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Printquelle: Printquelle: Mantl, Wolfgang (Hg.): Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1992, S. 279-298.

Gerfried Sperl

Die Sprache der Zweiten Republik

I. Sprache und Politik

Um Gottes willen, schon wieder wir, die Politiker. Natürlich. Dieses Thema betrifft die politische Sprache der Zweiten Republik und damit die Sprache der Politiker. Aber nicht nur. Denn politische Reden werden oft genug von Sekretären und Pressereferenten geschrieben, oder zumindest vorbereitet. Und die Politik wird nicht nur von Mandataren und Funktionären bestimmt, sondern auch von Bürgern, die ein Problem zur Sprache bringen, und natürlich von den Journalisten, deren Sprache ziemlich einflußreich ist. Die Presse-Sprache der Zweiten Republik aber klammern wir aus und konzentrieren uns auf Tendenzen des jeweiligen politischen Sprachgebrauchs in den verschiedenen Phasen der Zweiten Republik.

In der Bundesrepublik Deutschland setzte Anfang der siebziger Jahre eine breite Diskussion über die Sprache und deren macht in der Politik ein. Die Konservativen “begriffen”, daß die Neue Linke der sechziger Jahre nicht nur neue politische “Begriffe” geschaffen hat, sondern über weite Strecken auch die politische Sprache “besetzt” hatte. Daher kam es zu einer “Instandbesetzung” jener Sprache, die – nach Meinung der Kritiker – durch ideologische Muster wie die “Hessischen Rahmenrichtlinien” verarmt und “umfunktioniert” worden war.

Die erste, vehement vorgetragene, Kritik kam an der Wende zu den siebziger Jahren vom damaligen CDU-Generalsekretär Kurt H. BIEDENKOPF, der zum Widerstand aufrief. In weiteren Kreisen bekannt wurde der in den Jahren 1974/75 geführte Briefwechsel zwischen dem bayerischen Kultusminister Hans MAIER und dem Schriftsteller Heinrich BÖLL nach dem Erscheinen der “Katharina Blum”, einer Abrechnung mit der Springer-Presse. Der Disput konzentrierte sich auf einen Vortrag MAIERs, den dieser 1972 mehrmals gehalten hatte: “Aktuelle Tendenzen der politischen Sprache”. Und – im Gegenzug – auf BÖLLs Nobelpreis- Rede: “Versuch über die Vernunft der Poesie”. 1

Verweilen wir kurz bei dieser Auseinandersetzung, weil sie in Österreich zwar nicht intensiv geführt wurde, aber doch die sprachliche und politische Entwicklung beeinflußt hat.

BÖLL siedelt sich sofort und geschickt in der Mitte zwischen konservativem und linkem “Vokabularismus” an – indem er “rituell angewandte Formen” der Linken ebenso kritisiert, wie jene konservative “Angst vor Emotionen”, die sich in Vokabeln wie Sozial- und Tarifpartnern, Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausdrücke. Der Literat plädiert für die Rückbesinnung auf “arm und reich”, ein Begriffspaar, das MAIER wegen der klassenkämpferischen Aspekte beklagt.

Dahinter steckt natürlich die prägende Kontroverse zwischen der evolutionären Vernunft des Karl POPPER und dem revolutionären Elan des Herbert MARCUSE 2 BÖLLs Plädoyer für Emotionen weist aber bereits in die damals erstmals auftretende, heute mächtige “alternative

1 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 29./30. Jänner 1977. 2 Revolution oder Reform. Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation. München 1971 1

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Politik” und in die Strukturen jener Jugendbewegung, die – wie bei den Zürcher Unruhen – der “etablierten Politik” zuviel Kälte und zuwenig Sinnlichkeit und Gefühl 3 vorwarf.

MAIER hat Angst vor “polarisierenden, militanten, parteiischen Neubildungen”, BÖLL vor einer “totalen Versachlichung”, die “Phantasie, Poesie” einem “detailgenauen Logikkalkül” und damit der Computersprache unterordne. Wenngleich man sich nicht in den “poetischen Staat” (NOVALIS) verirren könne, so müsse doch die politische Brisanz der Dichtung gegenüber der “Realgesinnung” (WERFEL) verteidigt werden.

Diese Klärung der Positionen ist deshalb so wichtig, weil damit auf ein Phänomen hingewiesen wurde, das durch die verkürzte Darbietung der humanistischen Bildung zu wenigen bewußt ist. Vor dem Entstehen der Massenmedien, vor allem aber im klassischen Griechenland hatte das literarische Wort hohes politisches Gewicht. Weil Kritik nicht über die Medien vervielfältigt werden konnte, fand sie im Theater statt. Später: Wer etwa Roman und Theater von BULGAKOW über den Herrn MOLIERE kennt, der weiß um die starke Wechselwirkung zwischen politischer und literarischer Sprache.

Warum entfaltete sich diese Diskussion in Österreich nicht? Der erste Punkt: Die Zweite Republik hat keine Tradition einer literarisch-politischen Auseinandersetzung. Es gibt sie nur im ganz persönlichen, im religiösen und partiell im Fäkal-Bereich 4, oder wenn einzelne Politiker glauben, das “gesunde Volksempfinden” verteidigen zu müssen. Im übrigen ist die Literatur eher ein Lieferant für Versatzstücke politischer Reden. Aber auch die Literatur selbst attackiert zuwenig, vereinzelte Angriffe werden selten erwidert. 5 Die meisten Schriftsteller konzentrieren sich auf ihr Opus, greifen in die aktuelle Diskussion jedoch nicht ein.

Der zweite Punkt: Nach den Wahlniederlagen der Jahre 1970 und 1971 war die ÖVP wohl zu schwach, um die “Sprache” zur Sprache zu bringen, die Ära KLAUS hatte kein Umfeld geschaffen, in dem Intellektuelle eine solche Debatte eröffnen hätten wollen. Sie – die ÖVP – hat in den Todesjahren der Großen Koalition nicht begriffen, daß man auf längere Sicht nur dann mehrheitsfähig ist, wenn man eine politische Kultur entwickelt, die Dissidenten ernst nimmt. Gerade dies vermochte die SPÖ unter der Führung Bruno KREISKYs sehr rasch, wobei ihr klimatisch Günter NENNINGs “Neues Forum” zu Hilfe kam. Ähnlich – aber schon seit Beginn der sechziger Jahre – die steirische Volkspartei. Sie kapselte sich von den neuen künstlerischen Tendenzen nicht ab, pflegte literarische Sprachmuster über den damaligen

3 Nicht zu verwechseln mit “Gefühl” in Verbindung mit “Geschmack” – Politik also als ästhetisches Verfahren. Vgl. Josef HASLINGER, Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich. Neuwied/Rhein 1987 4 Zu erinnern ist: An die Konflikte um die Wiener Aktionisten, an die Auseinandersetzung zwischen Josef TAUS und Peter TURRINI, sowie an die ACHTERNBUSCH-Affäre (die mit alten Reibereien um den “steirischen herbst” zusammenhing). 5 Der einzige “angriffige” Dichter war eigentlich Thomas BERNHARD. Wie die Beschlagnahme seines Buches “Holzfällen” zeigte, ging es auch hier nicht eigentlich um politische Grundsätze, sondern um österreichische Tabus (“Eine Erregung”). “Politische” Schriftsteller sind zweifellos Peter TURRINI, Elfriede JELINEK und Michael SCHARANG. – Vgl. Michael SCHARANG: Das Wunder Österreich. Oder wie sich ein Land immer besser und dabei immer schlechter wird. Wien 1989 2

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Kulturreferenten Hanns KOREN und hatte somit keinen Grund, die “Besetzung von Begriffen” durch andere zu beklagen. 6

II. Unterscheidungen

Um das gestellte Thema genauer fassen zu können, die Bedeutung der Sprache im österreichischen Kontext zu erklären und somit auch die Ausstrahlung der deutschen Thematik, sind Unterscheidungen nötig, die in zeitliche und strukturelle Phänomene münden. 1. Gruppenmerkmale der Sprache a) Die Sprache der Herrschenden b) Die Sprache des Aufbegehrens c) Die Sprache der Subkultur

2. Die Sprache politischer Phasen a) Die Sprache des Wiederaufbaus b) Die Sprache der neuen Identität c) Die Sprache der Gesellschaftskritik d) Die Sprache des Aufschwungs e) Die Sprache der Skepsis und Einschränkung f) Die Sprache des neuen Populismus

3. Symbol- und Körpersprache a) Die Krawattengeneration b) Die färbige Vielfalt c) Die Pullover-Politik

Die Sprache der Herrschenden. Sie ist natürlich kein spezifisch österreichisches Phänomen und letztlich nicht rational begründbar: “Das Ziel der Menschenbeeinflussung, das in der Politik so oft im Vordergrund steht, ist in vielen Situationen nicht allein mit rationaler und sachlicher Argumentation erreichbar”, schreibt der Grazer Ideologiekritiker Kurt SALAMUN 7, und bedient sich statt ideologischer Muster zunehmend der Möglichkeiten der Werbung. Im österreichischen Zusammenhang interessieren uns zwei Strategien, die erfolgreich sein konnten, weil sie vermutlich mit den Gefühlen und dem Bewußtsein einer Mehrheit übereinstimmten. Erfolgreich war in der Ära RAAB die Strategie der Identifikation, weil Baumeister war und dieser Beruf mit der Aufbau-Gesinnung zusammenfiel.8 Ganz anders die Ära KREISKY. Seine Ausflüge in die Weltpolitik und in die Literatur spiegelten die Öffnung der sechziger Jahre (KENNEDY, JOHANNES XXIII.) und brachten die Renaissance des “Österreichischen” zum Ausdruck. Dazu kam KREISKYs völlig unverkrampftes Verhältnis zu den Medien und zum

6 Beim Begräbnis für Josef KRAINER sen. Im Jahre 1971 hielten und Hanns KOREN die Trauerreden. Man müßte diese als sprachliche Zeugnisse des Österreichischen publizieren. Hochinteressant: Die Trauerfeier wurde von Architekten der “Werkgruppe” gestaltet, die wesentlich an der Gründung des “Forum Stadtpark” beteiligt waren. 7 Vgl. Kurt SLAMUN: Ideologie und Aufklärung. Weltanschauungstheorie und Politik. Wien-Köln-Graz 1988, 14. 8 Vgl. Aufsatz d. Verf. In: Was, Nr. 35/1982 3

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Fernsehen. 9 Bruno KREISKY arbeitete gleichzeitig sehr geschickt mit der Taktik der Vereinnahmung, indem er sich nicht scheute, öffentlich die Umgangssprache zu verwenden. Er sagte “es wurmt mich”, oder “der ist gefinkelt”, oder “die MEIR hat mich heruntergeputzt ...”. Günther NENNING, trotz seiner “Wurstel”-Kontroverse mit KREISKY ein Architekt des SPÖ- Sieges von 1970, hat bereits 1966 kurz nach der Erringung der “Absoluten” durch die ÖVP das katholische Lager angesprochen. In der Juli-Nummer des “Neuen Forum” schrieb er unter dem Titel “Öffnung oder Untergang”: “... wird Sozialismus häufig als Oberbegriff für die westliche Sozialdemokratie und den marxistisch-kommunistischen Sozialismus gebraucht. Das ist insofern korrekturbedürftig, als zum Sozialismus natürlich auch der christliche Sozialismus in allen seinen Spielarten gehört”. Das war die Arbeit an der christlichen Flanke, während KREISKY durch beginnende Kritik an Israel selbst die freiheitlichen Fransen beeindruckte.

Die Sprache des Aufbegehrens ist nicht die Sprache der Beherrschten, sondern jener im Vorhof der Macht – zum Beispiel der Grün-Alternativen vor dem Einzug in einen Gemeinderat, der studentischen Rebellen der sechziger Jahre, der Formulierer in den wissenschaftlichen Denkfabriken, teilweise auch die Sprache politischer Journalisten.

Ihre Hauptthemen waren in den fünfziger und sechziger Jahren die Kritik an der Großen Koalition, am Ämterproporz, an den Hierarchien: “Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren”, oder “Trau keinem über Dreißig” – beides natürlich Importe aus der Bundesrepublik. In den siebziger Jahren verlagerte sich die Kritik auf Umweltthemen, auf die Rüstungsproblematik und – besonders populär – auf die Politikergehälter.

Es gibt Anzeichen, daß neue oppositionelle Einstellungen aus tieferen Einsichten in alte Zusammenhänge entstehen könnten. Ermöglicht wird dies durch effiziente Methoden in der Altertumsforschung und durch biologistische Denkweisen, die stark in die Alternativbewegung hereinspielen. Mit Konrad LORENZ hatte Österreich dafür einen “genuinen Philosophen”. 10

Die Sprache der Subkultur ist scheinbar unpolitisch, aber der politische Unterton von Rock- Texten wie “Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir fördern das Brutto-Sozialprodukt” ist nur ein Aspekt der “Szene”. Der andere sind die durch den Schweizer Harald NAEGELI europaweit konfliktträchtig gewordenen “Graffiti”, die – wie so oft – Leute aufregen, denen es sonst ein Anliegen ist, die “Geschichtslosigkeit” unserer Zeit zu beklagen. Die Graffiti-Tradition reicht bis in biblische Zeiten und blieb in der romanischen Welt stets virulent. Für uns ist sie neu. Heinz-Jürgen KRUPKA: “Als Zeichensystem des politischen Handelns sind Graffiti meist

9 KREISKY hat 1966 den SPIEGEL zu einer TV-Diskussion herhausgefordert. Ein bis dato in Österreich einmaliger Vorgang. Vgl. auch die Diskussion über den “Journalistenkanzler”. 10 Folgende Schlüsselbücher sind hier zu nennen: Konrad LORENZ: Das sogenannte Böse. Versch. Auflagen 1963-81. Hans Peter DUERR: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt/Main 1978. Paul FEYERABEND Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt/Main 1980. Leopold KOHR: Die überentwickelten Nationen. 1983. Erwin CHARGAFF: Warnungtafeln. Stuttgart 1982. Über LORENZ und dessen (österr.) Schüler wurden viele “Bio-Wörter” in den Sprachgebrauch getragen, über DUERR zahlreiche ethnologische Begriffe. In “Der gläserne Zaun” – Aufsätze zu Hans Peter DUERRs “Traumzeit” hg. v. Rolf GEHLEN/Bernd WOLF: Frankfurt/Main 1983, schrieben auch der Wiener Adolf HOLL; der Grazer Rechtsphilosoph Peter STRASSER und der Grazer Philosoph Sepp MITTERER, der über “Sprache und Wirklichkeit” dissertierte. Stark beeinflußt von der Diskussion dieser Strömungen ist die auch die steirische Kulturpolitik mitprägende Literaturzeitschrift “Sterz”. 4

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ein Ausdruck der Unlust und des Widerwillens gegen das System oder seine Machthaber ... Ihre volle Bedeutung erhalten sie durch die Umwelt ... das Graffiti “Lebt, Leute lebt” ändert seine Bedeutung jeweils damit, ob es in einer häßlichen Neubau-Siedlung, auf der Berliner Mauer oder an der Mauer eines AKW angebracht ist”. 11

Wegen der Anonymität des Autors oder Künstlers gehören Graffiti (Inschriften, Wandmal-Texte) in den Bereich der Subkultur (während das Flugblatt mit klar gekennzeichnetem Impressum der “Sprache des Aufbegehrens” zuzuzählen ist). Ihr Inhalt bleibt denk-würdig unbeschadet der öffentlichen Ärgernisse. Diese “neuen Aphorismen” könnten, wenn ihre Entstehung vergessen, ihre eigentliche oppositionelle Bedeutung verblaßt ist, sogar in die “Sprache der Herrschenden” einrücken:

Die Frage ist: Gibt es ein Leben nach der Geburt? Gott ist tot. Nietzsche. Nietzsche ist tot. Gott. Die Bullen von heute sind die hot dogs von morgen. Hier herrschen Sucht und Ordnung.

III. Die zeitlichen Phasen

Die bereits genannten Phasen überlappen einander, die These wäre: Jede Zeit hat ihre sprachlichen Ausdrucksformen. Jene politische Richtung oder Gruppe, die eine solche – mit dem jeweiligen politischen Bewußtsein identische – “Stimmung” erfaßt, begreift und benützt, ist erfolgreicher als andere.

Aus diesem Grund ist es sehr einleuchtend, daß die ehemaligen Nationalsozialisten knapp nach dem Krieg als Personen wohl wahlentscheidend waren, daß ihre Sprache aber (in der Struktur gleichgeblieben, aber “Reizvokabel” vermeidend) keine prägende Wirkung haben konnte. Man hatte die Vergangenheit zwar nicht bewältigt, aber die Zukunft angepackt.

Aus den Wurzeln des Konsenses entstand ein ganz entscheidender politischer Begriff, der sich als mittlerweile tabuisierter Mythos gehalten hat – die “Sozialpartnerschaft” (mit der Graffiti-Kritik versehen: “Sozialpanzerschaft”). Und ein zweites Wort, das allgegenwärtig ist, aber umstritten blieb: “Verstaatlichte” (Industrie). Die meisten anderen Staaten verwenden den Ausdruck “nationalisiert”.

Etwas exotisch hört sich so manches an, das in den “programmatischen Leitsätzen” der Volkspartei 1945 zu lesen ist. Begriffe wie “Ritterlichkeit”, oder “Lenkung” oder “Miliz” haben sich bei uns genausowenig durchgesetzt wie dieses Programm selbst, das nach dem Willen seiner Initiatoren an die katholische Tradition der britischen Labour-Party anknüpfte. Durchgesetzt hat sich die Sprache des Wiederaufbaus, stets dem Volk und dem Vaterland verpflichtet. Sie hat ihre große Zeit nach dem Staatsvertrag und bröckelt dann ab bis hin zum Ende der Einparteienregierung KLAUS im Jahre 1970.

11 Vgl. Heinz-Jürgen KRUPKA: Die geheime Sprache der Dinge. In: Süddeutsche Zeitung. 4. Mai 1983. 5

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Von Anfang an haben die Sozialisten ihre “Gesellschaftsordnung” ins Spiel gebracht, basierend auf der “Arbeiterbewegung”, während die ÖVP von einer “Arbeiterschaft” spricht – erinnernd an Wörter wie “Belegschaft” (heute noch in Unternehmen gebräuchlich) oder “Gefolgschaft”. Redlichkeit, Sauberkeit, Korrektheit sind immer wieder zitierte Vokabel, die schließlich angesichts des wachsenden “Proporzes” zu Leerformeln werden.

Was die Wirtschaftlichkeit anbelangt, ist zunächst lediglich vom Ziel eines “hohen Beschäftigungsstandes” die Rede, in den sechziger Jahren hat sich die “Vollbeschäftigung” durchgesetzt. Eigentumsbildung, Eigenkapital sind ebenso wie die Kaufkraft Zeichen des “Wohlstandes”. Erst 1961 taucht in einer Regierungserklärung die “Dritte Welt” ganz direkt auf. Noch spricht man nicht von “Unterentwickelten”, sondern von “Minderentwickelten”, denen man helfen müsse. In den fünfziger Jahren hat man noch keine Probleme “gelöst” oder “bewältigt”, man hat sie in ganz traditioneller Art “gemeistert”. 1953 und später räumen die Regierungserklärungen dem “Handwerk” breiten Raum ein, ebenso wie der “Lehrlingshaltung” (!). 1961 unter spricht man nur noch von “Klein- und Mittelbetrieben” und von der “Lehrlingsausbildung”. Trotzdem gibt es einen interessanten Gleichklang. Eine Passage der Regierungserklärung Julius RAABs vom 15. April 1953 könnte auch in jener des Kreisky- Nachfolgers stehen: 12 “Bei den langen Jahren ständigen Preisauftriebs müssen sich bei der Umstellung der Wirtschaftspolitik vom inflationistischen Kurs auf die Stabilisierung Schwierigkeiten und Reibungen ergeben.”

Empfohlen werden aber weder eine Anonymitätsabgabe, noch eine Erhöhung der Mehrwert(Umsatz-)steuer, sondern ein Sparbegünstigungsgesetz kombiniert mit steuerlichen Erleichterungen zur Steigerung des “Mehraufkommens”.

Zu kurz kam – verständlich – die Entwicklung einer innovativen politischen Kultur. Otto SCHULMEISTER kritisiert 1967: 13 “Wo klingt noch die Sprache des Schwierigen nach? ... Wo erst ist das österreichische Gesicht zu entdecken ...? Hier scheint nur zu oft etwas Teigiges, breihaft Erstarrtes ... zur Ausstattung von heute zu gehören.” 14 “Das verlorene Gesicht und die verlorene Sprache – auch ihr Verlust macht grausam schmerzlich bewußt, daß es heute zwei Österreich sind: das von damals und das von heute.” SCHULMEISTER war etwas entgangen, das sich auch in den Regierungserklärungen des in den Jahren 1964 und 1966 nicht eingepflanzt hatte (wenngleich man eine “Modernisierung” nicht ableugnen kann – Forschung, Studienreform, Rundfunkreform, Strafrechtsreform). Im Hintergrund hatte sich etwas ereignet, das die Politik des offiziellen Österreich seit Jahren nicht verstanden hatte.

Im amerikanischen Princeton war ein Österreicher die Sensation der Tagung der Gruppe 47: Peter HANDKE wetterte gegen die “Beschreibungsliteratur”, dieser “zarte Beatle mit der unzarten Wut” (Helmuth KARASEK), mit seinem “Zorn gegen die alten Bonzen” (Joachim

12 Zit. Nach Maximilian GOTTSCHLICH/Oswald PANAGL/Manfried WELAN: Was die Kanzler sagten. Regierungserklärungen der Zweiten Republik. 1945-1987. Wien-Köln 1989, 112. 13 Otto SCHULMEISTER: Die Zukunft Österreichs. Wien 1967. 14 Zu verweisen ist dabei auf die Assoziation mit den erst viel später auftretenden Farb-Gesichtern der Deix-Karikaturen. 6

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KAISER). “So schmerzlos wie bei ihm war die Wortmoderne selten zu haben” (Rainer BAUMGART). 15

HANDKE kam aus Graz, weil dort hochgekommen war, was man in Wien nicht wahrnahm oder sogar unterdrückte: nämlich die Literaturgruppen um Konrad BAYER, Ernst JANDL und Friederike MAYRÖCKER, assistiert von neuen Bewegungen in Kunst und Architektur (ACHLEITNER, HOLLEIN, PICHLER, NITSCH, HOLLEGHA, MIKL etc.) Daraus entwickelte sich die Sprache der neuen Identität. Ihren Beginn kann man in den Jahren 1958/59/60 ansetzen, ihr Ende ist – hoffentlich – nicht abzusehen.

Die offizielle Politik war zunächst vorbeigegangen an publizistischen Phänomenen wie dem von Friedrich TORBERG redigierten “Forum”, dem von Rudolf HENZ herausgegebenen “Wort in der Zeit”, wo sogar Andreas OKOPENKO und Thomas BERNHARD publizierten, an “Wort und Wahrheit”, wo neben OTTO MAUER und Karl STROBL auch SCHULMEISTER den Ton angab. Die Politiker wußten zweifellos davon, aber sie nahmen die Wirkung nicht wahr. Führende Publizisten wie SCHULMEISTER waren mitten drin, begriffen aber die Motive der ganz Jungen nicht sofort. 16

Gleichzeitig begann eine Renaissance der Studentenzeitschriften. In Wien “Top secret” und “Top public” von Werner VOGT, der Grazer “Impuls” unter Kuno KNÖBL, dann Hans PREINER. Und erst recht das literarische Organ des Grazer Forum Stadtpark, die “manuskripte”, später die lebendigen Nummern der CV-Zeitschrift “academia” unter Wolfgang AIGNER und Werner A. PERGER.

Die Sprachfindung orientierte sich philosophisch an der Frankfurter Schule, theologisch an Karl RAHNER und Johann B. METZ, literarisch an Franz KAFKA, strukturell an Ludwig WITTGENSTEIN – zunehmend aber auch an Amerikanern wie HANDKEs “Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt” zeigt. Aus dieser Spurensicherung und der Konfrontation mit der Welt entstand Neues, das man an Hand einer Passage aus Thomas BERNHARDs “Ungenach” illustrieren kann. “Der Österreicher, meinte Moro, sei so, daß es nicht nützt, ständig, weil einem dieses geschlagene Volk immer noch leid tut, auf Mozart und Stifter, auf den verrückten Raimund und auf den wahnsinnsgemäßen Wittgenstein hinzuweisen, auf die Natur hinzuweisen, die doch zweifellos eine österreichische Natur sei .... ‚Man glaubt uns heute weder die Macht (und die Kultur!), die wir gehabt haben, oder überhaupt nie gehabt haben, weil man uns überhaupt nichts mehr glaubt‘”.

BERNHARD glaubte vor allem an seine Art der Literatur wie die anderen an ihre. Es dauerte jedoch bis zur sozialistischen Alleinregierung, um diese “neue österreichische Identität” hoffähig zu machen. Sie wurde gefördert, was sich schließlich sogar in Künstlernamen auf Wahlempfehlungen für KREISKY ausdrückte. Mit Fug und Recht konnte deshalb auch Ernst JANDL über die österreichische Fahne dichten: “Rot ich weiß

15 Über Peter HANDKE, vgl. SPIEGEL Nr. 22/1970. 16 In der SPÖ eliminierte man Heinz BRANTLs hervorragend gemachte Wochenzeitung “Heute”, die eine Renaissance der politischen und kulturellen Kritik einleitete. Sie hätte so etwas wie eine österreichische “Zeit” werden können. 7

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rot”

III. Exkurs: KLAUS und KREISKY

Der “echte Österreicher” Josef KLAUS (Plakattext) aus dem Kärntnerischen und der Jude Bruno Kreisky verkörpern zwei ganz verschiedene Konzepte der österreichischen Nachkriegspolitik. 17 Der eine ein Schwimmer, Sauna-Geher und Bergsteiger aus den Alpen, musikalisch identifizierbar mit dem Volkslied, ein braungebrannter Mann, der auch Präsident des Schiverbandes hätte sein können. KLAUS “rauchte nicht wie Raab, trinkt nicht wie Figl, witzelt nicht wie Gorbach”. 18 Der andere ein Anti-Sportler aus der großbürgerlichen Tradition der SCHNITZLER, HOFMANNSTHAL und BROCH, musikalisch identifizierbar mit SCHUBERT und SMETANA, eine narzißtische Spieler-Natur. Und doch haben sie eines gemeinsam, das sie – jeder in seiner Art – zu unverwechselbaren Gestalten dieses Österreich macht. Josef KLAUS wurde eine “unösterreichische Askese” zugeschrieben, weshalb man ihn für befähigt hielt, die abgelebte Große Koalition durch einen neuen Stil zu ersetzen. Das ist ihm gelungen, das ist seine große Leistung. Eine strenge politische Moral (überlagert freilich durch Machtgefühle) gehört gleichwohl auch zu jenen Eigenschaften Bruno Kreiskys, die ihn zum Verfolger von machten: “Ich kann mir eine Politik ohne moralische Verantwortung überhaupt nicht vorstellen.” Denn alles andere führe zu einem “Macchiavellismus”. 19

Vielleicht ist Josef KLAUS zu früh oder zu spät Kanzler geworden, jedenfalls nicht zum richtigen Zeitpunkt, um für die ÖVP jene Mehrheit abzusichern, die sie auch wegen der Olah-Krise erhielt. Die politischen Umstände dürfen uns hier nicht weiter interessieren, wohl aber die sprachlichen Unterschiede der beiden Männer. KLAUS symbolisiert nicht nur das Finale des Wiederaufbaus, sondern auch den Optimismus des Aufschwungs. Seine Sachlichkeit aber läßt ihn eine seltsam hölzerne Sprache führen, eine unhistorisch-technische: “Es ging mir darum ... zu präzisieren” – “Meine Formel lautet: Optimismus mit viel Geduld” – “Unsere Freiheit muß uns große Opfer wert sein” – “Ich habe das ... deutlich gemacht”. In Interviews antwortet KLAUS direkt oder entgegnet barsch, während KREISKY zuerst die Fragen für seinen Gebrauch “herrichtet”. KLAUS wirkt immer objektiv, KREISKY subjektiv. KLAUS redet hart an der Sache, KREISKY bringt Querverweise, weicht aus, zitiert Beispiele aus dem täglichen Leben: “Daherregieren” – “Leute, die sich ein Jaukerl geben”. Er wirkt immer plastisch. Zur Sprache selbst kommt deren Tonfall. “Ham’s die Sesseln für’n Sadat schon bestellt?” im Zeit-Magazin 1975 zitiert. 20 Das war in einer Phase, als der Kanzler den Zenit des “Sonnenkönigs” (Kurt VORHOFER) überschritten hatte und Thomas BERNHARD ätzen konnte: “Höhensonnenkönig”. 21 Tatsache ist, daß in Österreich die Vergangenheit wieder etwas galt und daß man das “Fin de Siècle” 22 samt den mitteleuropäischen Lebensweisen wiederzuentdecken begann. 23

17 Zum histor. Zusammenhang Alfred ABLEITINGER in diesem Band. 18 SPIEGEL-Einleitung zu einem KLAUS-Interview. 1967. 19 Vgl. SPIEGEL Nr. 19/1972 20 Vgl. DIE ZEIT, ZEIT-Magazin Nr. 41/1975. 21 Vgl. Interview mit Fritz RADDATZ. In: Die Zeit, 10. Juli 1981. 22 Roger BAUER, (HG.): Fin de siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt/Main 1977. 23 Eine Reihe jüngerer österr. Schriftsteller bemüht sich seit Mitte der siebziger Jahre um eine literarische Neuinterpretation Mitteleuropas. Siehe die Bücher Peter ROSEIs oder Helmut EISENDLEs und dessen 8

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In seinem Drama “Der grüne Kakadu” hat Arthur SCHNITZLER an Hand der Französischen Revolution in Wirklichkeit Ironisches über Österreich geschrieben und eine Vermischung zwischen Spiel und politischem Handeln konstatiert. Ideologisches (“Konkurrenzkampf der Ideen”) 24 steht zwar im Vordergrund – gleichwohl sind psychologische Motive und persönliche Traditionen wichtiger. Nach Auffassung des amerikanischen Historikers Carl SCHORSKE führte HOFMANNSTHAL das SCHNITZLER-Szenario weiter. HOFMANNSTHALs These: Die große Kunst (sogar die politische) hängt ab von einem Anerkennen der psychischen Wirklichkeiten im alltäglichen Leben. Nicht Stimmabgabe führe zum Umschwung, sondern das Gefühl einer “Teilnahme an der Zeremonie des Ganzen”. Das heißt: “Nur in einer rituellen Form der Politik, von welcher keiner sich ausgeschlossen fühlt, können die ungeformten Kräfte der widerstreitenden Individuen in Einklang gebracht werden”. 25

Irgendwie verkörperte KREISKY die Wiedergeburt des Schwierigen und – trotz AKH – des Unbestechlichen. KLAUS, das war eher Karl SCHÖNHERRs heutiges Sprachprofil. Der “rote Kakadu” las jeden Dienstag nach dem Ministerrat das politische Hochamt medial vervielfältigt. Während KLAUS des morgens in die Berlitz School eilte, telephonierte KREISKY im Bett. KLAUS konnte sich über etwas empören, KREISKY grantelte und attackierte sprachlich: “Der Herr Stangl oder wie er heißt ...” (über den Grazer SPÖ-Politiker Alfred STINGL). 26

Begreiflich ist der Ärger KREISKYs im letzten Jahr seiner Regierung, als Oppositionschef im Belvedere und in einem City-Palais quasi-staatliche Erklärungen abgab. Ein Rivale pfuschte in den Habsburg-Mythos, in die Licht-Metaphysik. 27

IV. Weitere Phasen

Der Sprache der Gesellschaftskritik war nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Sie ist nahezu identisch mit der Phase der studentischen Rebellion und den ersten Jahren der neu formulierten Emanzipation der Frauen. Sie reicht zeitlich also von etwa 1962 bis 1972 – ihr Ende ist markiert einerseits durch die Thesen des “Club of Rome”, andererseits mit der Stabilisierung der sozialistischen Regierungsmacht.

Diese Sprache leitet sich her vom Neo-Marxismus und der Frankfurter Schule, vom Aufstieg neuer wissenschaftlicher Fächer wie der Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie in ihrer anti-freudianischen Prägung. Ein ganzer Schub von neuen Begriffen überschwemmte auch bei uns den politischen Sprachgebrauch – vieles davon ist geblieben, weil die Macht dieser Sprache zwar nur kurz währte, sich aber tief einsenkte.

Städteporträts in der “Süd-Ost-Tagespost” 1985/86. Beeinflußt freilich von den Initiativen und Texten Milan KUNDERAs und György KONRADs. 24 Vgl. SPIEGEL Nr. 19/1972 25 Carl E. SCHORSKE: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Frankfurt/Main 1982, 19. 26 Das “Älplerische” am Österreicher ist noch weniger erforscht als das “Wienerische” und “Pannonische” oder gar “Böhmische” wie in: William M JOHNSTON: Österr. Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938. Wien-Köln-Graz 1974. 27 Vgl. Ernst K. WINTER: Rudolph IV. von Österreich. Wien 1934 9

Autor/Autorin: Gerfried Sperl • Titel: Die Sprache der Zweiten Republik Printquelle: Mantl, Wolfgang (Hg.): Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1992, S. 279-298 • Onlinequelle: www.demokratiezentrum.org Demokratiezentrum Wien

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Es blieb nicht bei einzelnen Modewörtern. Ganze Begriffsfelder wurden wegen ihres theoretischen Hintergrunds geschaffen, neue Denkmethoden eingeführt, um die “industrielle Gesellschaft” in den “Griff zu bekommen”. Man war “betroffen” und “engagierte” sich bei der “Veränderung”, die man gegenüber dem “Establishment” durchsetzen mußte. Wer nicht mittat, hatte ein “falsches Bewußtsein”, wer sich gar widersetzte, war zumindest “faschistoid”. Deshalb mußten die Kinder auf jeden Fall “anti-autoritär” erzogen werden. Wenn das auf Kritik stieß, fühlte man sich “diskriminiert” – alles Wörter, die uns geradezu ein “Bedürfnis” waren, die aber heute schon wieder viel von ihrer Berechtigung verloren haben.

Neben diesem Begriffsfeld von Macht und Ohnmacht bildete das Theorie-Praxis-Problem neue Aspekte heraus. Kurt SONTHEIMER hat von einem “Einbruch der Theorie in das politische Denken” gesprochen. 28 In einer Zeit der Dominanz des Praktischen (Wiederaufbau) suchte man nach einem Instrument, das die Oberschicht der politischen Handwerker erschüttern konnte. Man fand es in der Theorie. Wer sie zu wenig benützte, hatte ein “Theoriedefizit”, wer damit erfolgreich umging, war “theoriebewußt”, wer über viele Theoretiker verfügte, hatte ein großes “Theoriepotential”. Man setzte sich letztlich nicht mehr mit historischen Vorgängen auseinander, sondern mit den Theorien über diese Vorgänge. Um der Theorie die richtige “Dimension” zu geben, wurde nur noch “demokratisiert”, “differenziert”, “postuliert” und “anvisiert” – bis hinein in den Kindergarten, wo die Kleinen nach langem Schweigen wenigstens die Qualität der Jause “problematisierten”. 29

Das war für die Eltern dann ein “Erfolgserlebnis”, womit wir bei der psychoanalytischen Euphorie sind. Ein Einbruch, der genauso wie der zuvor geschilderte nicht abgeschlossen ist, weil natürlich etwas “dran” ist – weil man nicht nur ironisch über solche Phänomene hinwegschreiben kann. Hinter der “Theorie” stehen die Fehlentwicklungen der modernen Gesellschaft, die man durch Analyse und Therapie “eliminieren” will. Hinter der Psychoanalyse steckt die Sorge um die seelischen Verletzungen. Jedenfalls sind die “psychosomatischen Auswirkungen” der “Frustrationstoleranz” noch nicht ausreichend untersucht, das aufgestaute “Aggressionspotential” gegenüber so vielen bedenkenlos verwendeten, von wenigen aber verstandenen Begriffen sitzt uns nach wie vor im Nacken.

Immerhin führen wir darüber immer noch ausführliche “Dialoge” – Jahre nach dem Ende der Paulus-Gesellschaft. Vor allem auf politischer Ebene, wenn es um Wahlgespräche geht. Im Sinne von Kurt LENK ist dies eine Rechtfertigungs-Ideologie. 30

Viele dieser Begriffe (ausgenommen die psychologischen) wurden in den ersten “Roten Markierungen” Heinz FISCHERs auf die österreichische Situation übertragen. Weniger einflußreich war da Alois MOCKs “Die Zukunft der Volkspartei” 31 , wenngleich es – im Rückblick – einige erstaunliche Formulierungen und Vorschläge gibt. Karl PISA sah die ÖVP als

28 SONTHEIMER-Aufsatz in: Süddeutsche Zeitung, 11./12. Oktober 1975 29 In Österreich wurden die neuen Kindergärten weniger von marxistischen, vielmehr von britischen Leitbildern geprägt (Summerhill). 30 Vg. Kurt LENK: Volk und Staat. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1971. 31 Alois MOCK (Hg.): Die Zukunft der Volkspartei. Eine kritische Selbstdarstellung. Wien-München-Zürich 1971. – (Hg.): Rote Markierungen. Beiträge zur Ideologie und Praxis der österr. Sozialdemokratie. Wien-München-Zürich 1972 10

Autor/Autorin: Gerfried Sperl • Titel: Die Sprache der Zweiten Republik Printquelle: Mantl, Wolfgang (Hg.): Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1992, S. 279-298 • Onlinequelle: www.demokratiezentrum.org Demokratiezentrum Wien

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“Problemlösungspartei” und der Aufsatz von Helmuth SCHATTOVITS nimmt so manche alternative Organisationsform vorweg. Der Autor nannte dies einen “Vorschlag zur Dynamisierung der Partei”.

Peter DIEM indessen ist im Mock-Buch jener Autor, der am lockersten mit den neuen Wörtern umgeht. Abgesehen von den grassierenden Anglizismen schreibt DIEM von einer “Umsetzung christozentrischer Theorie in gesellschaftliche Praxis”.

Der heutige Infratest-Guru des ORF kritisiert, was den jungen Intellektuellen damals feindlich erschien: die “Manipulation durch die Massenmedien”, die “Überbetonung des Leistungsprinzips”, der “Konsumzwang”, die “repressive Sexualmoral” und/aber die “Scheinbefreiung durch den modernen Pansexualismus”. Diese Speisekarte garniert er mit der Forderung nach einer “Realisierung des Liebesgebots”, ein Vorgriff auf alternative Inhalte.

Es ist bemerkenswert, daß einer der farbigsten ÖVP-Denker von Anfang an, , in diesem Buch nicht aufscheint. Er gab gemeinsam mit Meinrad PETERLIK Ende der sechziger Jahre einen Band heraus, der sich (wie übrigens zuvor die TV-Diskussionsreihe Otto SCHULMEISTERs “X-32” im Jahre 1968) breiter angelegten Spektren widmete: “Die unvollendete Republik” (Wien 1968).

Die Frauenbewegung hatte Österreich ebenfalls erreicht, sie äußerte sich publizistisch indessen eher sparsam. Gabrielle TRAXLER war eine der ersten, die 1973 mit ihrem Buch “Zwischen Tradition und Emanzipation” 32 die Lage der Frauen umschrieb und dabei direkt von Kate MILLETs “Sexus und Herrschaft” ausging. In einem eigenen, kurzen Kapitel beschäftigt sich Inge SOLLWEDEL mit den damaligen Lehrbüchern für den Deutschunterricht. Ihr Grundbefund: “Die Welt des Lesebuchs gehört weiter allein dem Mann, Frauen sind nur Randfiguren, da sie vorwiegend als Mütter agieren, erscheinen sie in der Kinderwelt des Grundschulbuches noch relativ häufig. In den Oberklassen tritt jedoch das weibliche Element stark hinter dem männlich bestimmten zurück”.

Seit dem Ende der siebziger Jahre gibt es breitere Ansätze, die auch in der von der Steiermärkischen Landesregierung offiziell veranstalteten Akademie über die Frauenbewegung 1982 ihren Ausdruck fand.

Direkt im Anschluß an die “Sprache der Gesellschaftskritik”, ist die Sprache des Aufschwungs zu beachten. Sie ist wirtschaftlich gekoppelt mit Begriffen wie “Europareife”, “Vollbeschäftigung”, “Hochkonjunktur”, “Verteilungspolitik”. Für sie ist signifikant, daß neue technische Vokabel auftauchten: Der Computer, der Reaktor, die Innovation, der Stellenwert, die Zielsetzung. Und daß die Werbesprache in der Ehe mit dem Fernsehen die Alltagssprache zu beherrschen begann. Vokabel der Superlative tauchten über die “Werbebotschaft” bei jungen Leuten auf: Super, phantastisch, echt stark, klassisch, sauber.

Politisch wichtig (natürlich gefördert durch kritischer gewordene Jugendliche) wurde der Wechselwähler, der erstmals – weil materiell auch ohne Parteibuch gesichert – die traditionellen

32 Gabrielle TRAXLER: Zwischen Tradition und Emanzipation. Wien 1973. 11

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Lager ins Wanken brachte. 33 Nicht nur die Außenpolitik hat sich trotz/wegen Prags 1968 und Vietnams “entspannt”. Österreich wurde via KREISKY und dessen Beziehungen zu Willy BRANDT und Olof PALME in eine internationale Sprachregelung gezogen, die Wolfgang BERGSDORF 1982 eine “Terminologie der Bewegung” nannte. Der Sprachkritiker schreibt: “Erneuerung, Wandel, Reform und Fortschritt werden zu charakteristischen Schlüsselwörtern einer Politik, die Bewegung in die Verhältnisse bringen möchte. Der zentrale Begriff der fünfziger Jahre “Freiheit” wird nicht mehr primär auf die personal verstandene Freiheit bezogen, die sich in der Garantie der bürgerlichen Freiheiten manifestiert, sondern er wird um eine gesellschaftliche Dimension erweitert, die ein prinzipiell konfliktuelles Verhältnis von Gesellschaft und Einzelnem signalisiert. Mit Hilfe der Demokratisierungsformel wird der notwendigerweise amorphe Gesellschaftsbegriff gegen den Staat in Stellung gebracht, der dennoch immer stärker zur Regelung von Interessensunterschieden und -gegensätzen in Anspruch genommen wird.” 34

Zusammen mit den Abrüstungs- und Friedensinitiativen, in die sich Österreich “aktiv” einschaltete, entstand ein Klima des Wohlbefindens, ja der Gleichheit, das innenpolitisch in einer Zeit der vollen Kassen durch freie Schulbücher, freie Schulfahrten, Beihilfen aller Art und steuerliche Trennung der Ehegatten gesteigert wurde. Es entstand die noch vom MONTINI- Papst formulierte “Insel der Seligen”. Der erste Ölschock wurde lediglich als Störung empfunden, die Sprache des Aufschwungs wurde erst ab etwa 1975 langsam abgelöst.

Die Sprache der Skepsis und Einschränkung begann mit dem sinkenden Vertrauen in das Wachstum und der wachsenden Sensibilität gegenüber der Umwelt. Zur Ökonomie und zur Ökumene gesellt sich die Ökologie. Man begann eine “Schonwirtschaft” zu proklamieren, um nicht dereinst einen “Wegwerf-Menschen” zu produzieren. Statt Quantität wird nun auf Qualität gesetzt, sogar auf “Lebensqualität”. Menschen kommen “sanft” auf die Welt, alles und jedes wird attraktiver, wenn es “bio” ist, und durch “Abwärme” betrieben wird. Auf jeden Fall hat ein Produkt “umweltfreundlich” zu sein, das Essen “kalorienarm”. Achtung vor “fettreichen” Speisen, vor “kostenintensiven” Projekten!

Die grün-alternativen Gruppierungen werden zu Propagandisten dieser Begriffe, die Massenmedien nehmen sie gierig auf, weil sie weit weniger “fachchinesisch” und viel “gesünder” als vorhergegangene sprachliche Moden sind. Die Alternativen setzen die Gefühle (seltener die Liebe) gegen die Kälte der offiziellen Politik. Nicht zufällig setzt sich Erich FROMMs “Die Kunst der Liebe” plötzlich in den Bestsellerlisten fest. In den Programmen der Alternativen Liste Österreich (ALÖ) wird ganz unbefangen eine “Befreiung der Sinnlichkeit als Bedingung für eine solidarische und ökologische Gesellschaft” bezeichnet. Die alternative Sprache ist ihrer Struktur nach eine Mischung aus biologischen, gesellschaftskritischen und

33 Entwicklungen dargestellt bei Fritz PLASSER/Peter A. ULRAM: Themenwechsel – Machtwechsel? In: Politik für die Zukunft, hrsg. von Stephan KOREN/Karl PISA/. Wien 1984; siehe auch die neueste Zusammenstellung: Fritz PlASSER/Peter ULRAM (Hg.): Staatsbürger oder Untertanen. Frankfurt/Main 1991. 34 Wolfgang BERGSDORF: Ein Kampf um Wörter. In: Die Presse, 11./12. Juni 1982. Vgl. auch: Ds., Politik und Sprache. München 1978. Ähnliche Sichtweisen bringt: Martin GREIFFENHAGEN (Hg.): Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit. München-Wien 1980. Siehe auch GREIFENHAGENs Vortrag beim Forum Alpbach 1976: “Gleichheit als Bedingung und Grenze der Freiheit”. 12

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katholisch/theologischen Begriffen. Da sie innerhalb dieser Gruppen verstanden wird, erklärt man sie gleichzeitig zur “einfachen” Sprache.

Diese Proklamation der Einfachheit ermöglicht erstaunliche Wiedergeburten. Mißbräuche und radikale Veränderungen (die Schritte zur “postindustriellen Gesellschaft” 35 ) hatten zu einer Wertkrise und einem Wertwandel geführt. 36 Nach einer Phase der Beruhigung konnte eine unverdächtige Nachkriegsgeneration die “Heimat” wieder aus der Mottenkiste holen und die “Naturverbundenheit” nicht nur für den Alpenverein reklamieren.

Einschränkung und Einfachheit sind gleichzeitig ein neues Attribut der Sprache führender Politiker. Diese einfache Sprache hat es in der Spitzenpolitik natürlich immer gegeben, aber sie wurde durch Karl SEKANINA in einer verblüffenden Mischung hoffähig. Beispiele: “Ich möchte bei aller Schmerzlichkeit von solchen Operationen erreichen, daß wir das, was zu lange dauert, schneller fertigstellen und daraus eine Situation resultiert, die auch auf finanzieller Seite dann überschaubar wird und erledigbar wird.” 37 Oder: “Wir glauben, daß es sinnvoll ist, weniger Bauvorhaben zu beginnen, dafür aber die Verbleibenden rascher und wirtschaftlicher zu verwirklichen – und ich meine, daß dann auch das befürchtete Eintreten des sogenannten Gießkannenprinzips reduziert wird ...” 38 Oder: “Man darf nicht vergessen, daß mein Ressort ... einer gewissen Sonderbeurteilung bedarf ... Ich beurteile die Chancen nicht schlecht. Das Spiel ist noch nicht abgepfiffen.” 39

Wenn man auch Gefahr läuft, die Sprache der Einschränkung mit jener der “Beschränkung” zu verwechseln: Der Schumacher- und Kohr-Slogan “Klein ist schön” ist zum Machtinstrument geworden – klein, fein, einfach, billig. Diese Wörter haben – in einer Zeit des knappen Geldes – rasch Eingang gefunden in die Regierungserklärung des rot-blauen Kanzlers Fred SINOWATZ. Nach einigen Passagen, in denen er seine Kabinettskonstruktion rechtfertigt, entwarf SINOWATZ ein Szenario der Bedrohungen: - Nicht nur Kriegsgefahren, die Vernichtung der ganzen Zivilisation sei zu bannen. – Die Geißel der Arbeitslosigkeit sei zu bekämpfen. – Die Zeitbombe des Versagens im ökologischen Bereich müsse rasch entschärft werden. All das hätten nun in Österreich 23 Personen zu lösen – wie wenig das sind, angesichts dieser gigantischen Gefahren. Sie wollen “gemeistert” werden – nicht mit Hoffnung, sondern lediglich mit Zuversicht.

Um die Wirtschaftsprobleme zu lösen, werde es “Sparsamkeit” geben, “Effizienzprüfungen” und “Null-Budgetierung” (so als würde es überhaupt kein Budget mehr geben).

Das Wiener Institut für Publizistik hat für die “Wochenpresse” die Regierungserklärung KREISKY 1970 und SINOWATZ 1983 verglichen. 40 Bruno KREISKY getraute sich noch, Wirtschaftswachstum zu verkünden. 18 % seines Programms handelten davon. Bei SINOWATZ sind es nur 2 % von 78 Seiten.

35 Vgl. Daniel BELL: Die nachindustrielle Gesellschaft. Reinbek/Hamburg 1979. 36 Vgl.. Was, Nr. 24/1979, über: Liebe. Die Wiederkehr der Werte. 37 ORF-Mittagsjournal, 23. Juni 1980. 38 A.a.O. 39 Sozialistische Korrespondenz 23. Juni 1980. 40 Vgl. “Wochenpresse” vom 7. Juni 1983, dazu jetzt umfassend Maximilian GOTTSCHLICH in dem in Anm. 12 angeführten Sammelband. 13

Autor/Autorin: Gerfried Sperl • Titel: Die Sprache der Zweiten Republik Printquelle: Mantl, Wolfgang (Hg.): Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1992, S. 279-298 • Onlinequelle: www.demokratiezentrum.org Demokratiezentrum Wien

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Beschäftigungspolitik war 1970 noch kein Thema. SINOWATZ widmet allein diesem Aspekt 22 % der Erklärung. KREISKY reservierte 64 % seines Programms der Mehrung ideeller und materieller Werte, SINOWATZ bescheidet sich mit 28 %. Frauenfragen machen in der jüngsten Regierungserklärung nur noch 2 % aus.

Aus dem alternativen Gedankengebäuden werden von der großen Politik indessen eilfertig jene Punkte übernommen, die bei der Disziplinierung der Bürger helfen. Allerdings ereignet sich noch etwas anderes: Der Programmhintergrund der traditionellen Parteien wird sichtbar – die ÖVP widmet sich vor allem den ihr historisch gut liegenden Bereichen der Bürgerbeteiligung und Dezentralisierung, während die SPÖ ziemlich streng auf zentralistischem Kurs bleibt. 41

V. Die Ära Vranitzky

Franz VRANITZKY an der Spitze der Bundesregierung brachte einen neuen Boom an Wörtern, die eine Mathematisierung der Sprache bedeuten – und einen Einbruch neuer ökonomischer, aber auch aus dem Bereich der Logik stammender Schöpfungen – alles im Gefolge der nach wie vor modischen Sprache des Aufschwungs.

Man = operiert mit Größen =, = implizierte Ressourcen = und = quantifiziert Probleme = 42 . Diese geschraubte mit einer “zukunftsorientierten Bedeutung versehene großkoalitionäre Sprache findet sich auch in der Regierungserklärung Franz Vranitzkys von 1987: “Die neue Form der Partnerschaft ist bewußt sachlich und aufgabenorientiert. Sie ist auch offen und transparent.” Die verblüffende Folgerung (eines Kanzlersekretärs?): “Sie ist demokratisch. Sie ist vorwärtsgerichtet. Sie ist kontrollierbar.” – Was man in der Zeit der Skandale jeweils dazuschreiben müßte. 43

VI. Die Sprache des neuen Populismus

“Die Justiz in Österreich ist heute eine politische Justiz, keine unabhängige. Die heutige österreichische Justiz ist tatsächlich eine gemeingefährlich-politische geworden” Dieses Zitat könnte, dem Satzaufbau nach, das Stilmittel der Übertreibung benützend, durchaus von Thomas Bernhard stammen – aus “Heldenplatz”, aus “Beton”, aus “Alte Meister”.

Tatsächlich aber handelt es sich um eine Passage aus einer Haider-Rede, der damit sogar in einer neueren literarischen Tradition steht (formal, nicht unbedingt den Inhalten nach). 44

Wenn der FPÖ-Obmann aber von Sozialschmarotzern spricht, oder von der österreichischen Nation als Mißgeburt, handelt es sich bereits um beabsichtigte Polemik zur Erreichung politischer Ziele. Er kalkuliert mit einem klar umrissenen Wählerreservoir, das mit zunehmender

41 Vgl. Eva M. FLUCH: Linguistische Überlegungen zu Methoden der Polit-Propaganda in Österreich. Graz (Germanist. Hausarbeit) 1982. 42 Vg. Uwe PÖRKSEN: Die lautlose Gewalt der Amöbenwärter. In: FAZ, 17. Jänner 1987. 43 Vgl. Hans HAIDER/Dieter LENHARDT: Problem gesehen – Maßnahme ins Auge gefaßt. In: Die Presse, 14./15. Februar 1987. 44 Vgl. Brigitte GALANDA: Ein teutsches Land Die rechte Orientierung des Jörg Haider. Wien 1987. 14

Autor/Autorin: Gerfried Sperl • Titel: Die Sprache der Zweiten Republik Printquelle: Mantl, Wolfgang (Hg.): Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1992, S. 279-298 • Onlinequelle: www.demokratiezentrum.org Demokratiezentrum Wien

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Bedeutung der Ausländerfrage größer wird – bis hin zur Wiener Wahl 1991, bei der die FPÖ fast zu einer 25-Prozent-Partei wurde.

Peter TURRINI hat deshalb gemeint, HAIDER sei beileibe kein Gegner der traditionellen Parteien (die er Altparteien nennt): “Er ist ihr Übertreiber”, weil er stets wechselnde Inhalte von sich gebe – mit dem Grundtenor, das zu sagen, was die Leute sich nicht zu sagen getrauen. HAIDER ist also ein nahezu perfekter Interessenvertreter.

HAIDER ist außerdem ein Beispielsfall für das weite Feld der Ideologiekritik, weil er bipolare Weltauffassungen und Gut-Böse-Bilder 45 transportiert, weil er äußerst talentiert Feindbilder entwirft, den Neidkomplex anspricht, das Mittel der Herabsetzung beherrscht: “Josef Riegler ist ja nur ein Alois Mock im Steireranzug.” Dazu kommt sein Geschick, mit der Sprache zu spielen: “Ich bin nicht ausländerfeindlich, sondern inländerfreundlich”, erklärte er bei den Wahlkämpfen im Herbst 1991. Anregungen dafür lieferte ihm jahrelang der Klagenfurter “Aula”-Autor WIDMANN, der zuweilen auch in der Kärntner “Kronen Zeitung” schrieb.

Am stärksten ist HAIDER bei immer wieder abgewandelten Rechnungen, mit denen er die Mängel des Publikums bei Fachkenntnissen ausnützt. Das jüngste Beispiel: “Braucht Österreich angesichts der 180.000 Arbeitslosen wirklich 140.000 Ausländer?” Hier führt, was politische Polemik betrifft, die Spur zurück zu Bruno KREISKY, zu dessen berühmtesten Wahlkampfsätzen (freilich mit einer völlig anderen Zielsetzung) der folgende gehörte: “Ein paar Milliarden Schulden machen mir weniger schlaflose Nächte als Zehntausende Arbeitslose mehr.” 46

VII. Zeichensysteme

Als die Salzburger Bürgerliste 1977 in den Gemeinderat der Festspielstadt gewählt wurde, präsentierte sich deren Spitze vor den Fernsehkameras noch mit Krawatte oder mit offenem Hemd – auf jeden Fall mit Sakko. Im Frühjahr 1983, am Abend nach den Grazer Gemeinderatswahlen, 47 vollzog die Alternative Liste Graz (ALG), was auf studentischem Sektor längst üblich war und was die traditionsbewußten deutschen Bundestagsabgeordneten im Blick auf die “Grünen” als unerhört empfanden: Man trat im Pullover auf. Die neue politische Richtung hat da wie dort den Grundkonsens der Kleiderordnung gestört. Die Krawatte hat ihr Monopol eingebüßt.

Selbst die Arbeiterbewegung hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg daran gehalten: In den gewählten Gremien der Republik beachtet man das Protokoll der Krawatte und des Anzugs. Natürlich konnte man anfangs nicht so sehr auf Äußerliches sehen. Aber eine gut gebügelte Hose mit Sakko, weißem Hemd und Krawatte gehörte zum anständigen Erscheinungsbild des Politikers. Zulässige Sonderformen waren von Anfang an die Trachten.

45 Vgl. Ruth WODAK/Florian MENZ: Sprache in der Politik – Politik in der Sprache. Klagenfurt 1990. Insebsonders der Beitrag von Helmut GRUBER, 191ff. 46 Vgl. Erwin ZANKEL: Ankurbler unterwegs. In: Kleine Zeitung, 9. Jänner 1982. 47 Zur ALG liegen recht profunde Arbeiten vor. Siehe die Aufsätze von Franz MERLI/Meinrad HANDSTANGER und Joseph MARKO in: Österr. Jahrbuch f. Politik ’83. München-Wien 1984, 277-318. 15

Autor/Autorin: Gerfried Sperl • Titel: Die Sprache der Zweiten Republik Printquelle: Mantl, Wolfgang (Hg.): Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1992, S. 279-298 • Onlinequelle: www.demokratiezentrum.org Demokratiezentrum Wien

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Die sechziger Jahre waren etwas modischer. Bruno KREISKY machte sich elegant durch den Nadelstreif – dieser wurde zum Dienstanzug der arrivierten Söhne à la ANDROSCH und VRANITZKY. In der Steiermark prägte Hanns KOREN das modische Bild der Diensttracht. An Josef TAUS wurde später sogar kritisiert, daß er schlecht passende Anzüge von der Stange trage. Fred SINOWATZ – körperlicher Gegensatz zum Gebot der Einschränkung – fiel durch unpassende Schuhe und Socken auf.

Parallel zum Aufkommen der britischen, französischen und italienischen Anzugmode der Männer, zur Haute Couture der Frauen (vor allem Fred ADLMÜLLER und Resi HAMMERER) preschten die jüngeren Funktionäre in den sechziger Jahren mit Jeans, Lederjacken und T-Shirt vor. Langhaarige haben damals ohnehin keine Chance gehabt, andere Unkonventionelle stiegen auf die vorgeschriebene (nicht niedergeschriebene) Kleiderordnung um, wenn sie zu Amt und Würden gelangten.

Aber man konnte schon eher von einer färbigen Vielfalt sprechen, weil sich auch die Gesten veränderten. Das alte Zeichen des Schwurs, in den Schulen beim Aufzeigen geübt, weicht dem lockeren Handheben, in den Kirchen werden die Hände nicht mehr so oft gefaltet – die Jungen verschränken oder kreuzen sie.

In diesen Bereich der Zeichensysteme oder der “Zeichenlehre” (Semiotik) 48 gehört auch jenes “nonverbale Verhalten”, das Rang- und Hackordnungen bestimmt. Selbst in der Politik, wo der Abgeordnete als Repräsentant des Volkes nach Möglichkeit keine Distanz zwischen sich und den Souverän legen sollte, ist der “Chef” immer noch dadurch ausgezeichnet, daß er einen Vorraum nebst Sekretärin besitzt, daß er in die Büros der Untergebenen ohne Klopfen eintritt, während umgekehrt “Voranmeldungen” nötig sind. Ein weiteres Zeichen für Ranghöhe 49 ist die “Berührungshoheit” des Spitzenpolitikers. Er kann, ja er soll sogar seine Untertanen berühren – ihnen zum Beispiel auf die Schulter klopfen – und Kinder herzen. Umgekehrtes Verhalten würde als ungehörig empfunden werden. Aber: Laxere Umgangsformen beginnen sich auch hier durchzusetzen.

Ein Mittelweg ist die Pulloverpolitik, die nicht nur von den Grünen und Alternativen, sondern mittlerweile von vielen Jungpolitikern der Großparteien praktiziert wird. 50 Von der Geistigkeit der Krawattengeneration ist freilich das “adrette Erscheinen” und das “gute Benehmen” übrig geblieben. Wichtig ist, daß nun auch Frauen selbst in Jeans wenn schon nicht in einen , so doch zu wichtigen Partei- oder Klubsitzungen gehen. 51 Seit der Wende in den neunziger Jahren haben Zeitgeist-Magazine alles “erlaubt”: Jörg HAIDER kombiniert nicht nur Jeans und Lodenrock (als Landeshauptmann zumal), er konnte mit entblößtem Oberkörper prunken.

48 Standardwerk von Charles W. MORRIS: Foundation of the theory of signs. Chicago 1938. Die Semiotik wurde geradezu populär durch die Bücher von Umberto ECO, dem Autor von “Der Name der Rose”: Einführung in die Semiotik. München 1972. – Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt/Main 1977. 49 Vgl. KRUPKA, Sprache (Anm. 11) 50 Über Aktionsformen siehe: Marina FISCHER-KOWALSKY: Universität und Gesellschaft in Österreich. In: Das politische System Österreichs. Hg. von Heinz FISCHER, 3.A. Wien 1982. 571-624. – Über Kleider: Marie-Theres HEMBERGER: Wenn der Protest Krawatte trägt. In: Die Presse, 13. Juni 1983. 51 Die steirische 3. Landtagspräsidentin (bis Oktober 1991) Dr. Lindi KALNOKY, aus einem deutschen Adelsgeschlecht gebürtig, ist eine passionierte Jeans-Trägerin. 16

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Diese Art der Selbstdarstellung ist begleitet von neuen Zeichen-Varianten. Bei den Alternativen ist der Tontopf mit Schnittlauch zum Symbol des Lebens und der Würze (auf den politischen Suppen) geworden, das Herz hat sich auf vielen Plakaten durchgesetzt. 52 Was früher unmöglich war, leistet sich diese Generation ebenfalls und ermöglicht es ihren Eltern: daß sich Freunde in aller Öffentlichkeit und unbeschadet ihres Geschlechtes küssen. Erstmals konnte 1989 diskutiert werden, ob eine Abgeordnete als Mutter mitten im Parlament ihr Kind stillen darf.

In einer Zeit des Vormarsches der Bilder- und Akü-Sprache (das eine für Comics und Fernsehen, das andere für Kürzel oder “Makros” – hinter denen sich lange “Befehlsketten” verstecken) ist die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und mit der Kunst ein Gebot. Umso mehr, als in Österreich der Gegensatz zur Praxis ohnehin nicht die Theorie, sondern das Theatralische ist. Politik braucht zwar die Theorie vor der Praxis, um etwas zu bewegen – aber sie muß auch Daten und Fakten kennen, “Stimmungen” 53 begreifen und ihnen sprachlich nahekommen. Die Sprache der Politik ist gleichzeitig deren Spiegel.

Deshalb müssen Politiker jenseits der geschriebenen und veröffentlichten Sprache mithelfen, sinnstiftende Symbole zu schaffen – als Transportmedien für neue demokratische Umgangsformen. Der aus dem Osten kommende “runde Tisch” wäre ein Beispiel. 54

52 Seit dem Steirischen Katholikentag 1981 hat sich das Herz-Symbol auch anderweitig durchgesetzt. 53 Vgl. die Theorie Otto NEURATHs in dessen Aufsatz: “Das Begriffsgebäude der Wirtschaftslehre und seine Grundlagen”. In: Otto NEURATH. Gesammelte Schriften. Hg. v. Rudolf HALLER/Heiner RUTTE. Bd. 1. Wien 1981. Der “Lebensboden” meint den Weltzustand eines Zeitabschnitts, die “Lebenslage” die geistige und körperliche Kondition, die “Sachlage” den materiellen Hintergrund und die “Lebensstimmung” die Glücks- und Unglücksgefühle (-zustände). 54 Siehe Was, Nr. 63/Jänner 1991, über: Rituale 17

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