42. Ausgabe ▪ Dezember 2018 Museumskurier des Chemnitzer Industriemuseums und seines Fördervereins

FOKUSSIERT. Die Fotografenfamilie Billhardt S. 10

Wandel am laufenden Band S. 6 ¤

3,00

Ein kostspieliger Versuch 1862-8605 S. 17

Schutzgebühr ISSN www.saechsisches-industriemuseum.de 2 Museumskurier 42|2018

Aktuelle Hinweise www.saechsisches-industriemuseum.de

Ausstellungen I. Halbjahr 2019

Dauerausstellung Industrie im Wandel erleben

Sonderausstellungen Das Herz von . 220 Jahre Industriekultur | verlängert bis 06.01.2019

Sächsischer Staatspreis für Design. Ausstellung der Vortragsreihe: Schmelztiegel Chemnitz − Preisträger und Nominierten | Themenschwerpunkt Migration 15.02. bis 14.03.2019 Donnerstag, 24. Januar, 18 Uhr Untergegangene Arbeitswelten. Prof. Dr. Birgit Glorius, Technische Universität Chemnitz Fotografien von Wolfgang G. Schröter | Migration: Ausnahme oder Regel? Ein Überblick zur in- 10.05. bis 04.08.2019 ternationalen Migration, ihren Ursachen und Folgen

Donnerstag, 28. März, 18 Uhr Veranstaltungen des Fördervereins Peer Ehmke, Schloßbergmuseum Chemnitz Mazedonische Baumwollhändler in Chemnitz. Neue 26.01.2019, 9 Uhr Forschungsergebnisse zur Globalisierung im 18. Jahr- Jahreshauptversammlung hundert

30.06.2019, 10 Uhr Donnerstag, 25. April, 18 Uhr 13. Gießertreffen Dr. Wolfgang Uhlmann, Chemnitzer Geschichtsverein Veranstalter: AGr Gießereitechnik im Förderverein In- 1990 e. V. dustriemuseum Chemnitz e. V. Immigranten als Beförderer der Chemnitzer Industrie Vorträge: Achim Dresler, Industriemuseum Chemnitz; Dr. Günter Vortrag des Agricola-Forums: Schaefer, Förderverein Industriemuseum Chemnitz e. V. Donnerstag, 23. Mai 2019, 19 Uhr Neues Leben in alten Gießereien. Beispiele aus den Dr. des. Ariane Walsdorf, Gottfried Wilhelm Leibniz Uni- Partnerstädten Mulhouse und Chemnitz versität Hannover Norbert Demarczyk, ACTech GmbH Freiberg Von Wunderkammern, Mikroskopen und Rechenmaschi- 3-D-Druck in der Gießerei nen. Der Naturwissenschaftsbetrieb im 17. Jahrhundert Veranstaltung des Agricola-Forums in Zusammenarbeit Exkursionen werden gesondert bekannt gegeben. mit dem Industriemuseum Chemnitz 3 42|2018 Museumskurier

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Industriemuseums Chemnitz, in diesem Jahr hat das Industriemuseum Chemnitz seinen Besu- chern gleich drei Sonderausstellungen präsentiert. Auf die sehr er- folgreiche Ausstellung „Gesten - gestern, heute, übermorgen“ folgte die Ausstellung „Das Herz von Chemnitz. 220 Jahre Industriekultur“, die mit der Fokussierung auf unsere Stadt eine ideale Ergänzung zu unserer Dauerausstellung bildet. Die Ausstellung zur Fotografen- Familie Billhardt rundet das Ausstellungsjahr 2018 ab. Die beiden letztgenannten Sonderausstellungen, die wir bis zum Jahresende verlängern konnten, waren sicherlich Höhepunkte im Inhalt Jubiläumsjahr der Stadt Chemnitz. Aus der Besucherresonanz und den vielen positiven Rückmeldungen ist ablesbar, dass diese in die 02 Aktuelle Hinweise Stadtgesellschaft hineingewirkt und auch darüber hinaus überregi- 03 Editorial & Inhalt onal große Aufmerksamkeit erfahren haben. 04 Festveranstaltung 20 Jahre ZV SIM | Für das neue Jahr planen wir wiederum Sonderausstellungen. Den Willkommen! Auftakt bildet die Präsentation der Preisträger und Nominierten des 05 175 Jahre Holzschiff und sein Erfin- Sächsischen Staatspreises für Design 2018. Im Anschluss lässt ein der Meister der Reportage- und Industriefotografie untergegangene Ar- 08 Wandel am laufenden Band beitswelten wieder lebendig werden. Des Weiteren arbeiten wir an 10 Fokussiert. Die Chemnitzer Fotogra- der inhaltlichen Erweiterung der Dauerausstellung um die Thematik fenfamilie Billhardt Rohstoffe im Rahmen der Rohstoffstrategie des Freistaates Sachsen. 14 Oscar von Kohorn und seine Firmen| Teil II Unser Förderverein hat mit seinen Arbeitsgruppen das Industrie- 17 Ein kostspieliger Versuch museum bei den vielfältigen Vorhaben in bewährter Weise mit 20 Blaues Wunder fachlicher Kompetenz und auch als Ideengeber unterstützt. Zudem 22 100 Jahre Kurbetrieb im Schlematal arbeitet der Förderverein in der Tuchfabrik Pfau in Crimmitschau 25 Schmelztiegel Chemnitz daran, die dort befindliche Dampfmaschine wieder zum Leben zu 26 Friedrich Ruppert − Ein Leben für erwecken, ein besonders schönes Beispiel für den gelebten Gemein- den Chemnitzer Werkzeugmaschi- schaftsgeist in unserem Museumsverbund. Mit der Weiterentwick- nenbau lung der Informationsstele im Industriemuseum und dem Engage- 28 Forschung in der Textiltechnik ment im Bereich Gießen für Kinder unterstützt uns der Förderverein 30 Ein Versandbuch und ein Lohnbuch auch in der Vermittlungsarbeit. erzählen Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Industriemuseums 32 Unsere Exponate proben den Auf- Chemnitz und den Mitgliedern des Fördervereins danke ich für ihre stand überaus engagierte Mitarbeit und ihre Unterstützung. 33 Eindrücke Museumsfest am 03.11.18 34 Buchempfehlungen Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen eine schöne Ad- 35 Informationen des Fördervereins| ventszeit, ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes und gesundes Impressum neues Jahr 2019.

Ihr

Dr. Oliver Brehm 4 Museumskurier 42|2018

20 Jahre Zweckverband Sächsisches Industriemuseum Festveranstaltung am 17. September 2018 in der Energiefabrik Knappenrode

Ein klares Bekenntnis zur Indus- triekultur legte der sächsische Mi- nisterpräsident Michael Kretsch- mer vor zahlreichen Gästen in der Energiefabrik Knappenrode ab. In seinem Grußwort zum 20-jährigen Bestehen des Zweckverbandes Sächsisches Industriemuseum be- tonte er, dass wirtschaftliche Pro- sperität immer die Basis des Kultur- landes Sachsen war. Er würdigte zudem die Rolle und auch die erfolgreiche Arbeit des Zweckverbandes Sächsisches Indus- triemuseum mit seinen vier Stand- orten als Kompetenzzentrum für Industriekultur in Sachsen.

Willkommen! Wissenschaftlicher Projekt-Mitarbeiter Landesausstellung 2020

Seit Juli 2018 unterstützt Thomas Pick als wissenschaftlicher Projekt- mitarbeiter das Sonderausstellungs- projekt der Landesausstellung 2020 im Industriemuseum Chemnitz. Was ist eine Maschine und welche Rolle spielen Maschinen in unserem Leben? Diesen und anderen Fragen widmet sich das Industriemuseum Chemnitz, denn Sachsen ist nicht nur die Wiege des deutschen Ma- schinenbaus. Hier werden seit mehr als 200 Jahren Maschinen konstru- iert und produziert − vom filigranen Uhrwerk aus Glashütte bis zum Hightechbearbeitungszentrum aus Chemnitz. keiten in unterschiedlichen Museen arbeitete er die Sammlungsbestän- Der in Rheinland-Pfalz geborene hat er ein wissenschaftliches Volon- de der Deutschen Fernkabel-Gesell- Kultur- und Literaturwissenschaft- tariat im Museum für Kommunika- schaft auf. ler absolvierte sein Studium an tion in Nürnberg absolviert, wo er Wir wünschen Thomas Pick eine er- der Europa-Universität Viadrina in insbesondere im Bereich Ausstel- folgreiche Arbeit im Industriemuse-

Frankfurt an der Oder. Nach Tätig- lungen mitgearbeitet hat. Zuletzt um! Fotos: Hannelore Zschocke (l.), L. Farkas (r.) 5 42|2018 Museumskurier

175 Jahre Holzschliff und sein Erfinder

Ursula Kolb „Nur soviel weiß ich genau, daß es in der ersten Woche des Mo- nats Dezember 1843 war ...“1, schreibt Friedrich Gottlob Keller am 21.09.1892 an den Jenaer Journa- listen Eduard Grosse und berichtet vom ersten greifbaren Erfolg jahre- langer Versuche: eine Papierprobe kaum größer als ein Geldstück. Mit der genialen, nur anscheinend ein- fachen Erfindung des mechanischen Holzaufschlusses zur Herstellung billiger Massenpapiere bringt Keller die industriell anwendbare Tech- nologie zur Nutzung eines ständig nachwachsenden, vergleichsweise billigen Rohstoffs und damit die Kellers zweiter Holzschleifer, 1844, Heimatmuseum Hainichen, Keller-Archiv Lösung eines der dringlichsten Roh- stoffprobleme der Zeit auf den Weg. Friedrich Gottlob Keller wird am die Erzeugung von hohen Tempe- 27. Juni 1816 als Sohn eines We- raturen und Dampfdruck nicht zur Die Anfang des 19. Jahrhunderts bers und Blattbinders in der säch- Verfügung stehen. Er ist jedoch der eingeleiteten Staats- und Wirt- sischen Tuch- und Leineweberstadt Gewinnung von Holzzellstoff als − schaftsreformen − Selbstverwal- Hainichen geboren. Sein Wunsch ist im Gegensatz zum Holzstoff − qua- tung der Kommunen, Gewerbefrei- es, nach der Volksschule eine Ge- litativ adäquaten Hadernersatzstoff heit, Steuerreform u. a. − zeigen werbeschule zu besuchen, Mecha- gedanklich um Jahre voraus. Wirkung. Die Schaffung eines ein- niker zu werden. Diese Ausbildung heitlichen Marktes durch Gründung können die Eltern nicht bezahlen. Er Keller verfolgt daher eine ande- des Deutschen Zollvereins begüns- erlernt den Beruf des Vaters, geht re Spur, die der mechanischen tigt Deutschlands Entwicklung zum auf Wanderschaft, erwirbt Bürger- Holzaufbereitung. Er erinnert sich modernen Industriestaat mit einem und Meisterrecht seiner Heimat- an ein Spiel aus seiner Kindheit, bei auf Bildung und Wissen orientierten stadt, gründet eine eigene Familie. dem in die Vertiefungen von Holz- Bürgertum. Um 1840 beginnt mit Die freie Zeit widmet er dem Stu- klötzchen eingelegte Kirschkerne dem Einsatz moderner Papierma- dium technischer Publikationen, auf einem feuchten, feinkörnigen schinen auch die Industrialisierung experimentiert, versucht sich an der Stein beidseitig zu Kettengliedern der Papierproduktion. Insbesondere Entwicklung verschiedenster Ver- geschliffen werden. Als „Nebenpro- der Bedarf an Papier für das poly- fahren, ab etwa 1840 an der nach dukt“ setzt sich auf dem Schleifstein grafische Gewerbe und an Verpa- einem geeigneten Ausgangsstoff ein dünner, aus Kirschkernmehl und ckungspapieren steigt sprunghaft für die Papierherstellung. Holzfasern bestehender Faserfilz ab. an. Hadern als Ausgangsmaterial Letztendlich scheint aber eine seiner für die Papierherstellung sind nicht Seine mit Unterbrechungen an die Naturbeobachtungen den entschei- mehr im ausreichenden Umfang zwei Jahre währenden Versuche denden Anstoß gegeben zu haben: verfügbar. Nach eigener Aussa- zum chemischen Holzaufschluss „Bis ich endlich nach langer Zeit ge in seiner 1882 niedergeschrie- − dabei kocht Keller zerkleinerte darauf ein Wespennest sah, dessen benen Autobiografie will Keller um Holzhackschnitzel in starker Soda- künstlicher Bau wie graues Papier 1839/40 aus der Allgemeinen poly- lauge, um die Fasern von Harzen zu aussieht und aus von der Natur ge- technischen Zeitung von dem Man- lösen − sind aussichtslos, weil ihm lösten Holzfasern besteht. So kam gel erfahren haben. die erforderlichen Hilfsmittel für es denn, daß das oft besprochene 6 Museumskurier 42|2018

Wespennest mich auf die Gedan- unter Zugabe von Wasser an einen fang 1845 lässt Keller aus dem zur ken leitete, Papierfasern aus Holz rotierenden Schleifstein gepresst. Verbesserung der Qualität mit Ha- herzustellen“2. Ähnliche Gedanken 1841 legt er sein „Ideen-Notizbuch“ dernpapier versetzten Stoff in der hatten im 18. Jahrhundert bereits an. Es enthält an die zwanzig der Altchemnitzer Papiermühle von Carl der französische Physiker und Zoo- unterschiedlichsten Erfindungen, Friedrich Gottlob Kühn zwischen 5 loge René-Antoine Ferchault de darunter Papier zu fertigen von und 6 Ries Papier schöpfen, auf dem Réaumur, sein Schüler Jean Etienne Holzfasern, welche durch Friktion in der Frankenberger Druckerei von Guettard und der deutsche Univer- erzeugt werden. Den Holzstoff für Carl Gottlob Roßberg die Teilauflage salgelehrte Jacob Christian Schäf- seine anfangs erwähnte erste ge- des Intelligenz- und Wochenblattes fer. Schäffer stellte umfangreiche lungene Papierprobe vom Dezember für Frankenberg mit Sachsenburg Experimente an, um ohne alle Lum- 1843 stellt er auf einem einfachen und Umgegend vom 11. Oktober pen oder doch mit einem geringen Werkzeugschleifer her. Im Frühjahr 1845 gedruckt wird. − Der erste Zusatz derselben Papier zu machen. 1844 funktioniert Keller eine Dreh- Druck der Welt auf Holzstoffpapier! Die Ergebnisse seiner Arbeiten mit bank um, fertigt an die 80 Blätter Einjahrespflanzen und Holz veröf- von der Größe eines Viertelbogens Keller beabsichtigt, seine Erfindung fentlichte er in mehreren Büchern. Schreibpapier an und präsentiert gewerblich zu nutzen. Wiederholte Auch jenen Versuch, bei dem er zur im Oktober Holz- und Rindenpa- Gesuche an das Sächsische Ministe- Holzzerkleinerung eine Metallsäge pierproben auf einer Industrieaus- rium des Innern in um fi- benutzte, in der Annahme, er käme stellung der polytechnischen Ge- nanzielle Unterstützung und Paten- damit der Funktion des Kauappa- sellschaft in Leipzig. Ende desselben tierung des Holzschliffverfahrens rates von Wespen am nächsten. Die Jahres konstruiert und baut er einen scheitern. Die Dimension der Erfin- gewonnenen Späne versetzte er mit speziellen Schleifapparat, auf dem dung wird nicht erkannt. Lediglich Wasser, stampfte beides zu Brei, aus er und seine mithelfende Ehefrau die von ihm quasi nebenher entwi- dem sich allerdings kein stabiles Pa- mit größtem Kraftaufwand zur ckelte Herstellung von Rindenpapier pier formen ließ. Erst Keller erkennt Nachtzeit viele Wochen hindurch bei gleichzeitiger Erzeugung von Lo- das geeignete Prinzip des mecha- an die 100 Kilogramm Holzstoff er- hextrakt, letzterer begutachtet von nischen Holzaufschlusses für die zeugen. Holz und Schleifstein, sein Prof. Julius Ambrosius Hülße und Papierherstellung: Entrindetes Rol- Durchmesser beträgt 60 Zentimeter, Julius Adolf Stöckhardt, beide Leh- lenholz, vorzugsweise Fichte, wird rotieren im Verhältnis 1:200. An- rer an der Königlichen Gewerbschu- le Chemnitz, wird am 26. August 1845 patentiert. Ohne Holzschliff- patent gestaltet sich die Suche nach kompetenten Geschäftspartnern schwierig. Konservative Papierher- steller begegnen Kellers Erfindung mit Skepsis. Trotzdem und sicher auch angesichts des niedergehenden Handwerks gibt er seinen Beruf auf und übernimmt eine Papiermühle im erzgebirgischen Kühnhaide. Im Sommer 1846 sucht der technische Direktor der Vereinigten Fischer- schen Papierfabriken Bautzen und Obergurig Heinrich Voelter Kon- takt zu Keller. Beide schließen ei- nen Vertrag zur Weiterentwicklung des Holzschliffverfahrens. Voel- ter (1817-1887) ist Sohn eines Hei- denheimer Papierfabrikanten und im Gegensatz zu Keller kaufmän- nisch ausgebildet, kapitalkräftig und durch den Einsatz neuer Tech- Schleifstein für einen Pressenschleifer in der Dauerausstellung des Industriemuseums Chemnitz nologien und Surrogate, Faserstoffe

aus gebleichtem Stroh, anerkannter Foto: Industriemuseum Chemnitz (l.) 7 42|2018 Museumskurier

Fachmann in der Branche. Keller kehrt Keller nach Krippen zurück, kann sich nur sporadisch an der ge- übernimmt Gelegenheitsarbeiten, meinsamen Arbeit beteiligen. Seine richtet eine kleine mechanische mit geliehenem Geld erworbene Werkstatt für Holz- und Metallar- Mühle ist kaum betriebsfähig, um beiten ein, spezialisiert sich später den Lebensunterhalt für die Familie auf den Bau von Metallbearbei- zu erwirtschaften. Der geplante Bau tungsmaschinen. Er erwirbt meh- eines verbesserten Holzschleifers rere Patente für Maschinen und kommt über die Konstruktionsphase Hilfsgeräte, ohne damit Gewinne nicht hinaus. An die Herstellung von erzielen zu können. Erst im hohen Holzstoffpapier ist nicht zu denken. Alter wird Keller als Holzschliff- Stattdessen schlägt er sich mit der erfinder angemessen gewürdigt. Fertigung ordinärer Papiere aus Seine Geburtsstadt ernennt ihn zum Torffaserstoffen durch. Notgedrun- Ehrenbürger, der sächsische König gen entbindet Keller 1851 Voelter Albert verleiht ihm das Ritterkreuz vom Vertrag und überlässt ihm sei- II. Klasse des Zivilverdienstordens nen Patentanteil zur alleinigen Nut- und der hohe Erlös einer internatio- zung. Voelter, seit 1848 zurück in nalen Spendenaktion verhilft ihm in Heidenheim, holt den Schlosser und den letzten Lebensjahren zu materi- Mechaniker Johann Matthäus Voith eller Sicherheit. ins Boot. Mit enormem finanziellen und zeitlichen Aufwand treiben bei- Friedrich Gottlob Keller verstirbt am de die Entwicklung der Holzschliff- 8. September 1895 in Krippen. Die erfindung zur großtechnisch-indus- Beerdigungsrede drei Tage später triellen Nutzung voran. Mit teils hält Pfarrvikar Lessing: „Sein ganzes spektakulären Präsentationen stän- Leben ... fällt unter den Gesichts- dig weiterentwickelter Apparate punkt des Dienstes für seine Zeit. zur Holzzerfaserung, zum Sortieren ... und nicht bloß für ein einzelnes und Verfeinern sowie holzstoffhal- Volk, sondern für die ganze Welt“3. tiger Papiere auf Ausstellungen und Nach Prof. Ernst Kirchner, Papier- Messen erregt Voelter Aufsehen und chronist, technischer Redakteur wird mit hohen Auszeichnungen beim Wochenblatt für Papierfabri- geehrt. Er lässt sich das Verfahren, kation und Sekretär des Direktors Holz in Papierbrei zu verwandeln, in der Technischen Lehranstalt Chem- fast ganz Europa und Nordamerika nitz produzieren in Kellers Todesjahr patentieren. allein in Deutschland ca. 530 Schlei- fereien mit über 1.800 Schleifern Keller muss seine Mühle aufgeben mehr als 300.000 Tonnen Holzstoff. und Konkurs anmelden. Der Chem- Mitte des 20. Jahrhunderts wird nitzer Maschinenbauer Richard alternativ zum Stein-Holz-Schleif- Hartmann, mit dem er Kontakt hat, verfahren die thermomechanische bietet ihm eine Stelle als Konstruk- Zerfaserung von Holzhackschnit- teur. Entmutigt vom Misserfolg der zeln auf Refinern, messerbestückten Kühnhaider Unternehmung, lehnt Scheibenmühlen, entwickelt. 1 Keller an Eduard Grosse. Konzept, Keller ab und zieht 1853 nach 21.09.1892. DBSM, Ba 651 B, 10b. Vgl. Wolf- gang Schlieder: Der Erfinder des Holzschliffs Krippen nahe Schandau. Zum Jah- 2010 findet Friedrich Gottlob Kel- Friedrich Gottlob Keller, Leipzig, 1977, S. 137. reswechsel 1856/57 arbeitet er ler, dessen Holzstoffverfahren seit 2 Keller an Arno Lorenz. Konzept, 16.10.1889. vorübergehend in der Kriebsteiner 1858 auch in den USA erfolgreich DBSM, HH, B 3. Vgl. ebd., S. 101. Keller, F. G.: Autobiografie. Vgl. Erfindung des Holzschlei- Papierfabrik Kübler & Nietham- angewandt wird, gemeinsam mit fens. Papier-Zeitung, Nr. 41/1885, S. 1554. mer. Beide Unternehmer, zuvor bei Johannes Gutenberg Aufnahme in 3 Gedächtnißrede für Herrn Friedrich Gottlob Voelter in Heidenheim beschäftigt die Paper Industry International Keller, gehalten von Herrn Pfarrvicar Lessing in gewesen, setzen die erste große Hall of Fame, die Ruhmeshalle der Papstdorf am 11. September 1895. Dokument, Schenkung aus Familienbesitz von 2001. HHC/ Schleiferanlage in Betrieb. Trotz internationalen Papierindustrie, in KA 84. Aussicht auf dauerhafte Anstellung Appleton, Wisconsin, USA. 8 Museumskurier 42|2018

Wandel am laufenden Band Das Technische Museum Großröhrsdorf zeigt einzigartige Bandwebtechnik vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Brunhilde Mager Das 1901 errichtete ehemalige Fa- brikgebäude der Bandweberei Jo- hann Gotthold Schurig als Muse- um für Bandwebtechnik zu nutzen, kann passender nicht sein. Die 1822 gegründete Firma begann mit einfachen Webstühlen ihre Tä- tigkeit in einem strohgedeckten Haus. Haupt- und Spezialartikel war das Taillenband. Die Produkte waren gefragt, so dass die Firma bereits 1867 einen Neubau errichtete, um diesen in den darauffolgenden Jah- ren immer wieder zu erweitern. So entschied man sich unter anderem auch für den Bau dieses dreistö- ckigen Ziegelgebäudes. Hier fanden In der einstigen Bandweberei von Johann Gotthold Schurig befindet sich heute das Technische neben der Produktion eine eigene Museum der Bandweberei in Großröhrsdorf Färberei, eine Zwirnerei und eine Ap- pretur Platz. 1972 wurde die Firma, wie Bänder entstehen. Sie erfahren, teten fünf Bandweber im Ort, 1810 wie viele andere Betriebe, vollstän- welche Arbeitsbedingungen in einer wurde bereits an 207 Webstühlen in dig verstaatlicht. Die Liquidation Weberei herrschten, welchem tech- Heimarbeit gewebt. Es war üblich, des Unternehmens 1990 bedeutete nischen Fortschritt die Geräte un- dass alle Familienmitglieder, ein- das Ende der Firmengeschichte und terlagen und welche Textilien in der schließlich der Kinder, viele Stunden Leerstand für das Gebäude. Weberei hergestellt werden können. bei der Bandherstellung mithalfen. Mittlerweile leistet das Museum Nach umfangreicher Sanierung im seit 20 Jahren einen immensen Bei- Im Jahr 1727 wurde die Firma Jo- Jahr 1994 wurde ausgelagerte Web- trag zur Bewahrung der Industrie- hann Gottfried Schöne in Groß- technik in den einstigen Websaal im geschichte der Region und insbe- röhrsdorf gegründet. Dieses Un- Erdgeschoss eingebracht. Es ist den sondere der Stadt Großröhrsdorf als ternehmen nahm 1855 die erste engagierten Mitgliedern des 1997 ehemalige Stadt der Bänder. Dampfmaschine in Betrieb und gegründeten Industrie- und Band- durfte sich fortan als die „Erste me- museumsvereins zu verdanken, dass Die Entstehung des Bauerndorfes chanische Band- und Gurtweberei das Gebäude wieder mit Leben ge- Großröhrsdorf wird um 1250 ver- Sachsens“ bezeichnen. Mit Hilfe der füllt werden konnte. Die Freunde mutet, urkundlich erwähnt wurde neuen Technik konnten nun auch der Webkunst sicherten frühzeitig der Ort erstmalig im Jahr 1346 in schwere Gurtbänder auf mecha- historische Technik und verfolgten der Matrikel der Meißner Bischöfe. nischen Webstühlen gewebt wer- stetig den Gedanken eines eigenen Schon im 16. Jahrhundert webten den. Bandwebereimuseums. die Bauern Leinenstoff für ihren ei- Nach Abschluss der zweiten Aus- genen Bedarf. Schmale Gewebe und Durch die sich ständig ändernde baustufe im Jahre 2010 ist es ein Bänder wurden lediglich von Po- Mode stieg der Bedarf an neuen in Deutschland einzigartiges Mu- samentierern in der benachbarten Produkten. Viele Erfindungen, wie seum, in welchem die historische Stadt Radeberg gefertigt. 1680 kam z. B. das von Juliane Schöne 1827 Bandwebtechnik funktionstüchtig George Hans, ein bisher in Radeberg gefertigte schmale Drahtband, oder ist und vorgeführt wird. Die alt- tätiger Bandweber, nach Großröhrs- das 1836 erste gewebte Gummi- bekannten, klappernden Maschinen dorf. Er gilt als Begründer der Band- band, fanden im Textilgewerbe

lassen die Besucher live miterleben, weberei in der Region. 1710 arbei- großen Absatz und trugen zu einem Fotos: Archiv Technisches Museum der Bandweberei Großröhrsdorf 9 42|2018 Museumskurier

nischen Museums in Großröhrsdorf.

Zum 20jährigen Museumsjubilä- um stellte sich der Museumsverein der großen Herausforderung, ein solches Band originalgetreu nach- zuweben. Überlieferungen dazu gab es keine. Selbst die gelernten Webmeister des Museumsvereins stießen hier an die Grenzen ihres Wissens. Es gab kaum verwertbares Das historische Hosenträgerband von 1839 Webmaterial und auch die benö- tigte Jacquard-Technik war nur in enormen Aufschwung der gesam- Bahnhof, die Villen der Fabrikbesit- Bruchstücken vorhanden. Weber, ten Industrie bei. In Großröhrsdorf zer, die Bank, die Post, das Kranken- welche die Kunst des Einziehens und im Umland entstanden Zu- haus und das 1909 errichtete Rat- von Harnisch beherrschen, konnten lieferbetriebe unterschiedlichster haus im Jugendstil gaben dem Ort im tschechischen Vilémov gefun- Branchen. Neben dem Webstuhl- das Aussehen einer Stadt. 1924 er- den werden. Schwieriger war das bau siedelten sich Gewerbe wie hielt Großröhrsdorf das Stadtrecht. langwierige Schlagen der Lochkar- Konfektion, Tischlerei, Möbel- und Als Stadtwappen wurde der silberne ten mit der hauseigenen Klaviatur. Maschinenbau, Metallverarbeitung Webschützen auf blauem Grund be- Das komplizierte Zusammenspiel und Lederwaren an. Selbst die Kar- stimmt. einzelner Funktionen glückte erst tonagenherstellung profitierte von nach vielen Versuchen. Nach drei dieser Entwicklung. Auf ein ganz besonderes Exponat Jahren Arbeit konnte das erste Band Nur wenigen Heimwebern gelang sei am Schluss hingewiesen: mit dem historischen Zug auf einem es, größere Gewinne durch den 1834 erwarb C. G. Boden als er- Jacquard-Webstuhl präzise herge- Verkauf ihrer Produkte auf nahe- ster Großröhrsdorfer Fabrikant in stellt werden. Als Souvenir können gelegenen Märkten oder überregi- Chemnitz einen Jacquard-Web- die edlen Bänder nun im Museum onalen Messen zu erzielen. Durch stuhl. Mit diesem Webstuhl konnte erworben werden. den Erwerb neuer Webstühle, Zu- man kunstvolle Muster, Schriften behörmaschinen und Textilmateri- und Bilder mechanisch weben. Die alien vergrößerten sich die kleinen Bänder mit feinen Mustern sorgten Hauswebereien, Manufakturen und für große Aufmerksamkeit. Der Ab- Fabriken entstanden. satz dieser Neuheit stieg so rasant an, dass die Firma C. G. Boden ihre Technisches Museum der Vor der Industrialisierung wurden Fabrik schon ein Jahr später durch Bandweberei die Heimwebstühle als Familienka- ein neues Gebäude erweiterte. Eine Schulstraße 2 pital an die Nachkommen weiterge- geniale Idee hatte der 18-jährige 01900 Großröhrsdorf geben. Durch die neue Möglichkeit Sohn Ernst Traugott Boden, als die Tel.: 035952 48247 der Bandherstellung in Großbetrie- Ferneisenbahn am 7. April 1839 von E-Mail: bandweberei-museum@ ben zog die jüngere Generation eine Leipzig nach Dresden fuhr. Um sich stadt-grossroehrsdorf.de regelmäßige Arbeitszeit und pünkt- dieses denkwürdige Ereignis nicht URL: www.grossroehrsdorf.de/ liche Lohnzahlungen der häuslichen entgehen zu lassen, eilte der ge- web/kultur-tourismus/ Weberei vor. Die Folge war ein ste- lernte Musterzeichner zu Fuß nach technisches-museum/index.php tiger Rückgang der Heimweberei. Dresden. Tief beeindruckt zeich- Die Fabriken wuchsen; bis Ende des nete er Lokomotive und die ersten Öffnungszeiten: 19. Jahrhunderts waren mehr als 25 Personenwagen. So konnten schon Dienstag bis Donnerstag: größere und kleinere Bandwebe- sechs Wochen nach Einweihung der 14 Uhr bis 18 Uhr reien im Ort ansässig. neuen Bahnstrecke Hosenträger mit 1. und 3. Sonntag im Monat: Eisenbahnmuster im Handel ver- 14 Uhr bis 17 Uhr Durch die Entwicklung von Hand- kauft werden. Nur ein einziges Ho- Führungen für Gruppen auch werk und Industrie veränderte sich senträgerband aus dieser Zeit blieb außerhalb der Öffnungszeiten die Infrastruktur Großröhrsdorfs. erhalten und zählt zu den besonde- nach Voranmeldung Repräsentative Bauten, wie der ren Ausstellungsstücken des Tech- 10 Museumskurier 42|2018

FOKUSSIERT. Die Chemnitzer Fotografenfamilie Billhardt

Alexander Golya „Das Wesen des Menschen bei der Aufnahme sichtbar zu machen, ist die höchste Kunst der Fotografie.“ Friedrich Dürrenmatts passende Beschreibung des Wesens der klas- sischen Fotografie kann wie eine Blaupause der Arbeit von Thomas Billhardt (geb. 1937) verstanden werden. Viele Fotografen verfolgen das Ziel, „ein ehrliches Porträt zu machen“ − eine Utopie des Genres, eine Quadratur des Kreises, in der sich viele verirren. Es ist das „Wesen des Menschen“ in der Fotografie, mit allen ihren Leerstellen für In- terpretationen, künstlerischer Tiefe und subjektiver Projektionsfläche, die das Medium imstande ist abzu- Maria Schmid-Billhardt, Chemnitz, 1927 bilden. Wesens der Fotografie eindringlich punkt der Chemnitzer Gesellschaft Thomas Billhardt setzt mit seiner beleuchtet. aller Milieus. Hier entstanden Ein- Arbeit exakt dort an und zeigt in zelporträts, Familienbilder und Fo- seinen bewegenden und historisch Geprägt von seiner Mutter, Maria tografien für viele Anlässe der Men- bedeutsamen Fotografien nicht Schmid-Billhardt (1901-1983), die schen der Stadt. Dass es den 1937 nur politische, gesellschaftliche als eine der wichtigsten Porträtfo- in Chemnitz geborenen Thomas Bill- und kulturelle Weltgeschichte auf, tografinnen in der Stadtgeschichte hardt in seinem Leben als Fotograf sondern vor allem das Fundament Chemnitz' gilt, hat Thomas Billhardt über die Stadtgrenzen hinaus in die des Lebens: den Humanismus. In von Kindheitstagen an gelernt, dass Welt ziehen sollte, war zu Beginn der Ausstellung „FOKUSSIERT. Die der Mensch im Mittelpunkt steht. der 1950er Jahre noch nicht abseh- Chemnitzer Fotografenfamilie Bill- Ihr mit ihrem Ehemann Karlheinz bar, als ihn seine allseits beliebte hardt“ werden Kraft und Macht die- Billhardt über fünf Jahrzehnte lang und angesehene Mutter an der Fo- ses auf den Menschen gerichteten geführtes Fotoatelier war ein Treff- tokamera ausbildete.

Fotografien aus dem Fotoarchiv von Maria Schmidt-Billhardt, Chemnitz, 1930er und 1940er Jahre Fotos: © Thomas Billhardt 11 42|2018 Museumskurier

Ein Studium an der Fachschule für angewandte Kunst in Magdeburg, gefolgt von einem weiteren an der Hochschule für Grafik und Buch- kunst in Leipzig, ebneten ihm den Weg in die professionelle Fotogra- fie. Als freischaffender Fotograf, ein Privileg, das er schätzte, um sich fotografisch auf freiem Terrain zu bewegen, reiste er im Alter von 24 Jahren erstmals nach Kuba. Sei- ne dort entstandenen Fotografien der Revolution und der in diesem Machtvakuum lebenden Menschen waren der Beginn seiner internati- onalen Karriere. Seine neue Heimat wurde indes Ost-Berlin, wo er, ganz im Sinne der Familientradition, im Jahr 1978 das Studio Billhardt gründen sollte.

Mitgliedschaften bei vielen nam- haften Fotoverbänden komplet- Thomas Billhardt in der Wohnung von Lenin, Leningrad, UdSSR, 1966 tieren Thomas Billhardts innerbe- rufliches Engagement im Bereich des Vietnamkriegs entstandenen sein Verständnis vor allem für die des Fotojournalismus − ein Feld, Fotografien zu Ikonen avanciert Bedürfnisse der unschuldigen Leid- in dem er zu den angesehensten sind. Es ist wesentlich mehr: Es ist tragenden von Konflikten, Kriegen Fotografen in der DDR für mehrere das unnachahmliche Gespür für die und politischen Repressionen, die in Jahrzehnte zählte. Diese Würdigung Sorgen, Ängste, Liebe, Lebensfreude seinen Fotografien das „Wesen des erhält Thomas Billhardt nicht nur und Zuversicht der Menschen, die Menschen“ abbilden können – und für seine herausragende Arbeit in er auf seinen Reisen in mehr als 40 die Thomas Billhardt mit einer Be- den Kriegs- und Krisenregionen die- Länder kennengerlernt und fotogra- stimmtheit und einem Nachdruck ser Welt, auch wenn seine während fiert hat. Es ist seine Empathie und darstellen kann, die den Betrach- ter zum Nach-, Um- und Geden- ken bewegt. Die unbekümmerte Leichtlebigkeit, die offene Art und Lebensfreude der Kinder sind es, die ihn faszinieren und in Anbetracht seiner Erfahrungen des Leids auf der Welt Hoffnung geben. Und auch hier schließt sich der gemeinsame Kreis mit seiner Mutter, die eben- falls Kindern eine besondere Auf- merksamkeit in ihrer fotografischen Arbeit schenkte. Gemeinsam mit der UNICEF arbeitete Thomas Billhardt auch an Projekten, um beim Schutz der Kinder auf dieser Welt zu helfen.

Thomas Billhardts philanthro- pisches Wesen, seine Liebe zu und Vietnam, 1968 hohe Achtung vor Kindern sowie seine schier unstillbare Wissbe- gierde sind es, die in seinen Bildern 12 Museumskurier 42|2018

unter Gefahr seines eigenen Lebens unerbittlich Leid dokumentiert und porträtiert hat, dass sein Blick glei- chermaßen auf das Gemeinwesen und das Leben des Einzelnen gerich- tet ist und er konsequent die Leid- tragenden und die Schwächsten der Gesellschaft in den Mittelpunkt sei- ner Bilder stellt: Dies fordert höch- sten Respekt und Anerkennung ein. Doch seine Arbeit hat ihn nicht ab- stumpfen lassen. Die Humanität und die Menschenfreundlichkeit sind tief in seiner Persönlichkeit verwur- zelt. Bis heute wird ihm dieser Cha- rakterzug von seinem Umfeld hoch angerechnet.

Doch die Liebe zur Fotografie en- det in der Familie nicht bei Thomas Billhardt. In der Ausstellung, die im Rahmen des Stadtjubiläums »875 Jahre Chemnitz« stattfindet, wer- Alexanderplatz, Ost-Berlin, 1959 den neben dem Werk von Thomas Billhardt und seiner Mutter Maria in der Ausstellung „FOKUSSIERT. Persönlichkeit von Thomas Billhardt Schmid-Billhardt auch Arbeiten sei- Die Chemnitzer Fotografenfamilie blicken zu können. Obwohl es sich ner beiden Kinder präsentiert. Billhardt“ mitschwingen. Die Fo- bei seinem mehrere hunderttausend tografie ist das künstlerische und Fotografien umfassenden Lebens- Der im Jahr 1966 geborene Stef- aufklärerische Ausdrucksmittel von werk vorrangig um Reportage-Fo- fen Billhardt wusste schon in frü- Thomas Billhardt, durch das er dem tografie handelt, die laut Definition her Kindheit, dass er seinem zu der Betrachter nicht nur gestattet, sei- authentisch über Sachverhalte auf- Zeit viel reisenden Vater nacheifern nen Lebensweg mit allen Stationen klären soll, beherbergt es im Fall und eines Tages selbst Fotograf nachzeichnen zu können. Die Fo- von Thomas Billhardt auch einen werden wollte. Nach dem Ende der tografien erlauben auch, tief in die großen Teil seines „Wesens“. Dass er DDR wurde er Assistent beim be- kannten F. C. Gundlach, der seine erfolgreiche Karriere als Modefoto- graf prägen sollte. Steffen Billhardts künstlerischer Ansatz in der Mode- fotografie setzt sich von gängigen Mustern des Genres ab und stellt das Model mit seiner Persönlichkeit, Natürlichkeit und Menschlichkeit ins Zentrum. Damit schwingt auch das „humanistische Gen“ der Familie bei Steffen Billhardt mit, der heute in Singapur lebt und arbeitet.

Seine Schwester Katrin Billhardt (1969-2016) verfolgte bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 2016 verschie- dene Ansätze konzeptueller Foto- Augusto Pinochet und Salvador Allende − Triumphfahrt nach dem Wahlsieg, Santiago de Chile, kunst, die ebenfalls Teil der Ausstel- Chile, 1970 lung ist. Nach einer Ausbildung und Fotos: © Thomas Billhardt/CAMERA WORK AG (l.), Billhardt (r.o., r.m.r.), Steffen (r.m.l.), Hannelore Zschocke (r.u.) 13 42|2018 Museumskurier

Steffen Billhardt, fotografiert von Thomas Billhardt, Singapur, 2018 Katrin Billhardt, fotografiert von Thomas Billhardt, Berlin, 2014

Steffen Billhardt: Jakarta, Indonesia Katrin Billhardt: Pars-Fotografie # 03 einem Studium begann sie − in an- fänglicher Unwissenheit ihrer Eltern − erste fotografische Studien von Strukturen, Oberflächen und Details anzufertigen. Ihr gesteigertes Inte- resse an Psychologie spiegelt sich dabei in ihren fotokünstlerischen Arbeiten wider.

Mit diesen fotografischen Posi- tionen wird das Spektrum in der Ausstellung maßgeblich erweitert, indem sie auch aufzeigt, wie sich die technische und inhaltliche Ge- schichte der Fotografie von der Auftragsfotografie über die Doku- mentarfotografie und Fotoreporta- ge bis zur künstlerischen Fotografie entwickelt hat. Thomas Billhardt in der Chemnitzer Ausstellung, 2018 14 Museumskurier 42|2018

Oscar von Kohorn und seine Firmen Teil II: Die Maschinenfabrik

Jürgen Nitsche Krieg, Kriegsdienst und Rohstoff- mangel warfen auch Kohorns Tep- pichfabrik in den Jahren 1914 bis 1918 in ihrer Entwicklung zurück. In den Folgejahren musste der Un- ternehmer erkennen, dass er die einst erfolgreiche Fabrik1 nicht wieder dahin führen kann, wo die- se zu Kriegsbeginn stand. Bereits in den letzten Kriegsjahren hatte er auf die Fabrikation von Maschinen und sogar Munition gesetzt, wie ein Blick in die Adressbücher der Stadt der Jahre 1918, 1919/20 und 1921 zeigt. Während der Inflation, die sich bis 1923 hinzog, war Kohorn einer Oscar Kohorn & Co., Geschäftsanzeige. der ersten, der mit wahrlich visio- närem Blick die Möglichkeiten der faser betrachtete. Die Weltproduk- Kohorn & Co., die er 1924 als Spezi- damals noch ganz jungen Kunst- tion von Kunstseide nahm in dieser alunternehmen für Stapelfaser- und seide erkannte, die er von Anfang Zeit von 19.000 Tonnen (1921) auf Kunstseidefabriken in das Chemnit- an nicht als einen Ersatz für echte 79.000 Tonnen (1925) zu. zer Handelsregister eintragen ließ. Seide, sondern als eine neue Kunst- 20 Mitarbeiter lieferten fortan kom- In der Folgezeit stellte sich Kohorn plette chemische und Textil-Anla- mit einem im Nachhinein erstaun- gen u. a. nach Belgien, Japan, Polen lich anmutenden Erfolg fast kom- und China sowie in die Sowjetunion plett auf die Kunstfaserindustrie und die Türkei. Die Kunden konnten um. In Zusammenarbeit mit großen sich für eines von drei angebotenen Werken verbesserte er Textilmaschi- Herstellungsverfahren (u. a. Kup- nen und Arbeitsvorgänge. Er war feroxid-Ammoniakverfahren) ent- auch einer der ersten, der Gruppen scheiden. Die Maschinenfabrik war von Technikern und Chemikern dazu ebenso wie die Teppichfabrik auf mit Forschungsarbeiten betraute. dem Firmengelände Kauffahrtei 31 Eine Fabrik von den Gebäuden über ansässig. Ihr Büro befand sich an- die Kraftanlage bis zur kleinsten fangs noch im Gebäude Zwickauer Maschine zu planen, einzurichten, Straße 108. Ein weiteres Kontor war schlüsselfertig zu übergeben und in Wien. Fachleuten zur Leitung und Einar- beitung zur Verfügung zu stellen, ist Die erste in dieser Art gelieferte Fa- heute nicht ungewöhnlich, war aber brik stand in Theresienthal in Ost- in den 1920er Jahren eine Pionier- böhmen (1924), eine zweite in Seni- arbeit. Oscar von Kohorn beschritt ca in der Slowakei. Es folgten Tubize damit ganz neue Wege. Er sah in der in Belgien und Kuhlmann in Frank- Errichtung kompletter Kunstseiden- reich (1925), zwei weitere in Frank- fabriken eine neue Herausforderung. reich (1925) und Lieferungen für die Oscar von Kohorn im Exil Der einstige Teppichfabrikant grün- IG Farben in Wolfen. 1927 wurden

dete in dieser Zeit die Firma Oscar drei komplette Fabriken in Japan er- Fotos: Sammlung Nitsche (l.o.), Familienbesitz Kohorn (l.u., r.) 15 42|2018 Museumskurier richtet, je eine in der Schweiz und aus dem Jahr 1959 hieß, sondern es milie Kohorn mehr in Deutschland in Polen. 1928 folgten je eine Fa- war eine von langer Hand vorberei- auf. Von engsten Vertrauten wurde brik in Berlin, in Athen (Griechen- tete Flucht. eine Rückkehr eher ausgeschlossen, land) und in England; 1929 eine in Der international agierende und auch wenn es in einem Schreiben Ungarn und zwei in der Sowjetuni- ebenso denkende Großindustrielle des Sekretariats des Freiherrn von on. Handelsbeziehungen nach Oslo hatte nach der nationalsozialis- Kohorn vom 8. Oktober 1935 an das (Norwegen), Säffle (Schweden) und tischen Machtübernahme 1933/34 Amtsgericht hieß, er würde Mitte Den Haag (Niederlande) wurden in Deutschland für sich und seine Januar 1936 nach Deutschland zu- aufgebaut. Familie als Juden keine Zukunft rückkehren. Auch in Deutschland wurden Fa- mehr gesehen. Daher kehrte er von Oscar von Kohorn hatte seinen brikanlagen erbaut, so für das einer erneuten Geschäftsreise nach Neffen als Bevollmächtigten einge- Spinnstoffwerk in Glauchau, die Fr. Japan, die er am 3. September 1935 setzt, der seine Firmen leiten sollte. Küttner AG in Pirna und die Viskose angetreten hatte, nicht wieder zu- Er war u. a. befugt, Gesellschaf- AG in Arnstadt. rück. Er hielt sich fortan in der terversammlungen einzuberufen, Großstadt Yokohama auf. Den Sitz Gehaltsfragen und Umsatzvergü- Im Mai 1930 holte Oscar von Ko- der Firma ließ er in Tokio eintragen. tungen zu regeln. horn seinen bis dahin in Wien le- Sie hieß fortan Oscar Kohorn & Co., benden Neffen Leo2, der von Beruf Goshi Kaishai (entspricht der deut- Im Sommer 1936 veranlasste der Maschinenbau-Ingenieur war, in schen Kommanditgesellschaft). Präsident des Landesfinanzamtes die Firma. Nach einem Konkursver- Bereits im Oktober 1934 hatte Leipzig eine Devisenprüfung bei fahren wurde diese in eine GmbH Kohorn seinem 21jährigen Sohn der Oscar Kohorn & Co. GmbH, die umgewandelt. Oscar von Kohorn Heinz-Horst die Prokura für die die Devisenstelle Chemnitz durch- und Leo Kohorn waren die Gesell- Firma übertragen. Noch im selben führte. In deren Ergebnis wurde schafter. Das Gesellschaftskapital Jahr reiste dieser nach Japan. In ih- festgestellt, dass die finanzielle betrug 50.000 Mark. Dieses wurde ren Reiseanträgen hatten Vater und Lage der GmbH denkbar ungünstig in Form einer Versuchsanlage und Sohn angegeben, neue Geschäfts- wäre. Auch wurde die unzuläng- Betriebs- bzw. Büroinventar bereit- verbindungen in Japan, China und liche Buchführung bemängelt. In gestellt. Leo Kohorns Stammeinlage Indien anzubahnen. Valerie von Ko- dieser Zeit wurden Verträge mit betrug 1.000 Mark. Der Chemnitzer horn konnte ihrem Ehemann noch zwei japanischen Firmen (Mit- Kaufmann Paul Jentzsch wurde Ge- im September 1935 nach Japan subishi und Nippon) abgeschlossen. schäftsführer. Der Oberingenieur folgen. Rolf, der jüngere Sohn, be- Ein Vertrag mit einer rumänischen Franz Sixthor begann damals seine fand sich seit 1933 in einem Inter- Firma stand kurz vor Vertragsab- erfolgreiche Arbeit für Kohorns Un- nat in der Schweiz. Damit hielt sich schluss. Tatsächlich wurde der „Ru- ternehmen. zu diesem Zeitpunkt (September mänienvertrag“ am 2. Oktober 1936 1935) kein Mitglied der engeren Fa- abgeschlossen. In seiner Tätigkeit bereiste Leo Ko- horn vorwiegend Indien, Japan und China, um neue Aufträge zu akqui- rieren. Im Sommer 1933 ging er mit der Frankenberger Schaffnertochter Gertrud Härtwig eine zweite Ehe ein. Zuvor war er bis Herbst 1930 mit Rita Wolf verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe stammte die 1926 in Wien geborene Tochter Inge Mari- on.

Fünf Projekte in Japan brachten in den 1930er Jahren die Verlegung des Firmensitzes in das „Land der aufgehenden Sonne“. Es war aber keine einfache Verlegung des Fir- mensitzes, wie es in einem Beitrag Leo Kohorn mit Ehefrau und Tochter in der „New Yorker Staats-Zeitung“ 16 Museumskurier 42|2018

Ende 1937 verlegte Oscar von Ko- Die Oscar Kohorn & Co. GmbH wurde horn seinen Wohn- und Firmensitz am 12. Oktober 1938 laut Beschluss in die Vereinigten Staaten, die er der Gesellschafterversammlung in 1921 erstmals besucht hatte. Seit die VISCOSA GmbH für Bau- und 1926 besaß er in dem „Land der Einrichtungen von Kunstseide- und unbegrenzten Möglichkeiten“ ein Zellwolle-Anlagen überführt. Die eigenes Unternehmen. bisherige Firma sollte jedoch wei- terhin Bestand haben, da diese in Leo Kohorn, der weiterhin die Ge- Deutschland noch Patente besäße. schäftsinteressen seines Onkels in Erst im Februar 1940 hatte der Ge- Chemnitz vertrat, befand sich im schäftsführer Dr. Willy Ullmann kein April 1938 in dessen Auftrag in der Interesse mehr an deren Fortbeste- Stadt Gemlik (Türkei). Vorher hatte hen, da Kohorn die früher auf seine er die Wohnung in der Horststraße Firma eingetragenen Patente bereits 3 aufgelöst. In Ermangelung anderer vor geraumer Zeit an eine US-ame- Möglichkeiten hatte er die zwölf- rikanische Patentverwertungsge- jährige Tochter zu seiner in Fran- sellschaft verkauft hatte. zensbad (ČSR) lebenden Mutter ge- bracht. Einige Monate später reiste In den Vereinigten Staaten ereilte er im Auftrag der Firma nach Lupeni Baron von Kohorn im April 1940 die (Rumänien), wo er sich dauerhaft Nachricht, dass ihm, seiner Ehefrau niederlassen sollte. Von dort aus und seinen Söhnen die deutsche konnte er sowohl Unterhaltsfragen Staatsangehörigkeit aberkannt wur- regeln, die seine in Rom lebende, de. Das noch im Reich vorhandene geschiedene Ehefrau Rita als auch Vermögen wurde eingezogen. Das seine kranke Schwägerin Sidonie Fabrikgrundstück Kauffahrtei 31, Elsbeth Härtwig3, die sich damals das damals an den Reichsfiskus ge- in der Landesanstalt Zschadraß be- fallen war, wurde am 23. September fand, betrafen. Im Juni 1941 verließ 1940 an die Auto-Union AG „ver- die Familie Rumänien in Richtung kauft“. Kobe (Japan), um von dort über Kalifornien (USA) nach Valparaíso Die Nachkriegsjahre waren durch (Chile) auszuwandern. eine ständige Expansion der Von Kohorn International Corporation mit Sitz in White Plains (New York) geprägt, die sich in der Errichtung weiterer Fabriken weltweit manife- stierte. Mehr als 100 Fabrikanlagen in mehr als 30 Ländern wurden bis 1959 errichtet. Dies war auch das Verdienst von Franz Sixthor. Kohorn hatte diesen im Herbst 1947 in die USA geholt und zum Chefingenieur seines Unternehmens gemacht.4

Oscar Baron von Kohorn, der auch den US-amerikanischen Präsidenten 1 Museumskurier 18(2018) 41, S. 14-16 Harry S. Truman persönlich kannte, 2 Leo Kohorn war der Sohn von Ida Kohorn. 3 Die unverheiratete Metallarbeiterin und starb am 30. Juni 1963 in New York. Mutter einer Tochter starb am 17. November 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Groß- schweidnitz. 3 Franz Sixthor starb im 6. Oktober 1973 in , als er zu Besuch bei einer früheren Harry S. Trumann (1884-1972), mit Widmung Freundin war. für Oscar von Kohorn Foto: Familienbesitz Kohorn (l.), Archiv Lorenz (r.) 17 42|2018 Museumskurier

Ein kostspieliger Versuch Von 1954 bis 1960 investierte die DDR 2,3 Mrd. Mark in eine moderne Luftfahrtindustrie

Holger Lorenz Als die Bewohner der Dresdner Randbezirke in den Mittagsstunden des 4. Dezember 1958 ein inferna- lisches Pfeifen über ihren Köpfen wahrnehmen und in den Himmel schauen, sehen sie ein silbern glän- zendes Flugobjekt schnell auf sich zukommen. Es ist die neuartige Düsenmaschine, die am Flughafen Klotzsche gebaut wird und von de- ren Bau in den Zeitungen zu lesen war. Man sieht die Düsentriebwerke an Gondeln unter den Flügeln hän- gen. Auch die 35-Grad-Pfeilflügel, die moderne Düsenflugzeuge aus- zeichnen, sind deutlich zu erkennen. Das Flugzeug ist unter der schlich- 152 V1 ten Bezeichnung 152 bekannt. Doch Eingeweihte wissen zu berichten, sitzt Willi Lehmann, einst Flugver- den gemessenen Schwingungen dass es sich bei der 152 um ein suchsingenieur bei und an Flügel, Leitwerk und Gondeln. Junkersflugzeug handelt. Die Zahl nach dem Krieg in der Sowjetunion All das ist notwendig, um genaue 152 stelle die werksseitige Entwick- bei Junkers-Chefkonstrukteur Bru- Aussagen zum Flugzeug und seinen lungsnummer dar, was andeute, nolf Baade auf dem Strahlbomber Aggregaten zu erhalten. Die „große welch lange Entwicklungslinie die Ju/EF-150 geflogen. An seiner Seite Schachtel“ soll dabei in etwa 25 Type 152 mit 151 Vorgängermu- Co-Pilot Kurt Bemme, während des Minuten durchflogen und anschlie- stern habe. Es sei also keineswegs Krieges Fluglehrer, sowie Bordinge- ßend gelandet werden. so, dass hier ein aus dem Nichts nieur Paul Heerling, ein Urgestein geschaffenes Flugzeug am Himmel der Junkers-Flugerprobung. Als die 152 V1 nach 35 Minuten kreise. Die 152 V1 war um 11:18 Uhr auf um 11:53 Uhr in Klotzsche aufsetzt, der 2.500 Meter langen Startbahn qualmen beim Bremsen die Reifen Während die Dresdner Einwohner in Dresden-Klotzsche abgehoben des Hauptfahrwerkes in denselben bewundernd in den Himmel star- und in Richtung Elbtal geflogen. Intervallen, wie die Piloten bremsen. ren, ist die Besatzung der 152 V1 Sie hat acht Tonnen Treibstoff für Versuchspilot Willi Lehmann be- konzentriert bei der Sache. Ihr Flug- anderthalb Flugstunden an Bord mängelt, dass die Kraftstoffversor- auftrag lautet: Fliegen einer großen und eine umfangreiche technische gung der Triebwerke beider Flügel- Platzrunde im Flughafenbereich Ausrüstung − einen sogenannten seiten unterschiedlich gewesen sei, von Dresden-Klotzsche in einer automatischen Beobachter, der in was beim Abstieg Probleme mit der Höhe von 1.000 bis 1.500 Metern festgelegten Zeitintervallen rund Drehzahleinstellung bereitet habe. mit ausgefahrenem Fahrwerk und 250 Messdaten aufzeichnet, ange- Er wünschte eine Kraftstoffverbin- einer Geschwindigkeit von 280 bis fangen von den Triebwerksdaten dungsleitung zwischen den rechten 320 km/h. In der „großen Schach- über die Temperaturen und Strö- und den linken Triebwerken. Als tel“, wie die Platzrunde auch ge- mungsgeschwindigkeiten in den dann die V1 in den nächsten Tagen nannt wird, sollen sie das Verhalten Triebwerksgondeln, die allgemeinen gründlich untersucht wird, stellen der Triebwerke in unterschiedlichen Flugdaten wie Höhe, Geschwindig- sich viele weitere kleinere und grö- Drehzahlbereichen und die Reakti- keit, Außentemperatur, Anstellwin- ßere Mängel heraus. Unter anderem onen des Flugzeuges auf die Steu- kel, Hängewinkel, Schiebwinkel, auch, dass die Bremsautomaten ereingaben beurteilen. Am Steuer Ruderausschläge usw. bis hin zu falsch herum eingebaut waren, 18 Museumskurier 42|2018

1953 alle diesbezüglichen Aktivi- täten. In den zwei Jahren war aber bereits ordentlich in inve- stiert worden, die Konstruktion und der Bau eigener Flugzeuge vorange- schritten und über 1.500 Arbeits- kräfte eingestellt. Selbst die UdSSR hatte bereits 10 Flugzeuge MiG-15 in Kisten verpackt geliefert. Durch diesen plötzlichen Abbruch mussten die qualifizierten Mitarbeiter ande- re Tätigkeiten übernehmen und es fehlte dem späteren Flugzeugbau in Dresden, Pirna und Karl-Marx-Stadt aus diesem Grunde in Größenord- nungen an qualifiziertem Personal. Brunolf Baade äußerte 1955 in einer Befragung bei der Staatssicherheit, In der neuen Endmontagehalle 222 in Dresden-Klotzsche wurden alle Flugzeuge vom Typ 152 dass nur 500 Leute mit einer Lauf- gebaut. bahn bei Junkers, Arado und Heinkel 20.000 Unbedarfte anlernen, anlei- wodurch die Bremsen des Haupt- ten, ihre Arbeit überwachen, Fehler fahrwerks zum Blockieren neigten, Wenn man diesen Fragenkomplex korrigieren, die Planungsarbeit für was das Qualmen der Reifen verur- beantworten will, muss man tief andere übernehmen und deshalb sacht hatte. Offiziell dagegen war in die politischen, wirtschaftlichen, zu ihrer eigentlichen Aufgabe, der der Erstflug vom 4. Dezember 1958 personellen und technischen Gege- technischen Führung des Großkon- ein großer Erfolg. Aber so ist es oft benheiten jener Jahre hinabsteigen. zern, kaum noch kämen. in den Medien − die Öffentlichkeit Dieser Versuch soll hier − in Kurz- Betrachtet man die Jahre 1949 bis wird von der Wahrheit ausgeschlos- form − unternommen werden. 1961 aus wirtschaftlicher Sicht, sen. Man wolle die Bevölkerung Vor dem Aufbau der DDR-Luftfahrt- wird die Schwäche der DDR-Wirt- schließlich nicht beunruhigen. industrie in Dresden, Karl-Marx- schaft sofort augenscheinlich. In Stadt, Pirna, Schkeuditz und Lud- den ersten fünf Jahren wurde ein Bereits bei ihrem zweiten Flug am 4. wigsfelde der Jahre 1954 bis 1961 Nationaleinkommen, also der Neu- März 1959 stürzte die 152 V1 wäh- hatte es schon einmal einen ähn- wert aller erzeugten Waren im Lan- rend des Landeanfluges nach knapp lichen Versuch von 1952 bis 1953 in de, von 30 Mrd. Mark (1950) bis einer Stunde Flugzeit ab, nachdem der traditionsreichen Junkersstadt 46 Mrd. Mark (1954) erzeugt. Die die Maschine in Höhen von 6.000 Dessau gegeben. Auf Beschluss der davon zu leistenden Reparationen Metern und mit Geschwindigkeiten 2. Parteikonferenz der SED, die am an die Sowjetunion sollen jährlich bis 500 km/h operierte. Der Ab- 12. Juli 1952 zu Ende ging, sollte zwischen drei und vier Mrd. Mark sturzbericht wurde dann in nur ei- das Junkerswerk wieder aufgebaut betragen haben, vielleicht auch ner Woche erstellt und kam sofort und die Produktion von Militärflug- doppelt so hoch. Die industriellen in den Giftschrank. Eine offizielle zeugen aufgenommen werden, spe- Investitionen lagen dagegen bei nur Erklärung zu dem Vorgang ist nie ziell der Lizenzbau des sowjetischen 1,5 bis 3,1 Mrd. Mark. Mehr konnte erfolgt. Die anschließende Weisung Jagdflugzeuges MiG-15. Warum? sich die DDR einfach nicht leisten. hieß: Weitermachen und die verbes- Wohl, um die Grenzen der blutjun- Deshalb der Grundsatz: Erst besser serten Maschinen 152/II V4 und V5 gen DDR zuverlässig zu schützen. Der arbeiten, dann besser leben. Er- schnellstmöglich in die Luft bringen. 17. Juni 1953 mit der massenweisen schwerend kam hinzu, dass die zu Empörung der Arbeiter über ihre leistenden Reparationen vor allem Was ist hier passiert? Wer ist Arbeitsbedingungen, die so massiv den Maschinenpark dezimierten. schuld? Kann das wieder passieren? von der SED-Spitze nicht erwartet Ohne Maschinen aber ist mensch- Ist die kleine DDR überhaupt in der worden war sowie das Umschwen- liche Arbeit nicht effektiv. Es blieb Lage, solche hochkomplexen Gebil- ken der sowjetischen Führung in den Ostdeutschen nur viel Schweiß de wie Strahlflugzeuge fehlerfrei zu Bezug auf Reparationsleistungen und wenig Ertrag. Durch den Erlass

bauen? unterband schließlich im September der Reparationszahlungen Ende Fotos: Archiv Lorenz 19 42|2018 Museumskurier

1953 stand Geld zur Verfügung, setzungskraft ihrer Ideen bei, was rungen in Berlin wie auch in Mos- mit dem SED-Chef unter Stalin nicht erwünscht war. kau überzeugen. fortschrittliche Industrien fördern Doch nur so ließen sich im komple- Die DDR-Führung stellte aus den wollte, um das Nationaleinkommen xen Flugzeugbau allen Widerstän- eingesparten Reparationsleistungen sprunghaft zu steigern. Denn Ul- den zum Trotz neue Ideen durchset- für die neu aufzubauende Luft- bricht wusste, wie wichtig laufende zen. Das Ergebnis waren die Tu-16, fahrtindustrie bis 1960 etwa 2,3 industrielle Investitionen für eine die Tu-95 und die imposante M-4, Mrd. Mark als Anschubfinanzierung gedeihliche Entwicklung der Volks- die die US-amerikanischen Konkur- bereit. Mit diesem Geld wurden vor wirtschaft sind. Von einem moder- renzmuster von Boeing oder Convair allem in Dresden und Pirna mo- nen Flugzeugbau in der rohstoff- auf die Plätze verwiesen, einfach, dernste Werke aus dem Boden ge- armen DDR versprach sich Ulbricht weil sie mit weniger komplizierter stampft. Als sie schließlich standen, im internationalen Handel die so Technik dasselbe Ziel erreichten und zeigte sich, dass man mit zentraler wichtigen Deviseneinnahmen, um so robuster und damit tauglicher für Planung zwar leicht und schnell Konsumgüter, Rohstoffe und Ma- den Kriegsfall waren. Großbauwerke hochziehen konnte, schinen auf dem Weltmarkt in ge- doch die von der Sowjetunion über- nügender Menge einkaufen zu kön- Brunolf Baade war es schließlich, nommenen Strukturen innerhalb nen. Von 1946 bis 1954 hatte ein der diesen Spezialisten eine Brücke der Betriebe ineffizient waren tausendköpfiges Junkerskollektiv, zurück nach Deutschland baute. Er das seit der Ju 88 zusammenarbei- sah sich in der Verantwortung, da Da die anfängliche Planung der tete, in der Sowjetunion für Stalin er am Ende des Krieges durch seine DDR-Luftfahrtindustrie auf der An- an neuen Hochleistungsflugzeugen Verhandlungen mit der russischen nahme fußte, dass die Sowjetunion und Strahltriebwerken gearbeitet. Besatzungsmacht ungewollt da- als Großkunde für DDR-Flugzeuge Auf beiden Gebieten war die Jun- für gesorgt hatte, dass diese Leu- zur Verfügung steht, diese An- kers Flugzeug- und Motorenwerke te samt Junkerswerk in die UdSSR nahme sich jedoch spätestens mit AG am Ende des Krieges führend zwangsversetzt worden waren, der definitiven Absage der UdSSR in der Welt gewesen. Das Kollektiv auch genannt „lebende Reparati- am 5. Juni 1959 in Luft auflöste, um Brunolf Baade schuf in der So- onsleistung“. Nun, im Herbst 1953, blieb der DDR-Führung nur noch wjetunion nicht nur die Vorausset- hatte Brunolf Baade mit sehr viel die Entscheidung zwischen einem zungen für den Bau der Großbomber Verhandlungsgeschick und Nach- Weitermachen auf kleinerer Stu- von Tupolew und Mjassischtschew, druck erreicht, dass die Truppe zu- fenleiter oder der vollständigen noch viel mehr brachten diese Leute rück nach Deutschland durfte. Um Auflösung der Luftfahrtindustrie. den jungen sowjetischen Ingeni- sie an die DDR zu binden, musste Die Staatliche Plankommission kam euren eigenes Denken und Durch- eine Aufgabe her, die sie bei der schließlich Ende 1960 zu der Er- Ehre packte, und die mehr als sehr kenntnis, dass ein Weitermachen gute Verdienste versprach. Die Auf- riesige Folgekosten zum Beispiel gabe hieß: Konstruktion und Bau bei der Ersatzteilversorgung nach eines Düsenverkehrsflugzeuges. sich ziehen würde. Am 28. Febru- Brunolf Baade versprach Walter Ul- ar 1961 gab das Politbüro der SED bricht einen in der Welt eindrucks- die Empfehlung an die Regierung, vollen „Regierungsflieger“, eine den Flugzeugbau einzustellen und Befruchtung der übrigen Industrien dessen Kapazitäten auf die Auto- mit modernen Ideen aus der Luft- matisierungstechnik umzustellen. fahrttechnik und der DDR-Fluglinie Am 17. März folgte die Regierung Lufthansa ein hochmodernes Flug- der DDR diesem Vorschlag. Alle im zeug. Der Sowjetunion wiederum Bau stehenden Flugzeuge vom Typ versprach er, dass von seinem Kol- 152 (V4 bis 014) wurden verschrot- lektiv über alle in der Sowjetunion tet. Die Ersatzteilproduktion für die verwirklichten Projekte Stillschwei- 80 in Dresden und Karl-Marx-Stadt gen bis in den Tod gewahrt würde gebauten Flugzeuge vom Typ IL-14P und dass diese Leute weitgehend in lief noch bis 1982. Walter Ulbricht nahm am 30. April 1958 die der DDR gehalten werden würden, 152 in Augenschein, dahinter links Brunolf eben durch eine große Aufgabe und Baade, Konstrukteur Johannes Haseloff und VFI-Direktor Karl Pätzold. entsprechende Gehälter. Mit diesem Ansinnen konnte Baade die Füh- 20 Museumskurier 42|2018

Blaues Wunder

Seit 125 Jahren verbindet eine beeindruckende Stahlfachwerkbrücke die heutigen Dresdner Stadtteile Bla- sewitz und Loschwitz. Sie erhielt den Namen König-Albert-Brücke, den sie bis zur Eingliederung der Ge- meinden Loschwitz und Blasewitz in die Stadt Dresden im Jahre 1921 trug. Seit dieser Zeit ist ihr offizieller Name Loschwitzer Brücke, eingebürgert hat sich jedoch der Name „Blaues Wunder“.

Achim Jannasch Bis zum Bau der Brücke war man bei der Überquerung der Elbe an dieser Stelle auf eine Fähre angewiesen, die es offenbar schon seit dem 13. Jahrhundert gab. Selbst mit dem Einsatz einer Dampffähre ab 1862 wurde der Fährverkehr durch den zunehmenden Handelsstrom bald zum Nadelöhr. Mit der Inbetrieb- nahme der Pferdebahn zwischen Dresden und Blasewitz 1872 ver- vielfachte sich der Verkehr, der wei- Blaues Wunder im Bau ter nach den rechtselbischen Gebie- ten drängte. bände wünschten, sowie statisch ge von über 270 m. Über den Fluss Bereits Anfang der 1870er Jahre gab bestimmte Eisenkonstruktionen für werden, gemessen von den Pfei- es erste Entwürfe für eine Brücke. die drei Hauptöffnungen der Brücke, lermitten, rund 147 m überbrückt. Zehn Jahre später, am 15. Oktober eine Vorgabe der Königlichen Was- Der für Fahrbahn und Gehwege 1883, richtete der Ortsvorstand von serbaudirektion, an deren Spitze vorgesehene Innenraum ist etwa Loschwitz schließlich eine Petition Claus Koepcke (1831-1911) stand. 12 m breit. Die Gesamtmasse des an die Staatsregierung. Er ersuchte Auf sein Betreiben hin überarbei- Bauwerkes beträgt ca. 3.500 t. Die „in größter Ergebenheit“ um den tete die Marienhütte ihren Entwurf etwa 25 m hohen Pylone stehen auf Bau einer Brücke zwischen Bla- und gestaltete eine Konstruktion Rollenkipplagern, die auf den Köp- sewitz und Loschwitz. Es wurden nach den Vorgaben Koepckes. Sei- fen der auf beiden Uferseiten ge- Entwürfe in Auftrag gegeben, von ne Idee sah eine eiserne, versteifte mauerten Pfeiler angebracht sind. denen drei das besondere Interes- Hängebrücke vor mit einer für die Die Lager ermöglichen, dass sich se der betroffenen Gemeinden er- damalige Zeit unvorstellbar großen die beiden mittleren Brückenteile weckten. Es waren die Studien der Spannweite. bei Temperaturveränderungen aus- Königin-Marien-Hütte in Cainsdorf Der Bezeichnung nach ist das Blaue dehnen oder verkürzen können. Auf bei Zwickau, der nach Ingenieur Ju- Wunder eine Fachwerkstrebenbrü- jeder Brückenseite verlaufen zwei lius Ferdinand Kitzler und der nach cke ohne Strompfeiler, die durch stählerne Obergurte von der Brü- den Ingenieuren Proell und Scha- Stahlstützkonstruktionen (Pylone) ckenmitte über die Pylone bis zu rowsky. In Folge der Bewilligung von über den Pfeilern als selbst tra- den hinter den Pfeilern liegenden 400.000 Mark Staatsbeihilfe durch gender vierteiliger Dreiecksverband Ankerkammern. Darin befinden sich den Sächsischen Landtag im Okto- aufrechterhalten wird. Damit ent- die Gegengewichte mit einer Mas- ber 1884 gründeten wohlhabende steht die markante Seitenansicht se von jeweils etwa 1.500 t, die die Bürger 1886 einen Brückenbauver- des Bauwerkes. Die Verwendung Dreieckskonstruktionen und damit band mit der Aufgabe, das restliche, der Hyperbelform für die Obergurte auch die Brückenbelastung ausba- für den Bau notwendig Kapital zu und die Gewährleistung der Tragfä- lancieren. Die Ankerkammern sind beschaffen. Es wurden weitere higkeit durch Vorspannung im Zu- jeweils ungefähr 22 m breit, 20 m Machbarkeitsstudien in Auftrag sammenspiel tragender Elemente lang und 12 m hoch. Sie sind begeh- gegeben. Die Herausforderungen zeigen Koepckes technologische bar für Revisionen sowie Wartungs- waren der Verzicht von Pfeilern im Neuerungen. bzw. Reparaturarbeiten. Es besteht

Flussbett, was sich die Schifferver- Die Brücke hat eine Gesamtlän- die Möglichkeit, die Kammern bei Fotos: Archiv Jannasch 21 42|2018 Museumskurier

Hochwasser zu fluten, um einem tanz für ein bei der Dresdner Bevöl- für die Standsicherheit schädlichen kerung durchaus umstrittenes Bau- Auftrieb entgegenzuwirken. Un- werk. Am 15. Juli 1893 wurde die terhalb der Konstruktion wurde die König-Albert-Brücke eingeweiht. Anbringung einer Revisionsbrücke Der viel zitierte plötzliche Farbum- Elbethaler vorgesehen, die in den 1930er Jah- schlag von Grün nach Blau, also ein ren auch tatsächlich nachgerüstet blaues Wunder, gehört allerding zur wurde. Weiterhin lassen seitlich he- Legende, denn Belege von der Brü- erzeugten Schwingungen gut auf- rausragende Quertraversen und die ckenweihe besagen, dass die Brücke nehmen konnte, entfernt. Als Ersatz überbreiten Pfeiler links und rechts seit Anbeginn „so blau wie unsere installierte man eine Stahlplatte, eine Brückenverbreiterung zu, in- Gardereiter-Uniformen“ war. Auch auf die die Eisenbahnschienen auf- dem die Gehwege mit geringem der 1893 herausgegebene Elbet- geschweißt werden konnten. Damit Aufwand auf außerhalb der eigent- haler bildet die Brücke als „Blaues aber übertrugen sich Schwingungen lichen Konstruktion verlagert wer- Wunder“ ab. nun direkt auf die Brücke, was dem den können. Das wurde 1928 auch Mit 2,27 Mio. Mark war das Bau- Bauwerk nicht zuträglich war. Ab umgesetzt. werk teurer geworden als ur- 1956 wurde sie für Fahrzeuge über Der erste Spatenstich erfolgte am sprünglich veranschlagt. Zur Refi- drei Tonnen gesperrt, ausgenom- 1. April 1891, der eigentliche Bau- nanzierung wurde ein Brückenzoll men Busse und Straßenbahnen, die beginn mit den Arbeiten an der erhoben, der bis zu Eingemeindung in Schrittgeschwindigkeit zu fahren Loschwitzer Ankerkammer war der von Blasewitz und Loschwitz 1921 hatten. Nach Angaben aus dem Jah- 28. April. Als ausführender Bau- für Mensch und Tier, bis 1924 für re 2009 verkraftet die Brücke täglich leiter wurde Hans Manfred Krüger Fahrzeuge zu entrichten war. Die rund 35.000 Fahrzeuge, allerdings (1852-1926) beauftragt. Den Bau „pfengweise“ zu zahlende Gebühr ohne Schwerlastverkehr und mit der Ankerkammern und der Zu- betrug 1918 beispielsweise 2 Pf. für Tempo 30. fahrtsstraßen verantwortete Aemil Fußgänger, Straßenbahnfahrgäste, In den 1960er und 1970er Jahren Hugo Ringel (1853-1912). Zunächst Rad- und Kraftradfahrer. Auch für sollte im Zuge eines Raumentwick- wurden die Brückenköpfe mit den getriebenes Vieh wurde in dieser lungsplanes eine Erneuerung der Ankerkammern und die Pfeiler in Größenordnung zur Kasse gebeten. Brückenverbindung zwischen Bla- Angriff genommen. In der Königin- Dramatisch wurde die letzte Zeit sewitz und Loschwitz vorgenommen Marien-Hütte erfolgte die Ferti- des Zweiten Weltkriegs. Wie für die werden. Für das Blaue Wunder war gung der 3.000 t Stahlteile, die anderen Überquerungen der Elbe eine weitgehende Demontage ge- anschließend vor Ort mit 97.117 war auch für das Blaue Wunder plant, aber die wirtschaftliche Situ- Nieten zusammengefügt wurden. die Sprengung vorgesehen, um die ation der DDR verhinderte das Vor- Ein Unterbau aus Holz, eine gewal- herannahende Rote Armee aufzu- haben. Seit 1974 steht die Brücke tige Zimmermannsarbeit, stützte die halten. In einer der Überlieferungen unter Denkmalschutz. Im April 1985 Brückenkonstruktion während der zeigten gleich mehrere Bürger der wurde der Straßenbahnverkehr über Montage ab. Die Fahrbahn auf der Stadt Zivilcourage. Unter ihnen sind das Blaue Wunder gänzlich einge- Brücke bestand aus 12 cm hohem namentlich bekannt geblieben der stellt. In dieser Zeit begann eine Ge- Pflaster aus Eichenholz, in das Stra- Klempnermeister Stöckel und der neralinstandsetzung, die eine Neu- ßenbahngleise eingelassen wurden, Telegrafenarbeiter Zickler. Ohne konservierung der Brücke und die so dass bereits ab 1893 die „Elek- voneinander zu wissen sabotierten Verstärkung tragender Teile zum In- trische“ der gelben und roten Linien sie die installierten Sprengkabel. halt hat. In den kommenden Mona- über die Brücke fahren konnten. Daran erinnert seit 1965 eine Ge- ten erhält das Bauwerk einen neuen Am 11. Juli 1893 erfolgte die auf- denktafel am Brückenkopf auf Bla- Korrosionsschutz. Die Gutachter be- sehenerregende Belastungsprobe u. sewitzer Seite. scheinigen dem Blauen Wunder im a. mit Dampfstraßenwalzen, schwer Die Brücke instand zu halten, wurde Jahr seines 125jährigen Jubiläums beladenen Straßenbahnwagen so- zunehmend zur Herausforderung für eine Haltbarkeit für weitere über- wie einer im Gleichschritt marschie- die Stadt Dresden. 1952 und 1963/64 schaubare Jahre. renden Kompanie Soldaten und erhielt die Stahlkonstruktion einen weiteren Passanten. Insgesamt ka- neuen Farbanstrich − selbstver- Literaturempfehlung: men rund 157 t zusammen. Die Brü- ständlich wieder in blau. Zwischen Loschwitz : illustrierte cke bewies zum einen mit lediglich 1956 und 1959 wurde auch das Ortsgeschichte 1315-2015. 9 mm Durchbiegung Standfestigkeit Holzpflaster, das eigentlich leicht − Dresden, 2015 und schuf zum anderen die Akzep- war und die von den Fahrzeugen 22 Museumskurier 42|2018

100 Jahre Kurbetrieb im Schlematal

Oliver Titzmann Wer die bewegte Geschichte der Gemeinde Bad Schlema kennt, wird wissen, dass es wohl einen Kurbe- trieb gab und gibt, doch sollen es wirklich 100 Jahre sein? Der Ra- donkurbetrieb wird diesen Zeitraum nicht füllen können, zu lange domi- nierte der Uranbergbau den Ort. Aber ein Kurwesen im Schlematal gab es bereits vor dem ersten Radonkurbe- trieb und auch während der aktiven Wismut-Jahre. Und das wiederum gehört zu den unbekannten Seiten der Bad Schlemaer Vergangenheit. Doch der Reihe nach. Genesungsheim Niederschlema Kurz vor der Wende zum 20. Jahr- hundert entdeckte der Verein Deut- wicklung ab. Auf der Suche nach rieb auf der Grundlage der reichen scher Handlungsgehülfen (VDH) radonhaltigen Quellen stießen Wis- Radonwasservorkommen im Schle- den herrlichen Wald am Flößgra- senschaftler der Freiberger Berg- matal. ben zwischen Niederschlema und akademie 1908/09 im untertägigen Aue als einen Ort der Erholung Bereich des oberen Schlematals auf Aus diesen einfachen Anfängen und Regeneration. Im Frühjahr so außerordentlich starke Wässer, heraus entwickelte sich eine der 1899 öffnete hier ein neu erbautes dass sie ihren Geräten nicht trauen atemberaubenden Erfolgsgeschich- Heim für die Mitglieder dieser ge- wollten. Die weiteren Aufschlie- ten der europäischen Bäderland- werkschaftlichen Vereinigung seine ßungsarbeiten durch den hiesigen schaft. Schon wenige Jahre nach Pforten. Ruhige Zimmer inmitten Werkbaumeister Richard Friedrich der Eröffnung verdoppelten sich die eines alten Mischwaldes, fern von in den Jahren 1909 bis 1913 schu- Besucherzahlen des Radiumbades jedem Verkehr und nah an so vie- fen die Grundlage für eine Ver- von Jahr zu Jahr. Infolge der schwe- len Möglichkeiten der Zerstreuung wertung der damals stärksten Ra- ren Nachkriegswirren und selbst- und Gesundung in einer idyllischen donquellen der Welt, die in schier verschuldeten Fehlspekulationen Mittelgebirgslandschaft boten den unerschöpflicher Zahl und Menge konnte der Ausbau des Radonkur- Großstädtern die Möglichkeit, ihr dem Gestein des Tales entsprangen. betriebes und auch der des Ortes Leben zu entschleunigen. Gepflegte Alle Ideen und alles mühsam zu- Oberschlema mit dieser Entwicklung Parkanlagen, romantische Wald- sammengetragene Kapital drohten nicht Schritt halten. Tausende Pati- wege, eine gutbürgerliche Verpfle- in den Schreckensjahren des Ersten enten mussten in jedem Jahr abge- gung und leichte Anbindungen an Weltkrieges verlorenzugehen. Doch wiesen werden, da die Unterkunfts- die Nachbarkommunen ließen das unter Aufbietung aller Kräfte grün- kapazitäten in der Kursaison völlig Niederschlemaer Genesungsheim dete sich noch 1915 eine Verwer- erschöpft waren. Die Badezeiten zu einem der beliebtesten Deutsch- tungsgesellschaft, die „Radiumbad währten 1927 gar von 4 Uhr mor- lands werden. Bis zum Ende des Oberschlema − Schneeberg GmbH“, gens bis 23 Uhr nachts! Auch waren Zweiten Weltkrieges änderte sich welche 1916 mit dem Bau eines die Kurbedingungen noch unentwi- nur wenig daran. provisorischen Kurhauses begann, ckelt und primitiv, doch die Kurgä- um dieses nach zwei Jahren vollen- ste waren bereit, all das in Kauf zu Im Nachbarort Oberschlema zeich- den zu können. In dem kleinen, aber nehmen, um von den erstaunlichen nete sich zu Beginn des 20. Jahr- schmucken Gebäude begann am Kurerfolgen profitieren zu können.

hunderts eine ganz besondere Ent- 16. Mai 1918 der reguläre Kurbet- Das Oberschlemaer Radonwasser Fotos: Archiv Oliver Titzmann 23 42|2018 Museumskurier half gegen Rheuma, Ischias, Gicht, aufblühenden Kurort, den pro Jahr völlig deformiertes oberes Schle- Neuralgien und Beschwerden in im Schnitt über 15.000 Kurgäste matal; eine Tragödie, die in der den Wechseljahren. Vor Ort ließen besuchten. Dieser Aufwärtstrend europäischen Heilbäderlandschaft sich die Kurgäste durch das Trinken setzte sich vorerst auch nach dem ihresgleichen sucht. des Radonwassers, durch das Baden Zweiten Weltkrieg fort und fand im darin und durch das Einatmen von Ausklang der Kursaison 1946 ein Das zwar von Abraumhalden und zerstäubtem Radonwasser thera- jähes Ende. Dort, wo Radonquellen Schachtanlagen entstellte, aber pieren. Fast alle Kurgäste sprachen sprudeln, ist auch Uran zu finden. vom Abbruch verschont gebliebene nach der im Schnitt vierwöchigen Das wusste auch die sowjetische Niederschlema erhielt 1950 im Ge- Kur von einem Erfolg. Sämtliche Besatzungsmacht, die im atomaren bäude des alten Erholungsheimes Anwendungen wurden durch er- Wettrüsten der Supermächte hier und 1954 in dessen unmittelbarer fahrene Badeärzte verordnet und im Schlematal auf leicht zugäng- Nachbarschaft ein Sanatorium des genau überwacht. Viele Badeärzte liche Uranvorkommen zurückgrei- Bergbaubetriebs SDAG Wismut, widmeten sich der Erforschung fen konnte. In einem beispiellosen in dem Bergarbeiter über Nacht der Wirkung des Radons auf den Raubbau auf das strahlende Erz eine Regeneration finden konnten. menschlichen Organismus in Radi- wurden im Rahmen der deutschen Das tatsächlich auch offiziell als umbad Oberschlema, welches Ende Reparationsverpflichtungen in nur „Nachtsanatorium“ bezeichnete der 1930er Jahre sogar mit einem wenigen Jahren tausende Tonnen große Gebäude mit allem erdenk- Radiumforschungsinstitut berei- Uran aus dem Untergrund des Ortes lichen Komfort, halbstationärer chert wurde. gerissen, der sich im gesamten Tal- Aufnahme mit intensiver medizi- bereich um bis zu acht Meter zu nischer und physiotherapeutischer Der Ansturm der Kurgäste führte senken begann. Die Folgen waren Betreuung, überdurchschnittlich schließlich zu umfangreichen Er- ein unbewohnbar gewordenes ehe- guter Verpflegung und umfang- weiterungen der Badeanlagen, die maliges Kurbad, dessen Quellen reicher Kulturbegleitung und Pro- 1927/28 und 1933 bis 1935 durch- zum Versiegen gebracht wurden, paganda erfuhr 1967 eine Um- geführt werden konnten. Ab Mitte dessen Häuser Risse bekamen, des- wandlung zu einem Kurheim der der 1930er Jahre galt Radiumbad sen Erdoberfläche sich öffnete und Industriegewerkschaft (IG) Wismut. Oberschlema als das jüngste und alles darauf verschlang und dessen Bis 1990 erholten sich deren An- hoffnungsvollste Heilbad Deutsch- Einwohner sich in einem riesigen gehörige in dem vom Bergbau ver- lands, das über die meisten und Bergbaugelände wiederfanden. schont gebliebenen Waldstück am stärksten Radonquellen aller Heil- 1952 musste der Kernbereich des historischen Flößgraben. bäder der Welt verfügte. In diesen Ortes Radiumbad Oberschlema mit Jahren ergänzten ein großes Frem- seinem gesamten Kurzentrum aus- Unter Federführung des Schlemaer denheimviertel, großzügige Park- gesiedelt und vollkommen abge- Bürgermeister Konrad Barth be- anlagen und moderne Hotels den brochen werden. Was blieb, war ein gann ab 1990 eine Reanimierung des Kurbadgedankens. Die Idee, im ehemaligen „Nachtsanatorium“ angereichertes Radonwasser ver- abreichen zu können, musste 1991 fallengelassen werden. Aber eine bisher wenig beachtete Wiesen- quelle am Gleesberghang sprudel- te seit eh und je ein radonhaltiges Wasser aus. Es wurde 1992 genau analysiert und bildete die Grund- lage für eine so genannte Dop- pelblindstudie, die in den Räumen der ehemaligen Wismut-Poliklinik in Oberschlema durchgeführt wer- den konnte. Im Ergebnis attestierte der Münchner Prof. Pratzel als Leiter der Untersuchung dem Wasser die Kurgäste am Kurhaus, 1928 Qualität einer Heilquelle. Weitere, in den Jahren 1993/94 erbohrte 24 Museumskurier 42|2018

Kurparks mit Therapiewegen. 1996 konnte der Grundstein gelegt, 1997 das Richtfest gefeiert und 1998 das neue Kurmittelhaus mit dem Ge- sundheitsbad „Actinon“ der Öffent- lichkeit übergeben werden. Einen sichtbaren Ausdruck erhielt das seit 1992 erkennbare Bestreben um den Neubeginn des Radonkurbetriebs in der 2004 vollzogenen Verleihung des Titels „Bad“ an die Kommune.

Mit dem 20jährigen Jubiläum des neuen Kurmittelhauses, dem sieben- millionsten Gast im Gesundheitsbad und dem 100jährigen Jubiläum der Eröffnung des alten Radiumbades in Oberschlema schließt sich im Herbst 2018 nunmehr der Kreis der erfolgreichen Wiederbelebung des Kurbetriebs auf der Grundlage des Vorhandensein des Edelgases Radon in den Wässern Bad Schlemas.

Prospekt, 1940

Heilwässer bildeten zusammen die tische Rückendeckung aus Dresden. Grundlage für einen neuen Radon- 1995 bekamen die 1992 in Schlema kurbetrieb. neu gegründete Kurgesellschaft und Zeitgleich gelang es den Kurbad- die Gemeinde selbst eine Förderung enthusiasten, die Aufmerksamkeit über 56 Mio. DM zum Bau eines der sächsischen Landespolitik zu ge- neuen Gesundheitsbades und eines winnen. Das vom Bergbau gezeich- nete Tal stand seit geraumer Zeit mit Negativschlagzeilen im Fokus der Öffentlichkeit. Ein dringender Handlungsbedarf gewährte der zum Sanierungsbetrieb gewandelten WISMUT GmbH die Möglichkeit, mit öffentlichen Mitteln die Bergscha- densgebiete durch den Uranbergbau umfassend sanieren, rekultivieren und revitalisieren zu können. Letz- teres war besonders in der Gemein- de Schlema erforderlich.

Die Willenskraft der Schlemaer ho- norierend, versprachen der Mini- sterpräsident Kurt Biedenkopf und seine Frau Ingrid gelegentlich eines Kurgast im Radonbad, 1938

Besuchs im Frühjahr 1992 die poli- Fotos: Archiv Oliver Titzmann 25 42|2018 Museumskurier

Schmelztiegel Chemnitz Die Stadt wuchs aus Zuwanderung Vor 130 Jahren erschien bevölkerungsstatistisch Chemnitz als komplette Antithese zu heute, jung und mit dynamischem Wachstum aus Zuwanderung. Aber wie kamen die Menschen damit zurecht? Gab es vergleich- bare Ängste und Konflikte wie sie die Stadt aktuell erleben muss?

Achim Dresler Während der Hochindustrialisie- einige Schweizer“ , so die Beobach- signifikant höhere Zahlen ging und rung des Deutschen Reiches durch- tung des Zeitgenossen Paul Göhre, die Lebensverhältnisse im Vergleich brach Chemnitz 1883 mit 100.000 der dort 1891 arbeitete und ein zu heute deutlich schlechter waren… Einwohnern die Schwelle zur Groß- Buch darüber schrieb. Ich gebe zwei Arbeitshypothesen in stadt. Das Wachstum ging unge- Der rasante Zustrom verursachte die Debatte: Die meisten Menschen brochen weiter: 1905 hatte sich die große Wohnungsnot. 55 Prozent der einte in Chemnitz unabhängig von Einwohnerschaft auf über 224.000 Einwohner drängten sich 1900 in ihrer Herkunft die Lohnarbeit. Sie verdoppelt! Dieser rasante Zuwachs Ein-Zimmerwohnungen, ein Nega- lernten sich am Arbeitsplatz kennen resultierte nicht nur aus dem Ge- tivrekord für deutsche Großstädte. und nicht selten auch schätzen. Der burtenüberschuss der jungen Be- Viele „Schlafburschen“ teilten sich Wert der Solidarität soll nicht über- völkerung mit jährlich zuweilen die Betten. Andererseits erstaunt, strapaziert werden, aber er ent- über 3.000 Neugeborenen. Der Zu- mit welcher Kraft die Stadtver- stand am ehesten im gemeinsamen zug von außerhalb brachte ähnlich waltung das Wachstum managte: Schicksal an der Maschine oder hohe Zahlen. Bereits für die vier Straßen, Laternen, Wasserleitungen Werkbank. Alle hatten einen harten Jahrzehnte vor 1870 berechnete der usw. schossen wie Pilze aus dem Alltag zu bestehen: die große Inte- damalige Stadtstatistiker Max Flin- Boden. So wuchs allein die Kana- grationsmaschine war die Arbeit. zer ein Einwohner-Wachstum aus lisation in den 18 Jahren vor 1897 Den Weg vom alten ins neue Leben Geburten von 26 Prozent und wei- um knapp 100 km. erleichterten Landsmannschaften tere 45 Prozent Wachstum durch Konkurrenzangst und rassistische wie der Schlesier (Silesia), Böhmen Zuzüge. Reibereien sind aus Sachsen über- (Slastomil), Bayern oder Württem- Hinter dem hohen positiven Zu- liefert − explizit gab es Antislawis- berger, von denen in Chemnitzer zugssaldo versteckte sich eine hohe mus. Hier Gedichtzeilen aus dem Adressbüchern um 1900 insgesamt Fluktuation von zuweilen über Pirnaer Anzeiger von 1890: 15 Vereine zu zählen waren. 20.000 Zu- sowie Wegzügen jähr- „Es wird doch immer schlimmer im Darüber hinaus verfolgte diese jun- lich. Chemnitz glich einem Tauben- lieben Sachsenland; die Böhmen ge Bevölkerung den Traum vom schlag. 1900 waren nur 45 Prozent und die Polen die nehmen über- besseren Leben, der sich nicht nur der Einwohner auch in Chemnitz hand.“ im persönlichen beruflichen Auf- geboren. Chemnitzer Archive wären darauf- stieg erschöpfte. Viele teilten die Woher kamen die Zuwanderer? hin aus aktuellem Anlass neu zu be- gemeinsame Vision einer gerech- Neben den ländlichen Regionen, fragen. Von vergleichbar massiven teren Gesellschaft für alle. Diese zumal dem Erzgebirge, lockten die rassistischen, fremdenfeindlichen Hoffnung setzte Energien frei, die Fabriken auch Menschen aus den Unruhen, die Chemnitz in den letz- sich politisch in der rasant aufstei- benachbarten Ländern an. Saison- ten Monaten erschüttern, hätte die genden Sozialdemokratie bündelte. arbeiter aus Böhmen und Italien örtliche Geschichtsschreibung je- In sieben Wahlen zwischen 1890 bis kamen vor allem auf Baustellen, be- doch berichtet. 1912 erhielt die SPD in Chemnitz sonders der Eisenbahn, zum Einsatz. Gründe dafür? In ungünstigen Kon- mit einer Ausnahme über 60 (kein Von den 500 Arbeitern in der Ma- stellationen erzeugt auch kürzerer Druckfehler!) Prozent der Stimmen. schinenfabrik Kappel waren „die kultureller Abstand als zu dunkel- überwiegende Mehrzahl Sachsen. häutigen Muslimen Ängste und Ag- Die überhitzte Debatte um Migra- (…) Der Rest von 25 Prozent ver- gressionen − im Zweifel reicht das tion verdient Versachlichung. Der teilte sich etwa auf 10 Prozent böhmische Nachbardorf. Blick zurück hilft, das Industriemu- Norddeutsche, 5 Prozent Süddeut- Wie lässt sich also der Unterschied seum bietet 2019 dazu drei Vorträ- sche, 10 Prozent Österreicher und erklären? Wo es doch seinerzeit um ge an, s. S. 2. 26 Museumskurier 42|2018

Ein Leben für den Chemnitzer Werkzeugmaschinenbau Vor 175 Jahren wurde Friedrich Ruppert geboren

Katja Schmerschneider „Und nicht vergessen sei sein Hu- mor“ erinnerte Prof. Paul Schimpke, Direktor der Staatlichen Akademie für Technik, der heutigen Tech- nischen Universität Chemnitz, in seiner Grabrede an Friedrich Rup- pert (1843-1931). Als dieser 88jäh- rig starb, hatte er sich über die Grenzen von Chemnitz hinaus den Ruf eines beflissenen, vielseitigen, innovativen und eben auch humor- vollem Menschen erworben.

Friedrich Ruppert gilt als Prototyp des tüftelnden, praktischen Ingeni- eurs, der seine Arbeit stets in den Dienst des Chemnitzer Werkzeug- maschinenbaus stellte und auch im hohen Alter nie die Neugier und die Lust an neuen Herausforderungen verlor.

Friedrich Ruppert, geboren im April 1843, entstammt einer Chemnit- zer Kaufmannsfamilie. Nach einer Lehrzeit in der Werkzeugmaschi- nenfabrik Johann Zimmermanns be- suchte er die Höhere Gewerbschule, Friedrich Ruppert, Gemälde seines Enkels Gerhard Hennig (1918-2002) die heutige Technische Universität Chemnitz, welche er mit einer sil- stellung und Einrichtung der Eisen- amerikanischem Vorbild machen. bernen Medaille verlassen konnte. bahnwerkstätten auf der Etappe der Das bedeutete, er beschränkte die Nach seinem Studium arbeite- Transsibirischen Eisenbahn in Sa- Produktion von Horizontalbohr- te Ruppert unter anderem für die mara an der Wolga. Erneut half ihm maschinen, Drehbänken und Ho- Werkzeugmaschinenfirmen Zim- sein Sprachtalent. 1875 übernahm belmaschinen auf später nur noch mermann und Sondermann & Stier. Friedrich Ruppert die väterliche Horizontalbohr- und fräsmaschinen, Er erweiterte seine Tätigkeiten Holzwarenfabrik. Er führte moder- welche in Serie und damit günstiger schnell über die Grenzen von Chem- ne Holzbearbeitungsmaschinen ein, hergestellt werden konnten. Die von nitz hinaus, wobei er sich nicht auf musste jedoch später wegen ungün- ihm konstruierten Bohrwerke konn- die Arbeit für eine einzelne Firma stiger Geschäftslage aufgeben. ten auf den Weltausstellungen in beschränkte. Vielmehr kann man Paris 1900 und Lüttich 1905 meh- Ruppert als einen Botschafter des 1894, mit bereits 51 Jahren, be- rere Goldmedaillen erringen. Eine Chemnitzer Werkzeugmaschinen- gann Ruppert seine Arbeit für die wichtige Rolle bei der Konstrukti- baus bezeichnen. Auf der Londoner Werkzeugmaschinenfabrik UNION, on von Werkzeugmaschinen spielte Weltausstellung von 1862 betreute vorm. G. D. Diehl. Seine Arbeit ver- für Ruppert stets der Arbeitsschutz. er den Stand der Chemnitzer Werk- änderte das Profil der Firma nach- Er führte als erster den Grundsatz zeugmaschinen. Zwischen 1874 und haltig. Er wollte die UNION zu ei- „geschützte Innenlage der Maschi-

1876 organisierte Ruppert die Auf- ner Sondermaschinenfabrik nach nenbetriebsteile” ein und veröf- Fotos: Archiv Industriemuseum 27 42|2018 Museumskurier fentlichte zusammen mit dem VDI auch die noch junge Autoindustrie. nungen führte. Da Friedrich Ruppert zahlreiche Texte zu Sicherheitsein- Sie schenkte Ruppert um 1900 ei- im Alter bei der Familie seiner Toch- richtungen an Maschinen. Bereits nen Benz Victoria, welcher sein gan- ter und seines Schwiegersohnes ab 1905 strebte Ruppert einen An- zer Stolz war. Zu dieser Zeit stellte wohnte, zog er mit ihnen 1929 nach trieb aller Maschinen über elektri- ein Automobil auf den Straßen von Zwickau. Schweren Herzens musste schen Einzelantrieb an. Zu dieser Chemnitz noch eine Besonderheit er die UNION endgültig verlassen. Zeit existierten zwar schon zuver- dar. Bis zu seinem Tode blieb Fried- „Quirlig“ blieb Ruppert jedoch auch lässige Elektromotoren, aber es gab rich Ruppert ein Autonarr. dort. Er suchte sich neue Hobbys. noch nicht genügend Strom für de- War er gerade nicht mit seinem Au- ren Betrieb. 1915 schied Ruppert aus der UNI- tomobil unterwegs, entwarf er eine ON aus, sein Sohn Siegfried über- neue vereinheitlichte Stenografie- 1908 erhielt Ruppert die Stel- nahm 1916 seine Stelle und führte Schrift oder erzählte seinen Enkeln lung des Technischen Direktors der so die Familientradition fort. So anschaulich aus seinem langen Le- Werkzeugmaschinenfabrik UNION. ganz konnte sich Friedrich Ruppert ben. 1931 starb Friedrich Ruppert Das ermöglichte ihm zahlreiche jedoch nicht von „seiner“ UNION nach einem Schlaganfall. weitere Neuerungen und Verbes- lösen. Noch bis 1929, also bis zum serungen an den Maschinen der Alter von 86 Jahren behielt er ein Firma. Die wohl bedeutendste Ent- kleines Arbeitszimmer mit Zeichen- wicklung stellt hier das nach ihm brett und Drehbank in der Firma. benannte „Ruppert-Getriebe“ dar, Dort nannte man ihn liebevoll den welches durch seine einfache Bau- „Quirl“. Viele der Meister vertrauten art und Bedienung bestach. Für die in praktischen Dingen immer noch Getriebe-Version mit vier Gängen mehr dem alten als dem neuen Di- und einem Hebel interessierte sich rektor, was immer wieder zu Span-

Ruppert-Getriebe, Abbildung aus der Veröffentlichung Friedrich Rupperts: Aufgaben und Fortschrit- te des deutschen Werkzeugmaschinenbaus, 1907 28 Museumskurier 42|2018

So geht Forschung in der Textiltechnik Cetex Institut für Textil- und Verarbeitungsmaschinen gGmbH

Maria Thieme Am 1. Januar 1957 wurde in Karl-Marx-Stadt das Institut für Textilmaschinen (ITM) als wis- senschaftliches Zentrum für den Textilmaschinenbau gegründet. Das ITM war die zentrale Forschungs- einrichtung der VVB Textima für 33 Kombinatsbetriebe. Von Anfang an stand die kostengünstige Entwick- lung von funktionssicheren Erzeug- nissen mit erhöhtem Gebrauchswert im Mittelpunkt der Tätigkeit. Das Institut nahm mit 77 Mitarbeitern seine Arbeit auf. Bereits nach fünf Jahren waren es 120 Mitarbeiter in den Fachabteilungen Spinnerei- maschinen, Webereimaschinen, Wirkerei- und Strickereimaschinen, Textilveredlungsmaschinen und Konfektionsmaschinen. Zur Förderung einer engen Zusam- menarbeit zwischen der Textilindu- Das Institutsgebäude in der Altchemnitzer Straße strie und dem Textilmaschinenbau wurde 1958 der Arbeitskreis Textil- gemeinsamen Namen VEB Textima- Die Cetex Chemnitzer Textilmaschi- technik, der dem Forschungsrat der forschung Malimo. nenentwicklung GmbH wurde am DDR direkt unterstand, gegründet. 1. Juli 1990 gegründet. Es wurde Hier wurde die strategische Ent- Im ITM wurden so innovative Ver- eine Forschungseinrichtung ge- wicklung des Textilmaschinenbaus fahren wie das Wellenfachweben schaffen, die fachlich an die Tradi- geplant. Außerdem gab es eine enge und das Zentrifugenspinnen entwi- tionen des Instituts anknüpfte. Mit Zusammenarbeit mit der Chemiefa- ckelt. Weitere Beispiele für Entwick- der Gründung des Fördervereines serindustrie, dem Institut für Textil- lungen sind: OE-Spinnverfahren, Cetex Chemnitzer Textilmaschinen- technik (FIFT) sowie der Technischen Baumwollkämmmaschine, Aufspul- entwicklung e. V. (Cetex e. V.) wurde Hochschule (heute Technische Uni- maschine für synthetische Chemie- die Grundlage für die Privatisierung versität) der Stadt. seide, Technik zur Erspinnung und des Institutes geschaffen. Nach Weiterverarbeitung von Hohlfäden zweimaliger Evaluierung wurde die Ab 1970 wurde das Institut dem für die künstliche Niere, Hochleis- Einrichtung im Jahre 1994 von der Kombinat für Wirk- und Strick- tungs-Leibweiten-Großrundstrick- Treuhandanstalt als gemeinnützige maschinenbauerzeugnisse mit der maschine, FRJ-Flachstrickmaschine Forschungseinrichtung privatisiert, Bezeichnung Institut für Textilma- mit Umlaufschlitten, Spritz-Druck- der Förderverein Cetex e. V. erwarb schinen − Großforschungszentrum maschine, Heißmuldenmangel so- zu 100 Prozent die Gesellschaftsan- zugeordnet, aber bereits 1971 er- wie Überwendlichnähmaschine. teile. Es folgten die Renovierung und folgte die Rückübertragung der Auf der Grundlage der von Hein- Erweiterung der Immobilie. 1995 Selbstständigkeit. Nach einer Um- rich Mauersberger entwickelten wurde die Halle für Versuchsfeld strukturierung als Textimaforschung Malimo-Technik entstanden Faden- und Technikum eingeweiht, 1999 im Jahr 1979 wurde das Institut ab lagen-, Polfaden- und Faservlies- eine weitere Halle für Fertigung und 1989 in den Produktionsbetrieb Nähwirkmaschine (Malimo, Mali- Versuchswerkstatt fertiggestellt.

Malimo eingegliedert, unter dem watt, Malipol). Wichtige Entwicklungen seitdem Foto: Archiv Industriemuseum 29 42|2018 Museumskurier waren läuferlose Spinnverfahren integrierter Sensorik, Basaltorthe- den 1970er Jahren aufgenommen. mit Ringgarncharakter, Spulkopf- sen, Carbonstapelfasergarne sowie Heute haben die in zweijährlichem entwicklung für Spezialgarne, Recycling von Carbonfasern und Rhythmus stattfindenden Tagungen Folienbändchenanlage, HighDis- Weiterverarbeitung recycelter Fa- in der Fachwelt einen guten Ruf tance-Abstandsgewirkemaschine, sern. Das Institut fungiert als Ma- mit Vortragsinhalten wie Textil- Komplementärschussleger, Heiß- nager für verschiedene Netzwerke, maschinenkonstruktion und Tex- dampftrocknung, Kurbelstick- z. B. RessourceTex - Ressourceneffi- tiltechnologie bis zu Antriebs- und automat, Großstickmaschine, zienter textiler Leichtbau für Groß- Steuerungstechnik. In den letzten Schrägnäheinrichtung sowie serienprozesse. Jahren rückten Maschinentech- Faserstofferkennung für Recy- nik und Technologien für die Her- clingprozesse. stellung von textilbasierten High- tech-Werkstoffen wie Composites, Heute ist Cetex das Forschungsin- Preforms und komplexen Struktur- stitut für neue Technologien und bauteilen in den Mittelpunkt. Die- Maschinen im Textil- und Verarbei- sem erweiterten Spektrum trägt der tungsmaschinenbau. Seit 2007 ist Cetex ist Partner der Chemnitzer neue Name Textiltechnik-Tagung es An-Institut der Technischen Uni- Allianz Textiler Leichtbau (ATL), die Rechnung. Die nächste Tagung ist versität Chemnitz. Die Tätigkeits- mehr als 350 Forschungsprojekte im Frühjahr 2020 geplant. schwerpunkte bilden Forschung, koordiniert und bearbeitet. Mit- Entwicklung und Konstruktion streiter sind die TU Chemnitz, das Weitere Informationen: von großserientauglichen Tech- Fraunhofer-Forschungszentrum für www.cetex.de nologien und Maschinen für tech- textile Strukturen (STEX) und das nische Textilien und textilbasierte Sächsische Textilforschungsinstitut Verbundwerkstoffe. Dabei wird der (STFI). „In der Allianz wollen wir klassische Textilmaschinenbau mit die Stärken der einzelnen Partner dem modernen Leichtbau und dem hier am Standort Chemnitz bündeln Verarbeitungsmaschinenbau ver- und intensivieren“, beschrieb Seba- knüpft. Im Fokus stehen anforde- stian Nendel, Geschäftsführender rungsgerechte textilbasierte Halb- Direktor der Cetex und amtierender zeuge, Funktionskomponenten und Sprecher der Allianz, das Vorhaben. Hochleistungsstrukturen, u. a. für den Automobilbau. Daneben unter- Als Partner der Sächsischen Indus- stützt das Team aus 47 Mitarbeitern trieforschungsgemeinschaft e. V. seine Partner bei der Umsetzung (SIG), der Deutschen Industriefor- anspruchsvoller Aufgaben in Pro- schungsgemeinschaft Konrad Zuse duktentwicklung und Materialprü- e. V. und des Verbands innovativer fung, bei messtechnischen Unter- Unternehmen e. V. gestaltet Cetex suchungen und im Prototypen- und die außeruniversitäre Forschungs- Sondermaschinenbau. landschaft in Sachsen und Deutsch- Forschungsbeispiele für Proto- land mit und unterstützt als För- typen- und Sondermaschinenbau derer das Stipendienprogramm sind: Laborspinnmaschine LSE2000, der TU Chemnitz mit dem Bund. Faserspreizanlagen, NNS-Anlage Darüber hinaus bietet das Insti- für trockene Carbonfasern, NNS- tut auch Praktika sowie Bachelor-, Tapeleger für Slit-Tapes, Anlage zur Master- und Diplomarbeiten zur Herstellung endlosfaserverstärkter Förderung des wissenschaftlichen UD-Tapes, Orbital-Wickel-Anlage Nachwuchses an. für rotationsunsymmetrische Teile, Falt-Wickel-Anlage sowie Biege- Im Jahr 1993 hat der Förderverein steifigkeitsmessgerät. Cetex Chemnitzer Textilmaschinen- Forschungsbeispiele für die Pro- entwicklung e. V. gemeinsam mit duktentwicklung sind Leichtbau- weiteren Partnern mit der Organi- Motorträger, schwenkbare Faser- sation der Chemnitzer Textilma- verbund-Trittstufe für Busse mit schinen-Tagung eine Tradition aus 30 Museumskurier 42|2018

Ein Versandbuch und ein Lohnbuch erzählen

1990/92 wurden beim Abriss des Gebäudes der ehemaligen Strumpffabrik Richter in Berbisdorf/Einsiedel bei Chemnitz sowohl ein Lohnbuch für Heimarbeiter als auch ein Versandbuch vor dem Schutt gerettet. Beide entstanden in der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges.

Luisa Heilmann Das Versandbuch umfasst ca. 800 Einträge von Juni 1912 bis April 1915, wobei die Empfänger pro Mo- nat mit Datum, Zustellungsart so- wie Stück- und Endpreis der Ware aufgeschrieben wurden. Die Be- stellungen beinhalten größtenteils verschiedene Arten von Socken, vor allem „Rohe Socken“. Interessant ist außerdem, dass es sich bei vielen Empfängern ebenfalls um Strumpffabriken handelt, so zum Beispiel Heinrich Christo Härtel. Seit 1819 betrieb diese Firma unter dem Namen Heinrich Christo Här- tel Strumpfwaren, bereits seit 1777 unter anderen Namen existent, eine Strumpffabrik in Waldenburg, die bis 1936 Bestand hatte. Ein anderer Kunde der Strumpffabrik Richter war die Strumpffabrik Wex und Söhne, welche im Chemnit- zer Stadtteil Sonnenberg ansässig Versand- und Lohnbuch war. Gegründet wurde die Firma, die außerdem zwei Zweigstellen in 1953) und Max Spinath (1899 ge- zwar in Paris, New York und Buenos Einsiedel besaß, im Jahr 1828 in gründet als Handschuhfabrik in Aires, wobei die belieferten Filialen der Klostergasse und bekam 1860 Chemnitz, bis 1938) wurden belie- in Paris und Buenos Aires evtl. der eine neue Betriebsanlage in der fert. Diese Kundschaft lässt darauf gleichen Firma angehörten (Paris: Dresdner Straße. Die Zeit, in wel- schließen, dass in der Strumpffabrik Segundo Fernandez y Cia, Buenos cher die Firma Bestellungen bei der Richter zum großen Teil Rohware Aires: Sangrador, Gonzalez y Cia). Strumpffabrik Richter aufgegeben verkauft wurde. Besonders häufig beliefert wurden hat, ist gleichzeitig eine Blütezeit Namen wie A. Silberstein, den man von Wex und Söhne. Die Firma Lohs Geliefert wurde vor allem nach in den Einträgen von 1912 bis 1915 und Schubert in Dittersdorf, welche Chemnitz, und zwar an 31 von durchgängig finden kann, Heinrich ebenfalls im Versandbuch genannt insgesamt 46 verschiedenen Kun- Christo Härtel von Januar bis Mai ist, existierte von 1883 bis 1995. den. Die anderen Bestellungen be- 1914, Eduard Creutznach bis Febru- Sie exportierte zu ihrer Höchstzeit schränkten sich hauptsächlich auf ar 1915, A. Zwingenberger bis No- in 62 Länder und mogelte sich mit die nähere und weitere Umgebung vember 1914, L. Aurich bis Dezem- Bravour durch sämtliche Krisen des wie beispielsweise Waldenburg, ber 1914 und 1915 gehäuft Emil A. 20. Jahrhunderts, bis sie 1995 Kon- Hohenstein-Ernstthal, Einsiedel, Billig. kurs anmelden musste. Auch Firmen Neukirchen, Wolkenstein und Dit- wie J. S. Gläser (gegründet 1813 in tersdorf. Die Fabrik belieferte jedoch Der Beginn des Ersten Weltkrieges

Schönau bei Chemnitz, Enteignung auch drei Kunden im Ausland, und im August 1914 wirkte sich auch Fotos: Hannelore Zschocke (l.), Archiv Industriemuseum (r.) 31 42|2018 Museumskurier auf die Strumpffabrik Richter aus. Juli) 271,71 M, im Jahr 1911 446,96 364,00 M, was unter dem Durch- Dies lässt sich im Versandbuch M und 1912 610,45 M. Im Durch- schnitt liegt. Laut einer Statistik lag nachweisen: Während im Juni 1914 schnitt verdiente Rosa Claus pro Tag der durchschnittliche Stundenlohn die Einnahmen im Vergleich zu 1913 also um die 1,70 Mark. Laut einer von ungelernten Arbeitern im Jahr noch am höchsten sind, sinken sie Statistik betrug der Durchschnitt 1913 bei 34,6 Pfennigen, weswegen in allen darauf folgenden Monaten des jährlichen Einkommens eines man annehmen kann, dass der Lohn rapide ab. So konnte man im Febru- Beschäftigten in der Textilindustrie von Carl Nestler 1911 durchaus ar 1913 noch 28 Einträge mit einer im Jahr 1900 594 M und 1913 786 grob in die damals üblichen Lohn- Gesamteinnahme von 10.164,10 M M. Die Jahreslöhne von Rosa Claus muster passte. Bei angenommenen ausmachen, während im Februar liegen teilweise deutlich, teilweise zehn Stunden Arbeit pro Tag − in 1915 nur noch 12 Einträge mit ei- weniger deutlich unter diesen Wer- jener Zeit üblich − verringert sich ner Gesamteinnahme von 5.8222,20 ten, was vielleicht an der fehlenden dieser Lohn schon um einiges mehr M vorhanden sind. Die Anzahl der Unterscheidung zwischen Frauen- und fällt deutlich unter den Durch- Aufträge sinkt hierbei um 57 Pro- und Männerlöhnen liegen könnte. schnitt. Da man jedoch nicht genau zent, die der Einnahmen um 49 Franz Lieberwirth − welcher ähnlich weiß, wie viele Stunden Nestler − Prozent. Im April 1915, dem letzten wie Rosa Claus alle zwei Wochen ob in der Firma oder zu Hause − ge- Eintrag des Versandbuches, sind im für seine gefertigten Strumpfwaren arbeitet hat, lässt sich hierzu leider Gegensatz zu 1913 69 Prozent und ausgezahlt wurde − verdiente im nicht Genaueres sagen. 87 Prozent Verlust zu verzeichnen. Jahr 1910 ab Juli 748,65 M, im Jahr Des Weiteren handelt die Firma ab 1911 1.263,27 M, 1912 1.297,41 M Im Lohnbuch ist auch Anna Richter 1914 zunehmend mit Metall und und 1913 bis Juni 473,74 M. Die- verzeichnet, die einen Tagelohn von anderen Rohstoffen. So verzeich- se Werte liegen deutlich über dem 1,78 Mark erhielt. Rechnet man ih- net man im Versandbuch am 12. Durchschnitt und gleichen sich ren Lohn bei angenommenen zehn Dezember 1914 22,9 kg Zinn und schon eher an den durchschnitt- Stunden Arbeit in einen eventuellen Blei sowie 32,5 kg Messing für ins- lichen Allgemeinverdienst eines Stundenlohn um, so kommt man gesamt 78,30 M. Außerdem wurden Arbeiters einer mittelgroßen Stadt hier auf 17,8 Pfennig. Bei Clara Lohs ab dem 26.1.1915 zunehmend feld- im Kaiserreich im Jahr 1909 an: notierte man keinen Tages- sondern graue − uniformfarbene − Strümpfe 1.374,30 M.1 einen Stundenlohn von 21 Pfennig. an Kunden geliefert. Carl Nestler bekam seinen Lohn Da ungelernte Textilarbeiterinnen nicht für gefertigte Ware, sondern 1913 im Durchschnitt 25,1 Pfennig Dem alphabetischen Verzeichnis für einen Tag 1,80 M. Damit ver- in der Stunde verdienten, scheint des Lohnbuchs für Heimarbeiter der diente er in einem Jahr wie 1911 der Lohn für damalige Verhältnisse Strumpffabrik Richter kann man relativ üblich auszufallen. entnehmen, dass 193 Heimarbeiter für die Firma gearbeitet haben. Da- Man kann also allgemein sagen, von waren 106 Frauen und 87 Män- dass die Arbeiter der Strumpf- ner, wobei der Name Lieberwirth fabrik Richter durchaus den der Zeit auffallend häufig zu sehen ist. Das entsprechenden Zuständen bezahlt Buch wurde in der Geschäftsbücher- wurden. fabrik Hermann Colditz in Chemnitz gedruckt. Die Einträge reichen von Die beiden Bücher wurden in diesem 1910 bis 1913. In den meisten Fällen Jahr als wertvolle zeitgeschichtliche werden pro Arbeiter die angefertig- Dokumente in den Bestand des In- ten Socken und Strümpfe inklusive dustriemuseums Chemnitz aufge- Lohn im Zwei-Wochen-Takt aufge- nommen. zählt. In wenigen Fällen werden die Löhne auch als Stunden- oder Tage- löhne angegeben.

An einigen Beispielen sollen nun die Löhne der Arbeiter vergleichsweise dargestellt werden: So verdiente die Reklamemarke der Firma Eduard Creutznach 1 Ritter, Gerhard A.; Tenfelde, Klaus: Arbeiter Arbeiterin Rosa Claus für ihre ange- Nachf., Chemnitz, einer der Kunden der im Deutschen Kaiserreich. – Bonn, 1992, S. 476ff. fertigten Strümpfe im Jahr 1910 (ab Strumpffabrik Richter 32 Museumskurier 42|2018

Unsere Exponate proben den Aufstand

Exponate aus unserem Depot wandern als Leihgaben zu Ausstellungen oder Firmenmessen, das ist Routine. Aber als „Schauspieler“ ins Puppentheater? Das hatten wir noch nicht.

Achim Dresler „Aufstand der Dinge“ nennt das jun- freuter Gedanke. Eine künstlerische ge Team um den Dramaturgen Mirko Antwort auf die lange verzögerte Winkel sein Stück, das am 3. No- Rückkehr des Verdrängten, in der vember im Figurentheater Chemnitz sich Trauer und Frust über die Wen- uraufgeführt wurde. „Vielen der Ge- dezeit entladen, auch in schlimmen genstände, die hier hergestellt oder rechtsextremistischen Verirrungen alltäglich genutzt wurden, erging es − das ist mal ein neuer Ansatz. ähnlich wie den Menschen, sie wur- den auf-, um- oder abgewertet. Zeit Der Kunstgriff geht so: Die Schau- wird es, den Jüngeren von Erfah- spielerinnen erzählen die politische rungen zu erzählen, die bis hinein in Wende 1989 als Märchen. Ein Kö- die aktuellen Debatten um Freiheit, nigreich geht unter. Einige Dinge Demokratie und Integration wirken.“ gehen auf die Reise ins überlebende lautet der hochpolitische Ansatz der benachbarte Königreich − als Stra- Theatermacher im Rahmen des klei- ßenmusiker. Davor müssen sie sich Auf der Reise folgt die schönste nen Chemnitzer Festivals „Aufstand aber bewerben. So wie nach der Szene: Aufbau als Bremer Stadtmu- der Geschichten“. Wende die Menschen peinliche Per- sikanten. Unten steht der Klappho- sonalgespräche erduldeten: „Sind cker, darüber die Schleuder, darüber Zuvor kam Winkel mehrfach ins Sie flexibel?“ Der Klapphocker KH Yvette und oben die kleine Wanze. Museum und stöberte im Depot 72, Konsumgüterprodukt der Nu- Die schämt sich aber und verlässt nach DDR-Produkten. Er las und merik redet zwar breites Sächsisch, die Gruppe. Der Schluss wirkt dann hörte Zeitzeugen-Interviews, die aber gewinnt mit hohem Flirtfaktor etwas abrupt, im Trabant-Dachzelt wir schon in den 1990er Jahren mit (KH wie Karl-Heinz) als Publikums- umher lichternd, beschließen die Menschen aus der Stadt gemacht liebling. Der Robotron PC 1834 Dinge ihr Leben selbst in die Hand hatten. Endlich interessiert sich mal fliegt dagegen raus: Monitor defekt. zu nehmen. einer der Folgegeneration für diese Wenn Sie nicht gestorben sind, dann Lebenserinnerungen, war mein er- Mit kindlicher Neugier und großer leben Sie noch heute … Spielfreude befragen und testen die Puppenspielerinnen Claudia Acker Nach einem Gastspiel in Berlin kehrt und Mona Krueger die Objekte. Kla- das Stück im kommenden Jahr nach mauk eingeschlossen, schließlich Chemnitz zurück. Unbedingt vor- sind wir ja alle ein bisschen Kinder merken! geblieben… Yvette, das Manikür- Gerät aka electric aus Dresden, darf auch mit, weil es in einer Tanzein- lage überzeugt. Vibrationskunst bringt auch die Wäscheschleuder der Ermafa an den Start. Fehlt noch die Stasi-Wanze, die sich freiwillig unter einem Zuschauerstuhl zu er- kennen gibt. Das Lachen im Publi- kum klingt hier nicht befreit. Aber

nur lustig sein, reicht nicht. Fotos: Nasser Hashemi (l.), Hannelore Zschocke (r.) 33 42|2018 Museumskurier

Eindrücke vom Museumsfest am 3. November 2018

UniversalDruckluftOrchester – Musik auf Rädern Mitmachaktion: Gestalten des Roten Turms aus einer Fitflasche

Achim Dresler, Dr. Oliver Brehm (v.l.) ...... und Jürgen Kabus beim Tortenanschnitt

Puppentheater Zirkus Putzini 34 Museumskurier 42|2018

Buchempfehlungen „Fokussiert. Die Chemnitzer Fotografenfamilie Billhardt“

Drei Generationen einer Chemnitzer Ihr Sohn Thomas Billhardt (geb. Familie, die neben der familiären 1937) zählt zu den bekanntesten Struktur eines miteinander verbin- Fotoreportern in der Geschichte det: Die Liebe zur Fotografie. In der der DDR. Über 40 Länder hat er als umfassenden Ausstellung wird − im Fotograf bereist und Fotografien Rahmen des Stadtjubiläums „875 geschaffen, die zu historischen Fo- Jahre Chemnitz" − das fotografische toikonen wurden, darunter seine Werk von Maria Schmid-Billhardt, berühmt gewordenen Fotografien ihrem Sohn Thomas Billhardt sowie vom Vietnamkrieg. Nicht nur vom seinen Kindern Steffen und Katrin Leid, sondern auch von der Hoff- gemeinsam präsentiert. nung und Zuversicht der Menschen erzählen seine Bilder. Kinder sind Maria Schmid-Billhardt (1901- Hoffnung − und sie sind es, denen 1983) gilt als eine der wichtigsten Thomas Billhardt, der auch für UNI- ne Schwester Katrin (1969-2016) Porträtfotografinnen der Stadt CEF fotografierte, und seine Mutter verfolgte bis zu ihrem frühen Tod Chemnitz im 20. Jahrhundert und am meisten fotografische Aufmerk- verschiedene Ansätze konzeptueller hat über fünf Jahrzehnte mit ihrem samkeit geschenkt haben. In der Fotokunst. Ehemann Karlheinz Billhardt ein Ausstellung wird diese Facette be- namhaftes Fotoatelier geführt. Die sonders beachtet. Fokussiert. Die Chemnitzer Foto- Ausstellung zeigt neben Fotogra- grafenfamilie Billhardt : Katalog fien aus dem privaten Fotoarchiv Auch Fotografien von Thomas Bill- zur Sonderausstellung. − Chemnitz von Maria Schmid-Billhardt auch hardts Kindern, der dritten Genera- : Zweckverband Sächsisches Indus- die Einsendungen der porträtierten tion, sind Teil der Ausstellung. Der triemuseum, [2018]. − [104] Seiten Chemnitzerinnen und Chemnitzer. heute in Singapur lebende Steffen : Illustrationen Rund 150 Fotografien geben damit Billhardt (geb. 1966) ist als Mo- ISBN: 978-3-934512-33-7 einen Einblick in ihr Lebenswerk. defotograf erfolgreich tätig. Sei- Preis: 14,80 €

„Kunst + Kohle. Arbeit und Bergbau in der DDR-Kunst“

Der reich illustrierte Katalog bie- griert. Ein wesentlicher Aspekt gilt tet erstmals in übergreifender Ab- der Transformation von Landschaft sicht ein Panorama der bildkünst- wie auch dem Wandel der ostdeut- lerischen Darstellung des Bergbaus schen Arbeitswelt nach 1989. in der ostdeutschen Kunst zwischen 1945 und 2010. Am exemplarischen Kunst + Kohle. Arbeit und Bergbau Beispiel des Bergbaus wird dabei die in der DDR-Kunst : Katalog zur Aus- programmatische Wertschätzung stellung. − [Hoyerswerda] : Säch- von Arbeit in der DDR mitsamt ihren sisches Industriemuseum, Energie- bis heute spürbaren Auswirkungen fabrik Knappenrode, [2018]. − 103 auf gesellschaftliche Prozesse deut- Seiten : Illustrationen lich. Der geografische Fokus liegt Preis: 9,90 € dabei auf dem Braunkohlebergbau der Lausitzer Region. Daneben sind ebenso Bilder aus anderen Berg- baubetrieben und Kombinaten inte- 35 42|2018 Museumskurier

Informationen des Fördervereins

Liebe Leserinnen und Leser, eine Veröffentlichung personen- wir ab dieser Ausgabe auf die Ver- bezogener Daten ist laut Daten- öffentlichung personenbezogener schutz-Grundverordnung (DSGVO) Daten unserer Mitglieder wie z. B. nur mit persönlicher Zustimmung Geburtstage. möglich. Da uns diese nicht von al- len Mitgliedern vorliegt, verzichten Die Redaktion

Autorinnen und Autoren

Dr. Oliver Brehm, Industriemuseum Chemnitz | Achim Dresler, Industriemuseum Chemnitz | Alexander Golya, Camera Work AG, Berlin | Luisa Heilmann, Leipzig | Dr. Ing. Achim Jannasch, Dresden | Ursula Kolb, Hainichen | Holger Lorenz, Chemnitz | Brunhilde Mager, Technisches Muse- um der Bandweberei Großröhrsdorf | Dr. Jürgen Nitsche, Mittweida | Katja Schmerschneider, Chemnitz | Maria Thieme, Förderverein Industrie- museum Chemnitz e. V. | Dr. Oliver Titzmann, Bad Schlema

Impressum Museumskurier 42|2018 Jahrgang 18, Ausgabe 42

Herausgeber: Förderverein Industriemuseum Chemnitz e. V. Anschrift: Zwickauer Str. 119, 09112 Chemnitz, und Industriemuseum Chemnitz Tel. 0371 36 76 - 115, Tel. 0371 36 76 - 140 Redaktion: Werner Kaliner, Ute Korndörfer, Peter Stölzel, Gisela Strobel E-Mail: [email protected]; Titel-Foto: Fokussiert. Die Chemnitzer Fotografenfamilie Billhardt [email protected] Fotografin: Hannelore Zschocke Bezugspreis: 3,00 € Typografie & Herstellung: Bianca Ziemons Erscheinungsweise: Halbjährlich (Juni, Dez.) Druck & Weiterverarbeitung: Druckerei Dämmig, Auflage: 400 Exemplare Frankenberger Straße 61, 09131 Chemnitz ISSN 1862 - 8605 Flyer Wir verwirklichen Ihre Ideen... Geschäftspapiere Kalender zu leistungsstarken Produkten - Präsentationsmappen fl exibel, zeitnah und in erstklassiger QualitäT - mit modernsten Maschinen und innovativer Veredlungstechnologie - Etiketten Gemeinsam fi nden wir bezahlbare Lösungen für Ihre Druckprodukte - Durchschreibesätze Ihr Team der Bücher Zeitschriften Plakate Wir bedrucken Papier... Postkarten bis zu einer Stärke von 1 mm Glückwunschkarten bis zu einem Format von DIN A1+ und veredeln mit hochwertigen Glanz- sowie Mattfolien. Speisekarten Falzen AA C-Ost A4 Wir freuen uns auf Sie

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Binden ... ein, zwei oder fünffarbig

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