Hans Zender: Schuberts Winterreise-Eine Komponierte Interpretation*

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Hans Zender: Schuberts Winterreise-Eine Komponierte Interpretation* Buchbesprechungen 263 Rolf Breuer über Hans Zender: Schuberts Winterreise-Eine komponierte Interpretation* Die musikalische Substanz vieler in der Gefahr, zur Selbstverständ­ Lieder von Schubert ist so sehr viel lichkeit zu werden, sei es im Kon­ größer als die Lieder selbst, daß zertbetrieb mit seinen bürgerlichen man der Versuchung durchaus Riten von Frack und Förmlichkeit, erliegen kann, sie deutlicher, vir­ sei es beim privaten Abhören auf tuoser oder stärker herausbringen Schallplatte oder CD mit einem zu wollen. Da sitzt man am Klavier Glas Wein neben dem Sofa. In die­ und spielt, variiert und verlängert sem Sinn ist die wichtigste Funkti­ immer wieder bestimmte Passagen, on von Zenders Arrangement, uns derer man nicht satt wird, vielleicht die Winterreise mit ihrem Reichtum aus den „Trocknen Blumen" oder an unvergleichlicher Musik und mit aus „Im Dorfe", vielleicht die Ober­ ihrer Dramatik auf engstem Raum gänge von Moll nach Dur, wenn wieder neu hören zu lassen. Vor aus schwarzer Melancholie weißer allem gelingt es Zender, die Schrecken wird. Liszt war ge­ Schrecken in Schuberts Partitur schmacklos genug, seine aufgedon­ wieder hörbar zu machen. nerten Bearbeitungen einzelner Dabei ist der Zugriff von Zen­ Schubert-Lieder für Klavier solo ders komponierter Interpretation - sogar aufzuschreiben und zu veröf­ angesiedelt zwischen Bearbeitung fentlichen. (Instrumentalisierung) und Neufas­ Hans Zender1 ist jetzt der Ver­ sung - von Lied zu Lied recht such gelungen, die Musik der Win- unterschiedlich. Oft bleibt sie ganz terreise zu verdeutlichen, ohne sie nah beim Original, fast wie eine zu banalisieren oder zu sentimenta- bloße Orchesterfassung, beispiels­ lisieren. In seiner „komponierten weise beim „Lindenbaum". Andere Interpretation" (1993 uraufgeführt, Lieder sind deutlicher verändert, 1995 auf CD) beließ er den wobei die Veränderungen vor allem Gesangspart weitgehend unangeta­ darin bestehen, die musikalische stet, während er den Klavierpart Tradition fortzusetzen, die von Schu­ zum Instrumentalkonzert orche­ bert ausging, bis hin zum Fin-de- strierte. Als Gipfelwerk der Gat­ siecle-Gestus Mahlers oder zum tung steht Schuberts Liederzyklus Expressionismus Bergs. Zenders Hans Peter Blochwitz, Tenor, und das Ensemble Modern unter Hans Zender. 2 CDs mit insgesamt 90 Minuten Spieldauer. RCA Victor/BMG 09026 68067 2. DM 36,00. Zender, 1936 geboren, studierte in Freiburg und Frankfurt Klavier, Dirigieren und Komposition, war in Bonn, Kiel und Hamburg als Dirigent und General­ musikdirektor tätig, arbeitet seit 1988 als Professor für Komposition in Frank­ furt. Zwei seiner bedeutendsten Kompositionen sind die Opern Stephen Climax (1986, nach Joyce) und Don Quijote (1989-91). 264 Buchbesprechungen Bearbeitung setzt sozusagen frei, und in der die zurückgelassene was musikalisch in Schubert ange­ treulose Geliebte lebt: legt, aber unter der klassisch-gebän- digten Oberfläche verborgen ist. Nun ja, die Post kommt aus (Übrigens geschieht das nie mit über­ der Stadt, legener oder gar ironischer Geste, Wo ich ein liebes Liebchen sondern mit ernster Liebe, auch bei hatt\ Passagen in Müllers Gedichten, die Die Überschwemmung durch die wir heute als romantisch-welt- Erinnerung führt zur Ungeduld mit schmerzlerisch empfinden.) dem eigenen Unglück. Die Mittel der Veränderung sind Wiederholungen gibt es in Nr. hauptsächlich: auskomponierte Lied- XVIII, „Der stürmische Morgen", anfange, Übergänge und Schlüsse, oder in Nr. XXII, „Mut!", weil der Dehnungen und Beschleunigungen, Sturm dem Wanderer derart Wiederholungen und Hall-Effekte, zusetzt, daß der Sänger mit dem Sprechgesang und „veristische" Lied nicht formal-korrekt weiter­ Elemente. Die kompositorischen kommt, wie das seinem Vorläufer Zutaten finden sich vor allem am bei Schubert noch gelang, und Anfang und am Schluß des Zyklus mehrmals ansetzen muß. Der ein­ sowie im Übergang zur Zweiten drucksvollste Hall-Effekt findet Abteilung (vor Nr. XIII, „Die sich in der vierten Strophe der Nr. Post")- Verlangsamungen gibt es XIII, „Die Post", als der Wanderer zum Beispiel in Nr. XXIII, „Die sich fragt, wie es in der Stadt aus­ Nebensonnen", wo die Realität sich sehen mag: ins Unwirkliche streckt, oder in Nr. II, „Die Wetterfahne", wo sich zwi­ Willst wohl einmal hin- schen den Zeilen überseh'n Und fragen, wie es dort mag Der Wind spielt drinnen mit gehn, den Herzen Mein Herz? Wie auf dem Dach, nur nicht so laut Hier wird Schuberts Musik im gedehnten Nachhall zu Klängen und dem folgenden Vers verwandelt, in denen Zeit und Was fragen sie nach meinen Raum verzerrt sind wie in einer Schmerzen? Fieberphantasie. Das Mittel des Sprechgesangs der Augenblick ins Zeitlose dehnt. steht ebenfalls im Dienst der Beschleunigung findet sich etwa in Expressivität, etwa in Nr. I, „Gute Nr. XIII, „Die Post", als dem Wan­ Nacht", als der Wanderer über die derer nach der Reflexion Treulosigkeit der Liebe reflektiert: Was drängst du denn so Die Liebe liebt das Wan­ wunderlich, dern- Mein Herz? Gott hat sie so gemacht- plötzlich wieder die Stadt einfällt, und als es ihm bei der Nennung von aus der ja die Postkutsche kommt Gottes Namen den Gesang ver- Buchbesprechungen 265 schlägt. Oder in Nr. XI, „Frühlings- vielmehr zu werden scheinen, denn traum", als er im Angesicht von natürlich ist die natürlichste Kunst Eisblumen an den Fensterscheiben auch nur künstliche Natur. vom Frühling träumt: Hier sind wir an dem Punkt, der Zenders Bearbeitung der Ihr lacht wohl über den Winterrei- für Ästhetiker, Kulturtheoretiker Träumer, se und gerade auch für Literaturwis­ Der Blumen im Winter sah? senschaftler besonders interessant und wo der Bruch zwischen Traum macht. Zenders komponierte Inter­ und Wirklichkeit des Wanderers pretation ist nicht nur eine Bearbei­ abgebildet ist als Bruch in der tung wie zum Beispiel Busonis Musik des Sängers. Bach-Transkriptionen; keine Par­ Immer wieder also vermischt odie wie etwa Tilo Medeks Orche­ Zender Kunst und Leben, Form und sterfassung von Mozarts Türki- Inhalt des Kunstwerks. Das Darge­ schem Marsch; keine bloße Kon­ stellte schlägt durch auf die Dar­ frontation älterer Musik mit stellung. In der Literaturwissen­ modernen Ausdrucksformen wie schaft hat man das entsprechende beispielsweise Nikolai Badinskis Gestaltungsprinzip „imitative Trunkene Fledermaus (nach Johann form" oder auch „expressive form" Strauß). Vielmehr geht Zenders genannt (und konservative Kritiker Winterreise von der in den letzten haben es - mit beachtlichen Argu­ Jahren stark herausgestellten Tatsa­ menten — beispielsweise an Joyces che aus, daß wir uns der Wirklich­ Finnegans Wake oder an Beckett keit immer unter einer bestimmten gerügt). Als etwa der Ich-Erzähler Perspektive nähern, daß es keinen in Becketts Roman Mahne meurt direkten Zugriff auf die Sache stirbt, geht mit ihm der Text selbst gibt, also auch keinen auf die zugrunde, oder anders herum: weil Kunstwerke vergangener Zeiten, der Text zuletzt zerfällt, muß man daß wir Schubert zum Beispiel not­ annehmen, daß der Erzähler stirbt, gedrungen mit Ohren hören, die und nicht etwa, daß der Autor keine durch die Musikentwicklung nach Lust mehr hatte. Schubert geprägt sind. Es gibt also Die deutlichsten Beispiele für die keine Unmittelbarkeit zu Schuberts Vermischung der Ebene der Lebens­ Liederkreis, sondern „nur" Inter­ welt des Wanderers und der Kunst­ pretationen, Veraüttlungen. Dieses welt des Liedsängers sind jene Stel­ hermeneutische Prinzip ist nun bei len, an denen die Windmaschine Zenders Fassung absichtsvoll in die zum Einsatz kommt. In den Num­ Musik hineinkomponiert: mern II, „Die Wetterfahne", XVIII, Schubert + Rezeption (= Wagner, „Der stürmische Morgen", und Mahler, Berg et al.) = Zender XXII, „Mut!", weht der Sturm des In diesem Sinn steht Zenders Lebens so heftig in den Konzertsaal, Schuberts Winterreise in dem daß er die Form von Schuberts großen spätmodernen oder „post­ Musik zerstört, daß dargestellter modernen" Kontext, den man mit Wanderer und Darsteller des Wan­ Begriffen wie Vermischung der derers ununterscheidbar werden - logischen Ebenen von Text und 266 Buchbesprechungen Kommentar, von Kunst und Leben, ein mit allen Daten des Romanti­ Meta-Literatur, Intertextualität, kers gefütterter Computer nicht nur Zitat, Kontrafaktur, Reflexivität, neue Erkenntnisse über Byrons Narzißmus u. ä. umreißen kann. In Leben liefert, sondern auch ein neu­ den letzten Jahren hat es fast so es Gedicht des Toten; Robert Nyes etwas wie eine Inflation von litera­ TheMemoirs of Lord Byron (1989), rischen Texten gegeben, die sich die fiktive Autobiographie des ari­ explizit auf frühere Werke des stokratischen Lebemanns; Judith Kanons beziehen, sei es als fiktive Chernaiks Mab 's Daughters Biographien oder Autobiographien, (1991), ein Briefroman, bestehend als Fortsetzungen, als Weiterschrei­ aus der zum Teil authentischen, ben und vieles mehr. Ich beschrän­ zum Teil erfundenen Korrespon­ ke mich im folgenden - um den denz der Frauen um Byrons Dich­ Rahmen einer Besprechung nicht terfreund Shelley. zu sprengen - auf mein Arbeitsge­ Die Reihe ließe sich fast beliebig biet, die englische Literatur, und da fortsetzen. So gibt es - um nur das vor allem auf Werke, die sich mit noch zu erwähnen - eine ganze Werken befassen, die aus dem zeit­ Jane-Austen-Fortsetzungs-Indu- lichen Umfeld Schuberts kommen. strie, an der allein in den allerletzten Im Bereich des Dramas ist vor Jahren zum Beispiel Joan Aiken, allem Tom Stoppard mit Rosen- Julia Barrett und Emma Tennant crantz and Guildenstern Are Dead mitgewirkt haben, teilweise mit (1967) bekanntgeworden, einer
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