Die 152/I Die junge DDR baut das erste deutsche Passagierflugzeug mit Strahlantrieb

ls die letzten Spezialisten am 5. Juli 1954 mit einem Sonderzug aus der ASowjetunion zurückkehrten, exi- stierte nur auf dem Sonnenstein bei Pirna so etwas ähnliches wie eine Keimzelle der zukünftigen Flugzeugindustrie. Brunolf Baade war tief enttäuscht vom Stand der Vorbereitungen. Nicht mal genügend Wohnraum für die 300 Rückkehrer war vorhanden. So vergingen die Jahre 1954 und 1955 mit der DDR-weiten Suche nach Fachkräften und Konstruktionsräumen, der Beschaffung von Wohnraum und inter- nationaler Fachliteratur, dem Lösen fami- liärer Probleme und etlicher Kompetenz- streitigkeiten. Die zurückgekehrten technischen Spe- zialisten stammten vor allem aus den ehemaligen Flugzeugfirmen , Heinkel, Siebel, Arado, Henschel und der Motorenfirma BMW. Zu ausgesprochenen Wissenschaftlern der Luftfahrtforschung zählten nur ganz wenige. Die meisten von ihnen waren in Westdeutschland oder im Ausland wie Ernst Zindl, Eugen Sänger, Willy , Kurt Tank, Siegfried Günther. Vom Standpunkt der Vorlauffo- schung hätte man also in der DDR mit dem Flugzeugbau ganz klein anfangen müssen und ihn bedachtsam entwickeln. Prof. Dr. Rudolf Schein- Aber die Triebwerksentwickler um Ferdi- ne dass nach dem Wie und Woher gefragt Fehlkonstruktionen heil auf die Erde ost (links), Chef des nand Brandner und die Flugzeugbauer wurde. Während des Krieges und danach zurück. Triebwerkentwicklung, um Brunolf Baade hatten in der Sowjet- hatte sich die Sowjetunion einen hervor- In der DDR war dies alles nicht vorhan- Chefkonstrukteur Fritz union bewiesen, dass sie auch große Auf- ragenden Ingenieur- und Facharbeiter- den. Es fehlte der Unterbau, und es fehlte Freytag (2.v.l.), Aero- gaben lösen konnten. Was dabei aber stamm herangebildet. Es gab beim ZAGI der Oberbau. Das Einzige, was vorhanden flot-Direktor N.N. Dani- litschew (3.v.l.) und vergessen wurde, war der ganze Unter- alle Möglichkeiten Flugzeuge zu testen. war, waren eine Handvoll Spezialisten, da- Lufthansa-Direktor Fritz bau, der in der Sowjetunion vorhanden Es gab Vorlaufforschung. Und die Sowjet- zu ein paar Hundert, die von Flugzeugbau Horn am 9. März 1958 war, und um den sich weder Baade noch union hatte Testpiloten mit wissenschaft- etwas verstanden, aber nicht mehr auf der auf der Leipziger Mes- Brandner Gedanken machen mussten. licher Ausbildung plus Erfahrungen über Höhe der Zeit waren, und schließlich viel se neben der Strahltur- bine Pirna 014-A0 V-04 Wenn Brandner eine neue Turbinen- zwei Generationen hinweg. Die konnten Enthusiasmus unter der Jugend. Der Neu- als erster deutscher schaufel bestellte, dann bekam er sie, oh- nicht nur alles fliegen, die brachten sogar anfang musste also dornig werden, und Nachkriegsentwicklung.

Holger Lorenz: “Der Passagier-Jet 152” 28 Walter Ulbrichts Traum vom Überflügeln des Westens Die DDR will modernste Flugzeuge der Welt bauen die Heimkehrer mussten ihre Wunschvor- gierzahl von 24 auf 60, die Steigerung der stellungen von 1954 korrigieren. Reisegeschwindigkeit von 750 auf 800 Nach einer Erhebung vom April 1956 km/h, die Erhöhung des Bruchlastvielfa- waren in der Luftfahrtindustrie 416 SU- chen von 4,2 auf 5,0 für höhere Sicherheit Spezialisten und weitere 941 Fachkräfte und längere Lebensdauer, die Umstellung aus der Flugzeugindustrie von vor 1945 des Rumpfes auf einen kreisförmigen beschäftigt. Das waren 11 Prozent der da- Querschnitt und die Verbesserung der Flü- maligen Gesamtbeschäftigten (12.498). gel-Rumpf-Verbindung. Trotz dieser Ver- Der Anteil der SU-Spezialisten in For- besserungen konnte das Gewicht prak- schung und Entwicklung betrug 7,8 und in tisch gehalten werden. der Serienproduktion 1,5 Prozent. Da man wusste, dass vor 1958 keine ei- Eigentlich sollte im 3. Quartal 1956 die genen Triebwerke Pirna 014 zur Verfügung erste 152 bereits fliegen. So stand es zu- stehen würden (geplante Entwicklungszeit mindest in der Anweisung Nr.1 des Amtes 4 Jahre), waren die ersten V-Maschinen für Technik vom 4. Februar 1955. Bis En- der 152 mit sowjetischen Triebwerken RD- de 1957 sollten nach dieser Anweisung 90 9B vorgesehen. Als im Juli 1956 die Un- Stück IL-14 zur Einarbeitung neuer Fach- März 1957 trug dem Rechnung. Verant- Bild oben: Mit dem Bug- terlagen zu diesem Triebwerk eintrafen arbeiter gebaut worden sein, um ab 1958 wortlich zeichneten Chefprojektant Dipl.- stück fing die Montage und klar wurde, dass ihre Leistung für die einen Serienausstoß von zehn Stück IL-14 Ing. Hans Wocke, Chefaerodynamiker der 152 V1 an. Die Bau- Abtriebe der hydraulischen Steuerung pro Monat sicherzustellen. Prof. Dr. Georg Backhaus und Chefkon- vorrichtung war relativ nicht ausreicht, musste die modernere hy- einfach gehalten. Das Im überarbeiteten Perspektivplan vom strukteur Ing. Fritz Freytag. Verglasungsgerüst (für dro-mechanische Steuerung der 152 auf Oktober 1955 wurde die Produktion der Unter Beibehaltung des aerodynami- den Navigatorplatz) war Handsteuerung umkonstruiert werden. IL-14 auf maximal 90 Stück zurückgenom- schen Gesamtaufbaus (den Hans Wocke aus Stahl, die Spanten Interessant ist in diesem Technischen men, während die Entwicklung des Typs gern vom Hochdecker zum Tiefdecker ver- 1 und 2 sowie die Ver- Projekt vom März 1957 die konstruktive strebungen aus der Al- 152 wie folgt vorgesehen war: ändert haben wollte) konnte eine wesent- uminiumlegierung W95. Beschreibung der Kraftstoffanlage, deren liche Steigerung von Wirtschaftlichkeit Unausgereiftheit nach dem Absturz der 152 V1 (Bruchz.)1. Quartal 1957 und Flugleistung erreicht werden. Dazu 152/I V1 im März 1959 und den Beschädi- 152 V2 3. Quartal 1957 gehörten die Heraufsetzung der Passa- gungen der Behälter an der 152/II V4 im 152 V3 4. Quartal 1957 152 V4 1. Quartal 1958 Die Vorattrappe der 152/I lieferte erste An- 152 V5 2. Quartal 1958 haltspunkte für die Konstruktion. So hatte Nachdem der Serienbau der IL-14 im zum Beispiel in diesem Jahre 1956 langsam angelaufen war und Stadium die Mittel- die ersten Flugzeuge an die Lufthansa der scheibe die gleiche Breite wie die beiden DDR und die NVA ausgeliefert waren, wur- Pilotensichtscheiben. den auch die Terminforderungen bezüglich Die Stege behinderten der 152 immer drückender. Doch die 152 aber die Piloten in ihrer kam nicht voran. Wesentliche Unterlagen Sicht. Deshalb ent- schloss man sich, die aus der Sowjetunion, die zurück gelassen beiden Stege links und werden mussten, wurden nicht geliefert. rechts um zehn Zenti- Niemand wusste, ob dies Absicht war meter nach innen zu oder der übliche Schlendrian oder Kompe- versetzen. tenzüberschneidungen. Mit dem Zusam- mentragen internationaler Bauvorschrif- ten, Gesetzen und Leistungsdaten anderer Flugzeuge wurde deutlich, dass die 152 wesentlich weiterentwickelt werden mus- ste. Das Technische Projekt 152/I vom 15.

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Das Projekt 152/I vom 17. März 1957 bildete September 1960 zum Startverbot aller Bereits nach dem ersten Flug mit der 2.500 km. Doch die 152/I hatte einen gra- die Grundlage für die 152 führte: “Zwecks Entlastung der Flügel 152 V1 sagte Kommandant Willi Lehmann, vierenden Nachteil, den der Technische ersten zwei Fertigungs- lose (V1/V2 + V3/V4): von Biegemomenten ist der gesamte dass es während der Abstiegsphase Pro- Leiter der VLI, Brunolf Baade, nicht einse- Die erste fliegende Ma- Kraftstoff in 16 Gummisackbehältern in bleme mit der Kraftstoffzufuhr gegeben hen wollte und gegen Wocke und Freytag schine 152 V1 bekam den Flügeln untergebracht. Er fließt den habe. So verschieden also sind Theorie durchsetzte, nämlich das Tandemfahr- RD-9B-Triebwerke, die Pumpenbehältern in den Stielen der Trieb- und praktische Flugerprobung. werk. Es kostete wertvollen Pasagierplatz zweite fliegende Ma- werksgondeln infolge des vorhandenen Insgesamt stellte das Projekt 152/I mit im Rumpf und erforderte Stützräder an schine V3 sollte zunächst mit gleichem statischen Gefälles und unter dem Druck deutschen Pirna-014-Triebwerken wohl den Flügelenden. Damit war die Rollbreite Antrieb ausgerüstet von verdichteter Luft zu und wird sodann das Optimum dar, was an Wirtschaftlich- der 152 gleich ihrer Spannweite von 27 werden, aber später den Triebwerken durch Boosterpumpen keit und Leistung aus der 152 herauszu- Metern. Mit dieser Spurweite legte sie auch auf TL-014-Gon- zugeführt. Die Triebwerke erhalten auch holen war. Und das bei einem vertretbaren beim Mittigrollen die Flughafenbefeuerung deln umrüstbar sein. Die V4 war für dynami- dann Kraftstoff und bleiben voll betriebs- Zeitrahmen für den Serienanlauf. Das um. Mindestens ein Jahr Entwicklungszeit sche Bruchversuche im fähig, wenn die Druckbelüftung aussetzt Startgewicht von nur 43,6 Tonnen sorgte wurde durch diese Fehlentscheidung ver- Wassertank gedacht. und die Boosterpumpen stehen.” für eine ansprechende Reichweite von schenkt.

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Bild rechts: Bereits im September 1955 wur- den Versuchsstücke der Seitenschalen auf Festigkeit untersucht. Der Dreiecksbehälter war mit Wasser gefüllt und wurde unter Druck belastet.

Bild links: Umsetzen des fertigen Tragflügel- mittelstücks der V1 im Dezember 1957 vom Bohrwerk. Dieses Teil ist das komplizierteste Zellenbauteil an der 152. Besonders die Flügelanschlussplatten erwiesen sich in der Produktion als aus- schussgefährdet.

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