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Sendung vom 19.10.2004, 20.15 Uhr

Reinhard Appel Journalist im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum Alpha-Forum. Unser heutiger Gast gilt als einer der publizistischen Gründerväter dieser Republik, obwohl er sich gern als deren Kind bezeichnet. Er stand und steht für eine politische Kultur des Umgangs miteinander, die auch heute noch so mancher politischen Diskussionsrunde im Fernsehen gut anstünde. Es gibt wohl kaum einen politisch interessierten Zuschauer, der ihn nicht kennt: Unser heutiger Gast ist Reinhard Appel, ehemals Intendant des Deutschlandfunks und später dann von 1976 bis 1988 Chefredakteur des Zweiten Deutschen Fernsehens in . Ich freue mich, dass er hier ist, ganz herzlich willkommen, Herr Appel. Appel: Vielen Dank für die Einladung. Reuß: "Ich bin kein Revolutionär, sondern ein Evolutionär", haben Sie einmal gesagt. Was genau haben Sie damit gemeint? Appel: Dass ich zur kontinuierlichen Entwicklung Deutschlands in der Nachkriegszeit beitragen wollte, auch aufgrund meiner Erfahrung des Krieges. Denn dieser Krieg war für mich ein prägendes Erlebnis: Ich bin ja in der Weimarer Zeit geboren, dann in der Hitlerzeit aufgewachsen und später noch Soldat geworden. Obwohl ich aus einem katholischen Elternhaus komme, also in Distanz zum Hitlerregime erzogen wurde, wollte ich doch auch für das Vaterland ein guter Hitlerjunge sein. Und dann diese Enttäuschung, in und nach der Gefangenschaft zu erleben, was dieser Staat eigentlich alles angerichtet hatte! Da wollte ich unbedingt dazu beitragen, dass sich das in den nachfolgenden Generationen – ursprünglich wollte ich ja Lehrer werden: das Vermitteln und Übersetzen lag mir also von vornherein – nicht mehr wiederholen kann. Reuß: "Journalisten sind Menschen, die hinterher immer alles schon vorher gewusst haben", lautet ein böses Wort. Was sind denn Journalisten für Sie? Was ist die Aufgabe eines guten Journalisten? Appel: Ich bin ja politischer Journalist und ich habe es immer als meine besondere Aufgabe empfunden, das politische Geschehen zu analysieren, darüber auf eine verständliche Weise zu berichten, zu kommentieren, zur Meinungsbildung beizutragen, Neugierde und Interesse für die Politik zu wecken. Auch durch meine Bürgersendungen, die ich initiiert habe, wollte ich den Bürger heranführen und ihm sagen: "Wir sind alle beteiligt an diesem Staat! Die Demokratie gehört uns allen! Und die Entwicklung dieser Demokratie ist in unser aller Verantwortung gestellt!" Daran, an diesem Prozess, wollte ich mitwirken. Und ich war daher dankbar, dass ich sowohl als Fernsehmoderator wie dann auch als Chefredakteur in verschiedensten Sendeformen dazu beitragen konnte. Reuß: "Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er Distanz zum Gegenstand seiner Betrachtung hält, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache, dass er immer dabei ist, aber nie dazugehört." Dieses Zitat stammt von Hanns Joachim Friedrichs, dem ehemaligen Moderator der "Tagesthemen" in der ARD... Appel: ... und früheren ZDF-Mann, denn dort war er mein Kollege gewesen. Reuß: Genau. Wenn Sie drei Eigenschaften eines guten Journalisten nennen sollten, welche drei Eigenschaften wären das? Appel: Er sollte immer neugierig bleiben für das Geschehen und diese Neugierde nie aufgeben. Er sollte übersetzen, er sollte das Geschehen auf eine verständliche Weise vermitteln. Und er sollte gegenüber seinem Partner bzw. seinem Stoff immer fair bleiben. Reuß: Nun leben wir ja heute, wie es häufig heißt, in einer Mediendemokratie. Man hat manchmal den Eindruck, es käme dabei mehr auf die Wirkung als auf die Inhalte an, es sei manchmal wichtiger, wie einer etwas sagt, und weniger, was er eigentlich sagt. Teilen Sie diese Einschätzung? Appel: Diese Einschätzung ist leider richtig. Sie hängt wohl mit der neuen Wettbewerbssituation zusammen, die sich ganz besonders in Berlin zeigt. Gegenüber der Bonner Regierungszeit, in der ich ja quasi aufgewachsen bin als Journalist, hat sich die Situation der Medien gegenüber der Politik und gegenüber der Öffentlichkeit sehr verändert: Die Konkurrenz ist viel größer geworden, die Zeitungen sind in Nöten, die Anzeigen bleiben weg usw. Dadurch wird der Konkurrenzkampf schärfer und eine gewisse Rücksichtslosigkeit und Oberflächlichkeit machen sich breit. Reuß: Ich bleibe noch ein bisschen bei der Kritik an den Medien. Der ehemalige Bundespräsident hat nachdenkliche, und dennoch deutliche Kritik an den Medien geübt. Er sagte: "Als Leser, als Zuhörer und Zuschauer habe ich den Eindruck, dass sich die Kompetenz der Berichterstattung vielerorts deutlich verschlechtert hat." Und er kritisierte, dass Journalisten die komplexen Sachverhalte weniger erklären, was eigentlich ihre Aufgabe wäre, als vielmehr die Probleme personalisieren: Alles werde dabei zu einem Kampf "wer gegen wen". Ist das so? Ist der Journalismus etwas substanzloser geworden? Appel: Ja, leider. Es gibt freilich auch hervorragende Gegenbeispiele, wie ich hier ausdrücklich sagen möchte, insbesondere in der Zeitungslandschaft. Aber der Journalismus ist ansonsten tatsächlich z. T. zu einer Art "Häppchen-Journalismus" degeneriert. Das heißt, das, was sensationell ist, das, was reizt, das, was in die Überschriften hineinpasst, das, was im Hinblick auf die Verkaufszahlen oder die Quote interessant ist, rückt nach vorne. Darunter leidet die Substanz dessen, worüber wir eigentlich berichten sollten. Leider ist das Publikum aber inzwischen auch so erzogen, dass es möglicherweise Sendungen, in denen ausführlich argumentiert werden kann, gar nicht mehr anhört, weil es gar nicht mehr die Ruhe dafür hat. Nein, die Leute sind heute einfach daran gewöhnt, möglichst oft zu zappen und möglichst schnell etwas Neues und Interessanteres zu sehen. Reuß: Man hat manchmal den Eindruck, das ist ein Pingpongspiel: Es schaukelt sich gegenseitig hoch. Die Kulturstaatssekretärin der Bundesregierung Christina Weiss sagte: "Früher machte die Politik Nachrichten. Heute machen Nachrichten Politik." Hat sich hier ein Paradigmenwechsel vollzogen? Appel: Nun ja, ich verfolge natürlich aufmerksam die Diskussion, die darum geht, ob man in den Talkshows der verschiedenen Sendeanstalten möglicherweise sogar mehr über Politik erfährt als in den Berichterstattungen aus dem Parlament oder von den Regierungspressekonferenzen. Das liegt natürlich u. a. daran – diese Fragestellung hat es auch schon zu meiner Zeit gegeben –, dass das Parlament ja gar nicht kontinuierlich tagt. Man kann ja nicht darauf warten, Politik entscheiden zu wollen, bis das Parlament wieder tagt. Nehmen Sie als Beispiel die Sommerferien: Wenn in den Sommerferien Politik entschieden werden muss, dann sind die Medien wie das Fernsehen, die Zeitungen und der Hörfunk präsent: Die Medien haben nun einmal die Aufgabe ständig zu berichten. Deswegen halte ich diese Kritik für fehl am Platze. Richtig ist aber, was ich vorhin schon auf Ihre Frage zu Rau gesagt habe, dass das mit dem Konkurrenzkampf der Medien untereinander zu tun hat. Die Vielfalt der Medien, die ja eigentlich ein Stück größerer Freiheit bedeuten sollte, bedingt eben auch einen schärferen Konkurrenzkampf, der dazu führt, dass mehr Oberflächlichkeit eintritt. Darunter leidet dann aber wiederum auch die Politikverständlichkeit. Und wenn Politikverdrossenheit eingekehrt ist, so hat sie ihre Ursache eben auch in dieser Entwicklung. Reuß: Und das hat vielleicht nicht nur mit Oberflächlichkeit zu tun. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse urteilte einmal über die Qualität des Fernsehens: "Wir müssen feststellen, dass im Fernsehen die Grenzen zwischen ernsthafter Information und spaßhafter Unterhaltung immer häufiger verschwimmen." Hat also der Medienkritiker Neil Postman doch Recht? Er hatte nämlich schon vor vielen Jahren gesagt: "Schlimm ist nicht, dass uns Unterhaltung geboten wird im Fernsehen, schlimm ist, dass uns alles als Unterhaltung geboten wird." Ist das so? Appel: Das ist in der Tendenz richtig und das ist eine gefährliche Entwicklung, der man in der Tat Aufmerksamkeit schenken muss. Das liegt natürlich an ganz bestimmten Dingen: Ich kann hier durchaus aus eigener Erfahrung sprechen. Als ich meine Sendung "Journalisten fragen – Politiker antworten" initiierte, organisierte, moderierte, waren andere Zeiten. Damals gab es nur ARD und ZDF. Dann gab es das private Fernsehen: Das private Fernsehen machte Quote und erreichte Aufmerksamkeit durch Unterhaltungssendungen. Dies führte dazu, dass mein Nachfolger Klaus Bresser, der diese meine Sendereihe dann nach mir übernommen hat, bereits in die politische Fragerunde Unterhaltungselemente einbaute, indem er jeweils so ein Frage- und Antwortspiel stattfinden ließ: Er begann mit einem Halbsatz und diesen Halbsatz sollte dann der betreffende Politiker im Studio beenden. Das war der Versuch, politisch Interessierte unter den Zuschauern, die jedoch gleichzeitig auch unterhalten werden wollten, zu befriedigen, indem man ihnen mehr als nur nüchternen politischen Stoff bot. Reuß: Ich würde hier gerne einen kleinen Schnitt machen und unseren Zuschauern den Menschen Reinhard Appel näher vorstellen. Sie sind am 21. Februar 1927 in Königshütte in Oberschlesien geboren, in einem Ort, der ehemals deutsch war. Zu Ihrem Geburtsdatum war er jedoch bereits polnisch. Appel: Und wurde dann 1939 wieder deutsch. Reuß: Dass Ihr Geburtsort damals polnisch war, führte, wie ich nachgelesen habe, dazu, dass Ihr zweiter Vorname in Ihrer Geburtsurkunde falsch eingetragen worden ist. Ihr Vater war in Königshütte Kaufmann und später dann auch Gerichtsvollzieher, Ihre Mutter hatte einen Kolonialwarenladen. Aber noch in Ihrem Geburtsjahr übersiedelte Ihre Familie dann nach Berlin-Spandau. Ihr Vater war dort Schulhausmeister. Wenn Sie das so Revue passieren lassen: Wie war Ihre Kindheit vor dem Krieg? Wie haben Sie das erlebt? Wie war Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern? Wie sind Sie aufgewachsen? Appel: Ich empfinde nachträglich viel Glück, wenn ich an diese Kindheitszeit zurückdenke. Obwohl das ja auch eine schwierige und politisch betrachtet eine sehr diktatorisch orientierte Zeit gewesen ist. Ich kann mich z. B. daran erinnern, wie 1932/1933 in die Schule, in der mein Vater Schulhausmeister war, Spartakisten eindringen wollten. Ich habe also sozusagen das Ende der Weimarer Republik als Kind erlebt und bis heute in Erinnerung behalten: Das war eine kämpferische Zeit, in der nicht genügend Demokraten da waren, um diese Demokratie zu schützen. Und dann bin ich 1933, mit Hitlers so genannter Machtergreifung, in die Schule gekommen. Da wurde man natürlich – obwohl ich gleichzeitig in der katholischen Jugend im Neudeutschlandbund war – auch gleichzeitig Pimpf: Man hat diese Zeit also sozusagen zweiseitig erlebt. – Wenn ich hier übrigens mal einen kurzen Gedankensprung machen darf: Als ich später dann Hörfunkbeauftragter in Ostberlin geworden bin, hatte ich viel Verständnis dafür, dass jemand, der in der DDR aufgewachsen war und nun die Wiedervereinigung erlebte, aufgrund seiner Vergangenheit natürlich auch Orientierungen gewonnen hatte innerhalb des Staates, in dem er lebte. – Ich habe also die Vorkriegszeit auch als eine glückliche Zeit erlebt, obwohl es damals eben auch schon KZs gegeben hat. Als der Krieg begann, hatte ich damals in Berlin ein unvergessliches Erlebnis. Bei Beginn des Bombenkrieges begleitete ich eines Tages einen Kinderlandverschickungstransport an die Ostsee. Dieser Zug hielt in Oranienburg und auf dem Nachbargleis stand ein Güterwagen, aus dem weit oben eine Latte herausgenommen worden war. Dort oben reckten sich Hände heraus und von innen hörte man Rufe "Wasser! Wasser!". Ich stand gerade auf dem Bahnsteig und wollte diesen Menschen natürlich Wasser bringen. Aber ich wurde sofort von SS-Leuten zurückgetrieben. Auch solche Erlebnisse sind natürlich sehr prägend für mich gewesen. Ein anderes prägendes Erlebnis war, dass die Juden auch in Spandau mit dem Judenstern herumlaufen mussten. Ich kannte diese Menschen ja, weil ich doch bei ihnen als kleiner Junge Brötchen ausgetragen hatte: Diese Menschen trauten sich nun nicht mehr auf die Straße. Das war also schon eine sehr schizophrene Zeit. Ich wuchs nämlich einerseits in einem katholischen Elternhaus auf und für diese katholische Erziehung bin ich meinen Eltern und auch meinen älteren Geschwistern bis heute dankbar. Wir waren fünf Kinder. Aber andererseits herrschte draußen, außerhalb der Familie, der Nationalsozialismus, es herrschte Krieg. Wenn wir bei Fronleichnamsprozessionen um die Kirche herumgingen, wurden wir hämisch betrachtet und z. T. sogar bespuckt. Diese Zeit habe ich also noch sehr bewusst in Erinnerung. Weil jedoch meine Eltern aus Oberschlesien stammten, wollten sie sich natürlich in ihrer Vaterlandsorientierung von niemandem übertreffen lassen. Deswegen haben sie eben auch uns Kindern eine große Vaterlandsliebe eingetrichtert. Ein anderes Vaterland als Hitler-Deutschland gab es jedoch nicht, sodass man zwar einerseits diesen Nationalsozialismus entweder ablehnte oder doch in Distanz zu ihm stand und sich andererseits aber in seiner Vaterlandsliebe von niemandem übertreffen lassen wollte. Reuß: Sie haben einmal geschrieben und es gerade auch erwähnt: "Die Katholizität meines Elternhauses hat mich wesentlich geprägt. Aufgewachsen bin ich im Geist der Diaspora. In Oberschlesien gehörten meine Eltern zur Minderheit, weil sie Deutsche waren. In Berlin gehörten Sie zur Minderheit, weil sie Katholiken waren." Entstand aus diesem Geist der Diaspora eher ein Gefühl der Unterlegenheit oder doch ein Gefühl der Überlegenheit, also das Gefühl, etwas Besonderes zu sein? Appel: Ehrlich gesagt war das Zweite der Fall. Ich war immer stolz darauf, katholisch zu sein. Durch diese Bindung an den katholischen Glauben – ich war ja auch lange Jahre Ministrant – habe ich mich immer herausgehoben gefühlt. Auch dann, als in der weiterführenden Schule die Mehrheit meiner Mitschüler entweder evangelisch oder überhaupt nicht christlich gewesen ist, habe ich mich ihnen überlegen gefühlt. Und Gott sei Dank haben mir meine Eltern und der liebe Gott so viele Muskeln gegeben, dass ich mich gegebenenfalls auch auf andere Weise wehren konnte. Reuß: Sie haben es schon gesagt: Sie sind streng katholisch erzogen worden. Ihre Familie ging jeden Sonntag in die Kirche und Sie selbst haben ministriert und waren später sogar Oberministrant. Das heißt, Sie durften bei Hochämtern und bei Beerdigungen das Weihrauchfass schwenken und auch das Kreuz tragen. Was bedeutete Ihnen Ihr Glaube damals, was bedeutet er Ihnen heute? Appel: Damals war das ein kindlich orientierter Glaube, der auch alle Wunder in sich aufgenommen und an sie geglaubt hat. Heute hat sich das natürlich gewandelt. Ich bin, wie ich meine, bis heute ein gläubiger Mensch geblieben: Man braucht eine Orientierung zu Gott – wie auch immer man das jeweils für sich interpretiert. Mich hat das jedenfalls nie verlassen und immer geprägt. Auch dann, wenn ich heute nicht mehr jeden Sonntag in die Kirche gehe, betrachte ich mich doch als einen gläubigen Katholiken. Ich bekenne mich dazu auch offen gegenüber jedermann. Reuß: Sie haben vorhin bereits von der Kinderlandverschickung gesprochen. Sie waren dann später selbst auch in der Kinderlandverschickung. Sie besuchten zunächst die Volksschule und dann die Knabenrealschule, deren obere Klassen dann mit Beginn der Bombenangriffe durch die Kinderlandverschickung weggeschickt wurden. Sie hatten dort vormittags Unterricht und nachmittags gab es Spiel und Sport unter Anleitung der Hitlerjugend. Ich habe nachgelesen – das hat mich amüsiert –, dass Sie sich daran heftig beteiligt haben: Sie haben nämlich nicht nur Gedichte vorgetragen, sondern Sie haben auch Feuer gespuckt. Wie und wo lernt man denn Feuerspucken? Appel: Das hat mir mal einer in der katholischen Jugend in Berlin-Spandau vorgemacht. Man nimmt eine Spiritusflasche und spuckt den Spiritus in eine Fackel: Das ergibt ein riesiges und attraktives Feuer. Das habe ich in der Kinderlandverschickung eben auch auf dem Flachdach eines dreistöckigen Hauses gemacht. Dafür wurde ich natürlich bewundert. Diese Bewunderung habe ich dann natürlich auch für meine Zwecke genutzt. Am Sonntag, wenn die anderen morgens um elf Uhr zum HJ-Dienst, zum Morgenappell erschienen, bin ich zum Bannführer gegangen und habe gesagt: "Heute ist Sonntag, ich möchte in die Kirche gehen!" Und ich bin dann auch in die Kirche gegangen. Reuß: Sie haben ja auch über Ihre Geschwister geschrieben. Besonders geprägt muss Sie in Ihrer Kindheit Ihr ältester Bruder haben: Reinhold, sechs Jahre älter als Sie. Er war wohl auch "schuld" daran, dass Sie einmal sogar Schülerboxmeister geworden sind. Wie war denn Ihr Verhältnis zu Ihren Geschwistern? Welche Bedeutung hatten Ihre Geschwister für Sie? Appel: Besonders zu meinem älteren Bruder war das Verhältnis sehr eng und sehr dominant von seiner Seite aus. Er war für mich ein ganz wichtiger Mit-Erzieher. Er hatte sechs Jahre voraus an Erfahrung und er hat mich dann auch im Grunde zum Journalismus geführt, obwohl ich ja ursprünglich Lehrer hatte werden wollen. Wir wohnten in Berlin gemeinsam in einer Kammer und hatten dort Stockbetten: Ich lag oben und er unten. Ich weiß noch bis heute, wie er mir immer abends Weisheiten des Lebens vermittelte. Er sagte mir, wie man sich verhalten soll im Leben: dass man nie eine Arbeit scheuen soll, dass einem nie etwas zu viel werden darf, dass man sich trotzt allem charakterlich nie verbiegen lassen darf usw. Das alles ist also weitgehend von meinem älteren Bruder ausgegangen. Reuß: Sie haben schon gesagt, dass Sie sich nach dem erfolgreichen Abschluss der Realschule zunächst für die Lehrerbildungsanstalt in Brandenburg bewarben. Sie haben diese Ausbildung dann auch gemacht und waren Lehramtsanwärter. Was hat da den Ausschlag gegeben? Warum wollten Sie Lehrer werden? Appel: Mich hat in dieser Zeit, als die älteste Klasse der Knabenrealschule in Berlin- Spandau zum Flakhelferdienst eingezogen wurde, die Hitlerjugend gebeten, ein Jugendlager in Thüringen zu leiten. Dort leitete ein Lehrerkollegium die pädagogische Seite und ich war sozusagen für den Nachmittag, also für Spiel und Sport zuständig. Ich habe dabei gemerkt, wie es mir gelang, diese Kinder zu begeistern. Als ich wegging von dort, haben mich die Kinder in einer Weise verabschiedet, dass ich spürte, es gelingt mir, mit jungen Menschen adäquat umzugehen. Das wollte ich dann halt verlängern. Ich wollte gerne anderen etwas mitteilen, anderen etwas beibringen. Deswegen habe ich mich dann zunächst in Berlin-Schöneberg am Prinz-Heinrich-Gymnasium – dort war die Berliner Lehrerbildungsanstalt untergebracht – beworben. Ich wurde auch aufgenommen dort. Diese Lehrerbildungsanstalt ist dann aber nach der Verschärfung des Bombenkriegs nach Polen evakuiert worden. Da ich jedoch inzwischen auch Mitglied des Berliner Mozartchores geworden war, sorgte dieser Mozartchor dafür, dass ich in die Berlin am nächsten liegende Lehrerbildungsanstalt gehen konnte: Das war die Lehrerbildungsanstalt in Brandenburg-Havel. Reuß: Sie haben sich dann im Januar 1945 – damals waren Sie 17 Jahre alt – freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Sie haben dabei eine regelrechte Hauruck-Ausbildung erhalten und mussten dann im März 1945 mit ansehen, wie junge deutsche Soldaten unter dem Vorwurf der Fahnenflucht erschossen wurden. Einige davon waren in Ihrem Alter. Man würde heute sagen, es waren noch nicht einmal volljährige junge Buben bzw. Burschen. Was ist Ihnen bei diesem grausigen Erlebnis durch den Kopf gegangen? Appel: Das war furchtbar. Vorausgegangen war dem ja eine Rede von Carl Diem im Reichssportfeld. Dort waren sowohl eine Kompanie untergebracht, die Ritter von Halt leitete, wie auch wir als Hitlerjugend-Division. Wir wurden dort von Soldaten an der Panzerfaust ausgebildet. An einem Sonntag, am 23. März 1945, als die Russen bereits an der Oder standen, hat Diem bei uns eine Durchhalterede gehalten... Reuß: Vielleicht sollten wir ganz kurz sagen, wer Carl Diem gewesen ist. Appel: Manche sagen ja, Carl Diem sei der Sportführer des Jahrhunderts gewesen. Er hatte auf diesem Reichssportfeld die olympischen Spiele 1936 organisiert und er war Auslandssportchef der NSDAP. Ohne in der Partei gewesen zu sein, hat er als Freund von Ritter von Halt diese Durchhalterede gehalten, allerdings nicht nur bei uns, wie inzwischen festgestellt worden ist. Er hat uns aufgefordert, Berlin so wie früher die Spartaner mit dem eigenen Leben zu verteidigen: Denn "Soldatentod ist Heldentod" usw.: Mit solchen Parolen hat er auf uns eingewirkt. Diese Parolen erinnern mich heute daran, dass die jungen Palästinenser, die sich selbst in die Luft jagen, im Grunde dasselbe tun. Ich muss auch gestehen, wenn damals in diesem Moment russische Panzer ins Olympiastadion eingedrungen wären, dann wäre ich selbstverständlich mit der Panzerfaust auf sie zugegangen. So waren wir erzogen worden. Das hätte ich wirklich gemacht, ohne den Tod zu scheuen. An einem dieser Tage wurden wir eben auch Zeugen dieser Erschießung. Man wollte uns zeigen, was passiert, wenn wir die Truppe verlassen würden. Das Reichssportfeld liegt ja in Charlottenburg und Spandau, mein Zuhause, war nur 20 Minuten mit der Straßenbahn entfernt. Es wurden also sechs Männer erschossen und drei davon waren Jugendliche in meinem Alter. Das sollte uns klar machen, was Goebbels und Axmann in ihren Reden in dieser Schlussphase des Krieges ständig propagierten: "Hier muss bis zum Tod verteidigt werden!" Und das alles, obwohl der Krieg doch schon lange verloren war. Reuß: Sie hatten dann auch noch einen Gott sei Dank sehr kurzen Fronteinsatz und kamen danach in sowjetische Gefangenschaft. Sie hatten dabei sozusagen Glück im Unglück, denn Sie erkrankten an Hungertyphus und wurden bereits im September 1945 vorzeitig aus der Gefangenschaft entlassen. Appel: Ja, das stimmt, aber nicht, weil ich Hungertyphus hatte. Stattdessen ist das eine fast schon unglaubliche Geschichte, die ich auch schon mehreren sowjetischen und russischen Botschaftern erzählt habe. Wir mussten als Gefangene sofort eine Brücke bauen, weil Stalin doch in seinem Leben nie geflogen ist. Wir mussten, damit er mit der Bahn nach Potsdam zur Potsdamer Konferenz, die bereits terminiert war, kommen konnte, eine Brücke bauen. Es war aber so, dass alle Brücken gesprengt worden waren von den Nazis. Bei Küstrin wurden daher nachts deutsche Frauen aufgefordert, den Sand für eine Brücke aufzuschütten. Tagsüber, sobald die Sonne aufging, mussten dann wir Gefangene aus dem Gefangenenlager Zielenzig weiterarbeiten. Aber am 30. April fand sich am schwarzen Brett des Lagers folgender Aushang: "Am 1. Mai wird gefeiert!" Da wollten die Sowjets zeigen: "Wir sind Kommunisten und am 1. Mai wird nicht gearbeitet!" Weiter hieß es auf diesem Aushang: "Dazu brauchen wir einen Chor, es mögen sich daher Sänger melden." Natürlich haben sich in diesem Gefangenenlager an die 1000 Sänger dazu gemeldet. Ich auch. Ich habe mich ein bisschen vorgemogelt und habe dann gesagt, dass ich im Mozartchor gewesen bin. So wurde ich aufgenommen. Und dann war unter uns 20, die schließlich diesen Chor bildeten, einer, der zu uns sagte: "Jungs, ich sage euch, wir werden bestehen! Die Russen lieben Musik! Wir werden großen Erfolg haben, wenn wir eines machen, nämlich die sowjetische Nationalhymne mehrstimmig einüben!" In mir hat sich da natürlich alles sofort gewehrt. Aber dieser Junge war wirklich Gold wert. Wir haben also die sowjetische Nationalhymne eingeübt und bei der Feier neben verschiedenen deutschen Liedern die Hymne dreistimmig gesungen. Die Folge war, dass die russischen Offiziere in der ersten Reihe ihr Taschentuch rausziehen mussten, um ihre Tränen abzuwischen. Und dann sagten sie: "Dieser Chor bleibt bestehen!" Dadurch gehörten wir, als diese Brücke dann fertig war und über 20000 Soldaten nach Russland abtransportiert wurden, zur Stammmannschaft, die dort geblieben ist. Aber schließlich bekam ich dann tatsächlich auch noch Hungertyphus und wurde auf einem Lastwagen nach an der Oder entlassen. Das war in der Tat noch im Jahr 1945. Reuß: Nach dem Krieg hat man Ihre Einstellung in den Schuldienst deshalb abgelehnt, weil man Ihnen unterstellte, Sie hätten in der Lehrerbildungsanstalt eine nazistische Ausbildung erhalten. Sie haben dann aber gleich mit 19 Jahren, wenn ich das richtig nachgelesen habe, einen großen Coup gelandet. Es gab da diesen Hjalmar Schacht, Reichsbankpräsident und Wirtschaftsminister unter Adolf Hitler: Er war zwar beim Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg freigesprochen, aber in Württemberg dann doch erneut verhaftet worden. An dieser Verhaftung waren Sie nicht ganz unschuldig: Was war genau passiert? Appel: Er war in Nürnberg freigesprochen worden, hatte aber die Auflage bekommen, dass er, wenn er Nürnberg verlässt, sich vorher beim Polizeipräsidenten abzumelden habe. Er meldete sich ab mit dem Vorhaben, seinen Freund Reusch bei Backnang in Württemberg zu besuchen. Mein Bruder war damals Sportredakteur bei der "Stuttgarter Zeitung" und gleichzeitig Korrespondent aus Württemberg für die "Neue Zeitung" in München. Hans Habe war damals übrigens der Chefredakteur der "Neuen Zeitung". Mein älterer Bruder hatte mich dann nach dem Krieg sozusagen als seinen Hiwi verschiedene Aufgaben in Stuttgart erledigen lassen. Hans Habe schickte also in diesen Tagen meinem Bruder ein Fernschreiben mit dem Inhalt: "Schacht ist unterwegs nach Württemberg!" Nun hatte ich für meinen Bruder bereits die Berichterstattung aus dem Landtag von Württemberg/Baden übernommen, wie er damals noch hieß. Ich wusste daher, dass der damalige so genannte "Befreiungsminister" von Militarismus und Nationalsozialismus, Gottlob Kamm, gesagt hatte: "Wenn Schacht jemals württembergischen Boden betreten sollte, dann werde ich ihn nach deutscher Gesetzgebung verhaften lassen!" Ich rief also aufgrund dieses Fernschreibens den Minister Gottlob Kamm an – es gab damals eben nur ein paar Journalisten – und sagte zu ihm: "Herr Schacht ist unterwegs nach Württemberg!" "Was? Wie? Woher wissen Sie das?" "Ich weiß das halt. Sie haben doch gesagt, Sie würden ihn verhaften lassen. Wird das nun erfolgen?" "Ich muss das erst einmal überprüfen lassen." Er hat das also überprüfen lassen und man hat ihm bestätigt: "Jawohl, Schacht ist in Württemberg eingetroffen." Ich sagte dann zu ihm: "Ich hätte da aber eine Bedingung. Wenn der Polizeipräsident selbst schon dort hin fährt, um ihn zu verhaften, dann möchte ich da mit im Auto sein." Ich war dann auch mit dabei. Ich war daher natürlich der einzige journalistische Zeuge der Verhaftungsszene, der Festnahmeszene. Schacht bemerkte das übrigens und meinte daher: "Wer ist denn dieser Herr da?" Der Polizeipräsident sagte dann nur: "Ach, den kenne ich nicht." Und so wurde ich daraufhin des Raumes verwiesen, aber ich hatte trotzdem meine Story. Ich fuhr dann mit einem anderen Wagen nach Stuttgart zurück und berichtete dem Chef der "Stuttgarter Zeitung" darüber – denn mein Bruder hatte ihm schon gesagt, dass ich bei der Verhaftung mit dabei gewesen bin. Dieser Chef traf mich dann am nächsten Tag auf der Treppe und fragte mich: "Was machen Sie denn eigentlich bei uns?" "Ich bin der Hiwi meines Bruders." "Ja, wollen Sie denn nicht richtig Journalist lernen?" "Gerne!" "Wann können Sie anfangen?" "Morgen!" So ist mein Einstellungsdatum der 13. Oktober 1946. Reuß: Und Sie haben dann auch das klassische Volontariat gemacht und dieses Handwerk bei der "Stuttgarter Zeitung" von der Pike auf gelernt. Sie waren bis 1950 dort politischer Redakteur und Reporter. Anschließend gingen Sie mit 23 Jahren als Korrespondent nach Bonn, in die Hauptstadt der ganz jungen und frisch gegründeten Bundesrepublik. Das muss damals eine ungemein spannende Zeit gewesen sein: Wiederaufbau, Westintegration, später dann Wiederbewaffnung, zu Beginn der sechziger Jahre die Kuba-Krise, die die Welt an den Rand eine Atomkrieges brachte usw. Im Jahr 1961 im August erfolgte der Mauerbau in Ihrer Heimatstadt Berlin. Liest sich das alles nur aus der Retrospektive so dramatisch und spannend oder haben Sie das damals auch so erlebt und empfunden? Appel: Ich habe das so erlebt und so empfunden. Sie haben die Kuba-Krise erwähnt: Da fürchteten wir tatsächlich, dass es zu einem Atomkrieg kommen könnte. Gerade wir als geteiltes Land wären davon natürlich am stärksten betroffen gewesen: im Osten mit der Atommacht Sowjetunion und im Westen mit der Atommacht Amerika. Das waren schon dramatischste Situationen, die man da mitgemacht hat. Als Bonner Journalist war man ja auch immer sehr nahe am Puls der Zeit und hatte ein sehr enges Verhältnis zu den Politikern. Deswegen habe ich das hautnah und sehr dramatisch miterlebt. Aber ich habe auch die Aufbauzeit der Adenauerära so miterlebt: mit den großen Auseinandersetzungen mit der SPD, die durch die Westintegration eine Verhinderung der Wiedervereinigung fürchtete; mit den großen, grundlegenden Gesetzgebungen z. B. zum Lastenausgleich, zur Wiederbewaffnung; mit all den Auseinandersetzungen über den Paragraphen zur Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz; mit der Abschaffung der Todesstrafe – damals hatte es ja den Versuch von Richard Jäger gegeben, die Todesstrafe mit Zwei-Drittel-Mehrheit wieder einzusetzen –; mit der großen Rede von Thomas Dehler im Bundestag usw. In der Phase des Mauerbaus war ich z. B. auch Zeuge, wie Adenauer am 14. August 1961 während des Wahlkampfs Willy Brandt als Herbert Frahm diffamierte. Ich war dann der einzige Journalist, der das an die Öffentlichkeit weitergegeben hat. Obwohl ich ja vor Adenauer meinen Hut ziehe und ihm gegenüber große Dankbarkeit empfinde, habe ich das doch verbreitet, denn es war ein großes Unrecht, was er da versucht hat. Er hat dann ja auch die absolute Mehrheit verloren in der Wahl. Dies bedingte, dass er quasi seine Kapitulationsurkunde unterschreiben musste: Er musste nämlich unterschreiben, im Jahr 1963 endlich zurückzutreten. Daraufhin gab es dann für jeweils drei Jahre die Regierungen Erhard und Kiesinger. Die Regierung Kiesinger wurde allerdings bereits mit einer großen Koalition gebildet. Und dann gab es, daran war ich in gewisser Weise beteiligt, ab 1969 die sozial-liberale Regierungskoalition. In meiner Sendung "Journalisten fragen – Politiker antworten" hatte ich nämlich im September 1969, also wenige Tage vor der Wahl, Walter Scheel zu Gast. Er hat dabei auf meine Frage, "Wenn Sie ausreichend Mandate für die FDP bekommen, werden Sie dann mit der SPD koalieren?", klar mit "Ja" geantwortet. Und dies, obwohl er, wie ihm hinterher auch vorgeworfen worden ist, dafür gar kein Mandat der Partei hatte. Als er dann die sozial-liberale Koalition mit Willy Brandt bildete, konnte er sich jedoch darauf berufen, dass er das in einer Fernsehsendung drei Tage vor der Wahl öffentlich mitgeteilt hatte. Reuß: Vor einem Millionenpublikum. Sind das eigentlich Sternstunden des Journalismus? Oder fühlten Sie sich auch manchmal gebraucht oder womöglich sogar missbraucht von den Politikern? Appel: Das empfinde ich eindeutig als eine Sternstunde. Denn ich hätte diese Frage ja nicht zu stellen brauchen. Ich habe sie gestellt, weil sie einfach logisch war aufgrund der ganzen Entwicklung. Der ganze Wahlkampf war ja schon um die Frage gegangen: Setzt man nun die in der großen Koalition begonnene Ostpolitik konsequent fort oder wird sie aufgrund einer erneuten CDU-Mehrheit gestoppt? Das war dann ja auch wirklich dramatisch in der Wahlnacht, denn Kiesinger glaubte doch, die Wahl bereits gewonnen zu haben. Er ließ sich bereits von Nixon ein Glückwunschtelegramm schicken! Aber 20 Minuten später – ich war damals an der Wahlberichterstattung für das ZDF beteiligt, obwohl ich damals eigentlich noch Zeitungsjournalist gewesen bin – musste er dann einräumen, dass tatsächlich, wie drei Tage vorher als möglich prognostiziert, die Sozial-Liberalen eine wenn auch knappe Mehrheit hatten. Willy Brandt hat in jenen Minuten auf dem Venusberg in Bonn bereits mit Walter Scheel verhandelt. So konnte dann diese sozial-liberale Regierung gebildet und damit die Ostpolitik fortgesetzt werden. Und genau dies war für mich und mein Engagement wichtig. Denn nur dadurch erhoffte ich eine Verbesserung der Verhältnisse im geteilten Deutschland. Reuß: Darf ich hier an dieser Stelle noch einmal kurz zurückblättern? Sie wurden 1962 Vorsitzender der Bundespressekonferenz. Appel: Ja, 1961/62. Reuß: Dürfte ich Sie bitten, für unsere Zuschauer kurz zu erklären, was die Bundespressekonferenz ist und welche Aufgabe sie hat? Appel: Die Bundespressekonferenz ist der Zusammenschluss der in Bonn – heute natürlich in Berlin – akkreditierten Journalisten; das hat es schon in der Weimarer Zeit gegeben. Das ist sozusagen eine institutionelle Form der journalistischen Vereinigung. Der Bundestag hat uns damals folgende Aufgabe übertragen: "Wenn ihr jemanden für legitimiert haltet, Mitglied der Bundespressekonferenz zu werden, dann hat er damit automatisch die Akkreditierung für den Bundestag." Wir haben die Regierung dann drei Mal in der Woche – Montag, Mittwoch und Freitag – zur Bundespressekonferenz eingeladen. Das heißt, wir erteilten den Journalisten das Wort, wenn sie eine Frage an einen Regierungsvertreter hatten – und nicht die Regierung konnte sich aussuchen, welche Journalisten sie informierte und welche nicht. Das war also eine wichtige Institution und dort war ich über mehrere Jahre im Vorstand und später dann eben auch der erste Vorsitzende – übrigens genau während der Strauß- und Spiegel-Affäre. Daraus entwickelte sich dann auch meine Zusammenarbeit mit dem ZDF. Als das ZDF gegründet wurde und man sich fragte, wie man denn so eine Art "meet the press"-Sendung wie in den USA auch in Deutschland einführen könnte, hat man mir, weil ich Vorsitzender der Bundespressekonferenz war, diese Aufgabe übertragen, mit dem Argument: "Dieser Mann hat das Vertrauen der Journalisten, der kann das für uns machen." Das bedingte dann diese Wende in meiner persönlichen Entwicklung hin zum Fernsehen. Reuß: Sie haben dann diese Sendung "Journalisten fragen – Politiker antworten" mit gegründet. Es wurde Ihre Sendung, eine Sendung, die Sie mit wenigen Unterbrechungen fast 30 Jahre lang moderiert haben. Es gab vor dieser Sternstunde, die Sie soeben geschildert haben, noch eine weitere Sternstunde in Ihrem journalistischen Leben, und zwar mit Gustav Heinemann. Gustav Heinemann hatte ja selbst eine große Wendung in seiner Biographie mitgemacht: Er war ehemaliger CDU-Innenminister und wurde später für die SPD Bundespräsident. Bei seiner Wahl zum Bundespräsidenten sprach er in einem Interview, das er Ihnen gegeben hat,... Appel: Ja, und zwar für die "Stuttgarter Zeitung". Reuß: ... von einem "Stück Machtwechsel". Dieser Begriff "Stück Machtwechsel" ging dann sogar in alle Lehrbücher ein, und es gibt ein Standardwerk des Historikers Arnulf Baring, das ebenfalls den Titel "Machtwechsel" trägt und sich genau auf diese Zeit bezieht. Warum hat Heinemann gerade Ihnen dieses Schlüsselinterview gegeben? Appel: Das hing damit zusammen, dass ich mich mit Heinemann in seiner Politik, die ja insbesondere auf die Wiedervereinigung Deutschlands gerichtet war – deswegen hatte er ja in den fünfziger Jahren zusammen mit Johannes Rau und Diether Posser auch die Gesamtdeutsche Volkspartei gegründet –, immer verbunden fühlte. Ich als Berliner hoffte nämlich ebenfalls immer noch auf die Wiedervereinigung, obwohl sie natürlich in immer weitere Ferne zu rücken schien. Aber Heinemann war jemand, der mit großem Engagement dieses Ziel verfolgte. Er war ja auch in der ersten Adenauer-Regierung als Bundesinnenminister zurückgetreten, als Adenauer den Westmächten Truppen anbot. – Wenn ich hier sozusagen einfügen darf: Heute ist das ja eine hervorragende Idee. – Damals habe ich diese Handlung von Adenauer als eine Art Vaterlandsverrat empfunden und Heinemann auch. Heinemann verließ also deswegen das Kabinett von Adenauer und schrieb ein Memorandum, das keine Zeitung in der Bundesrepublik veröffentlichte. Ich ging daher zu ihm und sagte zu ihm: "Wir werden das veröffentlichen!" Wir haben das also in der "Stuttgarter Zeitung" veröffentlicht und seitdem hatte ich einen sehr, sehr guten Kontakt zu ihm. Er seinerseits hat ebenfalls immer ein Vertrauensverhältnis zu mir bewahrt. Reuß: Sie haben 1970 den Adolf Grimme Preis bekommen und wenig später auch das Bundesverdienstkreuz für Ihre Arbeit. Eine Zeitung schrieb einmal über Sie, Ihr Credo sei, mit Informationen und im Gespräch miteinander die Kluft zwischen Regierenden und Regierten abzubauen. Ist Ihnen das hin und wieder gelungen? Appel: Ich glaube schon, dass mir das hin und wieder gelungen ist. Aber darin steckten natürlich schon auch Illusionen: Als ich damals nach zehn Jahren meine Sendung etwas abwandelte in "Bürger fragen – Politiker antworten" – im Bayerischen Rundfunk gab es dann ebenfalls diese Sendung "Jetzt red i", die sehr bürgernah gewesen ist... Reuß: Diese Sendung gibt es bei uns im Haus immer noch! Appel: Sehr schön. Diese Sendung gehörte jedenfalls zu meinen Versuchen, das zu erreichen. Ich musste dann aber leider feststellen, dass es da doch gewisse Schwierigkeiten gab. Wenn ich vor der Sendung mit dem Publikum gesprochen habe, wenn ich ihm Mut eingeflößt habe - "ihr könnt fragen, was ihr wollt!" -, dann war noch alles in Ordnung. Sobald aber das Rotlicht der Kamera auf sie gerichtet war, kam jedes Mal sofort Befangenheit auf. Diese Unmittelbarkeit, die ich mir erhofft und mit der ich diese Zielvorstellung verbunden hatte, ist dann leider nur sehr selten eingetreten. Einmal ist sie allerdings ganz gewiss eingetreten, und zwar bei einer so genannten Skandalsendung in Holland mit Helmut Kohl. Reuß: Das war im Jahr 1979. Appel: Genau, das war 1979 bei der ersten Europawahl. Diese Sendung damals hätte beinahe meinen Kopf gekostet. Strauß forderte meinen Rücktritt! Ach Gott, das war wirklich eine dramatische Sendung. Aber Herr von Hase, mein Intendant, stand zu mir wie ein Mann und ich konnte meine Sendung trotzdem fortsetzen. Reuß: Weil Sie das gerade angesprochen haben: Wie war denn Ihr Verhältnis zu Franz Josef Strauß, der ja sicherlich einem Moderator alles abforderte? Einmal muss er Ihnen – ich habe das nachgelesen und ich hoffe, das stimmt – eine Frage zurückgereicht haben mit der Bemerkung: "Wie hoch schätzen Sie denn selbst den intellektuellen Gehalt Ihrer Frage ein?" Appel: Nein, das hat er bei Nowottny gemacht, nicht bei mir. Reuß: Und wie war Ihr Verhältnis zu Strauß? Appel: Das war sehr unterschiedlich. Einerseits zählte ich Strauß und Wehner zu den interessantesten Gästen in meiner Sendung. Ich hatte daher beide auch Dutzende Male sehr gerne in meiner Sendung, weil sie sehr geradeaus, sehr verständlich, sehr temperamentvoll reagierten und dadurch Politik natürlich auch interessant und verständlich machten. Andererseits war Strauß aber auch sehr herrschsüchtig. Wenn man ihm eine kritische Frage stellte, die ihm nicht passte, dann sagte er: "Sie werden noch von mir hören!" Nach meiner Sendung mit Kohl, von der ich vorhin gesprochen habe, forderte er also, wie gesagt, meinen Rücktritt. Acht Tage später war ich jedoch mit ihm im Zusammenhang mit den ersten Direktwahlen für das Europäische Parlament zu einer Sendung in Brüssel verabredet. Ich habe ihn daher vor der Sendung um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten und ihm gesagt: "Herr Strauß, Sie haben meinen Rücktritt gefordert. Jetzt haben wir eine 90-minütige Sendung in Brüssel vor uns. Wir sollten unseren Streit jetzt unter uns austragen und nicht in der Sendung." Er schaute mich nur an, lächelte und sagte: "Appel, ich hatte gedacht, Sie sind ein Profi!" Reuß: Sie haben dann ja auch fast den Sprung zum Intendanten des ZDF geschafft. 1977 ging es um die Nachfolge von Karl Holzamer, dem Gründungsintendanten des ZDF. Es waren zwei Kandidaten im Gespräch: Dieter Stolte wurde von konservativer Seite vorgeschlagen, Reinhard Appel wurde von sozial-liberaler Seite vorgeschlagen. Die Gremien konnten sich dann aber nicht einigen. Wenn es stimmt, dann wurde dort damals zwölf Stunden lang gefeilscht. Es wurde immer wieder neu abgestimmt, aber die Blöcke haben sich nicht bewegt. Es herrschte ein Patt. Schließlich hat man dann Karl-Günther von Hase vorgeschlagen, einen Diplomaten. Er war damals Botschafter in London und war davor Regierungssprecher bei Adenauer, Erhard und Kiesinger gewesen. Appel: Er war zu diesem Zeitpunkt bereits als Intendant der Deutschen Welle gewählt – und danach dann sollte er Botschafter in Brüssel werden. Das war eigentlich alles bereits abgemacht hinsichtlich seiner Person. Weil sich die Blöcke aber nicht bewegten beim ZDF – ich wusste ganz genau, dass ich keine Mehrheit bekommen würde –, kam es anders. Es war dann nämlich so, dass sich die Blöcke doch bewegten, und zwar um eine Stimme. Appel bekam plötzlich eine Stimme mehr, was allerdings längst nicht die erforderliche Mehrheit bedeutet hat. Als das geschah, wurde man im konservativen Lager doch etwas unruhig und suchte nach einem anderen Kandidaten. Und es war wohl schon vorbereitet worden durch Schwarz- Schilling und Kohl, Karl-Günther von Hase zu fragen. Peter Glotz kam dann zu mir und fragte, was ich denn als stellvertretender Intendant und Chefredakteur sagen würde, wenn von Hase Intendant werden würde. Ich habe gesagt: "Ich wäre zu 100 Prozent dafür! Den kenne ich aus Bonn, der war loyaler Regierungssprecher unter Adenauer, unter Erhard und unter Kiesinger, also auch in der Großen Koalition. Das ist ein loyaler Mann, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle!" Ich bin dann also in diesen sozial-liberalen Freundeskreis gerufen worden und habe dort mein Bekenntnis zu von Hase laut und deutlich wiederholt. Und so kam es, dass von Hase dann auch gewählt worden ist. Reuß: 1982 wurde dann Ihr ehemaliger Konkurrent Dieter Stolte zum Intendanten gewählt. Wie war Ihr Verhältnis zu Stolte? Appel: Immer loyal. Ich habe ihn bewundert für seine Fähigkeiten. Als wir damals bei diesen Wahlen konkurriert haben, hat das unser gegenseitiges Verhältnis nicht berührt. Insbesondere als er Intendant wurde, hatte er einschränkungslos meine Unterstützung. Wenn mich damals irgendwelche politischen Pressuregroups aufhetzen wollten, ihn quasi stärker unter Kontrolle zu nehmen, dann habe ich das immer abgewehrt. Reuß: 1988 haben Sie Ihr Amt als ZDF-Chefredakteur aufgegeben. 1989 fiel dann die Mauer in Ihrer Heimatstadt. Damit wurde doch noch wahr, was Sie sich immer erträumt hatten, nämlich die deutsche Einheit. Wie und wo haben Sie davon erfahren? Appel: Ich durfte ja meine Sendereihe "Journalisten fragen – Politiker antworten" bis 1991 fortsetzen. Die Wiedervereinigungsphase fiel daher in die Fortsetzung dieser Reihe. Ich habe vor dem Brandenburger Tor gestanden und live eine Sendung angekündigt, nämlich eine Sendung, die ich in Adlershof in Ostberlin machte – obwohl zu diesem Zeitpunkt die DDR ja noch ganz klar existierte. Ich habe diese Sendung mit dem damaligen Staatspräsidenten Gerlach und mit Rainer Eppelmann gemacht. Ich führte also in dieser Sendung, und das war wohl überhaupt typisch für meine Sendungen, politische Gegner zusammen. Insofern habe ich also den Wiedervereinigungsprozess schon auch noch als aktiver Fernsehjournalist und Fernsehmoderator miterlebt und ihn begleiten können. Die Krönung für mich bestand dann darin, dass mich Dieter Stolte zum Hörfunkbeauftragten des "DS- Kultur", also des Ostberliner "Deutschlandsenders Kultur" machte mit dem Ziel, diesen Sender mit dem RIAS zusammenzuführen. Das muss man sich mal überlegen: Das waren ja zwei "Feindsender", die sich früher über den Äther hinweg angefetzt und angefeindet hatten. Das war eine der schönsten Aufgaben meines Lebens. Reuß: Wir sind schon fast am Ende unserer Sendezeit. Als Sie 1988 beim ZDF als Chefredakteur ausgeschieden sind, sagten Sie: "Ich gebe mein Amt auf, nicht aber meinen Beruf." Für unsere Zuschauer ist es sicherlich interessant zu wissen, was Reinhard Appel heute eigentlich so macht. Appel: Heute versuche ich mich durch Tennisspielen drei Mal in der Woche und durch zwei Mal Schwimmen und durch Gymnastik fit zu halten – und durch das Schreiben eines Buches jedes Jahr. Im vorigen Jahr habe ich ein Buch über das neue Bernsteinzimmer geschrieben, davor zusammen mit Karl-Günther von Hase eines über 300 Jahre Preußen, davor eines über 50 Jahre Bundesrepublik, 50 Jahre Fernsehen usw. Jetzt arbeite ich an einem Buch über den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden. Reuß: Ich darf mich bei Ihnen ganz, ganz herzlich für das sehr angenehme Gespräch bedanken und möchte gerne mit einem Zitat über Sie enden. Es stammt von Jockel Fuchs, dem langjährigen und legendären Oberbürgermeister von Mainz. Er sagte einmal über Sie, Sie seien der populärste Mainzer seit Gutenberg. Fuchs war ja auch lange Jahre Vorsitzender des ZDF-Fernsehrates und in dieser Funktion sagte er über Sie: "Reinhard Appel ist ein Vollblutjournalist. Ihm ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass die politische Kultur Platz und Ausdruck im Programm des ZDF gefunden hat, in einer Form, die bei aller Professionalität der Zuschauernähe verschrieben ist." Noch einmal ganz, ganz herzlichen Dank, Herr Appel. Appel: Ich danke für die Einladung. Reuß: Verehrte Zuschauer, das war Alpha-Forum, heute mit Reinhard Appel, Journalist und Autor und ehemals Chefredakteur des ZDF. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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