut so. Aber warum erhalten Herren! Lieber Ilja Seifert, die Kolleginnen und Kolle- sie die entsprechende Entschädigung nur ab dem Zeit- gen der Großen Koalition kann man sicherlich in vielem punkt der Antragstellung und nicht wenigstens ab dem kritisieren; aber eines kann man ihnen im Zusammen- Zeitpunkt der Erstantragstellung, als sie damals nicht be- hang mit diesem Gesetzgebungsverfahren nicht vorwer- rechtigt waren? Ich kann nicht nachvollziehen, warum fen: dass sie den Austausch, das Gespräch, den Kontakt Sie an dieser Stelle so kleinlich sind. mit den Contergangeschädigten nicht gesucht hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das muss man zur Ehrenrettung einmal sagen. Ich denke auch, dass die Haftungsnachfolge eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirklich wichtige Sache für die Contergangeschädigten und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- ist. Die Gesamtsumme ist überschaubar. Ich will den ten der SPD und der FDP) Vergleich mit der Bankenkrise jetzt nicht überstrapazie- Die Kolleginnen und Kollegen sind den Wünschen ren, aber dort geht der Staat voll ins Risiko, und er haftet oder dem Rat der Contergangeschädigten natürlich nicht mit ungleich höheren Summen. Ich finde, an dieser in allen Punkten gefolgt. Ich werde nachher einige Stelle sollte man eindeutig für die Menschen handeln, Punkte nennen, die wir anders sehen, als es nun im Ge- die sich ihre Situation nun wahrlich nicht selbst ausge- setzentwurf vorgesehen ist; das ist ja der Grund, warum sucht haben. wir uns enthalten. Aber dass es diesen Austausch gege- Lassen Sie mich abschließend noch sagen: Ich finde, ben hat, sollte man, finde ich, nicht in Abrede stellen. die Spätfolgen müssten bei einer Neubegutachtung und (B) Der vorliegende Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur einer anderen Festsetzung der Entschädigungssumme ei- (D) Änderung des Conterganstiftungsgesetzes weist zweifel- gentlich auch berücksichtigt werden. Frau Rupprecht, los eine ganze Reihe von Verbesserungen auf, etwa dass Sie haben die Forschung angesprochen. Ich setze meine die Ausschlussfrist gestrichen worden ist und dass der Hoffnung darauf, dass wir hier zu einem anderen Bewer- Stiftungszweck geändert worden ist: dass das Stiftungs- tungsmaßstab kommen werden, wenn die Ergebnisse in vermögen jetzt ausschließlich den Contergangeschädig- der nächsten Legislaturperiode vorliegen werden. ten zugutekommt. Auch die Dynamisierung ist im Ich halte diesen Weg auch für systematisch sinnvoller, Grundsatz sinnvoll, ebenso die Regelung für die Urwahl als alle fünf Jahre erneut zu schauen, Frau Lenke, wie der Vertreter der Contergangeschädigten im Stiftungsrat. der Unterstützungsbedarf aussieht. Es handelt sich ja Ich finde, das muss man ganz klar auf der Habenseite nicht um eine Sozialleistung im klassischen Sinne. Frau verbuchen, und das sollte man auch nicht kleinreden. Rupprecht, insofern sollte man das auch nicht mit den Allerdings denke ich, dass Sie trotz der Schritte in die anderen Sozialleistungen in unserem System verglei- richtige Richtung an verschiedenen Stellen leider etwas chen. Man muss sich immer klarmachen: Das ist eine halbherzig handeln. Ich will das einmal an zwei Beispie- Entschädigung. len herausstellen. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Tue ich auch nicht! Sie sind additiv!) Zum einen geht es um die Dynamisierung. Es handelt sich bei der Conterganrente nicht um eine Rente, die mit Ich finde, diese Entschädigung muss man ins Verhältnis der gesetzlichen Rente vergleichbar ist, sondern um eine zu dem entstandenen Schaden setzen, sodass wir syste- Entschädigungszahlung, die aufgrund der Haftungsnach- matisch sauber und auch transparent weiterhin im Sinne folge der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist. der Betroffenen arbeiten. Ich denke, da es sich um eine Entschädigungszahlung handelt, sollte man bei der Dynamisierung nicht der ge- Vielen Dank. setzlichen Rente folgen. Die Anpassung der gesetzlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rente ist zum Beispiel politisch durch den Nachhaltig- keitsfaktor, das Verhältnis von Beitragszahlenden zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Rentnern, und den Riester-Faktor für den Aufbau der Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin privaten Ergänzungsversorgung beeinflusst. All dies Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion. sind Dinge, die innerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung zu bewerten sind, systematisch aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Marlene nichts mit einer Entschädigungszahlung zu tun haben. Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24379

(A) Antje Blumenthal (CDU/CSU): Der Stiftungsrat fungiert als Kontroll- und Aufsichts- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe organ und entscheidet über grundsätzliche Fragen, die Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich, dass der Vorstand dann auszuführen hat. Die Stiftung kann so wir heute hier den Gesetzentwurf verabschieden können. effizienter und wirkungsvoller arbeiten. Ich darf aber Ich bin stolz auf das Erreichte, und ich möchte mich dem auch hierbei auf die in der Anhörung vertretene Auffas- Dank, der hier schon ausgesprochen worden ist, an- sung zweier Sachverständiger hinweisen. Beide haben schließen. die Nachteile verdeutlicht, die eine vollständige Vertre- tung von Betroffenen – das heißt eine Selbstverwaltung – Im besonderen Maße möchte ich aber natürlich beinhaltet. Marlene Rupprecht danken; denn was wir beide mit- einander ausgehandelt haben, das durch Frau Humme Der Stiftungsexperte gab zu bedenken, dass bei dieser und Frau Falk mit Erfolg weitergetragen wurde, ist, so Lösung von staatlicher Seite den Betroffenen alles selbst denke ich, nicht ganz selbstverständlich. Gerade in Zei- überlassen würde und so der Staat – das heißt die Politik – ten eines beginnenden Wahlkampfes zeigt das ja auch, die Verantwortung abwälzen könnte. Außerdem wies er dass es möglich ist, sich zu verständigen und eine wich- darauf hin, dass die Selbstverwaltung dem Stiftungsge- tige Sache einvernehmlich auf den Weg zu bringen und danken fremd ist. vor allen Dingen auch abzuschließen. Ich denke, das ist Weiter sehe ich es als eine Bereicherung an, dass Wis- sehr wichtig. senschaftler im Stiftungsrat vertreten sein werden. Mit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ihrem Fachwissen können sie zum Beispiel helfen, auf gesundheitliche Probleme der contergangeschädigten Herr Dr. Seifert, damit Sie auch beruhigt sind, möchte Menschen zu reagieren und bei der Entwicklung von ich auch den Betroffenen, den Verbänden und den Orga- Hilfen zu beraten. Besonders für den Forschungsauftrag, nisationen für die guten Anregungen bzw. die Kritik, die der noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ist sie an uns weitergegeben haben, danken. ihr Wissen sehr hilfreich. Uns erreichen immer noch täglich Zuschriften, in de- Aber auch bei der Gestaltung des Forschungsauftrags nen uns die verschiedenen Nöte und Bedarfe geschildert werden die Betroffenen einbezogen. In der Anhörung hat werden. Deshalb bin ich froh, dass wir bei der Anhörung der Bundesverband Contergangeschädigter e. V. von ei- am 4. Mai noch einmal die Möglichkeit hatten, uns mit ner Arbeitsgruppe berichtet, die sich aus Vertretern der den Betroffenen und den Sachverständigen auszutau- Landesverbände zusammengefunden hat und die Be- schen und weitere Impulse zu erhalten. Die Ergänzungen dürfnisse und Erwartungen der Betroffenen zusammen- zu unserem Gesetzentwurf haben Frau Falk und Frau tragen wird. Die Ergebnisse werden zusammen mit dem (B) (D) Rupprecht bereits erläutert und begründet. Familienministerium ausgewertet und in den For- schungsauftrag integriert. Wir hatten eine diskussionsreiche Zeit, die jetzt ein Ergebnis hervorbringt, das zeigt: Wir haben die Pro- Schon in der Anhörung im letzten Jahr wurde über bleme der Conterganopfer ernst genommen, uns damit den Begriff der sogenannten monatlichen Leistungen auseinandergesetzt und Änderungen an dem vorliegen- diskutiert, wie er im ursprünglichen Gesetzentwurf zu den Gesetzentwurf vorgenommen. finden ist. Die meisten Betroffenen haben den bisherigen Begriff Rente kritisiert. Die Abgrenzung gegenüber Um den Betroffenen zu signalisieren, dass wir die Ge- Leistungen nach anderen Gesetzen war nicht deutlich spräche und den Austausch nicht abreißen lassen wollen, genug und bereitete oft genug Probleme bei der Beantra- haben wir beschlossen, den Stiftungsrat mit zwei conter- gung von weiteren Hilfsmitteln durch die fehlerhafte gangeschädigten Vertreterinnen oder Vertretern zu beset- Anrechnung dieser Leistungen. zen. Dadurch können sie direkt ihre Belange kommuni- zieren und an notwendigen Verbesserungen mitarbeiten. Wir hatten deshalb in unserem Gesetzentwurf zu- nächst den Begriff „monatliche finanzielle Unterstüt- Die Betroffenen können sich selbst oder eine Kandi- zung“ vorgeschlagen. Die Betroffenen – das hat die An- datin bzw. einen Kandidaten für den Stiftungsrat vor- hörung gezeigt – wünschen sich jedoch eine deutlichere schlagen und per Urwahl bestimmen, wer dann ihre Inte- Begriffsbestimmung, die klarstellt, dass sie Leistungen ressen vertreten wird. Ich bin gespannt, wie die nach dem Conterganstiftungsgesetz erhalten und dass Betroffenen dieses neue Verfahren nutzen werden. diese Leistungen anrechnungsfrei sind. Deshalb haben wir jetzt den Begriff Conterganrente gewählt und die Auch im Stiftungsvorstand wird eine leistungsberech- Anrechungsfreiheit noch einmal herausgestellt. tigte Person vertreten sein. Forderungen nach einer pari- tätischen oder vollständigen Besetzung des Stiftungs- Meine und die von meinen Vorrednern und Vorredne- rates mit Betroffenen sind sicherlich vonseiten der rinnen aufgeführten Beispiele zeigen, dass wir in kurzer Betroffenen nachvollziehbar, aber ich denke, eine wei- Zeit – das heißt seit unserer letzten Anhörung – eine tere Beteiligung von Ministeriumsvertretern im Stif- Menge geschafft haben. Wir haben den Betroffenen zu- tungsrat bindet die Politik direkt in die Beratungen ein gehört und ihre Kritik und Änderungswünsche in unsere und entlässt sie somit nicht aus ihrer Pflicht. Beratungen einbezogen. Trotzdem haben einige das Ge- fühl, wir würden den Gesetzentwurf zu schnell verab- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schieden. Wenn wir aber eine Ausschüttung der Grünen- der SPD) thal-Gelder noch in diesem Jahr wollen, dann müssen 24380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Antje Blumenthal (A) wir den Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- (C) verabschieden. antrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und des Bündnis- Ein weiterer sehr entscheidender Punkt ist: Die leis- ses 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken abgelehnt. tungsberechtigten Conterganopfer nehmen durch die zügige Verabschiedung des Gesetzentwurfs an der Ren- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- tenerhöhung, die zum 1. Juli 2009 erfolgen wird, auto- empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, matisch teil; denn wir haben festgeschrieben, dass die Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Conterganrenten an die gesetzlichen Renten angepasst Linke mit dem Titel „Soforthilfe zur Teilhabe-Ermögli- werden. Dadurch steigen die Conterganrenten ebenfalls chung für Conterganbetroffene“. Der Ausschuss emp- zum 1. Juli. Deshalb müssen wir den Gesetzentwurf fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf heute verabschieden. Drucksache 16/13025, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11639 abzulehnen. Wer stimmt Diese Entwicklung hat bei den Debatten und der Dis- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – kussion über unseren Antrag vor einem Jahr niemand für Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den möglich gehalten. Aber wir haben es geschafft. Ich Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim- möchte den Betroffenen versichern, dass wir mit der men der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bünd- heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes das nis 90/Die Grünen angenommen. Thema „Contergan“ nicht abschließen. Uns ist bewusst, dass die contergangeschädigten Menschen weiter unsere Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: Hilfe benötigen und wir, die Politik, weiter unserer Ver- antwortung nachkommen werden. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer Vielen Dank. Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ursachen und Folgen von Armut bei Kindern und Jugendlichen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Drucksachen 16/7582, 16/9810 – Ich schließe die Aussprache. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen zur Abstimmung über den von den richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Frauen und Jugend (13. Ausschuss) Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Con- (B) terganstiftungsgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Se- – zu dem Antrag der Abgeordneten Miriam (D) nioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13025, den Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12413 in der Ausschussfassung Existenz von Kindern sichern – Familien anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der stärken Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, wei- sache 16/13030? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von NIS 90/DIE GRÜNEN SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. Kein Kind zurücklassen – Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Stimmen der Linken, SPD, CDU/CSU und FDP bei Ent- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haltung der Grünen und einer Gegenstimme bei Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. Bessere Unterstützung für Alleinerziehende Dritte Beratung – Drucksachen 16/9433, 16/9028, 16/10257, 16/12201 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Berichterstattung: Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Abgeordnete Ingrid Fischbach wurf ist damit in der Schlussabstimmung mit dem glei- Wolfgang Spanier chen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung an- Miriam Gruß genommen. Diana Golze Ekin Deligöz Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13031. Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer Linke zur Großen Anfrage vor. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24381

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Lachen der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/ (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die CSU]) Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Auch wenn es der Union nicht passt: Sie waren schließ- lich diejenigen, die im Vorfeld Kinder im Hartz-IV-Be- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- zug nicht beim Abitur unterstützen wollten. gin Diana Golze, Fraktion Die Linke. (Zuruf von der LINKEN: Genauso ist es!) (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung verharmlost das Ausmaß der Diana Golze (DIE LINKE): Kinderarmut, leugnet ihren permanenten Anstieg und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen agiert mit Zahlen, die schlicht und ergreifend falsch sind. und Herren! Letzten Sommer habe ich in Brandenburg Wenn die Familienministerin schon ein Kompetenzzen- eine Gruppe von Kindern begrüßt, die das erste Mal in trum für familienbezogene Leistungen einrichtet, dann ihrem Leben in einem Ferienlager waren. Finanziert sollte sie auch auf diesen Sachverstand vertrauen; denn wurde der Aufenthalt aus Spendengeldern. Ich konnte in genau dieses Kompetenzzentrum widerlegt die Zahlen die glücklichen Gesichter der Kinder sehen. Sie kamen der Bundesregierung, die in der Antwort auf unsere aus Familien, deren knappe Haushaltskasse einen Urlaub Große Anfrage genannt werden. Nichts sehen, nichts hö- nicht zulässt. Es waren Kinder, zu deren Alltag Suppen- ren, nichts sagen – das ist der Umgang der Bundesregie- küchen, Tafeln und Kleiderkammern gehören, weil der rung mit der Kinderarmut in Deutschland. Wenn man ein ALG-II-Regelsatz für eine gesunde Ernährung und für Problem nicht wahrnehmen will, dann will man es auch Kinderkleidung nicht reicht. nicht lösen. Von all diesen Dingen scheint die Bundesregierung Was haben Sie denn wirklich getan? Noch immer gibt aber nicht viel zu wissen oder wissen zu wollen; denn es keine eigenständigen Kinderregelsätze. Warum auch? die häufigste Antwort auf unsere Fragen in der Großen Wer Kindern keine eigenständigen Rechte im Grundge- Anfrage lautet: Dazu liegen der Bundesregierung keine setz zugestehen will, der will auch ihren eigenständigen Erkenntnisse vor. Bedarf nicht absichern. Sie haben das Kindergeld um (Zuruf von der LINKEN: Eine unwissende sage und schreibe 10 Euro erhöht. Dies gleicht aber nicht Regierung!) einmal annähernd den Wertverlust der letzten Jahre aus. Zudem erreicht diese Erhöhung die armen Kinder über- Schlimmer noch, ich glaube, Sie hatten nie vor, die Zu- haupt nicht; denn das Kindergeld wird auf Hartz IV an- (B) stände ändern zu wollen. Im Koalitionsvertrag findet gerechnet. Unser Antrag, wenigstens diese Erhöhung (D) man das Wort „Kinderarmut“ sage und schreibe ein Mal. von der Anrechnung auszunehmen, wurde vom ganzen Auf Seite 118 heißt es: „Wir wollen materielle Kinderar- übrigen Haus abgelehnt. Obendrein haben Sie den An- mut reduzieren …“ Immerhin! Das Abschlusszeugnis spruch auf Kindergeld um zwei Jahre gekürzt. Volljähri- für die Regierungsarbeit fällt aus Sicht meiner Fraktion gen ALG-II-Beziehenden unter 25 haben Sie dann auch aber denkbar schlecht aus. Die schwarz-rote Untätigkeit noch das Recht auf eine eigene Wohnung genommen. hat dramatische Auswirkungen auf das Leben und die Aus dem Konjunkturpaket bekommt eine ganze Schul- Zukunft von mindestens 2,5 Millionen Kindern und Ju- klasse Neunjähriger zusammen so viel Förderung wie gendlichen, die der Bundesregierung und der Bundes- ein neun Jahre altes Auto. Das sind Ihre Prioritäten. familienministerin in Sonntagsreden zwar immer wieder einfallen, danach allerdings schnell wieder vergessen Dieser Bundesregierung kann ich kurz vor Ende die- sind. ser Legislaturperiode nur ein Armutszeugnis ausstellen. Sie ist ein Armutsrisiko für Familien mit Kindern. (Beifall bei der LINKEN) Im Vorspann der Antwort der Bundesregierung auf (Beifall bei der LINKEN) unsere Große Anfrage zum Thema Kinderarmut heißt es: Ich bin mir sicher, dass Sie alle unsere Forderungen, die Armut und soziale Ausgrenzung von Familien und Sie in unserem Entschließungsantrag finden, wie immer Kindern sind aus Sicht der Bundesregierung bedeu- mit Populismus, Wünsch-dir-was-Listen und Ähnlichem tende Probleme, die insbesondere für den Zusam- abtun werden. Aber mit unseren Forderungen nach einer menhalt und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft spürbaren Erhöhung und Verbesserung des Kinderzu- von großer Relevanz sind. schlags, einem bedarfsbezogenen Kinderregelsatz im Arbeitslosengeld II, der Einführung eines Mindestlohnes Das liest sich zunächst wunderbar. Diese Bundesregie- und der deutlichen Beschleunigung des Ausbaus von Ta- rung hat aber eine Politik verfestigt, die eine ganze Be- gesbetreuungsplätzen für alle Kinder stehen wir in dieser völkerungsgruppe außen vor lässt. Den letzten traurigen Gesellschaft nicht allein. Gewerkschaften, Kinderrechts- Beweis dieser Ausgrenzungspolitik hat die Große Koali- verbände und andere stehen an unserer Seite. tion mit dem Schulbedarfspaket geliefert. Diese Unter- stützung für Schülerinnen und Schüler sollte anfangs nur Ich sage: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit beim bis zur 10. Klasse ausgezahlt werden. Die Erweiterung Zuhören, aber nicht für die Arbeit gegen Kinderarmut. auf die Abiturstufe ist letztlich auch auf unseren Druck hin erfolgt. (Beifall bei der LINKEN) 24382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: alle in einer Bedarfsgemeinschaft Lebenden eine ausrei- (C) Ich gebe das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach, chende Absicherung haben, dann haben auch die Kinder CDU/CSU-Fraktion. diese Absicherung und sind nicht von Kinderarmut be- droht. Deshalb geht Kinderarmut hauptsächlich auf die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Armut der Eltern zurück. Deren Armut müssen wir be- kämpfen. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesem Zusammenhang ist das Stichwort Arbeits- Frau Golze, Ihre Rede gerade hat deutlich gemacht, dass losigkeit zu erwähnen: Die Senkung der Arbeitslosigkeit Sie nicht verstanden haben, wo unsere Ansätze sind, um ist unser Hauptanliegen. Ich will jetzt keine Belege für Kinderarmut zu bekämpfen. das bringen, was unsere Regierungskoalition auf den Weg gebracht hat. Kinderarmut hat etwas mit Familienarmut zu tun. Das ist in Ihrer Rede überhaupt nicht vorgekommen. Kinder- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- armut hat etwas mit der finanziellen, emotionalen und NEN]: Was ist denn mit dem Mindestlohn? kulturellen Situation von Familien zu tun. Nur wenn wir Dazu können Sie doch auch etwas sagen!) das erkennen, haben wir die Möglichkeit, Kinder aus der Man kann allerdings eines sagen: Bis zum Eintreten der Armutsfalle – da ist Ihre Sorge berechtigt – herauszuho- von niemandem vorhergesagten Wirtschaftskrise haben len. Aber davon haben Sie überhaupt nicht gesprochen. wir die Arbeitslosigkeit so deutlich gesenkt wie noch (Diana Golze [DIE LINKE]: Weil Sie vom nie. Mindestlohn nichts hören wollen!) (Widerspruch des Abg. Jörn Wunderlich [DIE Das zeigt mir, dass Sie in dem Wünsch-dir-was-Pro- LINKE]) gramm, das Sie angekündigt haben, verharren. Das heißt, 1,5 Millionen Menschen sind aus der Arbeits- Worin drückt sich aus, dass Sie, die Linken, als losigkeit herausgekommen, Herr Wunderlich. Fakten Wünsch-dir-was-Trupp gesehen werden? Sie stellen und Zahlen müssen auch Sie anerkennen. Es kam zu ei- zwar ständig Forderungen – sie sind an der einen oder nem Plus von 1,4 Millionen sozialversicherungspflichti- anderen Stelle vielleicht gar nicht verkehrt –, bleiben gen Arbeitsplätzen. aber immer die Antwort schuldig, wie das Ganze finan- (Beifall bei der CDU/CSU) ziert werden soll. Eine Milliardenforderung nach der an- deren aufzustellen, das können wir auch. Wir wollen Der beste Weg, Kinderarmut zu bekämpfen, ist also, aber für eine Politik eintreten, die umgesetzt werden Eltern in Arbeit zu bringen, es ihnen zu ermöglichen, (B) kann – – selber für ihren Unterhalt Sorge zu tragen. Dafür zu sor- (D) gen, das ist unsere Reaktion auf Kinderarmut. Den ersten (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ver- Schritt auf diesem Weg sind wir gegangen. Ich gebe zu: mögensteuer! Spitzensteuersatz! Börsenum- Durch die Wirtschaftskrise haben wir jetzt Probleme. satzsteuer!) Aber auch diese Probleme werden wir angehen und lö- – Sie können eine Zwischenfrage stellen; dann gehe ich sen. auf Sie ein. So lasse ich mich nicht darauf ein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich rate Ihnen: Gehen Sie doch einmal die wirklichen Von Kinderarmut besonders betroffen sind Familien Ursachen an. Dann können wir gemeinsam etwas dage- gen tun, dass Kinder in die Armutsfalle geraten. Wir sind mit Migrationshintergrund, Mehrkinderfamilien und vor uns einig: Das wollen wir nicht. Wir wollen den Kin- allem die Alleinerziehenden. Frau Golze, es wäre schön, wenn Sie zuhörten; sonst wissen Sie gleich wieder nicht, dern, die in die Armutsfalle geraten sind, heraushelfen. was die Regierung getan hat, um mit diesem Problem (Beifall bei der CDU/CSU) fertig zu werden. Wir haben einiges getan, um die Situa- tion der Alleinerziehenden zu verbessern. Wir haben Dafür werden wir etwas tun, und dafür haben wir etwas dem Kinderzuschlag, der unter Rot-Grün eingeführt getan. worden ist, vom Ansinnen her zugestimmt. Bei seiner Wir, Union und auch Koalition, sind uns darüber ei- Einführung haben wir gesagt: Der Kinderzuschlag ist zu nig, dass Kinderarmut Familienarmut ist, dass diese Ar- kompliziert; zu wenige kommen in den Genuss dieses mut aber nicht unbedingt materielle Armut ist, sondern Zuschlags. Herr Spanier, aufgrund der Evaluierungs- auch emotionale oder kulturelle, also Bildungsarmut ergebnisse haben wir bei der Reform des Kinderzuschla- sein kann. Dreh- und Angelpunkt ist die Bildung. Darauf ges die Alleinerziehenden in den Fokus gerückt. Wir ha- wird meine Kollegin Noll gleich noch eingehen. Ich ben dafür gesorgt, dass mehr Alleinerziehende in den werde mich mit dem Bereich der materiellen Armut be- Genuss des Kinderzuschlags kommen. schäftigen. Angesichts der Kürze der Redezeit werde ich Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, erkennen Sie, dass mich auf eine spezielle Gruppe konzentrieren, die von sie für sich sprechen – was hier gesagt wird, ist keine Er- Armut stark betroffen ist. findung von Frau Fischbach, die es gern schönreden Für die finanzielle Absicherung von Kindern ist unse- möchte –: Die Familienkassen berichten, dass die Zahl rer Meinung nach die finanzielle Absicherung der Fami- derjenigen, die den Kinderzuschlag beantragt haben und lien wichtig. Nur wenn es den Familien gut geht, wenn deren Anträge bewilligt worden sind, im Dezember 2008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24383

Ingrid Fischbach (A) bei rund 31,9 Prozent lag; vorher waren es 21 Prozent. sogar weniger, als wenn sie Hartz IV-Leistungen bezie- (C) Es ist also ein Anstieg zu erkennen. Der zweite Beleg ist, hen würden. Das ist keine Armutsbekämpfung. dass auch die Zahl der Kinder, deren Eltern Leistungen nach dem SGB II beziehen, im Vergleich zum Vorjahr (Beifall bei der LINKEN) um 6,8 Prozent gesunken ist. Dies geht aus den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit hervor. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Fischbach, bitte schön. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Fischbach, die Kollegin Golze möchte Ingrid Fischbach (CDU/CSU): gern eine Zwischenfrage stellen. Frau Golze, ich bin keine Mitarbeiterin im Ausschuss, sondern eine Abgeordnete. Sie sind auch eine Abgeord- Ingrid Fischbach (CDU/CSU): nete. Die Kollegin Golze hat bereits im Ausschuss sehr (Zuruf der Abg. Diana Golze [DIE LINKE]) viele Zwischenfragen gestellt und hat gerade erst gere- det. Ich würde daher meine Rede gern fortsetzen. – Ja, aber eben nicht als Mitarbeiterin. 132 000 Kinder weniger sind im Leistungsbezug des Ich bin erstaunt darüber – dies zeigt, dass es richtig SGB II verzeichnet. Diese Zahl spricht für sich. war, die Frage abzulehnen –, dass Sie sich hier hinstellen und die Einführung des Wahlrechts, also die Wahlmög- Erwerbslosigkeit der Eltern und ein geringes Einkom- lichkeiten für Alleinerziehende, kritisieren. Sie kritisie- men sind Hauptursachen für Armut. Deshalb werden wir ren, dass man sich zwischen dem Kinderzuschlag und die gute Familienpolitik, die unter Schwarz-Rot einge- dem ALG II entscheiden kann. leitet wurde, fortführen. Ich könnte jetzt noch die Erhö- hung des Kindergeldes und die Einführung des Eltern- Wenn ich mich richtig erinnere – meine Gehirnzellen gelds nennen. Am Pult blinkt es allerdings schon funktionieren noch ganz gut –, war es Ihre Fraktion, die unaufhörlich. Deshalb möchte ich an dieser Stelle alle sich in der Anhörung sehr deutlich dafür ausgesprochen bitten, sich mit den Ursachen und der Bekämpfung der und die Frage gestellt hat, wieso es beim Kinderzuschlag Ursachen zu beschäftigen und gemeinsam dafür zu sor- bisher keine Wahlmöglichkeit gibt. Herr Wunderlich hat gen, dass in unserem Land kein Kind von Armut bedroht dies angeprangert und gesagt: Wir müssen die Wahlmög- ist. lichkeit sicherstellen. – Jetzt führen wir sie ein, und Sie sagen, dass die Armen genau das nicht wollen. Sie soll- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten erst einmal Ihre Gedanken sortieren und sich überle- (B) neten der SPD) gen, was Sie wollen. Das wäre sinnvoller, als ständig (D) hin- und herzuspringen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir können belegen, dass ein Großteil der bewilligten Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Anträge von Alleinerziehenden gestellt wurde, die vom Golze das Wort. Kinderzuschlag Gebrauch machen. Das ist gut, und das ist richtig. Dass es allein ausreicht, habe ich nicht gesagt. Diana Golze (DIE LINKE): Hätten Sie vorhin zugehört, hätten Sie verstanden, dass Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Frau Fischbach, dies nur ein Aspekt ist. Sie haben gerade anerkannt, dass ich eine sehr fleißige Mitarbeiterin im Ausschuss bin. Ich möchte dennoch (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei gern auch meine Rechte im Plenum nutzen. der LINKEN)

Ich wollte Ihnen eine Frage stellen und Ihnen damit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Möglichkeit geben, mir etwas zu erklären. Ich werde Für die FDP-Fraktion gebe ich der Kollegin Ina Ihnen meine Meinung nun aber im Voraus mitteilen: Sie Lenke das Wort. haben das Instrument des Kinderzuschlags als das be- deutende Mittel im Rahmen der Armutsbekämpfung bei Alleinerziehenden gepriesen. Ist Ihnen denn be- Ina Lenke (FDP): kannt – das wollte ich Sie fragen; ich glaube aber, es ist Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2,5 Mil- Ihnen nicht bekannt –, dass der Kinderzuschlag zwar lionen arme Kinder leben in Deutschland. Frau von mehr Menschen in Anspruch genommen wird, er Fischbach sagte bereits, dass Kinder aus Zuwandererfa- aber nicht dazu führt, Armut zu verhindern? milien und Kinder von Alleinerziehenden ganz beson- ders betroffen sind. Es wird sogar ganz bewusst mit verdeckter Armut ge- arbeitet. Warum? Weil es jetzt folgendes Wahlrecht gibt: Jedes sechste Kind lebt in Armut. Das bestimmt na- Entweder die Eltern beantragen Hartz-IV-Leistungen, türlich auch den Tagesablauf dieser Kinder. Wenn ich oder sie nehmen den Kinderzuschlag in Anspruch. Viele von Armut spreche, denke ich nicht nur an das Geld, das nehmen lieber den Kinderzuschlag in Anspruch, als sich fehlt, sondern – wir wissen alle, dass es das gibt – auch den Repressalien der Argen auszusetzen. Das bedeutet an die gesellschaftliche Verwahrlosung. Sie drückt sich aber nicht, dass sie am Ende auch nur einen Cent mehr in zum Beispiel in zu wenig Aufmerksamkeit und zu wenig der Tasche haben. Viele haben mit dem Kinderzuschlag Zuwendung für die Kinder aus. 24384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Ina Lenke (A) Dass sich Armut wie ein roter Faden durch das Leben sen. Sie sind mitverantwortlich. Sie haben das unter- (C) vieler Kinder zieht, beweisen auch die Ergebnisse der schrieben. World-Vision-Kinderstudie. Es ist wirklich nicht zu fas- sen, dass im Vergleich zu wenig Kinder aus sozial be- (Beifall bei der FDP – [SPD]: nachteiligten Gruppen Gymnasien besuchen, dass Manchmal lohnt es sich, das Gesetz zu lesen, 19 Prozent dieser Kinder eine Förderschule besuchen. Frau Lenke!) Wenn das wirklich stimmt, stimmt irgendetwas nicht in Zweitens. In Deutschland werden im OECD-Ver- unserem Staat. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie es gleich verhältnismäßig hohe Finanzhilfen an Familien möglich ist, dass jemand neun oder zehn Jahre in die gezahlt. Aber kommt das Geld auch da an, wo es ge- Schule geht, aber noch nicht einmal einen Hauptschulab- braucht wird? Wir als FDP-Fraktion fordern seit fast vier schluss bekommt. Das ist zwar jetzt nicht unser Thema, Jahren, seit Beginn dieser Legislaturperiode, alle 150 fa- aber hier muss uns wirklich mehr einfallen, als das heute milienbezogenen Leistungen auf ihre Wirksamkeit und nur zu beklagen. Zielgenauigkeit zu überprüfen. Die Bundesregierung Selbst die Quote derjenigen Kinder, die regelmäßige denkt einfach nicht daran. Der Staatssekretär hat es ab- Freizeitaktivitäten außerhalb des Elternhauses und au- gelehnt. Er hat gesagt, wir könnten ja den entsprechen- ßerhalb der Schule unternehmen – das ist für Kinder den Aktenberg an Gutachten und Informationen lesen. ganz wichtig, um Neues aufzunehmen bzw. kennenzu- Was soll das denn? Es gibt ein Ministerium mit vielen lernen –, beträgt bei benachteiligten Kindern nur 47 Pro- Mitarbeitern, aber uns liegt bis heute keine Analyse vor. zent, im Durchschnitt aber 73 Prozent. Die einmalige Zahlung von 100 Euro pro Kind im Zuge des Konjunkturpakets ist schließlich der größte Witz. Auch der Bundesverband der Kinder- und Jugend- ärzte warnt vor den Folgen von Kinderarmut. Die Stu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dien zeigen: Neben den erhöhten Gesundheitsrisiken als des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Folge von Fehlernährung und Bewegungsmangel besteht LINKEN) auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für psychosomati- Drittens. Familien mit Kindern gehören steuerlich sche und psychische Erkrankungen für diese Kinder. entlastet. Durch Ihre Steuererhöhungen ziehen Sie den Liebe Kollegen und Kolleginnen, nicht die Kinder Familien aber jährlich 1 400 Euro aus den Taschen. Statt sind arm, sondern die Familien, in die sie hineingeboren jetzt aber zum Beispiel die Mehrwertsteuer bei Windeln wurden. Von daher ist es auch Aufgabe der Politik, die von 19 Prozent auf 7 Prozent zu senken, haben Sie es in wir hier in Berlin machen, den Zyklus aus vererbter Ar- dieser Legislaturperiode nur geschafft, die entspre- mut und manchmal auch aus Perspektivlosigkeit zu chende Mehrwertsteuer für Skiliftumsätze zu senken. (B) durchbrechen. Es ist ja auch keine Chancengerechtigkeit Man darf gar nicht darüber nachdenken. Nach wie vor (D) gegeben, wenn der soziale Status der Eltern über den müssen die Eltern für Windeln 19 Prozent Mehrwert- Bildungsweg von Kindern entscheidet. Hierdurch wird steuer zahlen. Das ist wirklich ein Witz; das muss man nämlich das Leben bis weit in das Erwachsenenalter hi- auch in der Öffentlichkeit einmal sagen. nein geprägt. (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Die FDP hat Vorschläge unterbreitet. Dem ersten Vor- Ich komme zum Schluss, weil ich leider schon über schlag können Sie, auch wenn er von der Opposition die Zeit geredet habe. Wir wollen den Schwerpunkt auf kommt, sicherlich zustimmen. Wir sind uns ja einig: Bil- frühkindliche Bildung legen. Ich glaube, das ebnet Al- dung, Bildung, Bildung, das ist die soziale Antwort auf leinerziehenden auch einen Weg aus der Arbeitslosig- diese drängende Frage des 21. Jahrhunderts. Kinder keit. Handeln statt reden, das muss die Devise sein. Die brauchen, weil sie im Elternhaus manchmal nicht ausrei- FDP hat in ihrem Antrag deutlich gemacht, was wir für chend Bildung erhalten, qualitativ hochwertige Kinder- richtig halten. tagesstätten, damit sie so früh wie möglich gefördert und gebildet werden. (Beifall bei der FDP) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich es empörend, dass die Große Koalition 2013 ein Betreu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ungsgeld einführen will, Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Wolfgang Spanier. (Caren Marks [SPD]: Niemals!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus und zwar für Eltern von Kleinkindern als Alternative Grübel [CDU/CSU]) zum Besuch einer Krippe. Das ist der falsche Weg. Wenn Sie, Frau Marks, jetzt sagen, Sie wollen es nicht, Wolfgang Spanier (SPD): dann kann ich Ihnen nur entgegnen: Es steht schwarz auf weiß geschrieben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Und wenn es denn ge- (Christel Humme [SPD]: Da steht: wünscht wird: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im „zum Beispiel“!) Ausschuss! Sie können nicht sagen, Sie hätten damit nichts zu tun. (Heiterkeit – Beifall der Abg. Sie haben das gemeinsam mit der CDU/CSU beschlos- [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24385

Wolfgang Spanier (A) Wir debattieren heute über die Große Anfrage und einige Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es nicht (C) Anträge. Wir sprechen nicht über konkrete Entscheidun- noch mehr sein sollte. Wir haben den Kinderzuschlag gen oder eine konkrete Maßnahme. verbessert. Das ist ein Fortschritt. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Ina Lenke [FDP]: Aber Sie haben keine Ana- Aber die Anträge sind sehr konkret!) lyse gemacht!) Deswegen bietet diese Debatte noch einmal eine Gele- Aber wir haben den Kinderzuschlag nicht – deswegen genheit, grundsätzlich etwas zu dem Thema zu sagen. stehen in unseren Wahlprogrammen auch entsprechende Formulierungen – so verbessern können, wie wir Fach- Frau Golze, bei Ihrer Rede musste ich mein ansonsten politikerinnen und Fachpolitiker uns das gewünscht ha- überbordendes ostwestfälisches Temperament zügeln. ben; das sei eingeräumt. Außerdem haben wir das Wohn- Diese Rede beinhaltete eine Reihe manchmal bösartiger geld deutlich angehoben. Das heißt, wir haben bei den Unterstellungen und polemischer Zuspitzungen. vorgelagerten sozialen Leistungen eine ganze Menge ge- (Widerspruch bei der LINKEN) tan. – Ich sage es in aller Ruhe. Ich schätze Sie als Mitarbei- Nicht erreicht worden ist allerdings etwas, was die terin im Ausschuss, bei allen Unterschieden und Diffe- Bundesfamilienministerin, die nicht anwesend sein renzen. kann, eigentlich zugesagt hatte, nämlich eine Prüfung der Effektivität aller Familienleistungen durchzuführen (Heiterkeit) und eine Bilanz zu erstellen. Ich hoffe, dass der nächste Aber wenn Sie Ihre Rede später noch einmal nachlesen, Bundestag doch noch einmal an das Thema Ehegatten- werden Sie das, was ich gerade gesagt habe, bestätigen splitting herangeht. können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bin froh, dass wir heute nicht über Statistiken DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze streiten – das machen wir sonst ganz gerne, wenn es um [DIE LINKE]) dieses Thema geht –, sondern dass es heute um die Sa- Wir sollten das Splitting nicht abschaffen, weil wir damit che geht. Es ist schon angesprochen worden, wer in ers- auch Familien treffen würden. Aber die Lösung, die wir ter Linie vom Armutsrisiko betroffen ist: Frauen, Allein- jetzt haben, ist auf Dauer einfach nicht haltbar. Sie birgt erziehende und Kinder. Deswegen ist die Feststellung, so viele Widersprüche, dass wir uns dieses Themas noch dass Armut weiblich und jung ist, voll zutreffend. einmal annehmen müssen. Dann hätten wir auch mehr (B) Wir sind uns auch einig über die Ursachen: Arbeitslo- finanzielle Möglichkeiten, Leistungen, die Kindern und (D) sigkeit, vor allen Dingen wenn sie langanhaltend ist, die Familien direkt zukommen, zu verbessern. Situation als Alleinerziehende und auch Ereignisse im Zu den Regelsätzen. Wir unterscheiden bei den Kin- Leben wie schwere Krankheiten, die einen aus der Bahn dern drei Gruppen. Für die 6- bis 13-Jährigen haben wir werfen können. die Regelsätze kräftig angehoben. Auch das Schulbe- Wenn wir über die Vermeidung und Bekämpfung von darfspaket sollte man in diesem Zusammenhang nicht Armut und – diese Ergänzung ist wichtig – sozialer Aus- kleinreden. grenzung sprechen, dann müssen wir natürlich bei den (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ursachen ansetzen. CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es stellt einen ganz entscheidenden Fortschritt dar, weil Wir müssen sehen, welche Möglichkeiten und Grenzen bei der Ermittlung der Regelsätze Bildung nicht die dieses Parlament hat. Nicht nur die Arbeitslosigkeit, son- Rolle gespielt hat, die ihr eigentlich zukommt. Die Re- dern auch die rasante Entwicklung im Niedriglohnsektor gelsätze sollten vom nächsten Bundestag noch einmal hat sicherlich dazu beigetragen, dass mehr Menschen überprüft und überdacht werden. Den Grundgedanken, vom Armutsrisiko betroffen sind. Deswegen ist die dabei bedarfsorientiert vorzugehen, halte ich persönlich Frage des Mindestlohns an dieser Stelle eine ganz ent- grundsätzlich für richtig. Man kann die Verbrauchsstich- scheidende. probe auch so gestalten, dass eben nicht der alleinste- hende Erwachsene der Maßstab ist, sondern Familien (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Diana mit Kindern. Das ist jetzt geschehen. Golze [DIE LINKE]) An dieser Stelle will ich noch anmerken: Das Bundes- – Ich will nicht nur loben, sondern an der einen oder an- sozialgericht – demnächst möglicherweise auch das deren Stelle durchaus auch selbstkritische Bemerkungen Bundesverfassungsgericht – hat sich gegen die Ablei- machen. – Auch das rasante Anwachsen der Zahl prekä- tung gewandt und ausdrücklich keine Aussage zur Höhe rer Beschäftigungsverhältnisse ist eine Ursache. Hier gemacht. müssen ebenfalls Korrekturen vorgenommen werden. (Diana Golze [DIE LINKE]: Eigenständige Wenn es um die finanziellen Leistungen geht, dann Berechnung!) sind die vorgelagerten sozialen Leistungen von ganz be- sonderer Bedeutung. Wir haben das Kindergeld erhöht. Das ist eine Aufgabe für den nächsten Bundestag. 24386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Wolfgang Spanier (A) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Geld in Infrastruktur. Das sollten wir auf jeden Fall ver- (C) NEN]: Wer regiert denn? Sie sagen immer meiden. „der nächste Bundestag“!) Wir brauchen in der Tat ein umfassendes Konzept, in – Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe vier Jahre Erfah- dem alle Dimensionen berücksichtigt werden. Ich ge- rung in der Opposition, sieben Jahre Erfahrung in der höre zu denen, die immer misstrauisch werden, wenn herzlichen Koalition mit Ihnen und jetzt vier Jahre Er- von großen und umfassenden Konzepten die Rede ist. fahrung in der ganz besonders herzlichen Koalition mit Von der Sache her ist das hier aber nötig. Wir Sozialde- der Union. Sie als Fachpolitiker wissen selbst, dass in ei- mokraten nennen das „Nationaler Aktionsplan“. Ich ner Koalition manches nicht durchsetzbar ist. Dieses denke – das konnte ich in allen Anträgen und auch im Spielchen sollten wir uns ersparen, Herr Kurth. Entschließungsantrag erkennen –, dass der Bundestag über alle Unterschiede und Fraktionsgrenzen hinweg in Es geht aber nicht nur um die materielle Bekämpfung diese Richtung geht. Deswegen hoffe ich, dass nach der von Armut. Es geht auch – da gebe ich Frau Lenke abso- Bundestagswahl das neu zusammengesetzte Parlament lut recht – um Bildung. Bildung ist tatsächlich der im Jahr 2010, also im Europäischen Jahr zur Bekämp- Schlüssel, um Armut zu vermeiden und die Chance zu fung von Armut und sozialer Ausgrenzung, diese umfas- bekommen, sich langfristig aus dieser Lage zu befreien. sende Strategie entwickelt. Das halte ich für sehr wich- Wir stellen bildlich gesehen Leitern auf, die es den Be- tig, damit alle Dimensionen – Einkommen, Bildung und troffenen ermöglichen, herauszuklettern. Wenn jemand Gesundheit – berücksichtigt werden. herunterrutschen sollte, dann bekommt er eine weitere Chance; denn wir helfen ihm noch einmal auf die Leiter. (Beifall bei der SPD) Das halte ich für ganz entscheidend. Auch an dieser Stelle haben wir Fortschritte gemacht. Nur dann haben wir die Chance, möglichst allen Kin- dern gleiche Lebenschancen zu geben; darum geht es. Frühkindliche Förderung ist ein ganz entscheidendes Selbst ökonomisch ist das richtig; denn wir brauchen je- Moment. Wir haben es geschafft, das Angebot an Be- des Kind. treuungsplätzen für die unter 3-Jährigen mit finanzieller Beteiligung des Bundes deutlich auszubauen. Das ist an- (Ina Lenke [FDP]: So ist es!) gesichts der Zuständigkeiten nicht selbstverständlich. Ich füge hinzu – jeder hat ja seine eigene Biografie –: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ganz besonders brauchen wir die benachteiligten Kin- der. Dass wir den Rechtsanspruch auf Betreuung durchge- setzt haben, ist ein ganz entscheidender Fortschritt. Das Herzlichen Dank. (B) (D) wird zwar nicht von heute auf morgen, aber auf mittlere (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP Sicht eine spürbare Verbesserung bringen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir haben auch die Chance, auf dem Gebiet der Inte- gration voranzukommen. Darüber haben wir in der ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sellschaftspolitischen Debatte erst sehr spät eine Ver- Ich gebe das Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bünd- ständigung erzielt. Auch da müssen wir entscheidende nis 90/Die Grünen. Schritte vorankommen. (Ina Lenke [FDP]: Aber nicht beim Betreu- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ungsgeld!) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kol- lege Spanier, Sie haben wirklich schöne Worte gefunden. – Dieses kleine Zugeständnis mussten wir machen, um Wir reden heute aber leider nicht über Ihre Wünsche, das große Ziel zu erreichen. Wie meine Kolleginnen und sondern wir diskutieren über die Antwort der Bundes- Kollegen bin auch ich absolut sicher, dass dieser Unsinn regierung auf die Große Anfrage zur Kinderarmut. Bei nicht Realität wird. Das sage ich ganz offen. diesem Thema ist die Bilanz nicht so schön, wie Ihre (Beifall bei der SPD – Caren Marks [SPD]: Worte waren. Die Bilanz ist eigentlich sehr schlecht. Singhammer ist beim nächsten Mal nicht mehr Denn in der Antwort der Bundesregierung wird deutlich, im Bundestag!) dass es in Deutschland Kinderarmut gibt, dass Kinder benachteiligt sind und dass sich die Kinderarmut verfes- Ich will zum Schluss – ich glaube, das ist wichtig – tigt. Das ist die Bilanz, über die wir reden und die wir noch einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Ein- ernst nehmen müssen. kommen, Bildung und Gesundheit – über die Gesundheit habe ich noch kein Wort verloren; man kann in neun Mi- Anstatt nach Lösungen zu suchen, Antworten zu ge- nuten nicht alles ansprechen – sind die zentralen Dimen- ben und Ideen, wie es weitergehen kann, zu entwickeln, sionen, die Armut beeinflussen. Es ist ganz entschei- verwenden Sie Ihre Energie darauf, die Lage zu beschö- dend, dass wir nicht eine dieser Dimensionen nigen und die Zahlen schönzureden; um das festzustel- herausgreifen und glauben, mit Fortschritten in diesem len, braucht man nur die Antworten der Bundesregie- Bereich das schwierige Problem der Armut lösen zu rung auf die Große Anfrage zu lesen. Das kann es nicht können. Wir dürfen diese drei Dimensionen auch nicht sein. So dürfen Sie mit diesem Thema nicht umgehen; gegeneinander ausspielen. Manchmal gab es solche An- hier haben die Kolleginnen und Kollegen von der Linken sätze: hier die materiellen Leistungen oder dort mehr wirklich recht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24387

Ekin Deligöz (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gabe ernst nehmen, und zwar nicht erst im Jahre 2013, (C) und bei der LINKEN – Wolfgang Spanier sondern schon heute? Nichts. In Ihren Antworten heißt [SPD]: Wir sind das Parlament! – Caren Marks es nur: Dieses Problem kennen wir nicht. – Das ist be- [SPD]: Du musst zum Staatssekretär gucken! schämend. Das ist die Regierung!) (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Der Ausbau Es ist an der Zeit, Klartext zu reden. Jedes sechste läuft doch jetzt an, Frau Deligöz!) Kind in Deutschland lebt in Armut; das ist eine Katastro- phe. Armut hat in Deutschland viele Gesichter. Armut Um die Kinderarmut zu bekämpfen, brauchen wir liegt nicht nur dann vor, wenn man wenig Geld hat. Es eine Existenzsicherung für Kinder. Außerdem benötigen geht auch um die Teilhabe, den Bildungshunger und da- wir die erforderliche Infrastruktur. Das muss Hand in rum, ob ein Kind mit knurrendem Magen im Unterricht Hand gehen. sitzen muss und ob es ein paar neue Sandalen bekommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – kann. Das sind die Fragen, die die Eltern von Kindern, Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ja! Das läuft die von Armut betroffen sind, beschäftigen. Diese Fra- jetzt an! Das hat aber nicht etwa Rot-Grün ge- gen sind ganz akut. schafft, sondern das haben wir geschafft!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir brauchen nicht leere Versprechen, nicht schöne sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Worte und Wunschträume; das können wir uns nicht Wir brauchen ein Umdenken. Ihr Klein-Klein bringt leisten; das ist zu wenig. Wir müssen handeln. uns nicht weiter. Übrigens hat auch das im Bundesfami- Frau Fischbach, als Sie sagten, die Große Koalition lienministerium eingerichtete Kompetenzzentrum darauf habe sehr viel für Familien getan, habe ich mich gefragt: hingewiesen, dass ein Umdenken bzw. ein Systemum- Was haben Sie denn für Familien getan? Mehrwertsteuer- schwung notwendig ist, weil das jetzige Familienfinan- erhöhung und Abwrackprämie, ist das Ihre Familienpoli- zierungssystem ehelastig und steuerlastig ist. Es ist nicht tik? transfer-, sondern steuerlastig. Wenn wir für Gerechtig- keit sorgen wollen, müssen wir diese Steuerlastigkeit (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- überwinden. Wir müssen unseren Blick weg von der De- SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – finition der Ehe und hin zur Finanzierung des Lebens mit Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Quatsch! – Kindern richten. Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Frau Deligöz, das ist für Sie ein zu niedriges Niveau!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Du musst nicht uns über- Das kann es doch wohl nicht sein. (B) (D) zeugen! Die andere Richtung!) Wir brauchen Politiker, die Mut zum Handeln haben Die Grünen schlagen vor, eine Kindergrundsicherung und nicht immer das, was da ist, schönreden. Denn einzuführen. Dazu haben wir einen Parteitagsbeschluss Schönreden heißt: weggucken und ignorieren. Genau gefasst. Wir wollen, dass für jedes Kind 330 Euro pro das können wir uns nicht leisten. Monat zur Verfügung gestellt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Gieß- und bei der LINKEN) kannenprinzip!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das ist unser Vorschlag, um das Zusammenleben mit Kindern zu finanzieren und die Armut zu bekämpfen. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Wir brauchen allerdings nicht nur eine umfangreiche Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion. Unterstützung, sondern auch die notwendige Infrastruk- (Beifall bei der CDU/CSU) tur. Jetzt komme ich auf Ihre Lösungsvorschläge zu spre- Michaela Noll (CDU/CSU): chen. Sie sagen, es gebe den Rechtsanspruch auf Kinder- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und betreuung und den Kinderzuschlag. Sie sind wirklich Kollegen! Liebe Kollegin Golze, ich wende mich zu- nicht besonders ambitioniert. Der Rechtsanspruch auf nächst einmal Ihnen zu, weil Sie die erste Rednerin zu Kinderbetreuung, den Sie festgeschrieben haben, gilt diesem Thema waren. Wenn Sie eben Frau Fischbach erst irgendwann, erst ab dem Jahre 2013. und Herrn Spanier aufmerksam zugehört haben und nicht, wie jetzt gerade, geschrieben haben, (Caren Marks [SPD]: Irgendwann? Wir haben schon bald 2010!) (Zuruf von der LINKEN: Multitaskingfähig!) Bis dahin – auch das kommt in Ihren Antworten auf die dann müssen Sie zugeben, dass die Bilanz, die die Bun- Große Anfrage sehr gut zum Ausdruck – passiert nichts. desregierung vorgelegt hat, eine wirklich gute ist. Ich werde gleich noch zu den einzelnen Punkten kommen. Was unternehmen Sie dagegen, dass wir auf einen Er- ziehermangel zusteuern? Was unternehmen Sie dagegen, Was ich ein bisschen schade finde, weil ich Kollegin dass sich die Kommunen in einer sehr schwierigen fi- Deligöz aus der Arbeit in der Kinderkommission auch nanziellen Situation befinden? Was unternehmen Sie in sehr schätze, ist Folgendes: Einig sind wir darin, dass Anbetracht der Tatsache, dass die Kommunen ihre Auf- Kinderarmut viele Gesichter hat und dass die materielle 24388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Michaela Noll (A) Armut die ist, die letztlich für uns alle am sichtbarsten (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Herr Wunderlich (C) ist. Aber ich habe immer dann ein Problem, wenn wir kann etwas zur Arche sagen!) Kinderarmut allein auf finanzielle Armut reduzieren. Die Eltern haben oftmals die Fähigkeit verloren, ihren Das reicht meiner Meinung nach nicht aus. Alltag zu bewältigen. Viele Kinder gehen morgens ohne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Frühstück los; viele Kinder werden nicht betreut. Aber Zuruf von der LINKEN: Das tun wir gar sie müssen einmal sehen, welche Ausstattung die Kinder nicht!) haben: ein Handy haben sie. Einen Fernseher haben sie; stundenlang werden sie davor „geparkt“, und wenig – Moment! Die ganze Diskussion lief im Moment in die Wissenssendungen werden eingeschaltet. Wir müssen Richtung. Das finde ich sehr schade. also mehr zum Abbau von Erziehungsarmut tun. Frau Fischbach und Herr Spanier haben genau darge- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- legt, was wir erreicht haben: Wir haben eine Kindergeld- NEN]: Freizeit kostet sonst viel Geld! Fernse- erhöhung durchgesetzt, wir haben die Regelung zum hen ist das Billigste! – Ina Lenke [FDP]: Das Kinderzuschlag erweitert, ich nenne weiter das Wohn- stimmt nicht!) geld und das Elterngeld. Wir haben also wirklich Leis- – Nein, das ist nicht das Billigste. – Ich möchte einfach tungen für Familien auf den Weg gebracht und damit die wieder, dass wir dazu übergehen, dass Eltern ihre Vor- Einkommensarmut von Eltern reduziert. Denn wir haben bildfunktion tatsächlich wahrnehmen. Denn wenn ihnen festgestellt: Kinderarmut ist Elternarmut. der Antrieb fehlt, wenn sie nicht zu motivieren sind, ist Wenn wir uns die Fakten ansehen – das ist ja auch in die Gefahr groß, dass die emotionale Armut und die der Antwort deutlich geworden – und den Vergleich zu mangelnde Bildung weitervererbt werden. Unsere Auf- anderen europäischen Ländern ziehen, dann erkennen gabe ist es, sie mit frühen Hilfen zu unterstützen. Mit wir: Wir stehen nicht schlecht da. Wir haben in Deutsch- dem KiföG haben wir die richtigen Weichen gestellt, um land mit das niedrigste Armutsrisiko von Kindern, und Kindern zu helfen. wir liegen weit unter dem EU-Durchschnitt. Das sind Ich wäre gern noch auf einzelne Gruppen, wie Kinder Fakten. von Alleinerziehenden, Kinder von Kinderreichen, ein- (Diana Golze [DIE LINKE]: Auf die Zahlen gegangen. Ich kann aber nur noch einen Appell starten. – der Bundesregierung reingefallen!) Hier sitzen auch viele Mitglieder der Kinderkommis- sion. Wir hatten „MoKi“ zu einer Anhörung dort. Ihr Trotzdem möchte ich über Kinderarmut sprechen. könnt euch daran erinnern: „MoKi“ ist ein Präventions- (B) Denn Kinderarmut ist für mich nicht nur eine reine Geld- projekt bei mir im Wahlkreis, das den Deutschen Präven- (D) frage. Es geht um Chancen. Deswegen definiere ich Ar- tionspreis bekommen hat. Das hat gezeigt, was möglich mut von Kindern etwas anders. Wann ist ein Kind arm? – ist, wie man mit wirklich wenig finanziellen Mitteln Für mich ist ein Kind dann arm, wenn es einsam auf- Kindern Chancen geben kann. Wir alle waren davon an- wächst – wir sprechen von sozialer Armut –, für mich ist getan – überparteilich, kann ich sagen –, und ich fände es ein Kind arm, wenn es vernachlässigt und überfordert schön, wenn man diese Form der Vernetzung, diese insti- wird – davon hatten wir im letzten Jahr viele traurige tutionenübergreifende Zusammenarbeit ausbaute. So be- Fälle –, und es ist arm, wenn es zu Hause keine Anre- käme jedes Kind eine Chance. Es ist nicht nur eine Frage gung bekommt. Da müssen wir dringend handeln. des Geldbeutels. Ich möchte auch mit einem Vorurteil aufräumen: Es Danke schön. gibt wirklich viele Familien, die ein begrenztes Budget (Beifall bei der CDU/CSU) haben, aber sie geben ihr Bestes und ihren Kindern die beste Förderung, die möglich ist. Die Kinder kommen gut klar und werden entsprechend großgezogen. Die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kinder fühlen sich wohl, weil sich die Eltern kümmern. Ich schließe die Aussprache. Wir sollten über soziale Armut sprechen. Es gibt viel Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- zu viele Kinder, die darunter leiden. Sie leiden nicht un- antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13001. ter Geldmangel, sie leiden unter zu wenig Zuwendung Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer und Aufmerksamkeit, und das ist nicht unbedingt eine stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- Frage des Geldes. antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ab- gelehnt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Wie können wir diesen Mangel tatsächlich beheben? schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Wie können wir es schaffen, dass sich diese Eltern wie- Drucksache 16/12201. Der Ausschuss empfiehlt unter der mehr kümmern? Wie können wir es schaffen, dass Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des bei ihnen die Gleichgültigkeit gegenüber ihren eigenen Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9433 Kindern abgebaut wird? mit dem Titel „Existenz von Kindern sichern – Familien stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Es wird immer wieder gesagt – das haben wir uns bei Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- der Arche in Berlin selber angeschaut –: empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion Die Linke, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24389

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/ Sozialisierung der Verluste verhindern – Si- (C) CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen. cherungsfonds für privaten Finanzsektor schaffen Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf – Drucksachen 16/8888, 16/10610 – Drucksache 16/9028 mit dem Titel „Kein Kind zurück- Berichterstattung: lassen – Programm gegen Kinderarmut auf den Weg Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dr. Axel Troost Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge- ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen. dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner geordneter und der Fraktion DIE LINKE Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10257 mit Verbesserung des Verbraucherschutzes beim dem Titel „Bessere Unterstützung für Alleinerziehende“. Erwerb von Kapitalanlagen Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer – Drucksachen 16/11185, 16/12354 – stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei Berichterstattung: Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- Abgeordnete Ortwin Runde tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen. Dr. Barbara Höll Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b so- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf: keinen Widerspruch. 24 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Jörg-Otto Spiller, dem ich an dieser Stelle sehr herzlich zur Änderung des Einlagensicherungs- und zu seinem heutigen Geburtstag gratuliere. Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze (Beifall)

– Drucksachen 16/12255, 16/12599 – Jörg-Otto Spiller (SPD): (B) (D) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schusses (7. Ausschuss) Herren! An den Finanzmärkten kehrt allmählich wieder mehr Ruhe ein. Die Nervosität lässt ein Stück weit nach, – Drucksachen 16/13024, 16/13038 – allerdings weniger bei den Profis als beim breiten Publi- kum. Dass die Bevölkerung in Deutschland beim Um- Berichterstattung: gang mit dieser Finanzkrise so viel Besonnenheit zeigt Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach – eigentlich sogar von Anfang an gezeigt hat –, liegt zu Jörg-Otto Spiller einem guten Teil daran, dass wir in Deutschland seit lan- Frank Schäffler gem ein sehr gutes System der Einlagensicherung bei Banken und Sparkassen haben. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden wol- dem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler, len, wird in diesem Bereich noch einige Verbesserungen Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann Otto bringen. Aber wir haben schon heute – das will ich kurz Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion darlegen – ein richtig gutes System der Einlagensiche- der FDP rung. Die Kunden von Sparkassen, aber auch die Kun- den von Genossenschaftsbanken, also von Volks- und Reform der Anlegerentschädigung in Deutsch- Raiffeisenbanken, sind ohne Einschränkung dadurch ge- land schützt, dass es innerhalb dieser Institutsgruppen einen Haftungsverbund gibt. Jede Sparkasse kann sich darauf – Drucksachen 16/11458, 16/13024, 16/13038 – verlassen, dass im Notfall, falls sie in Schwierigkeiten Berichterstattung: sein sollte, die übrigen Sparkassen zu ihr stehen. Das ist Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach eine sehr solide Grundlage. Bei den Genossenschafts- Jörg-Otto Spiller banken funktioniert der Haftungsverbund ganz ähnlich. Frank Schäffler (Frank Schäffler [FDP]: Darum geht es in dem Gesetz aber gar nicht!) ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Die Banken, die dem privaten Sektor zuzurechnen dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, sind, gehören ganz überwiegend dem Einlagensiche- Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeord- rungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken an. neter und der Fraktion DIE LINKE Dort sind alle Einlagen von Nichtbanken, also nicht nur 24390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Jörg-Otto Spiller (A) von Privatpersonen, sondern auch von Unternehmen und nächtens vor seinem PC gesessen und geschaut hat, ob (C) Gebietskörperschaften, im Individualfall bis zur Höhe es für Tagesgeld vielleicht irgendwo anders auf der Welt von 30 Prozent des haftenden Eigenkapitals der Bank ein bisschen mehr Zinsen gibt. Es gibt da eine schöne In- abgesichert. Das ist eine starke Absicherung. sel im Nordatlantik, bekannt durch heißes Wasser. Wenn für Tagesgeld Zinssätze angeboten werden, wie sie eigent- In dem extremen Fall, dass mehrere große Banken in lich nur für eine zehnjährige Anlage zu erzielen sind, Schwierigkeiten geraten, wäre natürlich – das ist immer sollte man auch die Unterzeile zur Kenntnis nehmen: Zu- so bei Sicherungseinrichtungen – die Frage zu stellen: ständig ist der Einlagensicherungsfonds in Reykjavik. – Reichen die Mittel aus? Deswegen war es, denke ich, Das haben manche offenbar nicht so ernst genommen. eine kluge Entscheidung, dass die Bundeskanzlerin und Ich glaube, es wäre ein gutes Ergebnis dieser Debatte, der Bundesfinanzminister im Herbst vorigen Jahres ge- wenn sich das Bewusstsein ausbreitete, dass es sich sagt haben: Es gibt eine Patronatserklärung. Für den lohnt, seine Ersparnisse dort anzulegen, wo es ein gutes Fall, dass eine Einlagensicherung überfordert sein sollte, System der Einlagensicherung gibt, beispielsweise in der steht der Staat den Einlegern schützend bei. Bundesrepublik Deutschland. Das bisherige System von Anlegerschutz und Einla- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gensicherung – das muss man freimütig anerkennen – hatte an einer Stelle Lücken. Das betrifft die Entschä- digungseinrichtung für den Bereich von Wertpapierhan- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: delsunternehmen. Es hat einen spektakulären Fall gegeben, Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler, der sehr deutlich gemacht hat, wie viele Unzulänglich- FDP-Fraktion. keiten in dem bisherigen System der Absicherung beste- hen. Das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädi- Frank Schäffler (FDP): gungsgesetz wurde Anfang 1998 verabschiedet. Damals Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und war nicht erkennbar, dass es eine Reihe von Schwierig- Herren! Herr Spiller, ich finde, Sie haben am eigentli- keiten geben könnte. Zum Glück muss man sagen: Es ist chen Thema vorbeigeredet. erst durch diesen einen spektakulären Fall – Stichwort „Phoenix“ – virulent geworden. (Beifall des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Was wir jetzt in dem Gesetzentwurf vorsehen, ist die Umsetzung einer EU-Richtlinie im Bereich der Einla- Bei diesem Gesetz liegen Anspruch und Wirklichkeit gensicherung; das betrifft Einlagen bei Banken und weit auseinander. Es ist unbestritten, dass die Einlagensi- Sparkassen. Wir gehen über das, was bisher schon ge- cherung im Bankenbereich in Deutschland weit über das (B) setzlich vorgeschrieben ist, ein Stück hinaus. Für die hinausgeht, was Sie hier aufgrund europäischer Vorga- (D) meisten Kunden von Banken in Deutschland wird sich ben ins Gesetz schreiben. In einem anderen Bereich, bei dadurch faktisch nichts ändern, weil das System bisher der Anlegerentschädigung – ich erinnere an das, was im schon voll ausreichend war. Fall Phoenix geschehen ist –, werden Sie die Probleme mit diesem Gesetz sogar noch verschärfen. Das ist das Der Fortschritt beim Lückenschluss im Bereich der eigentlich Erschreckende: Im Kern haben Sie aus dem Entschädigungseinrichtung für Wertpapierhandelsunter- Fall Phoenix nichts gelernt. nehmen besteht meiner Ansicht nach nicht in erster Linie darin – obwohl das auch wichtig ist –, dass die Regelung Sie müssen sich grundsätzlich mit der Frage ausei- von Beiträgen aus diesem Geschäftsbereich sehr viel nandersetzen: Was machen wir im Falle Phoenix? Sie deutlicher und klarer wird als zuvor. Der eigentliche haben seit der Insolvenz im Jahre 2005 vier Jahre Zeit Knackpunkt scheint mir zu sein, dass eindeutig vorge- gehabt, den Fall Phoenix zu lösen und rechtliche Ände- schrieben wird, dass sich auch solche Unternehmen, die rungen vorzunehmen. Sie haben aber seitdem nichts ge- dem Wertpapierhandelssektor zuzurechnen sind und die- macht. Was Sie jetzt ins Gesetz schreiben, hat überhaupt ser Entschädigungseinrichtung angehören, Prüfungen nichts mit einer Problemlösung zu tun. Sie müssen sich gefallen lassen müssen, nicht nur durch die BaFin, son- darüber klar werden, dass der Staat an dieser Stelle un- dern auch im Auftrage der Entschädigungseinrichtung. endlich versagt hat. Die 30 000 geschädigten Anleger Dort muss rechtzeitig der Finger in die Wunde gelegt warten mindestens seit 2005 auf eine Entschädigung. Es werden, wenn es zu Mängeln kommt. Dort wird intensi- ist so klar wie Kloßbrühe, dass der Staat hier mithaften ver, als es bisher geschehen ist, geprüft. muss. Ich bin sehr zuversichtlich, dass diese Regelung, die Im Jahr 2002 hat das Bundesverwaltungsgericht Phoe- wir jetzt verabschieden wollen, großen Anklang finden nix höchstrichterlich gezwungen, seine Konten zu tren- wird. Wie gesagt: Die Anhebung der Garantiesumme auf nen. Phoenix hatte das gesamte Geld der Anleger auf ein 50 000 Euro pro Kunde bedeutet für die meisten Kunden Konto gepackt. Dadurch wurde ein Schneeballsystem in einer Sparkasse, einer Genossenschaftsbank oder einer Gang gesetzt. Die BaFin hat bis zum Insolvenzfall 2005 privaten Bank, die dem Einlagensicherungssystem des dieses höchstrichterliche Urteil nicht umgesetzt. Am Bundesverbandes deutscher Banken angehört, faktisch Ende sollen jetzt rund 600 Kapitalanlagegesellschaften keine Änderung. Das war schon vorher so. und Vermögensverwalter für dieses Missmanagement der Bankenaufsicht aufkommen. Ich halte es für recht Das Ganze macht jedoch noch einmal deutlich, dass und billig, dass die Vertreter dieser Gesellschaften auf sich der eine oder andere hat verlocken lassen, wenn er die Straße gehen und sagen: Das kann doch wohl so Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24391

Frank Schäffler (A) nicht sein; hier muss auch der Staat seiner Verantwor- letzten beiden Jahren am häufigsten gebraucht wurde. (C) tung gerecht werden. Vor allen Dingen ging es um fehlendes Vertrauen der Banken untereinander und fehlendes Vertrauen zwischen (Beifall bei der FDP) Bürger und Bank. Ich will mit einem Zitat aus dem Jahre 2007 belegen, Im Herbst letzten Jahres konnten wir auf Bildern aus dass die Bundesregierung in diesem Bereich bisher nur England sehen, wie die Leute in Schlangen vor den Ban- auf Zeit gespielt hat. Frau Hendricks, die damalige ken standen und ihr Geld abheben wollten. Die Bundes- Staatssekretärin, hatte gegenüber dem Finanzausschuss kanzlerin und der Bundesfinanzminister haben damals erklärt: eine Erklärung abgegeben, dass die deutschen Einlagen Die Bundesregierung unterstützt die EdW sicher sind. Wir haben über die Einlagensicherung, die ja ein aktuelles Thema ist, mehrere Debatten geführt. Der – die Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandels- Finanzwissenschaftler Professor Gerke hat bei diesen unternehmen – Gesprächen deutlich gemacht, dass das Krisenmanage- bei ihren Bemühungen um eine rechtzeitige und ment der Bundesregierung gerade in diesem Fall beson- umfassende Entschädigung der Anleger im Fall ders hohe Anerkennung verdient. Dem möchte ich mich Phoenix. gerne anschließen. Diese Aussage stammt vom April 2007. Nach zwei Jah- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ren ist man gerade einmal so weit, dass von der SPD – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Für 30 000 geschädigten Anlegern 312 entschädigt werden das Protokoll: Orkanartiger Beifall in den sollen. Ausgezahlt worden ist die Entschädigung übri- Nachmittagsstunden im Plenum!) gens noch nicht. Da muss man schon fragen, ob Sie Ihrer Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Verantwortung für den Finanzplatz Deutschland gerecht Neuordnung der Einlagensicherung in Deutschland. Was werden. sind Einlagen? Einlagen sind Guthaben, Festgelder, Es treibt das Ganze auf die Spitze, wenn die Finanz- Spareinlagen bei Banken. Diese sind bisher bis zu einer behörden der Länder die Anleger jetzt auch noch auffor- Summe von 20 000 Euro gesichert. Diese Summe wer- dern, die Scheingewinne, die sie in der betreffenden Zeit den wir jetzt mit der Umsetzung einer europäischen erwirtschaftet haben – erwirtschaftet haben sollen, muss Richtlinie auf 50 000 Euro für jeden Kunden anpassen. man sagen; faktisch sind die Gewinne ja nicht realisiert Wir haben darüber hinaus die Absicht, diesen Betrag bis worden –, zu versteuern. Es ist notwendig, dass der Bun- Ende nächsten Jahres auf 100 000 Euro zu erhöhen. desfinanzminister hier endlich seiner Verantwortung ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist die Aufgabe (B) (D) recht wird. des Deutschen Bundestages, denjenigen, die ihr Geld si- (Beifall bei der FDP) cher anlegen wollen, deutlich zu machen, dass es auch gesichert ist. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass nicht nur Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben Sie die Privateinlagen gesichert sind, sondern auch die Einlagen Anlegerentschädigungsrichtlinie in Deutschland nicht kleiner und mittlerer Unternehmen. Mit dieser Position umgesetzt und keine Anlegerentschädigungseinrichtung hat sich Deutschland auch in Europa durchsetzen kön- geschaffen, die nachhaltig ist. Das will ich Ihnen mit nen. Ich denke, damit haben wir für unseren Mittelstand, Zahlen belegen: Die EdW – Entschädigungseinrichtung für die kleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande der Wertpapierhandelsunternehmen – hat laufende Ein- etwas Gutes getan. nahmen von 3 Millionen Euro, bei Verwaltungskosten von 2,4 Millionen Euro. Nun soll die EdW einen Ent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schädigungsfall in der Größenordnung von 200 Millio- Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das sieht auch nen Euro bewältigen. Wie viele Jahrhunderte soll die unser Koalitionspartner so! – Gegenruf der Entschädigung der 30 000 Anleger dauern? Abg. Iris Gleicke [SPD]: Natürlich!) Sie reden immer von Anlegerschutz. Sie sollten end- Das zweite große Thema, um das es in diesem Ge- lich handeln und vor allem dieses konkrete Problem lö- setzentwurf geht, ist die Entschädigung von Anlegern. sen. Wir haben in Deutschland, wie Herr Kollege Spiller ge- sagt hat, ein hervorragendes Sicherungssystem. Sie ken- Vielen Dank. nen die drei Säulen: Raiffeisenbanken, Sparkassen und (Beifall bei der FDP) andere öffentlich-rechtliche Banken, private Banken. Bei den Raiffeisen- und Volksbanken und bei den Spar- kassen gibt es eine eigene Institutssicherung. Bei den an- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: deren Banken gibt es einen Einlagensicherungsfonds, Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter durch den mit bis zu 30 Prozent des Eigenkapitals der Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. betroffenen Bank für jeden einzelnen Kunden gehaftet (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wird. Im Zusammenhang mit der Einlagensicherung von Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Wertpapierhandelsunternehmen begleitet uns aber natür- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lich auch der Fall Phoenix. Hier sind 30 000 Anleger, die Das Wort „Vertrauen“ ist wohl der Begriff, der in den jeweils im Durchschnitt 20 000 Euro angelegt haben, be- 24392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Klaus-Peter Flosbach (A) troffen. Insgesamt wird ein Schaden von voraussichtlich diese kleinen Unternehmen normalerweise im Rahmen (C) 200 Millionen Euro entstehen. Herr Schäffler, ich einer Vermögensschadenhaftpflicht- oder einer Vertrau- stimme Ihnen zu: Hier haben die Wirtschaftsprüfer, die ensschadenhaftpflichtversicherung haften können; denn Banken, die Aufsichtsräte und die Aufsichtsbehörde in diese würde genügen, um mögliche Schäden abzude- der Tat versagt. cken. Ich glaube, dieses Thema wird uns auch in Zukunft bewegen. Wir müssen aber natürlich auch die europäi- Es hat genügend Vorschläge dafür gegeben, die Neu- sche Ebene betrachten. Die Struktur der Entschädigungs- ordnung der Anlegerentschädigung in Deutschland in einrichtungen ist auch in den anderen Ländern nicht an- dieser Phase von der Neuordnung der Einlagensicherung ders als in Deutschland. Ich glaube, wir gehen einen zu trennen. In den Fachgesprächen und Anhörungen hat Schritt nach vorne, wenn für die kleinen Unternehmen sich aber ergeben, dass wir das nicht voneinander tren- eine Versicherungslösung angeboten wird, sodass sie nur nen dürfen, sondern jetzt Regelungen dafür finden müs- geringe Beiträge in diese Entschädigungseinrichtung sen, die Einlagensicherung und die Anlegerentschädi- einzahlen müssen. gung in Deutschland deutlich zu verbessern. Die Frage ist natürlich, ob die Diskussion über die (Beifall des Abg. [CDU/CSU]) Einlagensicherung und die Entschädigung in Deutsch- Die Frage war, ob wir auf Regelungen seitens der Eu- land mit diesem Gesetzentwurf zu Ende ist. Ich sage ropäischen Union warten sollen. Dort wird dieses Thema deutlich, nein. Das Thema Phoenix wird uns selbstver- natürlich nach wie vor diskutiert. Es gibt Konsultations- ständlich weiterhin begleiten. Dabei geht es aber natür- prozesse, und es wird bald auch wieder eine neue Vor- lich auch um die Belastbarkeit einer Entschädigungs- lage geben. Seit 1998 sind neben dem Phoenix-Fall einrichtung: Wenn pro Jahr Beiträge in Höhe von – Phoenix war das größte Unternehmen in der Einlagen- 3 Millionen Euro gezahlt werden, mit denen ein Schaden sicherung – etwa 19 weitere Schäden aufgetreten. von 200 Millionen Euro gedeckt werden soll, dann ist das ein krasses Missverhältnis. Ich denke, auch in den Das Wichtigste bei diesem Gesetzentwurf ist meines Fachgesprächen hat sich gezeigt, dass die Entschädi- Erachtens, dass wir jetzt Vorgaben für die Prüfung eines gungseinrichtung nicht jederzeit für solche Großereig- jeden einzelnen Unternehmens machen und dass wir auf nisse haften kann – das gilt auch für andere Risiken, die die Erfahrung und die Kenntnis der Bundesbank zurück- wir derzeit erleben –, sondern dass dieser Fall getrennt greifen können. Die Bundesbank wird in Zukunft jedes betrachtet werden muss und dass eine Entschädigungs- einzelne Unternehmen prüfen. Meines Erachtens ist der einrichtung in erster Linie für kleine und mittlere Unter- Hinweis der Bundesbank, dass sie die großen und sys- nehmen vorgesehen ist, dass also Kapital zur Verfügung temrelevanten Unternehmen mit hohen Erträge, aber gestellt wird, wenn kleine und mittlere Unternehmen in (B) (D) möglicherweise auch großen Schadenspotenzialen prü- die Insolvenz gehen. fen will, besonders wichtig. Sie will die kleinen Unter- nehmen nicht mit Bürokratie und Kosten, die höher sind Ich möchte ein Fazit zu dem Gesetzentwurf ziehen. als deren Erträgen, überziehen. Ich denke, das ist sehr Ich denke, dass ein solches Gesetz in der jetzigen Phase wichtig. sehr wichtig ist; denn es geht um die Sicherheit von An- lagen in Deutschland. Die Bundesbürger wollen wissen, Ein weiterer Punkt, der in diesem Gesetzentwurf ei- was mit ihrem Geld passiert, wenn sie es auf die Bank nen großen Raum einnimmt, ist, dass in Zukunft risiko- bringen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass als orientierte Beiträge gezahlt werden und dass auch eine sicher geltende Einlagen wie Termineinlagen, Spareinla- Regelung für Sonderbeiträge gefunden worden ist. gen und Sparbriefe tatsächlich ausreichend gesichert Wir müssen daran denken: Jedes einzelne Mitglieds- sind. unternehmen bei der EdW, der Entschädigungseinrich- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!) tung der Wertpapierhandelsunternehmen, muss wissen, was auf das einzelne Unternehmen zukommt. Von den Aber dort, wo es große Risiken gibt, müssen wir in Zu- 790 Mitgliedsunternehmen sind 600 Kleinstbetriebe. kunft auch auf Prävention setzen. Es muss geprüft wer- Dies sind zum Beispiel Vermögensverwalter und Port- den, wo mögliche Risiken liegen. Das ist im Gesetzent- folioverwalter und keine großen KAGs, also Kapital- wurf vorgesehen. Darin liegt seine Stärke. anlagegesellschaften. Gerade für die Kleinen ist es wich- tig, zu wissen, was auf sie zukommt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Frank Schäffler [FDP]: Aber nicht mit dem Gesetzentwurf!) Letztendlich hängt der Finanzplatz Deutschland da- von ab, dass die Anleger Vertrauen in ihn haben. Es Ein wichtiges Thema in diesem Gesetzentwurf – das kommt vor allem auf ein funktionierendes Finanz- und hat uns alle bewegt – ist die Struktur der Mitgliedsunter- Bankensystem an. Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf nehmen; Herr Schäffler, Sie haben auf das Thema hinge- sind wir diesem Ziel ein Stück nähergekommen. wiesen. Wenn von 790 Unternehmen 600 kleine Unter- nehmen sind, dann stellt sich die Frage, ob es richtig sein Vielen Dank. kann, dass diese 600 kleinen Unternehmen für die gro- ßen Schäden der wenigen großen Unternehmen haften (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müssen. Es ist insbesondere wichtig, zu wissen, dass neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24393

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Tochter pleiteging. Kaum war das der Fall, zeigte sich, (C) Der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke, hat dass die Einlagensicherungseinrichtung der deutschen seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Banken nicht in der Lage war, das zu stemmen. Die deutsche Tochter von Lehman Brothers war kein riesiges Deswegen rufe ich den Kollegen Dr. Gerhard Schick, Institut. Aber bereits in dieser Situation war eine Sonder- Bündnis 90/Die Grünen, auf. lösung über eine Anleihe im Rahmen des Finanzmarkt- stabilisierungsfonds nötig, um das aufzufangen. Das ist Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in Deutschland nicht groß diskutiert worden, aber es NEN): zeigt, dass das System auch in diesem Fall nicht das ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! leistet hat, was wir versprochen haben. Ich meine, darauf Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Gesetzentwurf zu müsste man reagieren. Das ist aber bei diesem Gesetz- betrachten. Die eine ist, sich zu fragen, ob das, was darin entwurf nicht der Fall. formuliert ist, gut ist. Ein Blick in den Gesetzentwurf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zeigt, dass die Umsetzung einer EU-Richtlinie vorgese- hen ist, wozu wir verpflichtet sind, und dass einige tech- Das dritte Beispiel ist Kaupthing. Herr Spiller, Sie ha- nische Fragen richtig gelöst werden. Es wird eine ben so schön gesagt, die Leute hätten das Kleinge- Kreditaufnahmeregelung geschaffen; die Überwa- druckte lesen müssen. Das ist richtig. Man muss schon chungspflichten werden verbessert. Insofern könnten wir wissen, dass man es mit Reykjavik zu tun hat. Es stellt meinen, es sei alles wunderbar. sich aber die Frage, warum Betroffene in anderen Län- dern nach 14 Tagen oder 3 Wochen eine Entschädigung Es gibt aber noch eine andere Perspektive, die, glaube aus der Einlagensicherung bekommen, während das in ich, wichtiger ist. Dabei geht es um die Frage, ob es mit Deutschland nach Monaten noch nicht geschehen ist; es dem Gesetzentwurf gelingt, auf Fehler, die in der Reali- gibt ein ewiges Hin und Her zwischen den Behörden. Ich tät zu erkennen sind, richtig zu reagieren. meine, die Bürger in einem modernen Europa mit einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Binnenmarkt, der für die Verbraucherinnen und Verbrau- cher geschaffen worden ist, sollten sich darauf verlassen An dieser Stelle kommen wir leider zu einem ganz können, dass die amtlichen Institutionen von verschiede- anderen Fazit. In dem Themenbereich der Anlegerent- nen befreundeten Ländern so zusammenarbeiten, dass schädigung bzw. der Einlagensicherung, um den es heute der Bürger nicht nachher der Dumme ist. geht, hatten wir es mit drei großen Problemfällen zu tun. Einer ist schon angesprochen worden: Das ist der Fall (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Phoenix, der ziemlich lamentabel ist. Vier Jahre danach sowie bei Abgeordneten der FDP) (B) (D) ist zwar ein Gutachten in Auftrag gegeben und ein Ge- Auch dieses Problem wird in dem vorliegenden Gesetz- setzentwurf auf den Weg gebracht worden, aber die zen- entwurf nicht gelöst. tralen Probleme, die im Zusammenhang mit dem Fall Phoenix offengelegt wurden, der Zehntausende betroffen Sie haben aus den drei großen Problemfällen der letz- hat, sind nicht gelöst worden. Denn nach wie vor ist eine ten vier Jahre nichts gelernt. Wenn ich einen Schluss- Entschädigungseinrichtung für viel zu viele unterschied- strich ziehe und mir vorstelle, dass das die Blaupause da- liche Unternehmen zuständig, und die Überforderung für ist, wie die Politik auf andere große Probleme, die in der EdW, die bei Phoenix zutage kam, würde sich bei ei- der letzten Zeit zutage getreten sind, reagieren wird, nem vergleichbaren Fall in der Zukunft erneut zeigen. dann komme ich zu dem Ergebnis: Wir haben Besseres zu tun und dürfen uns nicht mit der Umsetzung einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN EU-Richtlinie zufriedengeben. Wir sollten die aufgetre- sowie bei Abgeordneten der FDP) tenen Probleme wirklich lösen, sodass die Systeme in Wir müssen also konstatieren, dass es der Politik Zukunft besser sind. Wir sind mit dem vorliegenden Ge- nicht gelungen ist, vier Jahre nach dem Entschädigungs- setzentwurf nicht zufrieden und lehnen ihn daher ab. fall Phoenix eine wirkliche Antwort auf diese Problema- Danke. tik zu geben. Das Gutachten hat einige sinnvolle Vor- schläge enthalten. Wie aber einer der Gutachter in seiner (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stellungnahme ganz nüchtern festgestellt hat, wurden zentrale Empfehlungen zur Strukturänderung nicht im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gesetzentwurf aufgenommen. Warum lassen wir denn Ich schließe die Aussprache. ein Gutachten erstellen, wenn wir die zentralen Vor- schläge nicht aufgreifen? Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschä- und bei der FDP) digungsgesetzes und anderer Gesetze. Der Finanzaus- schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- Der zweite Fall ist der Fall Lehman Brothers. Als die empfehlung auf Drucksachen 16/13024 und 16/13038, große amerikanische Bank Lehman Brothers pleiteging, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- mussten wir mit ansehen, dass auch ihre kleine deutsche sachen 16/12255 und 16/12599 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- 1) Anlage 3 wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um 24394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Überweisungsvorschlag: (C) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Ausschuss für Bildung, Forschung und Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi- Technikfolgenabschätzung tion angenommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Dritte Beratung Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schlossen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der wurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stim- Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen. men der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition an- genommen. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Vorstellung, die völlige Deregulierung, das freie Spiel Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der Anleger- aller Kräfte, könne zum Erfolg führen, nicht nur im Hin- entschädigung in Deutschland“. Der Ausschuss emp- blick auf die Finanzmärkte ein Irrglaube ist, sondern of- fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf fensichtlich auch nicht die Zauberformel ist, um gesamt- Drucksache 16/13024, den Antrag der Fraktion der FDP staatliche Ziele im Hochschulbereich zu erreichen, wird auf Drucksache 16/11458 abzulehnen. Wer stimmt für offenkundig, wenn wir uns anschauen, wie Studienbe- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – werberinnen und -bewerber unter dem Bewerbungs- und Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Zulassungschaos, das wir schon seit langem in Deutsch- Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von FDP und land erleben, leiden. Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Linke angenommen. Was ist denn der Ausgangspunkt bei den gesamt- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- staatlichen Zielen? Alle sind sich einig: Wir wollen und empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der müssen die Studierendenquote in Deutschland dringend Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialisierung der erhöhen. Alle wissen: Das Zeitfenster, bis der demogra- Verluste verhindern – Sicherungsfonds für privaten Fi- fische Wandel die Hochschulen erreicht, ist denkbar nanzsektor schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner klein. Alle sind sich einig: Angesichts der steigenden Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10610, den (B) Zahl von Studierenden und Studienbewerbern und der (D) Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8888 doppelten Abiturientenjahrgänge wollen wir allen Stu- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- dienplätze zur Verfügung stellen. Alle sagen: Dafür müs- lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- sen Länder und Bund gemeinsam das nötige Geld in die schlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Hand nehmen. Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses ange- nommen. Was passiert jetzt? Wie ist die Situation, vor der wir stehen? Studienwillige verzweifeln reihenweise ange- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- sichts des Bewerbungs- und Zulassungschaos, weil auf empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der der einen Seite zulassungsbeschränkte Studienplätze frei Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verbesserung des bleiben und auf der anderen Seite junge Menschen Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen“. schlichtweg nicht mit Studienplätzen versorgt werden. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12354, den Antrag der Fraktion Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Linke auf Drucksache 16/11185 abzulehnen. Wer stimmt Damit werden die gesamtstaatlichen Ziele, die wir uns für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – gesetzt haben, unterminiert. Allein in Baden-Württem- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den berg blieben im letzten Wintersemester 2 487 NC-Stu- Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung dienplätze unbesetzt. Das sind 12,4 Prozent. Das ist von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der nicht nur ein hochschulpolitischer Skandal, sondern das Linken angenommen. ist auch Politikversagen und Verantwortungsverweige- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: rung in der Politik. Diejenigen, die geglaubt haben, man müsse nur die Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai ZVS abschaffen und dann werde alles gut, haben zwar Gehring, Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), auf der Zeitgeistwelle gesurft, stehen jetzt aber als naive, weiterer Abgeordneter und der Fraktion blauäugige Irrläufer da. Das hat offensichtlich nicht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN funktioniert. Ich bin absolut für die Hochschulautono- Problem der ungenutzten Studienplätze in zu- mie. Ich habe die Hochschulautonomie immer befördert, lassungsbeschränkten Studiengängen umge- wo ich es konnte. Aber die Hochschulautonomie reicht hend lösen – Staatsvertrag jetzt vereinbaren nur so weit wie die Handlungsspielräume und der Ein- fluss der Hochschule. Die einzelne Hochschule ist nicht – Drucksache 16/12476 – dafür verantwortlich, dass wir bei der Studierendenquote Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24395

Krista Sager (A) in Deutschland gerade einmal dort stehen, wo wir 2003 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) schon angekommen waren. neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Monika Grütters (CDU/CSU): Was muss also passieren? Es muss Schluss damit Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr sein, dass die Politik die Hochschulautonomie benutzt, verehrte Kollegin Sager, ich habe den Eindruck, Sie sur- um sich in deren Windschatten aus der Verantwortung zu fen hier ein wenig auf der Oppositionswelle. Was wir stehlen. Wird denn jetzt alles gut, nachdem es nach end- hier machen, ist bezeichnend. Wir haben dieses Thema losen Diskussionen eine Verständigung über ein Eck- ausführlich im Ausschuss besprochen. Danach haben Sie punktepapier zur Umsetzung eines dialogorientierten sich diesen Antrag – als hätten Sie nicht zugehört – aus- Serviceverfahrens gibt? Nein, es ist noch lange nicht al- gedacht, und jetzt zwingen Sie uns, im Plenum darüber les gut. Warum? Bis dieses Verfahren möglicherweise zu reden. Das sind Oppositionsrituale – ja, geschenkt; überhaupt in Gang kommt, werden noch mindestens aber bitte mit etwas mehr Substanz. zwei Jahre vergehen. Bis dahin wird den Studierwilligen in Deutschland weiter weiße Salbe in Form einer freiwil- (Beifall des Abg. Peter Rzepka [CDU/CSU] – ligen Internetbörse verpasst. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn für ein De- (Beifall bei Abgeordneten des BÜND- mokratieverständnis? – Priska Hinz [Herborn] NISSES 90/DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen Das ist keine Lösung. Es bleibt weiter unklar, ob sich die nicht reden!) Länder und auch die Hochschulen tatsächlich an diesem – Vielleicht wollen auch die Grünen hören, was andere Verfahren beteiligen werden. ihnen zu ihrem Antrag zu sagen haben. Herr Gehring, Was ist also nötig? Wir brauchen Verbindlichkeit, und der diesen Antrag verfasst hat, ist auf einer Podiumsdis- wir brauchen Klarheit. Deswegen muss es eine verbind- kussion; deshalb sitzen Sie stellvertretend hier. Tut mir liche Verständigung über ein Verfahren geben, das ge- leid für Sie. währleistet, dass alle zulassungsbeschränkten Studien- Wir alle sind uns einig – wir können das gerne hier plätze transparent, gerecht und effizient vergeben immer wieder mal sagen –: Die Situation der Studieren- werden. den mag in vielerlei Hinsicht unbefriedigend sein. Was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mich stört, ist, dass Sie so tun, als wäre das der vorherr- schende Eindruck, den deutsche Hochschulen machen. (B) Dazu sollte der Bund einen Vorschlag machen. Dann Das ist zumindest unzutreffend. (D) sollte es darüber einen Staatsvertrag geben, nicht weil wir Staatsverträge schön finden, sondern weil wir nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wollen, dass einzelne Länder abweichende Regelungen Patrick Meinhardt [FDP]) treffen. Die Länder müssen in die Pflicht genommen Wir reden also zum wiederholten Mal über das Detail werden und ihrerseits die Hochschulen im Rahmen ihrer Hochschulzulassung. Wir sind uns einig: Schöner wäre Ziel- und Leistungsvereinbarungen zu der Teilnahme an es, alle Studierenden bekämen genügend Studienplätze. diesem Verfahren verpflichten. Die dafür zuständigen Länder – ich betone: die Länder; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir sind Abgeordnete des Bundestages; man muss das immer wieder mal sagen – geben leider immer noch Es geht nicht, dass einzelne Hochschulen durch beson- nicht genug Geld für Bildung und Wissenschaft aus. ders hohe lokale Numeri clausi Plätze frei halten, ob- wohl Studierwillige unversorgt bleiben. Der Bund muss Es wäre auch schön, wenn alle Studierenden den Stu- dafür sorgen, dass es dann, wenn auf diese Art und dienplatz, den sie haben wollen, an dem jeweiligen Ort Weise Studienplätze in zulassungsbeschränkten Studien- bekämen. Das ist – auch das wissen wir; dafür bräuchten gängen frei gehalten werden, Studierende unversorgt wir die heutige Debatte nicht – ein Problem in Deutsch- bleiben und man sich die Studierenden vom Halse hält, land. Man hat immer wieder versucht, es zu lösen. Ich zur Rückzahlung von Mitteln aus dem Hochschulpakt verweise auf die Praxis der „Kinderlandverschickung“ kommt und nicht noch Geld dafür kassiert wird. der ZVS. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sind jetzt auf einem anderen Weg. Auf diesem Weg, der immer wieder mit Holprigkeiten verbunden ist, In diesem Sinne: Stimmen Sie unserem Antrag zu! hat der Bund mehr als einmal und stets entgegen seiner Wir brauchen wirklich Klarheit und Verbindlichkeit. eigentlichen Nichtzuständigkeit moderierend und übri- Hochschulautonomie ist zwar gut, aber politische Ver- gens auch finanzierend eingegriffen. Bei der Feinsteue- antwortungslosigkeit ist schlecht. rung der Hochschulzulassung soll der Bund nun nach Ihrer Meinung nicht nur – ähnlich wie beim Hochschul- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pakt – moderierend und mit Geld tätig werden, sondern er soll auch die Hochschulen zwingen, etwas zu machen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: was sie bisher freiwillig getan haben. Diese absurde Lo- Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Grütters, gik müssen sie mir einmal erklären: Warum haben Sie so CDU/CSU-Fraktion. wenig Vertrauen in die Hochschulen, dass Ihnen deren 24396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Monika Grütters (A) freiwillige Bekundung, ein solches Verfahren durchzu- wurde. Sie wissen, dass es ab diesem Wintersemester, (C) führen, nicht ausreicht? Sie wollen vielmehr, dass wir, also in wenigen Monaten – schneller geht es gar nicht –, der Bund, die Hochschulen zwingen, dass wir also über eine einheitliche Bewerbungsfrist geben wird. Bewer- die Länderzuständigkeit hinweggehen. Das machen wir bungsschluss ist der 15. Juli. Ende August werden die nicht mit. Zulassungsbescheide versendet. Danach wird es eine Börse geben, sodass sich Studierwillige, die noch keinen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Studienplatz erhalten haben, unmittelbar an den jeweili- Es ist zwar schön, dass Sie, die Grünen, auf diese gen Hochschulen auf freie Plätze bewerben können. Weise indirekt das Instrument des Hochschulpaktes an- Auch das ist eine einstimmige Erklärung aller Universi- erkennen – das hat sich in Ihren früheren Reden ganz an- täten. ders angehört; ( [CDU/CSU]: Aber nicht (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zu spät!) Unterfinanziert ist er noch immer!) Sie haben den Antrag ein bisschen früher formuliert und mittlerweile sehen Sie ein, dass eine bundesunmittelbare dann keine Lust gehabt, ihn der tatsächlichen Regelung finanzielle und moderierende Mitwirkung, geregelt in ei- anzupassen. nem Staatsvertrag, sinnvoll ist –; aber Ihr Vorschlag hat nicht den Charakter einer Notlösung, sondern bedeutet (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Sag ich einen unmittelbaren Zugriff auf die Hochschulen. doch!) Was mich neben dem permanenten Ignorieren der Zu- Das KMK-Plenum hat außerdem beschlossen, dass ständigkeiten von Bund und Ländern ebenfalls irritiert, auf die Länder eingewirkt werden soll, damit sie die ist die Tatsache, dass die Grünen ihren Antrag erst nach Bundesanschubfinanzierung später fortführen. Das ist dem Gespräch formuliert haben, das wir im Bildungs- auch nötig, weil die Länder zuständig sind. Insgesamt ausschuss mit der Präsidentin der Hochschulrektoren- sind damit Verfahren etabliert worden, bei denen De- konferenz – Sie waren dabei, Frau Sager – geführt ha- zentralität und unterstützender Service der ZVS ineinan- ben. Nach diesem Gespräch müssten auch Sie den dergreifen. Die Vergabe von Studienplätzen wird über- Sachstand genau kennen. Es mag sein, dass Sie ihn im- sichtlich und zuverlässig koordiniert. mer noch nicht für befriedigend halten, vor allen Dingen Frau Sager, Sie haben eben gesagt, Sie seien eine Ver- für die Studierenden; aber mit dem in Ihrem Antrag ge- fechterin der Hochschulautonomie. Auf diese Weise forderten Staatsvertrag ist diesem Sachverhalt nicht bei- wird die Autonomie gewahrt. Anders ist es bei Ihrem zukommen. Sie wissen ganz genau: Das Hauptproblem Vorschlag eines Durchgriffszwangs. Zu Ihrer Forderung, (B) ist die Softwareentwicklung. Sie wird weder durch eine (D) die Fortschreibung des Hochschulpaktes entsprechend solche Debatte noch durch einen Staatsvertrag beschleu- zu nutzen, darf ich Sie daran erinnern, dass wie in der nigt. Das dürften Sie wissen. laufenden Programmphase des Hochschulpakts 2020 Angesichts des zwischenzeitlich erreichten Sachstan- und auch bei der Ausgestaltung der zweiten Programm- des bei der Etablierung eines – Frau Sager, ich zitiere phase durch den neuen Hochschulvertrag bereits sicher- nicht Sie, sondern Sie haben die Hochschulrektorenkon- stellt ist, dass die Bundesmittel an die Zahl der tatsäch- ferenz zitiert – transparenten, unbürokratischen, nutzer- lich zusätzlich aufgenommenen Studienanfänger gekoppelt freundlichen und effizienten Hochschulzulassungsver- sind und dass das – so sagen wir immer – spitz abgerech- fahrens besteht jedenfalls auf der rechtlichen Ebene kein net wird. Es gibt auch Sonderregelungen für die neuen Regulierungsbedarf, so wie Sie ihn beschreiben. Das Pro- Länder, die dazu dienen, die Studienanfängerkapazitäten blem bei der Zulassung in örtlich zulassungsbeschränkten tatsächlich aufrechtzuerhalten und nicht abzubauen. Studiengängen ist kein Problem des Zulassungsrechts, sondern der Anwendung des Zulassungsrechts, ganz Den Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen wird konkret: der Gestaltung des Verfahrensablaufs. Ände- demnach bereits im Vereinbarungsentwurf für die rungen im Zulassungsrecht können hier deshalb nichts nächste Programmphase des Hochschulpakts 2020 bewirken. Erforderlich ist jetzt, dass das angestrebte dia- Rechnung getragen. Da wir darüber im Ausschuss aus- logorientierte Verfahren sobald wie möglich technisch führlich gesprochen haben, müssten Sie es besser wis- realisiert wird. sen, als es Ihr Antrag vermuten lässt. Auch der von Ihnen, verehrte Kollegin, geforderten ( [Altötting] [CDU/CSU], zum In-die-Pflicht-Nahme der Hochschulen bedarf es nicht, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Zie- da die Unis und Fachhochschulen am 21. April – das hen Sie ihn doch zurück! Das wäre doch ein war, kurz nachdem Sie Ihren Antrag formuliert hatten; Angebot!) aber man hätte ihn noch ändern können – im Rahmen Abschließend möchte ich sagen: Der Bund ist ganz si- der HRK-Mitgliederversammlung fast einstimmig er- cher nicht für die Lösung von Zulassungsproblemen zu- klärt haben, das dialogorientierte Verfahren nutzen zu ständig. Der Meinung der CDU/CSU nach sollten nicht wollen und sich in der Übergangszeit – das haben Sie in die Länder, sondern die Universitäten zuständig sein, da dieser Debatte unterschlagen – an den zur Verbesserung wir Hochschulautonomie nicht nur behaupten, sondern der Zulassungssituation verabredeten Maßnahmen zu be- auch praktizieren. teiligen, nämlich einheitliche Fristen und eine Studien- platzbörse einzuführen. Sie wissen, dass das beschlossen (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Jawohl!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24397

Monika Grütters (A) Das ist auch beim Thema Studienplatzvergabe der Fall. Erstens. In einem ersten Schritt bewerben sich Stu- (C) Tatsächlich gibt es einen Studierendenüberhang, und denten um ein Studienfach ihrer Wahl an einer oder Studienplätze bleiben viel zu lange frei. Diese Plätze mehreren Hochschulen. Dies betont die Eigenverant- bleiben aber nicht dauerhaft frei, sondern werden erst wortlichkeit, und das ist auch gut so. sehr spät nachbesetzt; das erkennen wir an. Deshalb hat sich Ministerin Schavan mit der Hochschulrektorenkon- In einem zweiten Schritt findet, sobald ein Platz ge- ferenz und der KMK zusammengesetzt. Genau deshalb funden ist und sich der Studierende immatrikuliert hat, hat sie, die nicht zuständig ist, die Moderation an diesem ein Abgleich im System statt. In einer Nachrückphase Punkt übernommen. Erfolgreich haben sie ein gemeinsa- werden für die unberücksichtigt gebliebenen Bewerbe- mes Vorgehen beschlossen, das ab Juli greift. rinnen und Bewerber die jeweils optimale Zulassungs- möglichkeit nach ihren eigenen Prioritäten ermittelt und Ich bin sicher, dass sich die Lage an den Universitäten wiederum freie Plätze unterbreitet. Im zweiten Schritt sehr bald entspannen wird. Ich hoffe, dass Sie bei der werden also alle Interessen berücksichtigt. nächsten Bildungsausschusssitzung ein bisschen besser zuhören. Dann könnten wir uns solche Anträge und die Dritter Schritt. Für diejenigen, die dann noch immer Debatte darüber beinahe sparen. nicht zum Zuge gekommen sind, bietet ein abschließen- des Clearingverfahren die Chance, nicht besetzte Stu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dienplätze zu besetzen. Dieser dritte Schritt gewährleis- Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE tet eine optimale Auslastung. GRÜNEN]: Dafür haben Sie aber lange ge- sprochen!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich ge- fällt staatsgläubigen Fraktionen eine solche untergesetz- liche, pragmatische Lösung nur wenig. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die FDP spricht der Kollege Patrick Meinhardt. (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD]) (Beifall bei der FDP) Deren Bauchgefühl verlangt nach zentral gesteuerten Strukturen und Planverfahren. Die im Jahre 1972 ins Le- Patrick Meinhardt (FDP): ben gerufene ZVS war eine solche Planbehörde, ganz Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen nach dem Geschmack der Grünen. Hier durften Beamte und Kollegen! Mit dem uns heute zur Beratung vorlie- noch über das Studienschicksal von jungen Menschen genden Antrag zeigen die Grünen einmal mehr, welch entscheiden. Nicht umsonst hatte das ZVS-Verfahren Geistes Kind sie sind. Sie glauben ganz offensichtlich, auch den Namen „Studentenlandverschickung“. Von Bü- (B) durch Regulierung und Staatsbürokratie zum besten Er- rokraten geliebt, von Studenten zutiefst gehasst – so stel- (D) gebnis zu kommen. len wir uns eine studentennahe Bildungspolitik nicht vor! (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann schauen Sie sich die Ergebnisse doch (Beifall bei der FDP) jetzt mal an!) Nun wollen die Grünen Wahlmöglichkeiten zuguns- Frau Sager, es wird Sie nicht verwundern, dass wir ten von Bequemlichkeit und Fremdbestimmung auf- Liberale dem ein anderes Modell entgegenhalten. Nicht geben. Wettbewerb und Hochschulautonomie sollen mehr bundeseinheitliche Regelungen, die Universitäten Staatsdirigismus und Planwirtschaft weichen – und dies und Studenten eigener Kompetenzen und eigener Wahl- ohne jedwede Notwendigkeit. freiheiten berauben, sind der Schlüssel zum Erfolg, son- (Lachen des Abg. René Röspel [SPD]) dern Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Wahlmög- lichkeiten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, stellen wir uns doch (Beifall bei der FDP) einmal wirklich die Frage, welches Menschenbild hinter solch einer Staatsgläubigkeit steht. Worüber reden wir eigentlich konkret? Es ist erst we- nige Wochen her – es war am 25. März –, dass den Mit- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Etwas gliedern aller Fraktionen, auch den Mitgliedern der kleiner!) Grünen, im Bildungsausschuss das neue Modell zur Re- Trauen wir es jungen Menschen, angehenden Akademi- gelung des Hochschulzugangs vorgestellt wurde. Alle kern, nicht zu, eigenverantwortlich nach ihren eigenen anwesenden Sachverständigen von der Hochschulrekto- Bedürfnissen, also selbstbestimmt, einen Studienplatz zu renkonferenz bis hin zur KMK waren zuversichtlich, finden? Wir Liberale trauen das unseren Abiturientinnen dass das neue Instrumentarium die derzeitigen Probleme und Abiturienten durchaus zu. löst. (Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: Da Das vorgestellte Verfahren scheint tatsächlich in der muss er selber lachen!) Lage zu sein, alle Interessen zu vereinen. Verantwor- tungsvoller Umgang mit Kapazitäten und finanziellen Mitteln wird mit freier Wahlmöglichkeit und mit Wett- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bewerb verbunden. Das ist ein sinnvoller Ansatz. Dieses Herr Kollege, die Kollegin Sager würde Ihnen gerne innovative Konzept hat drei Komponenten: eine Zwischenfrage stellen. 24398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Patrick Meinhardt (FDP): Swen Schulz (Spandau) (SPD): (C) Gerne, Frau Kollegin Sager. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Meinhardt, so kommen wir, glaube ich, nicht zusammen. Bitte schön. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! – Patrick Meinhardt [FDP]: Ich will Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch nicht mit Ihnen zusammenkommen!) Herr Kollege Meinhardt, halten Sie es für einen Er- Bei der Vergabe von Studienplätzen herrscht leider – da folg, dass im letzten Wintersemester allein in Baden- haben die Grünen vollkommen recht – schon seit langem Württemberg 2 487 NC-Studienplätze, also zugangsbe- ein Durcheinander und ein ziemlich heftiges Hickhack schränkte Studienplätze – das entspricht 12,4 Prozent al- darüber, wie dieses Problem gelöst werden kann. ler Studienplätze –, unbesetzt geblieben sind? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Patrick Meinhardt (FDP): sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Sager, Sie wissen ganz genau, dass bei einem Ich will jetzt darauf verzichten, die Schuldfrage zu er- Verfahren, das in Baden-Württemberg zu solchen Ergeb- örtern. Das führt nicht weiter. Aber eines ist klar, und nissen geführt hat, wie Sie sie beschrieben haben, eine darüber sollten wir uns hier alle einig sein: So wie es ist, Nachjustierung notwendig ist. darf und kann es nicht bleiben. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Oh!) DIE GRÜNEN) Deswegen führen wir ja diese Debatte, Frau Sager. Wir Wie ist die Situation? Die Hochschulen haben die haben genau deswegen im Bildungsausschuss darüber Freiheit, nach eigenen Kriterien Studierende zuzulassen. beraten, damit wir eine bessere Variante hinbekommen. Der Abiturnotendurchschnitt ist nicht mehr das einzige Es stimmt, dass in Baden-Württemberg Studienplätze Kriterium, wie es früher der Fall war, sondern es sind freigeblieben sind. Ich stelle aber die von Ihnen ge- auch andere Kriterien anwendbar. So können gewichtete nannte Zahl infrage. Mir ist diese Zahl nämlich nicht zu- Schulnoten, Bewerbungsgespräche und Vorqualifikatio- gänglich. Ich gebe allerdings zu, dass es letztendlich un- nen einbezogen werden. Das hat Vorteile. Ich bin nach besetzt gebliebene Studienplätze gegeben hat. Aber es wie vor der Überzeugung, dass der simple Abiturnoten- ist doch logisch, dass so etwas passiert ist und passieren durchschnitt den Menschen, ihren Fähigkeiten und ihren wird, wenn der Zugang zu den Universitäten von diesen (B) Leistungen nicht gerecht wird und diese nicht vernünftig (D) geregelt wird. Ich möchte – es ist meine feste Überzeu- abbildet. gung, dass das der richtige bildungspolitische Weg ist –, dass sich Studenten ihre Universitäten aussuchen können (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und Universitäten ihre Studenten. Doch das Fehlen jeder Steuerung bei der Studien- (René Röspel [SPD]: Wer will das denn platzvergabe, Herr Meinhardt, resultiert in der Praxis im nicht?) blanken Chaos. Die Bewerberinnen und Bewerber müs- sen sich mühsam Informationen darüber beschaffen, Der vorliegende Antrag der Grünen lässt sich knapp welche Unterlagen sie bei den einzelnen Hochschulen zusammenfassen: Probleme werden dort erzeugt, wo einzureichen haben und welche Kriterien diese über- vorher keine waren, und dafür Lösungen feilgeboten, haupt anwenden. Sie bewerben sich an mehreren Hoch- welche das Potenzial besitzen, ernste Verwerfungen her- schulen, weil sie nicht sicher sein können, dass sie an der beizuführen. Sie werden sehen, dass sich das vermeintli- von ihnen bevorzugten Hochschule tatsächlich genom- che Problem ohne politischen Interventionismus, ohne men werden. Da die Hochschulen unterschiedliche Zeit- Hyperaktivität und Firlefanz fast von alleine durch die abläufe und Fristen haben – wie es jedenfalls bisher der betroffenen Akteure bewältigen lässt. Fall war –, wissen die Bewerberinnen und Bewerber (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht, ob sie die Zusage einer Hochschule annehmen sol- Ihr habt nichts dazugelernt!) len, wenn sie noch auf den Bescheid der von ihnen bevorzugen Hochschule warten. Die Hochschulen wie- Es gibt Situationen, in denen die Politik gehalten ist, derum können sich nicht sicher sein, ob die Bewerberin- die Beine still und den Ball flach zu halten. Genau dies nen und Bewerber, denen sie eine Zusage geben, tatsäch- ist solch ein Fall. Deswegen können wir diesen Antrag lich das Studium bei ihnen aufnehmen; denn es gibt ja nur ablehnen. Leute, die durchaus mehr als eine Zusage erhalten. Herzlichen Dank. Im Resultat bleiben zwischen 10 und 20 Prozent der (Beifall bei der FDP – Stefan Müller [Erlangen] Studienplätze unbesetzt. Das muss man sich einmal auf [CDU/CSU]: War nicht ganz falsch!) der Zunge zergehen lassen. Während wir uns mit gro- ßem Aufwand, viel Engagement und einer Menge finan- zieller Mittel im Rahmen des Hochschulpaktes daran be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: teiligen, das Angebot an Studienplätzen auszubauen, Swen Schulz spricht jetzt für die Fraktion der SPD. bleiben viele Studienplätze unbesetzt, obwohl Leute (Beifall bei der SPD) dringend auf eine Zusage warten. So können wir mit den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24399

Swen Schulz (Spandau) (A) Menschen nicht umgehen, und so können wir mit der wortung. Das ist auch richtig so. Er trägt auch finanzielle (C) Zukunft des Landes nicht umgehen. Das muss geändert Lasten: bis zu 15 Millionen Euro. Der Haushaltsaus- werden. schuss des Deutschen Bundestages hat erst in der letzten Woche die Mittel für die Entwicklung des Softwaresys- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tems freigegeben. DIE GRÜNEN) Wir von der SPD haben dabei – das war uns wichtig – Früher wurde auf die ZVS geschimpft. Es war die Bedingungen durchgesetzt. Erstens. Das Bewerbungs- Rede von Bürokratie und Zentralismus. Heute sind es verfahren muss für diejenigen, die sich um Studienplätze andere Begriffe, die im Zusammenhang mit der Studien- bemühen, gebührenfrei sein. Wir wollen nicht, dass die platzvergabe fallen: Pokerspiel, Lotterie, Basar. Diese Leute für ihre Bewerbung auch noch Geld zahlen müs- Art der Studienplatzvergabe kann angesichts der Tatsa- sen. che, dass wir einem Fachkräftemangel entgegensehen, nicht unsere Lösung sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Bündnis 90/Die Grünen beantragen nun, dass ganz schnell etwas gemacht wird, dass ein Staatsvertrag von Zweitens. Das angesprochene Übergangsverfahren Bund und Ländern geschlossen wird und ein neues Ver- muss vernünftig laufen. Die Selbstverpflichtung der fahren schon zum Sommersemester 2010 in Kraft tritt. Hochschulrektorenkonferenz muss eingehalten werden. Das wäre natürlich toll; 92 Prozent der Hochschulleitungen haben erklärt, dass sie sich beteiligen werden. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir stellen immer tolle An- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ein Anfang!) träge!) Diese Quote muss mindestens gehalten werden. Wir aber es ist unrealistisch. Eine Oppositionsfraktion weist werden nicht akzeptieren, dass wir mit großem Aufwand auf ein bestehendes Problem hin, will es sofort ändern ein neues System etablieren, die Hochschulen sich aber hintenrum vom Acker machen. und hofft auf den Beifall der Bürgerinnen und Bürger; doch ich fürchte, das ist Augenwischerei. Ich glaube, Sie Ich sage dazu: 92 Prozent der Hochschulen – das ist wissen ganz genau, dass es so schnell leider nicht geht. gut. Aber es sind nicht 100 Prozent. 8 Prozent fehlen. Lassen Sie uns das lieber seriös betrachten. Dem Vernehmen nach soll bei der Abstimmung auf der Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonfe- Nach dem ganzen Theater, das es bei der Suche nach renz unter den 8 Prozent auch eine der großen Universi- der richtigen Lösung gegeben hat, ist nun endlich mit täten gewesen sein. (B) Ländern, Hochschulen und unter Einbeziehung einer (D) umgestalteten ZVS der Weg gefunden worden, dass zum (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wintersemester 2011/2012 ein sogenanntes dialogorien- Hamburg!) tiertes Serviceverfahren eingeführt wird. Wir werden das genau im Auge behalten. Aus unserer (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sicht ist das ein Hinweis darauf, dass wir eigentlich eine NEN]: Das ist noch zwei Jahre hin!) bundeseinheitliche gesetzliche Regelung benötigen. Dieses Verfahren soll dazu dienen, dass Bürokratie abge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten baut wird; es soll transparent und übersichtlich sein, und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) alle Beteiligten sollen schnell Klarheit bekommen. Die jetzige Vereinbarung ist ein guter Weg – zweifels- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das sind ohne. Aber besser wäre ein Bundeszulassungsgesetz, auf Vorschläge!) das sich alle dauerhaft verlassen können und bei dem keiner mehr ausbüxen kann. Leider geht es kaum schneller, weil allein für die Ent- wicklung der dafür nötigen Software vom Fraunhofer- (Monika Grütters [CDU/CSU]: Haben Sie Institut schon anderthalb Jahre angesetzt werden. Schon schon einmal mit Ihren Länderchefs gespro- damit wären wir über der von Ihnen gesetzten Ziel- chen?) marke. Zeit brauchen auch die Entwicklungsphase, die Letztlich muss es uns darum gehen, liebe Frau Prüfung, der Probelauf. Eine vernünftige Einführung des Grütters, die Hochschulen für alle zugänglich zu ma- Verfahrens ist wichtig; denn schließlich soll es gut funk- chen, die willens und in der Lage sind, zu studieren. tionieren. Ich bin, ehrlich gesagt, froh, wenn es tatsäch- Dazu müssen soziale Hindernisse wie etwa Studienge- lich – wie geplant – zum Wintersemester 2011/2012 bühren aus dem Weg geräumt werden. Es ist völlig uner- klappt. träglich, dass auf der einen Seite der Bund das BAföG verbessert, um den Studierenden über soziale Hürden Dieser eingeschlagene Weg macht trotzdem Hoff- hinwegzuhelfen, und auf der anderen Seite einige Bun- nung, zumal in der Zeit, bis das neue Verfahren greift, desländer durch Studiengebühren neue soziale Hürden eine Übergangsregelung existieren wird. Die Bewerbe- aufstellen. rinnen und Bewerber werden nicht hängen gelassen. Für diese Übergangszeit wird eine Zwischenlösung realisiert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit einer bundeseinheitlichen Bewerbungsfrist und mit DIE GRÜNEN sowie der Abg. Cornelia einer Studienplatzbörse im Internet für noch offene An- Hirsch [DIE LINKE] – Gabriele Hiller-Ohm gebote. Der Bund ist mit dabei und übernimmt Verant- [SPD]: Das ist unglaublich!) 24400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Swen Schulz (Spandau) (A) Wir brauchen Studienplätze in ausreichender Zahl, damit – Kollege Schulz, hier sind wir uns einig –: Es wäre (C) die Zulassungsbeschränkungen einmal komplett wegfal- schön, wenn die SPD eine Initiative auf den Weg brin- len. Das muss unser Ziel sein. Dazu benötigen wir ein gen würde. Dann wären wir gleich mit dabei. vernünftiges Verfahren für die Vergabe von Studienplät- zen. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das habe ich befürchtet!) Wir wollen nicht, dass der Geldbeutel, der bessere Anwalt oder vielleicht einfach nur das Glück darüber Wir brauchen keinen Staatsvertrag, sondern ein Bundes- entscheiden, ob jemand studieren kann. Wir wollen, dass gesetz für die Hochschulzulassung. Hier muss etwas ge- alle Menschen den gleichen Zugang zu Bildung haben. tan werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Mit einem Bundesgesetz könnte man nicht nur das Zulassungschaos und die Situation, dass viele Studien- plätze unbesetzt sind, beenden, sondern man könnte Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auch viel mehr festschreiben, als es im Rahmen eines Die Kollegin Cornelia Hirsch spricht jetzt für die Staatsvertrages jemals möglich wäre. In einem Bundes- Fraktion Die Linke. gesetz könnte man zum Beispiel – anders als nur unver- (Beifall bei der LINKEN) bindlich an die Länder zu appellieren – die Öffnung der Hochschulen für Menschen aus dem Bereich der berufli- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): chen Bildung regeln. Man könnte für Menschen aus dem Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereich der beruflichen Bildung den Rechtsanspruch auf Liebe Kollegin Sager, in der Problembeschreibung be- Zugang zur Hochschule schaffen. steht auch vonseiten der Linken durchaus Einigkeit. Das Das gilt auch für das Problem der Gebühren. Man betrifft sowohl die aktuelle Situation an den Hochschu- könnte dafür sorgen, dass der Zugang zur Hochschule len mit dem Bewerbungschaos und mit den Tausenden bundesweit gebührenfrei ist, damit die Campusmaut Stu- unbesetzten Studienplätzen wie auch die bisherige Reak- dieninteressierten ohne Geld nicht den Weg an die Hoch- tion der Bundesregierung, die zum einen komplett unzu- schule versperrt. reichend ist und zum anderen viel zu spät erfolgte. An dieser Stelle besteht kein Dissens. Es wird den Interes- (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE sen der Studienbewerber bestimmt nicht gerecht, wenn GRÜNEN]: Das hat das Bundesverfassungs- man nach monatelangen Debatten, die einfach nichts be- gericht aber leider anders entschieden!) (B) wirkt haben, eine Internettauschbörse auf freiwilliger Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundes- (D) Basis anbietet. Das kann nun wirklich nicht die Lösung regierung, wenn Sie es schaffen würden, die Mittel für für das Problem sein. den Hochschulpakt deutlich aufzustocken, anstatt sie, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Krista wie gerade geschehen, unter Haushaltsvorbehalt zu stel- Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) len und die Studierenden und Studieninteressierten im Unklaren zu lassen, dann hätten Sie große Schritte in die Was allerdings die Grünen in ihrem Antrag als Lö- Richtung, in die wir eigentlich gehen müssen, gemacht. sung vorschlagen, nämlich einen Staatsvertrag abzu- Es sollte unser gemeinsamer Anspruch sein, allen Stu- schließen, halten wir vonseiten der Linken auch nicht für dieninteressierten einen Studienplatz zu garantieren. Bis- den praktikabelsten und erfolgversprechendsten Weg. her ist vonseiten der Bundesregierung aber leider so gut Wenn wir uns anschauen, welche Lösungen sich aus ei- wie gar nichts getan worden. ner Diskussion über einen Staatsvertrag ergeben haben, dann müssen wir sagen, dass es auf die Schnelle keine Besten Dank. wirklich umfassenden und verbindlichen Regelungen (Beifall bei der LINKEN) geben wird, auf die man sich verlassen kann. Das ist aus unserer Sicht nicht der richtige Weg. Vor allen Dingen wird bei der Lösung des Staatsvertrages komplett über- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sehen, dass der Bund eigentlich viel mehr Möglichkeiten Ich schließe die Aussprache. hätte, im Hinblick auf die Hochschulzulassung tätig zu Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf werden. Drucksache 16/12476 an den Ausschuss für Bildung, Erinnern wir uns: Im Rahmen der Föderalismus- Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla- reform I wurde in bildungspolitischer Hinsicht sehr gro- gen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist so be- ßer Unfug betrieben. Zumindest wurde festgehalten, schlossen. dass die Kompetenzen für die Hochschulzulassung und Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf: die Hochschulabschlüsse beim Bund verbleiben. Das wäre ein möglicher Ansatzpunkt. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Traurig und zu kritisieren ist aber, dass seit dieser zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Entscheidung vonseiten der Bundesregierung auf diesem Vormundschaftsrechts Gebiet überhaupt nichts getan wurde. An genau dieser Stelle müsste man aber ansetzen. Deshalb sagt die Linke – Drucksache 16/10798 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24401

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Vermögen zur Schuldentilgung oder zum Erwerb von (C) schusses (6. Ausschuss) Aktien eingesetzt wird. Allerdings wird der Aus- gleichsanspruch grundsätzlich auf das vorhandene Ver- – Drucksache 16/13027 – mögen beschränkt. Das bedeutet, grundsätzlich muss Berichterstattung: sich kein Ehegatte zusätzlich verschulden, um die Aus- Abgeordnete Ute Granold gleichsforderungen des anderen zu bedienen. Eine Aus- Christine Lambrecht nahme von diesem Grundsatz gilt allerdings für den Ehe- Joachim Stünker gatten, der sein Vermögen zur Schädigung des anderen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Ehegatten verschwendet oder verschenkt hat. Jörn Wunderlich (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jerzy Montag – Das wollten wir ja auch so. – Er muss notfalls einen Es ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattie- Kredit aufnehmen. ren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Künftig werden auch Vermögensverschiebungen zu- lasten des ausgleichsberechtigten Ehegatten effektiv ver- Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen hindert. Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach. (Beifall bei der SPD) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Der Gesetzentwurf sieht hierfür folgende Neuerungen desministerin der Justiz: vor: Für die Berechnung der konkreten Höhe der Aus- Verehrte Frau Präsidentin! Meine Herren im Präsi- gleichsforderung soll künftig bereits der Zeitpunkt der dium! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir bera- Zustellung des Scheidungsantrags maßgeblich sein. Bis- ten heute eine gute und zeitgemäße Änderung des Fami- her war dafür erst der spätere Zeitpunkt der Rechtskraft lienrechts. Der Gesetzentwurf lässt das Grundprinzip des der Scheidung maßgeblich. In der Zwischenzeit bestand Zugewinnausgleichs – darum geht es – unberührt. Die in der Praxis die Gefahr, dass der ausgleichspflichtige Einfachheit und Klarheit des Ausgleichsmodus, der für Ehegatte Vermögen beiseiteschaffte. die Praxis elementar wichtig ist, bleibt erhalten. Der Ge- Darüber hinaus wird der ausgleichsberechtigte Ehe- setzentwurf sieht allerdings Neuerungen vor, die die gatte vor Vermögensverschiebungen mit Schädigungsab- Schwachstellen des geltenden Zugewinnausgleichs be- sicht in der Phase zwischen Trennung und Rechtshän- seitigen. Dadurch sorgt der Gesetzentwurf für mehr Ge- gigkeit des Scheidungsantrags geschützt. Dies gelingt rechtigkeit, vor allem nach einer Scheidung. durch den zusätzlichen Auskunftsanspruch über das Ver- (B) mögen zum Zeitpunkt der Trennung. Dadurch ist es dem (D) Die meisten Ehepartner leben im gesetzlichen Güter- ausgleichsberechtigten Ehegatten nunmehr möglich, stand. In diesem Güterstand wird der sogenannte Zuge- Vermögensminderungen zwischen der Trennung und winn bei Ende der Ehe ausgeglichen. Das bedeutet, bei dem Stichtag für das Endvermögen aufzudecken. Die einer Scheidung kann der Ehegatte, dessen Vermögen damit verknüpfte neue Beweislastregel führt dazu, dass während der Ehe einen geringeren Zuwachs erfahren hat sich der Ausgleichsschuldner dazu erklären muss, wa- als das des anderen Ehegatten, von diesem einen Aus- rum es zu einer Vermögensminderung zwischen Tren- gleich in Geld verlangen. Ziel des Zugewinnausgleichs nung und Stichtag gekommen ist. Das ist auch gerecht. ist es, dass beide Eheleute an dem während der Ehe Er- Denn er, der Ausgleichsschuldner, hat den besseren Ein- worbenen gerecht, also grundsätzlich zu gleichen Teilen, blick in seine Vermögensbewegungen und kann einen beteiligt werden. unverschuldeten Vermögensverlust darlegen, während Diese gleichberechtigte Teilhabe der Ehegatten kann der andere Ehegatte diese Möglichkeiten eben nicht hat. nach geltendem Recht dann nicht vollständig zum Tra- (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) gen kommen, wenn ein Ehepartner bei der Eheschlie- ßung mehr Schulden als Vermögen hat. Hier schafft der Schließlich wird es für beide Ehegatten einfacher, die Gesetzentwurf Abhilfe. Nach der Neuregelung wird Zugewinngemeinschaft ohne Auflösung der Ehe zu be- auch das sogenannte negative Anfangsvermögen berück- enden. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte soll künftig sichtigt und bei der Berechnung des späteren Aus- seinen Anspruch auf vorzeitigen Zugewinnausgleich un- gleichsanspruchs in die Bilanz der Ehe eingestellt. mittelbar geltend machen und seinen Geldanspruch im vorläufigen Rechtsschutz durch Arrest auch direkt si- (Beifall bei der SPD) chern können. Damit kann der Ehepartner, dem Schaden Dadurch wird auch der zur Schuldentilgung verwandte droht, mithilfe des Gerichts verhindern, dass der andere Vermögenszuwachs ausgeglichen und der Grundge- sein Vermögen ganz oder in Teilen beiseiteschafft. danke des Zugewinnausgleichs konsequent zu Ende ge- Der Entwurf führt ergänzend die Pflicht ein, bei einer dacht. Das gilt übrigens demnächst auch für die Ehen, Auskunft auch Belege über das Vermögen vorzulegen. bei denen ein Ehegatte oder beide Schulden in Form ei- Die Reform schafft also ausreichend Schutzvorschriften, nes Darlehens für die Finanzierung der Studiengebühren damit der Ausgleichsanspruch eines Ehegatten nicht mit in die Ehe bringen. Ich erinnere einmal daran. durch schädigendes Verhalten des anderen Ehegatten vereitelt oder geschmälert wird. Für den ausgleichsberechtigten Ehegatten macht es keinen Unterschied, ob das während der Ehe erworbene (Beifall bei der SPD) 24402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Ein weiteres wichtiges Anliegen betrifft die Rechtsbe- destagsabgeordneten ausüben – Frau Präsidentin, das (C) reinigung. Die aus dem Jahr 1944 – notabene! – stam- darf ich jetzt noch sagen, oder? –: mende Hausratsverordnung wird der Vergangenheit an- gehören. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Vertreter der Bundesregierung dürfen so lange reden, wie sie wollen. Die Zeit wird später abgezogen. Die notwendigen materiell-rechtlichen Regelungen wer- den in das Bürgerliche Gesetzbuch integriert und zu- gleich modernisiert. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Der Gesetzentwurf sieht eine weitere wichtige Neue- Sie haben bewiesen, dass das Gerede, Abgeordnete rung vor, die allerdings nicht den Zugewinnausgleich be- sollen nur einen Beruf haben, nicht in Ordnung ist. trifft, sondern die Verfügung eines Vormunds oder Durch Ihre fachliche Qualifikation, die Sie, vor allen Betreuers über das Guthaben auf einem Giro- oder Kon- Dingen Sie, Frau Granold und Frau Lambrecht, in diese tokorrentkonto. Bisher musste der Betreuer, der am auto- Debatten eingebracht haben, haben Sie bewiesen, dass es matisierten Giroverkehr teilnahm, alles, was über gut ist, wenn weiterhin eine Verzahnung zwischen Abge- 3 000 Euro ging, genehmigen lassen. Künftig kann er ordneten und Beruf besteht. genehmigungsfrei darüber verfügen. Die Schutzvor- schriften des Vormundschaftsrechts sind auch ohne die (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ bisherige Genehmigungspflicht ausreichend, um das DIE GRÜNEN]: Das war nicht gut! Die Rede- Vermögen von Mündeln und Betreuten vor ungerechtfer- zeit ist schon beendet!) tigten Abflüssen zu bewahren. Kämpfen Sie auch in der nächsten Legislaturperiode da- Der Gesetzentwurf sorgt damit vor allem für einen ge- für, dass das so bleibt. Ich werde Ihnen dabei freundlich rechten und effektiven Zugewinnausgleich. Die Reform zuschauen. soll zum 1. September 2009 in Kraft treten und gleich- zeitig mit der Reform des Familienverfahrensrechts und Vielen Dank. der Reform des Versorgungsausgleichs anwendbares (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Recht sein. FDP – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- Dies ist der vierte Gesetzentwurf zum Familienrecht, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Job einer Abge- den wir hier behandeln. ordneten dauert 16 Stunden am Tag!) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: In dieser Legis- (B) (D) laturperiode!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Weil die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – Ja, in dieser Legislaturperiode. – Ich möchte mich sehr ihre Rede zu Protokoll gibt,1) hat jetzt der Kollege Jörn herzlich bei Ihnen allen bedanken; denn wir haben fast Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort. immer in großer Einmütigkeit gearbeitet. Ich denke, das wird auch bei der heutigen Abstimmung zum Ausdruck kommen. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir in der Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Rechtspolitik wirklich etwas vorangebracht haben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach hat die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wesentlichen neuen Bestandteile dieses Gesetzentwurfs der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- zum Familienrecht zutreffend dargelegt. Er hat auch ge- NISSES 90/DIE GRÜNEN) sagt, dass dies inzwischen das vierte Gesetz in dieser Le- – Ich lobe euch gleich noch viel mehr. Passt mal auf. gislaturperiode ist, mit dem die zum Teil unangenehmen Nebenfolgen einer Scheidung neu geregelt werden und Hinzu kommt Folgendes: Heute Morgen hat sich ein versucht wird, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu junger Kollege etwas herablassend über Ministerialbe- minimieren. Ich möchte hier nicht nach dem Motto agie- amte ausgelassen. Ich denke, diese vier Gesetzentwürfe ren: Es ist schon alles gesagt worden, aber noch nicht zum Familienrecht haben zwei Dinge gezeigt: von jedem. Ich könnte im Grunde nur Gesagtes wieder- Erstens. Ministerialbeamte können sehr gut und ver- holen. nünftig mitarbeiten. Ich freue mich über die erfolgreichen, sachlichen Be- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Zuarbeiten!) richterstattergespräche, auch über das erweiterte Bericht- – Mitarbeiten! Gut, mein lieber Uwe: Zuarbeiten. – Des- erstattergespräch, in dem letztlich die Anträge der Op- wegen gilt mein Dank meinen Mitarbeiterinnen und Mit- position, egal von welcher Fraktion sie kamen, in den arbeitern im Bundesjustizministerium. Gesetzentwurf einflossen. Daher können wir diesem Gesetzentwurf mit gutem Gewissen zustimmen und fest- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stellen, dass eine deutliche Verbesserung auf den Gebie- der CDU/CSU) ten des Zugewinnausgleichs und des Vormundschafts- rechts erreicht worden ist. Hinsichtlich der Konten Zweitens. Sie alle haben hervorragend mitgearbeitet. Ich möchte Sie ermuntern, vor allen Dingen Sie, meine Damen, die Sie einen zweiten Beruf neben dem des Bun- 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24403

Jörn Wunderlich (A) passen wir das Recht ja nur an die tatsächlichen Gege- Wir wollen mit der jetzigen Reform wesentliche Fehl- (C) benheiten an. entwicklungen und Ungerechtigkeiten korrigieren. Es geht zum einen – das wurde schon angesprochen – um Jetzt habe ich noch knapp vier Minuten Redezeit. Schulden, die in die Ehe eingebracht werden. Diese wer- Luftgitarre möchte ich nicht spielen. Ich schenke die den in Zukunft berücksichtigt. Denn auch der Abbau von restliche Zeit dem Parlament. Schulden ist ein wirtschaftlicher Vorteil, ein Vermögens- Vielen Dank. zuwachs, an dem der andere Ehepartner teilhaben sollte. Es geht auch um Vermögensverschiebungen, die in der (Beifall bei der LINKEN und der FDP – Vergangenheit nur schwer von demjenigen, der Ansprü- Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE che geltend macht, bewiesen werden konnten. Wir ver- GRÜNEN]: Das ist aber schade! Die Luftgi- suchen mit diesem Gesetzentwurf, diese Beweisproble- tarre hätte ich mir gern angeguckt!) matik zu beseitigen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Entwurf wurde den Verbänden, den Bundeslän- dern und den Fachkreisen im November 2008 vorgelegt. Jetzt hat die Kollegin Ute Granold das Wort für die Diese Praxis der Einbindung des außerparlamentari- CDU/CSU-Fraktion. schen Bereichs hat sich beim Unterhaltsrecht und beim (Beifall bei der CDU/CSU) Familienverfahrensrecht bewährt. Deshalb wurde auch hier darauf zurückgegriffen. Ute Granold (CDU/CSU): Die erste Lesung des Gesetzentwurfes fand im No- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vember 2008 statt. Im Februar 2009 wurde ein soge- Ich denke schon, dass wir einige Punkte dieses wichti- nanntes erweitertes Berichterstattergespräch durchge- gen Gesetzentwurfs hier erwähnen sollten. Es geht um führt. Diese Gespräche haben sich in der Vergangenheit ein Thema, das viele Menschen berührt. als sehr praxisorientiert und intensiv dargestellt. Es war Ich danke dem Herrn Staatssekretär ausdrücklich für auch hier sehr fruchtbar. Das Ergebnis des Berichterstat- die gute Zusammenarbeit, für die Zuarbeit des Justiz- tergesprächs hat die Koalition dazu veranlasst, einige ministeriums. Ich danke auch dafür, dass Sie erwähnt ha- wesentliche Änderungen gegenüber dem Regierungsent- ben, dass hier Praktiker am Werk waren. Wenn ein wurf vorzunehmen. Es freut uns insbesondere, dass die Gesetz geändert wird, nachdem Praktiker ihren Sachver- dann folgenden Berichterstattergespräche mit der Oppo- stand eingebracht haben, dann ist das eine gute Sache. sition dazu geführt haben, dass wir in diesem Haus heute Ich finde, das muss man nicht unbedingt schlechtreden. – ebenso wie bei anderen Reformen im Familienrecht – hoffentlich einen einstimmigen Beschluss herbeiführen (B) (D) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ können. An dieser Stelle herzlichen Dank dafür! DIE GRÜNEN]: Dafür macht man eine Anhö- rung!) Im Regierungsentwurf bereits festgelegt und auch in der Empfehlung des Rechtsausschusses vom Mittwoch Herr Staatssekretär – Sie haben es bereits gesagt –, bestätigt ist das sogenannte negative Anfangsvermögen. wir haben in dieser Legislaturperiode vier große Baustel- Das heißt, wenn ein Ehepartner heute mit Schulden in len im Familienrecht bearbeitet. Die ersten drei waren die Ehe geht und während der Ehe die Schulden abbaut das Unterhaltsrecht, die Strukturreform des Versor- und gar noch Vermögen dazu erwirtschaftet, muss das gungsausgleichs und das Familienverfahrensgesetz. Das dem anderen Ehepartner zugute kommen. Das war bis- Unterhaltsrecht ist seit dem 1. Januar 2008 in Kraft. Die lang nicht der Fall. Bislang wurde der Ehepartner bei der beiden anderen Gesetze werden ebenso wie das jetzt zu Berechnung des Zugewinns auf null gestellt. Es gab bis- behandelnde eheliche Güterrecht, sofern das Haus das her kein negatives Anfangsvermögen. Das ist, denke ich, heute beschließt, zum 1. September 2009 in Kraft treten. gut; denn es schafft ein Stück weit Gerechtigkeit. Das eheliche Güterrecht ist eine Folgesache im Rah- Eine weitere Regelung ist der Schutz vor Vermögens- men einer Scheidung, die nicht zu vernachlässigen ist, manipulationen. Zukünftig wird sowohl für die Berech- aber auch ein Rechtsgebiet, in dem sehr viel getrickst nung des Zugewinns als auch für die Höhe der Aus- wird. Deshalb haben wir uns berufen gesehen, einige gleichsforderung der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Korrekturen vorzunehmen, um Ungerechtigkeiten und Scheidungsantrages maßgeblich sein. Damit rentiert es Vermögensverschiebungen in Zukunft zu verhindern. sich nicht mehr, Vermögensverschiebungen zum Nach- Das ist nicht gänzlich möglich, aber zu einem großen teil des Ausgleichsberechtigten in der Zeit zwischen der Teil. Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags und der Fällig- keit der Forderung selbst, also mit Rechtskraft der Schei- Die Mehrzahl der Eheleute in Deutschland lebt im dung, vorzunehmen. Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Bei der Schei- dung wird der Zugewinn ausgeglichen. Das, was die Ich nenne ein Beispiel. Der Mann reicht die Schei- Eheleute während der Ehezeit erwirtschaftet haben, wird dung ein – dieses Beispiel kann natürlich auch für eine hälftig geteilt. Hier gilt das sogenannte Stichtagsprinzip. Frau gelten – und hat nach der Berechnung einen Zuge- Die Berechnung ist sehr stark schematisiert, weil der winn in Höhe von 20 000 Euro. In dem Zeitraum zwi- Güterstand klar und leicht handhabbar getrennt werden schen der Einreichung der Scheidungsschrift und der soll. Das hat sich in der Vergangenheit grundsätzlich be- Rechtskraft der Scheidung vergehen in der Regel meh- währt. rere Monate. In dieser Zeit fährt er mit seiner Freundin 24404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Ute Granold (A) in den Urlaub. Das kostet 8 000 Euro. Dann verliert er Das Wichtigste ist die Neuregelung – sie kommt aus (C) noch 12 000 Euro an der Börse. Er hat dann mit Beendi- der Praxis –, dass ein Anspruch auf Auskunft über den gung der Ehe 0 Euro. Das heißt, der Ausgleichsanspruch Bestand des Vermögens künftig bereits mit der Trennung der Ehefrau – die Hälfte von 20 000 Euro, sprich der Ehegatten besteht. Das heißt also, dass zum Zeit- 10 000 Euro – steht auf dem Papier, kann aber nicht rea- punkt der Trennung Auskunft über den Bestand des Ver- lisiert werden. Das kann nicht sein. Deshalb sagen wir: mögens zu erteilen ist. Dieser Auskunftsanspruch ist mit Für die Berechnung des Ausgleichsforderungsanspru- der Verpflichtung unterlegt, den Vermögensbestand zu ches ist der Zeitpunkt des Scheidungsantrages maßgeb- belegen. Auch das ist eine Regelung, die dem Unter- lich. Das ist gut so. haltsrecht entspricht. Damit kann Missbrauch weitestge- hend verhindert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Natürlich gibt es auch den Fall, dass ein Ehepartner Wir haben auch festgelegt, dass die Möglichkeit be- den Ausstieg aus der Ehe vorbereitet, während der an- stehen muss, drohenden Vermögensverschiebungen recht- dere Ehepartner noch denkt, alles sei okay. Wenn dann zeitig Einhalt zu gebieten, indem ein vorzeitiger Anspruch alles soweit organisiert ist – das Vermögen ist weg- auf Ausgleich in Form einer sogenannten Leistungsklage geschafft, die Konten sind geplündert –, dann sagt dieser besteht. Bislang war das nur mit einer Gestaltungsklage Ehepartner: Jetzt gehe ich aus der Ehe heraus und gebe möglich. Das war eine Klage auf Beendigung der Zuge- Auskunft. In solch einem Fall ist das, was wir jetzt auf winngemeinschaft. Heute kann man direkt auf Leistung den Weg bringen, nicht ausreichend. Der Gesetzgeber klagen. Der Anspruch kann bei einer drohenden illoya- kann aber auch nicht alles regeln. len Vermögensverschiebung bereits durch Arrest vorläu- Die lange Zeit zwischen Trennung und Scheidungsan- fig gesichert werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. trag von immerhin einem Jahr – das Zerrüttungsprinzip Ich denke, das haben wir richtig auf den Weg gebracht. besagt, dass man ein Jahr in Trennung leben muss, bevor (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Scheidung eingereicht werden kann – kann nun ge- nutzt werden, um stichtagsbezogen und -gerecht Aus- Der Ehepartner hat – auch das ist neu – einen Aus- kunft zu verlangen. kunftsanspruch und einen Beleganspruch über die Höhe des Anfangsvermögens, also das Vermögen, das jeder Wenn jemand zum Stichtag der Trennung die Aus- Ehepartner hat, wenn er heiratet. Dies ist im Unterhalts- kunft erteilt, er besitze 50 000 Euro, und später, wenn es recht ähnlich. zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags kommt, sagt, er besitze 10 000 Euro, dann muss derjenige, der Der Staatssekretär hat es erwähnt: Die Hausratsver- eine Vermögensminderung darlegt, beweisen, wie es zu (B) ordnung aus dem Jahre 1944 wird aufgehoben; die we- dieser Vermögensminderung kam. Wenn ihm dies nicht (D) sentlichen Vorschriften werden in das BGB übernom- gelingt – es also eine illoyale Vermögensminderung war –, men. Hier haben wir auch die Stellungnahmen des dann wird er gestellt, als hätte er zum Zeitpunkt der Bundesrates – da gab es einige Korrekturen – berück- Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags das Geld noch sichtigt. Das Gleiche gilt für die Änderung des Vor- besessen. Wenn die Vermögensminderung nicht illoyal mundschaftsrechts. Hier geht es darum, dass bei der ist, wird anders gerechnet. Verwaltung von Girokonten durch Betreuer Vereinfa- chungen im Rechtsverkehr durchgeführt werden. Ein Beispiel: Mit der Trennung kauft jemand seiner Freundin einen Porsche. Dadurch wird das Vermögen Wichtig ist auch das Vorsorgeregister, das wir in der um – ich habe keine Ahnung, was ein Porsche kostet – letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben. 70 000 Euro gemindert. In diesem Register sind die Vorsorgevollmachten regis- triert. Nun soll es auch möglich sein, dass Betreuungs- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wie viel? Das verfügungen – hier gibt es eine Reihe von Verfügungen – Dreifache!) in das Register aufgenommen werden. Es ist gut, dass das nun festgelegt wird. – Weiß ich nicht. Es handelt sich um einen gebrauchten Porsche, okay? – Das Geld ist dann weg, wenn der Nach dem von mir schon eingangs erwähnten Be- Scheidungsantrag anhängig ist. Wenn er allerdings zwi- richterstattergespräch gab es Ergänzungen, die uns sehr schen Trennung und Rechtshängigkeit des Scheidungs- wichtig sind. Zum einen soll an der bisherigen Kap- antrages durch eine riskante Geldanlage einen Teil sei- pungsgrenze festgehalten werden. Hier sah der Regie- nes Vermögens verliert, dann handelt es sich nach der rungsentwurf vor, die Ausgleichsforderung auf die derzeitigen Rechtsprechung um keine illoyale Vermö- Hälfte des Vermögens des Ehepartners zu begrenzen. gensverschiebung. Demzufolge ist sie dem Ausgleichs- Wir sagen nun, dass das ganze Vermögen für den Aus- verpflichteten nicht anzurechnen. gleichsanspruch haftet. Allerdings muss der Ausgleichs- verpflichtete nicht ein Darlehen aufnehmen, um die Aus- Zusammenfassend möchte ich sagen: Mit diesem Ge- gleichsforderung erfüllen zu können. Eine Ausnahme: setz können wir nicht alle illoyalen Vermögensverschie- Wenn der Pflichtige illoyale Vermögensverschiebungen bungen und Beweisschwierigkeiten beseitigen. Wir den- vornimmt, dann muss er sich auch gefallen lassen, dass ken aber doch, dass wir Wesentliches ändern konnten er die Ausgleichsforderung notfalls mit einem Darlehen und ein effektives Instrumentarium geschaffen haben, finanzieren muss. Dies fördert den Schutz des Berechtig- um nach Beendigung der Ehe einen fairen und interes- ten. sengerechten Zugewinnausgleich zu gewährleisten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24405

Ute Granold (A) Ich möchte dem BMJ und den Kolleginnen und Kol- immer noch sehr lebendig. Dies macht die heutige Re- (C) legen aus den anderen Fraktionen für die konstruktive form umso notwendiger. Zusammenarbeit bei diesem Gesetzentwurf danken. Ich würde mich freuen, wenn das Gesetz heute in diesem Ansatzpunkte – das wurde gesagt – sind ein besserer Hause einstimmig verabschiedet werden könnte. Schutz vor Vermögensmanipulation und die Einbezie- hung von Anfangsschulden in den Zugewinnausgleich. Vielen Dank. Im vorliegenden Gesamtpaket sind mehrere Instrumente vorgesehen, um im Rahmen des Möglichen vor einer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Aushöhlung des Zugewinnausgleichs zu schützen. Die Möglichkeiten, bei drohender illoyaler Vermögensverfü- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gung eine vorzeitige Ausgleichszahlung durchzusetzen Irmingard Schewe-Gerigk hat jetzt das Wort für und zu sichern, werden verbessert. Die Auskunftsan- Bündnis 90/Die Grünen. sprüche zur Klärung des Vermögensbestands werden er- heblich erweitert. Nun können auch Belege wie Konto- auszüge verlangt werden. Die rückblickende Startbilanz Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE wird einfacher, Mauscheleien zwischen Trennung und GRÜNEN): Scheidung können leichter aufgedeckt werden, und wun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dersamer Vermögensschwund nach der Trennung – ge- Die heutige Reform ist überfällig. Die Zahl der Schei- rade wurde das Beispiel mit dem Porsche genannt – dungen ist hoch, und nicht immer geht es bei der Tren- muss erklärt werden. Die Umkehrung der Beweislast ist nung fair und transparent zu. Die Leidtragenden sind eine gute Lösung, die eine weitere Vorverlegung des überwiegend die Frauen. Stichtages für die Abrechnung entbehrlich macht. Durch „Scheiden soll weniger weh tun“, titelte heute die die Berücksichtigung getilgter Anfangsschulden wird tageszeitung. Zumindest finanziell, kann man da nur sa- der Zugewinnausgleich gerechter. gen; denn bisher gab es viele Schlupflöcher, um Vermö- Für mich war es wichtig, dass die sogenannte Kap- gen beiseitezuschaffen. Außerdem gab es eine große Un- pungsgrenze für den Ausgleichsanspruch auf null gesetzt gerechtigkeit: Brachte ein Partner hohe Schulden mit in wurde. Ursprünglich war vorgesehen, dass nicht mehr die Ehe, musste er bei der Scheidung nicht unbedingt ei- als die Hälfte des verbleibenden Vermögens für die Aus- nen entsprechenden Ausgleich zahlen, und das, obwohl gleichszahlung eingesetzt werden muss. Das war nicht der andere Partner – meist muss man sagen: die Partne- einzusehen. Nun kann ein Ausgleichsanspruch bis zum rin – durch Geld oder Familienarbeit an der Rückzah- Wert des gesamten restlichen Vermögens realisiert wer- lung der Schulden mitgewirkt hatte. So konnte zum Bei- (B) den. Lediglich neue Schulden muss niemand aufnehmen. (D) spiel der Aufbau einer Selbstständigkeit als gemeinsamer Lebensgrundlage zum einseitigen Vorteil Ich hätte es befürwortet, wenn auch für die aus- werden. Wenn man gleiche Teilhabe am Vermögenszu- gleichsberechtigte Person eine Billigkeitsklausel einge- wachs will, muss man aber berücksichtigen, wo der baut worden wäre. Meines Erachtens hätte sich eine eng Startpunkt lag. formulierte Lösung für etwas mehr Einzelfallgerechtig- keit finden lassen – der Herr Staatssekretär nickt –, ohne Wir haben schon unter Rot-Grün, Herr Staatssekretär, den bewährten Mechanismus des Zugewinnausgleichs mit den Vorarbeiten für notwendige Korrekturen begon- aufzuweichen. Schließlich gibt es schon eine Billigkeits- nen. Die Große Koalition hat dieses Vorhaben fortge- klausel, und zwar für die ausgleichsverpflichtete Person. führt. Der Gesetzentwurf, den das Bundesjustizministe- Aber dieser Punkt war nicht entscheidend. rium vorgelegt hatte, ging in die richtige Richtung, ließ aber noch Luft für Verbesserungen. Was sich verbessern Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Transparenz lässt, haben wir in der ersten Debatte im Plenum be- und Verwirklichung gleicher Teilhabe, diese Ziele haben nannt. wir erreicht. Die ersten Rückmeldungen aus der Fach- Nach intensiven Berichterstattergesprächen und nach welt sind sehr positiv. Ich unterstütze allerdings die For- Gesprächen mit den Sachverständigen – denen ich an derung des Deutschen Juristinnenbundes, den gesetzli- dieser Stelle ebenfalls danken möchte – haben wir uns chen Güterstand insgesamt zu ändern. Ich denke, die EU beraten. Das Ergebnis, das heute vorgelegt wird, zeigt: wird uns demnächst dazu auffordern. Trotzdem ist heute Es hat sich gelohnt, um die bestmögliche Lösung zu rin- ein guter Tag, insbesondere für die Frauen. Deshalb gen. Eine solch offene und konstruktive Zusammen- stimme ich dem Gesetzentwurf aus voller Überzeugung arbeit aller Beteiligten würde man sich auch bei anderen zu. Themen manchmal wünschen. Ich habe noch etwas Zeit und würde in dieser gerne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darauf eingehen, dass der Herr Staatssekretär mit seiner sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der letzten Äußerung diejenigen gelobt hat, die neben ihrem SPD und der LINKEN) Bundestagsmandat noch einen zweiten Beruf, als An- wältin, haben. Herr Staatssekretär Hartenbach, ich stelle Die Reform kommt den finanziell meist schwächerge- mir manches Mal die Frage, wie das gehen kann. Ich übe stellten Frauen zugute. Viele Frauen wissen bis heute mein Mandat als Vollzeitberuf aus. Viele meiner Arbeits- weder, was der Ehemann verdient, noch, wie hoch der tage haben 16 Stunden. Ich wüsste nicht, wie ich einen Kontostand ist. Die alten Geschlechterrollen sind eben zweiten Beruf damit in Einklang bringen könnte. Diese 24406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Debatte sollten wir zu einem späteren Zeitpunkt einmal (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Andrea (C) führen. Astrid Voßhoff [CDU/CSU]) Ich danke allen, die an diesem guten Gesetzentwurf Eine Gerechtigkeitslücke ist, dass bei der Berechnung mitgewirkt haben, und sage den Koalitionsfraktionen zu, des Zugewinns Schulden vor der Ehe bislang unberück- dass wir ihn voll unterstützen werden. sichtigt geblieben sind. Das ist hier auch schon ausgiebig erläutert worden. Wir werden sie künftig berücksichti- Vielen Dank. gen. Das ist in der Tat gerechter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einen besonderen Schwerpunkt legen wir darauf sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der – auch das wurde ausreichend erläutert –, den schwäche- SPD und der LINKEN) ren Partner künftig deutlich besser vor sogenannten il- loyalen Vermögensverschiebungen zu schützen. Das ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lingt uns mit der Fixierung eines festen Zeitpunktes für Helga Lopez hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. die Auskunftspflicht, mit dem der Zeitraum deutlich ver- kürzt wird, die der stärkere Partner heute noch für diese illoyalen Transaktionen zur Verfügung hat, mit einer Helga Lopez (SPD): deutlich verstärkten Auskunftspflicht und mit einer Be- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! legpflicht. Frau Schewe-Gerigk hat eben über die Zahl der Ehe- scheidungen gesprochen. Laut Statistischem Bundesamt Es ist hier auch schon gesagt worden – ich glaube, – ich habe heute einmal nachgesehen – waren das in von der Kollegin Schewe-Gerigk –, dass nicht etwa die 2007 rund 187 000, das heißt, in Deutschland wird der- vermögenden Ehepaare im Besonderen davon profitie- zeit jede dritte Ehe geschieden. ren, sondern gerade die vielen Ehepaare, die nicht so viel Vermögen haben. Denn gerade dort tut es besonders Die Mehrzahl der Ehepaare lebt nach wie vor im ge- weh, wenn zwischen der Trennung und der Scheidung setzlichen Güterstand, also im Güterstand der Zuge- noch mal eben 10 000 Euro beiseitegeschafft werden. winngemeinschaft. Hier sei mir eine persönliche Bemer- Wie gesagt, wir haben gute Regelungen gefunden, um kung gestattet, die ich auch gestern im Ausschuss schon hier zu deutlich besseren Ergebnissen zu kommen. gemacht habe: Die Zugewinngemeinschaft ist fair bei Auch ich will noch einmal den Mitarbeiterinnen und Beendigung der Ehe, insbesondere deswegen, weil dann Mitarbeitern des BMJ wie auch den Sachverständigen das in der Ehe zusätzlich erworbene Vermögen fair ge- im Namen meiner Fraktion herzlich für die erneut exzel- teilt wird. Während der Ehe hängt der wirtschaftlich lente Zuarbeit und Mitarbeit danken. Ganz herzlichen (B) schwächere Partner aber doch sehr – ich sage es einmal (D) Dank! so – am Tropf des wirtschaftlich stärkeren Partners. Das liegt daran, dass der gesetzliche Güterstand vereinfacht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ausgedrückt im Grunde genommen eine Gütertrennung der CDU/CSU) während der Ehe bei Ausgleich des Mehrvermögens am Ende der Ehe ist. Frau Granold hat schon darauf hingewiesen, dass im Zuge der Beratungen über viele Teilbereiche intensiv mit (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ den Sachverständigen diskutiert worden ist. Ich erinnere DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) mich noch an ein Thema, das wir neben der Härtefall- klausel auch sehr intensiv erörtert haben, nämlich die Ich persönlich würde mir wünschen, dass in der Anrechnung von eheneutralem Erwerb. Die Berichter- 17. Legislaturperiode nach dieser wirklich guten Re- statterinnen und Berichterstatter sind mit den Sachver- form, durch die der gesetzliche Güterstand deutlich ver- ständigen aber eindeutig zu dem Ergebnis gekommen, bessert und deutlich fairer gemacht wird, vielleicht noch dass wir besser keine Korrekturen vornehmen, weil wir einmal darüber nachgedacht wird, ob nicht auch eine Re- per se keine Besserstellung und auch keine größere Pra- gelung gefunden werden kann, durch die die Fairness xisnähe bei der Bearbeitung hinbekommen. während der Ehe erhöht wird. Über die Aufhebung der Hausratsverordnung und die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Änderungen im Vormundschaftsrecht ist bereits ausgie- Als Stichwort – aber auch nur als Stichwort – sei hier der big informiert worden. Ich persönlich freue mich, dass Güterstand der Errungenschaftsgemeinschaft genannt, die Reform des Zugewinn- und Vormundschaftsrechts den es ja in vielen anderen europäischen Ländern gibt. zusammen mit der FGG-Reform am 1. September dieses Jahres in Kraft treten kann. Als Familien- und Frauen- Zurück zum Thema, zum gesetzlichen Güterstand der politikerin freue ich mich ganz besonders, dass auch Zugewinngemeinschaft. Bei Beendigung der Zugewinn- diese Reform eine große Bedeutung für die Gleichstel- gemeinschaft – wir haben das hier jetzt schon mehrfach lung von Männern und Frauen hat. gehört – erhält jeder Partner die Hälfte des zusätzlich in (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk der Ehe erworbenen Vermögens. An diesem Grundsatz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) halten wir fest; denn durch ihn wird für einen fairen und praxistauglichen Ausgleich gesorgt. In der Praxis zeigen Zwar profitieren noch deutlich mehr Frauen von den sich aber Gerechtigkeitslücken. Diese werden wir mit Verbesserungen, aber die Zahl der Männer, die in der dieser Reform bestmöglich schließen. Ehe ganz, teilweise oder zeitweise in die wirtschaftlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24407

Helga Lopez (A) schwächere Position kommen – etwa während der El- Uwe Beckmeyer, Jan Mücke, Lutz Heilmann und (C) ternzeit – wächst ständig. Dr. Anton Hofreiter.1) Die Reform trägt maßgeblich dazu bei, dass Partner, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf die wegen Kindererziehung, Pflege von Angehörigen Drucksache 16/12731 an die in der Tagesordnung aufge- oder Arbeitslosigkeit ganz oder zeitweise in der wirt- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- schaftlich schwächeren Position sind, am Ende der Ehe verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. nicht auch noch ohne wirkliche Hürden über den Tisch gezogen werden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Abschließend nochmals ganz herzlichen Dank für die Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- guten Beratungen innerhalb der Fraktionen. richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard Die taz titelte „Scheiden soll weniger weh tun“. Eine Lintner, , Klaus Brähmig, Trennung ist fürwahr ein schmerzlicher Vorgang. Damit weiterer Abgeordneter und der Fraktion der hat die taz meines Erachtens ganz recht. Mit dieser Re- CDU/CSU form wird der Vorgang vielen künftig ein bisschen weni- sowie der Abgeordneten Lothar Mark, Gert ger weh tun. Das ist gut so. Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weiterer Danke schön. Abgeordneter und der Fraktion der SPD (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Eine starke Partnerschaft – Europa und GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abge- Lateinamerika/Karibik ordneten der CDU/CSU) – Drucksachen 16/9072, 16/9466 – Berichterstattung: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Damit schließe ich die Aussprache. Guttenberg Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Niels Annen desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung Marina Schuster des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts. Der Wolfgang Gehrcke Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Kerstin Müller (Köln) lung auf Drucksache 16/13027, den Gesetzentwurf der Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattie- Bundesregierung auf Drucksache 16/10798 in der Aus- ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die (B) beschlossen. (D) dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzei- chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ich gebe als Erstem das Wort dem Kollegen Lothar Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange- Mark für die SPD-Fraktion. nommen. Dritte Beratung Lothar Mark (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz- legen! Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ist entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. – über ein Jahr alt. Er bezog sich ursprünglich auf das Gip- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- feltreffen am 16./17. Mai 2008 in Lima. Wir hatten da- entwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen. mals als Themen Armut und soziale Kohäsion sowie die (Beifall des Parl. Staatssekretärs Alfred Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in den Berei- Hartenbach) chen Umwelt- und Klimaschutz und im Energiesektor. Das Ziel war, insgesamt eine stärkere Intensivierung der Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beziehungen zwischen Lateinamerika und der Europäi- Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick schen Union herbeizuführen. Quasi am Jahrestag dieses Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans- Gipfeltreffens findet nun das Ministertreffen der EU- Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und Rio-Gruppe in Prag am 13./14. Mai statt. Bei diesem der Fraktion der FDP Treffen wurde gestern der Beschluss gefasst, dass die Europäische Union und Lateinamerika im Bereich der Arbeitsplätze im Transportgewerbe sichern – erneuerbaren Energien noch intensiver zusammenarbei- Mauterhöhung bis Ende 2009 aussetzen ten und sich gegenseitig fördern sollen. Des Weiteren – Drucksache 16/12731 – wurde der Beschluss gefasst, dass diese beiden Blöcke Überweisungsvorschlag: die Weltklimakonferenz im Dezember in Kopenhagen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Hand in Hand vorbereiten wollen. Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es gibt ein unendlich breites Feld der Zusammenar- Haushaltsausschuss beit zwischen Lateinamerika und der Europäischen Union. Die Europäische Union hat einige Aufträge zu Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Wilhelm Josef Sebastian, 1) Anlage 5 24408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Lothar Mark (A) erledigen, die bisher nicht zu Ende geführt wurden. nidad und Tobago gefordert –, dass das US-Embargo ge- (C) Unter anderem verhandeln wir seit vielen Jahren mit gen Kuba aufgehoben wird. Mercosur, dem Wirtschaftsblock aus Brasilien, Argenti- Ich muss meine kurze Rede beenden. Ich bedanke nien, Uruguay, Paraguay und neuerdings Venezuela, so- mich für Ihre Aufmerksamkeit und darf an dieser Stelle wie der Andengemeinschaft und den zentralamerikani- sagen: Das wird aller Wahrscheinlichkeit nach meine schen Ländern über ein Assoziierungsabkommen bzw. letzte Rede zu Lateinamerika im Deutschen Bundestag Abkommen im Handelsbereich. Wir kommen im Grunde gewesen sein, weil ich nicht wieder kandidieren werde. genommen nicht so voran, wie es für beide Seiten von Vorteil wäre. Ich persönlich bedauere das sehr, weil für Danke. die europäische und insbesondere für die deutsche Wirt- schaft, aber auch für die lateinamerikanische Wirtschaft (Beifall im ganzen Hause – wesentlich mehr erreichbar wäre, als derzeit auf bilatera- [SPD]: Das ist ein wirklicher Verlust! – Klaus ler Ebene möglich ist. Barthel [SPD]: Darf man dann jetzt überhaupt Beifall klatschen?) Ich weise besonders darauf hin, dass die Europäische Union es in der Phase, in der die Vereinigten Staaten La- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: teinamerika nicht so intensiv als Partner ansahen, ver- Herr Mark, herzlichen Dank. Der Respekt des ganzen säumt hat, in die Lücke hineinzustoßen. Nun hat Präsi- Hauses für Ihre Arbeit hier im Parlament soll Ihnen ge- dent Barack Obama erklärt, dass er mit Zentralamerika wiss sein. und Südamerika wieder intensiver zusammenarbeiten wird. Es wird für uns insgesamt schwieriger werden, in Als nächste Rednerin rufe ich, weil Marina Schuster die entsprechenden Bereiche vorzudringen. In den der- von der FDP-Fraktion ihre Rede zu Protokoll gegeben zeit laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkom- hat,1) wegen des Wechsels zwischen Regierung und Op- men mit Ländern der Andengemeinschaft hat die Euro- position jetzt die Kollegin Monika Knoche für die Frak- päische Union zudem meines Erachtens den Fauxpas tion Die Linke auf. begangen, mit der Andengemeinschaft nicht mehr en (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bloc, sondern nur noch mit Kolumbien, Peru und So schnell kann es gehen!) Ecuador zu verhandeln. Bolivien hat sich separiert, weil es mit der Agenda nicht einverstanden ist. Ich denke, dass es falsch war, dass die Europäische Union, die im- Monika Knoche (DIE LINKE): mer mit Wirtschaftsblöcken und politischen Blöcken Frau Präsidentin! Ich bitte um Entschuldigung. Ich insgesamt verhandeln und deren Integration fördern bin hierhergerannt und habe kaum noch Luft. – Herr (B) wollte, dieses Prinzip verlassen hat. Es wird gesagt, dass, Lothar Mark, ich bedauere sehr, dass Sie nicht noch ein- (D) wenn diese Einzelverhandlungen über ein Wirtschafts- mal den Weg ins Parlament gewählt haben; denn Sie sind und Handelsabkommen zu einem Ergebnis kommen, – das darf ich auch für die anderen Fraktionen sagen – ein dieses dann später in einem umfassenden Assoziierungs- ausgezeichneter Vertreter nicht nur der deutschen Inte- abkommen zusammengeführt werden soll, das von allen ressen in Lateinamerika, sondern auch der latein- beteiligten Ländern mitgetragen wird. Ich denke, das amerikanischen Interessen in Deutschland. wird ein Trugschluss sein. Die Europäische Union als (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD Block wird mit der Andengemeinschaft auf diesem und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wege nicht weiterkommen. An dem Bericht und der Beschlussempfehlung, die Die Verhandlungen mit Zentralamerika laufen gut. wir heute diskutieren, ist mir aufgefallen, dass be- Die Verhandlungen mit Mercosur sind auf dem Stand stimmte, ganz wichtige Länder gar nicht genannt sind. des letzten und vorletzten Jahres geblieben. Es gibt keine Dazu möchte ich Venezuela, Bolivien, Ecuador und viel- allzu großen Fortschritte, wenngleich diese dringend leicht auch Paraguay zählen, Länder, in denen sich durch notwendig wären. demokratische Wahlen und verfassungsgebende Pro- Es gäbe zu Lateinamerika und den bilateralen Bezie- zesse, an denen die Bevölkerung teilgenommen hat, her- hungen unendlich viel zu sagen, vorragende Entwicklungen vollzogen haben. In einer beispielhaften Weise sind neue Regierungen an die (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Macht gekommen, die sich zum Ziel gesetzt haben – ich So ist es!) nenne das Beispiel Bolivien –, endlich die Rechte der in- digenen Bevölkerung zu wahren, zu sichern und auszu- sowohl zu Brasilien als auch zu Venezuela, zu Bolivien, bauen und dieser Bevölkerung die Macht in der Regie- zu Kolumbien und zu Kuba. Ich will ein Wort zu Kuba rung zu geben. sagen – ich tue das nicht, um etwa Kuba besonders her- vorzuheben –: Es ist ermutigend, dass der neue amerika- (Beifall bei der LINKEN) nische Präsident zumindest einige Erleichterungen Mein Gespräch, das ich gerade mit dem boliviani- gegenüber Kuba veranlasst hat. Jetzt können die Exil- schen Botschafter geführt habe, hat mir gezeigt, wie kubaner wieder öfter nach Kuba reisen, und sie dürfen wichtig es ist, dass wir darauf achten, dass diese Länder mehr Geld nach Kuba überweisen. Ich glaube, es wäre ungemein wichtig – das haben alle übrigen lateinameri- kanischen Länder auf dem OAS-Gipfel im April in Tri- 1) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24409

Monika Knoche (A) ihre eigenen Entwicklungspotenziale nutzen können und Vielen Dank. (C) nicht durch Freihandelsabkommen, von denen das letzte (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ohnehin gescheitert ist, daran gehindert werden, eigene NIS 90/DIE GRÜNEN) Produktlinien zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen, eine unabhängige Wirtschaft aufzubauen. In diesem Zu- sammenhang möchte ich erwähnen, dass das internatio- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nale Verbot, Kokapflanzen anzubauen, diesem Land Jetzt hat der Kollege Erich Fritz das Wort für die ganz schweren Schaden zufügt. Sonst könnte das Land CDU/CSU-Fraktion. eine Nutzpflanze entwickeln, die ihm zu wirtschaftlicher (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Prosperität verhelfen würde. Über eine solche Verände- rung der Politik muss Deutschland dringend nachden- Erich G. Fritz (CDU/CSU): ken, gerade auch im Hinblick auf Europa. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Ich kann diesem Antrag überhaupt nicht folgen. Man und Kollegen! Lieber Lothar Mark, es macht immer setzt auf bilaterale Verträge und erkennt die neue wirt- Freude, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die wissen, schaftliche Realität nicht an. Gewollt wird eben keine worüber sie sprechen. Deshalb herzlichen Dank für die marktradikale, keine neoliberale Ordnung; vielmehr will Zusammenarbeit in Sachen Lateinamerika! Es ist schade man eine Gesellschaft aufbauen, die über das, was wir für den Deutschen Bundestag, dass du als Abgeordneter als soziale Marktwirtschaft kennen, hinausgeht. Das ist nicht weitermachen wirst. eine Demokratie, die es zu unterstützen gilt. Deshalb Man kann unterschiedliche Vorstellungen zu den Ent- wundert es mich sehr, dass Sie die Länder in Lateiname- wicklungen in Lateinamerika haben. Das alles mit den rika, die diesen demokratischen Weg gehen, hier mit kei- Worten „demokratische und eigenständige Entwicklung“ nem Wort erwähnen. darzustellen, scheint mir doch etwas einäugig zu sein. Ganz wichtig ist mir auch das Thema Klimawandel; (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja!) Sie haben es angesprochen. In Ecuador gibt es ein sehr Das, was durch die Bilder von Oppositionellen aus unterstützenswertes Projekt, den Regenwald nicht aus- Venezuela zum Ausdruck kommt – man hat dort sozusa- zubeuten und die Ölvorkommen nicht zu nutzen. Die gen mit der Pistole am Kopf gewählt –, ist meinem Ver- europäische Seite sollte es unterstützen. Wir sollten un- ständnis von Demokratie genau entgegengesetzt. ser Know-how dafür zur Verfügung stellen, dass diese Länder nicht den falschen Weg gehen, die Ressourcen (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist das auszubeuten. Die neue Regierung dort orientiert sich am Vorbild von Lafontaine!) (B) (D) Ziel einer nachhaltigen Wirtschaft. Wir müssen sie drin- Das ist nicht das, was wir uns wünschen. Die Neigung, gend unterstützen. diese Art von Caudillotum in Lateinamerika wieder hof- (Beifall bei der LINKEN) fähig zu machen, ist sicher nicht gut für die Zukunft die- ses Kontinents. Ich möchte auch auf die neue Agentur IRENA hin- weisen. Sie fördert solche Maßnahmen. Diese Agentur (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sehr richtig!) ist von unserem Abgeordnetenkollegen Wir bedauern ausdrücklich, dass alle Anstrengungen maßgeblich mit ins Leben gerufen worden. Die Unter- zur Integration in Lateinamerika – sowohl in Zentral- stützung dieser Agentur ist eine wichtige Hilfe, die wir amerika als auch in den Anden als auch in Mercosur – im Rahmen von Kooperation, von Entwicklungszusam- stecken geblieben sind. Warum sind sie stecken geblie- menarbeit geben können. ben? Weil sich die Erkenntnis, dass es ein Vorteil für alle ist, wenn man selbst ein wenig zurücksteckt, für die an- Eines zum Schluss – die Zeit rast –: Angesichts der deren mitdenkt und Nachteile in Kauf nimmt, nicht katastrophalen Entwicklungen im Bereich der Bekämp- durchgesetzt hat. Wir, die Europäische Union, sind für fung der Drogenkriminalität in Mexiko sind Deutschland diese Länder durchaus ein Vorbild, was Integration an- und andere europäische Länder als die Konsumenten der geht. illegalisierten Drogen dringend aufgefordert, einmal gründlich darüber nachzudenken, wie viel Elend, Leid, (Lothar Mark [SPD]: Ja!) Gewalt und Tod der Krieg gegen Drogen in Lateiname- Man will aber nicht wahrhaben, was es heißt, dass rika gebracht hat. man von seinen Souveränitätsrechten ein Stück abrücken Ich vertrete hier die Auffassung: Wir müssen im muss, dass man auch einmal akzeptieren muss, etwas nächsten Deutschen Bundestag dringend eine Enquete- hinzugeben, um dem anderen zu helfen. Wie lange hat es Kommission zur Drogenpolitik mit Blick auf das Pro- in Mercosur gedauert, bis es zum ersten Mal einen wirk- blem der Prohibition einrichten. Dieses Netz von Ge- lich mickrig ausgestatteten Fonds gab, mit dem kleine- walt, Korruption und Menschenrechtsverletzungen, das ren Ländern geholfen werden sollte? Das ist ein Anfang. sich im Zuge des sogenannten Krieges gegen Drogen Man hat jetzt so etwas wie eine parlamentarische Ver- sammlung gegründet. Das ist der richtige Ansatz. – ich verweise auf den „Plan Columbia“ in Kolumbien – entwickelt, ist mit einer Politik der Menschenrechte und Wenn Sie sich aber anschauen, was jetzt während der der Achtung der indigenen Bevölkerung nicht mehr in Krise in Argentinien geschieht, dann erkennen Sie, dass Einklang zu bringen. es nur zulasten der Nachbarländer, insbesondere der klei- 24410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Erich G. Fritz (A) nen Nachbarländer, geht. Die Schikanen innerhalb einer dass wir um die Rohstoffe dieser Regionen einen Wett- (C) Region – etwa zwischen Argentinien und Paraguay – bewerber haben – ich meine China –, dass Indien zuneh- führen beispielsweise zur Verhinderung des Exports von mend Interesse entfaltet, dass es aber nicht der größte Agrarprodukten wie Rindfleisch nach Chile. Paraguay Wunsch Lateinamerikas ist, solche Beziehungen zu den ist auf diese Exporte aber angewiesen und hat keine an- asiatischen Ländern zu pflegen. Gerade sich entwi- dere Möglichkeit, als sie über das Nachbarland zu trans- ckelnde Länder wie Mexiko und Brasilien sehen China portieren. als Konkurrenten an. Sie sehen das Land nicht nur als wichtigen Investor, auf den man sich in vielen Bereichen Dies zeigt, dass das Verständnis davon, dass man den verlassen kann – das ist ganz unbestritten –, sondern Wohlstand über eine supranationale Integration gemein- auch als Wettbewerber. Sie konkurrieren in dem gleichen sam fördern kann, nicht ausgeprägt ist. Immer dann, industriellen Segment mit diesen beiden großen Län- wenn es in einer Krise schwierig wird, fällt man leicht in dern. eine Haltung zurück, die in Lateinamerika dazu geführt hat, dass Gewalt die Politik bestimmt. Zehn Jahre nach Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zu den dem ersten EU-LAK-Gipfel ist es deshalb Auftrag der Energiebeziehungen sagen. Wir haben nicht die inten- europäischen Politik, dafür zu sorgen, dass es nicht zu sivsten Beziehungen zu den Ölländern und den Gaslän- Brüchen in den Beziehungen zu diesen Ländern kommt. dern Lateinamerikas. Was sich dort abzeichnet, ist ein Dies muss unabhängig davon geschehen, wo diese ein- Beispiel für den inneren Zustand dieser Länder, nämlich zelnen Länder im Augenblick stehen. die Unfähigkeit und mangelnde Bereitschaft, Wege zu finden, die außerhalb der eigenen Vorstellungen liegen, Im Hinblick auf die jetzigen Prozesse – Lothar Mark um dafür sorgen zu können, dass ihre Rohstoffeinkom- hat sie einzeln dargestellt; ich muss sie nicht wiederho- mensbasis erhalten bleibt. Wir erleben jetzt in Venezuela len – müssen wir alles dafür tun, zur Schaffung mög- wie in Mexiko – beides wichtige Länder aufgrund ihrer lichst gemeinschaftlicher Initiativen beizutragen und den Vorräte –, dass die Produktionsraten von Jahr zu Jahr Bruch, den es in den Beziehungen zu den Andenstaaten sinken und dass die Investitionen weit hinter dem zu- gegeben hat, zu kitten. Wir müssen die Basis so gestal- rückbleiben, was notwendig wäre, um auf Dauer die Ba- ten, dass die anderen Länder sich schnell wieder an- sis für diese Volkswirtschaften zu sichern. schließen. Die Europäer haben in diesen Prozessen wahrlich viele Angebote zugunsten dieser Länder ge- Schließlich sollte man sich auch anschauen, wie die macht. Wir überziehen Lateinamerika nicht mit einer Ölgewinne in Venezuela verteilt werden. Dem Verfah- Ideologie und bestimmten Konsensvorstellungen, wie ren, dass ein kleiner Anteil im Staatshaushalt landet und das andere tun. Wir sind Partner, und als solche werden ein großer Anteil zur freien Verfügung des Präsidenten wir auch wahrgenommen. steht, der darüber nicht rechenschaftspflichtig ist, schon (B) gar nicht gegenüber dem Parlament, können doch auch (D) Die Ausrichtung und der Wunsch, dass wir strategi- Sie, Frau Knoche, nicht zustimmen. scher Partner der Region und auch der großen Länder – diese wollen natürlich immer besondere Beziehungen (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist das haben – sein sollen, zeigen die enge Verbundenheit im Vorbild von Lafontaine!) Denken und in den Werten. Der Glaube, dass die Euro- Das kann doch kein Vorbild sein für die Art von Partner, päer eine ehrlichere Beziehung zu Lateinamerika als an- mit denen wir in Lateinamerika zusammenarbeiten wol- dere Länder auf dieser Welt zu pflegen bereit sind, stellt len. für uns eine Chance dar. Sie kann aber nur dann genutzt werden, wenn auch in Lateinamerika ein Umdenken (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stattfindet. Als Partner kommen vielmehr diejenigen infrage, die Ich weiß, dass es in unseren Partnerländern viele sich bereit erklären, die Idee des freiheitlichen Staates Menschen gibt, die daran arbeiten und daran glauben, hochzuhalten. Mit diesen Staaten wollen wir zusammen- dass es nur auf diese Weise geht. Ansonsten würde wie- arbeiten; diese Zusammenarbeit muss sich für sie dann derum der Effekt einsetzen, dass man nur den eigenen auch deutlich vorteilhaft auswirken. Vorteil – auch wenn es sich für den Nachbarn nachteilig Herzlichen Dank. auswirkt – sieht; nach der Argentinienkrise war dies deutlich zu sehen. In der jetzigen Krise hat weder in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Asien noch in Nordamerika noch in Europa und noch nicht einmal in Afrika der Protektionismus Einzug ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: halten. In Lateinamerika dagegen ist das der Fall. Das Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bünd- sollte uns zu denken geben, da es unmittelbare Folgen nis 90/Die Grünen. für diejenigen hat, die von der Ausfuhr von Agrarpro- dukten abhängig sind; an dieser Stelle möchte ich noch Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einmal Paraguay nennen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das kann uns nicht gleichgültig sein. Deshalb glaube Auch ich möchte für die Grünen unser Bedauern aus- ich – unabhängig davon, über welchen Antrag wir ge- sprechen, dass Herr Mark uns verlässt. Auch ich habe rade reden –, dass jetzt eine Welle von Beeinträchtigun- ihn im Rahmen der südamerikanischen Partnerschafts- gen über diese Länder hinwegrollen wird. Die Krise ist gruppen kennen- und schätzen gelernt. Ich bedauere es jetzt auch in Lateinamerika angekommen. Wir wissen, sehr, nicht mehr weiter mit ihm hier im Bundestag disku- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24411

Ute Koczy (A) tieren zu können. Ich wünsche ihm natürlich viel Glück enthält. Entspricht das dem viel beschworenen Werte- (C) und viel Erfolg auch außerhalb der Politik. fundament der EU? So darf es doch nicht weitergehen. Hier hat Frau Merkel falsch verhandelt. Meine Damen und Herren, die letzte große Debatte zu Lateinamerika hier im Haus liegt schon ein Jahr zurück. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Seitdem ist eine ganze Menge in Bewegung geraten. Vor Ich glaube nicht, dass wir Kolumbien einen Vertrag einem Jahr – wir erinnern uns – verhalfen die hohen an die Hand geben, mit dem die Regierung dann nach Rohstoffpreise den lateinamerikanischen Staaten zu dem Motto hausieren gehen kann: Schaut mal her, wenn neuer Handlungsfähigkeit und großem Selbstbewusst- selbst die Europäer mit uns einen Freihandelsvertrag ab- sein. Ein Jahr später sind die Rohstoffpreise gefallen, schließen, kann es doch mit den Menschenrechten bei und alle Länder sind in den Sog der weltweiten Rezes- uns nicht so schlimm bestellt sein. sion geraten. Es wurde schon darauf hingewiesen: Gestern haben Wer hätte aber vor einem Jahr gedacht, dass ein neuer sich in Prag die EU-Außenministerinnen und -minister US-Präsident den Beginn einer neuen Kuba-Politik ein- mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Lateinamerika läuten würde oder – auch das ist neu – dass Präsident und der Karibik getroffen. Sie haben beraten, welche ge- Chávez gerne ein Freund des US-Präsidenten sein meinsamen Antworten sie geben. Es klingt gut, wenn möchte? Wir wissen natürlich: Diese Entwicklungen man sich dabei auf erneuerbare Energien konzentriert. sind nicht der strategischen Partnerschaft zwischen der Aber die Verpflichtungen sind vage; es gibt nur ein un- EU und Lateinamerika zu verdanken. Schade eigentlich, verbindliches Dokument. Man merkt ganz deutlich, dass denn die EU steht weiterhin nur am Spielfeldrand. Sie die Außenminister nicht begriffen haben, dass es jetzt ei- schaut nur zu, wie sich die Beziehungen zwischen La- nen Stopp bei den fossilen Energieträgern und eine Stor- teinamerika und Asien bzw. den USA entwickeln. Ich nierung der Atomverträge mit Brasilien geben muss. befürchte, die EU wird auch später noch am Spielfeld- rand stehen und sich wundern, wenn sich die Beziehun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen zwischen Washington und den Staaten der Region sowie der Abg. Monika Knoche [DIE verändert haben. Dann wird sich die EU fragen, warum LINKE]) man all das verpasst hat. Es gibt Bausteine in der Region; Kollegin Knoche hat (Lothar Mark [SPD]: Leider hast du recht! – Zuruf darauf hingewiesen. Die von den Grünen angeregte und des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU]) vom Parlament gemeinsam unterstützte ITT-Initiative ist ein positiver Vorschlag. Schade, dass wir es versäumt – Diese Zustimmung überrascht mich jetzt. Aber der haben, auf EU-Ebene solche hervorragenden Beispiele Kollege hat, wie ich meine, auch recht. (B) zu unterstützen und zu forcieren. (D) Eigentlich wollte die EU ja die regionale Integration Danke für die Aufmerksamkeit. stärken und biregionale Assoziierungsabkommen ab- schließen, also Abkommen, bei denen es nicht nur um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Freihandel, sondern auch um politischen Dialog, Ent- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- wicklungszusammenarbeit und Menschenrechte gehen KEN) sollte. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist auch das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ziel!) Niels Annen hat das Wort für die SPD-Fraktion. Man wollte zeigen, dass die EU anders reagiert als die Niels Annen (SPD): USA. Doch wir mussten registrieren: Die guten Vorsätze Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sind schnell über Bord gegangen. Kolumbien und Peru Ich freue mich darüber, dass bezüglich der Einschätzung konnten sich nicht mit Bolivien und Ecuador einigen; dieses wichtigen Kontinents in dieser Debatte viele über- das wurde schon gesagt. Man gab dann dem dringenden einstimmende Punkte festzuhalten sind. Deswegen habe Wunsch Kolumbiens nach und einigte sich darauf, die ich mein Manuskript an meinem Platz gelassen. Statt der Handelsfragen bilateral zu behandeln, und zwar nur die ursprünglich geplanten Rede möchte ich – nachdem wir Handelsfragen. Das heißt, es fehlt ein ganz gewaltiger heute in diesem Parlament schon eine wichtige Debatte Bestandteil, den die EU eigentlich auch in die Abkom- zum Thema „60 Jahre Grundgesetz“ hatten – auch in Be- men integriert sehen wollte. zug auf Lateinamerika etwas zur Frage der Demokratie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sagen. Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das bedauert nie- Kollege Fritz, sosehr ich Ihnen zustimme, dass es die mand mehr als wir!) eine oder andere Entwicklung gibt, die uns besorgt stim- Da fragen wir jetzt: Wo ist denn die europäische Stra- men muss – Venezuela ist ein Beispiel, aber auch andere tegie gegenüber Lateinamerika? Der US-Kongress hat Länder, die in der Debatte genannt worden sind –, bin wegen der desaströsen Menschenrechtslage in Kolum- ich doch der Meinung, dass wir die großartige Leistung bien ein Freihandelsabkommen mit diesem Land blo- Lateinamerikas in den letzten Jahrzehnten hervorheben ckiert. Aber wir Europäer verhandeln weiter über ein sollten. Denn dieser Kontinent, der in weiten Teilen be- Abkommen, das keinen Bezug zu Menschenrechtsstan- herrscht war von Militärdiktaturen, hat es geschafft, die dards hat, ja noch nicht einmal eine Demokratieklausel Epoche der Diktaturen nachhaltig hinter sich zu lassen, 24412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Niels Annen (A) auch wenn nach wie vor unglaubliche soziale Gegen- neu gewählte Bundestag in der Lage sein werden, mehr (C) sätze existieren, soziale Spannungen, Unterschiede zwi- als eine halbe Stunde am Abend über dieses Thema zu schen Arm und Reich – bis hin zu anderen Problemen, diskutieren, und dass dann alle heute Anwesenden wie- die uns Sorgen bereiten und die wir miteinander bespre- der dabei sind. chen müssen: nämlich Korruption, Drogenhandel, auf Herzlichen Dank. den Sie hingewiesen haben, die Zersetzung ganzer Ge- sellschaften durch den „narcotráfico“. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) NISSES 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle sollte auch darauf hingewiesen wer- den, dass auf einige der aufgrund der Finanzkrise und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Fehlentwicklungen an den internationalen Märkten Ich schließe die Aussprache. bestehenden Probleme, über die wir in Deutschland zur- zeit mit großer Intensität diskutieren, in einigen Ländern Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Lateinamerikas in gewisser Weise in Form einer – man empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- muss es fast so nennen – revolutionären politischen Ent- trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem wicklung bereits reagiert worden ist. Viele Regierungen Titel „Eine starke Partnerschaft – Europa und Latein- in wichtigen lateinamerikanischen Ländern sind abge- amerika/Karibik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner wählt worden. Traditionelle Partner, auch der Sozialde- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9466, den An- mokratie und der Christdemokratie, sind als politische trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Druck- Parteien, als Bewegung quasi von der Bildfläche ver- sache 16/9072 anzunehmen. Wer stimmt für die Be- schwunden. Deswegen sollten wir in dieser Zeit, in der schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – wir über grundlegende Konsequenzen aus den Fehlent- Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die wicklungen auf den internationalen Märkten reden, un- Koalition und bei Ablehnung durch die Oppositionsfrak- seren Blick auch einmal nach Lateinamerika wenden tionen angenommen. und schauen, welche Reaktionen es dort bei der Zivilge- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf: sellschaft und der Politik gegeben hat. 25 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir sind uns in diesem Hause nicht immer einig hin- richts des Ausschusses für Kultur und Medien sichtlich der Entwicklungen in Lateinamerika. Es ist (22. Ausschuss) schwierig, in einer relativ kurzen Debatte das Bild eines gesamten Kontinents zu entwerfen. Lateinamerika ist – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- (B) sehr vielfältig, und es gibt diverse und zum Teil auch wi- Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, (D) dersprüchliche Entwicklungen. Aber eines ist, glaube Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und ich, klar: Die Menschen in Lateinamerika haben die de- der Fraktion der FDP mokratischen Freiheiten nicht nur zu schätzen gelernt, Klare Rahmenbedingungen für den dualen sondern sie haben sich auch, zum Teil unter großen per- Rundfunk im multimedialen Zeitalter sönlichen Risiken und zu einem hohen Preis, dafür ein- gesetzt, dass ihre Länder weiterhin demokratisch regiert – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar werden. Auf der anderen Seite haben die Menschen Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, weiterer deutlich gemacht, dass sie nicht mehr bereit sind, die Art Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE und Weise zu akzeptieren, in der die internationale Ge- Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digital- meinschaft ihnen in den letzten Jahrzehnten über Instru- zeitalter mente des Internationalen Währungsfonds oder auch der Weltbank ohne Sensibilität für die sozialen Probleme in – zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje vielen Bereichen eine bestimmte Politik aufgezwungen Bettin, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, wei- hat. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Bei allen Schwierigkeiten – Frau Knoche hat in einer positiven Konnotation über Venezuela geredet; Herr Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen Fritz hat dies in einer etwas kritischeren Art und Weise Rundfunks nach EU-Kompromiss sicher- getan – bin ich der Überzeugung, dass wir mit diesen stellen Regierungen und mit diesen Bewegungen im Gespräch – Drucksachen 16/5959, 16/6773, 16/5424, 16/ bleiben müssen. Die europäische Lateinamerika-Politik 7343 – muss sich sehr genau anschauen, was in Trinidad pas- siert ist. Wir müssen die Signale der neuen amerikani- Berichterstattung: schen Administration ernst nehmen. Wir dürfen ihr aber Abgeordnete Reinhard Grindel nicht hinterherlaufen, sondern müssen mit einer eigen- Jörg Tauss ständigen und selbstbewussten Politik der lateinamerika- Christoph Waitz nisch-europäischen Partnerschaft einen neuen Impuls Dr. Lukrezia Jochimsen verleihen. Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen. Grietje Bettin Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Antrag und b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- hoffe gleichzeitig, dass dieses Parlament und auch der richts des Ausschusses für Kultur und Medien Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24413

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Unter Buchstabe b der Beschlussempfehlung emp- (C) ten Elke Reinke, Dr. Lothar Bisky, Klaus Ernst, fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6773 mit dem LINKE Titel „Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeit- alter“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Ge- Neuregelung der GEZ-Befreiungstatbestände – genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Neuverhandlung des Rundfunkgebühren- lung ist bei Ablehnung der Fraktion Die Linke und bei staatsvertrages Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen. – Drucksachen 16/5140, 16/7345 – Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c Berichterstattung: seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7343 Abgeordnete Reinhard Grindel die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Jörg Tauss Grünen auf Drucksache 16/5424 mit dem Titel „Beson- Christoph Waitz dere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach Dr. Lukrezia Jochimsen EU-Kompromiss sicherstellen“. Wer stimmt für die Be- Grietje Bettin schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von richts des Ausschusses für Kultur und Medien Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion (22. Ausschuss) Die Linke angenommen. – zu der Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Tagesordnungspunkt 25 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Medien- und Kommunikationsbericht der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Neuregelung der GEZ- Bundesregierung 2008 Befreiungstatbestände – Neuverhandlung des Rundfunk- gebührenstaatsvertrages“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7345, den ten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5140 Waitz, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- durch den Beauftragten der Bundesregierung fehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und für Kultur und Medien FDP gegen die Stimmen der Linken und bei Enthaltung (B) Medien- und Kommunikationsbericht der von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. (D) Bundesregierung 2008 Tagesordnungspunkt 25 c. Beschlussempfehlung des – Drucksachen 16/11570, 16/12135, 16/12909 – Ausschusses für Kultur und Medien auf Druck- sache 16/12909. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch- Berichterstattung: stabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Abgeordnete Reinhard Grindel Medien- und Kommunikationsberichts der Bundesregie- Monika Griefahn rung 2008 auf Drucksache 16/11570 eine Entschließung Hans-Joachim Otto (Frankfurt) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Dr. Lukrezia Jochimsen lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Grietje Staffelt schlussempfehlung ist bei Zustimmung von CDU/CSU Hier ist interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/ Protokoll zu geben. – Damit sind Sie einverstanden. Es Die Grünen und Die Linke bei Enthaltung der FDP ange- handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen nommen. und Kollegen: Reinhard Grindel, Marco Wanderwitz, Monika Griefahn, Hans-Joachim Otto, Lothar Bisky und Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Grietje Staffelt.1) fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungs- antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12135 Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- zu der eben genannten Unterrichtung. Wer stimmt für die fehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Drucksache 16/7343. Der Ausschuss empfiehlt unter gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung durch CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5959 Linke angenommen. Die FDP hat dagegen gestimmt. mit dem Titel „Klare Rahmenbedingungen für den dua- len Rundfunk im multimedialen Zeitalter“. Wer stimmt Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf: für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegen- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- stimmen der FDP-Fraktion und Zustimmung im übrigen gierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Haus angenommen. Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebe- nengesetzes

1) Anlage 7 – Drucksache 16/12593 – 24414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Spätaussiedler ist und bleibt offen. Art. 116 des Grundge- (C) schusses (4. Ausschuss) setzes und dessen Ausführungsbestimmungen gelten fort. Dabei ist es von außerordentlicher Bedeutung, dass wir – Drucksache 16/13015 – uns auch künftig zu einem allgemeinen Kriegsfolgen- Berichterstattung: schicksal für die Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Abgeordnete Hans-Werner Kammer Sowjetunion bekennen. Denn eine vollständige Rehabili- Gerold Reichenbach tation dieser Schicksalsgruppe hat bis heute nicht stattge- Christian Ahrendt funden. Ulla Jelpke Über drei Millionen deutsche Spätaussiedler sind seit Silke Stokar von Neuforn der Wende in Europa zu uns in die Bundesrepublik Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Deutschland eingereist. Die allermeisten von ihnen sind Reden zu Protokoll gegeben: Jochen-Konrad Fromme, sehr gut integriert und stellen eine erhebliche Bereiche- Maik Reichel, Christian Ahrendt, Ulla Jelpke und Silke rung unserer insgesamt älter werdenden Gesellschaft dar. Stokar von Neuforn. Die jüngste Studie „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ des Berlin-Instituts für Be- Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): völkerung und Entwicklung hat eindrucksvoll belegt, dass die Gruppe der Spätaussiedler – im Gegensatz zu den tür- Mit dem 8. Änderungsgesetz zum Bundesvertriebenen- kischstämmigen Migranten – besonders gut abgeschnit- gesetz unterstreichen wir heute am Tag der Debatte um ten hat. 60 Jahre Grundgesetz die Kontinuität der Verantwortung Deutschlands für die deutschen Minderheiten und die Eine deutliche Diskrepanz dazu ergibt sich in der öf- Spätaussiedler. Das Bundesvertriebenengesetz bedarf im fentlichen Wahrnehmung, vor allem durch die mediale nunmehr 57. Jahr seines Bestehens einiger Änderungen, Aufbereitung von Straftaten, die die Gruppe dann insge- die der Rechtsklarheit und einer Vereinfachung dienen. samt in ein schlechtes Licht rücken. Dabei belegen solide Das wichtige Ziel dabei ist es, das Verfahren zur Ausstel- Statistiken und Untersuchungen anderes. So hat die lung einer Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheini- Hamburger Polizeibehörde schon vor einiger Zeit eine gung erheblich zu beschleunigen. Dies ist eine gute Neu- Untersuchung veröffentlicht, die nachweist, dass Spät- regelung, denn hierzu werden nach den Vorschlägen des aussiedler keine höhere Kriminalitätsneigung haben als Bundesinnenministers die Fristen bei der Überprüfung einheimische Deutsche; häufig ist sogar das Gegenteil von Ausschlussgründen verkürzt, und das Verfahren wird der Fall. Ähnliche Untersuchungen und Ergebnisse gibt künftig anstatt zwei bis drei Monate regelmäßig nur noch es auch aus anderen Bundesländern. Das alles kann na- zwei bis drei Wochen betragen. Damit kann eine Beschei- türlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen klei- (B) (D) nigung als Spätaussiedler oder Angehöriger zügig nach neren Teil innerhalb der Gruppe gibt, bei dem die Inte- der Einreise ausgestellt werden. gration in unsere Gesellschaft bis heute noch nicht gut funktioniert hat. Mit diesem Gesetz wird zudem die rückwirkende Auf- hebung von Spätaussiedler- und Angehörigenbescheini- Dort, wo Integrationsprobleme bestehen, sind vor al- gungen parallel zur Rücknahme von Einbürgerungen im lem männliche Jugendliche und junge Erwachsene be- Staatsangehörigkeitsgesetz geregelt. Die Rücknahme ei- troffen, die erst in den vergangenen Jahren und häufig ge- ner Bescheinigung wird auf den Zeitraum von fünf Jahren gen ihren Willen zu uns nach Deutschland gekommen beschränkt und der Schutz der Ehegatten und Abkömm- sind. Dort, wo zu geringe Sprachkenntnisse den Weg in linge des Spätaussiedlers berücksichtigt. Weiterhin wird den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt versperren, da ist die Befristung der vertriebenenrechtlichen Altbescheide auch der Weg in die Gesellschaft versperrt und da treten von EU-Bürgern aufgehoben. Kein Betroffener soll auf- fast schon zwangsläufig Probleme zutage. grund einer Befristung veranlasst werden, vorzeitig aus- zureisen. Ich will offen ansprechen, dass sich in manchen Ge- meinden, wo wie etwa im niedersächsischen Cloppen- Ein weiterer wesentlicher Punkt des Gesetzes ist burg jeder fünfte Einwohner aus einer Spätaussiedlerfa- schließlich eine effektive Gestaltung der Verwaltungspra- milie stammt, eine Parallelgesellschaft gebildet hat. Laut xis: Das Bundesverwaltungsamt, das bereits jetzt die zen- einer dort tätigen Sozialpädagogin funktioniere das Zu- trale Behörde im Verfahren zur Aufnahme von Spätaus- sammenleben zwischen Einheimischen und Aussiedlern siedlern ist, wird zukünftig ebenfalls für die Erteilung von nur deshalb, weil sich die Spätaussiedler in einer eigenen Bescheinigungen in Altfällen zuständig. Die Bundeslän- Welt eingerichtet haben. Die deutsche Gesellschaft, der der werden insofern von parallelen Verwaltungsstruktu- deutsche Staat dürfen auf gar keinen Fall in dieselbe ren entlastet. Weitaus wichtiger als die Verfahrensbe- Gleichgültigkeit verfallen, wie es in Cloppenburg bereits schleunigungen ist aber das politische Bekenntnis der Fall ist. Hier ist die Politik gefordert! Denn nur die unserer dauerhaften und historischen Verantwortung ge- Politik, so das Fazit der besagten Sozialpädagogin, genüber den Deutschstämmigen, die in diesem Gesetz könne die Parallelgesellschaft von „Russland-Deutschen seinen Ausdruck findet. und Deutschland-Deutschen“ noch aufbrechen. Denn das Bundesvertriebenengesetz bestätigt im Wie sich auch am Beispiel Cloppenburg zeigt, sind und Grundsatz den bestehenden rechtlichen Rahmen auch für bleiben die deutschen Sprachkenntnisse das Fundament eine künftige Aufnahme deutscher Spätaussiedler in die für eine erfolgreiche Integration. Den Weg, den die Bun- Bundesrepublik Deutschland: Die Tür für die deutschen desregierung mit dem Nationalen Integrationsplan einge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24415

Jochen-Konrad Fromme (A) schlagen hat, weist in die richtige Richtung: Die „Aus- auch Kinder und Enkel der Betroffenen, die sich zum Bei- (C) länderpolitik“ soll endlich professionalisiert werden, spiel mit psychischen Traumata auseinandersetzen müs- wobei die Integrations- und Sprachkurse ein zentrales sen. Wie in vielen Aspekten der Aufarbeitung der natio- Element sind. Die Spätaussiedler haben über Jahrzehnte nalsozialistischen Vergangenheit können nachfolgende in ihren Herkunftsgebieten dafür gelitten, dass sie sich als Generationen mit dem wachsenden zeitlichen Abstand Deutsche verstanden und versucht haben, als Deutsche unaufgeregter, oft genauer und unabhängiger von ideolo- zu leben. Sie wollen hier unter uns als Deutsche leben; gischen Frontstellungen die Geschichte aufarbeiten. und so sollten wir ihnen auch begegnen. Wir haben zum Beispiel in diesem Hause im vergange- Aus zahlreichen Gesprächen mit Spätaussiedlern bin nen Jahr über die Errichtung einer Stiftung „Flucht, Ver- ich auf zwei Probleme gestoßen, die momentan als die treibung, Versöhnung“ entschieden. Die Diskussion um schwerwiegenden Hindernisse wahrgenommen werden: die Gestaltung eines „sichtbaren Zeichens gegen Vertrei- zum einen die Anerkennung von im Ausland erworbenen bungen“ ist noch lange nicht zu Ende – und ebenso das Berufsabschlüssen und zum anderen die im Rahmen der Bestreben, dies im europäischen Zusammenhang, ge- Familienzusammenführung aufgetretenen Härtefälle. In meinsam mit unseren betroffenen Nachbarstaaten, zu rea- beiden Fällen muss rasch eine Lösung gefunden werden, lisieren. was sich die Union auf ihre Fahnen geschrieben hat! Auch das Bundesvertriebenengesetz hat seine Bedeu- „Integration leidet in Deutschland nicht in erster Linie tung nicht verloren. Es hat seit 1953 vielen Millionen an einem Mangel an Angeboten und erst Recht nicht an zu Menschen ermöglicht, nach Deutschland einzureisen und wenig Regeln und Gesetzen“, äußerte jüngst die Journa- hier zu leben. Die Zahl der Antragsteller nimmt dabei ste- listin Merle Hilbk, die selbst Nachfahrin von Russland- tig ab. Waren es im Jahre 2005 noch mehr als 35 000, so Deutschen ist, in einem bemerkenswerten Beitrag in der sank die Zahl im Folgejahr bereits auf 7 700, im Jahre „taz“, „sondern,“ so Hilbk weiter, „vor allem an einer 2007 auf knapp 6 000 und im vergangenen Jahr gingen fehlenden Vorstellung davon, wie das gemeinsame Zu- nur circa 4 400 Anträge ein. Sicher wird sich diese Ten- sammenleben aussehen könnte – einem Leitbild, das dem denz so fortsetzen. Dennoch stehen wir weiterhin in der Rückzug in Parallelgesellschaften entgegenwirken Verantwortung, so wie wir es im Koalitionsvertrag von könnte“. SPD und CDU/CSU formuliert haben: „Wir bekennen Auch wenn es noch so verpönt ist, von Leitbildern zu uns auch weiterhin zu der Verantwortung sowohl für die- sprechen, kommt die deutsche Gesellschaft, vor allem die jenigen Menschen, die als Deutsche in Ost- und Südost- deutsche Politik, nicht um diese Diskussion herum. europa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten haben und in ihrer jetzigen (B) Ich erinnere an die gewalttätigen Unruhen in den Heimat bleiben wollen, als auch für jene, die nach (D) Vororten von Paris, bei denen vor gerade mal vier Jah- Deutschland aussiedeln.“ ren 2 500 Randalierer festgenommen wurden. Heinz Buschkowsky, der Bürgermeister von Neukölln, Berlins Ich darf auch besonders die Kulturförderung betonen, Zuwandererhochburg, sagte damals, dass die Ausschrei- die einerseits der Integration von Millionen Flüchtlingen tungen in Frankreich ein Hinweis auf das sein könnten, und Vertriebenen in unsere Gesellschaft dient, anderer- was uns in 10 bis 15 Jahren drohe. Mehr denn je ist die seits aber nach 1989 auch neu ausgerichtet wurde. Denn Gesellschaft, ist die Politik gefordert, stärkere Integra- es gehört zu unserem Selbstverständnis als Kulturnation, tionsbemühungen umzusetzen. Die heute zu beschlie- dass das kulturelle Erbe der ursprünglichen Siedlungsge- ßende gesetzliche Grundlage ist ein weiterer Schritt in biete von Vertriebenen und Aussiedlern bewahrt wird, diese Richtung, und daher bitte ich um Ihre Zustimmung. ebenso wie die Erinnerung an diese schreckliche Epoche der Flucht und Vertreibung. Maik Reichel (SPD): Das Bundesvertriebenengesetz ist im Laufe der Jahre Wir haben heute über das 8. Gesetz zur Änderung des den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entspre- Bundesvertriebenengesetzes zu befinden. Die Vertreibun- chend angepasst worden. Vor zwei Jahren haben wir hier gen infolge des Zweiten Weltkrieges sind ein Thema, das über das 7. Änderungsgesetz debattiert. Damals war über – obwohl seine realen Ereignisse mehr als 60 Jahre zu- etwa ein Dutzend wesentliche Änderungen zu befinden. rückliegen – in vielen Aspekten noch Gegenwart ist. Wer Sie betrafen einerseits die nötigen Anpassungen an die das abstreitet, verschließt die Augen zum Beispiel vor den fortschreitende Erweiterung der Europäischen Union. vielfältigen Debatten und Reflexionen in unserer gesell- Andererseits ging es um die Erweiterung und Modifizie- schaftlichen Öffentlichkeit, ganz unabhängig von Inte- rung von Ausschlussgründen für eine Anerkennung nach ressenverbänden oder Parteigruppierungen. In neuen dem BVG und um entsprechende Regelungen für eine Buchpublikationen, Filmen, Presseartikeln findet eine öffentliche Aufarbeitung statt, die sich zunehmend offener Abfrage bei den Sicherheitsbehörden. Zudem wurden und differenzierter mit diesem Kapitel deutscher und Vereinfachungen und Regelungen für effektivere und un- europäischer Geschichte befasst. bürokratischere Verwaltungsprozesse festgelegt, die zu- nehmend von den Ländern auf den Bund, das heißt das Das Thema Vertreibung betrifft – wie historische Er- Bundesverwaltungsamt, übertragen wurden. Erleichte- eignisse überhaupt – ja nicht nur die Menschen, die dies rungen bei der Integration und Regelungen für die jüdi- noch selbst unmittelbar erlebt haben, sondern in mancher sche Zuwanderung gehörten ebenfalls zu den Änderun- Weise die nachfolgenden Generationen, unter anderem gen, die wir damals hier beschlossen haben.

Zu Protokoll gegebene Reden 24416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Maik Reichel (A) Das heute zum Beschluss vorliegende 8. Änderungsge- Es geht um die neu geschaffene Rücknahmevorschrift, (C) setz ist von geringerem Umfang. Die vorgeschlagenen die Verkürzung von Bearbeitungszeiten, die Ausweitung Änderungen sollen der Rechtsklarheit und -bereinigung der Integrationsleistungen sowie die Einbeziehung der dienen sowie die Verwaltungspraxis weiter vereinfachen. Bundespolizei in die Sicherheitsbehörden, die bereits In weiten Teilen beziehen sich die Neuregelungen auf eine nach der siebten Änderung erweiterte Abfragemöglich- Änderung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- keiten bekamen. Insgesamt enthält der Gesetzentwurf gerichts, wonach es nicht dem Grundgesetz, Art. 16 viele sinnvolle Regelungen, jedoch sind die Informations- Abs. 1, widerspricht, einem Spätaussiedler und dessen übermittlung an Sicherheitsbehörden und neuerdings die Angehörigen die Staatsangehörigkeit wieder abzuerken- Erweiterung des Kreises zuständiger Behörden der nen, wenn diese durch Täuschung oder wissentlich fal- Grund, warum die FDP ihre Zustimmung verweigern sche Angaben erworben wurde. Dies kann mit diesem muss. Gesetzentwurf nunmehr auf fünf Jahre rückwirkend ge- In der Tat ist es gelungen, mit den Änderungen des schehen. Die Antwortfristen der überprüfenden Sicher- Bundesvertriebenengesetzes Rechtsklarheit und Verein- heitsbehörden im Verfahren werden dabei von bisher mit- fachung der Verwaltungspraxis zu bringen. Die nunmehr unter drei Monaten auf nun drei Wochen verkürzt. Damit geschaffene Regelung zur Rücknahme von Spätaussied- wird für berechtigte Antragsteller schneller Rechtssicher- ler- und Angehörigenbescheinigungen ist zwar bereits im heit über ihren Status geschaffen, Unberechtigten kommt Staatsangehörigkeitsrecht zu finden, dient jedoch der weiterhin ein quasi vorbehaltliches Aufenthaltsrecht zu. Verständlichkeit und ist daher zu begrüßen. Die entspre- Bei ihnen wird im Verfahren eine Einzelfallprüfung über chende Regelung im Staatsangehörigkeitsgesetz hat die ihren Status vorgesehen. FDP lediglich abgelehnt, weil sie mit einer völlig unnöti- In den Kreis der zu befragenden Institutionen wird gen Strafvorschrift verbunden wurde. Dies ist hier glück- nunmehr auch die Bundespolizei aufgenommen, da sie zu licherweise nicht geschehen. den zentralen Sicherheitsorganen zählt. Ferner wird die Die Verkürzung des Verfahrens zur Ausstellung einer vor zwei Jahren festgelegte Befristung für die Geltungs- Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheinigung von dauer von Übernahmegenehmigungen und vor 1993 er- derzeit zwei bis drei Monate auf zwei bis drei Wochen gibt teilten Aufnahmebescheiden wieder aufgehoben. Damit nicht nur den Betroffenen schneller Rechtssicherheit, soll verhindert werden, dass ein Druck zur vorzeitigen sondern dient auch der Disziplinierung der Behörden. Ausreise bei Personen entstehen könnte, deren Verbleib in ihren Herkunftsstaaten in unserem Interesse wäre. Beson- In dem Änderungsantrag der Großen Koalition wur- ders sind damit Menschen gemeint, die eine herausge- den zusätzliche Integrationsleistungen für die Familien hobene Stellung innerhalb der deutschen Minderheit in einbezogen, was nun auch Gegenstand des Regierungs- (B) diesen Ländern einnehmen. entwurfs ist und voll und ganz zu unterstützen ist. Die (D) FDP begrüßt ausdrücklich alle Maßnahmen, die zu einer Der weiteren Effektivität der Verwaltungsprozesse weiteren Verbesserung der Integration beitragen. dient die Neuregelung, dass das Bundesverwaltungsamt nunmehr auch für die Ausstellung von Altfallbescheini- Jetzt ist aber Schluss mit den Lobgesängen. Bedauer- gungen zuständig ist und die Länder weiter von unnötigen licherweise enthält der Gesetzentwurf eine Regelung, die parallelen Behördenstrukturen entlastet werden. wir schon bei der letzten Änderung des Bundesvertriebe- nengesetzes gerügt haben. Damals wurden erweiterte Ab- Eine zusätzliche Neuregelung betrifft die Erweiterung fragemöglichkeiten für Sicherheitsbehörden zur Feststel- von Möglichkeiten für Integrationshilfen. Zukünftig sol- lung von Ausschlussgründen geschaffen, insbesondere len die Zusatzangebote der Integrationsmaßnahmen auch für die Fälle von Bestrebungen gegen die freiheitlich-de- den sogenannten weiteren Familienangehörigen nach § 8 mokratische Grundordnung. Nun wird auch noch die offenstehen. Damit soll die Integration unter Wahrung Bundespolizei in den Katalog der zu beteiligenden der Familieneinheit erleichtert werden. Sicherheitsbehörden aufgenommen. In dem begründen- den Teil des Gesetzentwurfs heißt es, der Entwurf diene Mit den in diesem Änderungsgesetz zu beschließenden der Rechtsklarheit und -bereinigung. Das hört sich gut durchaus unspektakulären Neuregelungen wird das Bun- an. Das hört sich harmlos an. Und fast überliest man, desvertriebenengesetz in der nötigen Weise an die aktuel- dass jetzt auch die Bundespolizei an dem Informations- len Bedürfnisse angepasst. Ich denke, dass diese Neu- fluss beteiligt werden soll. regelungen nachvollziehbar und schlüssig sind. Für die Betroffenen – die Spätaussiedler und ihre Angehörigen – Erstens erschließt sich mir nicht die Notwendigkeit ei- bedeuten sie weitere Verbesserungen; sie dienen damit ner solchen Vorschrift. Zweitens kann ich noch weniger dem sinnvollen Funktionieren des Gesetzes entsprechend nachvollziehen, warum diese Befugnisse weiter ausge- den gesellschaftlichen Anforderungen. Deshalb bitte ich dehnt werden. Der unbegründete Verdacht terroristischer um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Tendenzen bei Spätaussiedlern wird fortgesetzt, was mir äußerst befremdlich erscheint. Sie erlauben mir den Hin- weis darauf, dass laut der Kriminalitäts- und Integra- Christian Ahrendt (FDP): tionsstatistiken Spätaussiedler keine besondere Problem- Wir befassen uns heute mit dem Achten Gesetz zur Än- gruppe darstellen und sich insgesamt gut in unsere derung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Folgenden Gesellschaft integrieren. Noch weniger kann man be- möchte ich vier Aspekte näher beleuchten, weil sie meines haupten, dass vertriebenenrechtliche Aufnahmeverfah- Erachtens besonders wichtig sind. ren als Einfallstor für Extremisten und Terroristen gelten.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24417

Christian Ahrendt (A) Und falls doch, wäre die Bundesregierung schon bei der muss. Das ist doch wohl eindeutig nicht der Fall. Der ge- (C) letzten Gesetzesänderung in der Pflicht gewesen, zu be- setzgeberische Handlungsbedarf ist nicht überzeugend gründen, wie viele Extremisten oder Terroristen in der dargelegt. Deshalb wird sich die Linksfraktion enthalten. Vergangenheit versucht haben, über das Verfahren nach dem Bundesvertriebenengesetz Aufnahme in Deutsch- Ich will noch zu einem Nebenaspekt dieses Gesetzes et- land zu erlangen. was sagen. Menschen aus osteuropäischen Staaten konn- ten sich früher einen Aufnahmebescheid der Bundesrepu- Es bestehen jedoch keine Zweifel daran, dass der Zu- blik ausstellen lassen, auch wenn sie gar nicht direkt zug von Schwerkriminellen gesetzgeberisch verhindert übersiedeln wollten. Diese Aufnahmebescheide gelten werden muss. In diesem Zusammenhang möchte sich die unbefristet. Da mit der Möglichkeit der Übersiedlung das FDP einer vernünftigen Lösung selbstverständlich nicht Kriegsfolgenschicksal der Betroffenen gelindert werden verschließen. Allerdings lehnen wir strikt ab, wenn hin- sollte, hat der Gesetzgeber 2007 zu Recht gesagt: Wer in terrücks Abfragemöglichkeiten und der damit verbun- einem EU-Mitgliedstaat lebt, der muss sich bis Ende 2009 dene Ausbau des Informationsaustausches eingefügt entscheiden, ob er nun übersiedeln will oder nicht. Da- werden. Aus diesen Gründen muss sich die FDP leider nach verfällt der Bescheid, der die Spätaussiedlereigen- enthalten. schaft bestätigt. Ein Kriegsfolgenschicksal muss ja nun nicht mehr ausgeglichen werden. Aber jetzt, keine zwei Jahre später, soll diese Befristung wieder aufgehoben Ulla Jelpke (DIE LINKE): werden. Wir beraten heute abschließend den Entwurf für die 8. Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Wesent- Die Bundesregierung begründet dieses Ansinnen auf lichen geht es dabei um drei Änderungen: die Bundes- eine höchst fragwürdige Art und Weise: polizei soll in die Sicherheitsüberprüfung von Spätaus- … damit hierdurch nicht Personen, deren weiterer siedlern miteinbezogen werden. Zugleich werden die Verbleib in ihren Herkunftsstaaten im Interesse der Fristen, innerhalb derer die Sicherheitsbehörden der An- Bundesrepublik Deutschland liegt, zu einer vorzei- erkennung der Spätaussiedlereigenschaft widersprechen tigen Ausreise veranlasst werden. Dies betrifft ins- können, deutlich verkürzt. Und es wird nun eine gesetzli- besondere Personen, die eine herausgehobene Stel- che Grundlage für die Rücknahme der Bescheinigung lung innerhalb der deutschen Minderheiten im über die „Spätaussiedlereigenschaft“ geschaffen. Herkunftsgebiet haben. Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt beginnen. Zu- Diese Sätze klingen in meinen Ohren doch sehr nach nächst einmal ist eine gesetzliche Regelung für die Rück- „Fünfter Kolonne“ und nach Sicherung von Einfluss in nahme der Bescheinigung ein Fortschritt gegenüber der (B) den osteuropäischen Staaten, indem man die dort leben- (D) aktuellen Situation. Denn es wird in dieser Frage über- den deutschen Minderheiten instrumentalisiert. Unter haupt erst mal eine klare Rechtslage geschaffen. Analog dem Deckmantel des Minderheitenschutzes will man hier zum Staatsangehörigkeitsgesetz wird die Möglichkeit der anscheinend einen Fuß in der Tür halten. Das zeigt, dass Rücknahme auf einen Zeitraum von fünf Jahren be- die deutsche Politik gegenüber den deutschen Minderhei- schränkt. Wir stellen uns allerdings die Frage, warum es ten in Osteuropa noch immer nicht von den Überresten ei- überhaupt eine Regelung zur Rücknahme der Spätaus- ner überkommenen Volkstumspolitik entschlackt ist. Die siedlereigenschaft geben muss. Die Bundesregierung Koalitionsfraktionen hätten gut daran getan, solchen sagt in der Begründung nichts darüber, ob es in der Ver- Quatsch aus der Gesetzesbegründung herauszustreichen. gangenheit etwa eine signifikante Anzahl an Bescheini- gungen gegeben hat, die im Nachhinein umstritten wa- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE ren. Die Regelung über den Widerruf der Spätaussiedler- GRÜNEN): eigenschaft wurde gleich ganz gestrichen, weil sie nie zur Anwendung kam. Ob diese neue Regelung je zur Anwen- Wir werden den Änderungen im Bundesvertriebenen- dung kommen wird, ist also völlig offen. gesetz zustimmen, weil wir eine tatsächliche Verbesse- rung für die von dem Gesetz betroffenen Menschen sehen. Zur Überprüfung durch Polizei und Geheimdienste: Die bislang völlig unangemessene Wartezeit von meh- Die Linksfraktion lehnt die pauschale und verdachtsun- reren Monaten für die Prüfung der Spätaussiedlerbe- abhängige Durchleuchtung der Spätaussiedler im Rah- scheinigungen und der Angehörigenbescheinigungen soll men des Anerkennungsverfahrens generell ab. Nun müs- erheblich verkürzt werden. Wir werden prüfen, ob damit sen die Sicherheitsbehörden allerdings wesentlich das im Gesetz angekündigte Ziel, eine verbindliche Ent- schneller ihre Bedenken äußern als nach der alten scheidung innerhalb von drei Wochen zu treffen, in der Rechtslage. Das finden wir richtig, weil es die Betroffe- Praxis wirklich erreicht wird. Insbesondere die Sicher- nen entlastet. Allerdings hätten Sie auch hier in der Be- heitsbehörden sollten eigentlich in der Lage sein, Sicher- gründung etwas mehr liefern können, was die bisherigen heitsbedenken innerhalb einer kurzen Frist vorzutragen. Ergebnisse dieser Überprüfungen angeht. Nun soll auch Es kann nicht sein, dass die Sicherheitsüberprüfungen, noch die Bundespolizei beteiligt werden, laut Gesetzesbe- die in der Regel ein Routinevorgang sind, zu so erhebli- gründung, um die Übersiedlung von „Schwerkriminellen chen Verfahrensverzögerungen führen. und gewaltbereiten Extremisten“ zu verhindern. Damit wird der Eindruck erweckt, unter den Spätaussiedlern Die Aufhebung der Befristung von vertriebenenrecht- seien in so großer Zahl Kriminelle und Extremisten, dass lichen Altbescheiden fordern wir seit langem. Wir begrü- deren ungebremste Einwanderung verhindert werden ßen, dass dies jetzt umgesetzt wird. Ob wir die Regelung

Zu Protokoll gegebene Reden 24418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Silke Stokar von Neuforn (A) zur Rücknahme der Bescheinigungen wirklich brauchen, Angelika Brunkhorst (C) muss die Praxis zeigen. Wir halten sie nicht für erforder- Eva Bulling-Schröter lich. Das ist für uns aber kein hinreichender Grund, den Undine Kurth (Quedlinburg) Gesetzentwurf abzulehnen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Entscheidend für unsere Zustimmung ist allerdings der richts des Ausschusses für die Angelegenheiten Änderungsantrag, den die Koalitionsfraktionen noch in der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem den Innenausschuss eingebracht haben. Wir brauchen Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, weitere Anstrengungen bei der Integration der Spätaus- Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, siedler. Es ist nicht vernünftig, einzelne Personen oder weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Personengruppen von dem Zugang zu Sprach- und Inte- NIS 90/DIE GRÜNEN grationskursen auszuschließen. Diejenigen, die kommen Einführung eines Europäischen Tags der und bleiben dürfen, ganz gleich, ob als Spätaussiedler Meere oder im Rahmen des Familiennachzuges, müssen glei- chermaßen Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. – Drucksachen 16/8213, 16/12654 – Es kann nicht sein, dass in Familienverbünden ein Teil Deutsch lernen soll und der andere Teil nicht an Deutsch- Berichterstattung: kursen teilnehmen darf. Abgeordnete Bernhard Kaster Kurt Bodewig Es ist zu begrüßen, dass wir für die Aufnahme von Spät- Michael Link (Heilbronn) aussiedlern und deren Angehörigen klarere Regelungen schaffen, dass wir durch die Zusammenfassung von Zu- Rainder Steenblock ständigkeiten zu einer Verfahrensbeschleunigung kom- men und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen verbes- Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre sern. Wenn die Große Koalition vernünftige Vorschläge Reden zu Protokoll gegeben: Bernhard Kaster, Ingbert macht, gibt es keinen Grund, dagegen zu stimmen. Liebing, Christoph Pries, Kurt Bodewig, Hans-Michael Goldmann, Eva Bulling-Schröter und Rainder Steenblock. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss Bernhard Kaster (CDU/CSU): empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Bereits vor ziemlich genau einem Jahr haben wir uns sache 16/13015, den Gesetzentwurf der Bundesregie- hier im Plenum in erster Lesung mit dem zweiten Teil der rung auf Drucksache 16/12593 in der Ausschussfassung heutigen Tagesordnung, dem Grünen-Antrag für die Ein- (B) anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- (D) führung eines Europäischen Tages der Meere, näher be- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr fasst. Ich will das damals Gesagte an dieser Stelle nur Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da- nochmals kurz skizzieren und mich nicht in Wiederholun- mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu- gen ergehen. Faktum jedenfalls ist und bleibt, auch nach stimmung der Koalitionsfraktionen und des Bündnis- der Behandlung dieses Antrags in den Ausschüssen: Er ses 90/Die Grünen angenommen. Gegenstimmen gab es ist natürlich gut gemeint. Indes: Gut gemeint genügt oft- nicht. Enthalten haben sich FDP und Linke. mals nicht. So verhält es sich auch hier. Dritte Beratung Politisch wird – dies ist an dieser Stelle erneut zu unter- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem streichen – der allgemeinen Stoßrichtung des Antrags der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Grünen längst gefolgt. Ich verweise in diesem Zusammen- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- hang etwa auf die Anstrengungen während der deutschen entwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmer- EU-Präsidentschaft vor bereits zwei Jahren, als mit der gebnis wie zuvor angenommen. „Bremer Erklärung zur Zukunft der Meerespolitik in der EU“ wesentliche Impulse für eine integrierte Meerespolitik Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b: gegeben wurden. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Es folgte dann eine Mitteilung der Europäischen Kom- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz mission zur integrierten Meerespolitik der EU mit einer und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem ganzen Reihe interessanter Anstöße. Die Reihe lässt sich Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Qued- weiter fortsetzen. Längst werden weitere, ergänzende linburg), Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, Bereiche behandelt, wird die ganze Thematik vertieft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- ergänzt und ausgeweitet. Ganz aktuell etwa hat sich erst NIS 90/DIE GRÜNEN vor wenigen Wochen der Rat der EU-Agrarminister mit Die Bedrohung der Meeresumwelt durch einer Mitteilung der Kommission zur nachhaltigen Zu- Unterwasserlärm stoppen kunft der Aquakultur befasst, zu denen möglicherweise noch unter tschechischer Präsidentschaft entsprechende – Drucksachen 16/5117, 16/7168 – Schlussfolgerungen verabschiedet werden können. Berichterstattung: Mit der Vorlage des Grünbuchs der Europäischen Kom- Abgeordnete Ingbert Liebing mission zur Gemeinsamen Fischereipolitik steht zudem Christoph Pries auch dieser für den Zustand der Meere ganz wesentliche Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24419

Bernhard Kaster (A) und bekanntermaßen schwierige Bereich vor einer fen haben und es einer Aufforderung durch die Grünen (C) grundlegenden Neuausrichtung. Die Diskussion im Rat nicht bedarf. dazu hat begonnen, und Deutschland wird sich dazu kon- struktiv einbringen. Dennoch gibt es durchaus positive Ansätze in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Dazu gehören unter anderem Daran zeigt sich: Die von den Grünen eingeforderte Po- die Forderungen nach einer stärkeren Forschung über litik für die Meere findet längst statt, in einem umfassen- Umweltauswirkungen von Unterwasserlärm. Auch stimme den, nachhaltigen Sinne. Auf vielen Ebenen – europäisch, ich der Entwicklung und Erprobung von Vermeidungs- und national, regional, lokal – wird intensiv an einer integrier- Minimierungsmaßnahmen zu. Das ist auch eine Aufgabe ten und in sich stimmigen Politik für die Zukunft unserer der europäischen Ebene. Die Bundesregierung hat – nicht Meere gearbeitet. Der mit der „Bremer Erklärung“ be- zuletzt aufgrund unseres eben angesprochenen Antrages – gonnene Prozess hat eindrucksvoll Gestalt angenommen. auch diesbezügliche Aktivitäten ergriffen, etwa im Rah- men des am 10. Oktober 2007 vorgelegten Blaubuchs zur Natürlich betrifft, darüber sind wir in der CDU/CSU- integrierten EU-Meerespolitik mit dem dazugehörigen Fraktion uns völlig im Klaren, vor allem uns Deutsche als Aktionsplan und im Rahmen der EU-Meeresstrategie- Anrainer von Nord- und Ostsee die Gefährdung der Welt- Richtlinie. meere ganz konkret. Das heißt für uns etwa, insbesondere das sensible Ökosystem Wattenmeer zu schützen. Zugleich, Beim Unterwasserlärm ist eine Vielzahl von Faktoren das will ich ausdrücklich nochmals für meine Fraktion zu beachten. Neben militärischen Aktivitäten sind hier hier hervorheben, kommt es ganz entscheidend darauf an, der Schiffsverkehr, der Bau und Betrieb von Offshore- alle politischen, gesetzgeberischen wie administrativen Windparks, die maritime Erdöl- und Gasförderung und Maßnahmen, gleich ob auf europäischer, nationaler oder auch die Sand- und Kiesgewinnung zu nennen. Auch seis- regionaler Ebene, stets in Kooperation mit den Bewohnern mische Untersuchungen im Zusammenhang mit maritimen der Küsten zu ergreifen. Es sind die Menschen vor Ort, Erdöl- und Erdgasquellen gehören dazu. Diesen vielfältigen deren unschätzbares Erfahrungswissen wir uns – und Faktoren wird man mit Pauschalurteilen nicht gerecht, dies halte ich anlässlich dieser Debatte im europäischen wie wir sie im Antrag der Grünen lesen. Maßstab für sinnvoll – zunutze machen müssen. Als Beispiel ist hier ihr Wunsch zu nennen, „anthropo- Keine Frage: Wir dürfen uns nicht auf dem bereits Er- genen Unterwasserlärm in Schutzgebieten und in hoch- reichten ausruhen. Die europäische Politik für die Meere, frequentierten Aufenthaltsgebieten von geschützten mariti- von Deutschland ganz entscheidend initiiert und weiter men Arten nicht mehr zu genehmigen“. Würden wir dieser vorangetrieben, muss fortgeführt und ausgestaltet werden. Forderung zustimmen, wäre eine Genehmigung von Off- (B) Genau darauf, auf das konkrete Handeln, die konkrete Tat shore-Windparks in wesentlichen Bereichen der Nord- (D) im Austausch mit den Menschen vor Ort, die an den Meeren und Ostsee ausgeschlossen. und vielfach als Fischer auch von den Meeren leben, kommt es an. An diesem Beispiel wird die widersprüchliche Politik der Grünen deutlich. Der erste Offshore-Windpark in der Nordsee ist in der Amtszeit von ihrem eigenen Bundesum- Ingbert Liebing (CDU/CSU): weltminister Jürgen Trittin zur Genehmigung vorbereitet Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute worden. Im Anschluss daran sind genau in den genehmigten hier debattieren, ist schon mehr als zwei Jahre alt. Die Gebieten FFH-Schutzgebiete ausgewiesen worden. Und seismischen Untersuchungen im Naturschutzgebiet Dog- erst jetzt erfolgt die Raumplanung für die AWZ, die eigent- gerbank, deren sofortiger Stopp gefordert wird, waren im lich am Anfang hätte stehen müssen: der zweite Schritt vor Mai 2007 bereits abgeschlossen. Jetzt haben wir Mai 2009. dem ersten. Raumplanerisch ist das ein Riesenblödsinn. Auch über den Einsatz von US-Kriegsmarineschiffen mit Einerseits wollen sie den Ausbau regenerativer Energien, Mittelfrequenzsonar in der Ostsee zur Bewachung des im andererseits behindern sie ihn zum Beispiel durch einen Juni 2007 stattfindenden G-8-Gipfels in Heiligendamm, derartigen Forderungskatalog in ihrem Antrag. der in dem Antrag kritisiert wird, brauchen wir wohl nicht mehr zu sprechen. Damit ist der Antrag der Grünen nicht Wenn sie es dennoch tun, können sie kaum Zustimmung nur alt, sondern auch veraltet und überholt. erwarten. Sie setzen sich dann nämlich dem Verdacht aus, ihre Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt zu haben. Ebenfalls vor zwei Jahren, am 27. März 2007, haben Politik muss immer eine Vielzahl unterschiedlicher die Fraktionen CDU/CSU und SPD in dem gemeinsamen Aspekte berücksichtigen und in sich stimmig sein. Ich Antrag „Schutz der Wale sicherstellen“ – Druck- weiß, Kompromisse sind nicht immer leicht zu finden, sache 16/48431 – unter anderem konkrete Maßnahmen aber gegensätzliche Forderungen aus der gleichen Frak- zum verbesserten Schutz aller Walarten, inklusive kleine- tion werden der Anforderung an eine seriöse Politik nicht rer Wale und Delfine, gefordert. Hierin wurde besonders gerecht. auch vor den negativen anthropogenen Einflüssen wie zum Beispiel Verschmutzung, Beifang und Lärm gewarnt. Die Bundesregierung engagiert sich beim Thema Un- Am 10. Mai 2007 hat der Deutsche Bundestag diesen terwasserlärm. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt sie da- Antrag inklusive der Forderung nach einem wirksamen bei. Das Bundesumweltministerium führt derzeit mehrere Monitoring dieser Maßnahmen angenommen. Dies macht Forschungsaufträge zum Thema Unterwasserlärm durch. deutlich, dass wir als Koalitionsfraktionen und die Bundes- Es laufen Aufträge über die Lärmbelästigung im Zusam- regierung das Thema Unterwasserlärm längst aufgegrif- menhang mit Offshore-Windanlagen. Im Zusammenhang

Zu Protokoll gegebene Reden 24420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Ingbert Liebing (A) mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee arbeiten die Besonders erfreulich ist auch, dass es gelungen ist, auf (C) verschiedenen beteiligten Ministerien zusammen. der 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention zum Schutz wandernder Tierarten (CMS) Anfang Dezember Darüber hinaus benötigen wir dringend wissenschaftli- 2008 eine Resolution zum Thema Unterwasserlärm zu che Grundlagen für fundierte Standards zum Meeresschutz. verabschieden. Darüber hinaus werden im Rahmen des Daher unterstütze ich ausdrücklich den Einsatz des BMU Abkommens zum Schutz der Kleinwale in Nord- und Ost- und des Bundesamtes für Naturschutz, mit dem in konkre- see, ASCOBANS, derzeit Leitlinien zur Minderung von ten Fällen die Lärmbelastungen heimischer Wale bereits Unterwasserlärm entwickelt, die auf der nächsten Ver- minimiert werden konnten. Dafür können auch neue tech- tragsstaatenkonferenz im Jahr 2010 vorgestellt werden nologische Entwicklungen genutzt werden. sollen. Ich hoffe, dass auf der Grundlage der aktuellen wis- Die SPD-Bundestagsfraktion hofft, dass auf der Grund- senschaftlichen Forschung so bald wie möglich konkrete lage der aktuellen wissenschaftlichen Forschung und der Verbesserungen bei der Lärmbelastung von Walen, insbe- Diskussionen im Rahmen von CMS und ASCOBANS bald- sondere des heimischen Schweinswales, erreicht werden möglichst konkrete Verbesserungen hinsichtlich der können. Dafür sind wir auf einem guten Weg – auch ohne Lärmbelastung von Walen und insbesondere des heimi- den längst überholten und veralteten Antrag der Grünen, schen Schweinswales erreicht werden können. Wir unter- den wir nur ablehnen können. stützen das BMU bei den diesbezüglichen Anstrengungen auf nationaler und internationaler Ebene. Christoph Pries (SPD): Wir diskutieren heute über den Antrag von Bündnis 90/ Kurt Bodewig (SPD): Die Grünen „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Am 20. Mai 2009 feiert der „Europäische Tag der Unterwasserlärm stoppen“. In dem Antrag wird die Bun- Meere“ seinen ersten Geburtstag. Dessen Einführung desregierung aufgefordert, sich national und internatio- wurde im letzten Jahr in einer gemeinsamen Dreiererklä- nal für die Bekämpfung der anthropogenen Verlärmung rung von den Präsidenten der Europäischen Kommis- der Meere einzusetzen. Das Problem ist seit langem be- sion, des Europäischen Parlaments und des Rates der kannt und fraktionsübergreifend grundsätzlich wenig um- Europäischen Union beschlossen und wird nun jedes stritten. Dies wurde auch in der Debatte zum Walschutz Jahr feierlich begangen. Hintergrund ist, Bewusstseins- am 10. Mai 2007 deutlich. Damals haben wir uns ein- bildungs- und Netzwerkaktivitäten zu organisieren, die stimmig für einen verbesserten Schutz der Wale ausge- den Menschen die Bedeutung der Meere näherbringen sprochen. und die Sichtbarkeit maritimer Angelegenheiten in (B) Unter anderem enthält der damals angenommene An- Europa stärken. (D) trag „Schutz der Wale sicherstellen“ die Forderung an die Bundesregierung, sich für „konkrete Maßnahmen Deshalb ist an der grundsätzlichen Idee der Grünen in zum verbesserten Schutz aller Walarten vor negativen an- ihrem vorliegenden Antrag nichts auszusetzen. Durch die thropogenen Einflüssen, wie zum Beispiel Verschmut- Einführung eines „Europäischen Tages der Meere“ in zung, Beifang oder Lärm“ einzusetzen. Wir unterstützen Deutschland einen konkreten öffentlich wahrnehmbaren diese Forderung, sehen aber auch die Schwierigkeiten Schritt zu unternehmen, um ein Bewusstsein für das ge- bei der Umsetzung im Rahmen einer „Technischen An- meinsame maritime Erbe zu schaffen, ist ja grundsätzlich weisung (TA) Unterwasserlärm“ auf nationaler und im nicht falsch. Aber ich muss an dieser Stelle fragen, warum Rahmen völkerrechtlich bindender Vereinbarungen auf es hier explizit eines deutschen europäischen Tages der internationaler Ebene. Meere bedarf? Ich denke, dass es nicht zielführend ist in Zeiten, in denen wir ein gemeinsames Europa anstreben, Die pauschalen und zum Teil bereits überholten For- in jedem Land einen nationalen Tag zu zelebrieren. Ein derungen in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gemeinsamer „Europäischer Tag der Meere“, der euro- werden der komplexen Problematik nicht gerecht. Darü- paweit in allen Mitgliedstaaten an vielen Orten begangen ber hinaus sind einige Forderungen bereits erfüllt wor- wird, ist nach meiner Ansicht die bessere Lösung. So habe den. Wir lehnen den Antrag daher ab. ich die Freude, am kommenden Dienstag als Chairman des internationalen „Baltic Sea Forums“ in der Landes- Trotzdem möchte ich betonen, dass die zunehmende vertretung Hamburg diesen Tag mit einer Veranstaltung Verlärmung der Meere auch für die SPD-Bundestagsfrak- zum Thema „Die EU-Ostseestrategie – das Meer als tion ein wichtiges Thema ist. Wir begrüßen deshalb die Chance“ zu begehen. Weitere Veranstaltungen anlässlich Forschungsförderung des Bundesumweltministeriums des „Europäischen Tags der Meere“ fanden im Vorfeld zum Thema Unterwasserlärm. Die Bundesregierung und in den Tagen um den 20. Mai allein in Deutschland in trägt damit dazu bei, die dringend notwendigen wissen- Berlin, Kiel, Hamburg, Rostock und Bremen statt. Warum schaftlichen Grundlagen für fundierte Standards zu le- sollten wir dies auf eine einzige Bundesveranstaltung ein- gen. Darüber hinaus begrüßen wir den Einsatz des BMU dampfen? und des Bundesamtes für Naturschutz, um in konkreten Fällen die Lärmbelastungen für die heimischen Wale zu Manche könnten sich fragen, warum ein europäischer minimieren, so zum Beispiel beim G-8-Gipfel in Heiligen- Mitgliedstaat wie beispielsweise Österreich den „Euro- damm – Vermeidung von Sonareinsatz durch amerikani- päischen Tag der Meere“ feiern sollte. Die Antwort da- sche Kriegsschiffe – oder bei der Minenräumung vor der rauf ist einfach. Denn der maritime Sektor beschränkt Ostseeküste. sich keineswegs nur auf Küstenregionen. Die Zulieferer-

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Kurt Bodewig (A) industrie für die maritime Wirtschaft ist auch weit weg Seeweg. Die Frachtmengen, die an europäischen Häfen (C) von den Küsten angesiedelt. Deshalb und weil die Meere bewältigt werden, sind immens. Dass die Europäische und das maritime Erbe von unschätzbarem Wert für die Union zukünftig verstärkt auf die Schifffahrt setzt, um die Bevölkerung Europas sind, sollte der „Europäische Tag bevorstehenden Verkehrszuwächse ökologisch verträg- der Meere“ als europäischer und nicht als nationaler lich und kostengünstig bewältigen zu können, begrüße Feiertag betrachtet werden. Mir gefällt der Gedanke, ich. dass sich europaweit in den Mitgliedstaaten Veranstal- tungen mit der Bedeutung der Meere auseinandersetzen Problembereiche wie der Klimaschutz und der Schutz und diese auch der breiten Öffentlichkeit vermitteln. der Meeresumwelt und die Bekämpfung von Piraterie las- sen sich, wie man an der erfolgreichen Arbeit der Orga- Denn wir alle sollten die vielfältige Bedeutung der nisation HELCOM im Bereich der Umwelt und der Meere nicht unterschätzen. Europa ist von 70 000 Kilo- Atalanta-Mission der Europäischen Union zur Bekämp- metern Küste umgeben. Mehr als zwei Drittel seiner fung der Piraterie vor den Küsten Somalias sieht, am bes- Grenzen sind Küsten, und mehr als 40 Prozent von Euro- ten gemeinsam bekämpfen und lösen. pas BIP wird in Küstenregionen erwirtschaftet. Zudem le- ben mehr als 50 Prozent der europäischen Bevölkerung in Gerade deshalb plädiere ich noch einmal dafür, den Küstenregionen. Eine gemeinsame europäische Meeres- „Europäischen Tag der Meere“ dort zu belassen, wo er politik ist also wirklich wichtig, wenn Europa weiterhin hingehört: auf der europäischen Ebene. Dort wird er so erfolgreich sein möchte, wie es ist. Denn 90 Prozent auch in diesem Jahr in großem Stil begangen. Ich selbst des Außenhandels und 40 Prozent des Binnenhandels er- freue mich sehr darauf, auf der Stakeholder Conference, folgen über den Seeweg. Trotz der aktuellen Finanzkrise die anlässlich dieses Tages am 20. Mai in Rom stattfindet, bewältigen europäische Häfen jährlich 3,5 Milliarden zu Gast zu sein. In einer Vielzahl von Paneldiskussionen, Tonnen Fracht, und etwa 350 000 Menschen sind in der Workshops und Gesprächen, aber auch bei den vielen Hafenwirtschaft beschäftigt. Im Fischsektor sind es wei- Veranstaltungen, die anlässlich des „Europäischen Tages tere 526 000 Arbeitnehmer. Und auch der Küstentouris- der Meere“ in ganz Rom stattfinden werden, wird es öf- mus bringt jährlich 72 Milliarden Euro in Europas Kas- fentlichkeitswirksam um die Bedeutung der Meere für sen. Europa gehen. Die Meere und Ozeane haben also eine strategische Die Meerespolitik ist ein europäisches Anliegen. Bedeutung für die europäische Wirtschaft. Die unter- schiedlichen Sektoren Schiffbau und Schifffahrt, Häfen Hans-Michael Goldmann (FDP): und Fischerei, Offshoreenergie, Fremdenverkehr, Um- Die wirtschaftliche Nutzung der Meere hat stark zuge- welt und maritimes Erbe sind jeder für sich von großer nommen, wobei auch neue Interessen wie Seewindkraft, (B) (D) wirtschaftlicher Bedeutung. Ergänzt wird dies durch die Meeresbergbau, Meeresschutzgebiete etc. an Bedeutung Synergien zwischen diesen Sektoren. gewinnen. Verschiedene Nutzungsansprüche entwickeln sich teilweise gegenläufig und geraten in Konkurrenz zu- Im Blaubuch der KOM vom 10. Oktober 2007 „Eine einander. integrierte Meerespolitik für die Europäische Union“ wurde auf die strategische Bedeutung der Meere und Die FDP-Bundestagsfraktion hat im Februar 2007 Ozeane für die europäische Wirtschaft hingewiesen. In eine öffentliche Anhörung zur Meerespolitik der EU Zeiten der Globalisierung, der Finanzkrise und der Pira- durchgeführt, deren Ergebnisse in unseren Antrag terie, aber auch des technologischen Fortschritts und des „Schutz und Nutzung der Meere – Für eine integrierte Klimawandels ist eine gemeinsame europäische Meeres- maritime Politik“, Drucksache 16/4418, eingeflossen politik ein Muss. sind. Nutzung und Schutz müssen sich nicht ausschließen. Es gilt jeweils eine sinnvolle und vernünftige Abwägung Ich habe das Gefühl, dass sich auch im technologi- divergierender Interessen vorzunehmen. schen Bereich in den kommenden Jahren einiges bewegen wird. Die Meere sind ein noch in weiten Teilen unentdeck- So enthält der Antrag zum Schutz der Meeresumwelt ter Forschungsbereich, und die Potenziale, die die euro- durch Unterwasserlärm durchaus viel Richtiges. Die päischen Mitgliedstaaten hier gemeinsam noch entwi- FDP unterstützt sowohl die Forderung nach Verstärkung ckeln und nutzen können, sind groß. Gerade – aber nicht der Forschungsanstrengungen als auch die Forderung nur – für den Bereich der erneuerbaren Energien wird nach der Intensivierung der Entwicklung und Erprobung hier sicher noch ein großer Nutzwert entstehen, der auch von Vermeidungs- und Vergrämungsstrategien. Wie sich unserem Klima zugutekommen wird. Jeder Mitgliedstaat aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine für sich wäre wahrscheinlich mit der Ausschöpfung die- Anfrage „Schutz der Meeresumwelt beim Bau deutscher ser Potenziale überfordert. Doch durch die Kombination Offshore-Windparks“, Drucksache 16/10959, ergibt, be- ihres Wissens und ihrer Technologien kann Europa wett- steht im Hinblick auf das Ziel Konsens, und es wird auch bewerbsfähig sein. Der Zusammenschluss bzw. die Ko- schon manches unternommen, um die Meeresumwelt vor operation von Universitäten und Unternehmen aus elf Unterwasserlärm zu schützen. Da der Antrag der Frak- Staaten im Ostseeraum ist ein gutes Beispiel. tion Bündnis 90/Die Grünen teilweise veraltet ist, enthal- ten wir uns insoweit der Stimme. Auch für den logistischen Bereich entwickeln sich die Meere zu einer unverzichtbaren Alternative zur Schiene. Bei vielen Bürgern ist die dynamische Entwicklung der Wie bereits erwähnt, erfolgen 90 Prozent des europäi- Meere und des maritimen Bereichs noch nicht angekom- schen Außen- und 40 Prozent des Binnenhandels auf dem men. Vielfach ist noch unklar, welche Bedeutung die

Zu Protokoll gegebene Reden 24422 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Hans-Michael Goldmann (A) Meere haben, dass sie nicht nur für das Weltklima und die der entsprechenden Grenzwerte für Industrie- und Ver- (C) Umwelt insgesamt von entscheidender Bedeutung sind, brennungsanlagen geführt hat. sondern auch für unseren wirtschaftlichen Wohlstand. Genau solch ein öffentlicher Druck für den Schutz der Während der Nutzen der Meere, der Nutzen ökologisch Meere fehlt, wenn man einmal von Walen und Delfinen intakter Meere immerhin den meisten Menschen an der absieht. Kabeljau, Sprotte und Tunfisch haben keine Küste schon lange klar ist, haben die Binnenländer hier Lobby. Sie werden gnadenlos überfischt. Dabei geht es noch einiges aufzuholen. Es fängt schon bei etwas so Pro- nicht nur um den Artenschutz, sondern – wie beim Klima- fanem an, dass zwei Drittel der Wertschöpfung im Schiff- schutz – auch um Solidarität. Denn während Millionen bau gar nicht in den Küstenländern, sondern bei Firmen Tonnen wertvoller Meerestiere als Beifänge ungenutzt im Binnenland erfolgen. und tot über Bord gehen, sitzen Millionen von Küstenbe- Die FDP begrüßt deshalb, dass die EU-Kommission wohnern in Afrika vor leeren Tellern. Die Trawler der mit dem 20. Mai den „Europäischen Tag der Meere“ aus Industriestaaten saugen ihnen die Meere leer, legal und der Taufe gehoben hat. Die Meeresregionen mit ihren illegal. vielfältigen Ökosystemen sind unterschiedlichen Beein- Es geht aber nicht nur um Fische. Das Ökosystem trächtigungen ausgesetzt. Trotz einiger Erfolge ist der Meer als Ganzes zu begreifen und endlich behutsam zu Schutz der Meere und Küsten nach wie vor eine große He- nutzen, das ist die eigentliche Aufgabe, die vor der rausforderung. Die Schäden, die den Küstenregionen Menschheit steht. Schließlich sind die Ozeane neben der durch Schadstoffeinträge durch die Flüsse, auch aus dem Überfischung auch durch organische Überfrachtung und Binnenland, zugefügt werden, sind oft irreparabel. Ein Schadstoffeinträge bedroht. Die Überdüngung der Flüsse Beispiel ist ein immer noch zu hoher Nährstoff- und aus der Landwirtschaft führt in den Meeren zu gefürchte- Schwermetalleintrag. Die politische Entscheidungsfin- ten Algenblüten. Schwermetalle und hormonelle Stoffe, dung zum Schutz der Meere kann nur unter der Betrach- neuerdings auch nukleare Belastungen reichern sich in tung des ganzen Ökosystems erfolgen, und dafür bedarf den Organismen an. Zunehmend wird auch Lärm zu ei- es eines umfassenden Verständnisses von der Bedeutung nem Problem, insbesondere für Großsäuger. der Meere. Wie mangelhaft die europäische Meeresschutzpolitik Ein solcher Tag muss mit Leben gefüllt werden, wenn ist, zeigen Grünbuch und Blue-Paper der EU-Kommis- er einen Sinn ergeben soll. Dieser Tag könnte Anlass für sion genauso wie die Entwicklung der europäischen Mee- deutsche Regionen und Städte sein, sich ein Programm zu resschutzrichtlinie. Die Gesetzgebung und die Zuständig- überlegen, das einerseits die Bürger aufklärt und ande- keiten in Bezug auf den Meeresschutz bleiben zersplittert. rerseits touristische Akzente setzt. Schulen und Hoch- Ein ganzheitlicher ökosystemarischer Ansatz ist nicht er- schulen könnten ihn künftig sinnvoll begleiten. (B) kennbar. Die Ozeane werden vorrangig als Wirtschafts- (D) Ob es Aufgabe gerade der Bundesregierung ist, ein gut betrachtet. Meeresschutz ist aber deutlich mehr, als Konzept vorzulegen, wie mit einem Tag der Meere ein Be- konkurrierende Nutzungsansprüche aus Fischerei, Berg- wusstsein für das maritime Erbe auch auf europäischer bau, Seefahrt und Tourismus abzugleichen. Ebene geschaffen werden kann – wie dies von den Grünen Doch noch ein Blick nach vorn, der zeigt, dass sich gefordert wird –, ist zweifelhaft. Wegen der Kultushoheit moderner Meeresschutz und Meeresnutzung auch gegen- der Länder wäre es sinnvoll, wenn die Bundesländer seitig befruchten können. In Neuseeland waren die Konzepte erarbeiten, wie sie diesen Tag durch entspre- Fischer einst die stärksten Gegner, als es darum ging, chende Angebote und Anreize gestalten können. Insofern Schutzgebiete einzurichten. Nunmehr gehören die enthalten wir uns auch bei diesem Antrag der Stimme. Fischer zu den Verteidigern dieser ökologischen Oasen. Die dort rasant anwachsenden Bestände wandern näm- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): lich aus den Schutzgebieten aus und füllen wieder die Die Linksfraktion unterstützt den Antrag der Grünen, Netze. Greenpeace und andere fordern seit langem, auch der auf einen Vorschlag der Europäischen Kommmission, in anderen Teilen der Welt Meeresschutzgebiete einzu- des Rates und des EU-Parlaments zurückgeht. Ein „Eu- richten, in denen Fischerei und Rohstoffabbau verboten ropäischer Tag der Meere“, der festlich begangen wird, werden. Konkrete Vorschläge gibt es für Nord- und Ost- könnte dazu beitragen, ein Bewusstsein für das gemein- see sowie für die außereuropäischen Meere. Vielleicht same maritime Erbe zu schaffen. kann ein „Europäischer Tag der Meere“ dazu beitragen, solche Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Ein solches Bewusstsein wäre auch mehr als notwen- dig. Schließlich ist die Bilanz der menschlichen Eingriffe Was den zweiten Antrag betrifft, so halten wir den stei- in die unterseeische Welt katastrophal. In den letzten hun- genden Unterwasserlärm für eine große Bedrohung der dert Jahren sind die Bestände vieler Fischarten um fast maritimen Lebenswelt. Mit Sicherheit gefährdet er Wale 90 Prozent zurückgegangen, schätzen Wissenschaftler. und Tümmler. Entsprechende Untersuchungen liegen vor. Weil sich das Ganze jedoch fernab und unter der Was- Deshalb muss die Bundesregierung einerseits national seroberfläche abspielt, wird es für viele Menschen wenig Maßnahmen gegen anthropogenen Unterwasserlärm er- greifbar. Das ist beispielsweise beim Waldsterben anders. greifen und sich andererseits konsequent für internatio- Lichte Kronen und Mittelgebirge mit Baumstümpfen sind nale Maßnahmen gegen den Unterwasserlärm einsetzen. sichtbar. Sie haben viele Bürgerinnen und Bürger für den Insbesondere in Schutzgebieten und hochfrequentierten „sauren Regen“ und Luftschadstoffe sensibilisiert. Der Aufenthaltsgebieten dieser Tiere müssen Tätigkeiten des öffentliche Druck war es vor allem, der zur Verschärfung Menschen, die starken Lärm entwickeln, weitgehend ver-

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Eva Bulling-Schröter (A) boten werden. Das betrifft insbesondere die Sonaraktivi- Regionen, nichtstaatliche Organisationen, Wissenschafts- (C) täten von U-Booten sowie Sprengungen. Für Deutsch- einrichtungen sowie alle Organisationen und Institutio- land müssen darum seismische Untersuchungen, wie sie nen, die irgendwie mit dem Meer zu tun haben, aufgeru- im Naturschutzgebiet Doggerbank stattgefunden haben, fen, sich mit eigenen Aktionen an dem „Europäischen Tag künftig unterbunden werden. des Meeres“ zu beteiligen. Dieser Aufforderung sind viele Mitgliedstaaten, etliche Regionen, unzählige nichtstaat- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- liche Organisationen und Wirtschafts- und Forschungs- NEN): einrichten nachgekommen. Auch viele deutsche Bundes- länder begehen in Kooperation mit Universitäten, Mee- Die Meere sind für alle Länder Europas von zentraler resforschungsinstituten und Organisationen den „Euro- ökonomischer und ökologischer Bedeutung: Circa zwei päischen Tag der Meere“ am 20. Mai 2009. Drittel der europäischen Außengrenzen werden von Küs- tenlinien gebildet, 22 der 27 EU-Mitgliedsländer sind In- Nur die Bundesregierung weigert sich bislang beharr- sel- oder Küstenstaaten, und die Fläche der EU-Hoheits- lich, einen solchen „Europäischen Tag der Meere“ auch gewässer ist größer als das kontinentale Hoheitsgebiet in Deutschland einzuführen und angemessen zu gestalten. der EU. Fast die Hälfte aller EU-Bürger lebt in Küsten- Das ist mehr als traurig: Als Exportnation haben gerade regionen. Sowohl ihre Lebensqualität als auch ihr Le- wir besonders von der Bedeutung der Meere profitiert. bensstandard sind abhängig vom Zustand der Meere und Gerade wir sind es, die ein besonderes Interesse daran einer nachhaltigen Nutzung dieser Ressource. Der Rück- haben sollten, auch unseren zukünftigen Wohlstand zu griffsmöglichkeit auf die Ressource Meer haben wir einen sichern. Womit die Weigerung der Bundesregierung, erheblichen Teil unseres heutigen Wohlstandes auf dem einen solchen Tag auch in Deutschland einzuführen, zu europäischen Kontinent zu verdanken. Andererseits war begründen ist, bleibt weiter unklar. Der Hinweis darauf, es genau diese Nutzung, die große Teile der sensiblen ma- man sei nicht imstande, einen solchen Tag in Deutschland ritimen Ökosysteme an den Rand des Zusammenbruchs zu begehen, da man sich auf europäischer Ebene so stark gebracht hat. Unsere Meere sehen sich heute mannigfal- engagiere, ist peinlich und kann wohl kaum der Grund tigen Bedrohungen ausgesetzt: Zunehmende Schadstoff- sein. Für mich bleiben nur zwei mögliche Erklärungen: und Lärmemission durch die Schifffahrt, eine Überdün- Entweder hat die Bundesregierung die Bedeutung der gung und Überfischung, eine zunehmenden Verbauung Meere bisher nicht erkannt, womit sie sich ein Armuts- der Küsten etc. haben bereits heute zu teilweise irrepa- zeugnis ausstellen würde –, oder der wahre Grund ist der, rablen Schäden geführt. Durch die exzessive Nutzung dass es sich nach Meinung der Bundesregierung um die unserer Meere laufen wir Gefahr, den erst durch sie er- Initiative einer Oppositionsfraktion handelt, der man möglichten Standard einer hohen Lebensqualität zu ge- schon aus Prinzip nicht zustimmen will. (B) fährden. (D) Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregie- Mit dem „Europäischen Tag der Meere“ macht die EU rung, um das noch einmal klarzustellen: Die Annahme, deutlich, dass sie die Herausforderungen, unsere Meere dass es sich hier ausschließlich um eine Initiative der effektiv zu schützen, erkannt hat und die Herausforderung Opposition handele, ist falsch. Wir, die Vertreterinnen ernst nimmt. Der „Europäische Tag der Meere“ ist ele- und Vertreter der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen mentarer Bestandteil der Strategie für „eine integrierte sind es lediglich, die Sie, die Bundesregierung, einmal Meerespolitik für die Europäische Union“. Diese lässt mehr an die Bedeutung der Meere für unser Land und die sich im gleichnamigen Blaubuch und dem darauf aufbau- von Ihnen eingegangenen Verpflichtungen innerhalb der enden Aktionsplan der Kommission vom 10. Oktober EU erinnern müssen. 2007 finden. Dort heißt es: Die Stärkung der Wettbe- werbsfähigkeit, der Schutz der Meeresumwelt und die In- Hiermit fordern meine Fraktion und ich sie noch ein- teressen und Lebensgrundlagen derjenigen, die von der mal mit Nachdruck dazu auf, den 20. Mai als den „Euro- maritimen Wirtschaft abhängig sind oder an der Küste päischen Tag der Meere“ auch in Deutschland einzufüh- wohnen, sollen integrale Bestandteile einer ganzheitli- ren und angemessen zu gestalten. Ansonsten läuft die chen Betrachtungsweise sein. Dementsprechend enthal- Bundesregierung nicht nur Gefahr, die gemeinsame Emp- ten Blaubuch und Aktionsplan folgende Aktionsbereiche: fehlung der Europäischen Kommission, des Europäi- Optimale Nachhaltigkeit bei der wirtschaftlichen Nut- schen Parlaments und des Rates der Europäischen Union zung der Meeresressourcen, Aufbau einer Wissens- und vom 14. Dezember 2007 zu missachten, sondern vergibt Innovationsgrundlage, verbesserte Lebensqualität in den zudem die Chance, ein Bewusstsein für das maritime Küstenregionen, Ausbau der Position Europas in den Erbe auf deutscher und europäischer Ebene zu schaffen internationalen Organisationen und Abkommen und grö- und der Notwendigkeit des Schutzes der Meere den Platz ßere Aufmerksamkeit für ein maritimes Europa in der einzuräumen, welche die Meere als unsere natürliche Le- Öffentlichkeit. bensgrundlage verdienen. Um die Bedeutung unserer Meere für unser tägliches Leben stärker ins Bewusstsein zu rufen und vor allem dem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: letzten Punkt, einer größeren Aufmerksamkeit für ein ma- Tagesordnungspunkt 27 a. Wir kommen zunächst zur ritimes Europa, gerecht zu werden, haben Europäische Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Kommission, Rat und Parlament vor zwei Jahren den schusses für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit „Europäischen Tag der Meere“ ins Leben gerufen. Zu- zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit gleich wurden alle, ich betone, alle Mitgliedstaaten, dem Titel „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Un- 24424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) terwasserlärm stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- Der 15. Mai 2009 ist der Tag des THW. So ist es also (C) ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7168, den kein Zufall, wenn wir heute nicht nur eine Namensände- Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf rung vornehmen, sondern auch das regeln, was eindeutig Drucksache 16/5117 abzulehnen. Wer stimmt für die Be- – vor allem im Interesse der hauptamtlichen Mitarbeite- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – rinnen und Mitarbeiter, besonders aber für die ehrenamt- Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung lichen Helferinnen und Helfer – dringend geboten ist. durch die Koalitionsfraktionen und bei Gegenstimmen Das THW als Einrichtung des Bundes ist elementarer Be- des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die standteil des Zivil- und Katastrophenschutzes. Linke angenommen. Die FDP hat sich enthalten. Trotz des zweigliedrigen Aufbaus des Zivil- und Kata- Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über die Be- strophenschutzes zwischen Bund und Ländern ist eine schlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegen- scharfe Grenzziehung in der Praxis oft schwierig, wenn heiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Frak- es um die eindeutige Kompetenzzuweisung geht. Dies tion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einführung zeigten bereits die Debatten zur Änderung des Zivil- eines Europäischen Tages der Meere“. Der Ausschuss schutzgesetzes vom 29. Januar dieses Jahres und die empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Diskussionen im Rahmen der Föderalismusreform. So sache 16/12654, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ kommt dem Bund nicht nur die Funktion des Zivilschut- Die Grünen auf Drucksache 16/8213 abzulehnen. Wer zes, sondern mittlerweile auch eine ergänzende Funktion stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- im Bereich des Katastrophenschutzes zu. Aufgrund der men? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfeh- immer umfassender werdenden zunehmenden Herausfor- lung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitions- derungen an die Leistungsfähigkeit und das Spektrum der fraktionen. Dagegen haben die Fraktionen Die Linke Einsätze wird deutlich, dass ein funktionierendes Zusam- und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die FDP hat sich menspiel von Bund und Ländern unabdingbar ist. Dies enthalten. zeigte sich zuletzt bei den Bergungsarbeiten nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs oder bei Aufräumarbei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: ten nach Verkehrsunfällen und Autobahnsperrungen, wie Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- dies noch in dieser Woche auf der A2 in Brandenburg der nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Fall war. Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhält- Wenn nun alles fast reibungslos läuft, warum ist denn nisse der Helfer der Bundesanstalt Techni- dann die Änderung des bestehenden Gesetzes notwendig? sches Hilfswerk (B) Seit der Gründung des THW in den 50er-Jahren haben (D) – Drucksache 16/12854 – sich, wie gesagt, die Einsatzarten stark verändert. Die bisher gesetzlichen Regelungen entsprechen zum Teil Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- nicht mehr den Einsatzerfordernissen. Daher besteht ge- schusses (4. Ausschuss) setzlicher Anpassungsbedarf. So findet sich nun im neuen THW-Helferrechtsgesetz, welches 1990 den Erlass über – Drucksache 16/13016 – die Errichtung des Technischen Hilfswerkes als nicht- Berichterstattung: rechtsfähige Bundesanstalt ablöste, eine genauere und Abgeordnete Beatrix Philipp zum Teil auch erweiterte Aufgabenskizzierung. Gerold Reichenbach Wer sich im Zivil- und Katastrophenschutz auskennt, Hartfrid Wolff (Rems-Murr) weiß, wie schwierig sich in der Vergangenheit die Zusam- Petra Pau menarbeit zwischen Bund und Ländern oft gestaltete. Es Silke Stokar von Neuforn ist der Praxisbezogenheit der handelnden Personen und Hier haben Beatrix Philipp, Gerold Reichenbach, dem Wunsch, den Menschen zu helfen, zu verdanken, dass Hartfrid Wolff, Petra Pau und Silke Stokar von Neuforn es zu so vielen erfolgreichen Einsätzen und beeindrucken- ihre Reden zu Protokoll gegeben. den Bilanzen kommen konnte. Allein im Jahr 2008 gab es circa 390 000 Einsatzstunden, waren Tausende von Hel- ferinnen und Helfern im Einsatz. Beatrix Philipp (CDU/CSU): Wir sprechen heute über das Erste Gesetz zur Ände- Der Verweis von § 1 Abs. 4 auf die landesrechtlichen rung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse Vorschriften erlaubt es nun den THW-Einsatzkräften, der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, kurz gleichberechtigt wie Einsatzkräfte von Feuerwehr und THW-Helferrechtsgesetz. Angesichts der Bedeutung des anderen Hilfsorganisationen zu handeln. Darunter fällt THW für alle Menschen in Deutschland und zunehmend zum Beispiel, dass THWler nun berechtigt sind, einen auch im Ausland ist es fast verwunderlich oder ein Zei- Einsatzort abzusperren, Absperrungen gegenüber Schau- chen besonderer Qualität und Güte des THW, dass das lustigen durchzusetzen, betroffene Grundstücke zu betre- derzeit gültige THW-HelfRG bisher Akzeptanz gefunden ten usw. Das sind Beispiele, die zeigen, dass wir uns – im hat, obwohl es eigentlich anders hätte heißen müssen. Es Gegensatz zu manch anderen Gesetzesvorhaben – im ab- beinhaltete nämlich von Anfang an auch Regelungen zum soluten praktischen und nicht im theoretischen Bereich Einsatz und zur Organisation des THW, ohne dass sich der Anwendung dieses Gesetzes bewegen. Die Gleichstel- dies in der Gesetzesbezeichnung wiedergefunden hätte. lung von THW und Feuerwehr war angesichts der zuneh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24425

Beatrix Philipp (A) menden Bedeutung des Technischen Hilfswerkes in unse- Gemäß Satz 3 ist aber auch ein Erlass der Kosten- (C) rer heutigen Gesellschaft mehr als geboten. erstattung aus Gründen der Billigkeit oder des öffentli- chen Interesses möglich, das heißt, es werden dann keine Immer häufiger können wir die blauen Fahrzeuge des Kosten in Rechnung gestellt, wenn es nach allgemeinen THW auf den Straßen sehen, wenn sie von einem Einsatz- Gesichtspunkten nicht hinnehmbar wäre – aufgrund der ort zum nächsten unterwegs sind, und es wirkt irgendwie Gesamtumstände –, dem Begünstigten die Kosten aufzu- „beruhigend“. erlegen. Dies erlaubt eine Fortsetzung des bereits prakti- Das Besondere daran ist, dass bei diesen Einsätzen ein zierten Verwaltungshandelns. Sofern die zuständige Be- hoher Anteil der Kräfte ehrenamtlich tätig ist. Dafür hörde die Kosten nicht an den Begünstigten weiterleiten möchte ich allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern kann, hat das THW seinerseits die Möglichkeit, auf eine danken. finanzielle Belastung gegenüber der anfordernden Be- hörde zu verzichten. Mit der Rechtsgrundlage der Kos- Mit gut 80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Hel- tenstellung des neuen THW-Gesetzes findet insgesamt fern ist das THW mit eine der bekanntesten Hilfsorgani- eine Kostenentlastung des THW statt. sationen in Deutschland, in der sich Helferinnen und Hel- Weiterhin ist diese Regelung nach dem Urteil des Bun- fer ehrenamtlich engagieren. Ehrenamtliche Arbeit hat in desgerichtshofes vom 19. Juli 2007 mehr als geboten. unserem Land eine lange Tradition. Wir sind in Deutsch- Diese Rechtsgrundlage ist wichtig, um die Tätigkeit des land zwar immer noch weit davon entfernt, dem Ehrenamt THW zu unterstützen. so viel Bedeutung und Anerkennung beizumessen, wie dies in den USA der Fall ist, aber es gibt ermutigende An- Mit Schaffung dieser Rechtsvorschrift ist das Risiko ei- zeichen dafür, dass wir auf einem guten Weg sind. Zwei- ner Kostenbelastung beseitigt. Es liegt in der Natur der fellos hat sich auch die Arbeitswelt in den letzten Jahren Sache, dass diese gesetzlichen Klarstellungen an der viel- so verändert, dass ehrenamtliches Engagement immer zitierten Basis gerne aufgenommen werden; sie sind ein schwieriger wird. Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber sehr wohl in der Lage ist, Anregungen aus der Praxis wahrzunehmen und Umso mehr ist es berechtigt, nicht nur den ehrenamt- umzusetzen. lichen Helferinnen und Helfern Dank zu sagen, sondern auch den Arbeitgebern, die sich bereitfinden, die Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter während ihrer Arbeitszeit Gerold Reichenbach (SPD): freizustellen. Das ist nicht selbstverständlich. Also auch Lassen Sie mich zu Beginn feststellen, dass wir in ihnen ein herzliches Dankeschön! Deutschland ein gut funktionierendes Bevölkerungs- schutzsystem haben, das auf einer breiten Basis von Frei- (B) Eine weitere wichtige Änderung ist die Schaffung einer willigen ruht. Der Schutz der Bevölkerung ist eine der (D) Rechtsgrundlage für das THW zur Durchsetzung eigener wichtigsten Aufgaben unseres Staates. Sie wird durch die entstandener Kosten in § 6. Demnach kann das THW vielen Tausend vor allem ehren- und hauptamtlichen Hel- künftig Gebühren und Auslagen gemäß § 14 des Verwal- ferinnen und Helfer der Hilfsorganisationen, der Feuer- tungskostengesetzes geltend machen. Die Besonderheit wehren und des THW wahrgenommen. Viele Länder, so- liegt darin, dass dem THW ein Erstattungsanspruch zu- wohl in Europa als auch weltweit, beneiden uns um dieses kommt, wenn die anfordernde Behörde nicht gegenüber System. dem Begünstigten kostenrechtlich tätig wird, das heißt konkret, wenn die anfordernde Behörde einfach nicht ab- Deutschland hat in dem Bereich der nichtpolizeilichen rechnet oder sich die Abrechnung über die Behörde aus Gefahrenabwehr traditionell ein vertikal gegliedertes, anderen Gründen nicht umsetzen lässt. Die technische auf Ehrenamtlichkeit und Freiwilligkeit beruhendes Si- Hilfe des THW ist nach § 6 Abs. 1 grundsätzlich gebüh- cherheitssystem aufgebaut. Dieses System hat sich im All- ren- und auslagenpflichtig. tag und bei größeren Schadenslagen bisher im Großen und Ganzen bewährt. Ich erinnere hier nur an die Oder- Wie hoch die Gebühren sein werden, richtet sich nach und Elbeflut. Aber insbesondere in Zeiten der wachsen- dem Kostendeckungsprinzip. Dieses Prinzip geht aus § 3 den Bedrohungen für die Bevölkerung durch Klimawan- Verwaltungskostengesetz hervor, wonach die Gebühren del, Pandemien, aber auch durch den Zusammenbruch so bemessen sein müssen, dass das geschätzte Gebühren- kritischer Infrastrukturen wird die nichtpolizeiliche Ge- aufkommen den auf die Amtshandlung entfallenden fahrenabwehr immer mehr in den Fokus der Öffentlich- durchschnittlichen Personal- und Sachaufwand für den keit rücken. Das aktuellste Beispiel ist die sogenannte betreffenden Verwaltungszweig nicht übersteigt. Schweinegrippe. Durch die Globalisierung und die welt- weite Vernetzung hat sie sich, von Mexiko ausgehend, in Eine Erwirtschaftung von Überschüssen ist ebenfalls rasantem Tempo zu einem pandemischen Geschehen ent- nicht möglich. wickelt – bisher zum Glück mit weltweit geringen Opfer- zahlen. Das muss aber nicht so bleiben. Gemäß § 6 Abs. 1 werden die näheren Bestimmungen zur Gebührenhöhe durch Rechtsverordnung des Bundes- Aus all diesen Gründen werden die Aufgaben der ministers des Innern getroffen. Wie gestern im Ausschuss nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr weiter wachsen, und erläutert wurde, ermöglicht dies eine flexible Handha- sie werden einen noch höheren Stellenwert in der Sicher- bung und schnelle, angemessene Reaktionen, sollte es zu heitsarchitektur unseres Landes einnehmen müssen. Las- ungewöhnlichen oder unvorhergesehenen Ereignissen sen Sie mich deshalb auch an dieser Stelle die Gelegen- kommen. heit nutzen, besonders den Helferinnen und Helfern der

Zu Protokoll gegebene Reden 24426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Gerold Reichenbach (A) im Bevölkerungsschutz tätigen Hilfsorganisationen herz- Aufbau eines eigenen am Vorbild des THW orientierten (C) lich zu danken für Ihr unermüdliches Engagement bei der Bevölkerungsschutzsystems Beratungs- und Aufbauhilfe Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe. Das sind die Feuer- zu leisten, sind ein beredtes Beispiel dafür. wehren, die Sanitäts- und Rettungsorganisationen und natürlich, im Verantwortungsbereich des Bundes, das Mit der Gesetzesänderung sorgen wir dafür, dass lan- Technische Hilfswerk. Aus meiner eigenen Erfahrung als desrechtlich geregelte Befugnisse nun auch für das THW ehrenamtlicher Helfer weiß ich, was eine solch ehrenamt- gelten, wenn es im Rahmen der Amts- oder Katastrophen- liche Tätigkeit an zeitlichen, aber auch physischen und hilfe eingesetzt wird. Bisher war es dem THW unter an- psychischen Belastungen im Einsatz mit sich bringen derem nicht erlaubt, im Einzelfall ein nicht vom Scha- kann. Nicht zuletzt deshalb ist es unsere klare Pflicht, den densereignis betroffenes Grundstück zu betreten, um so Helferinnen und Helfern eine ordentliche Grundlage für bei einem Unglücksfall oder einer Katastrophe effektive ihre Arbeit zu schaffen. Hilfe zu leisten oder eine drohende Gefahr abzuwehren. Gleiches galt für die Durchsetzung einer Absperrung am Dazu gehören eine vernünftige, moderne Ausstattung Unglücksort vor Schaulustigen oder die Heranziehung und ihre Finanzierung. Hier haben wir in den letzen Jah- von Hilfsmitteln, die in fremdem Eigentum stehen. Diese ren, beginnend unter Rot-Grün, Fortschritte erzielt. Der Befugnisse besitzen bereits die anerkannten Hilfsorgani- Haushalt des THW etwa wurde kontinuierlich gesteigert. sationen sowie die Feuerwehren gemäß den jeweiligen Ich erinnere auch an die Vereinbarungen zwischen Bund Landesgesetzen. Um einen erfolgreichen Einsatz und die und Ländern zur „Neuen Strategie im Bevölkerungs- lückenlose Zusammenarbeit bei gemeinsamen Einsätzen schutz“ und an das Konjunkturpaket, von dem in den sicherzustellen, wird mit dem vorliegenden Gesetz diese Ländern die Feuerwehren und auf Bundesebene das THW Lücke geschlossen. mit profitieren werden. Mit der Änderung des Gesetzes wollen wir auch eine Wir müssen als Gesetzgeber aber auch dafür sorgen, Rechtsgrundlage schaffen, um aufgetretene Probleme im dass die gesetzlichen Grundlagen den Herausforderun- Rahmen der Kostenerstattung bei Inanspruchnahme des gen gerecht werden. Denn diese Normen dienen dem THW zu lösen. Grundsätzlich ist die Hilfe des THW ge- Schutz der Bevölkerung vor besonderen Gefahren – eben- bühren- und auslagenpflichtig. Dort, wo im Wege der solchen Gefahren, vor denen sie sich aus eigener Kraft Amts- oder Katastrophenhilfe die jeweils anfordernde nicht schützen kann. Einen ersten Teilschritt haben wir Behörde aus gesetzlichen Gründen selbst keine Gebühren gemacht: Wir haben die rechtlichen Grundlagen an die oder Kostenersatz erheben kann, wird dies auch das THW Gefährdungsentwicklung – im Rahmen dessen, was dem weiterhin nicht tun. Dort, wo dies aber der Fall ist, wollen Bund möglich war – im neuen Zivilschutzgesetz-Ände- wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Erstat- (B) rungsgesetz angepasst. tung möglichst unkompliziert und ohne erheblichen zu- (D) sätzlichen Aufwand für die anfordernde Behörde erfolgen Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung kann. des THW-Helferrechtsgesetzes gehen wir jetzt einen wei- teren Schritt. Auch dieses aus dem Jahre 1990 stammende Das Bundesinnenministerium wird mit dem Gesetz er- Gesetz, das die Rechtsverhältnisse der Helferinnen und mächtigt, eine entsprechende Rechtsverordnung zu schaf- Helfer im THW regelt, muss rechtlich weiterentwickelt fen, die die Gebühren- und Auslagenerhebung durch das werden. Das neue THW-Gesetz wird der immer stärkeren THW regelt. Mit dieser Rechtsverordnung soll auch eine Einbindung des THW in die nichtpolizeiliche Gefahren- direkte Kostenerstattung durch den letztendlich Kosten- abwehr und die Amtshilfe sowie seiner immer wichtigeren pflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen möglich Rolle in der humanitären Auslandshilfe Rechnung tragen. sein. Die Rechtsverordnung des Innenministeriums wird sich dabei im verfassungs- und verwaltungsrechtlich vor- Wir definieren die Aufgaben des THW als technische gegebenen Rahmen bewegen müssen. Bevölkerungsschutz- und Katastrophenhilfeorganisation des Bundes. Das THW nimmt zum einen Aufgaben nach Und last, but not least werden wir in dem neuen Gesetz dem Gesetz über den Zivilschutz und zum anderen über – so, wie dies bereits im Vorgängergesetz der Fall war – die Katastrophenhilfe des Bundes wahr. Es wird im Rah- die Mitgestaltungsmöglichkeiten der ehrenamtlichen men des Art. 35 des Grundgesetzes für technische Hilfe- Helferinnen und Helfer im THW verankern. Das Nähere leistungen bei Katastrophen und Unglücksfällen im Wege wird dann eine Verordnung des Innenministers regeln. der Amtshilfe tätig und ist damit mit seinen über Das THW-Gesetz selbst ist übrigens ein gutes Beispiel für 80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und sei- die Anerkennung von Fachkompetenz im Ehrenamt. So nen 800 hauptamtlichen Mitarbeitern ein wichtiger waren im Vorfeld nicht nur, wie üblich, die zuständigen Bestandteil im Sicherheitssystem der Bundesrepublik Behörden, sondern eben auch die Ehrenamtlichen im Deutschland. THW fachlich beteiligt. Darüber hinaus ist es die humanitäre Auslandshilfeor- Beim Schutz unserer Bevölkerung wird es in der Zu- ganisation des Bundes. Es leistet im Auftrag der Bundes- kunft noch mehr darauf ankommen, dass alle Akteure rei- regierung humanitäre und technische Hilfe im Ausland bungslos zusammenarbeiten. Das neue THW-Gesetz leis- und hat sich als „Botschafter Deutschlands“ einen her- tet seinen Beitrag dazu. Und es ist auch ein Beitrag zur vorragenden Ruf im Ausland erworben. Die vielfältigen Stärkung des ehrenamtlichen Fundaments. Darum bitte Anfragen aus dem Ausland – zuletzt aus China –, beim ich um Ihre Zustimmung.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24427

(A) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): länger gerecht. Zum Zeitpunkt einer notwendigen Gefah- (C) Die FDP ist überzeugt: Die ehrenamtlichen und die renabwehr kann nicht die Ursachenforschung höchste professionellen Helferinnen und Helfer von THW und Priorität haben, um Zuständigkeitsfragen zu klären. Hier Feuerwehren, von Rettungsdiensten, DLRG und anderen muss einfach und schnell anhand des Schadensausmaßes Hilfsorganisationen leisten ausgezeichnete Arbeit. Sie geholfen werden. müssen deutlich mehr gewürdigt und unterstützt werden, als es bisher der Fall war. Effiziente Strukturen, einfache Daher ist eine Aufgabenverteilung anzustreben, bei Entscheidungswege, an Risiken ausgerichtete Reaktions- der die Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse im möglichkeiten helfen auch und gerade denjenigen, die Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr bei den Kom- selbst schnell helfen wollen. munen bzw. beim Land, die Zuständigkeit für Großscha- densereignisse innerhalb eines Bundeslandes ohne wei- Die Herausforderungen im Bevölkerungsschutz sind tere Auswirkungen auf das Bundesgebiet bei den Ländern sehr groß. Deshalb ist es gut, dass den Helferinnen und und die Zuständigkeit für außerordentliche bundesweite Helfern im THW endlich mehr Rechtssicherheit für ihre Schadenslagen sowie für länderübergreifende Großscha- verantwortungsvolle Aufgabe eingeräumt wird. Dem denslagen beim Bund liegt. Innerhalb dieses Rahmens ist THW werden im vorliegenden Gesetzentwurf Befugnisse die Ressourcenverantwortung zu regeln, um effektiv und zuteil, die einen erfolgreichen Einsatz sicherstellen sol- schnellstmöglich helfen zu können. Deshalb scheint eine len. Dem THW werden nun die gleichen Befugnisse ein- grundgesetzlich verankerte bundesweite Koordinie- geräumt wie den anerkannten privaten Hilfsorganisatio- rungskompetenz im Katastrophenschutz unverzichtbar zu nen. Auch die Landesgesetze für Feuerwehren und sein. Hilfsorganisationen enthalten ähnliche Befugnisse. Darüber hinaus sind die ehrenamtlichen Strukturen im Die FDP unterstützt also das vorliegende Gesetz. Wir Katastrophenschutz mindestens im bisherigen Umfange weisen aber auf die immer noch offenen grundlegenden unbedingt aufrechtzuerhalten. Das ehrenamtliche Enga- Fragen des Bevölkerungsschutzes in Deutschland hin. gement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die Naturkatastrophen und Großunfälle machen nicht an Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland Ländergrenzen halt. Überregionale Stromausfälle wie und die tragende personelle Infrastrukturkomponente des vor einigen Jahren im Münsterland oder verursacht Bevölkerungsschutzes. Gerade im Bereich des THW sind durch die Ems-Durchfahrt eines großen Schiffsneubaus, die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer das Rückgrat Pandemien wie etwa die Vogelgrippe oder von bestimm- der Arbeit für den Bevölkerungsschutz. Dieses Engage- ten Gruppen ausgehende Gefahren, etwa durch organi- ment muss unterstützt und anerkannt werden. sierte Kriminalität oder terroristische Aktivitäten, erfor- dern ein länderübergreifendes Sicherheitskonzept. (B) (D) Hierfür ist ein von Bund und Ländern gemeinsam getra- Petra Pau (DIE LINKE): genes, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem am besten Erstens. Das Gesetz, das heute beschlossen werden geeignet – mit allein am Schadensausmaß und an den soll, heißt: „Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausge- Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundes- richteten klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkei- anstalt Technisches Hilfswerk“. Schon die Überschrift ist ten. ein Text schlichter Schönheit. Glückwunsch! Worum geht es also wirklich? Um Zweierlei! Erstens: Das Technische Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Hilfswerk erhält Rechte, die ähnliche Einrichtungen, zum Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des Beispiel Feuerwehren, längst haben. So soll auch das Staates. Das kürzlich verabschiedete Zivilschutzgesetz THW Straßen sperren dürfen, wenn das im Katastrophen- war überfällig, aber erscheint nicht als ausreichend. fall geboten scheint. Es geht um weitere Befugnisse für Neue Herausforderungen an die öffentliche Sicherheit das THW, die sinnvoll und verhältnismäßig sind. Dem sind nicht allein mit tagespolitischen Aktivitäten zu be- stimmt die Linke zu. Und ich füge hinzu: Das Technische antworten. Der Bund muss im Katastrophenschutz Ver- Hilfswerk wird demnächst 60 Jahre alt. Ich wünsche dem antwortung übernehmen und darf sich nicht aus der Flä- THW noch weitere erfolgreiche 60 Jahre, hierzulande che zurückziehen. und weltweit. Der Bundesrechnungshof hat wiederholt die Bundes- Zweitens. Auch die zweite Absicht dieses Gesetzes ist finanzierung kritisiert. Katastrophenschutz ist laut im Sinne der Fraktion Die Linke. Der Gesetzestext soll Grundgesetz Ländersache. Eine Nachjustierung ist drin- der Realität angepasst werden, und die heißt: Nicht nur gend erforderlich. Männer oder Jungs schultern die Arbeit im Technischen Es ist befremdlich, dass Innenminister Schäuble dem Hilfswerk, sondern zunehmend auch Frauen und Mäd- Bundeswehreinsatz im Innern Tür und Tor öffnen will, chen. Also wurde der Gesetzestext geändert oder aber sich einer zeitgemäßen Neudefinition der grundge- neudeutsch „gegendert“. Überall, wo vordem „Helfer“ setzlichen Bevölkerungsschutzkompetenzen verweigert. geschrieben wurde, steht nunmehr „Helferinnen und Hel- Es gilt aber, die zivilen Kräfte zu stärken. Die bestehende fer“. Mit einer wesentlichen Ausnahme: In der Über- Zweiteilung in den Zivilschutz im Verteidigungsfall und schrift geht es noch immer nur um die „Helfer“ des THW. den Katastrophenschutz im Frieden ist überholt und Nun können wir raten, ob hier schlicht sozialdemokrati- macht aus Sicht der meisten Experten so keinen Sinn scher Schlendrian am Werk war oder ob die CSU subver- mehr. Die bislang praktizierte Zuweisung von Zuständig- siv ihren Mannesgeist verewigen wollte. Wie auch immer: keiten nach der Schadensursache wird der Lage nicht Wichtiger ist, dass die THW-Helferinnen und -Helfer in

Zu Protokoll gegebene Reden 24428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Petra Pau (A) der Not, zumeist ehrenamtlich im besten Sinne, präsent gebührenpflichtige Tatbestände und deren Bemessung so- (C) sind. wie feste Sätze festzulegen. Wir sehen hier Auswirkungen auf den Haushalt, die nicht am Parlament vorbei ent- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE schieden werden sollten, und wollen die Gebühren in das GRÜNEN): Gesetz aufnehmen. Die jetzt vorgeschlagene Rechtsver- Das Technische Hilfswerk ist die bedeutendste Kata- ordnung ist zwar eine Verbesserung gegenüber der beste- strophenschutzorganisation des Bundes, und lassen Sie henden ungeregelten Verfahrensweise, wir wollen hier mich gleich zu Beginn sagen: Wir wünschen dem THW aber keine Entscheidungen am Parlament vorbei. auf der Tagung in Chemnitz viel Erfolg. Der „Tag des Dennoch werden wir dem Gesetzentwurf der Großen THW“ der vom 15. bis 17. Mai in der Stadthalle von Koalition zustimmen. Die Änderungen gehen in die rich- Chemnitz stattfinden wird, steht unter dem Motto „Zu- tige Richtung, und sie sind eine Verbesserung gegenüber kunft gemeinsam gestalten“, und in den vier Foren wird dem jetzigen Zustand. sich die Tagung mit den wichtigen Themen „Bevölke- rungsentwicklung“, „Beruf und freiwilliges Engage- ment“, „Risiko und Sicherheit“ und „Technischer Fort- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schritt“ befassen. Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Ich bin gespannt auf die Ergebnisse dieser Foren, und sache 16/13016, den Gesetzentwurf der Fraktionen der ich stelle hier diesen Tag des THW an den Anfang meiner CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12854 an- Rede, weil ich deutlich machen will, dass wir hier zwar zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf heute richtige Entscheidungen zur Verbesserung der zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim- Rechtsverhältnisse der Helferinnen und Helfer des THW men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei- treffen, dass es aber nicht ausreicht, bei dieser kleinen ter Beratung einstimmig angenommen. Gesetzesänderung stehen zu bleiben. Wir müssen die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk fit machen für die Dritte Beratung Zukunft, und ich würde es begrüßen, wenn die fraktions- und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen übergreifende Arbeit beim Thema Katastrophenschutz wollen, mögen sich erheben. – Gegenstimmen? – Ent- auch in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt haltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Bera- wird. tung einstimmig angenommen. Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken bei den Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 29 auf: über 80 000 ehrenamtlichen THW-Kräften, die im In- und (B) Ausland mit großem persönlichen Einsatz eine unver- Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank (D) zichtbare Arbeit leisten, und ich freue mich ganz beson- Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer ders, dass das Erfolgsmodell THW in den vergangenen Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Jahren so erfolgreich auf die neuen Bundesländer über- tragen werden konnte. Ganz besonders erwähnen möchte Krankenversicherung für Selbständige be- ich die THW-Jugend, die an vielen Orten neben der frei- zahlbar gestalten willigen Feuerwehr und den Sportvereinen jungen Men- – Drucksache 16/12734 – schen Orientierung und sinnvolle Beschäftigung bietet. Überweisungsvorschlag: Es ist überfällig, dass mit dem Gesetzentwurf der Gro- Ausschuss für Gesundheit (f) ßen Koalition jetzt die rechtlichen Befugnisse der Helfe- Ausschuss für Arbeit und Soziales rinnen und Helfer des THW eindeutig geregelt werden. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolle- Während des Einsatzes muss schnell und effektiv gehan- gen Max Straubinger, Karl Lauterbach, Daniel Bahr, delt werden, rechtliche Streitigkeiten und Unklarheiten Birgitt Bender, Frank Spieth und die Parlamentarische der Befugnisse führen zu Reibungsverlusten in den Ein- Staatssekretärin Marion Caspers-Merk. sätzen und verunsichern diejenigen, die helfen wollen. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Helferinnen und Max Straubinger (CDU/CSU): Helfer des THW bei innerdeutschen Einsätzen im Kata- strophenfall und Zivilschutz mit denen der öffentlichen Zunächst möchte ich für meine Fraktion ein gewisses Landesfeuerwehren gleich. Unter Vorbehalt landesrecht- Erstaunen darüber nicht verhehlen, dass die Linke im licher Regelungen wird dem THW nun ein eindeutiger Titel ihres heute zu debattierenden Antrags suggeriert, Rechtsrahmen zur Verfügung gestellt, und ich hoffe, dass das Wählerpotenzial der Selbstständigen entdeckt zu ha- auch die Länder bereit sind, weiter an einheitlichen ben. Schließlich lautet der Antrag: „Krankenversiche- Rechtsstandards zu arbeiten. Es gibt keine Konkurrenz rung für Selbständige bezahlbar gestalten“. Doch um zur freiwilligen Feuerwehr, sondern die Notwendigkeit privat versicherte Selbstständige geht es der Linken ja einer gemeinsamen, vernetzten Arbeit. auch gar nicht. Vielmehr geht es ihr einmal mehr darum, Hartz-IV-Versicherte in der GKV und solche, die ledig- Auch das Problem der Finanzierung von THW-Einsät- lich aus systematischen Gründen der PKV zuzuordnen zen soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelöst wer- sind, vor finanzieller Überforderung durch Beitrags- den. Über eine noch zu schaffende Rechtsordnung soll pflichten zu schützen. Womit ich ausdrücklich nicht sagen das Bundesinnenministerium in Absprache mit dem Bun- möchte, dass dort, wo es tatsächlich Ungereimtheiten desministerium der Finanzen dazu ermächtigt werden, oder Ungerechtigkeiten bei gesetzlich auferlegten Bei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24429

Max Straubinger (A) tragspflichten gibt, nicht tatsächlich auch Korrekturen GKV-Bundeszuschuss aus Steuermitteln zu etablieren, (C) erfolgen sollten. Ich komme gleich darauf zurück. mit dem gesamtgesellschaftliche Aufgaben in der gesetz- lichen Krankenversicherung geschultert werden. Zuvor stelle ich fest: Der Antragstitel ist also trüge- risch. Denn tatsächlich selbstständige Unternehmer oder Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben des Freiberufler sind gar nicht der Adressat. Alles andere Steuerzahlers zählt zweifelsfrei auch der Schutz Hilfe- wäre ja auch höchst verwunderlich. Für diese Zielgruppe bedürftiger vor finanzieller Überforderung durch Kran- hat die Linke ja auch nicht wirklich viel übrig. Im Gegen- kenversicherungsbeiträge. Und auch dieser Hinweis sei teil! Nehmen wir das Thema Steuern: Was die Linke dort erlaubt: Einen solchen Bundeszuschuss für gesamtgesell- an Daumenschrauben in ihrem Sammelsurium steuer- schaftliche Aufgaben kennt die PKV nicht, wobei uns politischer Belastungen für Selbstständige und Freiberuf- doch eigentlich auch dort etwa der Versicherungsschutz ler bereithält, ist mehr als beachtlich – oder besser: ab- von Kindern genauso viel wert sein müsste wie in der ge- schreckend. setzlichen Krankenversicherung. In der GKV jedenfalls Doch zurück zum eigentlichen Inhalt des Antrages und finanziert der Steuerzahler die beitragsfreie Mitversiche- der von der Linken angeführten Ungerechtigkeit bei der rung von Kindern. Der in der PKV versicherte kleine Be- Bemessung von Beiträgen für freiwillig Versicherte. Die amte muss hierfür selbst Beiträge entrichten. Auch dies unterschiedliche Beitragsbelastung freiwillig gesetzlich wäre ein Thema, dem sich die Linke einmal widmen versicherter Grundsicherungsempfänger und gesetzlich könnte. pflichtversicherter Grundsicherungsempfänger ist tat- Ich darf zusammenfassen: Unbestreitbar existieren bei sächlich schwer nachvollziehbar. Die beklagten Folgen der Ausgestaltung der Beitragspflichten zur Krankenver- sind ganz offenbar Ergebnis des Bemühens der Bundes- sicherung für eng begrenzte Personengruppen Unge- gesundheitsministerin, die Attraktivität der privaten reimtheiten, die von den Betroffenen als ungerecht und Krankenversicherung so weit wie möglich zu schmälern. tatsächlich auch als korrekturbedürftig empfunden wer- Warum? Weil die Betroffenen als Ausweg ja schließlich den. Nur sollte man diese Ungereimtheiten nicht jeweils zumindest theoretisch in den neu geschaffenen Basistarif einer isolierten Lösung zuführen. Denn mit jeder ver- der PKV wechseln könnten. Doch auch dort hat man die meintlichen Gerechtigkeitslücke, die wir schließen, rei- Schwellen entsprechend hoch gehängt. Schließlich liegt ßen wir neue auf. Im Steuerrecht ist dies nicht anders. auch in der PKV der von Hilfebedürftigen aufzubrin- gende Beitrag bei knapp 300 Euro. Ich plädiere deshalb mit Nachdruck für eine umfas- sende Bestandsaufnahme. Danach sollten wir uns ge- Im Unterschied zu pflichtversicherten GKV-Mitglie- meinsam um Korrekturen bemühen, die allen betroffenen dern kommt für Beitragsausfälle infolge von Hilfebedürf- Gruppen gerecht werden, selbstverständlich auch den (B) tigkeit bei der PKV nur nicht die Allgemeinheit auf. Dies freiwillig GKV-versicherten Selbstständigen. (D) wird vielmehr der übrigen Versichertengemeinschaft zu- gemutet. In der GKV leistet die Gemeinschaft der Steuer- Gerade in dieser Gruppe von Versicherten vollziehen zahler über die Träger der Grundsicherung Hilfe. Auch wir mit der Rolle rückwärts beim Krankengeld ja gerade dieses Beispiel zeigt, dass zwischen und sogar innerhalb eine höchst pragmatische Kehrtwende. Die Quasirück- der beiden Krankenversicherungssysteme mit den Neu- kehr zum alten Recht, in dem freiwillig GKV-versicherte regelungen im Bereich des SGB V manche Ungereimthei- Selbstständige ihren Krankengeldanspruch durch Leis- ten geschaffen wurden, die es zu korrigieren gilt. tung des allgemeinen Beitragssatzes erwerben, ist ein Gebot der Vernunft und der Gerechtigkeit. Auch in dieser Eine Anmerkung zum Punkt zwei des Antrages, in dem Frage zeigt sich, dass pragmatische Regelungen im Inte- die Linke fordert, dass hilfeberechtigte Hartz-IV-Empfän- resse der Betroffenen allemal besser und gerechter sind ger und Sozialhilfeempfänger nicht mehr für den Basis- als ideologisch gefärbte Versuche, freiwillig in der ge- tarif der PKV zahlen müssen, als sie vom Träger der setzlichen Krankenversicherung verbliebene Selbststän- Grundsicherung dafür erhalten: Nach geltendem Recht dige zu vergraulen. würde dies bedeuten, dass die PKV-Gemeinschaft und eben nicht die Allgemeinheit dauerhaft für die Differenz zwischen notwendigem Beitrag und geleistetem Beitrag Dr. Karl Lauterbach (SPD): geradestehen müsste. Bei den privat versicherten ALG-II-Empfängern und Sozialgeldempfängern besteht in der Tat eine Regelungs- Die Linke wird anführen, dass dies bei der GKV ja lücke. Dies hat die SPD-Fraktion auch frühzeitig erkannt. nicht anders sei, weil schließlich der von der Bundes- Allerdings konnte hier mit dem Koalitionspartner noch agentur für Arbeit bzw. den Sozialämtern abgeführte Bei- keine befriedigende Lösung erreicht werden. Der Antrag trag an die Krankenkassen auch deutlich unter dem der Linken greift hier aber dennoch deutlich zu kurz. Das eigentlich erforderlichen Beitrag liegt. Und tatsächlich grundlegende Problem unseres Gesundheitssystems ist bin auch ich an diesem Punkt der Meinung, dass dies nicht die finanzielle Überforderung privat versicherter nicht auf Dauer gerechtfertigt sein kann. Nur, erstens Arbeitsloser, sondern die willkürliche Zweiteilung des scheitert eine Korrektur in dieser ja gerade auch von der Krankenversicherungssystems in gesetzliche und private Bundesgesundheitsministerin forcierten Frage bisher vor Kassen mit der Konsequenz einer zunehmenden Zwei- allem am Widerstand ihres Parteifreundes, des Bundes- klassenmedizin. finanzministers. Und zweitens darf darauf verwiesen wer- den, dass wir uns gerade erst auf den Weg gemacht ha- Ein gesetzlich Versicherter mit einem Höchstbeitrag ben, einen dauerhaften und mehr als nennenswerten von 550 Euro im Monat zahlt davon circa 250 Euro für

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Dr. Karl Lauterbach (A) die Krankenversicherung der Einkommensschwachen. Mehrere Ursachen führen zu diesem Befund: Erstens (C) Wechselt er in die private Krankenversicherung, muss er ist unser ganzes System zu wenig auf Vorbeugemedizin dies nicht mehr bezahlen, weil die private Krankenversi- ausgerichtet. Über 95 Prozent unserer Gesundheitsaus- cherung am Finanzausgleich der Krankenkassen zwi- gaben gehen in die rein kurative Versorgung. Dabei ist es schen gering Verdienenden und gut Verdienenden nicht mittlerweile wissenschaftlich gesichert, dass rund teilnimmt. Nur aus diesem Grunde können die privaten 80 Prozent aller Krankheitsfälle durch eine bessere Vor- Krankenversicherungen trotz höherer Honorare für die beugung vermieden, aufgeschoben oder gelindert werden Ärzte und mehr als doppelt so hohen Verwaltungsausga- können. ben billiger als die gesetzlichen Kassen sein. Wer bei ho- Zweitens. Uns gehen die Hausärzte aus. Wir haben hem Einkommen gesetzlich versichert bleibt, zahlt nicht zwar immer noch eine hohe Ärztedichte, aber leider nicht nur mehr, sondern muss dazu beim Arztbesuch warten, bis mehr bei den Hausärzten. In kaum einem anderen Land der privat Versicherte behandelt wurde, leistet dann die gibt es so viele Fachärzte pro Hausarzt, nämlich zweiein- Praxisgebühr und zahlt selbst für ein Arzneimittel im halb Mal so viel, wie in Deutschland. Gleichzeitig nimmt Wert von zehn Euro fünf Euro beim Apotheker dazu. Über die Zahl der Hausärzte jedes Jahr weiter ab. Das ist be- die Jahrzehnte zahlt er mehrere Hunderttausend Euro sonders bitter, weil die Hausärzte diejenigen wären, die Beitrag. Wird er dann krank, steht ihm die Privatsprech- verstärkt die Vorbeugemedizin anbieten könnten, weil sie stunde eines Universitätsprofessors nicht zu, der dagegen oft ihre Patienten über lange Zeiträume hinweg versor- den privat versicherten Studenten empfängt. gen. Dieses System ist mittlerweile nicht nur einzigartig in Drittens. Die einzelnen Akteure arbeiten nicht gut ge- Europa, sondern auch einzigartig ungerecht. In Zukunft nug zusammen. Kein Gesundheitssystem der Welt trennt müssen wir sicherstellen, dass alle Bürger einen Solidar- so streng die Aufgaben der Krankenhäuser von den Auf- beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten und umge- gaben der niedergelassenen Ärzte wie unseres. Für die kehrt Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft schweren Fälle ist das Krankenhaus zuständig, für die haben. Alle Bürger sollen die Pflicht zur Versicherung leichten der niedergelassene Hausarzt. Erschwerend haben und einkommensabhängige Beiträge bis zur Bei- kommt noch hinzu, dass wir eines der wenigen Länder tragsbemessungsgrenze zahlen, die an den Gesundheits- sind, das Fachärzte sowohl in der Praxis als auch im fonds abgeführt werden, wobei zu prüfen ist, ob die Krankenhaus vorhält. So kommt es, dass in vielen Fällen Beitragsbemessungsgrenze angehoben wird. Einer Versi- die niedergelassenen Fachärzte sogar mit den Klinikärz- cherungspflichtgrenze bedarf es dann nicht mehr. Die ten um denselben Patienten konkurrieren anstatt zu ko- Pflicht zur Versicherung sollte sowohl bei gesetzlichen operieren. Krankenkassen als auch bei privaten Krankenversiche- (B) rungsunternehmen realisiert werden können. In dieser Viertens. Die Fortbildung unserer Ärzte ist zu schlecht (D) neuen Pflichtversicherung sollte Kontrahierungszwang organisiert und zu gering vergütet. In kaum einer Diszi- herrschen, und Risikozuschläge sollten unzulässig sein. plin ist der Fortschritt so rasant wie in der Medizin. Täg- Alle Krankenversicherer, die die Pflichtversicherung lich erscheinen Hunderte medizinische Studien. Es gibt durchführen, erhalten dann pauschalierte Zuweisungen mehrere Zehntausend medizinische Fachzeitschriften. aus dem Gesundheitsfonds über den morbiditätsorien- Ein Allgemeinarzt müsste jeden Tag 17 Artikel lesen, um tierten Risikostrukturausgleich. sich über die in seinem Fachgebiet gewonnenen Erkennt- nisse zu informieren. Die jetzt vorgeschriebene ärztliche Nur auf dieser Grundlage eines einheitlichen Versi- Fortbildung wird meistens von der Pharmaindustrie ge- cherungssystems können wir auch die Lösung der weite- sponsert und ist mit einfachsten Anforderungen im Inter- ren zentralen Probleme, die unser Gesundheitssystem lei- net zu bewältigen. Das System belohnt Ärzte, die es sich der prägen und eine gute medizinische Versorgung für die so einfach wie möglich machen, und bestraft diejenigen, Menschen in Deutschland gefährden, angehen. die viel Geld und Zeit in ihre Fortbildung investieren. Denn das deutsche Gesundheitssystem ist leider insge- Fünftens. Wir haben zwar viele Fachärzte, aber wenig samt schlechter als sein Ruf: in der Welt hoch angesehen Spezialisten. Ein Facharzt für Chirurgie beispielsweise, wegen seiner Solidarität zwischen den Versicherten und der auch Knieverletzungen operiert, ist längst noch kein wegen der hohen Qualität der Ärzte, Pfleger und der Ein- Meniskusspezialist. Daher kommen bei uns für viele Krankheiten mehr Fachärzte, aber weniger Spezialisten richtungen. In Wahrheit allerdings verschärft sich die auf 1 000 Einwohner als in anderen Ländern. Dies ist Zweiklassenmedizin immer mehr, was jeder gesetzlich eine direkte Folge des falschen Honorarsystems, in dem Versicherte – und das sind 90 Prozent der Bevölkerung – eine konsequente Spezialisierung für viele Fachärzte das am eigenen Leib spürt. Im Vergleich zu privat Versicher- wirtschaftliche Aus bedeutet hätte. So kommt es, dass die ten müssen gesetzlich Versicherte dreimal so lange beim wenigen Spezialisten in Deutschland vorwiegend privat niedergelassenen Facharzt warten, und das auch bei Versicherte behandeln, weil sie dort ein höheres Honorar wichtigen diagnostischen Leistungen, die für die Abklä- generieren können. Das Nachsehen hat auch hier die rung einer ernsthaften Erkrankung notwendig sind. Aber große Mehrheit der gesetzlich Versicherten, die entweder auch wenn er einen Termin bekommt, ist eine adäquate gar nicht beim Spezialisten drankommt oder sehr lange Versorgung keineswegs gewährleistet. Auch wenn die Wartezeiten in Kauf nehmen muss. Beitragszahler so viel Geld wie in kaum einem anderen Land für die medizinische Versorgung bereitstellen, ist Die Lösung dieser Probleme hat die SPD in ihrem Pro- die Qualität meist nur Mittelmaß. gramm vorgelegt. Das werden wir in der Wahlauseinan-

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Dr. Karl Lauterbach (A) dersetzung deutlich machen, und das werden wir auch lich ausgeschöpft wird. Sie können sicher sein, dass die (C) nach der Wahl umsetzen. SPD genau diese Politik vertritt und gestalten wird. Wir brauchen einen dritten Weg jenseits von Marktra- dikalisierung und Staatsmedizin. Das zentrale Anliegen Daniel Bahr (Münster) (FDP): dabei muss die Überwindung des zweigeteilten Versiche- Die Linke macht mit ihrem Antrag auf einen Missstand rungssystems sein. Wir brauchen eine Versicherung von aufmerksam, den auch die FDP-Fraktion im Deutschen allen, von allem für alle. Damit einher geht auch eine ein- Bundestag stets kritisiert hat. Mit dem Gesetz zur Stär- heitliche Gebührenordnung für privat wie gesetzlich Ver- kung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversi- sicherte gleichermaßen. Dies wäre der wirkungsvollste cherung – GKV-WSG – wird die Höhe der Prämie für Ansatz im Kampf gegen die Zweiklassenmedizin. Die Kli- hilfebedürftige Versicherte im Basistarif einer privaten niken sollten stärker als bisher für die ambulante Versor- Krankenversicherung halbiert. Diese Halbierung muss gung geöffnet werden. Auch hier sollte eine einheitliche durch die Versichertengemeinschaft der privaten Kran- Gebührenordnung für niedergelassene Fachärzte und kenversicherung getragen werden. Zu der dann noch ver- Kliniken gelten. In diesem Fall belebt Konkurrenz nicht bleibenden Prämie erhält der hilfebedürftige Versicherte nur das Geschäft; die stärkere Öffnung der Krankenhäu- zwar einen Zuschuss aus Steuermitteln, es bleibt jedoch ser kann auch zu mehr Kooperation und damit zu einer eine für viele nicht schulterbare Finanzierungslücke. Qualitätssteigerung führen. Diese Finanzierungslücke von über 155 Euro ist der Wir müssen Hausärzte deutlich besser bezahlen als schwarz-roten Koalition nicht nur bereits seit dem Ge- heute. Heute ist es so, dass diejenigen Ärzte am meisten setzgebungsverfahren zum GKV-WSG bekannt, sie hat sie verdienen, die kaum einmal einen Patienten lebend oder sogar bewusst ignoriert, wie Frau Dr. Reimann, die ge- am Stück zu Gesicht bekommen, wie Pathologen oder La- sundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfrak- borärzte. Die Hausärzte hingegen waren in den letzten tion, dies im „Tagesspiegel“ vom 4. Mai 2009 auch offen beiden Jahrzehnten fast immer die Verlierer bei den zugibt. Damit sollte ganz bewusst eine Situation geschaf- innerärztlichen Honorarverteilungskonflikten. So kommt fen werden, die darauf hinausläuft, dass die anderen es, dass heutzutage ein Hausarzt nur noch die Hälfte des- PKV-Versicherten diese Finanzierungslücke durch eine sen verdient wie beispielsweise ein Röntgenarzt. Eine Verteuerung ihrer Tarife schließen müssen. Das ist nicht bessere Honorierung der Hausärzte, die diesen Beruf nur inhaltlich falsch. Das ist auch unverantwortliches wieder so attraktiv macht, wie er es verdient, ist auch der politisches Handeln. Schlüssel zu mehr Vorbeugemedizin. Der dritte Weg in der Gesundheitspolitik wäre in der Eine solche Irreführung der Parlamentarier, die über (B) Tat der beste, würde man ihn auch konsequent gehen. Er das Gesetz abzustimmen hatten, und auch der Bürger, die (D) verbindet die Vorteile des Marktes mit denen eines star- diesen Prozess aufmerksam beobachtet haben, ist dem ken Sozialstaates. Die Rolle des Marktes ist es dabei, In- Ansehen des Gesetzgebers und der Politik nicht förder- novation und Wirtschaftlichkeit zu stützen. Dazu muss der lich. Für Frau Dr. Reimann stellt dies, so ihre Äußerun- Verbraucher gestärkt werden. Weil er ohne Hilfe nicht er- gen im genannten Beitrag des „Tagesspiegels“, „kein kennen kann, was echte Innovationen sind und was nur Problem“ dar. Es handle sich ja nicht um besonders viele als Innovation verkauft wird, müssen die Krankenkassen Fälle. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dies jedoch und die Verbraucherschützer die Qualität der Tätigkeit ein weiterer Schritt in das Aufweichen der politischen Sit- von Ärzten und Kliniken auswerten und öffentlich ma- ten. Und es ist die Fortsetzung des Versuchs, die private chen. Ärzte müssen ohne Einfluss der Pharmalobby fort- Krankenversicherung zu schwächen, um beim Marsch in gebildet und nach der Qualität ihrer Leistungen honoriert ein staatlich gelenktes, zentralistisches Einheitskassen- werden, nicht nach der Zahl der Privatpatienten. system wieder ein Stück voranzukommen. Zum besseren Wettbewerb gehört auch eine bessere Die Linke greift mit ihrem zur Debatte stehenden An- Bezahlung von Vorbeugeleistungen, die besonders von trag zwar dankenswerterweise ein berechtigtes Anliegen Hausärzten angeboten werden. Es ist unsinnig, die Vor- auf. Nichtsdestoweniger ist die Lösung, die Finanzie- beugung zu vernachlässigen, nur um unser Überangebot rungslücke durch die Versichertengemeinschaft der pri- an Fachärzten auszulasten. Daher müssen die Wettbe- vaten Krankenversicherung tragen zu lassen, falsch. werbsbedingungen so geändert werden, dass man mit Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es zwar eine dem Erhalt der Gesundheit so gut verdienen kann wie mit Selbstverständlichkeit, dass derjenige, der seine Prämie ihrer Wiederherstellung. aus eigenen Kräften nicht schultern kann, unterstützt Eine gute Gesundheitspolitik kann dafür sorgen, dass werden muss. Aus den Regelsätzen für Hartz IV bzw. der alle, ob arm oder reich, von einem Gesundheitssystem, Grundsicherung kann die Finanzierungslücke bei der das sich durch Qualität und Wirtschaftlichkeit auszeich- Prämie nicht bestritten werden. Dies ist für die FDP-Bun- net, profitieren. Sie muss garantieren, dass genug Geld in destagsfraktion jedoch eine gesamtgesellschaftliche Auf- die Aus- und Weiterbildung von Ärzten fließt, und die For- gabe, die damit nicht über die Versichertengemeinschaft, schung in Deutschland gezielt fördern. Dann könnte das sondern über das Steuer- und Transfersystem gelöst wer- deutsche Gesundheitssystem international an die Spitze den muss. Auch in unserem Antrag „Für ein einfaches, zurückkehren. Das Potenzial dafür hat Deutschland, und transparentes und leistungsgerechtes Gesundheitswe- die Bürger werden in den kommenden Jahren die Politik sen“, der im Plenum des Deutschen Bundestages bereits unterstützen, die dafür sorgt, dass dieses Potenzial end- beraten wurde, schlagen wir einen sozialen Ausgleich

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Daniel Bahr (Münster) (A) über das Steuer- und Transfersystem vor. Denn dort ist er in einer privaten Krankenversicherung, dann hat er (C) transparenter und zielgenauer. Pech: Seit Anfang 2009 ist er gesetzlich gezwungen, in der privaten Krankenversicherung zu bleiben. Die pri- Frank Spieth (DIE LINKE): vate Krankenversicherung darf im Basistarif von Hilfe- bedürftigen 284,81 Euro verlangen. Die ARGE zahlt „Alle Menschen werden krankenversichert“ ließ die aber nur 129,54 Euro. Es bleibt also eine Differenz von Bundesregierung 2007 republikweit plakatieren. Ein ehr- 155,27 Euro. Wer zahlt das? geiziges Ziel, ein richtiges Ziel! Aber daran muss sich die Bundesregierung auch messen lassen. Werden alle Men- Die Bundesregierung sagt: Das muss der Hilfebedürf- schen krankenversichert? Nein! Es gibt etwa eine Million tige selbst zahlen. Seit Monaten erinnere ich die Bundes- papierlose Flüchtlinge – manche nennen sie „Illegale“ –, regierung an diesen sozialpolitischen Mangel und erhalte die in aller Regel keine Absicherung im Krankheitsfall immer die gleiche abweisende Antwort: Man sehe hier haben. Das haben wir schon mehrfach in Anfragen the- durchaus Handlungsbedarf und man habe eine Arbeits- matisiert, und die Bundesregierung hat abgewunken. gruppe gegründet, die Lösungen erarbeiten soll. Ich habe die Hoffnung ja noch nicht aufgegeben, dass die Ministe- Aber auch nicht alle „legalen“ Einwohner Deutsch- rien für Soziales und Gesundheit – beide SPD-geführt – lands haben einen Krankenversicherungsschutz. Darum hier nicht nur heiße Luft produzieren, sondern Politik für geht es bei unserem Antrag. Es gibt eine große Gruppe die Betroffenen machen. von geringverdienenden Selbstständigen, die nicht kran- kenversichert waren und die immer noch unversichert Auf meine Fragen hat die Bundesregierung zudem ge- sind. Ihr Problem vor der Gesetzesänderung 2007 war, antwortet, die privaten Krankenversicherungen müssten dass sie sich die Krankenversicherung schlicht nicht leis- bei Hilfebedürftigen alle Leistungen erbringen – auch ten konnten. Seit April 2007 haben nun die zuletzt gesetz- wenn diese nicht zahlten. Das ist richtig. Jedoch bauen lich versicherten Selbständigen zwar die Pflicht, sich zu die Hilfebedürftigen damit Schulden bei ihrer Versiche- versichern. Sie haben jedoch – das ist das Kernproblem – rung auf. Nach derzeit geltendem Recht bedeutet das: immer noch nicht das Geld dazu. Wer zum Januar 2009 arbeitslos wurde und immer nur die Im Gegensatz zu geringverdienenden Arbeitnehmerin- 129,54 Euro weiterreicht, die die ARGE für eine Kran- nen und Arbeitnehmern müssen Selbstständige mit gleich kenversicherung zur Verfügung stellt, bekommt zwar alle niedrigem Einkommen relativ hohe Krankenkassenbei- Leistungen. Er hat aber Ende 2009 bereits knapp 1 900 träge zahlen. Mindestens 300 Euro müssen sie monatlich Euro Schulden. Falls er dann wieder Arbeit findet, wird der Krankenkasse überweisen. Nur unter gewissen Vo- er erstens sofort zahlungspflichtig und zweitens kann die raussetzungen wird dies auf 200 Euro Mindestbeitrag ge- Versicherung die Leistungen dann so lange auf ein Min- (B) senkt. Das entspricht dem Beitrag bei einem Einkommen destmaß kürzen, bis alles beglichen ist. Das ist absurd. (D) von 1 890 Euro bzw. 1 260 Euro. Betroffene haben sich an mich gewendet. Sie wollen Viele Selbstständige – der Döner-Verkäufer, der Hand- mittlerweile ihre Krankenversicherung kündigen, obwohl werker, die Friseurin oder die Kioskbesitzerin – haben oft sie krank sind und dringend eine Versicherung brauchen. nur um die 900 Euro Gewinn. Davon sollen sie dann Sie haben genug von der immer bedrückenderen Ver- 200 oder 300 Euro Krankenkassenbeiträge zahlen. Das schuldung und genug von dem Rechtsstreit mit der Versi- entspricht einer Beitragsbelastung von bis zu 33 Prozent. cherung. Mit jedem Tag, an dem wir hier im Bundestag Zum Vergleich: Der normale Arbeitnehmer zahlt zusam- mit der Entscheidung warten, wird das Problem drängen- men mit seinem Arbeitgeber 15,5 Prozent, alleine aus sei- der. Daher bitte ich Sie, dieses Gesetz noch vor der Bun- nem Einkommen 8,2 Prozent. Ein Bundestagsabgeordne- destagswahl zu ändern. ter zahlt wegen der Beitragsbemessungsgrenze nur einen Eigenanteil von 3,9 Prozent! Dies ist eine Riesen-Unge- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rechtigkeit! Eine Call-Center-Telefonistin auf Selbststän- „Ganz Deutschland ist versichert!“ – so jubelte es aus digen-Basis zahlt prozentual zehn Mal mehr als ein gut- den Anzeigen der Bundesregierung nach der Gesund- verdienender Bundestagsabgeordneter. heitsreform. Die allgemeine Versicherungspflicht wurde Wir wollen eine allgemein verbindliche Untergrenze als sozialpolitische Großtat dargestellt und sollte so über von 840 Euro. Unterhalb dieser Summe tritt in der Regel die vielen Defizite der Reform hinwegtäuschen. Doch Hilfebedürftigkeit ein und die ARGE zahlt die Kranken- schon nach kürzester Zeit erweist sich das als bloßes versicherung. Darüberliegende Einkommen sind in ihrer Illusionstheater. Tatsächlich hat die Gesundheitsreform realen Höhe zur Beitragszahlung heranzuziehen. Die bis- nichts daran geändert, dass für viele Selbstständige der herigen fiktiven Mindesteinkommen werden abgeschafft. Krankenversicherungsschutz nicht finanzierbar ist. Das Im Ergebnis zahlen die betroffenen Selbstständigen mit betrifft insbesondere solche Selbstständigen, die als Ein- 840 Euro Monatseinkommen also nicht mehr 300 oder Mann- bzw. Ein-Frau-Unternehmen tätig sind. Diese 200 Euro, sondern nur 130 Euro. Das ist völlig ausrei- Gruppe macht inzwischen mehr als die Hälfte aller chend, finden wir. Selbstständigen aus. Doch das Krankenversicherungs- recht geht nach wie vor von einem überholten Selbst- Das gilt für alle Selbstständigen, die gesetzlich kran- ständigenbild aus. Demnach sind Selbstständige typi- kenversichert sind. Bei der Gruppe der privat Versicher- scherweise in der Lage, selbst für die Kosten ihrer ten gibt es ein anderes Problem, welches wir lösen wol- Gesundheitsversorgung aufzukommen, und deshalb nicht len. Ist ein Selbstständiger, der arbeitslos wird, Mitglied auf den Schutz der Solidargemeinschaft angewiesen. Die-

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Birgitt Bender (A) ses Selbstständigenbild ist aber überholt. Viele der über hen, die Krankenversicherung macht hier keine Aus- (C) 2,3 Millionen Solo-Selbstständigen verfügen über deut- nahme. lich geringere Einkommen als vergleichbar qualifizierte Besondere Mindestbeiträge für Selbstständige haben Angestellte. Der Basistarif in der PKV ist für sie zu teuer, schon deshalb einen Sinn, weil das Steuerrecht den die Mindestbemessungsgrundlage in der GKV zu hoch. Selbstständigen, anders als Arbeitnehmern, eine gewisse Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken schlagen Gestaltbarkeit des Einkommens erlaubt. Diese steuer- deshalb vor, den Basistarif und die Mindestbemessungs- rechtlichen Möglichkeiten dürfen sich aber nicht in Form grundlage weiter abzusenken. Ich halte diesen Vorschlag ungerechtfertigt niedrigerer Beiträge auf die gesetzliche für begründet. In der gesetzlichen Krankenversicherung Krankenversicherung auswirken. Zudem belasten Versi- werden die Beiträge einkommensabhängig erhoben. Min- cherte, die keine oder nur geringe Beiträge zahlen, die destbeiträge sind innerhalb dieses Solidarsystems eigent- übrigen Beitragszahler der Solidargemeinschaft, da Bei- lich ein Fremdkörper. Schade ist allerdings, dass der An- tragsfreiheit oder geringe Beiträge immer von den übri- trag mit keinem Wort auf die wesentliche Ursache dieses gen Beitragszahlern mitfinanziert werden müssen. Das sozialpolitischen Problems eingeht. Und das ist die Zwei- kann nicht richtig sein. teilung unseres Krankenversicherungssystems in GKV und PKV und der Umstand, dass sich ausgerechnet die Zum zweiten Punkt Ihres Antrags will ich betonen: Mit wirtschaftlich leistungsstärksten Bevölkerungsgruppen der Gesundheitsreform haben auch Menschen mit gerin- dem Solidarausgleich innerhalb der GKV entziehen kön- gerem Einkommen die Möglichkeit erhalten, in der PKV nen. versichert bleiben zu können; denn seit dem 1. Januar 2009 dürfen die Versicherungsunternehmen niemandem Es ist dieses „Ausstiegsprivileg“, das innerhalb der mehr kündigen, der Beitragsrückstände aufweist. Sie GKV eine Mindestbemessungsgrundlage für freiwillig müssen zudem Notfallleistungen in jedem Fall bezahlen. Versicherte erforderlich macht. Ohne eine solche Grenze Und bei Hilfebedürftigen im Basistarif müssen die Versi- würden sich für die gesetzliche Krankenversicherung vor cherer die Leistungen sogar in vollem Umfang gewähren. allem einkommensschwache Selbstständige mit hohen Es kann also keine Rede davon sein, dass – wie Sie schrei- Gesundheitsrisiken entscheiden, die keine kostengünstige ben – die Betroffenen keinen Krankenversicherungs- Aufnahme in die PKV finden. Die meisten anderen Selbst- schutz garantiert bekämen. Zu dem Problem, um das es ständigen würden sich auch weiterhin privat versichern. Ihnen konkret geht – die Beitragslücke, die nur bei Per- Damit würden aber die gesetzlich Krankenversicherten sonen entstehen kann, die bereits ALG II beziehen und weiter belastet. Und das ist auch schon dann der Fall, privat versichert sind –, habe ich bereits im Gesundheits- wenn man auf die Mindestbemessungsgrundlage nicht ausschuss Stellung genommen. Die Bundesregierung prüft derzeit verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Das (B) verzichtet, sondern sie deutlich reduziert. Der von den (D) Kolleginnen und Kollegen der Linken angestrebte Min- Ergebnis dieser Prüfung werden Sie abwarten müssen. destbeitrag von 125 bis 130 Euro würde die entstehenden Leistungsausgaben im Durchschnitt nicht decken. Damit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ist für mich die Forderung nach einer Reduzierung des Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Mindestbeitrags nicht vom Tisch. Aber diese Überlegung Drucksache 16/12734 an die in der Tagesordnung aufge- zeigt auch, dass eine wirklich gute Lösung nur mit einer führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- umfassenden Reform zu finden sein wird. Erst durch die verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Weiterentwicklung unseres Krankenversicherungssys- Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b: tems in eine Bürgerversicherung, an der alle Bevölke- rungsgruppen beteiligt sind, werden sich die vielen Sys- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tembrüche und Ungerechtigkeiten, die heute zwischen richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- GKV und PKV stattfinden, beheben lassen. schuss) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei Sicherheit, Stabilität und Demokratie im Süd- der Bundesministerin für Gesundheit: kaukasus fördern Lassen Sie mich zu dem vorliegenden Antrag der Frak- – Drucksachen 16/12102, 16/12726 – tion Die Linke eines feststellen: Die Bundesregierung hat bedürftigen Selbstständigen bereits eine wichtige Hilfe Berichterstattung: gegeben. Selbstständige, die nur ein geringes Einkommen Abgeordnete Eduard Lintner haben, zahlen 30 Prozent weniger Beiträge als im Nor- malfall. Das haben wir mit der letzten Gesundheitsreform Harald Leibrecht realisiert. Allen Selbstständigen geringere Beitragszah- Dr. Norman Paech lungen ermöglichen zu wollen, halte ich aber für zu weit Rainder Steenblock gegriffen. Nicht nur die Selbstständigen, sondern alle b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung sind richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- daran interessiert, möglichst geringe Beiträge zur gesetz- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder lichen Krankenversicherung zu zahlen. Ein verständli- Steenblock, Marieluise Beck (Bremen), Volker ches Anliegen. Beitrag und Leistung müssen jedoch Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der immer in einem angemessenen Verhältnis zueinanderste- Fraktion Bündnis 90/DIE Grünen 24434 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Demokratie und Sicherheit im Südkaukasus Aber auch im Verhältnis zwischen dem Westen und (C) stärken Russland, zwischen der EU oder der NATO einerseits und Russland andererseits zeigte sich, wie unterentwickelt die – Drucksachen 16/12110, 16/12727 – Mechanismen für die Krisenbewältigung sind. Zwar Berichterstattung: möchte ich ausdrücklich hervorheben, dass die französi- Abgeordnete Eduard Lintner sche Ratspräsidentschaft insgesamt sehr positiv agiert Markus Meckel hat, trotz aller Schwierigkeiten und Kritik. Demgegen- Harald Leibrecht über war es in meinen Augen jedoch ein Fehler, den Dr. Norman Paech NATO-Russland-Rat auszusetzen. Welche Gremien haben Rainder Steenblock wir denn sonst für den Krisenfall? Hierzu haben folgende Kolleginnen und Kollegen Deshalb sollten wir auch auf die Vorschläge Präsident ihre Reden zu Protokoll gegeben: Manfred Grund, Medwedews zur Ausgestaltung einer umfassenden Si- Eduard Lintner, Markus Meckel,1) Dr. Bärbel Kofler, cherheitsarchitektur in Europa ernsthaft eingehen. Es Michael Link, Dr. Hakki Keskin und Rainder kommt nur darauf an, dass hierbei nicht einfach nur eine Steenblock. Art Einspruchsrecht gegenüber EU- oder NATO-Ent- scheidungen gemeint ist. Russland ist jetzt gefordert, seine bislang recht vagen Vorschläge zu konkretisieren. Manfred Grund (CDU/CSU): Unsere Sicht auf den Südkaukasus wird noch von dem Auf Präsident Medwedews Vorschläge eingehen zu Eindruck des Georgienkrieges vom letzten August domi- wollen, bedeutet nicht, die bestehende Sicherheitsarchi- niert. Allerdings sind damit auch einige positive Entwick- tektur in Europa infrage zu stellen. Aber das seit dem lungen aus dem Blickfeld geraten. Ich nenne nur einige Ende des Kalten Krieges ungelöste Problem dieser vorsichtigen Zeichen der Annäherung zwischen Arme- Sicherheitsarchitektur ist die mangelnde Einbindung nien und der Türkei wie auch zwischen Armenien und Russlands gewesen. Solange Russland in einer Art Aserbaidschan. Allerdings sind nach wie vor 20 Prozent Außenseiterrolle verbleibt, wird es seine auch machtpoli- aserbaidschanischen Territoriums besetzt, festigt Russ- tische Selbstbestätigung in Form innen- und außenpoliti- land seine Präsenz in den abtrünnigen georgischen Ge- scher Sonderwege suchen. bieten. Natürlich muss die Anerkennung von Südossetien und Abchasien auf unsere Ablehnung stoßen. Aber Russland Der Georgienkrieg hat die Abspaltung Abchasiens und hat bereits zur Kenntnis nehmen müssen, wie isoliert es in Südossetiens zwangsläufig nur vertieft. Wir werden noch dieser Angelegenheit geblieben ist. Auch die russische abzuwarten haben, wie sich die innenpolitische Aufarbei- (B) Politik sieht sich in dieser Hinsicht ja in einem Dilemma. (D) tung der damaligen Ereignisse in Georgien selbst voll- zieht. Hier sind im Augenblick noch Klärungsprozesse im Moskau weiß sehr wohl, wie angewiesen Russland auf Gange, deren Ausgang mit darüber entscheiden wird, wie ein kooperatives Verhältnis gegenüber dem Westen ist. sich unsere Zusammenarbeit mit Georgien weiter entwi- Und die wirtschaftlichen Folgewirkungen des Krieges in ckeln sollte. Ich begnüge mich an dieser Stelle mit dem Georgien haben dies ja auch noch einmal sehr deutlich Hinweis, dass das Verhalten des georgischen Präsidenten gemacht. Russland sollte deshalb auch selbst daran inte- im Zusammenhang mit dem Krieg im August für mich un- ressiert sein, Zeichen des guten Willens und der Zusam- sere Skepsis gegenüber einem möglichen Membership menarbeit gegenüber Europa zu setzen. Action Plan der NATO für Georgien bestätigt hat. In diesem Zusammenhang haben Kanzlerin Merkel Die Krisenpräventionsmechanismen haben offensicht- und Präsident Sarkozy im Februar in einem gemeinsa- lich versagt. Allerdings war der Friedenswille auf beiden men Artikel auf das Beispiel Transnistrien verwiesen. In- Seiten begrenzt. Russland war auf den Krieg anscheinend wieweit Russland hier zu Konzessionen bereit oder fähig vorbereitet. Letztlich hat jedoch nicht Moskau, sondern ist, wird sich zeigen. Georgien den Konflikt bewusst eskalieren lassen. Wenn es Grundsätzlich hat aber auch die Finanzkrise gegensei- einmal soweit kommt, helfen natürlich auch keine Prä- tige Abhängigkeiten beleuchtet. Und ebenso verbinden ventionsmechanismen mehr. sich mit der neuen Administration in Washington Aus- Welche Schlüsse ergeben sich daraus? Erstens sollten sichten auf eine engere Zusammenarbeit, nicht nur im sich alle Beteiligten von der Vorstellung verabschieden, russisch-amerikanischen Verhältnis. Auch innerhalb der es ließen sich im Kaukasus heute effektive Sicherheits- EU dürften so kooperative Ansätze gestärkt werden. strukturen ohne Einbeziehung Russlands aufbauen. Beide Seiten sollten darin eine Chance sehen. Umso wichtiger ist gerade deshalb der Ausbau der re- Auch auf den Kaukasus werden diese Entwicklungen gionalen Zusammenarbeit. Das Konzept der Schwarz- nicht ohne Einfluss bleiben. Alle Länder werden sehr viel meersynergie ist in dieser Hinsicht nach wie vor wegwei- stärker davon profitieren, wenn sie sich auf ihre innere send. Und gerade auch die „Östliche Partnerschaft“ Entwicklung konzentrieren können, anstatt auf innere und bietet den Ländern der Region eine Chance, bestehende äußere Konflikte. Die EU bietet bereits im Rahmen ihrer Trennlinien durch kooperative Ansätze zu überwinden. bestehenden Instrumente ein breites Spektrum an Trans- formationshilfen an. Es kommt allerdings entscheidend 1) Lag bei Redaktionsschluss nicht vor. Die Rede wird zu einem spä- darauf an, dass sie von den Regierungen in der Region teren Zeitpunkt abgedruckt. entsprechend angenommen werden; und dass Reformen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24435

Manfred Grund (A) auch dann effektiv implementiert werden, wenn sie die die Wahrung und Wiederherstellung der territorialen In- (C) Macht der jeweils Herrschenden zu beschneiden drohen. tegrität der beteiligten Staaten sowie die Rückführung der Flüchtlinge oberste Priorität haben müssen. Die Bun- Der Kaukasus behält für Europa seine strategische desregierung kann dabei in ihrer Rolle als Mitglied der Bedeutung, nicht zuletzt im Blick auf unsere Energiever- Minsk-Gruppe wertvolle Hilfestellungen leisten und sorgung. Deshalb ist es auch richtig, dass wir an der po- sollte die neuen Impulse im armenisch-aserbaidschani- litischen Unterstützung für die Nabucco-Pipeline festhal- schen Verhältnis entschlossen nutzen, um einen aberma- ten. Für unsere Versorgungssicherheit, aber auch für ligen Stillstand in den Verhandlungen zu verhindern. Sicherheit und Stabilität in Europa insgesamt bleibt der Kaukasus eine Schlüsselregion. Deshalb kann auch der Wie entscheidend es für das friedliche Miteinander Georgien-Krieg uns nur in unserer Absicht bestärken, die von Staaten ist, den Anspruch jedes Landes auf Respek- Transformations- und Friedensprozesse in der Region zu tierung seiner territorialen Integrität zu achten, zeigen unterstützen. die gravierenden Folgen der Verletzung dieses zentralen Völkerrechtsprinzips. Regelmäßig sind Tod und Leid für Eduard Lintner (CDU/CSU): die betroffene Bevölkerung, die Vertreibung und Heimat- Es ist sehr begrüßenswert, dass wir trotz des engen losigkeit Tausender, wenn nicht Millionen von Menschen Zeitplans des Parlaments in den letzten Wochen vor der die Folge, wird mit der vorhandenen Infrastruktur auch Sommerpause doch noch einmal die Zeit finden, über den die Basis für sicheres Auskommen und wachsenden Wohl- Südkaukasus zu sprechen. Denn dort liegt einer der welt- stand zerstört. Die Chancen für eine friedliche Zukunft politischen Brennpunkte, und aus der jüngsten Vergan- werden oft für Generationen vernichtet. Wachsende Ver- genheit wissen wir, wie schnell sich dort schwelende Kon- zweiflung, unbändige Wut und Hass belasten die Bezie- flikte in kriegerische Feuer verwandeln können. Dagegen hungen auf Jahrzehnte hinaus. Das zu verhindern ist eine gilt es politische Vorkehrungen zu treffen. überaus wichtige humane Pflicht der Politik vor allem je- ner Staaten, die wie zum Beispiel Russland entscheiden- An erster Stelle ist hier die Gründung der „Östlichen den Einfluss auf das Geschehen haben. Partnerschaft“ der EU zu nennen, zu der nun auch alle drei südkaukasischen Republiken gehören. Die „Östliche In Georgien gibt es nach Wochen der Konfrontation Partnerschaft“ macht deutlich, dass diese Staaten zu Eu- zwischen Regierung und Opposition nun Anzeichen für ropa gehören und dass sie für die Außenpolitik der EU eine neue Dialogbereitschaft auf beiden Seiten. Georgien künftig eine wichtige Rolle spielen sollen. Die Bundes- braucht nach den verheerenden Ereignissen des vergan- kanzlerin hat mit ihrer persönlichen Anwesenheit in Prag genen Sommers wahrlich keine neuen Konflikte. Daher ein deutliches Zeichen dafür gesetzt und so bekundet, ist die am Montag begonnene Runde von Gesprächen (B) dass Deutschland an der Entwicklung der „Östlichen zwischen Präsident Saakaschwili und Vertretern der Op- (D) Partnerschaft“ großes Interesse hat. Aber jetzt muss der position ein gutes Zeichen. Die georgische Politik durch die Partnerschaft geschaffene Rahmen entschlos- braucht aber auch die Gewissheit, dass sie von der inter- sen und zügig mit konkreten Projekten gefüllt werden. nationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Daher war es gut und richtig, das schon lange geplante NATO-Manö- Im Anschluss an den Gründungsgipfel der „Östlichen ver in der vergangenen Woche trotz der Kritik aus Mos- Partnerschaft“ fand noch ein Energiegipfel der EU statt, kau abzuhalten. Die Äußerungen des Bundesministers der für die Realisierung der Nabucco-Pipeline wichtige des Auswärtigen vom vergangenen Wochenende in dieser Fortschritte gebracht hat. So hat die Türkei ihr Junktim Sache sind mir vor diesem Hintergrund nicht verständ- zwischen der Teilnahme an dem Pipelineprojekt und den lich. Es mag vielleicht sein, dass das Manöver die Gefahr EU-Beitrittsverhandlungen aufgehoben, und gleichzeitig einer Reizung Moskaus mit sich gebracht hat. Eine kurz- hat Aserbaidschan die Belieferung von Nabucco mit Gas fristige Absage hätte aber als ein Hinweis darauf zugesagt. Damit ist dieses Projekt, das für die künftige si- missverstanden werden können, dass die westliche Staa- chere Energieversorgung Europas so wichtig ist, hoffent- tengemeinschaft tatsächlich den Anspruch Moskaus, das lich auf gutem Wege. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Pro- Land als seine exklusive Interessensphäre zu behandeln, jekt noch weitere positive Impulse für die gemeinsame hinnimmt. wirtschaftliche Entwicklung der Region und für die Bin- dungen zwischen dem Südkaukasus und Europa auslöst. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass das in Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn noch mög- letzter Zeit gezeigte große Interesse Europas am Gesche- lichst viele andere Staaten aus Zentralasien und dem hen im Südkaukasus und den dortigen Staaten nicht, wie Mittleren Osten als Gaszulieferer für Nabucco gewonnen schon so oft in der Vergangenheit, wieder nachlässt. Da- werden könnten. für ist die Region mit ihren Menschen, ihrer Kultur, ihrem Engagement, den Vorkommen an wichtigen Rohstoffen Die positiven Ergebnisse von Prag werden noch da- und der Funktion als Brücke von Europa nach Asien und durch unterstrichen, dass auch die Präsidenten Armeni- dem Mittleren und Nahen Osten zu bedeutsam. Deutsch- ens und Aserbaidschans zu Gesprächen über die Beile- land und Europa müssen in verlässlicher Weise engagiert gung des Konflikts um die Region Berg-Karabach bleiben. zusammenkamen. Diese auf Vermittlung der USA und der Türkei zustande gekommenen Gespräche bieten nun eine weitere Chance, diesen seit anderthalb Jahrzehnten Dr. Bärbel Kofler (SPD): schwelenden Konflikt einer Lösung näher zu bringen. Die Die Länder des südlichen Kaukasus – Armenien, Aser- Gespräche müssen nun in einen Prozess münden, in dem baidschan und Georgien – haben nach der Auflösung der

Zu Protokoll gegebene Reden 24436 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Dr. Bärbel Kofler (A) Sowjetunion einen dramatischen Zusammenbruch ihrer achter aus Europa und den USA statt. Gesetzesreformen (C) Wirtschaft und ihrer sozialen Sicherungssysteme erfah- im Bereich des Zivil- und Handelsgesetzes sowie der Zi- ren. Die desolate wirtschaftliche Situation verknüpfte vilprozessordnung tragen zu einer verbesserten Rechtssi- sich mit ethnischen und religiösen Konflikten, die ihre cherheit für wirtschaftliche Akteure in den drei Ländern Wurzeln in der Geschichte der Region Südkaukasus ha- bei. ben. Gleichzeitig gibt es derzeit in allen drei Ländern ei- In Georgien unterstützt die deutsche Finanzielle Zu- nen großen Bedarf am Aufbau von demokratischen und sammenarbeit ein Projekt zur Errichtung eines funktio- rechtsstaatlichen Strukturen. nierenden Kataster- und Grundbuchwesens. 1991, nach Das Verhältnis Georgiens zum Nachbarstaat Russland der Unabhängigkeit Georgiens, wurde aus staatlichem ist durch die noch offene Regelung der Abchasien- und Besitz faktisch über Nacht Privateigentum. Überprüfun- Südossetien-Frage seit Jahren spannungsreich. Auch der gen alter Eigentumsrechte fanden nicht statt, die neuen ungelöste Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien Besitzer wurden wiederum nirgendwo eingetragen. Ge- und Aserbaidschan beunruhigt die Region. Seit 1994 gibt meinden konnten keine Grundsteuern erheben, weil sie es einen fragilen Waffenstillstand zwischen beiden Staa- die Eigentümer nicht kannten, und die mangelnde Rechts- ten, jedoch keinen Kompromiss, der den Frieden ermög- sicherheit im Grundbuchwesen führte zu Konflikten in licht. der Gesellschaft. Der Erfolg des Projekts macht sich in- zwischen bemerkbar, denn überall im Land gibt es nun Die Krise zwischen Russland und Georgien erreichte verlässliche Grundbücher. Das ist die Basis für wirt- im vergangenen Jahr eine Zuspitzung und zeigte zugleich schaftliche Entwicklung und für sozialen Frieden, aber die internationale Dimension des südkaukasischen Kon- auch die Grundlage für ein Verantwortungsbewusstsein flikts. Die Region des südlichen Kaukasus ist als Schnitt- von Eigentümern; denn Eigentum verpflichtet. stelle zwischen Europa und Asien von großer politischer Bedeutung. Die drei Südkaukasus-Länder streben eine In Aserbeidschan hemmen gravierende Strukturpro- engere Bindung an Europa und die westliche Staatenge- bleme die weitere Entwicklung des Energiesektors au- meinschaft an. Davon erhoffen sie sich einen Beitrag zur ßerhalb des Ölsektors. Das führt trotz des Ölreichtums Lösung ihrer gegenwärtigen Problemsituation. Alle drei zu einer schlechten Energieversorgung des Landes. Staaten sind seit einigen Jahren Mitglieder im Europarat, Übertragungsnetze sind veraltet, häufig überlastet und sind Partnerstaaten der Europäischen Nachbarschafts- daher instabil. Hier setzt die deutsche Entwicklungszu- politik, und Georgien strebt zudem eine NATO-Mitglied- sammenarbeit mit einem Reformprojekt der Elektrizi- schaft an. Frieden und Entwicklung in dieser Region sind tätsübertragungsanlagen an. Auch hier sind erste Er- mithin für die internationale Gemeinschaft von großem folge zu verzeichnen, denn das Projekt führt zu einer Interesse. besseren Energieeffizienz und einer erhöhten Versorgung (B) (D) des Landes. Dadurch wird zum einen die wirtschaftliche An erster Stelle aber ist eine demokratische und wirt- Wettbewerbsfähigkeit gesteigert, zum anderen der Klima- schaftliche Entwicklung für die Völker des Südkaukasus, schutz gefördert. für die Menschen vor Ort von besonderer Dringlichkeit. Immer noch leben die Hälfte der Männer und Frauen in Zum Klimaschutz trägt zudem das „Ökoregionale Na- diesen Ländern unterhalb der Armutsgrenze. Hinzu kom- turschutzprogramm Südlicher Kaukasus“ bei, welches men die schrecklichen Erfahrungen von Krieg und Bür- unter anderem mit deutschen Entwicklungsgeldern finan- gerkrieg. Die gesundheitliche Situation ist durch die ziert wird. Der südliche Kaukasus besitzt eine einzigar- grenzüberschreitende Gefahr der Tuberkulose überschat- tige biologische Vielfalt, die durch Wilderei, Überwei- tet. Eine Kultur der gewaltfreien Konfliktlösung bedarf dung und Holzeinschlag akut bedroht ist. Der mit unserer ebenso der Förderung wie der Schutz für Minderheiten. Unterstützung gegründete Umweltstiftungsfonds finan- ziert die Entwicklung und Umsetzung einer regionalen Um die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Naturschutzstrategie. Südkaukasus zu stärken, den Menschen vor Ort Perspek- tiven zu geben und eine regionale Kooperation zwischen Mit solchen Beispielen könnte ich im Bereich der För- den Ländern des Südkaukasus zu erreichen, leistet auch derung des Klein- und Mittelstandes fortfahren, wo durch die deutsche Entwicklungspolitik ihren Beitrag. Die Eck- Mikrokredite nicht nur die Wirtschaft belebt wird, son- pfeiler der Entwicklungszusammenarbeit mit der Region dern auch der Korruption im Kreditwesen der Kampf an- des südlichen Kaukasus sind der Ausbau des demokrati- gesagt wird. schen Rechtssystems sowie die Stärkung der kommunalen Aber lassen sie mich noch ein besonderes Augenmerk Demokratie und der Zivilgesellschaft. Die Förderung der auf die Friedensarbeit und Konfliktprävention der Ent- Privatwirtschaft und des Energiesektors sowie der Auf- wicklungszusammenarbeit werfen. Hier arbeiten die bau von grenzüberschreitenden Nationalparks gehören deutschen Durchführungsorganisationen Hand in Hand ebenso dazu wie die Bekämpfung der Tuberkulose. mit unseren politischen Stiftungen. Sie fördern den Erfah- Beispielsweise wird durch die deutsche Technische Zu- rungsaustausch zwischen politischen Entscheidungsträ- sammenarbeit in allen drei Ländern Beratung für den gern, Mediatoren und Multiplikatoren, Vertretern von Aufbau unabhängiger und funktionsfähiger Justizsysteme Menschenrechtsgruppen sowie Medien. Dabei wird The- bereitgestellt. Seit 1999 werden in Georgien daher fach- men wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und religiöser liche Richterprüfungen durchgeführt. Bereits amtierende Toleranz sowie dem Schutz von Minderheiten besondere Richter mussten sich ebenfalls dieser Prüfung unterzie- Aufmerksamkeit geschenkt. Das Besondere an den kon- hen. Sie findet zudem unter Beteiligung externer Beob- fliktpräventiven Initiativen ist ihre regionale Dimension.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24437

Dr. Bärbel Kofler (A) Sie sind als grenzüberschreitende Kooperationen ange- Die zwanghafte Einteilung in Freunde und Feinde (C) legt und arbeiten mit unterschiedlichen Akteuren und schadet hingegen allen Seiten und behindert Entwick- Entscheidungsträgern aller drei Länder. lung, Frieden und Wohlstand. Diese Lektion haben wir in Europa bitter lernen müssen, und deshalb besteht für die Die Kaukasus-Initiative der deutschen Entwicklungs- FDP deutsche Außenpolitik immer zuerst aus einer politik ergänzt in vielen Punkten die deutsche Außenpoli- Selbstverpflichtung zur Kooperation. Eine solche Selbst- tik sowie Europapolitik. Gerade Letztere wurde mit der verpflichtung zur Kooperation erwarten wir auch von „Östlichen Partnerschaft“ in der vergangenen Woche Russland – und natürlich von den südkaukasischen Staa- noch einmal vertieft. Hierbei soll unter anderem die Ko- ten. operation der Länder untereinander gefördert werden. Verpflichtung auf Kooperation ist auch ein integraler Die langfristige und nachhaltige Begleitung der Teil der Botschaft, die in der „Östlichen Partnerschaft“ Transformationsprozesse in der Region des südlichen steckt, die am 7. Mai 2009 in Prag offiziell initiiert wurde. Kaukasus wird seit 2001 mit 50 Millionen Euro jährlich Das geringe Interesse mancher Mitgliedstaaten an der aus dem entwicklungspolitischen Bundeshaushalt finan- Inauguration war allerdings, das muss man leider deut- ziert. Die bereits geschilderten Maßnahmen und Investi- lich sagen, ein Armutszeugnis. Leider ist der Mangel an tionen unserer Entwicklungszusammenarbeit zeigen ei- Vertrauen und gegenseitiger Achtung anscheinend ein nes besonders deutlich: Entwicklung fördern heißt auch prinzipielles Problem im Südkaukasus. Dies zeigt sich in- immer Frieden sichern. Grenzüberschreitende Projekte nerhalb der Länder im Umgang mit der politischen Op- regen fachlichen und zwischenmenschlichen Austausch position. So sind die beständige Diffamierung der Pro- auf vielen Ebenen der Gesellschaft an. Gegenseitiges testbewegung in Georgien und eine fast zwanghafte Verständnis für gemeinsame Probleme führt zu besserer verschwörungstheoretische Aufladung der Probleme in Verständigung. Georgien nicht hilfreich. Mit unserer Entwicklungspolitik stellen wir uns dem Die Regierung Saakaschwili muss sich endlich der Anspruch, Verständnis zu ermutigen und Frieden zu för- Kritik an der eigenen verfehlten Politik der vergangenen dern. Monate stellen und sich konstruktiv mit der Oppositions- bewegung auseinandersetzen. Eine substanzlose Diffa- mierungsrhetorik ist der falsche Weg. Aber auch die ge- Michael Link (Heilbronn) (FDP): orgische Opposition muss mehr bieten als den Druck der Die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen er- Straße. neut, dass eine Aussprache über den Südkaukasus nur un- (B) ter dem Bezug zu den regionalen Akteuren Russland und Eine langfristige Stabilisierung der Beziehungen zwi- (D) Türkei geschehen kann. schen der Türkei und Armenien macht die Einbindung Aserbaidschans in den Annäherungsprozess notwendig. Die Reaktion Russlands auf das NATO-Manöver im Die Lösung dieser Konflikte darf kein Land auf dem Altar Rahmen der Partnerschaft für den Frieden und die Reak- rein nationaler Interessen opfern. Die berechtigten An- tionen Aserbaidschans auf die türkisch-armenische An- sprüche Aserbaidschans auf eine Rückgewinnung der von näherung zeigen, wie stark die verschiedenen Problemla- Armenien besetzten Gebiete dürfen aber nicht dazu die- gen innerhalb der Region miteinander verzahnt und nen, die türkisch-armenische Annäherung zu torpedieren. verflochten sind. Dies mag mancher von uns bedauern, Im Gegenteil sollte Aserbaidschan, statt diesen Prozess zumal Akteure in allen Staaten der Region gleichermaßen mit allen Mitteln zu bekämpfen, ihn verstärkt nutzen. eine Lösung der Konflikte in die Geiselhaft eigener par- tikularistischer und aggressiver Politiken nehmen. Bedauernswert ist aber auch die Reaktion der Opposi- tion in Armenien. Trotz der Unterdrückung durch die ak- Man kann über den ungünstigen Zeitpunkt des Militär- tuelle armenische Regierung sollte die Opposition ihr manövers in Georgien diskutieren, auch wenn dieses Ma- Heil nicht in strammen nationalen Tönen suchen. Auch növer prinzipiell berechtigt und langfristig geplant und wenn die Bearbeitung der Konflikte im Südkaukasus – von angekündigt war. Die Reaktion Russlands zeigt jedoch er- einer Lösung kann man leider wohl erst in ferner Zukunft neut deutlich seine Haltung in der Südkaukasus-Frage. sprechen – die Einbeziehung aller Konfliktparteien ver- Die Begrifflichkeiten mögen sich geändert haben, die langt, darf dies nicht dazu führen, dass die armenisch- russische Politik des sogenannten Nahen Auslands als türkische Annäherung in die Geiselhaft ultra-nationalis- seiner von ihm so definierten exklusiven Einflusszone ist tischer Propaganda auf beiden Seiten genommen wird. geblieben. Bezüglich der Konflikte im Südkaukasus hat sich die Die teils reflexhafte Politik Russlands richtet sich ge- internationale Gemeinschaft klar zum Prinzip der territo- gen jeden, der vermeintlich in diese Einflusszone vor- rialen Integrität bekannt. Die internationale Gemein- dringt. Russland hat leider noch immer nicht verinner- schaft ist aber zuallererst einer friedlichen Lösung ver- licht, dass es sich bei den Nachfolgestaaten der UdSSR pflichtet, die langfristig nur unter Berücksichtigung der um unabhängige Staaten handelt. Dieser rückwärtsge- Bedürfnisse aller Parteien erreicht werden kann. wandte Ansatz schadet jedoch letztendlich auch Russland selbst. Im Gegensatz zur EU hat das Land leider noch Der russisch-georgische Krieg hat gezeigt, wie Gewalt- nicht begriffen, dass es sich bei internationaler Koopera- erfahrungen das Vertrauen, das für eine erfolgreiche und tion nicht um ein Nullsummenspiel handelt. friedliche Konfliktbearbeitung unabdingbar ist, nachhal-

Zu Protokoll gegebene Reden 24438 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Michael Link (Heilbronn) (A) tig zerstören. Dieser Vertrauensverlust betrifft beileibe sendere und präzisere Antworten formuliert, kann die (C) nicht nur Georgien, sondern bedroht die gesamte Region. Linke beiden Anträgen nicht zustimmen. Kaukasusexperten betonen, wie sehr der Augustkrieg Völlig vage bleiben die Antragsteller von der Koali- den Begriff der Frozen Conflicts infrage gestellt hat. Dies tion beispielsweise bei den Themen Sicherheitspolitik und stellt das „Arrangement“, mit dem man sich bisher be- Lösung der ethno-territorialen Konflikte. Wir sollten uns gnügt hat, infrage. In Zukunft bedeutet dies, dass die Kon- daran erinnern, dass Georgien und Russland erst im Au- fliktbearbeitung von der EU und auch von Deutschland gust letzten Jahres wegen Südossetien einen Krieg gegen- aktiver angegangen werden muss, und zwar auf allen einander geführt haben, der tiefe Wunden hinterlassen Ebenen, insbesondere aber auf der Ebene der zivilgesell- hat. Dies betrifft vor allem die bis zu 2 000 Getöteten und schaftlichen Akteure. die schwierige Lage der Kriegsflüchtlinge und Bin- nenvertriebenen in Georgien. Ihr Recht auf Rückkehr in Dialog ist das Gebot der Stunde! Neben vielen inter- die früheren Wohnorte muss in vollem Umfang gewähr- nationalen Nichtregierungsorganisationen leisten insbe- leistet werden. Zahlreiche Binnenvertriebene, circa sondere die politischen Stiftungen hier gute Arbeit, die 100 000 Menschen, konnten bereits in ihre Wohnorte in gestärkt werden muss. den ehemaligen sogenannten Pufferzonen zurückkehren. Die deutsche Politik ist gefordert, die im Rahmen der Der Wiederaufbau von Wohnungen und Infrastruktur in „Östlichen Partnerschaft“ geplante Annäherung des Georgien kommt zügig voran. Zahlreiche ehrenamtliche Südkaukasus an Europa aktiv zu begleiten. Viele betonen, Helferinnen und Helfer aus der örtlichen Bevölkerung so- dass dies nicht ohne gleichzeitige Einbindung Russlands wie humanitäre und technische Hilfsorganisationen aus den EU-Mitgliedstaaten unterstützen aktiv den Aufbau- geschehen kann – das stimmt –, aber nicht durch ein Mit- prozess. Auch die Verdienste russischer Aufbauhelfer in spracherecht oder Vetorecht Russlands bei der „Östli- Süd- und Nordossetien gilt es zu würdigen. Ihnen allen chen Partnerschaft“ , sondern durch die zügige und vor- gebührt an dieser Stelle Dank für ihren unermüdlichen dringliche Verabschiedung eines neuen Partnerschafts- Einsatz. und Kooperationsabkommens mit Russland. Nur ein sol- ches neues PKA wird der besonderen Bedeutung Russ- In der Praxis dürfen sich die Rückkehrmöglichkeiten lands gerecht. für die Flüchtlinge jedoch nicht nur auf kerngeorgische Gebiete beschränken, sondern müssen auch für Süd- Abschließend hebe ich für die FDP hervor, dass wir ossetien und Abchasien gelten. Dies gilt für die Flücht- dem gelungenen Antrag der Grünen zustimmen und uns linge des letzten Krieges, aber auch für diejenigen aus beim Antrag der Großen Koalition enthalten werden, da früheren Konflikten. Ebenso benötigen zivile Hilfsorgani- er leider auf die kritische innenpolitische Situation und sationen dringend einen ungehinderten Zugang zu den (B) die Unterdrückung der demokratischen Opposition nicht Konfliktgebieten. (D) eingeht. Eine neue Beobachtermission der OSZE für ganz Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Georgien inklusive Südossetien ist dringend notwendig. Es ist auch in russischem Interesse, die Rolle der OSZE zu Heute debattieren wir abschließend über die Anträge stärken. Schließlich hat sich Russland als OSZE-Mitglied der Regierungskoalition und der Grünen zum Thema jahrelang aktiv engagiert und wertvolle Arbeit geleistet. Südkaukasus. Lassen Sie mich zunächst auf eine aktuelle Entwicklung eingehen. Die OSZE ist nicht die NATO. Die OSZE hat sich in der Vergangenheit sehr bewährt und könnte zur Grundlage Erst vor wenigen Tagen wurde zwischen der EU und für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa werden, einigen Anrainern, darunter die Südkaukasus-Staaten, die Russland nicht ausgrenzt, sondern integriert. Die die sogenannte Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen. militärische Einkreisungspolitik, die die NATO gegen- Die Linke ist für eine engere Zusammenarbeit mit den öst- über Russland immer noch praktiziert, entspricht der lichen Nachbarn der EU. Entscheidend ist, ob es sich um Geisteshaltung des Kalten Krieges. Sie verschärft die eine echte Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe handelt Konfrontation und muss deshalb umgehend beendet wer- und dass Russland nicht ausgegrenzt wird. Die Linke hat den. Vor diesem Hintergrund ist es politisch unverant- hierzu bereits Anfang 2008 in ihrem eigenen Südkau- wortlich, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag kasus-Antrag detaillierte Vorschläge unterbreitet. Die ausgerechnet die NATO-Beitrittsoption für Georgien aus- Stichwörter lauten: Armutsbekämpfung, sozialer Aus- drücklich bekräftigen. Auch im Antrag der Grünen wird gleich, Demokratieförderung, Stärkung der Binnenwirt- die Aufnahme Georgiens in die NATO nur für den Mo- schaften, fairer Handel und Öffnung des EU-Binnen- ment ausgeschlossen, jedoch nicht für die Zukunft. Einzig marktes für Exportprodukte aus den Südkaukasus- die Linke lehnt die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder ab. Staaten über Erdöl und Erdgas hinaus. Frieden und Sicherheit in Europa bedürfen der Part- Ich finde es sehr bedenklich, wenn die Partnerländer nerschaft mit Russland und nicht seiner Ausgrenzung. im Südkaukasus, wie insbesondere im Koalitionsantrag Dies würde ebenso die Lösung der Konflikte im Süd- vorgesehen, auf die Rolle einer Nachschubbasis für den kaukasus erleichtern. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich fossilen Energiehunger Europas reduziert werden. Diese in jüngster Zeit die Anzeichen für Fortschritte bei der Politik ist kurzsichtig und wird den Ansprüchen einer fai- Lösung des Berg-Karabach-Konflikts mehren. Berg- ren und gleichberechtigten Partnerschaft nicht gerecht. Karabach bildet den potenziell gefährlichsten Krisenherd Da unser eigener Antrag deutlich über die Anträge der im Südkaukasus. Als Folge der seit 1994 anhaltenden Be- Koalition und der Grünen hinausgeht und weitaus umfas- setzung von circa 20 Prozent des Staatsterritoriums der

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Dr. Hakki Keskin (A) Republik Aserbaidschan durch die Nachbarrepublik Ar- Unsere, die Beziehungen der Europäischen Union zu (C) menien wird die Rückkehr von über 1 Million Binnen- den Ländern des Kaukasus sind eng und intensiv. Die flüchtlingen blockiert. Armenien leidet umgekehrt unter „Östliche Partnerschaft“ wird sie noch vertiefen, und die den Auswirkungen der Wirtschaftsblockade und den ge- Erwartungen vieler dieser Länder gerade an Deutschland schlossenen Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei, sind hoch. Deshalb begrüßen wir es, dass die Bundeskanz- die zur Massenauswanderung insbesondere von gut aus- lerin im Gegensatz zu vielen anderen westeuropäischen gebildeten Fachkräften beigetragen haben. Regierungschefs an diesem Treffen teilgenommen hat. Wir haben allerdings kein Verständnis dafür, dass diese Die Linke unterstützt den Friedensplan, den die OSZE Länder in der Abschlusserklärung nicht, wie ursprüng- den Konfliktparteien bereits 1997 unterbreitet hat. Dem- lich im Entwurf vom Ratsvorsitz vorgesehen, als europäi- nach gilt es, die armenisch besetzten Gebiete um Berg- Karabach schnellstmöglich zu räumen, damit der Groß- sche Länder bezeichnet werden. Falls dies mit aktiver teil der Flüchtlinge zurückkehren kann. Erst im Anschluss deutscher Beteiligung bzw. aufgrund deutscher Interven- daran sollte über den endgültigen Status der abtrünnigen tion verändert wurde, war es ein schwerer Fehler, den wir Provinz entschieden werden. Die Linke befürwortet hier- scharf verurteilen. Diese Länder sind unsere europäi- bei eine Autonomielösung innerhalb der territorialen In- schen Partner, und die Beziehungen beruhen auf den Wer- tegrität Aserbaidschans, die den legitimen, völkerrechtli- ten der gemeinsamen Mitgliedschaft im Europarat. Und chen Interessen aller Konfliktbeteiligten nach unserer die Einhaltung dieser Werte ist die Grundlage für Frieden Auffassung am besten entspricht. und Stabilität in dieser Region. Die EU und die deutsche Bundesregierung sind aufge- Territoriale Integrität ist eine zentrale Säule des Völ- rufen, ihre diplomatischen Anstrengungen für eine fried- kerrechts. Das gilt für die Lösung des Konflikts zwischen liche Konfliktlösung im Südkaukasus zu erhöhen, um Russland und Georgien genauso wie für den Konflikt zwi- möglichen erneuten kriegerischen Konfliktzuspitzungen schen Aserbaidschan und Armenien. Aber wir werden vorzubeugen. Dies gilt für Abchasien und Südossetien diese Konflikte nur lösen können, wenn die Selbstbestim- ebenso wie für Berg-Karabach. mungsrechte von Minderheiten sichergestellt werden und wenn die Bereitschaft zu sehr weitgehenden Autonomie- regelungen ehrliches Anliegen aller Konfliktpartner ist. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Solange es Hunderttausende Flüchtlinge gibt, vor allem NEN): in Georgien und Aserbaidschan, bleiben die Wunden of- Die alltägliche Vorstellung der Region des Südkauka- fen. Für sie muss mehr investiert werden, und vor allem sus wird bis heute geprägt vom Krieg in Georgien im Au- muss die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht werden. Die gust 2008 und seinen Folgen. Wenn man sich die Situa- jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der (B) tion an den Grenzen von Südossetien und Abchasien Türkei und Armenien geben Anlass zu der Hoffnung, dass (D) anschaut, dann stellt man fest, dass sie dramatischer ist, dies auch positive Wirkung auf den direkten Konflikt zwi- als es häufig in Westeuropa wahrgenommen wird. Vor schen Armenien und Aserbaidschan, aber auch für die zwei Wochen begann Russland, dauerhaft Truppen an Region als Ganzes, entfalten kann. diesen Grenzen zu Georgien zu stationieren. Zu Recht kri- tisierte die Europäische Union dies als eine weitere Ver- Eine Schlüsselrolle zur Lösung all dieser Konflikte letzung der Waffenstillstandsvereinbarung. wird Russland spielen. Deshalb ist die Integration Russ- Wir brauchen eine Deeskalation, weil sich an den lands in internationale Konfliktlösungsstrategien not- Grenzen Georgiens ein neuer Konflikt aufbaut. Wir müs- wendig. Die EU muss dabei in allen Verhandlungen mit sen sehr viel sensibler als in der Vergangenheit darauf Russland aber deutlich machen: Es geht nicht um die Auf- achten, dass dieser Konflikt nicht wieder heißläuft. Das teilung in Einflusszonen. Es geht um die eigenständige, heißt unter anderem auch, dass wir ein großes Interesse freie und demokratische Entscheidung jedes dieser Län- daran haben müssen, dass dort internationale Beobach- der über seine eigene Zukunft. Dabei ist ökonomischer tungsstrukturen aufgebaut werden, die mehr Eingriffs- Druck genauso fehl am Platz wie politische oder militä- möglichkeiten bieten, als es bei unserer EU-Monitoring- rische Provokation. mission bisher der Fall ist. Wir brauchen dort eine sehr viel bessere Präsenz. Noch bis Mitte Juni 2009 läuft der- Deshalb ist es richtig, die Art der russischen Militär- zeit das Mandat für die unbewaffnete UN-Beobachter- präsenz in Südossetien zu kritisieren, aber deshalb war Mission UNOMIG in Abchasien. Sie sollte verlängert und es zumindest unklug, jetzt ein Manöver der NATO in Ge- auf Südossetien ausgedehnt werden. Denn die UN und ihr orgien abzuhalten. Das NATO-Argument langer Planung Sicherheitsrat sollten dafür zuständig sein. Vermittlung und Bekanntheit zieht nicht, denn inzwischen hat immer- erfordert Neutralität und Ergebnisoffenheit auf den hin ein Krieg stattgefunden. Die Manöver geben zum Grundlagen des Völkerrechts. jetzigen Zeitpunkt, noch nach einem angeblichen oder vermeintlichen „Militärputsch“ in Georgien, unnötige Ungeachtet der notwendigen Beobachtung des Kon- Gelegenheit zur politischen Instrumentalisierung. fliktgebietes und der diplomatischen Suche nach einer dauerhaften Lösung steht noch immer die Klärung der Alle Länder des Südkaukasus verdienen unsere Unter- Vorgänge im August 2008 aus. Mit Aufmerksamkeit er- stützung. Sie ist ebenso notwendig wie die eigenen An- warten wir die demnächst anstehenden Ergebnisse der strengungen der Menschen in den drei Ländern, damit die auch von uns geforderten unabhängigen Untersuchungs- Wertegemeinschaft des Europarates und die Werte der kommission unter Leitung der Schweizer Diplomatin Europäischen Union dort auch erfolgreich und dauerhaft Heidi Tagliavini. wirksam werden können.

Zu Protokoll gegebene Reden 24440 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Situation vor: Eine rüstige Rentnerin stürzt und bricht (C) Tagesordnungspunkt 32 a. Wir kommen zunächst zur sich den Oberschenkelhals. Im Krankenhaus wird dieser Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Bruch genagelt, und alles scheint in Ordnung zu sein. wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der Doch dann kommt es zu einer Infektion, und innerhalb CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Sicherheit, Sta- von zwei Wochen verstirbt die Frau. bilität und Demokratie im Südkaukasus fördern“. Der 2006 starben in Deutschland 40 000 Patienten an Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Krankenhausinfektionen, so das Bundesministerium für Drucksache 16/12726, den Antrag der Fraktionen der Gesundheit in seiner Deutschen Antibiotikaresistenzstra- CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12102 anzu- tegie. Krankenhausinfektionen sind die mit Abstand nehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – häufigste Form ernsthafter Infektionskrankheiten in Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Deutschland. In Deutschland werden jährlich rund fehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio- 17 Millionen Patienten behandelt, von denen sich rund nen angenommen. Dagegen gestimmt haben die Fraktio- 500 000 bis 800 000 mit Krankenhauskeimen infizieren. nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP hat Auch dies ist dem Gesundheitsbericht der Bundesregie- sich enthalten. rung zu entnehmen. Tagesordnungspunkt 32 b. Beschlussempfehlung des Die Hygienefachleute, die wir vor kurzem in einer Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Anhörung zurate gezogen haben, haben klipp und klar Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Demokratie und gesagt: Es ist an der Zeit, dass endlich gehandelt und Sicherheit im Südkaukasus stärken“. Der Ausschuss nicht mehr weiter nur appelliert wird. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/12727, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die (Beifall bei der LINKEN) Grünen auf Drucksache 16/12110 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- Ich sage Ihnen: Auch der gesunde Menschenverstand haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zu- verlangt, dass endlich gehandelt wird. Seit 14 Jahren stimmung der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die wird in Deutschland Jahr für Jahr in allen Berichten fest- Linke angenommen. Dagegen gestimmt haben die Frak- gestellt, dass es einen ständigen Anstieg der Verkeimung tionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen. gibt. Die Antwort darauf sind in der Regel Appelle. Es werden, wie von den Fachleuten in der Anhörung gesagt Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: wurde, „Papiertiger“ produziert. Seit Mitte der 70er- Jahre sind die Bundesländer aufgefordert, Hygienever- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ordnungen zu erlassen. Ganze vier Bundesländer sind richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- dieser Aufforderung nachgekommen. Zwölf Bundeslän- (B) schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank (D) der haben keine Hygieneverordnung. Ich finde, das al- Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer lein ist schon ein Skandal. Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei der LINKEN) Krankenhausinfektionen vermeiden – Multi- resistente Problemkeime wirksam bekämpfen Die vom Robert Koch-Institut vorgeschlagene Richtli- nie zur Bekämpfung von Infektionen ist aus unserer Sicht – Drucksachen 16/11660, 16/12925 – sehr brauchbar. Sie ist aber ohne Fachpersonal – auch das Berichterstattung: wurde in der Anhörung von allen Fachleuten deutlich Abgeordneter Dr. Konrad Schily formuliert – nicht umsetzbar. Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie- Die Linke hat mit diesem Antrag den Versuch unter- ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so nommen, Krankenhausinfektionen vermeidbar zu ma- beschlossen. chen und multiresistente Problemkeime zu bekämpfen. Leider hat unser Antrag im Ausschuss keine Mehrheit Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Hans Georg Faust, gefunden. Die Koalition hat ihn abgelehnt, und die bei- Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Dr. Harald den anderen Oppositionsfraktionen haben sich enthalten. Terpe und der Parlamentarische Staatssekretär Rolf Wir bedauern dies sehr. Jeder Mensch, der in Deutsch- 1) Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. land in einem Krankenhaus wegen einer vermeidbaren Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Infektion verstirbt, ist ohne Wenn und Aber ein Toter zu Frank Spieth für die Fraktion Die Linke das Wort. viel. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Angesichts der Kürze meiner Redezeit habe ich nicht Frank Spieth (DIE LINKE): die Möglichkeit, alle unsere Forderungen darzustellen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns auf wesentliche Punkte konzentriert. Drei Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema er- davon will ich nennen: schließt sich nicht sofort, wenn man den Begriff „multi- Erstens. Wir brauchen endlich wirkungsvolle, ver- resistente Keime“ hört. Aber stellen Sie sich folgende bindliche Regelungen, um mit geeigneten Maßnahmen Infektionen nicht nur zu einem späteren Zeitpunkt erfas- 1) Anlage 8 sen und heilen zu können, sondern sie sofort, schon in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24441

Frank Spieth (A) der Entstehung, durch Präventionsmaßnahmen bekämp- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- (C) fen zu können. nis 90/Die Grünen vor. (Beifall bei der LINKEN) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika Grütters, Zweitens. Wir fordern den Einsatz von Ärztinnen und Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Hans-Joachim Otto, Ärzten für Hygiene und Hygienefachkräften in Kranken- Dr. Lukrezia Jochimsen und Volker Beck zu Protokoll häusern, und zwar in allen Bundesländern. Berlin, Sach- gegeben. sen und Bremen sind hier vorbildlich.

(Beifall bei der LINKEN) Monika Grütters (CDU/CSU): Drittens. Wir fordern die konsequente Umsetzung der Die Absicht zur Errichtung eines Mahnmals für die er- bestehenden Richtlinie des Robert Koch-Instituts zur mordeten Juden Europas und die angemessene Würdi- Prävention von MRSA, also multiresistenten Keimen. gung anderer Opfergruppen erfordert einen breiten poli- tischen Konsens. Das gilt hier mehr als bei irgendeiner Meine Damen und Herren, es ist in der Tat Zeit, zu anderen politischen Auseinandersetzung. Darauf hat handeln. Wir haben keine Zeit für weitere Verzögerun- schon damals unser heutiger Bundestagspräsident, gen. Ich bedauere sehr, dass wir mit diesem Antrag heute Dr. Norbert Lammert, in der Debatte um die Gründung nicht durchdringen. Ich setze aber darauf, dass wir in der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Euro- weiteren parlamentarischen Beratungen möglicherweise pas“ hingewiesen. Ich freue mich, dass wir zu diesem gemeinsam im Interesse der Menschen, der Patienten in überfraktionellen Konsens bei der Entscheidung über die diesem Land zu vernünftigen Lösungen im Sinne unse- Aktualisierung und Ergänzung des Stiftungsgesetzes auch rer Vorschläge kommen. jetzt im Kulturausschuss kommen konnten. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Dennoch kam dieses Ergebnis nicht einhellig und ohne (Beifall bei der LINKEN) Bedenken zustande. Die Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen haben ihre Einwände trotz Zustimmung zur Gesetzesänderung in jeweils eigenen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Änderungsanträgen niedergelegt. Ich schließe die Aussprache. Das Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- für die ermordeten Juden Europas“ diente dazu, den Bun- empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- (B) destagsbeschluss zur Errichtung dieses Denkmals umzu- (D) trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Krankenhaus- setzen und es später auch zu unterhalten. Der von Beginn infektionen vermeiden – Multiresistente Problemkeime an im Stiftungszweck formulierte gesetzliche Auftrag, den wirksam bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Entwurf des Stelenfeldes von Peter Eisenman und den er- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12925, den gänzenden Ort der Information zu verwirklichen, wurde Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11660 umgesetzt. Als neue Aufgabe der Stiftung hat inzwischen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- die Betreuung der Denkmäler für die im Nationalsozialis- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- mus verfolgten Homosexuellen und für die ermordeten schlussempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitions- Sinti und Roma konkrete Gestalt angenommen. Im Mai fraktionen angenommen. Die Fraktion Die Linke hat vergangenen Jahres ist das Denkmal für die homosexuel- dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und FDP ha- len Opfer der Naziherrschaft der Öffentlichkeit über- ben sich enthalten. geben worden, und im Laufe dieses Jahres kommt das Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 33 auf: Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma hinzu. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Diesen neuen Aufgaben wollen wir mit der Änderung regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes des Stiftungsgesetzes Rechnung tragen. Die Organisa- zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung tionsstruktur der Stiftung soll dazu vergleichbaren Ein- einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten richtungen angepasst werden. Die Stiftung erhält nun den Juden Europas“ Auftrag, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mit dem Ort der Information zu unterhalten und zu betrei- – Drucksache 16/12230 – ben. Darüber hinaus obliegt ihr im Rahmen der Erinne- rung an alle Opfergruppen des Nationalsozialismus die Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Betreuung der beiden neuen Denkmäler für die Sinti und ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) Roma sowie für die ermordeten Homosexuellen. – Drucksache 16/12976 – Die FDP sowie die Grünen wollen in diesem Zusam- Berichterstattung: menhang auch den Namen der Stiftung ändern. Aus meh- Abgeordnete Monika Grütters reren Gründen sind wir da skeptisch. Schon in der ur- Dr. h. c. Wolfgang Thierse sprünglichen Gesetzesfassung, in der man sich auf den Hans-Joachim Otto (Frankfurt) heutigen Stiftungsnamen geeinigt hatte, wurde im Stif- Dr. Lukrezia Jochimsen tungsgesetz die Aufgabe verankert, an der angemessenen Katrin Göring-Eckardt Würdigung anderer Opfergruppen mitzuwirken. 24442 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Monika Grütters (A) Die Stiftungsgründung verdankt sich zudem einer pri- haben keinen Vorschlag zur Formulierung gemacht. Die (C) vaten Initiative, die ausschließlich den jüdischen Opfern FDP kam mit ihrer Formulierung so spät, dass bereits des nationalsozialistischen Terrors gewidmet war. Der Gespräche mit vielen Betroffenen stattgefunden hatten. Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Euro- Abgesehen davon gibt es nach wie vor eine Mehrheit für pas“ hat eine politisch-moralische Aufgabe der Nation die Beibehaltung des Namens aus den oben genannten zum Gegenstand einer gesellschaftlichen Initiative ge- Gründen. Dieser Auffassung hat sich in der vergangenen macht, die der Staat sich dann selbst zur Aufgabe machte. Woche dann auch das Kuratorium der Stiftung „Mahn- Erst mit dem Eintreten des Staates für dieses Erinne- mal für die ermordeten Juden Europas“ einstimmig an- rungsprojekt ist neben der Debatte um ein eigenständiges geschlossen. Mahnmal zum Gedenken an den Holocaust auch die Dis- kussion um den Namen entbrannt. Diese private Initiative Der zweite Diskussionspunkt war die Besetzung der und ihre Motive verdienen unseres Erachtens Dank und Stiftungsgremien nach der Erweiterung der Aufgaben der Respekt, der sich eben auch in dem Namen der operativen Stiftung. Gegenwärtig umfasst das Kuratorium insgesamt Stiftung ausdrückt. Entscheidend aber ist auch hier der 23 Mitglieder. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören Verweis auf die Singularität der Verbrechen der Nazis ge- zurzeit 13 Sachverständige an. Die Grünen fordern in ih- gen die Juden. rem Änderungsantrag die zusätzliche Vertretung des Zen- tralrates Deutscher Sinti und Roma sowie des Lesben- Die Beibehaltung des Namens hat daher nicht nur ihre und Schwulenverbandes im Stiftungskuratorium. Die Berechtigung, es spricht auch nichts dagegen. Faktisch FDP möchte darüber hinaus die „Sinti Allianz Deutsch- betreut die Stiftung bereits die beiden neuen Denkmale, so land“ und die Initiative „Der homosexuellen NS-Opfer wie es seit ihrer Gründung geplant war. Angesichts der gedenken“ in diesem Gremium vertreten wissen. Immer- Stiftungsarbeit in den letzten vier Jahren, deren erfolgrei- hin kommt sie in der Begründung ihres Änderungsantra- ches und international anerkanntes Wirken ich schon in ges zu dem Schluss, dass die bisherige Mitgliederzahl meiner letzten Rede ausgeführt habe, sehe ich in ihrer nicht überschritten werden sollte, da sonst die Arbeits- Verantwortung für die Erinnerungsarbeit der neuen fähigkeit des Gremiums geschwächt sei. Daher soll die Denkmäler einen echten Gewinn. Zahl der Kuratoriumsplätze der Mitglieder des Bundes- tages, der Bundesregierung und des Landes Berlin redu- Für das Denkmal der im Nationalsozialismus verfolg- ziert werden. ten Homosexuellen wurde die Feier zur Übergabe an die Öffentlichkeit am 27. Mai 2008 von der Stiftung organi- Darin, dass die Mitgliederzahl des Kuratoriums nicht siert. Technisch unterstützt sie die dort im Rahmen des weiter erhöht werden darf, um die Arbeitsfähigkeit zu Berliner Christopher Street Days und des Gedenktages gewährleisten, stimmen wir völlig überein. Anliegen der Gesetzesänderung ist es, die Stiftungsstruktur den Er- (B) am 27. Januar stattfindenden Veranstaltungen. Darüber (D) hinaus zeichnet die Stiftung für Begleitmedien verant- fordernissen eines Dauerbetriebes anzupassen. Ver- wortlich und bemüht sich, das Denkmal in Zusammen- gleichbare Einrichtungen sollten dazu als Maßstab die- arbeit mit dem „Schwulen Museum Berlin“ und dem nen. Auf Bundesebene wurde der vor allem in der neu Lesben- und Schwulenverband Deutschland in die Bil- gegründeten selbstständigen Stiftung „Deutsches Histo- dungsarbeit der Stiftung einzubeziehen. risches Museum“, DHM, und in der unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibungen, Versöhnung“ gesehen. Für das Denkmal der im Nationalsozialismus ermor- Das Kuratorium der DHM-Stiftung besteht laut Gesetz deten Sinti und Roma wurde der offizielle Baubeginn am aus 15 Mitgliedern, der Stiftungsrat „Flucht, Vertrei- 19. Dezember 2008 von der Stiftung organisiert. Ein ent- bung, Versöhnung“, der sich gestern konstituiert hat, be- sprechendes Faltblatt zum Denkmal erstellt sie in Ab- steht aus 13 Mitgliedern. Dem wissenschaftlichen Beirat sprache mit dem BKM und dem Künstler Dani Karavan des DHM gehören mindestens 12 und höchstens 25 Sach- bis zur Eröffnung. verständige an. In den wissenschaftlichen Beraterkreis Trotz der Betreuung der Aktivitäten dieser Denkmale der unselbstständigen Stiftung sollen bis zu neun Mitglie- durch die Stiftung werden jedoch alle drei Mahnmale in der berufen werden. der öffentlichen Berichterstattung völlig eigenständig Das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die er- wahrgenommen. mordeten Juden“ ist im Vergleich dazu personell bereits Bei allem Verständnis auch für das Anliegen, den Na- großzügig besetzt. Die von der FDP vorgeschlagene Re- men der Stiftung – nicht des Denkmals! – an die nunmehr duzierung der Sitze von Parlament sowie Bundes- und faktisch erweiterte Aufgabe anzupassen, spricht meines Landesregierung lehnen wir ab. Die Mitgliedschaft von Erachtens doch nach wie vor vor allem eines dagegen: derzeit sieben gewählten Volksvertretern im Kuratorium, Jede neue Bezeichnung impliziert neue Ausgrenzungen die auch die Mehrheitsverhältnisse des Parlamentes und Konflikte, oder sie wird so allgemein, dass ihre Pau- widerspiegelt, sowie der Regierungsvertreter entspricht schalität verharmlost. Ein Denkmal für alle „Opfer von der besonderen Bedeutung, die dem systematischen Völ- Krieg und Gewaltherrschaft“ gibt es in der Neuen Wache. kermord an den europäischen Juden in der deutschen Er- Es gibt seit 1953 in Berlin-Charlottenburg sogar ein wei- innerungskultur zukommt. Erinnern und Gedenken sind teres, am Steinplatz, mit der Inschrift „Den Opfern des weder Privatsache noch rein bürgerschaftlich zu bewäl- Nationalsozialismus“. tigen. Sie sind immer eine öffentliche Angelegenheit, und das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Die Poli- Die Grünen haben frühzeitig eine Namensänderung tik darf sich hier nicht allein auf die Verantwortung für gewollt, vor der ersten Lesung dieses Gesetzes. Aber sie die Rahmenbedingungen zurückziehen, sondern muss die

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24443

Monika Grütters (A) Form des Gedenkens mitprägen. Die Art und Weise, wie Da ein Ziel der Änderung des Stiftungsgesetzes die An- (C) eine Nation, wie ein Staat dies öffentlich tut, gibt Auskunft passung der Struktur an vergleichbare Einrichtungen ist, über sein Selbstverständnis und prägt seine Identität. haben wir im Kulturausschuss zwei Änderungen einge- bracht. Zum einen haben wir festgeschrieben, dass der So, wie es das Stiftungsgesetz vorsieht – die Erinne- bisherige Geschäftsführer auch der künftige Direktor rung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre wird, um die Kontinuität der hervorragenden Arbeit der Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen –, ist es Stiftung zu gewährleisten. Zum Zweiten wird der Direktor durchaus denkbar, dass ihr auch künftig noch weitere für fünf Jahre bestellt und nicht, wie ursprünglich vorge- Aufgaben in diesem Rahmen zufallen. Wollen Sie dann sehen, für vier Jahre. eine erneute Auseinandersetzung über die Verteilung der Kuratoriumssitze? Wir wollen das nicht. Eine Änderung des Stiftungsnamens halten wir nicht für sinnvoll. Bisher wurde kein plausibler, überzeugender Es ist richtig, Vertreter der Opfergruppen der neuen Namensvorschlag unterbreitet. Bereits unter dem jetzigen Denkmale in den Stiftungsbeirat zu integrieren. Über Namen der Stiftung war die Erinnerung an alle Opfer des diese Fragen ist mit den Vertretern aller jetzt zur Debatte Nationalsozialismus Aufgabe der Stiftung. Unter dem jet- stehenden Opfergruppen gesprochen worden. zigen Namen wurden das Denkmal für die im Nationalso- zialismus ermordeten Sinti und Roma und die im Natio- Die Zustimmung aller Fraktionen im Ausschuss für nalsozialismus verfolgten Homosexuellen errichtet; und Kultur und Medien trotz eigener Änderungsanträge be- unter dem jetzigen Namen betreut die Stiftung bereits das stätigt den Entwurf zur Änderung des Stiftungsgesetzes. Homosexuellendenkmal. Auch angesichts der internatio- Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Opposi- nalen Bedeutung des Denkmals sollte der Name nicht ver- tionsfraktionen, dass sie ihre Einwände und Bedenken ändert werden. Außerdem bleibt trotz der Betreuung der zugunsten der Signalwirkung zurückstellen konnten, die beiden neuen Denkmäler der Betrieb des Denkmals für von einem überfraktionellen Beschluss für die Erinne- die ermordeten Juden Europas die Hauptaufgabe der Stif- rungspolitik der Bundesrepublik Deutschland ausgeht. tung. Das ist eine wichtige Botschaft für alle Betroffenen, un- sere Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch für unsere Aus den gleichen Gründen sind wir gegen eine Verän- europäischen Nachbarn. derung der Besetzung des Kuratoriums. Schon jetzt ist der Lesben- und Schwulenverband im Beirat der Stiftung vertreten. Hier können auch Vertreter der Sinti und Roma Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): mitarbeiten. Wir sollten den Streit, der im Vorfeld des Die Änderung des Stiftungsgesetzes ist notwendig, weil Baus der Denkmäler geführt wurde, nicht wieder führen. – mit großem Erfolg – der bisherige Stiftungszweck um- Der Argumente sind genug gewechselt worden. (B) gesetzt ist, nämlich die Errichtung des Mahnmals für die (D) ermordeten Juden Europas. Das Denkmal erfährt große Es freut mich, dass der Gesetzentwurf im Kulturaus- nationale und internationale Anerkennung; ein Besuch schuss einstimmig beschlossen wurde und der breite Kon- steht regelmäßig bei Staatsgästen auf dem Programm. sens bei wichtigen Entscheidungen zur Erinnerungskul- tur in Deutschland weiterhin trägt. Das Stiftungsgesetz wird jetzt in einigen Punkten aktualisiert. Erstens wird der bisherige Stiftungszweck Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): – die Errichtung des Denkmals – geändert. Dafür heißt es nun: „Zweck der Stiftung ist die Erinnerung an den Die Anpassung des Gesetzes zur Errichtung einer nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Euro- „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ pas. Die Stiftung trägt dazu bei, die Erinnerung an alle durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung ist grund- Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in ge- sätzlich richtig und sinnvoll. Denn die Stiftung hat im eigneter Weise sicherzustellen.“ Laufe der Zeit einen Teil ihrer Aufgaben bewältigt – ins- besondere den Bau des Holocaust-Mahnmals –, aber Zweitens wird der Stiftungszweck erweitert um die Be- auch neue Aufgaben übernommen, sodass ihre Struktur treuung der Denkmäler für die im Nationalsozialismus renoviert werden muss: Die „Stiftung Denkmal für die er- ermordeten Sinti und Roma und die im Nationalsozialis- mordeten Juden Europas“ wurde vor neun Jahren errich- mus verfolgten Homosexuellen. Im Übrigen war auch tet, Mitte 2008 konnte das Denkmal für die im National- bisher schon im Stiftungsgesetz verankert, dass die Stif- sozialismus verfolgten Homosexuellen der Öffentlichkeit tung dazu beiträgt, „die Erinnerung an alle Opfer des übergeben werden, und im Sommer 2009 wird das Denk- Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter mal für die ermordeten Sinti und Roma hoffentlich voll- Weise sicherzustellen.“ endet sein. Die Struktur der „Stiftung Denkmal für die er- mordeten Juden Europas“ musste also auf diese Drittens wird der dreiköpfige Vorstand abgeschafft, geänderte Aufgabenstellung ausgerichtet werden. Dem der als Gremium neben dem weiter bestehenden Kurato- stimmen wir ausdrücklich zu. rium nicht mehr erforderlich ist. Ziel bei dieser Änderung ist die Angleichung der Stiftungsstruktur an vergleich- Aus Sicht der FDP gebietet es jedoch die Logik, dass bare Einrichtungen. sowohl der Name der Stiftung, die nunmehr drei Denk- mäler betreut, als auch die Zusammensetzung des Kura- Deshalb werden viertens die Aufgaben des bisherigen toriums der Stiftung an die neue Situation angepasst wer- Vorstands und der Geschäftsführung in dem neuen Organ den. Selbstverständlich ist von einer Namensänderung „Direktorin oder Direktor“ zusammengefasst. nicht das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal für die er-

Zu Protokoll gegebene Reden 24444 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) mordeten Juden Europas“ berührt. Eine Namensände- Dem heute vorliegenden Änderungsantrag von Bünd- (C) rung des organisatorischen Rahmens halten wir jedoch nis 90/Die Grünen können wir deshalb nicht zustimmen, für geboten. Unser Vorschlag – „Stiftung Denkmäler für weil das ohnehin schon zu große Kuratorium weiter auf- die Opfer des Nationalsozialismus“ – wurde leider im gebläht und in seiner Effektivität beeinträchtigt würde. Ausschuss mehrheitlich abgelehnt, mit wenig überzeu- Trotz der von mir erwähnten Kritikpunkte stimmen wir gender Begründung. Wir gehen deshalb davon aus, dass dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, da das eine solche Namensänderung in naher Zukunft erneut auf Grundanliegen mehr als berechtigt ist. Wir hoffen, dass der Tagesordnung stehen wird. Wie kann denn eine Stif- unsere Vorschläge in der nächsten Legislaturperiode auf- tung, die sich um drei Denkmäler kümmert, nur nach ei- gegriffen werden und dann einvernehmlich umgesetzt nem der Denkmäler benannt werden? Keiner käme doch werden. auf die Idee, die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ „Stiftung Pergamonmuseum“ zu nennen oder die „Stif- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): tung Preußische Schlösser und Gärten“ als „Stiftung Das Gesetz über die „Stiftung Denkmal für die ermor- Schloss Sanssouci“ firmieren zu lassen. deten Juden Europas“ zu ändern, ist richtig und notwen- dig, da sie neue Aufgaben – die Betreuung der Denkmäler Aus Sicht der FDP gebietet es ebenfalls die Logik, aber für die ermordeten Sinti und Roma sowie für die verfolg- auch der Respekt vor den Opfergruppen, die Zusammen- ten Homosexuellen – zu leisten hat. setzung des Kuratoriums um die neuen Opfergruppen zu erweitern. Um das jetzt schon 23-köpfige Gremium aber Diese neuen Aufgaben verlangen allerdings eine Na- nicht noch zu erweitern, hatte die FDP-Fraktion vorge- mensänderung. Da die Stiftung nun nicht mehr nur für schlagen, die Zahl der Mitglieder aus dem politischen das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zu- Raum – Bundestag, Bundesregierung und Land Berlin – ständig ist, kann sie aus Sicht der Fraktion die Linke nicht zugunsten von Vertretern der Homosexuellen und der mehr unter dem alten Namen firmieren. Wir halten den Sinti und Roma zu reduzieren. Damit hätte man den neuen Namensvorschlag im Änderungsantrag, den die FDP im Opfergruppen Sitz und Stimme im Kuratorium ermög- Kulturausschuss eingebracht hatte, für sehr gut: „Stif- licht, und das Kuratorium wäre dennoch arbeitsfähig ge- tung Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus“. blieben. Allerdings ist ebenso zu bedenken, wie im Entschlie- Die vorgesehene Repräsentation dieser beiden Opfer- ßungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen im Kulturaus- gruppen lediglich im Stiftungsbeirat ist unseres Erach- schuss vorgeschlagen und mittlerweile zurückgezogen, tens nicht angemessen. Bei allem Respekt vor den Mit- ob es nicht noch besser wäre, mit den Opferverbänden ge- gliedern und der Bedeutung des Beirates gibt es doch von meinsam einen Stiftungsnamen zu finden. Ich frage, wieso (B) den Aufgaben her wichtige Unterschiede zwischen dem diese beiden Anträge im Ausschuss für Kultur und (D) Beirat und dem Kuratorium. Die Hauptaufgabe des Bei- Medien beraten wurden, nur um sie im Plenum nicht mehr rates liegt nach § 8 Abs. 3 der Satzung der Stiftung Denk- zur Abstimmung zu stellen? Soll nun doch alles beim mal für die ermordeten Juden darin, das Kuratorium und Alten bleiben? den Direktor bei grundsätzlichen Fragen, insbesondere Schon im März 2009 hat der Lesben- und Schwulen- im Hinblick auf die Würdigung der anderen Opfergrup- verband Deutschlands eine Prüfung des Stiftungsnamens pen und die authentischen Stätten des Gedenkens, zu be- gefordert. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zen- raten. Allein das Kuratorium beschließt hingegen über tralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, hat er- alle wichtigen Fragen, die zum Aufgabenbereich der Stif- geben, dass er bisher nicht in dieser Frage konsultiert tung gehören, wie die Berufung des Direktors, die Fest- wurde. Er widerspricht eindeutig der Aussage der Koali- stellung des Haushaltsplans und die Berufung der Mit- tionsfraktionen, die im Ausschuss für Kultur und Medien glieder des Beirates; so steht es in § 6 Abs. 2 der Satzung behauptet haben, alles sei mit den Betroffenen erörtert der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden. worden. Der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma würde die Namensänderung in „Stiftung Denkmäler für Auch hier gilt: Warum sollte eine Opfergruppe, deren die Opfer des Nationalsozialismus“ unterstützen, wenn Denkmal durch die Stiftung betreut wird, nicht auch Ver- er denn gefragt werden würde. Insofern übergeht der An- treter in das höchste Organ der Stiftung entsenden kön- trag der Koalitionsfraktionen klar den Willen von zwei nen? Aus diesem Grund schlugen wir vor, das Kurato- Opfergruppen. Das ist für die Fraktion Die Linke inak- rium um je einen Vertreter des Zentralrates Deutscher zeptabel. Für wen wird diese Stiftung denn eingerichtet Sinti und Roma sowie der Sinti-Allianz Deutschland und und betrieben? Trotzdem wollen wir natürlich, dass die je einen Vertreter des Lesben- und Schwulenverbandes in Stiftung ihre Arbeit leisten kann, und stimmen deshalb Deutschland und der Initiative „Der homosexuellen NS- wie schon im Ausschuss für Kultur und Medien dem Ge- Opfer gedenken“ zu erweitern, die Zahl der Politiker dort setzentwurf und dem Änderungsantrag der Koalition zu. jedoch zu reduzieren. Die Koalition erweckte im Ausschuss den Eindruck, Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass alle Änderungen zuvor mit den Betroffenen ausgie- Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Eu- big erörtert worden seien. Dies scheint jedoch nicht der ropas“ hat Großartiges geleistet: bei der Realisierung Fall zu sein. Wir halten es für wenig sensibel, dass die dieses Gedenkortes und bei der inhaltlichen und organi- Opferverbände im Vorfeld dieser Reform nicht ausrei- satorischen Betreuung. Das Denkmal für die ermordeten chend einbezogen wurden. Juden Europas ist zu einem der eindrucksvollsten Orte

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24445

Volker Beck (Köln) (A) unserer Hauptstadt geworden. Zu Recht zieht es Jahr für Lange Jahrzehnte haben in Deutschland NS-Verfolgte (C) Jahr zahlreiche Menschen an. aus bestimmten Opfergruppen darunter gelitten, dass sie im öffentlichen Gedenken nicht beim Namen genannt Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung ist herzlich für ihr großes Engagement zu danken, stellver- wurden, dass sie dabei immer wieder „vergessen“, in tretend für alle insbesondere dem Geschäftsführer, Herrn Wahrheit aber ausgrenzt wurden. Diese Phase sollte end- Uwe Neumärker. Es ist eine gute Entscheidung, dass der gültig vorbei sein. bisherige Geschäftsführer nach der Strukturreform der erste Direktor wird. Das unterstützen wir sehr nach- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: drücklich. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bündnis 90/Die Grünen unterstützt ausdrücklich die Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Erweiterung des Stiftungszweckes um die Betreuung des Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner entstehenden Denkmals für die im Nationalsozialismus Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12976, den ermordeten Sinti und Roma sowie des Denkmals für die Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, das 16/12230 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu vor einem Jahr der Öffentlichkeit übergeben wurde. Es ist liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die aber sehr schade, dass die Koalition nicht bereit war, aus Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt dieser Aufgabenerweiterung auch strukturelle Konse- für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/13002? – quenzen zu ziehen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan- trag ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion Wir beantragen deshalb, dass die Verbände, die das und die Fraktion Die Linke abgelehnt. Dagegen haben Sinti- und Roma-Denkmal wie das Homosexuellendenk- die übrigen Fraktionen des Hauses gestimmt. mal maßgeblich iniitiert haben und diese Bevölkerungs- gruppen repräsentieren, auch Sitz und Stimme im Ent- Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in scheidungsgremium der Stiftung, dem Kuratorium, der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand- erhalten sollen. Denkmalsbetreuung ist schließlich nicht zeichen. – Gegenstimmen? – Wer enthält sich? – Der allein eine technische Frage von Reinigung oder Instand- Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange- haltung, sondern beinhaltet auch gedenkpolitische Grund- nommen. satzentscheidungen zu den jeweiligen Gedenkorten. Dafür sollten aber die Verbände und Initiatoren, die das Denk- Dritte Beratung mal für die ermordeten Sinti und Roma und das Denkmal und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf für die verfolgten Homosexuellen gesellschaftlich tragen, mit am Entscheidungstisch sitzen und nicht von außen als stimmt, möge sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – (B) Bittsteller auftreten müssen. Das Kuratorium beschließt Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter (D) laut Stiftungsgesetz über alle grundsätzlichen Fragen, die Beratung einstimmig angenommen. zum Aufgabenbereich der Stiftung gehören. Nach der Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf: ausdrücklichen Aufgabenerweiterung ist es einfach un- angemessen, dass Sinti und Roma sowie Homosexuelle Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- draußen bleiben müssen. Mir ist es gänzlich unverständ- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes lich, warum man sie nicht dabei haben will. Mir ist zur Errichtung eines Sondervermögens „Vor- ebenso unververständlich, warum der Kulturstaatsminis- sorge für Schlusszahlungen für inflationsinde- ter und die Regierungsfraktionen nicht mit allen Beteilig- xierte Bundeswertpapiere“ (Schlusszahlungs- ten ein klärendes Gespräch über die Kuratoriumsfrage finanzierungsgesetz – SchlussFinG) geführt haben. Insbesondere diese Gesprächsverweige- rung grenzt an Missachtung. Diese Debatte kann mit der – Drucksache 16/12233 – Verabschiedung des heutigen Gesetzes nicht zu Ende Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- sein. ausschusses (8. Ausschuss) Eine offene Frage bleibt auch der Name der Stiftung. – Drucksache 16/12905 – Gewiss, Namen sollte man nicht leichtfertig ändern. Der bisherige Name ist gut eingeführt. Er bringt die weltge- Berichterstattung: schichtliche Einzigartigkeit des Verbrechens des Holo- Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme caust einprägsam auf den Punkt. Aber dennoch trägt er (Erfurt) nicht mehr der nun existierenden, veränderten Denkmals- Otto Fricke situation Rechnung. Dr. Gesine Lötzsch Ich bin nicht der Meinung, dass wir hier einen neuen Alexander Bonde Namen von oben dekretieren sollten. Namensänderungen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu sollte es nur im Einvernehmen geben. Mein Vorschlag ist diesem Tagesordnungspunkt ebenfalls zu Protokoll zu daher nach wie vor, dass sich der Kulturstaatsminister geben. Es handelt sich um die Reden der folgenden mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem Zen- Kolleginnen und Kollegen: Jochen-Konrad Fromme, tralrat Deutscher Sinti und Roma, dem Lesben- und Bernhard Brinkmann, Otto Fricke, Roland Claus und Schwulenverband und weiteren Interessierten zusammen- Alexander Bonde.1) setzt und im Gespräch Lösungsvorschläge für einen Stif- tungsnamen entwickelt, der der neuen Situation Rech- nung trägt. 1) Anlage 9 24446 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus- bauen, seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Die (C) schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Bundesanstalt nimmt gegenüber privatwirtschaftlichen Drucksache 16/12905, den Gesetzentwurf der Bundes- Unternehmen die Auftragsvergabe wahr. Dazu musste ein regierung auf Drucksache 16/12233 in der Ausschuss- Verwaltungsabkommen mit den Ländern geschlossen fassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzent- werden, es musste ein Vergabeverfahren durchgeführt wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte werden und die Bundesbehörde aufgebaut werden. Im ich um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- April 2007 hat die Bundesanstalt für den Digitalfunk ihre gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Arbeit aufgenommen. Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die Der Roll-out-Plan sieht vor, dass bis Ende 2010 rund Linke gestimmt. Enthalten hat sich die FDP. 90 Prozent des Digitalfunknetzes aufgebaut sind. Aktuell zeichnet sich ab, dass sich die Realisierung um andert- Dritte Beratung halb bis zwei Jahre verzögern wird. Auch wenn es hier und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen – leider wieder einmal – zu Verzögerungen kommen kann, wollen, mögen sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – gilt: Es ist zwar wichtig, dass wir die Digitalfunktechno- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Bera- logie möglichst schnell einsetzen können – noch wichti- tung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor ange- ger ist aber, dass sie zuverlässig funktioniert. Störungen nommen. des Funknetzes können schwerwiegende Folgen für die öffentliche Sicherheit und speziell für die Einsatzkräfte Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 35 auf: haben. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Die wesentlichen Änderungen, die wir heute am Ge- Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die setz über die Errichtung der Bundesanstalt für den Digi- Errichtung einer Bundesanstalt für den Digi- talfunk beschließen, betreffen genau diesen Punkt: Zuver- talfunk der Behörden und Organisationen mit lässigkeit, Leistungsfähigkeit und Sicherheit bei der Sicherheitsaufgaben (BDBOS-Gesetz) eingesetzten Technik. – Drucksache 16/12594 – Die Beschaffung von Endgeräten für den Digitalfunk liegt nicht im Aufgabenbereich der Bundesanstalt, son- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- dern wird dezentral von Bund und Ländern vorgenom- schusses (4. Ausschuss) men. Deshalb ist ein klarer rechtlicher Rahmen not- – Drucksache 16/12914 – wendig, mit der die Bundesanstalt sicherstellen kann, (B) dass die von den zuständigen Bundes- und Landesstellen (D) Berichterstattung: angeschafften Endgeräte und Funkgeräte die für den Abgeordnete Clemens Binninger störungsfreien Betrieb des Netzes notwendigen Leis- Gerold Reichenbach tungsmerkmale haben. Daher steht im Zentrum des vor- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) liegenden Gesetzentwurfs die Zertifizierung von End- Ulla Jelpke geräten durch die Bundesanstalt für den Digitalfunk – Silke Stokar von Neuforn geregelt in dem neuen § 15 a bis c BDBOS-Gesetz. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um Die technische Überprüfung der Funkgeräte wird zu- die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens künftig durch sachverständige Prüfstellen vorgenommen. Binninger, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff, Jan Auf der Grundlage der Prüfberichte und verschiedener Korte und Silke Stokar von Neuforn. Nachweise entscheidet die Bundesanstalt für den Digital- funk auf Antrag des Herstellers oder Lieferanten, ob ein Zertifikat vergeben wird und das Gerät damit zugelassen Clemens Binninger (CDU/CSU): ist. Ein solches Zertifikat wird dann Voraussetzung dafür Sicherheit zu gewährleisten gehört zu den vornehms- sein, dass Funkgeräte im BOS-Digitalfunknetz eingesetzt ten Aufgaben des Staates überhaupt. Zu diesem Feld zählt werden dürfen und entsprechend dezentral angeschafft auch die Sicherheitsinfrastruktur. Die Polizeien, die Feu- werden. Übergangsregelungen ermöglichen eine schritt- erwehren, die Rettungsdienste und die übrigen Sicher- weise Migration zu Funkgeräten mit Zertifikat. Die Ein- heitsbehörden in Deutschland benötigen für ihre wichtige zelheiten des Zertifizierungsverfahrens und der Inhalt der und nicht selten auch gefährliche Arbeit eine einwand- Zertifikate werden in einer Verordnung geregelt, die im freie und technisch moderne Ausstattung und Infrastruk- Grundsatz vom Bundesinnenministerium erlassen wird. tur. Dazu gehört ein modernes und leistungsfähiges Auch wenn hier keine formale Einbeziehung der Länder Funknetz, wie es im Augenblick mit dem Digitalfunk in bei der Gestaltung der Verordnung vorgesehen ist, halte Deutschland aufgebaut wird. ich es für wichtig, dass die zuständigen Landesbehörden Im Jahr 2006 hat der Gesetzgeber mit dem Beschluss auf der Arbeitsebene ausreichend einbezogen werden und für die Einrichtung der Bundesanstalt für den Digitalfunk bei der Zertifizierung und der Festlegung von Standards der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf- eingebunden werden. Ich will noch einmal daran erin- gaben den Startschuss für ein modernes Funknetz in nern: Das Projekt „Digitalfunk BOS“ ist eine gemein- Deutschland gegeben. Die Bundesanstalt hat die Auf- same Aufgabe von Bund und Ländern; daran muss sich gabe, für Bund und Länder den Digitalfunk BOS aufzu- die Zusammenarbeit der beteiligten Stellen orientieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24447

Clemens Binninger (A) Landesweite, auf dem sogenannten TETRA-Standard Organisationen, die die Endgeräte beschaffen, auch in (C) basierende Funknetze errichten auch andere europäische Anbetracht der Gerätekosten. Wir wollen keine Monopol- Staaten wie Österreich, Schweden, Norwegen und Däne- stellung eines einzelnen Anbieters mit allen Marktverzer- mark. Das deutsche Digitalfunknetz, das wir zukünftig ei- rungen, die sehr wohl bekannt sind. Wir verpflichten die ner halben Million Mitarbeitern von Polizei, Feuerwehr, Hersteller, die eine Zertifizierung anstreben, dazu, zwei Rettungsdiensten und weiteren Sicherheitsbehörden zur Endgeräte unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, die von Verfügung stellen werden, ist das weitaus größte Projekt unabhängigen, externen Testplattformen geprüft werden. seiner Art. Dies gilt nicht für die Hersteller von mobilen oder statio- nären Funkleitstellen. Weil diese Anlagen hohe Stück- Die Einführung des Digitalfunks bedeutet für unser preise haben, hätte dies für die Zertifizierungswilligen Land einen Zugewinn an innerer Sicherheit. Mit dem vor- unverhältnismäßig hohe Kosten zur Folge, die sich nicht liegenden Gesetz tragen wir dazu bei. marktkonform auf den Verkaufspreis umlegen ließen. Bei den Endgeräten fällt dies wegen der geringeren Stück- Gerold Reichenbach (SPD): preise und den höheren Marktchancen dagegen kaum ins Das heute vorliegende Gesetz zur Änderung des Geset- Gewicht. zes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Durch einen Änderungsantrag haben die Koalitions- Sicherheitsaufgaben ist ein weiterer Schritt bei der fraktionen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sicher- schwierigen und sich zäh gestaltenden Aufgabe, das in gestellt, dass bei kleineren Veränderungen keine aufwen- Deutschland bereits bestehende integrierte BOS-Funk- digen Folgezertifizierungen notwendig sind. Nur bei netz von der analogen in die modernere digitale Funk- Änderungen, die wesentlich sind, die also Auswirkungen technik zu überführen. Die Gesetzesänderung ist notwen- auf Betriebs- und Funktionsfähigkeit haben muss nach- dig, weil das Großprojekt – seit der Verabschiedung des zertifiziert werden. Für unwesentliche Änderungen, also dafür zuständigen Gesetzes im Juni 2006 – nun in ein Sta- zum Beispiel im Design, gilt dies nicht. Die konkrete Un- dium getreten ist, in dem wir endlich die Voraussetzungen terscheidung trifft letztlich die Bundesanstalt innerhalb für die Beschaffung der Endgeräte festzulegen haben. einer Frist von drei Monaten. Entscheidend für die Realisierung und auch die künf- Des Weiteren stellen wir mit der Gesetzesänderung tige Weiterentwicklung des BOS-Funknetzes ist, dass ent- noch einmal klar, dass die Bundesanstalt für den Digital- sprechende Endgeräte von den Herstellern angeboten funk der Behörden und Organisationen mit Sicherheits- werden und sich ein entsprechender Markt entwickelt. aufgaben ausschließlich in öffentlichem Interesse tätig Dabei wollen wir einerseits einen breiten Wettbewerb bei wird. (B) den Endgeräten gewährleisten. Das ist einer der Gründe, Weil die Debatte über den Digitalfunk angesichts der (D) warum wir Netz- und Systembetrieb getrennt vergeben drohenden weiteren Verzögerungen und Kostensteigerun- und dafür gesorgt haben, dass die Schnittstellen zu den gen erneut aufflammt, lassen Sie mich anlässlich der heu- Endgeräten offengelegt werden müssen. tigen Gesetzesberatung noch zwei grundsätzliche Fest- Andererseits müssen wir als Gesetzgeber darauf ach- stellungen treffen: Erstens. Unbefriedigend ist, dass sich ten, dass eine sicherheitsrelevante Infrastruktur wie der erneut herausstellt, dass der bereits mehrfach in die BOS-Digitalfunk die notwendigen Sicherheitsstandards Länge gezogene Zeitplan für den Aufbau des flächende- einhält. Die von den Nutzern dezentral beschafften und ckenden BOS-Digitalfunks wieder nicht eingehalten wer- verwendeten Endgeräte müssen störungsfrei und inter- den kann. Entsprechend unserer föderalen Struktur im operabel mit den sonstigen Komponenten des Digital- Sicherheitsbereich müssen wir diesen Prozess kontinuier- funknetzes und mit anderen Endgeräten eingesetzt wer- lich mit einer Vielzahl von Aufgabenträgern abstimmen: den können. Zudem müssen die Endgeräte bestimmte mit dem Bund, den Ländern und auf den jeweiligen Ebe- elektromagnetische und mechanische Eigenschaften so- nen unter den Behören und Organisationen in der polizei- wie bestimmte Anforderungen an die Bedienbarkeit erfül- lichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. Das er- len. Deshalb muss es eine Zertifizierung der Endgeräte weist sich stellenweise immer noch als zäh, zumal die geben. einzelnen Länder unterschiedlich und unterschiedlich schnell vorgehen. Allerdings können wir uns auch nicht Sie ist zum einen wichtig für die Benutzer. Sie müssen – wie manche Neunmalkluge immer wieder suggerieren – sich im Ernstfall, in dem es durchaus um Menschenleben mit vermeintlich erfolgreicheren Nachbarländern ver- gehen kann, darauf verlassen können, dass die beschaff- gleichen. Dort wurde der Digitalfunk bisher entweder als ten Geräte technisch und funktionell alle Anforderungen Insellösung oder als Teilfunknetz angelegt. Erst jetzt wer- erfüllen und störungsfrei betrieben werden können. den auf dieser Basis integrierte Gesamtlösungen geplant. Sie ist aber auch wichtig für die Hersteller, um sie vor Wir müssen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern, unlauterem Wettbewerb zu schützen. Eine unabhängige den kommunalen Gebietskörperschaften und den jeweili- Zertifizierung durch die Bundesanstalt bietet für beide gen Organisationen der polizeilichen und nichtpolizeili- diese Sicherheit. chen Gefahrenabwehr ein bereits bestehendes integrier- tes Netz komplett transferieren. Der Verzicht auf den Nicht zuletzt dient eine unabhängige, allgemeine Zer- einheitlichen Ausbau eines Kernnetzes durch den Bund tifizierungsmöglichkeit auch der Vielfalt und Konkurrenz und der steigende Koordinierungsbedarf tun ein Übriges. auf dem Markt. Konkurrenz bei Preis und Qualität ist Zum Zweiten: Beunruhigend sind die stark steigenden wichtig für die kommunalen Gebietskörperschaften und Kosten, die die ursprünglichen Ansätze jetzt schon erheb-

Zu Protokoll gegebene Reden 24448 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Gerold Reichenbach (A) lich übersteigen. Die Zahlen, die jetzt gehandelt werden, endlich eine modernere Funktechnik für die Erfüllung ih- (C) sind ein Vielfaches dessen, was ursprünglich beim Aufbau rer schwierigen Aufgaben zu Verfügung steht. des Kernnetzes durch die DB-Telematik in Rede stand. Damals führte der Aufschlag von 500 Millionen Euro Darum sollten wir die jetzige Gesetzesänderung nicht dazu, dass der DB-Telematik das Gesamtprojekt entzogen in Haftung für andere Debatten nehmen. Ich bitte um ihre wurde, und zwar mit der Begründung: zu teuer. Inzwi- Zustimmung. schen haben wir das Mehrfache der damals in Rede ste- henden Kostensteigerung erreicht. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Wir erinnern uns, dass der Bund unter Rot-Grün zuge- Wir brauchen schnellstmöglich den Digitalfunk in sagt hatte, das Kernnetz zu finanzieren. Das entspricht Deutschland. Das Projekt ist zu wichtig, als dass sein 50 Prozent des gesamten Netzes, und das obwohl der Scheitern auf Dauer riskiert werden darf. Bund weniger als 10 Prozent der Nutzer stellt. Mit diesem Gegenstand des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes ist „unausschlagbaren“ Angebot, das einem Kostenteil des insbesondere die Einführung einer Vorschrift zur Zertifi- Bundes von rund 30 Prozent entsprach, hatte der dama- zierung von Endgeräten durch die Bundesanstalt für lige Bundesminister Schily das Kostenkarussell zwischen Digitalfunk. Die technische Überprüfung verbleibt Bund und Ländern beenden und endlich den Weg für den grundsätzlich bei sachverständigen Prüfstellen. Die End- Digitalfunk frei machen können. abnahme soll durch die Bundesanstalt durchgeführt wer- Die Länder und Innenminister Wolfgang Schäuble ha- den. Eine Zertifizierung soll dann erteilt werden, wenn ben dann von dem Modell es Ausbaus des Kernnetzes die zwingend erforderlichen Leistungsmerkmale vorhan- durch den Bund mithilfe eines einheitlichen Dienstleisters den sind, das Gerät nicht gegen andere öffentlich-recht- Abstand genommen, unter anderem mit Verweis auf die liche Vorschriften verstößt und der Erteilung des Zertifi- avisierte Kostensteigerung von 500 Millionen Euro. Da- kats keine überwiegenden öffentlichen Interessen, gegen wurde – vereinfacht dargestellt – vereinbart, dass insbesondere sicherheitspolitische Belange der BRD, ent- der Bund zwar mit der Bundesanstalt die Verantwortung gegenstehen. für die Koordinierung und die Gesamtnetzplanung über- Die FDP-Bundestagsfraktion macht sich bereits seit nehmen soll, die Länder aber in ihrem Bereich den Ge- Jahren für die Einführung des Digitalfunks stark. Aller- samtausbau des Netzes eigenständig vornehmen können, dings hatte sie sich bereits bei der Errichtung einer Bun- wobei sie dies auch wahlweise der Bundesanstalt über- desanstalt für Digitalfunk enthalten, da grundsätzlich die tragen können. Das wurde damals von allen Beteiligten Notwendigkeit einer Behördenlösung in diesem Bereich als kostengünstigere und schnellere Lösung gefeiert. Die (B) zweifelhaft ist. Alternativen hatte die Bundesregierung (D) Realität sieht heute leider ganz anders aus. Es ist nicht nicht ernsthaft geprüft. Diese Kritik wirkt auch jetzt fort, redlich, alle Probleme die jetzt im Projekt- und Kosten- vor allem, wenn ich über das Kostencontrolling und die management entstehen, dem Vorgängerminister in die Informationspolitik der Bundesregierung nachdenke. Schuhe zu schieben und jegliche Verantwortung für die jetzige – für uns alle unbefriedigende Situation – von sich Innerhalb des Bundesrates wurde Kritik daran geäu- zu weisen. Im Gegenteil: Wir müssen aufpassen, dass das ßert, dass die Mitspracherechte der Länder bei der Fest- von Innenminister Schäuble mit den Ländern vereinbarte legung des Zertifizierungsverfahrens und des Inhalts der jetzige Vorgehen nicht zu einem reinen Optionsmodell Zertifikate zu gering seien. So solle die Zertifizierungs- wird, bei dem alle Kostenrisiken auf den Bund abgewälzt verordnung des BMI nicht der Zustimmung des Bundes- werden. Denjenigen, die jetzt die Kostensteigerungen als rates bedürfen. Da das Projekt Digitalfunk ein Gemein- Gelegenheit nutzen wollen, verlorene Schlachten erneut schaftsprojekt von Bund und Ländern ist, muss dies zu schlagen und nach einer Privatisierung hoheitlicher tatsächlich kritisch hinterfragt werden. Aufgaben in Form einer Konsortiumslösung zu rufen, möchte ich nur das Beispiel Maut entgegen halten. Es Das bisherige Auftrags- und Vergabeverfahren der kann nicht die Rede davon sein, dass diese Lösung kos- Bundesregierung für den BOS-Digitalfunk ist unverant- tengünstig sei oder gewesen wäre. Das vorliegende Ge- wortlich und undurchsichtig. Die dringend erforderliche setz ist notwendig, um die Voraussetzung für die Zertifi- Einführung wurde unnötig verzögert und verteuert. Der zierung und damit die Markteinführung und Beschaffung ursprünglich geplante Weg, über eine Dienstleistungs- der Endgeräte zu schaffen. Die Bundesländer, die Ge- ausschreibung das Digitalfunknetz zu errichten, wurde meinden, aber insbesondere die Nutzer warten darauf un- von der Bundesregierung Ende Januar 2005 verlassen. geduldig; nicht zuletzt auch deshalb, um endlich Der Betrieb wurde ohne Ausschreibung an die Bahntoch- marktreife Geräte und verlässlichere Zahlen für ihre Pla- ter DB-Telematik vergeben – einfach so mit einem telege- nungen zu erhalten. Wir stehen ohnehin im Verzug. nen Handschlag von und Herrn Mehdorn. Und dann passierte Folgendes: Für den Betrieb des BOS- Die Frauen und Männer, die bei den Behörden und Or- Digitalfunks legte die DB-Telematik am 31. Juli 2006 ein ganisationen mit Sicherheitsaufgaben, bei den Polizeien, Angebot in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vor. Der im den Feuerwehren, den Hilfsorganisationen und beim Haushalts- und Finanzplan für den Bund veranschlagte THW sich täglich für unser aller Sicherheit einsetzen und Kostenrahmen beträgt aber nur rund 1,1 Milliarden dabei oft Risken für Leib und Leben in Kauf nehmen, ha- Euro. Jetzt ist eine erneute Kostensteigerung um rund ben nicht nur unser aller Dank dafür verdient, sie haben 1 Milliarde Euro bekannt geworden. Die Kosten für den auch Anspruch darauf, dass wir alles tun, damit ihnen Bund betragen jetzt inzwischen fast das Dreifache.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24449

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Die Kostenentwicklung wie die Gesamtumstände der an Funkgeräten. Das ist ein Schildbürgerstreich ohne (C) Digitalfunkeinführung in Deutschland sind skandalös. Beispiel. Das Vorgehen der Regierung ist so peinlich, Die Rolle der Minister Schily und Schäuble ist mit „un- dass man sich sogar als Oppositionspolitiker für die Ko- durchsichtig“ noch sehr behutsam ausgedrückt. Obwohl alitionsmehrheit fremdschämen muss. Neben den Knoten die Bundesregierung immer wieder das Gegenteil be- in der Sicherheitskommunikation gehört deshalb auch hauptet, ist der Eindruck unabweisbar, dass die Kosten das Fremdschämen aufgehoben. für den Steuerzahler als eine zu vernachlässigende Größe angesehen werden. Ein wirksames Controlling fehlt. Nun will die Bundesregierung mit ihrer heute vorlie- genden Gesetzesänderung ihr eigenes Gesetz von 2006 Die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der nachbessern. Plötzlich werden Kritikpunkte an der zu- Bundesregierung ist durch ein hohes Maß an Intranspa- ständigen Bundesanstalt, die erst 2007 eingerichtet renz und Undurchsichtigkeit geprägt. Gegen daraus re- wurde, aufgegriffen, welche die Opposition bereits zum sultierende Mutmaßungen und Verdächtigungen helfen damaligen Zeitpunkt öffentlich machte. Es bleibt aber da- nur Offenheit und Transparenz. Die Finanzierung des ge- bei: Der Nachbesserungsversuch der Regierung ist ein samten Projekts für den Bund, aber auch die Finanzie- hilfloser Versuch, denn nun, nachdem die Bundesländer rungsbedingungen für jedes einzelne Bundesland sind bereits Geräte für den Digitalfunk angeschafft haben, völlig aus dem Blick geraten. Ein Vertrag zulasten Dritter, stellt die Regierung fest, dass die Bundesanstalt mit der zulasten der Länder ist unzulässig. Zertifizierung und der Prüfung der Geräte auf länder- übergreifende und störungsfreie Nutzung und Kompatibi- Die FDP hat erhebliche Bedenken gegen die Art und lität hin überfordert ist. Deshalb soll es zukünftig möglich Weise, wie die Bundesregierung die Einführung des Digi- sein, diese Aufgaben abzugeben, das heißt externe Prüf- talfunks betreibt. Das unklare und intransparent wir- stellen damit zu betrauen. Mit der Änderung des von § 13 kende Vergabeverfahren zum Digitalfunk hat bislang ne- Abs. 2 BDBOS-Gesetz sollen gleichzeitig der Bundesan- ben immensen Kosten nur grandiose Zeitverzögerungen stalt zusätzliche Befugnisse gegenüber Behörden anderer verursacht. Bundesministerien übertragen werden. Wir sollten im Interesse der Sicherheit der Bürger, Ganz schlau ist im Übrigen auch, dass die Bundesre- aber auch der Haushaltslage schnellstmöglich die beste, gierung jetzt – über den neuen § 15 b und c – drei Jahre aber auch wirtschaftlichste Technik in Deutschland um- nach Gesetzeseinführung und zwei Jahre nach der Ein- setzen. Und wir wollen, dass alle Entscheidungen nach- richtung der Bundesanstalt definiert, wie die Zertifizie- vollziehbar und transparent sind. Denn an dem, was und rungsverfahren und Einzelheiten des Zertifikats auszuge- wie bislang in diesem Zusammenhang entschieden stalten sind. Der Opposition hätte die Große Koalition wurde, sind erhebliche Zweifel angebracht – sachlich, (B) bei einem Gesetzentwurf, welcher derart viele Defizite (D) rechtlich und finanziell. aufweist, jedwede politische Kompetenz abgesprochen.

Jan Korte (DIE LINKE): Bis heute ist die Bundesanstalt ihrer eigentlichen Auf- Wir debattieren heute über eine Gesetzesänderung, gabe nicht nachgekommen. Laut Gesetz hat die Bundes- vorgeschlagen durch die Bundesregierung, zu einem Ge- anstalt die Aufgabe, im Öffentlichen Interesse ein bundes- setz, das die Regierung selber vor kaum drei Jahren durch weit einheitliches digitales Sprech- und Datenfunksystem das Parlament gedrückt hat. Die Rede ist vom Gesetz zur für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufga- Einrichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der ben aufzubauen, zu betreiben und seine Funktionsfähig- Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben. keit sicherzustellen“. Weder wurde bis heute ein solches System aufgebaut, noch ist die Funktionsfähigkeit ge- Bereits in den Debatten 2006 hat sich die Fraktion Die sichert; denn die Kompatibilität der bisher angeschafften Linke gegen die Einrichtung einer solchen Bundesanstalt Geräte und der Aufbau der notwendigen Funkmasten ste- ausgesprochen, jedoch nicht, wie uns aus der Koalition hen weiter in den Sternen. immer wieder vorgeworfen wurde, weil wir gegen eine über die Ländergrenzen hinweg funktionierende Kommu- Der Digitalfunk in Deutschland ist ein weiteres Mil- nikation beispielsweise zwischen den Feuerwehren, dem lionengrab der Großen Koalition. Die daraus folgenden Katastrophenschutz oder der Polizei waren. Im Gegen- Kommunikationsschwierigkeiten von Sicherheitsbehör- teil, wir, Die Linke, sprechen uns seit langem dafür aus, den verschärfen die Sicherheitslage in Deutschland. Die die vorsintflutartigen Kommunikationsmittel auf analo- Linke wird der Gesetzesänderung nicht zustimmen und ger Basis durch digitales Gerät auszutauschen. Seit Jah- fordert die Regierung auf, endlich im Sicherheitsinteresse ren wird nun an Geräten, Funkmasten und Zertifizierun- der Bürgerinnen und Bürger zu handeln. gen für diese herumgedokter – ohne messbaren Erfolg. Die bundesweite Inbetriebnahme des Digitalfunks steht Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE aus und wird wohl noch einige Jahre auf sich warten las- GRÜNEN): sen. Ein deutsches Novum in der europäischen Sicher- Der BOS-Digitalfunk kommt später, und er wird we- heitsarchitektur! Da werden Datenbanken aufgebaut, sentlich teurer als bislang geplant – das ist die zweifach millionenfach Personendaten ausgespäht, auf Vorrat schlechte Botschaft, die sich hinter diesem Gesetzentwurf gesammelt und international weitergegeben, Geheim- verbirgt. Was ganz Europa kann, bringt das Hightechland dienste und Militär in die Polizeiarbeit eingebunden, der Deutschland mit seinem föderalen Wahnsinn nicht zu- Kampf gegen den Terrorismus medienwirksam inszeniert, stande, und ich kann dieser Bundesregierung noch nicht und woran krankt unsere Sicherheitsarchitektur wirklich: einmal die alleinige Schuld in die Schuhe schieben.

Zu Protokoll gegebene Reden 24450 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Silke Stokar von Neuforn (A) Wir erinnern uns noch an das großspurige Verspre- tionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die (C) chen von Otto Schily: Der Digitalfunk kommt pünktlich Linke gestimmt. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die zur Fußball-WM 2006. Dann gab es Alleingänge des ehe- Grünen und FDP. maligen Bundesinnenministers, Verträge per Handschlag und einen festgefahrenen Konflikt mit allen Bundeslän- Dritte Beratung dern, die nun einmal zu beteiligen sind, weil es bei der und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge Föderalismusreform I nur um das BKA ging und nicht da- sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – rum, dass der Aufbau eines einheitlichen, bundesweiten Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem glei- Digitalfunks als Aufgabe des Bundes definiert wird. Jetzt chen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen. haben wir eine schwerfällige Bund-Länder-Behörde, die mit der Bewältigung dieses Großprojektes schon auf- Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 36 auf: grund ihrer Organisationsstruktur überfordert ist. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- Nach Presseberichten – „Handelsblatt“ vom 6. Mai; gelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver- der Sachstandsbericht liegt den Mitgliedern des Innen- schreibungen aus Gesamtemissionen und zur ausschusses nicht vor – sind die Gesamtkosten um verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprü- 30 Prozent auf 3,625 Milliarden Euro gestiegen, die Ein- chen von Anlegern aus Falschberatung führung verzögert sich nach derzeitigem Stand bis 2012. Es werden mehr Funkstationen gebraucht als ursprüng- – Drucksache 16/12814 – lich geplant, und in der Bevölkerung gibt es ganz offen- Überweisungsvorschlag: sichtlich Widerstand gegen immer neue Sendemasten, de- Rechtsausschuss (f) ren Strahlung nicht genau eingeschätzt werden kann. Die Finanzausschuss unendliche Geschichte der Einführung des BOS-Digital- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und funks in Deutschland wird auf jeden Fall weiter geschrie- Verbraucherschutz ben, und bis dahin funken wir weiter analog oder bauen Zu Protokoll gegeben haben hier ihre Reden die parallel Insellösungen auf und ab. Kolleginnen und Kollegen Marco Wanderwitz, Klaus Uwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Sevim Dağdelen, Es ist prima, dass die Bundesregierung jetzt beginnt, Dr. Gerhard Schick und der Parlamentarische Staatsse- verbindliche Standards zu setzen, und ich kann nur hof- kretär Alfred Hartenbach.1) fen, dass die Länder, inklusive Bayern, hier zustimmen können. Die Klarstellung, dass die BDBOS ihre Aufgaben Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt wurfs auf Drucksache 16/12814 an die in der Tagesord- (B) und die vorgesehene Klärung der Zuständigkeiten auf, nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu (D) dem Gebiet der Versorgung sind Selbstverständlichkei- gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so be- ten, die nicht erneut eine Welle der Debatte auslösen soll- schlossen. ten. Dass es eine Zertifizierung der Endgeräte geben Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 37 auf: muss, sollte auch für alle nachvollziehbar sein. Erste Beratung des von den Abgeordneten Sibylle Wir haben gegen diese Änderungen keine Einwände. Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad Wir sind allerdings nicht bereit, die Verantwortung für Schily und weiteren Abgeordneten eingebrachten weitere Kostensteigerungen und Verzögerungen mit zu Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des übernehmen. Es mangelt an Transparenz gegenüber dem Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der Genital- Parlament, und es ist den Abgeordneten kaum möglich, verstümmelung hier gestaltend einzugreifen. Der Murks beim BOS-Digi- talfunk ist der Murks der Innenminister. Otto Schily – Drucksache 16/12910 – wollte seinen Alleingang, und Schäuble geht den falschen Überweisungsvorschlag: Weg weiter. Für das Projekt BOS-Digitalfunk lehnen wir Rechtsausschuss (f) die Mitverantwortung ab. Beim Gesetzentwurf der Bun- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit desregierung enthalten wir uns, weil einige Regelungen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe durchaus vernünftig sind, aber insgesamt das verkorkste Verfahren damit nicht gerettet werden kann. Der BOS- Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Ute Digitalfunk braucht eine Evaluierung, ein transparentes Granold, Christine Lambrecht, Sibylle Laurischk, Kosten-Controlling und eine Neuausrichtung. Dr. Kirsten Tackman und Irmingard Schewe-Gerigk.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ute Granold (CDU/CSU): Wir diskutieren heute in erster Beratung einen Gesetz- Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss entwurf zur Strafbarkeit von Genitalverstümmelungen. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Der Gesetzentwurf sieht vor, die Genitalverstümmelung che 16/12914, den Gesetzentwurf der Bundesregierung bei Mädchen und Frauen als Fall der schweren Körper- auf Drucksache 16/12594 in der Ausschussfassung anzu- verletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Zudem nehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- soll die Verjährung der Strafbarkeit erst mit Vollendung schussfassung zustimmen wollen, mögen bitte die Hand heben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak- 1) Anlage 10 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24451

Ute Granold (A) des 18. Lebensjahres des Opfers einsetzen. Mittels einer schärfung mit ihrer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jah- (C) Ergänzung der Vorschriften zur Auslandsstrafbarkeit soll ren ausländerrechtlich stets die Ausweisung der Täter außerdem sichergestellt werden, dass die Genitalver- – also insbesondere der Eltern oder anderer Familien- stümmelung bei einem lediglich vorübergehenden Auf- angehöriger – zur Folge hätte. Für die betroffenen Opfer enthalt außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik dem wäre deshalb nach eigener Aussage die Strafverschär- deutschen Strafrecht unterliegt. fung wegen der damit verbundenen Regelausweisung keine Lösung. Es besteht daher aus unserer Sicht die Ge- Ich möchte zunächst feststellen: Die Union unterstützt fahr, dass eine Strafverschärfung sogar kontraproduktiv ausdrücklich das Anliegen, Mädchen und Frauen besser wirkt: Sie könnte die Opfer wegen der damit verbundenen vor Genitalverstümmelungen zu schützen. Die Genital- Ausweisung ihrer Familienangehörigen von einer An- verstümmelung stellt eine schwere Menschenrechtsver- zeige abhalten. Dies kann von uns nicht gewollt sein. letzung und Diskriminierung der betroffenen Mädchen und Frauen dar, die auch mit Blick auf einen etwaigen be- Was die angesprochene Symbolwirkung einer erwei- sonderen kulturellen oder religiösen Hintergrund unter terten Strafbarkeit angeht, so teile ich die Einschätzung, keinen Umständen toleriert werden kann. dass leider einem beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit immer noch das Bewusstsein der Strafbarkeit von Geni- Die Koalition hat sich der Problematik der Genitalver- talverstümmelungen fehlt. Es ist allerdings auch festzu- stümmelung bereits seit langem angenommen und den stellen, dass sich in diesem Bereich in den vergangenen Antrag „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümme- Jahren schon vieles zum Positiven entwickelt hat. Den lung von Mädchen und Frauen“ mit einem 20-Punkte- Menschen ist inzwischen weitgehend bekannt, dass es Plan eingebracht, der im Juni letzten Jahres vom Bundes- – auch hierzulande – Genitalverstümmelungen gibt. Auch tag verabschiedet wurde. Darin wird eine Reihe von Maß- müsste sich in den relevanten Migrantengruppen mittler- nahmen genannt, die aus unserer Sicht erforderlich sind, weile die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass unsere um Mädchen und Frauen wirksamer vor Genitalverstüm- Rechtsordnung diese menschen- und frauenverachtenden melungen zu schützen. Praktiken nicht duldet. Hier hat die vielfältige Aufklä- Die zentrale Forderung des heute zur Beratung anste- rungsarbeit seitens des Staates und privater Organisatio- henden Entwurfs zielt auf die Schaffung eines eigenen nen bereits zu einer Veränderung in den Köpfen der Men- Straftatbestandes hin. Zur Begründung wird angeführt, es schen geführt. sei unklar, ob eine Genitalverstümmelung den Straftatbe- Unabhängig von der Frage der strafrechtlichen Be- stand der schweren Körperverletzung erfülle. Deshalb sei wertung werden wir unsere Anstrengungen in diesem Be- die vorgeschlagene Gesetzesänderung notwendig. Mit reich weiter forcieren. Die Bundesregierung setzt sich be- der ausdrücklichen Erfassung als schwere Körperverlet- reits seit Jahren kontinuierlich für die Bekämpfung der (B) zung und der damit verbundenen Strafandrohung werde (D) Genitalverstümmelung ein. So ist etwa der Aktionsplan II der besondere Unrechtsgehalt dieser Tat erfasst. Eine zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vom Septem- Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung würde ber 2007 zu nennen. Die Koalition hat mit ihrem Antrag hingegen den schlimmen Folgen für die Opfer nicht hin- aus dem vergangenen Jahr nun eine Reihe weiterer wich- reichend Rechnung tragen. tiger und guter Maßnahmen beschlossen, die es jetzt um- Es dürfte weitestgehend unstreitig sein, dass die Geni- zusetzen gilt. talverstümmelung, da sie in der Regel mit einem Messer, So wollen wir durch entsprechende Öffentlichkeitsar- Skalpell oder ähnlich scharfem Gegenstand geschieht, beit darauf hinwirken, dass die Strafbarkeit der Verstüm- schon jetzt nicht nur eine einfache Körperverletzung dar- melung weiblicher Genitalien als Körperverletzung der stellt, sondern in der Regel den Straftatbestand der ge- breiten Öffentlichkeit und insbesondere auch bei den Mi- fährlichen Körperverletzung nach § 224 des Strafgesetz- granten bzw. Migrantenorganisationen noch stärker be- buchs erfüllt. Mit Blick auf die damit verbundene kannt gemacht wird und sich hier ein entsprechender Höchststrafe von zehn Jahren Freiheitsentzug wäre eine Mentalitätswechsel vollzieht. Aufnahme in den Katalog der schweren Körperverlet- zung, wie hier vorgeschlagen, somit wegen des Strafma- Darüber hinaus – hierin sehen wir die zentrale He- ßes nicht erforderlich und im Übrigen auch nicht zu rausforderung – muss es uns gelingen, Mädchen und rechtfertigen. Frauen umfassend über ihre Rechte sowie Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten aufzuklären. Dabei wollen Soweit es jedoch um die unterschiedliche Mindest- wir auch die mit diesem Thema befassten Akteure – zum strafe geht, die bei der schweren Körperverletzung bei Beispiel Ärzte, Sozialarbeiter, Polizei und andere Behör- absichtlicher Verstümmelung der Genitalien drei Jahre den – weiter sensibilisieren und auch bei den Ländern und bei der gefährlichen Körperverletzung sechs Monate darauf hinwirken, dass sie die erforderliche Infrastruktur beträgt, gibt es ein Problem, auf das der vorliegende Ent- bereitstellen. Vordringlich sind dies Mädchen- und Frau- wurf nicht eingeht: Der Familienausschuss hat die Pro- enhäuser sowie Beratungsstellen. blematik der Genitalverstümmelung im Rahmen einer Anhörung im September 2007 intensiv erörtert. Es wur- Wir wollen zudem einen besonderen Schwerpunkt in den nicht nur Experten, sondern auch Betroffene ange- die Aufklärung und Prävention bei der Vergabe von For- hört. Die Koalition hat sich nach dieser Anhörung be- schungsaufträgen setzen. Dazu zählt auch eine Evaluie- wusst gegen einen eigenen Straftatbestand entschieden. rung von sogenannten Best Practices in Herkunftslän- Ausschlaggebend war hierfür vor allem der Einwand der dern und europäischen Migrationsländern. Gelingen uns Sachverständigen, dass die vorgeschlagene Strafver- dabei keine Fortschritte, sind alle gesetzlichen Maßnah-

Zu Protokoll gegebene Reden 24452 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Ute Granold (A) men reine Symbolpolitik, die den betroffenen Mädchen So beschäftigt uns das Thema „Kampf gegen die Ge- (C) und Frauen nicht helfen. Hier müssen wir also unsere nitalverstümmelung“ hier im Bundestag schon seit Jah- Prioritäten setzen. Das tun wir auch. ren. Es gab diverse Anträge von allen Fraktionen und eine öffentliche Anhörung zu dem Thema. Wir als Koali- Schließlich haben auch wir uns in unserem Antrag da- tionsfraktionen haben schließlich am 26. Juni 2008 einen für ausgesprochen, die Verjährungsfrist für Opfer, die sehr ausführlichen und dezidierten Antrag verabschiedet. zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig waren, zu verlän- Dies zeigt, dass dieses Thema nicht neu von einigen Ab- gern, sodass die Betroffenen auch noch nach dem Errei- geordneten, unter anderem der FDP, aufgegriffen wurde. chen der Volljährigkeit die Möglichkeit haben, selbst An- Wir haben uns mit allen Aspekten, die der Gruppenantrag zeige zu erstatten. In diesem Punkt stimmen wir mit dem aufwirft, bereits sehr ausgiebig und intensiv auseinander- vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich überein. gesetzt. Fälschlicherweise erweckt der Gruppenantrag den Eindruck, das Thema sei neu auf der Tagesordnung. Aus diesem Grund habe ich bereits gemeinsam mit dem Kollegen Arnold Vaatz die Bundesregierung – na- Über eine ausdrückliche Strafbewehrung als schwere mentlich die Justizministerin – aufgefordert, die Vorga- Körperverletzung haben wir immer wieder diskutiert. In ben des Bundestages umzusetzen und einen entsprechen- den Beratungen zu unserem Antrag haben wir uns aus gu- den Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei haben wir auch ten Gründen gegen die Einführung eines ausdrücklichen ausdrücklich um Prüfung gebeten, inwieweit eine Verlän- Straftatbestandes entschieden. Entgegen dem Gruppen- gerung der Verjährungsfrist auch ohne die Schaffung ei- antrag bestehen keine rechtlichen Unsicherheiten bei der nes eigenen Straftatbestandes für Genitalverstümmelung exakten strafrechtlichen Einordnung. Es gibt hier keine zu realisieren ist, und für den Fall, dass dies nicht geht, Strafbarkeitslücke. Für Mädchen und Frauen, denen die welche Lösungen sich aus rechtspolitischer Sicht erge- Genitalverstümmelung droht, gilt, dass Genitalverstüm- ben, um diese Forderung des Bundestages umzusetzen. melung bereits jetzt strafbar ist und in den meisten Fällen Eine Antwort bzw. den Gesetzentwurf erwarten wir in auch als gefährliche oder schwere Körperverletzung ge- Kürze. ahndet werden kann. Selbst bei einer Einwilligung des Vor diesem Hintergrund lehnen wir es – zumindest Mädchens oder der Frau zu dem Eingriff bleibt die Tat zum gegenwärtigen Zeitpunkt und wegen der noch aus- strafbar, da sie nach unserem Strafrecht gegen die guten stehenden rechtlichen Prüfung durch das Bundesjustiz- Sitten verstößt. Die Schaffung eines Straftatbestandes ministerium – ab, die Genitalverstümmelung als Fall der wäre daher ein rein symbolischer Akt. schweren Körperverletzung in das Strafgesetzbuch auf- Auch das Problem der Ferienbeschneidung ist straf- zunehmen. Schnellschüsse verbieten sich angesichts der rechtlich ausreichend erfasst. Das bestätigen die Antwor- (B) Sensibilität dieses Themas. ten der Bundesregierung auf entsprechende Anfragen, (D) Da uns als Union dieses Thema – vor allem auch im zum Beispiel in der Drucksache 14/6682 unter Frage 15. Interesse der betroffenen Mädchen und Frauen – sehr Die Unterstützer eines solchen Eingriffs, beispielsweise wichtig ist, drängen wir darauf, dass die noch offenen Verwandte, die in Deutschland leben, machen sich in die- rechtlichen Fragen zeitnah geklärt werden. Ich bin zuver- sem Fall als Beihelfer oder Mittäter schuldig. sichtlich, dass wir hier schon in Kürze einen eigenen Ge- In einer Strafrechtsänderung sehe ich zudem keine setzentwurf auf den Weg bringen werden. Problemlösung. Sie würde keinesfalls die Wurzel des Pro- blems beheben. Trotz der existierenden Strafbarkeit der Christine Lambrecht (SPD): Genitalverstümmelung gibt es bei uns bislang keine ein- Der hier behandelte Gruppenantrag beschäftigt sich zige Verurteilung. Es liegt das Problem vielmehr in der mit einem sehr wichtigen und ernst zu nehmenden Thema. Nachweisbarkeit einer solchen Straftat. Denn es werden Die Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschen- derzeit leider solche Vorgänge von niemandem aus dem rechtsverletzung und eine schwere Diskriminierung der Umfeld der Betroffenengruppe zur Anzeige gebracht. Frau. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes Unser Anliegen bei der Verabschiedung des Koali- und der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes – tionsantrags war es immer, für die Prävention von Geni- Menschenrechte für die Frau e.V.“ sind in Deutschland talverstümmelung gemeinsam mit den betroffenen Fami- etwa 30 000 Frauen und Mädchen von der Genitalver- lien an einem Unrechtsbewusstsein für diese lebenslan- stümmelung betroffen oder bedroht. gen Verstümmelungen ihrer Kinder zu arbeiten. So haben Richtig ist, dass der Eingriff weder mit Religion noch wir uns bereits mit unserem Koalitionsantrag für eine mit Tradition zu rechtfertigen ist. Auf der Grundlage in- verstärkte Öffentlichkeitsarbeit bei den entsprechenden ternationaler Verträge liegt auch unbestritten eine rechts- Migrantenorganisationen eingesetzt, die deutlich macht, verbindliche Verpflichtung Deutschlands vor, aktiv gegen dass die Genitalverstümmelung mit unserem Strafrecht die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland vor- geahndet wird und ein großes nicht wiedergutzumachen- zugehen. des Unrecht darstellt. Wir haben uns mit dem Koalitions- antrag für die Sensibilisierung von Polizei, Justiz, Leh- Leider vermengt der Gruppenantrag von Dr. Konrad rern und Ärzten eingesetzt, um für mehr Aufklärungs- und Schily aber das Anliegen, die Genitalverstümmelung zu Präventionsarbeit zu sorgen. In dieser Arbeit und ent- bekämpfen und diesen Frauen und Mädchen zu helfen, sprechenden Sensibilisierungskampagnen sehe ich den mit einer Reihe von Halbwahrheiten. Das ist schade. einzigen Lösungsansatz für das Problem.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24453

Christine Lambrecht (A) Für viel wichtiger als eine Strafrechtsverschärfung In Deutschland leben nach Schätzungen der Frauen- (C) halte ich eine Änderung des Ausländerrechts in der Form, rechtsorganisation Terre des Femmes rund 20 000 von dass es nicht zur Abschiebung der Eltern bzw. gefährde- Genitalverstümmelung betroffene und 4 000 bis 5 000 ten Mädchen im Fall einer Anzeige kommt. Bei Straftaten von genitaler Verstümmelung bedrohte Mädchen und in solchen Fällen kommt es auch deshalb nicht zur An- Frauen. Genitalverstümmelung ist in Deutschland also zeige, weil den Eltern mit ihren Kindern im Falle einer nicht etwas Exotisches, für deren Bekämpfung im Aus- Verurteilung die Ausweisung droht. land etwas getan werden muss, sondern sie ist auch bei uns existent. Um es klar zu sagen: Genitalverstümmelung Wir haben außerdem mit dem Koalitionsantrag be- schlossen, eine Verlängerung der Verjährungsfrist sicher- ist in Deutschland bereits strafbar; man wird es unter den zustellen, damit die Opfer ausreichend Zeit haben, solche Straftatbestand der Körperverletzung subsumieren müs- schrecklichen Verbrechen auch zur Anzeige zu bringen. sen. Jedoch unterliegt sie nach der bisherigen Rechtslage Hier besteht zutreffend Handlungsbedarf. Seitens des der bis zu zehnjährigen Verjährung. Der Bundestag hat Justizministeriums gibt es aber die Erklärung, dieses mit Beschluss vom 26. Juni 2008 die Bundesregierung auch zügig vorzubereiten. aufgefordert, sicherzustellen, dass die Verjährung bis zur Volljährigkeit der Betroffenen zu ruhen hat, also bis das Alle unsere Bemühungen und der Einsatz von Ärzten, Opfer das 18. Lebensjahr erreicht hat. Wir begrüßen die- Lehrern und Polizisten sowie Justiz zeigen, dass die sen Beschluss und nehmen das ureigene Recht des Parla- Wahrnehmung von Herrn Dr. Schily, die Genitalverstüm- ments wahr, diesen Beschluss Gesetz werden zu lassen. melung würde in der deutschen Politik verharmlost, völ- lig falsch ist. Durch einen symbolischen Akt der Straf- Wir können ein Ruhen der Verjährung bis zum Errei- rechtsverschärfung kommen wir dem Problem keinesfalls chen der Volljährigkeit der Betroffenen nicht anders re- bei. Setzen wir uns deshalb dafür ein, dass wir gemeinsam geln, als im materiellen Strafrecht einen ausdrücklichen mit den Migrantenorganisationen und den betroffenen Anknüpfungstatbestand zu schaffen, auf den sich § 78 Familien weiter an einem Unrechtsbewusstsein arbeiten, StGB beziehen kann. Von meiner bisherigen Ablehnung damit diese Straftaten in Zukunft zur Anzeige kommen einer ausdrücklichen Strafbarkeit bin ich daher abge- und geahndet werden können. rückt. Die Auslandsstrafbarkeit von im Inland lebenden Tä- Sibylle Laurischk (FDP): tern oder Betroffenen soll sogenannte Ferienbeschnei- Dieser Gruppenantrag hat eine lange Vorgeschichte. dungen ahnden und ein strafloses Ausweichen in die Her- Zuletzt haben wir uns im Juni letzten Jahres mit der Ge- kunftsländer unmöglich machen. nitalverstümmelung befasst. Er ist das Ergebnis einer An- (B) hörung vor dem Familienausschuss und langer inner- Für die Aufnahme eines ausdrücklichen Straftatbe- (D) und interfraktioneller und fachlicher Diskussionen. Ich standes spricht darüber hinaus noch eine Vielzahl von an- hoffe sehr, dass er einen guten Abschluss und eine klare deren Gründen. Im Jahr 2001 forderte das Europäische Mehrheit in diesem Hause finden wird. Alles andere wäre Parlament die Mitgliedstaaten auf, bei der Ausarbeitung ein Rückschlag für den Schutz der Menschenrechte in spezifischer Rechtsvorschriften zusammenzuarbeiten, um Deutschland. FGM „im Namen der Rechte der Person auf Unversehrt- Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist, unab- heit, Gewissensfreiheit und Gesundheit zu unterbinden.“ hängig davon, wo und warum dies geschieht, eine Eine ausdrückliche Strafbarkeit erleichtert nach bisheri- schwere Verletzung der körperlichen und seelischen Un- gen Erfahrungen aus Frankreich auch die Strafverfol- versehrtheit von Frauen und Mädchen. Die genitale Ver- gung; dort haben seit 1983 36 Prozesse wegen Genital- stümmelung von Frauen – international ist die Abkürzung verstümmelung stattgefunden. FGM für „female genital mutilation“ gebräuchlich – wird Die ausdrückliche Strafbarkeit stärkt zudem den Dia- seit der 4. UN-Weltkonferenz zu Frauen in Peking 1995 weltweit als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung log mit den Ländern, in denen Genitalverstümmelung geächtet. Bereits 1977 hatte ein Artikel in der Zeitschrift noch stattfindet. Sie stärkt die Glaubwürdigkeit deutscher „Emma“ das Problem deutlich gemacht. Entwicklungspolitik im Ausland. Die Migrantenorgani- sationen selbst fordern eine ausdrückliche Strafbarkeit, Die genitale Verstümmelung verletzt die Frauen nicht um in ihren Kreisen besser die Strafbarkeit in Deutsch- nur an ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Es ist land kommunizieren zu können. eine frühe Traumatisierung; die sexuelle Erlebnisfähig- keit und partnerschaftliche Bindungsfähigkeit wird le- Die eindeutige juristische Benennung wird auch die benslänglich und unwiderruflich beschädigt. Es ist eine Aufklärungsarbeit im Inland verbessern. Ärzte und tiefe Verletzung ihrer Menschenwürde. Alle Formen der Ärztinnen, Juristen, Sozialarbeiter, Lehrer, Verwaltungs- Verstümmelung erhöhen die Sterblichkeit der Frauen und mitarbeiter, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von die Komplikationen auch für die Kinder während der Ge- Beratungsstellen, Jugendämtern, Ausländerbehörden, burt um 50 Prozent. Die genitale Verstümmelung stellt ei- Erzieher und all diejenigen, die mit betroffenen oder ge- nen besonderen, nachhaltigen und menschenrechtswidri- fährdeten Mädchen und Frauen zu tun haben können, ist gen Auswuchs von Gewalt gegen Frauen dar. Weltweit der Zugang zu diesem Thema durch die ausdrückliche sind nach Schätzungen von UNICEF 140 Millionen Benennung im Strafgesetzbuch erleichtert. So wird auch Frauen genital verstümmelt, zu denen 3 Millionen die gemeinhin geforderte Doppelstrategie von Strafver- Frauen und Mädchen jedes Jahr neu hinzukommen. folgung und Aufklärung umgesetzt.

Zu Protokoll gegebene Reden 24454 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

Sibylle Laurischk (A) Ich bin sehr froh, dass die Wichtigkeit der ausdrück- genden Gesetzentwurfs. Als Gesetzgeber haben wir (C) lichen strafrechtlichen Regelung auch von so vielen mei- selbstverständlich auch die Pflicht, die Folgen unserer ner Kolleginnen und Kollegen mitgetragen wird, ganz un- Regelungen für Opfer und Tatbeteiligte im Blick zu behal- abhängig von ihrer Partei- und Fraktionszugehörigkeit. ten. Im vorliegenden Fall bedeutet das, die Folgen einer Ich bin sicher, dass sich noch mehr Kolleginnen und Kol- Verurteilung der Eltern wegen Beihilfe oder Anstiftung legen anschließen werden. zur Genitalverstümmelung zu bedenken. Die betroffenen Familien werden nach einer solchen Verurteilung mit ho- Damit ist aber der Kampf gegen Genitalverstümme- her Wahrscheinlichkeit abgeschoben, vermutlich sogar in lung leider noch nicht am Ende. Notwendig sind Präven- das Land der Tat – getrennt von ihren Töchtern oder mit tionsmaßnahen und Aufklärungsarbeit. Gleichzeitig ist diesen gemeinsam. Beides ist kaum im Interesse des Kin- die Entwicklungshilfe für die Entwicklungsländer zu deswohls. Deshalb fordern wir die Autorinnen und Auto- überdenken, die noch nicht den Kampf gegen die Genital- ren des Antrags erneut auf, den Gesetzentwurf so zu än- verstümmelung aufgenommen haben, wie dies auch dern, dass in § 56 Aufenthaltsgesetz eine Abschiebung Dr. unlängst in einem „SPIEGEL“- infolge einer Verurteilung wegen Genitalverstümmelung Interview vom 12. Mai 2009 gefordert hat. Der Beschluss ausgeschlossen wird. Sonst ist der Gesetzentwurf für uns des Deutschen Bundestages vom 26. Juni 2008 ist auch in nicht zustimmungsfähig. sofern umzusetzen, als die interministerielle Arbeits- gruppe von Bund, Ländern und Nichtregierungsorgani- Sie werden sich sicher erinnern, dass meine Fraktion sationen noch nicht effizient arbeitet. Überdies ist es vor zwei Jahren einen Antrag zur Genitalverstümmelung fragwürdig, warum das BMZ hier die Federführung ha- eingebracht hat, der einen besonderen Schwerpunkt auf ben sollte, geht es doch überwiegend um die Koordinie- Prävention und Hilfe für die Betroffenen auf internatio- rung der Präventionsarbeit im Inland. naler, europäischer und nationaler Ebene gesetzt hat. Leider wurde dieser Antrag damals von allen anderen Dieser Gruppenantrag ist ein klares Bekenntnis zur Fraktionen abgelehnt. Wahrung der Menschenrechte. Er soll auch Grundlage für präventive Arbeit gegen die traumatisierende Praxis Es ist aus Sicht der Linken aber nach wie vor allzu kurz der Genitalverstümmelung sein, hier wie in der Welt. gedacht, vor allem auf Abschreckung durch Strafe zu set- zen. Aufklärung, Kooperation mit Organisationen, die Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): sich vor Ort gegen Genitalverstümmelung engagieren, Ich möchte mit dem Verbindenden beginnen. Die und die Schaffung einer zentralen Stelle zur Koordination grundsätzliche Position der Linken zur weiblichen Geni- und Vernetzung der Initiativen gegen Genitalverstümme- talverstümmelung ist eindeutig: Sie ist eine schwere Kör- lung in der Bundesrepublik bleiben deshalb weiter wich- (B) perverletzung, die sowohl in der Bundesrepublik als auch tige Forderungen der Linken. Denn wo bestraft werden (D) als Auslandsstraftat verfolgt werden muss. Das ist un- muss, kommen wir für das Opfer ohnehin zu spät. strittig. Sie ist weder mit Tradition, Kultur noch Glauben Es gehört zu einer ernsthaften Diskussion zu beden- zu rechtfertigen, sondern stellt eine schwere Menschen- ken, dass die Maßnahmen gegen die Täterinnen die Zu- rechtsverletzung dar, unter deren physischen und psychi- gänge zu den Gemeinschaften nicht versperren dürfen. schen Folgen die betroffenen Frauen ein Leben lang lei- Wir brauchen ihre Unterstützung für ein wirksames den. Da eine Genitalverstümmelung fast immer im gemeinsames Handlungskonzept. Im vorliegenden Ge- Kindesalter vorgenommen wird, ist auch das Ziel aus- setzentwurf fehlt dieser Ansatz der Verhinderung von Ge- drücklich unstrittig, den Beginn der Verjährungsfrist auf nitalverstümmelungen durch Hilfe, Aufklärung und Bera- das 18. Lebensjahr zu verschieben. Aber damit enden tung und der Hilfe für Betroffene vollständig. auch schon die Übereinstimmungen zwischen den Posi- tionen der Linken und dem vorliegenden Gesetzentwurf. Deshalb werden wir unsere Vorschläge in die kommen- den Debatten im Ausschuss und die zweite und dritte Le- Auch wenn wir eine ausdrückliche Aufnahme der Ge- sung im Plenum erneut einbringen, denn sie sind dringen- nitalverstümmelung als Straftatbestand wollen: Aus der denn je. unserer Sicht wäre es für die angestrebte Schließung rechtlicher Schutzlücken eindeutiger, die Genitalverstüm- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE melung als gesonderten Tatbestand bei den Tatbeständen GRÜNEN): gegen die sexuelle Selbstbestimmung Schutzbefohlener anzusiedeln, wie das ja auch zum Beispiel von Kollegin Die Grünen haben im Rahmen des Zuwanderungsge- Laurischk ausgedacht worden war. Das wäre dem ange- setzes 1999 durchgesetzt, dass drohende Genitalverstüm- griffenen Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung von melung als eigenständiger Asylgrund anerkannt werden Frauen und Mädchen in seinen unterschiedlichen For- kann. 1997 haben wir die Diskussion in der Öffentlichkeit men auch angemessen. Es würde ehrlich beim Namen ge- mit einer großen Fachanhörung im Bundestag überhaupt nannt, was mit Genitalverstümmelungen in Wirklichkeit erst in Gang gesetzt und mit einem gemeinsamen Antrag erreicht werden soll: Frauen dauerhaft der sexuellen aller Fraktionen dafür gesorgt, dass das Thema im Par- Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit zu lament behandelt wurde. Vor über zwei Jahren haben wir berauben. Grünen die Bundesregierung mit unserem Antrag „Mäd- chen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen“ Aber diese Diskussion zur rechtlichen Einordnung ist dazu aufgefordert, endlich wirkungsvolle Maßnahmen nicht unser größtes Problem. Viel schwerer wiegen für zum Schutz vor Genitalverstümmlung in Deutschland zu uns die aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen des vorlie- ergreifen. Dieser wurde von der Großen Koalition abge-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24455

Irmingard Schewe-Gerigk (A) lehnt. Doch wir haben nicht aufgegeben, parteiübergrei- Aufgrund der hohen Anzahl „Ferienbeschneidungen“ (C) fend über dieses Thema zu diskutieren und gemeinsames im Ausland – ich nenne das nur in Anführungszeichen, Handeln voranzubringen. denn die Bezeichnung beschönigt die Brutalität solcher Vorgänge – muss darüber hinaus die Genitalverstümm- Genitalverstümmlung ist eine schwere Menschen- lung in den Katalog der Auslandsstraftaten im StGB auf- rechtsverletzung. Sie hinterlässt lebenslange irreparable genommen werden. Somit kann sichergestellt werden, körperliche und seelische Schädigungen bei den Mäd- dass eine Genitalverstümmelung während eines vorüber- chen und jungen Frauen. Es handelt sich hierbei auch um gehenden Aufenthalts im Ausland trotzdem dem deut- ein deutsches Problem. Durch Migration und Flucht le- schen Strafrecht unterliegt. ben heute immer mehr Frauen in Europa, die in ihren Herkunftsländern beschnitten wurden. Und es gibt El- Mehrfach habe ich dazu aufgefordert, bei dem Thema tern, die auch hier glauben, diese grausame Praxis sei für Genitalverstümmlung parteiübergreifend zu arbeiten. ihre Töchter unbedingt notwendig. In Deutschland leben Nach den vielen Gesprächen und Verhandlungsrunden nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Terre liegt nun ein Gruppengesetzentwurf vor, mit dem Genital- des Femmes mindestens 20 000 von Genitalverstümm- verstümmlung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufge- lung betroffene Frauen sowie 4 000 bis 5 000 Mädchen, nommen werden soll. Dies wäre ein klares Signal an Ärzte die davon bedroht sind. Die erlittenen Verletzungen sind und Ärztinnen, Eltern und Opfer: Eine solche Menschen- niemals revidierbar. Weder Religion noch Tradition kön- rechtsverletzung wird von unserem Staat nicht geduldet. nen diesen Eingriff rechtfertigen. Es ist endlich an der Zeit, bei dem Thema Genitalver- Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf fordern wir eine stümmlung nicht länger auf die Zustände in anderen Län- ausdrückliche Aufnahme der grausamen Praktik in den dern zu verweisen, sondern vor Ort tätig zu werden. Der Straftatbestand der schweren Körperverletzung. Auch die Staat hat die Pflicht, gefährdete Mädchen und Frauen vor Mehrzahl der Sachverständigen in der Ausschussanhö- Genitalverstümmlung zu schützen. Im Übrigen fordert rung sah dies als notwendig an. Ich möchte hierfür ein- uns auch das Europäische Parlament dazu auf. Der vor- dringlich werben. Eine ausdrückliche Aufnahme als ein- gelegte Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag hierzu fache Körperverletzung würde den schrecklichen Folgen und soll ein klares Zeichen setzen. Es gibt noch viele Vor- der Verletzung nicht gerecht werden. Als eine einfache behalte. Ich stehe weiter bereit, die Zweifler in Gesprä- Körperverletzung ist Genitalverstümmelung ohnehin an- chen zu überzeugen. Eine Ablehnung wäre ein denkbar zusehen. Es kann aber nicht angehen, dass der Verlust schlechtes Signal. Ich fordere Sie auf: Unterstützen Sie eines wichtigen Körpergliedes oder der Fortpflanzungs- den Gesetzentwurf! fähigkeit eine schwere Körperverletzung darstellen, aber eine teilweise oder vollständige Amputation eines weibli- (B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) chen Geschlechtsorgans „nicht so schlimm“ sein soll. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Hier müssen wir konsequent sein. Mit der Gesetzesände- wurfs auf Drucksache 16/12910 an die in der Tagesord- rung wird Rechtsklarheit und Transparenz bei allen Be- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es teiligten wie medizinischem und juristischem Fachperso- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. nal, Lehrerinnen und Lehrern und Eltern hergestellt. Für Dann ist die Überweisung so beschlossen. die Betroffenen wird eine rechtliche Schutzlücke in aktu- ellen Gefährdungslagen endlich geschlossen. Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den restli- Die meisten Betroffenen sind zum Zeitpunkt der Be- chen Abend. schneidung minderjährig, und der Weg bis zu einer Straf- anzeige wegen des innerfamiliären Konflikts ist schwierig Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- und langwierig. Daher wollen wir, dass die Verjährungs- destages auf Mittwoch, den 27. Mai 2009, 13 Uhr, ein. frist erst mit dem 18. Lebensjahr der Mädchen einsetzt. Die Sitzung ist geschlossen. Dies ist bereits bei der gesetzlichen Regelung des sexuel- len Missbrauchs so vorgesehen. (Schluss: 18.54 Uhr)

Berichtigung 221. Sitzung, Seite 24199 (C), dritter Absatz: Der fünfte Satz ist wie folgt zu lesen: „Der Arzt wird ver- pflichtet – diesen Punkt haben wir übernommen –, der Frau mit ihrem Einverständnis ein Angebot für die psy- chosoziale Beratung zu machen.“

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24457

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Addicks, Karl FDP 14.05.2009 Merz, Friedrich CDU/CSU 14.05.2009

Aigner, Ilse CDU/CSU 14.05.2009 Dr. Möllring, Eva CDU/CSU 14.05.2009

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 14.05.2009 Nešković, Wolfgang DIE LINKE 14.05.2009 DIE GRÜNEN Nitzsche, Henry fraktionslos 14.05.2009 Bätzing, Sabine SPD 14.05.2009 Pflug, Johannes SPD 14.05.2009* Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 14.05.2009 DIE GRÜNEN Raidel, Hans CDU/CSU 14.05.2009

Becker, Dirk SPD 14.05.2009 Dr. Scheer, Hermann SPD 14.05.2009

Connemann, Gitta CDU/CSU 14.05.2009 Schily, Otto SPD 14.05.2009

Dreibus, Werner DIE LINKE 14.05.2009 Schneider (Erfurt), SPD 14.05.2009 Carsten Edathy, Sebastian SPD 14.05.2009 Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 14.05.2009 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 14.05.2009 Andreas (B) (D) Flach, Ulrike FDP 14.05.2009 Schummer, Uwe CDU/CSU 14.05.2009

Fornahl, Rainer SPD 14.05.2009 Seib, Marion CDU/CSU 14.05.2009

Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 14.05.2009 Strothmann, Lena CDU/CSU 14.05.2009

Grund, Manfred CDU/CSU 14.05.2009 Thönnes, Franz SPD 14.05.2009***

Hänsel, Heike DIE LINKE 14.05.2009 Waitz, Christoph FDP 14.05.2009 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Haibach, Holger CDU/CSU 14.05.2009 lung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Heil, Hubertus SPD 14.05.2009 sammlung der NATO *** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Hoff, Elke FDP 14.05.2009 sammlung der OSZE

Irber, Brunhilde SPD 14.05.2009

Kortmann, Karin SPD 14.05.2009 Anlage 2 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede Krichbaum, Gunther CDU/CSU 14.05.2009 zum Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 14.05.2009** des Progressionsvorbehalts für Kurzarbeiter- Karl A. geld (221. Sitzung, Tagesordnungspunkt 9)

Lösekrug-Möller, SPD 14.05.2009 Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gabriele Die Krise ist auf dem Arbeitsmarkt angekommen: 2,6 Millionen Menschen sind auf Kurzarbeit. Kurzarbeit Meckel, Markus SPD 14.05.2009 bedeutet weniger Einkommen und große Unsicherheit, 24458 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) wie es weitergeht. Da ist jede Erleichterung willkom- Anlage 3 (C) men. Die Gewerkschaften haben auch bereits an viele Abgeordnete geschrieben und uns aufgefordert, das Zu Protokoll gegebene Rede Kurzarbeitergeld ganz aus der Besteuerung herauszu- zur Beratung: nehmen. Kurzarbeitergeld wird zwar steuerfrei ausge- zahlt, führt aber zu einer höheren Besteuerung anderer – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkünfte der Steuerpflichtigen. Dem Anliegen der Ge- Einlagensicherungs- und Anlegerentschädi- werkschaften entsprechend legt die Fraktion Die Linke gungsgesetzes und anderer Gesetze jetzt einen Gesetzentwurf vor, der den sogenannten – Beschlussempfehlung und Bericht: Reform Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld abschaffen der Anlegerentschädigung in Deutschland würde. – Beschlussempfehlung und Bericht: Soziali- Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass der Progres- sierung der Verluste verhindern – Siche- sionsvorbehalt auf einen ganzen Katalog von Einkünften rungsfonds für privaten Finanzsektor schaf- angewandt wird. Im Wesentlichen sind dies Lohnersatz- fen leistungen wie Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Win- – Beschlussempfehlung und Bericht: Verbes- terausfallgeld, Insolvenzgeld, Übergangsgeld, Alters- serung des Verbraucherschutzes beim Er- übergangsgeld; auch das Krankengeld, Mutterschafts- werb von Kapitalanlagen geld, Verletztengeld und sogar das Elterngeld erhöhen heimlich die Steuerlast. Kurzarbeit ist also nur eines der (Tagesordnungspunkt 24 a und b, Zusatztages- Probleme, Arbeitslosengeld ist genauso betroffen. ordnungspunkte 5 und 6)

Auch die Arbeitslosenzahlen steigen rapide. Die EU- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Auf den ersten Blick Kommission schätzt, dass 2009 und 2010 1,5 Millionen scheint es so, als hätten wir es mit einer Verbesserung zu Menschen in Deutschland ihren Arbeitsplatz verlieren. tun: Einlagensicherung und Anlegerschutz sollen auf zu- Das ist dramatisch. Jemand, der seinen Arbeitsplatz ver- nächst 50 000 Euro, dann auf 100 000 Euro erhöht wer- liert, wird sich natürlich fragen, warum Leute in Kurzar- den. Tatsächlich jedoch sind zwei entscheidende Fragen beit, die also ihren Arbeitsplatz noch haben, besser be- zu beantworten. Erstens. Wie zahlungsfähig sind die handelt werden als Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz deutschen Systeme der Einlagen- und Wertpapiersiche- schon verloren haben. Ich vermute, dass sich dieser Ar- rung? Zweitens. Wer zahlt, wenn die Sicherungseinrich- beitnehmer ungerecht behandelt fühlen würde. Und er tungen erschöpft sind? (B) hätte recht damit. Der Gesetzentwurf der Linken klam- (D) mert diese Ungleichbehandlung aber einfach aus. Ich Zu Punkt eins, der Zahlungsfähigkeit der Sicherungs- denke, so geht es nicht. Wir müssen uns die Auswirkun- einrichtungen, ist Folgendes festzustellen. Alle deut- gen des Progressionsvorbehaltes bei Lohnersatzleistun- schen Einlagensicherungen zusammengenommen – ge- gen insgesamt anschauen und dann eine Antwort finden, setzliche und freiwillige – sind nicht in der Lage, einen Einlagenverlust bei der Deutschen Bank aufzufangen. die allen Betroffenen gerecht wird. Dabei wird es ein Die Sicherungssysteme sind historisch einzig dazu ge- wichtiger Punkt sein, dass der Progressionsvorbehalt schaffen worden, Schwierigkeiten bei kleinen und mitt- kleinere Einkommen besonders trifft. Ich möchte das an leren Geldhäusern auszugleichen. einem Beispiel illustrieren. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, die Zah- Wenn eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer, je- lungsfähigkeit geringfügig zu verbessern: über Sonder- weils verheiratet, ein zu versteuerndes Einkommen von beiträge, die zugleich wieder eng gedeckelt sind, und 16 872 Euro erzielt, sind darauf 248 Euro Lohnsteuern über die Möglichkeit, Kredite aufzunehmen. Das bringt zu zahlen. Das sind 1,47 Prozent des zu versteuernden nicht mehr, als würde man fünf Topfkuchen verkaufen, Einkommens. Wenn diese Arbeitnehmerin oder dieser um damit die Bankenrettungen zu finanzieren. Arbeitnehmer nun außerdem noch 1 534 Euro Kurzar- beitergeld beziehen würde, erhöht sich die Steuerbelas- Die Anhörung mit Sachverständigen im Finanzaus- tung auf 464 Euro bzw. 2,75 Prozent. Das heißt, die schuss kam zum selben Ergebnis. Professor Dr. Wolfgang Gerke beschreibt das Problem wie folgt: „Aktuell würde Steuerbelastung des Gesamteinkommens steigt deutlich die aus Anlegersicht wünschenswerte Einlagensicherung an. bei marktgerechter Beitragskalkulation … zu Insolven- Ich stelle also fest: Der Progressionsvorbehalt erzeugt zen führen.“ Mit anderen Worten: Die Banken sind nicht für alle Lohnersatzleistungen eine beträchtliche Steuer- in der Lage, gemessen an ihrem Risiko in die Siche- mehrbelastung für die betroffenen Steuerpflichtigen. Ich rungssysteme einzuzahlen. Im Kern gilt daher: Die Bun- schlage deshalb vor, im Rahmen der Ausschussberatun- desregierung will hier eine EU-Richtlinie umsetzen, gen typische Arbeitnehmerhaushalte zu betrachten, die ohne sie auf ein tragfähiges Standbein zu stellen. Lohnersatzleistungen beziehen, um die steuerliche Mehr- Damit komme ich zur zweiten Frage. Wer zahlt, wenn belastung auf das Gesamteinkommen der Beschäftigten die Sicherungseinrichtungen erschöpft sind? Wie so oft in den Blick zu nehmen. Das Bundesfinanzministerium trifft es die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Daher kann ja schon einmal Musterrechnungen erstellen, um brauchen wir weitere Schritte, um zu verhindern, dass die sozialpolitische Dimension beurteilen zu können. Einlagensicherung und Anlegerschutz zulasten von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24459

(A) Steuergeld erfolgen. Erstens müssen es die Banken sein, während der Ehe erworbenen Gegenstände gemein- (C) die für die Sicherung von Einlagen und Wertpapieren schaftliches Vermögen beider Ehegatten werden. Der aufkommen. Selbst wenn dies zulasten von Zinserträgen Güterstand der Zugewinngemeinschaft bedeutet viel- und Wertpapiergewinnen erfolgt, ist das weit besser als mehr, dass grundsätzlich jeder Ehegatte Alleineigentü- zulasten von Steuergeld. mer seines vor und während der Ehe erworbenen Vermö- Zweitens – dazu haben wir einen Antrag einge- gens bleibt. Ein Ausgleich der unterschiedlichen bracht – brauchen wir einen zusätzlichen Sicherungs- Vermögen der Ehegatten, der sogenannte Zugewinnaus- fonds. Dieser Fonds würde durch eine Sonderabgabe der gleich, findet erst mit dem Ende der Ehe statt. privaten Finanzinstitute finanziert. Er dient dazu, dass Seit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgeset- sich Banken gegenseitig vor Insolvenz bewahren. Hierzu zes 1958, also vor 50 Jahren, hat es kaum Änderungen können sie untereinander zeitlich befristet nicht werthal- im Recht des Zugewinnausgleichs gegeben. Und auch tige Aktiva übernehmen. Die Sicherheit der Banken selbst ist der Grundstein, der zugleich Spareinlagen und nach 50 Jahren wollen wir heute mit dem vorliegenden Wertpapieranlagen schützt. Gesetzentwurf die Grundkonzeption des Zugewinnaus- gleichs nicht antasten. Vielmehr geht es um Korrekturen Drittens fordern wir, den Verbraucherschutz beim Er- des bestehenden Systems, um Schwachstellen des bishe- werb von Kapitalanlagen zu verbessern. Auch hierzu rigen Rechts, die sich über die Jahre herausgebildet ha- liegt ein Antrag der Linken vor. Was wir brauchen, ist ben, zu beseitigen. eine Zulassungsstelle für Anlageprodukte. Diese kann sowohl Verbraucherinnen und Verbraucher schützen als Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Zugewinn- auch Volkswirtschaften vor unüberschaubaren Risiken ausgleichs und Vormundschaftsrechts wird das geltende bewahren. Deshalb brauchen wir europäische Mindest- Zugewinnausgleichssystem beibehalten, aber mit zahl- standards für Anlageprodukte. reichen Maßnahmen sollen insbesondere illoyale Vermö- gensverschiebungen vermindert werden. Dieser Zu- Wer Verbraucherinnen und Verbraucher schützen wachs an Gerechtigkeit ist das Ergebnis einer guten will, ohne sie als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu Vorarbeit durch das Bundesjustizministerium, aber auch belasten, muss an die Quelle des Risikos gehen. Nur so vor allem intensiver Berichterstattergespräche zwischen kann eine Sozialisierung der Verluste verhindert werden. allen Koalitionen und der Einbeziehung von hochkaräti- gen externen Sachverständigen in diese Berichterstatter- gespräche. Lassen Sie mich kurz auf die wesentlichen Anlage 4 Elemente dieses Gesetzentwurfes eingehen. (B) Zu Protokoll gegebene Rede (D) Für die Ermittlung des Endvermögens und damit für zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur die Ermittlung der Höhe des Zugewinnausgleichs ist der Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vor- Zeitpunkt der Berechnung von entscheidender Bedeu- mundschaftsrechts (Tagesordnungspunkt 18) tung. Als wesentlicher Zeitpunkt sind bei einer Trennung der Ehegatten in chronologischer Reihenfolge der Tren- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Im nungszeitpunkt selbst, der Zeitpunkt der Zustellung des Kern geht es bei dem Thema Zugewinnausgleich um die Scheidungsantrages und letztendlich die Beendigung des gerechte Teilhabe der Eheleute nach einer Scheidung am Güterstandes zu nennen. Nach geltender Rechtslage galt im Zeitraum der Ehe erwirtschafteten Vermögen. Es geht als Berechnungszeitpunkt der Zeitpunkt der Zustellung um die gerechte Verteilung von Vermögen und den des Scheidungsantrages. Die Höhe der Ausgleichsforde- Schutz des schwächeren Ehepartners. Der Zugewinnaus- rung war jedoch begrenzt durch das Vermögen, das nach gleich ist eine Frage gleichberechtigter Werteteilhabe. Er Beendigung des Güterstandes, also im Zweifel Jahre ist die Grundlage für die selbstverantwortliche Lebens- später, noch vorhanden war. Dieses Auseinanderfallen gestaltung von Frauen und Männern nach dem Ende der der Zeitpunkte lud zu Manipulationen ein. Nach der Ehe. Neuregelung gilt für die Berechnung des Zugewinns und Lassen Sie mich zunächst auf einige Zahlen verwei- für die Höhe der Ausgleichsforderung der einheitliche sen: 368 922 Eheschließungen standen im Jahr 2007 frühe Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrages. bundesweit 187 072 Ehescheidungen gegenüber. In der Der ausgleichsberechtigte Ehepartner wird dadurch we- großen Mehrzahl der Scheidungsfälle wurde ein Zuge- sentlich besser geschützt. winnausgleich vorgenommen, da der Ehe meist der so- Diese Neuregelung bringt jedoch in der Praxis nur genannte gesetzliche Güterstand der Zugewinngemein- dann einen wirklichen Vorteil, wenn der ausgleichsbe- schaft zugrunde lag. Vor den Amtsgerichten wurden rechtigte Ehepartner auch weiß, wie hoch das Endver- 2007 allein 15 939 Verfahren zum ehelichen Güterstand mögen des ausgleichspflichtigen Partners wirklich ist. erledigt. Diese Zahlen machen die große Bedeutung des Als wichtige Neuregelung stellt sich somit die Änderung Zugewinnausgleichs deutlich. des Auskunftsanspruchs des ausgleichsberechtigten Lassen Sie mich jedoch gleich einen großen Irrglau- Partners gegen den ausgleichspflichtigen Partner dar. ben ausräumen. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Zahlreiche Gespräche mit Praktikern, insbesondere auch Annahme in der Bevölkerung bedeutet der gesetzliche mit Anwältinnen, haben gezeigt, dass in diesem Bereich Güterstand der Zugewinngemeinschaft nicht, dass alle enormer Verbesserungsbedarf besteht. 24460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Nach bestehender Rechtslage war nach Beendigung gute. Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass (C) des Güterstandes jeder Ehegatte dem anderen Ehegatten eben auch der Abbau von Schulden bei einem Ehepart- gegenüber verpflichtet, Auskunft über den Bestand des ner letztendlich einen Vermögenszuwachs darstellt. Die- Vermögens zu geben. Doch wie wir alle wissen, lässt ses unbefriedigende Ergebnis, dass Schulden beim An- sich viel sagen, wenn nicht auch entsprechende Belege fangsvermögen nicht berücksichtigt wurden, wird nun vorzulegen sind. Eine solche Vorlage von Belegen zu nach 50 Jahren beendet. Zukünftig werden auch Schul- Kontrollzwecken sah das geltende Recht jedoch gerade den, die die Ehegatten mit in die Ehe gebracht haben, nicht vor. Damit war der Manipulation Tür und Tor ge- beim Zugewinnausgleich berücksichtigt. Dies ist ein we- öffnet. Der ausgleichspflichtige Ehegatte, in den aller- sentlicher Schritt zu mehr Gerechtigkeit nach einer meisten Fällen noch immer der Ehemann, reduzierte so Scheidung. auf einfache Weise seine Pflicht zur Zahlung des Zuge- winnausgleichs, und allen Beteiligten waren oftmals die Erst im Rahmen der Berichterstattergespräche hat der Hände gebunden. Aus diesem Grunde wird nun die Be- Verzicht auf eine sogenannte Kappungsgrenze Eingang legpflicht eingeführt. Damit wird die Kontrolle der ge- in den vorliegenden Gesetzentwurf gefunden. Die Höhe machten Angaben wesentlich erleichtert. Auch dies stellt der Ausgleichsforderung wird zwar richtigerweise auf somit einen wirksamen Schutz des Ausgleichsberechtig- das bei Ende des Güterstandes vorhandene Vermögen ten dar. begrenzt. Eine Kappungsgrenze bei 50 Prozent des vor- handenen Vermögens, wie sie der Gesetzentwurf zu- Im Rahmen des erweiterten Berichterstattergesprä- nächst vorsah, hätte dem Gerechtigkeitsempfinden stark ches im Februar diesen Jahres hat insbesondere auch die widersprochen und war daher abzulehnen. Auch darauf von der FDP benannte Sachverständige Frau Professor hat die Sachverständige der FDP dezidiert hingewiesen. Dr. Dethloff eindringlich darauf hingewiesen, dass aus- gleichspflichtige Ehegatten versuchen werden, noch vor Insgesamt liegt uns damit ein Gesetzentwurf vor, der dem Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrages, die Zustimmung der FDP-Bundestagsfraktion verdient. letztendlich also mit der Trennung der Ehegatten, Ver- mögenswerte beiseitezuschaffen. Aus diesem Grunde setzte sich die FDP-Bundestagsfraktion in den Berichter- Anlage 5 stattergespräche gezielt dafür ein, dass der Auskunftsan- spruch weiter ausgedehnt wird. Nach der uns nun zur Zu Protokoll gegebene Reden Abstimmung vorliegenden Empfehlung des Rechtsaus- zur Beratung des Antrags: Arbeitsplätze im schusses des Deutschen Bundestages wird der Aus- Transportgewerbe sichern – Mauterhöhung bis (B) kunftsanspruch ergänzt um einen weiteren Auskunftsan- Ende 2009 aussetzen (Tagesordnungspunkt 23) (D) spruch über den Bestand des Vermögens zum Zeitpunkt der Trennung. Flankiert wird dieser erweiterte Aus- kunftsanspruch durch eine Beweislastumkehr, wonach Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Die Situa- der Ausgleichspflichtige darzulegen und zu beweisen tion der Güterkraftverkehrsbranche ist schwierig, ja hat, dass eine Vermögensminderung in dem Zeitraum mehr noch: katastrophal. Es gibt gewaltige Umsatzein- zwischen Trennung und Zustellung des Scheidungsan- brüche, und niemand kann voraussehen, wann es wieder trages nicht auf illoyalen Vermögensminderungen be- aufwärtsgeht. ruht. Damit wird der Schutz des ausgleichsberechtigten Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die Ehegatten weiter gestärkt. von Ihnen in Ihrem Antrag aufgeführten Fakten sind bis Vervollständigt wird dieser Schutz durch die Mög- auf wenige Dinge richtig. Der im Antrag genannte lichkeit, einen Anspruch auf Zahlung vorzeitigen Zuge- durchschnittliche Mautsatz zum 1. Januar 2009 war nach winns bei einer drohenden Vermögungsverschiebung un- Angabe des BMVBS 13,5 Cent und nicht 12,5 Cent. mittelbar geltend zu machen. Aber um diese Differenz geht es mir gar nicht. Und ich stimme Ihnen zu, dass die Mauterhöhung die schwierige Durch dieses Bündel an Maßnahmen wird nach An- Lage für die Branche, die durch die Finanz- und Wirt- sicht der FDP-Bundestagsfraktion der Schutz des aus- schaftskrise entstanden ist, deutlich verschärft. Weil wir gleichsberechtigten Ehepartners deutlich gestärkt. das in unserer Fraktion genauso sehen, haben wir ja schon in der vergangenen Woche erklärt, dass hier drin- Als weitere wichtige Änderung ist die Berücksichti- gend Handlungsbedarf gegeben ist. Wir haben auch klar gung negativen Anfangsvermögens bei der Ermittlung formuliert, wie wir dem Gewerbe helfen wollen. des Zugewinns zu nennen, die nach Ansicht der FDP- Bundestagsfraktion zu einer deutlichen Stärkung des Bei allen Überlegungen müssen wir aber auch ehrlich Gerechtigkeitsempfindens beitragen wird. Nach der gel- mit den Mautsätzen umgehen. 2003 haben wir uns in der tenden Rechtslage konnten Verbindlichkeiten niemals zu Koordinierungsrunde zur Mauteinführung – in der übri- einem negativen Anfangsvermögen führen. Startete zum gens alle Fraktionen anwesend waren – auf 15 Cent pro Beispiel der Ehemann mit Schulden in die Ehe und wur- gefahrenen Kilometer geeinigt. Wir haben die 15 Cent den diese Schulden während der Ehe komplett abgebaut, pro Mautkilometer nur nicht von Anfang an eingeführt, wirkte sich dies im Falle eines späteren Zugewinnaus- sondern einen moderateren Mautsatz gewählt, bis die gleichs überhaupt nicht aus. Die gemeinsame Schulden- volle Harmonisierung von 600 Millionen pro Jahr für tilgung der Eheleute kam also allein dem Ehemann zu- das Gewerbe durchgesetzt werden konnte. Dies ist seit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24461

(A) Anfang dieses Jahres der Fall. Darum sind diese 15 Cent gen, die nach einer Abwrackprämie für Nutzfahrzeuge (C) fair, weil mit Ihnen die 2007 abgesenkte Kfz-Steuer, das riefen, wussten das offensichtlich nicht. Innovationsprogramm und die seit diesem Jahr abrufba- ren De-minimis-Beihilfen und die Förderung von Aus- Andere, die dies sehr wohl wissen, nutzen dieses An- und Weiterbildungsmaßnahmen gegenfinanziert werden. gebot nicht, weil sie sich schlicht und einfach keine Die abgesenkte Kfz-Steuer, das Innovationsprogramm, neuen Fahrzeuge leisten können. Die würden zwar weni- die De-minimis-Beihilfen und die Förderung von Aus- ger Schadstoffe ausstoßen; entsprechend würde die Maut und Weiterbildung kommen nur den deutschen Logistik- sinken. Doch ihre alten Fahrzeuge können sie schwerlich unternehmen zugute. Die 15 Cent muss auch die auslän- in Zahlung geben. Deren Preise sind teilweise um die dische Konkurrenz bezahlen. Hälfte gesunken. Ich spreche von den Euro-3-Fahrzeu- gen. Darüber hinaus fordern wir den durchschnittlichen Mautsatz von 15 Cent nicht nur bis Ende 2009, sondern Da die Mautsätze für diese Fahrzeuge mit bis zu bis nach Beendigung der Wirtschaftskrise, aber mindes- 9,4 Cent pro Kilometer auf jetzt 22,4 Cent pro Kilometer tens bis Ende 2010. Außerdem fordern wir, dass die von besonders stark angestiegen sind, ist ein wirtschaftlicher Einsatz dieser relativ neuen Lkw – drei Jahre und älter – mir erwähnten De-minimis-Beihilfen aufgestockt wer- im Vergleich zu Euro-5-Lkw mit einer Maut von den und deren Auszahlung beschleunigt und entbürokra- 15,4 Cent pro Kilometer kaum noch möglich. Auch kön- tisiert wird. Die De-minimis-Beihilfen erfordern keine nen die Transportunternehmen diese Fahrzeuge nur mit Anzeige und keine Genehmigung der Europäischen großen Abschlägen verkaufen. Dies führt zu Sonderab- Kommission, waren aber deshalb in einem Rahmen von schreibungen und Bonitätsverschlechterungen bei den drei Jahren auf 100 000 Euro pro Unternehmen begrenzt. betroffenen Unternehmen. Geringe Veräußerungswerte Nun hat die EU-Kommission wegen der Wirtschafts- und schlechtere Bonitäten erschweren die Anschaffung krise eine Aufstockung dieser Beihilfen auf 500 000 neuer Lkw zusätzlich. Dabei fiel nach zähem Ringen bei Euro binnen drei Jahren pro Unternehmen erlaubt. Wir der Mauterhöhung zum 1. Januar 2009 die Erhöhung wollen diesen Rahmen besser ausschöpfen. Die Beihil- schon um 2 Cent je Mautkilometer geringer aus als ge- fen sollten deshalb von 600 Euro pro mautpflichtigem plant, wofür die anderen Klassen mit 1 Cent stärker be- Fahrzeug und Jahr auf 1 000 Euro erhöht werden. lastet wurden. Für sehr wichtig halten wir auch eine Entbürokratisie- Minister Tiefensee hat sich erst am Dienstag in einem rung des Auszahlungsverfahrens. Momentan zieht sich Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung be- die Auszahlung über Wochen hin. Eine Möglichkeit wäre sorgt über die Lage im Gewerbe geäußert und eine Ab- (B) die von Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg vorge- senkung der Maut ausgeschlossen. Aber er muss einse- (D) schlagene Variante, den Unternehmen sofort nach der Be- hen, dass hier dringender Handlungsbedarf geboten ist. willigung Abschlagszahlungen zu gewähren. Denn das Aus diesem Grund ist ja auch eine interministerielle Wichtigste ist, dass die Unternehmen in dieser Krise li- Kommission gebildet worden, die nach Lösungen su- quide bleiben. chen soll. Wir bitten den Herrn Minister, in der Kommis- sion alles dafür zu tun, dass dem Gewerbe Hilfe gewährt Dazu trägt das von der Bundesregierung aufgelegte wird. Kredit- und Bürgschaftsprogramm mit einem Gesamtum- fang von 115 Milliarden Euro bei. Dieser „Wirtschafts- Gerne wiederhole ich an dieser Stelle unsere Forde- fonds Deutschland“ besteht aus einem Kreditteil und aus rungen: Wir wollen den Mautsatz von aktuell 18,3 Cent einem Bürgschaftsteil, von dem auch die Transportunter- auf durchschnittlich 15 Cent absenken, und zwar bis nach nehmen profitieren. Und das Bundeswirtschaftsministe- Beendigung der Wirtschaftskrise, aber bis mindestens rium legt richtigerweise größten Wert darauf, dass die Ende 2010. Damit bleibt nur der Teil der Mauterhöhung vorgelegten Fälle zügig entschieden werden. Daran sollte bestehen, der für die Finanzierung der zum Jahresanfang sich das Bundesverkehrsministerium einmal ein Beispiel endlich durchgesetzten Harmonisierung von 600 Millio- nehmen. nen Euro benötigt wird. Dies hatten wir schon 2003 ein- vernehmlich mit dem Gewerbe ausgehandelt. Dafür Auch könnte das Bundesverkehrsministerium an sei- kommt das Transportgewerbe in den Genuss der 600 Mil- ner Informationsphilosophie arbeiten. Im Zuge der Ab- lionen Euro in Form der abgesenkten Kfz-Steuer, des In- wrackprämie wurde von vielen laut nach einer Abwrack- novationsprogramms, der De-minimis-Beihilfen und der prämie auch für Nutzfahrzeuge gerufen. Offensichtlich Förderung von Aus- und Weiterbildung. Dieses Geld war diesen Kritikern nicht bewusst, dass es beim Erwerb kommt allein den inländischen Unternehmen zugute, von schadstoffarmen Fahrzeugen bereits Zuschüsse oder während die ausländische Konkurrenz die durchschnitt- verbilligte Kredite gibt. Diese Zuschüsse und verbilligten lich 15 Cent pro Kilometer bezahlen muss. Es entfällt da- Kredite gibt es ihm Rahmen des Innovationsprogramms, durch der Teil der Mauterhöhung, der auf dem aktuellen welches eine Säule der Harmonisierungsmaßnahmen für Wegekostengutachten beruht. das Transportgewerbe ist, von dem ich vorhin schon sprach, und – jetzt wiederhole ich mich – für dessen Fi- Wir wollen die De-minimis-Beihilfen von aktuell nanzierung wir unter anderem den durchschnittlichen 600 Euro pro mautpflichtigem Fahrzeug und Jahr auf Mautsatz auf 15 Cent und nicht auf 12,5 Cent senken 1 000 Euro aufstocken. Damit schöpfen wir den durch sollten. Bis zu 4 250 Euro gibt es pro Fahrzeug. Diejeni- die EU erhöhten Rahmen besser aus. 24462 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Und wir wollen das Auszahlungsverfahren bei den ten für den Fuhrpark und Ausgaben für das Personal (C) De-minimis-Beihilfen beschleunigen und entbürokrati- müssen jedoch weiterhin geleistet werden. sieren. In dieser Situation kommt dem Staat eine besondere Nachdem durch die Krise die Eigenkapitaldecke vie- Bedeutung zu. Wobei wir auch in den Zeiten der Krise ler Unternehmen sehr niedrig ist und diese nun auch nicht den Blick dafür verlieren dürfen, was der Staat durch die sehr geringen Wiederverkaufswerte weiter ge- leisten kann und was nicht. Als Politik sehen wir uns schwächt wird, können gerade kleine und mittlere Unter- – verständlicherweise – derzeit einer riesigen Erwar- nehmen vorgesehene Investitionen nicht mehr tätigen. tungshaltung ausgesetzt. Trotzdem müssen wir auch sa- Die geringen Wiederverkaufswerte, die durch die Maut- gen, was geht und was nicht. spreizung verursacht worden sind, zusammen mit der Meine Frage ist, ob die Antwort auf die Krise, die die Mauterhöhung insgesamt verschärfen die Situation im Kolleginnen und Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion durch die Krise gebeutelten deutschen Transportgewerbe mit ihrem vorgelegten Antrag vorschlagen, wirklich enorm. überzeugt. Und zur Ehrlichkeit gehört: Die Mauterhöhung wäre Auf den ersten Blick erscheint die Schlussfolgerung in dieser Form nicht beschlossen worden, wenn das „Weniger Maut gleich weniger Ausgaben gleich weniger wahre Gesicht der Krise letztes Jahr schon abzusehen Belastung und damit mehr Einnahmen“ sehr einfach und gewesen wäre. Deshalb muss sich Minister Tiefensee einleuchtend. Ich will mich der Forderung prinzipiell unbedingt der Sorgen im Transportgewerbe annehmen, nicht verweigern. Trotzdem müssen wir zwei Dinge be- damit nicht noch mehr Schaden entsteht. achten: Ich bin mir nicht sicher, ob bei einer Absenkung der Uwe Beckmeyer (SPD): Wir beraten heute einen Maut die geringere Belastung wirklich beim Transport- Antrag der FDP, der die Bundesregierung auffordert, die und Logistikgewerbe ankommen würde. Oder ob nicht Arbeitsplätze im Transportgewerbe zu sichern und dafür vielmehr die Auftraggeber die Chance nutzen und die die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Erhöhung der Preise aufgrund der aktuell angespannten Lage noch Maut bis Ende des Jahres 2009 auszusetzen. weiter drücken würden. Dann hätten wir dem Gewerbe Das erste Anliegen des Antrags unterstützen wir als auf Kosten des Steuerzahlers einen Bärendienst erwie- Sozialdemokraten vorbehaltlos. Es ist als Politik unsere sen. Aufgabe, dem deutschen Transport- und Logistikge- Hinzukommt, dass die mit der Veränderung der Maut werbe durch die Zeit der Wirtschaftskrise zu helfen und (B) zum 1. Januar 2009 prognostizierten Mehreinnahmen in (D) dabei Arbeitsplätze zu sichern. Daher habe ich bereits die Finanzierung von wichtigen Verkehrsinfrastruktur- vor einem Monat die Vertreter der Branche zu einem Ge- projekten fließt. Damit wird dem Transport- und Logis- spräch mit den Verkehrspolitikern meiner Fraktion ein- tikgewerbe indirekt auch geholfen. Gute Infrastruktur geladen und mit ihnen sowie dem Bundesverkehrsminis- heißt auch gute Rahmenbedingungen für das Gewerbe. terium vereinbart, dass in direkten Gesprächen – unter Einbindung weiterer Ressorts – besprochen wird, wie Wer die Absenkung der Maut fordert, muss daher man helfen kann. Der erste Termin hat vor einer Woche auch die Frage beantworten, wie die Mindereinnahmen stattgefunden. Ein nächstes Treffen ist für die kom- kompensiert werden können. mende Woche vereinbart. Aus meiner Sicht ist die Beantwortung der von mir Wir beobachten derzeit, dass die Wirtschaftskrise in genannten Fragen nicht so einfach. Ich vermute, das war einem rasanten Tempo alle wichtigen Branchen unserer auch der Grund, warum die Verkehrsminister der Länder Volkswirtschaft erreicht. Schlüsselsektoren wie die Au- auf ihrer letzten Tagung im April nicht die Forderung tomobilindustrie, die chemische Industrie, der Maschi- nach einem Aussetzen der Maut erhoben haben. nenbau beklagen einen immensen Einbruch der Auf- Ich will an dieser Stelle auch noch einmal in Erinne- tragslage. rung rufen, was das gemeinschaftliche Ziel der beiden In einem Land, das einen großen Teil seines Wohl- Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD bei der stands der Exportwirtschaft verdankt, ist klar, dass das Änderung der Mauthöheverordnung war: Transport- und Logistikgewerbe ebenfalls direkt von den Wir wollten eine Verstetigung und deutliche Verstär- Produktionsausfällen betroffen ist. Wo weniger produ- kung der erforderlichen Investitionen in die Verkehrsin- ziert und exportiert wird, wird auch weniger transpor- frastruktur erreichen. Dieses war nur möglich, wenn die tiert. Mautsätze an die tatsächlichen Wegekosten angepasst werden. Die bis dato geltenden Mautsätze basierten auf Mir ist bewusst, dass sich die wirtschaftliche Situa- der Berechnung des Wegekostengutachtens aus dem Jahr tion für das Logistikgewerbe durch die Wirtschaftskrise 2002. verschlechtert hat. Wir verzeichnen eine Zunahme der Insolvenzverfahren. Die Zahl der Betriebsaufgaben Mehr Maut bedeutet mehr Investitionen. Durch die steigt. Ausbleibende Aufträge und damit verbundene Neufestsetzung der Mauthöhe werden für das Jahr 2009 Überhänge in der Laderaumkapazität ziehen Flottenstill- rund 1 Milliarde Euro zusätzlich an Mauteinnahmen er- legungen im Straßengütergewerbe nach sich. Leasingra- wartet. Die Zahl wird sich in Anbetracht der wirtschaftli- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24463

(A) chen Lage sicherlich noch ändern. Fest steht aber: Diese Darüber hinaus sollten wir prüfen, auf welche Art und (C) Gelder sollen zusätzlich in die Verkehrsinfrastruktur, vor Weise wir den Kombinierten Verkehr in seiner Struktur allem in die Fernstraßen, investiert werden. in der Zeit der Krise erhalten. Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass Durch sinkende Preise im Straßengüterverkehr wan- wir das deutsche Transportgewerbe im Rahmen der dern derzeit verstärkt Verkehre von der Schiene wieder Mautharmonisierungsmaßnahmen entlasten. Mit einem zurück auf die Straße. Das ist nicht im Sinne der Stär- Maßnahmenpaket aus Absenkung der Kfz-Steuer, dem kung des Kombinierten Verkehrs. Entsprechend sollten Innovationsprogramm für die Anschaffung schadstoffar- wir nach Wegen suchen, wie wir den Güterverkehr auf mer Lkw, den De-minimis-Beihilfen und der Förderung der Schiene halten können. von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen gleichen wir Wettbewerbsnachteile der Spediteure gegenüber der aus- Ferner sollten wir einen Eigenkapitalfonds prüfen, der ländischen Konkurrenz in einer Größenordnung von nach Vorbild der Landesförderbanken Unternehmen, die über 600 Millionen Euro aus. sich in einer Notlage befinden, mit Eigenkapital versor- gen könnte. Und: Im Zuge des Konjunkturprogramms haben wir die Mittel noch einmal um 50 Millionen Euro für die De- Parallel dazu wollen wir schauen, ob wir die Instru- minimis-Beihilfen und die Förderung von Fort- und mentarien der Mautharmonisierung punktuell so verän- Weiterbildungsmaßnahmen aufgestockt. dern können, dass sie den Unternehmen in der aktuellen Phase des Abschwungs gezielt helfen. Mit den Konjunkturpaketen I und II helfen wir gene- rell, dass Arbeitsplätze und Unternehmen – auch in der Ein erster Schritt darüber hinaus könnte mit der Ver- Logistikbranche – gesichert und gestützt werden und längerung der Antragsfrist für die Harmonisierungsmit- dass die Konjunktur wieder in Gang kommt. Beide Maß- tel über den 15. Mai 2009 gemacht werden. nahmenpakete zusammen haben einen Umfang von über 80 Milliarden Euro. Gleichzeitig sollten wir prüfen, ob die Begrenzung der De-minimis-Förderung auf 600 Euro pro Fahrzeug Wir müssen nun schauen, wie an verschiedenen Stel- und 33 000 Euro im Jahr pro Unternehmen flexibler ge- len die vorhandenen Instrumente passgenauer gemacht staltet werden kann. werden können, damit sie auf die besondere Situation in der Transport- und Logistikbranche zugeschnitten sind. In ähnlicher Weise sollten wir schauen, ob im Rah- men der Mautharmonisierung die Förderansätze in der Dabei müssen wir zum Beispiel über eine Feinjustie- (B) Förderrichtlinie zur Aus- und Weiterbildung flexibili- (D) rung der Kurzarbeiterregelungen reden. Die Koalitions- siert werden können. fraktionen sind sich einig, dass das Kurzarbeitergeld auf 24 Monate ausgeweitet werden soll und ab dem 7. Mo- Denkbar wäre auch, dass die per Berufskraftfahrer- nat die Sozialversicherungsbeiträge vom Staat übernom- und Qualifizierungsgesetz obligatorisch vorgesehenen men werden. Das wird auch dem Transport- und Logis- Nachprüfungen gefördert werden könnten. tikgewerbe helfen, ihre Mitarbeiter zu halten. Genauso sollten wir überprüfen, ob die Förderung im Das Problem ist jedoch, dass die Löhne im Transport- Rahmen des De-minimis-Programms und der Aus- und und Logistikgewerbe sich mehrheitlich aus einem Fortbildung vorerst als Pauschale oder Abschlagszah- Grundeinkommen und einer ergänzenden Überstunden- lung an die Unternehmen ausgereicht werden können. vergütung zusammensetzt. Das Kurzarbeitergeld bezieht sich jedoch nur auf den Nettolohn. Überstunden bleiben Außerdem sollten wir prüfen, ob den Unternehmen derzeit außen vor. Das Bundesarbeitsgericht verweist in ein verbessertes Abschreibungsverfahren für die Euro-3- einem Urteil darauf, dass bei Arbeitnehmern, in deren Fahrzeuge helfen könnte, in neue Euro-5-Fahrzeuge zu Branchen Überstundenvergütungen üblicherweise im investieren. großen Maße vorkommen, diese auch in die Berechnung des Kurzarbeitergeldes einbezogen werden sollte. Hier Mit den von mir geschilderten Maßnahmen können sollten die Arbeitsmarktexperten noch einmal prüfen, ob wir ein Paket aus Instrumentarien schnüren, das dem hier nicht eine gesetzliche Klarstellung erfolgen sollte. Transport- und Logistikgewerbe in den kommenden Mo- naten durch die Wirtschaftskrise helfen kann. Dabei ist Außerdem müssen wir uns anschauen, wie wir die in es von großem Vorteil, dass wir bestehende Programme der Sache richtigen Liquiditätshilfen der KfW-Bank aus der Mautharmonisierung und Hilfen der bereits be- den beiden bereits beschlossenen Konjunkturprogram- schlossenen Konjunkturprogramme nutzen. So verlieren men in ihrer Wirksamkeit verbessern. Die Unternehmen wir nicht viel Zeit und können schnell auf die schwierige der Transport- und Logistikbranche beklagen im ver- Lage reagieren. stärkten Maße, dass die Hausbanken trotz der Hilfspro- gramme der KfW sehr zögerlich mit der Vergabe von Ich glaube, wir sind uns im Ziel, dem Transport- und Krediten umgehen. Möglicherweise müssen wir in die- Logistikgewerbe zu helfen, alle einig. Lassen Sie uns die sem Zusammenhang über ein befristetes Aussetzen der Diskussion über konkrete Hilfen jedoch nicht auf die Eigenkapitalvorschriften (Basel II) für Kreditinstitute Frage „Mauthöhe runter – ja oder nein“ verkürzen und nachdenken. gemeinsam schauen, wie wir helfen können. 24464 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Jan Mücke (FDP): Die Wirtschaftskrise hat die Gü- Mautentlastung anstreben. Ich hoffe auf Ihre Unterstüt- (C) terkraftverkehrsbranche mit aller Wucht getroffen. Bin- zung. nen eines Quartals verschlechterte sich die Auftragslage um 25 bis 30 Prozent. Ein Ende der Talfahrt ist nicht ab- Lutz Heilmann (DIE LINKE): Die Wirtschaftsleis- zusehen. Suchte das Gewerbe im vergangenen Herbst tung geht in diesem Jahr um voraussichtlich 6 Prozent noch händeringend Kraftfahrer, haben mittlerweile zurück. Güterverkehrsunternehmen verzeichnen Rück- 40 Prozent aller deutschen Transportunternehmen Kurz- gänge um bis zu 40 Prozent. Frachtraten auf Schiene und arbeit eingeführt. 60 Prozent der Betriebe sahen sich so- Straße gehen vor allem wegen des Exporteinbruchs zu- gar bereits gezwungen, Mitarbeiter zu entlassen. rück. Spediteure machen Dumpingangebote. Dadurch In dieser Situation täte die Politik gut daran, die Bran- kommt es teilweise zur Verlagerung von Verkehren von che bestmöglich zu entlasten. Die Koalition hingegen der Schiene auf die Straße. Damit einher gehen Kurz- überzieht sie seit Jahresbeginn mit der größten Maut- arbeit und steigende Arbeitslosigkeit in allen Bereichen erhöhung seit Beginn der Mautpflicht. Was das für die der Wirtschaft. Besonders betroffen ist das Transportge- Unternehmen bedeutet, erschließt sich, wenn man weiß, werbe. dass allein 25 bis 40 Prozent der Gesamtkosten eines Ich stimme den Kolleginnen und Kollegen von der Speditionsunternehmens mit eigenem Fuhrpark und FDP in ihrem Anliegen ausdrücklich zu, Arbeitsplätze schwerpunktmäßig nationalem Geschäft auf Kraftstoff sichern zu wollen. Ist allerdings der vorgeschlagene Weg und Maut entfallen. In der Bundesrepublik wird mit der Richtige? Ist die geforderte Aussetzung der Erhö- 0,47 Euro pro Liter Diesel bereits der europaweit zweit- hung der Lkw-Maut der richtige Weg? Ich denke Nein. höchste Steuersatz für Kraftstoffe erhoben. Man kann Warum? Die Lkw-Maut ist ein sinnvolles Mittel. Mit sich vorstellen, welche Auswirkungen zusätzliche Belas- Einführung der Lkw-Maut zum 1. Januar 2005 wurde tungen durch eine um 47 Prozent erhöhte Maut auf die die Benachteiligung des in (fast) allen Belangen wesent- wirtschaftliche Lage der Unternehmen haben. In der der- lich umweltfreundlicheren Schienenverkehrs weitge- zeitigen, angespannten wirtschaftlichen Lage kann diese hend aufgehoben. Seit der Einführung ist es tatsächlich häufig nicht einmal teilweise an die Auftraggeber wei- zu einer Reduzierung von unnötigen Leerfahrten gekom- tergegeben werden. men. Auch sollen künftig weitere Anreize geschaffen Zudem ergaben die jüngsten Erhebungen, dass sich werden, Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. der durchschnittliche Mautsatz nicht, wie von der Bun- Ich stimme aber auch zu, dass Spediteure zurzeit desregierung noch im letzten Jahr stets angeführt, auf große Probleme haben, die Lkw-Mauterhöhung weiter- 16,3 Cent pro Kilometer, sondern auf 18,4 Cent pro Ki- zugeben. Zum Teil liegt das daran, dass die Weitergabe (D) (B) lometer erhöht hat. Die Bundesregierung zieht sich zwar der Lkw-Maut einfach nicht vertraglich vereinbart darauf zurück, dass sich dieser Wert nicht allein auf das wurde. Zum Teil zahlt die Wirtschaft aber ganz einfach Mautaufkommen im Jahr 2009 beziehe, sondern einen nicht die höhere Maut für Lkws, die in einer schlechte- Durchschnittswert der Mautsätze der Jahre 2009 bis ren Emissionsklasse sind. Das ist insbesondere für kleine 2011 darstelle. Was nutzt den Spediteuren in der heuti- Spediteure ein Problem, die eben nicht neue und alte gen Situation ein Durchschnittswert, der die Prognosen Fahrzeuge haben und jetzt einfach mal die alten mit für spätere Jahre mit einbezieht? Zumal sich aller Vo- schlechten Emissionswerten stehen lassen können. Eine raussicht nach auch diese Prognosen nicht einstellen spezielle Förderung kleiner Spediteure ist EU-beihilfe- werden. Sie gründen auf der Annahme, dass die Unter- rechtlich nicht unproblematisch, wäre aber nach meiner nehmen ihre Flotten kontinuierlich erneuern werden. Auffassung der bessere Weg, als für alle Lkws die Maut- Dafür fehlt ihnen aber schlichtweg das Geld. Vielmehr erhöhung auszusetzen. kämpfen viele Spediteure zurzeit ums reine Überleben. Hinzu kommt, dass durch die enorme Mautspreizung Eine Absenkung der Mauterhöhung wäre aber durch- Euro-III-Fahrzeuge einen Großteil ihres bisherigen aus möglich. Man wird jetzt fragen: Um wie viel? Dazu Marktwertes verloren haben. Dieser fehlt den Unterneh- sage ich, einfach nur pauschal aussetzen ist der falsche men zusätzlich als Finanzierungsanteil. Die aktuelle Zu- Weg. Noch einmal zur Erklärung: Die Mauterhöhung er- lassungsstatistik des Kraftfahrt-Bundesamtes bestätigt folgt in zwei Stufen. Die erste kam zum 1. Januar 2009, die Krisenlage: Die Zahl der Neuzulassungen für Sattel- und die zweite kommt zum 1. Januar 2011. Bei einem zugmaschinen nahm gegenüber dem jeweiligen Vorjah- Dreiachser in der Schadstoffklasse III oder II mit Parti- resmonat im Januar 2009 um 28,7 Prozent, im Februar kelminderungsstufe 1 bedeutet das eine Maut von 2009 sogar um 48,2 Prozent ab. Angesichts dieser Zah- 19 bzw. 21 Cent pro Kilometer. Es kommt damit zu der len ist es nicht nachvollziehbar, wie die Bundesregierung eigenartigen Entwicklung, dass 2009 und 2011 die Maut ihre Ziele erreicht sehen will. stark steigt, danach aber wieder fallen wird. Dabei sagt das Wegekostengutachten von 2007, dass ab 2012 die Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt daher vor, die Maut steigen müsste, eben weil die Wegekosten steigen, Mauterhöhung des Jahres 2009 bis zum Ende dieses Jah- im Durchschnitt 2012 auf 18 Cent. Nach der Verordnung res auszusetzen. Die Unternehmen werden hierdurch ist es aber so, dass dieser Wert schon 2009 erreicht wird schnell und effektiv entlastet. Für viele ist es die letzte und danach wieder abfällt. Chance. Wachen wir nicht erst auf, wenn es bereits zu spät ist! Den Pressemeldungen der letzten Tage war zu Die Linke sagt: Wenn, dann sollte eine Neufestlegung entnehmen, das auch Vertreter der Unionsfraktion eine der Lkw-Maut erfolgen. Dabei sollte in kleineren Schrit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24465

(A) ten vorgegangen werden. Also könnten die Mautsätze Ich will ein Beispiel geben, was dann nicht mehr (C) jetzt durchaus etwas geringer sein und, was sinnvoll möglich wäre: So gewährt der Bund für die Nachrüstung wäre, man könnte ein paar Stufen mehr einfügen, um eines Lkw mit Dieselrußpartikelfilter aus den De-mini- dann bis 2012 den Mautsatz steigen zu lassen. Dann hät- mis-Beihilfen 2 000 Euro Zuschuss. Mit dem Filter kom- ten gerade die kleineren Spediteure etwas mehr Zeit. Es men die Lkw dann in die nächstgünstigere Mautstufe. würde zwar etwas weniger Geld reinkommen, aber ich Ein umgerüsteter Euro-2-Lkw spart 8,4 Cent pro Kilo- denke, es wäre vertretbar und würde gerade jetzt den meter, ein Euro-3-Lkw wird zu Euro-4, spart 2,1 Cent Spediteuren helfen. Letztlich wollen wir die Menschen pro Kilometer und erhöht den Restwert beträchtlich. Das bei dem, was wir tun, mitnehmen und nicht gegen sie et- nutzt Spediteuren und Umwelt gleichermaßen. Das wäre was durchdrücken. aber nicht mehr möglich, wenn der FDP-Antrag umge- setzt würde. Auch der Einbau eines Partikelfilters aus dem De- minimis-Programm kann nun gefördert werden. Mit ei- Außerdem wissen wir alle, dass die deutsche Lkw- Maut weit unter dem liegt, was nach dem letzten Wege- nem solchen Dieselrußfilter rutschen die Lkws in die kostengutachten möglich wäre, und dass die externen nächstniedrigere Mautklasse. Das spart dann Maut. Hier Kosten des Lkw-Verkehrs immer noch nicht angelastet kann durchaus die Förderung von derzeit maximal werden. In der Schweiz ist die Maut viermal so hoch wie 2 000 Euro erhöht werden, denn ein Filter kostet in Deutschland, und trotzdem gibt es dort noch in nen- 4 500 Euro. Das würde gerade auch für kleine Speditio- nenswerten Umfang Lkw-Verkehr. Aber was auf die nen eine Entlastung bringen. Wie viele Fahrzeuge über- Schiene verlagert werden kann, das wird in der Schweiz haupt schon umgerüstet wurden, dazu gibt die Bundesre- verlagert, und so sollten wir das hier auch machen. gierung keine Auskünfte. Es wäre aber wichtig zu wissen, ob die Unterstützung überhaupt angenommen Statt über Hilfen für den Lkw zu reden, sollten wir da- wird. her besser über Hilfen für den Schienengüterverkehr re- den. Gerade im kombinierten Verkehr drohen große Darüber hinaus brauchen wir ein wirkliches Antikri- Rückverlagerungen. Denn die gesamte Verbindung wird senprogramm, das die Arbeitsplätze der Menschen er- unwirtschaftlich, wenn das Ladungsaufkommen nur um hält: eine Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes, einen ge- 10 bis 20 Prozent einbricht. Genau das ist aber derzeit setzlichen Mindestlohn, ein Investitionsprogramm für der Fall. Und obendrauf möchte die FDP mit der Union den sozialen und ökologischen Umbau der Gesellschaft. noch die Gigaliner zulassen, die nach einer aktuellen Damit erhöhen wir die Nachfrage im Land. Und damit Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innova- ich nicht falsch verstanden werde, die Linke steht für re- tionsforschung, ISI, zu einer massiven Rückverlagerung (B) gionale Wirtschaftskreisläufe, das schließt die Vermei- des Verkehrs von der Schiene auf die Straße führen und (D) dung von unnötigem Güterfernverkehr ein. damit die Klimabilanz des Gütertransports massiv ver- schlechtern würden. Daher lehnt meine Fraktion diesen Fazit: Der Antrag der FDP macht zwar auf beste- Antrag ab. hende Probleme aufmerksam. Die Aussetzung der Maut- erhöhung wird von uns aber als nicht richtig erachtet.

Anlage 6 Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der FDP-Antrag ist ein Showantrag, der nichts kostet, Zu Protokoll gegebene Rede aber Wählerstimmen bei der Lkw-Lobby bringen soll. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Denen sei ein Blick in das FDP-Wahlprogramm empfoh- Berichts: Eine starke Partnerschaft – Europa len, das am Wochenende beschlossen werden soll. Kein und Lateinamerika/Karibik (Tagesordnungs- Wort zur Senkung der Lkw-Maut, die hier gefordert punkt 26) wird. Und das ist auch logisch. Denn natürlich weiß auch die FDP, dass eine Senkung der Lkw-Maut eins zu eins Marina Schuster (FDP): Es freut mich, dass es die auch zu einer Senkung der Verkehrsinvestitionen führen Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik nach würde. Oder glaubt hier irgendjemand, dass angesichts langer Pause auf die Tagesordnung des Plenums ge- von prognostizierten Steuerausfällen von 316 Milliarden schafft haben. Bedauerlich ist nur, dass einer strategisch Euro bis 2012 der Bundesfinanzminister dann ein- so bedeutenden Thematik kein prominenter Platz einge- springt? räumt wird. Unterschlagen wird in der Diskussion um die Maut- Eigentlich sollte uns diese Vernachlässigung nicht erhöhung auch gerne, dass ein Großteil der Erhöhung di- wundern. Die Lateinamerika-Politik führt bei der Bun- rekt dem deutschen Speditionsgewerbe zugutekommt. desregierung nach wie vor nur ein trauriges Schatten- Seit Wochen und Monaten stehen in den Fachzeitschrif- dasein; das kann auch ihr Antrag nicht verdecken. Jahre- ten Tipps und Tricks, wie man an diese Hilfen kommen lang sind Sie wie selbstverständlich davon ausgegangen, kann unter der Überschrift „So sichern Sie sich Ihr Geld dass die Region unser natürlicher Partner ist, um den vom Staat“. Würde man die Maut zurückdrehen, müsste man sich nicht weiter zu bemühen braucht. Selbstver- man auch diese sogenannten De-minimis-Beihilfen zu- ständlich, wir teilen mit den Menschen in der Region rückdrehen. viele kulturelle, religiöse Werte. Doch in einer globali- 24466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) sierten Welt sind natürliche Partner zu einer Rarität ge- Bürgerrechte, die Untergrabung freier Märkte und die (C) worden. Wir müssen uns viel aktiver einbringen, um die Aushöhlung staatlicher Institutionen dürfen keine Schule engen Beziehungen zu dieser Region nicht aufs Spiel zu machen. Davon kann ich in Ihrem Antrag nichts finden. setzen. Ich will hier aber nicht verallgemeinern. Bei der Be- Das Beispiel Afrika zeigt, wie direkt vor unserer wertung des in den vergangenen Jahren zu beobachten- Haustüre Länder wie China vehement nicht nur ihre den Trends zu Linksregierungen gilt es klar zu differen- wirtschaftlichen Interessen vertreten und die Europäer zieren. Mit Brasilien, Argentinien und Chile erleben wir dabei zunehmend ins Hintertreffen geraten. Auch in La- Regierungen, die eher einen gemäßigten, sozialdemokra- teinamerika bahnen sich ganz neue Partnerschaften an. tischen Kurs verfolgen, die mit dem Chávez-Projekt ei- Venezuela sucht demonstrativ den Schulterschluss mit nes sozialistisch vereinten Lateinamerikas glücklicher- Iran, China, Nordkorea und Russland – von Chávez mit weise wenig gemein haben. zynischem Blick auf die USA „Achse des Guten“ ge- tauft. Vor diesem Hintergrund dürfen wir uns nichts vorma- chen: Die starke Betonung regionaler Kooperation, wie Auch Brasilien ist bestrebt, ein System globaler sie im Koalitionsantrag festgehalten ist, wird der aktuel- Bündnispartner aufzubauen – mit Erfolg: so war die stra- len politischen Situation in der Region nicht mehr ge- tegische Partnerschaft mit Indien und Südafrika Aus- recht, auch wenn wir uns das nach wie vor wünschen. gangspunkt für die Gründung der G 20. Brasilien hat Vielmehr gilt es, sie durch subregionale und gegebenen- sich darüber hinaus im Rahmen der WTO zu einem füh- falls auch bilaterale Kooperationsformen zu stärken, renden Player entwickelt. Und vergessen wir nicht: Die asiatische Nachfrage nach Energie und Lebensmitteln nämlich dann, wenn aufgrund innerer Spannungen, wie aus Südamerika steigt rasant. bei der Andengemeinschaft oder dem Mercosur, eine Blockade eingetreten ist. In diesem Rahmen müssen wir Europa darf nicht den Zug verpassen, auf den andere endlich strategische Fragen angehen wie die Bekämp- schon längst aufgesprungen sind. Dies muss auch im la- fung der internationalen Kriminalität, des Drogenhan- teinamerikanischen Interesse liegen. Denn für die EU dels und der Fortschritte bei der rechtsstaatlichen Ent- bleiben Demokratie und Rechtsstaat ein zentrales Ele- wicklung. ment der Kooperation. In dieser umfassenden Zusam- menarbeit grenzt sich die EU von anderen Akteuren ab. Aber auch viele andere Themen schreien geradezu nach Kooperation. So hat die Diskussion um nachwach- Bestes Beispiel sind die EU-Assoziierungsabkom- sende Kraftstoffe Brasilien fast von einem auf den ande- (B) men, welche in einigen Ländern zur Verhandlung stehen. ren Tag ins Rampenlicht internationaler Energiepolitik (D) Neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bieten diese gerückt. Doch welche Rolle soll Lateinamerika künftig auch und gerade eine Plattform für den politischen Dia- bei der Energiediversifizierung der EU spielen? Die log. Selbstverständlich stellen wirtschaftliche Aspekte Bundesregierung hat auch darauf noch keine Antwort einen zentralen Bestandteil dieser Abkommen dar, dies gegeben. Bis heute ist eine klare Strategie und präzise aber im beiderseitigen Interesse. Denn entgegen der öf- Definition von Zielen und Interessen nicht erkennbar. fentlichen Wahrnehmung profitieren gerade auch die Daran ändert auch der vorliegende Antrag der Koalition Schwellenländer von einer schrittweisen Einbindung in nichts. So treffend die Bestandsaufnahme auch sein mag, die Weltwirtschaft. Dies hat der indisch-amerikanische so wenig überzeugt er in Fragen der politischen Konse- Ökonom Jagdish Bhagwati in seinem jüngsten Buch be- quenzen. Denn bis heute ist die 1999 in Rio beschwo- legt: Der Rückgang von Armut ist vor allem dort zu rene strategische Partnerschaft leider nicht mit Leben ge- verzeichnen, wo die Prinzipien der sozialen Marktwirt- füllt worden. schaft und des Freihandels verantwortungsvoll umge- setzt werden. Gleichzeitig ist die Bundesregierung gefordert, auf eine Kohärenz innerhalb der EU hinzuwirken. Es darf Die Gesprächspartner vor Ort sprechen ganz offen aus: Schickt uns den Wirtschaftsminister und – bei allem nicht sein, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten politische Respekt – eben nicht die Entwicklungsministerin! Sonderwege zu einzelnen Staaten definieren. Denn da- mit untergräbt man die Glaubwürdigkeit der Gemeinsa- Wir können nicht wegschauen, wenn Länder wie men Außen- und Sicherheitspolitik. Kuba und Venezuela immer noch der alten Mär eines So- zialismus unter Palmen nacheifern – auf Kosten einer Deutschland und die EU schöpfen ihr Potenzial in langfristigen Entwicklung ihrer Länder. Mit Petrodollars Lateinamerika weder politisch noch wirtschaftlich aus. hat sich etwa der venezolanische Präsident Chávez die Dabei haben wir einige Trümpfe in der Hand: das ge- Gunst der armen Bevölkerung erkauft und die vieler meinsame Wertefundament, die traditionell guten Bezie- Nachbarländer. Korruption und Verstaatlichungen schre- hungen Deutschlands zu Lateinamerika. Vor allem die cken ausländische Investoren ab. Durch die Abhängig- ausgestreckte Hand unserer Partner in Lateinamerika ist keiten von teuren Nahrungsmittelimporten drohen mit eine exzellente Basis für eine vertiefte Kooperation. Die dem sinkenden Ölpreis Versorgungskrisen. Hier wün- Kooperation bietet große Chancen. Sie von der Bundes- sche ich mir von der Bundesregierung mehr Mut, bilate- regierung müssen aufpassen, dass in Lateinamerika am ral Flagge zu zeigen: Die Beschränkung elementarer Ende Ihrer Amtszeit nicht nur verpasste Chancen stehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24467

(A) Anlage 7 Gerade vor dem Hintergrund der Europawahlen wird (C) das besonders deutlich. Ich bin zutiefst davon überzeugt, Zu Protokoll gegebene Reden dass die befürchtete schwache Wahlbeteiligung und die zur Beratung: zu geringen Kenntnisse über die gewachsene Bedeutung des Europaparlaments auch damit zusammenhängen, Beschlussempfehlung und Bericht: dass in unseren Medien zu wenig über die Arbeit des – Antrag: Klare Rahmenbedingungen für den Parlaments und seine Kompetenzen berichtet wird. dualen Rundfunk im multimedialen Zeital- ter Weil in den verschiedenen FDP-Anträgen so viel von einem angeblich unfairen Wettbewerb zwischen öffent- – Antrag: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im lich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten die Digitalzeitalter Rede ist, darf an dieser Stelle darauf hingewiesen wer- – Antrag: Besondere Rolle des öffentlich- den, dass die beiden großen öffentlich-rechtlichen An- rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompro- stalten, ARD und ZDF, immerhin große Europastudios miss sicherstellen in Brüssel unterhalten, während Private wie zum Bei- spiel Sat.1 ihre Studios geschlossen haben. Die Privaten Beschlussempfehlung und Bericht: haben ein Lobbybüro in Brüssel, das die wirtschaftlichen – Antrag: Neuregelung der GEZ-Befrei- und verbandspolitischen Interessen der Sender vertritt. ungstatbestände – Neuverhandlung des Ein Redaktionsbüro haben sie nicht. Für sie sind die Me- Rundfunkgebührenstaatsvertrages dien offenbar eher ein Wirtschafts- als ein Kulturgut. Beschlussempfehlung und Bericht: Deshalb unterstütze ich ausdrücklich das Bekenntnis zu starken öffentlich-rechtlichen Anstalten, das sich im – Unterrichtung: Medien- und Kommunika- Medien- und Kommunikationsbericht findet. Ich will tionsbericht der Bundesregierung 2008 mich nicht in die Gebührendebatte einmischen: Der Be- – Entschließungsantrag: Medien- und Kom- richt gibt dazu ebenfalls einige Hinweise, so, dass die munikationsbericht der Bundesregierung Rundfunkfinanzierung Sache der Länder ist. Ich will 2008 aber darauf hinweisen, dass wir in einer globalisierten Welt den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Kraft der (Tagesordnungspunkt 25 a bis c) Orientierung und Integration dringend benötigen. Dafür muss er finanziell angemessen ausgestattet werden. Der Reinhard Grindel (CDU/CSU): Wir haben bereits Bedarf wird durch die KEF transparent und fundiert fest- (B) vor einigen Wochen über den Medien-und Kommunika- gestellt. Insofern halte ich es für die Grundvorausset- (D) tionsbericht debattiert. Insofern will ich mich vor allem zung einer möglicherweise neu einzuführenden Medien- mit den hier vorgelegten Oppositionsanträgen befassen. abgabe, die die Rundfunkgebühr ersetzen würde, dass Richtig bleibt: Der Medien- und Kommunikationsbe- dieses für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufkom- richt ist eine umfassende Grundlage für die Beschäfti- mensneutral ausgeht. Das muss umso mehr gelten, als gung mit der Medienpolitik und ihren aktuellen gesetzli- die mediale Inflation in den letzten Jahren die normale chen Rahmenbedingungen. Der Bericht beschäftigt sich Preissteigerung wegen der deutlich gestiegenen Preise mit einer Vielzahl wichtiger Themen, die über die Me- für Sport- und Filmrechte bei weitem übertroffen hat. Im dienpolitik im engeren Sinne hinausreichen, vom Ju- Gegensatz zur FDP stelle ich ausdrücklich fest, dass ne- gendschutz über das Urheberrecht bis zu Onlinesucht ben dem Auftrag für Kultur, Bildung und Information und Breitbandstrategie. Es ist richtig, dass wir mit unse- natürlich auch die Unterhaltung und der Sport wichtige rem Staatsminister für Kultur und Medien den entschei- Elemente des Programmangebots eines gebührenfinan- denden Mann der Medienpolitik auf Bundesebene mit zierten Rundfunks sind. Die Öffentlich-Rechtlichen Sitz im Kanzleramt haben. Dieses dokumentiert ein- müssen sich neben dem Wettbewerb um Qualität auch drucksvoll, dass es sich bei der Medienpolitik um eine dem Quotenwettbewerb stellen, weil zu einem gebüh- wichtige Querschnittsaufgabe handelt, und die bedeu- renfinanzierten Programmangebot gehört, dass es mas- tende Rolle, die die Bundesregierung ihrem Beauftrag- senwirksam ist. Die Begründung für die Gebührenfinan- ten für Kultur und Medien dabei einräumt. zierung würde wegfallen, wenn im Schnitt nur noch 3 bis 5 Prozent der Zuschauer die öffentlich-rechtlichen Zu Recht bezeichnet die Bundesregierung die Medien Sender einschalten würden. in ihrem Bericht gleichermaßen als Kultur- und Wirt- schaftsgut. Dabei betont sie die Bedeutung eines qualita- Deshalb ist es unverzichtbar, dass sich die öffentlich- tiv hochwertigen und vielfältigen Medienangebots für rechtlichen Anstalten auf allen Verbreitungswegen an unsere Demokratie. Darauf sind wir als Politiker beson- ihre Zuschauer oder Zuhörer wenden können. ARD und ders angewiesen. Wir brauchen Plattformen für den öf- ZDF müssen auch über den Verbreitungsweg Internet fentlichen Diskurs. Das können nur Medien leisten. Von ihre Integrationsfunktion in der Gesellschaft erfüllen, der Lokalzeitung bis hin zu den großen Fernsehanstalten zumal sich immer mehr jüngere Menschen ausschließ- sind sie es, die dazu beitragen, dass wir den Menschen lich über das Internet informieren. Es ist auch nicht ein- unsere Politik erläutern und den Wettbewerb unter- zusehen, weshalb die zum Teil teure Ware nach sieben schiedlicher politischer Meinungen möglichst breitflä- Tagen für den Zuschauer nicht mehr zur Verfügung ste- chig abbilden können. hen soll. 24468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Geradezu rührend ist die Aufforderung der FDP, die Im Medienbericht wird zu Recht die große Bedeutung (C) Bundesregierung möge sich gegen eine Diskriminierung einer vielfältigen Presselandschaft betont. Auch die der ausländischen Investoren in der Medienwirtschaft Printinitiative von Minister Neumann geht in diese Rich- einsetzen. Wenn man sich die Entwicklung bei ProSie- tung. Wir werden nur dann eine vielfältige Zeitungsland- benSat.1 anschaut, sieht man: Das Gegenteil der Fall. schaft erhalten können, wenn wir auch viele Zeitungsle- Die Investorengruppe KKR/Permira in Verbindung mit ser haben. Wir sind dringend darauf angewiesen, dass dem ausländischen Sender SBS bekam den Zuschlag insbesondere vor Ort bei den Regional- und Lokalzeitun- und nicht die Axel-Springer-Gruppe, weil in diesem Fall gen ein vielfältiges Angebot erhalten bleibt. Das muss das inländische Unternehmen aufgrund der kartellrecht- durch ein vernünftiges Pressekonzentrationsrecht ge- lichen Lage ProSiebenSat.1 nicht übernehmen durfte. Es währleistet sein. Dabei sollten wir auch dafür sorgen, ist Diskriminierung, wenn KKR/Permira ProSiebenSat.1 dass die Parteien, was ihre Beteiligung an Medien, vor und den Axel-Springer-Verlag gemeinsam hätte erwer- allem Zeitungen, angeht, ein Höchstmaß an Zurückhal- ben können, der Verlag aber nicht den Sender. Wenn tung üben müssen. Es ist schon widersprüchlich, wenn man sich anschaut, wie dort die Informationsangebote sich gerade die SPD für Staatsferne in Rundfunk und ein Opfer der radikalen Sparmaßnahmen und herunter- Fernsehen ausspricht, aber über ihre Beteiligung an Zei- gefahren werden, kann das einem Medienpolitiker in der tungen sogar wirtschaftlich direkt an Sendern beteiligt Seele wehtun. Ich bin ganz sicher, dass der Axel-Springer- ist. Verlag ein journalistisch deutlich anspruchsvolleres Konzept mit dem Sender verfolgt hätte. Insofern ist es zu Abschließend ein Wort zur Deutschen Welle. Sie hat bedauern, dass sich die Übernahme so vollzogen hat. den großen Vorteil, dass wir da als Bund sogar zuständig Von Diskriminierung kann man hier also wahrlich nicht sind. Mit Blick auf die neue Aufgabenplanung, über die sprechen. Vielmehr zeigt dieser Vorgang die Schutzbe- wir in einigen Monaten zu befinden haben, will ich beto- dürftigkeit deutscher Sender und Verlage vor ausländi- nen, dass wir nach meinem Eindruck damit aufhören schen Investoren, deren Interesse eben ausschließlich müssen, immer nur Prioritäten zu benennen, wo wir auf dem Wirtschaftsgut und nicht dem Kulturgut Medien der Welt Schwerpunkte in unserer Präsenz setzen wol- gilt. len. Wir haben nicht den notwendigen Spielraum, um hier alle Wünsche zu erfüllen. Wir kommen nicht umhin, Die FDP spricht sich in ihrem Antrag für einen auch einmal zu sagen, wo wir unsere Aktivitäten zurück- werbe- und sponsoringfreien öffentlich-rechtlichen fahren müssen, um in anderen Regionen der Welt unse- Rundfunk aus. Letzteres halte ich für richtig, sofern es ren Auftritt zu stärken. sich nicht um Sportsendungen handelt, bei denen der Zu- schauer Sponsoring erwartet, nicht zuletzt wegen der Der Medien- und Kommunikationsbericht ist eine (B) Bandenwerbung in den Stadien und der Werbung auf gute Grundlage, um die zahlreichen Handlungsempfeh- (D) den Trikots der Mannschaften. Aus Gründen der Glaub- lungen in parlamentarische Initiativen zu gießen. Damit würdigkeit sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk an- werden wir in der neuen Legislaturperiode unmittelbar sonsten auf Sponsoring verzichten. beginnen. Aber Werbefreiheit kann ich gerade mit Blick auf die werbende Wirtschaft nicht unterstützen. Die Wirtschaft Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Mit dem von der hat ein großes Interesse daran, dass es eine gewisse Kon- Bundesregierung vorgelegten Medien- und Kommunika- kurrenz zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten tionsbericht 2008 liegt eine umfassende Dokumentation gibt. Sonst hätte das wahrscheinlich einen erheblichen der erfolgreichen Bundesmedienpolitik der letzten Jahre Anstieg der Tausenderkontaktpreise zur Folge. Es ist für vor. Die Bündelung der verschiedenen Berichtspflichten die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Systems im Bereich der Medien- und Kommunikationspolitik nicht falsch, wenn man nicht ausschließlich auf Gebüh- trägt der Konvergenz der Medien und den tiefgreifenden reneinnahmen angewiesen ist. Veränderungen der letzten Jahre auf diesem Sektor gut Rechnung. Gleichzeitig weist der Bericht in die Zukunft. Wenn wir über die Breitbandstrategie reden und die Indem er Handlungsoptionen für die nächsten Jahre auf- Versorgung des ländlichen Raums mit schnellen Inter- zeigt, wird er quasi zum medienpolitischen Kursbuch netzugängen betrachten, ist der Hinweis auf frei wer- künftigen Regierungshandelns. Aufgrund des breiten dende Frequenzen im Rahmen der digitalen Dividende Themenspektrums möchte ich nur auf drei Initiativen ex- richtig. Ich will bei dieser Gelegenheit allerdings hervor- emplarisch kurz eingehen. heben, dass es eine große Zahl von Konzertveranstaltern und Medienschaffenden gibt, die hier eine Problematik Der schon 1597 vom britischen Philosophen Francis sehen, weil die Kommunikation mit drahtlosen Mikrofo- Bacon geprägte Ausspruch „Wissen ist Macht“ hat heute nen offenbar über einen Frequenzbereich geht, der dann nicht im Geringsten an Bedeutung verloren. Wissen be- in Konkurrenz zu den Frequenzen für das Internet stehen zieht man insbesondere auch durch Zeitungslektüre. Wer würde. Das muss untersucht werden, übrigens auch des- keine Zeitungen liest, sich nicht informiert und sich da- halb, weil auch die drahtlose Kommunikation unter Fuß- mit kein Wissen zugänglich macht, bringt sich um die ballschiedsrichtern gefährdet wäre. Da die Fußball- Chance, die Zukunft des Gemeinwesens mitzugestalten. schiedsrichter schon mit drahtloser Kommunikation oft Aus diesem Grunde liegt mir die „Nationale Initiative genug schlecht pfeifen, wäre es nicht auszuhalten, wenn Printmedien – Zeitungen und Zeitschriften in der Demo- auch die noch wegfällt. kratie“ besonders am Herzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24469

(A) Tatsache ist leider, dass immer weniger Jugendliche Kinder“, www.fragFINN.de, ist eine Gemeinschaftsini- (C) Zeitung lesen. Zeitungen und Zeitschriften sind aber tiative von Bundesregierung und Wirtschaft. Dieses Pro- auch im digitalen Zeitalter – zumindest noch – die wich- jekt trägt dazu bei, Kindern einen bewussten und ange- tigsten Leitmedien. Genau dieses Bewusstsein, den Wert, messenen Umgang mit dem Internet nahezubringen. den Zeitungen und Zeitschriften in der Gesellschaft als Zum ersten Mal wurde in Europa ein gesicherter Kulturgut haben, gilt es vor allem jungen Menschen stär- Surfraum für Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren ker zu vermitteln. Jugendliche müssen das Handwerks- geschaffen, ohne dabei potenziellen Gefahren oder den zeug, Zeitungstexte sachgerecht nutzen zu können, quasi Nachteilen der anderweitig verfügbaren Filtersysteme als Kulturtechnik wie das Lesen erlernen. Wem die Lese- ausgesetzt zu sein. „fragFINN“ verbindet auf sinnvolle kompetenz insbesondere bei Zeitungen fehlt, der wird in Weise speziell für Kinder aufbereitete Inhalte, soge- letzter Konsequenz von der Teilnahme am gesellschaftli- nannte Kinderseiten, mit dem gesamten World Wide chen Leben ausgegrenzt sein. Dem gilt es entgegenzu- Web. Die Initiative hat in den ersten fünf Monaten be- wirken. reits eine „Weißliste“ mit mehreren Tausend Domains und über 30 Millionen Dokumenten aufgebaut. Täglich Zu den Partnern der Initiative, die auch bereits vorhan- kommen weitere dazu, nachdem auf Vorschlag von Nut- dene Projekte in Schulen wie „Zeitung in der Schule“ zern die entsprechenden Seiten zuvor von besonders ge- oder „Zeitschriften in der Schule“ bündelt, gehören unter schulten Medienpädagogen aufbereitet wurden. anderem der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, der Verband Deutscher Lokalzeitungen, der Deutsche Diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, dass diese Bun- Journalisten-Verband und der Bundesverband Presse- desregierung medienpolitisch viel auf den Weg gebracht Grosso. Dieses verdienstvolle private Engagement be- hat. Angesichts des insbesondere im Medienbereich be- grüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich. sonders schnellen, tiefgreifenden und beständigen Wan- Die „Nationale Initiative Printmedien“ stellt eine Kom- dels werden wir uns allerdings immer wieder auf neue munikations- und Aktionsplattform dar, die der Unter- Herausforderungen einstellen müssen. Die von der Bun- stützung einzelner Förderprojekte dient. Ein Schülerwett- desregierung gestarteten Initiativen dazu sind vielver- bewerb ist ein wichtiger Bestandteil. sprechend. Wir werden diese auch weiterhin parlamenta- risch begleiten und weiterentwickeln. Mein besonderer An diese Bemühung, junge Menschen für Zeitungs- Dank gilt an dieser Stelle Staatsminister , lektüre zu begeistern, schließt das nächste Projekt, die der sich um Kultur und Medien in unserem Land verdient Ergründung und Bekämpfung eines neuen Phänomens, macht. quasi nahtlos an. Nach verschiedenen Studien finden sich in Deutschland 3 bis 7 Prozent „onlinesüchtige“ In- (B) ternetnutzer oder solche, die stark suchtgefährdet sind. Monika Griefahn (SPD): Wir beraten heute ab- (D) Der exzessive Gebrauch der elektronischen Medien von schließend den „Medien- und Kommunikationsbericht 10 bis 18 Stunden pro Tag ist in der Folge eine Verab- der Bundesregierung 2008“ und die Anträge der Fraktio- schiedung vom realen gesellschaftlichen Leben, verbun- nen der FDP, des Bündnisses 90/Die Grünen und der den mit allen negativen sozialen und gesundheitlichen Linken zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rund- Konsequenzen. Mangels ausreichender wissenschaftli- funks. cher Expertise ist Online- oder Neue-Medien-Sucht bis- her international noch nicht ausreichend erforscht. Vor Mit der Vorlage des Medien- und Kommunikations- diesem Hintergrund begrüßt die CDU/CSU-Bundestags- berichtes ist die Bundesregierung – wenn auch mit eini- fraktion, dass das Bundesministerium für Gesundheit ger Verspätung – ihren Berichtspflichten gegenüber dem Anfang 2008 eine zweijährige Studie über „Beratungs- Deutschen Bundestag zum Thema Medien, insbesondere und Behandlungsangebote zum pathologischen Internet- zur fortschreitenden Digitalisierung im Medienbereich gebrauch in Deutschland“ in Auftrag gegeben hat. Der und zu Wegen der Überwindung der digitalen Spaltung Bundestagsausschuss für Kultur und Medien hat sich des der Gesellschaft nachgekommen. Dabei ist festzustellen, Themas ebenfalls bereits angenommen und am 9. April dass sich die Neukonzeptionierung des Berichts, mit 2008 eine öffentliche Anhörung durchgeführt. dem verschiedene Berichtspflichten im Bereich der Me- dien- und Kommunikationspolitik gebündelt wurden, Auf der Basis verlässlicher wissenschaftlicher Analy- bewährt hat und der Konvergenz der Medien und den sen werden sich, so hoffe ich, gezielt Präventionsmaß- technischen Entwicklungen der letzten Jahre Rechnung nahmen und Behandlungsmethoden entwickeln lassen. trägt. Als solche kommen beispielsweise Warnhinweise zum Suchtpotenzial, verpflichtende Spieldauereinblendungen Auch wenn es sicher Unterschiede bei der Bewertung oder auch die Begrenzung der Spieldauer durch techni- im Detail gibt, so kann doch insgesamt festgestellt wer- sche Vorkehrungen in Betracht. Wichtig ist insbesondere den, dass der Medien- und Kommunikationsbericht eine aber die gezielte Förderung und Unterstützung von Me- umfassende Grundlage für die Beschäftigung mit der dienkompetenz sowohl für Kinder und Jugendliche als Medienpolitik, ihren aktuellen gesetzlichen und marktli- auch für Erwachsene durch Zusammenarbeit von Eltern, chen Rahmenbedingungen darstellt. Das breite Themen- Schulen und Medienpädagogik. spektrum – von Jugendschutz und Computerspielen über Medienkompetenz und Urheberrecht bis zu Onlinesucht Das dritte Projekt, das ich beispielhaft herausgreifen und der Breitbandkabelstrategie – illustriert die Vielfalt möchte, dient einer solchen Förderung. Das „Netz für und Komplexität des Politikfeldes Medienpolitik und 24470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) macht zugleich die Bedeutung von Medienpolitik als regierung die konkreten Ansatzpunkte des aktuellen (C) Querschnittsaufgabe mit all ihren Facetten deutlich. Evaluationsberichts des Hans-Bredow-Instituts zum Ju- gendmedienschutz aufgreifen. Medienkompetenz ist die Mit dem Medien- und Kommunikationsbericht wird Schlüsselqualifikation in der Informations- und Kommu- zugleich eine Bilanz der Medienpolitik der vergangenen nikationsgesellschaft und fördert die Befähigung von Jahre – der letzte Medienbericht datiert ja aus dem Jahr Menschen, sich in unserer von Medien durchdrungenen 1998 – gezogen, und gleichzeitig gibt der Bericht Hin- Welt kompetent zu integrieren und zu orientieren. Dabei weise auf die Herausforderungen der Medien- und Kom- geht es nicht nur darum, die verschiedenen, sich immer munikationspolitik in den kommenden Jahren. Aus der schneller entwickelnden Medienanwendungen zu ken- Fülle der mit dem Medien- und Kommunikationsbericht nen und technisch zu beherrschen. Angesichts der Viel- vorgelegten Informationen möchte ich für die SPD-Bun- zahl verfügbarer Quellen geht es vor allem auch um die destagsfraktion vor allem drei Themen aufgreifen: die Fähigkeit des kritischen Umgangs mit Informationen Vielfaltssicherung, den Jugendmedienschutz und mögli- und Inhalten. Wichtig sind dabei auch der verantwor- che Gefährdungen wie Medien- und Onlinesucht. tungsvolle Umgang mit persönlichen Daten sowie die Wie ein roter Faden zieht sich die Vielfaltssicherung Kompetenz, einzuschätzen, was sich durch die freiwil- auch in der digitalen Welt durch den Medien- und Kom- lige Preisgabe persönlicher Daten ergeben kann. munikationsbericht. Notwendig ist auch in Zukunft die Eine besondere Herausforderung für den Jugendme- verfassungsrechtlich gebotene Vielfaltssicherung, die dienschutz sind gewalthaltige Computer- und Video- durch das Pressekartellrecht des Bundes und das Me- spiele sowie jugendgefährdende und illegale Inhalte im dienkonzentrationsrecht im Rundfunkstaatsvertrag der Internet. Mit der am 1. Juli 2008 in Kraft getretenen Än- Länder sichergestellt wird. Dieses Grundmodell wirt- derung des Jugendschutzgesetzes wurde ein Teil der Er- schafts- bzw. wettbewerbsrechtlicher Regelungen einer- gebnisse der Evaluation zum Jugendmedienschutz be- seits und speziell auf die Meinungsvielfalt bezogener reits umgesetzt. Ich habe gerade gestern zusammen mit Bestimmungen andererseits hat sich nach gemeinsamer dem Geschäftsführer der Unterhaltungssoftware Selbst- Auffassung von Bund und Ländern grundlegend be- kontrolle, USK, neue Alterskennzeichen vorgestellt, die währt. Reformbedarf bestehe jedoch insbesondere im jetzt viel klarer gefasst sind als bisher. Ich bin der Mei- Bereich des Medienkonzentrationsrechts der Länder, da nung, dass solche untergesetzlichen Initiativen viel wirk- dieses einseitig auf den Rundfunk fixiert sei und damit samer und nachhaltiger sind, als wenn wir das Gesetz öf- den komplexen Konvergenzentwicklungen nicht mehr fentlichkeitswirksam immer weiter verschärfen, aber gerecht werde. Bund und Länder prüfen derzeit die daraus gar keine Konsequenzen entstehen. Gesetzlich ist Möglichkeiten einer crossmedial orientierten Fortent- im Bereich des Jugendmedienschutzes alles vorhanden, (B) wicklung der geltenden Bestimmungen, die auch die zu- was man braucht. Es muss von den Ländern nur umge- (D) nehmende Internationalisierung der Medienbranche setzt und vollzogen werden. deutlich stärker als bisher wird berücksichtigen müssen. Was aus unserer Sicht darüber hinaus wirklich nötig Neben der gebotenen Vielfaltssicherung wird auch ist, ist eine nachhaltige Verbesserung der Medienkompe- der Frage der Sicherstellung von Qualität in den Medien tenz, die unabdingbar ist, um eine digitale Spaltung der entscheidende Bedeutung zukommen, verbunden mit der Gesellschaft in eine Infoelite einerseits sowie Technik- Frage, wie diese seitens des Bundes gefördert werden verweigerern und Modernisierungsverlierern anderer- kann. Wichtig sind hierbei vernünftige Rahmenbedin- seits zu vermeiden. Besonders zu erwähnen ist in diesem gungen für die Wirtschaft und ergänzende Fördermaß- Zusammenhang der von uns als SPD-Fraktion initiierte nahmen. Auch das Urheberrecht – angepasst an die He- und inzwischen auf den Weg gebrachte „Deutsche Com- rausforderungen der digitalen Welt – spielt für eine puterspielepreis“, der im März dieses Jahres zum ersten angemessene Finanzierung eines anspruchsvollen und Mal vergeben wurde und der – nach dem Vorbild des qualitativ hohen Medienangebots eine zentrale Rolle. Deutschen Filmpreises – Anreize für die Entwicklung Als problematisch wird in dem Bericht die Situation von hochwertiger und pädagogisch wertvoller Produkte Zeitungen und Zeitschriften beschrieben, die zum Teil schaffen und deren Verbreitung unterstützen soll. erhebliche Reichweiten- und Auflagenrückgänge sowie Einbußen bei Anzeigenerlösen hinnehmen müssen. Die Nutzung elektronischer Medien kann auch mit Hinzu kommt, dass die Nutzung von Zeitungen und problematischen gesundheitlichen und sozialen Konse- Zeitschriften bei jungen Menschen weit überproportio- quenzen verbunden sein. Wenn, was in jüngster Zeit zu- nal sinke. Hier sollte, neben dem Erhalt des Presse- nehmend beobachtet werden kann, die Mediennutzung Grosso, überprüft werden, ob weiterer Handlungsbedarf so exzessiv betrieben wird, dass sie letztlich nicht mehr besteht. selbstbestimmt ist, sind die Auswirkungen und Begleit- erscheinungen den Symptomen anderer Suchterkrankun- Medienkompetenz ist ein wichtiges Stichwort. Ein gen vergleichbar. Das Ursache- und Wirkungsgefüge ist entscheidender, häufig unterschätzter Faktor für ein qua- jedoch noch weitgehend unerforscht. Es spricht viel da- litativ anspruchsvolles Medienangebot ist die Stärkung für, dass das Internet insoweit ein besonderes Gefähr- der Verantwortung von Medienanbietern und -nutzern. dungspotenzial hat, sodass auch von „Onlinesucht“, Ein wichtiger Baustein ist hier zunächst die von uns im „neuer Mediensucht“ oder „pathologischem Internet- Jahr 2003 initiierte Verbesserung des Jugendmedien- gebrauch“ gesprochen wird. Nach verschiedenen Stu- schutzes. Das Konzept der „regulierten Selbstregulie- dien gelten in Deutschland 3 bis 7 Prozent der Internet- rung“ wird als richtig bestätigt. Zudem wird die Bundes- nutzer als „onlinesüchtig“ und ebenso viele als stark Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24471

(A) suchtgefährdet. Im Blickpunkt steht dabei die aus- mierenden, bildenden, beratenden und unterhaltenden (C) ufernde Teilnahme an Onlinespielen oder Chats ebenso Programm absichert. wie der übermäßige Konsum sexueller Inhalte. „Online- süchtige“ verbringen im Extremfall nahezu ihre gesamte Auf der anderen Seite fordert sie aber gleichzeitig Zeit – 10 bis 18 Stunden pro Tag – mit derartigen Aktivi- – trotz der Einigung zwischen der Europäischen Kom- täten. In der Folge vernachlässigen sie ihre Umwelt mission und der Bundesregierung – eine Präzisierung mehr und mehr und beeinträchtigen oder verlieren da- der Vereinbarung dahin gehend, die Aufgaben und durch ihre übrigen sozialen Kontakte. Mangels ausrei- Pflichten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks klar zu chender wissenschaftlicher Expertise ist „Online- oder definieren. Die Bundesregierung soll nach Auffassung Neue-Medien-Sucht“ aber bisher international noch der FDP gegenüber den Ländern für eine Evaluierung nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt. der Aktivitäten – vor allem auch mit Blick auf die Online- aktivitäten – der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveran- Auch wenn es noch keine Statistiken zur Häufigkeit stalter eintreten und gegebenenfalls für eine Rückführung in der Bevölkerung gibt, ist der exzessive Internetge- auf den verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen sor- brauch ein sehr ernst zu nehmendes Problem. Es bedarf gen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich dagegen, wie zunächst vor allem einer vertieften Forschung zu Stö- die beiden anderen Oppositionsparteien in ihren Anträ- rungsbildern und der Entwicklung entsprechender dia- gen, immer für einen starken öffentlich-rechtlichen gnostischer Instrumente. Erst auf der Basis verlässlicher Rundfunk eingesetzt, dem es ermöglicht werden muss, wissenschaftlicher Grundlagen lassen sich gezielte Prä- die mit der Digitalisierung verbundenen Entwicklungs- ventionsmaßnahmen und Behandlungsmethoden entwi- potenziale auf allen Übertragungswegen, also auch im ckeln. Präventionsmaßnahmen müssen von staatlichen Onlinebereich, uneingeschränkt zu nutzen. Einrichtungen und der Wirtschaft gemeinsam in Angriff genommen werden. Wir wollen uns dafür einsetzen, zu Leider ist es uns als Koalition – auch nach langen und prüfen, wie diese Forschungsdefizite schnellstmöglich schwierigen Verhandlungen – nicht gelungen, einen ge- abgebaut werden können und ob dieses Krankheitsbild meinsamen Antrag zur Zukunftsfähigkeit des öffentlich- von der WHO als Krankheit anerkannt werden sollte. rechtlichen Rundfunks auf den Weg zu bringen, weil die Wir müssen dafür sorgen, dass den Betroffenen und ih- Unionsfraktion eine abgestimmte Fassung des Antrages ren Angehörigen schnellstmöglich geholfen werden zurückgezogen hat. Vorausgegangen waren dem Rück- kann. zug der Unionsfraktion Medienberichte, denen zufolge die Union mit diesem gemeinsamen Antrag einen Rich- Die Koalitionsfraktionen haben bei der abschließen- tungswechsel in ihrer Medienpolitik vollzöge. Für die den Beratung des Medien- und Kommunikationsberich- SPD-Bundestagsfraktion möchte ich nochmals mein Be- (B) tes im Ausschuss eine Entschließung eingebracht und dauern zu diesem Rückzug von der gemeinsam erarbei- (D) angekündigt, die zahlreichen Handlungsempfehlungen teten Position ausdrücken, weil es damit nach Jahrzehn- aufzugreifen und hierzu zeitnah parlamentarische Ini- ten medienpolitischer Grabenkämpfe gelungen wäre, tiativen zu initiieren. Aus Sicht der SPD-Bundestags- nach der wichtigen Entscheidung des Bundesverfas- fraktion sind dies insbesondere die Sicherstellung der sungsgerichtes einen medienpolitischen Grundkonsens verfassungsrechtlich gebotenen Vielfaltsicherung im über den Bestand und Erhalt sowie vor allem auch die Medienbereich und der Schutz der Kommunikations- Entwicklungsmöglichkeiten des öffentlich-rechtlichen grundrechte sowie die Förderung von Qualität und Ver- Rundfunks zu formulieren. Wir werden aber als Fraktion antwortung von Medienanbietern und Nutzern als das Thema „Fortentwicklung der dualen Medienordnung Grundprinzipien der Medien- und Kommunikationspoli- in Deutschland“ auch weiterhin auf die Tagesordnung tik. Die FDP-Fraktion spricht in ihrem Antrag zum Me- setzen und uns auch weiterhin für einen starken öffent- dien- und Kommunikationsbericht vor allem die Sicher- lich-rechtlichen Rundfunk auf allen Übertragungswegen stellung der Kommunikations- und Mediengrundrechte als Garant von Vielfalt und Qualität starkmachen. an. Vielleicht können wir als Medienpolitiker eine ent- sprechende Initiative nach der Bundestagswahl ergrei- fen. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Der Me- dien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung Gestatten Sie mir abschließend, auf die ebenfalls auf liefert einen recht umfassenden und detaillierten Ein- der Tagesordnung stehenden Anträge der Opposition blick in die Medienordnung von Heute und stellt auch ei- zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk einzugehen. Grund- nige Perspektiven und Handlungsnotwendigkeiten für sätzlich ist zunächst zu begrüßen, dass sich offensicht- die Medien- und Kommunikationspolitik der Zukunft lich alle Fraktionen im Grundsatz dahin gehend einig heraus. Wenngleich der Bericht in einigen Bereichen die sind, dass es – gerade angesichts der im Medien- und relevanten Probleme nicht genügend herausstellt – etwa Kommunikationsbericht beschriebenen Herausforderun- beim in den Jahren der Großen Koalition aus der Ba- gen – ein öffentlich-rechtliches Medienangebot geben lance geratenen Verhältnis zwischen den Sicherheitsinte- muss, wenn auch nicht über dessen Umfang und Reich- ressen des Staates und der Privatsphäre der Bürger – und weite. So konstatiert zwar die Fraktion der FDP in ihrem auch gelegentlich nicht die richtigen Schlussfolgerungen Antrag, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in aus den durchaus zutreffenden Erkenntnissen zieht, hat Deutschland einen Pfeiler der modernen Informations- der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Me- gesellschaft bildet und die mediale Grundversorgung der dien dem Bundestag insgesamt doch eine geeignete Dis- Bevölkerung mit einem qualitativ hochwertigen, infor- kussionsgrundlage vorgelegt. 24472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Über die vorliegenden Entschließungsanträge zum liche und externe Medienaufsicht für öffentlich-rechtli- (C) Medien- und Kommunikationsbericht und über einige chen sowie privaten Rundfunk, Medien und Telekom- Anträge, die sich mit der Zukunft des dualen Rundfunk- munikation. Vorbild könnte hier die britische Ofcom systems auseinandersetzen, wird heute gemeinsam de- sein. battiert. Auch die FDP-Fraktion hat bereits vor langer Zeit einen entsprechenden Antrag in den Bundestag ein- In diesem Zusammenhang möchte ich auch an dieser gebracht, der klare Rahmenbedingungen für den öffent- Stelle darauf hinweisen, dass eine effektive Kontrolle lich-rechtlichen Rundfunk im multimedialen Zeitalter natürlich voraussetzt, dass auch belastbare Kritierien einfordert. Es ist richtig, dass wir diese Anträge gemein- existieren, anhand derer die Kontrolle durchgeführt wer- den kann. Diese Anforderung hat der öffentlich-rechtli- sam mit dem Bericht der Bundesregierung behandeln, che Rundfunkauftrag noch lange nicht erreicht. Daher denn gerade in der Rundfunkpolitik offenbart dieser muss er dringend präzisiert werden. Es muss klar sein, doch eine seiner größten offenen Flanken. Und es ist was der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Ge- auch richtig, dass sich der Deutsche Bundestag – trotz bührenmilliarden leisten soll, und vor allem auch, was der Zuständigkeit der Länder für Medien und Rund- nicht. Ich denke, eine damit verbundene Stärkung der funk – mit diesen Themen auseinandersetzt. Denn auch Programmschwerpunkte Information, Bildung und Kul- die Bundespolitik trägt große Verantwortung für den Er- tur wäre an dieser Stelle ebenfalls angebracht. halt eines qualitativ hochwertigen und pluralistischen Mediensystems, für fairen Wettbewerb und für die euro- Lassen Sie mich den Kreis der dringlichsten Refor- parechtskonforme Ausgestaltung des öffentlich-rechtli- men beim dualen Rundfunksystem schließen. Eine an chen Rundfunksystems. das Bereithalten sogenannter Rundfunkempfangsgeräte – das können heute nicht nur Fernseher und Radios, son- Der Antrag der FDP ist bereits fast zwei Jahre alt, der dern auch PCs mit Modem, Telefone und demnächst wo- 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag ist beschlossene möglich auch Kühlschränke sein – anknüpfende Rund- Sache und befindet sich in der Ratifizierungsphase, und funkgebührenpflicht passt in das digitale multimediale der 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wird bereits und mobile Zeitalter wie Wählscheiben zu Mobiltelefo- zwischen den Staatskanzleien der Länder abgestimmt. nen. Seit Jahren mühen sich Vertreter vor allem von Wie immer glänzen die Staatskanzleien nicht gerade mit CDU/CSU und SPD daran ab, wie sie die fällige Ablö- besonders präziser Öffentlichkeitsarbeit, trotz der viel sung der Rundfunkgebühr noch länger hinauszögern beschworenen notwendigen gesamtgesellschaftlichen können und wie sie danach ein möglichst kompliziertes Debatte über das duale Rundfunksystem. Gerade deswe- und bürokratisches Nachfolgemodell finden können. Da- gen muss der Deutsche Bundestag hier aufmerksam blei- bei liegt die einfachste Lösung schon lange auf dem ben und vor allem auf die Einhaltung der europarechtli- Tisch. Wir sollten mit Nachdruck darauf hinwirken, dass (B) (D) chen Vorgaben achten. Nach wie vor bin ich übrigens der die Rundfunkgebühr durch eine allgemeine Medienab- Meinung, dass der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag gabe ersetzt wird. Diese würde von allen erwachsenen nicht vollständig umsetzt, was die Bundesregierung mit Bürgern mit steuerpflichtigen Einkommen getragen wer- der Europäischen Kommission im sogenannten Beihilfe- den und müsste zum Erhalt des bisherigen Gebührenauf- kompromiss im April 2007 ausgehandelt hat. Daher hat kommens nur bei circa 11 Euro pro Monat liegen. Die auch unser Antrag nichts von seiner Aktualität einge- aberwitzigen Doppelbelastungen – etwa für das Autora- büßt. Der Deutsche Bundestag muss sich endlich in die dio, den PC am Arbeitsplatz und die beruflich bedingte Debatte einschalten und die Medienordnung der Zukunft Zweitwohnung – würden ein Ende haben, ebenso die un- mitgestalten. fairen und unsystematischen Belastungen der Wirtschaft, die insbesondere den Mittelstand belasten. Betreiber von Ein wesentlicher Punkt für einen fairen Wettbewerb Hotels und Pensionen können Ihnen ein Lied davon sin- im Mediensektor ist eine effektive, unabhängige und gen. Und der Clou bei der Medienabgabe: Auch die Ge- transparente Aufsicht für den öffentlich-rechtlichen bühreneinzugszentrale – GEZ –, die man wohl nur noch Rundfunk. Eine solche existiert bis heute nicht; das hat als institutionalisiertes Imageproblem für ARD und ZDF auch das Gezerre um den Chefredakteur des ZDF, über ansehen kann, könnte abgeschafft, die Kosten von gut das wir bereits in der ersten Lesung ausgiebig gespro- 200 Millionen Euro pro Jahr eingespart werden. Die Ge- chen haben, eindrucksvoll demonstriert. Wir müssen uns bührenschnüffelei und die Jagd nach Schwarzsehern wä- immer wieder vergegenwärtigen, dass die Aktivitäten ren ebenfalls vorbei. Die gäbe es nämlich nicht mehr. von ARD, ZDF und Co., ausgestattet mit über 8 Milliar- den Euro Gebührengeldern pro Jahr, erhebliche Auswir- Wenn diese drei Reformbestandteile endlich angegan- kungen auf den schnelllebigen Medienmarkt entfalten. gen werden, sind wir einen großen Schritt weitergekom- Ein neues öffentlich-rechtliches Angebot kann dort sehr men auf dem Weg hin zu einem zukunftssicheren und schnell das Ende eines privaten Angebots bedeuten, Ar- modernen dualen Rundfunksystem. Wir dürfen nicht zu- beitsplatz- und Vielfaltsverluste inklusive. Es führt kein lassen, dass der durchaus wichtige öffentlich-rechtliche Weg daran vorbei, dass dieser öffentlich-rechtliche Rundfunk aufgrund der medienpolitischen Zurückhal- Gigant wirksam kontrolliert wird. Im digitalen und kon- tung in Deutschland dauerhaften Schaden nimmt. Auch vergenten Zeitalter, gepaart mit rasantem technologi- das Mediensystem insgesamt muss, vor allem im Hin- schem Fortschritt, ist eine öffentlich-rechtliche Binnen- blick auf die noch immer bemerkenswert hohe Qualität kontrolle durch auch noch so gutwillige ehrenamtliche und Vielfalt der Angebote, gestärkt werden. Ich be- Rundfunkräte bei weitem nicht mehr ausreichend. Was fürchte, dass etwa eine weitgehend unbegrenzte Expan- wir benötigen, ist eine moderne, professionelle, einheit- sion gebührenfinanzierter öffentlich-rechtlicher Ange- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24473

(A) bote in den Bereich der elektronischen Presse zu Programmführer und durch einseitig dominierte Emp- (C) dauerhaften Verwerfungen in diesem ohnehin stark unter fangsgeräte und Set-Top-Boxen erfolgen. Druck geratenen Markt und zur Verringerung von Pres- sevielfalt führt. Das muss verhindert werden. Gegenüber einer vollständigen Kommerzialisierung von Kultur und Information kann der öffentlich-rechtli- Die FDP greift in ihrem Entschließungsantrag zum che Rundfunk ein notwendiges Korrektiv sein. Auch im Medien- und Kommunikationsbericht die dortigen Im- Digitalzeitalter bleibt sein Funktionsauftrag bestehen. pulse auf, entwickelt sie weiter und macht konkrete Vor- Dazu müssen die Öffentlich-Rechtlichen die mit der Di- schläge zur Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen gitalisierung verbundenen neuen Entwicklungsmöglich- für eine moderne Medien- und Kommunikationswelt im keiten frei und ohne Beschränkungen nutzen können. digitalen und konvergenten Zeitalter. Der FDP-Antrag Das jetzige Verfahren – gefunden im Kompromiss zwi- zur Reform des dualen Rundfunksystems enthält die schen der Europäischen Kommission und der Bundesre- dringlichsten Reformbestandteile, die zur Stärkung und gierung – ist für einen zukunftsfähigen öffentlich-recht- dauerhaften Sicherung des Systems unabdingbar sind. lichen Rundfunk ungeeignet. Es hat sich zu einem Für beide werbe ich um Ihre Unterstützung. bürokratischen und kostenfressenden Monstrum entwi- ckelt. Der sogenannte Dreistufentest schafft keine Mi- nute neues Programm. Stattdessen verschlingt er unnö- Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Die Welt der Me- tige Summen an Gebührengeldern – Gelder, die in die dien befindet sich in einem rasanten Wandlungsprozess. Entwicklung eines zukunftsfähigen Programmangebo- Die Bedingungen der digitalen Kommunikation und ih- tes, in dem die Kreativen mehr und die Verwaltungen rer Netzwerke sind allgegenwärtig. Das gilt für die weniger zu sagen haben, aus Sicht der Linken besser an- Presse, die Buchverlage, die Film- und die Musikindus- gelegt wären. trie schon jetzt. Deren Zukunft liegt jenseits von Dru- ckerpresse, CD und DVD. Das sagen uns jedenfalls die Das Fundament für einen öffentlich-rechtlichen Rund- handelnden Akteure und Akteurinnen des Internetzeital- funk im Digitalzeitalter ist seine konsequent werbefreie ters. Damit werden tiefgreifende Umbrüche in den Ge- und nichtkommerzielle Ausrichtung. Nur so lässt sich schäftsmodellen und der Beschäftigungssituation dieser seine Akzeptanz und seine Finanzierung durch Gebühren Branchen verbunden sein. Schon jetzt ist ein Kultur- bei den Bürgerinnen und Bürgern langfristig sicherstellen kampf darüber entbrannt, wie das neue Zeitalter zu regu- und die zunehmende Konkurrenzsituation zu den privaten lieren ist. Er verläuft zwischen Jung und Alt, zwischen Rundfunkanbietern aufheben. Zugleich ist das die we- Digital und Analog. Die schnelle technologische Ent- sentliche Vorrausetzung, um sich dem Druck des europäi- wicklung zeigt allerdings, dass wir das Neue nicht nach schen Wettbewerbsrechts und dem Primat der Kommis- (B) den Maßstäben des Alten steuern können. sion zu entziehen. Ein Werbe- und Sponsoringverbot (D) – mit Ausnahme des Sports – wäre dazu ein erster wich- Auch der klassische Rundfunk und das Fernsehen tiger Schritt. Entgegen anderslautender Behauptungen werden zunehmend vom Sog der Digitalisierung und der sind Werbe- und Sponsoringfreiheit durchaus finanzier- damit einhergehenden Revolutionierung althergebrach- bar, entweder über das Einspar- und Umschichtungspo- ter kultureller Grundlagen erfasst. Während die Sende- tenzial in den bestehenden Haushalten der öffentlich- möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im rechtlichen Anstalten oder aber durch die Kompensation Internet mühselig erkämpft werden müssen, entwickeln des Ausfalls von Gebührenbefreiungen durch die Träger private Internet- und Telekommunikationsunternehmen sozialer Leistungen. Wir plädieren für Letzteres. weltweit Programmangebote jenseits einer demokrati- schen Medienordnung. Sie mausern sich ohne kulturel- len Auftrag, ohne öffentliche Kontrolle und Transparenz Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es zu Sendeanstalten von morgen. Öffentliche Berichter- ist Wirklichkeit geworden, was wir Grünen gerne ver- stattung wird unter diesen Bedingungen zum Spielball hindert hätten: ARD und ZDF müssen nicht nur neue rein finanzieller Interessen. Das lehnen wir Linke im In- Onlineangebote dem Dreistufentest unterziehen, sondern teresse einer an Transparenz und Objektivität orientier- auch das komplette bestehende Onlineangebot der Öf- ten Berichterstattung ab. fentlich-Rechtlichen muss noch einmal auf den Prüf- stand. Damit werden die Öffentlich-Rechtlichen im In- Wenn wir keine moderne Medienordnung schaffen, ternet noch stärker lahmgelegt als durch die engen werden Radio und Fernsehen vom Internet verdrängt Restriktionen, die im 12. Rundfunkänderungsstaatsver- werden. Dann werden allein private Unternehmen wie trag ohnehin schon festgelegt sind, wie zum Beispiel das Google und andere zum Rundfunk der Zukunft. Ohne Verbot presseähnlicher Angebote oder die Siebentage- moderne medienrechtliche Rahmenbedingungen wer- frist. Wir Grünen haben uns immer für eine 1:1-Umset- den die Bedingungen des Marktes und des Wettbewerbs zung des Brüsseler Kompromisses starkgemacht. Statt- zum bestimmenden Beweggrund digitaler Kommunika- dessen haben wir es nun mit einem bürokratischen tion. Monstrum zu tun. Einflussnahmen auf die öffentliche Meinung werden Warum auch das bestehende Onlineangebot im Nach- dann in naher Zukunft durch die Aufzeichnung des Nut- hinein noch einmal „zugelassen“ werden muss, ist un- zungsverhaltens, durch individuell zugeschnittene Wer- klar. Es ist unnötig. Viel Geld, Personal und Aufwand bung, durch die Bündelung und Verwertung von Inhalten werden für die Durchführung des Dreistufentests von in vordefinierten Programmpaketen, durch elektronische den Redaktionen abgezogen, was nicht nur die inhaltli- 24474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) che Arbeit und die Qualität gefährdet, sondern letztend- Wir wissen aber auch, dass es viele Menschen gibt, (C) lich ein noch unüberschaubares Mehr an Gebührengel- die sich die Gebühr auch heute schon nicht leisten kön- dern fordert. Nach Schätzungen der ARD wird die nen. Die GEZ muss den ihr zugedachten Beurteilungs- Bestandsprüfung der gemeinschaftlichen Telemedien spielraum bei Härtefällen voll ausschöpfen. Es kann mindestens 5 Millionen Euro kosten. Damit wird den nicht sein, dass nur der befreit wird, der einen entspre- Anstalten ein Berg Arbeit aufgeladen, der wohl nur mit chenden Bescheid vorlegen kann, und Tausende damit zusätzlichen Beschäftigten abgetragen werden kann. Das durchs Raster fallen. Schließlich sollen die Regelungen Programm wird dadurch nicht besser, aber viel teurer. zum Nutzen und nicht zulasten der Geringverdienenden wirken. Diese Befreiungsmöglichkeiten wollen wir auch Hier freuen sich die Verleger der Onlinepresse und bei einer Haushaltsmedienabgabe erhalten. Wir sind ge- die Privaten; denn sie haben es dank des 12. Rundfunk- spannt, ob sich die Ministerpräsidenten in diesem Jahr änderungsstaatsvertrags geschafft, ARD und ZDF online für unser Modell entscheiden. ordentlich auszubremsen. Und sie lassen nicht locker: Die Attacken bei der Nichtveröffentlichung des Kika- Noch einige Worte zum Medien- und Kommunikati- Gutachtens belegen dies. Dabei sind die neuen Regelun- onsbericht, der heute ebenfalls beraten wird. Er bietet gen noch nicht einmal in Kraft. eine solide Grundlage und einen wunderbaren Überblick über das, was medienpolitisch geschieht, und auch darü- Ich fordere alle an den Prüfverfahren direkt und indi- ber, was notwendig wäre. Allerdings entsprechen seine rekt Beteiligten dazu auf, den Populismus eine Weile Inhalte nicht annähernd der tatsächlichen Politik unseres beiseite und ARD und ZDF in Ruhe ihre Verfahren aus- Beauftragten für Kultur und Medien, Bernd Neumann. arbeiten zu lassen. Nach einer ersten Evaluierung ist Dessen „Medienpolitik“ drehte sich hauptsächlich um immer noch Zeit genug, Änderungen vorzunehmen. Filmförderung, Computerspielepreis und die Initiative Aber ich fordere auch alle am öffentlich-rechtlichen Pro- Printmedien. Das ist sehr schade. Gerade weil die me- gramm interessierten Verbände und Institutionen auf, dienpolitischen Aktionsfelder so weit gestreut und ver- von ihrer Möglichkeit Gebrauch zu machen, zu den Te- schiedenste Ressorts damit befasst sind, hätten wir uns lemedienangeboten im Rahmen des Dreistufentests mehr Engagement und eine zusammenführende Koordi- schriftlich Stellung zu nehmen und damit die Rundfunk- nation des gesamten Politikfeldes gewünscht. Zu medi- gremien bei ihrer neuen Aufgabe zu unterstützen. Wenn enpolitisch äußerst relevanten Fragen wie der Freiheit im hier nämlich nur Stellungnahmen von Verlegern und Netz oder dem diskriminierungsfreien Zugang zu Ange- dem Privatrundfunk eintreffen, entsteht eine extreme boten, zur Vorratsdatenspeicherung oder dem Breit- Schieflage bei der Beurteilung des Angebots. bandausbau äußert sich Herr Neumann einfach nicht. Die neuen Medien scheinen ihm bis auf Computerspiele (B) (D) Wir haben uns immer dafür ausgesprochen, dass die seltsam fremd geblieben zu sein. Die wirklich wichtigen Bestands- und Entwicklungsgarantie des öffentlich- Themen überlässt er dem Familien-, Wirtschafts- oder rechtlichen Rundfunks gewährleistet sein muss. Der öf- Innenministerium. fentlich-rechtliche Rundfunk muss das Internet als dritte Säule neben Radio und TV nutzen dürfen. Er erreicht Im Bericht stellt die Bundesregierung die Freiheit der sonst wesentliche Zielgruppen nicht, und der Gebühren- Medien in den schillerndsten Farben dar. Doch die Ten- einzug wird immer ungerechtfertigter. denzen zur Überwachung der Bürgerinnen und Bürger im Internet sind erschreckend und stellen das genaue Ge- Bündnis 90/Die Grünen sind der Meinung, dass genteil dessen dar, was der Bericht propagiert. Der Be- Rundfunkgebühren richtig und notwendig sind, um den griff der Medienfreiheit verkommt zur Floskel. öffentlich-rechtlichen Rundfunk und sein Qualitätsange- bot zu erhalten und allen zugänglich zu machen. Die Ge- Einige Beispiele. Seit dem 1. Januar 2009 gilt die bührenerhebung pro Gerät macht aber in Zeiten der Kon- Vorratsdatenspeicherung, das heißt, Telekommunika- vergenz der Geräte und Inhalte keinen Sinn mehr. tionsanbieter müssen verdachtslos für sechs Monate alle Vielmehr brauchen wir eine Medienabgabe pro Haushalt Verbindungsdaten der Deutschen speichern, also wer und Betrieb, unabhängig von den jeweiligen Geräten. wann wem gemailt hat. Die Inhalte der Kommunikation Diese Reform kann kostenneutral und leicht durchge- wurden zum Glück noch ausgenommen. Hierzu haben führt werden, denn die GEZ würde auch weiterhin die wir kein Wort unseres Medienstaatsministers vernom- Gebühren einziehen und verwalten. Sie müsste keine men. Kontrollbesuche mehr machen und nach verschiedenen Geräten „fahnden“; Verwaltungsaufwand und -kosten Darüber hinaus erleben die Bürger permanenten könnten reduziert werden. Die Mediengebühr pro Haus- Missbrauch ihrer persönlichen Daten durch die Privat- halt ist unabhängig von technischen Entwicklungen und wirtschaft, wie erst kürzlich bei Lidl, Telekom oder der neuen Geräten und ist somit ein zukunftsfähiges Modell, Deutschen Bahn geschehen. Gerade Unternehmen müs- das leidliche Diskussionen über die Gebühren für unter- sen aber Datenschutz gewährleisten. Liebe CDU/CSU, schiedliche Gerätetypen unnötig macht. bitte lassen Sie das von der Bundesregierung vorgeschla- gene Ende des Listenprivilegs im „Gesetz zur Regelung Dies sind keine leeren Worte im Wind. Wir haben ein des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutz- solches Modell durchkalkuliert, und wir gehen sogar von rechtlicher Vorschriften“ so stehen und verwässern Sie einer etwas geringeren monatlichen Gebühr für die es nicht durch entsprechende Anträge. Schenken Sie der Haushalte aus. Wirtschaftslobby hier kein Gehör! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24475

(A) Noch ein letztes Beispiel. Im Bericht steht: „Die Bun- während der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsaus- (C) desregierung sieht die Medienvielfalt nicht konkret ge- schusses am 25. März 2009 bestätigt. In diesem Zusam- fährdet.“ An anderer Stelle wiederum steht: „Ein Groß- menhang möchte ich eine weitere, mir als Krankenhaus- teil der Nutzer nimmt nur das wahr, was von Google auf arzt wichtige Erkenntnis aus der öffentlichen Anhörung den ersten beiden Seiten ausgeworfen wird.“ Das sind des Gesundheitsausschusses, hier auch vor dem Plenum zwei widersprüchliche Aussagen. Meinungsmacht haben des Deutschen Bundestages besonders hervorheben. nicht mehr allein die Bild-Zeitung oder das RTL-Ange- Denn sowohl einzelne Medien als auch die Fraktion Die bot. Meinungsmacht gibt es längst bei Suchmaschinen Linke verunsichern die Bevölkerung mit Angaben über und durch die Konvergenz von Print, Radio, TV und In- durch im Krankenhaus erworbene Infektionen zu Tode ternet. gekommene Patientinnen und Patienten, die den Ein- druck erzeugen, dass es höchst gefährlich sei, ein deut- Die bestehende, für den Rundfunk- und Pressebereich sches Krankenhaus aufzusuchen. Das Nationale Refe- gut funktionierende Medienkonzentrationskontrolle muss renzzentrum für Surveillance von nosokomialen also ans Internet angepasst werden. Die Ermittlung von Infektionen, NRZ, führt in seiner schriftlichen Stellung- Meinungsmacht über Zuschaueranteile ist veraltet. Wir nahme diesbezüglich aus: brauchen eine moderne Konzentrationskontrolle, die Google und Co. und mediale Verstrickungen mit ein- Erstens. „(…) Zahlen wie 50 000 Tote durch Kran- schließt. Beteiligungsbegrenzungen für internationale kenhausinfektionen seien wissenschaftlich nicht haltbar, Medienunternehmen sind keine Lösung. Wir hätten uns weil Studien dazu methodisch sehr anspruchsvoll sind. sehr gewünscht, hier vonseiten des BKM einmal Vor- Denn wenn ein Patient mit Infektion stirbt, ist es häufig schläge und Antworten zu hören. sehr schwer abzugrenzen, ob er wirklich ,an‘ der Infek- tion oder lediglich zeitlich ,mit‘ der Infektion verstorben Wir Grüne sprechen uns in jedem Fall für klarere ist, das heißt in diesem Falle wäre der Patient wahr- Transparenzregeln aus. Surfer, Zuschauer, Leser und scheinlich ohnehin an seinen Grundkrankheiten verstor- Hörer müssen nachvollziehen können, mit welchen Teil- ben (…).“ habern und Mitgesellschaftern sie es bei den von ihnen genutzten Medien zu tun haben. Nur dann können sie Zweitens. „(…) Das Europäische Center for Disease frei entscheiden, von wem sie Informationen beziehen Control and Prevention (ECDC) schätzt die Anzahl der wollen. Todesfälle, die als direkte Konsequenz der nosokomia- len Infektionen pro Jahr in Europa auftreten, auf 37 000. Ich wage kaum zu hoffen, dass wir irgendwann ein- Unter der Annahme einer gleichmäßig hohen Sterblich- mal ein eigenes Ministerium haben werden, das sich den keit wegen nosokomialer Infektionen in Europa müsste drängenden Fragen der Informationsgesellschaft an- (B) man somit in Deutschland mit circa 7 500 Todesfällen (D) nimmt und sich die Medienpolitik mit ihren vielfältigen wegen nosokomialer Infektion rechnen. Nimmt man ei- Themenfeldern zur Brust nimmt. Ich hoffe aber sehr, nen Anteil von 20 bis 30 Prozent vermeidbarer Fälle an, dass wenigstens der Medien- und Kommunikationsbe- kann man davon ausgehen, dass pro Jahr circa 1 500 bis richt zu einer Art Agenda des nächsten Beauftragten für 4 500 Patienten in Deutschland an einer vermeidbaren Kultur und Medien wird. nosokomialen Infektion versterben (…).“ Diese Aussagen werden auch durch Untersuchungen Anlage 8 bestätigt, die während des 33. Interdisziplinären Fortbil- dungsforums der Bundesärztekammer vorgestellt wur- Zu Protokoll gegebene Reden den. So veröffentlichte dort unter anderem Frau zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Dr. Christine Geffers vom Hygieneinstitut der Charité Berichts: Krankenhausinfektionen vermeiden – Berlin aktuelle Daten zu methicillinresistenten Staphylo- Multiresistente Problemkeime wirksam be- kokken, MRSA, in Deutschland. Nach den medizinisch- kämpfen (Tagesordnungspunkt 31) wissenschaftlichen Erkenntnissen von Frau Dr. Geffers lag in Deutschland der Anteil der MRSA an allen Sta- phylokokken, S. aureus, in Blutkulturen im Jahr 2007 Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): „Das Umden- bei 16 Prozent, nach über 20 Prozent in den Jahren da- ken muss bei den Akteuren im ambulanten und stationä- vor. Eine ähnlich gute rückläufige Tendenz ist bei post- ren Bereich stattfinden, und hier als wichtigster Punkt operativen Wundabstrichen festzustellen: Hier lag die die Verbesserung der Händehygiene.“ Diesen einfachen, Quote im Jahr 2007 bei 20,7 Prozent, im Jahr zuvor noch aber nach wie vor zutreffenden Leitsatz zur Vermeidung bei 21,9 Prozent. Und wenn die tatsächlichen Infektio- von nosokomialen Infektionen der Übertragung einer Er- nen in Kliniken analysiert werden, zeigt sich sogar ein krankung auf Patienten im zeitlichen Zusammenhang noch deutlicherer Rückgang. So lag die Inzidenzdichte mit einem Krankenhausaufenthalt oder eines Aufenthalts für MRSA-Infektionen auf deutschen Intensivstationen in einer anderen medizinischen Einrichtung formulierte in den Jahren 2006 und 2007 bei 0,3 Infektionen pro Herr Professor Markus Dettenkofer vom Institut für Um- 1 000 Patiententage. 1997 waren es noch 50 Prozent weltmedizin und Krankenhaushygiene an der Uniklinik mehr Fälle. Freiburg bereits im Oktober des vergangenen Jahres. Diese einfache und zugleich zutreffende Erkenntnis Die Auseinandersetzung mit nosokomialen Infektio- wurde im Wesentlichen auch durch die Sachverständi- nen muss vor allem in den Krankenhäusern bzw. in den gen, so zum Beispiel Frau Professor Dr. Petra Gastmeier, medizinischen Abteilungen und auf den pflegerischen 24476 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Stationen erfolgen. Nur hier können die richtigen der Erstellung der Strategie die Antibiotikaresistenzstra- (C) Schlüsse in Bezug auf mögliche Konsequenzen bei den tegien in Dänemark, Holland und den USA evaluiert. Infektionspräventionsmaßnahmen gezogen werden. Und dass dieser Ansatz der zielführendere ist, wird durch die Die Auffassung, die Bundesregierung tue zu wenig ge- von mir soeben vorgetragenen medizinisch-wissen- gen Krankenhausinfektionen, ist weder gerechtfertigt schaftlichen Erkenntnisse unterstrichen. noch zutreffend. Vielmehr ist die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätig und initiiert Aktivitäten Dass die deutschen Krankenhäuser sich ihrer diesbe- in ihrer Zuständigkeit durch Gesetzgebung – Regelungen züglichen Verantwortung auch bewusst sind, wird da- des IfSG, Vorbereitung einer Meldepflichtverordnung für durch deutlich, dass mittlerweile 1 116 Krankenschwes- MRSA –, fachliche Empfehlungen – der Kommission für tern bzw. Krankenpfleger mit der Zusatzqualifikation Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, KRINKO –, „Hygienefachkraft“ in den Häusern beschäftigt werden Projekte und Impulse – Nationales Referenzzentrum für und dort eine vorbildliche Arbeit leisten. die Surveillance von nosokomiale Infektionen und KISS, „Aktion saubere Hände“, Deutsche Antibiotikaresistenz- Wirklich bedauerlich ist, dass Sie hier wieder einmal strategie und darin zusammengefasste Aktivitäten. nur einen Antrag eingebracht haben, der wenig zur Lö- Weil Ihr Antrag eben nicht auf der Höhe der Zeit ist, sung von Herausforderungen im Gesundheitssystem bei- ist dieser abzulehnen. Für die CDU/CSU-Bundestags- trägt, sondern Ängste und Sorgen bei den Menschen fraktion sind die Patientensicherheit und die Qualität der weckt. Denn wenn es Ihnen ernsthaft um die Bekämp- Versorgung von Patientinnen und Patienten hohe Güter. fung von Krankenhausinfektionen gegangen wäre, hät- Ihr Antrag hilft in dieser Beziehung aber nicht weiter. ten Sie – spätestens nach der Öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses vom 25. März 2009 – Ihren An- trag „Krankenhausinfektionen vermeiden – Multiresis- Dr. Carola Reimann (SPD): Der Antrag der Links- tente Problemkeime wirksam bekämpfen“ auf Bundes- fraktion fordert die Bundesregierung auf, Maßnahmen tagsdrucksache 16/11660 zurückziehen müssen. Und da zur Eindämmung der Krankenhausinfektionen zu ergrei- Sie diesen Mut zur besseren Erkenntnis nicht besessen fen. Wir lehnen diesen Antrag ab, weil er Forderungen haben, wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion daher beinhaltet, die von der Bundesregierung längst in An- heute diesen Antrag hier ablehnen. griff genommen wurden, und weil er darüber hinaus auch noch Zuständigkeiten missachtet. Das gilt bei- Wir stimmen Ihren Forderungen, wie zum Beispiel spielsweise für die Forderung nach mehr Fachpersonal nach einer „Eindämmung der Krankenhauskeime“ sowie in den Gesundheitsämtern. Dafür sind die Bundesländer einer „wirkungsvollen verbindlichen Regelungen zur er- und nicht der Bund zuständig. Auch der Erlass von (B) folgreichen Eindämmung und Prävention“ nicht zu, da Krankenhaus-Hygiene-Verordnungen ist Aufgabe der (D) das Infektionsschutzgesetz, IfSG, sowie die Kranken- Länder. Einige Länder, wie zum Beispiel Bremen, Sach- haushygieneverordnungen auf Landesebene bei konse- sen und Berlin, spielen hier eine Vorreiterrolle. Ich er- quenter Umsetzung sowohl Prävention als auch Be- warte, dass andere Länder diesem Beispiel folgen. kämpfung von Krankenhausinfektionen bereits heute schon fördern und ermöglichen. Wir stimmen Ihren For- Krankenhausinfektionen stellen ein ernsthaftes Pro- derungen nach einer „personellen Aufstockung und Qua- blem dar. Die Bundesregierung ist sich dieser Problema- lifizierung des Personals in Gesundheitsämtern“ nicht tik sehr bewusst, und aus diesem Grund ist sie in diesem zu, da dies Aufgabe der Länder ist und der Bund hier Bereich schon seit geraumer Zeit aktiv. Maßnahmen zur keine Regelungskompetenz hat. Allerdings möchte ich Bekämpfung der Krankenhausinfektion hat die Bundes- in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die regierung längst in Angriff genommen: Zuallererst ist hier das Infektionsschutzgesetz zu nennen, das zahlrei- Bundesregierung die Qualitätssicherung in der Hygiene che Bestimmungen enthält, damit die Gesundheitsämter im Rahmen des Krankenhaus-Infektions-Surveillance- Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung nosoko- Systems, KISS, fördert und bei der Antibiotikaresistenz- mialer Infektionen treffen können. Zudem kann auch den strategie eine enge fachliche Kooperation zwischen Kolleginnen und Kollegen der Linken nicht entgangen Krankenhäusern und Gesundheitsämtern bereits schon sein, dass das Bundesministerium für Gesundheit bereits vorgesehen ist. Wir stimmen Ihren Forderungen nach ei- eine Verordnung zur Erweiterung der Meldepflicht von ner „Präventionsstrategie gegen nosokomiale Infektio- MRSA in enger Abstimmung mit den Ländern, Verbän- nen, die für Krankenhäuser betriebswirtschaftlich sinn- den und Experten erarbeitet hat. Der Gesundheitsaus- voll sein soll“ nicht zu, da sowohl KISS als auch die schuss des Bundesrates hat ja bereits einstimmig für die Antibiotikaresistenzstrategie Vorgaben enthalten, die be- Verordnung gestimmt. Morgen wird sich dann das Ple- reits kurzfristig zu einer finanziellen Entlastung der num des Bundesrates damit befassen. Es ist davon aus- Krankenhäuser führen, wenn die Eindämmung der Kran- zugehen, dass die Verordnung im August in Kraft treten kenhausinfektionen durch Investition in entsprechende kann. Der Handlungsbedarf ist also längst erkannt, und Hygienemaßnahmen konsequent umgesetzt werden. entsprechende Maßnahmen sind ergriffen worden. Dazu Und wir stimmen abschließend Ihren Forderungen nach bedarf es nicht auch noch eines zusätzlichen Antrages. einer Kopie „von geeigneten Maßnahmen erfolgreicher europäischer Nachbarländer“ nicht zu, da bereits schon Eine effektive Strategie zum Kampf gegen Kranken- bei der MRSA-Bekämpfung das Euregio-Netzwerk zur hausinfektionen muss einen Mix aus verschiedenen MRSA-Bekämpfung bei der Antibiotikaresistenzstrate- Maßnahmen beinhalten. Neben gesetzlichen Bestim- gie zugrunde gelegt wurde. Darüber hinaus wurden bei mungen spielen Kampagnen und Programme für eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24477

(A) Verbesserung der Krankenhaushygiene eine wichtige keine Ableitung auf unsere Situation in Deutschland zu. (C) Rolle. Ein Beispiel dafür ist die vom Bundesministerium Das Blickfeld muss für eine breitere Diskussion geöffnet für Gesundheit geförderte „Aktion Saubere Hände“. Die werden. Beispielweise ist der Antibiotikagebrauch in sorgfältige Handdesinfektion ist die wichtigste Maß- Deutschland eine Diskussion wert. nahme zur Vermeidung der Übertragung von Infektions- erregern. Bundesweit nehmen fast 500 Krankenhäuser Die Komplexität der Thematik lässt sich, aus unserer an dieser Aktion teil. Ich freue mich über die gute Reso- Sicht, nicht mit diesem Antrag nachhaltig und umfäng- nanz. Diese vergleichsweise einfachen, aber höchst lich bearbeiten. Deshalb enthält sich die Fraktion der wirksamen Programme zur Handdesinfektion sind ein FDP. wichtiger Baustein zur Eindämmung von Krankenhaus- infektionen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Infektionen mit multiresistenten Keimen sind ein zuneh- Neben den hier genannten Programmen und gesetzli- mendes Problem in Krankenhäusern. Seit 1990 ist bei- chen Bestimmungen existieren noch zahlreiche andere, spielsweise die Zahl der MRSA-Infektionen in Kliniken wirkungsvolle Maßnahmen. Zu nennen ist hierbei das deutlich angestiegen, von 1,7 auf 32 Prozent. Die Linke Krankenhaus-Infektions-Surveilance-System, KISS, das schlägt eine umfassende Initiative des Bundes vor, um die Erfassung und Analyse von Daten über Krankenhaus- das Infektionsrisiko zu senken. Leichter gesagt als getan. infektionen ermöglicht und an dem sich über 800 Kran- Ich bezweifle, dass dieser Vorschlag wirklich trägt und kenhäuser beteiligen. Einen wichtigen Beitrag zur Ver- zur Lösung des Problems in seiner ganzen Breite führen besserung der Krankenhaushygiene und zur Verhütung kann. nosokomialer Infektionen leistet auch die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, Die Ursachen für die Infektion mit multiresistenten KRINKO. Sie stellt fachlich fundierte Empfehlungen Keimen sind vielfältig. Und genauso vielfältig sind die auf dem Stand der Wissenschaft für Ärzte, Pfleger und Zuständigkeiten in dieser Frage. Ein Alleingang des Reinigungskräfte zur Verfügung. Bundes ist hier schwer möglich. Eine spürbare Ände- rung der derzeitigen Situation können wir nur herbeifüh- Die Bundesregierung hat also in ihrem Verantwor- ren, indem wir alle Verantwortungsträger einbeziehen. tungsbereich die notwendigen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Daher ist eine Aufforderung an die Bundesre- Wie bei allen biologisch aktiven, wandlungsfähigen gierung, wie sie im vorliegenden Antrag formuliert ist, Keimen werden wir derartige Infektionen nie umfassend überflüssig. Aus diesem Grund lehnen wir den vorlie- und komplett verhindern können. Wir können aber einen genden Antrag ab. Beitrag dazu leisten, dass Menschen vor bleibenden Ge- sundheitsschäden oder im schlimmsten Fall sogar vor (B) dem Verlust ihres Lebens geschützt werden. (D) Dr. Konrad Schily (FDP): Jährlich kommt es Schät- zungen zufolge zu 20 000 bis 40 000 Todesfällen auf- Ein Aspekt, den die Linke zutreffend benannt hat: In grund von Krankenhausinfektionen. Dies ist auch aus deutschen Kliniken herrscht eine hohe Arbeitsbelastung. unserer Sicht ein unhaltbarer Zustand. Hinzu kommt Es gibt zunehmende Dokumentationspflichten, und der eine nur zu schätzende Zahl von Patienten, die sich bei damit verbundene Zeitmangel kann teilweise dazu füh- einer medizinischen Behandlung im Krankenhaus infi- ren, dass Klinikbeschäftigte oder die Krankenhauslei- zieren. Diese Fakten beunruhigen uns sehr, da sie für den tung Maßnahmen zur Infektionsprävention nicht wirk- einzelnen Patienten zusätzliches und sogar vermeidbares sam umsetzen. Die bessere personelle und materielle Leiden bedeuten. Dazu kommen die enormen Zusatz- Ausstattung der Krankenhäuser, auch mit Hygienefach- kosten, die sich aus den unnötigen und verlängerten kräften und -fachärzten, liegt allerdings in der Zustän- Krankenhausaufenthalten ergeben. digkeit der Länder und der Krankenhausträger. Der Bund kann hier allenfalls Initiator einer konzertierten Das Anliegen der Fraktion der Linken, Krankenhaus- Aktion der Gesundheitsministerkonferenz sein, damit infektionen zu vermeiden, wird somit von der FDP-Bun- entsprechende personelle, materielle und organisatori- destagsfraktion ausdrücklich geteilt. Wir betrachten je- sche Ressourcen in Krankenhäusern mobilisiert werden. doch die im Antrag formulierten Forderungen und Maßnahmen als wenig zielführend. Als ein Indikator da- Ein weiterer Grund für die zunehmende Ausbreitung für kann die Behauptung der Linken betrachtet werden, von resistenten Keimen ist ein sorgloser Umgang mit dass die Bundesregierung eine Mitverantwortung trägt, Antibiotika nicht nur bei der Behandlung von Menschen, die unhygienischen Zustände in den Krankenhäusern zu sondern insbesondere auch in der Tiermast. Diesen As- beenden. Diese Position können wir nicht unterstützen. pekt hat die Linke in ihrem Antrag leider völlig verges- Die Hygiene ist vielmehr eine ureigenste Aufgabe der sen. Die von der Bundesregierung im November 2008 Krankenhäuser selbst. In erster Linie müssen die Kran- verabschiedete Antibiotikaresistenzstrategie beschränkt kenhäuser die Verantwortung tragen. sich leider auf die Beschaffung von Informationen und die Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe. Darüber hinaus werden in diesem Antrag Maßnah- Wirklich effektive Strategien und Maßnahmen fehlen men vorgeschlagen, die bereits gesetzlich umgesetzt bislang. sind. Bei weiteren Maßnahmen muss man fragen, ob sie wirklich den behaupteten Nutzen bringen oder nicht bes- Viele Wege, über die resistente Keime übertragen ser anders ausgestaltet werden sollten. Allein ein Ver- werden, können – auch durch gesetzliche Regelungen weis auf die Erfahrungen europäischer Länder lässt oder Aktionen wie „Saubere Hände“ oder „HAND- 24478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) KISS“ – nicht beseitigt werden, wenn die einzelnen Ak- Sie tut dies im Bereich der Rechtsetzung, wie jetzt ak- (C) teure nicht mitziehen. Die Einhaltung von bereits exis- tuell die Meldepflichtverordnung für MRSA in Blut und tierenden Hygienevorschriften, beispielsweise des Liquor zeigt, auf dem Gebiet der fachlichen Expertise, Robert-Koch-Instituts, oder das verantwortungsvolle zum Beispiel durch die KRINKO-Empfehlungen, und Verschreiben von Antibiotika liegen in der Hand der durch gezielte wichtige Projekte wie die „Aktion Saubere Ärzte und des Pflegepersonals. Hände“. Unsere Aktivitäten haben wir in der Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie in einem umfangreichen Natürlich hat der Bund im Rahmen des Infektions- Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung und Verhütung von schutzgesetzes Möglichkeiten, auf die Ausbreitung be- antimikrobiellen Resistenzen und Krankenhausinfektio- stimmter Erreger Einfluss zu nehmen. Es bleibt aller- nen gebündelt. Diese Strategie wird jetzt umgesetzt. dings die Frage, ob Maßnahmen wie beispielsweise die Jeder der beteiligten Akteure muss in seinem Zuständig- vorgeschlagene Einführung einer Meldepflicht wirklich keitsbereich tätig werden, Verantwortung und Engage- ausreichen. ment zeigen. Wie sehr in dieser Frage die Zuständigkeiten zersplit- Auch bei der Anhörung mit Expertinnen und Exper- tert sind und Fortschritte vom Aktivwerden einzelner ten wurde deutlich, dass die Bundesregierung bereits die Akteure abhängen, zeigt auch eine andere Tatsache: Die notwendigen vielfältigen und zielgerichteten Aktivitäten Verbreitung von multiresistenten Keimen ist nicht nur unternommen hat, um bei dem Problem der Kranken- von Bundesland zu Bundesland, sondern teilweise auch hausinfektionen voranzukommen. Der vorliegende An- von Region zu Region und von Krankenhaus zu Kran- trag bringt keine wesentlichen weiteren Aspekte ein. kenhaus unterschiedlich. Hier könnte zwar die Einfüh- Ich möchte abschließend noch einmal klarstellen: Die rung einer Meldepflicht das Problembewusstsein schär- Risiken für Patientinnen und Patienten, sich bei einem fen, gezielter auf die Einhaltung der Hygienevorschriften Krankenhausaufenthalt zu infizieren, müssen minimiert zu achten. Für eine wirkungsvolle Prävention aber brau- werden. Die Bundesregierung nimmt diese Problematik chen wir gezielte Maßnahmen auf allen Ebenen: von der sehr ernst und hat mit den eingeleiteten Maßnahmen zur Einführung von Screeningprogrammen über eine konse- Eindämmung der Krankenhausinfektionen und Antibio- quente Desinfektion bis hin zum vermehrten Einsatz von tikaresistenzen den richtigen Weg eingeschlagen. Hygienefachkräften und -fachärzten. Berlin, Bremen und Sachsen ebenso wie ein Modellprojekt im Raum Münster machen uns vor, wie es gehen könnte. Anlage 9 Auch die Krankenkassen müssten im Zuge der Quali- Zu Protokoll gegebene Reden (B) tätsdiskussion ein Interesse daran haben, hier ihren Bei- (D) trag zu leisten. Denn langfristig wird dadurch das Leid zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur vieler Betroffenen verhindert, und so werden auch Kos- Errichtung eines Sondervermögens „Vorsorge ten gesenkt. für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ (Schlusszahlungsfinanzie- Dem vorliegenden Antrag der Linken ist zugutezuhal- rungsgesetz – SchlussFinG) (Tagesordnungs- ten, dass damit ein wichtiges Problem aufgegriffen wird. punkt 34) Der vermittelte Eindruck, dass es in der alleinigen Macht des Bundes stehe, die Infektionsgefahr durch entspre- Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Alleine den chende Schutzmaßnahmen zu verringern, geht allerdings Titel dieses Gesetzentwurfs auszusprechen, erfordert an der Realität vorbei. So wünschenswert dies in diesem höchste Konzentration. Worum es bei diesem Gesetzent- Fall vielleicht wäre, weil es die Sache einfacher machen wurf aber eigentlich geht, möchte ich Ihnen hier zu- würde, so wenig stimmt es. Wir können daher dem An- nächst verdeutlichen. Das Ziel ist, für den Bund bei der trag der Linken nicht zustimmen. Fälligkeit von inflationsindexierten Wertpapieren hohe Einmalbelastungen vermeiden. Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Lassen sie mich zunächst erklären, was sich hinter desministerin für Gesundheit: Letzte Woche machte die dem Begriff „inflationsindexierte Wertpapiere“ verbirgt. WHO mit ihrem weltweiten Aktionstag „Safe Lives: Inflationsindexierte Wertpapiere zeichnen sich dadurch Clean Your Hands“ auf die Bedeutung der Händehy- aus, dass sie im Gegensatz zu nominalverzinslichen giene zur Eindämmung von Krankenhausinfektionen Wertpapieren einerseits nur einen relativ niedrigen jähr- aufmerksam. Die Händehygiene ist eine einfache und lichen Zinscoupon haben. Andererseits sind sie aber mit kostengünstige, aber zugleich auch sehr wirkungsvolle einem von der Entwicklung des Inflationsindexes abhän- Maßnahme, um Krankenhausinfektionen zu vermeiden. gigen Rückzahlungsbetrag bei Fälligkeit des Wertpa- Das Bundesministerium für Gesundheit unterstützt die piers verknüpft, der sogenannten Schlusszahlung. Der Aktion der WHO mit dem deutschen Projekt „Aktion Zins enthält zwei Komponenten. Zum einen ist er das Saubere Hände“, das bereits vor eineinhalb Jahren ange- Entgelt für den Konsumverzicht, den der Darlehensge- laufen ist. Ein Viertel aller deutschen Krankenhäuser ber zugunsten des Darlehensnehmers leistet. Zum ande- nehmen aktiv an der Aktion teil. Dies ist nur ein Bei- ren enthält der Zins auch einen Ausgleich für den infla- spiel, wie sich die Bundesregierung für die Verhinderung tionsbedingten Wertverlust, den ein Darlehen zwischen von Krankenhausinfektionen engagiert. der Gewährung und der Rückzahlung erleidet. Gerade Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24479

(A) die letzte Komponente enthält einen hohen spekulativen Wie geschieht dies? Es wird ein Sondervermögen er- (C) Anteil. Niemand kann vorhersehen, wie sich die Preis- richtet, um eine Vorsorge für die Schlusszahlungen die- entwicklung während der Laufzeit eines Darlehens ge- ser Wertpapiere zu treffen. Durch die regelmäßigen Zah- staltet. Genau hier setzt die inflationsindexierte Anleihe lungen von Geldern im Jahr der Verursachung an das an. Sie will dieses Risiko für den Gläubiger praktisch Sondervermögen wird dem Haushalt Geld entnommen ausschließen, indem anhand der tatsächlichen Verhält- und im Sondervermögen geparkt und so sichergestellt, nisse eine „Nachkalkulation“ vorgenommen wird. Diese dass bei Fälligkeit eines inflationsindexierten Wertpa- gestaltet sich passgenau und kann ohne jegliche Sicher- piers die Schlusszahlung komplett aus dem Sonderver- heitsmarge erfolgen. Wenn man dagegen diesen Teil des mögen geleistet werden kann und der Bundeshaushalt im Entgeltes am Beginn einer Laufzeit festlegt, so muss Fälligkeitsjahr nicht mit der Schlusszahlung belastet man einen Sicherheitszuschlag machen, weil niemand wird. Dies entspricht einer vorausschauenden und nach- die Entwicklung genau vorhersehen kann. Um diesen haltigen Finanzpolitik; denn durch das Sondervermögen einzusparen, kann man mit inflationsindexierten Anlei- können die Schlusszahlungen von der übrigen Finanz- hen arbeiten. entwicklung im Bundeshaushalt im jeweiligen Fällig- keitsjahr entkoppelt sowie die Kosten periodengerecht Bei Inflation erhöht sich der Zinsbetrag in jedem Jahr, zugeordnet und dadurch transparent gemacht werden. und im Fälligkeitsjahr der Papiere kommt die Schluss- Dies ist unter den gegebenen Umständen ein vernünfti- zahlung, die eine Ausgleichszahlung für die Inflation ger Weg, und deshalb wird die Union dem Gesetzent- über die gesamte Laufzeit enthält, auf den Bund zu. wurf auch zustimmen. Durch diese Konstruktion der Papiere entstehen Pro- bleme für den Bundeshaushalt, weil sich zeitlich andere Das unschöne Ergebnis dieser „Krücke“ ist die Schaf- Belastungen als bei nominalverzinslichen Papieren erge- fung einer Sonderrechnung außerhalb des Haushaltes. ben. Zwar sind die jährlichen Zinszahlungen bei infla- Dies wollen wir aus Gründen der Haushaltswahrheit und tionsindexierten Wertpapieren geringer, im Gegenzug ist Haushaltsklarheit eigentlich gerade vermeiden. Es ent- aber die von der Inflation abhängige Schlusszahlung zu stehen auf diesem Wege Töpfe und Nebenhaushalte; leisten, die es bei nominalverzinslichen Papieren nicht man kann sie auch als Schattenhaushalte bezeichnen, die gibt. Daraus resultiert im Falle einer steigenden Infla- niemand überblickt und die dem verfassungsrechtlich tionsrate eine hohe Einmalbelastung für den Bundes- bestehenden Transparenzgebot zuwiderlaufen. Deshalb haushalt im Fälligkeitsjahr, für die Vorsorge getroffen handelt es sich wirklich nur um eine „Krücke“ und nicht werden muss, die es bisher nicht gibt. Die Haushaltspla- um eine vernünftige Lösung. nung berücksichtigt bisher nämlich nur die Couponzah- Wenn es nach mir ginge, gäbe es noch einen anderen lungen, nicht aber die Schlusszahlungen, da die erstma- Weg, mit dem die Verabschiedung von Gesetzen wie (B) lige Fälligkeit einer fünfjährigen Bundesobligation im (D) dem vorliegenden nicht mehr erforderlich wäre. Ich for- Jahr 2013 ansteht und damit nicht im aktuellen Finanz- dere nach wie vor – ich werde nicht müde, dies immer planungszeitraum liegt. Die Höhe der im Haushalt aus- wieder zu unterstreichen, und die auf dem Tisch liegende gewiesenen Kredittilgung des Bundes ist daher zu nied- Fehlentwicklung gibt mehr als Anlass dazu – die Einfüh- rig angesetzt. Durch dieses Gesetz soll die Möglichkeit rung eines modernen, allen Anforderungen genügenden geschaffen werden, diesen Sprung zu vermeiden. Haushaltsrechts in Form der öffentlichen Doppik. An- Ich kann mir an dieser Stelle den Hinweis nicht ver- stelle einer Hilfskonstruktion wäre es auch heute besser, kneifen, dass ein modernes Haushaltsrecht den umständ- Nägel mit Köpfen zu machen und das richtige System zu lichen Weg, der heute als Gesetz beschlossen werden schaffen. Leider habe ich dafür keine Mehrheit gefun- soll, vermeiden würde. Hätte man ein doppisches Haus- den. haltsrecht, so hätten bereits in den Jahren, in denen die Ein unschöner Nebeneffekt der bisherigen Regelung Anleihen laufen, Rückstellungen für die Schlusszahlung ist, dass während der Laufzeit des Darlehens der Haus- gebildet werden müssen. Es ist ganz klar, dass für jedes halt eine höhere Konsumkraft ausweist, als eigentlich Jahr der Laufzeit am Ende feststeht, ob eine Schlusszah- gegeben ist. Ohne die Belastung im laufenden Haushalt lung fällig wird oder nicht. Durch die entsprechende zum Aufbau einer entsprechenden Rückstellung in Form Rückstellung würde automatisch zweierlei erreicht: Zum eines Sondervermögens werden die dafür notwendigen einen müsste die Rückstellung in dem Jahr gebildet wer- Zahlungen aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. In den den, in dem die Inflationsrate eine Schlusszahlung erfor- Jahren, in denen sie aufgeschoben sind, scheint der Um- derlich macht, und damit würde automatisch die Anlas- fang der Pflichtzahlungen des Staates zu niedrig und tung im richtigen Haushaltsjahr, dem Verursachungsjahr, führt dementsprechend auch nicht zu einer Lenkung der sichergestellt. Zum anderen hätte man die fiskalische Mittel in die richtigen Kanäle. Im Gegenteil: Es entsteht Wirkung, dass im Jahr der Fälligkeit die entsprechenden der Eindruck einer höheren Konsumkraft, die aus politi- Kassenmittel zur Verfügung stehen, ohne dass sie dann schen Gründen regelmäßig auch genutzt wird. Der Staat den laufenden Etat außerordentlich belasten. Leider ha- gibt also Geld aus, das er eigentlich gar nicht mehr hat. ben wir ein solches fortschrittliches Haushaltsrecht nicht Genau das müssen wir vermeiden. Da die Vernunft nicht und werden es nach der jetzigen Beschlusslage mit der ausreicht, müssen wir Zwangsmechanismen schaffen. erweiterten Kameralistik auch nicht bekommen. Deshalb sind Hilfskonstruktionen erforderlich. Das heute zu be- Dieses Thema gibt mir Veranlassung, einen Appell an schließende Gesetz soll eine solche Hilfskonstruktion alle Kräfte dieses Hauses zu richten, endlich dem Grund- schaffen. satz, auch der Staat kann nur das ausgeben, was er hat, 24480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Genüge zu tun. In der Beratung findet sich zur Sicher- Für den Bundeshaushalt ergeben sich aus inflations- (C) stellung dieser Volksweisheit die sogenannte Schulden- indexierten Bundeswertpapieren zeitlich andere Belas- bremse. Nun höre und lese ich insbesondere in der Han- tungen als bei nominalverzinslichen. Die jährlichen noverschen Allgemeinen Zeitung, dass Teile dieses Zinszahlungen sind bei inflationsindexierten Bundes- Hauses und damit leider auch Teile der Koalition von der wertpapieren geringer als bei nominalverzinslichen. Im Schuldenbremse Abstand nehmen wollen. Das ist eine Gegenzug ist bei Fälligkeit der inflationsindexierten Versündigung an der Generation unserer Kinder und un- Bundeswertpapiere eine von der Entwicklung der Infla- serer Enkel. Wir konsumieren heute, und diese müssen tion abhängige Schlusszahlung zu leisten, die es bei morgen dafür zahlen, ohne dass sie die Möglichkeit hat- nominalverzinslichen Bundeswertpapieren nicht gibt. ten, unser Verhalten zu beeinflussen, oder wir ihnen ent- Auf den Bundeshaushalt kommt im Fälligkeitsjahr des sprechend höhere Werte überlassen hätten. Gerade in der inflationsindexierten Bundeswertpapiers eine hohe Ein- Krise wird deutlich: Spare in der Zeit, dann hast du in malbelastung zu, während in anderen Jahren keine der Not. – Wenn wir diesem in der Vergangenheit Rech- Schlusszahlungen inflationsindexierter Bundeswertpa- nung getragen hätten oder wenn wir wenigstens nicht piere fällig sind. mehr ausgegeben hätten, als wir eigentlich erwirtschaftet haben, dann wäre der Zinsblock im Bundeshaushalt Eine vorausschauende und nachhaltige Haushalts- und deutlich geringer. Statt der 43 Milliarden Euro würde er Finanzpolitik – nach der jüngsten Steuerschätzung wich- vielleicht 15 bis 20 Milliarden Euro umfassen, die wir tiger denn je – erfordert eine Vorsorge für die in Zukunft für den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern oder mit Sicherheit entstehenden kassenwirksamen Ausgaben für die Beseitigung der Schäden durch die kommunis- aus der Kreditaufnahme. Aus diesem Grund soll durch tische Diktatur im östlichen Teil unseres Vaterlandes dieses Gesetz ein Sondervermögen des Bundes geschaf- aufwenden müssten. Was könnten wir dann nicht alles fen werden, das Vorsorge für die Schlusszahlungen dieser Gutes zur Förderung der Wirtschaft und damit zur Be- inflationsindexierten Bundeswertpapiere trifft. Mit der kämpfung der augenblicklichen Notlage erreichen! Errichtung des Sondervermögens können die Schlusszah- lungen von der übrigen Finanzentwicklung im Bundes- Ich empfehle Ihnen heute die Zustimmung, obwohl ich mir persönlich etwas Weitergehenderes wünsche. haushalt im jeweiligen Fälligkeitsjahr entkoppelt sowie Aber für Erkenntnisse ist es ja nie zu spät; vielleicht ist die Kosten periodengenau zugeordnet und dadurch auch auch diese Regelungsnotwendigkeit eine Treppenstufe absolut transparent gemacht werden. Durch die kontinu- auf dem Wege zur Erkenntnis, dass wir eines Tages doch ierliche Zuführung von Mitteln an das Sondervermögen noch das wirklich Richtige tun. wird sichergestellt, dass bei Fälligkeit eines inflationsin- dexierten Bundeswertpapiers die Schlusszahlung, also (B) der den Gesamtnennbetrag übersteigende, der Inflation (D) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Die Er- während der Laufzeit des Wertpapiers geschuldete Be- richtung eines Sondervermögens „Vorsorge für Schluss- trag, aus dem Sondervermögen geleistet werden kann, zahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ und der Bundeshaushalt im Fälligkeitsjahr insoweit nicht hat das Ziel, den Aufbau dieses Marktsegments fortzu- mit der Schlusszahlung belastet wird. setzen, um damit über ein breites Spektrum an Instru- menten für eine möglichst günstige Kreditaufnahme zu Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für Ihre verfügen. Die haushaltspolitischen Folgen der interna- Aufmerksamkeit. tionalen Finanz- und Wirtschaftskrise erfordern weitaus höhere Kreditaufnahmen und daher beabsichtigen wir, den Aufbau dieses – auch an den internationalen Finanz- Otto Fricke (FDP): Wieso müssen wir plötzlich ein märkten etablierten – Instruments fortzusetzen. weiteres Sondervermögen, diesmal mit dem Titel „Vor- sorge für Schlusszahlungen für inflationsindizierte Bun- Was sind inflationsindexierte Bundeswertpapiere? Es deswertpapiere“ errichten? Hat sich das Geschäftsgeba- sind Schuldverschreibungen, deren Verzinsung an einen ren des Bundes auf dem Kapitalmarkt etwa in den letzten Inflations- bzw. Preisindex gekoppelt ist. Die Indexie- Jahren derart verändert, dass der Bund seine Geschäfte rung ermöglicht den Investoren eine Absicherung gegen absichern muss? schwankende Inflationsraten und ermöglicht es dem Kreditnehmer, den Wertpapiercoupon deutlich zu sen- Mindestens 1,5 Milliarden Euro beträgt der Finanzbe- ken. Das ist gut für Anleger und Kreditnehmer, die beide darf, der sich für die inflationsindizierten Bundeswertpa- von einer verbesserten Risikoaufteilung profitieren. Der piere allein bis 2012 gegenwärtig ergibt. „Hedgen“ ist Bund nutzt dieses Marktsegment bereits seit 2006 und der Begriff, der in der Finanzwelt das Absichern von Ge- strebt an, mittelfristig bis zu fünf Prozent der Brutto- schäften gegen bestimmte Risiken bezeichnet. Genau die- kreditaufnahme am Kapitalmarkt über diese Papiere zu ses Hedgen gibt den Namen für Hedgefonds, die Minis- decken. Bisher hat die Finanzagentur im Auftrag des ter Steinbrück so gerne kritisiert. Warum begab sich der Bundes sehr erfolgreich inflationsindexierte Bundes- Staat auch auf diese Spielfläche? Weshalb müssen wir wertpapiere mit einem Volumen von 22 Milliarden Euro ein Sondervermögen schaffen, um die Finanzierungsge- auf den Kapitalmarkt gebracht. Für das Haushaltsjahr schäfte des Bundes zu gewährleisten und Haushaltsklar- 2009 hat die Finanzagentur die Emission dieser Papiere heit herzustellen? In der Vergangenheit war es eben nicht mit einem Volumen von 6 bis 10 Milliarden Euro ange- notwendig, solch einen „Nebenhaushalt“ zu führen, um kündigt. Finanzierungskosten periodengerecht zu erfassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24481

(A) Der Grund für solch eine Abgrenzung ist einfach: Der multipliziert mit dem harmonierten Verbraucherpreis- (C) SPD-Finanzminister und die Koalition haben 2006 be- index zum Ende der Laufzeit. Um den Einflussfaktor der gonnen, auf die Entwicklung des Europäischen Infla- Inflationsentwicklung bewusst zu machen, will ich Ih- tionsniveaus zu wetten. Die Wette erfolgte in der Form, nen zwei Beispiele anführen: dass seit März 2006 Bundesobligationen und Bundesan- Eine Inflationsrate von durchschnittlich 1,5 Prozent leihen begeben wurden, deren Rückzahlungshöhe von führt dazu, dass einem Anleger, der 10 000 Euro Bun- der Inflationsrate im Euroraum abhängt. desanleihe nominal gezeichnet hat, am Ende der Lauf- Ich denke, dass sich das Bundesfinanzministerium zeit circa 11 600 Euro zurückgezahlt werden. wiederholt gefragt hat, warum es ohne Not ein neues Fi- Beträgt jedoch die Inflation 2,5 Prozent, würde der nanzierungsinstrument, oder sagen wir besser: Wettin- gleiche Anleger fast 13 000 Euro zurückbekommen. strument, genutzt hat, dessen Folgen es wirklich nicht Welches Risiko sich hieraus ergibt, brauche ich bei abschätzen, geschweige denn kontrollieren kann. 22 Milliarden Euro an begebenen Wertpapieren nicht Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger, aber auch weiter auszuführen – Quelle: www.deutsche-finanzagen Unternehmen kennen Bundesschatzbriefe, Bundesanlei- tur.de. Wir sehen also deutlich, dass die Entwicklung der hen und Tagesanleihen des Bundes und schätzen diese Inflationsrate einen enormen Einfluss auf die Rückzah- sichereren Anlageformen. Dies liegt unter anderem da- lung der Anleihen hat. ran, dass die Finanzkraft des Bundes von den Rating- Zum Hintergrund inflationsindizierter Wettpapiere agenturen als nahezu bestmöglich auf der Welt angese- möchte ich ein paar Punkte anführen: hen wird. AAA nennt sich das dann und eröffnet den Weg zu günstigster Finanzierung. Wie entsteht Inflation, welche Einflussgrößen beein- flussen also die Rückzahlungshöhe der Wertpapiere? Die Warum war eine Abweichung von den normalen Fi- Inflation hat mehrere Gründe. Die Ursachen liegen unter nanzierungsformen notwendig? War sie notwendig? Den anderem in einer hohen, am Markt befindlichen Geld- Erklärungsversuch, dass inflationsindizierte Anleihen menge, in einem starken Wirtschaftswachstum oder ei- international zunehmend begeben werden, kann die FDP ner Nachfrage, die nicht von einem entsprechenden An- nicht gelten lassen, denn die Nachfrage nach altbekann- gebot gedeckt wird. ten Bundeswertpapieren war ungebrochen. Die Argu- mentation, die anderen machen es ja auch, kann nicht Hieraus ergibt sich doch die Frage, welche Erwar- ziehen. tungshaltung das Bundesfinanzministerium hatte, als es die Wertpapiere begeben hat. Hat der Bundesfinanzmi- Welche Rolle sollte und darf der Staat bei der Be- nister seit 2006 mit einem Abschwung gerechnet? Ab- schaffung seines Kapitalbedarfs einnehmen? Broker? (B) schwung oder Rezession führt nämlich tendenziell erst (D) Oder ist er eben doch in erster Line Treuhändler des einmal zu sinkenden Inflationsraten. In diesem Fall Steuerzahlers? Nach dem Verständnis meiner Fraktion würde der Finanzminister davon profitieren, dass es der ist es eben nicht Aufgabe des Staates, Zinswetten einzu- deutschen Wirtschaft schlecht geht. gehen und dafür Risiken in Kauf zu nehmen. Das zeigt gerade die aktuelle Finanzmarktsituation. Die zweite denkbare Alternative ist, dass der Bundes- finanzminister die Schwankung der Inflation falsch ein- Hätte die Große Koalition ernsthaft versucht, Zinsen geschätzt hat, denn in 2008 lag die Inflation deutlich einzusparen, dann hätte sie die Neuverschuldung zu- über dem von der EZB angepeilten Wert von rund, aber rückfahren müssen, als sie die Gelegenheit dazu hatte. nicht über 2 Prozent, was die Kosten der Wettpapiere des Zinsen spart man nämlich am besten dadurch, dass man Bundes in die Höhe treibt. Das Bundesfinanzministe- keine neuen Schulden anhäuft. Vorschläge zur Vermei- rium hat gewettet, dass die EZB die Inflationsrate im dung von Neuverschuldung der FDP – Stichwort: Libe- Zielkorridor von rund 2 Prozent halten wird und das rales Sparbuch: gab es. Ich möchte betonen, dass die Bundesfinanzministerium so einen Zinsvorteil gegen- FDP immer wieder konkrete, umsetzbare Vorschläge zur über bewährten Finanzinstrumenten haben wird. Ob dies Reduzierung der Staatsausgaben eingebracht hat. Diese langfristig aufgeht, bezweifle ich. wurden von der Großen Koalition immer wieder igno- riert. Wie viele Banker bestätigen, ist kurz und mittelfristig mit einer stark inflationären Tendenz zu rechnen. Was Statt also den Bundeshaushalt in Ordnung zu bringen für den Bürger an der Zapfsäule ärgerlich ist und für den hat, die Bundesregierung ihre Ausgaben stets stärker er- Sparer erst recht, bedeutet für den Staat einen Aufwand höht, als die Wirtschaft gewachsen ist. Um ihre Unfähig- in Milliardenhöhe. keit bei der Haushaltskonsolidierung zu überspielen, hat die Bundesregierung sich auf die Spielwiese des „Ca- Für diesen Mehraufwand beim Inflationsausgleich, sino-Kapitalismus“ begeben, um das Geld der Steuer- der in Zukunft mit Sicherheit entstehen wird und für den zahler eben nicht auf Rot oder Schwarz, sondern auf fal- im Haushaltsplan noch keine Vorsorge getroffen wurde, lende bzw. stagnierende Inflation zu setzten. Vernünftige soll jetzt ein Sondervermögen errichtet werden. Haushaltspolitik sieht anders aus. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Bundesre- Wie aber funktionieren diese neuen Wettinstrumente? gierung nun endlich bekennt, dass sie die Kosten ihres Der Bund garantiert den Anlegern einen Zinssatz, der aufgenommenen Kapitalbedarfs transparent machen um die Inflation angepasst wird. Der Rückzahlungsbe- muss, insbesondere, da so auch im Bundeshaushalt die trag des Wertpapieres ergibt sich aus dem Nennwert Maastricht-Abgrenzungskriterien für die Defizitberech- 24482 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) nung nachvollzogen werden. Die Kriterien sehen näm- Mit dem Schlusszahlungsfinanzierungsgesetz wollen (C) lich ausdrücklich vor, dass inflationsbedingte Verände- Sie nun drei Jahre nach Erstausgabe der inflationsinde- rungen des aufgenommenen Kapitals bereits als xierten Bundeswertpapiere die Grundlage für die Errich- entstandene Zinsbelastungen anzusehen sind. Ähnlich tung eines Sondervermögens schaffen. Auch das ist typisch der Zuordnung von Nullcouponanleihen – Zerobonds – für Ihre Art zu regieren: erst machen, ohne nachzuden- ist nämlich der am Ende der Laufzeit fällige Aufwand ken, und dann gucken, was geschieht, und die Kosten haushälterisch den Jahren zuzuordnen, in dem er ent- dem Steuerzahler aufbürden. Um Sie nicht durchweg zu standen ist. Fraglich ist, warum die Bundesregierung erst kritisieren: Von einem technokratischen Standpunkt aus jetzt erkennt, dass für die inflationsindizierten Anleihen betrachtet, kann es durchaus für sinnvoll erachtet wer- Aufwendungen anfallen, die bislang noch nicht abge- den, dass der Bund für absehbare Schlusszahlungen für grenzt wurden. bereits laufende inflationsindexierte Bundeswertpapiere Vorsorge betreibt. Durch den Aufbau des Sondervermö- Prinzipiell lehnen wir als FDP-Fraktion Sonderver- gens kann die Inflation, die während der Laufzeit eines mögen ab. Nach unserer Auffassung widersprechen Son- inflationsindexierten Bundeswertpapiers stattfindet, pe- dervermögen den Grundsätzen der Wahrheit und Klar- riodengenau berücksichtigt werden und durch die Infla- heit bei der Haushaltsführung. Wozu diese tion verursachte Zinsausgaben der indexierten Bundes- Sondervermögen führen, haben wir ja am Beispiel des wertpapiere können periodengerecht zugeordnet werden. Erblastentilgungsfonds und des Finanzmarktstabilisie- rungsfonds gesehen. Ein solches technokratisches Verständnis macht sich die Linke nicht zu eigen. Deshalb lehne ich im Interesse Abschließend stellt die FDP-Fraktion fest: der Menschen, auf deren Geld gewettet wird, die Schaf- Erstens. Wir lehnen inflationsindizierte Wertpapiere fung weiterer Sondervermögen, die neben dem Bundes- als Wettgeschäfte ab und sprechen uns gegen die Bege- haushalt bestehen sollen, ab. Es ist aus unserer Sicht bung neuer inflationsindizierter Wertpapiere des Bundes nicht die Aufgabe des Staates, Wettangebote an Käufer aus. mit hohen Zinserwartungen zu etablieren, um in Ihrer Diktion zu bleiben. Inflationsindexierte Bundeswertpa- Zweitens. Wir sind für eine transparente Regelung der piere sind nach Ansicht der Linken kein notwendiges Zuordnung von Kosten zu den einzelnen Haushaltsjah- und sinnvolles Finanzierungsinstrument des Bundes. ren. Ich will Ihnen gerne zugestehen, dass im konkreten Fall keine andere Lösung kameralistisch möglich ist. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Folglich können wir dem Gesetz nicht zustimmen und Das Schlussfinanzierungsgesetz regelt die Form der Be- wir werden uns enthalten. gleichung inflationsindexierter Schulden. (B) (D) Gezielt wurde erstmals im Jahr 2006 das Instrument Roland Claus (DIE LINKE): In der Begründung inflationsindexierter Kreditaufnahme am Kapitalmarkt zum Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es, ich gewählt, um als Schuldner bei niedriger Inflation nur zitiere: „Der Bund hat im Frühjahr 2006 erstmalig eine niedrige Zinszahlungen leisten zu müssen. Sowohl Gläu- inflationsindexierte 10-jährige Bundesanleihe begeben …“ biger als auch Schuldner können nämlich vom Konstrukt – hier müsste es „ausgegeben“ heißen, meine Damen dieses Finanzierungsinstruments profitieren: Der Anle- und Herren – „… und ist damit der Entwicklung an den ger hat die Sicherheit, dass seine Forderungen nicht von internationalen Kapitalmärkten gefolgt, in denen infla- der Inflation aufgefressen werden, der Schuldner, hier tionsindexierte Wertpapiere seit längerem ein etabliertes der Bund, senkt seine Finanzierungskosten. Soweit die Instrument sind“. Theorie. Nun ist in der jüngeren Vergangenheit durch einige an In der Praxis müssen wir nun feststellen, dass dieses den internationalen Finanzmärkten etablierte Instrumente Finanzierungsinstrument mit steigender Inflation deut- die größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit der großen lich teurer zu werden droht als die bis dahin klassische Depression hervorgerufen worden. Die vom Bund aus- Kreditaufnahme mit Festverzinsung. Die Große Koali- gegebenen Anleihen gehören ausdrücklich nicht dazu, tion hat allzu leichtfertig den Versuch einer zehnjährigen doch will und muss ich hier dennoch betonen, dass es für inflationsindexierten Anleihe im Jahr 2006 um eine wei- nichts anderes als für politische Ignoranz spricht, wenn tere fünfjährige Anleihe noch im letzten Jahr ergänzt. ein dem Gemeinwesen und – in diesem Falle besonders Angesichts der sehr ungewissen Entwicklung der Teue- zu betonen – dem Steuerzahler verpflichteter Politiker rungsraten wäre es notwendig gewesen, die weitere Neu- den Produkten der internationalen Finanzmärkte hinter- emission inflationsindexierter Papiere kritisch zu über- herrennt, nur weil diese angeblich etabliert sind. Was da- prüfen. bei passieren kann, zeigen uns die Bankenrettungs- schirme, die Sie derzeit zulasten der Allgemeinheit Das heute zu beschließende Schlussfinanzierungsge- spannen. Die inflationsindexierte Anleihe ist nichts an- setz bügelt eine andere offensichtliche Schwäche der in- deres als ein Wettspiel der Anleger auf die Inflationsent- flationsindexierten Anleihen aus. Bislang erfolgte die wicklung. Je höher diese ausfällt, desto mehr Geld ver- Zahlung sämtlicher auflaufender Verpflichtungen an die dienen diese; und zwar verdienen die Anleger: Gläubiger erst zum Ende der Laufzeit. Es wurden also Steuergeld. Mir fällt es schwer, darin keine Umvertei- Zahlungsverpflichtungen unübersichtlich in die Zukunft lung des gesellschaftlichen Reichtums zu erkennen. verlagert. Zur Vermeidung solcher zukünftigen hohen Aber darin sind Sie ja erfahren. Einmalzahlungen durch die Schlusszahlungen soll ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24483

(A) Sondervermögen errichtet werden, welchem ab sofort Doch ich möchte betonen, dass nicht alle jetzt betrof- (C) schon während der Laufzeit des Papiers die entspre- fenen Anleger falsch beraten worden sind. Es gab auch chend jeweils zu erwartenden Schlusszahlungen zuge- diejenigen, die nur die möglicherweise zu erwartenden führt werden. Gewinne im Blick hatten und bewusst die Augen vor den aufgezeigten Risiken verschlossen haben und nun in die Das Schlussfinanzierungsgesetz konkret ist daher also Klage der tatsächlich Getäuschten mit einstimmen. Hier trotz aller generellen Skepsis am Instrument der infla- müssen wir differenzieren – in der rückwärtigen Sicht tionsindexierten Wertpapiere zu begrüßen, da hierdurch und auch künftig. Mittels Beratungs- und Dokumenta- Klarheit und Wahrheit zu eingegangenen Verpflichtungen tionspflicht soll sich künftig im Nachhinein feststellen entsteht. Damit werden zukünftige Kosten jeweils aktuell lassen, ob die Beratung fehlerhaft war oder ob man es mit „gebucht“ und verhindert, dass ungedeckte Schecks auf den Risiken anlegerseitig bewusst nicht ganz so genau ge- die Zukunft ausgestellt werden. nommen hat. In Zukunft soll die Verpflichtung bestehen, den Inhalt jeder Anlageberatung zu protokollieren. Dem Das Schlussfinanzierungsgesetz ist damit eine seltene Anleger wird ein zivilrechtlicher Herausgabeanspruch und in der Großen Koalition aussterbende Art: nämlich hinsichtlich der Aufzeichnungen des beratenden Unter- der Erhalt von Klarheit und Wahrheit im immer konfuse- nehmens eingeräumt. Wichtig bei dem Protokoll ist dabei ren, intransparenteren und unehrlicheren Zahlenwerk. die allgemeine Verständlichkeit, wozu insbesondere die Ausgangswünsche des Kunden sowie die vom Berater er- teilten Empfehlungen und die hierfür maßgeblichen Anlage 10 Gründe gehören. Sinn und Zweck dieser Dokumentations- pflicht ist – was eigentlich immer selbstverständlich sein Zu Protokoll gegebene Reden sollte – die Veranlassung zur Einhaltung höchster Sorg- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur faltspflichten der Anlageberatung und somit die Förde- Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuld- rung der Qualität der Beratung. verschreibungen aus Gesamtemissionen und Im Streitfall kann das Beratungsprotokoll dann von zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprü- jeder Seite herangezogen werden, zur Entlastung oder chen von Anlegern aus Falschberatung (Tages- auch zu Belastung. Geht aus dem Protokoll ein Bera- ordnungspunkt 36) tungsfehler hervor, hat der Anleger das erforderliche Be- weismittel in Händen. Dem Anleger wird es damit künf- Marco Wanderwitz (CDU/CSU): 2008 fand eine tig erleichtert, Schadensersatzansprüche durchzusetzen, zweifelhafte Ehrung statt. Zum Wort des Jahres wurde indem die Anforderungen an die Dokumentation der Be- (B) von der Gesellschaft für deutsche Sprache das uns auch ratung erhöht werden und dem Anleger ein einklagbarer (D) heute anhaltend beschäftigende Wort Finanzkrise gekürt. Anspruch auf Aushändigung der Dokumentation einge- Leider ist es eben nicht nur ein Wort, sondern beschreibt räumt wird. Selbstverständlich ebenso möglich ist damit unsere derzeitige Wirtschaftssituation, die auch so die Exkulpation des Beraters. schnell nicht in Vergessenheit geraten wird. Viele Bürger Eine weitere Regelung ist die Abschaffung der kurzen leiden unter der Krise, bedauerlicherweise auch auf- Sonderverjährungsfrist wegen Falschberatung bei Wert- grund fehlerhafter Finanzberatungen. Die damit verbun- papieranlagen, die an die regelmäßige Verjährungsfrist dene skeptische Einschätzung des Wertpapierhandels ist des Bürgerlichen Gesetzbuches angepasst wird. Scha- für uns Politiker Herausforderung für eine sinnvoll ver- densersatzansprüche wegen Falschberatung verjähren da- tiefende und zugleich behutsame rechtliche Neuregelung mit nicht mehr binnen drei Jahren nach Vertragsschluss. zu sorgen, die wieder Vertrauen schafft; denn für die Die Dreijahresfrist beginnt erst zu laufen, wenn der An- Volkswirtschaft ist der Wertpapierhandel essenziell. Dies leger von dem Schaden Kenntnis hat. Unabhängig von ist Ziel des Gesetzes: den gesetzlichen Rahmen des der Kenntnis des Anlegers vom Schaden verjähren die Wertpapierhandels zu verbessern. Ansprüche jedoch spätestens binnen zehn Jahren, und das ist aus Gründen der Rechtssicherheit auch unent- Durch die Modernisierung des Schuldverschreibungs- behrlich. rechts soll der Anlegerschutz beim Erwerb von Schuld- verschreibungen und anderen Anlagen gestärkt werden. Des Weiteren wird das Verfahren der Gläubigerab- Rechtshistorisch betrachtet enthält das Gesetz eine stimmung grundlegend neu geregelt und an das moderne Neufassung des Schuldverschreibungsgesetzes von und bewährte Recht der Hauptversammlung bei der Ak- 1899. Das alte Schuldverschreibungsgesetz schränkt die tiengesellschaft angelehnt. Zudem enthält der Gesetzent- Befugnisse der Gläubiger aus heutiger Sicht zu stark ein wurf Vorschriften, wer stimmberechtigt ist, und führt die und ist verfahrensrechtlich veraltet. Möglichkeit eines gemeinsamen Vertreters der Gläubi- ger ein. Die Verfahrensregelungen zur Einberufung, Frist Hervorzuheben von den vorgeschlagenen neuen Re- und Bekanntmachung von Gläubigerversammlungen gelungen sind die grundsätzlichen Änderungen der Bera- werden modernisiert, die Anfechtung von Gläubigerbe- tungs- und Dokumentationspflicht für ein ausgewogene- schlüssen zugelassen sowie die Möglichkeit einer virtu- res Kräfteverhältnis der Vertragspartner. Sie sollen dem ellen Gläubigerversammlung eingeführt. verbesserten Ausgleich einer gestörten Vertragsparität, wie sie nicht zu Unrecht oft im Verhältnis zwischen klei- Mit der Neufassung des Schuldverschreibungsgeset- nem Anleger und großer Bank gesehen werden, dienen. zes erfolgt eine Anpassung an international übliche An- 24484 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) forderungen. Das Gesetz schafft eine Rechtsgrundlage für protokollieren: was der Kunde will, was der Bankberater (C) Umschuldungsklauseln, sogenannte Collective Action daraufhin empfiehlt und warum. Telefonieren beide, Clauses, die den Gläubigern Handlungsspielräume zu kann der Anleger von der Bank verlangen, dass das Tele- bestimmten Änderungen der Anleihebedingungen ver- fongespräch aufgezeichnet wird. Vorher muss er nichts mitteln. Erforderlich kann das während der Laufzeit ei- unterschreiben. ner Anleihe aus verschiedenen Gründen sein, beispiels- weise in der Krise oder Insolvenz des Schuldners. Die Was erreichen wir damit: Regeln des Gesetzes entsprechen insoweit den interna- Erstens. Der Kunde kann sich das Protokoll zu Hause tional üblichen Klauselinhalten. Die bisherige Anwen- noch einmal in Ruhe durchlesen, nicht nur zur Kontrolle, dungsbeschränkung des Gesetzes auf Emittenten mit sondern auch zum Vergleich. Mit seinem individuellen Sitz im Inland fällt weg. Angebot hat er die Möglichkeit, zur Konkurrenz zu ge- Zur Verbesserung der Verständlichkeit von Anleihe- hen, und das nicht mit einem Stapel schicker, aber bedingungen wird eine spezialgesetzliche Regelung zur nichtssagender Hochglanzprospekte. Was heute in jedem Transparenz eingeführt. Mediamarkt bei jeder kleinen Musikanlage selbstver- ständlich ist, gilt nun endlich auch in der Anlagebera- Wir haben uns hier einiges vorgenommen und wün- tung. schen, dass nicht zuletzt dadurch der Wertpapierhandel wieder ein Stück Vertrauen zurückgewinnen kann, dass Zweitens. Die Bankberater müssen ab jetzt sehr sorg- wir die Parteien ähnlich stark ausstatten können, ohne fältig arbeiten. Mit dem Gesetzentwurf soll die Qualität aber die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen aus dem der Beratung merklich besser werden. Nach einer Studie Auge zu verlieren. Ich freue mich auf die parlamentari- des Verbraucherschutzministeriums von Ende 2008 ge- schen Beratungen des Regierungsentwurfes. hen in Deutschland den Anlegern jedes Jahr ungefähr 30 Milliarden Euro durch falsche Beratung verloren. Eine ungeheure Zahl. Natürlich ist die Anlageberatung Klaus Uwe Benneter (SPD): Schade, dass wir so in Deutschland nicht per se schlecht. Der Berater kann ja einen wichtigen Gesetzentwurf nur in dieser Form disku- wirklich gut ausgebildet sein. Dennoch schwatzt er den tieren. Hinter dem sperrigen Titel „Entwurf eines Gesetzes Anlegern ein windiges Zertifikat auf, nur um seine vor- zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver- gegebenen Verkaufsquoten zu erfüllen und die in Aus- schreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesser- sicht stehenden Provisionen einstreichen zu können. ten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen bei Falschbera- Jetzt schaffen wir die Möglichkeiten, solche Falschbera- tung“ verbirgt sich ganz konkrete Politik für die tungen auch nachzuweisen. Das wird dafür sorgen, zur Menschen. Die Finanzkrise trifft nicht nur Banken und Sicherheit lieber noch einmal beim Kunden nachzufra- (B) Unternehmen, sie trifft auch Tausende von Anlegern: gen und die eigenen Empfehlungen doppelt zu überprü- (D) Viele haben Geld verloren, weil sie sich über das Risiko fen. ihrer Wertpapiere nicht im Klaren waren. Vielfach wur- den sie von den Banken schlecht beraten und ungewollt Drittens. Wir erleichtern den Betroffenen die Mög- zum Kauf gedrängt, weil üppige Provisionen für die Be- lichkeit, mit einer Klage zu obsiegen. Eine Schadenser- rater gelockt haben. Immer wieder wurden Schutzvor- satzklage gegen die Bank wegen Falschberatung ist si- schriften nicht eingehalten und die wichtigen Informa- cher das letzte Mittel, die Ultima Ratio. Einmal vor tionen in schicken Hochglanzprospekten verschleiert Gericht haben die Geschädigten dann aber schlechte oder gleich komplett weggelassen. So etwas soll es in Karten. Wie kann ich beweisen, dass vor Jahren der Be- Zukunft nicht mehr geben: Wir wollen starke Anleger, rater schlecht beraten hat? Ich war bei vielen Geschädig- die wissen, für welches Anlageprodukt sie sich entschei- ten der pleitegegangenen deutschen Tochter von Lehman den und die eine Chance haben, später ihre Rechte Brothers in Deutschland. 50 000 von ihnen wurden üble durchzusetzen. Dazu enthält der Gesetzentwurf wesent- Zertifikate aufgeschwatzt. Dass der Wert der Papiere liche Verbesserungen. auch auf null sinken kann, dass das ganze angelegte Geld weg sein könnte, wurde geflissentlich verschwie- Was haben wir vor: Wir wollen Transparenz bei der gen. In Musterprozessen wollen die geschädigten Anle- Anlageberatung auf eine völlig neue Grundlage stellen. ger nun die Banken verklagen, die diese Papiere in Ein Bankberatungsgespräch ist deshalb in Zukunft um- Deutschland verkauft haben. Schon mehrmals wurden fassend in einem regelmäßig schriftlichen Protokoll zu solche Klagen aber aus Mangel an Beweisen abgewie- dokumentieren. Kein Bankberater kann dann mehr be- sen. Damit haben viele Kleinanleger ihre private Alters- haupten, er habe über alle Risiken des Anlagegeschäftes vorsorge, ihre Alterssicherung verloren. aufgeklärt und außerdem sei eigentlich der Kunde schuld, weil er sich nicht deutlich genug ausgedrückt Immerhin: Kürzlich hat als erstes Gericht das Landge- habe. richt Frankfurt am Main die Frankfurter Sparkasse zu Schadensersatz wegen Falschberatung verurteilt. Ob aber Bis jetzt müssen die Banken nur ganz grobe Auf- andere Gerichte genauso entscheiden, steht in den Ster- zeichnungen von den Beratungsgesprächen machen. nen. Dort steht dann zum Beispiel nur, ob überhaupt eine Be- ratung stattgefunden hat. Was dort aber konkret bespro- Mit der Neuregelung ist jetzt die Bank im Obligo: Ist chen wurde, was der Kunde eigentlich wollte und der das Protokoll lückenhaft oder unschlüssig, muss die Bankberater daraufhin empfohlen hat, taucht dort nicht Bank beweisen, dass ordnungsgemäß beraten wurde. Hat auf. Damit ist jetzt Schluss. In Zukunft gilt: Alles ist zu sich der Kunde zum Beratungsgespräch kein Protokoll Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24485

(A) aushändigen lassen, kann er die Bank auch auf Heraus- setzt auf eine Stärkung des Menschen im Markt und (C) gabe dieses Protokolls verklagen. Wir wollen auch das nicht auf Schutz vor dem Markt. Moderne Verbraucher Verjährungsrecht bei Falschberatung ändern. Im norma- wollen nicht vom Staat bevormundet werden, sondern len Bürgerlichen Recht knüpft der Beginn der Verjäh- bessere Information, mehr Wissen über die Märkte und rung an zwei Bedingungen an: Anspruchsentstehung und effektive Verbraucherrechte. Das Leitbild der FDP-Bun- Kenntnis. Wer einen Anspruch geltend machen will, destagsfraktion ist dabei die Befähigung des Verbrau- muss wissen, dass er einen Schaden hat. Das ist eigent- chers zu eigenverantwortlichen und selbstbestimmten lich selbstverständlich und nach dem BGB auch so gere- Entscheidungen. Aus diesem Selbstverständnis heraus gelt. hat die FDP-Bundestagsfraktion am 20. April 2009 auch eine viel beachtete Diskussionsveranstaltung unter dem Nicht so bei Wertpapieren nach dem Wertpapierhan- Titel „Wie kommt das Vertrauen der Verbraucher zu- delsgesetz: Drei Jahre nach Vertragsschluss mit der Bank rück? – Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise“ abge- ist der Anspruch auf Schadensersatz verjährt, egal was halten. Die Anlageberatung war dabei auch ein ganz der Anleger schon weiß, Schrottpapiere im Depot hin wichtiges Thema. oder her. Das wird jetzt geändert. Die Dreijahresfrist be- ginnt in Zukunft erst dann, wenn der Anleger von sei- Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes, eine nem Schaden erfahren hat, unabhängig davon spätestens hohe Qualität der Anlageberatung sicherzustellen, ist zu in zehn Jahren. Ein Sonderrecht für die Banken gibt es begrüßen. Dies soll durch mehr Verständlichkeit und nicht mehr. Eine echte Verbesserung. Politik wird künf- Transparenz geschehen. Anleger sollen im Falle einer tig den Schaden, den falsche und schlechte Anlagebera- fehlerhaften Beratung ihre Ansprüche leichter durchset- tung durch maßloses Profitstreben und ungezügelte Gier zen können. Im Blick behalten müssen wir jedoch auch angerichtet haben, nicht völlig verhindern können. Aber die dadurch entstehenden Bürokratiekosten. Allein die mit dem Gesetzentwurf ziehen wir die notwendigen Protokollierung wird Kosten in Höhe von 50 Millionen Konsequenzen für die Zukunft. Was die Vergangenheit Euro jährlich hervorrufen. Und es steht zu erwarten, dass angeht, müssen wir den durch Lehman-Papiere geschä- sich auch der Kontrollaufwand der Bundesanstalt für digten Kleinanlegern versuchen zu helfen. Nicht nur die Finanzdienstleistungsaufsicht erhöhen wird. Frau Minis- Banken brauchen Bad Banks. terin Aigner hat darüber hinaus in zahlreichen Presse- erklärungen Anfang des Jahres weitergehende Regelun- gen angekündigt, sodass sich die Frage stellt, wie sich Mechthild Dyckmans (FDP): Die Tageszeitungen diese Ankündigungen zum vorliegenden Gesetzentwurf kennen zurzeit fast nur ein Thema: die Wirtschaftskrise, verhalten. eine Krise, die sich aus der Finanzmarktkrise heraus ent- Im Mittelpunkt der Vorschläge zum Anlegerschutz im (B) wickelt hat. In diesem Zusammenhang wird auch der (D) Verbraucherschutz zu Recht immer wieder auf die Ta- Rahmen dieses Gesetzentwurfes steht, wie oben darge- gesordnung gesetzt. Jedem sind die Berichte bekannt, legt, der Schutz des Verbrauchers, also des Privatkun- nach denen Bankberater einem Kunden, der nach einer den. Die Neuregelungen, auf die im Weiteren noch näher sicheren Anlage gefragt hat, ein Zertifikat der Invest- einzugehen sein wird, haben jedoch einen Anwendungs- mentbank Lehman Brothers empfohlen hat. Die Invest- bereich, der alle Kunden einer Bank betrifft. Dies wären mentbank Lehman Brothers ist mittlerweile Geschichte. auch Versicherungen oder andere große Unternehmen. Zurück bleiben die Verbraucherinnen und Verbraucher, Ein Schutzbedürfnis dieser Gruppen ist nicht wirklich zu die Zertifikate dieser Bank erworben hatten. In vielen erkennen. Das Wertpapierhandelsgesetz kennt schon Fällen stellt sich die Frage: Haben die Bankberater zu eine Differenzierung in geeignete Gegenparteien, profes- sehr auf eigene Provisionen geschielt, mehr als auf das sionelle Kunden und Privatkunden. Schutzbedürftig Wohl ihrer Kunden? Hat vielleicht auch so mancher scheinen nur die Privatkunden zu sein. Alternativ könnte Kunde das Risiko, welches mit einer solchen Anlage- auch überlegt werden, auf den Begriff des Verbrauchers form verbunden ist, nicht wahrhaben wollen mit Blick im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) abzustellen. Um auf eine Rendite, die höher ist als auf dem klassischen unnötige Bürokratie und Kosten zu vermeiden, sollte der Sparbuch? Anwendungsbereich dementsprechend eingeschränkt werden. Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf zu er- klären, der dem Deutschen Bundestag heute in erster Die generelle Aufzeichnungspflicht, die alle Wertpa- Lesung vorliegt. Der Titel „Gesetz zur Neuregelung der pierdienstleistungen betrifft, wird durch den Gesetzent- Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Ge- wurf für den Bereich der Anlageberatung konkretisiert. samtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit Es wird ein Protokoll über das Beratungsgespräch ver- von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung“ langt, das eine Kontrolle des Gesprächshergangs ermög- führt dabei leicht in die Irre. Nicht, dass die Neuregelung licht. Diese Protokollierung des Gesprächshergangs der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen nicht halte ich für einen guten Ansatz, da dann deutlich wird, wichtig wäre, der Schwerpunkt liegt jedoch eindeutig mit welchen Erwartungen der Kunde die Bank betreten auf dem zweiten Teil, der Anlageberatung, auf den ich und mit welchem Produkt er sie verlassen hat. Die bishe- hier näher eingehen möchte. rige Protokollierung im Rahmen des Wertpapierhandels- bogens wird zu Recht vielfach als unzureichend empfun- Liberale Verbraucherpolitik geht von dem mündigen den. Inwieweit noch eine weitere Konkretisierung des Bürger aus. Verbraucherpolitik ist dabei Wirtschaftspoli- Inhalts eines solchen Protokolls zu erfolgen hat, wird mit tik für den Konsumenten. Liberale Verbraucherpolitik Sicherheit auch Gegenstand des weiteren Gesetzgebungs- 24486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) verfahrens werden. Der Bundesrat schlägt in seiner Stel- März 2007 auf die von mir eingereichte Kleine Anfrage (C) lungnahme zudem eine Beweislastumkehr vor, sollte das zur „Situation der Anlegerinnen und Anleger in so ge- Protokoll nicht vollständig sein oder nicht rechtzeitig nannte islamische Holdings“ auf Drucksache 16/4836 ausgehändigt werden. erlaubt. Bedenken begegnet jedoch die geplante Einführung In ihren Antworten bezeugt die Bundesregierung über einer Telefonaufzeichnung im Rahmen von telefoni- weite Strecken Unkenntnis und verweist bei der Frage schen Beratungen. Anders als in einem schriftlichen Pro- nach Hilfestellung für Geschädigte auf Gewaltenteilung tokoll werden bei der Aufzeichnung eines Gespräches und die Zuständigkeit von Zivilgerichten. Deren Ent- auch sensible Information von dem Kunden preisgege- scheidungen sind aber bekanntlich an Gesetze gebunden, ben, sei es über familiäre Verhältnisse, sei es über Rat- die zu initiieren nicht zuletzt der Bundesregierung zu- schläge eines Anwaltes oder Steuerberaters. Es ent- kommt. Der Euphemismus in der Richtung „besser spät stünde eine gigantische Datensammlung, die sicher auch als nie“ sollte angesichts dessen im Halse stecken blei- wieder Begehren bei staatlichen Institutionen auslösen ben. wird. Darüber hinaus sind auch hier die Kosten nicht zu Was bringt die Regelung denn sachlich? Zum Teilbe- unterschätzen, die sich für die deutsche Kreditwirtschaft reich des Schuldverschreibungsgesetzes lässt sich fest- laut Bankenverband leicht auf 600 Millionen Euro reine halten, dass mit dem Entwurf ein weiterer Stein in das Anschaffungskosten belaufen würden. Gesamtgebäude einer Insolvenz- und Sanierungsrechts- Die Verjährung für Schadenersatzansprüche wegen reform gefügt wird. Die Reform bringt vor allem eine fehlerhafter Anlageberatung soll an die allgemeinen Ver- Stärkung des kollektiven Aspekts. Wie sich das im Ver- jährungsregeln angepasst werden. Von einer wirklichen hältnis unterschiedlicher Inhabergruppen – insbeson- Vereinheitlichung kapitalmarktrechtlicher Verjährungs- dere zwischen institutionellen und individuellen Inha- vorschriften sind wir jedoch nach wie vor weit entfernt. bern – auswirkt, wird kritisch zu beobachten sein. Insgesamt besteht also für meine Fraktion noch er- Im Bereich der größeren Schnittmengen, des Anleger- heblicher Beratungsbedarf. Ohne eine Sachverständi- schutzes, stellt der Entwurf das vernünftigerweise nicht genanhörung werden wir wohl auch bei diesem Thema hintergehbare und längst erforderliche Minimum an an- nicht auskommen. leger- bzw. verbraucherschützender Transparenz- und Dokumentationspflicht her. Zudem werden der Materie die Verjährungsregeln des BGB zugrunde gelegt. Bis- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Das Kind ist in den lang sollte die Frist schon bei Abschluss des Vertrages Brunnen gefallen und die Bundesregierung legt ein – wei- nach erfolgtem Beratungsgespräch mit dem am Verkauf (B) teres – feuchtes Handtuch zur Rettung bereit. Was ich interessierten Produktvermittler zu laufen beginnen. (D) damit sagen will: Das hier debattierte Reformwerk im Nunmehr soll der Zeitpunkt der Kenntniserlangung Bereich des Wertpapier- und Kapitalmarktrechts kommt durch den Anleger von etwa im Beratungsgespräch ver- zeitlich zu spät. Dass das Recht der Schuldverschrei- schwiegenen Risiken etc. maßgeblicher Anknüpfungs- bungen seit seiner Einführung im Zuge der großen zi- punkt für die Haftung wegen verkaufsorientierter vilrechtlichen Kodifikation Ende des 19. Jahrhunderts Falschberatung sein. Die hierfür erforderliche Strei- infolge der rasanten Marktentwicklung und der fanta- chung des § 37 a des Wertpapierhandelsgesetzes ist siereichen Entwicklung und staatlichen Zulassung im- übrigens eine Forderung, die die Linke bereits in ihrem mer neuer sogenannter Finanzprodukte aus Sicht der Fi- Beschlussantrag „Verbesserung des Verbraucherschutzes nanz- und Rechtspraxis anpassungsbedürftig geworden beim Erwerb von Kapitalanlagen“ auf Drucksache war, ist bekannt. Dass diese – zu welchem Zeitpunkt 16/11185 vom Dezember 2008 unter Punkt 4 vorge- auch immer – womöglich andere sachliche Schwer- bracht hatte. punkte gesetzt hätten als die Linke, ist dabei so erkenn- bar wie nebensächlich. Der vorliegende Gesetzentwurf bleibt nach alledem mutlos hinter den Möglichkeiten zurück, die wir bereits Das staatliche Versagen im Bereich des Finanzmarkts, im erwähnten Antrag vorgeschlagen haben. Weder die mithin die willfährige Zulassungspraxis bezüglich im- unabhängige und fachliche Finanzberatung findet hier mer subtilerer Finanzprodukte und das tätige Mitwirken Niederschlag noch die über das dortige Vorschlagspro- am Handel damit waren und sind mit Blick auf das ideo- gramm hinausreichende Überlegung einer Marktbereini- logische und gebetsmühlenartige Festhalten am System gung durch das Hinwirken auf ein konzertiertes Verbot selbst – im falschen Jargon – „systemisch“. Dass der von bestimmten Finanzprodukten in mindestens europäi- Schutz der Anleger dabei ins Hintertreffen geraten ist, scher, besser globaler Kooperation. Es besteht also er- während gleichzeitig die gesamte soziale Gemeinschaft heblicher Nachbesserungsbedarf am sinkenden Schiff. infolge des Schleifens der Sozialsysteme zwangsweise Lieber wäre mir allerdings ein neues Schiff. zum Anlegen angehalten wurde und infolgedessen viele von der Krise betroffen wurden, ist die blanke Realität. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um eine Vorstellung von der Ernsthaftigkeit der An- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf macht es sich die strengungen der Bundesregierung im Umgang mit ge- Bundesregierung zur Aufgabe, das Recht der Schuldver- prellten Anlegern und deren schützenswerten Interessen schreibungen zu modernisieren und gewisse Rechte der in Zeiten vor der aktuellen Krise zu geben, sei mir noch Anlegerinnen und Anleger bei erfolgter Falschberatung der Hinweis auf die Antwort der Bundesregierung vom zu stärken. Beide Zielvorgaben begrüßen wir ausdrück- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24487

(A) lich. Aus grüner Perspektive sind insbesondere jene Re- Gleichwohl scheint mir der eingeschlagene Weg der (C) gelungen des Gesetzentwurfes von Bedeutung, die der Bundesregierung eher ein Akt von Symbolwirkung. Man Verbesserung des Anlegerschutzes im Privatkundenseg- lehnt die Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB ab, führt ment dienen. Meine Ausführungen werden sich daher in aber zur Besänftigung ein spezielles Transparenzgebot Bezug auf das Schuldverschreibungsrecht auf solche As- ein. Das tut auch nicht weh, zumal man in der Begrün- pekte beschränken, die im Zusammenhang mit dem An- dung selbst zugibt, dass in der Regel ohnehin angloame- lageprodukt Zertifikat stehen. rikanisches Vertragsrecht gewählt und dieses Transpa- renzgebot daher keine Rolle spielen wird. Gegenteilig Was den Schuldverschreibungsteil anbelangt, so möchte weisen erste Expertenmeinungen darauf hin, dass § 3 ich zunächst eine allgemeine Bemerkung voranstellen. Schuldverschreibungsgesetz so unklar formuliert ist, Die Grünen begrüßen eine Modernisierung des Schuld- dass die geschaffene Rechtsunsicherheit sogar bisher verschreibungsrechts. Ein ursprünglich aus dem Jahre nach deutschem Recht vorgehende Emittenten ins anglo- 1899 stammendes Gesetz ist dringend an die Entwick- amerikanische Vertragsrecht drängen wird. Denn was lungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Gleichwohl unter einem „bezüglich der jeweiligen Schuldverschrei- sollte sich diese Modernisierung ausschließlich daran bung sachkundigen Anleger“ zu verstehen ist, bleibt orientieren, die Vorschriften sachgerechter und prakti- schleierhaft. Heißt das, gewöhnlichen Anlegerinnen und kabler zu gestalten. Anlegern kann am Bankschalter nur noch ein Indexzerti- Die Bundesregierung führt in der Gesetzesbegründung fikat angeboten werden, weil andere Konstruktionen in an, man sei sich der Dominanz des angloamerikanischen den Prospektbedingungen zu unverständlich sind? Und Rechts bei der Vertragsgestaltung von Anleihen bewusst. wer ist der maßgebliche Adressat, wenn, wie durchaus Darauf folgt der Hinweis, dass insbesondere die Inhalts- üblich, der Emittent die Zertifikate zuvor an die Ver- kontrolle der allgemeinen Geschäftsbedingungen nach triebsbank unter Abschlag verkauft? Die Vertriebsbank §§ 305 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches als Hemm- dürfte wohl regelmäßig „sachkundig“ im Sinne des Ge- schuh gesehen würden. Am Ende entschließt sich die setzes sein. Hier sollte im Zuge der parlamentarischen Bundesregierung nicht dazu, darauf hinzuwirken, dass Beratungen dringend nachgebessert und präzisiert wer- die §§ 305 ff. BGB zum Schutze der Verbraucherinnen den. und Verbraucher auf Anleihebedingungen für anwendbar Letztlich wird die Bundesregierung auch nicht um- erklärt werden. hinkommen, sich dem Zertifikatemarkt nochmals in ei- Ich warne an dieser Stelle ausdrücklich davor, den ner gesonderten Gesetzesinitiative umfassend zu wid- Wettbewerb der Rechtsordnungen dergestalt zu interpre- men. Die Komplexität der Produkte, die fehlende Nachvollziehbarkeit eines fairen Wertes, versteckte Ge- (B) tieren, man müsse das deutsche Recht für Schuldver- (D) schreibungen nur ausreichend emittentenfreundlich aus- bühren und die Monopolstellung, wenn Emittenten zu- gestalten, um seine internationale Akzeptanz zu erhöhen. gleich den Vertrieb und das Market Making steuern, ma- Das geht zulasten eines gerechten Interessenausgleichs, chen eine maßgeschneiderte Regulierung unumgänglich. hält Privatanleger davon ab, Kapital zu investieren und Lassen Sie mich nun zu dem Teil des Gesetzes kom- widerspricht zudem grünen Vorstellungen eines ange- messenen Anlegerschutzniveaus. men, der einer verbesserten Durchsetzbarkeit von An- sprüchen der Anlegerinnen und Anleger aus Falschbera- Was die Regelungen im Konkreten betrifft, so ist ins- tung dienen soll. Hier nimmt die Bundesregierung in besondere der nachträglich eingefügte § 3 Schuldver- Angriff, was längst überfällig war und systematisch in schreibungsgesetz hervorzuheben, der das Leistungsver- eine Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie MiFID An- sprechen einer Anleihe transparent machen soll. In der fang 2007 gehört hätte. Damals verweigerte sich die Gesetzesbegründung wird explizit erwähnt, das diene Bundesregierung aber einer anlegerfreundlichen Weiter- auch der Transparenz bei Anlagezertifikaten, die ja ihrer entwicklung der Anlageberatung. Als Begründung folgte rechtlichen Konstruktion nach auch Anleihen bezie- der formelle Verweis, man habe sich im Koalitionsver- hungsweise Schuldverschreibungen sind, was viele Bür- trag auf eine 1:1-Umsetzung von Richtlinien verpflich- gerinnen und Bürger im Zusammenhang mit der Pleite tet. Nun, nachdem viele Bürgerinnen und Bürger in der von Lehman Brothers leidvoll erfahren mussten. Finanzmarktkrise systematisch schlecht beraten wur- den, rudert die Bundesregierung zurück und fügt hek- Zunächst ist es begrüßenswert, dass die Bundesregie- tisch in einem sachfremden Gesetz einige Punkte zur rung die Missstände bei Zertifikaten nicht länger voll- Verbesserung des Anlegerschutzes ein. Das ist ein bitte- ständig ignoriert, sondern nach und nach Ideen aufgreift, res Versäumnis, das die Anlegerinnen und Anleger aus- die wir Grüne bereits in einem Antrag im Mai 2007 for- baden durften. muliert haben. Die Leistungsversprechen bei Zertifi- katen sind größtenteils intransparent und die Anleihe- Was die Vorschläge zur besseren Durchsetzbarkeit bedingungen so schwammig und voller allgemeiner von Ansprüchen aus Falschberatung im Einzelnen anbe- Rechtsbegriffe, dass Emittenten regelmäßig Anpassun- langt, so begrüßen wir die Maßnahmen im Großen und gen zu eigenen Gunsten vornehmen, die sie durch die Ganzen. Wie sollten wir auch nicht, schließlich decken Anleihebedingungen gedeckt sehen. Gerichtsurteile, die sich die hier vorgeschlagenen Regelungen im Wesentli- hier willkürlichen Gestaltungen einen Riegel vorschie- chen mit Forderungen, die wir Grüne bereits in einem ben, sind mir nicht bekannt. Es muss also etwas passie- Entschließungsantrag zu besagter Finanzmarktrichtlinie ren. MiFID im März 2007 eingebracht haben. 24488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Die Streichung der kurzen Verjährungsfrist in § 37 a bei der substanziierten Darlegung der Pflichtverletzung (C) WpHG ist überfällig. Die Anlegerinnen und Anleger des Bankberaters. Die Finanzdienstleister legen schlicht- können häufig erst nach langer Zeit feststellen, ob eine weg das Protokoll vor, in welchem regelmäßig pauschal Anlageempfehlung oder -beratung falsch war und daraus angekreuzt wurde, dass etwa über Risiken aufgeklärt ein Schaden resultierte oder ob die Werteinbuße ihrer wurde. Wir haben unsere Zweifel, dass an diesem Zu- Anlage lediglich auf Marktgegebenheiten zurückzufüh- stand durch ein neues, besseres Protokoll etwas geändert ren ist, auf deren Unwägbarkeiten im Rahmen der Bera- würde. Darüber hinaus sehen wir darin auch keine unan- tung hingewiesen wurde. Mit der Streichung der Spe- gemessene Benachteiligung der Finanzbranche. Wenn zialnorm § 37 a WpHG wird der Rückgriff auf die die Dienstleistung oder das Produkt tatsächlich zum An- Verjährungsregelungen des Allgemeinen Teils des BGB leger passt, kann der Finanzdienstleister das anhand sei- eröffnet. ner Expertise und umfangreichen Dokumentation pro- blemlos darstellen. § 37 a WpHG wurde 1998 eingeführt, weil die damals 30 Jahre betragende Regelverjährungsfrist des Bürgerli- Abschließend sei daran erinnert, dass die Bundesre- chen Gesetzbuches für die beratenden Wertpapierunter- gierung es versäumt, die strukturellen Probleme bei der nehmen als unangemessenes Risiko erachtet wurde. Seit Anlageberatung effektiv anzugehen. Denn der Ansatz ei- der Schuldrechtsmodernisierung 2001 ist dieses Haupt- ner gesetzgeberischen Tätigkeit sollte stärker darin be- motiv jedoch entfallen, da die Regelverjährung auf drei stehen, Falschberatung bei der Wurzel zu packen, also Jahre verkürzt wurde. Die Norm des § 37 a WpHG hat präventiv zu vermeiden, und nicht nur die Kompensa- ihre Daseinsberechtigung damit verloren. Es schadet tionsmöglichkeiten zu verbessern, wenn der Anleger be- eher dem Ansehen des Finanzplatzes Deutschland, wenn reits geschädigt ist, das Kind also im Brunnen liegt. berechtigten Ansprüchen von Anlegerinnen und Anle- Dazu aber hätte man sich der unbequemen Diskussion gern kategorisch mit der Verjährungseinrede begegnet um eine Abschaffung oder zumindest Eindämmung der wird. provisionsbasierten Finanzdienstleistungen stellen müs- sen, wovor die Bundesregierung sich jedoch offenkundig Im Übrigen sollte auch erneut geprüft werden, ob nicht drückt. Langfristig wird an dieser Debatte aber kein Weg die weiteren kapitalmarktrechtlichen Verjährungsfristen vorbeiführen. Wir Grüne werden jedenfalls vehement für ebenfalls anzupassen sind. Wir begrüßen die hierzu vom eine neue Kultur der Anlageberatung streiten. Bundesrat in seiner Stellungnahme gemachten Vor- schläge etwa zu Normen des Investmentgesetzes oder des Börsengesetzes. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Wie schon der Name des Ob die Einführung erweiterter Dokumentationspflich- Gesetzes zeigt, verfolgt die Bundesregierung mit dem (B) ten in der Anlageberatung tatsächlich eine bessere Entwurf zwei Ziele. Erstens wird das alte Schuldver- (D) Durchsetzbarkeit etwaiger Ansprüche bei Falschbera- schreibungsgesetz aus dem Jahr 1899 modernisiert. So tung bedingt, erscheint uns fragwürdig. An dieser Stelle sind international übliche Umschuldungsklauseln künf- wird viel auf die konkrete Ausgestaltung des Protokolls tig in Deutschland eindeutig möglich. In der Krise des ankommen. Denn Protokolle können auch umgekehrt Schuldners können Gläubiger schnell und ohne unnöti- eine wunderbare Absicherung der Berater gegen Haf- gen organisatorischen Aufwand auf die Anleihebedin- tung darstellen und so eine gut gemeinte Intention ins gungen durch Mehrheitsentscheidungen einwirken. Gegenteil verkehren. Hier werden wir im weiteren parla- Deutsches Recht wird damit wettbewerbsfähiger. mentarischen Beratungsverlauf darauf achten, dass ein sinnvoller Weg zwischen Standardisierung auf Checklis- Zweitens stärken wir den Anlegerschutz. Mit der In- tenniveau und zu viel Interpretationsspielraum durch in- ternationalisierung der Märkte haben sich die als Schuld- dividuelle Ausgestaltung gefunden wird. Wir können es verschreibungen begebenen Produkte weiterentwickelt uns nicht leisten, ein wirkungsloses Instrument zu schaf- und sind teilweise sehr komplex geworden. Die Finanz- fen, das dann auch noch gigantische Bürokratie mit sich marktkrise hat gezeigt, dass viele Anleger die Risiken bringt. der von ihnen erworbenen Produkte nicht verstanden ha- ben und – wenn man ehrlich ist – oft auch gar nicht ver- Eines lässt sich aber zu den angedachten Regelungen stehen konnten. Das darf nicht sein. Versprochene Leis- zur Dokumentation bereits jetzt sagen: Der vorgesehene tungen müssen eindeutig, klar und nachvollziehbar sein. Sanktionsmechanismus, sofern die Dokumentation nicht, Der Regierungsentwurf sorgt hier für mehr Nachvoll- nicht vollständig oder nicht rechtzeitig angefertigt wird, ziehbarkeit und Transparenz. Damit helfen wir Anle- ist absolut verfehlt. Denn ein ins Ermessen der Auf- gern, mögliche Risiken aus einer Schuldverschreibung sichtsbehörde gestelltes Bußgeld nützt dem Anleger für zu erkennen, und verbessern letztlich die Produktquali- seine Durchsetzbarkeit von Ansprüchen vor Gericht tät. Hier sind die Entwicklungen noch nicht abgeschlos- herzlich wenig. Vielmehr muss zumindest in diesen Fäl- sen. Die Bundesregierung ist weiterhin bestrebt, dass in- len der formellen Mängel des Beratungsprotokolls die ternational, zumindest aber auf Ebene der Europäischen Beweislast zugunsten der Verbraucherinnen und Ver- Union einheitliche Standards geschaffen werden. braucher erleichtert werden. Zur Stärkung des Anlegerschutzes wird ferner die Wir werden uns im parlamentarischen Verfahren da- Durchsetzung von Ansprüchen aus Falschberatung ver- für starkmachen, grundsätzlich eine Beweislasterleichte- bessert. Banken werden künftig verpflichtet, den Inhalt rung zugunsten der Anlegerinnen und Anleger einzufüh- und Ablauf jeder Anlageberatung zu protokollieren und ren. Bisher scheitern diese nämlich regelmäßig bereits dem Kunden eine Ausfertigung des Protokolls auszuhän- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24489

(A) digen. Dies schafft Klarheit für den Fall späterer Kon- Die Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl hat mitgeteilt, (C) flikte zwischen Kunden und Berater. Wenn der Berater dass sie ihre Unterschrift auf dem Entwurf eines … Ge- Angaben und Wünsche des Kunden sowie erteilte Emp- setzes zur Änderung des Gesetzes zur Vermeidung fehlungen und die für seine Empfehlung maßgeblichen und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten Gründe protokollieren muss und wenn er dieses Proto- auf Drucksache 16/11347 zurückzieht. koll dem Kunden – als Beweismittel für einen etwaigen späteren Prozess – aushändigen muss, dann wird diese Der Abgeordnete Dr. Karl Addicks hat mitgeteilt, Verpflichtung ihn zu höherer Sorgfalt bei der Beratung dass er seine Unterschrift auf dem Entwurf eines … Ge- veranlassen. Das Gesetz wird damit nicht nur die Quali- setzes zur Änderung des Schwangerschaftskonflikt- tät der Finanzprodukte, sondern auch die Qualität der gesetzes auf Drucksache 16/12664 zurückzieht. Beratung verbessern. Schließlich wird die Verjährungsfrist bei Schadens- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben ersatzansprüchen aus Falschberatung an die allgemeine mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 zivilrechtliche Verjährung angepasst. Die bestehende der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den kurze Sonderverjährungsfrist hat anlässlich der Abschaf- nachstehenden Vorlagen absieht: fung der allgemeinen 30-jährigen Verjährungsfrist ihre Berechtigung verloren. Schadensersatzansprüche verjäh- Auswärtiger Ausschuss ren damit nicht mehr drei Jahre nach Vertragsschluss, sondern drei Jahre nach Kenntnis des Anlegers von sei- – Unterrichtung durch die Bundesregierung nem Schaden, spätestens in zehn Jahren. Auf diesem Bericht der Bundesregierung über die deutsche Perso- Weg helfen wir geschädigten Anlegern, ihre berechtigten nalpräsenz in internationalen Organisationen Ansprüche durchzusetzen. – Drucksache 16/10963 – Seitens einiger Banken wurde deutliche Kritik an der Beratungsdokumentation laut. Sie beklagen eine Belas- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tung durch Bürokratie und Kosten. Ich halte diese Kritik nicht für gerechtfertigt, auch wenn man sicherlich über – Unterrichtung durch den Nationalen Normenkontrollrat Nachbesserungen im Detail nachdenken kann. Die Fi- Jahresbericht 2008 des Nationalen Normenkontrollra- nanzkrise hat gezeigt, dass es Defizite bei der Beratung tes Bürokratieabbau – Jetzt Entscheidungen treffen gibt und Anleger deshalb Produkte gekauft haben, über – Drucksachen 16/10285 Nr. 15, 16/10039 – deren Risiken sie nicht hinreichend informiert wurden. Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Die – Unterrichtung durch die Bundesregierung (B) (D) Beratungsdokumentation ist ein geeignetes und verhält- Bericht der Bundesregierung über das Ministertreffen nismäßiges Mittel. Aus meiner Sicht liegt die Regelung der Welthandelsorganisation in Genf vom 21. bis letztlich auch im Interesse der Banken selbst, weil so das 30. Juli 2008 (Doha-Runde) Vertrauen der Anleger in die Qualität der Anlagebera- – Drucksachen 16/10285 Nr. 23, 16/10171 – tung wieder gestärkt werden kann. Auch wenn Sie eine Vielzahl anderer Gesetze zu beraten haben und die Zeit – Unterrichtung durch die Bundesregierung hierfür langsam knapp wird: Dieses Gesetz sollte noch in Bericht der Bundesregierung 2008 zur Anwendung des dieser Legislaturperiode verabschiedet werden, damit Standardkosten-Modells und zum Stand des Bürokra- wir als Gesetzgeber zeigen, dass uns in Reaktion auf die tieabbaus Finanzkrise auch Regelungen zugunsten der Anleger – Drucksachen 16/11963 Nr. 1.1, 16/11486 – wichtig sind. Dieses Gesetz sollte dabei – darauf hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme hingewie- – Unterrichtung durch die Bundesregierung sen – nur ein erster Schritt sein. Weitere Regelungen zur Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung und Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft in Verbesserung des Anlegerschutzes sollten dann in der Deutschland nächsten Legislaturperiode folgen. – Drucksache 16/11835 –

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Anlage 11 Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik Amtliche Mitteilungen für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2007 (Rüs- tungsexportbericht 2007) Der Abgeordnete Detlef Parr hat mitgeteilt, dass er – Drucksache 16/11583 – seine Unterschrift auf dem Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes auf Drucksache 16/11330 zurückzieht. Ausschuss für Gesundheit Die Abgeordneten Gesine Multhaupt und Detlef Parr – Zwischenbericht der Enquete-Kommission Ethik und haben mitgeteilt, dass sie ihre Unterschriften auf dem Recht der modernen Medizin Antrag Wirkungsvolle Hilfen in Konfliktsituationen Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und während der Schwangerschaft ausbauen – Volle Teil- Hospizarbeit habe für Menschen mit Behinderung sicherstellen auf Drucksache 16/11342 zurückziehen. – Drucksache 15/5858 – 24490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009

(A) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ratsdokument 15908/08 (C) Drucksache 16/11517 Nr. A.11 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 15910/08 Verkehrsinvestitionsbericht 2008 Drucksache 16/11517 Nr. A.12 Ratsdokument 15920/08 – Drucksachen 16/12357 Nr. 1.1, 16/11850 – Drucksache 16/11517 Nr. A.13 Ratsdokument 15923/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.14 Ausschuss für Bildung, Forschung und Ratsdokument 15927/1/08 REV 1 Technikfolgenabschätzung Drucksache 16/11517 Nr. A.15 Ratsdokument 15939/08 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/11517 Nr. A.16 Bericht der Bundesregierung zum Veränderungsbedarf Ratsdokument 15944/1/08 REV 1 des bestehenden Rechtsrahmens für Anwendungen der Drucksache 16/11517 Nr. A.17 Nanotechnologie Ratsdokument 16053/08 Drucksache 16/12188 Nr. A.12 – Drucksache 16/6337 – Ratsdokument 5972/09 Drucksache 16/12778 Nr. A.15 EuB-EP 1869; P6_TA-PROV(2009)0038 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und tung abgesehen hat. Verbraucherschutz Drucksache 16/12188 Nr. A.19 Ratsdokument 6158/09 Rechtsausschuss Drucksache 16/11965 Nr. A.4 Ratsdokument 5146/09 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 16/12511 Nr. A.2 Drucksache 16/11517 Nr. A.30 Ratsdokument 6996/09 Ratsdokument 16521/08 Drucksache 16/11721 Nr. A.22 Ratsdokument 16545/08 Finanzausschuss Drucksache 16/11819 Nr. A.14 Drucksache 16/11965 Nr. A.7 Ratsdokument 17479/08 Ratsdokument 16960/08 Drucksache 16/12369 Nr. A.7 Ratsdokument 5985/09 Ausschuss für Bildung, Forschung und (B) Drucksache 16/12369 Nr. A.8 Technikfolgenabschätzung (D) Ratsdokument 5991/09 Drucksache 16/3573 Nr. 1.12 EuB-EP 1408 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 16/10286 Nr. A.73 Ratsdokument 11010/08 Drucksache 16/2555 Nr. 2.92 Ratsdokument 11510/06 Drucksache 16/11517 Nr. A.7 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ratsdokument 15906/1/08 REV 1 Entwicklung Drucksache 16/11517 Nr. A.8 Ratsdokument 15905/08 Drucksache 16/11965 Nr. A.14 Drucksache 16/11517 Nr. A.9 Ratsdokument 5112/09 Ratsdokument 15907/08 Drucksache 16/12188 Nr. A.32 Drucksache 16/11517 Nr. A.10 Ratsdokument 5996/09

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