Der komplexe Pluralismus in den Musiktheaterwerken Hans Zenders.

Experimentierraum für den produktiven Umgang mit historischen, multimedialen und kulturellen Vielfalten

Dissertation

zur Erlangung des Doktorgrades der Fakultät der „Musik“ der Universität der Künste Berlin

vorgelegt von Jiyoung Kang

aus Busan, Republik Korea

Gutachterinnen: 1. Frau Prof. Dr. Dörte Schmidt 2. Frau Prof. Dr. Susanne Fontaine

I

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 1

1. Themenstellung: Hans Zender und seine Musiktheaterstücke 1 2. Stand der Forschung 6 3. Orientierung der Arbeit 10

I. Zugang zu den ästhetischen Gedanken beim Komponieren Zenders 14 1. Hans Zender: ein synthetischer Musiker mit pluralistischem Ich 14 14 1.1. Die verschiedenen Tätigkeiten als Dirigent, Komponist und Musikdenker 1.2. Selbstreflexion als „das polyphone Subjekt“ 23 2. Pluralismus in Bezug auf die Postmoderne 26 2.1. Zeitauffassung: „Komponieren in der postmodernen Situation“ 28 2.2. Pluralismus, das innere Konstruktionsprinzip in einem Werk 33

II. (1979/1984) 36 1. Handlungsebene 40

1.1.Konzeption der szenischen Struktur: Libretto aus zwei unterschiedlichen Romanen 40 1.2. Thema: „Die gegenstrebige Fügung“ 42 1.3. Figuren 44 a. Stephen Daedalus 45 b. Leopold Bloom 50 c. Simeon Klimax 53 d. Sonstige Figuren 55 2. Musikalische Ebene 58

2.1. Akt I: Die Zwölftontechnik und die serielle Musik 58 2.2. Akt II: „Metamorphose des Stils“ in den zwölf Variationen 62 a. Szene 1: Zeitrücksprünge (Szenenwiederholung) 63 b. Szenen 2 – 4 & 11: Die Zitat- und Collagetechnik 66 c. Szenen 5, 6 & 9: Eine große Anzahl von Geräuschen 75 d. Szene 7: Proportionskanon 81 e. Szenen 11 & 12: „Totentanz“ 83 2. 3. Akt III 86

3. Stephen Climax: Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen bzw. Affekte durch Überlagerung der verschiedensten szenisch-musikalischen Elemente 88

II

III. Don Quijote de la Mancha: 31 theatralische Abenteuer (1989- 1991/1994) 91 1. Libretto und Theater 95 1.1. Zender als Dramaturg: „Text nach Cervantes vom Komponisten“ 95 1.2. Die gegensätzlichen sowie sich ergänzenden zwei Hauptrollen 98 a. Der abenteuerliche Ritter: Idealist Don Quijote 98 b. Der Gegenpol des Don Quijote: Realist Sancho Panza 102 1.3. Sonstige Figuren 104 a. Das Fantasiegeschöpf von Don Quijote: Dulcinea 104 b. Die Stimmen der Autoren: die drei Lektoren 105 2. Szenen und Musik 107 2.1. Die spezifische Formgestaltung: „31 theatralische Abenteuer“ 109 2.2. „Zeit bleibt, Raum fließt“: andere Möglichkeiten der Erkenntnis von Zeit und Raum 113 a. lebendes Bild/lebende Bilder 114 b. Wechselbeziehung zwischen Bewegung und Stillstand 116 2.3. „mit den Augen hören, mit den Ohren sehen“: Szenen mit neuer Erfahrung der Sinneswahrnehmung 117 a. mit den Augen hören: Optisches hörbar machen 117 b. mit den Ohren sehen: Akustisches sichtbar machen 123 c. Inkongruenz zwischen den Figuren auf der Bühne und hinter der Szene 127

3. Don Quijote de la Mancha: neue Erfahrung der Sinneswahrnehmung durch Assoziation und Dissoziation der verschiedenen theatralischen Medien 128

IV. Chief Joseph (2001-2003/2005) 130 133 1. Entwurf des Librettos und des Theaters

1.1. Figuren zwischen Geschichten und zwischen Kulturen 133 a. Chief Joseph 134 b. Zwei Touristen 142 c. Schlüsselkonzept: Begegnung der beiden Touristen mit Chief Joseph 145 1.2. Formplan: Die sechs verschiedenen Szenenarten 148 a. Leer-Szene 150 b. Klage 153 c. Indian-Song 155 d. Szene 157 e. Rezitativ 159 f. Rotation 160 g. Der Umgang des Komponisten mit den Materialien und die Veränderung der Rolle des Zuhörers 168

2. Vermittlung zwischen dem Eigenen und dem Fremden in musikalischen Dimensionen

III

170

2.1. Mikrotonalität: „Die gegenstrebige Fügung“ 170 2.2. Polymetrik auf regelmäßigem rhythmischem Muster 178 2.3. Der Einsatz des fremden Instruments Ajeng 182

3. Chief Joseph: kompositorische Reflexion der Vermittlung von unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen Kulturen 186

Schluss 193

Anhang 197

Literaturverzeichnis 200

IV

Zusammenfassung

In der vorliegenden Dissertation werden die drei Musiktheaterwerke des deutschen

Komponisten Hans Zender (geb. 1936) erforscht, der beim Komponieren das ästhetische

Ideal des „komplexen Pluralismus“ als Auseinandersetzung der Gegensätze, sogar der

Widersprüche anstrebt. Die drei Werke Stephen Climax (1979/1984), Don Quijote de la

Mancha. 31 theatralische Abenteuer (1989-91/1994) und Chief Joseph (2001-03/2005) setzen den Anspruch des „komplexen Pluralismus“ mit unterschiedlichen Schwerpunkten bzw. historischen, multimedialen und kulturellen Vielfalten um. In Stephen Climax wird durch Überlagerung der verschiedensten szenisch-musikalischen Materialien aus unterschiedlichen Epochen die Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen bzw.

Affekte verwirklicht. Don Quijote de la Mancha zeigt, dass das Theater durch Assoziation und Dissoziation der verschiedenen theatralischen Mittel die Komplexität der

Sinneswahrnehmungen öffnet und dadurch dem Publikum neue

Wahrnehmungserfahrungen ermöglicht. Chief Joseph ist eine kompositorische Reflexion des Pluralismus, der unterschiedliche Zeiten und verschiedene Kulturen vermittelt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Zenders Musiktheaterstücke einen

Experimentierraum darstellen, in dem aus Differenzen und Widersprüchen anstelle von

Geschlossenheit verschiedene Möglichkeiten des Archetyps der modernen Kunst hergeleitet werden. Es ist die musikalische Suche nach einem Weg, die postmoderne

Gegenwart auszudrücken, und die kompositorische Antwort auf die Fragestellung der

Moderne, deren Sphäre bis zum Ende der Grenze untersucht wird.

V

Einleitung

1. Themenstellung: Hans Zender und seine Musiktheaterstücke. Warum und wie verbinden sie sich mit dem Begriff Pluralismus?

Die 60. Frühjahrstagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) fand 2006 unter dem Stichwort „Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik“ statt.1 Bezüglich der Standortbestimmung der Gegenwartsmusik und zugleich der Möglichkeiten ihrer adäquaten Vermittlung wurde die aktuell maßgebliche Frage gestellt, ob das Phänomen des Nebeneinanderbestehens vieler unterschiedlicher Strömungen in unserer zeitgenössischen Musik als die durch Jürgen Habermas zum Schlagwort gewordene „Neue Unübersichtlichkeit“ 2 oder unter dem Begriff des Pluralismus als ein denkbarer Weg gelten soll. Die daraus folgenden Themenblöcke sind interkulturelle Perspektiven, Verhältnis im Bezug auf die musikalische Tradition, mikrotonale Ansätze und Grenzgänge zwischen verschiedenen Musikrichtungen. In diesem Zusammenhang wurde hauptsächlich ein deutscher Komponist erwähnt: Hans Zender (geb. 1936), der im Jahr 2006 seinen 70. Geburtstag feierte. Behandelt wurde auf dieser Tagung seine kompositorisch-ästhetisch verschiedenen Dimensionen mit Blick auf pluralistische Aspekte, insbesondere in seinem mikrotonalen Konzept einer „gegenstrebigen Harmonik“ 3 und in seinem kompositorischen Schaffen, wie z. B. dem mit interkulturellen Perspektiven grundierten Musiktheaterwerk Chief Joseph.

Auf dem Symposium, das im Herbst desselben Jahres 2006 von der Grazer Kunstuniversität veranstaltet wurde, ist Zender einer der relevanten Komponisten in der Diskussion über die Interkulturalität der Gegenwartsmusik. Unter dem Titel „Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz“4 behandelte die Konferenz Themen wie die Ausbreitung der

1 Die Vorträge der Tagung wurden 2007 von Hiekel herausgegeben, davon handelt die vorliegende Arbeit: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 47), Mainz 2007. 2 Der Titel des Band V der kleineren politischen Schriften des deutschen Philosophen Jürgen Habermas. Vgl. Jürgen Harbermas: Die Neue Unübersichtlichkeit, Bd. 5, Berlin 1985. 3 Der Hauptgedanke Zenders über die Harmonik und das Tonsystem. Er bezieht sich auf „die gegenstrebige Fügung“ zwischen Leier und Bogen von Heraklit, die eine Achse der kompositorisch- ästhetischen Gedanken von Zender ist. Siehe ausführlicher Kapitel II. 1. 2. (S. 46 ff.) und Kapitel IV. 2. 1. (S. 181.) Mikrotonalität in der vorliegenden Arbeit. 4 Der Leiter des Symposiums, Christian Utz, veröffentlichte den Sammelband der Vorträge unter 1

wirtschaftlichen kulturellen Globalisierung und den daraus hergeleiteten innerlichen Wandel der Kunstmusik sowie die neue interkulturelle Fragestellung. In den Vorträgen wurden besonders Spuren der intensiven interkulturellen Auseinandersetzung beim Komponieren Zenders gesucht und gezeigt, dass die außereuropäischen (bes. ostasiatischen) Impulse in seinen Werken zumindest konzeptionell nicht auf Homogenisierung oder Integration abzielen, sondern auf Aspekte, die desintegrierbar bleiben. Auch Zender selbst erklärte als Komponist seines dritten Musiktheaterwerks Chief Joseph (2001-2003/2005) und dessen Thema „die Konfrontation des Eigenen und Fremden“, in dem es nicht nur um künstlerische bzw. kompositorische Technik von heterogenen Materialien geht, sondern auch um den Umgang mit dem Fremden und dem Eigenen.

Im darauf folgenden Jahr 2007 behandelte das Symposium im Akademie-Gebäude in Berlin den Komponisten Hans Zender, der seit 1990 ein Mitglied der Akademie der Künste Berlin ist. Die Tagung beschäftigte sich einen ganzen Tag lang mit dem Komponisten Zender, seinen kompositorischen Grundüberlegungen und einigen seiner Werke: Der Eröffnungsvortrag betitelte die Gesamtdarstellung des künstlerischen Werkes Zenders mit dem Ausdruck „Vielstimmig in sich“5 (Hiekel); in anderen Referaten wurden verschiedene Aspekte behandelt wie der Standpunkt der Philosophie Zenders (Richard Klein), die kompositorischen Resultate der Hölderlin-Lektüre (Ingrid Allwardt) sowie die theoretische Grundlegung einer neuen Harmonik (Ulrich Mosch). Der Beitrag von Dörte Schmidt über Zenders Musiktheaterwerk Chief Joseph muss hier im Zusammenhang mit dem Thema der vorliegenden Arbeit als maßgeblich angeführt werden.

In den drei Tagungsberichten dominieren Termini wie „Pluralismus“, „(kulturelle) Differenz“ und „vielstimmig“. Es wird darauf hingewiesen: 1. Der Terminus Pluralismus wird im kompositorischen Schaffen Zenders anstatt der Unübersichtlichkeit als das grundlegende produktive Prinzip verwendet. 2. In seiner kulturellen Stellung sind solche Wörter wie Differenz, Divergenz und Heterogenität viel bedeutender als z. B. Homogenität oder Integration. 3. Seine kompositorischen

demselben Titel: Christian Utz (Hrsg.), Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz (= Berichte des Symposions an der Kunstuniversität Graz, 17-18. 10. 2006), Saarbrücken 2007. 5 Die Beiträge des Symposiums wurden nachher unter diesem Titel „Vielstimmig in sich“ in einem Sammelband veröffentlicht: Werner Grünzweig, Jörn Peter Hiekel u. Anouk Jeschke (Hrsg.), Hans Zender. Vielstimmig in sich, (= Archive zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Bd. 12), Berlin 2008. 2

Grundüberlegungen und sein Schaffen sind bereits vielstimmig in sich. Daher soll die Annäherung der Forschung an dieses Thema konstitutiv vielsichtig und mehrseitig sein sowie mehrdimensionale und vielfältige Forschungsergebnisse herleiten.

Im allgemeinen gilt Hans Zender zweifellos als repräsentativer Komponist, dessen Name im Zusammenhang mit verschiedenen Möglichkeiten eines pluralistischen Komponierens vorrangig genannt wird. In Zenders Oeuvre, das die Auseinandersetzung mit fast allen Gattungen zeigt, nimmt das Genre des höchst komplexen Musiktheaterwerks eine Sonderstellung ein.6 Bisher gibt es von ihm insgesamt drei Musiktheaterstücke, wobei jeweils fast ein Jahrzehnt zwischen ihrer Komposition verging: Ende der 70er Jahre Stephen Climax (1979/1984), Ende der 80er bis Anfang der 90er Jahre Don Quijote de la Mancha. 31 theatralische Abenteuer (1989-1991/1994) und kurz nach der Jahrtausendwende Chief Joseph (2001-2003/2005). Es ist als die kompositorische Reflexion der Frage, mit der sich der Komponist derzeit am meisten beschäftigte, zu interpretieren: Die Zeitphilosophie der „Kugelgestalt der Zeit“7 und die Oper Die Soldaten (1965) von Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) beeinflußten Zender in den 60er und 70er Jahren massiv und führten zu seinen Überlegungen über die Anwendung der Zitat- Technik und der Collage-Form in der Musik. Aus diesen Erwägungen ergab sich sein erstes Bühnenstück Stephen Climax. Der Einfluss des Komponisten und die Besinnung auf die Diversifizierung der theatralischen Medien in den 80er Jahren fanden sich in dem zweiten Theaterstück Don Quijote de la Mancha. Mit den kompositorisch-theatralischen Resultaten beider Stücken spiegelt das letzte Musiktheaterwerk Zenders Chief Joseph sein Interesse an der seit den 90er Jahren zunehmenden interkulturellen Wirkung durch die häufigen Kontakte mit anderen Kulturen wider.

Das Musiktheater ist somit für Zender das Mittel der Wahl, um verschiedene Antworten auf die Frage, wie wir die Welt wahrnehmen und erkennen, zu finden. Seine Bühnenstücke sind daher als ein Experimentierraum zu verstehen, der die vom Komponisten wahrgenommene und erkannte mannigfaltige Welt unter dem

6 Vgl. Jörn Peter Hiekel: „Zender, Hans“, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Abk. MGG im Folgenden), Personenteil 17, Kassel 2007, Sp. 1429-1432. 7 Der Schlüsselbegriff Zimmermanns, der seine philosophischen Gedanken über Zeit und Zeitbewusstsein zeigt (s. Anm. 116). 3

Pluralismus adäquat und sinnvoll entfaltet.8

In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die Eigenschaften seiner Musiktheaterwerke unter dem Begriff des „komplexen Pluralismus“ zusammenzufassen. Dieses von mir selbst kreierte Wort kombiniert die in Schriften über den Komponisten Zender und sein kompositorisches Schaffen am häufigsten verwendeten zwei Stichwörter „komplex“9 und „Pluralismus“. Der komplexe Pluralismus bietet sich daher als geeignete Bezeichnung an, um sowohl den Reichtum der verschiedenen szenisch-musikalischen Materialien in Zenders Musiktheaterwerken zusammenzufassen, als auch die Mannnigfaltigkeit der vielen kompositorischen Verfahrensweisen der Zusammensetzung und Öffnung von Geschichte und Kultur in seinen Musiktheaterwerken treffend zu bezeichnen.

Der Pluralismus ist begrifflich nicht unproblematisch. Aus dem lat. pluralis (eine Vielzahl betreffend) gebildet, bezeichnet er im weitesten Sinne die Annahme von Heterogenität, Verschiedenheit und Prinzipienvielfalt als die Homogenität und Einheitlichkeit einer Welt, die von einem Prinzip regiert wird. In der Politik, Argumentations- und Wissenschaftstheorie wurde der Terminus Pluralismus zur Kennzeichnung bestimmter Diskussions- und Entscheidungsprozesse sowie der sie regelnden Institutionen und Normen benutzt.10 Im philosophischen Bereich wird er einerseits von Jürgen Habermas (geb. 1929) unter dem Schlagwort „neue Unübersichtlichkeit“ als Kritik unserer Gegenwartskultur verwendet. Andererseits benutzten einige Philosophen wie Jean-François Lyotard (1924-1998), Albrecht Wellmer (geb. 1933) und Wolfgang Welsch (geb. 1946) diesen Begriff, um die Postmoderne positiv zu akzeptieren.11

Die Diskussionen über den Pluralismus in der Musikwissenschaft12 sollten immer

8 Vgl. Dörte Schmidt: „Wegekarte für Orpheus? Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, in: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierung. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, S. 151-160. 9 Synonym zu „vielschichtig, viele verschiedene Dinge umfassend“. Das Wort unterscheidet sich von „kompliziert, schwierig, zu durchschauen“. 10 Siehe ausführlicher die folgenden Lexika: Hans Jörg Sandkühler: „Pluralismus“, in: ders. (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, S. 1256-1265. und Friedrich Kambartel: „Pluralismus“, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 6, 2. Auf., Stuttgart 2016, S. 353-355. 11 Vgl. Jean François Lyotard: Das postmoderne Wissen (Übersetzung von Otto Pfersmann aus der Originalausgabe, La condition postmoderne), Wien 1993. & Wolfgang Welsch: Unsere Postmoderne Moderne, 7. Aufl., Berlin 2008. 12 Zu den musikwissenschaftlichen Beiträgen sind als relevante Untersuchungen zu nennen: Elmar Budde: „Der Pluralismus der Moderne und/oder die Postmoderne“, & Otto Kolleritsch: „Der Fall „Postmoderne“ in der Musik. Wiederaneignung und Neubestimmung“, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.), 4

im Zusammenhang mit der Postmoderne-Debatte gesehen werden, da der Pluralismus zwar nicht der einzige Begriff der Postmoderne, aber ein Kernmerkmal ihres essenziellen Charakters ist. Aus Sicht des vorherrschenden eklektischen Standpunkts, die Postmoderne als Fortsetzung der Moderne zu betrachten, wurde der Begriff Pluralismus seit den 1980er Jahren hauptsächlich verwendet, um nicht nur die aktuellen verschiedenen musikalischen Strömungen zu beschreiben, sondern auch als Bezeichnung eines grundsätzlichen Konstruktionsprinzips innerhalb eines Werkes. In einem Artikel über die Postmoderne in den umfangreichen Musiklexika der Welt wie Die Musik in Geschichte und Gegenwart ist der Pluralismus mit den Terminologien wie Zitattechnik und Polystilistik ein Schlagwort, das auf die Möglichkeit der Integration traditioneller Elemente hinweist. Komponisten wie B. A. Zimmermann und Alfred Schnittke wurden in dieser Kategorie des Pluralismus als Erkennungsmerkmal postmodernen Komponierens behandelt. Der Komponist Hans Zender wurde allerdings ausschließlich in Bezug auf die musikalische Tradition erwähnt.13 Es drängt sich der Gedanke auf, dass die höchst komplexen Eigenschaften der Musiktheaterwerke Zenders nähere Betrachtung verdienen, es jedoch nur wenig wissenschaftliche Forschung dazu gibt. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, aus dem Dreiecksverhältnis des Künstlers Hans Zender, dem Forschungsgegenstand seiner Musiktheaterwerke und des Forschungs-grundprinzips des komplexen Pluralismus weitere produktive Diskurse herzuleiten.

Wiederaneignung und Neubestimmung. Der Fall „Postmoderne“ in der Musik, (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 26), Wien·Graz 1993; Bayerische Akademie der schönen Künste (Hrsg.), Jahrbuch 4, Schaftlach 1990. 13 Jörn Peter Hiekel: „Postmoderne“, in: MGG, Sachteil Bd. 17. Supplement, Sp. 697-706. 5

2. Stand der Forschung

Die Forschungslage zu Zenders Musiktheaterwerken ist mittlerweile als gut zu bezeichnen. Die allgemeinen Informationen über den Komponisten – Biografie, philosophisch-ästhetische Gedanken sowie Einführung in das Gesamtwerk (Oeuvre) – stehen in den folgenden Lexika zur Verfügung: in MGG von Hiekel14 und in KdG von Wilfried Gruhn15 . Die gesamten Materialien stehen im Zender-Archiv des Musikarchivs der Akademie der Künste Berlin zur Verfügung. Dort erhält man sowohl die Primärliteraturen Zenders wie Librettos, Entwürfe und Skizzen, Notenhandschriften und Partituren sowie Manuskripte und Drucke von Artikeln, Aufsätzen, Reden, Korrespondenz und Gesprächen mit anderen Komponisten und Institutionen, Einführungen in seine Werke, Programmhefte der (Ur-) aufführungen, Rezensionen sowie Tonaufnahmen. 16 Die veröffentlichten Partituren der drei Theaterwerke werden zu Forschungszwecken von den Verlagen ausgeliehen: Stephen Climax von Universal, Don Quijote de la Mancha und Chief Joseph von Breitkopf & Härtel.

Eine Gesamtausgabe der Aufsätze von Hans Zender liegt vor: In dem Buch Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975-2003, das von Hiekel herausgegeben wurde, werden fast alle seiner bis 2003 erschienenen Schriften nach thematischen Gesichtspunkten in acht Kategorien eingeordnet. 17 Es enthält nicht nur die Einführungen seiner Kompositionen und die Ausformulierung seiner kompositorischen Konzepte wie „Gegenstrebige Harmonik“, sondern auch Texte zu ästhetischen und philosophischen Fragen wie nach der musikalischen Tradition oder Wahrnehmung etc, sowie Beiträge über namhafte Zeitgenossen und verschiedene Komponisten früherer Zeiten. Daher versteht sich das Buch als umfassende Basis für eine intensive Auseinandersetzung mit dem facettenreichen kompositorischen Schaffen und der vielschichtigen Gedankenwelt Zenders. Bereits

14 s. Anm. 6. 15 Wilfried Gruhn: „Hans Zender“, in: Hans Werner Heister (Hrsg.), Komponisten der Gegenwart, Bd. 12, München 1992, S. 1-14. 16 Zu Stephen Climax gibt es Textfassungen mit Überarbeitungen vom Komponisten selbst und ca. 170 Seiten Skizzen mit Korrektur- u. Fehlerliste; zu Don Quijote de la Mancha Textentwürfe, Abbildungen, Ablaufskizzen, Korrekturen, Besetzungsliste, Spielanweisungen, Angaben zu Aufstellung sowie Partituren der beiden Fassungen (1989-1991 und 1994); zu Chief Joseph Texte mit der alternativen Version, ca. 80 S. Skizzen und Partituren, auch Besetzungsliste, Spielanweisungen, Angaben zu Spieldauer etc. Siehe das von der Akademie publizierte Inventar, in: W. Grünzweig, J. P. Hiekel und A. Jeschke (Hrsg.): Hans Zender. Vielstimmig in sich, (= Archive zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts), Bd. 12, Hofheim 2008, S. 99ff. 17 Jörn Peter Hiekel (Hrsg.): Hans Zender. Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975-2003, 2004. 6

zweimal zuvor hatte Zender seine umfangreichen Aufsatzsammlungen publiziert: 1991 Happy New Ears18 und 1998 Wir steigen niemals in denselben Fluß19. Die Texte der beiden wurden später in den Sammelband Die Sinne denken aufgenommen.

Zu den Musiktheaterstücken Hans Zenders gibt es aus musikwissenschaftlichem Blickwinkel lediglich unzureichende Untersuchungen: Erhebliche Hilfe für die Annäherung an das Thema bieten die zwei Arbeiten der Musikwissenschaftlerin Dörte Schmidt, die die drei Bühnenwerke Zenders aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. In einer ihrer Arbeiten untersuchte sie die Frage der Repräsentation und ihre Bedeutung in Zenders drei Opern (Schmidt, 200820). In ihrem zweiten Artikel betonte sie, dass das Stück Chief Joseph als kompositorischer Beitrag zu der Diskussion über die kulturellen Identitäten zu sehen ist, die eng mit der Frage zusammenhängt, wie wir es in Zeiten der globalen Vernetzung mit der Geschichte halten: „Über die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten kultureller Identitätsstiftung verbinden sich gerade bei ihm Geschichte, Kultur und essenzielle Ganzheitsmythen in aufschlussreicher Weise.“21

Hinzu kommen einige Studien, die die jüngsten Forschungsergebnisse widerspiegeln: Mit der zentralen Frage der vorliegenden Arbeit, wie unterschiedlich und wie komplex die drei Musiktheaterwerke Zenders konstruiert werden, befasste sich Jörn Peter Hiekel umfassend. In seinem 2013 publizierten Aufsatz zeigte er, dass Zender in all seinen Theaterstücken den Pluralismus aus Vielsichtig- und Widersprüchlichkeiten auf ebenso komplexe wie originelle Weise theatralisch und kompositorisch verwirklicht (Hiekel, 201322). In seiner anderen Studie geht es um Tendenzen kultureller Entgrenzung in der Musik Zenders. Hiekels grundlegende These betont die aus Differenzen und Widersprüchen entstehende produktive Kraft, wodurch die zwei Opern Don Quijote de la Mancha und Chief Joseph als Reflexion

18 Hans Zender: Happy New Ears. Das Abenteuer, Musik zu hören, Freiburg 1991. 19 Hans Zender: Wir steigen niemals in denselben Fluß: wie Musikhören sich wandelt, Freiburg 1998. 20 Dörte Schmidt: „Die Bilder werden neu entdeckt, aber als Zeichen, die der Vergangenheit angehören. Zenders Musiktheater und die Instanz der Geschichte, in: Vielstimmig in sich (s. Anm. 5), S. 77-90. 21 Dörte Schmidt: „Wegekarte für Orpheus? Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, in: Orientierung. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik (s. Anm. 1), S. 159-160. 22 Jörn Peter Hiekel: „Der logische Verstand ist unfähig, die Welt als Gesamtheit zu erfassen. Die Ausfaltung von Widersprüchlichkeiten in Hans Zenders Musiktheaterwerken“, in: Ulrich Tadday (Hrsg.), Musik-Konzepte Neue Folge. Sonderband 2013. Hans Zender, München 2013, S. 70-91. 7

der interkulturellen Konstellationen interpretiert werden (Hiekel, 2008 23 ). In seinem 2007 erschienenen Artikel suchte er unter dem Verständnis der Postmoderne die Spuren des konstruktiven Pluralismus in Zenders kompositorischem Schaffen (Hiekel, 200724).

Die erste umfangreiche Untersuchung über das erste Musiktheaterwerk Zenders stammt von Volker Wacker. Die Wichtigkeit dieser Arbeit ergibt sich aus der Tatsache, dass Wacker Collage, Zitate und Simultaneität nicht auf das Libretto oder auf den szenischen Bereich eingrenzte, sondern sie in den musikalischen Stilen und in den kompositorischen Techniken auch einsetzte (Wacker, 198825).

Einige Sammelbände zum Komponisten und zum Thema sollen hier auf jeden Fall erwähnt werden: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik26 enthält einige wichtige Beiträge, die mit dem Thema der vorliegenden Arbeit eng zusammenhängen: Im ersten Artikel äußerte Hiekel, dass der Begriff des Pluralismus als zentrale Kategorie gilt. Seiner Ansicht nach gehören die Komponisten – Alfred Schnittke, Bernd Alois Zimmermann und Hans Zender – zu dieser Kategorie des Musikbereichs. Im Gespräch tauscht Hiekel mit Zender Gedanken über die Geschichtsauffassung, den Unterschied des Begriffs Pluralismus bei Zimmermann und Zender, „Collage-Stück“ wie Hölderlin-lesen und Chief Joseph etc., aus. Siegfried Mauser und Frank Gerhardt untersuchten Zenders kompositorische Technik und harmonisches Ordnungssystem „Gegenstrebige Harmonik“. In seiner Arbeit betrachtet Rolf Elberfeld aus kulturphilosophischer Perspektive Zenders kompositorisches Schaffen als einen musikalischen Beitrag, neue Formen interkultureller Erfahrung zu kultivieren.

Der Sammelband Hans Zender. Vielstimmig in sich27, das vom Archiv der Künste Berlin veröffentlicht wurde, schließt viele verschiedene Themen über den Komponisten und seine musikalisch-kompositorischen Arbeiten ein: Der Artikel von Werner Grünzweig ist auf die Vorstellung Hans Zenders als Dirigent,

23 Jörn Peter Hiekel: „Vielstimmig in sich. Zu einigen Kernaspekten in Hans Zenders Schaffen“, in: Vielstimmig in sich, S. 13-28. 24 Jörn Peter Hiekel: „Orientierungsversuche in unübersichtlichen Zeiten“, in: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, S. 10-23. 25 Volker Wacker: „Hans Zenders Oper Stephen Climax. Betrachtungen und Aspekte“, in: Peter Petersen (Hrsg.), Musiktheater im 20. Jahrhundert, (=Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 10), Laaber 1988, S. 239-258. 26 s. Anm. 1. 27 s. Anm. 5. 8

Komponist und Musikschriftsteller fokussiert. Hiekel erläutert die Gesamtdarstellung des künstlerischen Werks Zenders im Bezug auf seine philosophischen Eigenschaften.

Ein Bericht des Symposiums, Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz28, wurde als eine der Schriftreihen der Kunstuniversität Graz von Christian Utz herausgegeben. Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, welche Relevanz Prozesse globaler kultureller Homogenisierung und Differenzierung für die gegenwärtige Hervorbringung von Musik weltweit haben. Im Zentrum stand Hans Zender als ein Künstler, der mit seiner Musik und seinem Denken die Debatte zur musikalischen Interkulturalität in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig bereicherte. Dazu trugen die Studien von Utz, Hiekel und des Komponisten selbst bei.29

Der von Ulrich Tadday herausgegebene Sammelband Hans Zender, Musik- Konzepte Neue Folge Sonderband 2013 30 zeigte erneut angesammelte Forschungsresultate zu diesem Thema. Christian Grüny bezeichnet in seinem Artikel Zender aufgrund der Wechselwirkung von Spielen, Schreiben und Denken als einen synthetischen Musiker. Der 2013 erschienene Aufsatz von Hiekel, in dem der Autor die drei Musiktheaterwerke Zenders unter der Perspektive des Pluralismus darlegte, zählt sicherlich zu den Meilensteinen der Forschung.

Zahlreiche Rezensionen über die drei Musiktheaterwerke Zenders spielen eine Rolle für die Forschung über dieses Thema: Teils sind sie relativ kurze Kritiken über die (Ur-)Aufführungspraxis, teils bieten sie die Grundlage für die nächsten wissenschaftlichen Diskurse. Etliche Gespräche mit anderen 31 erlauben die unmittelbare Annäherung an seine verschiedenen Blickwinkel und Haltungen

28 s. Anm. 4. 29 Hierzu gehörten die angeführten bedeutsamen Beiträge: Christian Utz, „Zur kompositorischen Relevanz kultureller Differenz. Historische und ästhetische Perspektiven“, Jörn Peter Hiekel: „Erstaunen und Widersprüchlichkeit. Tendenzen kultureller Entgrenzung in der Musik von Hans Zender“, Hans Zender, „Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph“ 30 s. Anm. 20. 31 wie zum Beispiel „Happy New Ears – Utopie jenseits der Stilsicherheit.“ Hans Zender im Gespräch mit Lydia Jeschke, in: Neue Zeitschrift für Musik 172 (2011), Heft 6, S. 10-13.; „Prägungen im Pluralismus.“ Hans Zender im Gespräch mit Jörn Peter Hiekel, in: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, S. 130-137.; „Orientierung und Kriterien“ Hans Zender im Gespräch mit Alexander Stankovski, in: Österreichische Musikzeitschrift, Vol. 52, Issue 6 (1997), S. 10-11.; “Was ist experimentelles Musiktheater?“ Mitglieder des befragen Hans Zender, in: Positionen. Texte zur aktuellen Musik, Heft 22 (1995), S. 17-20. usw. Ausführlicher siehe Literaturliste. 9

bezüglich der heutigen Zeit und Welt, sein kompositorisches Schaffen.

3. Orientierung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit soll aufzeigen, auf welche Weise in den Musiktheaterwerken Zenders der Pluralismus als charakterisierte Eigenschaft verwirklicht wird. Unzweifelhaft ist der Pluralismus im großen philosophischen Rahmen der Postmoderne zwar nicht das einzige Prinzip, aber doch ein Meilenstein. Sie soll belegen, dass in Zenders Musiktheater der Pluralismus komplex konstruiert wird: über die Bedeutung im Sinne von Integration der musikalisch- kompositorischen Materialien hinaus bis hin zur Art und Weise, wie mit musikalischen Traditionen, theatralischen Medien und heterogenen Kulturen umgegangen wird.

Die daraus resultierenden Problemfelder bestimmen den Aufbau der Arbeit. Sie gliedert sich in vier große Kapitel. Im ersten Kapitel gebe ich einen Einblick in Zenders philosophisch-ästhetische Gedankenwelt. Ich werde darlegen, dass der Begriff des Pluralismus nicht nur auf die musikalisch-kompositorische Technik Zenders zutrifft, sondern auch als grundlegend für sein Schaffen und seine Selbstreflexion, seine Auffassung von Zeit und ästhetischen Gedanken gilt. Der erste Teil des Kapitel Eins behandelt Hans Zender als einen synthetischen Musiker mit den drei unterschiedlichen Musiktätigkeiten: Dirigieren, Komponieren und Musikkritik. Er beteiligte sich am gesamten musikalischen Vorgang von Produktion, Reproduktion und Rezeption. Es wird ausführlich erklärt, in welchem Zusammenhang die Erfahrungen des Dirigenten als Reproduktionsform von bereits hergestellten Werken und die kritischen Gedanken als spezifische Rezeptionsform der Musik mit der kreativen Komposition als primär produktive Arbeit stehen, wie die drei Musiktätigkeitsfelder einander inspirieren. Dabei wird seine Selbstreflexion als polyphones Subjekt für kulturelle Identität behandelt. Im zweiten Teil des ersten Kapitels geht es um die Zeitauffassung und die Weltanschauung Zenders. Zenders Ansatz, nach dem sich der Pluralismus als essenzielles Prinzip beim Komponieren unserer postmodernen Situation akzentuiert, erweitert sich im Sinne von Welsch zum grundsätzlichen Pluralismus, der „zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und

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demselben Werk, also interferentiell“32 ist. In Anlehnung daran wird hier erläutert, dass der Pluralismus bei Zender nicht als Orientierungslosigkeit oder Unübersichtlichkeit, sondern als produktive Kraft entstehend aus verschiedenen, sogar gegensätzlichen Dingen zu verstehen ist. Daran zeigt sich, wie der Pluralismus anstelle von Einheit oder Geschlossenheit eine konkrete Grundregel für die Konstruktion eines Werks geworden ist.

Die folgenden drei Kapitel beschäftigen sich jeweils mit den einzelnen Stücken. Zunächst werde ich die Librettos und Partituren mit Blick auf die gesamte Form und Struktur jedes Musiktheaterwerks analysieren. Dadurch möchte ich nicht nur die Charaktere der Figuren, Besonderheiten jeder Szene und Spezifikum der Kompositionstechnik sowie der musikalischen Formen und Stile, sondern auch verschiedene Ansichten und Verhalten mit unterschiedlichen Schwerpunkten von Zender als Librettist und Komponist aufzeigen. Auf Grundlage dieser Analyseergebnisse stelle ich an das Ende jedes Kapitels ein kleines Fazit für weitere ästhetische Interpretationen oder Diskussionen jedes Stückes.

Im zweiten Kapitel steht Zenders erstes Bühnenwerk Stephen Climax im Mittelpunkt. Unter dem starken Einfluss der Zeit-Philosophie der „Kugelgestalt der Zeit“ von Zimmermann und dessen ersten Oper Die Soldaten wurde das Stück Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre komponiert. Aus den voneinander völlig unabhängigen Handlungssträngen – Byzantinisches Christentum von und Ulysses von – wurde das Libretto vom Komponisten selbst umgeschrieben. Die vorliegende Arbeit betrachtet dieses Werk unter der folgenden Fragestellung: Wie verhalten sich die Hauptrollen Stephen und Simeon aus den zwei Romanen mit unterschiedlichen historischen Hintergründen und Themen? Verbinden oder konfrontieren sie sich miteinander? Kann der Kontrast zwischen den Figuren auf den musikalischen Bereich ebenso zutreffen? Wenn ja, wie? Es ist bereits bekannt, dass in Stephen Climax die serielle Kompositionstechnik und die Zitate der verschiedenen Musikabschnitte gleichlaufend verwendet wurden. Es ist allerdings fraglich, ob das als Weiterentwicklung der pluralistischen Oper im Sinne von Zimmermann zu betrachten ist. Zenders Vorhaben war, Form und Stil des Werks über die Integration der szenisch-musikalischen Materialien hinaus zur

32 Wolfgang Welsch: „Asynchronien. Ein Schlüssel zum Verständnis der Diskussion um Moderne und Postmoderne“, in: Bayerischen Akademie der Schönen Künste (Hrsg.), Jahrbuch 4 (1990), S. 347-367, hier S. 362. 11

Simultaneität der Affekte fortzuentwickeln.

Das dritte Kapitel der Arbeit handelt vom zweiten Bühnenwerk Zenders, Don Quijote de la Mancha. 31 theatralische Abenteuer. Der unter demselben Titel weltberühmte Roman Cervantes wurde vom Komponisten für die Bühne neu konzipiert. Die 31 einzelnen Szenen, in denen die fünf Grundelemente – Sprache, Gesang, Instrumentalspiel, Bild und Aktion – jeweils anders kombiniert werden, stehen – wie der Untertitel andeutet – für Experimente mit den theatralischen Formen. Hier wird das Theater zu einem spezifischen Raum für neue künstlerische Erfahrungen der sinnlichen Wahrnehmungen. Es wird untersucht, welche Konsequenzen die Assoziation und die Dissoziation der fünf Grundelemente nach sich ziehen, wie sich die Wahrnehmung der optischen und akustischen Empfindung verändern und ob das allgemeine Vorurteil „Zeit fließt, Raum bleibt“ durch das Theater umgesetzt werden kann. Durch die szenisch-musikalische Analyse und Interpretation wird zuletzt aufgezeigt, dass der komplexe Zusammenhang von Augen- und Ohrenwelt, Zeit und Raum in Don Quijote de la Mancha an verschiedenen Stellen realisiert wird.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Zenders letztem Theaterstück Chief Joseph. Das zuletzt komponierte Musiktheater thematisiert die „Konfrontation zwischen dem Eigenen und dem Fremden“ vor dem Hintergrund realer historischer Ereignisse: dem Kampf zwischen Indianern und Weißen auf dem neuen Kontinent Ende des 19. Jahrhunderts. Im Bereich der theatralischen Form erscheint Chief Joseph eine Fortsetzung der beiden Stücke Stephen Climax und Don Quijote de la Mancha: Die insgesamt 37 einzelnen Szenen in den drei Akten haben jeweils eigene szenisch-musikalische Eigenschaften. Als Konsequenz ergibt sich formell ein „Mixtum compositum“, in dem sich unterschiedliche Zeiten, verschiedene Kulturen und differente, sogar entgegengesetzte Aspekte hin und her bewegen. Bezüglich der Besonderheit des theatralischen Formkonzepts fällt Zenders Strategie auf, sich des Themas des Stücks anzunähern: Der Komponist benutzt im Stück die Hauptfigur Chief Joseph als Repräsentant der Autorenstimme und überträgt ihr die Aufgabe, die Intention des Komponisten zu vermitteln. Aus besonderem Interesse an Zenders kultureller Perspektive wird die folgende Frage gestellt: In welchem Verhältnis stehen die beiden Kulturen der Indianer und der Weißen mit eigener Sprache, Konvention, Kultur und System zueinander? An welchen Stellen entstehen Reibungsfläche und worüber sind sie sich uneins? Welche Punkte waren nach der 12

Konfrontation oder der Auseinandersetzung bereinigt? Was hat sich verändert, was bleibt als unlösbar übrig? Wie erweitert sich das Thema über diese beiden Kulturen hinaus in die weltgeschichtliche Problemstellung etc.

Zum Schluss konkretisiert sich die Antwort auf die wesentliche Frage, wie aus den kontrastierenden Gegensätzen in den drei Musiktheaterwerke Zenders eine neue produktive Kraft entstehen kann. Es geht nicht nur um das Nebeneinanderstellen der Materialien, sondern auch um die Komplexität verschiedener Schichten und Dimensionen bei Verfahrensweise, Perspektive und Verhalten. Weiter wird diskutiert, wie die drei Musiktheaterwerke jeweils diese Komplexität szenisch- musikalisch ausführen, und letztlich bestätigt, dass die Reflexion der heterogenen realen Welt bei Zender der Kern der Moderne ist.

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I. Zugang zum ästhetischen Gedanken in Zenders Kompositionen

1. Hans Zender: ein synthetischer Musiker mit pluralistischem Ich

Hans Zender ist nach Bernd Alois Zimmermann einer der Post-60er-Generation Komponisten, die sich in der Musik unter dem Begriff Pluralismus einen Namen gemacht haben. Das pluralistische Denken als ästhetisch-musikalisches Prinzip bildet bei ihm die grundlegende Prämisse für seine verschiedenen musikalischen Tätigkeiten, seine Identität und Weltanschauung als Musiker. Vor der gründlichen Untersuchung, wie dieses pluralistische Denken und Prinzip in seinen Werken und seinem Komponieren funktioniert, legt dieses Kapitel den Fokus auf die Person Zenders als Musiker. Spuren des Pluralismus sind nicht nur in seiner Musik, sondern auch in seiner Biographie und seinem grundlegenden philosophisch- ästhetischen Gedanken über Musik zu finden. Schließlich wird nachgewiesen, dass der Pluralismus bzw. die pluralistische Ästhetik und Technik beim Komponieren Zenders nicht als Frage nach der Auswahl von vielen Materialien gilt, sondern als notwendige Eigenschaft/Beschaffenheit, die sich aus seinem Wesen ableitet.

1.1. Die verschiedenen Tätigkeiten als Dirigent, Komponist und Musikdenker

„Ich versuche, ein vollständiger Musiker zu sein“33

Zender ist ein repräsentativer deutscher Komponist der zeitgenössischen Nachkriegszeit, ein besonders im Bereich der Neuen Musik berühmter Dirigent sowie ein kritischer Schriftsteller der aktuellen Musikkultur34. Das Gleichgewicht seiner verschiedenen Tätigkeiten als Dirigent, Komponist sowie Musikdenker spiegelt den gesamten Kreislauf der Musik im Zusammenhang mit Produktion, Rezeption und Reproduktion wider: Im Vergleich zu denjenigen Komponisten aus der Zeit des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls verschiedene Tätigkeiten der Musik professional ausübten, erscheint Zender wie ein synthetischer Musiker, der den allseitigen Zyklus der Musik in einer Person verkörpert. Das bedeutet, dass bei ihm die Grenzen zwischen der Komposition als

33 Hans Zender im Gespräch mit Claudius Böhm: „Wege, die in die Zukunft führen“, in: Gewandhausmagazin, 26 (2000), S. 9-15, hier S. 11. 34 Selbstverständlich haben einige Komponisten wie Boulez nicht nur ein hohes Ansehen als Komponist, sondern erweitern die aktive Tätigkeit auch als Dirigent und als Musiktheoretiker. Im Falle Zenders ist es noch spezifisch, weil die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche der Musik die Balance halten, indem die drei sich miteinander beeinflussen. 14

kreative produktive Arbeit, dem Dirigieren als reflektive Aufführungspraxis oder reproduktive Tätigkeit sowie der Kritik als kritische Rezeption verwischen.35 Im weiteren Sinn bedeutet es auch die Introversion und die Extraversion eines Musikers, d. h. ein wiegendes Hin und Her der Verinnerlichungen des Entäußerten und der Entäußerungen des Verinnerlichten.

Zwischen Komponist und Dirigent entsteht ein grundsätzliches unvermittelbares Dilemma: Während man sich als Dirigent im Übertragungs– und Überlieferungsprozess der Gegenwartsmusik mit verschiedenen Kompositions- strömungen und –tendenzen beschäftigen und dadurch die Musiksprache der anderen Komponistenkollegen verstehen und annehmen muss, muss man sich als Komponist zuerst von der Arbeit des Interpreten distanzieren und von diesem Ausgangspunkt aus seinen eigenen musikalischen Weg finden. Bei Zender ist dieses Dilemma unproblematisch, weil er dachte, dass Interpretieren und Komponieren untrennbar sind. Er hat es für sich gelöst, indem er die beiden Tätigkeitsfelder als Introversion und Extroversion eines Musikers auffasst.

Ich bin als Musiker in doppelter Weise tätig: als Dirigent und als Komponist. Ich behaupte nicht [...], dass das Dirigieren mir nur ein lästiger Broterwerb sei. [...] ist es keineswegs so, dass das Komponieren für mich geringeren Wert, etwa eine Art Hobby-Funktion hätte. Komponieren bildet für mich die konzentrierteste Form der Introversion, hilft mir zur Klärung des „inneren Ohrs“ – das Dirigieren dagegen erleben ich als Extraversion, als Kontakt mit Menschen. Beide Tätigkeiten müssen sich in einem regelmäßigen Rhythmus ablösen, wenn ich im Gleichgewicht bleiben will.36

Im Falle von Zender erscheint die Personalunion von Komponisten und Interpreten erfolgreich, darüber schreibt Gruhn:

In der Verbindung von reflektierter Aufführungspraxis als Dirigent und kreativer musikalischer Arbeit als Komponist verwischen die Grenzen zwischen Produktion und Reproduktion. Beide Tätigkeitsfelder durchdringen und befruchten sich gegenseitig.37

Es ist sicher, dass es bei ihm keinen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden musikalischen Tätigkeiten – Komposition und Interpretation – gibt.

Außer den praktischen Erfahrungen dieser Beschäftigungen ist ihm der philosophische Gedanke dazu wichtig: Laut Aussage vom Komponisten selber

35 Vgl. Wilfried Gruhn: „Hans Zender“, in: KdG, S. 1-14. 36 Hans Zender: „Imaginöres Interview“(1975), in: Die Sinne denken, S. 1-3, hier S. 1. 37 Wilfried Gruhn: „Hans Zender“, S. 13. 15

bietet die Praxis der Musik die Grundlage für das Etablieren der Theorie; umgekehrt bringt die Theorie die Geburt der Musikpraxis mit dem jeweiligen Zeitgeist hervor:

In der Tat befruchten sich die verschiedenen Tätigkeiten gegenseitig: wie wollte man authentisch über Interpretation reden ohne die praktische Erfahrung des Interpreten? Und wie wollte man zu Interpretationen vordringen, die den Ansprüchen einer Zeit genügen, welche in ein ästhetisches Chaos geraten ist und neue Orientierung verlangt, ohne gründliche Kenntnisse im wissenschaftlich-analytischen wie im philosophischen Bereich zu besitzen?38 a. Dirigent

Das Musikstudium begann er 1956 zunächst an der Musikhochschule am Main bei August Leopolder (Klavier) und Kurt Hessenberg (Komposition), danach studierte er von 1957 bis 1959 an der Musikhochschule Freiburg bei Edith Picht- Axenfeld (Klavier), Carl Ueter (Dirigieren) und (Komposition). Nach dem Studium war der junge Zender zuerst als Dirigent erfolgreich: nämlich als Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Freiburg (1959-1963), als Chefdirigent der Oper der Stadt Bonn (1964-1968), als Generalmusikdirektor (1969-1972) und auch als Chefdirigent des Sinfonieorchesters des Saarländischen Rundfunks (1971-1984). 1984 wurde er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des dortigen Staatsorchesters. Danach war er als Chefdirigent des Kammerorchester von Radio Hilversum sowie bis 1990 als Principal Guest Conductor der Opéra Nationale in Brüssel. Seit 1999 ist er ständiger Gastdirigent des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg39.

Als Dirigent beschäftigte er sich jahrzehntelang mit mannifaltigen Repertoires vieler klassischer Komponisten wie J. S. Bach, W. A. Mozart, F. Schubert, A. Bruckner usw. bis hin zur Neuen Musik. Da sein spezielles Aufführungsgebiet die Gegenwartsmusik war, leitete er zahlreiche Ur- und Erstaufführungen der Werke seiner Vorgängergeneration wie M. Reger, P. Hindemith, O. Messiaen und B. A. Zimmermann, und engagierte sich auch für die Werke seiner Zeitgenossen wie L. Nono, G. Scelsi, I. Yun, W. Rihm, H. Lachenmann etc. Im Vermittlungsprozess der Neuen Musik setzte er sich als Interpret mit den verschiedensten musikalischen Strömungen und Tendenzen seiner Zeit künstlerisch auseinander. Durch die Arbeit als Dirigent konnte er das frühere und heutige kompositorische Erbe antreten und davon viel lernen:

38 Hans Zender: „Erfüllte Zeit. Von der neuen Notwendigkeit vielseitig zu sein“, in: Österreichische Musikzeitschrift, 57 (2002/ 2), S. 4-6, hier S. 5. 39 Vgl. „Hans Zender“ in Lexika von MGG und KdG. 16

Der Dirigent führt als Übersetzer der toten geschriebenen Zeichen in die lebendigen klingenden. Ein subtiler Prozess, in den Vieles von der eigenen Persönlichkeit einfließt. Die Individualitäten des Komponisten und des Dirigenten müssen sich verbinden, man muss dem Stück treu bleiben und trotzdem die eigene Persönlichkeit einbringen.40

Nachdem er von vielen Komponisten und ihren Werken musikalisch- kompositorische Traditionen erforscht hatte, versuchte er, sich davon zu distanzieren, um schließlich beim Komponieren seine eigene musikalische Identität zu finden. Es ist besonders eindeutig, dass die zahlreichen Erfahrungen als Theaterkapellmeister als Grundlage für das Komponieren seiner eigenen Musiktheaterstücke dienten. Über die Vorzüge der Arbeit als Dirigent sagte Zender selbst folgendes:

Das ist das Interessanteste am Beruf des Dirigenten: Ein altes Modell in eine gegenwärtige Wirklichkeit verwandeln. Die Verbindung von Intelligenz und Sinnlichkeit bedeutet das, was ich in der Musik suche und finde!41 b. Komponist

Trotz dieser intensiven Tätigkeit als Dirigent wurde das Komponieren für Zender im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zur wesentlichsten künstlerischen Tätigkeit. Er ist einer der namenhaftesten Komponisten der Gegenwart mit Blick auf die verschiedenen Möglichkeiten des pluralistischen Komponierens. Pluralität, Vielfältigkeit und Mannigfaltigkeit als ein wesentliches Merkmal seiner kompositorischen Denkweise verbinden sich mit Erprobung und Erkundung experimenteller Ansätze in der „polyphonen“ Struktur seiner Musik. Unter polyphoner Struktur versteht er das Denken in gleichzeitig verlaufenden musikalischen Prozessen, die aufeinander einwirken und aufeinander Bezug nehmen, dabei aber eine selbstständige interne Organisationsform bewahren. 42 Allerdings ist es nicht von Anfang an als sein grundsätzliches Kompositionsprinzip festgelegt.

Er begann, sich kompositorisch mit dem Erbe der älteren Generation zu beschäftigen, die sich der kompositorischen Technik, alle Parameter einer kompositorischen Struktur aus ein und demselben formalen Prinzip anzuleiten,

40 Ernst Scherzer, „Der Musiker Hans Zender im Gespräch mit der Wiener Zeitung. Die Intelligenz mit Sinnlichkeit verbinden“, Wiener Zeitung vom 11. 21. 2006: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/mehr_kultur/279848_Die-Intelligenz-mit- Sinnlichkeit-verbinden.html (zuletzt eingesehen: 21. 03. 2015) 41 Ebd. 42 Vgl. Wilfried Gruhn: „Hans Zender“, hier S. 13. 17

verschrieben hatte. Daher bediente er sich in den frühen sechziger Jahren zunächst avantgardistischer, bzw. zwölftöniger und serieller Methoden (Drei Rondels nach Mallarmé (1961), Drei Lieder nach Gedichten von Joseph von Eichendorff (1963) mit dem Prinzip der Isorhythmie). Nach Gruhns Auffassung musste Zender seinen Platz in der Vielfalt der neuen kompositorischen Möglichkeiten finden, indem er sein eigenständiges Komponieren mit den Errungenschaften der Avantgarde verband. 43 Zugleich erweiterte er aber unter der Einsicht der Situation unseres postmodernen Zeitabschnitts seine musikalische Identität in die Vielfalt der neuen kompositorischen Möglichkeiten.

Ich gehöre noch zur Generation der sich nach dem Zweiten Weltkrieg formierenden seriellen Musik, die sich als europäische Avantgarde begriff. Der möchte ich nicht untreu werden, denn ich fühle mich (im Gegensatz zu Cage) sehr als Europäer. Aber ich habe den Glauben an die alleinige Geltung der europäischen Rationalität längst verloren und mich in einem längeren Wandlungsprozess hin zu einer radikalen postmodernen Position entwickelt, die eine Pluralität von Paradigmen nebeneinander stellt.44

Ich entstamme der seriellen Schule, habe viel gelernt von Boulez, wollte aber schon immer woanders hin. Ich bin kein abstrakter Musiker, kein neuer oder alter Bilder, sondern suche den Ausgleich, [...] dazu braucht man Geduld.45

Vor allem ist bei Zender der musikalische Gedanke nicht auf den Bereich der Erschaffung begrenzt, sondern mit dem Wechsel der musikalischen Stile oder der kompositorischen Technik verknüpft, da der Komponist im Hinterkopf stets die Rezeption der Musik durch den Hörer behielt:

[...] scheint es mit einem Fehler zu sein, sich der Tendenz zur Statik kompositorisch restlos auszuliefern; allzu leicht entsteht eine abstumpfende, „drogenartige“ Musik. Nichts gegen musikalische Trips, aber der Komponist muss den Hörer immer wieder „zurückholen“.46

Da ihm der Serialismus zu geschlossen erscheint, wandte er sich von der seriellen kompositorischen Technik ab. Ebenso bewertete er Musik mit Zufallsprinzip auch als geschlossenes System und lehnte beides ab. Anders als bei diesen beiden Vorgehensweisen wurden bei ihm verschiedene, als unvereinbar geltende musikalisch-kompositorische Stoffe, Techniken und Stile zusammengebracht.

Ich bin für die Integration verschiedener Techniken zu einem mehrschichtigen musikalischen Denken. Es erschien als Schwäche des Serialismus, dass er aufgrund seiner logischen Geschlossenheit eine Tendenz zum Sterilen entwickelte. Aber auch alle konsequent angewandten Zufallstechniken sind „geschlossene Systeme“ – auch

43 Vgl. Ebd., S. 11f. 44 Hans Zender im Gespräch mit Lydia Jeschke: „Happy New Ears – Utopie jenseits der Stilsicherheit.“, in: NZfM 172 (2011/ 6), S. 10-13, hier S. 12. 45 Gabriele Luster, „Oper als Revue mit Starkult“, in: Müncher Merkur am 06. Mai 1991, Nr. 104 46 Hans Zender: „Imaginäres Interview“, S. 3. 18

wenn sie formal „offen“ sind: sie haben Widerspruch in sich selbst. Ich halte es für sinnvoll, radikal widersprüchliche Systeme zusammenzuzwingen.47

Seine fortlaufende Werkreihe Canto (Canto I (1965) bis Canto V (1972/1974) von insgesamt acht Cantos) basiert auf die Form der Mehrtextigkeit und musikalischen Mehrschichtigkeit. Die Werkgruppe Lo-Shu (Lo-Shu I (1977) bis Lo-Shu III (1978/1983), insgesamt sieben Lo-Shus) zeigten die Anfangsphase des interkulturell orientierten Komponierens und suchten andere Möglichkeiten des Zeitverständnisses (oder der Zeitgestaltung) durch die Begegnung mit der ostasiatischen Kultur.

Die Vorliebe für Pluralismus ist bei ihm nicht nur auf die Kompositionstechnik und die stilistische Vielfalt der Musik beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die flexible Haltung gegenüber Musiktradition und Kulturoffenheit. Zender sieht sich als Komplex verschiedener Subjekte: „[...] der Komponist empfindet sich selbst als eine plurale Persönlichkeit, nicht als ein geschlossenes Ich. [...]“48

Es gibt noch einige Werke, die aus der Berührung mit der asiatischen Kultur hervorgegangen sind: Muji No Kyō für Stimme, Flöte, Violine (1975), die Lo-Shu- Reihe (Lo-Shu I (1977) bis Lo-Shu VI (1989)), Furin No Kyō für Sopran, Klarinette und Kammerensemble (1989), Nanzen No Kyō (Canto VII) für Chor und Instrumente (1992), das Orchesterstück Koan aus dem Zyklus Shir Hashirim (1993/1996) u.a. In diesen asiatischen Stücken strebte Zender die „Leere von Konstruktion in einer Momentform“49 an unter dem Einfluss von Zen-Buddhismus anstelle einer abendländischen musikalischen Syntax auf der Basis zeitlich ausgerichteter und logisch miteinander verknüpfter Strukturfelder. In diesem Punkt definiert er als die heutige Aufgabe des Komponierens das Vermischen von westlichen und asiatischen Elementen.

Heutiges Komponieren muss eine individuelle Mischung von rationalen Methoden zur Steuerung der linearen zeitlichen Vorgänge mit intuitiven Entscheidungsprozessen über die nichtlinearen Aspekte sein [...]50

In eine andere Richung geht eine Werkgruppe, die der Komponist selber „die komponierte Interpretation“ genannt hat: Dialog mit Haydn für zwei Klaviere und

47 Ebd. 48 Hans Zender im Gespräch mit Lydia Jeschke: „Happy New Ears – Utopie Jenseits der Stilsicherheit“, S. 10. 49 Wilfried Gruhn: „Hans Zender“, S. 3. 50 Hans Zender, „Wegekarte für Orpheus? Über nichtlineare Codes der Musik beim Abstieg in ihre Unterwelt“ (1990), in: Die Sinne denken, S. 87. 19

drei Orchestergruppen (1982/1983), Schubert-Chöre (1986), Schuberts Winterreise (1993) und Schumann-Phantasie (1997). In diesen Werken setzt Zender sich mit dem Experiment über Bearbeitung, De- und Rekomposition mit dem formalen Bestand der abendländisch musikalischen Tradition auseinander. 51

Es ist festzustellen, dass sein Werkverzeichnis von vielen verschiedenen Werkgruppen aus unterschiedlichen Richtungen besteht: Der Komponist Zender zielt auf den Pluralismus der differenten heterogenen, sogar widersprüchlichen Gedanken und musikalisch-kompositorischen Techniken ab.

Da jedes Werk eine unterschiedlich fokussierte Perspektive hat, ist seine Musik stilistisch nicht auf einen einfachen gemeinsamen Nenner zu bringen und auch kompositionsästhetisch nur schwer einer bestimmten Schule oder Richtung zuzuweisen. An diesem Punkt fällt auf, dass der stilistische sowie kompositorisch- ästhetische Pluralismus beim Komponieren Zenders als grundlegende Prämisse fungiert. c. Musikdenker

Der Musiker Zender betreibt auch aktiv ästhetisches Denken und schreibt kritisch über Musik.

Weder Komponist noch Interpret können in einer geistigen Situation zu gültigen Ergebnisse ihrer Arbeit kommen, wenn sie ihr technisch-handwerkliches Denken nicht ergänzen durch intensive Arbeit auf dem Gebiet des Musikdenkens.52

Wie viele Komponisten des 20. Jahrhunderts äußerte sich Zender ebenfalls tatkräftig über seine ästhetische Denkweise bezüglich zeitgenössischer Musik. Aber er schreibt nicht nur über seine Werke und kompositorische Technik, sondern rezensiert auch Komponisten der Gegenwart und die heutige Musiksituation. Er ist an vielen Diskussionen zur Gegenwartskultur maßgeblich beteiligt. Als kritische Instanz der Gegenwartsmusikkultur sowie als Autor wichtiger Beiträge zu Aspekten der heutigen Musik genießt er darum ein hohes Ansehen.

51 Vgl. Hans Zender: „Werkeinführungen“, in: Die Sinne denken, S. 307-342 & Wilfried Gruhn: „Hans Zender“, in: KdG, S. 1-14. 52 Hans Zender: „Musik als Gegenstand verbaler Vermittlung“ (2001), in: Die Sinne denken, S. 195- 196, hier S. 196. 20

In seinen Schriften zur Musik, von denen die wichtigsten 2004 in einem Auswahlband unter dem Titel Die Sinne Denken 53 erschienen, werden solche Einsichten nachdrücklich entfaltet. Die ausgiebige Grundlage für Zenders musikalische Praxis basiert auf seinem theoretisch-ästhetischen Sinnieren über die Musik. Hiekel schrieb, dass „sinnlich-körperliches und intellektuelles Erfahren eines Werkganzen keineswegs als Gegensätze erscheinen müssen, sondern ineinandergreifen“54, und dass gerade vor allem der Komponist Zender für ihn das dazu passende Modell als ein „poeta doctus“ ist. Über die Relevanz der philosophischen Überlegung beim Komponieren Zenders wies Hiekel hin:

Durch die Auseinandersetzung mit philosophischen Schriften unterschiedlicher Autoren hat Zender unentbehrliche Impulse erhalten, die ihn dazu ermutigten und beflügelten, ein breites Spektrum konzeptioneller Ansätze zu wählen. Philosophie ist für einen Komponisten wie ihn wohl vor allem zur Fundierung eigener Suchbewegungen dienlich [...]55

Derartige philosophische Gedanken verdeutlichen seine Verfahrensweise bezüglich der praktischen Kompositionsstrategie, im kompositorischen Schaffen den Faktor Zeit zu behandeln:

Solche rezeptionsästhetischen Erwägungen, die für Zenders Musikanschauung typisch sind, deuten zugleich auf wesentliche produktionsästhetische Perspektiven seiner eigenen Werke, in denen sich – mit dem Ziel, ein intensives Erleben in der Zeit anzuregen – vielfältige Strategien der bewussten Zeit-Gestaltung finden.56

Beim Musikhören betrachtete Zender die Wahrnehmung der Klänge in jedem Moment als den logischen Zusammenhang der musikalischen Materialien oder als die strukturelle Konstruktion. In seiner Musik bildet sich keine lineare Zeit aus Vergangenheit als das bereits passierte klangliche Ereignis, Gegenwart als Synthese des Gehörten und Zukunft als das Erwartende der beiden, sondern eine nicht-lineare, zyklische Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft frei aneinander anschließen. Die Veränderung dieses Zeitbewusstseins hängt mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne zusammen, weil die Postmoderne mit Bezug auf die musikalische Tradition der Vergangenheit den Gedanken der nicht- linearen Zeitgestaltung prägte, während die Moderne die fortschrittliche

53 „Die Sinne denken“: dieser Satz ist einer der grundlegenden Gedanken, welche das philosophische Werk von Georg Picht (1913–1982) durchziehen: die Erfassung von künstlerischem Sinn findet nicht nur in der Reflexion, sondern schon im noch unbewussten bzw. halbbewussten Moment des Hörens und Sehens statt. 54 Jörn Peter Hiekel: „Vom Zusammenspiel des Denkens und der Töne. Zum Komponieren Hans Zenders“, in: NZfM, 172 (2011/6), S. 20-23, hier S. 23. 55 Ebd. 56 Jörn Peter Hiekel: „Zender, Hans“, in: MGG, Sp. 1429-1432, hier Sp. 1431. 21

avantgardistische Haltung einnahm, dass bei der Vorstellung der linearen Zeit unter dem Zwang zu Originalität stets die Neuheit zu suchen sei.

Durch seine disziplinär übergreifenden Erfahrungen als Dirigent, Komponist und Kritiker ist bei Zender festzustellen, dass Produktion, Rezeption und Reproduktion der Musik nicht völlig trennbar sind, sondern dass ein enger Zusammenhang besteht. Die beiden Bereiche bzw. das Dirigieren als spezifische musikalische Interpretationsform und die Kritik als schriftliche Rezeptionsform, beeinflussen die Komposition, den Bereich der Produktion. Daher leitet sich ab, dass das Komponieren bei ihm als produktive Aktivität einen Raum bildet, in dem das philosophisch-ästhetische Denken als die in der musikalischen Praxis reflektierte Grundidee vorherrscht.

1.2. Seine Selbstreflexion „als das polyphone Subjekt“

Zender beschäftigte sich in seiner kompositorischen Arbeit mit verschiedenen Werkrichtungen, also mit nahezu allen Gattungen. Es ist schwer, sogar unmöglich, sein kompositorisches Schaffen mit einer Schule oder einer Richtung zu verbinden, oder auch seine unterschiedlichen Werkgruppen nur nach einem Kriterium einzuordnen. Nach Sortieren der MGG ist trotzdem in den folgenden fünf Gruppen aufzugliedern: 1) Bearbeitung berühmter Werke, die als „komponierte Interpretation“ bezeichnet werden, 2) Vertonungen experimenteller Literatur, 3) geistliche Werke, 4) kompositorische Reflexionen interkultureller Perspektiven, 5) höchst komplexe Musiktheaterwerke. 57 Selbstverständlich fand die Auseinandersetzung mit fast allen musikalischen Gattungen nicht nur bei Zender statt, sondern auch bei seinen zeitgenössischen Komponistenkollegen. In seinem Fall jedoch geht es nicht um die Viefalt der musikalischen Gattungen oder Stile, sondern um die Spezifik, dass der Komponist Zender in jedem seiner Werke jeweils als neues kompositorisch-musikalisches Subjekt erscheint. Dem portugiesischen Dichter, Fernando António Norgueira Pessoa (1888 – 1935) muss wohl ein großer Einfluss zugeschrieben werden. Darüber merkte Zender selbst wie folgt an:

57 Vgl. Ebd., Sp. 1429-1432. Vor allem in seinen drei Musiktheaterwerken, den Forschungsgegenständen der vorliegenden Arbeit, werden nicht nur verschiedene musikalische Stile gezeigt, sondern auch die unterschiedlichen Weltanschauungen zum Zeitpunkt der Komposition seiner drei Theaterstücke, seine damaligen Interessen und Beiträge als Künstler beleuchtet. Das ist als eine Spielart des pluralistischen Ichs wie bei Pessoa zu interpretieren. 22

Pessoa ist schon eine sehr faszinierende Figur, denn er hat ja bekanntlich in Heteronymen gedichtet. [...] In diesen Heteronymen bietet er nicht nur ganz verschiedene dichterische Stile, sondern sogar ganz verschiedene Weltanschauungen, ganz verschiedene Formen des modernen Bewusstseins, die sich zueinander geradezu feindlich verhalten. Das ist eine Spielart des pluralistischen Ich.58

Pessoas literarische Ansätze betrachtete Zender nicht einfach nur als poetisches Experiment mit verschiedenen Gedichtsstilen. Den Gedanken, die unterschiedlichen, sogar konträren Werte und Haltungen der Moderne und des modernen Bewusstseins zusammenzubringen oder zu konfrontieren, wollte er schließlich im Musikbereich umsetzen. Die experimentale Arbeit Pessoas mit verschiedenen Beinamen und Persönlichkeiten wurde daher von Zender um das von einem Komponisten der Postmoderne geforderte Verhalten erweitert.

Als die radikalste Position eines Komponisten heute erscheint mir, dass er sich von Stück zu Stück neu definiert. Oder dass er, wie es der Dichter Fernando Pessoa gemacht hat, innerhalb eines Œuvres verschiedene Personen entwickelt, die dann verschiedene Stilhaltungen nebeneinander entstehen lassen. [...] Das heißt, der Komponist empfindet sich selbst als eine plurale Persönlichkeit, nicht als ein geschlossenes Ich. Das ist die Situation der Postmoderne in ihrer Radikalität und ihre radikale Konsequenz.59

Daraus erschließt sich, dass Zender sich selbst nicht als ein geschlossenes Subjekt sieht, sondern als einen Komplex mit unterschiedlichen Persönlichkeiten und Charakteren. Diese persönliche Eigenschaft bildet die Grundlage für seine musikalisch-kompositorischen Besonderheiten.

Der sich in die verschiedenen Richtungen differenzierende Musiker Zender zeigt auch bei der kulturellen Identifikation unterschiedliche, sogar widersprüchliche kulturelle Vielheit. In den Werkgruppen seines Oeuvres fällt die kompositorische Reflexion interkultureller Perspektiven auf: Hier nützt er die kompositorisch- musikstilistischen Techniken verschiedener kultureller Herkunft für die Definition seiner heterogenen kulturellen Identität. Der deutsche Philosoph Elberfeld beschrieb Zenders Arbeit als „eine von Europa ausgehende Erfahrung zu verdeutlichen, die mit der Entwicklung des europäischen Kulturbegriffs verbunden ist“, und sah, dass jedoch „sich im Leben von Zender eine Kultur der Interkulturalität etabliert, die in gewisser Weise für das Vorgehen vieler europäischer Künstler stehen kann“. In der Arbeit von Elberfeld wurde im Nietzscheschen Sinn der Begriff „polyphones Subjekt“ benutzt, um Zenders

58 Hans Zender im Gespräch mit Jörn Peter Hiekel: „Prägungen im Pluralismus“, S. 134 ff. 59 Hans Zender im Gespräch mit Lydia Jeschke: „Happy New Ears – Utopie jenseits der Stilsicherheit.“, S. 10. 23

kulturelles Bewusstsein zu bestimmen.

Bei Nietzsche scheint hier eine Pluralität nicht nur im Rahmen der Kulturen außerhalb der einzelnen Menschen auf, sondern die Pluralität dringt in das Subjekt und seine Identität selbst ein. Indem ein Mensch verschiedene Kulturen durchlebt, wird er in sich pluraler und polyphoner in seinen Ansichten, Wertungen, Gedanken und Gefühlen. [...] So deutet er das Ich, das diese Erfahrungen in sich durchlebt, an anderer Stelle als polyphones Subjekt.60

Die folgende Aussage Zenders deutet seine offene Perspektive über die äußerliche Erscheinungform und den inneren Zusammenhang verschiedener Kulturen an, sowie sein Ansatz, viele Komponisten in unterschiedlichen musikalischen Richtungen positiv anzusprechen:

Ich muss seine Position [des anderen Komponisten] bejahen, auch wenn sie der meinen völlig konträr ist; und zwar nicht nur deswegen, weil wir heute keine allgemein gültigen Normen mehr haben, sondern weil sich heute die Kulturen gegenseitig durchdringen und wie ein Fächer von Möglichkeiten vor uns liegen.61

Der Komponist Zender als polyphones Subjekt verschiedener kultureller Erfahrungen hat die Strategie, auf Grundlage seiner Identität als Europäer die pluralistische postmoderne Situation anzunehmen. Mit dem Wechsel der Paradigmen von Zeiträumen sucht er die kulturelle Identität in der Musik auf neue Weise. Seine Auffassung über unser Zeitalter ist: „Es ist in der Lage, bei der heutigen postmodernen Konstellation das Ideal globaler Kulturen gleichzeitig am gleichen Ort zusammenzubringen.“

[...] ich fühle mich sehr als Europäer. Aber ich habe den Glauben an die alleinige Geltung der europäischen Rationalität längst verloren und mich in einem längeren Wandlungsprozess hin zu einer radikalen postmodernen Position entwickelt, die eine Pluralität von Paradigmen nebeneinanderstellt.62

Der Künstler Zender bildete seine pluralistische Persönlichkeit aus der unangefochten Identität als Europäer. In demselben Kontext oder genau andersherum ist es die Aufgabe der Kunst, in der postmodernen jetzigen Situation das Ideal der Moderne zu suchen und zu finden:

Man muss den Mut zu Seriösität und zum Vergleich unserer kulturellen Wurzeln mit der Moderne aufbringen. Denn das ist doch die große Aufgabe, vor der wir stehen: unsere eigene kulturelle Identität als Europäer in einer neuen Weise musikalisch zu aktivieren. Es ist eine der großen Utopien der Musik der Moderne, dass sie nicht mehr

60 Diesen Begriff erklärte Elberfeld detailliert in seinem Artikel: Rolf Elberfeld: „Kultur, Kulturen, Interkulturalität. Kulturphilosophische Perspektiven der Gegenwart“, in: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, S. 85-99, hier S. 90. 61 Hans Zender im Gespräch mit Alexander Stankovski: „Orientierung und Kriterien“, in: Österreichische Musikzeitschrift, Vol. 52, Issue 6 (1997), S. 10-11, hier S. 10. 62 Hans Zender im Gespräch mit Lydia Jeschke: „Happy New Ears – Utopie jenseits der Stilsicherheit.“, S. 12. 24

nur europäisch denkt, sondern dass sie wenigstens in ihrem kulturellen Ideal eine Musik des Erdballs skizziert.63

Zender wurde einerseits durch den Einfluss des Komponisten Zimmermann und dessen veränderten Konzeption über die Zeit sowie von dem Zeitbegriff der ostasiatischen Kultur stark beeinflußt. Besonders durch die Aufenthalte in Japan und China wuchs sein Interesse an und sein Respekt vor Ostasien. Diese neuen, kulturell fremden Erfahrungen spiegelten sich in einigen seiner Werke wider:

Die Begegnung mit der asiatischen (japanischen, buddhistischen) Kultur hat seinem Komponieren eine neue Dimension erschlossen. Vor allem der andere Zeitbegriff hat eine veränderte Formkonzeption hervorgebracht, bei der nicht mehr eine rational proportionierte Architektur strukturbildend ist, sondern der Vorgang der Wahrnehmung selber, die sich von Augenblick zu Augenblick weitertastet und auf das konzentriert bleibt, was in jedem einzelnen Moment geschieht.64

63 Hans Zender im Gespräch mit Claudius Böhm: „Wege, die in die Zukunft führen.“, S. 13. 64 Wilfried Gruhn: „Hans Zender“, in: KdG, S. 10 ff. 25

2. Pluralismus in Bezug auf die Postmoderne

[...] sind unsere Realität und Lebenswelt „postmodern“ geworden. Im Zeitalter des Flugverkehrs und der Telekommunikation wurde Heterogenes so abstandslos, dass es allenthalben aufeinandertrifft und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur neuen Natur wurde. Real ist eine Gesamtsituation der Simultaneität und Interpenetration differenter Konzepte und Ansprüche entstanden. Auf deren Grundforderungen und Probleme sucht der postmoderne Pluralismus zu antworten. Er erfindet diese Situation nicht, sondern reflektiert sie. Er schaut nicht weg, sondern sucht sich der Zeit und ihren Herausforderungen zu stellen.65

An der Wende zum 21. Jahrhundert griff der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch (geb. 1946) mit der veränderten Zeitauffassung von linear zu nicht-linear den postmodernen Pluralismus affirmativ auf. Die oberflächliche Pseudopostmoderne kritisierte er: zugleich versuchte er in ausdrücklicher Distanz die spezifische Kraft und Intensität postmoderner Konstellationen im Sinne eines Dialogs des Verschiedenen zu fassen.66 Die Debatte über Einheit und Vielfältigkeit erreichte den Post-Strukturalismus, der die moderne Gesellschaft und Philosophie in Frage stellt. Auch der französische Philosoph des Poststrukturalismus Jean-François Lyotard (1924–1998), begriff die Postmoderne als Abschied von der Suche nach Einheit und als Ansatz, Pluralität effektiv zu konstruieren.67

Im Musikbereich entstand die Debatte zur Postmoderne ziemlich spät, und im Allgemeinen herrschte dazu eine deutlich ablehnende Haltung. 68 Eine Vielzahl kritischer musikwissenschaftlicher oder musikjournalistischer Darstellungen scheint unter dem Einfluss von Philosoph Habermas´ kritischer Sicht auf die Postmoderne zu stehen (Helga de la Motte-Haber)69 . Die von Habermas in die Diskussionen eingebrachte Formel „Neue Unübersichtlichkeit“ wurde oft als Beschreibung der Abwesenheit vom Mainstream in der Musik verwendet. Auf der anderen Seite aber nahmen etliche Musikwissenschaftler die Postmoderne als Fortsetzung der Moderne an und interpretierten den Pluralismus als das zentrale

65 Wolfgang Welsch: Unsere Postmoderne Moderne, Berlin 2008, 7. Aufl., S. 4. 66 Vgl. Wolfgang Welsch: Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 1994. 67 Vgl. Simon Malpas: Jean François Lyotard, London 2003. 68 Beispielsweise sagt der Komponist Claus-Steffen Mahnkopf (geb. 1962), dass die als Merkmale der Postmoderne geltende Vielfalt und der Pluralismus nicht neu sind, sondern auch der Moment der Moderne selbst. Er ist skeptisch, in der Musik über die Kennzeichen der Postmoderne zu debattieren. Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf: „Das Überdauern der musikalischen Eigenlogik. Reflexion zu einer Ästhetik des Surplus“, in: Wilfried Gruhn (Hrsg.), Das Projekt Moderne und die Postmoderne, Regensburg 1989, S. 121-152. 69 Vgl. Helga de la Motte-Haber: „Merkmale Postmoderner Musik“, in: Wilfried Gruhn (Hrsg.), Das Projekt Moderne und die Postmoderne, Regensburg 1989, S. 53-68. 26

Phänomen der Postmoderne (H. Danuser, E. Budde, U. Dibelius usw.). 70 Der Musikwissenschaftler Elmar Budde erfasste den Kern des Pluralismus nicht nur in äußerlichen Musikformen, sondern auch bei verschiedenen Perspektiven und Haltungen in Bezug auf Geschichte und Tradition:

Die in der Postmoderne-Diskussion im Mittelpunkt stehenden Fragen nach Pluralismus und Mehrfachkodierung fordern dazu heraus, bestimmte Erscheinungsformen der Musik unseres Jahrhunderts, die als charakteristisch und zentral gelten, in anderen, vielleicht ungewohnten Perspektiven zu sehen. Diese Fragen sind nicht nur Fragen nach dem Sinn der musikalischen Erscheinungsformen, sondern auch vor allem Fragen nach Geschichte und Tradition.71

Bezüglich der Ansicht dieser Musikwissenschaftler über den Pluralismus in der heutigen Musik äußerte auch der Komponist Zender, „dass der tiefste Impuls der Moderne eine Hinwendung zur (nicht homogenen, nicht reduzierbaren) Vielheit ist“72 . Bei ihm besteht der Pluralismus nicht aus verschiedenen musikalischen Materialien, sondern wie in Buddes Sinn sind Geschichte und Tradition der Musik zusammen zu behandeln. Darum ist er ein relevanter Komponist, der die sinnvolle Haltung zur Frage nach Pluralismus zwischen Moderne und Postmoderne zeigt.

Im ersten Teil dieses Kapitel wird zuerst Zenders Zeitauffassung erklärt, die Postmoderne unserer Zeit im Zusammenhang mit der Moderne zu erkennen. Danach werden die zwei von Zender deutlich unterschiedenen Strömungen unseres Jahrhunderts, Avantgarde und Manierismus, beleuchtet. Anschließend wird die Bedeutung des Komponierens in der postmodernen Situation als vom Komponisten gewählten dritten Weg behandelt. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels handelt vom Pluralismus, der nicht auf die Zeitströmung und seine Zeitauffassung begrenzt ist, sondern als inneres Konstruktionsprinzip in einem Werk funktioniert. Es überprüft die philosophischen Hintergründe und die essenziellen Inhalte des Pluralismus als Theorie, die komplexen Eigenschaften der Musiktheaterwerke Zenders auszuloten.

2.1. Zeitauffassung: „Komponieren in der postmodernen Situation“

70 Vgl. Jörn Peter Hiekel: „Postmoderne“, in: MGG, Sp. 697-706.; Hermann Danuser: „Postmodernes Denken – Lösung oder Flucht?“, in: Hermann Danuser (Hrsg.), Neue Musik im politischen Wandel, Mainz 1991, S. 56-66.; Ulrich Dibelius: „Postmoderne in der Musik“, in: NZfM, 1989 (2), S. 4-9.; ders., „Musikalische Zitate- und Collageverfahren im Licht der (Post)Moderne- Diskussion“, in: Jahrbuch 4 der Bayerischen Akademie der Künste, S. 395-409.; Elmar Budde: „Der Pluralismus der Moderne und/oder die Postmoderne“, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.), Wiederaneignung und Neubestimmung – der Fall der „Postmoderne“ in der Musik, S. 50-62. 71 Elmar Budde: Ebd., S. 51 ff. 72 Hans Zender: „Situationsbeschreibung“ (2004), zitiert nach Jörn Peter Hiekel: „Zu einigen Kernaspekten von Hans Zenders Schaffen“, in: Vielstimmig in Sich, S. 13-28. hier S. 27ff. 27

Als Komponist erhielt Zender aufgrund seiner verschiedenen Gattungen angehörenden Werke gegensätzliche Kritiken: Einerseits gilt er als „ein rigoroser Protagonist der Anti-Postmoderne“73, „the successor of musical modernism“74 und „a radicalized continuation of Modernism, freed from dogmatism“75 vor allem in den Werken wie Music to hear (1998), Cabaret Voltaire (2001/2002), in denen die tonale rhythmische technische Musiksprache angewandt wird. Andererseits wurde er bezeichnet „als ein Prototyp eines musikalischen Postmodernisten“76 besonders in den Stücken wie Schuberts Winterreise (1993), Schumann-Phantasie (1997), die die früheren berühmten Kanons von Zender neu interpretierten, und auch als „a superficial postmodernist“ wegen des Werkes Lo-Shu Serie (Lo-shu I bis VII, 1977– 1997), das von der ostasiatischen Kultur stark beeinflußt wird. Das ergibt sich aus seinen verschiedenen Werkgruppen, die jeweils andersartige musikalische Stile und Formen haben.

Nicht nur die Gattungsvielfalt seiner Komposition, sondern auch seine Stücke werden zuweilen konträr beurteilt: z. B. wurde sein erstes Musiktheaterwerk Stephen Climax einerseits als „ein Chef d´oeuvre der musiktheatralischen Moderne“77, andererseits als „Repräsentation der Postmoderne“78 bezeichnet.

Wie ist es möglich, dass ein Komponist und seine Werktendenz, seine einzelnen Stücke gegensätzlich beurteilt werden? Anders als die Komponisten der früheren Zeit repräsentiert Zenders Gesamtwerk nicht eine bestimmte Hauptströmung, sondern diversifiziert sich in mannigfaltigen Werktendenzen. Hiekel betrachtet den Pluralismus in Zenders Komponieren als musikalisch-kompositorische Strategie, über parallele Musikmaterialien verschiedene Werteeinstellungen, Haltungen und Denkarten nebeneinander zu stellen oder manchmal miteinander zu konfrontieren:

Pluralismus wird hier also nicht als Orientierunglosigkeit oder bedrohliche Unübersichtlichkeit verstanden, sondern als Gefüge unterschiedlicher Wege, als Raum verschiedenster Herausforderungen. [...] Die Beliebigkeit eines konturlosen „anything goes“ wird gerade von Hans Zender auch an diesem Punkt ausgeschlossen: Er fordert beim Umgehen mit stilistisch unterschiedlichen Elementen

73 Gerhard R. Koch: „Vom Künstler in rückläufiger Zeit. Hans Zender und die Beweglichkeit in der Musik“, in: FAZ, 1997. Sep. 6. 74 Håvard Enge: „Hans Zender and postmodernism“, http://engesforsok.blogspot.kr/2009/11/hans- zender-and-postmodernism.html (zuletzt eingesehen: 24. 11. 2015). 75 Thomas Schäfer: “Anti-Moderne oder Avantgarde-Konzept? Überlegungen zur musikalischen Postmoderne“, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 26(2), S, 211-238, hier S. 238. 76 Dieser Begriff taucht in einigen Rezensionen auf. 77 Hans-Klaus Jungheinrich: in: Frankfurter Rundschau, Nr. 253, 30. Okt. 1990 78 Håvard Enge, a.a.O. & in einigen Rezensionen. 28

kompositorische Kontrolle und ein dezidiertes strukturelles Denken, also nicht bloß ein gefälliges Aneinanderreihen von Elementen. Hans Zender hat in seinem Beitrag noch nicht einmal Scheu vor der in Verruf geratenen Dimension des Neuen. Er attestiert den postmodernen Strategien, die er herausarbeitet, eine ebenso bestürzende wie grandiose Neuheit, bezeichnet sie konsequenterweise als eine zu sich selbst gekommene Moderne.79

Der Grund dafür, dass der Komponist Zender und seine Werke konträr – modern oder postmodern – beurteilt werden, liegt im philosophischen Standpunkt Zenders, die Postmoderne nicht als Gegensatz der Moderne, sondern „als zu sich selbst gekommenen Moderne“ in der Fortsetzung der Moderne zu begreifen:

Es ist unmöglich, die postmoderne Situation zu verstehen, ohne die Moderne verarbeitet zu haben; nun verdrängt unsere Gesellschaft aber eben die Mühe einer Auseinandersetzung mit der großen Moderne unseres Jahrhunderts, und zwar in zunehmendem Maß – heute unter Umständen in ihrer Trägheit noch bestärkt durch die geschilderte Fehlinterpretation der Postmoderne. Das Resultat dieser Verdrängung ist eine verlogene Nostalgie, eine Regression des Bewusstseins in Richtung Vormoderne, ist restauratives Denken. [...]80

Die Voraussetzung dafür, die Probleme der Postmoderne zu bewältigen, wäre also, die Moderne in einem unaufhörlichen Nachverarbeitungsprozess immer tiefer zu verstehen.81

Zenders Blickwinkel, auf Grundlage der Moderne die Postmoderne zu verstehen, entspricht dem Lyotards (Moderne und Postmoderne stellen keine Epochenbegriffe dar, sondern die Postmoderne hat „an der Moderne teil“82 ) und Welschs („die Postmoderne ist keineswegs eine Trans- und Anti-Moderne, [...] eigentlich die Radikalmoderne dieses Jahrhunderts“83). Auf die Frage “wie es die Postmoderne – jenseits eines vorgeblich radikalen Bruchs einerseits und einer simplen Fortsetzung andererseits – mit der Moderne wirklich hält“, antwortete Lyotard, „dass die Postmoderne nicht als Alternative zur Moderne, sondern als deren „Redigieren“ oder „Durcharbeiten“ bestimmt“84. Bei Lyotard ist die Postmoderne die avantgardische Kraft, die ihre Idee und Kategorie herausfordert, sowie sie aufzubrechen und somit das Hervortreten neuer Gedanken und Verfahrensweise gegen die modernen Themen wie Fortsetzung und Innovation, jedoch gleichzeitig

79 Jörn Peter Hiekel: „Orientierungsversuche in unübersichtlichen Zeiten“, in: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, S. 10-23, hier S. 19. 80 Hans Zender: „Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne“, in: Die Sinne denken, S. 157. 81 Ebd. 82 Jean-François Lyotard: „Beantwortung der Frage: Was ist Postmoderne“, in: Peter Engelmann (Hrsg.) Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 33-48, hier S. 36. Die folgende Literatur wurde auch hierfür herangezogen: Peter V. Zima: Modern / Postmodern, Stuttgart 2001, 2. Aufl., S. 36f. 83 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 6 & S. 84. 84 Wolfgang Welsch: „Asynchronien. Ein Schlüssel zum Verständnis der Diskussion um Moderne und Postmoderne“, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 4 (1990), S. 347- 367, hier S. 348. 29

„Fortsetzung der wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Avantgarden“ 85 dieses Jahrhunderts ermöglicht. An dieser Stelle sind solche philosophischen Haltungen zur Postmoderne ähnlich der Einstellung Zenders, die Postmoderne „als zu sich selbst gekommene Moderne oder als finales Stadium der Avantgarde“ zu bestimmen:

Unter ‚Postmoderne‘ verstehen vielen Menschen mehr oder weniger die Abschaffung der schwierigen, oft spröde und unsinnlich wirkenden Moderne zugunsten der verlockenden Möglichkeit, die von der Moderne tabuisierten Formen der guten alten Zeit in lustvoll erlebter Freiheit wiederzubeleben. [...] Mein Text hingegen beschreibt Postmoderne als zu sich selbst gekommene Moderne: finales Stadium der Avantgarde zwar, aber „final“ in dem Doppelsinn von ‚Ende‘ und ‚Ziel‘.86

Zender verstand die Musik unseres Jahrhunderts als zwei Strömungen, die aufgrund deutlicher Unterscheidungen grob eingeteilt werden: Avantgarde und Manierismus. Avantgarde versteht er als „Fortsetzung der ästhetischen Position“ 87 : „Die Avantgarde unseres Jahrhunderts, welche alle klanglichen und formalen Mittel umgestürzt hat, zeigt sich hinsichtlich des ästhetischen Sinns als eine Kraft, welche die europäische Tradition durch Weiterführung bewahrt.“88 Die ist verbunden mit dem Streben nach Neuheit oder Originalität: “Vielmehr versuchten die Avantgarden stets, das schon Dagewesene nicht zu wiederholen, sondern weiterzugehen im Hinterfragen der Regeln von Kunst.“89 Zender hat jedoch ein Umdenken gefordert und prognostiziert, dass „der Weg der Avantgarde in absehbarer Zeit (nämlich 70er Jahren) zu gewissen krisenhaften Endzuständen führen musste“90.

Wir sind dabei, zu verstehen, dass wir eine Vielheit von Denkmodellen brauchen, um unsere komplexe Situation zu meistern, dass wir lernen müssen, mit Widersprüchen produktiv umzugehen, anstatt, wie noch die Väter der Avantgarde, zu generalisieren.91

Die zweite Tendenz, die Zender mit dem Terminus Manierismus benannte, richtet die Vergangenheit rückwärts aus:

Alle manieristische Kunst bezieht sich ja auf Vorbilder, Stile oder Denksysteme vergangener Epochen, lebt aber davon, diese Vorbilder ästhetisch zu verändern, in

85 Jean-François Lyotard: „... die Moderne ist nicht zu Ende.“, in: Grabmal des Interkulturellen, Wien 1985 (Deutsche Übers. von Tombeau de l´intellectuel et autres papiers, Paris 1984), S. 81/83. 86 Hans Zender: „Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne“ (1989), in: Die Sinne denken, S. 157. 87 Ebd., S. 159. 88 Ebd. 89 Jean François Lyotard: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 39. 90 Hans Zender: „Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne“, S. 159. 91 Hans Zender: „Von der Notwendigkeit der Teamarbeit. Rede zur Verleihung des Kulturpreises des Landes Hessen“ (2002), in: Die Sinne denken, S. 262-265, hier S. 264. 30

eine andere Richtung hinzu interpretieren [...] es geht nicht um Logik, Eindeutigkeit und Fortschritt, sondern um Erinnerung, Mehrdeutigkeit und den überraschenden Schock des Absurden.92

Für ihn gelten daher solche Komponisten wie G. Mahler, O. Messiaen, C. Ives und insbesondere B. A. Zimmermann, die nicht Ausdruckskontraste, sondern autonome Stilkomplexe anstreben, als Manieristen. Auch seine erste Oper Stephen Climax wurde als manieristische Kunst intendiert. Mit dem Begriff des Manierismus, der in der Kunstgeschichte allgemein angewendet wird, stellte Zender seinen Manierismus-Begriff als „einträchtige Zwietracht“ im Sinne von Hofman93 dar:

[...] manieristische Kunst immer bezogen auf ein Früheres, auf etwas dem Bewusstsein als Regelkanon, als klassischen Bekanntes, immer aber mit Gegensätzen bearbeitet, welche jedem klassischen Begriff von Maß und Harmonie Hohn sprechen. [...] die Manieristen würden so die Vieldeutigkeit gegenüber der Kohärenz und Eindeutigkeit der klassischen Sprachen ausspielen.94

Konsequenterweise ermöglicht bei Zender die Avantgarde die komplexe Musiksprache, bietet der Manierismus die Grundlage für den Pluralimus der Musiksprachen. Aus Zenders Blickwinkel sind die Avantgarde und der Manierismus nicht voneinander abhängig, sondern funktionieren autonom als Grundlage, die musikalische Tendenz und den eigenen Charakter unseres Zeitraums zu erleuchten. Der Integrationsprozess der beiden hier erwähnten gegensätzlichen Denkansätze befindet sich sogar – Avantgarde und Manierismus – bereits in der Bewegung der Moderne.

Die Ästhetik unseres Jahrhunderts wird offenbar durch etwas gebildet, das man mit Heraklit als gegenstrebige Fügung bezeichnen könnte: Avantgarde und Manierismus sind die beiden Pole, welche sich nicht durch Übereinstimmung, sondern durch Gegensätzlichkeit tragen.95

Den dritten Weg, der nicht zu den beiden Polen gehört, hat Zender in der Musik des 20. Jahrhundert besonders in Beispielen von Cage und Webern eingefangen: Laut ihm ist es die Tendenz, zu den Grenzen der Musik zu gelangen und diese sogar zu überschreiten. Im Mittelpunkt steht „in der Öffnung zur Stille hin eine Eigenschaft,

92 Hans Zender: „Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne“, S. 159. 93 Hofmann teilte in 4 Kategorien ein: 1) Stilmischung, 2) Wahlfreiheit (bezüglich des Realitätsanteils), 3) Möglichkeitsform (d. h. jede künstlerische Form wird zu einer von vielen Möglichkeiten), 4) Multimaterialität - Werner Hofmann: „Einträchtige Zwietracht“, in: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen, Wien 1987, S. 13-21. Hier zitiert nach: Hans Zender: „Manierismus. Eine Skizze“, in: Die Sinne Denken, S. 28-29. 94 Hans Zender: „Manierismus. Eine Skizze“ (1988/2002), S. 28. 95 Hans Zender: „Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne“(1989), S. 160. 31

welche das Phänomen Musik tatsächlich in eine neue Dimension zu heben scheint, unabhängig von Stil, Geschichtsbezug und ästhetischer Zuordnung“ 96 . Zender erklärt weiter die entgegengesetzten Haltungen zur Stille mit den beiden Beispielen der Komponisten Webern und Cage: Während es sich bei Webern „um einen Introversionsvorgang“ handelt, ist die Stille bei Cage „eine radikale Extraversion des Hörens“. Bei den Werken Weberns sind manche Momente von Stille unhörbar und bannen damit das Bewusstsein des konzentrierten Hörens. Im Gegensatz dazu lässt die Stille Cages so einfach alles und jedes zu, so dass sie den Zufall als die äußerste Offenheit zur Wirklichkeit bezeichnet.97

Anders als die beiden Komponisten schlug Zender auf seine eigene Weise einen dritten Weg ein: „als Manierist die Linie der Avantgarde fortzusetzen“. In einem Verlauf tritt der Kern der Moderne hervor, beim Hören das Zeitbewusstsein nicht strukturell zu erkennen, sondern sinnlich wahrzunehmen. Vor allem in der Gattung Musiktheaters optimiert sich so eine komplexe Konzeption, die sich zwischen den zwei Hauptrichtungen der Musik unserer Zeit – Avantgarde und Manierismus – befindet:

[...] so bin ich Manierist. Baue ich neue Systeme auf, so setze ich die Linie der Avantgarde fort; entscheidend wird sein, ob meine Arbeit durch die Erfahrung der Stille und des Absurden gehärtet wurde. Diese Erfahrung, welche den reinene Prozess des Hörens als Wahrnehmung der artikulierten Zeit erst in voller Bewusstheit ermöglicht, ist das Herz jener Moderne, die erst jetzt in ihrer ebenso bestürzenden wie grandiosen Neuheit, Unentrinnbarkeit und Unerbittlichkeit als zu sich selbst gekommen erscheint.98

Die äußerlich entgegengesetzten Pole wurden von ihm als grundlegende ästhetische Eigenschaft der Moderne angenommen. Die daraus angeführte Postmoderne muss daher verschiedene pluralistische Charaktere aus beiden erhalten.

[...] es scheint unmöglich geworden zu sein, noch das Ganze zu überblicken, ja überhaupt ein Ganzes zu erkennen. Das gilt auch für die Musik. In früheren Jahrhunderten wurde die Kunst vieler Generationen von einer konstanten ästhetischen Norm getragen, welche dem einzelnen Künstler die Möglichkeit schenkte, sich in einem gemeinsamen Medium mitzuteilen sowie seine Eigenart durch individuelle Abweichungen auszudrücken. Die Meister des 20. Jahrhunderts dagegen gehen in die verschiedensten Richtungen und verkörpern die verschiedensten, einander widersprechenden ästhetischen Intentionen.99

96 Ebd., S. 161. 97 Vgl. Ebd. 98 Ebd., S. 165. 99 Ebd., S. 157ff. 32

Auf Grund der ästhetischen Veränderung unseres Jahrhunderts zum kompletten Pluralismus wies Zender darauf hin:

Die vom Serialismus oder von der Aleatorik geprägte Avantgarde, die Minimal music, die Collagetechnik, die Klangkomposition, die Neoromantik oder der Neoexpressionismus: keine dieser Strömungen kann heute allgemeine Akzeptanz erreichen und so etwas wie einen Weg in die Zukunft öffnen.“100

Im Zusammenhang mit der Postmoderne bildet sich eine diskontinuierliche, sprunghafte Zeit- und Geschichtsvorstellung aus. Unter dieser Einsicht über unseren Zeitraum ist der Kernpunkt des Terminus Postmoderne als „die neue Struktur, die als Verfassung radikaler Pluralität bestimmt wurde“ 101 , zusammenzufassen. Selbstverständlich ist die Pluralität zwar nicht der einzige Begriff der Postmoderne, aber im späten 20. Jahrhundert „vielfältiger und einschneidender“ geworden. Daher wird der Pluralismus nicht nur im äußeren Einblick zu jetzigen musikalischen Strömungen angewendet, sondern erreichte auch das innere Konstruktionsprinzip eines Werks: es bezieht sich auf den Blick von Welsch:

Postmodernes liegt dort vor, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen, Verfahrensweisen praktiziert wird, und zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk, also interferentiell102

2.2. Pluralismus, das innere Konstruktionsprinzip in einem Werk

Postmodern sind Werke dann, wenn sie sich explizit auf dissensuelle Pluralität beziehen. Das verlangt zunächst einmal, dass die Pluralität nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander erscheint (das ergäbe Pluralität bloß im Sinn des Historismus), sondern in ein und demselben Werk auftritt. Dann ist zu fordern, dass diese Pluralität nicht bloß (zufällig) vorkommt, sondern als kompositorisches Prinzip wirksam ist.103

Das grundlegende Prinzip zur Konstruktion eines Stücks in unserer postmodernen Zeit veränderte sich von Einheit zu Vielheit. Laut Welsch ist die Umstellung grundsätzlich: „Galt Pluralität zuvor als Entfaltungsform, Herausforderung oder Entwicklungsanlaß von Einheit, so muss fortan umgekehrt von ihr ausgegangen und Einheit in ihrem Rahmen – nicht mehr gegen sie – gedacht werden.“104

100 Ebd., S. 158. 101 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 320. 102 Wolfgang Welsch: Wege aus der Moderne, S. 17. & Wolfgang Welsch: „Asynchronien. Ein Schlüssel zum Verständnis der Diskussion um Moderne und Postmoderne“, S. 362. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 320. 33

Parallel zu diesem Sinneswandel begann Zender bei seinem Komponieren die Vielheit statt der Einheit zu seiner kompositorischen Grundregel zu machen:

Noch vor einigen Jahre hätte ich wenigstens negativ eine Einheit zu benennen versucht: Abwendung von den Klischees der Moderne wie der Postmoderne – von pseudoabstraktem Kunstgewerbe wie von historisch oder exotisch ausgerichteter Beliebigkeit. [...] Heute glaube ich zu erkennen, dass der tiefste Impuls der Moderne eine Hinwendung zur (nicht homogenen, nicht reduzierbaren) Vielheit ist – das heißt ja auch Offenheit für das Unerwartete.“105

Für Zender ist die Einheit „als Einheit einer geschlossenen Form“ nicht mehr haltbar, gilt nur im Sinne eines Ausgleichs, einer Proportionierung unter Umständen sehr heterogener stilistischer oder technischer Elemente:

Ich glaube nicht mehr an die Notwendigkeit, eine stilistisch und technisch geschlossene, einheitliche Werkstruktur zu finden, mich interessiert viel mehr das Unvereinbare, Heteronome – wann und wie man es zusammenspinnt.106

Er versuchte über die Möglichkeiten, heterogene Dinge nebeneinander darstellen zu können, hinaus die Heterogenität produktiv zu machen. Und es ist eindeutig, dass es ein musikalisch-kompositorischer Kern des Komponisten Zenders ist. Damit bleibt eine wichtige Frage: Wie? Auf welche Weise entsteht die Heterogenität – im weiteren Sinn die Pluralität – in seinen Werken?

Damit die postmoderne instrumentierte Pluralität gelingt, gibt es laut Welsch neben der Mehr-Sprachlichkeit eine zweite Bedingung: dass die Sprachen miteinander in Kontakt treten, dass eine Auseinandersetzung zwischen ihnen entsteht. An diesem Punkt ist die Debatte keineswegs eine ruhige, friedliche Synthese der verschiedenen Kodes, sondern eine Art, dass Bestreitung, Erläuterung und Durchdringung durch den konfusen Bezug der Kodes eintreten und nicht abgeblendet werden können.107

Postmodern geht es um Vielfalt nicht in der schiedlich-friedlichen Form des Nebeneinander von Verschiedenem, sondern in der anspruchsvollen, spannungsreich- agonalen und irritierenden Form der Komplexion.108

Welsch widmet seine Aufmerksamkeit nicht jedem einzelnen Element und Material, sondern den „Grenzen, Konfliktzonen und Reibungen, aus denen Unbekanntes und der gewohnten Vernunft Widerstreitendes hervorgeht“ 109 . Ähnlich diesem Blickwinkel resultiert Zenders ästhetische Einstellung auch nicht aus der

105 Hans Zender: zitiert nach Harvard Enge, „Hans Zender and postrmodernism“, in: http://engesforsok.blogspot.kr/2009/11/hans-zender-and-postmodernism.html (2016. 05. 03). 106 Hans Zender: zitiert nach Dieter Rexroth, Musica 86/4, S. 343. 107 Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Berlin 2008, S. 120. 108 Ebd., S. 121. 109 Ebd., S. 34. 34

Versammlung des Einzelnen, sie findet sich besonders in den Begriffen wie Reibungsfläche und Zwischenformen:

Aus den Reibungsflächen der verschiedenen Welten entstehen Zwischenformen, deren Sinn mehrdeutig und offen ist; aus den Zusammenstößen der Stile und logischen Systemen resultiert der Schock des Erschreckenden oder des Komischen; aus der Elektrizität des Widersprüchlichen, Anti-Logischen, Absurden wird eine neue Kraft abgeleitet, welche die Entwicklung der Musik über den Punkt Zero hinaustreiben kann, weil sie eine neue Dimension gewonnen hat: die Interaktion von Geschichte und Gegenwart innerhalb der Grenzen des Kunstwerks.110

An diesem Punkt wird festgestellt, dass der Pluralismus als Axiom der Komposition bei Zenders Komponieren nicht auf verschiedenartige musikalische Stile und kompositorische Techniken beschränkt und nicht aus Integration, Überlagerung oder Versammlung der Substanzen entstanden ist. Vielmehr wird klar, dass der komplexe Pluralismus Zenders im Verhältnis zur früheren musikalischen Tradition und zu verschiedenen theatralisch-musikalischen Medien, sowie in der Haltung zu heterogenen Kulturen und ihrer untergeordneten Phänomene als Grundsatz funktioniert.

110 Hans Zender: „Über Stephen Climax“ (1985), in: Die Sinne denken, S. 284. 35

II. Stephen Climax (1979/1984)

Zenders erstes Bühnenwerk Stephen Climax findet seit Mitte des 20. Jahrhunderts im Kontext der Begriffe Pluralismus oder Polystilistik häufig Erwähnung. Der Pluralismus dieses Stücks wirkt sich auf verschiedene Schichten aus, von der Auswahl der szenisch-musikalischen Materialien bis hin zur Ausführung des ästhetischen Ideals. Aus der Perspektive der Entstehungsgeschichte gilt Stephen Climax als Paradebeispiel für die Versuche Zenders, mit verschiedenen musikalischen Stilen und kompositorischen Techniken zu experimentieren. In den Stücken wie Drei Rondels nach Mallarme (1961) und die Eichendorff-Lieder (1963/1964), die am Anfang der 60er Jahre in den Anfängen seines Komponierens entstanden, befinden sich Überlegungen zur Tonhöhenkonstruktion: In Drei Rondels entsteht die Tonhöhenkonstruktion durch gewisse Intervall-Beziehungen miteinander verbundener zwölftöniger Felder. In Eichendorff-Lieder finden sich Spuren der isorhythmischen Strukturprinzipien, die er bei Fortner an der Freiburger Musikhochschule kennengelernt hatte. Sein Interesse an der Werkstruktur führte zu dem kompositorisch-ästhetischen Standpunkt, in einem Werk die strukturellen Systeme stets beizubehalten. In Eichendorff-Lieder fungiert die isorhythmische Kompositionstechnik als grundsätzliches Prinzip für die Form und Struktur dieses Stückes. Ganze Formteile dieser Lieder werden bei Veränderung der Tonhöhe in gleicher rhythmischer Faktur aneinandergesetzt. Bis zu den 70er Jahren setzte sich dieses Experiment mit Rhythmen und Struktur fort und beeinflußte auch Stephen Climax.111

Die Begegnung mit dem Komponisten Bernd Alois Zimmermann eröffnete Zender neue Perspektiven. Als Stipendiat verbrachte Zender zwei Studienaufenthalte in der Villa Massimo in Rom (1963/64 und 1968/69), wo er sich mit Zimmermann anfreundete. Im Canto I für Chor, Flöte, Klavier, Streicher und Schlagzeug (1965) deutete sich erstmals ein neues, von Zimmermann beeinflußtes Zeitbewusstsein an. Als Dirigent bekam er die Möglichkeit, Zimmermanns Oper Die Soldaten einzustudieren, um sie im Jahr 1976 in Hamburg auf der Bühne zu realisieren. Dadurch wurde ihm nach Zenders Aussage „das Tor zu einer neuen Art Musiktheater weit aufgestoßen.“112

111 Vgl. Hans Zender: „Werkeinführungen“, in: Die Sinne denken, S. 307 ff. 112 Klaus Umbach: „Spiegel-Redakteur Klaus Umbach über die Uraufführung von Hans Zenders Opernerstling Stephen Climax“, in: Der Spiegel, 25(1986), S. 176-177. 36

Ich entsinne mich noch gut, dass mich bei der Uraufführung der Oper Die Soldaten im Jahre 1965 etwas sehr irritierte: Die stilistische und formale Uneinheitlichkeit des Werkes. Üppiger Klang und virtuoser Glanz neben asketischer Kargheit; orthodox Serielles neben Zitaten klassischer Musik; Jazz und konkrete Geräuschklänge vom Tonband. [...] Heute erscheint mir gerade die Asymmetrie der Gesamtform, die Durchdringung der verschiedenen stilistischen Ebenen, das Torsohafte, „Fragmentarische“ als die Stärke dieses Werks. Die Soldaten sind kein geschlossenes Ganzes, sondern ein komponierter Entwicklungsprozess.113

Zender scheint offensichtlich unter dem Einfluss des Konzeptes der „pluralistischen Oper“114 Zimmermanns zu stehen. Aus diesem Anlass konzipierte er selbst eine Oper nach dieser Konzeption, insbesondere nach der neuen Zeitgestaltung Zimmermanns „Kugelgestalt der Zeit“ 115 von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als davon abgeleitete Kompositionstechnik wählte Zender wie Zimmermann in seiner Oper die Collage-Technik und die Simultanszene. Hinsichtlich der ästhetischen Verwirklichung des pluralistischen Konzepts und des Einsatzes der Collage-Form durch Zitieren verschiedener musikalischer Fragmente hat Stephen Climax mit Zimmermanns Oper Die Soldaten viel gemeinsam. Zender wollte sich jedoch abgrenzen, indem er den kompositorischen Unterschied zu Zimmermann betonte.116

In den 70er Jahren tendierte die kompositorische Neuorientierung zu Experimenten mit offenen Formprozessen und variablen Strukturen, wie z. B. im Instrumentalzyklus Modelle (1971/1973) und dem komplexen Canto V für Stimmen mit Schlaginstrumenten (Heraklit, 1972/1974): In Canto V versuchte er, die Heraklitsche Grundidee von den Gegensätzen musikalisch zu realisieren, indem er von zwei sehr gegensätzlichen Arten von Musik – dem periodischen „Kontinuum“ und einem als „Fragmente“ bezeichneten individuell-aperiodischen Teil – ausging. In den Modellen entwirft er mittels des Kontrasts zwischen ungeradzahligen, harmonisch und rhythmisch sehr einfachen, und geradzahligen,

113 Hans Zender: „Gedanken zu Zimmermanns Soldaten“ (1976), in: Die Sinne denken., S. 8. 114 In seinem Essay „Zukunft der Oper“ definiert Zimmermann sein Programm: „[...] Architektur, Skulptur, Malerei, Musiktheater, Sprechtheater, Ballett, Film, Mikrophon, Fernsehen, Band- und Tontechnik, elektronische Musik, konkrete Musik, Zirkus, Musical und alle Formen des Bewegungstheaters treten zum Phänomen der pluralistischen Oper zusammen.“ – Bernd Alois Zimermann, „Zukunft der Oper“, in: Intervall und Zeit, S. 38-46. 115 Der Schlüsselbegriff Zimmermanns, der seine philosophischen Gedanken über Zeit und Zeitbewusstsein zeigt. Der Komponist betrachtet Zeit nicht als Chronologie, sondern als Einheit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. So entstand in seinem Komponieren die Kugelgestalt der Zeit, auf der die drei Zeit-Dimensionen vertauschbar und überlagerbar sind. Das Hauptwerk, in dem diese Zeit-Auffassung vorzüglich reflektiert wird, ist die Oper Die Soldaten (1965). Vgl. Michael Denhoff: „Stille und Umkehr. Betrachtungen zum Phänomen Zeit“, in: Musik Texte 24 (1988), S. 27-38. 116 Andersartigkeit und Kontrast zwischen den beiden Komponisten wird im analytischen Teil dieses Kapitels ausführlich bearbeitet. 37

weitgehend geräuschhaften und improvisierten Modellen eine ähnliche kompositorische Dualität. So ergab sich tatsächlich die Möglichkeit eines Ineinanderschiebens beider Stücke – für ihn eine nachträgliche Bewusstwerdung von Entwicklungszügen.117 Außerdem beeinflusste zusätzlich auf andere Weise die Begegnung mit der chinesischen und japanischen Kultur sein europäisches Zeitverständnis: Nach mehreren Konzertreisen nach Japan Anfang der 70er Jahre interessierte er sich für die asiatische nicht-lineare Zeitauffassung: er komponierte Muji No Kyô (1975) und Lo-Shu I-III (1977-1978), die beide in Bezug zu diesem ästhetischen Gedanken stehen.

In seinem ersten Musiktheaterstück Stephen Climax sind alle Spuren der bis dato existenten verschiedenen musikalischen Richtungen vorzufinden die Auseinandersetzung mit der Werkstruktur (die serielle Technik, die rhythmische Modus-Technik etc.), Suchen nach den gegensätzlichen Arten von Musik, Beschäftigung mit der Zitat-Technik aus verschiedenen alten musikalischen Materialien und mit dem dadurch entstehenden Collage-Werk. In diesem Werk koexistieren sie jedoch nicht ruhig, sondern konfrontieren sich und stoßen miteinander zusammen – zuweilen klingen sie simultan und überlagern einander. In der vorliegenden Arbeit wird insbesondere diese komplexe Eigenschaft der Oper auf verschiedenen Ebenen analysiert.

Stephen Climax beinhaltet viele verschiedene szenisch-musikalische Materialien. Im dramatischen Bereich nahm er Motive aus zwei unterschiedlichen Romanen: Ulysses (1922) von James Joyce und Byzantinisches Christentum (1923) von Hugo Ball. Aus den beiden Motiven sind zwei parallel laufende, jedoch voneinander unabhängige Handlungen konzipiert, die jeweils zeitlich-räumlich unterschiedliche Hintergründe und Hauptfiguren beinhalten: In der Handlung des Ulysses spielt der junge Intellektuelle Stephen im Bordellviertel in Dublin Anfang des 20. Jahrhunderts die Hauptrolle, den Mittelpunkt in der Handlung des Byzantinischem Christentum bildet der Asket Simeon auf einem Berg in der Syrischen Wüste in der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr..

Ebenso wie die szenisch-dramatisch komplett unabhängig errichteten zwei Handlungen, die Simeon– und Stephen–Handlungen118 , ist auch die Musik für

117 Vgl. Hans Zender: „Werkeinführung“, S. 310 ff. 118 Den Namen der Hauptfiguren beider Opernhandlung entsprechend werde ich die eine Handlung 38

beide gleichermaßen völlig unabhängig voneinander komponiert. Beide Handlungen haben zudem jeweils unterschiedliche musikalische Stilebenen: Die Musik für die Stephen-Handlung ist aus vielen verschiedenen musikalischen Materialien und Stilen entstanden. Die aus den verschiedenen Epochen der europäischen Musikgeschichte übernommenen Zitate sind besonders im zweiten Akt omnipräsent: ein Abschnitt der Kantate Amore-traditore Bachs, ein anonymes Sanctus aus dem 14. Jahrhundert, Orfeo von Monteverdi und Bruchstücke von W. Byrd und B. Godard. Der Musikstil der Simeon-Handlung basiert daher auf dem Serialismus, weil die Stimmen von Simeon und den Mönchen überwiegend von einer Zwölftonreihe geprägt werden und neben dem Tonhöhenbereich sowohl im Rhythmus, als auch im Taktwechsel und in der Dauerordnung die serielle Kompositionstechnik angewendet wird.

Auf Grundlage der primären Informationen über die Oper behandelt der erste Teil dieses Kapitels die folgenden Fragen: Wie werden die zwei Handlungsstränge im Libretto strukturell konstruiert, auf welche Weise auf der Bühne realisiert? Wie kommen sie mit jeweils unterschiedlichem Hintergrund, Schlüsselperson und Thema an das für diese Oper konzipierte eigene Thema Zenders „die gegenstrebige Fügung“ heran? Auf dieser Basis werden die Charaktere der Bühnenfiguren abgehandelt. Im zweiten Teil wird zuerst der Entwurf des Komponisten bezüglich Struktur und Form der Oper untersucht und dann die unterschiedliche Musikstile der beiden Handlungen analysiert. An dieser Stelle wird der „Komik-Effekt“ erklärt und die ihn begleitende „Simultaneität der gegenläufigen Affekte“, die auf der einen Seite als Weiterentwicklung der pluralistischen Oper Zimmermanns und auf der anderen Seite als eigenes Konzept des Komponisten Zenders zu interpretieren sind.

aus dem Roman Hugo Balls „Simeon-Handlung“, die andere aus dem Ulysses von James Joyce „Stephen-Handlung“ nennen. 39

1. Handlungsebene

1. 1. Konzeption der szenischen Struktur

Im dramatischen Bereich nimmt er Motive des Librettos aus zwei unterschiedlichen Romanen: Ulysses (1922) von James Joyce und Byzantinisches Christentum (1923) von Hugo Ball. Aus den beiden Motiven konzipiert er zwei parallel laufende, jedoch voneinander unabhängige Handlungen, die jeweils zeitlich-räumlich unterschiedliche Hintergründe und Hauptfiguren beinhalten: In der Ulysses entnommenen Handlung befindet sich der junge Intellektuelle Stephen am Anfang des 20. Jahrhunderts im Bordellviertel von Dublin, in der anderen Handlung aus Byzantinisches Christentum ist der Asket Simeon in der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. auf einem Berg in der Syrischen Wüste.

Zum besseren Verständnis dieses Stücks wäre es zunächst aufschlussreich, über den Titel „Stephen Climax“ nachzudenken: Auf der einen Seite ist er als eine Kombination der beiden Figuren zu verstehen, denn Stephen ist der Name der Hauptfigur der Dublin-Szene des Ulysses und das Wort „Klimax“ kommt aus dem Kapitel „Joannes Klimax“ aus Byzantinisches Christentum im ursprünglichen griechischen Sinne von Leiter. Der Heilige dieses Namens war um das Jahr 580 Abt des Klosters auf dem Berge Sinai und wurde nach einem in 30 Grade oder Stufen eingeteilten asketischen Werk benannt, das er hinterließ. Auf der anderen Seite jedoch könnte der Titel im inhaltlichen Sinne auch als Steigerung interpretiert werden. Diese äußert sich bei Stephen in seinem hysterischen Ausbruch im zweiten Akt, bei Simeon in der Steigerung der asketischen Enthaltung bis hin zur Zurückweisung der eigenen Mutter.119

Des weiteren stellt sich die Frage, warum Zender diese beiden Romane auswählt: Der Grundidee des Komponisten zufolge symbolisieren die Romane die Konfrontation zweier konträrer Welten, die mit dem Mittel der Collage einander gegenübergestellt werden.120 An dieser Stelle wird die Frage beantwortet, was einen Wüstenmönch aus der christlichen Frühzeit, wie ihn Hugo Ball beschreibt, mit dem sich selbst suchenden modernen Künstler des Joyceschen Werkes verbindet.

119 Vgl. Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 271 und Burkhard Rempe: „Einführungsvortrag zu Hans Zender, Stephen Climax“, AdK-Bestand 860, unveröffentlicht, Einsicht im Archiv der Akademie der Künste Berlin. 120 Vgl. Ebd. 40

Danach gilt es zu beantworten, wie die Charaktere und die dramatischen Eigenschaften jedes Romans in der Oper umgesetzt werden können.

Im inhaltlich-thematischen Bereich sind vor allem die entgegengesetzten Merkmale der Handlungen deutlich gekennzeichnet: In der Oper markieren ihre beiden Seiten die gegenseitige Geisteswelt unseres Jahrhunderts und führen gleichsam in ein Labyrinth aus menschlich-sinnlichen und geistig-seelischen Welten. Wie der Literaturkritiker Edmund Wilson in seiner Kritik über den Roman Ulysses schreibt, dass er wie “the most faithful X-ray ever taken of the ordinary human consciousness“121 sei, wird Ulysses als Roman angesehen, in dem es um die Welt des Bewussten und Unbewussten geht: innerlich, sinnlich, menschlich, körperlich. Im Vergleich dazu treten im Byzantinisches Christentum ein Wüstenmönch in der christlichen Frühzeit und die ihn umfassende religiöse Umwelt in den Mittelpunkt. Nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft und das System, in denen soziale Normen und Autoritäten vorherrschen, werden eindringlich behandelt. Aus diesem Grund geht es hier um die geistig-seelische Welt.

An dieser Stelle liegt der Fokus auf den technisch-materiellen Eigenschaften beider Romane. Im Ulysses werden alle nur erdenklichen und neuen Formen der Sprachgestaltung herangezogen, besonders im Circe-Kapitel wird dafür die Form eines Schauspiels als Übermittler gewählt: Szenen- und Regieanweisungen, Monologe, Dialoge, Massenszenen, Erscheinungen und Personifikationen, Geräusche, Gesänge, Musik, Tänze und Ballett. Das alles und noch viel mehr, kurz, der ganze „Fundus“ des Theatermachens, wird aufgeboten, aber nur als Strukturen, die einem imaginären Theater der Sprache dienen. Diese Strukturen sind es letztlich bei Zender, die einer „Darstellbarkeit“ auf der Opernbühne entgegenkommen und somit das Circe-Kapitel zur Vorlage der „Dublin-Handlung“ machen. 122 Als Material zum Libretto der zweiten Handlung diente Hugo Balls Byzantinisches Christentum. Diese weitgehend epischen Vorlagen wurden vom Komponisten zu einer klaren, ruhigen Bühnenhandlung und -sprache verarbeitet bzw. gedichtet, die sich kontrastierend zur stets bewegten, ständig über sich hinausweisenden Sprache

121 Edmund Wilson: „Review: New Republic 1922”, in: Robert H. Deming (Hrsg.), James Joyce: The Critical Heritage. 1. Vols., London 1970, S. 227-230, hier S. 228. 122 Volker Wacker: „Hans Zenders Oper Stephen Climax. Betrachtung und Aspekte“, in: Constantin Floros, Hans Joachim Marx und Peter Petersen (Hrsg.), Musiktheater im 20. Jahrhundert, = Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 10, Laaber 1998, S. 239-259, hier S. 243. 41

der „Dublin-Handlung“ verhält.123

Der Absicht des Komponisten Zender zufolge, der auch das Libretto selbst verfasste, bietet der dramatische Charakter jedes der beiden Romane als Fundament der Opernhandlung auf der Bühne die szenisch-theatralische Struktur, die für diese Oper eine spezifische Eigenschaft darstellt. Aus den Motiven beider Romane lässt der Komponist auf dramatische Art und Weise zwei unterschiedliche Handlungsstränge auch szenisch auf einer Bühne simultan darstellen. Schließlich ergibt sich in der Oper Stephen Climax eine Collage zweier voneinander völlig unabhängiger Handlungen. Über das formale Spezifikum dieses Opernstücks schreibt der Musikwissenschaftler Volker Wacker: „Der dramaturgische Ansatz durchbricht den Rahmen einer gewöhnlichen Operndramaturgie, sofern diese von einer Handlung ausgeht, mag sie auch noch so widersprüchlich oder kausal verworren erscheinen.“124

Das Libretto als Ansatz der beiden voneinander unabhängigen Handlungen verwirklicht auf der Bühne die Idee „Simultaneität der Szenen“, die im Wesentlichen von Zenders Vorgänger Bernd Alois Zimmermann stammt. Letzterer unternahm in seiner Oper Soldaten verschiedene szenisch-musikalische Versuche, die Pluralität der Geschichte als prozessuale Einheit zu begreifen. Von seinem großen Vorbild Zimmermann und seinem eigenen Werk übernahm Zender diese Idee der Simultaneität von Zeiten, Räumen und Stilen und wollte sie weiterentwickeln. Schließlich erreicht er die Simultaneität der Affekte:

Erscheinen zwei Affekte gleichzeitig in einer musikalischen Form, so heben sie sich in einem gewissen Sinn gegenseitig auf; ebenso wird kompositorische Logik dann aufgehoben, wenn zwei verschiedene logische Systeme durch die Simultaneität aufeinander prallen – also etwa wenn in einer Collagen-Komposition zwei verschiedene Stile gleichzeitig zu hören sind. Wahrscheinlich kann man ein Stück wie Stephen Climax erst dann voll verstehen, wenn man dieses komponierte „Aufheben“ von Form und Ausdruck (ihren totalen Relativismus) mitsieht. Form und Ausdruck erscheinen als „nichtig“, das heißt, sie sind jederzeit durchbrechbar, zerbrechbar. – Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen bzw. Affekte als eine Möglichkeit einer neuen komplexen Erfahrung.125

1.2. Thema: „Die gegenstrebige Fügung“

Aus der Konfrontation zwischen den beiden Handlungssträngen der

123 Ebd., S. 243. 124 Ebd., S. 242. 125 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“ (1979-85), in: Die Sinne denken, S. 274. 42

unterschiedlichen Romanen konstituiert sich das Thema dieser Oper: Absturz vs. Erlösung, im weiteren Sinne „die gegenstrebige Fügung“. In mehreren Essays zitiert Zender dieses Motto „palintonos harmonia (in der deutschen Übersetzung „gegenstrebige Fügung“)“ aus dem Satz des vorsokratischen Philosophen Heraklit von Ephesos (um 520 – 460 v. Chr.). Heraklit betrachtet die Erfahrungswelt des Menschen als ein Ganzes von Gegensätzen, die sich ineinander verwandeln und von einem Pol zum anderen wandern. Die Gegensatzpaare folgen dabei nicht nur einem äußerlichen Prozess, sondern sind als Gegensätze schon ineinander verschränkt. Über die Einheit des scheinbar Gegenstrebigen äußert sich Heraklit in Fragment B. 51:

Sie verstehen nicht, wie das Auseinandergehende mit sich selbst zusammengeht: gegenspännige Zusammenfügung wie von Bogen und Leier.126

Er vergleicht dies mit der Bauweise des Bogens und der Leier: Das gemeinsame Merkmal von Bogen und Leier besteht in den einander gegenüberliegenden Schenkeln eines rundgebogenen Holzes, zwischen denen eine oder mehrere Saiten gespannt sind. In diesem Punkt bedeutet „harmonia“ die Ausgewogenheit, aber nicht die einfache „Konsonanz (concord)“, sondern die „Verbindung (connexion)“ zwischen den gegenseitigen Kräften, die nie voneinander getrennt sein können.127

Unter Heraklits Einfluss schreibt Zender später über das Musikhören ein Buch mit dem Titel „Wir steigen niemals in denselben Fluss“128. Gleiche Bedeutung erfährt auch das Fragment B. 12: „Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.“129 Zenders Interpretation an Heraklit zufolge, „wenn wir zu verschiedenen Momenten unserer Lebenszeit in denselben Fluss steigen, so werden wir jedes Mal einer veränderten Zusammensetzung dessen begegnen, was eigentlich den Fluss bildet: des Wassers“130.

An diesem Punkt fällt einem der deutschen Philosoph Hans Georg Gadamer (1900 – 2002) ein, der über dieses Fragment die folgende Interpretation ausgeführt hat:

126 Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin 1980, S. 166. 127 Vgl. Geoffrey S. Kirk: Heraklitus, The Cosmic Fragments, Cambridge 1954, pp. 219-221. 128 Hans Zender: Wir steigen niemals in denselben Fluss. Wie Musikhören sich wandelt, Freiburg 1996. 129 Heraklit: Fragment B. 12. 130 Hans Zender: „Wir steigen niemals in denselben Fluss“ (1995), in: Die Sinne denken, S. 185. 43

Die Beständigkeit des Flusslaufes und die Ruhelosigkeit seines Fließens, das heißt die Kombination von Konstanz und Variabilität, stellt zudem ein Beispiel für die „Einheit der Gegensätze“ dar, die ein weiteres Kernelement der heraklitischen Lehre bildet.131

Die gegensätzliche Einheit verbindet sich mit dem Thema „Leben und Tod“ und setzt sich in den Fragmenten fort:

Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie Schlafendes, Junges wie Altes. Das eine schlägt um in das andere, das andere wiederum schlägt in das eine um.132

Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: Sie leben den Tod jener, und das Leben jener sterben sie.133

Die transitive Verwendung von „leben“ und „sterben“ deutet gemäß dem deutschen Philosophen Klaus Held an, dass Heraklit das gesamte Leben als Sterben auffasst, wobei die menschliche Sterblichkeit in Kontrast zur göttlichen Unsterblichkeit tritt, sie als ihr Gegenteil erst bedingt und damit vollzieht bzw. erst denkbar macht.134 Der Interpretation von Held zufolge sei das Leben als Verlauf zwischen Geburt und Tod nicht nur von diesen zeitlichen Grenzen bestimmt, sondern „in jeder seiner Phasen gebürtig und sterblich“. Wachen und Schlafen, Jugend und Alter stellten über das landläufige Verständnis hinaus Abwandlungen derjeniger beider Grundweisen des Lebend-sich-Befindens dar, die bereits durch die Ausdrücke „Leben“ und „Tod“ bezeichnet werden.135 An diesem Punkt entsteht die Verbindung zum Thema dieser Oper: Konfrontation und Koinzidenz zwischen Absturz und Erlösung, oder zwischen Untergang und Erstehung.

1. 3. Figuren

Das strukturelle Grundgefüge dieser Oper besteht aus den Motiven der beiden sich stark voneinander unterscheidenden Romane, in denen es viele verschiedene Figuren gibt. In diesem Abschnitt wird insbesondere untersucht, wie sich jeder Charakter der beiden Romane im Sinne des Komponisten szenisch gestaltet. Darauf basiert, wie die Hauptfiguren mit welchen musikalischen Konzeptionen verbunden sind und wie sie musikalisch verwirklicht werden. a. Stephen Daedalus

131 Hans Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999, S. 42. 132 Heraklit: Fragment B. 88, Übersetzung nach Hans Georg Gadamer: Philosophisches Lesebuch, Frankfurt a. M. 1965, S. 29. 133 Heraklit: Fragment B. 62. 134 Klaus Held: Ebd., S. 453. 135 Klaus Held: Ebd., S. 281. 44

Die Hauptrolle dieser Oper ist sicherlich Stephen aus dem Roman Ulysses von James Joyce. Bei Stephen Daedalus handelt es sich sowohl um eine fiktive Figur, die in seinem früheren Roman A Portrait of the Artist as a Young Man bereits aufgetaucht ist, als auch eine autobiographische Figur des Autors, der in früheren Jahren unter dem Namen „Stephen Daedalus“ einige Erzählungen, wie z. B. Dubliner, veröffentlichte. Ein enger Zusammenhang zwischen dem Autor und der vom Autor selbst erzeugten Figur ist in der Kunst bzw. in Romanen häufig zu finden. Dieses Werk veranschaulicht besonders deutlich, wie sich der Autor mit der Figur seines Werkes identifiziert. Mit den Figuren und Inhalten des Romans hat er die Existenz der Wüsten-Seite erarbeitet, so dass ein völlig neuer dramatischer Rahmen für die Oper entstand.

„Stephen“ ist ursprünglich der Name des in der Geschichte vorkommenden ersten christlichen Märtyrers, der behauptet, dass die Autorität Jesus größer sei als die der Kirche. Er fiel der Christenverfolgung zum Opfer. Der Nachname „Daedalus“ ist der des brillanten Erfinders, Technikers, Baumeisters und Künstlers in der griechischen Mythologie, der für sich selbst und seinen Sohn Ikarus Wachsflügel baute, um die Flucht aus dem Labyrinth von König Minos zu ermöglichen. Ikarus erhob sich mit den Wachsflügeln in die Lüfte, ignorierte aber die Warnung seines Vaters, des Meisters „Daedalus“, der Sonne zu nahe zu kommen. Es kam, wie es kommen musste: Er flog zu nahe an die Sonne heran, weshalb das als Klebemittel benutzte Wachs schmolz und er ins Wasser stürzte. Joyce erschuf eine Figur, deren Namenskombination eine komplexe symbolische Bedeutung in sich vereint.

Die Hauptperson des Ulysses Stephen ist auf dramatische Weise die Metamorphose von Ikarus, Sohn des Daedalus: In der Circe-Szene wird Stephen in den nächtlichen Straßen von den beiden betrunkenen Soldaten Carr und Compton niedergeschlagen. Damit wird der Absturz des Ikarus angedeutet. Das erstmalige Experiment des großen Meisters Daedalus, nur mittels menschlicher Kraft und Intellekt den Himmel zu erobern und so die Grenzen der Schwerkraft aufzuheben, ist gescheitert. Sein Fall ist eine Metapher des Vergsagens des modernen Menschen, der sich wie Stephen als Intellektueller die Auferstehung oder Wiederbelebung der modernen Kunst und Wissenschaft wünscht, aber keinen Erfolg hat.

Hier scheint es, dass der Librettist Zender den Charakter Stephen als Selbstportrait eines modernen Künstlers interpretiert, der allein aus seiner inneren Inspiration

45

heraus seine eigene Kunst erschaffen muss in einer modernen Gesellschaft, in der nie sicher ist, was als Kunst angenommen wird. Obwohl er aus dem nicht von ihm selbst geschriebenen Roman einige Teile, einschließlich des Hauptmotivs, in seine Opernhandlung eingebracht hat, wollte er durch die Bearbeitung der Handlung mit dem anderen Handlungsstrang seine von Joyce abweichende Figur Stephen erschaffen. Genauso wie Joyce identifiziert sich Zender selbst mit Stephen, weswegen dieser als autobiographische Gestalt des Komponisten dargestellt wird. Er wollte jedoch diesen Charakter stärker als bei Joyce als einen Künstler des 20. Jahrhunderts darstellen, der nicht aufgibt, seinen eigenen Weg zu finden:

Die Größe der Joyceschen Konzeption liegt darin, dass Ikarus Stephen seinem Schicksal nicht entfliehen kann: er muss untergehen. Meinem Stephen dagegen rufen die Stimmen zu: „Fang noch mal an!!“ Er wird nach einer neuen Konzeption von Kunst und Leben suchen, die nicht mehr mit dem Mythos des Daedalus abzudecken ist.136

Im Einführungsvortrag für die Aufführung dieser Oper sieht Rempe darin in Anlehnung an die Konzeption des Komponisten „den Versuch, nach dem Zusammenbruch aller bisherigen Formen – auch künstlerisch gesehen dem Zusammenbruch aller Dinge wieder den nächsten Schritt zu machen“.137

Es scheint, dass die Namen der Figuren bei Joyce dem Mythos entliehen sind. Außerdem parallelisiert er die ganze Struktur seines Romans Ulysses mit der Struktur des Odysseus-Mythos. Während Homers Werk Odysseus erzählt, wie Odysseus zum Trojanischen Kriegszug nach Ihtaka aufbricht und nach 20 Jahren zu seiner Ehefrau Penelope und zu seinem Sohn Telemakus heimkehrt, geht es in Joyces Ulysses darum, dass der Bürger Leopold Bloom morgens aus dem Haus geht und nachts mit Stephen, als wäre der sein eigener Sohn, zu seiner Ehefrau Molly zurückkommt. Im strukturellen Bereich der Erzählung schafft Joyce eine Parallele zwischen der Rückkehr des Vagabunden Odysseus und der Blooms: Im inhaltlichen Bereich jedoch verpaßt er Stephen die Rolle des modernen Ulysses als eines Kämpfers, der sich nicht in der Realität, sondern in der geistigen Sphäre mit sich selbst und mit der Welt auseinandersetzt. Im Joyceschen Werk Ulysses wird daher Stephen, anders als der typische Held im Mythos, als ein relativ unreifer jugendlicher Intellektueller dargestellt, der sich dem Elend und Selbstmitleid ergibt. Diese unvollkommene Figur faszinierte den Komponisten Zender so sehr, dass er

136 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 274. 137 Burkhard Rempe: a.a.O. 46

sie zur Hauptperson für seine Oper auswählte. Als gegensätzliche Hauptfigur nahm er Simeon von einer völlig anderen Quelle. Die beiden ergänzen sich.

Stephen als Typ des modernen Menschen mit eigenständiger Individualität leugnet die verschiedenen Welten, die seine Identität vorherbestimmen – den leiblichen Vater, den Heiligen Vater und das Vaterland.

Ablehnung des leiblichen Vaters

Anders als im Roman Ulysses wird in der Oper Stephen Climax der leibliche Vater Stephens als Metamorphose der Circe-Szene fast gar nicht erwähnt. Stephen scheint seinen leiblichen Vater (consubstantial father) Simon zu verleugnen und sich selbst einen geistigen Vater (transubstantial father) zu suchen. Auch die Hauptfigur Leopold Bloom sucht jemanden, der die Lücke seines toten Sohnes Rudy füllen kann. Hier kann man aus der „Vater ohne Sohn, Sohn ohne Vater“- Situation eine emotionale Verbindung herleiten.138

In diesem Musiktheaterwerk deutet Stephens seelische Wanderung vor allem die Suche nach der autonomen Kunst an, die von der gesellschaftlichen Konvention wegkommt, um dann in die neue geistige Welt einzutreten. Hierbei hilft ihm Bloom als geistiger Vater.

Ablehnung des Heiligen Vaters als Metapher für die Autorität der katholischen Kirche

Im ersten Akt sagt Stephens Freund Lynch zu ihm: „Du hättest deine Mutter umgebracht“ und tadelt ihn wegen deren Tod. Die Mutter bittet ihren Sohn Stephen kurz vor dem Tode darum, dass er sich niederkniet und zu Gott betet. Stephen lehnt ab, empfindet aber danach ständig Gewissensbisse, die auf sein Bewusstsein und Unterbewusstsein einwirken. Für Stephen bedeutet das Niederknien beim Beten, der zugeteilten starren kirchlichen Autorität gehorsam sein zu müssen, so dass er als freier Künstler unserer Zeit nicht mehr für Neues offen sein kann. Deswegen fühlt er sich gezwungen, zu verweigern und wie Lucifer „non serviam!“139 rufen.

Stephens Ablehnung des Heiligen Vaters hängt mit der persönlichen Einstellung des

138 Stuart Gilbert: Das Rätsel Ulysses, Frankfurt am Main 1994, S. 256. 139 Auf Lateinisch „ich werde nicht dienen.“, eine Phrase, die generell Luzifer zugeschrieben wird, aber auch aus der griechisch-römischen Antike überliefert wird. Stephen im Ulysses will ständig seinen grundlegenden Glauben „Non serviam“ bekräftigen. 47

Autors Joyce zusammen, der unter dem starken Einfluss seiner Mutter sehr religiös aufwuchs. Seine Heimatstadt Dublin ist zwar eine große katholische Stadt im Norden Europas, besitzt aber auch ein bekanntes Bordellviertel. Joyce lehnt die Autorität der Kirche ab, die ausschließlich einen einzigen Glauben zulässt. In seinem Werkkonzept nimmt demnach die Kunst, in der mehrere Denkarten koexistieren, den Platz der Religion ein. 140 Insofern ruft nicht nur Stephen in Ulysses, sondern auch der Autor Joyce „non serviam”.

Ebenso wie bei Joyce entpuppt sich auch in Zenders Werk „non serviam“ als Überwindung der starren religiösen Macht:

Als Vertreter der Aufklärung muss er (Stephen) sich von der Autorität der Kirche (und das Staates) lossagen; psychologisch gesehen, muss er sein autonomes Ich gegen eine bedrohlich aus dem Unterbewusstsein aufsteigende Bilderflut verteidigen.141

Bei Zender als Komponist des 20. Jahrhunderts ist die Autorität der Kirche eine Metapher für die Absage an die Erstarrung des avantgardischen Komponierens in der Neuen Musik, wie z. B. des Serialismus der Darmstädter Schule. Zender lehnt jedoch keinesfalls die Anwendung der seriellen Kompositionstechnik ab, sondern benutzt sie je nach Bedarf taktkräftig wie in dieser Oper. Es fällt auf, dass sein Vorgehen die Erstarrung der Neuen Musik abschwächt, indem der Serialismus als kompositorisches Material gleichberechtigt behandelt wird.

Absage an das Vaterland

Aus dem Gespräch zwischen dem betrunkenen Soldaten Carr und Stephen im dritten Akt geht Stephens Verhältnis zum Vaterland hervor:

Stephen: [...] Der Kampf ums Dasein ist das Gesetz der Existenz, und hier drinnen steht, dass ich den Priester und den König töten muss. […] Sie sterben für Ihr Vaterland. (Nicht, dass ich Ihnen das wünsche. Aber ich sage: soll das Vaterland doch für mich sterben. Verdammt sei der Tod. Lang lebe das Leben! [...]

Carr: Ich dreh jedem den Hals um, der nur einen Mucks gegen meinen kotzverdammten König sagt.142

Diese Absage an das Vaterland wird schon in einem früheren Roman Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von Joyce angedeutet:

Wenn die Seele eines Menschen in diesem Land geboren wird, dann werden Netze nach ihr ausgeworfen, um sie daran zu hindern, zu entfliegen. Du erzählst mir was

140 Vgl. Stuart Gilbert, a.a.O., S. 237-238. 141 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 273. 142 Hans Zender: Textbuch von Stephen Climax. Oper in drei Akten. Textbuch, Wien 1985. 48

von Nationalität, Sprache, Religion. Ich werde versuchen, an diesen Netzen vorbeizufliegen.143

Aus Stephens Sicht symbolisiert sein Niederschlag durch die Soldaten die Brutalität der Gesellschaft bzw. des Staates gegenüber jeder Individualität. Wenn der Staat nicht als soziales System agiert, das seine Angehörige beschützt, sondern als Mechanismus, um sie ihrer Freiheit zu berauben und sie zu unterdrücken, braucht man ein neues, anderes System, das hier bei Joyce und Zender „Kunst“ genannt wird.

In Zenders Oper ist daher das Vaterland eine Metapher für die „Selbst- Geschlossenheit“ der westlichen traditionellen Musik, Stephen ist Sinnbild des Künstlers (hier schließt sich der Komponist selbst mit ein) der Gegenwart, der wegen mehrerer Beschränkungen und Zwänge in Schwierigkeiten gerät: Stephen als Projektion der Avantgarde.

Aber beides – Stephen und Avantgarde/Szene und Musik – bleibt nicht bis zum Ende bestehen, sondern erfährt im zweiten Akt einen Wandel: Stephen rekonstruiert seine Erinnerung gewissermaßen mittels der Halluzinationstechnik, die einige Gespenster der Vergangenheit vor ihm erscheinen lässt. Diese literarische Schreibweise substituiert Zender durch die musikalische Kompositions- bzw. die Zitat-Technik: Hier wurden verschiedene musikalische Materialien aus der Vergangenheit – Melodien, Abschnitte, Bruchstücke und Stile etc. – zitiert. Damit könnte die musikalische Tradition als das Verfügbare an der Oberfläche des Werkes auftauchen.144 Das folgende Diagramm veranschaulicht dies übersichtlicher:

143 James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, übersetzt von Friedhelm Rathjen, Zürich 1994. 144 Über die musikalische Zitat-Technik siehe Kapitel II. 2. Musikalische Ebene. 49

Tabelle 1. Vergleich der Figur Stephen und der musikalischen Ebene Avantgarde

Figur Vermittlung Technik Ziel

Stephen Gespenster Halluzination Wiederherstellung der Erinnerungen

Avantgarde Musik-Fragmente Zitat Rekonstruktion der Vergangenheit der musikalischen Erben

Die bisher betrachteten drei Gegenstände von Stephens Verweigerung und ihre Metapher im Musiktheaterwerk Stephen Climax von Zender lassen sich folgendermaßen beschreiben: Hier bedeutet die „Verweigerung“ nicht einfach Ablehnung, Nein zu sagen, sondern eher die Verweigerung der Situation, in der es keine andere Auswahlmöglichkeit gibt. In diesem Sinne findet sich der Künstler im 20. und 21. Jahrhundert in einer neuen Lage: Der moderne Künstler Stephen, der aufgrund mehrerer Probleme und Beschränkungen Schwierigkeiten hat, seinen Weg zu finden, ist letztendlich offen, frei und unabhängig. Das frühere fruchtbare musikalische Erbe, Materialien und Ordnungen auswählen zu können, bleibt daher bei Zender, der sich mit Stephen identifiziert.

Tabelle 2. Gegenstände der Verweigerung und ihre Metaphern

Gegenstand der Verweigerung Metapher

Der (leibliche) Vater die gesellschaftliche Konvention die musikalische Tradition

Vater (Pater) Dodekaphonie (Zwölftonmusik)

Vaterland die „Selbst-Geschlossenheit/Vollständigkeit“ der westlichen Musik

b. Leopold Bloom

In Ulysses vertritt der Charakter Leopold Bloom, ein 38jähriger Annoncenakquisiteur, die körperlich-physische Welt im Gegensatz zur Figur Stephens aus der geistig-seelischen Welt. Anders als Stephen ist er zwar weit vom 50

Intellektuellen entfernt, aber dennoch ein sympathischer Mensch. Im Vergleich zu Stephen, einem ohnmächtigen jungen Intellektuellen, ist aus Bloom im Laufe der Oper eine subjektive Individualität geworden. In dieser Oper verschiebt sich der Fokus der Handlung nicht auf Bloom, sondern auf Stephen. Trotzdem spielt Bloom als Helfer für Stephen, der inmitten aller Schwierigkeiten nach der idealen Kunst sucht für die dramatische Entwicklung die wichtigste Rolle.

Es ist klar, dass Vaterschaft in der körperlichen Bedeutung des Wortes mit dem Zentral-Thema des Ulysses, der „Einswerdung“ Stephens, des ewigen Verneiners, mit dem Positivisten Bloom, der Entladung (sie wird durch den Donner, der ihre Begegnung im Hause der Geburt begleitet, symbolisiert) eines hochgespannten Stromes zwischen negativen und positiven Polen, unvereinbar ist.145

Es wird erforscht, was für eine Beziehung zwischen diesen beiden sich ergänzenden Typen, dem Intellektuellen und dem Instinktiven, existiert. Sie schaffen durch ihr Aufeinandertreffen ein höheres Niveau der Selbsterkenntnis und der inneren Reife. Es kristallisiert sich zum Thema dieser Oper heraus, dass sich „die gegenstrebigen Fügungen“ in entgegengesetzte Richtungen ziehen, sich aufgrund der Auseinandersetzung miteinander wandeln und letztendlich innere Veränderungsprozesse in Gang setzen.

Bloom beklagt den Verlust seines Sohnes Rudy und sucht einen Sohnersatz. Diesen findet er in dem modernen Telemakus Stephen, der seinerseits seinen leiblichen Vater verlässt und einen geistigen Vater sucht. Hier entsteht eine symbolische, geistige Vaterschaft zwischen dem “vaterlosen Sohn und dem sohnlosen Vater”146. Das stellt sich in Blooms Monolog erkennbar dar:

Besonders Stephen, der Dichter! Stephen – Daedalus‘ Sohn. Wie alt wird er jetzt sein? Wie alt wäre denn mein Sohn jetzt, wenn er noch lebte? Rudy... er hatte graue Schlitzaugen. Elf Tage wurde er alt... elf! Elf wäre Rudy jetzt, ein Schulbub, wie Stephen damals... und Stephen war auch elf, als Rudy starb: Koinzidenz.147

Beim Abgang von Stephen und Bloom am Ende des zweiten Aktes wird Bloom von den Erscheinungen seines Sohnes Rudy überrascht. Während die Mönche der Simeon-Handlung ein „Agnus Dei“ intonieren, überquert in einer visionären Erscheinung Blooms toter Sohn Rudy mit einem kleinen Spielzeuglämmchen die Bühne. Es dient als Beweis, dass das Zusammentreffen zwischen Stephen und Bloom nicht zufällig zustande kommt.

145 Stuart Gilbert: a.a.O., S. 57. 146 Ebd., S. 256. 147 Hans Zender: Stephen Climax. Oper in drei Akten. Textbuch, S. 15. 51

Ein Netz von „Koinzidenz“, „Epiphanien“ durch die ganze Oper zieht sich: von plötzlichen Durchblicken, die entstehen durch zeitlichen Zusammenprall von Ereignissen, welche kausal nichts miteinander zu tun haben. Dazu können auch Geräusche oder Bewegungen gehören oder Erscheinungen wie die des kleinen Rudy am Ende. Es sind gedehnte Augenblicke, in denen der Verstand einen Moment lang stillsteht vor Überraschung.148

Die zufällige „Koinzidenz“ wird als „Durchblick“ im zweiten Akt deutlich sichtbar, in dem die Simeon- und Stephen-Handlung von Visionen, Träumen und Erscheinungen beherrscht wird. So verbindet sich das Thema, eine Welt aus der gegensätzlichen Perspektive zu betrachten und verstehen zu können, über Joyce direkt mit der Fragestellung dieser Oper.

In den nächtlichen Straßen im III. Akt sagt Bloom zu Stephen, “Kommen Sie jetzt mit, eh etwas Schlimmeres passiert!! Hier ist Ihr Stock!”, kniet sich zu ihm nieder und stützt ihn. Nachdem Stephen von Gefreiten geschlagen wird, hilft Bloom ihm, aus der Ohnmacht aufzuwachen und selbst die Realität zu erkennen. Hier spielt Bloom den Vermittler zwischen Realität und Kunst (Stephen). „Jetzt! Stephen! Fang noch mal an! Von Anfang, nur Mut! – Non obliviceris!“ Dieser Ausruf Blooms stammt von Zender und ist nicht auf Joyce zurückzuführen, der seinen Stephen, von Bloom bewacht, in Ohnmacht am Boden lässt.149

Wenn Bloom, der dem Stephen bei dieser merkwürdig anrührenden Schlussszene beisteht, zum Schluß sagt: „Man muss nur in der Senkrechten bleiben“, ist der Bezug zum Säulensteher (der Hauptfigur in anderer Handlung, Simeon) unabweisbar. Der Komponist weist es aber zurück, in diesem Zusammenhang von Hoffnung oder gar einer Botschaft zu sprechen.150

Die Botschaft „fang noch mal an!“ und Blooms Devise „man muss immer in der Senkrechten bleiben“ wirken jedoch stärker als der herablassende entrückte Prediger Simeon. So wird hier angedeutet, dass der moderne Mensch den Vermittler viel mehr als den Priester braucht. Für mich stellen Stephen und Bloom ein symbolisches Paar dar. Ich interpretiere es so, dass bei Zender Stephen eine Metapher für die moderne Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ist, die nach der Avantgarde keinen Ausgang findet. Zudem symbolisiert Bloom für Zender den subjektiven Trieb, das Ziel der Kunst oder des Künstlers aktiv zu suchen.

148 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 283. 149 Volker Wacker: a.a.O., S. 256. 150 Burkhard Rempe: a.a.O. 52

c. Simeon Klimax

„Klimax“, der hintere Teil des Titels dieser Oper Stephen Climax ist einer der drei Hauptfiguren im Roman Byzantinisches Christentum von Hugo Ball entliehen. Es ist der Name von Johannes Klimax und bedeutet „Himmelsleiter“ in der lateinischen Übersetzung von „scala paradisi“. Simeon, die Hauptfigur der aus diesem Roman abgeleiteten Handlung, basiert auf einer historischen Figur: „Simeon Stylites, der erste „Säulenheilige“, wurde um 390 geboren und zeigte schon als Knabe asketische Neigungen. Er lebte zunächst 10 Jahre in einem Kloster bei Teleda (zwischen Antiochia und Beroia), das er aber verlassen musste, weil ihn seine übermäßige und in grotesken Formen durchgeführte Selbstpeinigung in Konflikt mit den übrigen Mönchen brachte. Die längste Zeit seines Lebens verbrachte er auf einer Säule von ca. elf Metern Höhe; letztendlich wurde ihm eine 20 Meter hohe Säule errichtet, auf der er 30 Jahre lang bis zu seinem Tode zubrachte. Alle drängten sich, seinen Segen zu empfangen und etwas gesegneten Staub als heilkräftiges Zaubermittel mit nach Hause nehmen zu können. Dank seiner großen Autorität war er in kirchenpolitischen Fragen eine wichtige Persönlichkeit. Während die Seltsamkeit seiner Askese zuerst lebhaften Widerspruch fand, wirkte sein Beispiel in der Folgezeit noch lang nach. Der heilige Simeon starb am Mittwoch, den 2. September 459, seine Leiche wurde nach Antiochia überführt.151

Von außen betrachtet scheinen die Hauptfiguren der beiden Opernhandlungen Stephen und Simeon keine Gemeinsamkeiten zu haben. Vielmehr haben sie einen vollkommen unterschiedlichen zeitlich-räumlichen Hintergrund (in der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. auf einem Berg in der Syrischen Wüste und am Anfang des 20. Jahrhunderts im Bordellviertel von Dublin) sowie grundverschiedene Persönlichkeiten (Simeon als Heilslehrer, der sich selbst auf einer Säule trainiert, um viele Menschen zu segnen, und Stephen als Intellektueller, der noch geistig wandert, um seine künstlerische Identität zu finden). In diesem Sinne deutet der Zusammenhang zwischen Simeon und Stephen, die sich als Figuren in gänzlich entgegengesetzten Positionen befinden, das Thema dieser Oper „die gegenstrebige Fügung“ an.152

151 Hans Zender: Textbuch von Stephen Climax. Oper in drei Akten. 152 Durch die Achse zwischen Stephen und Bloom aus dem Joyceschen Ulysses ist im Zusammenhang der Achse zwischen Stephen und Simeon von Zender das Spannungsfeld der gegenstrebigen Fügung deutlich sichtbar. 53

Stephens Suche nach Form, nach Kunst, nach dem Sinn des Lebens schafft eine Verbindung zu Simeon: Man könnte denken, dass Stephen am Ende der Joyce-Oper flugs in den Anfang der Simeon-Oper entschreitet – in die Rolle des 3. Ratsuchenden. (...) Auf der Suche nach dem Heiligen in sich stößt Stephen zunächst auf das Ich: dieses bringt ihn, in einem ersten Anlauf zur Individuation, dazu, das Heilige zu lästern. Er muss das tun, um sich von der korrupten und verdorbenen kulturellen Umwelt zu lösen. Stephen muss sich des weiteren vom Vater- und Mutter-Imago lösen. Um nach vorn zu gehen, muss die Nabelschnur zerrissen werden; um Neues zu finden, muss das Alte als „alt“ (vielleicht historisch) identifiziert werden. Auch Simeon ist ein Schamane; er lebt in einer ihm förderlichen kulturellen Umwelt, und kann so seinen Weg radikal und störungsfrei gehen.153

Hier gibt es sicherlich einen Anknüpfungspunkt für einen Wüstenmönch aus der Frühzeit, wie ihn Hugo Ball beschreibt, mit dem sich selbst suchenden modernen Künstler des Joyceschen Werkes: Zenders Angabe nach will sich jeder der beiden „nicht in einer geistlichen bzw. kulturellen Saturiertheit verlieren, nicht einer Gesellschaft der Erwählten oder Etablierten angehören. Er ist der Unbestechliche, der Einzelkämpfer, der, der auf eigene Rechnung lebt.” 154 Hier besteht eine gleichwertige Parallele zwischen der Askese Simeons im geistlichen Überfluss seiner Umgebung und der geistigen Wanderung Stephens in der verdorbenen modernen Kulturwelt. Zender sagt über Simeon: „Sein Lebenssinn war das Entwickeln geistiger Kraft, und jeder körperliche oder seelische Schmerz war für ihn Training.“155 Dies erklärt, warum Zender Simeon als ein Symbol der Situation der Kunst des 20. Jahrhunderts und Stephen als ein Symbol des Künstlers der Gegenwart betrachtet. Er teilt Simeon eine besonders starke Rolle für die heutige Kunst und ihre Künstler zu; hier konstituiert sich ein Bezug zwischen Simeon als Symbol für Ordnung auf der einen Seite und Stephen als Subjekt auf der anderen Seite. Bloom vermittelt zwischen ihnen.

153 „Musiktheater. Stephen Climax. Oper in drei Akten von Hans Zender“, in: Programmheft der Nürnberger Oper, 1991, Zender-Archiv, AdK-Bestand 848, unveröffentlicht, Einsicht im Archiv der Akademie der Künste Berlin. 154 „Musiktheater Hinweise Mai 1986“, in: Programmheft der Frankfurter Oper, Zender-Archiv, AdK-Bestand 846, unveröffentlicht, Einsicht im Archiv der Akademie der Künste Berlin. 155 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 277. 54

Tabelle 3. Charaktere und ihre Interpretationen

Charakter Aspekte Prototyp für Verkörperung der Kompositions- technik

Simeon Religion (Gott) Sollen Situation der Künste Serialismus Ordnung

Stephen Geist Subjekt Künstler Zitat

Bloom Körper Wollen Vorstellung der Triebkraft Problemlösung

d. Sonstige Figuren

Die Figur der Mutter nimmt in beiden Handlungen eine zentrale Stellung ein: von Simeon wird sie abgewehrt, Stephen erscheint die tote Mutter als unbewältigter Teil seiner psychischen Realität. In diesem Abschnitt liegt der Fokus auf dem speziellen Verhältnis zwischen der Mutter und beiden Figuren – Stephen und Simeon.

Im ersten Akt fordert die Mutter Stephens ihn zum Gebet zu Gott und diesbezüglichem Gehorsam auf. Ihre Bitte schlägt er ab, indem er sagt, „Non serviam!“. Daraufhin spürt er in seinem Unterbewusstsein ständig Gewissensbisse. Beim Gespräch zwischen Stephen und seinem alten Freund Lynch wird das Wort „Meer“ als Symbol der Mutter benutzt, das hier den Ort symbolisiert, an dem die Sünde der Menschheit empfangen wird. Auf der anderen Bühne wird gleichzeitig die Autorität Gottes verstärkt, indem die Mönche „[…] durch ihn (Gott) sind wir von Schuld wiedergeboren” singen. Im II. Akt kommen Ratsuchende zum Heiligen Simeon, um seinen Segen zu erhalten. Eine von ihnen ist die Mutter Simeons, der aber mehrmals der Zutritt zu ihm verweigert wurde mit der Begründung, dass sie sich als Frau vor ihm nicht zeigen dürfe. Letztendlich stirbt sie. Hier entsteht eine Überlagerung beider Handlungen zwischen den drei Ratsuchenden in der Simeon- Handlung einerseits, Bloom, Lynch und Stephen in der Dublin-Handlung andererseits. Während die einen in der syrischen Wüste von Simeon Antworten auf ihre Fragen erhalten, stürzen die anderen ins Bordell und werden dort mit ihrer

55

Vergangenheit konfrontiert, die bis in mythische Regionen reicht. Im III. Akt wird die Mutter Simeons nach dem Ausruf von Simeon wiederauferweckt. Die alles beobachtenden Mönche bewundern ihre „Auferstehung“ und feiern sie. Die Mutter tanzt in Begleitung der Mönche in der Mitte der Bühne und verlässt sie plötzlich eilig. Nach ihrem Abgang setzt das Hauptorchester und das Tonband wieder ein. Das Stimmentonband wiederholt das Thema: „Non oblivisceris, ne obliviscatur, Stephen! Jetzt! Jetzt! Jetzt! – Denk nicht an Gestern! – Keine Angst vor Morgen! – Stephen! Fang nochmal an! Von Anfang, nur Mut! – Non oblivisceries! – “156 Hier funktioniert die Wiedererweckung der Mutter Simeons als Vermittler, der Stephen seinen Gewissensbissen entfliehen lässt und ihn zu neuen Herausforderungen drängt. Es ist ein Moment, der psychologische Schwächen überwindet und diese zerstreut. Dies beweist, dass diese Szene nicht eine lose Ankopplung beider Handlungsstränge, sondern ein Ausschnitt ist, der der inneren Logik nach aus beiden Handlungen komplex zusammengesetzt ist.

Der Opernregisseur kritisierte, dass „Gesellschaft und Geborgenheit auf beiden Seiten durch die Ablehnung der Mütter zerstört werde.“157 Dem Dirigenten nach ist es „die Sehnsucht und gleichzeitig das Bewusstsein, dass man ohne Kaputtschlagen nicht weiterkommt. Die Brutalität, mit der Stephen seiner sterbenden Mutter die letzte Bitte verweigert hat, und die Weigerung Simeons, seine Mutter zu sehen, sind gleich stark.“158 Die Absage an die Mütter könnte deshalb im weiteren Sinne auch eine Verweigerung gegen das Alte, die Erstarrung bedeuten. Erst nach dem Zerfall der alten existenten Ordnung ist etwas Neues geboren. In diesem Verfahren erlangt in Stephen Climax die Kunst als Triebkraft für die Herstellung der Neuheit eine neue Bedeutung.

Lynch, einer von Stephens ältesten Freunden, übernimmt einige Sätze und die Rolle von Buck Mulligan aus dem Roman Ulysses, so dass seine Rolle in der Oper ausgebaut wird. Im Vergleich zum asketischen Stephen ist Lynch ein profaner Typ, der gerne wie die italienischen Fürsten der Renaissance leben würde. Stephen tadelt Lynch als “Epikuraer, Griechenknaben”. In der Beziehung zwischen den beiden Figuren, die entgegengesetzte Eigenschaften zeigen, wird daher die gegensätzliche

156 Hans Zender: Textbuch von Stephen Climax. 157 Musiktheater. Stephen Climax. Oper in drei Akten von Hans Zender, in: Programmheft der Nürnberger Oper, 1991, Zender-Archiv, AdK-Bestand 848. 158 Ebd., S. 4. 56

Auffassung von Kunst deutlich. Mit Lynch diskutiert Stephen in Gesellschaft der Dirnen Zoe, Florry, und Kitty lautstark über Ästhetik und Philosophie der Musik. Im Hinblick auf die Beziehung zwischen den beiden, deren Neigungen konträr sind, kann man ganz allgemein zwei gegensätzliche Standpunkte der Kunst entdecken.

Lynch: Ohne Maske kannst du nicht leben. Alles ist eine Maske; auch die Kunst ist eine! Ja, ja, die Kunst! Die besonders! Sie ist nur Schein, nur Schein!

Stephen: Die Kunst, die Kunst ist Wahrheit! Nicht Schein, nicht Schein!159

159 Hans Zender: Textbuch von Stephen Climax. 57

2. Musikalische Ebene

2.1. Akt I: Die Zwölftontechnik und die serielle Musik

Die ganze Oper wird von einer Zwölftonreihe abgeleitet. Vor allem im ersten Akt sind die grundlegende Zwölftonreihe und die serielle kompositorische Technik in allseitigen Musikbereichen wie Rhythmus, Tondauer und Tonfarbe usw. angelegt. Die grundlegende Zwölftonreihe funktioniert für die Oper als strukturelles Ordnungsprinzip. Über die Gültigkeit dieser Reihen-Technik äußert sich der Komponist folgendermaßen:

Das Stück hält strikt an einer einzigen Reihe fest und schafft so das Gleichgewicht gegen die vielen zentrifugalen Elemente, welche das Ganze schier zersprengen wollen. Wahrscheinlich wäre das Stück nicht möglich geworden, wenn ich viele oder gar keine Reihen benutzt hätte.160

In den sechziger Jahren seiner kompositorischen Frühzeit, vertraute Zender im Wesentlichen nicht auf die Zwölftonreihe und die serielle Technik, sondern lehnte sie vielmehr ab: „Es scheint mir ein Fehler zu sein, sich der Tendenz zur Statik kompositorisch restlos auszuliefern; allzu leicht entsteht eine abstumpfende ‚drogenartige‘ Musik.“161 Für diese Oper bekennt er sich aber dazu, die serielle Technik absichtlich großzügig anzuwenden. Grundsätzlich erscheint es widersprüchlich, dass in der Gattung der Oper oder des Musiktheaters der Serialismus allumfassend eingesetzt wird.

Das Theater braucht ein gewisses Maß an Unbekümmertheit und Eklektizismus, um die Charakter- und Situationskontraste, von denen es lebt, musikalisch sinnfällig bestreiten zu können. Ein ästhetisch-kompositionstechnischer Purismus, wie er im Zeichen der seriellen Musik herscht, ist von Grund auf theaterfremd: eine Differenzierung, die vor drastischer Wirkung zurückscheut, schlägt bei szenischer Musik rasch in Monotonie um. Ein stilistisch zerklüfteter und orientierungsloser Zustand, in dem nahezu alles möglich ist – Tonalität neben Atonalität und Geräuschkomposition -, stellt also vom Standpunkt des Theaters eher einen Vorzug als einen Mangel dar, weil der Eklektizismus, den das Theater braucht, einen Komponisten nicht mehr in Verruf bringt […], sondern ästhetisch und kompositionsgeschichtlich legitim erscheint. Mit robustem Theatermaß gemessen, kommt die stilistische Inkonsequenz zu ästhetischen Ehren.162

Wie von Carl Dahlhaus erwähnt funktioniert der Serialismus (die serielle Musik) nicht mehr angemessen bei der Gattung des „Musiktheaters“, in dem verschiedene

160 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 273. 161 Hans Zender: „Imaginäres Interview“, S. 3. 162 Carl Dahlhaus, „Traditionelle Dramaturgie in der modernen Oper“, in: Vom Musikdrama zur : Aufsätze zur neueren Operngeschichte, München u. a. 1983, S. 229. 58

musikalische Stile gleichzeitig zusammengesetzt werden können. In der Musik nach der Avantgarde wurde „die stilistische Inkonsequenz“ allgemein geltend, stattdessen verlor der Purismus der seriellen Kompositionstechnik seinen Platz. Für den Komponisten Zender jedoch ist beim Umgang mit vielen stilistisch unterschiedlichen Elementen eine kompositorische Kontrolle und ein dezidiertes strukturelles Denken unabdingbar. Durch seine Oper Stephen Climax zieht sich stilistische Pluralität, wofür Zender die serielle Kompositionstechnik als Zaubermittel benutzt, das dem gesamten Werk ein kompositorisches Fundament gibt.

Originalreihe: h a f es d cis fis g as b c e

Notenbeispiel 1. Die Originalreihe von Stephen Climax163

Diese Originalreihe, die sich durch die ganze Oper zieht, ist selbst systematisch zweigeteilt: Der erste Teil der Reihe verläuft abwärts, der zweite aufwärts. Sie spiegelt selbst den symmetrischen Charakter der Opernstruktur wider: Der erste Teil gilt als konjunktionale Verbindung der zwei Tetrachorde, obwohl sie nicht aus einer reinen Quarte bestehen, sondern aus einer übermäßigen Quarte (h-f) und einer verminderten Quarte (f-cis). Der zweite hingegen entspricht der Symmetrie der ersten konjunktionalen Verbindung zweier Tetrachorde, eine verminderte Quarte (fis-b) und eine übermäßige Quarte (b-e). Durch Anwendung der Set-theory (pitch class set) 164 wird die symmetrische Eigenart der Originalreihe deutlicher

163 Die Analyse erfolgte auf Zender, Stephen Climax. Oper in 3 Akten, Partitur, Universal Edition 1986. Die Ausgabe wurde freundlicher Weise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Bei allen in diesem Kapitel abgebildeten Notenauszügen handelt es sich um Abschriften der Verfasserin. 164 Zuerst müssen alle Töne in der Reihe in eine Oktave gebracht, Töne zu einer aufsteigenden Skala geordnet und dann nach dem größten Intervall innerhalb der Skala gesucht werden. Diese Normal Order beginnt mit dem oberen Ton dieses größten Intervalls (hier a und e). Danach werden die Intervallklassen zwischen jedem Ton berechnet. Dadurch wird die bemerkenswerte Konsequenz hergeleitet: wenn man diese Intervallklasse in der ersten Gruppe in genau umgekehrter Reihenfolge aufzählt, so lässt sich direkt feststellen, dass die zweite Gruppe eine Umkehrung der ersten ist (Inversion of the first Set). 59

akzentuiert. Das Analyseergebnis zeigt, dass die zweite Gruppe eine Umkehrung der ersten ist (Inversion of the first Set).

(0 2 4 5 6 8) : (0 2 3 4 6 8)165

Notenbeispiel 2. Die Normal Order

Durch die gesamte Oper hindurch wird die Reihe als vollendete Form mit zwölf Tönen genutzt, gelegentlich die Reihenfolge der Bestandteile umgekehrt, manchmal durch die partielle Unterbrechung verkürzt oder in anderen Fällen aufgrund der Tonwiederholung ausdehnt.

Am Anfang des ersten Aktes singt der Mönch Antonios fast immer in Zwölftönen: Von Ziffer 1 bis 8 des Auftritts Antonios befinden sich einige Reihen, die jeweils die Tonabfolge 6, 11, 9, 12, 6 haben: erst bei Ziffer 7 folgt die Reihe, die den ersten Ton „h“ der Originalreihe ans Ende setzt. Danach singen auch die Mönche eine Zwölftonreihe (Ziff. 12-13). Bei der Antoniosstimme tritt abermals eine Zwölftonreihe auf, die die gleiche Tonhöhenstruktur wie in der Originalreihe aufweist, obwohl ihr Anfangston in der Kette in umgekehrter Reihenfolge auftritt.

Notenbeispiel 3. Die Originalreihe bei der Antoniosstimme in der Ziff. 7 & 24

Die Zwölftonreihe als kompositorische Technik ist danach nicht nur bei den Stimmen der Mönche und bei der Mutter der Simeon-Handlung (Ziff. 35), sondern

165 „1“ steht für Halbton 60

auch bei Stephen und den drei Damen – Zoe, Kitty und Florry – der Stephen- Handlung anzutreffen (Ziff. 58-59).

Die Mutter-Arie in Ziffer 67-74 steht stellvertretend für die Veränderung der Originalreihe: Sie besteht aus drei Teilen, genauer gesagt drei Reihen, die ab einem bestimmten Punkt (Ton) der am Anfang vorgeführten Originalreihe beginnt. Teilweise beinhalten sie eine Auslassung der Töne oder eine Umsetzung der Tonreihenfolge.

Notenbeispiel 4. Inversionen einiger Töne in der Originalreihe der Mutter-Arie

In dieser Oper wird die serielle Technik nicht nur in der Tonhöhenstruktur, sondern auch beim Taktwechsel, beim Metronomangabenwechsel sowie im dynamischen Austausch etc. allseitig angewendet.

Ebenso wie ein Ton als ein Grundelement der Tonhöhenreihe zu sehen ist, zählt auch ein Takt zum Grundbestandteil einer Reihe für Taktwechsel. Stellt man die hier in der Oper häufig verwendeten Takte in eine Reihe, die aus siebzehn Einheiten besteht, ergibt sich folgende Tabelle:

Tabelle 4. Die Reihe des Taktwechsels

3/ 5/ 7/ 9/ 15/ 15/ 4/2 1/4 2/4 3/4 4/4 5/4 6/4 3/8 5/8 7/8 9/8 16 16 16 16 16 32

61

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Von Ziffer 15 an ist der Taktwechsel häufig eingesetzt. So ist zum Beispiel in Ziff. 28 eine Reihe (4 10 4 9 4 10 9 4) und in Ziff. 30-3 eine weitere Reihe (4 10 11 4 5 4 5 10 15 3 4 5) zu finden. In einigen Ziffern zeigt sich im Taktwechsel die symmetrische Struktur wie in Ziff. 35 (4 3 9 4 9 3 4) und Ziff. 50 (6 9 14 15 5 3 14 3 5 15 14 9 6).

Tabelle 5. Taktwechsel in Ziff. 50.

5/4 5/8 7/16 7/16 9/16 4/4 2/4 7/16 8/16 4/4 9/16 7/16 7/16 5/8 5/4

(3+4) (4+3) (3+4) (2/4) (4+3) (3+4)

6 9 14-1 14-2 15 5 3 14 3 5 15 14-2 14-1 9 6

Der dynamische Wandel tritt zudem bei der Stephen-Stimme im ersten Akt besonders häufig auf: Beispielsweise in der Ziff. 14 ist er in der Reihe aufgestellt (Stephen: mf – mf – p – mf – f – p – f – ff – ff – f – ff – fff). Anhand einiger Beispiele ist erkennbar, dass im ersten Akt besonders die serielle Technik sowohl im Bereich der Tonhöhenstruktur als auch in den verschiedenen musikalischen Ebenen wie Rhythmus, Taktwechsel und Dynamik als fundamentaler Gundsatz für das Komponieren wirkt.

2.2. Akt II: „Metamorphose des Stils“ in den zwölf Variationen

Der zweite Akt besteht aus zwölf Szenen sowie aus einer Abfolge der zwölf Variationen. Den musikalischen Materialien und den in jeder Szene überwiegend verwendeten Kompositionstechniken nach ist dieser Akt auf folgende Weise aufgegliedert:

62

Tabelle 6. Entwurf der 12 Szenen (12 Variationen)

Szene Ziffer Musikalische Eigenschaft

1. Szene 86 – 103 Simultanszene, Szenenwiederholung, Zeitsprünge

2. Szene 104 – 107 Zitat: Bach, Kantate „amore-traditore“

3. Szene 108 – 122 Zitat: Monteverdi, „Orfeo” & Byrd, Bruchstück

4. Szene 123 – 124 Zitat: Sanctus aus dem 14. Jahrhundert

5. Szene 125 – 135 Geräuscheffekte

6. Szene 136 – 144 Geräuscheffekte neun Abschnitte mit einem Passacaglia-Thema

7. Szene 145 – 166 Simultanszene die serielle Technik

8. Szene 167 – 182 Salonstück., ein parodischer Stil Zitat: Godard, „Walzer“

9. Szene 183 – 212 Geräuscheffekte (Cluster)

10. Szene 213 – 216 Simultanszene

11. Szene 217 – 235 Zitat: Godard, „Walzer“ Totentanz (in Ziff. 229)

12. Szene 236 – 245 Leben – Tod (1:√2), Veränderung der Stephen-Stimme, Climax (Non serviam!)

a. Szene 1: Zeitrücksprünge (Szenenwiederholung)

Am Anfang der ersten Szene des zweiten Aktes erfahren die Figuren der Dubliner Nachtstadt in der Stephen-Handlung „Zeit“ auf eine andere Weise: Im Allgemeinen verläuft Zeit auf einer geraden Linie immer nur vorwärts. Hier aber läuft die Zeit gleichsam zurück, Bloom und Zoe befinden sich an der gleichen Stelle wie bereits 20 Sekunden zuvor schon. Nachdem sich die gleiche Situation (gleiche Sprache und Musik) dreimal wiederholt hat, sagt Bloom verstört: „Zeit stockt. Geht nicht mehr 63

vorwärts.“ Hier werden durch die neue Erkenntnis über die nicht-lineare Zeit Zeitsprünge, Zeitstauchungen und Zeitdehnungen als musikalische Struktur der Partitur realisiert. Sie beeinflussen nicht nur die Figuren auf der Bühne, sondern auch den Hörer und entführen ihn direkt in die Zeitenwelt Zenders. Eine direkte Verbindung mit der Intension des Komponisten Zender entsteht. Darüber hinaus sieht der Musikwissenschaftler Wacker, dass sich die Zendersche Oper „durch die subjektive Zeitwahrnehmung der Figuren“ von der Joyceschen Textvorlage unterscheidet.

Die ganze Oper ist von der Darstellung, vom Erfassen, Verlieren und Anverwandeln der „Zeit“ durchzogen. Geradezu programmatisch wird zu Beginn der ersten Szene des II. Akts in mehrmaligen Zeitrücksprüngen (Ziff. 86 = 86 a, 92 = 95a, 96 = 99a) das Amorphe und Relative einer scheinbar objektiven Zeitordnung aufgedeckt. An dieser Stelle weicht Zender von der Joyceschen Textvorlage ab, denkt sie mit filmschnittartigen Rückblendungen weiter. Das Zerbrechen der Zeit wird von Bloom zwar registriert, doch wie alle Figuren der Dublin-Handlung bleibt er einem subjektiven Wahrnehmen verhaftet, dem nicht zu entkommen ist.166

Zwischen diesen Zeitsprüngen wurden drei Strophen Simeons eingefügt, deren Inhalte mit Warnung, Vision und Erkenntnis umrissen werden können. Seine Musik wird durch die Verwendung der Modus-Technik nach Oliver Messiaen charakterisiert.167

166 Volker Wacker: a.a.O., S. 250. 167 Ebd. 64

Tabelle 7. erste Szene des zweiten Aktes, Zeitrücksprünge

Ziffer Handlung Struktur

86 Stephen Abschnitt 1

86a Stephen Wiederholung des ersten Abschnittes (86)

87 – 91 Simeon Die Modus-Technik (Taktwechsel)

92 Stephen Abschnitt 2

93 – 95 Simeon Die Modus-Technik (Metronomangabenwechsel)

95a Stephen Wiederholung des zweiten Abschnittes (92)

96 Stephen Abschnitt 3

97 – 99 Simeon Die Modus-Technik

99a Stephen Wiederholung des dritten Abschnittes (96)

100 – 103 Stephen Abschnitt 4

Der Komponist beabsichtigt, das Tempo des Werkes häufig durch die Verwendung verschiedener Metronomangaben zu wechseln, die auch bisweilen als Takt in einer Reihe auftreten. In den Ziffern 93-95 sowie 99 der Simeon-Handlung in der ersten Szene des zweiten Aktes sind entsprechende Beispiele zu finden.

Tabelle 8. Reihe der zwölf Metronomangabe

2/4♩=

42 45 48 51 54 57 60 64 68 72 76 81

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

65

Ziff. 93-94 5(♪=) 9(♩=) 11 4 12 10 8 7 1 2 6 3

Ziff. 95 7(♩=) 12 6 2 8 9 10 5 4 3 1 11(♪)

Ziff. 99 9 7 5 4 3 11 10 12 2 6 8 1

b. Szene 2-4 & 11: Die Zitat- und Collagetechnik

Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann das musikalische Zitat168, bei dem präexistenten musikalischen Material in der Komposition verwendet wird, immer mehr an Bedeutung. Besonders „mit der postseriellen Musik um 1960 wurde das Zitat zu einem zentralen Kompositionsmittel“.169 Wie aus den dieses Verfahren sehr produktiv einsetzenden Werken von B. A. Zimmermann, L. Berio, M. Kagel, A. Schnittke, G. Rochberg und G. Crumb, zu ersehen ist, erschufen viele Komponisten des späteren 20. Jahrhunderts ihre Werke, indem sie Elemente verschiedener bereits existierender Werke verarbeiteten.

Auch Zender stand unter dem großen Einfluss des Konzepts der „pluralistischen Oper“ des Komponisten B. A. Zimmermann. In seinem ersten Musiktheaterwerk Stephen Climax strebt Zender „eine in vielen stilistischen Farben schillernde Musik, die man „chimärisch“ nennen könnte“170 an: Vor allem die Bordellszenen für die Stephen-Handlung des zweiten Aktes enthalten einige Musikabschnitte verschiedener Herkunft, so dass sich daraus ein riesiges Collage-Werk ergibt. Auf dieses Verfahren beziehen sich Begriffe wie musikalisches „Zitat“ und „Collage“: Trotz des Begriffsproblems, über das noch Uneinigkeit herrscht, ist jedoch im weiteren Sinne der Begriff „Zitat“ für die Kompositionstechnik allgemein zu verwenden, die sich auf präexistentes musikalisches Material bezieht. 171 Im engeren Sinne jedoch unterscheidet sich das „Zitat“ vom Begriff „Collage“:

168 Im Allgemeinen zur Begriffsbestimmung siehe: Clemens Kühn: das Zitat in der Musik der Gegenwart – mit Ausblicken auf bildende Kunst und Literatur, Hamburg 1972, S. 13f. Elmar Bude: „Zitat, Collage, Montage“, in: Rudolf Stephan (Hsrg.), Die Musik der sechziger Jahre, Mainz 1972, S. 26-28. Stefan Fricke: „Collage“, in: MGG 2, Sp. 937-944. etc. 169 Stefan Fricke: „Collage“, in: MGG 2, Bd. 2, Sp. 941. 170 Hans Zender: „Wegekarte für Orpheus?“, S. 88. 171 Andererseits ist im MGG 2 beschrieben, dass dieses Phänomen heute gemeinhin unter dem Begriff Collage subsumiert wird, dass im Zusammenhang mit Collage aber auch die Begriffe Zitat und Montage auftauchen. Im Musikbereich ist der Begriff Collage eine spezielle Form des Zitierens. Siehe: Stefan Fricke: „Collage“, in: MGG 2, Sp.941. 66

1) Zitat: während im wissenschaftlichen Bereich der Begriff „Zitat“ die bewußte, zumeist quellengetreue Übernahme präexistenten Materials bezeichnet, kann im Unterschied dazu das künstlerische Zitat durch Abweichungen vom Original eigene interpretatorische, bisweilen parodistische Züge abgewinnen. Als fremdes Element, das semantische Perspektiven eröffnet, ist das Zitat aus dem neuen Kontext der Komposition herausgehoben. Kennzeichen des Zitats sollte seine Prägnanz und sein punktuelles Auftreten im neuen Kontext sein, wodurch es von der Collage abzugrenzen ist.

2) Collage: In Kompositionsprinzip Collage liegen stets mehrere präexistente Materialien zugrunde, die verschiedenen Quellen entstammen. Diese sind auf unterschiedlichste Art miteinander kombiniert, so dass ein über die einzelnen Elemente hinausgehender Sinn konstituiert wird, der sich auch entscheidend auf die kompositorische Form auswirkt.172

Darauf basierend wurde in der vorliegenden Arbeit folgendes untersucht: In der Oper Stephen Climax wurde die „Zitat-Technik“ vor allem im II. Akt allseitig verwendet, weswegen in manchen Fällen durch eine Abweichung vom Original im neuen Kontext ein parodistischer Effekt erzielt wird, so dass sich schließlich ein riesiges Collage-Werk ergibt, in dem heterogene Elemente auf verschiedene Art und Weise komplex komponiert werden.

So wie Zender jede Figur der Joyce-Handlung durch die Zuordnung eines bestimmten Intervalls einen musikalischen Charakter erschafft, teilt er einigen Personen in vereinzelten Szenen des zweiten Aktes ein musikalisches Zitat zu: In der zweiten Szene wird für den Großvater Blooms, Virag Lipoti, das Thema der Kantate Amore traditore von Johann Sebastian Bach zitiert, in der dritten Szene tritt für die überfallene Figur des Propheten Elias (als Vision) ein anonymes Sanctus aus dem 14. Jahrhundert auf, und in der vierten Szene erscheint Cesare Borgia als jetziger Höllenbewohner mit den Klängen von Claudia Monteverdi und William Byrd. Die drei neuen Figuren – Virag Lipoti, der Prophet Elias und Cesare Borgia – werden zwar nicht als körperliche Existenzen dargestellt, wirken jedoch wie eine Erscheinung auf jede einzelne Hauptfigur der Stephen-Handlung – Bloom, Stephen, Lynch. Der Komponist Zender plante, die charakterisierte Eigenschaft jeder Figuren mit dem entsprechenden Zeitalter der Musikgeschichte zu verbinden: So gehört zu Virag/Bloom das Barock mit der Kantate Amore traditore aus dem 16.

172 Vgl. Ebd. 67

Jahrhundert, dem Propheten Elias/Stephen das Mittelalter mit einem anonymen Sanctus aus dem 14. Jahrhundert und zu Kardinal Borgia/Lynch die Renaissance mit Bruchstücken aus Monteverdis Orfeo und Musik von William Byrd.173

Das musikalische Zitat kann einen Teil des Originals werkgetreu wiedergeben, aber auch durch Abweichungen vom Original eigene interpretatorische, bisweilen parodistische Züge gewinnen. 174 Kompositionsstrategisch benutzt Zender diese Zitatweise mit der Absicht, sich zitierte Teile im neuen Kontext seines eigenen Werkes auf semantisch anderer, neuer Bedeutungsebene zu erhalten. An diesem Punkt werden die Zitatmaterialien und ihr Sinnbildungsprozess in einigen Szenen des zweiten Aktes, wo sich die Zitat-Technik vorwiegend akzentuiert, näher beleuchtet.

Szene 2, Zitatmaterial: J. S. Bach, Kantate Amore-traditore

Am Anfang der zweiten Szene wird bei der Kontrabass-Stimme ein Abschnitt der Begleitungsmelodie der Kantate Amore-traditore von Bach repräsentiert. Die Bachsche Originalmelodie bei der Cembalo-Stimme ist zwar klar erkennbar, die ursprüngliche Melodie wirkt dennoch durch einige kompositorische Verfahren im Vergleich zur originalen Atmosphäre verfremdet.

173 Vgl. Hans Zender: „Wegekarte für Orpheus? Über nichtlineare Codes der Musik beim Abstieg in ihre Unterwelt“, S. 88-89. 174 Stefan Fricke: „Collage“, Sp. 938. 68

Notenbeispiel 5. Vergleich zwischen dem Beginn der zweiten Szene bei der Kb.-Stimme von Stephen Climax und dem Original der Kantate Bachs (Ziff. 104)

Hier wurde nach dem Kriterium unterteilt, welche Kompositionstechnik für diesen sogenannten „Verfremdungseffekt“ 175 angewendet werden soll. Im Vergleich zwischen dem Bachschen Original und dem verarbeiteten Zitat-Ausschnitt der Zender-Oper fällt Folgendes auf:

Erstens: Die Kadenz der Einleitungsmelodie wird mit dem „nicht identischen“ Schlusston anders als mit dem originalen Schlusston falsch aufgelöst, die originale Melodie wird damit plötzlich unterbrochen. Der Hörer könnte musikgrammatisch zu einer falschen Erkenntnis kommen. Ihm bleibt eine psychologische Unzufriedenheit, die beim Hören des Originals nicht erlebbar ist, und somit zu einer musikalisch neuen Hör-Erfahrung führt (in Ziff. 104). Ein entsprechendes Beispiel ist auch in Ziffer 105 vorzufinden: Ein Bruchstück der Kantate ist bei der Saxophon-Stimme zitiert, wird am Schluss aber nicht richtig gelöst.

175 Der Verfremdungseffekt ist ein literarisches Stilmittel und vor allem Hauptbestandteil des Epischen Theaters nach Bertolt Brecht. Dieser Begriff besteht im Kern darin, dem Betrachter vertraute Dinge in einem neuen Kontext erscheinen zu lassen und so Widersprüche in der Realität sichtbar und eine kritischere und bewusstere Wahrnehmung des Gezeigten möglich zu machen. 69

Zweitens: Während die Bachsche Melodie der Kantate bei der Bassstimme, dem Kontrabass und beim ersten Fagott fast original zitiert wird, irritieren die Streichinstrumente und das Bühnen-Klavier mit unharmonischen Akkorden und Phrasen die Bachsche Originalität. Das präparierte Klavier auf der Bühne ist etwas tiefer gestimmt als die Orchesterstimmung, was eine große Rolle bei der Erzeugung des unharmonischen Eindrucks spielt. Dieser Verfremdungseffekt wird an dieser Stelle zudem durch ganz neu hinzukommende Vokalstimmen von Virag Lipoti, Lynch und Zoe in Form von Sprechstimmen weiter verstärkt.

Drittens: Leopold Blooms Großvater Virag Lipoti besingt auf Bachs Kantate die „tollen Beine“, die es zu „befummeln“ gelte. In Ziffer 106 zitiert Virag zwar das Rezitativ der Kantate, dies geschieht jedoch nicht in gänzlicher, sondern in verkürzter Version.

Notenbeispiel 6. Vergleich zwischen der Virag-Stimme und dem Rezitativ der Kantate

Viertens: Die Ziffer 107 (107a – 107d) stellt die zweite Arie der Kantate dar: Die Streichergruppe (3 Vl. Soli, Vc. und Kb.) zitiert das Cembalo Obligato ohne groß spürbare Veränderung, gleichwohl teilweise häufig unterbrochen wird; Virag singt die Arie der Kantate; Saxophone und zwei Klaviere (eins auf der Bühne, das andere im Orchester) spielen die Melodie des Cembalo Obligato mit versetzten Tönen, so dass die äußerliche Kontur beibehalten und der innerliche Intervall-Zusammenhang zwischen den Tönen verändert wird. Dadurch könnte zwar der Hörer die Urversion wahrnehmen, jedoch in neuem Kontext auf andere Art und Weise eine Umdeutung des Originals erfahren.

70

Aus den erwähnten verschiedenen kompositorischen Mitteln ergibt sich, dass das Zitat des Originals zwar erkennbar, aber durch einen ungewöhnlichen Gebrauch anders erfahrbar wird, und dass die wesentliche musikalische Bedeutung im neuen Kontext in der neuen Komposition verloren und völlig verändert wird.

Szene 3, Zitatmaterial: ein anonymes Sanctus aus dem 14. Jahrhundert

In der dritten Szene ist ein Melodieteil des anonymen Sanctus aus dem 14. Jahrhundert als Zitatmaterial in Erscheinung getreten. Wie das Bach-Zitat wird das Zitat-Original in einigen Stimmen fast identisch dargestellt. In anderen Stimmen wird jedoch durch einige Kompositionstechniken versucht, das Original zu verschleiern: Die Instrumente des zweiten Orchesters, die Orgel und das präparierte Klavier verschmutzen die Bedeutung des Sanctus durch dissonante Harmonien. Der Prophet Elias erscheint, spricht und singt mit einer Sprechstimme und viel Luftzusatz (wenn angegeben, auch stimmlose Ereignisse). Bei den Streichinstrumenten sind chromatische Cluster zu finden; die Flöte spielt mit viel Luftgeräusch. Die drei Damen Zoe, Kitty und Florry sitzen auf dem Klavier, singen hysterisch in ungenauen Tonhöhen als stöhnten sie tief und sinnlich. Jeweils zwei Trompeten und Posaunen an den vier Ecken der Gondel auf der Bühne spielen die originale Melodie des Sanctus. Bei dieser Instrumentengruppe auf der Bühne wurde das Sanctus auszugsweise oder teilweise angeführt.

Das Zitat-Original auf der Bühne spiegelt sich modi-haft kirchentonal wider, das Orchester im Graben hingegen verkörpert unharmonisch-chromatische Atonalität mit moderner Spieltechnik und Vierteltönen. Durch die chromatischen Cluster der Streichinstrumente, das Vokal-Glissando der drei Damen sowie die scharfe Sprechstimme mit viel Luftzusatz von Elias, Lynch und Stephen wurde die Reinheit des Originals beschädigt. Zudem ist das neue Spannungsfeld aus der Konfrontation des Kontrasts zwischen beiden musikalischen Welten – tonal und atonal, die Vergangenheit (Sanctus) und Gegenwart – entstanden (Notenbeispiel 7). Über die Umstellung des musikalischen Sinns des alten Materials im neuen Kontext äußert sich Zender symbolisch-bildlich so:

Bach und ein mittelalterliches Sanctus stehen herum wie ein zur Whiskybar umfunktionierter echter barocker Bleichstuhl im Wohnzimmer manch eines heutigen Kulturträgers, samt der gotischen Madonna auf der Anrichte.176

176 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 273. 71

Notenbeispiel 7. Sanctus-Zitat

Szene 4, Zitatmaterial: „Orfeo“ von C. Monteverdi und Bruchstück von W. Byrd

Während des Gesprächs zwischen Stephen und Lynch in der vierten Szene erklingt die Stimme des Kardinals. Bei der Orgel wird die Akkordkette aus der Oper Orfeo von Claudio Monteverdi mit dem Regal gespielt, und der Kardinal singt die Melodie der Orfeo. Wie beim früheren Zitat (die Bachsche Kantate in der zweiten Szene und das anonyme Sanctus in der dritten Szene) stören neu hinzugefügte chromatische Melodien und unharmonische Akkorde seitens der alten Flöte und den Streichern das vollendete Hören des Originals.

72

Nach der scharf geräuschvollen Überleitung am Anfang der Ziffer 124 zitiert der Kardinal das Bruchstück von William Byrd. Dieses Mal unterstützen sowohl die Harfe als auch die Gitarre die Stimme des Kardinals, indem sie das Zitat-Original ohne weitere Umformung spielen. Außer dieser Instrumentengruppe ist es bei der Stimme der Blas- und Streichinstrumente intendiert, dass das angeführte Zitat- Original wegen des Cluster-Haufens, den fremden chromatischen Melodien und den diversen modernen Spieltechniken aus dem originellen musikgeschichtlichen Bezugsrahmen befreit und dadurch in völlig neuem Kontext auf ungewöhnliche Weise angehört werden kann.

Notenbeispiel 8. Byrd-Zitat

73

Szene 11, Zitatmaterial: B. Godard, Walzer

In der achten Szene beginnt der Walzer mit dem Auftritt des Tanzlehrers Prof. Maginni. Hier wurde der Walzer von Benjamin Godard als Zitatmaterial für die Soloflöte und das Bühnenklavier einkomponiert. Er ertönt jedoch nicht wie der originale Walzer gleich bleibend, sondern wurde dadurch verändert, dass die Geschwindigkeit durch ständig wechselnde Metronomzahl fluktuiert und bei den Begleitakkorden des Bühnenklaviers der Grundton taktweise wechselt. Die Metronomzahl wird durch den häufigen Gebrauch von accerlerando und ritardando ständig gewechselt (= 54 63 76 57 51 57 63 51 48 60 51 63 51 48 54 63 51 63 48 60 51 63 51 48 66 54 63 48 60 51 57 48, in Ziff. 218-224), weshalb die Geschwindigkeit dadurch fluktuiert wird.

Notenbeispiel 9. Walzer-Zitat in Ziff. 218

Notenbeispiel 10. Akkordwechsel des Bühnen-Klaviers, Ziff. 222-223

In der Szene bietet der Walzer nicht nur die musikalische Grundlage, sondern auch den theatralischen Fundus an.

74

Komik-Effekte

Durch einige Zitatteile entstand im zweiten Akt von Stephen Climax eine Collage, in der ein Zusammenhang zwischen ursprünglich Heterogenem gebildet wird, dem mehrere präexistente Materialien aus verschiedenen Quellen zugrunde liegen. Diese „Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen“ setzte sich bei Zender zur „Simultaneität mehrerer gegenläufiger Affekte“ fort. Zender diagnostizierte, dass „die Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit verschiedener Affekte noch nicht geübt ist“, obwohl dem Musiker Gleichzeitigkeiten von gegensätzlichen Formen seit jeher vertraut sind. Sein Standpunkt über ein musikalisches Stück mit Gleichzeitigkeit ist dargelegt wie folgt:

ein Stück, das gleichzeitig komisch und sehr ernsthaft ist, tragisches Scheitern und Aufstieg zum Heiligen zeigt, sehr langsame meditative Abläufe in dauernder Durchdringung mit labilem, hektisch-nervös-spielerischem Tun – und das sowohl in der Großdisposition wie im Detail.177

Schließlich betont er, dass Simultanität mehrerer gegenläufiger Formen bzw. Affekte als eine neue komplexe Erfahrung erlebt werden kann. Er bezeichnet diese Erfahrung als Komik-Effekt. In einer weiteren Erklärung weist er darauf hin, dass sich der Komik-Effekt direkt mit dem Thema der Oper Stephen Climax, „der gegenstrebigen Fügung“, verbindet.

Die Musik springt vielmehr scheinbar unkontrolliert zwischen den verschiedenen Epochen hin und her und konfrontiert dazu noch im Lauf des Stückes immer wieder ihre verschiedenen Stilfarben mit dem „reinen Weiß“ der Simeon-Musik. Alle verzerrenden Manipulationen, die an den historischen Materialien vorgenommen werden, benutzen zur Gestaltbildung der „Chimären“ immer wieder sowohl für Tonhöhe als auch für Dauerordnung die dem Säulenheiligen zugeordnete „Reihe“ – was den Gipfel der Absurdität darstellt, da die serielle Technik nicht kompatibel mit den tonalen und metrischen Ordnungen der zitierten alten Musiken ist. Aber gerade dieses absurde, „falsche“ kompositorische Verhalten setzt etwas frei, was sich in der Neuen Musik kaum mehr findet, nämlich Komik – und zwar eine sozusagen strukturelle Komik, die hintergründiger wirkt als punktuelle komische Effekte. Immer wieder wird das eigentliche Thema der Oper in den Momenten der Reibung zweier unerwartet aufeinander treffender Stilwelten deutlich: die absurde Situation, die entsteht, wenn Zeichen eines bestimmten Sinngefüges beim Aufprall auf ein anderes Sinngefüge plötzlich ihren Sinn verlieren bzw. verändern. ...178 c. Szene 5 , 6 & 9: Eine große Anzahl von Geräuschen

In der fünften Szene zeigt sich der Geräusch-Effekt, das Tonband tritt erstmalig auf. Der Konzeption des Komponisten entsprechend setzt er sich aus der Folge der

177 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 270. 178 Hans Zender: „Wegekarte für Orpheus?“, S. 88. 75

zwölf einzelnen Effekte des Tonbandes179 durch die serielle Technik zusammen.

Der Geräusch-Effekt manifestiert sich nicht nur bei der Benutzung des Tonbandes, sondern auch anhand verschiedener Spieltechniken auf der Bühne: die drei Damen singen mit Sprechstimme. Zoe zerreißt geräuschvoll das Papier der Schokolade, die sie von Bloom erhalten hat. Florry und Kitty rascheln mit Papier. Die Damen schnappen wie nach Luftküssen. Lynch beißt die Schokolade durch. Kitty flüstert stimmhaft mit Lynch und Florry. Die Damen hecheln, atmen ein und aus, dann wiederum sind sie stumm und unbeweglich. Zoe schreitet auf Stephen zu. Kitty und Florry atmen langsam, hörbar und tief. Jede der Damen klatscht einmal in die Hände oder auf die Schenkel, und stampft (nicht synchron mit den anderen) zweimal mit dem linken Fuß auf die Erde.

Bei der Flöten-Stimme ergeben sich Luftgeräusche durch den Einsatz von viel Nebenluft (es ist mit dem Zeichen ⓛ bezeichnet) oder durch direktes Blasen ins Mundloch (mit dem Zeichen ⓜ bezeichnet). Durch die Veränderung der Griffe verändert sich die Helligkeit der Tonfarbe. Flöten könnten eventuell sogar elektrisch verstärkt werden. Für die Streicher benutzt Zender den sogenannten „Stegschlüssel“, der so vorgezeichnet ist, dass die Tonhöhenunterschiede nicht durch Griffe der linken Hand, sondern durch die Verschiebung der Anschlagstelle des Bogens (bzw. Bogenholzes) zwischen Griffbrett (unten auf der Zeile) und Steg (oben) produziert wird. Dies ergibt einen starken klanglichen Geräusch-Effekt.

179 Lautes Knarren der Tür – Windgeräusch – knackendes Geräusch wie von großen Ästen – hündisches Gewinsel; ab und zu schneller Akzent – Geräusch von durchgebissenen Knochen, sehr verstärkt – schleichende Geräusche, leises Schleifen über den Boden – Glockenschlag – sich entfernende Schritte, dann Husten – Atmen – zackiges Hackenschlagen, in verschiedenen rhythmischen Varianten – dumpfe Fallgeräusche – Donner. 76

Notenbeispiel 11. Geräusch-Effekte in Ziff. 125

Die sechste Szene des zweiten Aktes besteht aus neun kleinen Abschnitten, die aus einem Passacaglia-Thema und acht Variationen bestehen. Das Passacaglia-Thema wird in jedem Abschnitt motivisch-thematisch behandelt.

77

Tabelle 9. Das Passacaglia-Thema

Abschnitt Taktwechsel Stimme Das Thema und die Variationen

1 5/4 4/4 7/8 3/4 5/8 Trp. f cis h es fis d c f c h f cis

2 „ Bella f cis h e g es e c b

3 „ Bella f a cis dis e c e d

4 „

5 „ Bloom cis a g d es as ges e c h b

6 5/4 --- 7/8 3/4 5/8 Bella f cis h e as c d e c f des

7 Taktwechsel sehr komplex gewechselt

8 „

9 5/4 3/4 3/8+3/16 4/4 7/8 3/4 5/8 4/4 Bella f cis h fis c h c cis es

Notenbeispiel 12. das Passacaglia-Thema und die Variationen

Ab dem Abschnitt 7 der Szene wird der Geräuscheffekt verstärkt: hier erscheinen Bella und die drei Damen als böse dämonische Wesen, welche mit Ruten bewaffnet die Männer in Schweine verwandeln und dann in Ställe sperren. Bella pfeift gleichzeitig mit leisem Fingerschnippen, spricht tief, singt mit dem Vokalglissando und schnalzt oft mit der Zunge.

78

Die Damen bilden eine Kette und tanzen später mit nach außen gedrehten Körpern im Reigen um Stephen, singen mit summenden (Ziff. 142), gurrenden (Ziff. 142), klatschenden (Ziff. 143), stimmhaftem Ein- und Ausatmenden (Ziff. 143), gurrenden (Ziff. 144), pfeifenden (Ziff. 144) Formeln (alles nicht laut und immer im Konnex mit den Reden Bellas). Dabei erschaffen sie verschiedene Geräusch- Effekte: sie springen, wiegen sich, vergießen Wasser, plätschern, spritzen, klatschen auf Wasser; Gläser, Tassen, Krüge, Steine, Metall, Ringe, Becher, Tamburine, Gongs, Triangeln, Schellen, Rasseln. Die Männer – Stephen, Bloom und Lynch – grunzen wie Schweine. In Abschnitt 8 (Ziff. 143) spielen Flöte und Bassklarinette mit sehr viel Nebenluft und teilweise einzig und allein mit Klappenanschlägen und eventuell mit etwas Luft. Das Klavier im Orchester ist sehr stark gedämpft (andere Anschlagsstelle). In dieser Szene befinden sich die Frauen immer oben (eventuell auf einer Art zweiter Bühne bzw. auf Schaukeln oder Ähnlichem), die Männer sind immer unten und auf allen Vieren. Die ganze Szene ist nicht laut, nicht „wütend“, sondern raubtierhaft, katzenhaft schleichend, wollüstig genießend.180

Die Szene 9 ist plötzlich ganz normal: Die Damen und Herren sind wie am Anfang des Aktes, die Schweineställe sind verschwunden. Hier gibt es auffällig verschiedene Geräusch-Effekte für die Tastaturinstrumente: Auf dem Bühnenklavier spielt Zoe Arm-Cluster mit schwarzen oder weiß-schwarzen Tasten sowie Hand-Cluster. Lynch hämmert danach auf dem Bühnenklavier. Auf dem Klavier im Graben wird auch Cluster und Glissando gespielt; die Celesta ist unharmonisch (Ziff. 186-189). In der Ziffer 198 spielen die Tastaturinstrumente – Marimba, Celesta, Klavier, Synthesizer – eine fast identische Melodie (d-es-e-f-as- c), aber zeitlich versetzt. Es entsteht ein Kanoncharakter. Durch die Überlagerung der unterschiedlichen Tonfarben der verschiedenen Tastaturinstrumente wurde ein neuer Geräusch-Effekt erschaffen. Die Streicher sind jeweils in viele Stimme unterteilt: 1. Vl. (14), 2. Vl. (12), Br. (10), Vc. (8), Kb. (6), so dass konsequent ein riesiges Cluster jeweils mit zwölf Tönen (1. & 2. Vl.) und mit acht Tönen (Br. & Vc. & Kb.) entstanden ist (Ziff. 200). Im Geräusch-Stapel singt Bella hier eine Zwölftonreihe (Notenbeispiel 14). Beim Gespräch zwischen Stephen und Lynch ist ein alliteratives Sprachspiel zu entdecken. Es ist nicht Joyceschen Ursprungs, sondern wurde von Zender hinzugefügt.

180 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 279. 79

Stephen: Was, eh, kost? L: Was er kost? Wasserkost – Wasserkoch – Wassertopf – Wasserschloss – Wasserfloch – Waterclo – Waterclock – Watercool – Waterproof!

Lynch: Wasserpost – Wasserkopf – Wasserloch – Wasserfloß – Wasserklo – Waterloo – Waterloo – Waterloo!181

Notenbeispiel 13. Ziff. 200, S. 348-349

181 Hans Zender: Textbuch. 80

Notenbeispiel 14. Ziff. 211

d. Szene 7: Proportionskanon

Die intervallische Struktur der Reihe, darstellbar als Zahlenproportionen, ist für Zender im Grunde eine Zeitordnung. Die im Intervall geborgene Zeitstruktur soll erlebbar werden. Sie als zwei Schichten von durchlaufenden Impulsen nachzuvollziehen (z. B. 7:5 als Septole und Quintole) ist eine Möglichkeit, die Vereinigung der Impulsfolgen in einer Dauerreihe hingegen eine andere.182

Zuerst die Dauerreihe. In der Ziffer 153 haben die verschiedenen handelnden Personen – Simeon, Antonios, die erste und die zweite Hälfte der Mönche – alle dieselbe Melodie zu singen. Hier im Tondauerbereich wurde die Technik einer Proportionensummierung angewendet.

Notenbeispiel 15. Notenwert (7:5)

Beim Singen ist die Ausgangslage für jede Stimme jeweils unterschiedlich und zusätzlich variiert die Geschwindigkeit. Aus der Melodie, die Simeon singt, leiten sich drei simultan erklingende Stimmen ab, welche nacheinander einsetzen. Die Notenwerte dieser abgeleiteten Stimme erscheinen dabei vergrößert oder

182 Volker Wacker: a.a.O., S. 251. 81

verkleinert, deswegen spricht man von einem Augmentations- bzw. Diminutionskanon. Diese Technik entwickelte sich aus den Möglichkeiten der Mensuralnotation, in welcher sich durch die Kombination verschiedener Mensurzeichen verschiedene Verhältnisse zwischen den Stimmen herstellen lassen. Hier nennt sich das Phänomen Mensur- oder Proportionskanon. Im Proportionskanon werden Stimmen mit gleicher Melodie, aber unterschiedlichen Proportionen, somit in unterschiedlichen Tempi simultan unter Befolgung sämtlicher kontrapunktischer Regeln fortgeführt. Der dabei zugrunde liegende Notenwert jeder Stimme ist so unterschiedlich (Simeon: Quintole / 1. Häfte der Mönche und Antonios: Achtel / 2. Hälfte: Viertel).

Die hier vorgezeigte Reihe: 11 9 8 7 2 3 4 10 6

Originalreihe: 12 10 6 4 3 2 7 8 9 11 1 5

Die hier vorgezeigte Reihe lässt sich trotz der Versetzung der Töne „a“ und „f“ als Umkehrreihe der Originalreihe bezeichnen.

Notenbeispiel 16. Ziff. 153

Diese Technik, jeder Stimme unterschiedliche Zahlenproportionen zu geben, wurde ebenfalls im III. Akt angewendet. Die hier verwendete Reihe ist identisch mit der Originalreihe: Die unterschiedlichen Proportionen des Notenwerts zwischen den Mönchen (4:2:1) wird für die sechs Töne des ersten Teils beibehalten. (Notenbeispiel 18)

82

Die Reihe: e h a f es d cis fis g as b c

e h a f es d

2-3 Mönche 16 12 8 6 20 18

(6+6+4) (4+8) (8) (6) (7+6+7) (1+8+8+1)

1 Mönch 8 6 4 3 10 8

(Ant.) (1+6+1) (3+3) (1+3) (1+2) (2+8) (6+2)

1 Mönch 4 3 2 1.5 5 4.5

(Vorsänger) (1+3) (1+2) (2) (1.5) (0.5+4+0.5) (1.5+3)

Notenbeispiel 17. Ziff. 286

e. Szene 11 & 12: „Totentanz“

Von Stephens Ausruf „Totentanz“ (Ziff. 228) bis zur Szene 12 spielt „Tritonus“ allgegenwärtig eine wichtige Rolle. Aus dem bestimmten Intervall Tritonus (übermäßige Quarte oder verminderte Quinte) leitet sich das Verhältnis 2 : √2 ab, worauf sich Zender fokussiert. Die symbolisiert das Verhältnis von Leben und Tod:

83

Stephen träumt das ganze Stück über von Versfüßen. Schon beim Auftritt klopft er mit seinem Stock Versfüße auf den Bühnenboden. Besonders ist er mit einem Versfuß beschäftigt, den der griechische Theoretiker Aristoxenos als „choreios alogos“ bezeichnet hat; die beiden rhythmischen Werte sollen hier nicht, wie bei den übrigen Versfüßen, im Verhältnis 1:1 oder 2:1 stehen, sondern der 2. Wert wird als irrational beschrieben; er soll zwischen zwei der Wahrnehmung bekannten Verhältnissen (nämlich 1:1 und 1:2) liegen und nicht auf den kleinsten Wert rückführbar sein. Georgiades meint, hier sei die Proportion 4:3 gemeint, aber das will der Text des Aristoxenos ja gerade ausschließen. Mathematisch gesprochen kann es nur das Verhältnis 2:√2 sein.183

Die Metronomangaben ♩=152 ( =76) in Ziff. 229 und ♩=108 in Ziff. 236 werden von diesem Intervall beherrscht, welches zudem das Orchester, das zunächst zwischen diesen beiden Tempi wechselt, in zwei Hälften mit gleichzeitigen Tempi von ♩=152 und ♩=108 auseinandersprengt. 184 In der Tonhöhenstruktur ist Tritonus häufig zu finden: am Anfang der Szene 12 singen zum Beispiel die Tenor- und Altostimmen (h-f, cis-g, fis-c, b-e) des Chors hinter der Bühne mit dem Tritonus. Nach dem Erscheinen von Stephens toter Mutter verändert sich seine Stimme: entgegen dem Willen seiner Mutter, die ihn dazu zwingt, andächtig zu Gott zu beten, spricht er am Anfang mit erstickter Stimme, dann fast tonlos und danach lebhaft, bis er am Ende mit ff „Nein, Mutter, ich will nicht“, „Non serviam!“ schreit. Während die Stimme der Mutter meistens aus der kleinen oder großen Sekunde sowie mikrotonalen Tönen besteht, ist bei der Stimme Stephens Tritonus (e-b, a-dis) auffallend, insbesondere nach der großen Steigerung der Mutter (a-b-h-cis) Tritonus (d-as, dis-a).

183 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 280. 184 Vgl. Volker Wacker: a.a.O., S. 255. 84

Notenbeispiel 18. Tritonus im Chor hinter der Szene in der Ziff. 236.

Außer den Metronomanzahlen und der Tonhöhenstruktur wird das Verhältnis 2 : √2 auch bei der Tonanzahl in der Reihe der Mutterstimme angewendet: um dieses Verhältnis musikalisch zu realisieren, schlägt Zender als einen möglichen Annäherungswert 16 : 11 vor. Die Mutterstimme hat je Ziffer eine Reihe von mikrotonalen Tönen. Zwischen der Tonanzahl jeder Reihe ist das Verhältnis stets 16 : 11.

Tabelle 10. Das Verhältnis 2 : √2 ≒ 16 : 11 ≒ 13 : 9

Ziffer Tonanzahl in der Reihe der Mutterstimme

237 11 c – c+ – c# – d – e – f – g♭ – g – a♭ – a – b

238 11 e♭ – e – f# – g – g+ – g# – d – dd – c – b – a

239 16 f# – g# – a – c – d♭ – e♭ – f – fd – e – b♭ – bd – b – g – gd – c+ – d

240 13 d – dd – d♭ – ad – a – e♭ – d+ – b♭ – b – g# – g – e – c

241 9 d – c# – e♭ – a♭ – g – a – b♭ – g♭ – f

242 11 e♭ – d+ – d – a – ad – a♭ – g – f# – e – f – b

Auf der Basis des Aristoxenos wie einer (denn doch wohl unwissenschaftlichen) Spekulation über den Herzrhythmus kommt es zur Ableitung von Intervallen (der Tritonus als das irrationale Intervall zwischen 1:1 und 2:1, aber auch von Systole zu Diastole), die er in „Versfüße“ umdenkt und so sich neue Ansätze für rhythmische Reihen gewinnt.185

185 Heinz Josef Herbort: „Dichter, Huren, Mönche. James Joyce und die „Acta Sanctorum“ gemeinsam auf der Bühne“, in: http://www.zeit.de/1986/28/dichter-huren-moenche Zeit-Online, 04.07.1984. (2013. 03. 07.) 85

2.3. Akt III

Akt drei, der nur aus einer Szene besteht, ist dem ersten Akt gegenübergestellt. Der durch Cluster, verschiedene geräuschvolle Effekte und Verfremdung der alten musikalischen Materialien gebildete zweite Akt ist vorbei. Mit einer komplexen Massenszene beginnt Akt drei, in dessen Verlauf Stephen vom Gefreiten Carr zu Boden geschlagen wird. Danach wird dieser Akt allmählich mit Hilfe des Tonbands und der seriellen Technik vereinfacht.

Eine Tonbandkomposition setzt mit Stephens Sturz ein: Tonbandklänge sind mit Reminiszenzen aus Stephens Leben gefüllt – rückwärts gehend wie mit Nachklang seines Herzschlages, Rufe des Chores, dann Sirenenklänge des Bordells, auch Rufe Lynchs, der Mutter, der Freunde und Szenen der Kindheit. Schließlich endet das Tonband mit Herzschlagklängen, die das Geburtstrauma Stephens und damit einen Anfang versinnbildlichen. Stephens Erwachen gleicht damit einer Auferstehung.186

In der Ziff. 254 singt Stephen eine Zwölftonreihe, die einen bestimmten Bezug zur Originalreihe aufweist: die Originalreihe ist mit jeweils drei Tönen in vier Gruppen unterteilt, die wiederum als A, B, C, D bezeichnet werden. Die hier vorgeführte Reihe ist als B, A, D, C die Umkehrung jeder kleinen Gruppe. Die Reihe ist nicht nur bei der Stephen-Stimme, sondern in vielen Orchesterstimmen wiederholt vorzufinden.

Originalreihe: (h a f) (es d cis) (fis g as) (b c e)

A B C D

Stephen (Ziff. 254): (es d cis) (a h f) (b c e) (fis g as)

B A D C

Notenbeispiel 19. Die Zwölftonreihe von Stephen

186 Vgl. Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 278. 86

Nach der Erscheinung Rudys singen die Mönche die für diese Oper grundlegende Zwölftonreihe. Somit wird deutlich, dass am Anfang und am Ende der Oper der Serialismus beibehalten wird und darauf ein stilistischer Pluralismus mit verschiedenen musikalischen Stilen aus unterschiedlichen Epochen besonders im zweiten Akt folgt.

87

3. Stephen Climax: Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen bzw. Affekte durch Überlagerung der verschiedensten szenisch-musikalischen Elemente

Aus den szenisch-musikalischen Analyseergebnissen können die folgenden Konsequenzen hergeleitet werden: a. „Koinzidenz“: „hier und jetzt“

Der Ausgangspunkt von Stephen Climax, „die noch ziemlich verschwommene Pluralismus-Vorstellung Zimmermanns“ 187 , wird vom Komponisten Zender im Libretto und in den szenisch-musikalischen Bereichen umfassend weiterentwickelt. Die zwei voneinander unabhängigen Handlungen aus den zwei unterschiedlichen Romanen – Ulysses von James Joyce und Byzantinisches Christentum von Hugo Ball – wurden auf der Bühne nacheinander wechselnd konzipiert. Durch die Simultanszene treffen sich jedoch zuweilen die Figuren der beiden Handlungen aus den zeitlich-räumlich unterschiedlichen Hintergründen „hier und jetzt“ (Koinzidenz!). b. „Die gegenstrebige Fügung“

Die Hauptpersonen Stephen und Simeon formten das Konfrontations-Verhältnis: Der Asket Simeon lebte in der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. auf einer hohen Säule in der Syrischen Wüste und der junge Stephen befindet sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Bodellviertel von Dublin. Sie symbolisieren Religion und Realität, Moralisches und Irdisches, im weitesten Sinne Streit und Harmonie der entgegengesetzten Pole. Dies spiegelt sich besonders im musikalischen Bereich wider: Die Figur Simeon ist beständig verbunden mit der Tonreihe, die als strukturelle Grundlage für das gesammten Werk streng seriell komponiert ist. Die Musik für die Stephen-Handlung besteht jedoch aus den Zitaten der verschiedenen Musikabschnitte. Diese Überlagerung der vielfältigen musikalischen Materialien nannte Zender „chimärische Musik“ 188 , sie reflektiert die verworrenen Konstellationen der heutigen Kunst. Diese oppositären szenischen Verhältnisse und musikalischen Einrichtungen prallen nicht nur aufeinander, sondern ergänzen sich auch. Hier entsteht einerseits eine völlig unverständliche Absurdität, die im

187 Hans Zender: „Zum Musiktheater heute“ (1993), in: Die Sinne denken, S. 59-62, hier S. 62. 188 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 271. 88

heraklitischen Sinne „die gegenstrebige Fügung“ wie die Spannungsfelder aus Bogen und Leier symbolisiert, und andererseits ein neuer Sinnzusammenhang im neuen Kontext. Für den Komponisten Zender gilt dies als unentbehrliche Grundlage unseres gesamten Denkens und hat in dieser Oper und im Wesentlichen auch in seinen ganzen anderen Kompositionen einen zentralen Stellenwert. c. Simultaneität der konträren Affekte

Die musikstilistische Mehrsprachlichkeit erweiterte sich in die Gleichzeitigkeit der konträren Affekte: Wenn die verschiedenen früheren Musikstile und Bruchstücke aus den unterschiedlichen Quellen auf fremde Kontexte des neuen Werks treffen, wurde bewusst ein Komik-Effekt aus der Ambivalenz der Empfindungen geschaffen, z. B. ernsthaft-komisch. Für die musikalische Komik werden verschiedene Mittel angewendet wie Verzerrungen durch Stauchung und Dehnung bzw. durch Verzögerung und Beeilung, Umdeutungen von harmonischen Bezügen, falsche Metrisierungen und Zusammenprall heterogener Charaktere usw. Durch die Verfremdung des Originals kann man die Gleichzeitigkeit verschiedener Affekte wie komisch und ernsthaft usw. gleichzeitig wahrnehmen. Das bietet uns die Möglichkeit einer neuen Erfahrung der komplexen Wahrnehmung. d. Selbstporträt eines Künstlers und Reflexion der Erkenntnis über die heutige Kunst

In den Besonderheiten dieses Stücks – die Ausführung der Simultaneität und die Weiterentwicklung der pluralistischen Oper – spiegelt sich in Stephen Climax das Selbstporträt Zenders als moderner Künstler und seine Erkenntnis über die gegenwärtige Kunst wider. Nach Angaben des Komponisten ist Zenders Protagonist Stephen ein moderner Ikarus, der sich von der Figur des originalen Mythos und auch von der Figur des Joyceschen Romans unterscheidet. Er wurde als der Typus des modernen Menschen dargestellt, der trotz seines Untergangs wieder die Herausforderung annimmt:

Die Größe der Joyceschen Konzeption liegt darin, dass Ikarus Stephen seinem Schicksal nicht entfliehen kann: er muss untergehen. Meinem Stephen dagegen rufen die Stimmen zu: „Fang noch mal an!“ Er wird nach einer neuen Konzeption von Kunst und Leben suchen, die nicht mehr mit dem Mythos des Daedalus abzudecken ist.189

189 Ebd., hier S. 274. 89

Darin ist Zenders Einstellung zur zeitgenössischen Kunst und ihren Künstlern erkennbar: Seine pluralistische Ästhetik und Methode sind weit weg von der Beliebigkeit solcher Trends der Gegenwart wie „anything goes“ oder des Defätismus, oder feste Logik und eine einzige Wahrheit durch Vielfältigkeit ersetzen zu müssen. Zender sieht sich eher als moderner Künstler, der sich mit Problemen auseinandersetzt, derer sich die Künstler früherer Epochen noch nicht bewusst waren: In der beherrschenden Eigenschaft der modernen Kunst, die nichtlinear, informell, antiästhetisch und pluralistisch ist, spiegelt sich „die Tendenz, das Ich zu erweitern, zu sprengen, zu übersteigern und gleichzeitig in seiner Bedingtheit zu erkennen“190, wider.

190 Hans Zender: „Wegekarte für Orpheus? Übernichtlineare Codes der Musik beim Abstieg in ihre Unterwelt“, S. 86. 90

III. Don Quijote de la Mancha: 31 theatralische Abenteuer (1989- 1991/1994)191

„Das Werk selbst ist Donquijoterie.“192

Die Titelfigur Don Quijote aus dem berühmten Roman des spanischen Autors Saavedra (1547–1616) träumt Unerfüllbares, liebt Nicht- existierendes, bekämpft Unbesiegbares und erleidet Unerträgliches. Aus ihrer Einstellung zum Leben, dem Charakter und ihren überspannten Abenteuern entsteht die Donquijoterie193. Nach seiner Veröffentlichung wurde der Roman weltberühmt und inspirierte verschiedene Kunstgattungen.194 Es soll aufgezeigt werden, dass es bei diesem Werk nicht um eine Erzählung über törichte Abenteuer geht, sondern dass sich in ihr die Ambivalenz des menschlichen Inneren und der Realität unseres Lebens widerspiegelt.

Für sein zweites Musiktheater195 Don Quijote de la Mancha. 31 theatralische Abenteuer (1989–1991/1999) wählte Zender bewußt Don Quijote für seine Hauptrolle aus. Diese Oper beinhaltet daher den Donquichottismus im Sinne von

191 Der Inhalt dieses Kapitels wurde bereits in Korea als wissenschaftlicher Artikel publiziert. Jiyoung Kang, „첸더의 음악극 <돈키호테. 31개의 극적 모험들>: 다양한 매체들의 분리와 결 합을 통해 감각을 지각하는 새로운 경험을 얻다!“, Englischer Titel „Hans Zender, Don Quijote de la Mancha. 31 theatralische Abenteuer: new experience on perception of sences”, in: Journal of the musicological society of Korea, 19(3) 2016, 171-202. 192 Hans Zender im Gespräch mit Sabrina Hölzer und Rüdiger Bohn: „Oper als Donquijoterie...“, in: Komische Oper Berlin (Hrsg.), Programmheft für Don Quijote de la Mancha, Berlin 2004, S. 6-10, hier S. 10. 193 Donquijoterie, Donquichotterie oder Donquichottismus. Auf Englisch ist sie mit dem Wort quixotism oder quixotic markiert: „Quixotism is impracticlity in the pursuit of ideals, especially those ideals manifested by rash, lofty and romantic ideals or extravagantly chivalrous action.“: www.merriam-webster.com/dictionary/quixotic (zuletzt eingesehen: 04. 03. 2015) Im Deutschen besteht neben dem Begriff der Donquijoterie auch der des Donquichottismus. Im wortwörtlichen Sinn bedeutet das „Hang zu törichten, aussichtslosen Unternehmungen“ oder „Bestreben, Drang, etwas Törichtes, Aussichtsloses zu tun.“: www.duden.de/rechtschreibung/Donquichottismus (zuletzt eingesehen: 04. 03. 2015) 194 Im Fach der Malerei: Don Quixote (1863) von Gustav Dore, Don Quixote and Sancho Panza (1870) von Honoré Daumier; in der Musik: eine Oper Die Hochzeit des Camacho (1825) von Felix Mendelssohn, eine Tondichtung Don Quixote (1897) von Richard Strauss und eine Oper Don Quichotte (1910) von Jule Massenet; im Ballett: Don Quijote (1869) von Ludwig Minkus und Marius Petipa etc. 195 Soll dieses Stück als Musiktheater oder als Oper betrachtet werden? Der Komponist hat es auf dem Titelblatt der Partitur als Oper markiert und in einigen Gesprächen auch als Oper bezeichnet. In manchen seiner Aufsätze, die er im gleichen Zeitraum verfasste, nannte er es jedoch Bühnenwerk und Musiktheater. Dies legt den Schluß nahe, dass das Stück als Musiktheater komponiert wurde. Somit werden in der vorliegenden Arbeit für die Bezeichnung dieses Stücks die oben erwähnten Termini wie Oper, Bühnenwerk und Musiktheater gleichwertig verwendet. Vgl. Hans Zender: „Zum Musiktheater heute“ (1993) und „Auge und Ohr. Gedanken zum Musiktheater“ (1991), in: Die Sinne denken. 91

törichten, von Anfang an aussichtslosen Unternehmungen aus weltfremdem Idealismus heraus, der sich aus dem Charakter und dem Verhalten der Figur Don Quijote herleitet. Aber nicht nur in Bezug auf Figur und Thematik, sondern auch in Form und Struktur ist das Werk selbst Donquijoterie, wie es der Komponist ausdrückte. Dieser Ansatz ist wichtig für das Verständnis dieses Werks und der Frage, in welchem Zusammenhang mit der Romanvorlage Zenders Musiktheaterstück selber zu Donquichottismus wird. Der schließt bei ihm besonders mit seiner wesentlich entscheidenden Fragestellung über die Gattung Musiktheater an.

Zender begann Don Quijote de la Mancha zu konzipieren, nachdem seine erste Oper Stephen Climax (1979/1984) im Jahr 1986 in Frankreich erfolgreich uraufgeführt worden war. Im Jahr 1989 ging er die Komposition von Don Quijote de la Mancha richtig an und vollendete die erste Fassung des Werks 1991196: In diesem Zeitraum wurde Stephen Climax in Brüssel (1990) und in Nürnberg (1991) aufgeführt. Es ist somit zu vermuten, dass es einen engen Zusammenhang zwischen den beiden Stücken gibt, dass seine erste Oper in vielerlei Hinsicht großen Einfluß auf die Erarbeitung der zweiten ausgeübt hat.

In der vorliegenden Arbeit werden die Einflüsse von Stephen Climax auf Don Quijote de la Mancha zweigeteilt abgehandelt. Zum einen ist „die gegenstrebige Fügung“197 die grundlegende Ästhetik seines Komponierens. In Stephen Climax, in dem zwei voneinander unabhängige Handlungen mit unterschiedlichen szenischen Hintergründen, Figuren, musikalischen Stilen und Themen auf ein und derselben Bühne zeitlich versetzt und parallel aufgeführt werden, markiert sich sein ästhetisch-kompositorischer Gedanke, heterogene Elemente zusammenzustellen. Diese Tendenz ist fraglos auch auf sein nächstes Theaterwerk Don Quijote de la Mancha übertragbar. Daher wird in diesem Kapitel untersucht, wie die Idee, konträre Dinge in verschiedenen Bereichen des Stücks zusammenzubringen – Figuren, Thematik und theatralisch-kompositorische Techniken usw. – verwirklicht

196 Den Auftrag zur Oper Don Quijote de la Mancha erteilte die Staatsoper Stuttgart. Erst am 3. Oktober 1993 wurde die Oper in Stuttgart uraufgeführt. Aus den Erfahrungen der Uraufführung erwuchs beim Komponisten das Bedürfnis, die Komposition an einigen Stellen umzuarbeiten. Im Jahr 1994 erarbeitete Zender für die Salzburger Festspiele in Co-Produktion mit der eine Neufassung. In der Konsequenz wurden einige Szenen völlig neu komponiert und andere stark korrigiert. Im folgenden wurde 1999 in Heidelberg und dann 2004 in Berlin an der Komischen Oper die neue Fassung basierend auf einer langfristig angelegten Zusammenarbeit zwischen der Komischen Oper Berlin und der Zeitgenössischen Oper Berlin wiederaufgeführt. 197 s. Kapitel II. 1. 2. der votliegenden Arbeit. 92

wird.

Zum anderen ist da der Einfluss auf Form und Struktur: Mit der Idee „der Kugelgestalt der Zeit“ 198 des Komponisten Zimmermann, verschiedene Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie ihre Musikstile in einem Musiktheater gleichzeitig zu realisieren, wurde in Zenders Stephen Climax auf verschiedenartige Weise experimentiert und bis zur „Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen und Affekte als eine Möglichkeit einer neuen komplexen Erfahrung“ 199 weiterentwickelt. In Don Quijote de la Mancha wird die musiktheatralische Gleichzeitigkeit noch auf andere Art und Weise erreicht: Nämlich nicht nur durch „Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen“, sondern auch durch die verschiedenen theatralischen Medien, die der Komponist als die fünf Grundelemente bestimmte. Diese Grundelemente – Sprache, Gesang, Instrumentalklang, Bild und Aktion – dienen in diesem Werk als Medien, die zwischen dem Komponisten und dem Publikum vermitteln, indem sie sinnliche Informationen übertragen. Durch die Experimente mit der Assoziation und Dissoziation der verschiedenen Medien kann die neue Wahrnehmung von Zeit und Raum sowie Hören und Sehen erfahren werden.

Obwohl sich ein enger Zusammenhang zwischen den beiden Stücken ergibt, die die neue gegenwärtige Gattung Musiktheater anders als die Oper erzielen, unterscheidet sich im Bereich von Form und Stil ein Stück von dem anderen. Der Komponist konzipierte dazu „zwei polar entgegengesetzte Wege zu einem komplexen modernen Musiktheater“.

In Stephen Climax habe ich die noch ziemlich verschwommene Pluralismus- Vorstellung Zimmermanns zu einer totalen Simultaneität zweier voneinander gänzlich unabhängiger Handlungen weiterentwickelt und seine vereinzelten Ansätze zur Einbeziehung fremder Stile zu einer Polystilistik radikalisiert, die, auf eine Formel gebracht, heißen würde: Der Stil ist die Figur; es existieren so viele Stile wie Figuren im Stück. Eine so neuartige Formgebung, dass sie bis heute nur von einer Handvoll Menschen begriffen worden ist! Erscheint in Stephen Climax das „Ganze“ als Überlagerung der verschiedensten Elemente in einer bruchlosen Kontinuität, so besteht das „Ganze“ von Don Quijote aus einem in 31 einzelne Stücke auseinander gebrochenen Spiegel; jede der 31 Facetten zeigt – mittels verschieden definierter theatralischer Mittel - ein anderes Bild der gleichen Figuren, der gleichen Handlungselemente. Don Quijote hat zwar nur einen „Stil“, aber seine Form entfaltet sich in jeweils strukturell verschiedenem Umgang mit den fünf musiktheatralischen Grundelementen Sprache – Bild – Gesang – Aktion – Instrumentalklang auf vielfältigst gebrochene Weise.200

198 Der Schlüsselbegriff Zimmermanns (s. Anm. 118). 199 Hans Zender: „Notizen zu Stephen Climax“, S. 274. 200 Hans Zender: „Wegekarte für Orpheus? Über nichtlineare Codes der Musik beim Abstieg in ihre Unterwelt“, S. 94. 93

Im Sinne der äußerlichen Formgestaltung weicht Don Quijote de la Mancha als das „Ganze“ mit nur einem Stil, aber verschiedenen Formen, von der anderen Oper Stephen Climax mit ihren durch Überlagerung der verschiedensten Elemente vielfältigen Stilen ab: Don Quijote de la Mancha ist nicht aus verschiedenen szenisch-musikalischen Materialien komponiert, sondern aus gleichen Handlungs- und Kompositionselementen, jedoch nicht in einer bruchlosen Kontinuität, sondern auf gebrochene Weise. An diesem Punkt bietet der Untertitel des Stücks, „31 theatralische Abenteuer“, einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis des Werks. Er ist zweideutig zu interpretieren: Er steht nämlich nicht nur für die Abenteuer der Hauptfigur Don Quijote aus der Romanvorlage von Cervantes, sondern auch für „die formale Gliederung eines für uns ungewöhnlichen Musiktheaterkonzepts“201. Daher ist die Überlegung über die Struktur entscheidend. Der Komponist bezweckt, dass sein Publikum Zeit und Raum durch die theatralischen Experimente mit Form und Struktur anders wahrnimmt, sowie Hören und Sehen neu erfährt.

Das Kapitel besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil geht es um den szenischen Bereich mit der Frage, inwieweit Zender es als Komponist überhaupt wagen kann, einen so berühmten Roman für sein Bühnenwerk zu adaptieren. Dafür werden zunächst die szenischen Strategien Zenders, mit denen er den Roman Cervantes als Musiktheater umsetzte, erforscht. Dann wird dargelegt, wie die Bühnenfiguren Don Quijote, Sancho Panza und Dulcinea in dieser Oper besonders in Hinsicht auf die theatralische Eigenschaft dargestellt werden. Im zweiten Teil werden Szene und Musik analytisch behandelt. Zuerst wird die für dieses Werk speziell konzipierte Form – die 31 Einzelstücke aus den jeweils wechselnden Kombinationen der fünf Grundelemente – betrachtet, und einige Stücke, in denen der Komponist durch besondere Effekte neue Sinneswahrnehmungen erfahren lassen wollte, werden ausführlich analysiert. Jedes Beispiel zeigt unterschiedliche theatralisch- musikalische Techniken Zenders. daher ist in diesem Kapitel eine analytische Forschungsmethode erforderlich.

201 Jörn Peter Hiekel: „Der logische Verstand ist unfähig, die Welt als Gesamtheit zu erfassen“. Die Ausfaltung von Widersprüchlichkeiten in Hans Zenders Musiktheaterwerken“, in: Ulrich Taddy (Hrsg.), Hans Zender (= Musik-Konzepte Sonderband 2013), S. 70-91, hier S. 81. 94

1. Libretto und Theater

Das Libretto des Musiktheaters basiert auf einem Roman des spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes Saavedra (1547–1616), der aus zwei Bänden besteht: Der erste Band wurde mit dem Titel El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (deutsche Übersetzung: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha202) im Jahr 1605, der zweite mit dem Titel Segunda parte del ingenioso cavallero Don Quijote de la Mancha im Jahr 1615 veröffentlicht. Cervantes begann 1597 mit der Arbeit an diesem Romanwerk, als er wegen angeblicher Veruntreuung von Staatsgeldern etwa drei Monate in Untersuchungshaft im Gefängnis von Sevilla verbrachte. Danach beschäftigte es sich noch etwa zwanzig Jahre lang damit. Die Geschichte ist eine Tragikomödie: Es geht um den Irren Don Quijote mit dem traurigen Gesicht, der wegen seiner Sucht nach Ritterromanen seinen Verstand verliert, und mit seinem Knecht Sancho Panza komische Abenteuer erlebt.

1.1. Zender als Dramaturg: „Text nach Cervantes vom Komponisten“

Die auf dem Titelblatt geschriebene Zeile „Text nach Cervantes vom Komponisten“ zeigt, dass Zender selbst den Roman von Cervantes in eine moderne Oper umarbeitete. Als Dramaturg entwarf er das Libretto seiner Oper aus dem Romantext. In diesem Vorgang konzipierte er einige szenische Strategien:

Die erste seiner szenischen Strategien ist es, nur einige der insgesamt 126 Szenen des Romans auszuwählen und mit kurzen, autonomen 31 Einzelstücken (16 im ersten, 15 im zweiten Teil / in der Neufassung: 17 im ersten, 14 im zweiten Teil) zu rekonstruieren, anstatt den ganzen Text umzustellen. Die einzelnen Stücke sind partielle Episoden, in denen manche Inhalte des Romans ausgelassen werden, deren Abfolge der des Romans nicht entsprechen. Einige Szenen davon überlagern sich sogar in Zenders Musiktheater (Szenen 17, 18, 19) oder sind miteinander austauschbar (Szenen 8 bis 10, 18 bis 22). Dies spiegelt das Konzept Zimmermanns „der Kugelgestalt der Zeit“ wider, dass die Erkenntnis der realen Welt nicht nur auf

202 Zender benutzte keine bestimmte Romanvorlage, sondern verglich mehrere Übersetzungs- auflagen und erarbeitete daraus sein Libretto. In der vorliegenden Arbeit wurde hauptsächlich die folgende Auflage zitiert: Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha (übersetzt von Ludwig Tieck), Zürich; Diogenes Verlag 1987, S. 12. 95

der zeitlich geraden Linie abläuft. Jede Szene der insgesamt 31 Stücke hat ihre Bühnenfiguren und ihre eigene Geschichte – so entsteht in jeder eine kleine Einheit. Aber diese einzelnen Stücke sind voneinander unabhängig, inhaltlich miteinander nicht verbunden, so dass kein kausaler Zusammenhang besteht.

Die zweite Strategie ist es, Texte des Romans und Dialoge der Figuren nicht wortwörtlich zu zitieren, sondern nur das Motiv jeder Episode zu übernehmen und es dann nach szenisch-theatralischem Bedarf völlig neu zu konfigurieren. Zenders Verfahrensweise, wie er den Roman als Musiktheater umsetzt, bezieht die Aufführbarkeit eines Bühnenstücks mit ein. Im Gegensatz zu einem zeitlich- räumlich nicht eingeschränkten Roman stößt das Theater durch Aufführungszeit und –ort an seine Grenzen. Unter Berücksichtigung der Begrenzungen der Gattung Theater wählte er Episoden, die spezielle Effekte auf der Bühne optimieren können, und behandelte sie für die Aufführbarkeit mit spezifischen szenisch-theatralischen Vorrichtungen und kompositorischen Techniken.

96

Tabelle 11. Vergleich der Konstruktion zwischen dem Roman Cervantes und der Oper Zenders.

Bei Bei Bei Zender Bei Zender Cervantes Cervantes

Teil I Band I Teil II Band II

Nr. 0 Autoren Vorrede Hinzufügen Nr. 17 Aufbruch II

Nr. 18 Kampf mit dem Über- Nr. 1 Introduktion 1. Schatten lagerung

Nr. 2 Don Quijote Nr. 19 Montesinos Höhle 22./23.

Nr. 3 Aufbruch I 2./7. Nr. 20 Diskurs II 8./10.

Nr. 4 Diskurs I Nr. 21 Dulcinea 17.

Nr. 5 Schenke 3. Nr. 22 Löwe

Aus- Nr. 6 Ritterschlag 3. Nr. 23 Schauspieler lassung

Nr. 7 Nachtgesang Nr. 24 Hofgespräch 57.

Nr. 8 Windmühlen 8. Nr. 25 Ouverture

Miteinander Nr. 9 Mambrins Helm 21./45. Nr. 26 Einweihung austauschbar

Nr. 10 Fernando/Lucinde Nr. 27 Krisis

Nr. 11 Brief Nr. 28 Marionetten 25./26.

Nr. 29 Kampf mit dem Nr. 12 Melancholie 12./14. Spiegelritter

Nr. 13 Beratung 49./50. Nr. 30 Tod 74.

Nr. 14 Dorothea 30. Nr. 31 Finale II

Nr. 15 Inquisition

Nr. 16 Finale I

97

1.2. Die entgegengesetzten sowie ergänzenden Hauptrollen

In der Rezeptionsgeschichte der Literatur wurden die Hauptpersonen des Romans Don Quijote und sein Knecht Sancho Panza lange Zeit dualistisch betrachtet: Don Quijote als Typus des Idealisten und Sancho als reinen Vertreter der Realisten.203 Ca. Mitte des 20. Jahrhunderts öffnete sich eine neue Sichtweise auf die Beziehung zwischen den beiden Figuren, 204 trotzdem bieten die entgegengesetzten Eigenschaften der beiden im Wesentlichen den Hauptrahmen für die Spannung des Romans. Sie existieren teils parallel, teils sind die Kontraste hervorgehoben. Dadurch symbolisiert das Nebeneinanderstellen dieser zwei unterschiedlichen Figuren den ständigen Streit und Einklang in unserem Leben, wie zum Beispiel zwischen Illusion und Realität, Utopie und Wirklichkeit, sowie Tag und Nacht, Körper und Geist etc.

Im Zusammenhang mit Zenders kompositorischer Neigung, Heterogenität produktiv zu machen, spielt in diesem Werk das Spannungsverhältnis zwischen Don Quijote und Sancho eine große Rolle. Besonders anhand der verschiedenen szenisch-theatralischen Effekte und kompositorischen Techniken auf der Bühne werden die entgegengesetzten Eigenschaften der beiden Hauptfiguren deutlicher und wahrnehmbar hervorgehoben. a. Der abenteuerliche Ritter: Don Quijote

Im Originaltext des Romans ist erkennbar, dass der Autor Cervantes gegen die seinerzeit sehr populären Ritterromane rebellieren wollte:

[...] Kurz, richtet es ins Werk, dass Ihr das schlecht gegründete Ansehen dieser Ritterbücher zerstört, die von so vielen gehaßt und von noch mehreren verehrt werden; gelingt Euch dies, so ist Euch nichts Kleines gelungen.205

Die Besonderheit der Figuren ergibt sich aus der Verfahrensweise, die Hauptrolle zu beschreiben. Anders als in normalen Ritterromanen, in denen üblicherweise die Protagonisten heldenhaft dargestellt werden, wurde die Hauptfigur des Don Quijote

203 Über die Rezeption dieses Romans berichtet folgender Artikel. Damaso Alonzo: „Sancho – Quijote, Sancho – Sancho“ (1950), in: Helmut Hatzfeld (Hrsg.), Don Quijote. Forschung und Kritik (= Wege der Forschung, Bd. CLX), Darmstadt 1968, S. 127-137, hier S. 127. 204 Die spanischen Schriftsteller Unamuno und Panini vertreten die Ansicht, dass sich die Idealität des Ritters auf Sancho überträgt, der so in die Welt der Trugbilder eindringt, dass er auf seine Weise einen zweiten Don Quijote abgibt. Vgl. Ebd. 205 Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, S. 12-13. 98

als miserable Person dargestellt. Diese Satire-Technik gilt auch für die Beschreibung des Ortes, des Hintergrundes des Romans. Im Gegensatz zu den üblichen Ritterromanen, in denen sich die Hauptpersonen durch gehobene Herkunft auszeichnen, stammt der Protagonist dieses Romans Don Quijote aus einem anonymen Dorf. Außerdem wird Don Quijote fast den ganzen Roman hindurch nicht bei seinem richtigen Namen, Alonzo Quijano mit den Zunamen Quijada oder Quesada genannt. Nicht nur sein Name, sondern auch die seines Rosses und seiner Geliebten sind beliebig anders – Rosinante und Dulcinea – gewählt. Es ist zu vermuten, dass der Autor Cervantes die Regeln der damaligen, universalen Ritterromane absichtlich brach. Es zeigt sich, dass durch die Parodie auf den gängigen Typus des Ritterromans Don Quijote der literarischen Tradition entkommt. Paradebeispiel dafür ist das erste Kapitel des Romans, in dem sich diese parodistische Eigenschaft stark andeutet.

In einem Dorfe von la Mancha, auf dessen Namen ich mich nicht entsinnen kann, lebte unlängst ein Edler, der eine Lanze und einen alten Schild besaß, einen dürren Klepper und einen Jagdhund. [...] Die Zeit hatte unseren Edlen mit fünfzig Jahren beschenkt. Er war von starker Konstitution, mager, von dürrem Gesichte, ein großer Frühaufsteher und Freund der Jagd, Es gibt einige, die sagen, dass er den Zunamen Quijada oder Quesada führte (denn es finden sich etwelche Abweichungen unter den Schriftstellern, die von diesen Begebenheiten Meldung getan); aber es läßt sich aus wahrscheinlichen Vermutungen schließen, dass er sich Quisana nannte. Dies aber tut unserer Geschichtserzählung wenig Eintrag, insofern wir nur in keinem Punkte von der Wahrheit abweichen.

Es ist zu wissen, dass obgenannter Edler die Zeit, die ihm zur Muße blieb (und dies betrug den größten Teil des Jahres), dazu anwandte, Bücher von Rittersachen mit solcher Liebe und Hingebung zu lesen, dass er darüber sowohl die Ausübung der Jagd als auch die Verwaltung seines Vermögens vergaß; ja seine Begier und Vertiefung in dieselben ging so weit, dass er unterschiedliche von seinen Saatfeldern verkaufte, um Bücher von Rittertaten anzuschaffen, in denen er lesen möchte; [...]

Sogleich ging er seinen Klepper zu besuchen, ob dieser nun gleich mehr Dreiecke am Körper hatte, als ein Taler Dreier hat, und mehr Gebrechen als das Pferd des Gonela, das nur Haut und Knochen war, so schien es ihm doch, als wenn sich weder der Bucephalus Alexanders noch der Babieza des Cid mit diesem messen dürfe. Drei Tage verstrichen, indem er sann, welchen Namen er ihm beilegen solle, [...] wählte er endlich die Benennung Rosinante, ein nach seinem Urteil erhabener, volltönender und bedeutungsvoller Name [...].

Da ihm dieser Name für sein Pferd so nach seinem Geschmacke gelungen, so suchte er einen anderen für sich selbst. In dem Nachsinnen darüber verstrichen wieder acht Tage, und nun geschah es endlich, dass er sich Don Quixote nannte. [...] so steht es ihm ebenfalls als einem wackeren Ritter zu, den Namen seines Landes beizufügen, und er benannte sich also Don Quixote von la Mancha. Hiermit erklärte er nach seiner Meinung Vaterland und Geburtsgegend genau und ehrte sie zugleich, indem er den Zunamen von ihr entlehnte.

Die Rüstung war gesäubert, die Haube zum Helm gemacht, dem Klepper ein Namen gegeben, sein eigener festgesetzt; er sah ein, dass nun nichts fehle, als eine Dame zu suchen, in die er verliebt sei, denn ein irrender Ritter ohne Liebe sei ein Baum ohne Laub und Frucht, ein Körper ohne Seele. [...] in einem benachbarten Dorfe ein 99

Bauernmädchen von gutem Ansehen, in die er einmal verliebt gewesen war, welches sie aber (wie sich versteht) nie erfahren, er ihr auch niemals gesagt hatte. Sie hieß Aldonza Lorenzo und schien ihm tauglich, ihr den Titel der Herrin seiner Gedanken zu geben. Er suchte nun einen Namen, der dem seinigen entspräche, der eine Prinzessin und Herrscherin bezeichnend und ihr geziemlich sei, und er nannte sie daher Dulcinea von Toboso, denn sie war von Toboso gebürtig; ein Name, nach seinem Urteil musikalisch, fremdtönend und bezeichnend, wie alle übrigen, die er zu seinem Gebrauche erfunden hatte.206

Die Idee Cervantes, in seinem Buch mit der Figur Don Quijotes die seinerzeit bestehende Tradition der Gattung Ritterroman ad absurdum zu führen, bricht mit dem philosophischen Paradigma, grundlegende Erkenntnisse eines Zeitraums aufzubauen. Laut des französischen Philosophen Michael Foucault (1926–1984) hat „bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts die Ähnlichkeit im Denken (savoir) der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt.“ 207 Bespielsweise parallelisiert Pierre Belon (1517–1564) in der Naturgeschichte des 16. Jahrhunderts ein menschliches Skelett mit dem eines Vogels und betreibt gewissermaßen vergleichende Anatomie: Menschliche Knochen werden mit jenen des Vogels verglichen, die ihm ähnlich sind. Die Flügelspitze der Vögel verhält sich in Proportion zum Flügel wie der Daumen zur Hand; die Extremität der Flügelspitze ist „wie die Finger bei uns“.208 Die äußerliche Ähnlichkeit von unterschiedlichen Lebewesen basierend auf der genetische Verwandschaften wird als die „Episteme209 der Renaissance“ bezeichnet.

Die Herrschaft der Ähnlichkeit wird Foucault zufolge zu Beginn des 17. Jahrhunderts von einem ganz neuen Denksystem, der Episteme der Klassik, abgelöst. Den Bruch, der sich zwischen der Renaissance und der Klassik ereignet hat, sucht er philosophiegeschichtlich anhand der Schrift Decartes Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft zu belegen.

Sooft die Menschen irgendeine Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen bemerken, pflegen sie von beiden, mögen diese selbst in gewisser Hinsicht voneinander verschieden sein, das auszusagen, was sie nur bei einem als wahr erfunden haben.210

206 Ebd., S. 25-29. 207 Michael Foucault: Die Ordnung der Dinge (Titel der Originalausgabe: Les mots et les choses, 1966), übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1997, S. 46. 208 Pierre Belon: Histoire de la nature des oyseaux, Paris 1555, S. 37, zitiert nach Foucault, Ebd., S. 52. 209 Es stammt vom griechischen Verb ἐπίσταμαι, das „wissen“ bedeutet. Der Philosoph Foucault verwendete den Begriff Episteme in seinem Werk Die Ordnung der Dinge in einer besonderen Bedeutung. Laut ihm ist das historische a piriori, welches das Wissen und dessen Diskurse begründet. Es geht um die Analyse von unbewussten Grundeinstellungen der wissenschaftlich Tätigen innerhalb einer bestimmten Epoche. Die Episteme der Renaissance bis zum 17. Jahrhundert ist durch das Suchen und Beschreiben von „Ähnlichkeiten“ bestimmt. Vgl. Michael Foucault: Die Ordnung der Dinge (1966) und Archäologie des Wissens (1969). 210 Rene Descartes: Philosophische Werke I. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft (übers. von 100

Mit diesem Zitat stellte Foucault fest:

Die Ähnlichkeit ist nicht mehr die Form des Wissens, sondern eher die Gelegenheit des Irrtums, die Gefahr, der man sich aussetzt, wenn man den schlecht beleuchteten Ort der Konfusionen nicht prüft. [...] Das Zeitalter des Ähnlichen ist im Begriff, sich abzuschließen.211

Unter seiner Diagnose wurde der Roman Don Quijote als erstes moderne Werk als „das Negativ der Welt der Renaissance“212 bezeichnet und die Figur Don Quijotes als ein Mensch betrachtet, der mit der Episteme der Renaissance im 17. Jahrhundert leben will, der nur aufgrund von Ähnlichkeit die Dinge und die Welt erfasst. Die verzerrte Wahrnehmung führt zu absurden Verwechslungen: Z. B. stürzt er auf Windmühlen los, um dagegen zu kämpfen, weil er Windmühlen mit Riesen verwechselt; bei ihm gilt ein altes Messingbecken eines Barbiers als der goldene Helm Mambrins; das Bauernmädchen Aldonza Lorenzo verwandelt sich in seinem Traumbild in die schönste Dulcinea. Diese Versuche des Don Quijote, die Analogie zwischen Text oder Zeichen und realen Dingen aufzuzeigen, scheitern. Kurz vor seinem Tod kehrt er nicht als der verrückte Ritter Don Quijote, sondern als der Gute Alonzo Quijano zurück. Das bedeutet, dass ein Ikon in einem bestimmten Zeitalter nicht mehr gilt und daher verschwindet. Dadurch wird auch die Abschaffung der Episteme Ähnlichkeit aus der Renaissance symbolisch dargestellt.213

Auf die Grundlage dieses Verständnisses der Figur des Don Quijotes arbeitete Zender als Librettist seine Figur noch theatralisch effektiver aus: nachfolgend wird anhand einiger Szenen-Beispiele aufgezeigt, wie Don Quijote in Zenders Theaterstück dargestellt wird.

Die Idee der Szene Nr. 18 Kampf mit dem Schatten stammt nicht aus dem Roman, sondern vom Komponisten Zender. In dieser Szene treffen Don Quijote und Sancho ihre Schatten bzw. ihre Doppelgänger Don Quijote II und Sancho II. Das Erscheinen der Doppelgänger, die nicht im Roman genannt werden, stellte den Charakterzug Don Quijotes, zu illusionieren, heraus. Er kann sich selbst nicht von seinem Doppelgänger unterscheiden, zwischen Irrealität und Realität. Durch den Einsatz der pantomimischen Bewegungen als spezielles szenisches Mittel wurde die Besonderheit der Gattung Musiktheater betont. Auch im Stück Nr. 29 Kampf mit

Ludger Gäbe), Hamburg 1972, S. 3, zitiert nach Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 83. 211 Ebd., S. 83. 212 Ebd., S. 79. 213 Vgl. Ebd. 101

dem Spiegelritter erscheinen Don Quijote und der Spiegelritter gleichzeitig, jeder am äußersten gegenüberliegenden Ende der Bühne. Sie sind zeitlich synchron und bewegen sich spiegelgleich. In den beiden Szenen werden theatralische Effekte hervorgehoben.

In der Todesszene Nr. 30 Tod ist die Hauptfigur Don Quijote charakterlich anders dargestellt als im Roman. Dabei lässt sich ein Unterschied zwischen der Persönlichkeit der Romanfigur und der in Zenders Musiktheater erkennen:

(Don Quijote): Die Quelle all meines Unglücks steht vor mir! Nehmt Eure Kraft zusammen und kämpft um Leben, um Tod! [...] Ich bin besiegt worden. Das Unglück hat mir meinen Ruhm entrissen, doch nicht die Kraft, mein Versprechen zu halten.214

„Gelobt sei der allmächtige Gott, der mir so große Wohltat erzeigt! Ja, seine Barmherzigkeit hat keine Grenzen, und die Sünden der Menschen können sie weder beschränken noch verhindern.“215

Don Quijote bei Zender ist wie bei Cervantes zwar im Bewusstsein vergangener Zeiten geschrieben, aber Zenders Don Quijote erscheint seinen Zeitgenossen als Ahne einer fundamentalen Erfahrung unserer Moderne. Der Unterschied zu Cervantes Figur liegt darin, dass Zenders Don Quijote als moderner Mensch mehr willens ist, gegen das Unglück zu kämpfen. In der Gestaltung der Hauptfigur spiegelt sich, wie in allen seinen drei Musiktheaterwerken, die Haltung des Komponisten Zender wider.216 b. Der Gegenpol des Don Quijote: Realist Sancho Panza

Sancho Panza ist ein kleiner, kräftiger Bauer, der närrischerweise an Don Quijotes fantastische Versprechungen glaubt und willens ist, ihm stets zu folgen. Auf der anderen Seite ist er im Gegensatz zum kindlichen Idealisten Don Quijote berechnend. Die dualistischen Eigenschaften Sanchos, Idealisierung und Polarisierung Don Quijotes, sind in einigen Szenen szenisch-theatralisch sowie musikstilistisch auf vielfältige Weise dargestellt. Im Dialog der Szene Nr. 4 Diskurs I zeigt Sancho seine profane Gier, anstelle des Ritters als Statthalter die eroberten Reiche zu regieren. Nicht nur in der Sprache, sondern auch in ihren Gesangsstilen

214 Hans Zender: Textbuch, in: Staatsoper Stuttgart Oper (Hrsg.), Don Quijote de la Mancha. 31 theatralische Abenteuer, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1992, S. 133-134. 215 Miguel de Cervantes Saavedra: a.a.O., S. 1004 216 Alle drei Hauptfiguren der drei Musiktheaterwerke Zenders – Stephen, Don Quijote und Chief Joseph – tragen Züge des modernen Menschen: Stephen als moderner Ikarus, der sich trotz seines Absturzes wieder erhebt; Don Quijote als moderner Mensch, der sich selbst in Frage stellt und trotz vielmaligen Misserfolge wiederum herausfordert; Chief Joseph als moderner Informant, der nicht nur kulturelle Informationen überbringt, sondern auch die beiden Lager zur Versöhnung führt. 102

sind die Unterschiede zwischen den beiden Figuren hervorgehoben: Don Quijote mit schroff wechselnder Dynamik und breitem Tonumfang vs. Sancho Panza mit einem relativ simplen Gesangsstil. Die ganze Szene Nr. 6 Ritterschlag hindurch folgt Sancho seinem Ritter Don Quijote auf Schritt und Tritt, bis hin zur Verbeugung, und scheint sich mit ihm gleichzusetzen. Der Gegensatz zu seinem Ritter wird besonders in den Stücken Nr. 8 Windmühlen und Nr. 9 Mambrins Helm deutlich, in denen die berühmten komisch-grotesken Abenteuer des Don Quijote dargestellt sind. Während Don Quijote aus seinen schmerzhaften Zusammenstößen mit der Realität nichts lernt, weiss sein Knecht Sancho – hier modellhaft die entgegengesetzte Figur – mit pragmatischer Intelligenz jede Situation zu nutzen.

Die Beziehung zwischen den beiden Figuren ist aber nicht statisch, im Laufe des Werks beeinflussen sie sich gegenseitig. Folglich entwickeln die Persönlichkeiten der Figuren Charakterzüge, die in die Gegenrichtung weisen. Die Veränderung von Don Quijote und Sancho wird vor allem in der Szene Nr. 30 Tod fast am Ende des Stücks deutlich:

Sancho: Ach guter Herr, so sterbt doch nicht; sondern folgt meinem Rat, und lebt noch viele Jahre! Denn die größte Torheit, die ein Mensch begehen kann, ist, so einfach mir nichts, dir nichts zu sterben, ohne dass einen jemand umbringt – oder das Herz bricht – außer der reinen Melancholie! Rafft Euch zusammen und steht auf: Wir wollen als Schäfer verkleidet hinaus aufs Feld! Vielleicht finden wir hinter einem Busch das Fräulein Dulcinea entzaubert, dass es zum Entzücken ist! Wollten Euer Gnaden aber sterben aus Kummer über Eure Niederlage, so schiebt die Schuld auf mich und sagt, ich habe Rosinante schlecht gesattelt. Außerdem: Wer heute besiegt wird, ist der Sieger von morgen.

Don Quijote: Ich fühle, dass ich sterben muss. So wünsche ich der Welt zu zeigen, dass ich keineswegs verrückt bin, sondern sehr vernünftig. [...] Ich war ein Narr! Aber jetzt bin ich weise. Einst war ich Don Quijote de la Mancha, aber jetzt bin ich Alonzo Quijano der Gute.217

In dieser Szene sieht man, dass der Utopist Don Quijote vor seinem Tod als Alonzo Quijano der Gute mit Vernunft in die Realität zurückgekehrt ist. Im Gegenteil dazu zeigt sich der geschickte, realistische Sancho an dieser Stelle als Idealist – er hat sich Don Quijote angeglichen. Dies ist als ein Resultat des gegenseitigen Einflusses während ihrer vielen Abenteuer zu sehen.

Das Wechselspiel der beiden Hauptfiguren eröffnet dem Leser gleichzeitig die Möglichkeit, sich mit der einen oder der anderen Person zu identifizieren. Somit reiten Don Quijote und Sancho Panza immer wieder und immer weiter nebeneinander in den Tiefen der menschlichen Seele.218

217 Hans Zender: Textbuch von Don Quijote de la Mancha, S. 136. 218 Sonia M. Steckbauer: „Der populärste Träumer aller Zeiten“, in: Agora. 400 Jahre „Don Quijote“ (Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt), Ausgabe 2, 2005. 103

Durch gegenseitige Abhängigkeit und Ergänzung repräsentieren Don Quijote und Sancho Panza „den Träumer und den Bodenständigen, den Idealisten und den Realisten, sie bilden die beiden Seiten einer Medaille. Ihr Spiel und Gegenspiel bedingt ihre Entwicklung, was im Roman sowohl in ihrem Tun als auch in ihrer Sprache zum Ausdruck kommt“219.

1.3. Sonstige Figuren a. Das Fantasiegeschöpf von Don Quijote, Dulcinea

Gott weiß, ob es eine Dulcinea in der Welt gibt oder nicht, ob sie eine Phantasiegestalt ist oder nicht. Denn dieses sind Dinge, deren Entscheidung bis zum Äußersten erfolgen muss. Weder gezeugt noch geboren habe ich meine Dame, ob sie mir gleich so vorschwebt, wie es einer solchen Dame geziemt, die alles besitzt, um sie in aller Welt berühmt zu machen, nämlich folgende Gaben: Schönheit ohne Tadel, Ernst ohne Stolz, Liebe mit Ehrbarkeit, Anmut durch Artigkeit, Artigkeit durch Wohlerzogenheit und endlich erhabene Abstammung; [...]220

Dulcinea erscheint im Roman niemals als eine real existierende Person. Der Herzogin, die die Existenz Dulcineas bezweifelt, antwortet Don Quijote wie oben zitiert, aber im Gegensatz zu seiner Anschauung bildet Dulcinea als seiner Fantasie entsprungenes Geschöpf den Höhepunkt seiner Illusion. Das von der Herzogin Aldonza Lorenzo aus Toboso verkörperte ästhetische Ideal der Schönheit, Güte und Anmut wird auf das Bauernmädchen Dulcinea projiziert.

Während Dulcinea im Roman ausschließlich in der Fantasie der Bühnenfiguren Don Quijote und Sancho optisch beschrieben ist, ist sie in der Oper anhand der akustisch-theatralischen Mittel mehrfarbig und vielfältig dargestellt. Anstatt sie auf die Bühne zu stellen, ist sie nur akustisch vertreten: Ihre Stimme wird gelegentlich hinter der Szene wiedergegeben oder durch verschiedene Lautsprechergruppen übertragen. 221 Dadurch können nicht nur die Bühnenfiguren Don Quijote und Sancho, sondern auch die Zuschauer und Zuhörer Dulcinea akustisch wahrnehmen.

b. Die Stimmen der Autoren, die drei Lektoren

Im Roman sind insgesamt vier Autoren zu finden: ein anonymer Verfasser bis zum

219 Ebd. 220 Miguel de Cervantes Saavedra: a.a.O., S. 724. 221 Über das Benutzen der elektroakustischen Installationen sehen Sie den tweiten Teil dieses Kapitels (S. 111-132). 104

Ende des 8. Kapitel des ersten Bandes; der arabische Historienschreiber Cide Hamete Benengeli, der als Autor der damaligen berühmten Geschichte des Don Quixote von la Mancha bekannt ist, die Cervantes auf der Straße Alcana von Toledo einem Jungen abkaufte; ein arabischer Spanischübersetzer, der die Geschichte für Cervantes übersetzte; und letztlich Cervantes, der alles zusammensetzte und somit offiziell als Autor des Romans bekannt ist.

Die Überlagerung der verschiedenen Autoren war für Zender sehr interessant. So fügte er in seiner Neufassung des Don Quijote de la Mancha (1984) das Stück Nr. 0 Autoren als Eröffnungsszene neu hinzu und stellte die komplexen Situationen der Autoren des Romans vor. Die drei Lektoren stehen für die Autoren Benengeli, Cervantes und Zender und übernehmen deren Rolle. Lektor I fängt bereits am Anfang des Stückes hinter der Bühne an, auf Arabisch zu singen: „Allah! Allahu rabbul alamin! Wakullu mauchisunu hararatuschamsi alarasi wa unfuwanunnaschidfi sadri!“ Dieser Text entstammt nicht dem Roman. Somit erscheint eindeutlich, dass Lektor I den arabischen Schriftsteller Benengeli symbolisiert. Zu Beginn sagt Lektor II: „zusammengesetzt hab´ ich alles.“ Dies deutet an, dass Lektor II die Rolle von Cervantes, dem Autor des Romans, übernimmt. Seine eigene Frage „Was heißt das denn: der Autor? Habe ich die Welt erfunden?“ beantwortet er selbst: „Mir genügt es völlig, wenn Sie mich als Stiefvater dieses Herrn Quijote ansehen.“ Lektor III ist als Vertreter Zenders, des Librettisten dieses Bühnenstücks, zu betrachten, da sein Text nicht von Cervantes, sondern von Zender geschrieben wurde:

Lektor III: Wie wünschte ich, der Sohn meines Geistes sei schön, bedeutend und klug. Doch jedes Wesen erzeugt nur seines gleichen. So konnte meinem Innern nur die Geschichte eines trockenen, verstiegenen, verschrumpften Querkopfes entspringen. [...] Dieses Werk kann seinen Geburtsort nicht verleugnen: ein Gefängnis, ein Ort, wo alle Übel zuhause sind, wo ständig schrecklicher Lärm herrscht, wo man quält schindet... Nackt und bloß geb´ ich mein Werk: nackt und bloß.222

Die drei Lektoren erscheinen an verschiedenen Stellen auf der Bühne und gehen zu ihren Plätzen, an denen sie bis zu der folgenden Szene bleiben: In der ersten Szene Nr. 1 Introduktion von Zenders Musiktheaterwerk wurde die Vo rrede zu Cervantes Romans durch die Stimmen der drei Lektoren vorgetragen. In einigen Szenen spielen die drei Lektoren auch bestimmte Rollen, um anstatt des Autors die

222 Alle bisherigen Zitate in der Seite stammen aus der Partitur. Hans Zender: Don Quijote de la Mancha. 31 theatralische Abenteuer (1989/91, Neufassung 1994), Text nach Cervantes vom Komponisten, Wiesbaden·Leipzig·Paris: Breitkopf & Härtel, Wb.2202, S. 1 – 9. 105

Geschichte zu erzählen und zwischen den Bühnenfiguren zu intervenieren (Szenen Nr. 5 & Nr. 30), mit verschiedenen Geräusch-Effekten eine bestimmte Stimmung herzustellen (Szene Nr. 9) oder die Figuren nicht auf der Bühne, sondern hinter ihr singen zu lassen (Szene Nr. 22).

106

2. Szenen und Musik

„Für mich ist das Theater die Begegnung von Optischem und Akustischem.“223

Im Zusammenhang mit dem Satz „Die Sinne denken“ 224 , der vom deutschen Philosophen Georg Picht (1913 – 1982) als die tiefste Erfahrung eines Künstlers in seiner Arbeit formuliert wurde, hatte Zender großes Interesse an der neuen Wahrnehmung der Sinne. Bei ihm gilt Musiktheater als die Gattung, in der Optisches und Akustisches neu und frei verbunden werden können. Daher experimentierte er besonders in seinem zweiten Musiktheaterwerk Don Quijote de la Mancha viel mit verschiedensten Sinneswahrnehmungen. Dadurch wollte er die Frage aufwerfen, „wie sich das komplexe Zusammenwirken der Künste [visuelle und klangliche Künste, z. B. Musik und Poesie, Malerei und Tanzen etc.] im Theater besser erfassen ließe“ und „wie sich neue Modelle dieses Zusammenwirkens besser entwickeln ließen als mit der Vorstellung, dass der Künstler seine Augen- und Ohrenwelten auf einer Sinnlichkeit aufbaut, deren Klugheit nicht auf einer erworbenen Ratio beruht, sondern auf einer durch die Intuition vorgegebenen Vernunft“225.

In ihrer Entwicklungsgeschichte schuf die Oper ziemlich früh eine Grundform zur Durchführung des Dialogs von Auge und Ohr, d. h. für die Integration der vier Grundformen Musik, Sprache, bildende Kunst und Tanz. In der Barock-Oper waren die vier Grundformen jeweils unabhängig voneinander und verbanden sich miteinander – daher war der Dialog von Auge und Ohr ausgewogen. Die Oper des 19. Jahrhunderts verlagerte ihren Schwerpunkt stark zur Musik hin. Besonders bei der Form des Wagnerschen Musikdramas wurden alle Ebenen und Formen

223 Hans Zender im Gespräch mit Mitgliedern des Ensemble Modern: „Was ist experimentelles Musiktheater?“, in: Ensemble Modern (Hrsg.), Saisonsmagazin Ensemble Modern, 1994/95, S. 17 - 20, hier S. 17. 224 Einer der grundlegenden Gedanken Pichts. Zitiert von seiner Schrift, die seine Vorlesungen enthält: Georg Picht: Kunst und Mythos. Mit einer Einführung von Carl Friedrich von Weizsäcker, Stuttgart 1996, 5. Aufl., S. 336 & 395. Zender erwähnte in seinen Artikeln häufig diesen Begriff und gründete darauf seine essenziellen philosophisch-ästhetischen Fragestellungen. Aus diesem Grund wählte Hiekel als Titel für den Sammelband Zenders diesen Begriff „Die Sinne denken“ aus. Picht betonte, dass der aus der Wahrnehmung des musikalischen Werks entstehende Sinn keineswegs mit strukturellen Gedanken und Analysen errungen werden kann, und dass wir daher unsere traditionelle Vorstellung von Sinn und Denken überwinden müssen. Der Einfluss der philosophischen These Pichts ist in mehreren Aufsätze Zenders wie “Was kann heute Musik sein?” (1988), “Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne” (1989), “Ṻber das Hören” (1991) zu finden. Die hier erwähnten Aufsätze sind in seinem Sammelband Die Sinne denken enthalten. 225 Hans Zender: „Auge und Ohr. Gedanken zum Theater“ (1991), in: Die Sinne denken, S. 35-46, hier S. 35. 107

verinnerlicht, „was im Barock noch äußere Ordnung war: Bild, Farbe, Bewegung, Sprache – alles ist Klanggeschehen geworden“226.

Die Idee der Eigenständigkeit jeder Form kommt zurück; Der Komponist John Cage (1912–1992) teilte die einzelnen Grundelemente – Sprache, Figur, Kostüm usw. – ein und kombinierte sie nach dem Zufallsprinzip miteinander. In diesen ästhetischen Gedanken Zenders finden sich starke Einflüsse von Cage:

Europeras von John Cage, da ist gerade zum Don Quijote äußerlich eine große Verwandtschaft... [...] Die verschiedenen Ebenen, und die, [...] die Gegeneinanderführung von Optischem und Akustischem. Beide Ebenen, eigentlich sind es ja noch mehr Ebenen: Sprache, Figuren, Kostüme bei Cage, die werden alle unabhängig voneinander, in seinem Fall aber durch Zufallsentscheidungen, gegeneinandergeführt und verknüpfen sich in der Simultaneität zu ganz unvorhersehbaren, surrealistisch wirkenden, komplexen Bildungen.227

Zender ist zwar einerseits von dieser Idee sehr fasziniert, bezweifelt andererseits jedoch, ob und wie es möglich ist, dass man eine solche Komplexität auf eine längere Zeitstrecke nachvollziehen kann. Der reale Effekt der Gegeneinanderführung von Optischem und Akustischem auf der Bühne enttäuschte ihn ziemlich. Daher versuchte er zuerst, die Ebenen von Bild, Bewegung, Musik und Sprache usw. voneinander zu lösen und dann die Idee von der Unabhängigkeit dieser Ebenen weiterzuentwickeln.

Als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen zog Zender die Differenz zwischen Auge und Ohr heran:

Das Auge hat die Fähigkeit, eine Struktur simultan zu erfassen und auch proportional zu analysieren, während das Ohr sich eben in der Zeit an plötzlich eintretenden Klangereignissen erst einmal entlang bewegen muss und sich ganz allmählich erst ein Bild von dem machen kann, also eine Idee von dem bilden kann, was musikalisch geschieht. 228

So betrachtet hängt das Ohr mit dem Fluss der Zeit zusammen und das Auge basiert auf der räumlichen Fähigkeit, Struktur zu erkennen. Jedoch bemerkte Zender, dass diese Aussage gleichwertig in solche Illusion mit Bezug auf die Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu versetzen ist: „die Musik erweckt die Illusion, dass die Zeit vergehe; das Bild erweckt die Illusion, dass der Raum unveränderlich bleibe.“229

226 Vgl. Ebd., S. 35-46. 227 Hans Zender im Gespräch mit Mitgliedern des Ensemble Modern: „Was ist experimentelles Musiktheater?“, S. 19. 228 Ebd., S. 17. 229 Hans Zender: „Auge und Ohr. Gedanken zum Theater“, S. 45. 108

Laut Zender wird in der Realität die musikalische Form nicht nur als dynamische Zeit erfahren und das invariable Bild nicht nur als fixierter Raum wahrgenommen: Es gilt auch im Hören ein Raumbewusstsein und im Sehen ein Zeitbewusstsein.230

Man kann der Illusion von Zeit und Raum zwar nie entkommen, sie aber „durchsichtig machen“231. Genau das ist die Funktion des Theaters bei Zender.

Im Dialog von Auge und Ohr wird das eine Gefüge von Illusion durch das andere aufgehoben; zurück bleibt ein farbiges Nichts; der Hörer-Zuschauer wird blind und taub und berührt so den Kern der Dinge. Er begreift endlich: führen Musik und Bild, wenn auch auf entgegengesetzt verlaufenden Wegen, zurück zu den Pforten der Wahrnehmung und damit an das Tor zum „Innen“, so ist Theater. [...] Das Theater ist somit nicht nur ein Dialog von Auge und Ohr, Kopf und Körper und damit eine Darstellung der menschlichen Ganzheit wie auch eine Schule sowohl der Sinnlichkeit als auch des Denkens.232

Durch diese Differenz von Auge und Ohr erfahren und verstehen wir auf der Bühne etwas, was sich in Wirklichkeit ereignet. Zender ist der Ansicht, dass das Theater unserer Zeit nicht der narrativen Struktur dient, sondern der Wahrnehmung von Seh- und Hörvermögen.

Hätte das alte Theater Auge und Ohr benutzt, um Geschichten farbigtönend zu erzählen, so könnte das neue Theater Geschichten benutzen, um das Drama „Auge und Ohr“ vieldimensional und nicht nur linear zu gestalten.233

Auf diesen ästhetischen Gedanken basiert die Oper Don Quijote de la Mancha. Damit die Zuhörer die Trugbilder von Auge und Ohr durchblicken und auf neue, verschiedene Weise die akustischen und optischen Eindrücke wahrnehmen können, konzipierte der Komponist Zender extra für dieses Stück eine spezifische Theaterform.

2.1. Die spezifische Formgestaltung: „31 theatralische Abenteuer“

Als Dramaturg und zugleich als Komponist ein Musiktheaterwerk zu entwerfen, bedeutet, verschiedene Elemente für Szene und Musik wie das Libretto, die szenisch-theatralische Form und die kompositorische Technik etc. nicht voneinander abzulösen, sondern sie zusammenfügend zu bearbeiten. Der szenische Bereich und die musikalische Ebene sind unter einem synthetischen Konzept verbunden. In der Oper Don Quijote de la Mancha spiegelt sich die

230 Vgl. Ebd., S. 35. 231 Ebd., S. 45. 232 Ebd., S. 45-46. 233 Ebd., S. 45. 109

charakteristische Eigenschaft der Hauptperson Don Quijote in der Theaterform dieses Stücks wider. In einem Gespräch erklärt Zender die theatralisch- musikalische Inspiration aus der charakteristischen Eigenart von Don Quijote:

Ich wähle eine Figur, die schon so in sich gebrochen ist, dass sie erlaubt oder sogar fordert, dass man sie auch auf eine gebrochene, bis ins Absurde gehende Weise darstellen kann.234

Offenbar hat die Titelfigur Don Quijote Zender so gefesselt, dass er als Librettist diesen Roman für sein zweites Theaterstück auswählte. Diese seltsamen Eigenschaften von Don Quijote, nämlich das Zusammentreffen von Widersprüchen, Absurdem oder Groteskem, die Unterbrechung der Kontinuität etc., beziehen sich auf die Überlegung über die Strukturen seines Musiktheaterwerks. Hiekel arbeitete den Zusammenhang zwischen dem aufgespaltenen Charakter der Hauptfigur und der zersplitterten Struktur des Romans heraus:

Referenzpunkt für solche Akzentuierungen, welche das Gebrochene der Hauptfigur mit jenem der Struktur des Ganzen analogisieren, ist jene Seite des Romans, die in die Moderne vorausweist.235

Seiner Erklärung nach steht die Titelfigur Don Quijote gerade damit „für den Zerfall jeder Art von Kontinuität – was dem Komponisten spezifische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete“236. Das Musiktheaterwerk Don Quijote de la Mancha kann daher selbst als eine Inkarnation der gespaltenen Seele des tragikomischen Titelhelden begriffen werden und kommt zugleich als formales Experiment über die Form dieses Romans zum Tragen.

Seine formale Gebrochenheit entstand jedoch nicht aus Überfluss an Materialien, sondern um das Komplexe zu brechen. Während sich Zender in seiner vorhergehenden Oper Stephen Climax mit der Koinzidenz der verschiedenen Stoffe und Formen beschäftigte, ging es in diesem Werk nicht mehr um die Frage: „was ist das für ein Stoff und was für eine Form, sondern plötzlich war das ein und dasselbe. Don Quijote war die Form des Stücks.“237

Die Oper besteht aus 31 Stücken, die sich nach dem mathematischen Gesetz mit

234 Hans Zender im Gespräch mit Reinhard Ermen: in: SWR-Sendung vom 30.01.2011, zitiert aus Jörn Peter Hiekel: „“Der logische Verstand ist unfähig, die Welt als Gesamtheit zu erfassen“ Die Ausfaltung von Widersprüchlichkeiten in Hans Zenders Musiktheaterwerken“, in: Ulrich Tadday (Hrsg.), Hans Zender (= Musik-Konzepte Sonderband 2013), S. 70-91, hier S. 82-83. 235 Ebd., S. 83. 236 Ebd., S. 82. 237 Ebd., S. 83. 110

jeweils unterschiedlichen Kombinationen der fünf Grundelemente – Sprache, Gesang, Instrumentalklang, Bild und Aktion – konstituieren. Jede Szene ist ein in sich geschlossenes Stück und hat einen komplett eigenen Stil, der vom Komponisten jedes Mal neu definiert wird. Die fünf Grundelemente funktionieren nicht nur als Bestandteile für die Form des Stücks, sondern auch als verschiedene Medien für die Sinneswahrnehmung; zum visuellen Medium gehören Bild und Aktion, zum akustischen Medium werden Sprache, Gesang und Instrumentalspiel gerechnet. Die sich voneinander abgelösten Medien kombinieren sich in unterschiedlicher Weise.

In der Konsequenz ereignen sich vielfältige Szenen mit verschiedenen musikalischen Formen und Stilen: Die Szene mit nur einem Element, z. B. Ouvertüre (I), Melodrama durch einen Sologesang (G), eine A-capella Szene (G) wie in der traditionellen Gattung Oper, außerdem verschiedene Theaterformen, wie eine Pantomime (A), Orchester mit Aktion, eine Bild-Szene ohne Musik und ohne Figuren (B), eine Sprach-Szene wie im Theater (S) usw. Zu den Szenen mit über zwei Elementen zählen kleine Opernszenen mit Arie, Rezitativ und Orchesterbegleitung (G/I, S/G/I), traditionell theatralische Szenen mit Sprache, Bild und Aktion, sowie stumme-Szenen ohne akustisch-klangliche Elemente (A/B) usw. Einzig das Stück Nr. 16 Finale I enthält alle fünf Elemente. Es ist auffallend, dass ausnahmslos alle 31 Szenen aus einer anderen Kombination der Grundelemente gebildet werden.

Jedes einzelne Stück verglich Zender selbst „mit einem Spiegel, der in viele Scherben zerbrochen ist. Und in jeder dieser Scherben kann man die Figur wieder neu sehen und immer etwas anders gebrochen.“238

In Bezug auf Stil und Form des „Ganzen“ weichen seine zwei Opern voneinander ab:

Erscheint in Stephen Climax das „Ganze“ als Überlagerung der verschiedensten Elemente in einer bruchlosen Kontinuität, so besteht das „Ganze“ von Don Quijote de la Mancha aus einem in 31 einzelne Stücke auseinander gebrochenen Spiegel; jede der 31 Facetten zeigt – mittels verschieden definierter theatralischer Mittel - ein anderes Bild der gleichen Figuren, der gleichen Handlungselemente. Don Quijote hat zwar nur einen „Stil“, aber seine Form entfaltet sich in jeweils strukturell verschiedenem Umgang mit den fünf musiktheatralischen Grundelementen Sprache – Bild – Gesang – Aktion – Instrumentalklang auf vielfältigst gebrochene Weise.239

238 Ebd., S. 82. 239 Hans Zender, „Wegekarte für Orpheus?“, S. 94. 111

Diese spezielle Theaterform mit den 31 einzelnen Stücken ist auffallend und unkonventionell in der traditionellen Operngattung. Der Untertitel „31theatralische Abenteuer“ steht daher für das Experiment mit Form und Struktur nicht nur dieses Stücks, sondern auch der Gattung Musiktheater als „das Abenteuer eines ungewöhnlichen Musiktheaterkonzepts, das von der Tradition der durchkomponierten Oper denkbar weit entfernt ist“240.

Tabelle 12. Verzeichnis der 31 einzelnen Stücke

Teil I Teil II

Nr. 0 Autoren S/A/G Nr. 17 Aufbruch II S/B/I

Nr. 1 Introduktion S/I Nr. 18 Kampf mit dem Schatten A

Nr. 2 Don Quijote A/G/B Nr. 19 Montesinos Hölle B

Nr. 3 Aufbruch I S/A/G/B Nr. 20 Diskurs II S/G

Nr. 4 Diskurs I G/I Nr. 21 Dulcinea A/G/B/I

Nr. 5 Schenke S/A/B/I Nr. 22 Löwe A/G/I

Nr. 6 Ritterschlag A/B Nr. 23 Schauspieler Entfallen

Nr. 7 Nachtgesang G/B Nr. 24 Hofgespräch S/G/B/I

Nr. 8 Windmühlen S/A/I Nr. 25 Ouvertüre I

Nr. 9 Mambrins Helm S/A Nr. 26 Inquisition A/B/I

Nr. 10 Fernando/Lucinde S/A/G/I Nr. 27 Krisis G

Nr. 11 Brief G/B/I Nr. 28 Marionetten S/A/B

Nr. 12 Melancholie A/I Nr. 29 Kampf mit dem Spiegelritter A/G

Nr. 13 Beratung S/B Nr. 30 Tod S/G/B

Nr. 14 Dorothea S/G/I Nr. 31 Finale II B/I

Nr. 15 Inquisition S

Nr. 16 Finale I S/A/G/B/I

240 Jörn Peter Hiekel: „“Der logische Verstand ist unfähig, die Welt als Gesamtheit zu erfassen“ Die Ausfaltung von Widersprüchlichkeiten in Hans Zenders Musiktheaterwerken“, S. 81. 112

Notenbeispiel 20. Die Ordnung der Embleme

2.2. „Zeit bleibt, Raum vergeht“: andere Möglichkeiten der Erkenntnis von Zeit und Raum

Es wurde bereits erläutert, dass infolge der Differenz von Auge und Ohr das Ohr unser Bewusstsein auf die unaufhörlich verstreichende Zeit lenkt und das Auge den Raum erfasst. Die beiden Körperorgane Auge und Ohr bilden konkurrierende Zeichensysteme aus.

Die erste theatralisch-kompositorische Idee des Komponisten für die Ablösung und Kombination von Mitteln ist es, die ursprünglich visuellen Elemente Aktion und Bild auf ungewöhnliche Weise einzusetzen.

113

Unter BILD wird ein unbewegtes szenisches Tableau verstanden, ein „lebendes Bild“, wie es in der Goethe-Zeit beliebt war. AKTION dagegen bedeutet eine Bühnensituation, wo alles in Bewegung ist, und nichts – auch kein Requisit oder „Bühnenbild“ – fest an einem Ort bleibt. BILD plus AKTION bedeutet die Integration beider Elemente, in jeweils pro Stück neu definierter Weise. Ist weder BILD noch AKTION vorgesehen, so gibt es überhaupt keine Szene [...]241

Nach der Assoziations- und Dissoziationsmethode von Bild und Aktion, im weiteren Sinne von Optischem und Akustischem, erzielt Zender in jeder Szene verschiedene Effekte, die Illusionen wie „Zeit fließt, Raum bleibt“ brechen. In diesem Kapitel wird analysiert, wie Bild und Aktion jeweils spezifisch verwendet und miteinander kombiniert wurden, und welche Bühnenwirkungen sich dadurch ergaben. a. lebendes Bild/lebende Bilder242

Im Theater lautet die allgemeine Definition des Begriffs „Bild“ die optische Gestaltung eines szenischen Raums oder dessen Material, sämtliche Einrichtungen, Malereien und Kulissen sowie die Bühnenmaschine.243 Bei Zenders Bühnenwerk Don Quijote de la Mancha wird die Bezeichnung Bild zudem eigenständig verwendet: lebende Personen bzw. Schauspieler ohne Bewegung stellen in diesem Werk zuweilen starr ein szenisches Bild dar. Das entspricht dem Begriff „lebendes Bild/lebende Bilder“, was eine Übersetzung des französischen Ausdrucks „tableaux vivants“ als ein Element von Theaterstücken ist. Diese Darstellungsform kam gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf und wurde im 19. Jahrhundert zu einem zentralen szenischen Gestaltungsmittel. Es ist die Nachbildung einer Bildvorlage durch wirkliche Personen.244

In einzelnen Stücken von Don Quijote de la Mancha wendet der Komponist diese

241 Hans Zender: „Einführung“, in: Programm 242 Übersetzung von „Tableaux vivants“. Im deutschsprachigen Raum wurde im allgemeinen lebendes Bild fixiert. Über diesen Begriff: Bettina Brandl-Risi: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen bildender Kunst. Theater und Literatur im 19. Jahrhundert (= Rombach Wissenschaften · Reihe Scenae, Bd. 15), Freiburg/Berlin/Wien: Rombach, 2013 und Anno Mungen: „BilderMusik“. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, (=Filmstudien, Bd. 45), Remscheid: Gardez! Verlag, 2006. 243 Hierzu einige Theater-Lexika wie Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/Weimar 2007. 244 Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) beschäftigte sich mit diesem Begriff und sagte über seine Entwicklung: „[...] die Nachbildung eines gemalten Bildes durch wirkliche Personen. Sie [...] wurden zuletzt ein gleichfalls für sich bestehender Kunstzweig, der manchen Liebhaber reizt und beschäftigt, auch sich einzeln schon auf dem Theater verbreitet hat [...]“. – aus Johann Wolfgang von Goethe: Proserpina (1815), in: Friedmar Apel (Hrsg.), Sämtliche Werke, Bd. 19: Ästhetische Schriften II 1806-1815, Frankfurt a. M. 1998, S. 707-715, hier S. 715. 114

theatralische Technik „lebendes Bild“ auf verschiedene Weise an. Das Stück Nr. 13 Beratung mit den zwei Grundelementen Sprache und Bild ist ein passendes Beispiel dafür. In der Szene sprechen die Bühnenfiguren miteinander, bewegungslos in malerischer Pose, ihr Dialog wird durch die Geste des einander Anblickens und Zeigens ergänzt. Während der Szene ist der Positionswechsel der Figuren nur dreimal erlaubt, nämlich beim Ein- und Ausschalten des Lichts. Der Komponist konstruiert die Szene wie eine Folge von Bildern, indem er das Element Aktion der Schauspieler absichtlich begrenzt oder sogar entfernt. Diese Situation bezeichnet er in der Partitur mit dem Begriff der „stehenden Bilder“245 , eine andere Art des lebenden Bildes. Im Stück Nr. 24 Hofgespräch akzentuiert sich das Modell des lebenden Bildes. Don Quijote steht vor dem Herzog, Sancho befindet sich zu Füßen der Herzogin. Von diesen vier Figuren im Stillstand wird die Szene gesprochen, gesungen, sowie mit dem Orchester begleitet. Durch die Erstarrung der Figuren werden die Momente kurzzeitig konserviert. Mit diesem Effekt bekommt das Theater Elemente der Malerei bzw. Bildhauerei. Es schafft eine Zwischenstufe zwischen Darstellungs- und Gestaltungskunst.

Das Stück Nr. 31. Finale II spielt nach dem Tod des Don Quijote. Die Bühne ist räumlich in zwei Bereiche aufgeteilt: Zum einen ein Raum in Don Quijotes Wohnung (Bühne I), zum anderen ein freier Platz, auf dem sich Sancho aufhält (Bühne II). In diesen aufgeteilten Räumen erzeugen die zwei Hauptfiguren Don Quijote und Sancho durch Positionswechsel insgesamt 12 lebende Bilder, die mit Einblendung der Beleuchtung auf der Bühne I und II zeitlich ersetzt erscheinen. Die inhaltlich-thematische Funktion dieser Szene mit den lebenden Bildern ist laut Komponist „weder ein nostalgischer Rückblick noch eine heroische Vision“, obwohl die Szene Erinnerungen darstellt. Zender erklärt weiter, dass die Szene „als strahlend klare, heitere Gegenwart des Alltäglichen“ erscheinen soll, und dass es aussehen soll, als sei „Don Quijote verjüngt und [habe] alles Gewaltsam- Eigensinnige abgelegt“246. Es zeigt den eigenen Aspekt des Komponisten, wie er den Roman von Cervantes interpretiert.

Durch die Technik des lebenden Bildes beabsichtigt Zender, die hier angeführten einzelnen Stücke (Nr. 13, 24 und 31) nicht nur als lebende Darstellung eines Bildes

245 Zender bezeichnete diese Szene im Textbuch als „stehende Bilder“ (S. 93). Die „stehenden Bilder“ sind als eine andere Ausdrucksform der lebenden Bilder zu betrachten. 246 Hans Zender, in: Textbuch, S. 137. 115

zu präsentieren, sondern auch als neue Wahrnehmungserfahrung der Zeit für die Zuhörer, dass die Zeit nicht nur fließt, sondern auch bleiben kann. b. Wechselbeziehung zwischen Bewegung und Stillstand

Wenn sich das lebende Bild im Stillstand mit normalen Szenen in Bewegung abwechselt, wird der Unterschied deutlich. Im Stück Nr. 3 Aufbruch I wird die Wechselbeziehung der statischen und bewegten szenischen Elemente zwischen Don Quijote und der Gruppe der übrigen Figuren hervorgehoben: Während sich Don Quijote in Aktion befindet, sind alle Übrigen unbeweglich ohne Aktion und dazu ohne musikalische Elemente. Sie bilden daher ein lebendes Bild. Der umgekehrte Fall folgt sogleich: Wenn Don Quijote bewegungslos steht, sind die anderen in Aktion. Hier funktionieren die lebendigen Figuren als ein Teil des statischen Bildes. Die Szene Nr. 14 Dorothea funktioniert auch auf ähnliche Weise wie Nr. 3. Während das Stück Nr. 3 die Abwechslung zwischen den lebenden Bildern und den allgemeinen Szenen mit Bewegung durch die zwei anderen Figurengruppen geteilt auf einer Bühne vorführt, wechseln alle Bühnenfiguren in Nr. 14 ständig zwischen Pantomime und lebendem Bild ab.

In den beiden Szenen Nr. 3 und Nr. 14 werden die wie Malerei aussehenden lebenden Bilder konfrontiert mit den universalen opernhaften Szenen mit Aktion, Sprache und Gesang. Dabei zeigt sich deutlich das wechselseitige sowie konfrontierte Verhältnis von Bewegung und Stillstand sowie Erstarrung und Belebung. Durch die doppelten Eigenschaften von lebenden Bildern ist der Medienwechsel oder das intermediale Phänomen zwischen Theater und Malerei erkennbar. c. Die doppelte Determination von Bild und Aktion

Im allgemeinen wird Aktion als dynamisches und Bild als statisches Element betrachtet. Im alle fünf Grundelemente enthaltenden Stück Nr. 16 Finale I wandte der Komponist die zwei Elemente Bild und Aktion auf besondere, nämlich völlig umgekehrte Weise an – Aktion als feststehendes und Bild als aktives Element: „Erstens dadurch, dass wesentliche Bildelemente wie Kutsche, Wagen, Mambrinos Helm sowie alle Personen als Kommende und Gehende ständig in Bewegung sind; zweitens, durch das zeitweise Erstarren von bestimmten Personen an bestimmten

116

Stellen.“247

In der Szene stehen die Bühnenbilder und Bühnenfiguren zwischen Bild und Aktion. Diese doppelte Determination von Bild und Aktion ist ein neuer, eigener Versuch von Zender, die seine Absicht andeutet: Er lässt beim Zuhörer den Eindruck entstehen, dass Raum durch die Abhandlung des ursprünglich statischen Elementes Bild als etwas Bewegliches fließen und dass Zeit stehenbleiben kann, indem das ursprünglich dynamische Element Aktion mit Bewegungslosigkeit verknüpft wird. In der Szene wird „die sicherlich größte Komplexität der Mittel“248 dargestellt: Daraus entsteht die Möglichkeit, die Sinneswahrnehmung von Zeit und Raum neu zu erfahren.

2.3. „mit Augen zu hören, mit Ohren zu sehen“: Szenen mit neuer Sinneswahrnehmung

Zender ist es nicht nur wichtig, den im letzten Kapitel ausgeführten Illusionen über Zeit und Raum zu entkommen, sondern auch den Irrtum aufzuklären, dass das Auge als optisches Organ mit dem Raumbewusstsein und das Ohr als akustisches Organ mit dem Zeitbewusstsein zusammenhängt. Dafür experimentierte er mit der Wahrnehmung von Auge und Ohr wie folgt: Er behandelte die per Auge gesammelten visuellen Informationen durch Zeitordnung wie kompositorische Elemente, und verwendete die über die Ohren rezipierten klanglichen Elementen für Informationen über Raum und Imaginationen. Durch Hörbarmachung des Visuellen und durch Visualisierung des Akustischen ist es möglich, „mit Augen zu hören, mit Ohren zu sehen“249. a. „mit Augen zu hören“: Optisches hörbar machen

Die ursprünglich zum Optischen gerechneten Elemente Bild und Aktion wurden in Don Quijote de la Mancha zeitweise als kompositorische Materialien durch die zeitliche Ordnung behandelt. Es sind Bewegungsrhythmen enthalten, d. h. Bewegung der Figuren in regelmäßigen rhythmischen Perioden. Einige

247 Hans Zender, in: Textbuch , S. 106. 248 Ebd. 249 Die Bedeutung ist bereits in einem Aufsatz von Zender „Auge und Ohr. Gedanken zum Musiktheater“ (1991) zu finden. Dieser Satz wurde in folgendem Zeitungsartikel zitiert: Eckhard Roelcke: „Musiktheater: Hans Zenders Don Quijote in Stuttgart. Mit Augen hören, mit Ohren schauen“, Zeit-Online am 8. Okt. 1993. http://www.zeit.de/1993/41/mit-augen-hoeren-mit-ohren- schauen (zuletzt eingesehen: 09. 11. 2014) 117

Aktionselemente wurden durch bestimmte Klangelemente ersetzt. Außer Aktion und Bewegung sind die visuellen Elemente wie Licht und Bühnenbild auch als Grundstoff für die Kompositionsbasis verarbeitet.250

Die Nr. 6 Ritterschlag bedient sich nur der beiden visuellen Elemente Bild und Aktion. Es sind alle Schritte und Gesten der Bühnenfiguren in Rhythmus und Tempo notiert: die Schritte von Don Quijote und Sancho, die Laufschritte und das Umkreisen des Schweinehirten, das Hinken und den Knüppel sausen lassen seitens des Wirts usw. wurden musikalisch bzw. rhythmisch strukturell behandelt. Das bedeutet, dass Zender nicht nur wie üblich für die Stimmbänder der Sänger und Sängerinnen, sondern auch ihre Schritte und Gesten komponierte. Wie in der Notation zu erkennen ist, wird die Rhythmik zu „einer Art Bewegungsklang“ oder „Bewegungsrhythmen“ 251 . Am Anfang geht Don Quijote feierlich auf und ab, Sancho versucht, ihm zu folgen. Die Schritte der beiden Figuren überlagern sich, gehen aneinander vorbei, erklingen manchmal synchron (Koinzidenz!252 ). Dazu wurden einige Schrittgeräusch hinzugefügt: z. B. hinkt ein Wirt mit Klumpfuß aus dem Hintergrund heran, ein Schweinehirt läuft gleichzeitig schnell vorbei. Die Schritte der beiden sind manchmal gleichlaufend, so dass in der Folge eine komplexe Polyrhythmik entsteht. Interessanterweise wird sogar der Stillstand der Figuren als Teil einer komplexen Struktur vorgeplant und mit den Schrittkombinationen sehr genau festgelegt: „Jede Bewegung [und sogar Nichtbewegung] in so einem Teil unterliegt einer strengen Gesetzmäßigkeit.“253

Die Szene Nr. 26 Einweihung enthält ein entsprechendes Beispiel dafür, wie das

250 Dieses Konzept ist eigentlich keine eigene kompositorische Idee von Zender selbst, sondern wird im Zusammenhang mit dem neuen Gattungsbegriff Musiktheater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ständig eingesetzt. Der Komponist Mauricio Kagel sagte: „Das Neue Musiktheater ist nicht eine durch Stil festgelegte Form des Theaters neben anderen, sondern die Anwendung musikalischen Denkens auf das Theatralische. Wort, Licht und Bewegung werden in vergleichbarer Weise wie Töne, Klangfarben und Tempi artikuliert. Es handelt sich also zunächst um eine Musikalisierung der Darstellungsformen [...]“ Vgl. Mauricio Kagel: „Vom Selbstverständnis und von den Aufgaben des Künstlers“, in: Worte über Musik. Gespräche, Aufsätze, Reden, Hörspiele, München 1991, S. 151-157. 251 Hans Zender: in: Textbuch, S. 78. 252 Zender selber bezeichnet es als Koinzidenz. Dieses Wort wurde in seinem früheren Bühnenwerk Stephen Climax bereits als Bedeutung des Zusammentreffens zweier jeweils eigenständiger Ereignisse ohne Kausalität verwendet. Bei Zenders Komponieren ist das mit seinem Standpunkt „Heterogenität produktiv zu machen“ verbunden. Hier in der 6. Szene von Don Quijote de la Mancha zeigt sich die Absicht des Komponisten, bei der Koinzidenz zweier rhythmisch unterschiedlicher Muster die Koexistenz der entgegengesetzten Eigenschaften der beiden Figuren Don Quijote und Sancho zu symbolisieren. 253 Rüdiger Bohn: „Oper als Donquijoterie... Ein Gespräch mit Sabrina Hölzer und Rüdiger Bohn“, in: Komische Oper Berlin (Hrsg.), Programmheft für Don Quijote de la Mancha, Berlin 2004, S. 8. 118

Element Aktion als kollektive Bewegung in ein zeitliches, rhythmisches Element umgesetzt wurde: Eine Gruppe der Bühnenfiguren oder ein Solist beginnt, danach bewegen sich alle Figuren gleichzeitig und produzieren Rhythmen. Im ersten Teil dieses Stücks (bis zum Takt 41) dominiert ein sieben Mal wiederholter Bewegungsrhythmus, der durch Stampfen der Figuren entsteht. Er funktioniert als rhythmisches Grundmuster wie Ostinato. Im nächsten Teil (T. 42–59) wird dieser Rhythmus von den zwei Gruppen separat ausgeführt, dann ab Takt 60 frei und danach am Ende des Stücks folgt Ruhestellung.

Die Bewegungen der Personen nicht in Rhythmus, sondern in Klang umzuwandeln, wird auch in Nr. 18 Kampf mit den Schatten angewandt. Das Stück ist eine rein pantomimische Bühne ohne Bild, ohne musikalische Elemente wie Sprache, Gesang und Instrumentalspiel, und enthält lediglich das Element Aktion. Auf der Bühne begegnen die beiden Hauptfiguren Don Quijote und Sancho Panza ihren Doppelgängern – einem unmäßig langen, dürren Don Quijote II mit Riesennase und einem wie ein dickes Faß aussehender Sancho Panza II. Während der gesamten Szene verfolgen die beiden Figuren ihre Doppelgänger, welche immer wieder verschwinden und wieder auftauchen. Beim ersten Treffen kommt es zu einem ersten Kampf. Jedes Mal, wenn sie sich treffen, kommt es zum Kampf – insgesamt sieben Mal. Während die Pantomime eigentlich möglichst keine Geräusche verursacht, kommen alle Kampfgeräusche vom Sampler, der insgesamt fünf verschiedene Geräusch-Elemente enthält. Der Sampler ist mit fünf Noten markiert, die jeweils bestimmte Tonhöhen und Tonlängen haben. In jedem Kampf werden sie anders arrangiert. Ein Beispiel zeigt, wie die beweglichen Elemente durch die klanglichen Elemente substituiert werden.

119

Tabelle 13. Beschreibung der gesampelten Elemente und Konfiguration der Elemente in jedem Kampf des Stücks Nr. 18.Kampf mit dem Schatten.

1)

Entspricht einem anfeuernden Kriegsschrei (Männerstimme, dunkel)

2)

Entspricht dem Geräusch eines dumpfen, schweren Falles; Nachkollern: (etwa)

3) Entspricht dem glissando-Geräusch eines

schnell aus der Scheide gezogenen Säbels oder Schwertes:

4) Entspricht zwei unmittelbar nacheinander eintreffenden Klicks: Zwei Schwerter, die sich treffen (heller metallischer Klang)

5) Entspricht einem heftigen Schmerzensschrei, etwas verhallend (nicht überdramatisieren!), hellere Männerstimme

1. Kampf 1) – 2) – 3) – 4) – 5)

2. Kampf 4) – 1) – 2) – 3) – 5)

3. Kampf 3) – 4) – 5) – 1) – 2)

4. Kampf 2) – 4) – 3) – 5) – 1)

5. Kampf 1) – 5) – 4) – 2) – 3)

6. Kampf 2) – 3) – 1) – 4) – 5)

7. Kampf 5) – 2) – 1) – 3) – 4)

120

In einigen Stücken wird versucht, die zeitliche Ordnung nicht nur durch Bewegung und Aktion, sondern auch durch Abwechslung des Lichts und des Bühnenbilds darzustellen. Im Stück Nr. 6 Ritterschlag bewegt sich das Licht zwischen Ein- und Ausblenden mit einer rhythmischen Reihe (17 : 18 : 20 : 21 : 40 : 36 : 3 : 10 : 70). Es symbolisiert das Wechselspiel des sichtbaren und von den Wolken verdeckten Mondes. Hier dient die Anweisung des Komponisten für das Licht „als Partitur für einen ungegenständlichen Lichtwechsel“254.

Ohne Auftritt der Bühnenfiguren und somit ohne Bewegung oder theatralisch- musikalische Elemente wie Sprechen und Singen, aber auch ohne instrumentale Begleitung ist das Stück Nr. 19. Montesinos Höhle „eine stumme Szene ohne Aktion“ wie „Absolutes Schweigen“255. Sie besteht aus insgesamt sieben Bildern, die nacheinander langsam ein- und ausblendet werden (Tabelle 4). Es geht um Don Quijotes Fantasie in Montesinos Höhle, wo er gefühlt drei Tage und drei Nächte verbringt (im Roman benennt Sancho die Dauer auf eine Stunde). Die Figuren und Hintergründe in der Erscheinung sind der 23. Szene des zweiten Bandes des Romans entnommen. Was im Roman ziemlich lang beschrieben wird, ist in Zenders Musiktheater auf die sieben Bilder zusammenreduziert. Bemerkenswert ist, dass die optischen Elemente Bild und Aktion hier als kompositorisches Material zeitlich behandelt werden: Die siebenmaligen Bildwechsel und die sechsmaligen Lichtwechsel haben jeweils andere Perioden: Die Periode für den Bildwechsel ist unregelmäßig (per Sek. 40 : 4 : 48 : 36 : 16 : 20 : 24) und die für den Lichtwechsel hat einen gleichmäßigen Rhythmus alle 30 Sekunden. Das zeigt, dass die visuellen Elemente durch die Zeitordnung komponiert wurden. Dies ermöglicht den Zuschauern und Zuhörern, in der Dunkelheit und auch in stummen Situationen Zeit nur mit Hilfe von Bild und Licht wahrzunehmen.

254 Hans Zender: Textbuch, S. 78. 255 Ebd., S. 115. 121

Tabelle 14. Die Bilder des Stücks Nr. 19 Montesinos Höhle

A. Langsame Erscheinung einer Wiese im hellen Sonnenlicht.

B. Erscheinung eines Palastes.

Erscheinung eines Greises (langer violetter Mantel, Bart; der Greis hat Ähnlichkeit mit dem C. Pfarrer.

Erscheinung eines Ritters; er liegt ausgestreckt auf einem Grabmal und hat das Gesicht D. Fernandos.

Erscheinung einer Dame in Schwarz; weißer Schleier, Turban; in der Hand trägt sie ein E. blutiges Herz. Sie ähnelt Dorothea.

Erscheinung eines Knappen; sein Bild geht nach und nach in einen Wasserfall über. Der F. Knappe trägt Sanchos Züge.

Erscheinung Dulcineas als junge Bäuerin; symmetrisches doppeltes Spiegelbild (4 Köpfe G. und Körper). Die Bäuerin ähnelt Lucinde.

Notenbeispiel 21. Nr. 19 Montesinos Höhle

122

Schließlich noch ein anderes Beispiel dafür, wie Visuelles klanglich gemacht wurde, bzw. die Charaktere der Figuren oder Inhalte des Romans die Kompositionstechnik widerspiegeln: Aus dem Motiv des Kampfes mit dem Spiegelritter konzipiert der Komponist die Szene Nr. 29 völlig neu. Don Quijote und der Spiegelritter stehen sich auf der Bühne weit entfernt gegenüber. Der Spiegelritter erscheint zeitlich synchron und bewegungsmäßig spiegelgleich mit Don Quijote. Beide bewegen sich im Laufe der Szene langsam aufeinander zu, bis sie zusammenstoßen – dann stürzt Don Quijote zu Boden, der Spiegelritter verschwindet. In dieser Szene ist der Spiegelritter sowohl beweglich als auch wortwörtlich ein Spiegel Don Quijotes, die Sprache und Melodie der beiden bilden eine symmetrische Struktur. Der Spiegelritter bleibt stumm auf der Bühne, statt seiner Stimme erklingt ein Live- Signal: die aufgenommene und dann rückwärts abgespielte Stimme Don Quijotes. Für diesen Fall gelten die in der Partitur als retrograde vermerkten Aufnahme- und Wiedergabevorschriften. Der Krebs als eine kontrapunktische Kompositionstechnik ist eine Installation für das Symbol des Spiegelritters und seiner Bewegung. Dies ist als eine kompositorische Reflexion des Librettos zu betrachten.

In Nr. 5 Schenke ist diese Technik des Kontrapunkts Krebs auf die Stimme des Wirtes angewendet, aber nicht auf Tonhöhenbereiche, sondern auf rhythmische Proportion begrenzt. Der Wirt spricht zuerst in der rhythmischen Folge A (3 – 6 – 10 – 2 – 5 – 11 – 9 – 1 – 7 – 4 – 8 – 12), anschließend in Folge B (12 – 8 – 4 – 7 – 1 – 9 – 11 – 5 – 2 – 10 – 6 – 3), einem Rücklauf der Folge A. Im Weiteren wiederholen sich die Folgen A und B.

b. „mit Ohren zu sehen“: Akustisches visuell machen

Die Experimente des Komponisten, die dem optischen Bereich zugehörigen Elemente – Bild, Aktion, Licht usw. – als Grundmaterial für sein Komponieren so einzusetzen, dass mit den Augen gehört werden kann, ermöglicht wiederum, in der Kompositionstechnik akustische Images zu verwenden, also mit den Ohren zu sehen.

Es gibt einige Beispiele dafür, wie bestimmte Instrumente und ihre speziellen Spieltechniken im Zusammenhang mit dem Inhalt des Librettos optische Eindrücke erzeugen. Im Stück Nr. 8 Windmühlen übernehmen vor allem die Blasinstrumente Trompete und Posaune die Situation der Hauptfiguren: die Fanfare der 123

Blasinstrumente stellt symbolisch die tollkühne Ritterlichkeit von Don Quijote dar, Windmühlen zu bekämpfen, die er mit Riesen mit großen Armen verwechselt. In der Szene Nr. 5 Schenke als „eine Rüpelszene“ ergeben sich viele verschiedene Geräusch-Effekte durch Schlaginstrumente: Die Glissandi der Pauken symbolisieren burleske Purzelbäume von Don Quijote; die konsonanten, jedoch deformierten Intervalle bedeuten leicht verrückte Traurigkeit.

Das Stück Nr. 12. Melancholie ist eine Pantomime Don Quijotes mit dem Grundelement Aktion, die ausschließlich mit Instrumentalklang begleitet wird. Das Klarinette-Solo und das Tuba-Solo sind nicht für Solo-Instrumente komponiert, sondern wie die Koloratur-Sängerstimme. Im instrumentalen Dialog zwischen den beiden Soloinstrumenten und dem Orchester symbolisieren sich die Spannungsverhältnisse zwischen den Bühnenfiguren.

An diesem Punkt kommt der Einsatz von Elektronik durch den Komponisten in der Oper Don Quijote de la Mancha zum Tragen. Es ist offensichtlich, dass die Konzeption der elektroakustischen Anlagen256 nicht partiell begrenzt ist, sondern in ziemlich vielen Szenen speziellen Zwecken dient. Vor allem wird die Räumlichkeit um die Stimmen der Bühnenfiguren in Frage gestellt. Zender experimentiert mit der Elektronik, um die Aufführbarkeit der Klangräume auf der Bühne und die Aufnahmefähigkeit der Hörer in Frage zu stellen.

Das Stück Nr. 2 Don Quijote ist ein Sologesang Don Quijotes. Er singt auf der Bühne alleine (Hauptstimme); ab Takt 42 ertönt eine Stimme mit verzögerter Wiederholung der 12 Takte der Hauptstimme Don Quijotes (Delay I); ab Takt 45 ist eine andere Stimme hinzugefügt mit verzögerter Wiederholung der 44 und 3/4 Takte (Delay II). Die zwei Delays sind Wiedergaben von Don Quijotes Hauptstimme und wurden teilweise wiederholt. Die Positionen von der Hauptstimme und den zwei Delays weichen voneinander ab: die Hauptstimme Don Quijotes in der Mitte der Bühne als Live-Stimme; Delay I kommt aus einem Lautsprecher auf der Hinterbühne links oben (L 1); Delay II wurde aus einem Lautsprecher auf der vorderen Bühne rechts (L 4) übertragen. Die drei Stimmen übertragen sich folgenderweise:

256 Beschallungsanlagen, welche der Wiedergabe und Verstärkung von Sprache oder Musik dienen. Im allgemeinen werden Lautsprechern und Verstärkern auch das steuernde Mischpult und die zugehörigen Effektgeräte zugerechnet. 124

Tabelle 15. Die textliche Struktur in der Szene Nr. 2. Don Quijote

Don Quijote: A B C D E

Delay I: C D

Delay II: B

Im Ergebnis bleiben die zwei Delays wie Echos um Don Quijotes Stimme herum. Es entsteht eine Bühnenwirkung, in der sich Don Quijote mit sich selbst konfrontiert, indem er beim Singen gleichzeitig seine verflossenen Stimmen hört. Im weiteren Sinn evoziert die Delay-Technik dem Zuhörer den Eindruck, als ob Don Quijote auf der Bühne, sogar im Zuschauerraum um das Publikum schweife.

In der Szene Nr. 7 Nachtgesang ist die Kompositionstechnik mit Elektroakustik stark im Einsatz. Don Quijote singt in der ganzen Szene auf der Bühne ohne Verstärkung. Die drei Dulcineas hingegen sind unsichtbar und ihre Stimme werden von den verschiedenen Lautsprechergruppen übertragen. Zudem ist wie in Nr. 2 ein Delay-Effekt als Audiotechnik beigefügt. Die Stimmen von Don Quijote und der Dulcineas ertönen wie Echos in mehrfacher Ausführung aus den verschiedenen Lautsprecher (Tabelle 6); Delay B wiederholt das Lied Don Quijotes partiell verzögernd; die Delays der Gruppe A (A1 – A5) bestehen aus den drei Stimmen der Dulcineas; A3 und A5 sind von der ursprünglichen Melodie der Dulcineas um einen Tritonus nach oben transponiert.

Der singende Don Quijote begegnet auf der Bühne ständig seinem Echo Delay B; die unsichtbaren Stimmen der Dulcineas wurden auch ihrem Widerhall gegenübergestellt. Durch das Zusammenspiel von Live-Stimme und den elektronisch manipulierten Echos klingt es, als ob sich die eigene Stimme mit sich selbst konfrontiere. Das ist genau wie in der Szene Nr. 2 für den Zuhörer äußerst reizvoll. Don Quijote bleibt die ganze Szene 7 an einer bestimmten Stelle stehen, während die Stimmen der Dulcineas und ihre Echos aus den verschiedenen, um die Bühne und den Saal herum angeordneten Lautsprechergruppen übertragen werden. Dadurch entsteht der Eindruck, als ob Dulcinea um Don Quijote auf der Bühne herumschweift. Dulcinea ist fürs Publikum unsichtbar, aber akustisch wahrnehmbar. Im Roman ist sie ein Fantasiegebilde von Don Quijote; in der Oper wird sie durch die spezielle akustische Behandlung des Komponisten Zender auf der Bühne theatralisch effektvoll dargestellt. 125

Tabelle 16. Verteilung der Stimme durch verschiedene Lautsprechergruppen257

T. 1 T. 5 T. 15 T. 18 T. 32 T. 37/38 T. 43 T. 50 T. 54 – Ende

Dulcinea I L 4 – L 8 – – L 3 – – –

Dulcinea II L 4 – L 7 – – L 5 – – –

Dulcinea III L 4 – L 6 – – L 4 – – –

Don Quijote Ohne Verstärkung

Delay A1 L 1 X X L 1 L 1 X X X X

Delay A2 L 1 X X L 4 X X X L 6 –

Delay A3 L 1 X X X L 2 – X X X

Delay A4 L 1 X X X X L 8 L 7 – –

Delay A5 L 1 X X X X X X X L 1

Delay B L 1 X L 2 L 2 L 2 L2 L 2 L 2 X

257 Die Anordnung der Lautsprechergruppen ist nach Anweisung des Komponisten Zender folgendermaßen:

① ②

(Bühne) ③ ④

⑧ ⑤ (Zuschauerraum)

⑦ ⑥

126

Die Figur der Dulcinea tritt nicht nur in Cervantes Roman, sondern auch in Zenders Oper in Erscheinung. In der Szene Nr. 21 befindet sie sich als Fantasiefigur des Don Quijotes nicht auf der Bühne, sondern ihre Stimme ist hinter der Bühne zu hören. Außer Don Quijote und Dulcinea tritt auch die Bühnenfigur Cardenio auf die gleiche Weise auf. Im Stück Nr. 11 Brief mit den Elementen Gesang und Instrumentalklang „ohne Bild“ in Dunkelheit erklingt nur seine Stimme. Don Quijote in der Mitte der Bühne nimmt Cardenios Stimme zunächst nahe neben sich selbst wahr, dann verschwindet sie. Dies wird aber nicht durch Bewegungen des Sängers des Cardenios verursacht, sondern durch Lautsprechersimulation erzeugt. Das Stück Nr. 20 Diskurs II bezeichnet der Komponist als „Hörspiel-Situation“ mit verschiedenen elektroakustischen Effekten. In diesem Stück sieht man die Figuren Don Quijote und Sancho nicht, sondern ihre Stimmen kommen aus den verschiedenen Lautsprechern: Am Anfang ziehen die Stimmen von links vorne im Zuschauerraum (L 8) über L 7 → L 6 → L 5 → bis L 4, wobei sich gegen Ende der Szene der Dialog der beiden Figuren zwischen L 4 und L 6 abspielt. Am Ende entschwinden beide Stimmen in verschiedene Richtungen (L 1 bzw. L 2). Zender erweckt dadurch beim Hörer den Eindruck, dass Don Quijote und Sancho sich um den Saal herum bewegen. Als bisheriges Analysenergebnis steht fest, dass in Zenders zweiten Oper Don Quijote de la Mancha die elektroakustische Klanggestaltung nicht nur für musikalisch-akustische Effekte eigesetzt wurde, sondern auch damit, das Publikum Raum und Räumlichkeit wahrnehmen kann c. Inkongruenz zwischen den Figuren auf der Bühne und hinter der Szene

Das Stück Nr. 22 Löwe ist eine Szene mit Aktion, Gesang und Instrumentalklang. In diesem Stück beobachten wir die Dissoziation zwischen Aktion als visuellem und Gesang als akustischem Element. Das heißt, die äußerliche Gestaltung und die musikalische Rolle einer Bühnenfigur wurde jeweils von anderen durchgeführt: Auf der Bühne bewegen sich die drei handelnden Bühnenfiguren Don Quijote, Sancho und Löwenwärter für das Publikum unsichtbar bzw. auf der Seitenbühne oder im Orchester. Den Dialog der Bühnenfiguren übernehmen die drei Lektoren. Man soll sie aus dem Verborgenen hören und daher die Divergenz von Sehen und Hören erfahren. Es wird in dieser Szene die Dissozation von musikalischen und bildlichen Elementen hervorgehoben.

127

3. Don Quijote de la Mancha: Neue Erfahrung der Sinneswahrnehmung durch Assoziation und Dissoziation der verschiedenen theatralischen Medien

Für die Entzifferung des Theaterwerks Don Quijote de la Mancha wurden die folgenden drei Schlüssel gegeben: a. Experiment eines ungewöhnlichen Musiktheaterkonzepts: „31 theatralische Abenteuer“

Im Gegensatz zum ersten Bühnenstück Zenders Stephen Climax, das ursprünglich als Polystilistik konzipiert wurde, besteht Don Quijote de la Mancha aus nur einem musikalischen Stil. Lediglich die Metamorphose der vielen Formen ist zu betonen: Zender als Librettist wählte selbst die Szenen des Romans aus und ordnete sie bühnentauglich nach den passenden theatralischen Mitteln. Der Komponist bildete die 31 musikalisch-theatralischen Formen aus jeweils unterschiedlichen Kombinationen der fünf Grundelemente. Als Konsequenz erscheint die Form- Entfaltung wie ein „Spiegel, der in viele Scherben zerbrochen ist“258. In diesem Sinne wird die Auffächerung der Dimensionen Raum und Zeit zu einem wesentlichen Thema. Wie der Untertitel andeutet, besteht das Abenteuer nicht nur im szenischen Bereich in den Erlebnissen der Figur Don Quijote, sondern auch in einem Experiment eines ungewöhnlichen Musiktheaterkonzepts. b. Donquichottismus. Über die Dichotomie hinaus. Kontrast, Ergänzen...

In den allgemeinen Rezeptionen der Literatur sind die Hauptfiguren Don Quijote und Sancho Panza als typische Vertreter der Idealisten bzw. Realisten dargestellt. Die konträren Eigenschaften und Charaktere der Figuren symbolisieren die elementaren dichotomischen Beziehungen in unserem Leben wie Zwiespalt und Harmonie, Ideal und Wirklichkeit, Fantasie und Realität, Tag und Nacht, Körper und Geist usw. Diese bieten auch den grundsätzlichen strukturellen Rahmen dafür, verschiedene Spannungen im Theater aufzubauen. Vor allem Zenders Don Quijote wird in diesem Musikteaterwerk an vielen Stellen als absurde, sogar groteske Figur dargestellt. Nach Angaben des Komponisten handelt es sich um eine „Figur, die schon so in sich gebrochen ist, dass sie erlaubt oder sogar fordert, dass man sie auch

258 Hans Zender im Gespräch mit Reinhard Ermen, in: SWR-Sendung vom 30. 1. 2011, Zitiert nach dem Artikel von Jörn Peter Hiekel (2013) 128

auf eine gebrochene, bis ins Absurde gehende Weise darstellen kann“259.

Im Laufe des Stücks veränderten sich die zwei Figuren durch ihren Umgang miteinander: Don Quijote wird zu einem modernen Menschen, der lernt, die Welt selbst zu erfahren und sich selbst Fragen zu stellen; Sancho wirkt am Ende des Theaterstücks durch den Einfluss des Don Quijote teils humanistisch. Die Unterschiedlichkeit der beiden Figuren und ihr offener Austausch wurden auf der Bühne mittels Unterstützung musikalischer Materialien verstärkt und lebhafter dargestellt als im Roman. c. Assoziation und Dissoziation der theatralischen Mittel

Die fünf Grundelemente in dieser Oper sind sowohl Mittel, das Ziel eines Theaterstücks zu erreichen, sowie Medien, um dem Publikum die Botschaft des Künstlers zu vermitteln. Assoziation und Dissoziation dieser theatralischen Mittel werden zum Experiment über die verschiedenen Wahrnehmungen von Zeit und Raum sowie Optik und Akustik: Auf der einen Seite wurde durch Verknüpfung und Trennung des statischen Elements Bild und des dynamischen Elements Aktion eine Illusion wie „Zeit fließt, Raum bleibt“ erweckt. Gemäß dem Komponisten ist die Funktion des Theaters, dass wir der Illusion nie entkommen, sie aber durchsichtig machen können. Bei ihm und diesem Stück werden Raum und Zeit neu definiert. Auf der anderen Seite lässt dieses Stück durch das Sichtbarmachen des akustischen Elements und das Hörbarmachen des visuellen Elements seine Zuhörer „mit Augen hören, mit Ohren sehen“.

Im Roman von Cervantes geht es darum, dass durch abenteuerliche Verwirrungen zwischen der imaginären und realen Welt die Wirklichkeit neu erkannt werden kann. Zenders Oper Don Quijote de la Mancha zeigt, dass das Theater durch die vielen theatralisch-musikalischen Mittel die Komplexität der Sinnes-wahrnehmungen öffnet und hiermit dem Publikum neue Wahrnehmungs-erfahrungen ermöglicht. Es ist Zenders kompositorische Antwort auf den Roman von Cervantes.

259 Ebd. 129

IV. Chief Joseph (2001 –2003/2005)260

Das jüngste Bühnenstück Zenders Chief Joseph wurde vom Komponisten selbst als musikalisches Theater in drei Akten bezeichnet. Seine früheren Werke Stephen Climax und Don Quijote de la Mancha wurden hingegen als Oper dargestellt, obwohl beide tendenziell versuchten, die Grenze der typisch traditionellen Gattung Oper zu überschreiten. Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen der Gattung Oper und Musiktheater zählt das Gleichgewicht zwischen Szenen und Musik des Musiktheaters261. Während die Oper ihrerseits zu musikalischen Ebenen wie z. B. Arien neigt, tendiert das Musiktheater im Allgemeinen zu szenischen Bereichen. Die Gattung des Musiktheaters entspricht dem Bedarf und der Tendenz der seit Mitte des 20. Jahrhunderts nach B. A. Zimmermann (1918–1970)262 schaffenden Komponisten. Besonders für Zender stellt sie ein probates Mittel dar, mit seiner eigenen Musiksprache zu experimentieren und seine komplexe szenisch- musikalische Idee zu verwirklichen. In seiner ersten Oper Stephen Climax geht es um die Weiterentwicklung der Zimmermannschen Idee der „Kugelgestalt der Zeit“263, der musiktheatralischen Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er verwirklicht diese Idee durch den parallelen Verlauf zweier voneinander unabhängiger Handlungsstränge, die jeweils unterschiedliche zeitlich- räumliche Hintergründe haben. An der nicht linearen Form und Struktur dieser Oper experimentierte Zender mit einer derartigen „Herausforderung an unser kausalgebundenes Denken, mit dem man nur einen winzigen Teil der Realität

260 Der Inhalt dieses Kapitels wurde bereits in Korea als wissenschaftlicher Artikel publiziert. (Jiyoung Kang, „한스 첸더의 음악극 <추장 조셉>: 역사와 문화를 중재하는 다원주의의 작곡 적 반영으로서“, Englischer Titel „Hans Zenders Music Theatre Chief Joseph as a reflection of a historical cultural pluralism”, in: Journal of Music and Theory, 22(2) 2014, Western Music Research Institute, S. 132-173.. 261 Der Begriff Musiktheater, eine Begriffsbildung des 20. Jahrhunderts, ist wegen seiner Vieldeutigkeit terminologisch eine durchaus problematische Kategorie. Im englischsprachigen Raum wurde er nur für die Bühnenstücke von extremer Neuheit in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verwendet. Im Vergleich dazu wurde dieses Wort im deutschsprachigen Bereich als Terminologie, die die traditionelle Oper überschreitend fast alle Bühnenstücke involviert, fixiert. Trotz der Unterschiede zwischen den beiden Sprachen hat der Begriff den Vorteil, dass er viele Theaterprojekte der avantgardischen Komponisten als radikale Novität auf seinem Gebiet einschließen kann. Aus diesem Grund wurde der Begriff Musiktheater für Bühnenstücke des zwanzigsten Jahrhunderts rezipiert. Vgl. Christoph von Blumröder: „Musiktheater der achtziger Jahre“, in: Ekkehard Jost (Hrsg.), Die Musik der achtziger Jahre (= Veröffentlichungen des Instituts für Musik und Musikerziehung Darmstadt 31), Mainz 1990, S. 30-46; Wulf Konold & Wolfgang Ruf: „Musiktheater“, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 6, Kassel u.a. 1997, Sp. 1670-1714. 262 Zimmermann hat jedoch sein Bühnenstück Die Soldaten als Oper betitelt: Vermutlich deshalb wurde das von dieser Oper stark beeinflußte Stephen Climax Zenders auch als Oper bezeichnet. 263 Der Schlüsselbegriff Zimmermanns (s. Anm. 115.). 130

erfassen kann“264 . In seiner zweiten Oper Don Quijote mit dem Untertitel „31 theatralische Abenteuer auch einzeln oder in beliebigen Kombinationen aufführbar“ werden die fünf Grundelemente – Sprache, Gesang, Instrumentalklang, Bild und Aktion – in unterschiedlichster Weise aufgefächert und verknüpft. Hier verbindet sich eine neue Kombinationsmöglichkeit der Wahrnehmungen wie Hören und Sehen durch diese fünf Elemente. Sein drittes Bühnenprojekt Chief Joseph setzt solche Experimente über „die ungewöhnliche Auffächerung der Dimensionen Raum und Zeit“265 fort, die in seinen beiden Opern bereits in verschiedener Weise durchgeführt wurden: die Idee der musiktheatralischen Gleichzeitigkeit aus seiner ersten Oper und das Formkonzept aus der zweiten Oper.

Das äußerlich charakteristische Merkmal dieses Werks ist vom Formkonzept mit sechs verschiedenen Szenentypen – Leer-Szene, Szene, Rezitativ, Indian-Song, Klage und Rotation – entscheidend geprägt. Sie wurden nicht in den traditionellen Opern verwendet, sondern speziell für dieses Musiktheaterstück von Zender mit jeweils unterschiedlichen szenischen musikalischen Eigenschaften erfunden. Auf welche Art und Weise sind sie miteinander verstrickt? Wie tragen sie zur gesamten Form bei? Sicher ist die Form von Chief Joseph nicht entwickelnd, sondern aus den sechs Szenentypen speziell komplex, kombinatorisch entworfen. Es ist kennzeichnend für die formale strukturelle Spezialität dieses Musiktheaterwerks als Gattung des Musiktheaters. Hier fügte Zender die Situation der Konfrontation mit einer fremden Kultur hinzu. Als Konsequenz ergibt sich formell ein „Mixtum compositum“ mit vielfältigen szenisch-musikalischen Materialien und Elementen. Insgesamt wurde Chief Joseph als ein ästhetisches Kunstwerk konzipiert, das sich zwischen unterschiedlichen Formen, Zeiten und verschiedenen Kulturen hin und her bewegt. Das mehrschichtige Konzept Zenders für dieses Stück wurde auf die gesamte Form, den szenischen Bereich und die musikalische Dimension angewendet.

Über dieser spezifischen und komplexen Form schwebt das Thema, „Konfrontation zwischen dem Eigenen und dem Fremden“ 266 : Die beiden entgegengesetzten Kulturen (von Weißen und von Indianern) prallen aufeinander und verursachen stets

264 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization”, in: Staatsoper Unter den Linden (Hrsg.), Programmbuch für Chief Joseph, Berlin 2005, S. 7-11, hier S. 7. 265 Ebd., S. 8. 266 Vgl. Hans Zender: „Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph“, in: Christian Utz (Hrsg.), Musik und Globalisierung, Saarbrücken 2007, S. 95-102. 131

Zwiespalte, woraus sich die Haupthandlung zusammensetzt. Hier zeigt sich der zentrale szenische Stoff des Stückes: das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Weltanschauungen – einer westlichen, aufgeklärten Denkweise der Weißen sowie einem spirituell geprägten, naturverbundenen Weltentwurf der Indianer. In welchem Spannungsverhältnis stehen die Indianer und die Weißen in dem Werk Chief Joseph? Weitere wesentliche Fragen, mit denen sich Zender noch auseinandersetzen muss, sind: An welcher Stelle kommt es zur Konfrontation und worüber debattieren sie? Welche Punkte wurden geklärt und was bleibt als Unlösbares übrig?

Es ist typisch für das Komponieren von Zender, „Gegensätze auszugestalten, ohne sie zu vermitteln“. 267 Die heterogenen Materialien verharren nicht nur parallel zueinander, sie begegnen sich, prallen zusammen und diskutieren gelegentlich an bestimmten Stellen. An dieser Stelle scheint es, dass bei Zender und seinem Komponieren die Heterogenität nicht allein wirkt, sondern sich darüber hinaus auf die Verfahrensweise, nämlich die Kompositionsstrategie, erweitert. Zenders Aufmerksamkeit gilt dieser konstruktiven Kraft, die aus dem Zusammenstoß entsteht. So ist die Heterogenität, sich aus Gegensätzlichem zusammenzusetzen, ein Kernmoment in seinen Werken. Die musikalische Gestaltung dieser Kraft ist das Zentrum seines kompositorischen Ideals. Sie erscheint deutlich als ein wesentlicher Charakter sowohl im szenischen Bereich inklusive der Handlung, der Figuren und der Ereignisse dieses Musiktheaterwerks als auch in der musikalischen Sphäre, in der sich viele verschiedene Instrumente und Kompositionstechniken vermengen.

Die Heterogenität zeigt sich ferner durch den Einsatz fremder Instrumente oder Installationen als Produkt einer fremden Kultur. Welche sind in diesem Theaterstück angewendet? Wie und mit welcher Kompositions- und Spieltechnik? Wozu dienen sie dem Werk Chief Joseph? Sicher ist, dass sie als exotische asiatische Erscheinungsformen oder Einrichtungen behandelt werden. Was intendiert der Komponist Zender anstatt des obsoleten konventionellen musikalischen Ausdrucks beim Zusammentreffen mit den kulturellen völlig fremden Produkten des fernen Ostasien? Auf diesen Fragen basiert das Thema dieses Musiktheaterwerks: Konfrontation zwischen dem kulturell Eigenen und dem kulturell Fremden.

267 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization“, S. 7. 132

1. Entwurf des Librettos und des Theaters

1.1. Figuren zwischen Geschichten und zwischen Kulturen

Komponist Zender schrieb das Libretto des Musiktheaterwerks Chief Joseph selber. Als Basis dafür wählte er keine literarische Vorlage, sondern ein historisches Dokument: eine Rede, die der als Chief Joseph bekannte Häuptling eines Indianerstammes am 14.01.1879 vor dem amerikanischen Kongress auf Englisch hielt. Diese Rede und die in der Rede dargestellten historischen Ereignisse bilden die Grundlagen für die Handlung dieses Stücks. Da einige Originalzitate der Rede in diesem Musiktheater eingebunden wurden, war es für den Komponisten und Librettisten Zender naheliegend, seinerseits das ganze Libretto auch auf Englisch abzufassen. Dass der Text in englischer Sprache gehalten ist, wirkt in mancher Hinsicht plausibel: Auf der einen Seite dient es als effektive Strategie, den historischen Raum und die Zeit bzw. das Ende des 19. Jahrhunderts auf dem neuen Kontinent Amerika auf bestimmten Bühnen der Gegenwart umzusetzen. Auf der anderen Seite spiegelt dies die Haltung Zenders wider, als Fremder der unbekannten und unvertrauten Kultur zu begegnen.

Dieses Musiktheaterstück Chief Joseph thematisiert das dramatische Spannungsverhältnis zwischen Indianern und Weißen. Die Indianer werden hier jedoch nicht wie in den wildwestromantischen Filmen und der landläufigen Unterhaltungsware schlichtweg als „wilde Tiere“ oder „Barbaren“ dargestellt. Gleichermaßen erscheinen die Weißen nicht eindimensional als „hochentwickelte Menschen“ oder „subversive Eroberer“. Beide stehen sich zudem nicht als „edle Wilde“ und „verdorbene Kulturmenschen“ im Rousseauschen Sinne gegenüber. Hier geht es nicht um die Andersartigkeit nach dem Schema Pol und Gegenpol, sondern um die Schwierigkeit der Kommunikation zwischen den scheinbar gegensätzlichen Kulturen. Denn beide Seiten sind in ihrer eigenen Grundeinstellung gefangen: „Die scheinbar aufgeklärten Weißen sind in ihrer Manie des Machen- und Haben-Wollens, welche die Natur vergewaltigt, genauso eingeschlossen wie die Eingeborenen in ihren magischen Riten“268.

Zender beabsichtigt in diesem Werk nicht, die jeweils unterschiedlich

268 Die bisher zitierten Wörter stammen aus dem Aufsatz des Komponisten selber. Hans Zender: „Zu Chief Joseph“, in: Staatsoper Unter den Linden (Hrsg.), Programmbuch für Chief Joseph, Berlin 2005, S. 4-5, hier S. 4. 133

eingeschlossenen Kulturen in ihrer eingesperrten Situation zu zeigen. Er zitiert Kuno Lorenz’ Ansatz, „Möglichkeiten des Umgehens mit dem Fremden und mit dem Eigenen zu entwickeln, für die es noch gar keine Muster gibt“269, und betont die Wichtigkeit, „ungekannte schöpferische Möglichkeiten in uns selbst zu entdecken“ 270 . Wie bereits festgestellt wurde, gilt sein Interesse nicht den Unterschieden zwischen den gegensätzlichen Kulturen, sondern vielmehr den Interaktionen dazwischen, wie die folgenden Fragen: Wo und wie begegnen sich zwei oder mehrere unterschiedliche Kulturen? Welche Veränderungen resultieren daraus bei einem selbst und bei dem fremden Gegenüber? Entsteht eine „Verfremdung des Eigenen wie auch die zeitweise Identifikation mit dem Fremden“271?

In diesem Kapitel wird szenisch-dramatisch analysiert, wie sich die zentralen Figuren dieses Musiktheaters gestalten, auf welche Weise zwischen einander kommuniziert wird und was trotz alledem als Unlösbares, als Kommunikationsunmöglichkeit bestehen bleibt. a. Chief Joseph

Die Hauptfigur Chief Joseph wird in verschiedene Egos, nämlich Chief Joseph I, II und III, aufgespalten und als „verschiedene Doubles auf die Bühne gestellt“272: Im ersten Akt findet man im historischen Rückblick der Vorgeschichte Young Joseph, im zweiten sieht man den Protagonisten des Stückes Chief Joseph II, der vom Autor aufgrund der wahren Begebenheit als historische Figur eingesetzt wird. Chief Joseph I als Verkörperung der geschichtlich realen Person singt in allen Klagen273, in der seine Rede teilweise zitiert wird. Er besitzt die Aufgabe, die reale Vergangenheit auf die Bühne der Gegenwart zu führen. In der letzten Szene tritt der dritte Chief Joseph den Vorstellungen des Autors zufolge als bewusstes Subjekt auf. Er spielt „eine spezifische, grundlegende und aus der szenischen Handlung herausgehobene Rolle gleichsam als Zeremonienmeister“, mit der spezifischen

269 Kuno Lorenz: „Indische Denker“, S. 26f. zitiert nach Hans Zender: „Das Eigene und das Fremde“, S. 96. 270 Hans Zender, Ebd. 271 Ebd. 272 Dörte Schmidt, „“Wegekarte für Orpheus?“ Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, in: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, Mainz 2007, S. 151-160, hier S. 155. 273 Klage ist einer der sechs verschiedenen Szenentypen, die der Komponist für dieses Stück speziell konzipierte. Die szenischen Eigenschaften jeder Szenenart werden im Kapitel IV. 1. 2. Formplan ausführlich erklärt. 134

Aufgabe, „den Konflikt zwischen Chief Joseph I und II in der Tradition der Ghostdance-Bewegung zu transzendieren“274.

Chief Joseph I

Chief Joseph I ist eine Figur, die in allen sechs Klagen unter Begleitung des koreanischen Instruments Ajeng275 als Solist auf der Bühne platziert wurde. Die in der Klage benutzten Texte sind Auszüge aus der Rede Chief Josephs.

In den Klagen wurde der Veränderung der Gefühle von Chief Joseph I Ausdruck verliehen. In der ersten Klage weist er auf das falsche Verständnis der Weißen hin, Indianer als wilde Tiere zu betrachten. In Klage II beklagt er, dass sowohl die Indianer als auch die Weißen viel Ärger und Blutvergiessen hätten vermeiden können, wenn beide ihre Herzen weiter geöffnet hätten. Der Vorwurf von Chief Joseph I, die Weißen hätten ihr Versprechen gebrochen, wird in der Klage III dargestellt. In der vierten Klage des zweiten Aktes steigert sich das Gefühl des Vorwurfs und entwickelt sich zu einem Lamento: „It makes my heart sick if I remember all the good words and all the broken promises.“276 Die Klage V fungiert als Klimax aller Klagen über das Elend und die Leiden seines Stammes. In der Klage VI besingt er schweren Herzens und voller Kummer die zukünftigen schlechten Lebensbedingungen seines Volks nach der Kapitulation im Krieg mit den Weißen.

Die Texte aller Klagen sind Zitate der überlieferten Rede, so dass der die Texte allein singende Chief Joseph I im imaginären Raum des eigentlich irrealen Theaters die reale Geschichte und die reale historische Person verkörpert.

Young Joseph

Young Joseph verkörpert Chief Joseph II in dessen Jugend und erscheint ausschließlich im ersten Akt. In der ersten Szene des ersten Aktes hat ihn sein Vater Old Joseph Religion, Weltanschauung sowie Achtung gegenüber Mensch und Natur gelehrt. Old Josephs Satz “Earth is our mother. Animals, Plants, all that grows

274 Dörte Schmidt, a.a.O., S. 155. 275 Über die spezifische Verfahrensweise des Instruments Ajeng und die Bedeutung siehe Kapitel IV. 2. 3 (S. 192-195). 276 Hans Zender: Textbuch von Chief Joseph, in: Staatsoper Unter den Linden (Hrsg.), Programmbuch für Chief Joseph, Berlin 2005. (Ursprünglich fehlen Seitenangaben in dem Libretto dieses Programmbuchs. Weitere Fußnoten sind daher ohne Seitenangaben bezeichnet.) 135

around: to thank her, if we take something from her. Then she will love us as her children“, verdeutlicht die grundsätzliche Haltung der Indianer zur Natur, nämlich dass die Menschen und die Natur als Kinder der Mutter Erde, zusammenleben sollen, indem sie sich gegenseitig beistehen. Seine nächsten Sätze “Heaven is our father. The great spirit sees all, hears all, knows all. After our death he will test us, if we are honest: no theft, no lie, no broken treaty! We should treat all men as they treat us.“ weisen auf die Haltung zum Leben an sich und im Zusammenleben mit anderen hin. Demgemäß besitzen Indianer „stammesübergreifend Gastfreundschaft, Aufrichtigkeit, menschliche Würde und geistige Wahrheit“277. Dies geht einher mit der Klage Chief Josephs I, in der das offenbare Missverständnis der Weißen, Indianer als wilde Tiere einzuschätzen, ausgedrückt wurde. Am Ende der ersten Szene prophezeit Old Joseph das brutale Vorgehen der Weißen gegen die Natur und bereitet seinen Sohn Young Joseph darauf vor, das Land zu verteidigen.

In der zweiten Szene vermittelt Young Joseph den elementaren indianischen Gedanke gut. Ihm gegenüber steht der Händler, der die Indianer dazu drängt, ihr Land zu verkaufen. Aus dem Gespräch zwischen Young Joseph und dem Händler erkennt man die gegensätzliche Haltung, ob und inwiefern einige Teile der Natur einer individuellen Person gehören können: „Sell us land.“ (Weiße) vs. “No man owns any part of the earth.” (Indianer).

Im folgenden Indian Song III wurde ein Teil des Gedichtes Toe´osh: A Laguna Coyote Story der indianisch-amerikanischen Schriftstellerin Leslie Marmon Silko (geb. 1948) 278 aus dem Jahr 1973 verarbeitet. Zender benutzte es gekürzt und symbolisch: Im indianischen Mythos ist der Coyote als „eine Gestalt mit vielen Gesichtern, bzw. Tor, Sexprotz, Witzfigur, Magier, Heiliger und Weiser dargestellt. Sehr oft vermischen sich diese Gestalten im einzelnen Text zu einem schillernden Gesamtbild, das dem indianischen Selbstverständnis nach jedoch durchaus nicht widersprüchlich oder inkongruent sein muss“ 279 . Diese Eigenschaft der Indianer müsse weit entfernt vom Kriterium der Moderne und völlig fremd für den westlichen Rationalismus sein. Zender will damit zeigen, wie unterschiedlich das

277 Ilka Seifert: „”I will fight no more forever!“ Chief Joseph, Die Vertreibung der Nez Percé und die Ghostdance-Bewegung“, in: Programmbuch für Chief Joseph, S. 12-15, hier. S. 12. 278 Leslie Marmon Silko ist eine indianisch-amerikanische Schriftstellerin. Sie schrieb einige Romane und Gedichte, die zahlreiche Motive aus der Erzähltradition der Pueblo-Indianer aufgreifen. Vgl. in: Programmbuch für Chief Joseph (Seitenzahl ist im Programmbuch nicht gegeben.) 279 Hans Zender: „Anmerkungen des Komponisten“, in: Programmbuch für Chief Joseph. 136

Selbstverständnis von Indianern und Weißen ist, und inwiefern sich beide Parteien missverstehen.

Chief Joseph II

Während Chief Joseph I als historisch existierende Person die reale Geschichte auf die gegenwärtige Bühne überträgt, besitzt Chief Joseph II als fiktives Ego von Chief Joseph I die Aufgabe, die in der Rede angeführten historischen Ereignisse auf der Bühne imaginär zu repräsentieren. Darüber hinaus übernimmt die Figur Chief Joseph II für die dramatisch-szenische Konstruktion dieses Theaterstücks die besondere Rolle, den Autor Zender zu vertreten. Im gegebenen Fall stellt er stellvertretend für den Autor die grundlegenden Fragen: In der Szene 5, in der Chief Joseph II erstmalig erscheint, stellt er im Gespräch mit seinem Onkel Toolhoolhoolsuite die fundamentale Frage, die sich durch die gesamte Oper zieht: „Why not work together (Weiße und Indianer)?“

In der darauffolgenden Szene 6 ist sich Chief Joseph II, nachdem er von Wacoba die Nachricht vom Tode seines Vaters, Old Joseph, erhalten hat, zunächst nicht sicher, ob er ein guter Häuptling werden kann. Dank der Überredungskünste Wacobas entscheidet er sich dafür, sein Schicksal anzunehmen. Da begegnet ihm Wacoba: „You have to find a peaceful way to stop the whites wasting the country.” Durch Wacobas Stimme wird die Rolle von Chief Joseph II stark hervorgehoben: “You will save our people, you are our sole hope! You are the bridge to the future!“280 Chief Joseph II wandelt sich vom Feigling zum Helden und zu einem Häuptling, der seinen Stamm anführt.

Die drei Council-Szenen machen die Höhepunkte der Konflikte zwischen den Weißen und den Indianern aus. In diesen Szenen setzen sich beide Parteien zusammen und konferieren über den Besitz des Landes. Hier wird insbesondere die Weltanschauung bzw. die Denkweise der Weißen der der Indianer gegenüber gestellt: Der Missionar wie auch Reverend Mr. Spalding und Gouverneur Stevens, die im ersten Council der Szene 3 auftreten, hören allesamt der gegnerischen Partei, den Indianern, nicht zu und nehmen deren abweichende Meinungen nicht an, sondern fordern vielmehr von ihnen, ihrer einseitigen Marschrichtung zu folgen. Während Mr. Spalding noch recht freundlich die Indianer dazu überredet, den

280 Hans Zender: Textbuch von Chief Joseph. 137

Vertrag zu unterschreiben, befiehlt Gouverneur Stevens in herrischem Ton, dass alle roten Männer in abgegrenzte Gebiet zu gehen und dort zu bleiben haben. In diesem Punkt gehen die Meinungen der Indianer auseinander; einige sind mit dem Vorschlag der weißen Männer einverstanden, andere wiederum wollen den Vertrag nicht unterschreiben. Aus diesem Grund hält Gouverneur Stevens Old Joseph vor, dass er sein Volk spalte.

In den Szene 8 und 9 spiegelt sich im Widerstand Chief Joseph II gegen die Weißen die indianische Geisteshaltung und ihr Gedanken gut wider. Besonders in Szene 8 bringen die Indianer ihren Standpunkt zum Ausdruck: „We don’t like your schools, your thinking! We don’t like churches, religion! We don’t like your state, your money!”281 Dies steht in wirkungsvollem Kontrast zur Attitüde der Weißen, die die Indianer bedrängen, ihre westlichen Schulen und Gedanken, Kirchen und Religion sowie gesellschaftlich-politische Systeme zu übernehmen. In Szene 9 (Council 3) entwickelt sich ein komplexes Gespräch zwischen Chief Joseph II, seinem Onkel Toolhoolhoolsuite und General Howard. Die Szene ist einerseits aus der in der Rede erwähnten Besprechung zwischen obigen Figuren rekonstruiert, andererseits aus dem Monolog von Chief Joseph I und aus dem fiktiven Dialog des Präsens der zwei Touristen. Hier steht die kommunikativ verschlossene Haltung General Howards dem offenen Auftreten der Indianer gegenüber. Aus den folgenden Sätzen des Generals lässt sich erkennen, dass er nur wenig Willen zum Dialog aufbringt und vielmehr mit seiner Autorität die Indianer unterwerfen will. Macht seines Amtes wirft er Toolhoolhoolsuite ins Gefängnis.

Chief Joseph II You called us to speak with you. Here we are. Now, General, we are ready to listen! General Howard I will not talk to you now, but tomorrow. 1. Tourist He will not talk now – but invited all to come. He gives a party!! Chief Joseph I I could not bear to see my wounded men and women suffer any longer. 1. Tourist We have to find an earlier part of this story. 2. Tourist No, for God´s sake, don´t let´s repeat all this! […] General Howard Shut up! I don’t want to hear any more of such talk. The law says you shall go upon the reservation to live, and I want you to do so, but you persist in disobeying the law. If you do not move, I will take the matter into my own hands, and make you suffer for your disobedience. Toolhoolhoolsuite Who are you, that you ask us to talk, and then tell me that I shan´t talk? Are you the great spirit? Did you make the world? Did you make the sun? Did you make the rivers to run for us to drink? Did you make the grass to grow? Did you

281 Ebd. 138

do all these things, that you talk to us as though we were boys? If you did, then you have the right to talk as you do! General Howard You are an impudent fellow. I will put you in the guard-house.282

In Szene 10 betont Chief Joseph II, dass die Indianer immer freundlich zu den weißen Männer waren und dass sie niemals Blut von Weißen an ihren Händen haben werden. Zudem fleht er den General an, keinen Krieg zu beginnen, damit niemand getötet wird. Trotz seines inständigen Appellierens und Flehens bemerken die Zuschauer anhand des Berichts des zweiten Indianers, dass der Krieg längst begonnen hat. In Szene 11 gibt er letztendlich den Kampf auf: „From where the sun now stands, I will fight no more.“283

In der letzten Szene 12 kommt es zur Konfrontation zwischen Chief Joseph I und Chief Joseph II, den beiden getrennten Egos ein und derselben Figur. Chief Joseph II beginnt das Gespräch mit dem Zitat „I know that my race must change.“, das der (realen) Rede von Chief Joseph I entstammt und in der Rede mit dem letzten Satz von Chief Joseph I in der Klage VI zusammenhängt. Er sagt zu Chief Joseph I: “The speech I will give in Washington very soon, and you have been reading it all the time”. Daraus lassen sich bedeutende Informationen zur Identifizierung der Figur Chief Josephs ablesen: Chief Joseph I hat als historische Persönlichkeit die Rede im Parlament gehalten und sie in der Klage dieses Theaterwerks wiederholt. Chief Joseph II ist als fiktive Figur im Werk in der Vorgeschichte der Rede angesiedelt. Während Chief Joseph I die Rede ohne jegliche Veränderung durch den Autor direkt zitiert, bezweifelt Chief Joseph II einige ihrer Teile. Letztlich will er die Ergebnisse der Vergangenheit verändern oder korrigieren. Er ist eine Figur, die auf der gegenwärtigen Bühne als zeitlich-räumlich begrenztes Feld in das vergangene Geschehen der realen Geschichte eingreift, und die Alternative zur Konsequenz der historischen Ereignisse abklopft. Tatsächlich stellt er stellvertretend für den Komponisten Fragen an den Zuhörer.

CHIEF JOSEPH II “I know that my race must change.” So our speech continues, Joseph: the speech I will give in Wahington very soon, and you have been reading it all the time. But is that the truth? Should not the white man change? CHIEF JOSEPH I Wait a moment, Joseph. “We cannot hold our own with the white men as we are.” CHIEF JOSEPH II So it’s written in our document, and the next phrase says: “We ask that the same law shall work alike for all men.” But the law of the white man, gives it that guarantee? I think it is only an instrument of his power, and deprives us of our freedom.

282 Ebd. 283 Ebd. 139

CHIEF JOSEPH I Let me be a free man – and I will obey every law, or submit to the penalty. CHIEF JOSEPH II It is this passage of our speech that is the real capitulation. I have to change it. CHIEF JOSEPH I This is a holy document – don’t you dare! CHIEF JOSEPH II Give me the text right now, otherwise you will be a traitor, a conformist, a collaborator!284

Durch ihr Gespräch haben die Zuschauer die Möglichkeit, über eine Alternative der Geschichte nachzudenken, obwohl die Realität tatsächlich gar nicht veränderbar ist.

Chief Joseph III

In der letzten Szene dieser Oper, dem Indian Song VI, tritt der dritte Chief Joseph als bewusstes Subjekt nach der Vorstellung des Autors auf. In Gestalt der anderen Egos Chief Josephs führt er nicht nur Chief Joseph I und II, sondern auch im weiteren Sinne uns, bzw. die Zuhörer und Zuschauer, in die sogenannte ekstatische Ghostdance-Bewegung285 ein: “I will teach you how to dance a dance and I want you to dance it.”286

Zender überträgt der Figur Chief Joseph III den visionären Charakter in der Ghostdance-Bewegung und gibt ihr noch einen stellvertretenden Aufruf zu Gewaltlosigkeit und Frieden mit: „You must not hurt anybody or do harm to anybody! You must not fight! Do right always! Lazarus, come out! Come out of your graves, you all!“287 Der Meinung der Musikwissenschaftlerin Schmidt zufolge wird er „eine spezifische, grundlegende und aus der szenischen Handlung herausgehobene Rolle gleichsam als Zeremonienmeister“ 288 spielen, mit der spezifischen Aufgabe, den Konflikt zwischen Chief Joseph I und II zu überwinden.

284 Ebd. 285 Die Bewegung hatte alle in Reservaten eingeschlossenen nordamerikanischen Indianerstämme am Ende des 19. Jahrhundert erfasst. In der (realen) Geschichte glich die Ghostdance-Bewegung am Anfang einem friedlichen, zeremoniellen Geistertanz: Ein Kreis wurde aus Männern und Frauen formiert, indem sich die Beteiligten an den Händen hielten und zum stetigen Schlag der Trommeln die vorgeschriebenen Geistertanzlieder, eine Folge von monotonen Beschwörungen, intonierten. Ursprünglich prophezeiten die an der Ghostdance beteiligten Indianer die Rückkehr der Toten. Die Ghostdance-Bewegung verbreitete sich und erlebte um 1890 nach rund 20 Jahren eine starke Renaissance. Die Bewegung, die ihrem Chrakter nach friedfertig war, wurde von den Weißen als Bedrohung missverstanden und misstrauisch verfolgt. Die Situation eskalierte, als am 29. Dezember 1890 bei einem solchen Ghostdance-Treffen am Wounded Knee über 200 Sioux – Kinder, Frauen, Männer und alte Menschen – von amerikanischen Soldaten getötet wurden. Vgl. Ilka Seifert: „”I will fight no more forever!“ Chief Joseph, Die Vertreibung der Nez Percé und die Ghostdance- Bewegung“, S. 11. 286 Hans Zender: Textbuch von Chief Joseph. 287 Ebd. 288 Dörte Schmidt: „“Wegekarte für Orpheus?“ Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, S. 155. 140

Die Stimmen von Chief Joseph I, II und III sind differenziert, am Ende dieser Szene bzw. dieses Musiktheaters wurden sie schließlich unisono übereingestimmt.

[...] am Ende geraten sogar Chief Joseph und sein Double in eine Auseinandersetzung, bemerkenswerterweise in einer Sprechszene – hier setzt die Musik ganz aus. Zu lösen scheint sich das Ganze nicht, aber wie ein deus ex machina tritt hier nun ein dritter Chief Joseph auf und transzendiert alles in einem rituellen Tanz, dessen symbolische Kraft jene indianische Friedensbewegung einte, der die amerikanische Armee mit dem berühmt-berüchtigten Massaker am „Wounded Knee“ meinte begegnen zu müssen.289

Notenbeispiel 22. Finale: Indian-Song VI (Ghostdance-Bewegung)

289 Ebd., S. 157. 141

b. Zwei Touristen

Der Autor Zender bietet den Zuschauern die Bühnenfiguren der beiden Touristen gleichsam als Alter Ego an, die „Vermutungen darüber anstellen, an welchen Ort man denn nun hier geraten sei“290. So übernehmen sie die Aufgabe, die Figuren realer Begebenheiten aus vergangenen Zeiten den Zuschauern dieses Musiktheaters in der Gegenwart vorzuführen. Manchmal ergänzen sie die Gespräche der historischen Figuren, manchmal übermitteln sie die Meinung des Autors. Vor allem bieten sie den Zuschauern eine kritische Distanz zum Geschehen, damit diese sich nicht im fiktiven Theater verlieren.

Im Rezitativ I am Anfang der Oper begegnen die beiden Touristen Chief Joseph: Hier erscheint Chief Joseph I den beiden Touristen, die sein Grab als ein historisches Denkmal besuchen wollen. Er führt sie in seine persönlichen Erfahrungen und auch in die vergangene Geschichte ein: „Come with me, my friends!“. Er lädt sowohl die Touristen als auch die Zuschauer dazu ein, aus der Gegenwart in die Vergangenheit bzw. von einem vertrauten Ort zu einer fremden, ungewöhnlichen Kultur zu reisen.

Die beiden Touristen vertreten als jeweils gänzlich unterschiedliche Typen völlig verschiedene Standpunkte: Während der zweite Tourist als Darwinist und Rationalist dieses im Theater dargestellte historische Ereignis ausschließlich als indianische Zirkusshow betrachtet, sieht es der erste Tourist – vom Typ her ein Träumer und Dichter – als Ausgangpunkt der moralischen Lehre. Im Rezitativ II stellt sich der erste Tourist auf die Seite der naturnahen Indianer, wohingegen der zweite Tourist die fortschrittliche Weltanschauung vertritt:

2. Tourist The show is quite eccentric. But I don´t like the intention of the entertainer, to give a bad conscience to the spectator. 1. Tourist For me it´s not entertainment, not at all, but a help to discern clearly our old sins. We destroyed nature and a noble culture. 2. Tourist There was no other possibility! Or should we have tried to stop our progress? All Indians of the world will not be able to stop me from giving a salute to progress!291

In diesen zwei Rezitativen verharren beide Touristen in ihrer Position als Zuschauer und vermitteln ihre gegensätzlichen Standpunkte. Die konträre Sicht der Indianer und der Weißen, sowohl auf die Menschheit als auch auf die Welt, deutet sich ein weiteres Mal im Gespräch zwischen den beiden Touristen in Rezitativ III an:

290 Ebd., S. 154. 291 Hans Zender: Textbuch von Chief Joseph. 142

2. Tourist It’s our way to regulate human affairs. The Indians don’t even know its significance. Therefore they have no legal right! They have another understanding of the world! 1. Tourist Yes, and a better one! You should hear the arguments of Joseph himself!292

Schmidt bewertet die Situation so, dass sie im dritten Rezitativ „schließlich die Distanz des Betrachters verlieren“, indem „sie selbst in die Verhandlungen um das Verhältnis der Kulturen mit einbezogen werden und in den Strudel der Argumentationen geraten“293. Aus diesem Grund kommt der Szenentyp Rezitative nur für die Touristen in diesem Theaterstück nicht mehr vor. Stattdessen reden sie bei anderen Szenentypen wie Szene oder Klage an dem Dialog zwischen den anderen Theaterfiguren wie Chief Joseph und den Weißen vorbei.

In der darauffolgenden Szene 8 befinden sich beide Touristen in der Gesellschaft von Chief Joseph II; Der Tourist I wiederholt mitunter die Worte von Chief Joseph II oder ergänzt sie; der Tourist II hingegen widerlegt ihn Besonders am Ende der Szene 8, das als Rezitativ beigefügt ist, spricht der zweite Tourist, der die Position der Weißen vertritt, mit der fiktiven Figur Chief Joseph II nicht nur über die Zwietracht zwischen den Weißen und den Indianern, sondern stellt auch eine Frage zur Beziehung zwischen Kunst und Geld als Macht, Ordnung und Freiheit: „There would be no art at all without money! [...] money is for me it´s power, it´s order – freedom!“294 Der Komponist Zender weist durch die Stimme des zweiten Touristen auf die heutige verdorbene Kunst (ohne Geld keine Kunst) hin.

Während jede der ersten vier Klagen des zweiten Aktes aus einem Sologesang von Chief Joseph I unter Begleitung des Ajengs besteht, sind den Klagen V und VI im dritten Akt die Gespräche der beiden Touristen nach dem Sologesang beigefügt. In der Klage V beklagt Chief Joseph I in einem sehr ausdrucksvollen Satz: „I could not bear to see my wounded men and women suffer any longer…”295 und vermittelt den Zuschauer somit seinen Gemütszustand. Seine Klage wurde vom folgenden Gespräch der beiden Touristen unterbrochen:

Chief Joseph I I could not bear to see my wounded men and women suffer any longer… 2. Tourist Now we should go, don´t you think? The next scenes will be bloody.

292 Ebd. 293 Dörte Schmidt: a.a.O., hier S. 156 ff. 294 Hans Zender: Textbuch von Chief Joseph. 295 Ebd. 143

1. Tourist No, we will remain and endure the cruelties. It´s not good to look away.296

Der zweite Tourist zeigt sich „an der Vorstellung des Theaters festhaltend“ und „der andere entgegnet“. Die beiden Touristen bleiben und setzen ihre Auseinandersetzung über das Geschehen fort.297 Durch ihr Gespräch geht die Klage V zur Szene 9 über. Das lässt die Zuschauer nicht nur Abstand von den persönlichen Emotionen der Figur Chief Joseph I gewinnen, sondern nimmt sie auch aus der Klage als dem lyrischen Bereich zur Szene als dem narrativen Raum für die historische Ereignisse mit.

In der Szene 9 übernehmen die beiden Touristen eine spezielle Rolle, die es ermöglicht, Zeit zu erfahren: Nach dem Gespräch zwischen Chief Joseph I und General Howard dreht der 1. Tourist die Zeit zurück, indem er das Gespräch wiederholen lässt: „We will make him repeat it. (mit einer geheimnisvollen Manipulation dreht er die Szene zurück.)“298 Hier wird ihm die Macht des Autors übertragen, in die Struktur des Stücks einzugreifen. Er versucht immer noch, durch das Zurückdrehen der Zeit die historischen Geschehnisse zu verändern. Demzufolge ist der erste Tourist in seiner Auffassung von Zeit eng mit der der Indianer verbunden, Zeit als etwas nicht-lineares anzusehen. Der zweite Tourist vertritt die Sichtweise der Weißen, bei der aufgrund des modernen Rationalismus Zeit auf einer geraden Linie von der Vergangenheit in die Zukunft verläuft. Anhand der Diskussion dieser beiden Kontrahenten lässt sich feststellen, dass der Standpunkt der Indianer und der Weißen unterschiedlicher nicht sein könnte.

In einer zweiten Funktion geben sie zusätzlich ergänzende Erklärungen zu den Gesprächen zwischen Szenenfiguren und kritische Kommentare für den Zuschauer ab: Der erste Tourist kritisiert mit „This is pure provocation! Infamy!“ direkt General Howards Aussage („I will not talk to you now, but tomorrow!“) und fordert den zweiten Touristen dazu auf, grundsätzlich erst einmal zuzuhören: „You shall hear all!“ Der erste Tourist vertritt die Position der Indianer, spricht aber mit dem Zuhörer nicht in der Vergangenheit sondern zum Zeitpunkt der Gegenwart. Daraus lässt sich entnehmen, dass die Auseinandersetzung zwischen Indianern und Weißen nicht nur in der Vergangenheit existierte, sondern dass sich diese Problematik im weiteren Sinne bis in die Gegenwart zieht. Gleichermaßen lässt sich dieses Beispiel

296 Ebd. 297 Vgl. Dörte Schmidt: a.a.O., S. 157. 298 Hans Zender: Textbuch von Chief Joseph. 144

auch auf das Muster der Kommunikationsschwierigkeit zwischen dem Eigenen und dem Fremden beziehen.

Trotz der langen Diskussion mit dem ersten Touristen beharrt der zweite Tourist unverändert auf seinem Standpunkt: “I see the pictures in my own manner. Repeat them a thousand times: You will never convince me!” 299 Es symbolisiert die Verständnislosigkeit zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Kulturen. c. Schlüsselkonzept: Begegnung der beiden Touristen mit Chief Joseph

Schmidt sieht den Auftritt der beiden Touristen und ihr Zusammentreffen mit Chief Joseph „als Schlüsselkonzept“ zum Verständnis dieses Stücks300 : Sie bringt den Begriff „Informanten“ als „Squanto-Effekt“ 301 des Ethnologen und Kulturwissenschaftlers James Clifford ein: „Hierbei handelt es sich um komplexe Individuen, deren Funktion gewöhnlich darin besteht, das ‚kulturelle‘ Wissen zu vermitteln und zugunsten dieses kulturellen Wissens zu argumentieren.“302 Schmidt bestimmt die Figur des Chief Joseph als Prototyp eines solchen Informanten, da „er am Beispiel der Vertreibung und des Untergangs seines Volkes das Problem des Scheiterns einer Verständigung zwischen den Kulturen, das Misslingen von (politischen) Verhandlungen über das Verhältnis der Kulturen in der Rede detailliert vorführt“303. Bei ihr erweitert sich die Bedeutung dieser Figur mit der Vermittlung des kulturellen Wissens um die Hinzufügung der Dimension des Historischen, indem Chief Joseph „nicht nur aus einer geographischen Ferne, sondern überdies aus einer vergangenen Zeit kommt“304.

Chief Joseph wird zum imaginären Reiseführer in die amerikanische Geschichte der Auseinandersetzung von usurpatorischen Einwanderern und indianischen Ureinwohnern, zu einer jener zwischen den Kulturen – und hier sogar zwischen den historischen Zeiten und gar zwischen Diesseits und Jenseits – wandelnden Auskunftspersonen, die der Kulturwissenschaftler James Clifford besonders herausstellt als Existenzform jenseits vermeintlicher kultureller Essentialismen, bzw.

299 Ebd. 300 Dörte Schmidt: a.a.O., hier S. 154. 301 Squanto war ein Indianer, der 1620 die Pilger in Plymouth, Massachusetts, begrüßte, ihnen durch einen harten Winter half und der Englisch gut sprach. Clifford führt Squanto als das typische Beispiel für die problematischen Figuren an, die „Informanten“, weil er seine eigenen „ethnographischen“ Neigungen hat und gleichzeitig interessante Reiseberichte vorweisen kann. Für Details siehe James Clifford: „Kulturen auf der Reise“, in: Karl H. Hörnig und Rainer Winter (Hrsg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a. M. 1999, S. 476-513, hier S. 478. (Engl. Orig. James Clifford, „Traveling Cultures“, in: Lawrence Grossberg, Cary Nelson und Paula Treichler (Hrsg.), Cultural Studies, New York/London 1992, S. 96-112) 302 Ebd., S. 478. 303 Dörte Schmidt: a.a.O., hier S. 155. 304 Ebd. S. 155. 145

authentischer und in ihren Wurzeln bestimmter Existenzen.305

Hier scheint, dass unter der Führung von Chief Joseph die Touristen eine kulturelle Fremde und zeitliche Ferne besuchen. Schmidt ist der Meinung, dass sich Zender ebenso wie Clifford für derartige Begegnungen zwischen dem Informanten Chief Joseph und den zwie Touristen interessiert:

Zender legt mit seiner Entscheidung für „Touristen“ als reisende Akteure ein spezifisches Verhältnis dieser „Entdecker“ zu ihrer Reise fest, das eben jenes „von außen Durchqueren“ betont und im Grunde jede Form einer essentialistischen Identifikation mit der bereisten Kultur ausschließt bzw. zur Illusion erklärt. Indem Zender zwei Touristen einführt, die gleichsam in Auseinandersetzung miteinander ihren Weg suchen, bricht er nicht nur die Einheit einer Identifikationsfigur für den Zuschauer auf, sondern setzt Alterität als ein Konzept dagegen, in dem sich das Wirklichkeitsverhältnis der Figuren als verhandelbar erweist.306

Der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman (geb. 1925) bestimmt den Begriff des „Pilgers“ als eine Chiffre für die Lebensweise der Moderne. So ist er der Auffassung, dass die Moderne dem Pilger „eine zukunftsträchtige neue Wendung“ gibt. 307 Nach ihm zeichnet der Pilger sich dadurch aus, dass die Wahrheit immer andernorts liegt. Für die Pilger ist „‘Hier‘ das Warten, ‘Dort‘ die Befriedigung“ 308 . Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han (geb. 1959) weist auf Baumans Pilger hin, „der kein Zu-Hause hier hat, und der zu einem besseren Hier fortschreiten, statt zum Dort unterwegs zu sein“309. Ihm wohnt „das Begehren nach einer endgültigen Ankunft“310 inne.

Die zwei Touristen in Chief Joseph wollten das Grab von Chief Joseph als Monument besuchen, weshalb ihr Verhalten dem des Pilgers bei Bauman ähnelt. Als Reiseziel erscheint hier das Grab von Chief Joseph als Symbol der fremden, indianischen Kultur und der fernen Vergangenheit. Beides bedeutet jedoch für die Touristen in diesem Werk weder eine endgültige Ankunft, die sie erreichen müssen, noch ein Reiseziel, an dem sie sich ansiedeln wollen. Sie wissen bereits, dass „eine endgültige Ankunft“ „keine zukunftsträchtige neue Wendung“ garantiert. Sie suchen zwar den Kitzel des Fremdartigen, den sie aber abschütteln können, sobald

305 Dörte Schmidt: „“Die Bilder werden neu entdeckt, aber als Zeichen, die der Vergangenheit angehören.“ Zenders Musiktheater und die Instanz der Geschichte“, in: Werner Grünzweig, Jörn Peter Hiekel und Anouk Jeschke (Hrsg.), Hans Zender. Vielstimmig in sich (Archive zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Bd. 12), S. 77-89, hier S. 86. 306 Dörte Schmidt: „“Wegekarte für Orpheus?“ Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, S. 156. 307 Zygmunt Bauman: Flaneur, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997, S. 136. 308 Ebd., S. 142. 309 Byung-Chul Han: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005, S. 44. 310 Ebd. S. 45. 146

sie genug haben. In diesem Punkt kann man Zenders zwei Touristen in Baumans Sinn als einen Typ der vier Nachfolger des Pilgers – bzw. Flaneur, Vagabund, Tourist und Spieler – betrachten. Der Tourist kann mit der Lust an neuen Erfahrungen freiwillig unterwegs sein. Auch die Touristen des Chief Joseph besuchen das Grab aus Neugier und auf der Suche nach neuen Erfahrungen des Fremden und Fernen.

Es geht hier aber nicht um den Prozess bis zum Kontakt mit Fremden, sondern um die bleibende Aufgabe nach der Begegnung mit Anderen. Beim beobachtenden Erfahren des Unvertrauten hatte der erste Tourist „Sehnsucht“, der zweite Tourist hingegen etwa bis zum dritten Rezitativ „Furcht“. Im Verlauf dieses Musiktheaterwerks jedoch verliert sich die Distanz der Beobachter; sie nehmen das ihnen auf ihrer Reise begegnende Fremde als ihre eigene Erfahrung an und akzeptieren es schließlich als ihre Aufgabe, die aus der vergangenen Historie aufgeworfene unterschiedliche Thematik zu vergegenwärtigen. In diesem Sinne ähneln sie eher Hans Begriff des „hyperkulturellen Touristen“311. Er „lebt ganz im Präsens oder bewohnt das Hiersein“. Ohne die Sehnsucht nach dem Dort und die Furcht vor diesem bereist er das globale Hier. 312 So wird ihr Reiseziel als ein kulturell-historischer Raum „von außen her durchquert“313 und daraus neu entdeckt. In diesem kompletten Vorgang vermittelt der „Informant“ Chief Joseph dem reisenden Subjekt, den Touristen, die scheinbar gegensätzlichen kulturellen Erkenntnisse und die zwischen Vergangenheit und Gegenwart sprunghaft schwingenden historischen Dimensionen. Mit Chief Josephs Hilfe konfrontieren die zwei Touristen unmittelbar die Fremdheit als ihre Eigenen, nämlich die fremde indianische Kultur und die ferne Vergangenheit. Auf der Grundlage der vermittelten kulturellen Erkenntnisse und historischen Dimensionen helfen sie bei der Erweiterung des persönlichen Horizonts. Ziel des Komponisten Zender könnte sein, die Touristen als unser Selbstporträt im „Hier und Jetzt“, den Chief Joseph als Komponisten oder Künstler, der sich in Richtung der Neuen Musik oder im weiteren Sinn der Künste in unserer Zeit orientiert, erscheinen zu lassen.

311 Ebd. S. 46. 312 Vgl. Ebd., S. 46-47. 313 James Clifford: a.a.O., S. 489. 147

I. 2. Formplan: die sechs verschiedenen Szenenarten

Die Eigenart des Stücks Chief Joseph, sich nicht als Oper, sondern als Musiktheater zu definieren, basiert vor allem auf dem vom Autor komplex angelegten Formplan: Dieses Musiktheaterwerk in drei Akten besteht aus 16 Szenengruppen. Jede Gruppe setzt sich jeweils unterschiedlich aus den insgesamt 37 einzelnen Szenen zusammen. Die Szenen haben sechs verschiedene Szenentypen (Leer-Szene, Szene, Rezitativ, Indian-Song, Klage, Rotation), in denen sich die unterschiedlichen szenisch- musikalischen Eigenschaften charakteristisch widerspiegeln. Das heißt, in diesem Stück wurde mittels verschiedener Schreibweisen am Formentwurf der Gattung, des Musiktheaters experimentiert (Vgl. Tabelle I). Schließlich ergibt sich eine Kombinatorik aus den sechs verschiedenen Szenenarten: Anders als die Oper, in der der szenische und musikalische Verlauf im Allgemeinen entwickelnd ist, zeigt sich eine andere, nämlich kombinatorische Eigenschaft. Ein wichtiger Grund hierfür scheint zu sein, dass Zender sowohl als Komponist als auch als Librettist die szenischen Dimensionen mit den musikalischen Ebenen gleichzeitig und komplex konzipiert und realisiert hat.

Zusätzlich wurden seinem eigentümlichen Formplan andere szenische Elemente eingepflanzt: Zum einen verlaufen die verschiedenen Zeitstränge – die damalige Vergangenheit, in der sich die Hauptereignisse der Handlung abspielten, und die Gegenwart, in der zwei Touristen als Beobachter in die vergangene Geschichte eingreifen wollen – aber nicht linear, sondern vermischen sich in Form von Zeitsprüngen. Daneben wurden verschiedene gegensätzliche Ausrichtungen zwischen Indianern und Weißen oder zwischen den beiden Touristen eingearbeitet, wie z. B. naturverbunden vs. naturzerstörend, Verharren in der Tradition vs. Fokus auf den Fortschritt etc. An dieser Stelle ergibt sich ebenfalls ein komplex intendiertes Mixtum compositum aus verschiedenen Elementen. Dieses Kapitel zeigt auf, welche szenisch-dramatisch-theatralischen Besonderheiten jeder Szenentyp aufweist, wie sie sich mit unterschiedlichen Zeitpunkten und verschiedenen Aspekten strukturell komplex zusammensetzen und auf welche Art und Weise sie dem gesamten Werk dienen.

148

Tabelle 17. Verlaufsgrafik für Chief Joseph314

1. Akt

Introduktion

1 2 3

Leer-Szene 1 Indian Song I Rezitativ I Klage I Szene 1 Indian Song II

A B A B A B

4 5

Klage II Szene 2 Indian Song III Leer- Szene 3 Klage III Szene 4 Szene 2 (Council 1)

A B C A B C D

6

Rezitativ II Rotation 1

A B

2. Akt

7 8 9

Leer-Szene 3 Klage IV Szene 5 Szene 6 Leer-Szene 4 Szene 7 Indian Song IV

A B C A B C

10 11

Rezitativ III Szene 8 Rotation 2 (Council 2)

A B

3. Akt

12 13

Leer-Szene 5 Klage V Szene 9 Leer-Szene 6 Szene 10 Indian Song V Leer-Szene 7 (Council 3)

A B C D A B C

14 15 16

Rotation 3 Szene 11 Klage VI Szene 12 Indian Song VI (Sprechszene) (Ghost Dance)

A B A B Finale

314 Verlaufsgraphik, in: Programmbuch für Chief Joseph, S. 9. 149

Es ist eine symmetrische Struktur erkennbar, obwohl Konstruktion und Reihenfolge der Szenenarten in jeder Szenengruppe nicht vollkommen symmetrisch sind: die Szenengruppe Nr. 8, bzw. Szene 6, fungiert als eine Achse und die Szenengruppe Nr. 11 bildet eine Ausnahme. a. Leer-Szene

Nicht nur der Anfang des gesamten Stücks wird mit einer Leer-Szene eingeläutet, sondern auch jeder einzelne Akt. Das heißt, die Leer-Szenen üben die Funktion aus, jeden Akt zu eröffnen und die Handlung beginnen zu lassen. In diesem Sinne ist der Mechanismus der Klang-Installation, Shi-shi-o-do-shi, als Zeitgeber unerlässlich, um die periodischen Schläge auszulösen. 315 Durch die Schläge dieser Anlage werden aus dem Schweigen musikalische Klänge wie akustische Effekte und rhythmische Ereignisse abgeleitet. Diese Leer-Szenen vermitteln zwischen Stille und Klang: sie veranlassen den Zuhörer, aus dem Schweigen auszubrechen und sich mit den rhythmisch-akustischen Ereignissen ohne Bezug auf äußerliche Dinge, szenische Elemente wie Figuren, Handlung, Aktion usw., auseinanderzusetzen. Über den Szenentyp sagte der Komponist selber, dass die Leer-Szenen „musikalisch lediglich disparate Klänge aus dem Schweigen schneiden, deren Art und Ursprung dem Hörer verborgen bleibt“316.

Die Leer-Szene als ein Szenentyp in Chief Joseph bedeutet wortwörtlich, dass die Bühne leer bleibt. Die insgesamt sechs Leer-Szenen verlaufen nicht nur ohne Anwesenheit von Bühnenfiguren, einer Handlung oder einem szenischen Ereignis, sondern auch ohne die geringste Bühnenaktion. Das heißt, sie bieten „als bewusste Gegensätze zu allen dramatischen Akzenten Raum zur stillen Reflexion“ 317 , dadurch unterscheiden sie sich von anderen Szenenarten. Ohne die szenischen Ereignisse kann der Zuschauer ausschließlich mit akustischen Ereignissen konfrontiert werden 318 : In den Leer-Szenen ohne szenische Materialien konzentrieren sich die akustischen Ereignisse besonders auf rhythmische Eigenschaften: Eine traditionelle Installation der japanischen Gartenkultur „Shi- shi-o-do-shi“319 schlägt wie ein Schlaginstrument regelmäßig alle 25 Sekunden, so

315 Vgl. Dörte Schmidt: „“Wegekarte für Orpheus?“ Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, S. 151-160. 316 Hans Zender: „Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph“, S. 99. 317 Jörn Peter Hiekel: “Clash of Civilization”, S. 7. 318 Hans Zender: „Anmerkungen des Komponisten“, in: Programmbuch für Chief Joseph. 319 Der Ursprung und der Mechanismus dieser Installation werden im nächsten Kapitel IV. 2. 2. 150

dass sich einige metrische Perioden bilden. Jede Leer-Szene enthält mindestens zwei (in den Leer-Szenen 5 und 6) bzw. drei Perioden (in den Leer-Szenen 1, 2, 3, 4 und 7). Daraus ergibt sich ein zeitliches Muster.

In diesem von der Shi-shi-o-do-shi abgeleiteten periodischen Rahmen bilden sich in jeder Leer-Szene jeweils unterschiedliche rhythmische Ereignisse: In der Leer- Szene 1 schlagen sechs Holzbalken unregelmäßig durcheinander. In der Leer- Szene 3 am Anfang des zweiten Aktes kommen neun Flexaton mit jeweils unterschiedlichen Tempoangaben simultan. In der Leer-Szene 5 zu Beginn des dritten Aktes vermischen sich die Klang- und Geräuscheffekte aus zwei Holzbalken und Schritten hinter der Bühne. Die zwei Perioden in der Leer-Szene 6 des 3. Aktes teilen sich wieder in kleinere Abschnitte, in denen Schleich-Schritte und Schläge jeweils bestimmte Proportionen haben, und in der die symmetrische Struktur zum Ausdruck kommt.

Tabelle 18. zwei Perioden in der Leer-Szene 6 (2 x 25 Sekunden)

Periode I

Schleichen (6) (10) (14) (18) (22) rechts

Schläge (7) (14) (21)

Periode II

Schüsse (1)

Schleichen (2) (5) (8) (11) (14) (17) (20) (23) links

Schleichen (7) (9) (13) (17) (21) rechts

Schläge (3) (10) (15 1/4)320 (17) (24)

ausführlich behandelt. 320 als Ausnahme hinzugefügt. 151

Außer diesem rhythmischen Charakter sind einige klanglich-akustische Effekte beigefügt: In der Leer-Szene 2 tritt der Falsetto Tenor auf, der im Zusammenhang mit dem Indian-Song III, in dem Indianer das Heulen von Coyoten mit vielen symbolisierten Gesichtern wie z.B. Tor, Sexprotz, Witzfigur, Magier, Heiliger und Weiser darstellen. Dazu bringen die überall auf der Bühne installierten Lautsprecher verschiedene Geräusch-Effekte und unregelmäßige Impulse hervor. In der letzten Leer-Szene 7 überlagern sich periodische Rhythmen von entfernten Luftgeräuschen mit schneller werdenden, sich in Richtung Hinterbühne entfernenden Schritten sowie Regen-Rauschen.

In der ersten Leer-Szene sind die Klang-Installation und sechs Holzbalken auf der Seiten- und Hinterbühne platziert und bleiben somit den Blicken der Zuschauer verborgen. Der Ansicht von Schmidt zufolge gelingt es Shi-shi-o-do-shi und den Holzbalken auf diese Weise, „in der Zeit einen Raum zu entfalten und gleichsam mit unsichtbaren Grenzen zu einen“321. Hiekel meint, dass „die Leer-Szenen als bewusste Gegensätze zu allen dramatischen Akzenten Raum zur stillen Reflexion bieten“322. Daher ist zu vermuten, dass Zender die rein rhythmisch-geräuschhafte Leer-Szene jedoch vor allem als eine Art Übergangsraum nutzt, um aus der Stille zum Klang überzuleiten und den Zuschauern eine Bilderwelt für die Bühne zu vermitteln.

321 Dörte Schmidt: „“Wegekarte für Orpheus?“ Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, S. 151. 322 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization“, S. 7. 152

Notenbeispiel 23. Leer-Szene 1

b. Klage

In der Szenenart Klage wird die Rede Chief Josephs vor den amerikanischen Kongressabgeordneten aus dem Jahr 1879 teilweise ohne Umarbeitung zitiert. Zender dient diese Rede als Quelle und Grundgerüst für die Gesamtstruktur dieses Theaterwerks.

153

In diesen Teilen der Klagen werden verschiedene Gefühlseindrücke des Titelhelden Chief Joseph I dargestellt. Es geht z. B. um das Leid über das Missverständnis der Weißen in Bezug auf die Indianer, die Klage über den Widerruf des Vertrags seitens der Weißen, und das Lamento um sein totes Volk. Im Vergleich zu anderen Szenenarten vermitteln die äußerst ausdrucksvollen Abschnitte der Klagen seine Gefühle sehr effektiv durch Schwingungen in relativ breitem Tonumfang und Anwendung eines vornehmlich flexiblen Tempos. So bilden sie den textlichen Kern dieser Oper. Durch die Intensität und Kraft dieser Rede lässt sich der Komponist auf ein Thema ein, das sich größtenteils von der eindimensionalen Schwarz-Weiß- Logik in westlichen Unterhaltungsstücken distanziert.

Die Klage wird nicht vom ganzen Orchester, sondern nur vom koreanischen Saiteninstrument „Ajeng“ 323 begleitet, das auf der Bühne räumlich immer neben Chief Joseph I platziert ist und ihn das ganze Stück hindurch musikalisch unterstützt. Die unreine, kräftige und spröde Klangfarbe dieses Instruments spielt eine wichtige Rolle dabei, die „pathetische Seite“ 324 dieser Oper zu markieren, die vor allem aus dem aus der Rede zitierten Text der Klage entstanden ist. Im Notenbeispiel 2 sieht man die bezeichnende Klangfarbe, nämlich rau und kratzend, die mit der oft wechselnden Dynamik und dem breiten Vibrato akzentuiert ist.

323 Weitere Ausführungen zu diesem Instrument sind im Kapitel IV. 2. 3. noch ausführlicher zu finden. 324 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization“, S. 10. 154

Notenbeispiel 24. Klage II c. Indian Song

Die sechs Indian Songs laufen als poetischer Bestandteil nach ähnlichem Prinzip der Szenenart Klage ab. Während die Klage jedoch nur eine Hauptfigur in Person des Chief Joseph I beinhaltet, besitzen die Indian Songs verschiedene Stimm- Personen wie den Sopran Wacoba im ersten, Old Joseph im zweiten, Young Joseph im dritten sowie weitere Indianer im vierten und fünften Stück. Im finalen Indian- Song VI tritt eines der differenzierten Egos der Hauptperson Chief Joseph, nämlich Chief Joseph III, erstmals auf die Bühne. Er spielt die Rolle eines Schamanen, der die übrigen Leute, einschließlich der anderen Alter Egos Chief Joseph I und II, in die traditionelle indianische Ghostdance-Bewegung führt.

155

Die Texte für die Indian-Songs stammen aus einigen traditionellen alten Liedern der Indianer, weshalb im Wesentlichen alle Indian-Songs für die Empfindungen und Gedanken der Indianer stehen. Die Lyrik des Indian-Song I wurde aus dem Liedtext vom Himmelswebstuhl der Pueblo-Indianer Tewa zitiert, in dem es um die Bitte an den Himmel und die Erde um Beständigkeit der Schöpfungsgaben geht:

O our mother the earth, O our father the sky! Your children we are, and with tired backs We bring you the gifts that you love. Then weave for us a garment of brightness! Warp may be white morning light Fringes may be the falling rain Border may be the standing rainbow. Then weave for us a garment of brightness, That we go fittingly where birds sing That we walk fittingly where grass is green. O our mother the earth, O our father the sky!325

Der Text des Indian-Song II kommt aus dem rituellen Gesang des schwarzen Bären, mit dem sich die Navajo-Indianer auf einen Kampf einstimmten: „Big black bear! [...] Something fightful I am! I´m whirlwind! There´s danger, where I walk! I´m gray bear!“326 Der Indian-Song IV ist mit einem Lied des Volkes der Teton Sioux verknüpft, in dem die Freude über den Empfang einer Vision zum Ausdruck kommt, die in fast allen indianischen Kulturen dem Pubertierenden den Eintritt ins Erwachsenenleben eröffnete. Der Text symbolisiert die Veränderung von Young Joseph zu Chief Joseph, von einem Feigling zu einem Häuptling, der sein Volk anführt. Der Text des Indian-Song V bezieht sich auf ein Kriegslied der Papago für ein Ritual, das die Kämpfer des Stammes auf den Kriegszug gegen den Feind vorbereitet: „[...] It is the drunkenness of the battle I ground it to powder and therewith I tied my hair in a war knot. Then I take up my well-covering shield, my hardstriking club. Then I take up my strung bow, my smooth straightflying arrows.”327 Der Indian-Song V steht zudem passenderweise genau an der Stelle vor der Rotation 3, an der die Situation nach dem Krieg dargestellt ist. Die meisten Indian-Songs haben formal eine strophische symmetrische Struktur; dementsprechend sind die musikalischen Stile ebenfalls in Relation simpler als bei

325 Hans Zender: Textbuch von Chief Joseph. 326 Ebd. 327 Ebd. 156

anderen Szenenarten. Sie ähneln den ariosen Gestalten der frühen Opernformen. d. Szene

Die zwölf Szenen sind entsprechend der ursprünglichen Funktion in einem Theaterstück Abschnitte, in denen sich szenische Konflikte aufbauen und zuspitzen. In der realen Rede des Chief Joseph, dem Häuptling der Nez-Percé, geht es um Antagonismus und den Streit zwischen seinem Stamm und den Weißen. Die Aufteilung durch den Komponisten in Szenen bietet genügend Spielraum für die szenische Spannung und Dramatik. Die historischen Geschehnisse werden chronologisch abgehandelt und die Zusammenstöße zwischen Personen in Form von gesungenen Dialogen dargeboten. Darin lassen sich die charakteristische Eigenschaft und die Weltanschauung jeder Bühnenfigur sowie der gegensätzliche Stellungsunterschiede erkennen.

Szene 1 des ersten Aktes zeigt den Dialog zwischen dem Vater Old Joseph und seinem Sohn Young Joseph. Sie spiegelt die typisch indianische Haltung wider, sich selbst als ein von der Natur hervorgebrachtes bzw. als ein zur Natur gehöriges Produkt anzusehen. In der Szene 2 geht es um das Missverhältnis zwischen den Weißen, die die Erde als Eigentum einer Einzelperson erachten, und den Indianern, die die Gegenposition einnehmen. Es gibt einige vorwiegend friedliche Szenen wie z. B. Szene 5, in der Chief Joseph II mit seinem Onkel Toolhoolhoolsuite diskutiert, Szene 6, in der Wacoba ihn ermutigt, und Szene 7, in der der Chor der einstimmigen Indianer auftritt.

Vor allem in den drei Councils 328 der zwölf Szenen erreicht der dramatische Konflikt seinen Höhepunkt: In der Szene 3, der ersten „Council-Szene“, entstehen Spannungen zwischen Häuptling Old Joseph und den Weißen, die die Indianer zum Unterzeichnen des Papiers drängen. Auch der interne Streit zwischen den Indianern spielt sich hier ab. In der Szene 8, des zweiten Council, wird die Hauptfigur Chief Joseph II nicht mit seinen Kontrahenten, den Weißen, sondern mit dem zweiten Touristen konfrontiert, der mit seinem fortschrittlichen Denken die Einstellung der westlichen Welt vertritt. Am Anfang des dritten Aktes erreicht der Konflikt seinen Höhepunkt. Die Szene 9 als drittes Council ist in ihrer Struktur sehr komplex; zwei szenische Figuren – General Howard und Chief Joseph II – geraten

328 Zender hat von zwölf Szenen bes. drei als „Council-Szenen“ benannt, weil in den drei Szenen das Council zwischen Weißen und Indianern dargestellt wurde. 157

im Verhandlungsprozess aneinander. Hinzu kommt die Debatte zwischen dem ersten und zweiten Touristen, die ihrerseits gegensätzliche Standpunkte vertreten. Zwischendurch werden einige Sätze aus der Rede von Chief Joseph I eingeschoben.

Anders als die anderen Szenentypen lenkt die Szene als eigene Unterart den Fokus des Zuhörers besonders auf den dramatischen Aspekt: Durch den Auftritt verschiedener Figuren und die Entwicklung der Geschehnisse wird in den Szenen die dramatische Dimension akzentuiert, so dass der Zuhörer zuerst den Inhalt begreifen muss. Insbesondere die letzte Szene 12 steht in Fortsetzung der theatralischen Tradition ohne musikalisch-klangliche Aktionen als eine Sprachszene zwischen den Figuren Chief Joseph I und II.

Für ein unmittelbares Verstehen der Handlung hat der Komponist im musikalischen Bereich jedem Charakter entsprechende Intervalle zugeteilt: Am Anfang der Szene 3 findet das Council zwischen Old Joseph, Mr. Spalding und Gov. Stevens statt. Old Joseph schrie: „I refuse to have anything to do with this Council […].“ Er trägt seine Melodie, die meistens aus einer kleinen bzw. großen Sekunde besteht, wie ein Rezitativ vor. Bei der Stimme des Gov. Stevens findet man in zentraler Lage springende Intervalle wie Quarten oder Sexten. Es zeigt den Charakter des Gov. Stevens, der Old Joseph droht, dass die Indianer zur Wahrung des Friedens in einem abgegrenzten Landstrich bleiben müssen. Mr. Spalding, der Old Joseph beschwichtigend zum Unterschreiben des Vertrags überredet, nimmt die mittlere Stellung mit Intervallen wie der großen Sekunde und der kleinen Terz ein (Notenbeispiel 3). Die zunächst ruhige Stimme Old Josephs mit kleinen oder großen Sekunden verändert sich in dem Moment schlagartig zu springenden Intervallen wie Quarten, Quinten usw., in dem er die Bitte von Mr. Spalding ablehnt.

158

Notenbeispiel 25. Szene 3 e. Rezitativ

Die Szene ist ein Hauptteil des Stücks, in dem sich die tragenden historischen Ereignisse der Handlung zum Zeitpunkt der Vergangenheit formieren und sich daraus die szenischen Spannungen aufbauen. Im Vergleich dazu bietet das Rezitativ einen Raum ausschließlich für die beiden Touristen, die in der heutigen Zeit auf der Suche nach dem Grab Chief Josephs als historischem Denkmal sind. Es kreiert einen Effekt des „Theaters im Theater“. Hier spielt sich im Theater der beiden Touristen zum gegenwärtigen Zeitpunkt überlappend ein weiteres Theater, die Auseinandersetzung zwischen Indianern und Weißen ab. In den Rezitativen gestaltet sich eine Rahmenhandlung auf Makroebene, in der Szene entwickelt sich eine innere Erzählung.

In diesen drei Rezitativen diskutieren die beiden Touristen nicht nur über den historischen Streit zwischen Indianern und Weißen, sondern auch über die Gründe dafür. Ihre Standpunkte stellen im Grunde genommen Gegensätze dar, da sie jeweils die Meinung der Indianer und der Weißen vertreten: so übernimmt Tourist 1 die geistige und naturfreundliche Gesinnung der Indianer und Tourist 2 die naturzerstörend und fortschrittlich denkende der Weißen. Daher repräsentieren sie gegensätzliche Weltanschauungen und Meinungen.

Anhand des kontroversen Dialoges der beiden Touristen lassen sich die alten, 159

scheinbar obsoleten Themen als immer noch gültig interpretieren. Vor allem durch die unterschiedlichen Zeitpunkte (Vergangenheit in Szenen vs. Gegenwart in Rezitativen) gelangt der Zuschauer zur Einsicht, dass die aus historischen Ereignissen hergeleitete Problematik bis in die heutige Zeit Gültigkeit besitzt.

Der musikalische Stil der Rezitative zeigt sich wie in der traditionellen Gattung Oper mit Rezitationen im Wechsel zwischen einem Tenor für den ersten Touristen und einem Bass für den zweiten Touristen. f. Rotation

Die am Ende jeden Aktes eingeordneten drei Rotationen nehmen einen Sonderplatz ein: Von anderen Szenenarten differenzieren sie sich „als konzertante Teile, die aus dem Geschehen ausbrechen“ 329 . Der Angabe des Komponisten zufolge bilden sie „innerhalb der Gesamtform als formal stabilste Stücke eine Art ‚Staat im Staat‘, indem sie sich so weit wie möglich aus dem theatralischen Handlungsgerüst ausklinken“330.

Der Begriff Rotation als Kern des Werks deutet auf „die gleichsam zentrifugale, zugleich irritierende wie erhellende Kraft, die ihnen innewohnt“331 hin. Denn die wichtigen Fragen und Themen dieses Musiktheaterstücks werden aus den Rotationen abgeleitet, die auf der Collage-Form einiger berühmter literarischer Texte beispielweise von Fernando Pessoa, Bertolt Brecht, und Johann Wolfgang von Goethe etc. beruhen. Es entsteht die Antriebskraft für eine dramatische Verarbeitung. Hiekel betrachtet Zenders Textauswahl als nicht willkürlich. Laut seiner Angabe stehen die hier zitierten Texte „für jene Art des ‚pluralistischen‘ Denkens, das Zender – in der Nachfolge von Zimmermanns epochaler Oper Die Soldaten – in seinen Musiktheaterwerken mit besonderer Vorliebe austrägt“332. Hier lässt sich erkennen, welche Texte ausgewählt werden, wie sie sich miteinander verbinden, überschneiden und überlagern, unter welchem Zusammenhang sie inhaltlich zur Entstehung des Themas das Eigene und das

329 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization“, S. 8. Komponist Zender sagte in seiner Anmerkung, dass es aufgrund dieser spezifischen Position der Rotationen für den Regisseur eine Möglichkeit bleibt, diese konzertanten Teile für eine möglichst bildkräftige, von der Handlung unabhängige Bühnenaktion zu nutzen. Vgl. Hans Zender, „Anmerkungen der Komposition“, in: Programmbuch für Chief Joseph. 330 Vgl. Hans Zender: „Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph“, S. 99. 331 Jörn Peter Hiekel: a. a. O., S. 8. 332 Vgl. Ebd., S. 10. 160

Fremde beitragen und inwieweit diese Zusammensetzung der Texte zur Reflexion pluralistischen Denkens beitragen.

In der ersten Rotation des ersten Aktes geht es um die Fragen zu Technik und Umweltzerstörung. Der Text wurde aus den beiden Texten von Passagem das Horas/Stundenzug von Fernando Pessoa (1888 – 1935, unter Heteronym: Álvero de Campos)333 und dem Gedicht „Sie sägten die Äste ab, auf denen sie saßen“ aus Exil von Bertolt Brecht (1898 – 1956) teilweise abwechselnd zitiert. Die erste Rotation in Form einer Collage aus beiden Texten zeigt zwei gegensätzliche Perspektiven und Einstellungen zu Natur und Zivilisation auf:

Im ersten Akt schält sich zunächst die Fokussierung der „Verfremdung“ bzw. Vergewaltigung der Sphäre, die wir „Natur“ nennen, heraus: Die Indianer verteidigen sie als ihr „Eigenes“ und empfinden die westlichen Eindringlinge als Bedrohlich- Fremde. Für die Weißen aber ist die ihnen völlig unbegreifliche Art der Symbiose mit der Natur, die sie bei den Indianern beobachten, das ihrer eigenen fortschrittsorientierten und technikgläubigen Grundeinstellung Fremde.334

Die oben erwähnten Unterschiede im Verhalten gegenüber der Natur (naturverbunden vs. naturzerstörend) treffen gleichfalls auf den Stellenwert zu, den die im Gegensatz zu den Indianern auf Fortschritt bedachten Weißen der Entwicklung, der Technik einräumen. Zender stellte eine Technik und Fortschritt hymnisch preisenden Text von Fernando Pessoa einem extrem kritischen und pessimistischen Zitat von Bertold Brecht gegenüber.

[...] Mas não nos meus nervos motor de explosão a óleos pesados ou leves, todas as máquinas, todas os sistemas de engrenagem, lovomotiva, carro elétrico, automóvel, debulhadora a vapor, máquinas maritime, Diesel, semi-Diesel, Cambell!! Sie sägten die Äste ab, auf denen sie saßen. Sie schrien sich zu ihren Erfahrungen, wie man schneller sägen könnte, und fuhren mit Krachen in die Tiefe. Und die ihnen zusahen, schüttelten die Köpfe beim Sägen und sägten weiter. Diesel, Cambell, semi-Diesel, instalação absoluta a vapor, a gás, a oleo e a electricidade. […]335

Hier vertritt der Text von Brecht auf ironische Art und Weise keine deutsche Perspektive als Vertreter der westlichen Moderne, sondern wird als Kritik am

333 Der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa zählt zu den bedeutendsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Unter verschiedenen Heteronymen publizierte er Bücher, Gedichte und Artikel, die über Jahre das geistige Klima Portugals beeinflussten. Zu den bekanntesten seiner Heteronyme zählt Alberto Caeiro, zu dem sich nach und nach dessen „Schüler“ Ricardo Reis und Alvaro de Campos gesellten. Jede dieser Persönlichkeiten verfügt über eine vollständige Biographie, eine genaue Beschreibung der äußeren Erscheinung, einen eigenen Schreibstil, und vertritt jeweils eine bestimmte Geisteshaltung. Alvaro de Campos gehört aufgrund seiner vielschichtigen Persönlichkeit zu den interessantesten der Heteronyme. Im Werk Pessoas ist er der Vertreter der Moderne. – zitiert aus Hans Zender: „Anmerkungen der Komposition“, in: Programmbuch für Chief Joseph. 334 Hans Zender, „Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph“, S. 99. 335 Hans Zender: Libretto von Chief Joseph. Der Teil ohne Strich ist ein Zitat von Pessoa und der unterstrichene von Brecht. 161

rationalen Denken verwendet. In seinem Text geht es besonders um „die Unbelehrbarkeit des Menschen“ 336 . Zudem weist er auf eines der im Libretto versteckten Mottos dieser Oper hin.

Bei der musikalischen Komposition beider sich im Inhalt unterscheidender Texte wurde eine entgegengesetzte Methode verwendet: Die in Campos Text vertonten Teile basieren auf einer Kompositionsweise, bzw. choralen Polyphonie, bei der die verschiedenen Stimmen selbstständig linear geführt werden. Dazu wird sie mit dem großen Orchester besetzt, das eine inhaltliche Übermittlung des Textes erschwert. In den Ausschnitten des Brecht-Textes spielt der Sopran I als Solo eine wichtige Rolle, um den wörtlichen Gehalt zu übertragen, und die kleine Orchester-Besetzung ohne Blechinstrumente wie Trompete, Posaune und Saxophon kommt hier zum Einsatz. Dies verdeutlicht, dass sich die beiden Teile nicht nur in den textlichen Inhalten, sondern auch in den musikalischen Stilen gegensätzlich (Homophonie – Polyphonie) sind.

336 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization“, S. 10. 162

Notenbeispiel 26. Rotation I

163

In der Rotation des zweiten Aktes geht es um die Probleme der Geldwirtschaft. Die hier angeführten drei Texte bestehend aus einem Abschnitt aus Usura Cantos von Ezra Pound (1885–1972) 337 , einem Teil des Faust II, Lustgarten von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) sowie einigen Sätzen der Motette 9 „Fons totius...“ von Guillaume de Machaut (1300–1377) sind inhaltlich eng miteinander verbunden: Die Quelle des Hochmuts (superbia), die Machaut erwähnte, verbindet sich mit Usura, die bei Pound den Ausgangspunkt allen Übels aus der ewig unersättlichen menschlichen Gier markiert. Zudem sorgt sich Goethe um die Konsequenz des Währungssystems in Bezug auf die Habgier des Menschen. 2. TOURIST Mercedes Benz! United Technologies! Standard Oil! Ford! STIMMEN With usura... fons totius superbia, lucifer et nequictae, qui, mirabili specie decoratus – with usura hath no man a house of good stone each block cut smooth and well fitting that design might cover their face. Hath no man a painted paradise on his church wall harpes et luz or where virgin receiveth message and halo projects from incision. Zu wissen sei es jedem der´s begehrt: der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert als gewisses Pfand Unzahl begrabnen Guts im Kaiserland. Seeth no man Gonzaga his heirs and his concubines no picture is made to endure nor to live with but it is made to sell and sell quickly. […]338

Darüber hinaus macht Zender selbst folgende Anmerkung:

Im 2. Akt konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf das Abwägen von Macht und Machtbedingungen; dabei kommt die unaufhaltsame Entwicklung zu Kommerzialisierung und Kapitalisierung ins Visier. Ezra Pounds Usura-Canto, das Zornigste, was man in der Weltliteratur zu diesem Thema findet, wird in einem Parodieverfahren der verfremdend weiterkomponierten Machaut-Motette über Michaels Kampf mit dem Drachen (O livoirs feritas) unterlegt. Das Verfahren wird auch umgekehrt und der Text Pounds durch gelegentliche Machauzitate verfremdet. Als weiteres Energiefeld tritt die berühmte Passage aus Goethes Faust II über die Erfindung des Papiergeldes hinzu, welche es erlaubt, im Zentrum der zitierten Machau-Motette einen Antikörper einzusetzen.339

Die zweite Rotation ist je nach Stil und Form der drei Literaturen auch kompositorisch anders komponiert: Sie beginnt mit dem in Choral vertonten

337 Ezra Pound zählt zu den bedeutendsten Dichtern des vergangenen Jahrhunderts und zu den Vorreitern der modernen Literatur. Er verschrieb sich dem Kampf gegen den Ausverkauf der Natur, des Lebens und der Kunst unter der Feindbenennung „Usura“ („Wucher“), womit der Kapitalverzinsungszwang, also der Antrieb unseres vermeintlich notwendigen Industriewachstums gemeint ist. – zitiert aus Hans Zender: „Anmerkungen der Komposition“, in: Programmbuch für Chief Joseph. 338 Hans Zender: Libretto von Chief Joseph. Der nicht unterstrichene Text stammt aus Usura Cantos Pounds, der unterstrichene von Goethe. Der fett gedruckte Text ist von Machaut. 339 Hans Zender: „Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph“, S. 99ff. 164

Abschnitt des Usura-Texts von Pound. Diesem folgt ein Bruchstück der Machaut- Motette, das den thematisch wichtigsten Inhalt enthält: „Fons totius superbia, lucifer et nequiciae, qui, mirabili specie decoratus. [...]“ Danach singt der Chor erneut einen Teil von Usura Cantos, und die zweite Rotation ist meist mit diesem Text von Pound geschrieben. Zwischen diesen Texten von Pounds wurde eine Passage von Goethes Faust eingefügt, die wie ein Rezitativ rezitiert wurde. So unterscheidet sie sich vom homophonischen Usura-Teil. Beide stehen in gegenseitigem Kontrast zueinander.

Die melodisch-musikalischen Ausschnitte der Machaut-Motette wurden nicht nur im Chor zitiert, sondern ziehen sich auch in verschiedenen Parts durch diese ganze Rotation. Die Rotation II teilt sich in vier Teile, deren Tempoangabe (Tempo I = 69 ~ 75) gleich ist und die immer mit Zitaten von Machaut beginnen: Im ersten Teil (Takt 3-9) reproduziert eine kleine Holzbläser-Gruppe bestehend aus Piccolo, Oboe und Klarinette eine Melodie der Motette, die aber vom Komponisten Zender bruchteilig zitiert und harmonisch mikrotonal moduliert wurde. Am Anfang des zweiten Teils (Takt 38-44) erscheint ein Teil der Machaut-Motette im Bläser- und Klavierpart. Vor allem das Klavier spielt zwar deutlich, jedoch mit einigen falschen Tönen versetzt, die Motette. Der dritte Teil beginnt ebenso mit dem Machaut-Zitat im Bläser- und im Klavierpart. Dazu kommen die Streicher, in denen die Motette- Melodie sogar mit Vierteltönen moduliert wurde. Zu Beginn des vierten Teils (Takt 127-130) wurde ein Wort der Motette „Affatur“ in den Stimmen Tenor I, Alt und Sopran auf die Melodie des musikalischen Zitats der Motette gesungen. Gleichzeitig singt ein Part des Chors – der Tenor II sowie der Bass I und II - „with usura“. Wie bereits aufgezeigt, übernimmt die hier zitierte Machaut-Motette die Rolle eines Rahmens für diese zweite Rotation. Sie ist zwar erkennbar, aber dennoch umgeformt, so dass der Zuhörer dadurch die neue Bedeutung erkennen kann.

Tabelle 19. Struktur der Rotation II

Teil Zitate 1. Teil (Takt 1- 37) Usura / Fons totius … / Usura 2. Teil (Takt 38- 77) Fons totius ... / Faust / Usura 3. Teil (Takt 78-126) Fons totius ... / Usuta / Faust

165

4. Teil (Takt 127-147) Fons totius ... „Affatur“+“with Usura“ / Usura

Die dritte Rotation aus dem letzten Akt stellt als Klimax das schlimmste Übel dar: Krieg und Völkermord. Sie beginnt mit der Rezitation des Psalms 22 durch eine menschliche Stimme, die sich an Gott anlehnt. Anschließend schildert die Figur Chief Joseph I, wie er unbewaffnet in den Kampf gegen die weißen Soldaten zog. Es folgt ein Gespräch zwischen dem Piloten, der seinen Bombenabwurf vorbereitet, und der befehlenden Bodenstation, das aus dem Interview von Paul Tibbets zum Abwurf der ersten Atombombe 1945340 zitiert wurde. Im Interview sagt er, dass er „vollkommen glücklich“ sei, weil er die Japaner von der Aussichtslosigkeit überzeugen konnte, den Kampf noch länger fortzuführen. Er habe lediglich Befehle ausgeführt. Die menschliche Grausamkeit, die Sünde des Massakers auf Befehl des gesellschaftlichen Systems ohne Schuldgefühl zu rechtfertigen, steht in Kontrast zum lebendigen Kommentar des japanischen Kalligraphiekünstlers Yu-Ichi (1916 – 1985) 341 über das Resultat dieses Verbrechens. In seiner Aussage wird die folgenschwere Situation nach der Bombardierung dargestellt. Sein Bericht zeigt die Parallelen zur Mitteilung Chief Josephs. Yu-Ichi vermittelt anstelle des Autors den Zuschauern die Hauptfrage: „Warum bloß müssen sie Unschuldige abschlachten?“ 342 Hier wird zusätzlich das Grauen des jüdischen Holocausts angedeutet und durch die Rezitation des Psalms 22 in hebräischer Sprache beschworen343. In dem als Rahmen ausgelegten Psalm 22 verweben sich die drei Texte strukturell und verbinden sich inhaltlich.

(PSALM 22) Ki ata gochi mibatän mavtichi al schede immi (CHIEF JOSEPH I) With a prayer in my mouth to the great spirit chief who rules above. I dashed unarmed through the lines of soldiers. (PSALM 22) alek-chahaschlachti merachäm mibätän immi eli ata (PILOT) Command, this is Dimples Eight Two. Approaching target. We habe visual contact. Bomb bays are open, all systems ready!

340 Oberst Paul Tibbets ist derjenige, der am 6. August 1945 um 8h 15 über Hiroshima die erste Atombombe abwarf. Mehrere Male äußerte er sich in Interviews zu seinem Einsatz, bei dem mehr als 140.000 Menschen bei der Explosion der Bombe und Zehntausende an den Spätfolgen der Verstrahlung ums Leben kamen, ohne je ein Zeichen von Reue oder moralischen Skrupeln zu zeigen. Er habe lediglich einen Befehl ausgeführt. – zitiert aus Hans Zender: „Anmerkungen der Komposition“, in: Programmbuch für Chief Joseph. 341 Der japanische Kalligraphiekünstler Yu-Ichi zählt zu den wichtigsten Repräsentanten der japanischen Avantgardebewegung. In seinen Werken verarbeitet er immer wieder die traumatischen Erlebnisse der Bombardierung Tokios von 1945, bei der fast 100.000 Menschen ums Leben kamen. Yu-Ichi selbst besuchte zu der Zeit eine Kalligraphie-Schule in Tokio und überlebte den Angriff als einziger der insgesamt tausend Schüler. – zitiert aus Hans Zender: „Anmerkungen der Komposition“, in: Programmbuch für Chief Joseph. 342 Alle Zitate wurden aus Libretto zitiert. 343 Vgl. Hans Zender: „Zu Chief Joseph“, in: Programmbuch für Chief Joseph, S. 5. 166

(BODENSTATION) Roger. Dimples Eight Two. Copied, target in sight. You are go for bomb run. Repeat: go for bomb run! (PILOT) Roger. Dimples Eight Two go for bomb run. We´ll talk to you later. (YU-ICHI) Ah! Die Volksschule von Yokokawa! Der nächtliche Angriff der amerikanischen B-29-Bomber auf Tokio! Die in Dunkelheit gehüllte Stadt verwandelt sich in ein Flammenmeer. Die Umgebung von Koto wird zur Hölle. (PSALM 22) (gleichzeitig) al tirchaq mimmäni ki zarah querovah ki ejn oser. [...] (YU-ICHI) Die Yokokawaschule. Mehr als tausend Menschen haben darin Schutz gesucht. Das Gebäude ist von den Flammen umschlossen. Stumm vor Schreck haben Männer und Frauen, Alte und Junge nicht mehr die Kraft zu fliehen. (CHIEF JOSEPH I) It seemed to me that there were guns on every side, before and behind me. My clothes were cut to pieces, and my horse was wounded, but I was not hurt. (PSALM 22) sevavuni parim rabim avire kaschan kitruni (BODENSTATION) Hallo General! General, could you tell me: How did it feel to pilot the bomb? (GENERAL T.) Oh – eh -: I was perfectly happy to do it. I knew in my own heart, that we would convince the Japanese of the futility of continuing the fight. I was chosen by being told that was my job, and I did it. [...]344

In den Stimmen der Texte sind sowohl die der Angreifer als auch die der Opfer dargestellt: Wer kann General Tibett, der bloß einen Befehl ausgeführt hat, den Vorwurf des Angriffs machen? Wer ist Aggressor und wer ist Opfer, wenn sich die scheinbar unschuldigen Japaner, die beim Atombombenabwurf in Hiroshima und Nagasaki hilflos ums Leben gekommen sind, mit den Japanern identifizieren, die andere Nachbarstaaten Ostasiens wie Korea, China und Taiwan besetzten und ihre Bewohner erbarmungslos massakrierten? Sind die Indianer, die die weißen Soldaten angriffen, um ihre Lebensgrundlagen zu bewahren, brutale Mörder aus der Sichtweise der Weißen? Oder vice versa. An diesem Punkt behandelt dieses Musiktheater nicht nur ein bestimmtes historisches Ereignis der indianischen Geschichte, sondern entfaltet sich zu einem weltgeschichtlichen Panorama.

Die Verflechtung der Texte dieses Musiktheaterwerks hebt die Tatsache hervor, dass wir als einheitliches Ganzes mit Unisono die Geschichte nicht einfach umschreiben, wiederholen oder als gut bzw. böse abstempeln können – was in diesem Stück ständig versucht wird, aber scheitert. Es geht hier vielmehr darum, die Unmenschlichkeit der Menschen zu erkennen, die stets die Möglichkeit wählen, in der Konfrontation mit dem Fremden der Andersartigkeit mit Gewalt zu begegnen. Darum, vor der Schwachheit der Menschen zu warnen, die im Laufe der Geschichte stets dem Fremden mit Gewalt begegneten. Es geht letztendlich um die Reflexion

344 Hans Zender: Libretto von Chief Joseph, in: Programmbuch für Chief Joseph. 167

über das menschliche Wesen.

Eine anschauliche Lösung wird im Finale der Ghostdance-Bewegung angedeutet und „durch die Überwindung und Relativierung von Dogmen und Ideologien auf allen Seiten“345 als Gewaltlosigkeit dargestellt: „You must not hurt anybody or do harm to anybody! You must not fight! Do right always! Lazarus, come out! Come out of your graves, you all!“346

In der Instrumentation der Rotation III wurde ein Sample mit modulierten Sinusklängen eingesetzt, als Alternative kommt eine Live-Produktion der modulierten Klänge dazu, wozu zwei durch einen Ringmodulator verbundene Synthesizer erforderlich sind. Schmidt stellt fest, dass „das die Harmonik des Werkes zentral bestimmende Verfahren in seine elektronisch erzeugte, letztlich hybride Herkunft umschlägt“347. Es dient dazu, das fiktive Vorurteil zu enthüllen, dass es das reine Original als separierte Einzelkultur gibt, und um zu beweisen, dass eine Kultur ursprünglich Hybridität hat.

Zudem gibt es gewisse elektronische Effekte: Die Stimme des Piloten und der Bodenstation sind durch militärisch-nüchterne Sprechweise über Lautsprecher verzerrt übermittelt. Tenor I für den Yuichi-Text muss ebenfalls wie ein Ausrufer so verstärkt sein, dass jede Silbe zu verstehen ist, aber auch dramatisch-expressiv und frei singen. Ohne Elekto-Steuerung muss Alto für den Text des Psalms 22 trotz sehr wenig Vibrato sich äußert ausdrucksvoll gestalten. Chief Joseph I hat immer noch die Begleitung des Instruments Ajeng mit seiner kratzigen, spröden Tonfarbe.

Die Rotation III als Klimax der drei Rotationen, im weiteren Sinn des ganzen Stücks, wurde vom textlich komplexen Geflecht aus verschiedenen Literaturen und dazu von der musikalischen Buntheit aus vielen Musikstilen und Geräuscheffekten betrieben. g. Der Umgang des Komponisten mit den Materialien und die Veränderung der Rolle des Zuhörers

Der Komponist setzt die ihm hier verfügbaren Materialien nicht auf gewöhnliche

345 Ebd. 346 Ebd. 347 Dörte Schmidt: „“Wegekarte für Orpheus?“ Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, S. 157. 168

Weise ein. So dient der Antagonismus zwischen Indianern und Weißen als szenisches, die Stile und Formen der traditionellen Gattung Oper als musikalisches Material. Er wies darauf hin, dass ein Stück bzw. sein Autor moralisch oder gar moralistisch seien, wenn ein Autor bzw. ein Künstler die szenischen Materialien auf typische Weise bearbeitet, ohne sich zur künstlerischen Gestaltung Gedanken zu machen.348 Auch bei der Behandlung der musikalischen Stoffe kommt die Gefahr auf, zum obsoleten Manierismus abzuschweifen. Hier deutet sich an, wie er über den Umgang des Künstlers mit seinen Materialien denkt. Wie bereits erwähnt beabsichtigte Zender, die Krise der heutigen Künste bzw. Künstler zu vermeiden, indem er die ihm vertrauten Materialien auf fremde Art und Weise verändert. Er weist in seinen Angaben deutlich darauf hin, dass es seine eigene zentrale Fragestellung ist, mit der er sich bei der Gattung Musiktheater permanent auseinandersetzt.

Während sich der Komponist mit den ihm zur Verfügung stehenden Materialien auseinandersetzt, verändert sich zudem die Bedeutung des Zuschauers. Schmidt macht an dieser Stelle auf die Rolle des Zuhörers aufmerksam:

Seine Aufgabe kann nicht mehr sein, die Bedeutung zu entschlüsseln, vielmehr wird er selbst in den Prozess des Deutens von Wahrnehmungen hineingezogen, wird selbst zum Reisenden [...]349.

Demnach nimmt das Publikum nicht mehr die passive Rolle des reinen Zuhörers ein, um die Intention des Komponisten zu entschlüsseln. Als „reisendes Subjekt“ findet er sich in einer aktiven Rolle wieder, das seinerseits am Werk teilnimmt und durch die Verbindung der Wahrnehmungen zur Sinnbildung beiträgt. „In Chief Joseph gibt es verschiedene Ebenen der Stilistik und der szenischen Ordnung, die sich wie in einem Kaleidoskop abwechseln, also den Hörer zu einer dauernden Umstellung, einer dauernden Umorientierung seines Sensoriums zwingen.“ 350 Als „ein Spiel mit Hören, Sehen und möglicherweise [ihrem] Assoziieren“351 könnte dieses dem Publikum „über die Möglichkeiten von auditiver und visueller Wahrnehmung einen spezifischen geistigen Raum, in dem diejenigen sich bewegen, welche sein Werk rezipieren. [...]“352 schaffen.

348 Vgl. Hans Zender: „Das Eigene und das Fremde“, S. 100 ff. 349 Dörte Schmidt: a.a.O., S. 156 ff. 350 Hans Zender: “Prägungen im Pluralismus. Ein Gespräch mit Jörn Peter Hiekel“, in: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, 2007 Mainz, S. 130- 137, hier S. 134. 351 Dörte Schmit: a.a.O., S. 154. 352 Hans Zender: „Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne“, S. 164. 169

2. Vermittlung zwischen dem Eigenen und dem Fremden in musikalischen Dimensionen

In den bisherigen Abschnitten dieses Kapitels wurde versucht, die musikalischen Eigenschaften der verschiedenen Szenentypen und die einzelnen musikstilistischen Besonderheiten, die jeder Bühnenfigur zugeteilt wurden, aufzuzeigen. In diesem Teil werden die kompositorischen Mittel und Techniken zuerst in drei Bereichen – harmonische, rhythmische Ebenen und Instrumentation – eingeteilt und behandelt. Insbesondere die drei spezifisch-charakteristischen musikalischen Elemente – Mikrotonalität, Polymetrik und das Benutzen eines fremden Instruments – sind im Musiktheaterwerk Chief Joseph stark ausgeprägt.

2.1. Mikrotonalität: „Die gegenstrebige Fügung“

Für das Werk Chief Joseph konzipierte der Komponist Zender sein eigenes Tonsystem, das jeden Halbton weitere sechs Male äquidistant unterteilt. Daraus ergibt sich die Mikrotonalität bestehend aus 72 Tönen. Sie prägt dieses Werk sehr stark. Einen Grund für die Notwendigkeit des neuen Tonsystems sah Zender in den Grenzen des temperierten Tonsystems. Die Musikwissenschaftlerin Franziska Thron, die den musiktheoretischen Hintergrund zu erläutern versuchte, äußerte sich zu den Gedanken Zenders folgendermaßen:

Das 12-tönig gleichschwebende System eröffnet zwar die Möglichkeiten der unbegrenzten Transponierbarkeit, sowie den harmonischen Sinn einer Tonhöhe mehrfach umdeuten zu können; es nimmt aber gerade aufgrund dieser Eigenschaft den Intervallen, und damit wiederum verbunden, den einzelnen Tonarten ihren je spezifischen qualitativen Gehalt: Die äquidistante Oktavteilung nivelliert die jeweiligen Intervalle zu Durchschnittswerten, wodurch sinnliche Qualitäten, wie die einer Natursepte etwa oder einen reinen großen Terz verloren gehen.353

Der Komponist und Musiktheoretiker Frank Gerhardt zeigte ebenfalls zwei Punkte als wesentliche Aspekte für die Diagnose der „Tonhöhenproblematik“ in der neuen Musik auf: Zum einen „die allgemeine Nivellierungs- und Abnutzungstendenz des temperierten Systems und ihren Farbverlust“, und zum anderen „den Verlust der qualitativen Unterschiede verschiedener Intervallgrößen zugunsten nur noch einer einzigen großen Terz, einer kleinen Septime usw. sowie die schwindende Sensibilität in der Wahrnehmung dieser verschiedenen Qualitäten natürlicher

353 Franziska Thron: Aspekte des Musikdenkens Hans Zenders. Musiktheoretische und philosophische Hintergründe, 2008 Saarbrücken, S. 22 f. 170

Intervalle“ 354 . Noch deutlicher formuliert: Das gleichschwebend temperierte Denken nimmt einigen reinen Intervallen die je eigenen Qualitäten. Das bedeutet, dass es nicht fähig ist, mit unserem jetzigen temperierten Tonsystem die sinnlichen Qualitäten der unter diesem temperierten Denken verlorenen Intervalle einzubringen.

Die temperierte Stimmung ist für den Komponisten „ein Abdruck des gleichen Denkens, das durch Naturwissenschaft und Technik unsere moderne Welt hervorgebracht hat“ 355 . Um in der jetzigen Konstellation aus der Moderne herauszukommen, ist es seiner Auffassung nach notwendig, die Grenze des gleichmäßig temperierten Tonsystems zu überschreiten. Thron betonte dafür Zenders Grundüberzeugung, „dass eine fruchtbare Überwindung des obsolet gewordenen Systems nur dann gelingen kann, wenn der historische Kontext mit bedacht wird“ 356 . Dementsprechend werden solche Lösungen „durch eine Art Rückkoppelung verschütteter Erfahrungen der Geschichte mit unserer modernen Rationalität“357 vollzogen.

Zu dem Zweck überprüfte Zender zwei gegenströmige Wege: Der erste Weg geht in die Geschichte zurück, der andere verläuft nach vorne. Im ersten Fall versuchte er, „eine möglichst große Auswahl ganzzahliger Intervalle – also Töne eines bestimmten Spektrums – zu einem Tonsystem zusammenzufassen“358. Er beginnt in den Tetrachordsystemen der griechischen Antike, „eine Reihe ganzzahliger Modi, welche die verschiedensten mikrotonalen Unterteilungen bis hin zu dem Intervall 27:28 kennen“ 359 . Hier können wir einige reine Töne finden, die in unserem temperierten Tonsystem nicht enthalten sind. Als ein weiteres Beispiel lässt sich hier eine alte chinesische Tonleiter bestehend aus 12 Halbtönen anführen, die aus ganzzahligen Intervallen entwickelt wurde. Sie bietet „eine Alternative, die uns sogar noch interessante strukturelle Möglichkeiten für harmonische Beziehungen eröffnet“360. Jedoch hat sie „einen Nachteil; sie ist nicht transponierbar, wenn sie

354 Frank Gerhard: „Gegenstrebige Fügung. Über Hans Zenders harmonisches Ordnungssystem“, in: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, 2007 Mainz, S. 138-150, hier S. 139. 355 Vgl. Hans Zender: „Gegenstrebige Harmonik“, in: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975-2003, S. 95-135, hier S. 96. 356 Franziska Thron: a.a.O., S. 23. 357 Hans Zender: a.a.O., S. 97. 358 Ebd., S. 103. 359 Ebd., S. 104. 360 Ebd., S. 107. 171

auf einem Tasteninstrument eingestimmt ist“. 361 Zenders zweiter Fall ist ein Experiment, das temperierte zwölftönige Tonsystem mikrotonal zu differenzieren. Ziel dabei ist, „Intervalle zu definieren, die möglichst dicht an die reinen Intervalle heranreichen.“362 Es lässt sich als Fortsetzung der Zwölftontechnik betrachten.

Letztlich hat er die Entscheidung für ein Tonsystem getroffen, das jeden Halbton des temperierten Systems sechsmal äquidistant unterteilt und im 72-Ton-System resultiert. Aus diesem Grund erfand er individuell ein doppeltes Minus und ein doppeltes Plus, es ergibt sich abschließend eine komplette Skala, welche den Oktavraum in 72 Stufen unterteilt:

Notenbeispiel 27. Unterteilung des Halbtons in 6 Schritten (mit Centabweichung)363

Ein musikalischer Ausschnitt mit dieser Mikrotonalität kann von der Betriebsweise eines Ringmodulators gebildet und analysiert werden. Der Ringmodulator ist als Apparatur der elektronischen Musik seit den Anfängen der Elektronik in Gebrauch. Es gibt Kernintervalle, dessen Töne von Zender als „Ausgangston“ und „Modulationsintervall“ bezeichnet werden. Der Ringmodulator kalkuliert die so genannten Summations- und Differenztöne, welche sich zu dem Kernintervall entsprechend den ihnen zugrunde liegenden Obertonproportionen verhalten.

Der Ringmodulator bildet zu jedem ihm eingegebenen Intervall die Differenz und die Summe und macht diese hörbar. Indem er das tut, interpretiert er jedes eingegebene Intervall als Ausschnitt aus einem imaginären Spektrum [...]. Summe und Differenz ihrerseits sind ebenfalls Partialtöne dieses Spektrums. Die so entstehenden, mit dem temperierten System nicht kompatiblen Tonhöhen sind also weder Zufallswerte noch abstrakte Unterteilungen des sowieso schon abstrakten temperierten Halbtons, sondern natürliche Intervalle, die vom Ohr bei entsprechendem Training als „richtig“ erkannt werden können.364

361 Ebd. 362 Ebd. 363 Ebd., S. 110. 364 Ebd., S. 103. 172

Notenbeispiel 28. Obertonreihe ab Kontra-C. Abweichung der reinen Werte von den temperierten Werten

Anhand der Betriebsweise des Ringmodulators versuchte Zender die sinnlichen Qualitäten der natürlichen Intervalle zu restaurieren, die im temperierten System nicht eingeschlossen und aus mikrotonalen Bewegungen entstanden sind, um sie hörbar und verständlich zu machen.

Als Beispiel für die kompositorische Praxis der Mikrotonalität durch die Steuerung des Ringmodulators lässt sich ein kurzer Ausschnitt des Indian Song I anführen, den Gerhardt bereits analysiert hat. Das folgende Notenbeispiel ist das Original von Holzbläser und Saxophon, die harmonische Struktur des Klavierauszugs sowie sein Analyseergebnis basierend auf der Verfahrensweise des Ringmodulators.

173

Notenbeispiel 29. Indian-Song, T. 32.365

In der vorliegenden Arbeit wurde dieser Ausschnitt wegen Fehler in der Abschrift einiger Originalnoten und Verwechslung der Nummerierung der Ausgangstöne und der Differenztöne von mir neu analysiert.366 Es folgt die richtige Nummerierung entsprechend seiner Analyse:

365 Dieses Notenbeispiel wurde dem Artikel von F. Gerhardt entnommen. – Frank Gerhardt: „Gegenstrebige Harmonik. Über Hans Zenders harmonisches Ordnungssystem“, S. 145. 366 Beim Abschreiben der Originalnoten markierte er zwei Töne falsch: Der Ton-cis war ursprünglich der Ton-dis, der Ton-d im Original f (in der Abbildung 2 sind sie mit Kreisen gekennzeichnet). In der unteren harmonischen Struktur wurde der Ton-d auf dem Ton-f richtig korrigiert. Der Ton-cis ist jedoch in dieser Struktur nicht revidiert. Daher steht zu vermuten, dass dem Analyseresultat nach nicht der Ton-dis, sondern der Ton-cis korrekt ist. Außerdem verwechselt er die Nummerierung der Ausgangstöne und die der Differenztöne. In seiner Analyse passt die Abweichung zwischen den Nummern der Kernintervalle (Modulationsintervall und Ausgangston) mit der Nummer des Differenztons zusammen. Gleichermaßen muss die Nummer des Summationstons die Summe der Kernintervalle sein, aber hier ist es die Summe des Modulationsintervalls und des Differenztons. Deswegen müssen die Nummern der Ausgangstöne und die der Differenztöne ausgetauscht werden. 174

Tabelle 20. Die neue Nummerierung des Takts 32 in Indian-Song

1. Teil 2. Teil

Summations- es 50 g* 11 C 19 B 17 G 51 C 17 h 9 cis 31 dis 18 Töne

Modulations- h 41 d 8 As 15 F 13 C 35 G 13 fis 7 as 23 a 13 Intervalle

Ausgangs- a 9 a 3 A 4 A 4 B 16 H 4 a 2 d 8 f 5 Töne

Differenz- g 32 fis 5 d* 11 H 9 cis 19 Cis 9 cis 5 cis 15 cis 8 Töne

Die Analyse durch die Verfahrensweise des Ringmodulators zeigt, dass sich die mit * bezeichneten Mikrotöne aus Zenders Komposition verwenden lassen.

Die Bedeutung seiner Analyse erläuterte Gerhardt wie folgt:

Diese Struktur besteht aus einem oben beschriebenen vierstimmigen Basissatz mit 2 jeweils liegenden Ausgangstönen a und cis´ und einer sich bewegenden Linie von Modulationsintervallen (im Notenbeispiel eingekreist). Die übrigen Töne sind die entsprechenden Summen und Differenzen der Kernintervalle nach dem oben beschriebenen Ringmodulationsverfahren.367

Aufgrund der hier veränderten Analyse gelangt man jedoch zu einem anderen Resultat: die Ausgangstöne des ersten Teils sind zwar der Ton-a richtig, aber im zweiten Teil sind die Ausgangstöne als Basstöne der Akkorde nicht Ton-cis´, sondern die Töne, die je nach Akkord gewechselt werden. Hier fungieren die Töne- cis´ als Differenztöne. Wenn man nun die Analyse von Gerhardt auf einige Grundmodelle für die Beziehung des Ausgangstons zum Modulationston von Zender anwendet, kommt man zu folgendem Ergebnis: Der erste Teil gehört zu dem zweiten Fall des Grundbewegungsmodells Zenders, hingegen wäre der zweite Teil der dritte Fall b.

367 Frank Gerhardt: a.a O., S. 146. 175

Tabelle 21. Bewegungsmodelle368

1) Modelationsintervall ruht, Ausgangston bewegt sich 2) Modulationsintervall bewegt sich, Ausgangston ruht 3) Modulationsintervall und Ausgangston bewegen sich gleichzeitig, diese gleichzeitige Bewegung findet so statt, dass a) der Summations- oder b) der Differenzton ruht.

Im weiteren Sinn ist seine Mikrotonalität eine Weiterentwicklung mit dem Zweck, „das verschüttete Intervallverständnis der alten Musik für den modernen Drang nach weiterer harmonischer Differenzierung fruchtbar zu machen“. Mit der Entscheidung für eine neue Form der Temperierung ist für ihn auch der Versuch wichtig, das seinerzeit alte Intervallverständnis zu überwinden, als Erbschaft der Moderne.369

Es geht bei unserem [sozusagen] dritten Weg [...] um die Notwendigkeit, alle Intervalle, auch mikrotonale [...] deutlich und unmissverständlich darzustellen, anstatt ihre Individualität in einem Chaos untergehen zu lassen.370

Zenders Verfahrensweise wurde nicht dadurch überwunden, das zwölftönig gleichschwebende System abzuschaffen, sondern resultiert in einer eigenen komplexen Tonalität, verschiedene Tonsysteme zu involvieren. Durch die neue Mikrotonalität mit 72 Tönen werden den Intervallverhältnissen des temperierten Tonsystems neue mikrotonale Verhältnisse hinzugefügt. Somit ist es möglich, Intervalle durch die natürliche Stimmung wie in der Renaissance und durch die gleichstufige Stimmung wie in der Klassik parallel zu nutzen oder die Zwölftontechnik als Endpunkt des temperierten Tonsystems und die Mikrotonalität als Fortsetzung der Zwölftontechnik zusammenzustellen. Zender schreibt über den Zweck seiner Mikrotonalität:

[...] Ziel ist es, eine Harmonik zu finden, welche auch die feinsten mikrotonalen Bewegungen durchhörbar und verständlich macht und die außerdem auch die geschichtliche Genese unseres Intervallverstehens durchscheinen lässt. Es muss ein ganz neues Beziehungsnetz der Tonhöhen gefunden werden, gleich fern von den Sicherungen der alten Tonalität wie von denen der seriell geordneten Atonalität, ein Netz, das trotzdem auch diese und noch andere Stadien des geschichtlichen Denkens darstellen könnte. [...]371

In der vorliegenden Arbeit werden dafür einige Beispiele angeführt. In Szene 3 steht Old Joseph mit dem Missionar Spalding und dem Governor Stevens in Verhandlung.

368 Hans Zender: „Gegenstrebige Fügung“, S. 126. 369 Vgl. Ebd., S. 111. 370 Ebd., S. 112. 371 Ebd., S. 99 f. 176

Er singt seine Melodie mit einem Mikroton b♭ (--), der als siebter Ton der Obertonreihe mit einer -31 Centabweichung vertieft wurde. Zugleich singen der 2. und der 5. Indianer ihre jeweilige Melodie einschließlich der Mikrotöne f und b♭. Diesen Melodien von Old Joseph und den Indianern stehen die Lieder der Weißen mit ihrem temperierten Tonsystem ohne Mikrotöne gegenüber. Zur Bedeutung der hier angewendeten Mikrotöne lässt sich demnach folgendes aufführen: zunächst wurden die reinen Töne wie f und b♭, die unter dem temperierten Tonsystem verloren gingen, wieder in die Partitur aufgenommen. Zweitens dienen diese Mikrotöne der Indianer zusammen mit den temperierten Tönen der Weißen dazu, die Kommunikationsschwierigkeit zwischen ihnen zu symbolisieren.

Notenbeispiel 30. Takt 43-52 in Szene 3

Die Szene 9 ist ebenfalls als Beispiel für die Benutzung der Mikrotonalität zu errachten. Die Melodien der beiden Indianer Chief Joseph II und Toolhoolhoolsuite bestehen aus der Mikrotonalität Zenders und bilden einen Kontrast zu den Melodien General Howards und des zweiten Touristen, die die Position der Weißen vertreten.

Als Konsequenz sehen wir in der Partitur oft die Parallelschaltung einer reinen, von den Naturtonreihen abgeleiteten und der vertrauten, temperierten und korrumpierten Harmonik. Man kann sie „als klangliche Chiffren der scheiternden Kommunikation zwischen Rot und Weiß, indianischer und kolonialer Kultur“372 auffassen. Der Komponist bringt völlig heterogene Tonsysteme verschiedenen Ursprungs zusammen, koppelt diese manchmal parallel oder stellt sie in gegenseitigen Kontrast. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es üblich ist, bei Zenders eigener Kompositionstechnik „Mikrotonalität“ die Harmonik zu behandeln,

372 Albrecht Thiemann: „Jagdgründe der Avantgarde“, in: Opernwelt, August 2005, S. 15. 177

sowie bei seiner anderen Kompositionsweise, die szenischen musikalischen Materialien zu bearbeiten, Inkonsequenz und Gegensätzlichkeit in kreative Kraft umzusetzen.

2. 2. Polymetrik auf regelmäßigem rhythmischem Muster

Die japanische Garten-Installation „Shi-shi-o-do-shi“ 373 ist in dem Werk Chief Joseph für die Grundlage einer musikalischen und insbesondere rhythmischen Struktur an der oberflächlichen Dimension entscheidend. Sie besteht aus „einer Bambusröhre in einem Wasserreservoir, welche sich mittels eines Mechanismus mit Wasser füllt und alle 25 Sekunden durch Kippen und Aufschlagen auf einen Resonanzkörper in einem schlagartigen Geräusch entleert“374. In diesem Werk löst sie zudem die regelmäßig periodischen Schläge (alle 25 Sekunden) aus: Einerseits macht sie Geräusche wie ein Schlaginstrument, bietet jedoch andererseits durch die regelmäßigen schlagartigen Geräusche grundlegend zeitliche Module an. Daraus resümiert Hiekel, dass für den Komponisten Zender diese Installation „als ein Symbol einer unbeirrbar eigenen Zeit- und Klangdarstellung“375 eine bedeutende Rolle spielt.

Die gesamten sechs Leer-Szenen eröffnen mit dem Schlag dieser Shi-shi-o-do-shi; eine Leer-Szene besteht aus drei oder vier Perioden mit je 25 Sekunden. Auf den dadurch enstehenden regelmäßigen Perioden liegen die klangakustischen und rhythmischen Ereignisse sowie die Polymetrik. Die Perioden, vor allem in der Leer- Szene 1 und 4, setzen sich in den nachfolgenden Szenen fort, so dass die Polymetriken in diesen Szenengruppen 1 und 9 besonders deutlich und oft erscheinen.

373 „Shi-shi“ bedeutet Hirsch, „O-do-shi“ Drohung. Sie war ursprünglich eine praktische Installation, die vermeiden sollte, dass wilde Tiere wie Hirsche den Garten beschädigen. Im Laufe der Zeit wurde sie eine spezifische, kulturell verortete Form für die japanische kontemplative Gartenkunst. 374 Hans Zender: Chief Joseph. Musikalisches Theater in drei Akten, Partitur, 2005 Wiesbaden, S. III. 375 Jörn Peter Hiekel: „Erstaunen und Widersprüchlichkeit. Tendenzen kultureller Entgrenzung in der Musik Hans Zenders“, in: Christian Utz (Hrsg.), Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, Saarbrücken 2007, S. 79-94, hier S. 92. 178

Tabelle 22. Die durch Shi-shi-o-do-shi gebildeten Perioden in der Szenengruppe 1 u. 9

Szene 1: 1a. Leer-Szene 1 + 1b. Indian-Song I

25 Takt x 11 + 9 Takt x 1 = insgesamt 12 Perioden

Szene 9: 9a. Leer-Szene 4 + 9b. Szene 7 + 9c. Indian-Song IV

25 Takt x 11 + 4 Takt x 1 = insgesamt 12 Perioden

Zunächst muss hier der Begriff der Polymetrik präzise definiert werden, bevor auf die Polymetrik in Chief Joseph ausführlicher eingegangen werden kann. Der allgemeinen Begriffsbestimmung zufolge ist die Polymetrik etwas, bei der mehrere Stimmen mit unterschiedlichen metrischen Gewichtungen, manchmal auch verschiedenen Taktarten, gleichzeitig erklingen. Die sich überlagernden Stimmen verschiedener Taktarten haben somit die gleiche Länge, da die Notenwerte in jeder Stimme unterschiedliche Dauer besitzen. In der Konsequenz stehen die Stimmen mit verschiedenen Grundzeitmaßen in bestimmtem proportionalem Verhältnis. Die Metren fallen hin und wieder zusammen (hier z. B. Tabelle 22. 12:6:3 (4:2:1)). Die Polymetrik ist auch der Fachbegriff für das gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher Metren in den verschiedenen Stimmen eines Musikstücks (Tabelle 23. 3:4:5). Die vorliegende Arbeit subsumiert die beiden Fälle unter den Begriff der Polymetrik.

Tabelle 23. proportionales Verhältnis 4:2:1 Tabelle 24. proportionales Verhältnis 3:4:5

6/8 ♪♪♪♪♪♪ ♪♪♪♪♪♪ Triole ♩ = ♪♪♪

6/4 ♩♩♩ ♩♩♩ Viertel ♩ = ♬♬

3/2 Quintole ♩ =

179

Im Werk Chief Joseph findet man die Polymetrik oft in Indian-Songs, in Rezitativen und häufig in Szenen, in denen es zum Zusammenstoß zwischen scheinbar gegensätzlich eingesetzten szenischen Figuren kommt, um die dramatische Entwicklung der Handlung zu konstruieren. (Jedoch nicht in den Klagen, die ausschließlich von der Solostimme Chief Joseph I gesungen werden.)

Im Folgenden werden einige Szenen als entsprechende Notenbeispiele angeführt: Das erste Beispiel ist der Anfang des Indian-Song I. Drei Stimmengruppen – die Schlagzeug- und Blasinstrumentengruppe sowie der Sopran Wacoba – bilden gleichzeitig vertikal das proportionale Verhältnis 4:5:6. Danach erscheinen die Verhältnisse 5:4 und 3:2 im Wechsel gefolgt vom Verhältnis 7:5:4. Am Ende (Takt 57-65, Notenbeispiel 8) tritt das Verhältnis der Polymetrik 7 (Große Flöte): 5 (die restlichen Blasinstrumente): 4 (Shi-shi-o-do-shi und Holzbalken): 6 (Wacoba) auf. Als zweites Beispiel ist die Szene 1 zu nennen. Hier überlagern sich die verschiedenen Verhältnisse 5:4, 13:12, 9:8, 3:2 und 6:5 etc. waagrecht oder senkrecht und wiederholen sich in vielen Stimmen.

Notenbeispiel 31. Takt 57-59 in Indian-Song I

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Außerdem zeigt sich die Polymetrik auch wie im ersten Fall in mehreren Stimmen mit jeweils anderer Taktbezeichnung. Im Indian Song II stehen überwiegend die Blas- und Streichinstrumentengruppen und das Klavier im 2/4-Takt, Pauken im 6/8- Takt und die Schlagzeuggruppe I im 2x5/16-Takt. Sie verlaufen gleichzeitig parallel, und zusätzlich wurde die Stimme Old Josephs im 2x13/32-Takt hinzugefügt, so dass sich eine komplexe Polymetrik bildet. Szene 2 verhält sich gleichermaßen. Hier sind die beiden Takte 4/4 und 4/6 gleichlaufend, stimmen zuweilen vertikal überein, doch im Grunde genommen stehen sie autonom in proportionalen Verhältnissen.

Im Indian-Song VI treten die drei differenzierten Egos der Hauptfigur, Chief Joseph I, II und III, zum ersten und zum letzten Mal gemeinsam auf. Chief Joseph III führt die anderen Egos in ein spezifisches geistiges Ritual, die Ghostdance-Bewegung. Die Taktarten jeder Stimme wurden oft gewechselt; 3/4 – 3x7/16 – 3/4 – 3x7/16 – 3/4 – dann parallel 3/4 (Chief Joseph I, II und Chor) mit 3x7/16 (Chief Joseph III). Im Takt 50 wurde die Stimme von Chief Joseph I und II im 3x5/16-Takt gesungen parallel mit den Stimmen des Chors (Sop. I, II, Alt und Ten. I, II) im 3x7/16-Takt. An diesem Punkt kommt die Stimme von Chief Joseph III im 3/4-Takt dazu. Aufgrund der Triole in der Stimme Chief Joseph III bildet sich hier das proportionale Verhältnis von 7 (Chor) : 3 (Chief Joseph III) : 5 (Chief Joseph I, II).

Notenbeispiel 32. Indian-Song VI

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Wie man anhand einiger Beispiele erkennt, hinterlässt die überall im Stück Chief Joseph systematisch durchgeführte (und z. T. sehr komplexe) Polymetrik bei den Zuhörern den Eindruck, das ganze Werk zu durchzudringen. Der Komponist selber betrachtet die Polymetrik als „eine das gesamte Stück durchziehende kompositorische Chiffre“376.

Die regelmäßigen Perioden der Shi-shi-o-do-shi und die daraus entstandene Polymetrik als „ein vom Komponisten ausgefeiltes rhythmisches Konzept“ reflektieren nicht nur „die bemerkbare Neigung zu gewissen rationalen Strukturen“377 , sondern spielen zudem eine wichtige Rolle für die musikalische Interpretation in Bezug auf das Thema dieses Stücks. Sie bilden „eine autonom musikalische Analogie sowohl zu den fixierten Gedankenbahnen der indianischen Mythen als auch zu den rationalen, unerbittlich fortschreitenden Denkwegen der westlichen Eindringlinge"378. Das heißt, sie symbolisieren einerseits „die Welt der westlichen Technik“, andererseits „(wie eine künstliche Pseudo-Folklore) die magische Kultur der Indianer“379.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Polymetrik, die in mehreren Stimmen vertikal gleichzeitig erscheint, „die Grundproblematik des Eingeschlossenseins in die nicht hinterfragten Axiome der eigenen Kultur“ 380 symbolisiert. Die Überlagerungen dieser rhythmischen Muster deuten auf das Missverständnis oder die Kommunikationsschwierigkeit zwischen eigenen eingeschlossenen Kulturen hin.

2. 3. Der Einsatz des fremden Instruments Ajeng

Zenders Neigung, einen Versuch der kulturellen Entgrenzung zu unternehmen, indem er etwas außerhalb der Grenzen der westlichen musikalischen Tradition findet und eine außereuropäische Perspektive annimmt, äußert sich besonders stark in der Benutzung der für ihn ungewohnten Installationen und Instrumente. Jedoch entsagt Zender der typischen Verfahrensweise, das Fremde klischeehaft zu reproduzieren oder als etwas Exotisches zu behandeln. Vielmehr liegt sein Fokus

376 Hans Zender: „zu Chief Joseph“, S. 5. 377 Jörn Peter Hiekel: “Erstaunen und Widersprüchlichkeit. Tendenzen kultureller Entgrenzung in der Musik Hans Zenders“, S. 92. 378 Hans Zender: „zu Chief Joseph“, S. 5. 379 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization“, S. 11. 380 Hans Zender: a.a.O., S. 5. 182

auf Situationen, in der die eigene vertraute und eine andere, unvertraute Welt aufeinanderstoßen. Er konfrontiert das Eigene mit dem Fremden auf die ihm unvertraute Weise und identifiziert das Fremde mit dem Eigenen auf die ihm vertraute Weise. Diesen Vorgang verfolgt Zender konsequent, so dass sich daraus das Thema dieses Stücks ergibt.

Der ihm als Europäer eher unbekannte Teil der japanischen Gartenkunst, Shi-shi-o- do-shi, dient in diesem Werk als fremde Installation dazu, eine Tendenz zu europäischem Rationalismus aufzuzeigen, da sie regelmäßige metrische Perioden bildet und somit das grundsätzliche rhythmische Muster vorgibt.

Das Thema „Konfrontation zwischen dem Eigenen und dem Fremden“ zeigt sich in der Verfahrensweise mit dem koreanischen traditionellen Streichinstrument Ajeng 381 . Natürlich läßt der Einsatz eines fremden Instrumentes nicht darauf schließen, in welchem Maße der Komponist dem kulturell Fremden gegenüber aufgeschlossen ist. Vielmehr sollte der Fokus darauf liegen, wie und in welchem Kontext dieses Instrument eingesetzt wird. Alle Klagen der Titelfigur werden durch das Ajeng in expressiver Weise begleitet. Der Komponist behandelt es als eine besondere Art des Violincellos. Wie Zender selbst betont, stellt das Ajeng für ihn einerseits ein vertrautes Instrument wie das Violincello dar, mit dem er in der europäischen Avantgarde auf gewisse Weise experimentierte. Andererseits betrachtet er es als unvertrautes Instrument, das ein in der europäischen Musikkultur noch unverbrauchtes Klangelement aufweist.

In dem Stück Chief Joseph weicht das Ajeng bereits von seinem originalen Kontext in der koreanischen traditionellen Musik ab, hauptsächlich sanfte Dauertöne in tieferer Stimmlage zu spielen. Vielmehr geht der Komponist bei seiner Tonerzeugung auf seine übliche Weise vor, indem er mit dem Ajeng ein permanentes Glissando produziert und es wie ein Schlagzeug behandelt. Es ist eines der Experimente, die in der europäischen Avantgarde seit den 50er Jahren stetig überprüft werden, um eine ungewöhnlich raue Intensität der Klangfarbe eines Instruments zu erhalten.

381 Das Ajeng wurde in Korea sowohl in der Volksmusik als auch am Hof gespielt. Es besteht aus sieben Saiten, die auf einem länglichen, leicht gebogenen Holzkörper über jeweils variable Stege gespannt sind. Gespielt wird das Ajeng mit einem Bogen aus nacktem, mit Kolophonium behandeltem Forsythienholz. Es gehört zu den Bassinstrumenten und hat einen rauen, aber erhabenen Klang. Die Chinesen bezeichnen das Instrument auch als „kratzende Zither“. – zitiert aus Hans Zender: Programmbuch für Chief Joseph, S. 22. 183

Notenbeispiel 33. Takt 94-98 in Klage I

Die Art der Behandlung dieses Instruments hinsichtlich der charakteristischen Klangfarbe verleiht dem Ajeng bei Zenders Komposition seine Bedeutung, da ihm hierdurch alle Möglichkeiten offenstehen. Es wird somit „keine exotische Färbung beisteuern, sondern ist bezeichnend für ein Opernkonzept, das auf allen Ebenen zwischen Fremdheit und Vertrautheit oszilliert“382.

Schmidt bemerkt die spezielle Aufgabe des Ajengs, die es aufgrund seiner Hybridität innehat.

Dieses Instrument, das selbst hybrid, weil chinesische Wurzeln aufweisend – Teil des Instrumentariums zeremonieller koreanischer Hofmusik ist, bricht die kulturelle Konsistenz der Figur auf, eröffnet kulturelle Assoziationsräume und schreibt der Figur überdies eine rituelle Funktion zu. 383

Im Laufe des Theaterstücks begleitet das Ajeng, welches einer völlig fremden, fernostasiatischen kulturellen Tradition entnommen wurde, stets die Hauptfigur

382 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization“, S. 10. 383 Dörte Schmidt: „“Wegekarte für Orpheus?“ Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, S. 155. 184

Chief Joseph I mit exotischen Klängen, die wiederum auf eigene vertraute Weise produziert wurden. Damit dient das Instrument laut Schmidt zum einen der kulturellen Entgrenzung, und zum anderen eröffnet es Wege für den Zusammenschluss mit anderen Kulturen.

Aus der subtilen Behandlungsweise des Komponisten lässt sich die essenzielle Botschaft dieses Werks erkennen. Es ist eigentlich das Ziel des Stücks, „eine transkulturelle Musiksprache auf der Höhe der Zeit zu finden, die sich Fremdes nicht einverleibt, sondern als Bereicherung des eigenen begrenzten Horizonts begreift und fruchtbar macht.“ 384

384 Albrecht Thiemann: „Jagdgründe der Avantgarde“, S. 15. 185

3. Chief Joseph: kompositorische Reflexion der Vermittlung unterschiedlicher Zeiten und verschiedener Kulturen

Die Forschungsergebnisse dieser bisherigen szenisch-musikalischen Analyse offenbaren drei Schlüssel für den Zugang zum Musiktheaterwerk Chief Joseph: a. Experiment über die Form des Musiktheaters

Der Komponist Zender hat sein drittes Bühnenwerk Chief Joseph erstmals mit dem Terminus Musiktheater betitelt. Somit gehört dieses Stück nicht mehr zu der traditionellen Gattung der Oper, sondern des Musiktheaters. Die Überlegungen des Komponisten zu dieser neuen Gattung spiegeln sich kennzeichnend im formalen Experiment mit den sechs verschiedenen Szenentypen wider, die jeweils unterschiedliche szenisch-musikalische Schwerpunkte beinhalten: Die ‚Leer- Szenen‘ bieten ohne das Auftreten der szenisch-dramatischen Elemente dem Hörer einen Moment, sich ausschließlich auf die klanglich-rhythmischen Ereignisse konzentrieren zu können. Die ‚Klagen‘ als Zitat der berühmten Rede des Chief Josephs haben zumindest zwei wichtige Funktionen; einerseits funktionieren sie als das strukturelles Grundgerüst für das ganze Werk, andererseits drücken sie das Gefühl der Hauptfigur Chief Joseph in expressiver Weise aus. Die Texte für die ‚Indian-Songs‘ stammen aus einigen traditionellen Liedern der Indianer, weshalb im Wesentlichen alle Indian-Songs für die Empfindungen und Gedanken der Indianer stehen. Die zwölf ‚Szenen‘ sind der ursprünglichen Funktion in einem Theaterstück entsprechend Abschnitte, in denen sich szenische Konflikte aufbauen und zuspitzen. Während sich in der ‚Szene‘ die tragenden historischen Ereignisse der Handlung in der Vergangenheit formieren und die szenische Spannung aufbaut, bieten die ‚Rezitative‘ ausschließlich Raum für die beiden Touristen, die in der heutigen Zeit auf der Suche nach dem Grab Chief Josephs als historisches Denkmal sind. Dies kreiert einen Effekt des „Theaters im Theater“. Dem gegenüber stehen jeweils am Ende der Akte die drei ‚Rotationen‘ als konzertante Teile unabhängig vom szenischen Geschehen. Es werden Abschnitte einiger berühmter literarischer Texte zu den Rotationen herangezogen, so dass sich die Collage-Form bildet. Die hier zitierten Texte stehen nicht nur für jene Art des pluralistischen Denkens, sondern beziehen sich auch inhaltlich eng auf das Thema jeder Rotation. In diesem Musiktheater befinden sich die historischen Ereignisse nicht in der linearen Zeit,

186

sondern zeigen „die ungewohnte, untypische Zeit- und Handlungsauffächerung“385, zwischen Vergangenheit und Gegenwart frei hin und her zu pendeln. b. Die Begegnung zwischen den zwei Touristen und Chief Joseph

Der zweite Schlüssel ist eine solche Begegnung zwischen den zwei Touristen und Chief Joseph als Prototyp eines „Informanten“386, das kulturelle Wissen hier und dort zu vermitteln. Um sich selbst als historische Person besser darstellen zu können, ist Chief Joseph aus seiner eigenen Vergangenheit in unsere jetzige Zeit herübergekommen und hat die beiden Touristen in seine eigene Geschichte geführt. Durch ihn sind sie der fernen Vergangenheit und der fremden Kultur nahegekommen. Am Anfang des Stücks besichtigen sie die ‚Fremdheit‘ als Beobachter mit einem gewissen Abstand, im Laufe des Stücks jedoch erleben sie es als eingebaute Figuren mittendrin. Dadurch erweitert sich der Horizont des Subjekts in „hier und jetzt“. Der Komponist intendierte, die Zuschauer und die Zuhörer auf die Zeitreise der Figuren mitzunehmen, und es sogar an dem Prozess der Interpretation schöpferisch zu beteiligen. c. Konfrontation zwischen dem Eigenen und dem Fremden

Das vertraute Benutzen des exotischen Instruments und die Verfremdung der eigenen Kompositionsverfahrensweise werden uns als dritter Schlüssel angeboten. Das letzte entsprechende Beispiel ist das Experiment von Zender über die neue Harmonik und das Tonsystem, welches jeden Halbton sechsmal äquidistant unterteilt und daraus das 72-Ton-System in einem Oktavraum ableitet. Seine Mikrotonalität setzt einerseits als westliches avantgardisches Phänomen die Zwölftontechnik fort, bezieht sich aber andererseits in der Konsequenz auf einige alte reine Intervalle, die in unserem temperierten Tonsystem nicht enthalten sind, sowie auf eine alte chinesische Tonleiter. Als Beispiel für das vertraute Benutzen eines exotischen Instruments lassen sich die für den Europäer Zender völlig fremden ostasiatischen Instrumente Shi-shi-o-do-shi und Ajeng anführen, die hier in diesem Werk im an und für sich fremden Kontext der europäischen musikalischen Tradition verwendet werden. Die japanische Garteninstallation Shi-

385 Jörn Peter Hiekel: „Clash of Civilization”, S. 7. 386 Begriff des Kulturwissenschaftlers James Clifford. Details siehe James Clifford: „Kulturen auf der Reise“ (Anm. 299). 187

shi-o-do-shi spiegelt die Neigung zu gewissen rationalen Strukturen wider 387 , indem sie die regelmäßig periodischen Schläge auslöst. Das koreanische Saiteninstrument Ajeng begleitet die Titelfigur Chief Joseph I durch das gesamte Stück hindurch. Der Komponist bearbeitet es wie eine besondere Art des Violincellos mit einem in der europäischen Musikkultur noch unverbrauchten rauen Klangelement. Durch diese Instrumente, die zwischen dem Eigenen und dem Fremden oszillieren, „bricht die kulturelle Konsistenz der Figur auf, eröffnet kulturelle Assoziationsräume“388.

Die drei Schlüssel für das Verständnis des Musiktheaterwerks Chief Joseph verknüpfen sich mit dem Pluralismus als dem zugrunde liegenden wesentlichen ästhetischen Grundzug in Zenders Kompositionen, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart sowie zwischen dem kulturell Eigenen und dem Fremden zu schwingen und zu vermitteln.

In seinem eigentümlichen Formentwurf aus komplexen Kombinationen der sechs verschiedenen Szenenarten besteht der Pluralismus darin, zwischen verschiedenen Punkten in der Historie hin und her zu springen. Dafür lassen sich zwei Begründungen anführen. Einerseits oszillieren die Bühnenfiguren grenzenlos zwischen den ‚Szenen‘ (Vergangenheit der historischen Ereignisse) und den ‚Rezitativen‘ (Gegenwart, in der das Theater dargestellt wird). Insbesondere die historische Hauptperson Chief Joseph spielt dabei die tragende Rolle, die zwei Touristen von dem jetzigen Zeitpunkt aus in seine Erzählung und seine Geschichte zu führen. Durch ihn gehen die Touristen auf eine Zeitreise von der Gegenwart in die Vergangenheit. Zu dieser Zeitreise sind sowohl die Touristen als auch die Zuhörer eingeladen. Des weiteren wird gezeigt, dass die in Chief Joseph gestellten Fragen einem bestimmten Zeitpunkt entfliehen und einer generellen Fragestellung gleichkommen. Anhand dieses Vorgehens zur Zeitreise befreit sich Zender von der Obsession des musikalischen Fortschritts, die sich auch auf die europäische Avantgarde überträgt. Das Erinnern verschafft ihm „Zugang zu den Reservoirs historischer wie kultureller Identifikationssymbole“ 389 , auch restituiert es das Verhältnis zu zahlreichen Erben der musikalischen Traditionen. Schließlich gelangt

387 Vgl. Jörn Peter Hiekel: „Erstaunen und Widersprüchlichkeit. Tendenzen kultureller Entgrenzung in der Musik von Hans Zender“, S. 92. 388 Dörte Schmidt: „“Wegekarte für Orpheus?“ historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender“, S. 155. 389 Ebd., hier S. 160. 188

er zu einem gewiss neuen gegenwärtigen Sinn der Tradition, indem er vertraute Materialien entfremdet, oder andersherum fremde Stoffe in der ihm gewohnten Weise behandelt. Die musikalische Tradition stellt für ihn nicht nur das europäisch- avantgardische musikalische Erbe dar, sondern sie enthält die für ihn relativ unvertraute Musik-Tradition aus anderen kulturellen Wurzeln. In diesem Punkt werden einige Diskussionen über den Pluralismus in Bezug auf Kulturen und kulturelle Phänomene in Chief Joseph eröffnet werden.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist die gegenwärtige Debatte über kulturelle Identität und Authentizität zunehmend lebhaft und kontrovers in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen. Es gibt zahlreiche Begriffe für den Diskurs über die Koexistenz verschiedener Kulturen und die Pluralität der Kulturen wie z. B. Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität, Dialog der Kulturen und neuerdings Hyperkulturalität390. Zudem kamen im Musikbereich in den 80er Jahren unter dem Stichwort Interkulturalität derartige kulturübergreifende Perspektiven im Zusammenhang mit den Debatten zur Postmoderne auf.

390 Der Begriff Multikulturalismus bezieht sich Welsch zufolge auf die Fragen des Zusammenlebens verschiedener Kulturen innerhalb einer Gesellschaft. Im Sinne der Multikulturalität wird davon ausgegangen, dass es nicht zur Verflechtung oder zur Verschmelzung der verschiedenen Kulturen kommt, sondern dass diese nebeneinander bestehen. Im Unterschied dazu versteht man unter dem Begriff Interkulturalität das Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Kulturen, bei dem es trotz kultureller Unterschiede zur gegenseitigen Beeinflussung kommt. Das Modell der Interkulturalität beruht ebenfalls auf angenommenen Differenzbeziehungen zwischen dem kulturell Eigenen und dem kulturell Anderen. Die Begriffe der Multikulturalität und der Interkulturalität sind nach Welsch insofern problematisch, da sie zu kulturalistischen Grenzziehungen führen können. Als Alternative verwendet er den Begriff der Transkulturalität, um die gegenwärtige hybride Verfaßtheit von Kulturen zu beschreiben, die nicht homogene, klar voneinander abgrenzbare Einheiten sind, sondern die miteinander vernetzt und vermischt werden. Insbesondere vor dem Hintergrund der Globalisierungsprozesse sind heutige Kulturen durch interne Differenziertheit und durch externe Austauschprozesse sowie Überlagerungen geformt. Die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden ist dann nicht möglich. Anstelle der separierten Einzelkulturen von einst ist eine interdependente Globalkultur entstanden, die sämtliche Nationalkulturen verbindet und bis in Einzelheiten durchdringt. Transkulturalität steht für eine Kultur der Integration. Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han setzt den Begriff Hyperkultur gegen die vermeintlich liberale weltoffene Rede von der Multikultur. Han schlägt den Begriff der Hyperkulturalität als Alternative vor, der in unserer Epoche der medien- und verkehrstechnischen Entortung und Globalisierung angemessen ist. „Nicht das Trans, nicht das Multi oder Inter, sondern das Hyper kennzeichnet die kulturelle Verfassung von heute.“ Han weiß, dass Globalisierung nicht nur kulturelle Differenzen nivelliert und Kulturen verschwinden lässt, sondern zugleich Differenzen reproduziert, erzeugt und neu zusammenstellt. Hyperkultur versteht Han daher mit Giller Deleuze und Felix Guattari als Konjunktion: „und...und...und“. – Zu diesem Thema wurde folgende Literatur herangezogen: Kathrin Sinner: „Transkulturalität versus Multi- und Interkulturalität“, in: Stadtkultur magazin 16, März 2011; Wolfgang Welsch: „Transkulturalität – Die veränderte Verfassung heutiger Kulturen“, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 1995 (1), S. 39-44.; ders.: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“, in: Lucyna Darowska u.a. (Hrsg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld 2010, S. 39-66.; Byung-Chul Han: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005. 189

Einige Autoren haben Zenders Chief Joseph als Beispiel für Interkulturalität erwähnt. Der Musikwissenschaftler Hiekel hat aus den namhaften Komponisten der Gegenwart insbesondere Hans Zender als dementsprechendes Beispiel angeführt, weil „Zender recht früh auf jene Dimension der postmodernen Gesamtsituation hingewiesen hat, die mit der universalen Verfügbarkeit von Elementen unterschiedlichster Kulturen zusammenhängt“391. Im Artikel „Zender“ der MGG hat auch Hiekel betont, dass „die Integration interkultureller Perspektiven in Zenders Stücken nicht auf Homogenisierung, sondern – besonders stark im Musiktheaterwerk Chief Joseph – auf Aspekte, die Widersprüchliches erfahrbar machen, hinausläuft“ 392 . Der Herausgeber und Chefredakteur der NZfM (Neue Zeitschrift für Musik) Rolf W. Stoll betrachtet ferner den Begriff der Interkulturalität als zentrales Merkmal Hans Zenders. Seiner Auffassung zufolge muss sie „als eine Synchrone und Diachrone gedacht werden, die neben der produktiv-rezeptiven Zuwendung zu anderen Kulturen und Zeiten auch die Beschäftigung mit der aktuellen bildenden Kunst und die Bezugnahme auf die Philosophie umfasst“393.

Vorausgesetzt, dass solchen Diagnosen entsprechend der Komponist Hans Zender nahe an den Begriff der Interkulturalität heranreicht, kommen die folgende Fragen auf, ob und inwieweit eine vergleichsweise intensive Reflexion kulturübergreifender Aspekte in seinen Werken erfolgt und wie sich musikalische Sprachen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten miteinander vermischen etc. Hier wird davon ausgegangen, dass „ein schlüssiger Umgang mit kulturellen Differenzen keinen bloß exotischen Umgang mit dem jeweils Fremden oder keinen gesichtslosen Relativismus respektive keine globalisierte Einheitssprache zu tendieren bedeutet“394. Dieser Punkt zeigt deutlich, dass Zender zu denjenigen Komponisten gehört, die mit besonderer Beharrlichkeit in ihren Werken Dialoge zwischen verschiedenen Kulturen eröffnen und „durch Reisen oder sonstige Studien eine sehr enge Beziehung zu einer anderen Kultur aufgebaut haben“. Ganz typisch für ihn ist, „die Usancen der eigenen Kultur in Frage zu stellen, das Fremde

391 Jörn Peter Hiekel: „Kulturelle Entgrenzung in der Musik der Gegenwart – einige Ausgangs- fragen“, in: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Musik-Kulturen. Texte der 43. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 2006, Saarbrücken 2008, S. 10-15, hier S. 10. 392 Jörn Peter Hiekel: „Hans Zender“, in: MGG, Sp. 1429-1432. 393 Rolf W. Stoll: Editorial, in: NZfM, S. 1. 394 Jörn Peter Hiekel: „Kulturelle Entgrenzung in der Musik der Gegenwart“, S. 11. 190

im Eigenen und das Eigene im Fremden zu betonen“ 395.

In der vorliegenden Arbeit wird versucht, das in Chief Joseph entdeckte Verhalten Zenders hinsichtlich der verschiedenen Debatten über Kulturen und Verhältnisse zwischen Kulturen nicht nur als Interkulturalität, sondern auch als komplexe Mischung der verschiedenen kulturellen Verhalten wie Transkulturalität und Hyperkulturalität usw. zu betrachten. Denn seine Verfahrensweise, die indianische Kultur als szenisches Material und die ostasiatischen kulturellen Produkte wie das Shi-shi-o-do-shi oder das Ajeng als musikalische Quellen zu behandeln, scheint bereits das interkulturelle Verhalten zu überschreiten.

Zender bemüht sich nicht, die originale kulturelle Quelle der Indianer in sein Werk einzubauen, und hat überhaupt kein Interesse daran, die ostasiatischen fremden Installationen und Instrumente ausschließlich für einen asiatischen Habitus oder eine asiatische Kolorierung einzusetzen. Jede Kultur, die indianische, die ostasiatische und die europäische, betrachtet er nicht als absolut autonom, unveränderbar im Laufe der Zeit und voneinander unabhängig. Er sieht Kultur als etwas, das bei Konfrontation mit Anderem „von außen her durchquert“ wird und „nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet ist“ 396 . Im Unterschied zum interkulturellen Verhalten, die autonome Identifizierung jeder Kultur zu bedingen, wird hier die Tatsache vorausgesetzt, dass die Musik im Wesentlichen bereits eine hybride kulturelle Geburt ist. Er bezieht sich auf Welsch, der die heutige hybride Verfasstheit von Kulturen mit dem Begriff der Transkulturalität beschreibt, indem er diagnostiziert, dass die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden nicht mehr möglich ist.397

In Zenders Musiktheaterwerk Chief Joseph ordnet sich jedoch das indianisch- kulturelle Erbe in der szenischen Dimension und die Qualitäten der ostasiatischen kulturell-musikalischen Elemente nicht einfach der europäischen Musiktradition

395 Rolf Elberfeld: „Kultur, Kulturen, Interkulturalität – Kulturphilosophische Perspektiven der Gegenwart“, in: Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 47), Mainz 2007, S. 85-99, hier S. 90. 396 Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“, in: Lucyna Darowska u.a. (Hrsg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, 2010 Bielefeld, S. 39-66, hier S. 42. 397 Vgl. Wolfgang Welsch: „Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 1995 (1), S. 39-44. 191

unter, die einschließlich der Gattung, der Harmonik und auch der Rhythmen in diesem Stück allgegenwärtig wirkt. Anders als Welsch, der zeigt, dass infolge der Globalisierung eine interdependente Globalkultur entstanden ist, ist in diesem Musikstück keine europäisierte Neue Musik entstanden. Vielmehr entwickelt sich jede Kultur dahingehend, Unterschiede mit Anderem nicht zu vernichten oder zu nivellieren, sondern miteinander heterogene Materialien und sogar widersprüchliche Elemente stark erfahrbar zu machen.

In der vorliegenden Arbeit liegt der ursprüngliche Fokus nicht darauf, Zenders Musiktheaterstück Chief Joseph auf theoretische Muster wie Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität anzuwenden. Vielmehr soll sie aufzeigen, dass verschiedene fragmentarische Verhaltensweisen des Komponisten Zender in Bezug auf den kulturellen Pluralismus in diesem Werk hochkomplex verflochten sind. Dadurch ist das Musiktheater Chief Joseph als eine kompositorische Reflexion des Pluralismus zu interpretieren, unterschiedliche Zeiten und verschiedene Kulturen vermittelt.

Die Musik wird als offener Prozess – und nicht als abgeschlossenes Kultur-Ding – unmittelbar erlebt. Und einen Schritt weiter liegt die Möglichkeit, die bisher geltenden Grenzen eines Stückes Musik zu überschreiten. [...] Musik [...] kann erfahrbar werden als Kontakt zwischen weit auseinander liegenden Zeiten und Individuen, als Kontakt auch zwischen verschiedenen Systemen und Kulturformen.398

398 Hans Zender: „Musik als Erfahrung“ (1980), in: Die Sinne denken, S. 140. 192

Schluss

Die drei Bühnenwerke Zenders sind komplexes modernes Musiktheater, in dem das pluralistische Kompositionsprinzip und das ästhetische Ideal an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Richtungen umgesetzt wird. Die vorliegende Arbeit macht deutlich, dass seine Theaterstücke die von der Moderne gestellte Frage mit folgenden Schwerpunkten beantworten: Seine erste Oper Stephen Climax stellt durch die Hauptperson Stephen die traditionellen Religionen und die konventionelle Moral infrage und mündet im Weg eines modernen Künstlers und der Suche nach der modernen Kunst. Im nächsten Stück Don Quijote de la Mancha. 31 theatralische Abenteuer wird der Protagonist Don Quijote als moderner Mensch dargestellt, der dem Traumbild der Analogie als Episteme der früheren Zeit entkommt, selbst Fragen stellt und dadurch verschiedene neue Sinneswahrnehmungen erfährt. Mittels der Figur von Chief Joseph wird die sich aus dem Irrationalismus ergebende Zerrüttung des Rationalismus wie Totalitarismus und Massenmord, die vernichtende Zivilisation und Umweltzerstörung usw. aufgezeigt.

Beim Schreiben der Gattungsgeschichte des Musiktheaters im 20. Jahrhundert muss die Bedeutung dieser Bühnenstücke in den formalen stilistischen Bereichen unbedingt erwähnt werden: Die bei Zender bereits als totgelaufen geltende Gattung Oper als zeitbegrenzter Begriff belebte er mit seinen eigenen konstruktiven Gedanken Form und Struktur betreffend bereits in seinem ersten Bühnenstück Stephen Climax wieder. Die Experimente bezüglich Struktur und Form des Musiktheaters und die Betrachtung der theatralisch-medialen Mittel, die Szene und das Theater auf der Bühne zu realisieren, werden in Don Quijote de la Mancha reflektiert, sogar verstärkt: aus fünf Grundelementen werden verschiedene formale Resultate hergeleitet. In dem jüngsten Musiktheaterstück Chief Joseph spiegeln sich die formalen Untersuchungen der früheren beiden Opern wider: Zenders formale strukturelle Grundidee ist besonders in diesem Werk bedeutend, weil sie nicht nur aus den sechs Szenenarten die verschiedenen szenisch-musikalischen Ergebnisse hervorgebracht hat, sondern auch inhaltlich-thematisch mit den historisch-kulturellen Geistorten verbunden wurde.

In den von der Moderne aufgeworfenen dichotomischen Bezügen vor allem in den entgegengesetzten Verhältnissen wie Kontrast, Antagonismus und Konfrontation

193

etc. wird der daraus resultierenden produktiven Kraft die Beachtung Zenders zuteil: Die Gleichzeitigkeit der gegenläufigen Formen und Stile – aus Serialismus und Zitaten der verschiedenen Musikabschnitte – erweitert sich in Stephen Climax in die Simultaneität der oppositären Affekte wie etwa die Koexistenz des ernsthaften Originals und des komischen Ausdrucks. Mit den typisch dichotomischen Vorstellungen von optischen und akustischen Empfindungen, von Zeit und Raum, wird in Don Quijote de la Mancha auf verschiedenste Art und Weise experimentiert: das Stück eröffnet dem Zuhörer und Zuschauer die Komplexität der Sinneswahrnehmung. Durch Chief Joseph werden die Lügen und Irrtümer der modernen Dichotomien aufgedeckt, die von der Gegenüberstellung von Rot und Weiß symbolisiert werden, wie etwa der Konfrontation zwischen dem Eigenen und Fremden, zwischen Natur und Kultur, sowie zwischen der zivilisierten und der primitiven Gesellschaft usw. Dadurch wird schließlich das Kontinuum der Geschichte aufgesprengt und die Stabilität der kulturellen Identität aufgebrochen.

Wesentlich für Zender sind Dialog und Debatte, die beim Zusammenprall der Gegensätze aus den Spannungsfeldern entstehen, nicht jedes Einzelelement oder das gegensätzliche Verhältnis selbst. Das ist der maßgebliche Grund dafür, dass seine pluralistische Ästhetik und sein Komponieren nicht unter Begriffe wie Integration oder Synthesis, Nebeneinanderstellen oder Parallele zusammengefasst werden können. Der von ihm angestrebte Pluralismus bezieht sich auf das Interesse an der Essenz als fundamentale Triebkraft, nicht auf die Oberfläche der pluralen Ergebnisse. Die sich voneinander unterscheidenden, konträren oder sogar widersprüchlichen Welten prallen zusammen, dringen durch, daraus entstehen neue Sinne, die jedesmal flexibel veränderbar und nicht vorherbestimmt sind. Zender äußert sich darüber: „Aus den Reibungsflächen der verschiedenen Welten entstehen Zwischenformen, deren Sinn mehrdeutig und offen ist.“399 Gerade an diesem Punkt unterscheidet sich Zender von den anderen Komponisten wie B. A. Zimmermann, der konsequenterweise die Integration der verschiedenen Materialien hervorbringt, sowie J. Cage und K. Stockhausen, die Differenzen und Divergenzen nivellieren oder vernichten. Im Unterschied zu H. Lachenmann, der mit den für ihn fremden und ungewohnten Materialien zwar Neuheit anstrebt, jedoch noch auf der Tradition der Moderne basiert, grenzt sich Zender, der mit seinem unvertrauten Benutzen der gewohnten Materialien auf die neue Situation der Postmoderne sensibel reagiert,

399 Hans Zender: “Über Stephen Climax”, in: Die Sinne denken, S. 284. 194

von ihm ab. Es wird deutlich, dass der ästhetische Inbegriff Zenders von „der gegenstrebigen Fügung“ im Sinne von Heraklit ausgeht. Die vorliegende Arbeit untersucht die These, wie auf dieser Basis der Pluralismus bei seinem Komponieren die Heterogenität und die Hybridität produktiv macht und sich in verschiedenen Richtungen entfaltet.

Als Komponist sowie Künstler unserer heutigen Zeit wird Zender auf der einen Seite in sich historisch-diachronisch dargestellt, weil ihm und seinem kompositorischen Schaffen die aus den verschiedenen Epochen angesammelten musikalischen Materialien zur Verfügung stehen; und auf der anderen Seite in sich transkulturell, da er zusätzlich zu seiner Prägung als Europäer die inhomogene heterogene kulturelle Identität annimmt, sowie auch in seinem Werk selbst kulturelle Durchdringung und Durchquerung stattfindet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass seine Musiktheaterstücke mit verschiedenen geschichtlich- kulturellen Impulsen vielstimmig in sich komponiert werden.

Seine pluralistische Grundidee und –prinzip sind die subtile Gegenreaktion eines Künstlers auf die inhomogene absurde Welt. Zender als moderner Mensch befindet sich unmittelbar in der postmodernen jetzigen Situation und erlebt darüber hinaus das Dilemma der Moderne mit. Dennoch verleugnet und verweigert er nicht „die Utopie einer universalen Kunst, durch die alle wesentlichen Erkenntnisse der Menschheit sinnlich und damit anschaulich erfahrbar werden könnten“400, vielmehr verfolgt er in seinem kompositorischen Schaffen das künstlerische Ideal der Moderne weiter, indem er daauf beharrt, auf die von der Moderne gestellte Frage stetig zu antworten. An diesem Punkt definiert sich Zender als gründlich kompletter Modernist:

Der moderne Künstler ist gezwungen, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die dem Künstler früherer Epochen noch nicht bewusst waren. Entspricht das Formbewusstsein des „klassischen“ Künstlers dem Bewusstsein des autonomen, konsistenten Ich, so spiegeln die nichtlinearen – informellen, antiästhetischen, pluralistischen – Aspekte der modernen Kunst die Tendenz, das Ich zu erweitern, zu sprengen, zu übersteigern und gleichzeitig in seiner Bedingtheit zu erkennen.401

400 Wolfgang Korb: „Einige Persönliche Erinnerungen und Betrachtungen zu Hans Zenders Werk und Persönlichkeit“, in: Saarländischer Rundfunk (Hrsg.), Musik im 20. Jahrhundert. Hans Zender zum 60. Geburtstag, Saarbrücken 1996, S. 13-17, hier S. 17. 401 Hans Zender: „Wegekarte für Orpheus? Über nichtlineare Codes der Musik beim Abstieg in ihre Unterwelt“, in: Die Sinne denken, S.85-94, hier S. 86. 195

Er ist im Sinne von Welsch ein postmoderner Modernist mit seiner eigenen Strategie, der auf der Grundlage der modernen Konzeption die gegenwärtigen Perspektiven über die postmoderne Situation reflektiert. Das Ideal der aktuellen universalen Kunst wird nicht von bereits Gegebenem, Konkretem und Einzigartigem verkörpert, sondern von dem Bestreben, das auf verschiedene Weise durch die Durchdringung der differenten Perspektiven ständig verfolgt wird. In diesem Zusammenhang sind Zenders Musiktheaterstücke als ein experimentaler Raum, in dem verschiedene Möglichkeiten des Archetyps der modernen Kunst aus Differenzen und Widersprüchen anstelle der Geschlossenheit hergeleitet werden, zu interpretieren. Es ist die musikalische Suche nach dem Weg, die postmoderne Gegenwart auszudrücken, und die kompositorische Antwort auf die Fragestellung der Moderne, deren Sphäre bis zum Ende der Grenze durchaus untersucht wird.

196

Anhang a. Liste der Tabellen

Tabelle 1. Vergleich der Figur Stephen und der musikalischen Ebene Avantgarde

Tabelle 2. Gegenstände der Verweigerung und ihre Metaphern

Tabelle 3. Charaktere und ihre

Tabelle 4. Die Reihe des Taktwechsels

Tabelle 5. Taktwechsel in Ziff. 50.

Tabelle 6. Entwurf der 12 Szenen (12 Variationen)

Tabelle 7. erste Szene des zweiten Aktes, Zeitrücksprünge

Tabelle 8. Reihe der zwölf Metronomangabe

Tabelle 9. Das Passacaglia-Thema

Tabelle 10. Das Verhältnis 2 : √2 ≒ 16 : 11 ≒ 13 : 9

Tabelle 11. Vergleich der Konstruktion zwischen dem Roman Cervantes und der Oper Zenders.

Tabelle 12. Verzeichnis der 31 einzelnen Stücke

Tabelle 13. Beschreibung der gesampelten Elemente und Konfiguration der Elemente in jedem Kampf des Stücks Nr. 18.Kampf mit dem Schatten.

Tabelle 14. Die Bilder des Stücks Nr. 19 Montesinos Höhle

Tabelle 15. Die textliche Struktur in der Szene Nr. 2. Don Quijote

Tabelle 16. Verteilung der Stimme durch verschiedene Lautsprechergruppen

Tabelle 17. Verlaufsgrafik für Chief Joseph

Tabelle 18. zwei Perioden in der Leer-Szene 6 (2 x 25 Sekunden)

Tabelle 19. Struktur der Rotation II

Tabelle 20. Die neue Nummerierung des Takts 32 in Indian-Song

Tabelle 21. Bewegungsmodelle

Tabelle 22. Die durch Shi-shi-o-do-shi gebildeten Perioden in der Szenengruppe 1. u. 9.

Tabelle 23. proportionales Verhältnis 4:2:1

Tabelle 24. proportionales Verhältnis 3:4:5

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b. Liste der Notenbeispiele

Notenbeispiel 1. Die Originalreihe von Stephen Climax

Notenbeispiel 2. Die Normal Order

Notenbeispiel 3. Die Originalreihe bei der Antoniosstimme in der Ziff. 7 & 24

Notenbeispiel 4. Inversionen einiger Töne in der Originalreihe der Mutter-Arie

Notenbeispiel 5. Vergleich zwischen dem Beginn der zweiten Szene bei der Kb.-Stimme von Stephen Climax und dem Original der Kantate Bachs (Ziff. 104)

Notenbeispiel 6. Vergleich zwischen der Virag-Stimme und dem Rezitativ der Kantate

Notenbeispiel 7. Sanctus-Zitat

Notenbeispiel 8. Byrd-Zitat

Notenbeispiel 9. Walzer-Zitat in Ziff. 218

Notenbeispiel 10. Akkordwechsel des Bühnen-Klaviers, Ziff. 222-223

Notenbeispiel 11. Geräusch-Effekte in Ziff. 125

Notenbeispiel 12. das Passacaglia-Thema und die Variationen

Notenbeispiel 13. Ziff. 200, S. 348-349

Notenbeispiel 14. Ziff. 211

Notenbeispiel 15. Notenwert (7:5)

Notenbeispiel 16. Ziff. 153

Notenbeispiel 17. Ziff. 286

Notenbeispiel 18. Tritonus im Chor hinter der Szene in der Ziff. 236.

Notenbeispiel 19. Die Zwölftonreihe von Stephen

Notenbeispiel 20. Die Ordnung der Embleme

Notenbeispiel 21. Nr. 19 Montesinos Höhle

Notenbeispiel 22. Finale: Indian-Song VI (Ghostdance-Bewegung)

Notenbeispiel 23. Leer-Szene 1

Notenbeispiel 24. Klage II

Notenbeispiel 25. Szene 3

Notenbeispiel 26. Rotation I

Notenbeispiel 27. Unterteilung des Halbtons in 6Schritten (mit Centabweichung)

198

Notenbeispiel 28. Obertonreihe ab Kontra-C. Abweichung der reinen Werte von den temperierten Werten

Notenbeispiel 29. Indian-Song, T. 32.

Notenbeispiel 30. Takt 43-52 in Szene 3

Notenbeispiel 31. Takt 57-59 in Indian-Song I

Notenbeispiel 32. Indian-Song VI

Notenbeispiel 33. Takt 94-98 in Klage I

199

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200

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Hans Zenders Schriften sind in Auswahl aufgenommen in den Band:

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Weitere Schriften:

Zender, Hans: Wir steigen niemals in denselben Fluß. Wie Musikhören sich wandelt, Freiburg: Herder 1996.

Zender, Hans: Happy New Ears, Freiburg: Herder 1997.

Zender, Hans: Waches Hören. Über Musik, hrsg. von J. P. Hiekel, München: Hanser 2014.

Zender, Hans: “Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph”, in: Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, hrsg. von Christian Utz, Saarbrücken: Pfau 2007, 95-102.

d. Schriften über Hans Zender und seine Stücke

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Elberfeld, Rolf: Kultur, Kulturen, Interkulturalität-Kulturphilosophische Perspektiven der Gegenwart, 85-99.

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