SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Ein Lied für die Eingeborenen von Trizonesien Eine kleine Geschichte der deutschen Nationalhymne(n)

Autor: Stefan Fries Redaktion: Detlef Clas Regie: Autorenproduktion Sendung: Montag, 13. August 2012, 8.30 Uhr, SWR2

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Dieses Manuskript enthält Textpassagen in [Klammern], die aus Zeitgründen in der ausgestrahlten Sendung gekürzt wurden. MANUSKRIPT

Cut 1:Endspiel um die Fußball-WM 1954 zwischen Deutschland und Ungarn in Herbert Zimmermann: „Aus, aus, aus – das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit 3 zu 2 Toren im Finale in Bern.“ „Und jetzt, jetzt erfolgt die feierliche Übergabe des Pokals an Fritz Walter, den Kapitän der deutschen Weltmeister-Mannschaft. Er nimmt den Pokal in die Hand, zeigt ihn seinen zehn Mitspielern, und jetzt ist auch Ferenc Puskás nach vorne gegangen und hat die Gratulation angenommen, und Deutschlands Hymne erklingt.“ Deutsche im Stadion singen im Hintergrund zur Orchesterbegleitung: „... über alles in der Welt / Wenn es stets zu Schutz und Trutze / Brüderlich zusammenhält / Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt...“

Sprecher: Es war eine Ungeheuerlichkeit, die sich 1954 im Berner Wankdorf-Stadion zutrug. Nur neun Jahre zuvor hatten die Alliierten den mörderischen Zug der Deutschen durch die halbe Welt gestoppt – und jetzt gewannen die ehemaligen Nazis die Fußball- Weltmeisterschaft. Noch schlimmer aber war, was die deutschen Fans daraufhin sangen. Es war genau der Text, dessentwegen die Melodie verboten worden war – der Text, den die Deutschen sangen, als sie versuchten, ihr Land auszuweiten, „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“.

Cut 1:Endspiel um die Fußball-WM 1954 zwischen Deutschland und Ungarn in Bern Deutsche im Stadion singen: „... Deutschland, Deutschland über alles / Über alles in der Welt! / Deutschland, Deutschland über alles / Über alles in der Welt!“ (Jubel)

Musik: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ (Karl Berbuer) Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Heidi-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!

Ansage: Ein Lied für die Eingeborenen von Trizonesien Eine kleine Geschichte der deutschen Nationalhymne(n) Eine Sendung von Stefan Fries

Sprecher: Wer die Geschichte der deutschen Nationalhymne, ja die der Nationalhymnen überhaupt erzählen möchte, kommt um die älteste nicht herum: die französische Marseillaise.

Musik: „

Sprecher: Die Marseillaise war das bekannteste und beliebteste politische Lied des 19. Jahrhunderts. 1792 wurde sie geschrieben – für den Kampf der Franzosen gegen die Koalition aus Österreich und Preußen. Die pathetische Melodie, der aggressive Text und natürlich der politische Kontext ihrer Entstehung machten die Marseillaise in

2 Europas Monarchien zu einem Kampflied der Unterdrückten, die sich gegen die Herrschenden auflehnen wollten.

Zitator: „Zu den Waffen, Bürger! Schließt die Reihen, Vorwärts, marschieren wir!“

Musik: „La Marseillaise“

Sprecher: 1797 rückte die napoleonische Armee zu den Klängen der Marseillaise auf Wien vor. Die Habsburger Monarchie wusste um deren Wirkung auf Soldaten und suchte ein Gegengewicht für ihre eigenen Truppen. Kaiser Franz der Zweite beauftragte den Komponisten Joseph Haydn damit, einen monarchietreuen Text von Lorenz Leopold Haschka zu vertonen. Haydn sagte zu.

Musik: Streichquartett C-Dur op. 76,3 Hob III, 77 (Kaiserquartett)

Cut 2: Michael Custodis Ich glaube, die musikalische Qualität ist durch ihren Urheber schon leicht nachzuvollziehen, weil Haydn sehr geschickt komponiert hat und, glaube ich, auch sehr gut komponiert hat. Weil sie als Hymne eigentlich, diese Melodie, das erfüllt, was sie erfüllen sollte.

Musik: Streichquartett C-Dur op. 76,3 Hob III, 77 (Kaiserquartett)

Cut 2: Michael Custodis Dass sie in vielen (...) musikalischen Variationen eben darstellbar ist, in vielen unterschiedlichen Besetzungen, dass sie eben gut zu erinnern ist, dass sie gleichzeitig dem Text auch genügend Raum lässt, dass sie auch diese würdige Stimmung erzeugt, und dass sie auch als Musik einfach überzeugen kann.

Sprecher: Der Musikwissenschaftler Michael Custodis von der Universität Münster. Noch im selben Jahr 1797 integrierte Haydn seine Melodie als zweiten Satz in ein Streichquartett, das später nach der Hymne „Kaiserquartett“ genannt wurde. Es variiert die Melodie insgesamt fünfmal und macht besonders mit den weniger bekannten Variationen die einfältige Lobhudelei des Hymnentextes vergessen.

Musik: Streichquartett C-Dur op. 76,3 Hob III, 77 (Kaiserquartett)

Zitator: „Gott erhalte Franz, den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Lange lebe Franz, der Kaiser, In des Glückes hellstem Glanz! Ihm erblühen Lorbeerreiser, Wo er geht, zum Ehrenkranz! Gott erhalte Franz, den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz!“

3 Sprecher: Es ist die Melodie des späteren Deutschlandliedes, die da 1797 entstanden war – was weder Kaiser Franz noch Joseph Haydn ahnen konnten. [Die Melodie, die heute ein Stück deutscher Demokratie ist, hatte also ursprünglich weder mit dem einen noch mit dem anderen zu tun: Sie kommt nicht aus Deutschland und sie steht nicht in republikanisch-demokratischer Tradition.] Haydns Melodie setzte sich in der Habsburger Monarchie zwar durch; bis 1918 wurde sie zur Huldigung des jeweiligen Königs oder Kaisers gesungen. Aber gegen die Marseillaise kam sie europaweit nicht an.

[Musik: „La Marseillaise (historisch)“ (Blasorchester)

Sprecher: Der Marseillaise folgte die sich formierende deutsche Arbeiterbewegung. Sie erklang auf dem Hambacher Fest 1832, auf dem die Einheit der deutschen Staaten und Demokratie gefordert wurden, und während der Märzrevolution 1848/49.] An der Anziehungskraft von Melodie und Text änderte sich zunächst auch wenig, als sich 1841 der Literaturprofessor und Lieddichter August Heinrich Hoffmann der kaisertreuen Haydn-Hymne annahm. Bekannt als Hoffmann von Fallersleben hatte er als politischer Mensch unter den Verhältnissen der Zeit gelitten. Wiederholt trafen ihn Berufsverbot und Zensur. Im August 1841 verfasste von Fallersleben einen neuen Text für die bekannte Melodie. Deren Wirkung über die Jahrhunderte hat der Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer von der Universität Frankfurt untersucht.

Cut 3: Ortmeyer Hoffmann von Fallersleben gehörte nun zu jenen, ich kann sagen, Feinden der Fürsten, die sich bitter darüber beschwerten, dass keine Meinungsfreiheit existierte, dass eine miefige Atmosphäre in Deutschland herrschte, eine kleinliche Atmosphäre herrschte, er wurde ja nicht umsonst relegiert, hat seinen Posten eben erst einmal verloren. (…) Er war einer von diesen Leuten, die die Fürstentümer abschaffen wollten und die Enge, das nicht mehr Zeitgemäße dieser mittelalterlichen Grundstruktur der verschiedenen Fürstentümer abschaffen wollte. Das ist, denke ich, unstrittig.

Sprecher: Schon von Fallerslebens erste Strophe zeigte, dass er sich ein einiges Deutschland wünschte, auch wenn er offen ließ, wie diese Einheit zu erreichen war.

Musik: „“ (1. Strophe) „Deutschland, Deutschland über alles über alles in der Welt, wenn es stets zum Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält.

Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.“

4 Cut 4: Ortmeyer Seine Antwort ist in dem Deutschlandlied ja doch eindeutig: Er bemüht sich, populär zu sein. Aber in der ersten Strophe wird es hochinteressant. Da geht es dann tatsächlich um Grenzen. Da werden Grenzflüsse genannt, es gibt also das Bild einer am Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation orientierten Vorstellung eines Großdeutschland zusammen mit einer – ja – literarisch gelungenen Formulierung, eben dieses ‚Deutschland über alles’. Das ist, denke ich, die populärste Passage. Das waren literarisch-feuilletonistische Formulierungen, mit denen er die Bildung Deutschlands als Nation mit einer schon nationalistisch aufgeladenen Mentalität versehen hat.

Sprecher: Das Deutschlandlied setzte sich erst langsam und schleichend über die Jahrzehnte hinweg durch und fand erst nach und nach immer mehr Anhänger. [1890 wurde es bei der Übergabe Helgolands an das Deutsche Reich gespielt. Und 1901, als das Bismarck-Denkmal vor dem Reichstag in Berlin eingeweiht wurde.] Bei den Deutschen waren damals andere politische Lieder beliebter. Als inoffizielle Nationalhymne zu politischen Anlässen galt etwa „“, die dazu aufruft, den Rhein als deutsche Westgrenze gegen Frankreich zu sichern.

Musik: „Die Wacht am Rhein (Chor à cappella)“ (Jan Patridge) „Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein! Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!“

Sprecher: [Außerdem wurden im Deutschen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts gerne Landeshymnen gesungen – wie etwa „Gott mit dir, du Land der Bayern“ oder „Schleswig-Holstein, meerumschlungen“.] Und dann hatten die Kaiser noch ihre eigene althergebrachte Hymne. Seit 1795 wurde bei offiziellen Anlässen „“ gespielt [– zuerst als preußische Volkshymne, nach Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 als Kaiserhymne.]

Musik: Heil dir im Siegerkranz“

Zitator: „Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands! Heil, Kaiser, dir! Fühl in des Thrones Glanz Die hohe Wonne ganz, Liebling des Volks zu sein! Heil, Kaiser, dir!“

Sprecher: Die Melodie der Kaiserhymne war damals weit verbreitet – so weit, dass sie ihr zum Verhängnis wurde, spätestens im Ersten Weltkrieg. Zwar lag sie damals vielen zugrunde – etwa auch der schweizerischen oder der liechtensteinischen – aber dass sie auch Nationalhymne der Feinde in Großbritannien war, ging nationalen Kreisen im Kaiserreich zu weit. So war es vermutlich kein Zufall, dass schon kurz nach Ausbruch des Krieges 1914 plötzlich das lange offiziell verschmähte Deutschlandlied seinen

5 Durchbruch feierte. Am 10. November 1914 meldete die Oberste Heeresleitung des Deutschen Heeres:

Zitator: „Westlich Langemarck in Flandern brachen junge Regimenter unter dem Gesang ‚Deutschland, Deutschland über alles’ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie.“

Sprecher: Ob das tatsächlich so war, ist umstritten. Seine Wirkung verfehlte der Militärbericht aber nicht. Der Mythos von Langemark war geboren [– und das Bild des deutschen Soldaten, der sich opferbereit in die Schlacht stürzt, um sein Vaterland zu verteidigen – das Deutschlandlied auf den Lippen. Wie stark es sich dort wirklich durchsetzte, lässt sich heute nicht mehr sagen. Aber] schon in den Anfangsjahren der Weimarer Republik setzten sich führende Politiker dafür ein, das Lied zur offiziellen Nationalhymne zu machen – quer durch alle Parteien, [vom rechtskonservativen christlichen Zentrum über die Liberalen bis hin zu den Sozialdemokraten.] Denn der Nationalismus war durch den Ersten Weltkrieg nicht besiegt worden, im Gegenteil: Den Versailler Vertrag mit seinen Reparationszahlungen empfanden viele als zu hart, [Nationalisten bekamen Auftrieb und pochten auf ein souveränes und starkes Deutschland.] Im Mai 1919 sangen die Abgeordneten der Nationalversammlung aus Protest gegen die Friedensbedingungen von Versailles „Deutschland, Deutschland über alles“. Zwar gab es auch kritische Töne gegen das Lied; einige Politiker beklagten seinen Missbrauch, hielten es für kompromittiert. Aber das Bedürfnis nach einer wirkungsvollen traditionsreichen Hymne, hinter der die Deutschen nach dem Krieg versammelt werden sollten, war stärker. Reichspräsident Friedrich Ebert von der SPD machte das Deutschlandlied am 11. August 1922 zur ersten offiziellen deutschen Nationalhymne.

Musik: „Deutschlandlied“

Sprecher: Zunächst misslang der Versuch, die Deutschen hinter der Hymne zu versammeln. Die Monarchisten hielten an „Heil dir im Siegerkranz“ fest, die Linken an der „Internationalen“. 1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Sie brachen mit vielen Traditionen und Staatssymbolen, am Deutschlandlied aber hielten sie fest. [Für sie war es geradezu programmatisch.] Aber es reichte ihnen nicht als Nationalhymne. Schon kurz nach der Machtübernahme degradierten die Nazis das Deutschlandlied zum Vorspann ihrer Parteihymne, des Horst-Wessel-Liedes.

Rede von Reichskanzler Adolf Hitler zum 9. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30.01.1942 Menge singt mit Musikbegleitung: „... über alles in der Welt. – Die Fahne hoch! ...“

Zitator: Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! SA marschiert Mit ruhig festem Schritt Kam´raden, die Rotfront und Reaktion erschossen Marschier´n im Geist In unser´n Reihen mit.

6 Sprecher: Der SA-Mann Horst Wessel hatte das Lied Ende der 20er-Jahre auf eine alte Melodie getextet. 1930 wurde er von einem Kommunisten erschossen – und zum nationalsozialistischen Märtyrer. Sein Text verherrlicht die SA, die Sturmabteilung der NSDAP, verschweigt aber deren paramilitärische Aktionen gehen Gegner des NS- Regimes. Die Nazis setzten beide Lieder bei jeder nur möglichen Gelegenheit ein: bei Staatsakten, Sportveranstaltungen wie den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, im Radio und in allen Schulen. Von einem Missbrauch des Deutschlandliedes durch die Nazis wurde später und wird noch bis heute immer wieder gesprochen. Eine Einschätzung, die der Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer nicht teilen kann.

Cut 7: Ortmeyer Der Missbrauch würde heißen: Das war eigentlich ein fortschrittliches Lied, und jetzt wurde es rückschrittlich gemacht. Aber es war in vieler Hinsicht schon damals ein rückschrittliches Lied, als es erfunden wurde, und deswegen ist der Begriff des Missbrauchs für mich falsch.

Sprecher: Das Deutschlandlied begleitete die Nazis und die deutsche Wehrmacht durch halb Europa. 1945 war es vorbei: mit dem Krieg, mit der Herrschaft der Nazis und mit dem Deutschlandlied. Die Alliierten verboten es, die Deutschen waren ohne Hymne, obwohl die eigentlich üblich war.

Cut 8: Ortmeyer Das war guter Brauch inzwischen geworden. Da musste man sich tatsächlich auf verschiedenen Empfängen und auf ... Empfängen ist vielleicht das falsche Wort, aber bei staatlichen Ereignissen, Staatsbesuchen usw. gehörte das sozusagen zu den repräsentativen Selbstverständlichkeiten.

Cut 9: Custodis Wenn die Nationalhymne angestimmt wird, dann vergewissert man sich erst mal über diese Musik gewisser nationaler Werte. [Was auch immer die dann sein sollten,] aber dass man dieses Wir-Gefühl aufbaut, dass man sich in dieser Musik zusammenfindet, und das vor allen Dingen natürlich über den Text repräsentiert wird.

Sprecher: Für das Wir-Gefühl der Deutschen, das der Musikwissenschaftler Michael Custodis beschreibt, gab es nun aber ab 1945 keine offizielle Hymne mehr. Die Deutschen mussten sich behelfen – und wurden dabei kreativ.

Musik: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ (Karl Berbuer) „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Heidi-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm! Wir haben Mägdelein mit feurig wildem Wesien, Heidi-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm! Wir sind zwar keine Menschenfresser, doch wir küssen umso besser. Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Heidi-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!“

7 Sprecher: Im März 1948 hatten sich die drei Westmächte darauf geeinigt, ihre Besatzungszonen in Deutschland zu vereinigen. Die USA, Großbritannien und Frankreich schufen die Trizone, die im Wesentlichen das Gebiet der späteren Bundesrepublik umfasste. Im Volksmund wurde aus der Trizone schnell „Trizonesien“ – spätestens, als der Kölner Karnevalskomponist Karl Berbuer das passende Lied dazu verfasste, das die politische Situation der Zeit ironisch beschrieb. 1949 erklang das Lied als Hymne für die deutschen Sportler bei einem Radrennen in Köln.

Musik: Fortsetzung „Mein lieber Freund, mein lieber Freund, die alten Zeiten sind vorbei, ob man da lacht, ob man da weint, die Welt geht weiter, eins, zwei, drei. Ein kleines Häuflein Diplomaten macht heut die große Politik, sie schaffen Zonen, ändern Staaten. Und was ist hier mit uns im Augenblick? Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien Heidi-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!

Cut 10: Custodis Man merkt einfach, dass die meisten Länder das Bedürfnis danach haben, und vor allen Dingen ist der Zusammenhang zum Sport recht eng. Weil das vor allen Dingen natürlich Wettkampfsituationen sind, wo Länder gegeneinander antreten. Nachher bei der Preisverleihung geht man einfach davon aus: Die Fahne wird gehisst, die Hymne wird gespielt. In dem Augenblick braucht man also eine Hymne. Was sollte sonst da passieren, [wenn ein Staat gewinnt, der keine Hymne hat?]

Sprecher: 1948 beginnt der Parlamentarische Rat mit der Arbeit am Grundgesetz. Das regelte viele Dinge, aber nicht die Frage einer bundesdeutschen Hymne. Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft. Weil das Deutschlandlied weiter verboten war, stimmte der Parlamentarische Rat eine thüringische Volksweise an.

Zitator „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand dir Land voll Lieb und Leben mein deutsches Vaterland.“

Sprecher: Aber eine eigene offizielle Hymne fehlte – was Diplomaten in aller Welt in der Folge in Verlegenheit brachte. Es wird kolportiert, dass der erste Bundeskanzler bei einem Staatsbesuch in Chicago mit einem anderen Karnevalslied begrüßt wurde: „Heidewitzka, Herr Kapitän“. Für ihn war es Zeit zu handeln. Sein politisches Gespür sagte ihm, dass er beim Volk mit dem Deutschlandlied punkten konnte. Aber Adenauer fehlte die Kompetenz, alleine eine Hymne zu bestimmen. Er brachte seinen Favoriten mit einer wirkungsvollen Aktion wieder in die politische Diskussion. Am 18. April 1950 hielt er im Berliner Titania-Palast eine Rede zu Deutschlands Rolle in Europa – und beendete sie so:

8 Cut 11: „Deutschlandlied – 3. Strophe, gesungen am 18.04.1950 auf Anregung von Adenauer im Berliner Titania-Palast“ Adenauer: „Wenn ich Sie nunmehr, meine Damen und Herren, bitte, die dritte Strophe des Deutschlandsliedes zu singen, dann sei uns das ein heiliges Gelöbnis, dass wir ein einiges Volk, ein freies Volk und ein friedliches Volk sein wollen.“ (Applaus)

Orchester spielt Musik, Zuschauer singen: „Einigkeit und Recht und Freiheit ...“

Sprecher: Es war eine bewusste Provokation Adenauers. Aber sie machte das Deutschlandlied wieder hoffähig. Und hätte von Bundespräsident , der sich dafür zuständig fühlte, recht schnell zur Hymne erklärt werden können. Aber Heuss hatte eigene Pläne, die er in seiner Ansprache am Silvesterabend 1950 im Radio vorstellte.

Cut 12: Theodor Heuss, Bundespräsident, 31.12.1950 Theodor Heuss: „Ich glaube, selbst bei Leuten, denen meine Art fremd ist, nicht im Verdacht zu stehen, den Sinn geschichtlicher Zusammenhänge zu missachten. Ich lebe selber aus ihren Werten. Aber das ungeheure Schicksal, das die staatlichen Zusammenhänge zerschlug, die volklichen verwirrte, schuf einen Geschichtseinschnitt, der mit dem alten Sinn- und Wortvorrat nicht mehr umfasst werden kann.“

Sprecher: Und dann rezitierte Theodor Heuss den Text, den er bei dem Dichter Rudolf Alexander Schröder in Auftrag gegeben hatte, lobte ihn und damit seine eigene Initiative – und spielte anschließend eine Aufnahme dieses Hymnenentwurfes vor.

Musik: „“ „Land des Glaubens, deutsches Land, Land der Väter und der Erben, uns im Leben und im Sterben Haus und Herberg, Trost und Pfand, sei den Toten zum Gedächtnis, den Lebend'gen zum Vermächtnis, freudig vor der Welt bekannt, Land des Glaubens, deutsches Land!“

Sprecher: Der Charakter dieser „Hymne an Deutschland“ war umstritten. Sie wurde als Kirchenlied oder Trauermarsch empfunden [– wegen des Textes und wegen der Melodie von Hermann Reutter. Sie wurde] als „Theos Nachtlied“ verspottet, fand kaum Unterstützer. Sportverbände, Politiker und viele Bürger wollten ihr Deutschlandlied zurück. Mehr als ein Jahr brauchte Heuss, das anzuerkennen – und auch dann konnte er sich nicht dazu durchringen, das Lied feierlich als Hymne zu proklamieren. Er stimmte zwar zu, aber nur versteckt in einem Briefwechsel mit Bundeskanzler Adenauer – und ordnete an, dass bei staatlichen Veranstaltungen die dritte Strophe gesungen werden sollte. Es dauerte aber lange, bis die Deutschen das verinnerlichten.

Cut 13:Endspiel um die Fußball-WM 1954 zwischen Deutschland und Ungarn in Bern Herbert Zimmermann: „Jetzt stellt sich die deutsche Mannschaft vor der Haupttribüne auf, daneben stehen die Ungarn.“ – „Jeden Augenblick wird die Siegerehrung

9 vorgenommen ...“ – „Ich glaube, meine liebe Zuhörerinnen und Zuhörer in Deutschland, wir bleiben noch so lange mit unserem Mikrofon hier im Stadion, bis die deutsche Nationalhymne erklingt, bis der stolze Triumph unserer deutschen Elf hier seinen Höhepunkt erreicht.“

Sprecher: Noch zwei Jahre nach der Proklamation des neuen Deutschlandliedes wurde die zugehörige dritte Strophe selten gesungen. Ausgerechnet bei einem Sieg der Deutschen im Ausland – 1954 beim Endspiel der Fußball-WM in Bern – sangen die Fans die erste Strophe, die bei ihnen keineswegs verpönt war. Die Debatten um das Lied und die richtige Strophe führten aber zur Verwirrung. In Umfragen wusste die Hälfte der Deutschen nicht, welche Strophe zu singen ist. Im Radio wurde die Hymne seltener gespielt, und wenn, dann immer öfter nur die Melodie. Das Deutschlandlied wurde über die Jahre zur „verstummten Hymne“. Ein Schicksal, das es bis zum Ende der 80er-Jahre mit seiner Schwester teilte, der Hymne der DDR. Die war viel schneller installiert: Im Herbst 1949 beauftragte das Politbüro den Dichter und späteren Kulturminister Johannes R. Becher und den Komponisten Hanns Eisler, bis zur Staatsgründung nur wenige Wochen später eine Nationalhymne zu schaffen.

Musik: „Nationalhymne der DDR“ (Großer Chor des Berliner Rundfunks) „ Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint. Über Deutschland scheint.“

Cut 14: Custodis, Musikalisch find ich die Eisler-Hymne ungeheuer reizvoll. Jenseits der politischen Dimensionen.

Sprecher: Musikwissenschaftler Michael Custodis.

Cut 14: Custodis, Weil Eisler einfach ein sehr begabter Komponist war, der auch sehr strategisch denken konnte, [und natürlich auch die Kampfzeit seiner Bewegung aus den 20er-Jahren sehr genau kannte,] also die politische Wirkung von Musik bei ihm immer ein ganz zentraler Faktor war, weil er natürlich Arbeiterlieder und Märsche usw. alles komponiert hat, genau für solche politischen Anlässe.

Sprecher: Die DDR-Führung startete eine breit angelegte Kampagne, um die Hymne zu popularisieren. Sie wurde bei Staatsempfängen, Sportwettkämpfen und in allen Schulklassen gesungen, bei privaten Feiern und in Radio und Fernsehen. [Einzelne Zeilen wurden auf Spruchbändern über Straßen und an Häusern ausgestellt.] Als Bundeskanzler Willy Brandt 1972 Willi Stoph als Vorsitzenden des DDR-Ministerrats auf

10 die Hymnen-Zeile „Deutschland, einig Vaterland“ hinwies, wurde der Text klammheimlich entsorgt. Die Zeile passte nicht zum Ziel der DDR-Führung, die Zweiteilung Deutschlands beizubehalten. So verstummte auch die DDR-Hymne, wie die der BRD. Deren Deutschlandlied ertönte überraschend erst wieder am 9. November 1989 im Deutschen Bundestag – als die Abgeordneten gerade erfahren hatten, dass die DDR die Mauer geöffnet hatte – und auch am nächsten Tag: Am 10. November standen aus diesem Anlass Bundeskanzler , SPD-Chef Willy Brandt und andere Politiker auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses in Berlin.

Cut 15: Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg anlässlich der Öffnung der Berliner Mauer – Ansprachen von Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl (10.11.1989) Redner: „Zum Abschluss unserer Kundgebung wollen wir gemeinsam das Lied anstimmen ‚Einigkeit und Recht und Freiheit’.“ Pfiffe und Buhrufe aus dem Publikum, Politikerchor singt Deutschlandlied unter wütenden Pfiffen und Buhrufen des Publikums.

Sprecher: Der Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer nennt dieses Pfeifkonzert der Berliner gegen ihre Politiker ein „Highlight der deutschen Geschichte“.

Cut 16: Ortmeyer, Hier war eine Massenbegeisterung, es waren euphorisierte Menschen. Die Masse der Leute wollten (sic!) diesen nationalistischen Schmonzes nicht hören. Das war also ein Highlight, dass man die Hoffnung hatte, dass dieser Zusammenschluss oder Anschluss der DDR an die Bundesrepublik nicht zu einer nationalistischen Euphorie führt, sondern dass man es als Impuls vielleicht begreift, mit diesem Nationalismus aufzuräumen und mit dieser Tradition des Deutschlandliedes zu brechen. [Das war also wirklich nicht organisiert, das war eine spontane Bevölkerungsäußerung von verschiedensten Leuten, nicht nur Studenten oder sonstwie.] Und das war ein Hoffnungskeim, der sich aber bald erledigt hat.

Sprecher: Eine Diskussion über die Nationalhymne blieb weitgehend aus – auch in den folgenden elf Monaten bis zur offiziellen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Zu groß waren die Probleme, [die in der Wiedervereinigung zweier Staaten steckte,] als dass die Nationalhymne vielen ein wichtiges Anliegen war. Dabei gab es durchaus Vorschläge – etwa Bertolt Brechts „Kinderhymne“. Der Dichter hatte den Text 1950 geschrieben, vermutlich als Reaktion auf Adenauers Coup im Berliner Titania-Palast, mit dem dieser das Deutschlandlied als Nationalhymne wieder hoffähig machen wollte. Brecht setzte mit seinem friedfertigen Text auch einen Kontrapunkt zu den umstrittenen Textzeilen „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“. Die Melodie schrieb wie bei der DDR-Hymne Hanns Eisler, der sie hier selbst singt:

Musik: „Kinderhymne“ „Daß die Völker nicht erbleichen Wie vor einer Räuberin Sondern ihre Hände reichen Uns wie andern Völkern hin. Und nicht über und nicht unter Andern Völkern wolln wir sein

11 Von der See bis zu den Alpen Von der Oder bis zum Rhein.“

Sprecher: Doch Brechts Text hatte auch 1990 keinen Erfolg, die Kinderhymne kam als Nationallied nicht in Betracht. Benjamin Ortmeyer führt das auch darauf zurück, dass die Diskussion sehr intellektuell in abgehobenen Kreisen geführt wurde.

Cut 17: Ortmeyer Irgendwie spielt da die Macht der Gewohnheit auch eine Rolle. Ich meine, 60 Millionen waren Wessis und 20 Ossis, und die haben das jetzt schon irgendwie immer gekannt und (es) waren so viele Umbrüche, und [das grundlegende Problem der Macht der Gewohnheit, des Konservativen und dass man es jetzt weiterführt und diese Diskussion jetzt sein lässt,] das war das, was sich durchgesetzt hat, nicht die hundertprozentige Überzeugung, dass es so ein tolles Lied ist.

Sprecher: Schließlich verfuhren die Politiker in Sachen Nationalhymne so wie bei der ganzen Wiedervereinigung: Die DDR bzw. die fünf neuen Länder traten dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei – und übernahmen auch die politische Symbolik der Bundesrepublik. Kanzler Kohl und Präsident Richard von Weizsäcker spielten nach, was ihre Vorgänger Adenauer und Heuss vierzig Jahre zuvor praktiziert hatten: In einem Briefwechsel legten sie das Deutschlandlied erneut als Nationalhymne fest. Damit war das lange Ringen beendet. Auch wenn es hin und wieder zu Diskussionen darüber kommt, ist das Lied doch weitgehend unumstritten.

Musik: „Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland“ (Gebirgsmusikkorps Garmisch-Partenkirchen)

Sprecher: [Bei Fußball-Turnieren wie der Europa- oder Weltmeisterschaft wird es gespielt und gesungen, bei Staatsbesuchen und bei der Wahl des Bundespräsidenten – aber darüber diskutiert wird kaum noch.] Die politische Realität in der wiedervereinigten und seit Jahrzehnten friedlichen Bundesrepublik Deutschland hat die problematische Geschichte des Deutschlandliedes überdeckt. Es hat sich durchgesetzt. Und es ist nicht erkennbar, ob noch mal ein Anlass kommt, neu darüber zu diskutieren. Seine Kritiker werden sich mit ihm abfinden müssen.

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