Rundfunk und Geschichte

3– 4/ 2005 Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

31. Jahrgang Nr. 3–4/2005 Rundfunk und Geschichte Geschichte und Rundfunk

Happy-End im Trauerspiel? Die Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« und Perspektiven für ein »Deutsches Fernsehmuseum«

Das Wunder von Friedland. Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio

Rundfunk in schwierigen Zeiten. Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer

RADIO REVOLTEN. Internationales Festival zur Zukunft des Radios

Die Bildbestände im Deutschen Rundfunkarchiv am Main

Rezensionen

Bibliografie

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

Zitierweise: RuG – ISSN 0175-4351

Redaktion: Claudia Kusebauch Christoph Rohde Steffi Schültzke Hans-Ulrich Wagner Inhalt

31. Jahrgang Nr. 3–4/2005

Aufsätze Jochen Darmstädter »Von der ‚Fresswelle’ zum Gourmetboom«. Leif Kramp Der mediengeschichtliche Aspekt Happy-End im Trauerspiel? eines Forschungsprojekts am Institut Die Entwicklungsgeschichte für Neuere Geschichte Dortmund 51 der »Deutschen Mediathek« und Perspektiven für ein Petra Witting-Nöthen »Deutsches Fernsehmuseum« 05 Die Medienbestände des Historischen Archivs des WDR. Eine Übersicht 53 Michael Stolle Das Wunder von Friedland. Bernd Semrad Die Heimkehr der letzten »Theorien und Methoden der Kommunikations- deutschen Kriegsgefangenen geschichte«. 20 Jahre »medien&zeit« und Jahres- und das Radio 20 tagung der Fachgruppe Kommunikations- geschichte der DGPuK 55 Dokumentation Friedrich Dethlefs Rundfunk in schwierigen Zeiten. Die Bildbestände im Deutschen Rundfunkarchiv Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer Frankfurt am Main 60 Birgit Bernard, Renate Schumacher 31 Rezensionen Miszellen Peter von Rüden/Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Thomas Kupfer/Golo Föllmer Die Geschichte RADIO REVOLTEN. Internationales Festival des Nordwestdeutschen Rundfunks. und Tagung zur Zukunft des Radios 44 (Inge Mohr) 67

Inge Mohr Benjamin Haller: »Hier spricht «. 75 Jahre Die Zeitschriftenpläne des NWDR. Haus des Rundfunks – 75 Jahre (Inge Mohr) 68 Radiogeschichte 45 Ingrid Scheffler: Inge Mohr Schriftsteller und Literatur Schauplatz Hörspiel – Bilder, Töne, Technik. im NWDR Köln (1945–1955). Eine Ausstellung im Deutschen Technikmuseum (Inge Mohr) 68 Berlin 46 Ulrike Bartels: Oliver Zöllner Die Wochenschau im Dritten Reich. Synthetische Klänge. (Konrad Dussel) 69 Nachruf Robert Moog (1934–2005) 47 Barbara Schmied: Johannes Schiller. Radio der Zukunft. 50 Jahre Abendschau. Die Bonner Tagung »Global Radio: (Wolfram Wessels) 70 Hörfunk international und crossmedial« 48 Ingrid Scheffler: Christiane Breithaupt Literatur im DDR-Rundfunk. »Das literarische Fernsehen«. (Andreas Kozlik) 71 Ein Symposium zu den Wechselbeziehungen von Fernsehen und Literatur 49 02 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Heiner Boehncke/Michael Crone (Hrsg.): Thomas Heimann: Radio Radio. Bilder von Buchenwald. (Ingrid Scheffler)72 (Matthias Steinle) 83

Karin Falkenberg: Sylvia Klötzer: Radiohören. Satire und Macht. (Hans-Ulrich Wagner) 74 (Wolfgang Mühl-Benninghaus) 85

Digitale Bibliothek: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.) Das Literarische Quartett. Unsere Feinde. (Andreas Kozlik) 76 (Tilo Prase) 86

Friedrich Krotz: Martin Löffelholz (Hrsg.): Neue Theorien entwickeln. Krieg als Medienereignis II. (Oliver Zöllner) 78 (Oliver Zöllner) 87

Lothar Mikos/Claudia Wegener (Hrsg.): Victoria Strachwitz: Qualitative Medienforschung. Der Falklandkrieg als Medienevent. (Anja Peltzer) 79 (Henrike Viehrig) 88

Rico Lie: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.): Spaces of Intercultural Communication. Medien des kollektiven Gedächtnisses. (Oliver Zöllner) 80 (Edgar Lersch) 89

Michael Reusteck/Stefan Niggemeier: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hrsg.): Das Fernsehlexikon. Die Gegenwart der Vergangenheit. (Mark Lührs) 80 (Edgar Lersch) 91

Insa Sjurts (Hrsg.): Bibliografie Gabler Lexikon Medienwirtschaft. (Oliver Zöllner) 81 Zeitschriftenlese 92 (1.1. -30.6.2005) (Rudolf Lang) 93 Michael Jäckel (Hrsg.): Mediensoziologie. Mitteilungen des Studienkreises (Sascha Trültzsch) 82 Rundfunk und Geschichte

Inhalt 03

Autoren der Aufsätze und der Dokumentation

Dr. Birgit Bernard, geb. 1961, Historikerin und Wis- senschaftliche Dokumentarin. Studium der Neue- ren und Neuesten Geschichte sowie der Romanis- tik an der Universität Trier. 1992/93 Ausbildung zur Wissenschaftlichen Dokumentarin im Filmarchiv des WDR, seit 1994 Dokumentarin im Historischen Ar- chiv des WDR. Zahlreiche Publikationen zur rhei- nischen Landesgeschichte und zur Rundfunkge- schichte, insbesondere der NS-Zeit. E-Mail: [email protected]

Leif Kramp, M.A., geb. 1980, arbeitet als freier Jour- nalist in Hamburg und promoviert über Strategien des Umgangs mit Fernsehen im Museum. 2005 Ab- schluss des Studiums der Journalistik und Kommu- nikationswissenschaft sowie der Geschichte an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zum Thema »Die ‚Deutsche Mediathek‘. Ziele und Ansätze ei- nes nationalen Museums zur deutschen Fernseh- geschichte«. E-Mail: [email protected]

Dipl.-Soz. Renate Mohl, geb. Schumacher, arbeitet seit über 20 Jahren im Deutschen Rundfunkarchiv, früher Frankfurt am Main, jetzt Wiesbaden, zuletzt in der Redaktion des »ARD-Jahrbuchs«. Mehre- re Aufsätze zu rundfunkhistorischen Themen, u. a. zur Programmstruktur und zum Zeitfunk in der 1997 erschienenen »Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik« (hrsg. von Joachim-Fe- lix Leonhard). E-Mail: [email protected]

Dr. Michael Stolle, geb. 1970, promovierte 2001 mit einer Arbeit über die »Geheime Staatspolizei in Ba- den« und arbeitet seit 2002 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Univer- sität Karlsruhe (TH). Seine Schwerpunkte sind die mediale Wahrnehmung von Diktaturen im 20. Jahr- hundert und die Entwicklung von neuen Lehrforma- ten im Fach Geschichte. Mehrere Veröffentlichun- gen, zuletzt: Der andere 11. September. In: Kunst, Kommunikation, Macht. Sechster österreichischer Zeitgeschichtetag. Hrsg. von Ingrid Bauer u. a. Inns- bruck u. a. 2004, S. 418–423. E-Mail: [email protected] Leif Kramp

Happy-End im Trauerspiel?

Die Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« und Perspektiven für ein »Deutsches Fernsehmuseum«

In ihrer Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung Vorgänge der Entwicklungsgeschichte des Projekts bewegter Bilder fordert die UNESCO im Jahre 1980 Auskunft gibt. Darüber hinaus wurden systematisch unmissverständlich, die »gesamte Öffentlichkeit auf Pressetexte ausgewertet, um durch die darin ent- die erzieherische, kulturelle, künstlerische, wissen- haltene tagesaktuelle Berichterstattung die öffent- schaftliche und historische Bedeutung bewegter liche Debatte um die »Deutsche Mediathek« nach- Bilder« aufmerksam zu machen.1 Dennoch gibt es zuzeichnen. in Deutschland keine Einrichtung, die mehr als 50 Jahre nach der Aufnahme des regulären Fernseh- Darüber hinaus wurden vom Verfasser 18 Exper- betriebs einer breiten Öffentlichkeit den Zugang zu tengespräche geführt. Ziel der etwa einstündigen Fernsehsendungen nach ihrer Ausstrahlung ermög- Gespräche mit diesen maßgeblich an der Ent- licht. Warum misslang die Gründung einer solchen wicklung der »Deutschen Mediathek« Beteiligten Institution, welche der Öffentlichkeit einmal ausge- war es, ein möglichst differenziertes Bild von den strahlte Sendungen unabhängig vom Programm- Hintergründen der Initiative, der Entwicklungs- schema der Sender zugänglich machen und damit geschichte, den Problemen und den Perspekti- ein Ort des Diskurses über das Medium sein kann? ven der »Deutschen Mediathek« bzw. eines Muse- Anfang Juni 2006 soll auf dem Potsdamer Platz in ums zur deutschen Fernsehgeschichte zu erhalten. Berlin das erste Fernsehmuseum Deutschlands sei- Deshalb wurde der Kreis der Gesprächspartner so ne Türen öffnen. Diese Eröffnung würde das Ende gewählt, dass möglichst aus jedem Entwicklungs- einer medienpolitischen Tour de Force markieren, stadium der Projektgeschichte eine Person be- die fast 20 Jahre andauert. Denn bereits Mitte der fragt werden konnte. So finden sich im Experten- 80er Jahre war eine Initiative ins Leben gerufen wor- kreis nicht nur maßgebliche »Mediathek«-Planer, den mit dem Ziel, eine solche Institution unter dem sondern auch ehemalige Archivleiter und die Vor- Titel »Deutsche Mediathek« zu errichten. In diesem stände des Deutschen Rundfunkarchivs, Vertreter Beitrag soll diese verworrene und von vielen Miss- der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und erfolgen begleitete Entwicklungsgeschichte der ausgewählter Landesmedienanstalten sowie Ver- »Deutschen Mediathek« nachgezeichnet werden. treter der Politik. Diese breit angelegte Auswahl Hierbei konzentriere ich mich auf maßgebliche Pro- zeigt, auf welch vielfältigen Ebenen die »Media- blembereiche, um in einem weiteren Schritt, Per- thek«-Initiative behandelt wurde. Dabei verlang- spektiven für ein »Deutsche Fernsehmuseum« zu ten die unterschiedlichen beruflichen Hintergrün- entwickeln.2 de sowie die verschiedenen Wissensstände der Experten eine flexible Schwerpunktsetzung bei der Befragung.3 Quellenlage

Dokumente, die Aufschluss über die Entwicklungs- geschichte und das Handeln der beteiligten Perso- 1 Deutscher Bundestag: UNESCO-Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilder. Drucksache 9/963, S. 7–11; Zitat, S. 11. nen geben, wurden nicht zentral gesammelt. Sie 2 Der Beitrag greift auf Erkenntnisse zurück, die 2005 im Rahmen lagern bei unterschiedlichen Institutionen wie der meiner Magisterarbeit am Institut für Journalistik und Kommunikati- Akademie der Künste Berlin und der Stiftung Deut- onswissenschaft der Universität Hamburg unter dem Titel »Die ‚Deut- sche Mediathek‘. Ziele und Ansätze eines nationalen Museums zur sche Kinemathek in Berlin – indes bruchstückhaft. deutschen Fernsehgeschichte« herausgearbeitet wurden. Bei mehreren an der Entwicklung Beteiligten fanden 3 Die Gesprächspartner waren: Sascha Bakarinow, Klaus Pe- sich aber zahlreiche Dokumente, die für die Analy- ter Dencker, Helmut Drück, Hans-Geert Falkenberg, Kristina Faßler, se des Themas zur Verfügung gestellt wurden. Auf Wolfgang Hempel, Peter Hoenisch, Thomas Kreyes, Peter Paul Ku- bitz, Joachim-Felix Leonhard, Eva Orbanz, Hans Helmut Prinzler, Ha- diese Weise konnte ein umfangreicher Fundus an rald Pulch, Dietrich Reupke, Heiner Schmitt, Norbert Schneider, Diet- Quellen zusammengestellt werden, der über interne rich Schwarzkopf, Hans-Gerhard Stülb und Martin Wiebel. 06 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Überblick über die Entwicklungsgeschichte Debatte um die »Deutsche Mediathek« wurde auf der einen Seite Verständnis für die fehlenden Kapa- In absehbarer Zeit soll die mitunter gescheitert ge- zitäten in den Senderarchiven geäußert, die Unzu- glaubte »Deutsche Mediathek« unter neuem Namen gänglichkeit von audiovisuellem Material aber auch ihre Pforten öffnen. Nach zwei Probeläufen mit den als »Kulturschande« bezeichnet.7 Das rückt die Fra- Ausstellungen »Fernsehen macht glücklich« (2002/ ge nach den Nutzerkreisen einer »Deutschen Me- 03) und »Kommissarinnen« (2004/05) wird laut Pla- diathek« in den Mittelpunkt. Im Rahmen seines nungen der Stiftung Deutsche Kinemathek im Ber- Vortrags beim Medien-Hearing machte sich Hans- liner Filmhaus am Potsdamer Platz voraussichtlich Geert Falkenberg, einer der Chef-Planer der »Me- am 1.Juni 2006 das »Deutsche Fernsehmuseum« diathek« und langjähriger WDR-Kulturchef, darü- gegründet werden.4 Dieses Ereignis würde das ber erste Gedanken: Neben den Rundfunkanstalten Ende eines medienpolitischen Trauerspiels darstel- selbst seien weitere Einrichtungen, die mit audiovi- len, das in Deutschland seinesgleichen sucht. suellem Quellenmaterial arbeiten, sowie Journalis- ten, Wissenschaftler, Bildungseinrichtungen, Ver- Begonnen hatte die Debatte um eine »Deutsche bände und der individuelle Besucher mögliche Mediathek« im Juni 1986 auf Initiative des Doku- Nutzer der Einrichtung. Die Zielgruppe entspricht in mentarfilmers Eberhard Fechner während des Me- ihrem Umfang der Bedeutung, die der »Deutschen dien-Hearings »Zur Bewahrung von Funk- und Fern- Mediathek« von Beginn an seitens ihrer Planer bei- sehkultur in den Archiven der öffentlich-rechtlichen gemessen wurde. Rundfunkanstalten« in der Akademie der Künste Berlin. In den Folgejahren zeigte sich, wie schwer Fechner meinte, es habe sich ein »ungewöhnlicher sich Politik und Wirtschaft in Deutschland dazu Bestand von bewahrenswerten Zeugnissen unse- durchringen konnten, eine Institution zu schaffen, rer Kultur angesammelt«. Die geplante »Mediathek« die sich dem Leitmedium Fernsehen widmet und sei für die Gesellschaft dringend erforderlich, wenn sein Programmmaterial für das Publikum neu er- »sie ihre kulturelle Identität in diesem für uns alle schließt, hinterfragt und zugänglich macht. so wichtigen Bereich bewahren will.«8 Diese For- derung, die sich in abgewandelter Form in fast al- Ein neben der mannigfaltigen Bedeutung des Rund- len bisherigen Konzeptionen der »Deutschen Medi- funks von Fechner als »ganz persönlich« bezeichne- athek« finden lässt, deutet auf den bereichernden ter Grund für die Idee einer »Deutschen Mediathek« Charakter des Rundfunks im Allgemeinen und des war die Bestürzung über die von ihm festgestell- Fernsehens im Speziellen für das so genannte kul- te Löschung von Archivmaterial durch die Rund- funkanstalten. Wiederholt wurde die Betroffenheit Fechners auf die unrechtmäßige Löschung seines eigenen Filmmaterials zurückgeführt und als Grund- motivation für seine Initiative beschrieben. Die seit seinem Tod stets wiederkehrende Behauptung, der NDR habe einen bzw. einige seiner Werke zur »Frischbandgewinnung« überspielt und damit un- wiederbringlich gelöscht, ist aufgrund der Faktenla- ge indes nicht aufrechtzuerhalten. Von seiner Witwe 4 Vgl. Margarete Keilacker: Wird ein Traum wahr? Ab Frühsom- mer hat Deutschland ein Fernsehmuseum. In: Fernseh-Informationen Jannet Fechner sowie von Seiten des NDR werden 57(2006), H. 1, S. 10–13. die Behauptungen denn auch als fortgeschriebe- 5 Wiederholt nahmen so Jannet Fechner und Horst Königstein vom ne Gerüchte bezeichnet, die jeglicher Wahrheit ent- NDR zu dieser Frage Stellung. – Königstein, seit 1970 Redakteur und behren.5 Darüber hinaus lässt sich anhand des aus- seit 1989 Autor und Regisseur der Fernsehspiel-Abteilung des NDR, war ein guter Bekannter Eberhard Fechners. führlichen Wortprotokolls des Medien-Hearings nur 6 Akademie der Künste Berlin: Medien-Hearing II: Zur Bewahrung nachweisen, dass Fechner sich über die Löschung von Funk- und Fernsehkultur in den Archiven der öffentlich-rechtli- anderer Werke betroffen zeigte – aber nicht seiner chen Rundfunkanstalten am 6. Juni 1986 in der Akademie der Künste. 6 Internes Protokoll, 115 Seiten; Zitat, S. 30f. Akademie der Künste. Ar- eigenen. Ein Anhaltspunkt, welchen Hintergrund chiv. AdK-W 1640. die sich hartnäckig haltende Behauptung hat, ist 7 Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Deutsche Media- nicht erkennbar. thek im Aufbau. Protokoll der Veranstaltung am 14.2.1991 in den Club- räumen der Akademie der Künste. Internes Dokument, 32 Seiten; Zi- tat, S. 15. Akademie der Künste. Archiv. AdK-W 16. Als ein weiteres Problem galt die eingeschränkte 8 Abteilung Film- und Medienkunst der Akademie der Künste: Deut- Zugänglichkeit des Archivmaterials. Im Laufe der sche Mediathek im Aufbau. Berlin-West o. J., S. 3. Kramp: Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« 07 turelle Gedächtnis hin.9 In den ersten Konzeptionen Amt des Vereinsvorsitzes, Erwin Leiser, werden als wurde noch sehr ausführlich und auch im späteren unerfahren in der für das Projekt notwendigen po- Verlauf zwar nicht explizit, aber indirekt davor ge- litischen Taktik beschrieben.10 Auch Fechner selbst warnt, die Rundfunküberlieferungen würden nach räumte schon zu Beginn der Planungen ein: »Wir ihrer Ausstrahlung durch die Unzugänglichkeit der waren wirklich Amateur [!], wir haben keine Ah- Archive der Vergessenheit überantwortet. Dahinter nung gehabt, als wir mit dem Ding anfingen, nichts stand die Überzeugung, dass durch eine Institution wussten wir.«11 Aus der Frage nach Kompetenz und wie die »Deutsche Mediathek« das Programmma- Engagement für die Sache resultierten nach dem terial nicht nur zugänglich gemacht werden könne, Tode Fechners sogar Personalfluktuationen: Die sondern durch die didaktische Vermittlung und die Wahl Leisers zum neuen Vorsitzenden führte zum durch Veranstaltungen und Publikationen erfolgen- Bruch des Vereins mit dem zweiten Vorsitzenden de Wiedereinspeisung der Programminhalte in den Klaus Peter Dencker (damals: Kulturamt Hamburg), gesellschaftlichen Diskurs Erinnerung erst ermög- der bis dato die Entwicklung auf konzeptioneller und licht und damit das kulturelle Gedächtnis bereichert politischer Ebene maßgeblich vorangetrieben hatte. werde. Der daraus zu folgernde Wert einer solchen Ein weiteres Gründungsmitglied, Eva Orbanz (Deut- Einrichtung im Sinne eines Funktionsgedächtnisses sche Kinemathek), legte ihre Mitgliedschaft nieder, tritt zumal dann deutlich hervor, wenn durch stetig um gegen die Art, wie die Wahl durchgeführt wor- anwachsende Programmmengen im Speicherge- den war, zu protestieren.12 dächtnis, das heißt: in den Senderarchiven, immer mehr gespeichert wird und immer weniger erinnert Innerhalb des Vereins und der Lobbyisten für ein werden kann. In diesem Zusammenhang spielt auch medienpolitisch so ambitioniertes Projekt fehlte ein die Theorie, dass sich bei wachsendem Informati- Pragmatiker. Das führte sogar dazu, dass zwischen- onsaufkommen die Erinnerungsfähigkeit verringert, zeitlich nach einer geeigneten Galionsfigur gesucht eine Rolle. Die »Mediathek« sollte demzufolge eine wurde und Namen wie Boris Becker oder Leo Kirch Kanalisierung von Informationen und deren Ver- gehandelt wurden. Doch diese Überlegungen ver- mittlung ermöglichen. Geeignete Mittel dazu sollten liefen schnell wieder im Sand. Die Möglichkeiten, Ausstellungen sowie Veranstaltungen in Form von auf europäischer Ebene eine Förderung zu erhal- Seminaren und Vorträgen sein. ten, wurden trotz erster Verhandlungen vom Verein nicht weiter verfolgt, was angesichts der positiven Trotz forcierter Planungen verliefen erste Kontak- Signale aus Brüssel bis heute rätselhaft erscheint. te mit dem Senat von Berlin nur zaghaft. Die Grün- Die »Mediathek«-Planer galten zeitweise gar als dung des Vereins »Freunde der Deutschen Me- »liebe Illusionisten«, wie Konrad Bonkosch, damals diathek e.V.« erfolgte am 14. Januar 1991. Zweck verantwortlich für Programmerwerb, -vertrieb, TV- des Vereins war satzungsgemäß die Gründung Archiv in der Fernseh-Sendeleitung des Süddeut- der »Deutschen Mediathek« in Form einer GmbH schen Rundfunks in einem Beitrag für die Zeitschrift oder Stiftung. Einen Monat lud man zu einer Infor- »Fernseh-Informationen« schrieb.13 Doch sie hatten mationsveranstaltung in die Clubräume der Akade- mie der Künste ein. Das Projekt »Deutsche Media- thek« wurde erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. 9 Zum Begriff und der Problematik des kulturellen Gedächtnisses Unter den 70 Anwesenden waren vornehmlich Ver- vgl. v. a. die Arbeiten von Aleida Assmann, darunter: Erinnerungsräu- treter aus Politik und Rundfunk, die auf das Projekt me, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Mün- chen 1999; Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In: aufmerksam gemacht sowie als finanzielle und ma- Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Ge- terielle Unterstützer gewonnen werden sollten. Trotz dächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin ausführlicher Vorstellung des Konzepts und trotz und New York 2004, S. 45–60; Das Kulturelle Gedächtnis an der Mille- der deutlichen Appelle an die Adresse der Rund- niumsschwelle. Krise und Zukunft der Bildung. Konstanz 2004. 10 So beispielhaft Klaus Peter Dencker, der über den Vereinsvorsit- funkveranstalter erklärten diese lediglich eine ide- zenden Erwin Leiser äußert, er habe »keinerlei Sinn für Struktur und elle Unterstützung und stellten allenfalls in Aussicht, politische Schritte« gehabt. Klaus Peter Dencker im Gespräch mit dem Programmmaterial bereit zu stellen. Verf. am 31.1.2005. 11 Vgl. Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Deutsche Me- diathek im Aufbau. Protokoll (Anm. 7), S. 23. Obwohl die federführenden Planer engagiert zu 12 Der von Eva Orbanz schriftlich eingesandte Vorschlag zur anste- Werke gingen, scheiterte die Initiative in den Jahren henden Wahl des neuen Vereinsvorsitzenden wurde ihrer Ansicht nach von 1995 bis 2001 mehrmals. Gemeinhin wird ihnen nicht beachtet. Brief von Eva Orbanz an den Verein, 19.12.1992. Privat- archiv Jannet Fechner. eine Kompetenz auf der politischen Bühne abge- 13 Konrad Bonkosch: Deutsche Mediathek – auch sonst viele offene sprochen. Vor allem Fechner und sein Nachfolger im Fragen. In: Fernseh-Informationen 45(1994), H. 19, S. 562f. 08 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) regen Zulauf: Sollte der Verein zunächst die Zahl zung des Projekts zu bewegen. Berlin stellte sich von sieben Mitgliedern nicht übersteigen, so wuchs nicht hinter diese Initiative. Vielmehr empfahl man, diese Zahl bis kurz vor seiner Auflösung im Herbst dass die Sender bei der Finanzierung in die Pflicht 2000 auf 36 an. genommen werden müssten. Berlin riet von einer Beteiligung der Bundesländer ab. Die versammel- Auch über den Begriff »Deutsche Mediathek« wurde ten Ländervertreter nahmen in der Amtschefkonfe- ausführlich debattiert. Zahlreiche Vorschläge kur- renz im September 1991 die »Mediathek« denn auch sierten, darunter »Haus der Programmgeschichte«, nur »zur Kenntnis«. »Museum für Rundfunk- und Fernsehkultur« oder »Rundfunkprogramm-Museum«. Auch über die Be- Im April 1992 kam es zum Eklat zwischen dem Ver- griffe »Museum« und »Archiv« wurde in diesem Zu- ein und dem Berliner Senat: Durch diese erhebli- sammenhang heftig diskutiert. Die Bezeichnung chen Verzögerungen bei der Bewilligung bereits zu- »Deutsche Mediathek« war auch nach seiner Fest- gesagter Mittel für das Jahr 1992 erwog Fechner legung durch die Vereinsgründung im Jahre 1991 auch andere Standorte. Er führte mit dem in der strittig, vor allem wegen der Funktionen, die ihr zu- Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten geschrieben wurden bzw. die sie explizit nicht über- zuständigen Medienreferenten Hartwig Willbrandt, nehmen sollte. der auch Mitglied des Vereins war, einen Briefwech- sel, der an Schärfe gewann. Laut Fechner prakti- Die Probleme, an denen das Projekt litt, waren indes zierte Willbrandt eine Hinhaltetaktik.17 Ein Resultat nicht immer nur hausgemacht. Die Einrichtung, die der schriftlichen Auseinandersetzung war der so- Jahr für Jahr nur auf dem Planungspapier existierte fortige Austritt Willbrandts aus dem Verein. Gleich- und erst 1997, ohne gegründet worden zu sein, eine wohl blieb er für den Verein der Ansprechpartner erste eigene Veranstaltung im Rahmen der »Langen beim Berliner Senat, auch über den Tod Fechners Nacht der Museen« in Berlin realisierte,14 geriet zu am 7. August 1992 hinaus. Denn trotz der geringen einem Spielball zwischen Politik und Wirtschaft. Sie Mittelbereitstellung erklärte sich Willbrandt bereit, wurde zu einem Projekt, das langsam drohte, zwi- sich weiterhin für die Errichtung der »Deutschen schen Länderpolitik und Senderkalkül aufgerieben Mediathek« einzusetzen. Die Situation in Berlin ver- zu werden. Die entscheidenden Problembereiche besserte sich indes nicht, da eine deutliche und auf in der wechselvollen Entwicklungsgeschichte wa- Langfristigkeit angelegte Erklärung zur Unterstüt- ren aber nicht die ungeklärten Rechtsfragen oder zung der Hauptstadt ausblieb. Klaus Peter Dencker, technischen Unwägbarkeiten.15 Maßgeblich waren der die Vereinsleitung nach dem Tod Fechners kom- die Standortfrage, sodann die Finanzierungsfrage missarisch übernommen hatte, vermutete damals: und schließlich die teils hitzig geführte Debatte um »Mein Eindruck ist, der Senat will uns im Grunde das Konzept der »Deutschen Mediathek«. Im Fol- gar nicht haben. Daraus müssen wir jetzt die Kon- genden wird die Entwicklungsgeschichte der »Me- sequenzen ziehen.«18 diathek« anhand dieser Problembereiche noch ein- mal systematisch dargestellt.

Standortstreit

14 Im Rahmen der Berliner »Langen Nacht der Museen« wurde 1997 Von Beginn an war das Projekt in Berlin beheima- die Fernsehserie »Raumschiff Orion« präsentiert. Weiterhin gab es Be- tet, schon aufgrund der langjährigen Anbindung an teiligungen des Gründungsbüros u. a. an den Feierlichkeiten zum 300- die Akademie der Künste. Doch im Lauf der Jah- jährigen Bestehen der Akademie der Künste 1996. re wurde einige Male die Standortfrage aufgewor- 15 Mehrere Rechtsgutachten sorgten schon ab 1987 für Klarheit in Urheberrechtsfragen. Mögliche Reibungspunkte wurden durch po- fen. War der Konkurrenzgedanke zunächst noch sitive Signale für eine pauschale Rechteabgeltung seitens der Ver- willkommen, um die Dringlichkeit der baldigen Re- wertungsgesellschaften entschärft. Auch die angesichts der schnell alisierung in Berlin deutlich zu machen,16 so wurde voranschreitenden technischen Entwicklung schwierige Frage nach geeigneten Speichermedien und der technischen Infrastruktur sorg- er später für den Verein und sein Projekt ein regel- ten nicht maßgeblich für die Verzögerungen der Entwicklung. rechtes Druckmittel. Denn Berlin machte trotz wie- 16 Wie z.B. im Jahre 1991 der Verweis auf die Planungen für ein Fern- derholt signalisiertem Interesse keine verlässlichen sehmuseum in . Zusagen für eine Förderung. Ihren Höhepunkt er- 17 Eberhard Fechner an Hartwig Willbrandt, 22.4.1992. Bestand: Pri- vatarchiv Jannet Fechner. reichte diese Passivität , als der Verein beab- 18 Zit. n. Peter Paul Kubitz: »Der Senat will uns im Grunde gar nicht sichtigte, die Kultusministerkonferenz zur Unterstüt- haben«. In: Der Tagesspiegel, 20.10.1992. Kramp: Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« 09

Aufgrund der unklaren Haltung Berlins zum Projekt Sehen« in den Jahren 1997 und 1998 im Gasome- wurden unter der neuen Vereinsführung von Leiser ter Oberhausen. An diesem Publikumsmagneten zwischen Ende 1992 und Mitte 1993 intensive Ge- schieden sich insofern die Geister, als dass hier spräche unter anderem mit Nordrhein-Westfalen verschiedene Kontroversen zusammenliefen: Ne- geführt. Wolfgang Clement, damals Chef der nor- ben dem Standortstreit zwischen Berlin und NRW, drhein-westfälischen Staatskanzlei und Minister für verbunden mit dem Ausdruck medienpolitischer besondere Aufgaben, äußerte starkes Interesse an Ansprüche, spielte in diesem Zusammenhang auch der Realisierung des Projekts in NRW. Er sicherte die Frage nach der korrekten und gleichzeitig auch umfangreiche finanzielle Unterstützung zu, inklusi- ansprechenden Umsetzung einer Ausstellung zur ve der Beschaffung von Investitionsgeldern für ein Fernsehgeschichte eine Rolle. So wurde deren Wir- Gebäude und die Erstausstattung.19 Angesichts kung auf die Entwicklung der »Deutschen Media- solcher Signale aus Düsseldorf forderte der Verein thek« teils als groß, teils als nicht existent gewertet. von Berlin eine klare Zusicherung für eine Anschub- Ein ‚Tauziehen‘ war also unverkennbar. Das Wettren- finanzierung für die Jahre 1995 bis 1997. Er setzte nen endete im Jahr 1998, als die Pläne für ein Me- dem Senat ein Ultimatum bis 30. August 1993. Falls dienhaus in Bonn (mit der Integration einer »Deut- den Forderungen nicht entsprochen würde, soll- schen Mediathek«) sowie für ein Europäisches ten unmittelbar konkretere Verhandlungen mit dem Zentrum für Medienkommunikation in Marl einge- Land Nordrhein-Westfalen aufgenommen werden. stellt wurden. Der Berliner Senat reagierte und beschloss ein- stimmig, die »notwendigen Maßnahmen zu ergrei- fen, um die Errichtung der Deutschen Mediathek in Finanzierung Berlin sicherzustellen« – und die Abwanderung nach NRW zu verhindern. Dies beinhaltete auch die Über- Die weitaus größten Schwierigkeiten bescherten nahme von einem Viertel der Kosten im Rahmen der die Fragen der Finanzierung. Bis heute ist strittig, geplanten Träger-Institution.20 Der Verein nahm den wer für die Finanzierung einer Institution wie die der Beschluss zum Anlass, umgehend den Potsdamer »Deutschen Mediathek« zuständig sei. Die Planer Platz als Standort für die »Deutsche Mediathek« zu der »Mediathek« gingen zunächst davon aus, dass bestimmen. nicht primär die Sender angesprochen werden soll- ten, sondern die Bundesländer und der Bund. Für NRW war damit zwar aus dem Rennen, es wurde sie war klar, dass aus den Staatsverträgen »nur un- aber in Erwägung gezogen, im Zuge einer mögli- ter äußerster Dehnung abzuleiten« sei, dass die chen späteren Regionalisierung weitere Gespräche Gebührenmittel für eine solche Aufgabe verwendet mit den Vertretern sowohl NRWs als auch Branden- werden könnten. Fechner war der Überzeugung, burgs zu führen. Der Gedanke eines so genannten dass die Einrichtung nicht in das Aufgabengebiet »Satellitenmodells«21 mit verschiedenen Depen- dancen in anderen Städten war schon Anfang 1993 konkretisiert worden. Er war jedoch bewusst unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert worden, um bei den Standortverhandlungen keinen Zweifel über die dringliche Notwendigkeit einer finanziellen Un- 19 Verein Freund der Deutschen Mediathek e.V.: Protokoll des Ge- terstützung an dem jeweiligen Ort aufkommen zu sprächs über die Realisierungschancen und Zukunftsperspektiven des Projektes »Deutsche Mediathek« in der Staatskanzlei Düsseldorf lassen. Die Standortdebatte riss aber mit der Ent- vom 23.4.1993. Internes Dokument, 4 Seiten. Akademie der Künste. Ar- scheidung zugunsten Berlins nicht ab, sondern wur- chiv. AdK FM 11. de zu einem offen ausgetragenen Wettbewerb. Die 20 Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Protokoll der or- parallel in NRW verfolgten Pläne, denen teils der dentlichen Mitgliederversammlung in der Akademie der Künste vom 28.9.1993. Internes Dokument, 5 Seiten; Zitat, S. 1. Akademie der Anspruch beigemessen wurde, als Ausgleich für Künste. Archiv. AdK FM 11. den Parlaments- und Regierungsumzug nach Berlin 21 Den von Joachim-Felix Leonhard eingebrachten Gedanken wollte zu fungieren, sorgten dafür, dass sich der Vereins- er selbst nicht als »Satellitenmodell« bezeichnet wissen, da er nur eine dezentrale Nutzung der »Deutschen Mediathek« anregen wollte. Vgl.: vorstand zunächst »aufs Tiefste beunruhigt« zeigte. Verein Freund der Deutschen Mediathek e.V.: Protokoll der ordentli- Es wurde zeitweise gar von einer »Kriegserklärung« chen Mitgliederversammlung in Köln vom 16.6.1993. Internes Doku- gesprochen.22 ment, 5 Seiten. Akademie der Künste. Archiv. AdK FM 11. 22 Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Aktennotiz zum Gespräch über die »Deutsche Mediathek« in der Düsseldorfer Staats- Untermalt wurden die Ängste der Berliner Planer kanzlei vom 19.10.93, Internes Dokument, 3 Seiten, Zitat, S. 2. Akade- vom großen Erfolg der Ausstellung »Der Traum vom mie der Künste. Archiv. AdK FM 11. 10 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernseh- Rundfunkanstalten, formulieren. Auch die Bemü- anstalten falle, sondern in das des Bundes und der hungen, durch den rheinland-pfälzischen Minister- Länder.23 präsidenten Kurt Beck, der seit 1994 Vorsitzender der Rundfunkkommission der Bundesländer war, Im Lauf der Jahre rückte auch der Bund in den Mit- zunächst die Länder und später die Sender von der telpunkt des Interesses. Als Träger der Deutschen Notwendigkeit finanzieller Unterstützung zu über- Welle – so die Überzeugung einiger Planer – sei zeugen, schlugen fehl. er indirekt an einer Fernsehveranstaltung beteiligt, und die »Deutsche Mediathek« in Berlin erfülle mit Dabei war die Frage nach einer gesicherten Finan- der Bewahrung des kulturellen Erbes eine nationa- zierung schon früh kein Gedankenspiel mehr, son- le Aufgabe, für die der Bund eine gesamtkulturelle dern sorgte für eine lähmende Belastung der Pla- Verantwortung in der Hauptstadt trage. Doch Initi- nungen.25 So kosteten allein die reservierten Räume ativen, die Bundespolitik zur Speerspitze in der Fi- im Sony-Center den Berliner Haushalt jährlich etwa nanzierungsfrage zu machen, schlugen weitgehend eine Million Euro. Um sie Ende der 90er Jahre trotz fehl. Sie erbrachten nur unterstützende Worte, aber Stagnation nutzen zu können, wurden sie über- keine finanzielle Bezuschussung. Beispielhaft sei gangsweise der »Deutschen Kinemathek« zur Ver- hierfür der Versuch genannt, 1999 über den Staats- fügung gestellt – ein herber Rückschlag für die »Me- minister für Kultur und Medien, Michael Naumann, diathek«-Initiative. Letztlich setzte sich in dieser Zeit ein politisches Signal für eine tragfähige Finanzie- die Überzeugung durch, eine »Kern-Mediathek« un- rung zustande zu bringen. Zwar verlief die Präsen- ter dem Dach der »Deutschen Kinemathek« zu bil- tation vor dem Ausschuss für Kultur und Medien des den. Deutschen Bundestages positiv, doch blieb die Be- strebung erfolglos, durch eine Initiative des Parla- Vor allem die ARD sah sich nicht zu einer finanziel- ments an die Länder zu appellieren, diese Instituti- len Beteiligung verpflichtet. Zwar brachte sie dem on mitzufördern. Projekt von Anfang an »außerordentlich viel Sym- pathie« entgegen, doch als einige Jahre später die Während Fechner und Dencker noch Anstrengun- Forderung nach einer Gesellschafterfunktion der gen in Richtung öffentliche Hand unternahmen, gab Sender aufkam, nahm sie einen eindeutigen Stand- es 1991 auf der anderen Seite bereits Forderungen, punkt ein: Es sei »Geschäftsgrundlage«, dass die die Sender in die Pflicht zu nehmen. Neben mate- Unterstützung der »Deutschen Mediathek« zu kei- rieller Unterstützung mit Programmmaterial sollten nen finanziellen Belastungen für die ARD-Anstalten sie auch finanziell einen Anteil am Betrieb überneh- führen dürfe.26 Die Haltung der ARD wurde im Zuge men. Die »Mediathek« wurde so zu einem ungelieb- der sehr emotional geführten Diskussion als unver- ten Zögling, der zwischen den Adressaten hin und ständlich bezeichnet, wobei gegen diese Zahlungs- her geschoben werden konnte. Die Länder verwie- verweigerung etliche Male der Vergleich mit den sen auf die Sender mit ihrem Gebührenaufkommen, Kosten für die Übertragungsrechte eines einzelnen die Sender hingegen schoben die Verantwortung Fußballspiels ins Feld geführt wurde. Im Experten- auf die öffentliche Hand. kreis wurde vor allem die Angst vor Folgekosten und

Nach dem Misserfolg auf Länderebene und den ge- scheiterten Gesprächen in der Düsseldorfer Staats- 23 Vgl. Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Deutsche Me- kanzlei wie auch im Berliner Medienausschuss än- diathek im Aufbau. Protokoll (Anm. 7), S. 23. derte der Verein Mitte 1993 seine Strategie. Er 24 Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Protokoll der or- beabsichtigte, fortan die öffentlich-rechtlichen dentlichen Mitgliederversammlung in Köln am 16.6.1993 (Anm. 21), S. 2. Rundfunkanstalten nicht nur zu einer kostenlosen 25 So scheiterte auch ein hoffnungsfrohes wie kostspieliges Pilot- projekt 1999 kläglich. Im Rahmen dieses Projekts sollten 500 Radio- Überspielung von Archivmaterial zu bewegen, son- und Fernsehsendungen an drei oder vier Stellen Berlins zum Abruf dern sie zudem zu Trägern der Institution »mit al- bereitgestellt werden. Der Berliner Wirtschaftssenat forderte noch len Rechten und Pflichten« zu machen.24 Zunächst vorhandene Mittel zurück. 26 Zit. n. DDP-Meldung vom 25.11.1997. – Mitunter wurde diese ab- scheiterte die Initiative, bei den Intendanten von lehnende Haltung unterschätzt. Nach einer »Elefantenrunde«, einbe- ARD und ZDF dafür zu werben, dass diese einen rufen durch Berlins Bürgermeister Eberhard Diepgen, signalisierten Betrag für die jährlichen Betriebskosten der »Deut- die Sender nach und nach ihre finanzielle Unterstützung. Als für Mai schen Mediathek« einstellen, wenn sie ihre Anträ- 2000 die Gründung der »Deutschen Mediathek« als GmbH angekün- digt wurde, erinnerte die ARD an ihre Bedingung, keine Gesellschaf- ge zur Rundfunkgebührenerhöhung an die KEK, die terrolle zu übernehmen. Für Berlin, das stets eine GmbH favorisiert Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der hatte, markierte das zwischenzeitlich den Schlussstrich. Kramp: Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« 11 dem damit einhergehenden Risiko einer Dauerbe- den seien. Dieser Charakter eines »Archivs« trat lastung als entscheidender Grund für die ablehnen- in der Ankündigung des Medien-Hearings 1986 zu de Haltung der ARD angesehen. Tage. Fechner stellte in dessen Verlauf allerdings fest: »Vergessen wir dieses zentrale Archiv«, um Auch die Rolle des ZDF und der privaten Sender der Kritik an seinen »gigantomanischen« Plänen ProSieben, Sat.1 und RTL wurden kritisiert. Durch zu begegnen.29 Das Konzept der projektierten Ein- die deutliche Positionierung der ARD hielten sich richtung blieb somit unklar. Die nach dieser Veran- diese mit Verlautbarungen zurück. Die Rolle der Pri- staltung gebildete Arbeitsgruppe trug den Titel »AG vatsender in der konfliktreichen Finanzierungsge- Rundfunk-Museum (Archiv)«. Der »Archiv«-Gedan- schichte war zwiespältig. Einerseits hatte sich RTL ke hielt sich noch einige Jahre in den Konzepten für 1994 durch das Engagement seines Kommunikati- die »Deutsche Mediathek«. Denn die ersten Konzep- onsdirektors Peter Hoenisch mit der Finanzierung tionen waren noch stark der Lösung der Ursprungs- einer Vereins-Broschüre hervorgetan, und Sat.1 problematik verhaftet, nämlich der Löschung von hatte sich durch seinen Geschäftsführer und den Programmmaterial in den Rundfunkarchiven, ohne damaligen Vorsitzenden des VPRT, Jürgen Dötz, als aber eine schon bestehende Einrichtung duplizieren erster Sender zur Zahlung einer jährlichen Summe zu wollen. In erster Linie wurden damit sachkundige bereiterklärt. Doch im Nachhinein wird in diesem Interessenten wie Historiker, Medienforscher oder Zusammenhang zum Teil von »Lippenbekenntnis- Bildungsgruppen aus Universität, Schule oder Er- sen« gesprochen,27 was der Sender strickt zurück- wachsenen- und Seniorenbildung angesprochen, weist. Schließlich verschuldete ProSiebenSat.1 gleichzeitig aber auch die durch das Museum und durch die wegen der Insolvenz des Kirch-Konzerns seine Bereitstellung von Rundfunkproduktionen er- ausgebliebene Unterzeichnung des so genannten möglichte »Formierung eines gemeinsamen Ge- »Letter of Intend« im Jahre 2001 das bisher letzte schichtsbewusstseins« betont.30 Scheitern der Planungen.28 In allen Konzepten von 1987 bis 2005 wurde eine Die finanzielle Zurückhaltung der Sender ist somit repräsentative Auswahl aus dem Gesamtarchivbe- eine Ursache für die Länge der Entwicklung und das stand für notwendig erachtet. Das Argument des mehrfache Scheitern der Planungen. Dabei bleibt Bewahrens und Sicherns wurde seit Beginn der es fraglich, ob die in der Diskussion um das »Medi- 90er Jahre nicht mehr von den »Mediathek«-Pla- athek«-Projekt oft gesuchte und nicht weniger viel- nern benutzt, sondern als Aufgabe der Senderar- seitig adressierte Schuld tatsächlich den Sendern chive akzeptiert. Die frühen Konzeptentwürfe waren anzulasten ist. Reflexiv haben sich zwei Finanzie- noch sehr stark an einem akademischen Nutzer- rungsstrategien herausgebildet, die stets konkurrie- kreis ausgerichtet. In den zunächst vornehmlich von rend betrachtet wurden. Länder oder Sender: Beide Hans-Geert Falkenberg vorgeschlagenen Auswahl- Wege wurden nicht zugleich beschritten. Eine Ent- kriterien kam das insofern zur Geltung, als dass er wicklung, die nicht direkt mit dem Projekt in Zusam- zunächst in ausgeprägtem Maße Hör- und Fernseh- menhang stand, führte den Bund vor einigen Jah- spiele in das Repertoire der »Deutschen Mediathek« ren wieder näher an das Projekt heran und machte ihn schlussendlich indirekt zu einem Unterstützer. Durch den Hauptstadtkulturvertrag mit Berlin be- findet sich die Stiftung »Deutsche Kinemathek« seit 27 Dietrich Reupke, Referatsleiter für Medienangelegenheiten in der Senatskanzlei des Landes Berlin, im Gespräch mit dem Verf. am Januar 2004 vollständig im Zuständigkeitsbereich 22.11.2004. des Bundes, womit eine Bezuschussung des nun 28 Im »Letter of Intend« verpflichteten sich die Unterzeichner zu fi- dort ansässigen »Fernsehmuseum«-Projekts mög- nanzieller Unterstützung der »Deutschen Mediathek« unter der Bedin- lich wurde. gung, dass sich auch alle anderen vorgesehenen Beteiligten dazu be- reit erklären würden. Durch die Insolvenz des Kirch-Konzerns, zu dem auch die Sendergruppe ProSiebenSat.1 gehörte, fiel diese als Unter- zeichner aus. Die übrigen Sender zogen sich aus diesem Anlass eben- Konzepte falls zurück. Die Verhandlungen mussten von neuem beginnen. 29 Akademie der Künste Berlin: Medien-Hearing II: Zur Bewahrung von Funk- und Fernsehkultur in den Archiven der öffentlich-rechtli- Auch in der Frage nach einem geeigneten Konzept chen Rundfunkanstalten am 6. Juni 1986 in der Akademie der Künste. gab es im Lauf der Jahre zahlreiche Auseinander- Protokoll (Anm. 6); Zitat, S. 94. setzungen. Am Anfang stand der Archivgedanke. 30 Friedrich P. Kahlenberg: Zum Projekt eines Rundfunk-Programm- Museums der Akademie der Künste Berlin, Koblenz, Unveröffentlich- Er kam aus der Erkenntnis, dass in den Rundfunk- tes Manuskript, 8 Seiten, 1987, Zitat, S. 4. Akademie der Künste. Ar- archiven wichtige Überlieferungen gelöscht wor- chiv. AdK-W 1642. 12 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) aufnehmen wollte. Angesichts dieser eingeschlage- hen.35 Was nun mit der »Deutschen Mediathek« ge- nen Zielrichtung wurde aber vor einer »Höhenkamm- plant wurde, war ein »Netz mit vielen Knotenpunk- Kunst-Kulturinstitution« gewarnt, mit der Geldgeber, ten«. aber auch das Publikum nur schwer zu überzeugen sein würden.31 Die Beschränkung auf eine »genui- Die Diskussion um das bis dato fortschrittlichste ne Fernsehkunst« wurde bald aufgegeben, um auch Konzept trat jedoch im Sommer 1998 in eine kon- populäre bzw. triviale Programme mit einzubezie- troverse Phase. Die ARD schlug vor, das »Deutsche hen. Als Auswahlhilfen sollten in erster Linie zwar Rundfunkarchiv« (DRA) in die zukünftige »Deut- Fernsehpreise wie die Auszeichnungen der Jury des sche Mediathek« mit einzubringen und eine dezent- »Adolf Grimme Preises« sowie weitere Rundfunk- rale Einrichtung zu schaffen. Begründet wurde die- preise wie »Prix Jeuness«, »Prix Futura« oder der ser Vorstoß mit einer Äußerung von Kurt Beck, der US-amerikanische »Emmy-Award« (für deutsche im Juli 1998 anregte, dass »insbesondere dezent- Beiträge) dienen. Doch auch eine an Einschaltquo- rale, vernetzte Organisationsformen denkbar« sei- ten orientierte Auswahl wurde nicht ausgeschlos- en.36 Im Vordergrund des Konzepts stand vor al- sen. In Falkenbergs immer wieder überarbeite- lem die Nutzerfreundlichkeit, die »nach dem Prinzip tem Papier zur Programmauswahl verkürzten sich der nächsten Nähe« optimiert werden könnte. Das die Kriterien später auf die »künstlerische Meister- DRA sollte nach diesem Vorschlag die inhaltliche schaft«, »historische Relevanz«, »gesellschaftliche Programmvermittlung der dezentralen »Deutschen Wirkung« und den »Erfolg« einer Sendung.32 Einen Mediathek« im Netzwerk koordinieren. Weiterfüh- neuen Vorschlag machte Peter Christian Hall, Lei- rende Veranstaltungen wie Seminare und Podiums- ter der Publizistik-Abteilung des ZDF. Sein Konzept diskussionen sollten überregional verwirklicht wer- einer »Sende-Sammlung« sah ab 1989 auch regel- den, wobei hierbei die Dienste unter anderem des mäßige Veranstaltungen wie Retrospektiven und DRA vorgeschlagen wurden. Für die Zusammenar- die Veröffentlichung von Publikationen vor. Ebenso beit im Netzwerk wurden bestehende Einrichtungen wurde die Zielgruppe immens erweitert: »Ein Muse- wie die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg um für jedermann und für Spezialisten, für Touristen und das Zentrum für Kommunikation und Medien und Puristen, für Passanten und bekehrte Ignoran- Karlsruhe vorgeschlagen. Ausdrücklich wurde die ten, für Forscher und Fan-Clubs, für Hausmänner Beschränkung auf »nur ein Zentral-Institut« ausge- und Geschäftsfrauen, für gut beratene Kinder und schlossen. für einsame Alte.«33 Der ARD-Vorschlag wurde von der Vereinsver- Einen konzeptionell weiten Sprung machten die sammlung abgelehnt, obwohl der dezentrale Nut- Projektentwürfe, die von und im Auftrag des Grün- zungsgedanke in Vereinskreisen stets eine Rolle dungsbeauftragten Helmut Drück angefertigt wur- gespielt hatte. Schon Jahre zuvor hatte der dama- den. Der letzte Intendant des RIAS leitete das 1994 lige DRA-Vorstand Joachim-Felix Leonhard mehr- eingerichtete Gründungsbüro bis zu seiner Auflö- mals diese kostengünstigere Alternative angeregt. sung im Mai 2000. In Drücks Papier mit dem Ti- Die Netzwerkpläne der »Mediathek«-Planer zielten tel »Projektkurzbeschreibung – Stand: 15.09.1995« aber in eine andere Richtung, als sie Leonhard pro- wurde sehr viel deutlicher, wie die Arbeit der »Deut- pagierte: Eine zentrale Einrichtung stand nie in Fra- schen Mediathek« aussehen könne. So sollte sich die Einrichtung vor allem als »Kompetenzzentrum« 31 Christian W. Thomsen vom DFG-Sonderforschungsbereich 240 anbieten, um eine »schmerzlich empfundene Lü- der Universität GH Siegen an Eberhard Fechner und Ursula Ludwig cke« zu schließen, indem sie medienanalytisches von der Akademie der Künste Berlin, 10.4.1989. Akademie der Künste. und medienpädagogisches Arbeiten möglich ma- Archiv. AdK-W 1645. che.34 Eine weitere Neuerung in den Konzepten des 32 Hans-Geert Falkenberg: Einige Auswahlkriterien für die Deutsche Mediathek vom 22.10.1994, Unveröffentlichtes Manuskript, 6 Seiten, Gründungsbüros war die Betonung eines zu er- Zitat, S. 2f. Akademie der Künste. Archiv. AdK FM 13. richtenden Netzwerks aus verschiedenen, mit der 33 Peter Christian Hall: Projekt SeSam, Sende-Sammlung, Stiftung »Deutschen Mediathek« assoziierten Einrichtun- Deutsches Rundfunk-Programm-Museum. Akademie der Künste Ber- lin 1989. Unveröffentlichtes Typoskript, 28 Seiten; Zitat, S. 14. Akade- gen (z.B. Landesmedienanstalten, Landesbildstel- mie der Künste. Archiv. AdK-W 1645 – Die Zuordnung Halls als Autor len und Rundfunkanstalten). Damit griff Drück den kann nur durch ein beiliegendes Begleitschreiben Halls an Fechner er- Netzwerkgedanken auf, der schon ansatzweise in folgen (Datum vom 23.9.1989). Privatarchiv Jannet Fechner. den ersten Planungen angeklungen war. So hatte 34 Akademie der Künste. Archiv. AdK FM 12. 35 Akademie der Künste. Archiv. AdK-W 1642. Falkenberg schon in seinen »Zehn Leitlinien« von 36 ARD (Hrsg.): Dezentrale Nutzungsformen als Netzwerk. In: epd 1987 Veranstaltungen in anderen Städten vorgese- medien, Nr. 98, 15.12.1999, S. 25. Kramp: Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« 13 ge. Der Grund für die ablehnende Haltung zum ARD- Die neuen Vorschläge, darunter auch die Koopera- Konzept von Seiten des Vereins wird hauptsächlich tion mit Medien-Konzernen wie Bertelsmann und auf die Person Leonhards zurückgeführt, der als AOL, provozierten Vergleiche mit der Ausstellung Verfasser des Konzeptpapiers galt, und dessen »Der Traum vom Sehen«.41 War dort der »TV Him- Rolle im Expertenkreis als diffizil und streitbar be- mel« mit einer Fülle von gleichzeitig wiedergegebe- wertet wird. So sei das Angebot von vielen Vereins- nen Programmen Anziehungspunkt der Besucher, mitgliedern als »verdecktes Sanierungs- und Ein- aber auch zugleich Sinnbild der Überflutung von vi- verleibungskonzept« seitens des DRA empfunden suellen Reizen, setzte Hoppes Konzept auf den Bild- worden, obgleich das DRA als Kooperationspartner schirm als zentralen Referenzpunkt. durchaus stets erwünscht gewesen war.37 Als unmittelbare Reaktion auf Hoppes Vorschlag Trotz weiterer Netzwerk-Bestrebungen durch das fi- stellte der Intendant des Deutschlandradios, Ernst nanzielle Engagement des Vivendi-Konzerns wurde Elitz, seine Gedanken zur Diskussion.42 Hoppes Pa- die zentrale Institution in Berlin nicht mehr in Frage pier atme den Geist der Hypertrophie, kritisierte Elitz gestellt. Im Konzept »Mediathek 2000« heißt es, es und erteilte einem multimedial-modernen Kommu- solle weiteren Partnern leichter ermöglicht werden, nikationszentrum eine deutliche Absage. Die Ein- sich »an der Deutschen Mediathek zu beteiligen, ei- richtung solle sich vielmehr als Nachweiszentrum gene Sammlungen einzubringen und die Sammlun- für den kompletten Bestand an Radio- und Fernseh- gen der Mediathek jeweils vor Ort zu nutzen.«38 Er- überlieferungen verstehen. Die Vermittlung von Me- neut wurde auch der Wert der Einrichtung im Sinne dienkompetenz könne nicht in einem Seminarraum eines Funktionsgedächtnisses erwähnt: »Nur was stattfinden, sondern nur in einem Funkhaus, in dem aus den elfenbeinernen Türmen der Wissenschaft- tatsächlich produziert werde. Das Elitz-Papier blieb lichkeit und der archivarischen Bewahrung den Weg indes für die weitere »Mediathek«-Entwicklung un- in die Öffentlichkeit findet, wird Bestandteil des ge- erheblich. Hans Helmut Prinzler, Leiter der Stiftung sellschaftlichen Bewusstseins.« Zwar wurde der Deutsche Kinemathek, der nach der Ansiedelung Aufgabenkatalog noch um die »Erarbeitung eigener des Projekts bei der »Kinemathek« die Entwicklung attraktiver Programmreihen zu verschiedenen The- weiter vorantrieb, sah zunächst das Hoppe-Kon- menschwerpunkten und deren Präsentation« sowie zept als geeignete Grundlage für weitere Überle- eine Vielzahl ausdifferenzierter Veranstaltungsrei- gungen. Ein Netzwerk wurde zwar nicht mehr inten- hen und medienpädagogischer Vorhaben erweitert. diert, doch waren weiterhin eine Programmgalerie Doch regte sich Kritik, das Konzept sei zu »museal«, und Räumlichkeiten für Seminare, Tagungen, Vor- »zu wenig auf das attraktive und konkurrenzierende führungen und ähnliche Veranstaltungen vorgese- Umfeld im Sony-Center antwortend« und »altmo- hen. Eine Neuerung war die Konzentration auf Aus- disch«. Es müsse »Neues« angeboten werden.39 stellungen. Neben einer ständigen Ausstellung zur Fernsehgeschichte sollte es diverse Sonderausstel- Die Stagnation nahm Joseph Hoppe, damals im lungen sowie ein so genanntes Technologieschau- Deutschen Technikmuseum in Berlin zuständig fenster mit einem Medienlabor geben. für Kommunikationstechnik, zum Anlass, ein eige- nes Konzept in Rücksprache mit dem Berliner Se- nat und Vivendi zu formulieren. Hoppe schlug eine Vier-Säulen-Struktur vor.40 Die Programmkollektion 37 o. V.: Zukunft der Mediathek: Senat »will nichts unversucht las- solle eine klassische Mediathek bieten mit rein bild- sen«. In: epd medien, Nr. 98/99, 16.12.1998, S. 13. schirm-referenziellen Merkmalen. Einen wichtigen 38 Deutsche Mediathek: Projektbeschreibung. Berlin, August 1999. Platz solle eine »Media Lounge« einnehmen, in der Unveröffentlichtes Typoskript, 17 Seiten; Zitat, S. 3. Nachlass Hans- sich die »Mediathek« als »Initiator und Moderator Geert Falkenberg. Deutsches Fernsehmuseum. Bislang unerschlos- sener Bestand. der öffentlichen Auseinandersetzung über wichtige 39 Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Protokoll der Be- Fragen der Medienkultur« entwerfen könne. Premie- sprechung in der Senatskanzlei Berlin vom 26.1.2000. Internes Doku- ren und Retrospektiven sowie Vorabpräsentationen ment, 2 Seiten. Nachlass Hans-Geert Falkenberg. Deutsches Fernseh- museum. von großen Fernsehereignissen sollten die Einrich- 40 Joseph Hoppe: Die Deutsche Mediathek in Berlin. Reformulierung tung zum gesellschaftlichen Anziehungspunkt ma- des Konzeptes. In: epd medien, Nr. 62, 9.8.2000, S. 21–26. chen. Weiterhin entwarf Hoppe die Vision einer On- 41 Uwe Kammann: (Un-)endliche Geschichte. In: Journalist 10(2000), line-Präsenz mit einem Datenbankangebot sowie S. 54. 42 Ernst Elitz: Von der Mediathek zur Screenshow. Über die Irrungen einer »multimedialen Screen Show«, die zu aktuel- und Wirrungen eines medienpolitisch sinnvollen Vorhabens. In: epd len Anlässen kleine Ausstellungen anbieten könnte. medien, Nr. 63, 9.8.2000, S. 6–8. 14 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Eine weitere Zuspitzung stellen die aktuellen Pla- Rückblickend hat folgende Äußerung Eberhard nungen dar. Schon durch die Umbenennung der Fechners einen tragischen Beigeschmack: »Ich »Deutschen Mediathek« in »Deutsches Fernsehmu- lasse mich nicht mit unseren Vereinsmitgliedern seum« wurde auch namentlich einer Entwicklung jahrzehntelang oder viele Jahre lang mit schönen Rechnung getragen, die sich in den Vorjahren ab- Worten abspeisen, da werden wir andere Lösungen gezeichnet hatte. Die Einbeziehung des Hörfunks finden.«44 Bis heute ist sein Vorhaben ein Traum ge- in die »Deutsche Mediathek« sollte zwar immer ga- blieben – in gewisser Weise auch ein »Traum vom rantiert werden, sie wurde tatsächlich aber immer Sehen«. Denn auch im Jahr 2006 ist die Zugäng- nachrangiger behandelt. Dass das Museum den lichkeit von archiviertem Fernsehprogrammmaterial Hörfunk nur marginal bzw. für manche nicht ausrei- stark eingeschränkt und nur durch Wiederholungen chend berücksichtigen wird, war immer und ist noch im laufenden Programm sowie durch einzelne DVD- heute ein wichtiger Kritikpunkt in der Diskussion um bzw. Video-Veröffentlichungen von besonders er- die Einrichtung. Aus den aktuellen Planungen geht folgreichen, meist fiktionalen Sendungen verbes- hervor, dass zwar einige repräsentative Radio-Pro- sert worden. Als sich Eberhard Fechner auf der duktionen ausgestellt werden sollen. Der Hörfunk ersten Informationsveranstaltung der »Deutschen wird in der Museumsarbeit aber nicht den gleichen Mediathek« im Februar 1991, eineinhalb Jahre vor Stellenwert wie das Fernsehen bekommen.43 seinem Tod, mit den oben zitierten Worten kämpfe- risch zeigte und gleichsam voller Hoffnung berich- Die aktuellen Raumplanungen zeugen dement- tete, wie weit das Projekt konzeptionell bereits ge- sprechend von der Konzentration auf das Fern- diehen sei, fand er zwar viele namhafte Befürworter, sehen: Eine ständige Ausstellung zur Fernsehge- doch fehlte die Bereitschaft, einen Ort der Reflexi- schichte, Wechselausstellungen, die sich mit on über das Medium Fernsehen auch finanziell zu besonderen Fernsehthemen beschäftigen sollen, unterstützen. und ein Veranstaltungs- und Ausstellungsraum, der für unterschiedliche Anlässe – von Presse- Die Notwendigkeit eines Museums zur deutschen konferenzen bis hin zu Filmvorführungen – genutzt Fernsehgeschichte, das für den Fernsehzuschauer werden kann. Der eigentliche Kern des ursprüng- zugleich Ort des Diskurses, des Dazulernens und Er- lichen »Mediathek«-Plans, die Programmgalerie innerns, aber auch der Unterhaltung ist, kann unter- mit Betrachtungsmöglichkeiten für Einzelpersonen strichen werden. Nicht nur die starke Verflechtung und Gruppen, wird nur einen geringen Teil der ins- des Fernsehens mit Alltag, Kultur und Zeitgeschich- gesamt stark reduzierten Nutzungsfläche ausma- te belegt dies immer noch eindrucksvoll, sondern chen. Nach dem Tode Fechners wurde mit knapp auch die Gedächtnisproblematik. Einerseits kann 4.500 Quadratmetern kalkuliert. Unter Drück waren das Fernsehen selbst durch seine prägenden Ein- später sogar 5.000 Quadratmeter vorgesehen. Nun flüsse auf die Gesellschaft und die Vermittlung von wird es einen Publikumsbereich von nur zirka 1.100 historischem Wissen zur Bereicherung des kultu- Quadratmeter geben. Das Fernsehmuseum kann rellen Gedächtnisses beitragen. Es gehört deshalb sich der Kritik einer abgespeckten Version früherer ins Museum – an einen Ort, an dem die bereichern- Konzepte kaum erwehren: In der Programmgalerie den Eigenschaften des Mediums im Hinblick auf das mit sechs bis acht Einzelsichtungsplätzen (geplant kulturelle Gedächtnis herausgestellt und damit ver- waren ursprünglich 40 dieser Art) und drei Grup- stärkt werden. Andererseits kann ein Fernsehmuse- penplätzen sollen 500 Stunden Fernsehprogramm um negativen, weil sich stark fragmentarisierenden abrufbar sein. Dabei wurden in früheren Überle- und vermehrt unterhaltungsorientierten Program- gungen 10.000 Stunden Fernsehprogramm als mentwicklungen und damit einer Störung des kul- Erstausstattung sowie ein jährlicher Zuwachs von turellen Gedächtnisses entgegenwirken, indem es 1.000 bis 1.500 Stunden für essentiell gehalten. Da- einer breiten Öffentlichkeit Fernsehprogrammmate- bei ist die aktuelle Umsetzung auch eine Reaktion rial aus den Senderarchiven zugänglich macht und darauf, dass im Fernsehprogramm durch die Viel- zahl von Mehrfachverwertungen einer wachsenden Anzahl von Sendern, den dadurch steigenden An- teil von Wiederholungen im Gesamtprogramm so- 43 Peter Paul Kubitz im Gespräch mit dem Verf. am 18.1.2005. Über wie vielfältige Aufzeichnungsmöglichkeiten seitens das Expertengespräch hinaus führte der Verf. von Januar 2005 bis Fe- des Einzelnutzers die Notwendigkeit einer umfang- bruar 2006 mehrere Hintergrundgespräche mit Kubitz zu den Planun- gen für das »Deutschen Fernsehmuseum«. reichen Bereitstellung von Programmmaterial nicht 44 Verein Freunde der Deutschen Mediathek e.V.: Deutsche Media- mehr notwendig ist. thek im Aufbau. Protokoll (Anm. 7), S. 23. Kramp: Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« 15 damit das Funktionsgedächtnis mit Archivalien aus sen. Doch lenkt die Suche nach Verantwortlichen, dem Speichergedächtnis speist, damit der Werbe- der Ruf nach der Verurteilung ihrer Versäumnisse, slogan des Präsentationsfilms der »Deutschen Me- ihrer Fehltritte und ihres Unwillens ab von der Fra- diathek« von 1999 mit Leben gefüllt werden kann: ge nach einer konstruktiven Lösung der grundsätz- »Meinungsbildung und Geschichte für jeden«.45 lichen Problematik: Wie kann ein Museum zur deut- schen Fernsehgeschichte seine Arbeit aufnehmen Die Auseinandersetzung über Ziele und Aufgaben und den Ansprüchen der modernen Medienwelt ge- der »Deutschen Mediathek« wurde zwar stets kon- nügen? struktiv geführt, doch waren laut Aussagen beteilig- ter Sendervertreter die Interessen unter den priva- ten und öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstaltern Perspektiven des Deutschen Fernsehmuseums nicht gleichgerichtet. Dabei hat der »Traum vom Sehen« gezeigt, dass die Sender bei einem ähnli- Ausgehend von diesen Fragen werden nachfolgend chen Vorhaben eine Allianz formen können, in der Überlegungen formuliert, die die vielfältigen Mög- »Konkurrenten über den engen Horizont ihrer ur- lichkeiten eines Fernsehmuseums umreißen. Es eigenen Markt- und Marketinginteressen hinaus« handelt sich bei den folgenden Ausführungen nicht zusammenarbeiten können.46 Einerseits, so mei- um ausgesprochene Pläne der zukünftigen Muse- nen einige Experten, seien die Privaten in den Ver- umsleitung. Sie stützen sich vielmehr auf Teile der handlungen nicht gleichberechtigt behandelt wor- früheren Konzeptionen bzw. greifen Punkte auf, die den, andererseits seien die Konzepte allzu verstaubt die Experten in den Gesprächen mit dem Verfas- und rückwärtsgewandt gewesen – ohne »modernen ser zum Ausdruck brachten. Den drei nachfolgen- Kommunikationsansatz.«47 Bis heute sei das Span- den Möglichkeiten der Weiterentwicklung wurde nungsverhältnis zwischen öffentlich-rechtlichen seitens der Befragten erhebliche Bedeutung zuge- und privaten Sendern existent, erklärt Peter Paul messen. Das sind in erster Linie die pädagogische Kubitz, designierter Programmdirektor des »Deut- Arbeit an der Medienkompetenz, sodann die Arbeit schen Fernsehmuseums«. im Netzwerk auf nationaler und internationaler Ebe- ne und schließlich die Erweiterung des Museums Zwar nahm das Land Berlin in dieser Entwicklung um archivische Dienstleistungen. eine positive Sonderrolle ein, da es sich auf die Übernahme von 25 bzw. 20 Prozent des jährlichen Medienpädagogik Bedarfs festgelegt hatte. Doch sorgte es in ande- ren Problembereichen für Stagnation. Die erst durch Das Fernsehmuseum wird eine seiner Hauptaufga- die abwartende Haltung Berlins aufgekommene ben in der Vermittlung von Medienkompetenz se- Standortfrage, die im weiteren Verlauf gar zu einem hen. Den Gefahren, aber auch Chancen, welche Standort(wett)streit führte, warf das Projekt auf die Bilderflut des Fernsehens birgt, kann der Nut- dem Wege zu seiner Realisierung weit zurück. Spä- zer durch die Stärkung seiner Medienkompetenz ter war es nicht allein die starre Haltung der ARD, begegnen. Er beugt damit einer Reduzierung sei- keine Gesellschafterverantwortung für die »Deut- ner Rolle auf die eines bloßen Konsumenten vor.48 sche Mediathek« übernehmen zu wollen, die einer Gründung im Wege stand: Die Fixierung Berlins auf das Geschäftsmodell einer GmbH war in diesem 45 Der Kurzfilm (Laufzeit: 7’20), der auf VHS-Video gespeichert wur- Zusammenhang ebenso hinderlich. Schließlich wa- de, zeigt neben Ausschnitten der Fernsehberichterstattung über den ren andere Geschäftsmodelle schon Jahre zuvor Bau und den Fall der Berliner Mauer unter anderem auch Ausschnit- thematisiert worden und – wie beispielsweise die te aus Unterhaltungssendungen (»Das war Spitze!« mit Hans Rosent- Form einer Stiftung – ebenfalls geeignet. hal, »Der Große Preis« mit Wim Thoelke, »Licht aus! – Spot an!« mit Ilja Richter) und einen Sketch von Loriot, der die Prägung des Zuschau- eralltags durch das Abendprogramm des Fernsehens thematisiert. Er- Die Schuldfrage ist schnell gestellt in der häufig sta- stellt wurde der Film u. a. zur Präsentation vor dem Ausschuss für Kul- gnierenden Projektentwicklung, in der Hoffnungen tur und Medien des Deutschen Bundestags im Jahre 1999. 46 ZDF-Programmdirektor Markus Schächter zur Wiederauflage der zerbrachen und engagierte Bemühungen allzu oft Ausstellung im Jahre 1998. Pressemitteilung der Agentur Triad Berlin sprichwörtlich im Sande verliefen. Die Frage nach vom 6.4.1998. der Schuld für das mehrfache Scheitern nimmt kei- 47 Kristina Faßler (Sprecherin von Sat.1) im Expertengespräch mit nen der Beteiligten aus, auch nicht die Vereinsfüh- dem Verf. am 15.12.2004. 48 Vgl. Kunibert Bering: Bezugsfelder der Vermittlung visueller Kom- rung und -mitglieder, die sich zum Teil den Vorwurf petenz. In: Hans Dieter Huber u. a. (Hrsg.): Bild. Medien. Wissen. Vi- politischen Ungeschicks ausgesetzt sehen müs- suelle Kompetenz im Medienzeitalter. München 2002, S. 90f. 16 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Die Fähigkeit, aus dem Medienangebot eigenstän- Kinder im Vorschulalter dig und selektiv auszuwählen und nicht allein für Zwecke des Zeitvertreibs und der ‚Berieselung‘ zu Durch die Vereinnahmung von Kindern durch das nutzen, ist in allen Altersschichten gefordert. Die- Fernsehen schon in jungen Jahren entsteht das Ri- se wird angesichts des zunehmenden Medienge- siko, dass sie mit der Verarbeitung der audiovisuel- brauchs immer wichtiger. Vor allem das Fernse- len Eindrücke überfordert werden. Angesichts der hen verzeichnet seit Jahren stetig anwachsende »Zapping«-Kultur und des Charakters des Fernse- Nutzungszeiten. Instrumente hierfür werden Aus- hens als Vertreiber von Langeweile ist zu vermuten, stellungen und Veranstaltungen wie Seminare und dass viele Kinder das Medium nicht bewusst und Workshops sein. Durch eine Konzentration der Mu- selektiv nutzen, sondern sich unbedacht der Bil- seumsarbeit auf die Vermittlung von Medienkom- derflut aussetzen. Das Museum birgt dabei das Po- petenz könnte dem sich weiter fragmentarisieren- tential einer »therapeutischen Verheißung«52 für die den Medium Fernsehen nicht nur Bestand verliehen von Kindesbeinen mit dem Fernsehen aufgewach- werden. Eine Überlegung, die bereits Hans-Geert senen Generationen (auch die zukünftigen): Vor- Falkenberg 1994 als maßgebliche Perspektive der stellbar wären didaktische Programme, mit denen »Deutschen Mediathek« anführte. Darüber hinaus Kinder schon im Vorschulalter auf spielerische Art wäre es durch Gemeinsamkeit stiftende Veranstal- und Weise an das Medium herangeführt werden tungen möglich, den non-integrativen Tendenzen und hinter die Kulissen blicken können. Dadurch innerhalb des diversifizierten Fernsehprogramms könnte einem fehlgeleiteten Nutzungshabitus, ent- entgegenzutreten. So könnte das Museum auch standen aus unkontrollierter Beschäftigung mit dem zu dem avancieren, was einmal als Aufgabe des Medium, entgegengewirkt und schon früh ein Ver- Fernsehen angesehen wurde, nämlich als Forum ständnis für den Sinn und Unsinn des Fernsehens »ein Gipfel des öffentlichen Diskurses über Ge- gestiftet werden. schichte« – hier der Fernsehgeschichte – zu sein.49 Laut Kubitz soll es zur essentiellen Aufgabe des Schulklassen Fernsehmuseums gehören, durch ein didaktisches Heranführen an die Bilderflut zu helfen, Bilder »lesen Hier kann das Fernsehmuseum jene Lücken schlie- zu können wie Texte«, deren Charakter ebenfalls in ßen, die trotz einzelner medienpädagogischer An- der jeweiligen Gattungsform – ob Roman oder Ge- strengungen in Schulen offenbar nicht zu vermeiden dicht – verankert sei. Damit könne man auf die Bil- sind. An dieser Stelle lohnt der Blick ins Ausland. derflut reagieren, die durch das Fernsehen verur- Denn die mit dem »Deutschen Fernsehmuseum« sacht werde. Kubitz sieht darin eine Möglichkeit, die vergleichbaren Einrichtungen im Ausland sind auf Inszenierung medienspezifischer Wirklichkeit einer diesem Gebiet besonders aktiv. Sowohl im »Muse- kritischen Analyse zu unterziehen.50 um of Television and Radio« in New York, im »Insti- tut National d’Audiovisuel« in Paris als auch im »Na- Hinsichtlich der Ausrichtung der Medienkompetenz- tional Museum of Photography, Film & Television« arbeit lassen sich vier Adressaten unterscheiden: in Bradford (Großbritannien) wird nicht allein auf Kinder im Vorschulalter, Schulklassen, Hochschu- das Anziehungs- und Bildungspotential von Aus- len sowie Erwachsene im Allgemeinen – parallel zur stellungen vertraut, sondern durch Kooperatio- institutionalisierten Bildungsarbeit in Deutschland nen mit Schulen Medienkompetenz vermittelt. Das mit ihrer Gliederung in Vorschule, Schule, Hoch- Spektrum der Aktivitäten reicht von täglicher Be- schule und Erwachsenenbildung. Die Bedeutung treuung von Schulklassen bis hin zu Sonderveran- der Medienkompetenzarbeit wird regelmäßig durch staltungen in den Schulferien. Die Zusammenarbeit Studien der Medienpädagogik unterstrichen. So mit Schulen wird auch von Prinzler und Kubitz nicht haben beispielsweise nach den Ergebnissen einer ausgeschlossen – dennoch stehen konkrete Part- Studie des Medienpädagogischen Forschungsver- bandes Südwest vor allem Lehrer starke Vorbehalte gegenüber der Fernsehnutzung durch Jugendliche: 49 Vgl. Siegfried Quandt: Geschichte im Fernsehen, Perspektiven der »Die oftmals geäußerte Erwartung, Medienerzie- Wissenschaft. In: Guido Knopp (Hrsg.): Geschichte im Fernsehen. Ein hung sei Sache der Schule, weisen die Befragten Handbuch. Darmstadt 1998, S. 10–20. weit von sich: Praktisch alle betrachten dies als Auf- 50 Peter Paul Kubitz im Gespräch mit dem Verf. am 18.1.2005. gabe der Eltern.«51 Hier kann das Fernsehmuseum 51 TPG: Alles andere als Medienmuffel. In: medien+erziehung. Zeit- schrift für Medienpädagogik. 48(2004), H. 1, S. 5, Zitat, S. 5. mit seiner Arbeit ansetzen und versuchen, diese Lü- 52 Barbara Schweizerhoff: Kein Bedarf? Die Mediathek ist vorerst cke zu schließen. gescheitert. Freitag, 6.10.2000. Kramp: Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« 17

nerschaften noch nicht auf dem Plan. Dabei wer- de der Charakter eines Brückenkopfes zwischen den die Voraussetzungen für Schüler-Kurse allemal Ost und West angeregt und auch kurzzeitig in die vorhanden sein: Der 300 Quadratmeter umfassen- Konzepte übernommen. Der Gedanke fand in ab- de Veranstaltungsraum des »Deutschen Fernseh- geänderter Form wieder Einzug in die aktuelle Mu- museums« könnte Ort für verschiedenartige Aktivi- seumskonzeption. Demnach soll das »Fernsehmu- täten werden. So sollte das Fernsehmuseum mehr seum« als Vermittler zwischen dem Fernseh-Erbe leisten, als ausschließlich Programm abzubilden der DDR und jenem der Bundesrepublik Deutsch- oder auszustellen. Im Verständnis für die Hinter- land fungieren.54 Diese historische Sicht birgt aber gründe des Konsumguts, das ohnehin täglich ge- auch das Potential für die Beschäftigung mit aktu- nutzt wird, liegt eine Hauptaufgabe des Museums ellen (Programm-)Entwicklungen in den so genann- – eine, die im Hinblick auf die Fokussierung der ju- ten »alten« und »neuen« Bundesländern. Eine wei- gendlichen Zielgruppe durch die Werbewirtschaft tere Perspektive wäre der europäische oder noch nicht zu unterschätzen ist. Die Zusammenarbeit weiter gelenkte internationale Blick auf das Fern- mit Schulen könnte für das Museum eine wichtige sehgeschehen. Denn Gemeinsamkeiten und Unter- Perspektive sein, um sich unentbehrlich zu machen. schiede in Programm und Organisation können für Bei medienpädagogischen Versäumnissen in staat- lehrreiche Erkenntnisse sorgen. lichen Schulen könnte das Fernsehmuseum zu ei- nem bundesweiten Kompetenzzentrum werden, Netzwerk das beratend Einfluss auf Lehrpläne und die einzel- ne Lehrkraft ausübt. Die Schaffung eines Netzwerks war zwar stets eine Option. Sie ist aber in der Umsetzung auch Ursa- Hochschulen che für kontroverse Auseinandersetzungen gewe- sen, wie es vor allem die strikte Ablehnung des von In der Vergangenheit hat es bereits Interessenbe- der ARD favorisierten dezentralen Modells durch kundungen seitens audiovisueller Medienzentren die Vereinsversammlung gezeigt hat. Dass die Ber- und medienpädagogischer Fakultäten verschie- liner Einrichtung auf Unterstützung aus dem Aus- dener Hochschulen im Hinblick auf die »Deutsche land angewiesen sein würde, wurde im Laufe der Mediathek« gegeben. Sie sahen hierin ein »populä- Entwicklung der »Deutschen Mediathek« nie be- res und wirksames Forum für Medienkompetenz«.53 stritten. Intensive Hilfegesuche vor allem an das Das »Fernsehmuseum« könnte das Lehrangebot »Museum of Television and Radio« in New York von Hochschulen, vornehmlich der drei Berliner Uni- zeugen davon, dass die deutschen »Mediathek«- versitäten, erweitern. Dies wäre vorstellbar durch Planer auf die Erfahrungen, die anderenorts über die Veranstaltung von Seminaren, Vortragsreihen, Jahre gesammelt wurden, angewiesen waren. Sze- Diskussionsrunden sowie Konferenzen und Bran- narien der gegenseitigen Übermittlung von audiovi- chentagungen. Ein besonderes Angebot könnte die suellen Überlieferungen wurden schon Anfang der Einrichtung darüber hinaus durch Praxisnähe be- 90er Jahre entworfen. Der Abschluss einer Koope- reithalten, etwa durch eine Zusammenarbeit mit den rationsvereinbarung zwischen der »Deutschen Me- Programmanbietern in Form von Workshops. Mit in- diathek« und dem französischen »Institut National terdisziplinär angelegten Veranstaltungen könnte d’Audiovisuel« verschaffte den Plänen für eine in- das Fernsehmuseum nicht nur als Bindeglied zwi- ternationale Zusammenarbeit im Jahr 1997 trotz des schen universitären Fachbereichen fungieren, son- ernüchternden Scheiterns einige Jahre später eine dern zum innovativen Vorbild für ein Umdenken in neue Qualität. der ausdifferenzierten Fächerlandschaft der Hoch- schulen werden. Abgesehen von technischen Hürden, die den Aus- tausch großer Datenmengen im Rahmen eines inter- Erwachsenenbildung nationalen Netzwerks auf absehbare Zeit verhindern

In erster Linie könnte das Fernsehmuseum als Ver-

mittler von Fernseh- und damit Zeitgeschichte die- 53 Olaf Irmscher: Deutsche Mediathek, Zum aktuellen Stand der nen. Hier könnte es nicht nur Nostalgie fördern, Gründung in Berlin, 24.2.1998. Unveröffentlichtes Manuskript, 2 Sei- sondern auch historisch bilden. Denkbar wären ten, Zitat, S. 2. Privatarchiv Olaf Irmscher (Mitarbeiter von Helmut beispielsweise Veranstaltungen über Geschichtsbil- Drück im Gründungsbüro). 54 Peter Paul Kubitz u.a.: Das Fernsehmuseum. Internetveröffentli- der bzw. -inszenierungen in fernsehtypischer Wei- chung: http://osiris2.pi-consult.de/view.php3?show=5200002500121. se. Schon früh in den »Mediathek«-Planungen wur- Stand: 19.2.2006. 18 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) oder zumindest stark einschränken werden, könn- nicht sinnvoll.56 Bis heute gibt es aber Forderungen, ten anderweitige Kooperationen über Landesgren- in Deutschland ein Archiv für die Gesamtheit audi- zen hinweg schon bald möglich sein. Hierbei wären ovisuellen Medienprogramms einzurichten. Dem- neben einem Erfahrungsaustausch auch internatio- nach könne nur ein »systematisches Programm- nale Schulprogramme zur Förderung von Medien- archiv« allein gravierende Wissenslücken über die kompetenz, wissenschaftliche Vortragsreisen sowie Kultur und Lebensweise der Gesellschaft schließen, jegliche Art von Bildungsveranstaltung mit internati- die angesichts der dezentral archivierten und für die onalem Status denkbar. Ein weiterer wichtiger Punkt Öffentlichkeit unzugänglichen Medieninhalte zu er- wäre die Förderung fernsehwissenschaftlicher For- warten seien.57 schungsprojekte mit der Vergabe von Stipendien in einer kooperierenden Einrichtung. Auch auf europa- Die Vermehrung von Archivgut nimmt immer größe- politischer Ebene könnte so besser agiert werden: re Dimensionen an: Assmann schreibt, dass »zwi- Hier wäre eine optimale Ausnutzung von Fördermit- schen 1950 und 1987 die gleiche Menge an Ar- teln beispielsweise zur Entwicklung komplexer Da- chivgut entstand, wie zwischen den Jahren 500 tenbanken denkbar, durch die ein besserer Informa- und 1950«. Die Bestände in den Archiven werden tionsaustausch mit den USA oder anderen Staaten sich bis 2020 noch einmal verdoppeln.58 Vor al- möglich würde. Eine Partizipation am UNESCO- lem in Fernseharchiven führt das zu einem erheb- Programm »Memory of the World« durch regionale lichen Mehraufwand. Die Anzahl von Sendern mit Präsentation des gesicherten Materials wäre dabei häufig 24-stündiger Programmstruktur wird auch ebenfalls nicht ausgeschlossen. in Zukunft weiter wachsen. Die daraus resultie- renden Probleme eines Zentralarchivs lassen sich Auf nationaler Ebene wäre eine Zusammenarbeit beispielhaft am »Institut National d’Audiovisuel« in mit dem »Netzwerk Mediatheken«, Bibliotheken, Paris betrachten. Dort führte die Einführung des di- wissenschaftlichen Einrichtungen oder durch spezi- gitalen Antennenfernsehens Ende März 2005 zu ei- elle Kooperationen wie zum Beispiel mit dem »Haus nem erheblichen Mehraufwand. Dabei lassen nicht der Geschichte« in Bonn denkbar. Auch rückt mit nur der finanzielle und technische, sondern auch der fortschreitender technischer Entwicklung die Ein- Arbeitsaufwand mit Kontextdokumentation, Pflege richtung verschiedener Außenstellen des »Fernseh- und Restaurierung die Etablierung einer Pflichtab- museums« wieder in den Fokus. Mit der Einrichtung gabe für Fernsehprogrammmaterial an eine unab- von mehreren Abspielstationen für im »Fernsehmu- hängige Institution wie an ein zum nationalen Ar- seum« bereitgehaltenes Programmmaterial könnte chiv ausgeweiteten Fernsehmuseum in Berlin als der Nutzerkreis erheblich vergrößert werden. Damit aussichtslos erscheinen. Laut Expertenmeinung könnte dem – so Kubitz – »urdemokratischen« An- ist auch eine Gesetzesinitiative ähnlich des fran- satz des Museums,55 Fernsehbilder nach ihrer Aus- zösischen Pflichtstückgesetzes von 1992, das eine strahlung der Gesellschaft erneut in beständiger Pflichtabgabe für Rundfunkbeiträge vorsieht, in Form zugänglich zu machen, noch besser entspro- Deutschland ebenso wenig aussichtsreich wie die chen werden. Durch umfassendere Kooperationen Verlagerung des endarchivischen Auftrags von den mit anderen Einrichtungen ließe sich ein reger Aus- tausch von Material und Wissen etablieren, der Fort- schritte in der Medienkompetenzarbeit zur Folge haben und dem Bildungssektor innovative Impulse 55 Peter Paul Kubitz im Gespräch mit dem Verf. am 18.1.2005. 56 Mit dieser Fragestellung beschäftigte sich auch die Jahresta- geben könnte. Eine weitere Auswirkung einer brei- gung des DFG-Sonderforschungsbereichs 240 »Ästhetik, Pragmatik ten Streuung von Abspielstationen wäre eine po- und Geschichte der Bildschirmmedien« der Universität-Gesamthoch- tentielle Entlastung der Senderarchive. So könnten schule Siegen im Jahre 1993. Vgl. Helmut Schanze (Hrsg.): Nationales besonders stark nachgefragte Sendungen über das Archiv für Audiovision? Vorträge und Diskussionsbeiträge des Jahres- tagung 1993 des Sonderforschungsbereichs 240. Siegen 1994. Netzwerk des Fernsehmuseums bereitgestellt wer- 57 Dirk Leuffen und Stephan Alexander Weichert: Plädoyer für ein den, um eine Betrachtung zu ermöglichen und damit audiovisuelles Medienarchiv. In: Michael Beuthner und Stephan Ale- die Anfragen bei den Archiven zu verringern. xander Weichert (Hrsg.): Die Selbstbeobachtungsfalle, Grenzen und Grenzgänge des Journalismus. Wiesbaden 2005, S. 365–390; Zitat, S. 371f. – Die beiden Autoren meinen, dass nur durch ein solches zen- Archivische Erweiterung trales Archiv eine nachhaltige Selbstbeobachtung der Mediengesell- schaft ermöglicht werde. Dabei gilt die Gründung eines »Nationalen Archivs 58 Aleida Assmann: Spurloses Informationszeitalter. In: Irene Never- la und Stephan Alexander Weichert (Hrsg.): Cover. Medienmagazin. für Audiovision« beim Großteil der Experten nicht H. 4: Grenzen. Wo endet die Mediengesellschaft? Hamburg 2004, einmal als utopisch, sondern als nicht machbar und S. 75–77; Zitat, S.77. Kramp: Entwicklungsgeschichte der »Deutschen Mediathek« 19

Senderarchiven zu einer unabhängigen nationalen ten angewiesen ist als andere Museen, einen breiten Zentralinstitution.59 Konsens zwischen den Sendern, der örtlichen Po- litik und potentiellen Sponsoren. Ein Fernsehmuse- Erfolg versprechend könnte deshalb die Integration um lebt von stets aktualisierten Exponaten, einem einer zentralen Datenbank in das »Deutsche Fern- Fluss der Bilder, gleich dem Medium, mit dem es sehmuseum« sein, die Verweise auf jegliche audio- sich beschäftigt. visuellen Archivbestände der einzelnen Senderar- chive und anderer Mediensammlungen enthält. Als So war die Einbeziehung einer breiten Teilnehmer- kostengünstige Alternative könnte eine solche Da- schaft von Beginn an – schon die Idee wurde von tenbank den Service anbieten, durch Hilfestellun- Fechner auf einer Veranstaltung mit Vertretern zahl- gen bei der Suche den Zugang zum Archivgut zu reicher Medien-Fachgebiete geäußert – nicht nur erleichtern. Im Ansatz wird das »Fernsehmuseum« der einzig richtige, wenn auch beschwerliche Weg, eine solche Datenbank zur Fernsehgeschichte be- sondern auch eine notwendige Richtungsentschei- inhalten, jedoch ohne den Anspruch von Vollstän- dung. Damit eine solche Einrichtung für die Zu- digkeit zu erheben. Dabei wird jedes Archivstück, kunft gerüstet und Perspektiven gegenüber offen das aus den Senderarchiven Eingang in den wach- ist, müssen die föderalen Stärken der kommunika- senden Fundus findet, seitens der Museumsplaner tiven Infrastruktur in Deutschland genutzt werden. erfasst und verschlagwortet. Aus rechtlichen und Notwendig ist der Wille aller Beteiligten, Perspek- wirtschaftlichen Gründen aber wird die komplette tiven zu entwickeln und umzusetzen. Denn so wie Überspielung der Archivdatenbanken der Sender das Medium selbst wird auch das Museum nur dann kategorisch ausgeschlossen. Dennoch lässt sich Erfolge feiern können, wenn es sich als offene Ein- unterstreichen, dass der Charakter eines Nach- richtung zeigt und sich zum Beispiel durch die Inte- weiszentrums aller Senderarchive, vielleicht sogar gration neuer Medienformen zum Vorreiter in Koo- der Gesamtheit der audiovisuellen Archive öffentli- peration und Innovation aufschwingt. cher Einrichtungen, als ein maßgeblicher Anspruch eines nationalen Fernsehmuseums gelten kann. Ge- Es ist längst nicht zu spät, die vielfältig vorstellba- rade durch die stark differenzierte und vom föde- ren Ziele eines Museums zur deutschen Fernseh- ralistischen Prinzip getragene Archivlandschaft in geschichte zu verwirklichen. Die Schwierigkeiten Deutschland sollte eine solche Institution Hilfen bei der Vergangenheit können indes vor zukünftigen der Lokalisierung eines Fernsehbeitrags bereitstel- warnen, offenbaren sie doch auch das ambivalen- len können. te Verhältnis der Deutschen zu ihrem Leitmedium Fernsehen. Ein bildungsbürgerlich geprägter Mu- seumsbegriff, der im Zusammenhang mit der »Me- Resümee diathek«-Entwicklung stets kritisiert wurde, scheint mit dem (hoch-)kulturell immer noch oft gering ein- Es wurde deutlich, dass es in der bisherigen Ent- geschätzten Fernsehen nicht zusammenzupassen. wicklung zahlreiche Probleme gab, die durch die Das Fernsehen scheint bei oberflächlicher Betrach- Eröffnung eines »Deutschen Fernsehmuseums« im tung einer Museumsreife zu entbehren. Das schon Jahre 2006 gelöst werden können. Die finanziellen einsetzende, aber längst noch nicht vollzogene Um- Hürden wollen aber auch in Zukunft überwunden denken in der Gesellschaft hin zu einer Anerken- werden: Ein privates Mäzenatentum, das die Finan- nung des historischen Werts des Fernsehens sollte zierung des »Museum of Television and Radio« in sich das »Deutsche Fernsehmuseum« zur Aufgabe New York und seiner Dependance in Los Angeles machen. sichert, ist in Deutschland kaum zu etablieren. Die Gründe für das mehrmalige Scheitern der »Deut- schen Mediathek« sind so vielfältig wie – so wurde deutlich – offensichtlich philiströs: Der Schluss liegt nahe, dass es einer Person bzw. einer Institution 59 Allein Drück fordert eine Gesetzesinitiative, um die Bewahrung bedurft hätte, die pragmatisch und mit finanzieller von Programmmaterial gesetzlich zu verankern. Damit könne juris- Großzügigkeit vollendete Tatsachen schafft. Doch tisch eindeutig festgelegt werden, dass Material vor der Löschung ei- braucht es für ein langfristig erfolgreiches Museum, ner zentralen Einrichtung wie einem solchen unabhängigen Archiv an- das in Form der Bereitstellung von Programmmate- geboten werden müsse. Eine Alternative sieht Drück indes auch darin, dass die Senderarchive nicht nur in Eigenverantwortung archivieren, rial durch die Sender auf mehr und regelmäßigere sondern rechtlich dazu verpflichtet würden, um einem willkürlichen Unterstützung zur Bespielung seiner Räumlichkei- Umgang mit dem Material entgegenzuwirken. Michael Stolle

Das Wunder von Friedland

Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio

Der Herbst 1955 war eine emotionsgeladene Zeit. lieferte Ratgebersendungen für Heimkehrer, wie sie Die Bundesrepublik war soeben souverän gewor- etwa über den Frauenfunk verbreitet worden sind, den, Rock’n’Roll eroberte die Tanzflächen, die Ju- werden ausgeklammert. Nicht berücksichtigt wur- gend trauerte um James Dean, und es war die den ferner alle Sendungen zu Kriegsgefangenschaft Zeit des Wiedersehens mit den letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, ein in der ‚Heimat‘ so lange herbei gesehntes Ereignis. Im Rückblick erscheint es, als habe sich die west- deutsche Gesellschaft erst damals, sechs Jahre nach Gründung der Bonner Republik, richtig gefun- 1 Der Aufsatz ist das Resultat einer mehrjährigen Kooperation des den, emotional vereinigt nach den vielen Verlusten, Instituts für Geschichte an der Universität Karlsruhe (TH) mit dem die der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialisti- SWR in Baden-Baden und Stuttgart. Primäres Ziel dieser Koopera- tion ist es, die in den Hörfunk- und Fernseharchiven vorhandenen sche Herrschaft verursacht hatten. Denn die Freu- Quellen für die zeitgeschichtliche Forschung wenigstens punktuell de über die Ankunft der Spätheimkehrer im Grenz- zugänglich zu machen und damit die lange Zeit wenig beachtete Aus- durchgangslager Friedland erfasste nicht nur die sagekraft dieses Materials zu nutzen. Hierzu wurden – im Sinne be- treuter berufsorientierter Lehre – in Karlsruhe regelmäßig Projektse- betroffenen Familien, sondern das gesamte Land. minare zu bestimmten thematischen Schwerpunkten angeboten. Die Mehr noch: Vergleicht man die gesellschaftliche studentischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer erarbeiteten in POL- Wirkung der Ankunft im Lager Friedland im Herbst Gruppen (POL = problemorientiertes Lernen) das zugrunde liegende 1955 mit der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft Thema im Seminar und in den Archiven des SWR. Nach einer fachwis- senschaftlichen Einführung wurden die Studierenden von Lehrdoku- 1954, könnte man meinen, zu den Mythen der er- mentaren des SWR in elementare dokumentarische Techniken einge- folgreichen Selbstemanzipation der Deutschen ge- wiesen. Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen hörte nicht nur das »Wunder von Bern«, sondern und Mitarbeiter der Hauptabteilung »Dokumentation und Archive«, na- auch das »Wunder von Friedland« 1. mentlich Jana Behrendt, Gabriele Bößler, Dr. Ulrike Höflein, Dr. Micha- el Harms, Klemens Helmholz und Peter Kress. Anschließend recher- chierten die Studierenden selbstständig die für ihr jeweiliges Thema Damit dieses (zweite) ‚Wunder‘ funktionieren, da- relevanten Beiträge und erbrachten nach Abhören der Bänder die ge- mit man an es glauben konnte, bedurfte es der Me- gebenenfalls noch zu leistende Erschließungsarbeit. Die Recherche wurde stets mit der Erstellung von Sonderdokumentationen abge- dien. Kriegsgefangenschaft und Heimkehr waren schlossen, die von der Hauptabteilung des SWR herausgegeben wur- Themen, die in Zeitungen, Zeitschriften und Wo- den, in diesem Fall unter dem Titel »Demokratie, dein Mund ist das chenschauberichten großen Widerhall fanden.2 Im Radio.« Zur Programmgeschichte des Rundfunks. Teil 3: Kriegsge- Folgenden soll die Berichterstattung im Radio un- fangenschaft und Heimkehr. Tondokumente des SWR. Karlsruhe und Baden-Baden 2004. In einer dritten Phase erarbeiten die Seminarteil- tersucht werden mit der Frage, inwieweit das Ra- nehmer auf der Grundlage der recherchierten Beiträge einen eigen- dio in diesem Zusammenhang Emotionen erzeugen ständigen (Hörfunk-)Beitrag, der sowohl an der Universität Karlsruhe und steuern konnte und welche politischen Implika- anstelle einer Seminararbeit vorgelegt werden kann als auch im Pro- 3 gramm des SWR ausgestrahlt wird. Hierbei wurden die Studierenden tionen damit verbunden waren. Ausgehend von ei- von Redakteuren des SWR unterstützt. Der Dank gilt hier insbesonde- nigen, Emotionen erzeugenden Merkmalen des Ra- re Manfred Bornschein, Klaus Hempel, Uwe Bettendorf, Tina Joyeux dios – der Dramatisierung des Tatsächlichen, der und Norma Fabian-Baumann. Im Zusammenhang mit dem hier unter- Illusionsstiftung und der ‚voraussetzungslosen‘ An- suchten Thema wurde am 6. Oktober 2005 eine zweistündige Sendung »Das Wunder von Friedland« auf »SWR 1-Der Abend« gesendet. teilnahme – wird die Darstellung von Kriegsgefan- 2 Das Echo in Zeitschriften und Zeitungen lässt sich über die Me- genschaft und Heimkehr untersucht. Der Blick dienarchive der Rundfunkanstalten erschließen. Zur Thematisierung richtet sich dabei ausschließlich auf den nicht-fikti- in den Wochenschauen vgl. die Untersuchung von Uta Schwarz: Wo- chenschau, westdeutsche Identität und Geschlecht in den fünfziger onalen Bereich, also auf Reportagen, Berichte und Jahren. Frankfurt am Main 2002. Formate des Zeitfunks, die in den Archiven des Süd- 3 Vom 25. bis 27. Februar 2005 beschäftigte sich der »Arbeitskreis westrundfunks ermittelt werden konnten bzw. dort Geschichte+Theorie (AG+T)« unter der Leitung von Frank Bösch und überliefert sind. Ausgespart bleibt die breite fikti- Manuel Borutta mit der Beziehungsgeschichte von Medien und Emo- tionen seit dem 19. Jahrhundert. Die Ergebnisse dieser Tagung, deren onale Verarbeitung des Themenspektrums in Hör- Konzeption und Diskussion der Autor viel verdankt, sollen im Herbst spielen, Hörbildern und Features. Aber auch über- 2006 publiziert werden. Stolle: Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio 21 und Heimkehr, die vor 1949 entstanden sind.4 Der oder sozialgeschichtliche Überlegungen im enge- Schwerpunkt liegt demnach auf jenen Sendungen, ren Sinn bewertet werden.6 Im Vordergrund steht die nach Gründung der beiden deutschen Staaten viel eher die exemplarische Untersuchung von text- produziert worden sind, im Zeitraum von 1949 bis lichen und prosodischen Elementen der überliefer- 1955. Vor allem die Politisierung des Heimkehrerthe- ten Sendungen. Ziel ist es, Tendenzen, Haltungen mas im Zuge des Kalten Kriegs und dessen Folge und Richtungen der Berichterstattung über Kriegs- für die Darstellung und Repräsentation von Emoti- gefangenschaft und Heimkehr zu skizzieren und zu onen in der Öffentlichkeit sind Gegenstand des In- fragen, welche Rolle dabei insbesondere die Reprä- teresses. sentation von Emotionen im Medium Radio spielte.

Drei Bereiche werden dazu untersucht: Live-Re- Bislang wurde vor allem den visuellen Medien eine portagen, Radiointerviews mit Heimkehren sowie große Rolle bei der Konstruktion von nationaler öffentliche Reden, worunter vor allem (Rundfunk-) Identität zugesprochen. Es wird daher zu überle- Ansprachen von Politikern (Proteste, Mahnungen, gen sein, ob nicht auch das Radio, zumal im Jahr- Aufrufe und Begrüßungsreden) verstanden werden. zehnt seiner größten gesellschaftlichen Bedeutung, Da der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen ausge- Identitäten konstruieren konnte, vor allem dann, wiesenen Informations- und Bildungsauftrag hat wenn es so emotional aufgeladene und für das und eine wichtige Rolle für die öffentliche Kommuni- Selbstverständnis der Nation wichtige Themen wie kation spielt, gewinnen gerade die nicht-fiktionalen das Schicksal der Kriegsgefangenen im feindlichen Berichte Bedeutung für die Analyse gesellschaftli- Ausland zum Thema und Gegenstand der Bericht- cher Wahrnehmungsweisen. Es kann nämlich un- erstattung machte. terstellt werden, dass die Sendungen als unver- fälschte Realitätswiedergaben aufgefasst worden sind. Die Hörerinnen und Hörer vertrauten den Pro- Im Sog des Kalten Kriegs grammen, die ihnen das öffentlich-rechtliche Radio anbot. Qualität, Seriosität, Inhalt und Aufbereitung War Kriegsgefangenschaft und Heimkehr vor 1949 der Berichterstattung wurden in Hörerpostbriefen vor allem unter einem Serviceaspekt aufgegriffen explizit hervorgehoben. Es wurde immer wieder worden – die Sender strahlten Ratgebersendun- zum Ausdruck gebracht, dass man mit einer poli- gen aus und beteiligten sich durch ausgedehnte tischen Sichtweise auf die Tagesereignisse grund- Suchdienstprogramme an der Familienzusammen- sätzlich einverstanden war. Nachrichtensendungen führung – so änderte sich die Agenda im Zuge der und Zeitfunk-Beiträge – Formate, die meist am frü- doppelten deutschen Staatsgründung. Dies hing hen Abend gesendet wurden – gehörten zu den am wesentlich mit der Rückführung der Kriegsgefan- meisten geschätzten und am häufigsten gehörten genen selbst zusammen, denn bis Ende 1948 wa- Radiosendungen dieser Zeit.5 Das Beeinflussungs- ren alle Kriegsgefangenen aus westlichem Gewahr- potenzial der Sendungen kann zwar nicht genau sam heimgekehrt. Fortan befanden sich nur noch geschätzt werden, nicht zuletzt weil jede Radionut- Soldaten in sowjetrussischem Gewahrsam. Das zung freiwillig war. Aufgrund der öffentlich-rechtli- Jahr 1949 bildete in Hinsicht auf dieses Thema eine chen Strukturen des Rundfunks kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich sowohl Radioma- cher wie Radionutzer in einer Schnittmenge ge- 4 Zur Darstellung zwischen 1945 bis 1949 mit Schwerpunkt auf den meinsamer Ansichten und Stimmungen befanden. DDR-Rundfunk vgl. Jörg-Uwe Fischer: Die Heimat ruft. Die Heimkehr Bei den im Folgenden ausgewerteten Sendungen deutscher Kriegsgefangener aus der Sowjetunion im Programm des handelt sich um Tondokumente und Texte aus dem Berliner Rundfunks (1945–1950). In: RuG 23(1997), S. 127–133; Ders.: SWF-Programm der frühen 50er Jahre. Die über- Die Heimat ruft. Sendungen zur Kriegsgefangen- und Heimkehrerpro- blematik im Rundfunk der Sowjetischen Besatzungszone. In: Annette lieferten Töne repräsentieren keineswegs die Ge- Kaminsky (Hrsg.): Heimkehr 1948. München 1998, S. 96–116. samtheit aller zu diesem Thema verbreiteten Sen- 5 In der Hörerpost spiegelt sich das große Ansehen wieder, das die dungen, sondern spiegeln eher die Archivpolitik der politische Berichterstattung und die Kommentare des SWF bei den Hörern fanden. SWR. HA 3000/38. Vgl. auch die Erhebung des Insti- 50er Jahre wider. Darüber hinaus existieren keine tuts für Demoskopie in Allensbach unter dem Titel »Gesamtergebnis- vollständigen Manuskriptsammlungen, und auch se einer Rundfunkhörer-Befragung für den Südwestfunk« vom Novem- aus den Sendenachweisen lässt sich kein eindeu- ber 1950. SWR HA. D 5/354. tiges Programmbild zum Thema Kriegsgefangen- 6 Dazu Inge Marßolek und Adelheid von Saldern: Massenmedien im Kontext von Herrschaft, Alltag und Gesellschaft. Eine Herausforde- schaft und Heimkehr entwickeln. Die folgenden rung an die Geschichtsschreibung. In: Dies. (Hrsg.): Radiozeiten. Herr- Überlegungen können daher nicht als programm- schaft, Alltag, Gesellschaft (1924–1960). Potsdam 1999, S. 11–38. 22 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Zäsur: Gab es bis dahin noch gewisse Ähnlich- Publizistikwissenschaftlich gesehen erfüllten die keiten im Rundfunkprogramm in Ost- und West- Themen Kriegsgefangenschaft und Heimkehr viele deutschland, spaltete sich nun das Programmbild. Nachrichtenfaktoren.10 Sie machten betroffen und Während die DDR-Sender die sowjetische Les- waren ein Ereignis mit Kontinuität, mitunter auch art übernahmen und behaupteten, dass nur noch von Überraschung, wenn entgegen den sowjeti- vermeintliche Kriegsverbrecher in der Sowjetuni- schen Behauptungen doch noch Kriegsheimkehrer on wären, schlugen die Westsender einen anderen aus der Sowjetunion ankamen – vor allem im Jahr Ton an. Die Kriegsgefangenen waren fortan die von 1955. Darüber hinaus ließen sie sich hervorragend der Sowjetunion, dem »Russen«, unschuldig zu- personalisieren und waren auf Konflikt, Kontroverse, rückgehaltenen und versklavten Menschen, die im Zerstörung und Tod bezogen. Die Heimkehr von An- Namen der Menschenrechte zurückkehren sollten. gehörigen wühlte die Menschen in vielfältiger Wei- Die Heimat verwandelte sich im Zuge dieser Deu- se auf und machte sie betroffen. Unterschiedliche tung in eine Gemeinschaft, die nur darauf wartete, emotionale Zustände und Reaktionen lassen sich die letzten Heimkehrer in den aufblühenden Wohl- feststellen: Allen voran die Furcht vor der Gefan- fahrtsstaat zu integrieren. Die ungenaue, ungewis- gennahme und dem eigenen Tod; die Furcht vor der se und disparate Angabe über die Zahl der noch Nachricht, dass der vermisste Mann, Bruder, Va- verbliebenen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion ter oder Sohn gefallen sein könne oder dass er als und die Diskussion um deren angebliche Kriegsver- Kriegsgefangener unsäglichem Leid ausgesetzt sei; brechen verschärfte diese Haltung und sorgte da- sodann die Trauer der Angehörigen, wenn sich böse für, dass das Thema insgesamt zum Politikum wur- Ahnungen bestätigten oder sich die erhoffte Rück- de. Kriegsgefangenschaft und Heimkehr gerieten kehr verzögerte;11 und das Glück darüber, doch somit seit 1949 immer mehr in den Sog des Kal- noch Nachricht aus der Gefangenschaft zu erhal- ten Kriegs. Erst mit der Rückkehr der letzten Spät- ten, bzw. den ersehnten Mann bei der Rückkehr in heimkehrer im Herbst 1955 ebbte die Berichterstat- die Arme schließen zu können, und die Freude des tung deutlich ab. Heimkehrers, seine Familie wieder zu finden. Darü- ber hinaus gehören auch die emotionalen Verwer- fungen innerhalb der Heimkehrerfamilie dazu, die Emotionen im Radio-Jahrzehnt den langjährigen Ausfall des Vaters noch verwin- den musste, oder der Zorn darüber, in Gefangen- Nach Ute Frevert ist jede Art der sozialen Praxis schaft ungerecht behandelt oder schlecht verpflegt emotional grundiert.7 Gefangenschaft und Heim- worden zu sein,12 bzw. der Zorn der daheim Warten- kehr waren Themen, die in besonderer Weise Emo- tionen weckten – und dies nicht nur in Einzelfällen, sondern massenhaft. Kriegsgefangenschaft und 7 Ute Frevert: Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit Heimkehr waren zwei der wichtigsten und emotional von Emotionen. In: Paul Nolte u. a. (Hrsg.): Perspektiven der Gesell- stark besetzten Themen der Nachkriegsgeschichte, schaftsgeschichte. München 2001, S. 95–111. gerade auch weil sich die Heimkehr der Kriegsge- 8 Konrad Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1955. fangenen bis 1955/56 hinzog und somit als »perso- München 2004, S. 50. 9 Vgl.: Erich Maschke (Hrsg.): Zur Geschichte der deutschen Kriegs- nifizierte Erinnerung an die sonst zu leicht verges- gefangenen des Zweiten Weltkriegs. 20 Bände und 2 Beihefte. München senen Leiden des Krieges« fungieren konnte.8 Nach 1962 bis 1974; Peter Steinbach: Jenseits von Zeit und Raum. Kriegsge- dem Ende des Zweiten Weltkriegs war beinahe jeder fangenschaft in der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. In: Universitas 45(1990), S. 637–649; Rüdiger Overmans: Soldaten hin- Haushalt auf seine Weise von dem Massenschick- ter Stacheldraht: deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. sal Kriegsgefangenschaft betroffen. Im Mai 1945 München 2002 sowie Michael Borchard: Die deutschen Kriegsgefan- befanden sich rund 8,5 Millionen deutsche Soldaten genen in der Sowjetunion. Zur politischen Bedeutung der Kriegsgefan- in Kriegsgefangenschaft, davon etwa 6,5 Millionen genenfrage 1949–1955. Düsseldorf 2000; Annette Kaminsky (Hrsg.): Heimkehr 1948. München 1998; Werner Kilian: Adenauers Reise nach in westlichem und 2 Millionen in östlichem Gewahr- Moskau. Hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Freiburg 2005. sam. Hinzu kam eine große Zahl von Zivilisten, die 10 Winfried Schulz: Die Konstruktion der Realität in den Massenme- in die Sowjetunion verschleppt und dort interniert dien. Analyse der Aktuellen Berichterstattung. 2. Auflage. Freiburg und München 1990. waren. Sowohl die Geschichte der Kriegsgefangen- 11 Kurt W. Böhme: »Gesucht wird ...« Die dramatische Geschichte schaft als auch die Voraussetzungen und Wirkungs- des Suchdienstes. München 1965, S. 126 ff. ketten, die zur Entlassung der letzten Kriegsgefan- 12 Mittlerweile gilt als gesichert, dass die Sowjetunion bei der Be- genen und politisch Internierten aus sowjetischem handlung ihrer Kriegsgefangenen durchaus kriegsvölkerrechtlichen Prinzipien folgte. Vgl.: Andreas Hilger: Deutsche Kriegsgefangene in Gewahrsam geführt haben sowie die Umstände der der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und 9 Heimkehr, dürfen als gut erforscht gelten. Erinnerung. Essen 2000. Stolle: Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio 23 den auf die Sowjetunion, die über das Schicksal der Die meisten Menschen konnten sich in die Radi- Kriegsgefangenen und der aus politischen Gründen oberichte hineinfühlen und hineindenken, gerade Internierten nicht aufklärte und Kriegsgefangene weil sie einmal selbst mittel- oder unmittelbar be- als Kriegsverbrecher verurteilte. Schließlich sind zu troffen waren und weil sie emotional authentisch nennen die Hoffnungen der Gefangenen, das Lager vorgeprägt waren. Auch für das Thema Kriegsge- seelisch und körperlich zu überstehen und die Hoff- fangenschaft und Heimkehr übernahm das Radio nungen der Familie, dass der Mann doch im letzten die Funktion des Öffentlichmachens. Es bot Deu- Rücktransport sitze und gerade über Herleshausen tungsmuster, wie mit dem Thema umzugehen sei, nach Friedland gebracht werde. und emotionale Ausdrucksformen an, sich damit zu beschäftigen. Die Frage muss daher lauten: Wie In diesen emotionsgeschichtlichen Zusammenhang wurden Gefühle auf Ton codiert? Gab es Emotio- gehört die Situation in den Familien der Heimkeh- nen, die mit der Medialität des Radios zusammen- rer, die von der Familiensoziologie früh als »Desor- hingen? Schuf das Radio mediale Emotionen, die ganisation der Familie« beschrieben worden ist.13 sich beim unmittelbaren Hören einstellten? Gab es Durch die Abwesenheit des Familienvaters waren Themen, die besonders emotionalisierbar erschie- die Familienstrukturen und -rollen in Bewegung ge- nen? Darauf wurde bei der Analyse der Beispiele raten. Die innerfamiliäre Autorität hatte sich zuguns- besonders geachtet. ten der Ehefrau verschoben. Hinzu kam, dass der heimkehrende Vater meist ein Fremder war, wenn Ergebnisse der Hirnforschung, die auch und gera- viele Kinder ihren Vater zum ersten Mal sahen und de für zeit- und mediengeschichtliche Fragestellun- die Ehepartner sich entfremdet hatten. Die Schei- gen interessant sind, zeigen, dass bestimmte Reize dungsquote, gerade unter den während des Kriegs beim Menschen nicht nur emotionale Reaktionen geschlossenen Ehen, erreichte Spitzenwerte und auslösen, sondern auch ein Bewusstsein konstitu- war doppelt so hoch wie 1939.14 ieren, wie Emotionen empfunden werden können. Neurobiologisch betrachtet existiert gewisserma- Das Radio hat, so kann man angesichts dieses ßen eine Meta-Ebene, die entscheidet, wie mit den emotionshistorischen Hintergrunds prägnant resü- erzeugten Stimmungslagen umzugehen sei.16 Die- mieren, die Emotionen im Zusammenhang des hier se Steuerung ist erfahrungsabhängig. Der Mensch untersuchten Feldes nicht erfinden müssen. Auch verändert die emotionale Reaktion mit der Erfah- ohne Radio waren Kriegsgefangenschaft und Heim- rung, die er macht und richtet sich auch nach der kehr emotionsbeladene Themen der Nachkriegszeit. Expertise von der Andere berichten. Der Mensch Aber ohne dieses Medium hätten sich vielleicht an- verfügt somit über ein erfahrungsbezogenes, kon- dere Deutungsmuster etabliert, und wir würden uns text- und kulturabhängiges Deutungsinstrument, heute vielleicht auf andere Art und Weise an diese das bestimmt, wie mit Reizen, die Emotionen ver- Themenfelder erinnern. Konnte das Radio in diesem ursachen, umgegangen wird. Es ist zu vermuten, emotionsgeschichtlichen Kontext überhaupt noch dass das Radio ein wichtiger Zuträger dieses Deu- Emotionen wecken? Oder sprach es nur bereits vor- tungsinstruments war, weil es öffentlich Verhaltens- handene Emotionen an, bediente Stimmungslagen alternativen beschrieb und so Reaktions- und Deu- und Gefühle? Nahmen die Journalisten im öffent- tungsmuster benannte. lich-rechtlichen Rundfunk nur die vorherrschenden Stimmungen auf oder spielten sie selbst eine wich- Ein weiterer Hinweis aus der Neurobiologie bzw. tige Rolle bei der Erschaffung und Etablierung von der sozialpsychologischen Gedächtnisforschung emotionalen Reaktionsmustern? Angesichts der Quellenlage wird sich die konkrete Wirkung der Sendungen nicht feststellen lassen. Hörerbriefe, 13 Helmut Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Ge- die sich explizit mit Sendungen zum Thema Kriegs- genwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen gefangenschaft beschäftigen, sind so gut wie nicht Tatbestandsaufnahe. Stuttgart 21954, S. 54 ff. überliefert.15 Es ist daher notwendig, nicht die Wir- 14 Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland. Stutt- gart und Köln 1952, S. 45. kung, sondern das Gesagte oder das Sagbare zu 15 Lediglich ein Hörer aus Basel brachte im November 1955 seine analysieren, also den Aspekt der Thematisierung Zufriedenheit mit der Berichterstattung über Russlandheimkehrer im bzw. Re-Thematisierung von Kriegsgefangen- SWF zum Ausdruck. SWR. HA. 3000/38. schaft und Heimkehr im Radio zu untersuchen und 16 Vgl. Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft des 43. zu fragen, welche Rolle dabei insbesondere Emoti- Deutschen Historikertages am 26.9.2000 in Aachen. http://www.mpih- onen hatten. frankfurt.mpg.de/global/Np/Pubs/Historikertag.pdf. 24 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) scheint hier wichtig. Das menschliche Gedächtnis gesendet worden sind – aus den Sendenachweisen wird durch Emotion und Kommunikation geprägt.17 lässt sich diese Gleichzeitigkeit nicht sicher bele- In emotional aufgeladenen Situationen ist deshalb gen –, so trugen sie doch den Charakter der Un- die Erinnerungsfähigkeit besonders hoch. Zugleich mittelbarkeit. Ehe die Menschen von der Heimkehr steigt die Wahrscheinlichkeit, dass aber die Erin- in der Zeitung lesen oder Bilder der Heimkehrer in nerung in emotionalen Situationen verfälscht wird. Zeitschriften oder Wochenschauberichten sehen Je gefahrvoller, schrecklicher und emotional belas- konnten, war es möglich, sich zu Hause, bei der pri- tender eine Situation ist, desto größer sind die Be- vaten Nutzung des Radios in den eigenen vier Wän- standteile der Konstruktion an der Erinnerung. Fer- den ein (Hör-)Bild von der Heimkehr zu machen. ner: Erinnern kann man nur Sachverhalte, über die regelmäßig und in wiederkehrender Weise kommu- Die Reportagen folgten einer übereinstimmenden niziert wird. Bei jeder Wieder-Erinnerung wird das narrativen Struktur. Zuerst war nur die Stimme des bisher Gewusste überschrieben und den Erforder- Reporters zu hören, die mit gedämpfter, nicht sel- nissen der Gegenwart angepasst. Erinnerungen ten getragener Stimme den Ort der Ankunft be- sind dabei eher bedeutungs- als faktengenau. schrieb. Meist wurde die Örtlichkeit charakterisiert und die Vorbereitungen genannt, die getroffen wor- Heißt das, dass das Radio die Art und Weise ge- den waren, um die Heimkehrer in Empfang zu neh- prägt hat, wie wir mit dem Thema Kriegsgefangen- men. In der Regel kam auch einer der Wartenden schaft im Radio umgehen können? Hat es unsere zu Wort, entweder ein Angehöriger eines Kriegs- Erinnerung geprägt? Bedurfte es des Radios, um gefangenen oder das Personal der Betreuungsein- Muster für die emotionale Verarbeitung der Reize richtungen, welche die Kriegsgefangenen bald zu Kriegsgefangenschaft und Heimkehr zu erhalten? versorgen hatten. In diesen kurzen Interview-Se- Ohne eine konkrete Antwort auf diese Fragen lie- quenzen wurde meist explizit die Vorfreude auf das fern zu können, scheint es für zukünftige Studien Ereignis, das bevorstand, zum Ausdruck gebracht. angebracht, die überlieferten Tondokumente einer Die Reporter fragten nach den Betreuungsmöglich- neurokulturellen Quellenkritik zu unterziehen,18 das keiten für die Zurückgekehrten, die von den Inter- heißt zu fragen, welche möglichen Erinnerungsver- viewten als gut beschrieben wurden. Dann wartete formungen auf Grundlage der Kenntnisse aus der der Reporter weiter auf die Ankunft, wobei Hinter- Hirnforschung einkalkuliert werden können, und grundgeräusche zu hören waren – die Ansage des zu überlegen, welche Folgewirkungen sich aus der Bahnhoflautsprechers oder die Anweisungen für Darstellung im Rundfunk für die Erinnerung und das Empfangskomitee. Plötzlich, so schien es, wur- Deutungszuschreibung der Themen Kriegsgefan- de die getragene Stille abgelöst von dem Geräusch genschaft und Heimkehr ergeben. des heimkehrenden Kriegsgefangentransports. Die Reporterstimme konnte der Geschwindigkeit des Ankommens kaum mehr folgen und verflog sich in Reportagen kurzen Sätzen, in einem stakkatohaften Protokoll der Ankunft. Maschinengeräusche der Lokomoti- Reportagen waren ein wiederkehrendes Ele- ven und jubelnde Menschen waren zu hören. Die ment der Radioberichterstattung zu den Themen Ruhe verwandelte sich in Begeisterung, die das Ra- Kriegsgefangenschaft und Heimkehr. Das Medium dio akustisch vermittelte und darüber hinaus drama- schöpfte hier seine ihm gegebenen Möglichkeiten tisch verstärkte. in besonders effektvoller Weise aus. Als wichtigstes Massenmedium seiner Zeit konnte es live vom Ort So berichtete Joachim Wimmer am 13. Dezember des Geschehens berichten, in einem Stil, der bereits 1955 vom Bahnhof Herleshausen: »Da fährt die Lo- während der 20er Jahre entwickelt wurde. Die Re- komotive ein. [Lokomotive fährt laut am Mikrofon portage war wie geschaffen, um die mit der Heim- vorbei.] Die Kameras laufen. [Jubelrufe sind zu hö- kehr verbundenen Bewegungen des Wartens, des ren.] Die Fotoreporter. Und die Heimkehrer winken. Ankommens, des Aufeinanderzugehens und der Die Güterwagen, aus denen oben Rauch ... [Jubel- sich daran anschließenden Freude und Rührung in akustische Bilder zu verwandeln. Immer dann, so scheint es zumindest, wenn ein neuerlicher Trans- port mit Heimkehrern in Westdeutschland ankam, 17 Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002, S. 70–137. waren Reporter vor Ort. Auch wenn deren Berich- 18 Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer te nicht immer zeitgleich mit dem Ereignis Ankunft historischen Memorik. München 2004, S. 393. Stolle: Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio 25 stimmen im Hintergrund sind zu hören]. Sie winken. Ortschaften und entlang der Straße standen Tau- Auf dem ersten Bahnhof in der Bundesrepublik, den sende von Menschen, die ihnen zuwinkten, die ih- sie erreichen. Und nun wird die lange Zeremonie nen Päckchen mit Schokolade, Obst und Zigaretten des Aussteigens vorübergehen.«19 Nach einer kur- in die Omnibusse reichten und nur mühsam konnte zen Pause meldete er sich wieder, um nun empha- sich die Autobuskolonne nach dem Lager Friedland tisch die Szenen der Wiedervereinigung im Kleinen durcharbeiten.«21 möglichst detailliert zu beschreiben. Die Reporter scheiterten damit jedoch regelmäßig, wie der Be- Was sich bei der Ankunft der letzten Kriegsgefan- richt von Hanno Bade zeigt, der über das Ankom- genen im Herbst 1955 in der Radioreportage voll- men der Busse mit 600 Heimkehrern im Lager Fried- zog, war ein dramatisch gesteigerter Bericht. Mehr land am 18. Oktober 1955 berichtete: noch, es war ein Hinweis, eine Empfehlung, wie die- ses Ereignis aufzufassen und wie es emotional zu »Zwischen den winkenden, rufenden, weinenden kommentieren sei – mit Jubel, mit Begeisterung und lachenden Menschen waren sehr viele, die sich und dem Gefühl, dass nun eine lange Zeit des War- an die Omnibusse herandrängten, um Suchbil- tens vorüber sei. Es wurde berichtet, wie getrenn- der und Suchplakate ihrer noch nicht heimgekehr- te Familien wieder zusammenfanden. Doch dieses ten Angehörigen an die Scheiben zu drücken in der Zusammenfinden musste vor dem Hintergrund der Hoffnung, etwas über ihre Lieben zu erfahren. Und nationalen Anteilnahme wie eine viel größere Zu- diese Suche nach den noch nicht Heimgekehrten sammenführung wirken, nämlich wie eine Eini- und Vermissten setzt sich hier im Lager Friedland gung auf nationaler Ebene, die allerdings auf West- wirklich erschütternd fort. Und eins noch: Erschüt- deutschland beschränkt bleiben musste. Kaum ternd sind auch die Szenen, die sich hier abspielen, eine Radioreportage verzichtete darauf, das Läuten wenn die Heimkehrer, wie jetzt im Augenblick hier der Glocke der Freiheitskirche im Lager Friedland auf dem Platz, von ihren Angehörigen begrüßt wer- zu übertragen. Wie ein massenmedialer Kirchturm den. Das kann man nicht beschreiben. Und ich glau- verbreitete das Radio die Erlösung der Kriegsge- be, darüber sollte man auch schweigen.«20 fangenen und diese Botschaft der Befreiung. Die Glocke von Friedland kann als mediales Erlösungs- Mit diesen Topoi der Unsagbarkeit wurden vie- oder Auferstehungsmuster der Heimkehr gedeutet le der Szenen der Wiedersehensfreude kommen- werden, als ein Moment, in dem der Tod überwun- tiert. Im Moment der größten emotionalen Regung, den war und sich die überlebende Gemeinschaft zur fanden die Reporter keine Worte mehr. Freilich hob Auferstehungsfeier trifft. Denn auch in anderen Me- die atmosphärisch dichte Darstellungen der Szene, dien wurde die Rückkehr der letzten Kriegsgefange- die so nur in der Live-Reportage des Radios mög- nen im Herbst 1955 als symbolischer Schlussstein lich war, die vermeintliche Sprachlosigkeit auf und des Kriegs dargestellt.22 übersetzte sie in ein Muster des emotionalen Re- agierens, das von den Radiohörern durchaus ent- schlüsselt werden konnte. Abgeschlossen wurden Interviews mit Kriegsheimkehrern die Reportagen häufig mit Ansprachen, meistens von Politikern, die Grußbotschaften an die Heimkeh- Heimkehrende Kriegsgefangene wurden nicht nur rer übermittelten. im Moment ihres Ankommens mit den Mitteln ei- ner Reportage ins Radio gebracht, sondern auch Mehrere solcher akustischen Radiobeiträge des nach der Ankunft mit Hilfe des Radiointerviews. SWF sind überliefert von der Ankunft der Rück- »Noch immer treffen neue Spätheimkehrer aus rus- kehrtransporte an deutschen Bahnhöfen und von sischer Kriegsgefangenschaft auf westdeutschem Ankunftsszenen im Lager Friedland. Vor allem tra- Boden ein. Wir haben einige von denen, die in den ten Rundfunkreportagen von Heimkehrertranspor- letzten Tagen in der Heimat herzlich begrüßt wor- ten bei der Ankunft der Spätheimkehrer im Herbst 1955 auf. Die Reportage war das am häufigsten an- gewandte Mittel, um über die Ankunft zu berichten. Es vermittelte den Eindruck, an einem wichtigen Ka- 19 Reportage vom 13. Dezember 1955. SWR. WOSAD. 5951163. pitel der Zeitgeschichte teilnehmen zu können. Die 20 Reportage vom 18. Oktober 1955. SWR. WOSAD. 5951300. Reporter begleiteten die ankommenden Transpor- 21 Reportage vom 18. Oktober 1955. SWR. WOSAD. 5951300. 22 Robert G. Moeller: The Last Soldiers of the Great War and Tales of te auf Schritt und Tritt und registrierten, wie viele Family Reunions in the Federal Republic of . In: Signs. Jour- Menschen als Zuschauer beteiligt waren: »In allen nal of Women in Culture and Society 24,1(1998), S. 129–145. 26 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) den sind, mit dem Mikrofon besucht. Und nun las- Dienstgrad, ihre Feldpostnummer, das Datum der sen Sie uns also das tun, worauf Sie, verehrte Hö- Gefangennahme sowie den Namen des Kriegsge- rer, vielleicht besonders warten. Geben wir diesen fangenenlagers. Gefragt waren vor allem – »das in- Heimkehrern das Wort.« So begann der Journa- teressiert unsere Hörer natürlich besonders« – Hin- list Reinhard Albrecht eine typische Heimkehrer- weise auf das Schicksal von Mitgefangenen. Damit sendung im September 1953.23 Im Rundfunkarchiv wurden der Rückkehrer und sein Schicksal für eine des SWR finden sich eine Reihe solcher Interviews, Kommentierung der sowjetrussischen Politik instru- die meist einige Zeit nach der Rückkehr aufgenom- mentalisiert. Die Rückkehrer wurden von den Radio- men worden sind und daher, anders als die Repor- journalisten als lebendiger Beweis präsentiert, dass tagen, nicht spontan und unmittelbar wirken, son- noch viele deutsche Soldaten in russischer Kriegs- dern im Gegenteil wohl vorbereitet und geplant. Die gefangenschaft waren, mehr als von russischer interviewten Rückkehrer sprachen meist sehr flüs- Seite behauptet. Auch die Umstände der Heim- sig und durchdacht, woraus zu schließen ist, dass kehr, nach denen im Anschluss gefragt wurde, soll- sie die Interviewfragen vorher mit den Redakteu- ten den moralischen Gegensatz zwischen Ost und ren besprochen hatten. Es gab aber auch vermeint- West verdeutlichen und die Sowjetunion, vor allem lich spontane Besuche bei Familien der Heimkehrer. aber die DDR diskreditieren. Die Heimkehrer berich- Freude, Rührung und Begeisterung, die Gefühlszu- teten von der kalten Abfuhr in der DDR und von der stände des Heimkehrens, wurden dabei eigens be- warmen, überschäumenden Begrüßung im Westen. nannt und medial gesteigert, ähnlich wie dies auch Bemerkenswert ist somit, dass die Emotionen der der Emotionsjournalismus in heutiger Zeit tut. Indi- Begrüßung nicht nur aufgenommen und reprodu- viduelle Schicksale wurden in allgemeine Darstel- ziert, sondern vor dem Hintergrund der deutschen lungsmuster übernommen. Interviews mit Angehö- Zweitstaatlichkeit politisch überformt wurden. rigen, etwa tränenerstickte Stimmen von Müttern, die ihre Söhne wieder sahen, gehörten bereits An- Der Kriegsheimkehrer Karl Rieck berichtete im In- fang der 50er Jahre zum Repertoire der Radiobe- terview von den Umständen seiner Heimkehr. »Nun richterstattung. In der Regel boten die ankommen- kamen wir mit heißem Herzen, ich kann nur sagen, den Transporte Anlass, die Interviews ins aktuelle nach dieser langen Zeit, mit allen Erwartungen an Programm zu nehmen. Gespräche mit ehemaligen die deutsche Grenze. Wir wurden übergeben. Und Gefangenen wurden aber auch an Feiertagen ge- nachdem wir bisher sowohl unter russischer Füh- führt, auffällig häufig in der Weihnachtszeit, sowie rung als auch unter polnischer Führung im offenen an den in den 50er Jahren eingerichteten Gedenk- Güterwaggon gefahren sind, kamen wir in die DDR. feierlichkeiten, etwa der Woche der Kriegsgefange- [Stimme geht runter.] In der DDR wurden die Türen nen für die noch in sowjetischen Lagern sich befin- aufgemacht und wir wurden übernommen und kurz denden Soldaten. darauf die Türen wieder geschlossen. Wir fragten, was los sei, warum die Tür nicht aufgemacht wird. Gerade weil die Interviewszenen nicht spontan, Darüber wurde überhaupt nicht gesprochen. Son- sondern redaktionell vorbereitet erscheinen, müs- dern draußen hörte man Laufen, Hundegebell! Und sen bei der Analyse der Sendungen die Akteure, einer sagte an der Tür: Nun, die fahren sowieso erst Journalisten und Heimkehrer stärker in den Mit- ins Arbeitslager. Das war für uns eine Enttäuschung, telpunkt gerückt werden. Worüber wurde gespro- eine so bittere Enttäuschung, die ich gar nicht schil- chen? Welche Aspekte von Kriegsgefangenschaft dern kann. Ich habe so viel Hoffnung gehabt und wurden thematisiert? Auf welche Weise wurden hier ist so Vieles zerbrochen. Endlich zu Deutschen Emotionen angesprochen und im Rundfunk media- zu kommen und nun so enttäuscht zu sein.«24 Da- lisiert? Zunächst fragten die Journalisten nach bio- gegen der Empfang im Westen: Hier sei man als grafischen Eckpunkten der Heimkehrer und folgten Mensch empfangen worden, der zu Menschen ge- damit der Gewohnheit der Suchdienste, die diese hörte, der viel Leid durchgemacht hätte. Hier sei Angaben für ihre weiteren Recherchen brauchten. man von einer Gemeinschaft aufgenommen wer- Der Wunsch und die Notwendigkeit, Auskunft über den, »die alles für uns tun will.« Schließlich berich- das Verbleiben der Angehörigen zu erhalten, be- teten die meisten von dem »herzzerreißenden Emp- stimmte den Alltag in der »Zusammenbruchgesell- schaft«. Das Radio stellte sich in den Dienst der Sa- che. So gaben die Interviewten im Radio zunächst ihr Alter an, ihr Geburtsdatum, den letzten Wohn- 23 Interview vom 23. September 1953. SWR. WOSAD. 5951064. ort, die letzte Einheit und der zuletzt eingenommene 24 Ebd. Stolle: Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio 27 fang« und den schönen Begrüßungsworten. Die die uns die letzten Jahre durch die guten Liebes- Menschen in Westdeutschland waren die Guten, gaben recht reich unterstützt hat und uns dadurch die Patriotischen, die den Heimkehren einen über- über die schweren Jahre, vor allem die letzten drei wältigenden Empfang bereiteten und versprachen, Jahre hinweggebracht hat.«28 alles zur raschen Integration der Heimkehrer zu leis- ten. Von der DDR konnte man als Deutscher nur ent- Es ist interessant zu beobachten, welche Vorstel- täuscht sein. Das Radio präsentierte hier nicht nur lungen von heimkehrenden Kriegsgefangenen das Konfliktlinien des Kalten Kriegs und die Frontstel- Radio verbreitete. Der Heimkehrer kehrte als gu- lung gegen die DDR, es beförderte sogar einen aus- ter Soldat nach Hause, als Kamerad, der bereitwil- gewiesenen westdeutschen Patriotismus. Die Inter- lig half, das Schicksal von Kameraden aufzuklären. pretationen im Radio behaupteten eine emotionale Der Heimkehrer kehrte als Opfer zurück, als Opfer Gemeinschaft von mitfühlenden Menschen, die sich der sowjetischen Ausbeutungspolitik, die ihn ent- freudig mit den vom Feind zurückkehrenden Men- gegen allen völkerrechtlichen und menschenrecht- schen solidarisierte und in Freude, Begeisterung lichen Grundsätzen als Arbeitssklaven festgehalten und Optimismus wiedervereinigte. hatte. Er kehrte nicht aus dem Krieg zurück. Was er in den Jahren zwischen 1939 und 1945 getan hatte, Bei der Ankunft im Westen, der Schilderung der interessierte nicht. Nationalsozialismus und Krieg, Heimkehr, überwogen meist hoffungsvolle, optimis- die der Gefangenschaft vorausgegangen waren, tische Einschätzungen. Man könne nun ein neues blieben ausgeblendet. Die Kriegsverbrechen, die Leben anfangen und einen neuen Start beginnen, die deutsche Wehrmacht an den sowjetrussischen in einem neuen Beruf. Man habe eine neue Heimat Gefangenen begangen hatte, wurden nicht erwähnt. gefunden. Dieses Neue stand im Vordergrund. Fol- Über den Krieg, den der Gefangene als Soldat ge- gelasten, gesundheitliche Schwierigkeiten und psy- führt hatte, wurde weitgehend geschwiegen. Der chische Probleme tauchten zwar auf, wurden aber Kriegsgefangenendiskurs verengte sich auf das eher an den Rand gedrängt. Die Heimkehrer er- Bild der deutschen Opfer sowjetischer Gewaltherr- schienen, anders als etwa noch in Wolfgang Bor- schaft und fügte sich damit nahtlos in den Rahmen cherts Drama »Draußen vor der Tür« nicht mehr als des Kalten Kriegs. Hierin unterschied sich das Ra- Verlierer und kaputte Männer,25 sondern als Män- dio nicht von den Bildern, die in Fortsetzungsroma- ner, die allein durch die Rückkehr das Schlimmste nen, Spielfilmen oder in illustrierten Zeitschriften überstanden hatten und nach den körperlichen und verbreitet worden sind.29 seelischen Beanspruchungen sogar gereifte, wei- ter entwickelte Menschen waren. Anders als etwa Auch die Realität des Lagerlebens wurde fast voll- in den Darstellungen der Wochenschau wirkten die ständig ausgeblendet. Die Radiojournalisten be- Heimkehrer verhältnismäßig gesund und unver- kundeten zwar die Einsicht, dass die Gefangenen sehrt, was sicher der rein auditiven Vermittlung zu- »sicher Schweres mitgemacht« hatten, sie fragten zuschreiben ist. Schließlich konnten die Menschen jedoch so gut wie nie nach Details.30 Lediglich die in der Wochenschau sehen, in welchem körperli- Bedingungen des Transports in die Lager sowie die chen Zustand die Männer heimkehrten.26 Das Ra- Umstände des Heimkehrens wurden beschrieben, dio verzichtete auf diese Dimension. Im Hörfunkar- wenn von langen Märschen die Rede war, bei de- chiv des SWR ist nur eine Sendung im Rahmen des nen viele starben, und von Transporten in Güterwa- Zeitfunks überliefert, in der auch Negativbeispie- le für eine misslungene oder schwierige Integrati- on der Heimkehrer angeführt wurden. Doch wurde hier am Ende an die »Männer unserer Wirtschaft« appelliert, neue Arbeitsplätze für die Heimkehrer zu schaffen. Der Glaube, dass alle Probleme zu bewäl- 25 Hans-Ulrich Wagner: »Ein Mann kommt nach Deutschland«. tigen sind, war ungebrochen. Positiv wurde in den »Draußen vor der Tür« im Kontext der Heimkehrer-Hörspiele der un- Heimkehrer-Interviews vor allem auf die Hilfsaktio- mittelbaren Nachkriegszeit. In Gordon Burgess und Hans-Gerd Win- ter (Hrsg.): »Pack das Leben bei den Haaren«. Wolfgang Borchert in nen der Westdeutschen verwiesen. »Denn dass wir neuer Sicht. Hamburg 1996, S. 35–53. heute so gut und gesund aussehen, verdanken wir 26 Schwarz: Wochenschau, S. 198 ff. nicht allein der russischen Verpflegung«, meinte der 27 Interview vom 23. September 1953. SWR. WOSAD. 5951064. Heimkehrer Karl Rieck.27 Ein anderer Heimkehrer 28 Interview vom 12. Oktober 1953. SWR. WOSAD. 5951063. 29 Schwarz: Wochenschau, S. 196 ff. teilte den Hörern mit, »dass wir das gute Aussehen 30 »Der Heimkehrer und seine Familie« von Dr. Walter Hemsig, 13. vor allen Dingen der Heimat zu verdanken haben, September 1950. SWR. HA. Manuskriptarchiv. 28 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) gen und der Deportation in ein fremdes Land.31 Die rechtfertigen. Das Radio verbreitete Proteste, Mah- Zeit der Gefangenschaft wurde dagegen zu einem nungen und Aufrufe, und es wurde dafür auch ge- unbekannten und unbenannten Ort, einem Ort, über zielt genutzt. Vertriebenenminister Hans Lukaschek den man nicht sprach. rief über das Radio dazu auf, sich an der Erfas- sungsaktion der Kriegsgefangenen im März 1950 zu beteiligen.33 Bundespräsident Theodor Heuss Öffentliche Reden wandte sich in Rundfunkansprachen mehrfach an die deutsche Bevölkerung, um an die Kriegsgefan- Auch in den öffentlichen Verlautbarungen, die im genen zu erinnern. Am 12. November 1949 rief er in Radio übertragen wurden, spielten die Lagerrea- seiner Rundfunksansprache dazu auf, Weihnachts- lität der Gefangenen sowie die körperlichen und pakte an die Kriegsgefangenen zu schicken, insbe- psychischen Probleme der Heimkehrer keine Rolle. sondere an jene, die keine Familie hatten.34 Auch zu Die Binnenperspektive der Heimkehrer interessier- den Gedenktagen und Gedenkwochen, der Woche te nicht, oder wenn, dann lediglich vor dem Hinter- der Kriegsgefangenen, die stets im Herbst began- grund der Schuldzuweisung an den ideologischen gen wurde, oder anlässlich des Jahrestages des Gegner. Im Vordergrund der politischen Diskussion Kriegsendes meldete sich Heuss über den Rund- stand die soziale und wirtschaftliche Integration der funk zu Wort und bekundete, dass die Existenz der durch Krieg und Niederlage in Not geratenen Deut- Kriegsgefangenenlager das »vielleicht dunkelste schen, nicht die Aufarbeitung von deren Schicksal.32 Kapitel im Geschichtsbuch unserer Zeit« sei.35 Kriegsgeschädigte und Hinterbliebene, Vertriebene, Flüchtlinge, Ausgebombte, Evakuierte, Heimkehrer Öffentlich wurde dazu aufgerufen, die Kriegsge- sowie die Angehörige von Kriegsgefangenen stan- fangenen nicht zu vergessen. Prototypisch ist der den im Fokus einer breiten sozialpolitischen Debatte mehrfach wiederkehrende Satz, dass das Schicksal und einer sich entwickelnden Sozialgesetzgebung. der Kriegsgefangenen »uns alle« angehe. Die Hörer Im Heimkehrergesetz vom 19. Juni 1950 wurden wurden aufgefordert, sich an der Kriegsgefange- Hilfsmaßnahmen für Soldaten geregelt, die nach nenhilfe der Wohlfahrtsverbände zu beteiligen, »Lie- längerer Kriegsgefangenschaft entlassen worden besgaben«, also Päckchen, in die Gefangenenlager waren. Was bei den Interviews mit Heimkehrern be- zu schicken oder dafür Geld zu spenden. Spenden- obachtet worden ist, gilt demnach auch für die öf- konten wurden genannt. In den Sendungen fentlichen Reden, die im gesamtpolitischen Kontext sowohl der Stolz auf den bereits erreichten Wohl- zu verstehen sind: Kriegsgefangenschaft und Heim- stand an als auch die Mahnung, daran auch die kehr gerieten in den 50er Jahren immer mehr zu ei- Kriegsgefangenen teilhaben zu lassen. Den Helfern nem von der Politik instrumentalisierten Thema der und Wohltätern verlieh das Radio im Wirtschafts- nationalen Solidarität. Die deutschen Kriegsgefan- wunderland eine Stimme. Es war sicherlich auch genen in der Sowjetunion erschienen als die ersten die Mentalität des Lastenausgleichs, die sich hier Opfer des Kalten Kriegs, der im Bewusstsein Man- durchsetzte. »Wir müssen uns klar machen, dass cher nur die antibolschewistische Frontstellung der wir für den Lebenswillen unserer Kriegsgefangenen, NS-Führung variierte. Befindlichkeiten und Stim- vor allem in Russland, verantwortlich sind«, formu- mungslagen von ehemaligen Kriegsgefangenen lierte der Journalist Hans-Jürgen Weineck im Zeit- oder Heimkehrern blendeten öffentliche Redner funk.36 Das Andenken an die Kriegsgefangenen so- dagegen aus.

Öffentliches Mahnen, Bitten, Protestieren und Er- 31 Peter Aurich: »Wie lange noch?« Ein Dokumentarbericht über das innern bei Gedenkwochen und -tagen, Protestver- Schicksal der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, 23. Oktober 1952. anstaltungen auf der Straße oder feierliche Veran- SWR. HA. Manuskriptarchiv. 32 Zu den Programmen der politischen Parteien siehe im Überblick staltungen im Deutschen Bundestag fanden in der Richard Stöss (Hrsg.): Parteien-Handbuch. 4 Bände. Opladen 1983. aktuellen Berichterstattung im Radio, vor allem Vgl. allg.: Ludolf Herbst (Hrsg.): Westdeutschland 1945–1955. Unter- im Zeitfunk, ihren Niederschlag. Die Beiträge lie- werfung, Kontrolle, Integration. München 1986. 33 Gespräch mit Hans Lukaschek, 4. März 1950. SWR. WOSAD. fen hier zur besten Sendezeit zwischen 19 Uhr und 5950126. 19.30 Uhr. Die Beitragslänge lag bei den Themen 34 Rundfunkansprache von Theodor Heuss, 12. November 1949. Kriegsgefangenschaft und Heimkehr nicht selten SWR. WOSAD. 6017498. über der sonst vorgegebenen durchschnittlichen 35 Heuss zum Kriegsgefangenengedenktag, 20. Oktober 1954. SWR. WOSAD. 6326105. Berichtslänge von vier bis fünf Minuten – die Beson- 36 »Russlandheimkehrer in Schriesheim«, 29. September 1953. SWR. derheit des Anlasses schien diese Berichtslänge zu WOSAD. 6900482. Stolle: Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio 29 wie die Forderung nach deren Heimkehr wurden als portagen, Interviews und Reden.38 Radiosendungen nationale Solidarität inszeniert. wirkten gemeinschaftsstiftend. Dies hing bei dem hier untersuchten Thema maßgeblich damit zusam- Die Kriegsgefangenen wurden als Menschen dar- men, dass die meisten Hörer aufgrund ähnlicher Er- gestellt, die stellvertretend für die deutsche Gesell- fahrungen und Wissensbestände ähnliche Vorein- schaft gelitten hatten bzw. noch immer leiden. Eine stellungen und Erwartungsstrukturen ausgeprägt solche Argumentation findet sich mehrfach in den hatten, die, wie wir aus der Kognitionsforschung Rundfunkansprachen von Theodor Heuss. Mehr wissen, für die Einordnung und Wahrnehmungen noch: Das Martyrium der Gefangenschaft mach- äußerer Reizen konstitutiv sind. Dass die Sendun- te sogar die deutschen Verbrechen wett. Die Jah- gen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als neu- re von 1950 bis 1955 waren die Zeit der Bitten, trale Information akzeptiert werden konnten, hing Mahnungen und Proteste an die freie Welt, doch damit zusammen, dass die berichteten Tatbestän- Menschlichkeit walten zu lassen. Menschenrecht de mit den Erfahrungen, Ansichten und Haltungen und Völkerrecht wurden als moralische Maßstäbe des Publikums übereinstimmten. Die Emotionalität anerkannt und tauchten in den Reden und Anspra- des Themas hat die Bereitschaft und Aufmerksam- chen mehrfach auf. Theodor Heuss sagte etwa am 7. keit, die medial vermittelten Darstellungsmuster und Mai 1951: »Es ist nicht bloß ein deutsches Anliegen, Deutungsangebote als gültig und authentisch anzu- es ist ein zwischen allen Völkern notwendiges Ge- erkennen, wahrscheinlich weiter erhöht. bot, dass dieser seelisch grausamste Abschnitt der Nachkriegsgeschichte zu einer anständigen Lösung Erzeugten die hier untersuchten Radiosendungen endlich gebracht wird.«37 Die deutsche Öffentlich- Emotionen? Man kann durchaus ins Kalkül ziehen, keit identifizierte sich nur wenige Jahre, nachdem dass Reportagen als Reizauslöser für Gefühle fun- Menschenrecht und Völkerrecht beinahe vollkom- giert hatten. Nicht umsonst vermutete der Repor- men aus der Wahrnehmungs- und Handlungsdi- ter Hanno Bade, dass bei seinem Bericht aus Fried- mension in Deutschland verbannt worden waren, land »wohl so manches Herz schneller zu schlagen wieder uneingeschränkt mit den darin enthaltenen beginnt, und dass mancher Mann und manche Frau, Grundsätzen. Sie ging noch weiter und forderte die- die hier den Bruder, den Vater, den Gatten erwarten, se Grundsätze sogar ein, um sie zur Grundlage der zitternd auf den Augenblick warten, nun vielleicht ihn Behandlung von Deutschen zu machen. selbst sehen werden.«39 Zu vermuten ist auch, dass die rhetorisch ausgefeilten Ansprachen der Politiker sehr bewusst die Anteilnahme und das Einfühlungs- Zusammenfassung vermögen der Menschen einkalkulierten. Allerdings ist die emotionalisierende Wirkung der Radiobe- Leistete also die mediale Verarbeitung des emoti- richterstattung kaum am konkreten Beispiel zu be- onsbeladenen Themas Kriegsgefangenschaft und weisen, sondern allenfalls, wie oben angedeutet, Heimkehr einen Beitrag zur mentalen Festigung begründet zu vermuten. Dennoch erfand das Radio Deutschlands als Rechtstaat, der Menschenrechte eine eigene Codierung für die mit Kriegsgefangen- schützt und völkerrechtwidriges Verhalten anklagt? schaft und Heimkehr verbundenen Gefühle. Die Er- Das Radio war wie andere Medien auch an der For- zählstruktur bei der Ankunft der Heimkehrer in Re- mung und Vermittlung des Bildes von Kriegsgefan- portageform, das Senden von Originalstimmen der genschaft und Heimkehr beteiligt. Es verlieh den zurückgekehrten Gefangenen sowie die politische ausgewählten Aspekten aus dem Themenkomplex Deutung dieser Vorgänge in öffentlichen Verlautba- eine besondere auditive Bedeutung und Bekannt- rungen waren die gängigsten nicht-fiktionalen For- heit. Gerade die ankommenden Heimkehrertrans- men, die das Radio für die Themen Gefangenschaft porte sowie die Hörbilder von der unmittelbaren und Heimkehr fand. Dabei spielten in Einzelfällen oder zumindest zeitnahen Reaktion darauf, von den mediale Emotionen eine Rolle; die Glocke der Frei- Emotionen der Menschen beim Ankommen und Willkommenheißen, lenkten die Wahrnehmung des

Publikums. Das Publikum saß, anders als etwa bei 37 Rundfunkansprache zum 8. Mai 1945, 7. Mai 1951. SWR. WOSAD. der Wochenschau, meist zuhause vor dem eigenen 5950372. Empfangsgerät. Rundfunkhören war eine familiäre 38 Siehe hierzu: Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenme- Angelegenheit. Um den Rundfunkapparat, der meis- dien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995, S. 205–261. tens im Wohnzimmer oder in der Wohnküche stand, 39 »Vor 10 Jahren: Ankunft des ersten großen Heimkehrertransports versammelte sich die Familie und lauschte den Re- im Lager Friedland«. SWR. WOSAD. 5952495. 30 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) heitskirche im Lager Friedland wurde auch im Radio te,42 vollzog sich die Konstruktion von Zusammen- zum Symbol für Auferstehung und Erlösung. gehörigkeit nur für Westdeutschland, was mit sich brachte, dass die DDR sogar bewusst als Gegenbild Es scheint so, dass die Deutungsangebote, die im ausgegrenzt werden konnte. Was sich vor 50 Jahren Radio gemacht wurden, als nachhaltig wirksam er- ereignete war nichts Geringeres als die emotionale achtet werden müssen. Vor allem die Verschiebung Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst: West- der Perspektive weg von dem unmittelbaren Kriegs- deutschland konnte nach dem »Wunder von Bern«, hintergrund hin zu einem Themenkomplex aus Op- dem »Wirtschaftswunder« und dem »Wunder von fergang, Erlösung und Vereinigung muss als zentra- Friedland« zu einer emotionalen Gemeinschaft zu- ler Aspekt eingeschätzt werden. Die Vorstellungen sammenwachsen. Mitte der 50er Jahre war man und Themenschwerpunkte, die das Massen- und nicht nur wieder wer, man war auch endlich wieder Leitmedium Radio zur Verfügung stellte, korres- vereint, wenn auch nur mit den kriegsgefangenen pondierten zwar mit kollektiven Vorstellungen und Soldaten aus dem Osten. Es war ein komplexes Er- Repräsentationen, formten diese aber sicherlich eignis, bei dem das Radio und die Thematisierung gleichzeitig und nachhaltig. Das Radio beschrieb von Emotionen keine geringe Rolle spielten. eine Struktur, in der Kriegsgefangenschaft und Heimkehr gedacht werden konnten. Diese Struk- tur war von den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges geprägt und wurde im diesem Zusammen- hang politisch instrumentalisiert.

Die Heimkehr der Kriegsgefangenen und deren Darstellung in den Medien wurde bereits für an- dere Medien untersucht. Dabei wurde konstatiert, dass vor allem das Bild der familiären Wiederverei- nigung, das Happy End nach langer Trennung, ver- mittelt und als sinnstiftend dargestellt wurde – in den illustrierten Zeitschriften und der Pressefoto- grafie stärker als in den Wochenschauen.40 Ange- sichts der Adenauerschen Familienpolitik jener Zeit, die die Familie als Keimzelle der nationalen Gene- sung sah, und dem eingangs skizzierten emoti- onshistorischen Problem der breiten Destabilisie- rung der Familien, ist diese Deutung einleuchtend. Zieht man die Sendungen des Rundfunks, dem Leitmedium jener Zeit, hinzu, so kann die schluss- folgernde Interpretation allerdings noch weiter ge- hen. Wiedervereinigt wurden 1955, dem Jahr des Souveränitätsgewinns der Bundesrepublik, nicht nur die getrennte Familien, sondern der gesam- te Weststaat und dieser wiederum stellvertretend für Gesamtdeutschland. Durch Themenauswahl und Themenlenkung, durch die Betonung der ge- meinschaftlichen Erfahrung, dem Zuschreiben ei- ner kollektiven Übereinstimmung und dem Verba- lisieren dieser Übereinstimmung schuf das Radio das Bewusstsein einer nationalen Zusammengehö- rigkeit.41 Die Kriegsheimkehrer waren, so das Bild, von der Gemeinschaft nie vergessen. Es war die Ge- meinschaft, welche die Kriegsheimkehrer herzlich in Empfang nahm. Weil die DDR und mit ihr auch das 40 Zusammenfassend Schwarz: Wochenschau, S. 200. Radio der DDR diese identitätsstiftende Bedeutung 41 Zur Konstruktion nationaler Zusammengehörigkeit: Benedict An- derson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread des emotionalen Themas nicht erkannte oder aus of Nationalism. London u. a. 1983. übergeordneten Blockinteressen ignorieren muss- 42 Fischer: Die Heimat ruft, S. 131. Dokumentation

Rundfunk in schwierigen Zeiten

Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer über seine Erfahrungen als Redakteur bei der Westdeutschen Rundfunk AG und beim Reichssender Köln

Karl Holzamer wurde am 13. Ok- Anlass seines 50-jährigen Beste- tober 1906 in Frankfurt am Main hens in Auftrag gab. Die Publika- geboren. Nach dem Studium der tion der Bände ist für 2006 unter Philosophie, Pädagogik, Psycho- dem Titel »Am Puls der Zeit« ange- logie, Romanistik und Germanistik kündigt. Karl Holzamer ist heute der in München, Paris, Frankfurt und einzig noch lebende Zeitzeuge, der Bonn wurde er 1929 an der Univer- Auskunft über den Westdeutschen sität München zum Dr. phil. promo- Rundfunk in der Weimarer Republik viert. 1931 folgte das Erste Staats- als auch in der NS-Zeit geben kann. examen als Volksschullehrer an der Der zum Zeitpunkt des Interviews Pädagogischen Akademie in Bonn. knapp Fünfundneunzigjährige er- Im selben Jahr begann Holzamers klärte sich spontan bereit, das For- journalistische Karriere. Er arbei- schungsvorhaben des WDR zu un- tete zunächst bei der Westdeut- Prof. Dr. Karl Holzamer terstützen. schen Rundfunk AG (WERAG) als © ZDF/Carmen Sauerbrei Assistent in der Pädagogischen Bei dem vorliegenden Transkript Abteilung für den Schulfunk. Nach 1933 wechsel- handelt es sich um eine gekürzte Fassung des mehr te er zum Landfunk des ab 1934 als »Reichssender als zweistündigen Interviews. Sprachliche Uneben- Köln« firmierenden Senders. Darüber hinaus oblag heiten wurden behutsam geglättet, ansonsten wur- ihm die redaktionelle Betreuung der »Konfessio- den die Merkmale der gesprochenen Sprache nach nellen Morgenfeiern«. Während des Zweiten Welt- Möglichkeit bewahrt. Die beiden Autorinnen dan- kriegs war Holzamer Kriegsberichterstatter in einer ken Herrn Professor Holzamer für seine Bereit- Propagandakompanie der Wehrmacht. schaft zum Gespräch und für die Autorisierung des Interviews. Aus französischer Kriegsgefangenschaft zurückge- kehrt, lehrte Holzamer von 1946 bis 1952 als Pro- Birgit Bernard, Köln fessor für Philosophie an der Johannes-Gutenberg- Renate Schumacher, Seeheim-Jugenheim Universität in Mainz. Parallel zu dieser Tätigkeit war er von 1949 bis 1960 Vorsitzender des Rund- funkrats des Südwestfunks in Baden-Baden. 1962 wurde er zum ersten Intendanten des Zweiten Deut- schen Fernsehens gewählt, in ein Amt, in dem er zweimal bestätigt wurde und das er bis 1977 inne- hatte. Karl Holzamer ist Autor zahlreicher Veröffent- lichungen und Träger hoher Auszeichnungen wie etwa des Großen Bundesverdienstkreuzes bzw. des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern, die ihm 1971 und 1976 verliehen wurden. Karl Holzamer lebt heute in Mainz.

Das Interview mit Professor Karl Holzamer wurde am 2. Juli 2001 in Mainz, in seinem Büro im ZDF, geführt. Es entstand im Rahmen von Recherchen für Band 1 einer dreibändigen Jubiläumsausga- be des Westdeutschen Rundfunks, die dieser aus 32 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Dokument Und die besondere Wendung zum Westdeut- schen Rundfunk oder die Anregung, dorthin zu SCHUMACHER: Meine erste Frage ist, wie Sie eigent- kommen, kam daher: Ich wollte ursprünglich Pro- lich zum Rundfunk gekommen sind. Sie schildern in fessor an einer Pädagogischen Akademie werden, Ihrem Beitrag für den Band »Aus Köln in die Welt« Ihr die damals neu in Preußen begründet war anstel- Interesse am Rundfunk schon als Schüler und Stu- le des alten Lehrerseminars, und promovierte 1929 dent, und Sie haben ja dann auch für den Frankfur- in München und ging dann, als ich mir sagte: Wenn ter Rundfunk schon eine kleine Sendung gemacht.1 du Volksschullehrer ausbilden willst, dann musst HOLZAMER: Jawohl. du auch die Volksschule kennen – und bin selbst an der Pädagogischen Akademie in Bonn gewesen, SCHUMACHER: Mich würde jetzt interessieren, wie um dann Volksschullehrer zu werden. Und da haben es eigentlich kam, dass man bei Ihnen angefragt hat, wir auch schon in pädagogischen Sendungen des ob Sie bei der WERAG arbeiten wollen. damaligen Westdeutschen Rundfunks mitgewirkt, HOLZAMER: Ja, das kam so: Ich war ja in der Ju- also in Nachmittagssendungen. Es gab nämlich ei- gendbewegung, in dem katholischen Bund »Neu- nen sehr gut ausgebauten Schulfunk. deutschland«, und in demselben bin ich dann zum Beispiel auch indirekt zu dieser ersten freien Sen- SCHUMACHER: Das war die »Funkpädagogische Ar- dung in Frankfurt gekommen. Wir hatten eine Fahrt beitsgemeinschaft«. nach Ungarn gemacht, und ich war damals in Bonn HOLZAMER: »Funkpädagogische Arbeitsgemein- in der Pädagogischen Akademie, und die Vorträge schaft«. Da haben wir von der Akademie … auch wurden in der Regel damals von Sprechern gelesen. schon zum Teil mitgearbeitet, so dass wir eine Be- Aber ich wollte meinen Beitrag für die »Jugendstun- ziehung zum Westdeutschen Rundfunk hatten. Au- de« selber sprechen, und dann habe ich Frankfurt ßerdem kannte mich der, glaube ich von Ihnen auch gebeten, ich würde dann kommen und dann spre- [in] Ihrer Anfrage erwähnte Marschall … chen. Es war eine Reise nach Ungarn mit all den Erlebnissen, die sich damit verbanden. Ich komme BERNARD: Bernhard Marschall …2 nach Frankfurt, recht frühzeitig, in den Sender, der HOLZAMER: … der kannte mich, und als dann eine sich damals in der Nähe des Eschenheimer Turms Stelle in der Pädagogischen Abteilung frei wurde, befand, und fragte nach meinem Manuskript, weil hat er offenbar das dem Herrn Dr. Behle, der der ich selbst keines mehr hatte. Und siehe da – wel- damalige Leiter des Pädagogischen Rundfunks che Ordnung beim Rundfunk! – es war kein Manu- war, vorgeschlagen.3 Und da wurde ich bestellt, und skript da. dann konnte ich das großartig miteinander verbin- den, denn ich war dann nach meiner theoretischen SCHUMACHER : Das könnte heute auch noch pas- Ausbildung in Bonn an […] Volksschulen, als Hilfs- sieren … lehrer sozusagen, tätig, um meine praktische Aus- HOLZAMER: Das könnte heute auch noch passie- bildung zu vollenden. Da wurde ich von Bonn nach ren? Sehen Sie … [lacht]. Darauf fragte ich den Köln versetzt, und dann war ich vormittags in der Sprecher Andreae, ich weiß es noch wie heute, dass Schule und nachmittags bei »Rundfunks«. er so hieß: Kann ich denn frei sprechen? Ja, oder: Er fragte mich, ob ich das wolle. Da sagte ich: Ich kann das schon, aber ich hätte denen die schlimms- ten Dinge ja sagen können ohne Manuskript. Und dann habe ich tatsächlich frei gesprochen, eine hal- be Stunde lang, zum ersten Mal in meinem Leben – 1 Karl Holzamer: Als Redakteur in den dreißiger Jahren. In: Walter natürlich mit Herzklopfen und viel zu laut in meiner Först (Hrsg.): Aus Köln in die Welt. Köln und Berlin 1974, S. 87–102. Vgl. auch Karl Holzamer: Anders, als ich dachte. Lebenserinnerungen des Aufregung. Aber es war ja keine Problemsendung, ersten ZDF-Intendanten. Freiburg 1983. sondern eine Schilderung: Landschaft und Bewe- 2 Prälat Bernhard Marschall (1888–1963), Priester und Religions- gung in Budapest und Ähnlichem. Es war also da- lehrer, Direktor des 1919 gegründeten Zentralbildungsausschusses der Deutschen Katholiken, 1928 Direktor des Internationalen Katho- rin schon leichter. Aber ich hatte damit den Respekt lischen Rundfunkbüros. Ab 1933 Pfarrer in Haan-Gruiten, Dekanat vor dem Mikrofon verloren. Ich bin dann immer auch Mettmann. Nach 1945 Bischöflicher Rundfunkreferent und Leiter der darauf erpicht gewesen, auch in meiner späteren kirchlichen Hauptarbeitsstelle für den Rundfunk in den deutschen Di- Fernsehzeit, dass man möglichst frei und ungebun- özesen, 1948–1956 Zweiter Hauptausschussvorsitzender des NWDR. 3 Dr. Hans Behle (1894–?), Dr. rer. pol, ab 1926 Leiter des Vortrags- den – natürlich vorbereitet! – sprach, was ich auch wesens bei der WERAG ; im Zuge von dessen Ausdifferenzierung ins- in meinen Vorlesungen dann tat. besondere verantwortlich für die Pädagogische Abteilung. Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer 33

So fing das an. Das war ab November ’31, in der dürfe niemand mehr als 1000 Mark im Monat ver- Schulfunkabteilung. Ich sagte mir: Das ist ja großar- dienen. Ob das aber eingehalten wurde, wage ich tig, gerade wenn du später pädagogisch tätig sein sehr zu bezweifeln. willst, ist das eine wunderbare Vorstufe, nicht? BERNARD: Gerade so … BERNARD: Wie kam es dazu, dass Sie Herrn Mar- HOLZAMER: Beim Westdeutschen Rundfunk wur- schall selbst kennen lernten? de es eingehalten, das kann ich also sagen, aber es HOLZAMER: Das kam durch die Jugendbewegung, waren dann immer noch ganz gut bezahlte Stellun- die katholische Jugendbewegung. Dadurch hat- gen. Ich kann mich erinnern, dass ich selbst als As- te man Beziehungen, auch zu mehreren anderen sistent und Referent ein Gehalt von monatlich mehr Herren. als 300 Mark bekam und eine Wohnung mit 108 Mark bezahlen musste. Man konnte also wirklich BERNARD: Wissen Sie die Namen noch? leben damit, das war schon der Fall. HOLZAMER: Ja, das könnte noch gewesen sein Pa- ter Jansen Cron, der damals die Zeitschrift »Leucht- SCHUMACHER: Haben Sie noch einen persönlichen turm« herausgab. Durch den könnte es auch gewe- Eindruck von Bernhard Marschall oder war er als sen sein. Das weiß ich im Einzelnen nicht. Es wurde Vorsitzender des Zentralen Bildungsausschusses mir auch nicht offiziell gesagt. so weit entfernt, dass … HOLZAMER: Nein, das war er nicht, er war schon SCHUMACHER: Hatten Sie dann auch mit der »Mor- sehr praktisch und auch energisch in seiner Art, et- genfeier« schon in der Weimarer Zeit zu tun oder was durchzusetzen, und das war ja damals in der erst im Dritten Reich? Weimarer Zeit keine große Schwierigkeit, weil eben HOLZAMER: Nein, auch schon damals. Denn in der da ein entsprechendes Entgegenkommen auch ge- Pädagogischen Abteilung waren also vereint: der genüber den Kirchen vorhanden war. Also, das war eigentliche Schulfunk vormittags, den ich auch be- dann nicht so schwer. Zum Beispiel sollte da eine gleiten konnte, ich musste zum Beispiel zweimal Sendung, die ich auch mitzubetreuen hatte – aber wöchentlich so genannte »Mitteilungen aus dem da brauchte ich kein Manuskript zu prüfen oder so Schulfunk« über den Hörfunk geben, in denen auf etwas – von dem Pater Dionysius Ortsiefer durchge- die kommenden Schulfunksendungen und -veran- führt werden: der »Besuch am Krankenbett« … staltungen hingewiesen wurde. Es gehörten weiter dazu die Sprachen, Sprachvermittlung und die reli- SCHUMACHER: Sonntagmorgen ist die gelaufen… giösen Morgenfeiern beider Konfessionen. HOLZAMER: … in dieser unmittelbaren »Live«-Form, möchte man heute sagen. Da war einfach das Ver- SCHUMACHER: Ah ja, die waren auch in der Abtei- trauen gegeben: Der macht das richtig, und man lung … kann sich darauf verlassen. Das war damals also HOLZAMER: Die gehörten mit in die Abteilung, und noch möglich. die habe ich dann auch später, ’33, weiterführen können. SCHUMACHER: Das würde uns überhaupt interes- Also, da ergab sich eine gute Situation, die es mir sieren. Ich kenne zum Beispiel vom Berliner Rund- dann auch bei den gut bezahlten Verhältnissen, die funk die ganzen Überwachungsausschussprotokol- wir vorfanden, ermöglichte, dass ich im März ’32 le aus den 30er Jahren, und da war es so, dass sich auch nach Köln ziehen und heiraten konnte. Das war Erich Scholz 4 fast jedes Manuskript hat vorlegen dann auch die Grundlage für mein persönliches Le- lassen. Von Köln haben wir keine Überwachungs- ben. Das war sehr schön. ausschussprotokolle, aber wir haben auch den Ein-

BERNARD: Soweit wir wissen, waren es ja damals beim Rundfunk sehr gut bezahlte und daher be- gehrte Jobs, und es gab auch heftige Angriffe sei- tens der Nationalsozialisten, dass dort zuviel be- zahlt und zu wenig gearbeitet würde … HOLZAMER: [lacht] Ja, das wurde dann immer be- hauptet, und es galt auch für die übrige gesell- 4 Erich Scholz (1882–1954), 1924–1932 Rundfunkreferent im Reichs- ministerium des Innern (RMI), 1926–1932 Reichsvertreter im Überwa- schaftliche Atmosphäre, und dann hat man damals chungsausschuss der Funk-Stunde Berlin, 1932 kurzzeitig Rundfunk- ja dekretiert, als die Nationalsozialisten kamen, es Kommissar des RMI. 34 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) druck, dass dort mehr möglich war als in Berlin, was vorsichtig zu sein, um ihn und die Anderen und uns die Freiheit der Rede vor dem Mikrofon angeht. alle dem dadurch nicht auszusetzen, obwohl dann HOLZAMER: Ich glaube schon. Es hatte sich geän- in der Vorbereitung des Jahres ’33 schon manches dert, nachher, nach ’33, unter Glasmeier5. Er ließ geschah – und erst recht, nachdem der 30. Januar sich dann die Manuskripte vorlegen, also nicht nur ’33 gekommen war, z. B. Ernst Worm … dass die zuständigen Abteilungsleiter das prüften, sondern er legte Wert darauf, dass er selbst die Ma- SCHUMACHER: … Fritz Worm8 … nuskripte vorher hatte, nicht. HOLZAMER: … den Sie eben nannten, der war ja Jude, und bei dem wurde nachts unentwegt ange- BERNARD: Bezog sich das auf einzelne Sparten rufen, und er [wurde] immer wieder beschimpft, pri- oder konnte er das bewältigen, jedes einzelne Ma- vat, nicht, so fing das schon damals an. Und wir alle nuskript vorher zu studieren? sammelten uns mittags in der Regel, wir waren ja in HOLZAMER: Wenn es sich nicht um Reportagen der Dagobertstraße in Köln, in dem alten Haus der handelte, nicht, um Fußballreportagen oder – wie Handwerkskammer [recte: Schlosserinnung], und ich später auch Reportagen von westfälischen trafen uns »Unter Krahnenbäumen« in der Gast- Bauernhöfen durchführte –, das konnte man natür- wirtschaft, und ich kann mich an den 30. Januar er- lich nicht vorher in einem Manuskript festlegen. So- innern, wie damals Stein9 und Worm und wer noch bald es notwendig war, tat er es schon … dort beteiligt war, wie wir zusammen saßen und wie Und in der alten Zeit war die Freiheit doch eben wir das – leider! – für eine vorübergehende Angele- sehr, sehr groß, und man verließ sich auch auf die verantwortlichen Abteilungsleiter. Damals war ja zu- nächst jeder politische Einfluss untersagt, nicht, es 5 Dr. Heinrich Glasmeier (1892–1945), Historiker, Archivar, 1933– durfte ja bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keine 1937 Intendant des RS Köln, 1937–1945 Reichsrundfunkintendant, 1945 in Österreich verschollen. Vgl. Norbert Reimann: Heinrich Glas- politische Rede oder so etwas übertragen werden. meier. In: Westfälische Lebensbilder 17(2005), S. 154–184; Nor- Vielleicht war das auch ein Fehler in der Weimarer bert Fasse: Vom Adelsarchiv zur NS-Propaganda. Der symptomati- Republik, dass man damit den eigenen, positiv ge- sche Lebenslauf des Reichsrundfunkintendanten Heinrich Glasmeier sinnten Parteien keine Sprachmöglichkeit über den (1892–1945). Bielefeld 2001; Birgit Bernard: Von der Wasserburg zum Sendesaal. Die kuriose Karriere des Dr. Heinrich Glasmeier. In: Dors- nun schon so weit verbreiteten Rundfunk gegeben tener Heimatkalender 2001, S. 147–151; Dies.: Die Amtseinführung des hatte. ersten NS-Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, Heinrich Glas- Von Ernst Hardt, der ja vorher Intendant am Köl- meier, durch Joseph Goebbels am 24.4.1933. In: Geschichte in Köln 48(2001), S. 105–134. ner Theater war, bevor er durch die Einflussnahme 6 Ernst Hardt (1876–1947), Schriftsteller, Theaterintendant in Wei- von Adenauer als Oberbürgermeister von Köln der mar und Köln, 1926–1933 Intendant der Westdeutschen Rundfunk AG erste Rundfunkintendant wurde, habe ich einen vor- (WERAG) in Köln. 1933 durch die Nationalsozialisten entlassen. Vgl. züglichen Eindruck.6 Er war dann ein starker Förde- Susanne Schüssler: Ernst Hardt. Eine monographische Studie. Frank- furt am Main 1994. rer des Hörspiels, und – obwohl man ja nun beim 7 Karl Holzamer: Deutschtum und Katholizismus. In: Im Schritt der Hörfunk nichts sieht – legte er großen Wert darauf, Zeit. Sonntagsbeilage vom 6. und 13.11.1932 zur Kölnischen Volkszei- dass die Darsteller eines Hörspiels, wenn er selbst tung. Vgl. dazu ausführlich Karl Holzamer und Bruno Krammer: Le- Regie führte, was er oft tat, in Gesellschaftskleidung bensreise zwischen Philosophie und Fernsehen. Mainz 2003. 8 Fritz Worm (1887–1940), Buchhändler, 1928–1933 Abteilungsleiter erschienen, weil das die Sprache disziplinierte. Je- Literatur und Geisteswissenschaften innerhalb des Vortragswesens mand, der da … der WERAG, 1933 als Jude entlassen, 1935 Emigration nach Brasilien. Vgl. Birgit Bernard und Renate Schumacher: Fritz Worm oder der ob- solet gewordene Bildungsauftrag. In: StadtLandFluß. Urbanität und BERNARD : … im »Jogginganzug« [lacht] … Regionalität in der Moderne. Festschrift für Gertrude Cepl-Kaufmann. HOLZAMER: … gekommen wäre, der wäre in hohem Herausgegeben von Antje Johanning und Dietmar Lieser. Neuss 2002, Bogen herausgeflogen, nicht, und es war tatsäch- S. 109–128. lich so, die Sprache war vorzüglich, im Unterschied 9 Dr. Hans Stein (1894–1941), Doktor der Staatswissenschaften, ab 1927 freier Mitarbeiter bei der WERAG, 1928–1933 Abteilungsleiter für zu heute vielfach, nicht, wo die Sprache sehr nach- Wirtschafts- und Sozialkunde innerhalb des Vortragswesens, 1933 lässig ist und undeutlich und zu schnell in Vielem. als politisch unzuverlässig entlassen, emigrierte nach Holland und Das war also ein großes Verdienst von ihm. leitete dort die deutsche Sektion des neu aufgebauten Internationa- len Instituts für Sozialgeschichte. Vgl. Rolf Hecker: Hans Stein – Mit- Und er hat mich auch geschützt. Ich habe damals, arbeiter und Korrespondent des Moskauer Marx-Engels-Instituts. In: das muss wohl im Jahre ’32 gewesen sein, […] ei- Carl-Erich Vollgraf u. a. (Hrsg.): Marx-Engels-Forschung im histori- nen Aufsatz geschrieben, der sich gegen den Nati- schen Spannungsfeld. Hamburg 1993, S. 17–32; Renate Schumacher: onalsozialismus wandte.7 Und den hat er dann auch Hans Stein – »mit allen Wassern der Dialektik gekocht«. Mitarbeiter der Westdeutschen Rundfunk AG (1927–1933). In: Carl-Erich Vollgraf zu Gesicht bekommen und da hat er mich vorsich- u. a. (Hrsg.): Quellen und Grenzen von Marx’ Wissenschaftsverständ- tig gewarnt, eben im Interesse des Senders da doch nis. Hamburg 1994, S. 174–189. Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer 35 genheit hielten. Wir glaubten, ach das geht vorüber, tenten Stellen der Kirchen, oder in diesem Fall [mit] zumal die vorausgehenden Wahlen Ende ’32 den Marschall … besprochen, wo eine entsprechende Nationalsozialismus etwas zum Sinken brachten, Morgenfeier stattzufinden hatte usw., da waren also nicht. Leider hatten wir uns dann darin getäuscht. mehr die Ansprechpartner außerhalb des Rund- funks und weniger innerhalb. Und die übrigen Teile SCHUMACHER: Hatten Sie näheren Kontakt mit des Programms basierten zum Teil darauf, wie etwa Stein oder Worm? das Vortragswesen, das bei Stein und Worm lag und HOLZAMER: Ja, wir saßen, mit Stein saß ich auf der bei Rockenbach11 für die kulturellen, die wirtschaft- gleichen dritten Etage, oben, und ich kannte auch lichen und die politischen Dinge, aufgrund von Ma- sehr gut seine Mitarbeiterin, die Frau van den Wy- nuskripten, die eingereicht wurden, nicht, die dann enbergh,10 deren Kinder später in Mainz bei mir stu- geprüft wurden. diert haben und die [ich] später selber wieder zum Das war ein Teil, soweit man es nicht im Sender Südwestfunk gebracht habe […]. Wie auch meinen selbst machte. Aber der ganze Sport z.B. war dann ehemaligen Chef, Dr. Behle, der mit entlassen wur- aber eine Angelegenheit der wenigen Berichterstat- de ’33, wie ich da auch mitgeholfen habe, dass er ter, die da schon tätig waren: Dr. Ernst12, Dr. Maus13, zum Südwestfunk gekommen ist, nachdem der ge- Hermann Probst14, und da konnte man ja keine Ma- gründet wurde – so aus Dankbarkeit dem gegen- nuskripte vorlegen, das ging dann direkt und unmit- über. telbar. Und das lief also sehr, sehr schön. Ja, soll ich schon die Ereignisse, die dann ab ’33 Ach so: Und da kann ich noch eine Angelegen- begannen, schildern, oder … heit erwähnen, die vielleicht auch mitgeholfen hat, dass ich so glücklich beim alten Westdeutschen SCHUMACHER: Also, ich würde ganz gerne noch ein- Rundfunk angekommen bin. Es gab von diesem mal einen Moment bei der Weimarer Republik bleiben. Bund, dem ich angehörte, Neudeutschland, einen HOLZAMER: Bitte, ja. große Tagung in Oranienstein bei Limburg, und da hatte ich auch persönlich ein Referat zu halten, ich SCHUMACHER: Die Bestimmung war ja eigentlich, weiß aber gar nicht mehr genau das Thema, aber dass die Manuskripte dem Überwachungsaus- das auch schon ein wenig in die politischen Din- schuss vorgelegt werden. Aber das ist offensicht- ge hineingriff, weil ich auch dem Reichsjugendaus- lich beim Kölner Rundfunk nicht gemacht worden. schuss der Zentrumspartei angehörte […]. Und da HOLZAMER: Also, ich weiß wenigstens nichts davon, ich kann nichts dazu sagen. Nun war ich natürlich nicht in der Lage der Abteilungsleiter, weil ich ja As- 10 Marie-Theres van den Wyenbergh (1902–1984), gelernte Kinder- sistent und Mitarbeiter eines Abteilungsleiters war, gärtnerin und Säuglingspflegerin, ab November 1927 freie Mitarbei- und erst als ich dann selbst nach ’33 kurz in diese terin im Frauenfunk der WERAG, Festanstellung zum 1.1.1928, Entlas- sung 1933, 1947–1962 Leiterin des Frauenfunks beim SWF. Phase kam, war das ja anders, aber vorher hatte ich 11 Martin Rockenbach (1898–1948), Theaterkritiker, Publizist, in den damit nichts zu tun. 20er Jahren (Mit-)Herausgeber der Zeitschriften »Der Gral« bzw. »Or- plid«, 1928 Assistent im Literaturressort der WERAG, 1930 Festan- stellung, 1933–1941 Hauptsachbearbeiter Literatur im Reichssender SCHUMACHER: Und wie ist eigentlich über Themen Köln, 1941/42 Stellvertretender Intendant des RS Köln, 1943/44 Ab- von Sendungen entschieden worden? Gab es da teilungsleiter Literatur bei der Sendergruppe Ostland in Riga, August/ so etwas wie Redaktionskonferenzen und wenn nur September 1945 Leiter der Vortragsabteilung des NWDR Köln, Entlas- im Schulfunkbereich oder im Bereich des gesamten sung. Freier Schriftsteller. 12 Dr. Bernhard Ernst (1899–1957), Volkswirt, Journalist, 1922 Pro- Vortragswesens? motion zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit über die westdeutsche Sport- HOLZAMER: Also bei der pädagogischen berichterstattung. 1925 Festanstellung bei der Westdeutschen Funk- Rundfunk[abteilung] gab es natürlich Besprechun- stunde AG (WEFAG) in Münster als Sport- und Nachrichtenredakteur. gen mit offiziellen Stellen von Seiten des Leiters, Ab Dezember 1926 Leiter der Nachrichtenredaktion der WERAG (spä- tere Bezeichnung: Zeitgeschehen) sowie des RS Köln. Ab 1940 Kriegs- das war klar, zumal man ja da mit in die Organisati- berichterstatter. Ab 1945 Sport- und Nachrichtenredakteur beim on eingebettet war. Ich denke, dass der Schulfunk, (N)WDR Köln. der jede Woche stattfand, an zwei oder drei Vormit- 13 Dr. Toni Maus (1905–1967), Sport- und Nachrichtenredakteur, 1929 Promotion zum Dr. iur., ab September 1931 Nachrichtenspre- tagen, der beanspruchte den Rektor Hammer, der cher und Reporter bei der WERAG, ab 1945 Mitarbeiter im Studio Kob- war damals sehr für den Schulfunk, der hat ihn da lenz des SWF. durchgeführt, in der Schule selbst, und das muss- 14 Hermann Probst (1899–1944), Schauspieler, Sprecher. Ausbil- te natürlich mit der Organisation der Schulabteilun- dung bei Max Reinhardt in Berlin, ab dem 1.6.1925 Sprecher bei der Westdeutschen Funkstunde AG (WEFAG) Dortmund, in dieser Funkti- gen geklärt werden vorher … Oder: Die religiösen on dann auch bei der WERAG und beim RS Köln. Ab 1942 Betreuung Morgenfeiern, die wurden natürlich mit den kompe- von Soldatensendungen der RRG. 36 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) kam Dr. Laven15 vom Frankfurter Rundfunk und ter,16 das kleine Orchester unter Eysoldt17 – und die übertrug Oranienstein, und ich konnte ihm ein biss- führten natürlich ein eigenständiges Leben. Da kam chen – aus Interesse – konnte ich ihm zur Hand ge- wahrscheinlich der Betriebsrat gar nicht recht her- hen und von ihm manches lernen. Und das ist dann an, nicht, da waren ausgewählte Musiker oder frü- vielleicht mit in die Überlegungen eingegangen, her schon aus anderen Orchestern hervorgegange- dass man sich an mich erinnerte […] ne, die da zusammen kamen, und das berührte [den Betriebsrat] dann wenig. SCHUMACHER: Ich wollte auf einen Punkt noch zu sprechen kommen, auf Ihre Betriebsratszeit. Sie SCHUMACHER: Gab es eigentlich so etwas wie ein schreiben, dass Sie im Betriebsrat waren. Bewusstsein, dass Sie Mitarbeiter des Westdeut- HOLZAMER: Ja. schen Rundfunks sind, gab es so etwas wie ein Ge- fühl von Betriebsgemeinschaft? SCHUMACHER: Da würde mich interessieren: Bei der HOLZAMER: Ja, das gab es schon, ja, ja. Doch, man Entlassungswelle ’33 – ist da der Betriebsrat eigent- war dann ausgesprochen [stolz], weil es ja etwas lich beteiligt worden? Neues und Aufregendes war, dass man zu dieser Holzamer: Nein. Gruppe gehörte, das war dann schon im Bewusst- sein ausgeprägt – auf alle Fälle! Zumal ja auch gute SCHUMACHER: Überhaupt nicht? Kräfte ausgewählt worden waren, … man kann das HOLZAMER: Nein, das war schon komplette Dikta- ja nicht anders sagen. tur, da war die Gauleitung da, und ich weiß nicht, Ja, dann kam dieser unglückliche 30. Januar, da wer war damals der Referent in der Gauleitung …, kann ich mich auch […] noch erinnern, da wurden der dann auch bei uns in die Personalabteilung ein- dann aus Anlass dieser Übernahme der Reichs- zog, und da wurde dann einfach entschieden: Der kanzlei Übertragungen bereits über den Rundfunk und der wird entlassen, Schluss, aus, nicht … Da leider nötig, und ich konnte es in meiner Wohnung konnte dann der Betriebsrat überhaupt nicht mehr nicht mehr hören, weil über mir der dauernd den wirksam werden, zumal ja möglicherweise Teile des Rundfunkapparat laufen ließ, um das mitzubekom- Betriebsrats davon betroffen waren, von der Entlas- men. Der war selbst überzeugter Nazi, und dann sung. haben wir abgeschaltet und überhaupt nicht mehr – aus Ärger! –, dass wir den Kram da nicht mehr hö- SCHUMACHER: Und welche Aufgaben hatte der Be- ren wollten. So fing das dann an. triebsrat in der Weimarer Zeit im Sender? Was wa- Und dann kam die große Bescherung im Hau- ren Themen, die Sie diskutiert haben? se selbst. Der Intendant wurde entlassen, mein Vor- HOLZAMER: Das bezog sich zum Teil auf die Arbeits- gesetzter Dr. Behle wurde entlassen, und trotzdem zeit, die innere Ordnung der Arbeit im Betrieb – mehr wir also vorher, noch wenige Tage vorher, angenom- darauf. Es waren also keine großen gesellschaftli- men hatten, das geht nun vorüber, war es nun lei- chen Fragen, die den Betriebsrat erreichten. Wie es der nicht so, sondern die griffen selbst kräftig zu, mit dem Tarif war, kann ich mich im Einzelnen auch um da zu bleiben. Und nun wurde mir, weil ja nie- nicht mehr erinnern. mand anders da war – habe ich dann diese Päda- gogische Abteilung einstweilen übernommen, bis SCHUMACHER: Es gab damals relevantere Sachen, mir dann von der Gauleitung, von dem Zuständi- ’32 … gen – ich weiß gar nicht mehr, wie er hieß – die Frage HOLZAMER: Eben, ganz recht. Aber weil ich nun ei- ner der jüngsten Mitarbeiter war, wurde ich dann so- zusagen aufgrund meiner Jugend schnell in den Be- triebsrat mit gewählt. 15 Dr. Paul Laven (1902–1979), Journalist, Sportreporter bei der Süd- westdeutschen Rundfunk AG in Frankfurt sowie beim Reichssenders Frankfurt. Vgl. Frank Biermann: Paul Laven. Münster und New York BERNARD: Gehörten Personalfragen auch dazu? 1989. HOLZAMER: Ich glaube schon, dass die mit erör- 16 Dr. Wilhelm Buschkötter (1887–1967), Studium der Medizin und Musikwissenschaft, 1924 Dirigent des Sinfonieorchesters der Berli- tert wurden, wenn Neueinstellungen oder so etwas ner Funk-Stunde AG, ab 1.8.1926 bis 1933 Leiter der Musikabteilung erfolgten, aber das war dann nicht mehr so ausge- und Erster Kapellmeister bei der WERAG, dort Dirigent bis 1936, dann prägt, zumal ja dann viele Dinge über den gesetz- Wechsel zum Reichssender Stuttgart, 1939–1945 Wehrdienst. lich möglichen Rahmen eines Betriebsrats innerhalb 17 Leo Eysoldt (1901–1967), Pianist, Komponist, Bandleader. 1927 Leiter des »Kleinen Orchesters« bei der WERAG. 1941 Wechsel zum des Betriebs hinaus gingen. Es bestanden die Or- Reichssender München, 1949 Festanstellung am Funkhaus Nürnberg chester: das Große Orchester unter Dr. Buschköt- des Bayerischen Rundfunks. Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer 37 vorgestellt wurde – und in Köln lief dann doch wie- das hab ich ihm auch nie [vergessen], so dass ich der manches anders –, ob ich Parteigenosse würde bis zu meiner Einberufung ’39 als einziger Sender in oder in die Reichsjugendführung der Hitlerjugend Deutschland die Morgenfeiern weiterführen konnte. eintreten würde. Da konnte ich damals noch sa- War doch enorm? gen: Ich verehre nicht, was ich gestern nicht geach- tet habe. Und ich nehme an, dass sie für diese Ehr- BERNARD: Wie war das Verhältnis von Hadamovsky lichkeit mehr Verständnis gehabt haben als wenn zum Kölner Sender? Angeblich soll er Köln als »vati- ich mich jetzt ducke und jetzt so tue, als wenn ich kanischen Sender« angesehen haben, also als ver- Parteigenosse wäre oder ihnen in ihrer Auffassung längerten Arm der Kirche … Uns interessiert beson- folgte. Das haben sie sogar respektiert, aber mir na- ders, inwieweit hat Hadamovsky versucht, Einfluss türlich den Schulfunk abgenommen und die Päda- zu nehmen, inwieweit ist ihm das gelungen oder in- gogische Abteilung, die Sprachen und die konfes- wieweit ist es gelungen, das abzuwehren? sionellen Morgenfeiern überlassen […]. Und neu HOLZAMER: Das gelang eben deswegen von Seiten übertragen die Landwirtschaft, von der ich aber von Glasmeier, weil die Inhaber der entscheiden- nichts verstand. Aber das war ein guter Posten, die den Posten in Köln sich eigentlich gegenüber Ha- Landwirtschaft, in dem ich viele Reportagen von damovsky im Parteisinne mehr darstellten als der westfälischen Bauernhöfen durchführte – und die Hadamovsky selber. Glasmeier war eben ein alter Bauern waren ja anders gesinnt, als [lacht] man NSDAP-Mann, und der Programmdirektor eben- vermutet. Die haben zwar die so genannte »Erzeu- falls, und ihnen gegenüber konnte eigentlich Ha- gungsschlacht« damals mitgemacht, aber das war damovsky sich kaum direkt und unmittelbar trotz ja rein ökonomisch und war ja nicht eigentlich poli- seiner Gegnerschaft durchsetzen, während die Üb- tisch bestimmt. rigen bestrebt waren, Glasmeier noch immer, dass Und dann konnte ich also manches tun – auch er gewisse Dinge durchsetzte und für richtig hielt, in den religiösen Morgenfeiern. Ich habe sogar ein- die mit dem Nationalsozialismus auch zu vereinba- mal in Telgte eine Predigt des späteren Kardinals ren seien. Das war eben das Ziel dieser Leute. Und Galen aufgenommen, durfte sie dann allerdings – die übrigen Parteigenossen, die ja dann die wichti- ich weiß nicht mehr, wer das verboten hat – nicht gen Ämter übernahmen, also von Stein etwa, Herr senden. Aber immerhin – ich konnte sie durchfüh- Heikhaus, und Herr Tara und Herr Barlage in der ren. Also, so weit ist es noch getragen worden. Und Personalabteilung: die waren eigentlich den Oberen auch die übrigen Veranstaltungen der Morgenfeiern gegenüber, die sie hatten, also Glasmeier und Hart- liefen insoweit gut, als sowohl die katholische Sei- seil gegenüber, doch ziemlich willfährig, nicht, ver- te wie die evangelische Seite gut mitmachten, außer standen auch im Allgemeinen vom Rundfunk wenig der so genannten »Bekennenden Kirche«, nicht, und und ließen uns andere, die sie noch gelassen hatten, da wurde dann der Abstand auch von Seiten der also: Dr. Rockenbach, mich … Kirchen hergestellt, dass wir die möglichst beisei- te ließen und nicht heran ließen. Da machten beide SCHUMACHER: … Schäferdiek19 … Kirchen, und insbesondere auch die Evangelische HOLZAMER: … richtig, Schäferdiek, mit dem ich so- Kirche, die offizielle, gut mit, dass das geschah. gar das Zimmer teilte, ließen uns mehr oder min- Und dann kam plötzlich, 1937, ein Anruf aus Ber- der gewähren, weil sie … sie waren froh, wenn wir lin – wer es dann war, ob es der Reichssendeleiter keine unanständigen Dinge machten oder etwas, Hadamovsky war oder Goebbels persönlich –: Die Morgenfeiern seien einzustellen. Und was geschah dann? Sendeleiter, wie man ihn damals nannte, also praktisch der Programmdirektor, ein Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP und ein be- kennender, ein wirklich bekennender evangelischer Christ aus Mecklenburg, der ging ans Mikrofon und 18 Gemeint ist Wilhelm Hartseil (1892–?), Missionar, Offizier, Land- hielt selbst eine Morgenfeier, die mit Luther-Zitaten wirt. 1932 Gaurundfunkleiter in Pommern, 1934 kommissarischer Sen- deleiter am RS Hamburg, 1936/37 Sendeleiter am RS Köln, 1937/39 nur so gespickt war und befahl mir, die Morgenfei- Sendeleiter am RS Leipzig, ab 1939 Sendeleiter am RS Danzig. 18 ern weiter durchzuführen. Berlin: – kein Ton. Also: 19 Willi Schäferdiek (1903–1993), Arbeiterschriftsteller. Ab 1927 es kam immer noch darauf an, dass es mutige Leu- freier Mitarbeiter bei der WERAG, Juli 1928 Festanstellung als Assis- te gab, die etwas entschieden durchsetzten, natür- tent der dramaturgischen Abteilung, später gleiche Funktion im Pro- grammbüro und in der Vortragsabteilung. April 1934 Ausscheiden aus lich mit dem Wagnis, dass sie auch gründlich her- dem RS Köln. 1936–1939 RS Saarbrücken, ab 1940 Dramaturg am einfallen konnten, nicht. Aber der hatte den Mut, und Deutschen Kurzwellensender Berlin. 38 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

was die Partei auf den Gipfel brachte, und so ging BERNARD: … und die dafür sorgten, dass »der La- das einfach durch, und deswegen konnte sich mei- den lief« … nes Erachtens Hadamovsky auch nicht – trotz sei- HOLZAMER: … dass »der Laden lief«, ja. ner Auffassung, die er über Köln hatte – nicht recht durchsetzen. BERNARD: Wie war Ihre erste persönliche Begeg- nung mit Glasmeier? BERNARD: Aber doch scheint er immer wieder ver- HOLZAMER: Ja, da habe ich, glaube ich, schon an- sucht zu haben zu intrigieren … gedeutet, er rief mich extra zu sich herunter, weil er HOLZAMER: Und es war ja dann auch erstaunlich, von mir wusste – auch durch die Jugendbewegung, dass Glasmeier zum Reichsintendanten berufen der er ja auch begegnet war in Westfalen – und sag- wurde, das zeigte ja dann doch wieder, dass diese te mir, ob sein Vorgänger, Ernst Hardt, wohl das ge- gegen ihn gerichteten Kräfte sich nicht durchsetzen tan hätte, was er jetzt hier praktiziert hatte in sei- konnten. Wer da die Waagschale nun nach oben ge- nem Intendantenzimmer: Hier hängt das Kreuz an hen ließ, weiß ich nicht. der Wand, damit alle sehen, wie ich persönlich ge- sonnen bin. Hätte er [Ernst Hardt] diesen Mut ge- BERNARD: Mittlerweile ist aus den edierten Tage- habt?, hat er mir das gleichsam vorgehalten und mir büchern und Diktaten von Goebbels heraus zu le- gesagt, dass ich wohl sein Vertrauen hätte in die- sen, dass er offensichtlich im Frühjahr ’37 nicht un- ser Beziehung, aber er mich natürlich mahnte, dem bedingt dafür war, Glasmeier zu berufen. Um noch »Führer« gehorsam zu sein, nicht, das war dann sei- einmal ins Jahr ’33 zurück zu gehen … Es ist ja doch ne zweite Diktion, weil er so stark auch an Hitler, eine merkwürdige Sache: Glasmeier ist zwar in Par- der ihn ja befördert hat, hing. Das war meine ers- teiämtern in Westfalen, aber auch noch nicht all- te Begegnung, und dann etwas mehr noch mit sei- zu lange, er hat den Lippischen Wahlkampf mitge- ner Familie, mit seiner Frau, die vielleicht unter die- macht, das war sozusagen seine NS-Visitenkarte.20 sem Zwiespalt, in dem er eigentlich steckte, gelitten In Bezug auf Rundfunk aber war da im Prinzip nichts. hat, mehr als nach außen hin sich bemerkbar mach- Er war zwar im Programmbeirat, seit Februar, aber te. … Aber er war dann gefügig gegenüber den Na- das wahrscheinlich auch nur, weil man einen Natio- zis und hat das auf sich genommen. Aber dass er nalsozialisten nolens volens beteiligen musste … darüber auch persönlich zerrissen war, will ich voll HOL Z AMER : Eben. attestieren; aus meiner Bekanntschaft mit ihm glau- be ich das auch. BERNARD: … und er galt nun eben nicht als »schar- fer Hund«. Dann hatte er auch einmal ein Manus- BERNARD: Sie haben auch über eine Begegnung kript über westfälische Wasserburgen abgeliefert, 1936 berichtet und zwar beim Einmarsch der deut- und das war‘s. Das heißt, es wurde ein vollkomme- schen Truppen ins Rheinland. Glasmeier soll gesagt ner Rundfunklaie berufen. Wie ist das im Haus auf- haben: Das gibt jetzt Krieg. gefasst worden, war das bekannt? Wie hat man sich HOLZAMER: Daran erinnere ich mich, dass er diese das im Haus erklärt, dass so ein Mann nun Inten- Äußerung auch getan hat, weil er offensichtlich vor- dant wird? aus sah, dass das, was gegen die Alliierten hier mit HOLZAMER: Tja, man sah das wie in allen ande- der Durchsetzung im Rheinland geschehen ist, auf ren Bereichen, dass einfach die jetzigen Inhaber, die Dauer einen Widerstand hervorrufen würde, den die mit der Partei eben nicht … der Partei nicht zu man nur besiegen konnte, wenn man selber aktiv Willen waren, abgelöst wurden und dafür verlässli- Krieg machte. Und das war auch seine Haltung, die che Leute von der Partei berufen wurden. Man hat er sich bewahrt hat in der künftigen Zeit. dann eigentlich über die Eignung für die betreffen- Wobei, das muss man immer wieder sagen, was de Aufgabe kaum mehr räsoniert. Man hat es ein- vielleicht für die heutige Generation zum Teil unver- fach hingenommen, dass eben, wie ich auch sag- ständlich ist, dass der Nationalsozialismus sich so te, bei den Abteilungsleitern dann Leute hinkamen, durchsetzen konnte – und auch etwa in Köln durch- die zum ersten Mal mit dem Hörfunk überhaupt et- setzen konnte, wo es nie eine Mehrheit nationalso- was zu tun hatten und nun plötzlich Abteilungsleiter zialistischer Wähler gegeben hat –, hing doch da- wurden, nicht. Das hat man einfach – leider … Es ging gar nicht anders. Wobei dann an den entschei- denden Stellen des Hauses immer noch solche wa- 20 Landtagswahl im Land Lippe Mitte Januar 1933, die von den Na- ren, die mit dem Rundfunk vertraut waren und dafür tionalsozialisten zum »Durchbruch« zur »Machtergreifung« hochstili- auch die Arbeit leisteten … siert wurde. Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer 39 mit zusammen, dass Dinge ins Leben traten oder ins dass irgendein Gremium, irgendeine Öffentlichkeit Leben gerufen wurden, die an sich in der Weimarer da noch groß ein Votum abgab … das ging da fast Zeit hätten geschehen sollen – der Arbeitsdienst ist pausenlos vor sich. ein Beispiel. Das war im Grunde schon in der Wei- marer Republik vorbereitet. BERNARD: Er hatte offensichtlich auch die Rücken- deckung von Goebbels … SCHUMACHER: Ähnlich ja auch der Autobahnbau … HOLZAMER: So war‘s. HOLZAMER: Ja, ebenso, Autobahnbau, ganz recht. Alle diese Dinge, die auch zur Überwindung der da- BERNARD: Wie ist das im Haus aufgefasst worden? mals maßlosen Arbeitslosigkeit hätten führen müs- War das ein Wechsel in der Linie der Führung des sen, die hätten durchgesetzt werden können. Dann Senders? Und: Wie stand Winkelnkemper zum Na- hätten, zweitens, die Parteien mehr zusammen tionalsozialismus? War er sehr gläubig, war er ein arbeiten können. Brüning konnte sich eben nicht strenger Nationalsozialist? durchsetzen, konnte nur eben mit der Macht des HOLZAMER: Er war einfach ein Praktikus. Er führte Reichspräsidenten überhaupt handeln, weil die es einfach aus. Ich glaube, da war eine große Nach- Sozialdemokratie nicht mitmachte, zum Schaden denklichkeit nicht vorhanden. eben […]. Und auch in dem Widerstand, den – lei- der! – damals die Alliierten gegen die Weimarer Re- BERNARD: Ein Bürokrat? publik führten und den sie dann bei Hitler abbauten. HOLZAMER: Ja, Bürokrat, wüsste ich weniger. Er Was haben Brüning – und die anderen – gerungen war mehr für direktes Handeln, ohne große bü- mit den Burschen, nicht, dass sie vernünftig wur- rokratische Barrieren. Aber er war einfach ein … den. Die damalige Besetzung [des Rheinlandes und Drauflos, es muss gehandelt werden … so wird zeitweise von Teilen des Ruhrgebiets] war ja ganz es dann eben, ohne dass ich über seine wirkli- anders als die Besetzung der Alliierten nach dem che Überzeugung etwas Entscheidendes aussa- [Zweiten Welt-]Krieg, da hat Churchill dafür gesorgt, gen kann. Ich habe auch mit ihm wenig Verbindung dass es eben nicht zu diesem maßlosen deutschen gehabt. Etwas mehr Verbindung hatte ich dann mit Vernichtungskrieg führte, sondern er sich sagte: seinem Bruder als Oberbürgermeister, so dass man Wir haben ja auch den Nachteil davon, wenn wir die schon mal im Gespräch miteinander war. Aber das Deutschen kaputt machen. Und das galt damals, in war dann auch alles. der Zeit gegenüber der Weimarer Republik, leider zu wenig. Und da konnte sich dann Hitler, nachdem er BERNARD: Änderte sich denn nach Winkelnkem- einige dieser Dinge auch durchführte, besser durch- pers Antritt etwas in der Programmgestaltung? setzen, und das hat dann natürlich wieder viele auf HOLZAMER: Wüsste ich eigentlich nicht. Ich glaube, seine Seite gezogen, bis dann die späteren Untaten die Dinge sind nach wie vor so geblieben, wie sie kamen, die Vernichtung der Juden usw. waren, ja … Dass besonderer Wert darauf gelegt wurde, die Jugend zu mobilisieren. Also, der Schul- BERNARD: Wie war der Wechsel von Glasmeier funk trat dann sehr zurück zugunsten des BdM und zu Winkelnkemper? Wir wissen bisher über Win- der Hitlerjugend, die mit ihren eigenen Veranstaltun- kelnkemper noch ziemlich wenig.21 Wie machte gen dann ins Ohr der Öffentlichkeit drangen, mit al- sich dieser Wechsel im Funkhaus bemerkbar? … lem, was sie zu bieten hatten. Und das waren dann Also: Wie war der Wechsel von Glasmeier zu Win- kelnkemper, und was war Winkelnkemper für ein Mensch? HOLZAMER: Winkelnkemper war meines Erachtens Abteilungsleiter in der Partei in Köln [recte: Gaupro- pagandaamtsleiter], und mit dem Rundfunk brach- te man dann natürlich auch den Begriff »Propa- ganda« in Verbindung. Außerdem war sein Bruder Oberbürgermeister von Köln geworden, so dass er gleichsam als Propagandaleiter im Gau sich selbst 21 Dr. Toni Winkelnkemper (1905–?), Jurist. 1930 Leiter des Gaupro- fast bestimmte zum Intendanten. Denn sonst wirk- pagandaamts des Gaues Rheinland, 1936 Gauamtsleiter des Gaues te eben der Gau mit, und der war er nun selbst, Köln-Aachen. 1937 Intendant des RS Köln, ab 1941 Kommissarischer Leiter der Auslandsabteilung der RRG sowie Kommissarischer Inten- und dann hat er sich praktisch »hineingemunkelt« dant des Kurzwellensenders. 1945 Festnahme durch US-Truppen in [lacht], wenn man so will, und wurde dann, ohne Oberbayern und Internierung. 40 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) meistens weniger weltanschauliche Dinge als dass Stift, der dann über die Manuskripte hinweg ging. eben getanzt und gesungen wurde usw. Es waren Das hat er schon getan, ja, ja. Er war ja stark, er war dann auch weniger verfängliche Dinge. ja eigentlich ein bisschen Wissenschaftler, und da- durch natürlich auf diese Form der Korrektur auch BERNARD: Nach dem Krieg hat sich die Spur von eingerichtet. Winkelnkemper verloren, angeblich in den USA. HOLZAMER: So? BERNARD: Und was das Programmverhältnis Rheinland und Westfalen im Rundfunk betraf? Er BERNARD: Und das interessiert uns natürlich jetzt hatte doch sicher auch ein starkes Interesse dar- besonders, ob Winkelnkemper möglicherweise an, Westfalen … nach dem Krieg die Seiten gewechselt hat und … HOLZAMER: … zur Geltung zu bringen. Ja, ja, ja. Da für die Amerikaner als ehemaliger Chef der deut- war sein Interesse groß. Gerade, wenn ich dann die schen Auslandspropaganda möglicherweise ein in- Gelegenheit hatte, auf den westfälischen Bauern- teressanter Mann geworden ist. höfen mehr zu sein als im Rheinland, das hat ihm HOLZAMER: Also, ich könnte mir einen solchen gefallen [lacht]. Wandel vorstellen bei ihm. Könnte ich mir vorstel- len. Wenn das unter so ungewöhnlichen Verhältnis- BERNARD: Und wie war es mit der Einflussnahme sen passiert ist, die sonst einfach nicht gingen. der Gauleitungen? Haben die sehr dezidiert ver- sucht, ihre Ansichten oder ihre Politik in den Reichs- BERNARD: Eine weitere Person würde mich noch sender Köln hineinzutragen oder konnte Glasmeier sehr interessieren, und zwar ist das Adolf Raskin,22 mehr oder weniger autonom verfahren und Begehr- der dann … lichkeiten abwenden? HOLZAMER: … Intendant in Saarbrücken wurde … HOLZAMER: Er konnte eigentlich falsche Begehrlich- keiten, wenn er wollte, abwenden. Das Interesse der BERNARD: … und später erster Leiter des Aus- Gauleitung lag gewöhnlich an der personellen Be- landsrundfunks. Er kam ja dann 1940 ums Leben, setzung, weniger an der konkreten Durchführung. ich glaube bei einem Flugzeugabsturz. Haben Sie Dafür hatten die ja sowieso keine Zeit und auch kein an Raskin persönliche Erinnerungen? Ohr, wenn man so will, um das dann zu beurteilen, HOLZAMER: Wenige, wenige. Er war eben, solange so dass ich glaube, es beschränkte sich viel stär- er bei uns war, musikalisch tätig, so dass ich da ei- ker auf die Anfangssituation der Bestellung von ent- gentlich wenig Berührung hatte. Wie das mit dem scheidenden Mitarbeitern. Saarländischen Rundfunk zustande kam, weiß ich dann auch nicht. Da kann ich also nichts sagen. … BERNARD: Sind die Gaufunkwarte in irgendeiner Er war auf dem musikalischen Gebiete Fachmann. Form in Erscheinung getreten oder waren das eher, Ich meine, das hat ja dann auch wieder auf der an- wie soll ich sagen, »Nenn«-Parteiämter? Haben sie deren Seite manchen überzeugt, wenn so etwas wirklich konzeptionelle Arbeit gemacht? Die Nazis vorhanden war, als wenn man ins Leere griff bei je- sind ja auch erst recht spät darauf gekommen, sol- mandem.

SCHUMACHER: Ich denke, je mehr die Nationalso- zialisten begriffen haben, was der Rundfunk für ein Propagandainstrument ist … HOLZAMER: Eben, eben!

SCHUMACHER: … desto wichtiger war es natürlich auch, dass sie Fachleute beschäftigten. 22 Dr. Adolf Raskin (1900–1940), Musikwissenschaftler und Musikkri- HOLZAMER: Ganz recht, ganz recht. Die wirklich et- tiker, Feuilletonjournalist, 1933 Leiter der Abteilung Musik beim West- was verstanden davon! deutschen Rundfunk. 1934/35 Leiter der »Saarkampfzentrale« des Deutschen Rundfunks, 1935 Intendant des RS Saarbrücken. Ab 1937 diverse leitende Tätigkeiten innerhalb der RRG, u. a. Kommissar des BERNARD: Hat Glasmeier aktiv in die Programmge- Reichsrundfunkintendanten für Fernseh-Angelegenheiten, Sonderbe- staltung oder Programmfragen eingegriffen? auftragter bei der RAVAG in Wien nach dem »Anschluss« Österreichs, HOLZAMER: Ja, er hat schon bei der Lektüre der 1940 Kommissarischer Intendant des Kurzwellensenders und der Aus- landsabteilung der RRG, in dieser Eigenschaft maßgeblich an der Pro- Manuskripte sich geäußert und sein grüner Stift – paganda des deutschen Rundfunks während des Frankreichfeldzugs glaube ich –, das war dann der gefährliche grüne beteiligt. Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer 41

che Ämter überhaupt einzurichten, um 1930, was BERNARD: Und wie war das mit den Besichtigungen auch verwundert, weil sie den Rundfunk schon von des Funkhauses? Ich habe gelesen, dass es am An- Anfang an – zumindest Hitler – als ein propagandis- fang, 1933, ein Problem dargestellt haben soll, weil tisches Mittel betrachtet haben. Und da gibt es eine ungeheuer viele Leute zu Besichtigungen kamen, gewisse Diskrepanz, dass diese Gaufunkwartorga- denen man gesagt hat: Ihr könnt jetzt auch einen nisation gar nicht richtig in die Gänge kam. Blick hinter die Kulissen werfen – und die dann so- HOLZAMER: Nein, die kam auch nicht richtig zur zusagen in die Studios hereingepoltert kamen, dass Geltung, nein, nein. Wie überhaupt in manchem … man sich gezwungen sah, das dann auch irgend- – wenn ich einmal eine späte Geschichte nachtra- wann abzuschaffen, weil einfach diese vielen Men- gen soll, die auch in Köln in manchem anders lief schen den Betrieb störten. als vielleicht in manchen anderen Städten: Im Krieg HOLZAMER: Ja, oder mehr die Kontrolle überforder- kam, in der Zeit, in der die schlimmsten Bomben- ten. Es wurde ja dann in den Funkhäusern unten am angriffe auf Köln herunter kamen … Köln hatte ja, Eingang eine SS-Wache eingesetzt. Die SS über- gemessen an den Tagen des Kriegs, jeden zweiten nahm dann auch immer den Polizeischutz – sozu- Tag einen Angriff, jeden zweiten Tag im Verlauf des sagen – des Hauses. Und da war natürlich die Kon- gesamten Kriegs … – und da ging in Köln so in den trolle bei großen Zuflüssen von Massen überfordert. ’43er Jahren die Frage um: Verlieren mer de Krieg?? Und das hat dann dazu geführt, dass man das dann Na, – den behaalen mer, war die Antwort [lacht]. doch sein ließ und diese Offenherzigkeit nicht mehr Sehr sibyllinisch [lacht]. Wurde nicht gesagt: Nee, zeigte. den gewinnen wir … Nein, den behaalen mer. Wobei es dann auch immer wichtig war … – ich erinnere mich, gerade wegen der Morgenfeiern, da BERNARD: Wie war das Arbeiten in der Dagobert- hatte ich ja guten Kontakt auf katholischer Seite mit straße? Das Haus war ja sehr beengt. Stellte das ein dem Domvikar Leiwering in Münster, und der war großes Problem dar? Glasmeier schon auch aus der Zeit vorher bekannt, HOLZAMER: Och, eigentlich nicht, eigentlich nicht, und der kam ja dann öfters ins Haus, natürlich als nee. Unten waren die großen Säle eingerichtet für katholischer Geistlicher, und dann kam der immer die Musik und Hörspiele usw., und im ersten Stock an der SS-Wache schnell vorbei: ‚Hier ist der Lei- war dann das eigentliche Ansagestudio, glaube ich, wering aus Münster.’ Die wussten dann schon Be- und oben, im zweiten und dritten Stock, im Wesent- scheid, wer das war und wohin der wollte [lacht]. lichen die Büros, die ja nicht so üppig besetzt waren, Sonst war das nicht so ganz leicht, an der Wache also, einen Drang der Enge habe ich dort nicht emp- vorbei zu kommen. funden. Nein, nein, das war nicht der Fall. Und das Verhältnis untereinander war dann auch BERNARD: Es gab Bestrebungen, Sprecherwett- menschlich gesehen durchaus erfreulich, trotz der bewerbe auszutragen, weil die Nationalsozialisten politischen Verhältnisse. Ich erinnere mich noch, ja auch suggeriert haben, dass Rundfunk aus dem dass ich ein gutes Verhältnis zu Rauher hatte, dem Volk für das Volk kommen soll, nicht nur durch Re- Hauptansager … portagen aus der Region, sondern auch durch Ein- satz von Personen, die nicht ausgebildete oder er- BERNARD: Wie war das mit Parteigrößen? Zum Bei- fahrene Rundfunkleute waren und … spiel Goebbels kam zur Amtseinführung von Glas- HOLZAMER: Ganz recht. meier nach Köln, das war am 24. April 1933. Ich habe ein Foto gesehen, auf dem Glasmeier mit [Rudolf] BERNARD: … nach den Zeitzeugenberichten und Heß zu sehen ist. Kam es sehr häufig vor, dass Par- Quellen muss das ziemlich jämmerlich ausgegan- teigrößen im Funkhaus zu Gast waren oder lief der gen sein. Betrieb eigentlich in der gewohnten Form weiter? HOLZAMER: Ja, da kam nicht viel zustande. Nein, HOLZAMER: Der lief weiter, lief mehr in der gewohn- nein. Es war dann mehr so ein Aufruf zur Beteiligung, ten Form ab. Ja, ja, da kam dann weniger zustan- aber es kam nicht viel heraus. de, weil sich die Parteigrößen oder die Partei ja ge- wöhnlich entweder allein durch Hitler oder durch BERNARD: Man hat das nicht weiter verfolgt … ihre großen Massenveranstaltungen wie in Nürn- HOLZAMER: Nein, nein. – Bei Glasmeier ist vielleicht berg usw. als solche präsentierten. Gerade in die- noch für seine Reichsintendantenwahl zu ergänzen sen Massenerscheinungen, so dass diese einzel- … er verstand es dann auch, als er gewählt worden nen, soweit ich mich erinnere, nicht eine solche war, sich Mitarbeiter, die er kannte und auf die er Rolle spielten. sich verlassen konnte, mitzunehmen, wie den [Wilf- 42 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) rid] Schreiber.23 Ich weiß nicht, hat er auch den Kurt bachweg, sondern noch – wie ich schon sagte – Fischer24 mitgenommen? neben dem Eschenheimer Turm mitten in der Stadt, und da konnte ich, als ich mich einfach mal erkun- BERNARD: Nein, der war schon vor ihm nach Berlin digen wollte, ungeschützt in das Haus eindringen, gegangen, aber das Verhältnis war gut. beinahe bis zum Sendesaal, ohne dass man [lacht] HOLZAMER: Er hat ihn dann auch wieder dort beru- aufgefallen wäre. Das war so selbstverständlich fen; und Schreiber hat er ausdrücklich mitgenom- alles. men. Dessen kann ich mich erinnern, dass er von Das hat mich dann schon immer interessiert, ge- dort weg ging, weil er wohl auch ein – wenn auch rade wegen dieser großen Möglichkeit, viele Men- milder, aber doch ein überzeugter – Nationalsozia- schen zu erreichen – und auch, was mich ja damals list war, der Schreiber. Vorher ein Kritiker des Rund- immer wieder beschäftigte, bis zum ZDF hin, die Bil- funks in den Zeitungen, und dann später übernom- dungsmöglichkeiten, die sich durch den Rundfunk men und von Glasmeier gefördert und mit nach ergaben, auch Sprachenvermittlung und ähnliches. Berlin genommen. Oder: wie ich dann später bei meiner Eröffnungsan- sprache beim ZDF am 1. April 1963 ausgesprochen BERNARD: Haben Sie nach dem Krieg irgendwel- habe – wir brachten ja da das »Vorspiel auf dem che Gerüchte gehört über Glasmeier, was aus ihm Theater« zu Goethes »Faust« –, und da zitierte ich geworden ist? den Theaterdirektor, um das Gleiche auch für mich, HOLZAMER: Nein. für meine Führung, zu beanspruchen: »Wie machen wir‘s, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung BERNARD: Wurde darüber gesprochen, kam Ihnen auch gefällig sei?« – Das sind die vier Merkmale, nichts zu Ohren? das hat der alte Goethe schon gewusst: »Frisch« HOLZAMER: Nein, gar nichts, nein. – möglichst live, nicht so sehr vorproduziert, son- dern direkt. »Neu« – aktuell. »Mit Bedeutung« – kein SCHUMACHER: Herr Holzamer, Sie waren nicht nur Quatsch …, aber »gefällig« – unterhaltsam [lacht]. Rundfunkverantwortlicher und Rundfunkmacher, Also, wenn man das erfüllen kann, dann ist es gut sondern auch Rundfunkhörer. Wir wollten Sie fra- [lacht]. Aber es ist schwer. gen, ob Sie sich noch an Ihre ersten Erfahrungen mit dem Rundfunk erinnern; welche Sendungen Sie SCHUMACHER: Wenn Sie Radio gehört haben, ha- gerne gehört haben und wie Sie die ersten Übertra- ben Sie da vorher in eine Rundfunkzeitschrift ge- gungen – gerade auch von politischen Feiern – auf- schaut und … genommen haben. HOLZAMER: Nein, nein. HOLZAMER: Ja, ich habe sehr bald nach 1923, als in Berlin der Rundfunk begann, schon ein Gerät SCHUMACHER: Also einfach eingeschaltet? gehabt, da musste man ja noch – wie nannte man HOL Z AMER : … eingeschaltet, ja, ja. Zumal ja dann das … die Rundfunkzeitschriften erst langsam erschienen; ich weiß nicht, wann die erste »Werag« erschien … SCHUMACHER: … diese Detektorgeräte … HOLZAMER: … diese Detektorgeräte… da musste man erst die Welle erreichen und ertasten, sozusa- gen, und dann habe ich schon damals, allerdings auch mit Vorrang, mehr nachrichtliche Sendungen gehört, oder musikalische Sendungen, wenn sie 23 Prof. Dr. Wilfrid Schreiber (1904–1975), Wirtschafts- und Sozial- schon entsprechend waren. Das begleitete mich wissenschaftler, Journalist. Freier Mitarbeiter der WERAG. Festanstel- schon während meiner Schulzeit. Und wie es dann lung beim RS Köln, 1939 Wechsel zur RRG nach Berlin, 1942 ins Minis- terium für Volksaufklärung und Propaganda. Nach 1960 Professor an zur Änderung kam, auch was die Rundfunkgeräte den Universitäten Bonn und Köln. angeht – weiß ich gar nicht mehr so genau, wann 24 Eugen Kurt Fischer (1892–1964), Germanist, Journalist. 1929 das eingetreten ist –, … jedenfalls blieb ich aber Leiter der Literaturabteilung bei der Mitteldeutschen Rundfunk AG in Leipzig, 1933 Sendeleiter beim Westdeutschen Rundfunk, 1936 immer dabei und interessierte mich für den Rund- Wechsel zum Deutschen Kurzwellensender nach Berlin, 1941 Kom- funk. missarischer Intendant des RS Saarbrücken, 1942–45 Bibliothekar Bevor ich noch diesen Vortrag in Frankfurt und Kustos der Kunstsammlung am »Reichsbrucknerstift« St. Florian selbst gesprochen habe, habe ich mich schon mal in Österreich. Nach 1945 freier Journalist und Publizist, ab 1951 in di- versen Funktionen beim Hessischen Rundfunk, 1953 Geschäftsführer für den Rundfunk in Frankfurt, wo ich ja wohnte, der Historischen Kommission der ARD. Vgl. Winfried B. Lerg: Eugen interessiert. Der war da noch nicht oben am Mar- Kurt Fischer +. In: Publizistik 9(1964), S. 364–365. Interview mit Professor Dr. Karl Holzamer 43

SCHUMACHER: Die erste »Werag« gab’s schon ’26. dann die Dinge auf Beckenbauer, so sympathisch er HOLZAMER: Man hat einfach direkt hineingehört. sein mag [lacht], aber es stimmt dann nicht.

BERNARD: Hatten Sie da eher Ihren Haussender BERNARD: Gab es eigentlich schon, bevor die Nazis oder haben Sie einfach geschaut, was gibt‘s, was an die Macht kamen, sehr starke Attacken – außer interessiert mich? Dass Sie ein bisschen gesucht denen gegen Worm, die Sie beschrieben haben? haben … War es im Funkhaus deutlich? HOLZAMER: Ja, was man einfach hören konnte. Nee, HOLZAMER: Im Funkhaus eigentlich nicht. Es spielte da war man gar nicht so im Einzelnen festgelegt. sich dann mehr im gesellschaftlichen Leben ab oder in diesem einen Fall, weil man wusste, der ist Jude, SCHUMACHER: Das ist sehr interessant, denn das also: auf ihn, auf ihn. So war es eigentlich mehr. Vortragswesen der WERAG war ja sehr systema- Und die Gefahren scheinen ja zum Teil auf ande- tisch aufgebaut, so dass man kaum einen Vortrag rer Seite. Ich habe ja im Jahre ’27 in Paris studiert, versäumen konnte, und das war ja auf ein ganz an- und hab dann im Jahre – wann war das … – bald deres Hören abgestellt, was es dann aber vermut- darauf eine große Wanderung mit französischen lich gar nicht gegeben hat … Scouts, mit französischen Pfadfindern, durch die HOLZAMER: Ganz gewiss, ja, so war es. gesamte Bretagne gemacht, vier Wochen lang. Und da geisterte dann die Frage bei denen: Was ist mit BERNARD: War es so, dass Sie einen bestimmten dem »Casque d‘Or«, mit dem »Stahlhelm«? Man Sendeplatz hatten, der Ihnen lieb war, wo Sie sag- hielt dann den »Stahlhelm« für die eigentliche Ge- ten: Das möchte ich jede Woche hören? fahr, nicht. Dass das eine harmlose Altkriegerverei- HOLZAMER: Mal dies, mal das. So systematisch nigung war, die da natürlich von den Nazis wieder keinesfalls, keinesfalls. Das ist dann eigentlich erst genutzt wurde, ist klar. Also, diese Verkennung der richtig eingezogen … nachdem ich beim Rundfunk eigentlichen Gefahr, die ist ziemlich verbreitet ge- war, da hat man natürlich dann die Sendungen, für wesen, auch bei uns natürlich in Deutschland, so die man selber in irgendeiner Weise mit verantwort- dass man darauf nicht gekommen ist zur rechten lich zeichnete, die hat man dann natürlich angehört, Zeit … und immer wieder glaubte, wie Herr von Pa- das ist klar. pen, man kriegt die schon unter, die werden schon klein gehalten unter uns, wenn wir das machen kön- SCHUMACHER: Haben Sie sich eigentlich politische nen. Dass sie selbst übertölpelt wurden und die Ge- Aufmärsche auch angehört? Sie haben gesagt, die- schädigten, das haben sie leider erst zu spät be- sen Fackelzug ’33, den haben Sie systematisch ab- griffen. geschaltet. Oder dann hat auch der Ehrgeiz vielfach eine HOLZAMER: Ja. Gut, dass Sie das fragen. Hitler hat Rolle gespielt, der dann manche in diese Kurve ja damals nach seiner Machtergreifung alle großen trieb – und die Fehler der Alliierten, dass die nicht Städte besucht und große Massenversammlungen genügend und rechtzeitig genug auf berechtigte mit seinen eigenen Reden erfüllt. Er wurde im Üb- deutsche Anliegen und Wünsche bei den Reichs- rigen von allen Oberbürgermeistern dieser Städte kanzlern zurückgekommen sind … das war eben persönlich besucht, außer in Köln. Adenauer: für völlig falsch, völlig falsch. den war er nicht da. Das hat natürlich den Adenau- er allerlei gekostet hinterher. SCHUMACHER: Man hat so viele Fragen, aber die Und da bin ich selbst mal in einer Veranstaltung Akten geben dann doch nicht immer so viel her. in Köln gewesen, um mir also diesen so genann- Deshalb sind wir Ihnen besonders dankbar, dass ten »Rausch« bei der Begeisterung anzusehen. Da Sie uns einige Fragen beantworten haben! muss ich sagen: Ich war nicht berauscht. In keiner Weise. Und habe also diese frenetische Form der Begrüßung nicht kapieren können, nicht, aber leider muss man bei Massen damit rechnen, auch heute noch … Wie einmal einer unserer Bundespräsiden- ten sagte, oder, der mir sagte: Bei den Autogramm- jägern muss man für einen Beckenbauer drei oder vier Bundespräsidenten geben. So stimmt es. Dar- um bin ich zum Beispiel nicht für die Direktwahl ei- nes Bundespräsidenten als Volkswahl […]. So fallen Miszellen

RADIO REVOLTEN. umfasst neben der Ausstellung und ver- Internationales Festival und Tagung schiedensten Radioaktionen und -inter- zur Zukunft des Radios ventionen im öffentlichen Raum auch On Air-Projekte auf der UK W Frequenz von Radiokunst und Freies Radio seit 2003 CORAX (95.9 MHz) sowie die internatio- Eigentlich schien er seinen Zenit schon nale Tagung Relating Radio, die parallel zur überschritten zu haben, der Boom temporärer diesjährigen Tagung des Studienkreises für Rund- Kunst- bzw. Künstlerradios aus dem freien Radi- funk und Geschichte in Halle an der Saale stattfin- obereich, für den Projekte stehen wie JuniRadio, det und auch dadurch neue Perspektiven und Syn- Radioriff, reboot.fm oder DRESDENPostplatz (al- ergien eröffnen will. lesamt in den Jahren 2003 und 2004 und allesamt gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes). Bei Anders als die oben genannten Projekte ist R ADIO aller Unterschiedlichkeit machten diese Radioin- REVOLTEN angebunden an ein ‚real existierendes’ terventionen deutlich, dass es außerhalb der eta- Radio mit 24 Stunden-Sendebetrieb auf UKW. Ra- blierten Anstalten und der kommerziellen Format- dio CORAX sendet als NKL (Nichtkommerzielles radios eine experimentierfreudige junge Szene gibt, Lokales Radio) seit dem 1. Juli 2000 und hat seit- die technisch und radioästhetisch innovativ ist und dem überregional beachtete Projekte vor allem in souverän Intermedia- und Crossover-Situationen den Bereichen interkulturelles Radio, Radioausbil- mit anderen künstlerischen bzw. medienbezogenen dung, Kinderradio oder auch Osteuropaberichter- Kommunikations- und Ausdrucksformen herstellt stattung entwickelt. Derzeit arbeiten etwa 200 eh- (Bildende Kunst, Neue Musik, Performance, Archi- renamtliche Redakteurinnen und Redakteure mehr tektur, Medienkunst, Multimedia). Die radiokünst- oder weniger regelmäßig am Programm mit. lerischen Entwürfe dieser Jahre zielten nicht allein auf die Nutzung von Radiotechnologie für Zwecke Diese Voraussetzungen sind von Vorteil: Rundfunk- der Kunst oder umgekehrt auf eine neuerliche ex- politische Dissonanzen mit Landespolitikern oder klusive Rolle von Kunst im Radio: Vielmehr wurde Medienanstalten – wie sie bei einigen der oben ge- die Struktur des Radios selbst zur Disposition ge- nannten Projekte auftraten – sind nicht zu erwar- stellt. Am konsequentesten geschah dies durch die ten, die Medienanstalt Sachsen-Anhalt ist sogar Berliner Initiative reboot.fm, die Tools für dezentra- als Förderer selbst beteiligt. Andererseits stellt sich le Koproduktion und horizontales, non-hierarchi- aber bei der relativ stabilen Programmstruktur von sches Programmmanagement entwickelte und im CORAX die interessante Frage, inwieweit die etwa Ergebnis ihres Förderprojektes nicht nur ein beacht- 70 Redaktionen des Radios ihre Arbeit temporär in liches Programm-Archiv, sondern auch eine Radio- den Kontext des Festivals stellen werden, verstehen Software auf Open Source-Basis vorlegen konnte. doch die Initiatoren das gesamte Radio als Schau- Open Source zielte dabei nicht nur – so eine konzep- platz und Experimentierfeld und haben dabei kei- tionelle Selbstbeschreibung – auf eine »transparen- neswegs nur die bei CORAX vorhandenen festen tere, sicherere oder billigere Alternative zu proprie- Programmplätze für Hörspiel, Feature oder akusti- tären, kommerziellen Programmen. Jenseits dieser sche Kunst im Visier. offensichtlichen Vorteile weiß Freie Software davon, dass alle Software soziale Software ist: Sie formt die Auch in anderer Hinsicht greift der Ansatz von RA - Arbeitsbedingungen ihrer Benutzer«1. DIO REVOLTEN weit: Erschienen noch vor allem die Berliner Projekte stark selbstreferentiell auf eine RADIO REVOLTEN 2006 internationale, mehr oder weniger exklusive Com- Überraschenderweise setzt sich die Welle radio- munity von Medienkünstlerinnen und -künstlern praktischer Experimente nun fort. Radio COR A X in bezogen, so versteht sich das Hallenser Projekt Halle bereitet für September/Oktober 2006 die Ra- ausdrücklich als Chance für ein bereichsübergrei- diokunstausstellung RADIO REVOLTEN vor. Wie- fendes Nachdenken über das Medium Radio, seine derum ist die Kulturstiftung des Bundes wichtigster Partner, die das Vorhaben als eines von mehreren internationalen Projekten zum 1200-jährigen Jubi- 1 Martin Dehnke: Berlin sendet. http://www.freie-radios.de/ läum der Stadt Halle fördert. RADIO REVOLTEN pinnwand/239.htm. Miszellen 45

Möglichkeiten und seine Perspektiven. Akteure aus soll dafür radiopraktische, künstlerische wie auch dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk sind ausdrück- theoretische Anätze erbringen. Wir hoffen auf klä- lich eingeladen und u.a. auch im Kuratorium vertre- rende ebenso wie auf irritierende Beiträge und wün- ten. Radiomacherinnen und Radiomacher, Wissen- schen uns eine so breit gefächerte Teilnahme, wie schaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen es die Fragestellungen erfordern. und Künstler sind aufgerufen, Arbeiten zum Thema Thomas Kupfer; Golo Föllmer; Halle/Berlin »Zukunft des Radios« einzureichen – nicht etwa nur zur Zukunft der Radiokunst oder der freien Radios- Weitere Informationen: zene. In Bezug auf alle Segmente des Audio-Äthers  http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/main. bitten wir um radiopraktische, künstlerische und jsp?articleID=2330&applicationID=203&languageI wissenschaftliche Vorschläge zu der Frage, an wel- D=1 che Potenziale der historischen Utopien und Um-  http://www.radiocorax.de/index.php?option=co bruchmomente des Radios noch heute angeknüpft ntent&task=view&id=493&Itemid=2 werden kann bzw. welche Revolte noch aus- oder  [email protected] gerade ansteht. Überlegungen zu historischen Ent- wicklungen, Zukunftsszenarien sowie praktische Versuche sollen durch ihre Zusammenführung über- »Hier spricht Berlin«. prüft und fruchtbar gemacht werden. 75 Jahre Haus des Rundfunks – 75 Jahre Radiogeschichte Damit stehen heterogene Themen direkt nebenein- Eine Ausstellung im Lichthof des Hauses ander auf der Agenda: Unter anderem einmal mehr des Rundfunks, Rundfunk Berlin-Brandenburg das Verhältnis zwischen Sendenden und (Zu-)Hö- RBB, Berlin renden, aber auch jenes zwischen Produktion und Distribution oder zwischen nichtkommerziellen pri- Die Berliner Ausstellung »Hier spricht Berlin« doku- vaten, öffentlich-rechtlichen und privat-kommerzi- mentiert nicht nur Rundfunk-, sondern auch Archi- ellen Sendern; Veränderungen dieser Verhältnisse tekturgeschichte, und zwar genau an jenem Ort in durch neue Technologien und sich wandelnde poli- der Charlottenburger Masurenallee, den es zu fei- tische oder soziale Umstände; das Verhältnis radi- ern gilt. Am 22. Januar 1931 wurde im Haus des okünstlerischer Ansätze zu ihrem Medium sowie zu Rundfunks in Sichtweite des Funkturms und ge- anderen Medien und Kunstformen. genüber der seit 1924 stattfindenden Funkausstel- lung der Sendebetrieb aufgenommen. Mit einer klei- Die Tagung konzentriert sich genau auf diese Ver- nen Ausstellung zur Geschichte des Hauses begeht hältnisse: Sie umfasst Panels zu den vier Themen der Rundfunk Berlin-Brandenburg RBB den 75. Ge- »Community Radio / Radio Community«, »Kunst- burtstag im Lichthof des Gebäudes. Anhand von theoretische Positionen zum Radio«, »Access: Zu- Photos und Texten, Originaltönen und Filmdoku- gang, Aneignung, Identität« und »East Side Stories – menten wird die Geschichte des Hauses, geglie- Neue alte Radiokulturen in Ost- und Südosteuropa«. dert in fünf Abschnitte, nachgezeichnet. Das Panel zur Entwicklung in Ost- und Südosteuro- pa setzt als FM@dia 06 Forum eine erste Tagung zu Hans Poelzig, der Architekt des IG Farben-Baus diesem Thema in Prag im Jahr 2004 fort2. in Frankfurt, gewann den Wettbewerb zur Errich- tung des Rundfunkgebäudes im Jahr 1929. Er ent- Das bisherige Feedback auf die Ausschreibungen3 warf das Gebäude ganz entsprechend seiner Nut- zeugt davon, dass es an der Zeit ist, das gesam- zung. »Form follows function«, in diesem Sinne kann te Gefüge des Radios auf seine allgemeinen Funk- die eigentümliche äußere Hülle des Gebäudes be- tionsprinzipien, auf seine Beziehungen zu anderen schrieben werden. Der Entwurf besticht durch die Medien und auf seine gesellschaftliche und ästheti- Idee, die lärmempfindlichen Sendesäle in der Ge- sche Rolle hin zu durchleuchten. RADIO REVOLTEN bäudemitte zu platzieren und sie durch Bürotrakte als Außenhülle und eigene Fundamente vom Stra- ßenlärm und von Erschütterungen abzuschirmen. Die gut 150 Meter lange, viergeschossige Haupt- 2 Im Juni 2004 nahmen mehr als 100 Akteure aus unabhängigen Me- front wird an den Enden nach hinten geführt, so dien Ost- und Südosteuropas am ersten FM@dia Forum in Prag teil dass sich die beiden Seiten dieses Dreiecks tref- (vgl. http://www.fmedia.ecn.cz). 3 Die Ausschreibungstexte und weitere Informationen finden sich fen. Die trapezförmigen Sendesäle in der Mitte des auf http://www.radiorevolten.net Dreiecks verbinden die einzelnen Flügel miteinan- 46 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) der. Ihren gemeinsamen Ausgangspunkt haben sie Der rundfunkhistorisch interessierte Besucher kann am Haupteingang des Gebäudes, der um ein weite- in unmittelbarer Nähe des Rundfunkgebäudes ne- res Geschoss erhöht ist und einen Lichthof enthält. ben dem Funkturm die letzte Wohnstätte von Alfred Seine heutige Gestalt, insbesondere der Lichthof, Döblin erreichen, Kaiserdamm 28, wo der Schrift- verdankt das Haus des Rundfunks der historischen steller von 1931 bis zur Emigration seine Arztpra- Rekonstruktion, die im Jahr 1987 abgeschlossen xis hatte und für seine Rundfunkarbeit nur wenige wurde. Schritte bis zum Funkhaus brauchte. Inge Mohr, Berlin Seine Bedeutung gewinnt das Haus, das als eines der ältesten Rundfunkgebäude der Welt und Mei- Weitere Informationen: lenstein der Rundfunkarchitektur heute noch sei- http://www.rbb-online.de/haus-des-rundfunks/ nem ursprünglichen Zweck entsprechend verwen- flash/index.html det wird, durch die wechselvolle Geschichte. Diese dokumentiert die Ausstellung in fünf Abschnitten auf Schautafeln: Schauplatz Hörspiel – Bilder, Töne, Technik.  »Das Schiff ist klar zur Fahrt«. Das Haus des Rund- Eine Ausstellung im Deutschen Technik- funks in der Weimarer Republik (1929 bis 1933) museum Berlin  Das Haus des »Deutschen« Rundfunks. Wider- stand und Propaganda im Nationalsozialismus Wer den Weg durch den Lokschuppen in den (1933 bis 1945) zweiten Stock des Beamtenhauses des weitläufi-  »Rotes Haus an der Masurenallee«. Zwischen gen Deutschen Technikmuseums in Berlin-Kreuz- Nachkriegswirren und Kaltem Krieg (1945 bis berg findet, kann sich an einer kleinen, aber fei- 1957) nen rundfunkhistorischen Ausstellung erfreuen. In  »Die Freiheitsglocke liefert das Pausenzeichen, Kooperation mit dem Deutschlandradio Kultur und die Berliner den Text und die Musik«. Der Sen- dem Deutschlandfunk zeigt das Deutsche Tech- der Freies Berlin im Haus des Rundfunks (1957 bis nikmuseum in Berlin eine äußerst informative Aus- 2003) stellung zur Geschichte und Produktionsweise von  »Tradition und Moderne«. Programme, Produktio- Hörspielen im Radio seit den Anfängen bis zur Ge- nen und Projekte (seit 2003) genwart.

Wohnzimmereinrichtungen der 30er und 50er Jah- Das Ausstellungsplakat ziert die Schauspielerin Frit- re sowie einige rundfunkhistorische Erinnerungsstü- zi Haberlandt, die bei der Aufnahme des Hörspiels cke komplettieren die Ausstellung und vermitteln ei- »Autofahren in Deutschland« vom Deutschlandradio nen Einblick in das Ambiente des Rundfunkhörens Kultur in einem Hörfunkstudio gezeigt wird. Diese vergangener Zeit. Der Überblick orientiert sich an Darstellung führt auf die Inhalte der Ausstellung hin: den markanten Phasen der Geschichte und führt zu Im Mittelpunkt stehen etwa 50 Photographien und den kleinen amüsanten oder auch tragischen Ge- Abbildungen, die Schauspielerinnen und Schau- schichten, die sich im Haus des Rundfunks abspiel- spieler bei der Arbeit an Hörspielaufnahmen für den ten und von denen Zeitzeugen ausführlich berich- Deutschlandfunk und das Deutschlandradio Kultur ten. dokumentieren. Auch Photographien und Mikro- phone aus der Anfangszeit des Rundfunks, somit Für eine differenziertere Betrachtung ist jedoch kein aus der Zeit der Hörfunksendespiele sind ebenso Platz, denn der Lichthof lässt nur eine begrenzte ausgestellt wie unterschiedliche technische Geräte, Ausstellungsfläche zu. Interessant wäre eine Aus- die bei der Produktion eines Hörspiels Verwendung stellungskonzeption gewesen, die für jede der fünf finden. Ein interaktives Moment der Museumsdi- aufgeführten Phasen der Hausgeschichte im Licht- daktik ermöglicht es den Besucherinnen und Be- hof ein Stockwerk reserviert und es den Besuche- suchern, diese Geräte selbst auszuprobieren, um rinnen und Besuchern ermöglicht hätte, mit dem Geräusche zu produzieren. Die Ausstellung veran- betriebsbereiten historischen Paternoster eine Zeit- schaulicht, wie kreativ Geräuschemacher sind, um reise durch das Haus anzutreten. Vielleicht besteht die Töne unserer Umwelt zu imitieren und unsere die Gelegenheit, das Haus auf diese Weise zu prä- Lebenswelt akustisch in Szene zu setzen. Sie ist kei- sentieren, wenn im kommenden Jahr der 50. Jah- ne umfassende Dokumentation der Geschichte ei- restag des Wiedereinzugs des demokratischen nes der wichtigsten Genres des Mediums Hörfunk, Rundfunks begangen werden kann. das kann aus Platzgründen nicht geleistet werden. Miszellen 47

Im Vordergrund stehen vielmehr der Zugang zum eingesetzt zu werden. Sie blieben Experimentier- Publikum und die Vermittlung der Produktionswei- objekte von Avantgarde-Neutönern wie Karlheinz se von Hörspielen. Stockhausen und . Der Clou an Robert Moogs Modular-, den er gemeinsam Neben Bildern und Gerätetechnik kann in verschie- mit dem Komponisten entwarf, denen Hörstationen und in sechs Ton-Sesseln ver- war seine Handlichkeit: 40 Knöpfe und eine Klavier- schiedenen Geräuschen und Hörspielprodukti- tastatur. Damit ließen sich gänzlich unerhörte Töne onen des Deutschlandradios gelauscht werden. produzieren: wabernde Sphärengeräusche, ganz Dabei sind Hörspiele für verschiedene Zielgrup- nach Belieben unterlegt oder rhythmisiert mit Gril- pen berücksichtigt. Zu hören sind das Familienhör- len, Zirpen, Pfeifen und Zischen – der Erfindungsga- spiel »Die wunderbare Welt des Jean-Henri Fabre« be der Musiker waren kaum Grenzen gesetzt. Auch (2002), das literarische Hörspiel »Katzen haben sie- herkömmliche Instrumente, ja ganze Orchester lie- ben Leben« (2003), das Kriminalhörspiel »Wer den ßen sich vortrefflich nachahmen. Wolf fürchtet« (2003), das Comic-Hörspiel »Sacht bescheid, denn com … ic! Kantomias rettet die Die erste musikalische und kommerzielle Legitima- Welt« (2004), das Kinderhörspiel »Elias und die Oma tion suchte sich das neue Instrument denn auch im aus dem Ei« (2005) sowie die Klangkunst-Installati- Rückgriff auf die Klassik. Walter Carlos‘ Langspiel- on »Wespen-Vesper« (2005). Es empfiehlt sich Zeit platte »Switched-On Bach« versammelte 1968 die zu investieren, um mit den audiovisuellen Sinnen die bekanntesten Melodien des Barock-Komponis- Ausstellungsgegenstände und -angebote zu erfas- ten in elektronischer Version – ein großer Erfolg, sen und zu genießen. der den Synthesizer einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte. Es war die Zeit vieler musikali- Ein umfangreiches Begleitprogramm rundet diese scher und gesellschaftlicher Experimente, bei de- Ausstellung ab, unter anderem durch Hörspielvor- nen nicht zuletzt auch bewusstseinsverändernde führungen und Geräusch-Workshops mit Demons- Drogen eine Rolle spielten. Die synthetischen Klän- trationen des Geräuschemachers Hans Cybinski ge des »Moog« schienen Gruppen wie The Greate- vom Deutschlandradio. ful Dead, The Doors oder wie geschaffen für ihre Grenzerkundungen. Die Byrds waren mit die Die Ausstellung ist bereits einmal verlängert wor- ersten, die einen Synthesizer einsetzten; auf dem den. Es ist zu hoffen, dass sie noch länger zu sehen Album »The Notorious Byrd Brothers« (1968) spielt und zu hören ist, ebenso wie die Fortsetzung oder er eine zentrale Rolle. Bei den Beatles hört man ihn Wiederholung des Begleitprogramms. auf dem Album »Abbey Road« (1969). Der erste gro- Inge Mohr, Berlin ße Hit, den das neue Gerät deutlich geprägt hat, war »Lucky Man« von Emerson, Lake and Palmer (1970). Internetadresse der Ausstellung: blies den Synthesizer in den Folge- http://www.dtmb.de jahren zu einem wahrhaft monströsen Gimmick auf; viele andere Gruppen folgten. Elektronik-Avantgar- disten wie Klaus Schulze, Tangerine Dream und Bri- Synthetische Klänge. an Eno setzen das neue Instrument etwa ab 1971 Nachruf Robert Moog (1934–2005) ein. In diesem Jahr erschien auch die beindrucken- de Synthesizer-Filmmusik zu Stanley Kubricks »A Es war ein Flugzeug- und Elektroingenieur aus New Clockwork Orange«, eingespielt von Wendy (zuvor: York, der die Entwicklung der Popularmusik ganz Walter) Carlos.1 entscheidend geprägt hat: Robert Moog, der Erfin- der des modularen . Dieses handliche Pink Floyd hätten ihren Klassiker »The Dark Side of Instrument, das 1964 erstmals gebaut und vermark- the Moon« von 1973 auch gut und gerne »The Dark tet wurde, hat die Rockmusik der späten 1960er und Side of the Moog« nennen können; zumindest ist frühen 1970er Jahre neue klangliche Wege gehen eine Raubpressung unter diesem Namen verbürgt. lassen. Die digitalen Nachfolger des »Moog« be- stimmen die Popmusik bis heute.

Apparate zur synthetischen Klangerzeugung gab es 1 Zur Kulturgeschichte des analogen Modular-Synthesizers siehe auch schon vorher, doch waren sie zu groß und zu auch Trevor Pinch/Frank Trocco: Analog Days. The Invention and Im- kompliziert zu bedienen, um außerhalb von Studios pact of the . Cambridge (Mass.) u.a. 2002. 48 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

1974, als ein noch erschwinglicheres Modell des Filmen eingesetzt und gaben wohl die Inspiration für »Mini-Moog« von 1970 auf den Markt kam, hatten die Entwicklung des Synthesizers – hatte Moog be- die Klangtüftler der Düsseldorfer Gruppe reits sein Studium finanziert. Ein Kreis schloss sich. mit »Autobahn« einen Welthit. Es waberte, zischte Am 22. August 2005 erlag der 71-jährige an seinem und rauschte auf allen Wellenlängen. Im selben Jahr Wohnort einem Krebsleiden. begannen auch die Produzenten der aufkommen- Oliver Zöllner, Essen den Discoszene, die immer vielseitigeren Modelle der R. A. Moog Company wertzuschätzen. In Frank- reich komponierte Jean-Michel Jarre bestechend Radio der Zukunft. eingängige Klangteppiche (u.a. »Oxygène«, 1976), Die Bonner Tagung »Global Radio: Hörfunk in Indien verwob Ananda Shankar das elektronische international und crossmedial« sollte Schwung Instrument mit den Musiktraditionen seiner Heimat in Radioforschung bringen (»Ananda Shankar and His Music«, 1974). Der Syn- thesizer wurde das definierende Instrument des Das Radio hat sich totgedudelt. Schablonenartige Jahrzehnts. Unüberhörbar auch in der Radio- und Musikformate, Ideenlosigkeit und inhaltsleeres Rau- Fernsehwerbung weltweit. schen über die Wellen. »Radio ist auf eine seltsame Art nicht sexy«, sagt Caja Thimm, Professorin für Nur wenige Gruppen von Rang widersetzten sich Medienwissenschaft an der Universität Bonn. Das den effektvollen Verlockungen der Maschine: die ist die eine Wahrheit. Die andere: das Radio steht britische Band Queen etwa (ritualisierter Hinweis vor den größten Umbrüchen seiner rund 80-jähri- auf allen ihren Plattenhüllen bis 1980: »No synthesi- gen Geschichte – es wird digital. Thimm und ande- zers!«) oder die Punk-Bewegung (eine Zeitlang). Die re Forscherkollegen sprechen deswegen schon von »New Wave« ab den späten 1970er Jahren wäre da- einer Renaissance des Radios. gegen ohne Moog und die artverwandten Model- le anderer Firmen (Casio, , Roland, Yamaha) Das ist ein optimistisches Ergebnis der Tagung kaum mehr denkbar. Depeche Mode und Orchestral »Global Radio: Hörfunk international und crossme- Manoeuvers in the Dark bereiteten mit ihrem »Syn- dial« im vergangen Januar in Bonn. Radioleute aus thipop« den Weg für die computerisierte Tanzmu- der Praxis und mehreren Forschungsdisziplinen sik späterer Jahre – von Europop à la Modern Tal- versuchten, die Zukunft des Hörfunks auszuloten. king bis zu Techno und House. Die Speichertechnik Initiatoren und Organisatoren der Tagung waren die machte hier das kunstvolle Musizieren fast überflüs- Deutsche Welle und die Universität Bonn. sig. Endlich konnte jedermann in seinem Wohnzim- mer Welthits basteln und aufnehmen. Inzwischen »Radio soll als hochvariables Medium beschrie- passt ein Synthesizer auf einen kleinen Speicher- ben werden. Es hat eine riesengroße Bandbreite chip. Hinter jeder MP3-Datei steckt ein Synthesizer. an Nutzungsmöglichkeiten«, referierte die Initiato- Moogs Entwicklung ist heute in gewandelter Form rin Caja Thimm. In den Industrieländern verschmel- allgegenwärtig. ze der Hörfunk immer stärker mit anderen Medien (Crossmedialität). Andererseits gebe es in weniger Robert Moog beobachtete all dies nur noch aus der entwickelten Ländern auch Raum für das klassische Distanz. Bereits 1973 hatte er seine Firma verkauft Radio. Verantwortlich dafür sei vor allem die Digita- und lebte seit 1978 abgeschieden in der Nähe von lisierung. Asheville, North Carolina. An der dortigen Universi- tät lehrte und forschte der promovierte Physiker im Statt per analoger Ultrakurzwelle sollen die Pro- Fachbereich Musikwissenschaft. Regelmäßig be- gramme schon bald digital verbreitet werden. Das suchten ihn prominente Musiker. Er betrachtete sie ermöglicht Zusatzdienste wie Verkehrsinforma- vor allem als Kunden, mit einigen von ihnen war er tionen für Autofahrer. Allerdings zeigt die Ta- befreundet. Analoge Synthesizer kamen wieder in gung, dass auch die Medienwissenschaftler un- Mode. Erst 2002 hatte Moog, der übrigens auf die sicher sind, welchem der unzähligen digitalen deutsche Aussprache seines Nachnamens Wert Hörfunk-Standards einmal der Durchbruch gelin- legte, wieder eine Firma gegründet: zum Bau und gen wird. Vertrieb von . Mit dem Bau dieser etwas in Vergessenheit geratenen elektronischen Instru- Einzig bei der Kurzwelle scheint die Richtung klar. mente – sie wurden in den 1950er Jahren gerne für Seit der Berliner Funkausstellung 2005 schickt etwa die Untermalung von Horror- und Science-Fiction- die Deutsche Welle ihr Programm per DRM (Digital Miszellen 49

Radio Mondiale) über den Äther. »Doch auch hier beiträge erweitert, Ende 2006 in Buchform veröf- mangelt es derzeit noch an Empfangsgeräten«, kri- fentlichen. tisierte Professor Hans J. Kleinsteuber von der Uni- Johannes Schiller, Leipzig versität Hamburg. Weitere Informationen zu Tagung: DRM soll rausch- und knackfreien Radioempfang  http://www.ikp.uni-bonn.de/ZfKM/ auch in entlegenen Gebieten ermöglichen. Für den RadiotagungDW/content_programm.html Auslandsrundfunk schaffe DRM völlig neue Mög-  http://www.dw-world.de/dw/article/ lichkeiten, zum Beispiel bei Demokratisierungspro- 0,2144,1807303,00.html zessen, hieß es bei der Deutschen Welle. Denn an- ders als bei der Programmverbreitung via Internet, sei beim Empfang per Antenne eine Zensur kaum »Das literarische Fernsehen«. möglich. Ein Symposium zu den Wechselbeziehungen von Fernsehen und Literatur. Als deutlichsten Radiotrend aber bewerten die Ta- gungsteilnehmer das so genannte Podcasting. Der Literatur und Fernsehen – bilden diese eine »Not- Hörer kann einzelne Sendungen per Internet abon- gemeinschaft«, wie es der ehemalige WDR-Redak- nieren. Sobald eine aktuelle Version verfügbar ist, teur WDR Martin Wiebel, formuliert? Sogar die Fra- wird diese auf seinen Rechner übertragen. Am ge, ob es Literatur im Fernsehen überhaupt gibt, ist Computer oder mit einem portablen MP3-Spieler zu stellen, wenn man wie Hubert Winkels das Ver- kann die Sendungen dann zeitversetzt angehört hältnis zwischen beiden Medien zuspitzt: Handelt werden. Vor allem aber ist es leicht, selbst Sender es sich bei Literatur und Fernsehen nicht um zwei zu werden und eigene Podcasts anzubieten. Das verschiedene Mediensysteme, die nach Eigenge- Radio bekommt einen Rückkanal, wird zu einem du- setzen funktionieren und nicht ineinander übertrag- alen, interaktiven Medium. bar sind? Das Podiumsgespräch, bei dem Drama- turgen aus Ost und West und der Literaturkritiker »Diese Form des Radios erlebt gerade einen un- Hubert Winkels mit Wissenschaftlern über »Lite- glaublichen Boom«, sagte der Leipziger Medi- ratur und Fernsehen: Eine wunderbare Freund- enwissenschaftler Professor Rüdiger Steinmetz. schaft?« diskutierten, stellte den Abschluss des »Digitalisierung, Individualisierung und damit na- Symposiums »Das literarische Fernsehen – Beiträ- türlich auch Podcasting werden die Radioland- ge zur deutsch-deutschen Medienkultur« dar. Orga- schaft deutlich verändern.« Als eine Art interak- nisiert wurde es von dem DFG-Forschungsprojekt tiver Rundfunk werde es aber keine Konkurrenz, »Literaturverfilmungen/Fernsehdramatik im DDR- sondern eine Ergänzung zum klassischen Radio Fernsehen«1 mit und im Deutschen Historischen sein. Museum Berlin und mit Unterstützung des Deut- schen Rundfunkarchivs Potsdam/Babelsberg vom Abseits der Industrieländer sieht die Situation an- 19. bis 22. Januar 2006. ders aus. »Technologien wie Podcasting haben für Entwicklungsländer derzeit noch keine Bedeutung«, Das Symposium bestand aus einer zweitägigen so Thimm. Sie warnte vor einem digitalen Graben, wissenschaftlichen Tagung und einem Begleitpro- der entwickelte und weniger entwickelte Weltregio- gramm mit vier außergewöhnlichen Literaturver- nen voneinander trennen könnte. filmungen des DDR-Fernsehens – »Anlauf/Rita«, »Irrlicht und Feuer«, »Selbstversuch« und »Guten Wie wichtig zum Beispiel in Südamerika das klas- Morgen, Du Schöne« – sowie Film- und Podiums- sische Radio ist, zeigten Bettina Ausborn und gesprächen mit vielen künstlerischen Zeitzeugen. Wolfgang Settekorn von der Universität Ham- burg. Sie haben untersucht, wie freie Radiosta- tionen im Regierungsauftrag Schulstunden als Radiosendung gestalten. Das Medium Radio ga- rantiere auf diese Weise einheitliche Bildungs- standards. 1 Das Teilprojekt »Literaturverfilmungen/Fernsehdramatik« am In- stitut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin ist eines von zehn Teilprojekten einer Forschergruppe »Programmge- Die etwa ein Dutzend Vorträge der Tagung wird schichte des DDR-Fernsehens« an den Universitäten Halle, Leipzig, Thimm, durch Ergänzungen anderer Forschungs- Potsdam und Berlin. 50 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Die Tagung verfolgte als ihr Hauptanliegen das auf erzählende Literatur und Dramatik hatte vor al- komplexe Verhältnis und die Interaktionen von Li- lem eine kultursoziologische Dimension. Als junges, teratur und Fernsehen in beiden deutschen Staa- unerprobtes Medium erhoffte sich das Fernsehen ten, wobei der Schwerpunkt jedoch beim DDR- über die tradierte Kulturtechnik Literatur nicht nur Fernsehen lag. So wurden in einem ersten Schritt eine ‚Sicherheit‘, sondern auch eine Form der Legi- auch eigene Forschungsergebnisse des DFG-Pro- timation und Nobilitierung. Worin sich die Fernseh- jektes vorgestellt, um dann im Vergleich zum Fern- systeme in ihrer Bearbeitung von Literatur jedoch sehspiel in Westdeutschland Gemeinsamkeiten, maßgeblich unterscheiden, ist die politisch-ideolo- Differenzen und gegenseitige Einflüsse herauszu- gische Einflussnahme. Zwar verfolgten beide Fern- arbeiten. sehsysteme gerade in der Vermittlung von Literatur einen dezidierten Kulturauftrag. Die Akzeptanz ei- Der Ansatz des DFG-Projektes versucht, den wis- nes staatlichen Führungsanspruchs wurde jedoch senschaftlichen Zugriff auf das Fernsehen in der von den öffentlich-rechtlichen Anstalten in der DDR zu erweitern. Statt vereinfachenden Instru- Bundesrepublik negiert, während in der DDR ein mentalisierungstheorien zu folgen, die das Fernse- volkspädagogisches Ziel stets formuliert blieb. hen vor allem als das Medium beschreiben, das in der DDR die stärkste politische Einflussnahme und Darauf, dass vor allem Erbe-Literatur und die zeit- Verstricktheit aufwies, wird plädiert, auch die äs- genössische Literatur von Autoren ‚der zweiten Rei- thetischen Spezifka der Formate als eigene Aus- he’, die eine Staatstreue etikettierte, verfilmt wur- drucksformen verstärkt zu untersuchen. Gleich- de, wies der Zensurhistoriker Siegfried Lokatis vom wohl will das Projekt die politische Indienstnahme Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung in Pots- der Medien durch den Staatsapparat nicht negie- dam in seinem Referat über den verfilmten lite- ren. In den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rarischen Kanon hin. In den Blick nahm er dabei rückte daher auch ein Begriff, der nach Reinhold vor allem die sogenannte »Leerstellen«. Namhaf- Viehoff von der Universität Halle, das Fernsehen te, jedoch kritischere DDR-Autoren, wie Christoph der DDR nicht nur in einer medienpolitischen und Hein, Christa Wolf oder Volker Braun, kamen sel- ästhetischen Binnenperspektive verankert, son- ten vor oder fehlten in den Produktionslisten voll- dern es vielmehr in einen interaktiven Prozess mit ständig. Diese Feststellung steht jedoch im Gegen- dem Fernsehen in der Bundesrepublik stellt – Fern- satz zu der Aussage des ehemaligen Dramaturgen sehen als »kontrastiver Dialog«. Dieser Dialog lässt des DFF, Alfried Nehring, der im oben genannten sich auf mehreren Ebenen analysieren, etwa beim Podiumsgespräch argumentierte, dass bereits ge- gegenseitigen Programmaustausch, in der Über- druckte, erfolgreiche Literatur als Vorlage für einen nahme von Konzepten, Genreelementen und gan- Fernsehfilm eine gewisse Freiheit im stark regle- zen Sendungen, sowie in intermedialen gegensei- mentierten Entscheidungsprozess des Fernsehens tigen Verweisen – vom einfachen Zitat bis hin zum der DDR bedeuten konnte. Dass diese Erfahrung je- Makrodesign fiktionaler Formate. Er lässt sich aber doch nur begrenzte Gültigkeit besaß, zeigt sich aber auch als Movens innerhalb einer historischen Ent- zum Beispiel in jenem Umstand, dass das Fernse- wicklung bei der Vermittlung von Literatur im Fern- hen der DDR erst 1989 auf einen literarischen Stoff sehen beschreiben, indem, wie die Vorträge von von Christa Wolf zurückgriff, den Alfried Nehring Knut Hickethier von der Universität Hamburg und als Dramaturg verantwortete, nämlich die Erzäh- Thomas Beutelschmidt von der Humboldt-Univer- lung »Selbstversuch« – eine eigenwillige formäs- sität Berlin belegten, die Rolle der »Literatur als thetische, nicht immer gelungene Literaturverfil- Starthilfe«, so der Titel von Hickethiers Beitrag zu mung, die im Begleitprogramm des Symposiums Entwicklungen in der Bundesrepublik, für beide im Zeughauskino des Deutschen Historischen Mu- deutsche Staaten gilt. So wurde, als das Gemein- seums vorgeführt wurde. schaftsprogramm der ARD am 1. November 1954 offiziell sein Programm startete, am Vorabend aus Neben klassischen Literaturadaptionen hat das dem Deutschen Theater in Göttingen Heinz Hil- DDR-Fernsehen auch eine ganz genuine Form der perts Inszenierung von Shakespeares »Was ihr Literaturvermittlung entwickelt, die im bundesrepu- wollt« übertragen. Auch in der DDR bezog sich das blikanischen Fernsehen so nicht vorkam. Die Son- Fernsehen von Beginn an auf Literatur, die Sen- der- und Mischformen stehen, wie Henning Wrage dung »Das gute Buch« hatte gerade drei Tage nach von der Humboldt-Universität Berlin in seinem Vor- Start des Versuchsprogramms am 24. Dezember trag aufzeigte, als singuläre Momente in der Ver- 1952 ihre Premiere. Dieser anfänglich starke Bezug knüpfung von Fernsehen und Literatur, in denen he- Miszellen 51 terogene Versatzstücke von Literaturpräsentationen »Von der ‚Fresswelle‘ zum Gourmetboom«. und szenischen Adaptionen verschmelzen. Jenseits Der mediengeschichtliche Aspekt eines hochkulturellen Auftrags weisen diese Hybrid- eines Forschungsprojekts am Institut für formen, so seine These, in ihrer offenen Form eher Neuere Geschichte der Universität Dortmund Nähe zur Moderne auf und stellen daher Gegenent- würfe zu traditionellen, geschlossenen Formen von Seit einigen Jahren verfolgt der Autor, dass das Literaturadaptionen dar. Fernsehen mit Kochsendungen ein großes Publi- kum erreicht. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht in- Einen weiteren wesentlichen thematischen Schwer- teressieren die wirtschaftlichen Aspekte, die im Hin- punkt der Tagung bildete das Theater im Fernse- tergrund des öffentlichen Kochens stehen. Daraus hen, dessen Geschichte, Formenvielfalt und äs- entstand das Promotionsprojekt »Von der ‚Fress- thetisches Spektrum in der Bundesrepublik Peter welle’ zum Gourmet-Boom. Die kulinarisch-öko- Seibert – Universität Kassel – und Inga Lemke – Uni- nomische Expansion der deutschen Esskultur unter versität Paderborn – erörterten. Neben der Grund- Berücksichtigung der Rolle des Marketing«. these von Seibert, dass Mediengeschichte auch »in- vers« geschrieben werden müsste, um den Einfluss Aus verschiedenen Marktuntersuchungen ist er- von Fernsehen »auf« Theater und Literatur zu ex- sichtlich, dass die anspruchsvolle Küche, raffi- emplifizieren, beobachtete Lemke beispielhaft bei nierte Rezepte und ethno-kulturelle Speisespezi- Aufführungen von Stücken von Samuel Beckett und alitäten in der deutschen Bevölkerung eine hohe Peter Zadek, dass das Spektrum der Theaterverfil- Wertschätzung genießen. Im Jahr 2005 haben sich mungen in der Bundesrepublik seit den 60er Jah- für diese Themenpalette annähernd acht Millionen ren nicht mehr vorrangig auf einer fernsehspezifi- Bürger interessiert.1 Über zwei Millionen dieser Ziel- schen Eignung basiert: Theater im Fernsehen, so gruppe kaufen sich regelmäßig eine der insgesamt argumentierte sie, fungierte immer auch als Spiel 30 sogenannten »Food-Zeitschriften«. Laut Allens- oder Kommentar zum Medium Fernsehen und sei- bacher Werbeträger Analyse 2005 haben sie eine nen produktionsästhetischen Gesetzen. In der DDR monatliche Reichweite von deutlich über vier Mil- ließ sich dieses Spiel mit den Grenzen des Medi- lionen Lesern.2 Eine weitere Marktanalyse besagt, ums eher auf der Ebene einer Komik beobachten. dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die So führte Steffi Schültzke von der Universität Hal- sich selber als »Feinschmecker« bezeichnen, auf le für das Fernsehtheater Moritzburg aus, dass Ko- rund zehn Millionen gewachsen ist.3 Auf sie war- mik eben genau dort entstand, wo sie unbeabsich- ten fast tausend Speiserestaurants, deren Küche tigt war und verwies auf eine weitere Fragestellung, im Jahr 2006 von den sechs etablierten Restaurant- die während der Tagung jedoch nur beiläufig ge- Führern Michelin, Varta, Gault-Millau, Aral, Ber- streift werden konnte – die Zuschauerrezeption, de- telsmann und Feinschmecker als exzellent bewer- ren Autonomie auch darin bestand, »anders« zu se- tet wurden.4 Diese Daten begründen einerseits die hen oder aus- oder wegzuschalten. Bezeichnung »Gourmet-Boom« im Arbeitstitel. Ein Vergleich mit der Restaurantsituation zu Beginn der Mit überraschenden Gemeinsamkeiten, aber auch 60er Jahre kommt dem zweiten Teil des Arbeitsti- erheblichen funktionalen und ästhetischen Unter- tels näher: der Varta-Restaurantführer listete 1960 schieden in Ost und West ließ sich das nicht un- lediglich rund 70 Restaurants mit einer »hervorra- problematische Verhältnis von Literatur im Fernse- genden, weithin bekannten Küche«, nur zehn Res- hen bestimmen. Insgesamt war dieses Symposium nicht nur das Beispiel einer gelungenen Zusammen- arbeit von Humboldt-Universität und Deutschem Historischem Museum. Es bot auch die Möglich- 1 Laut Allensbacher Werbeträger Analyse AWA 2005: 7,85 Millio- keit, Wissenschaft an prominentem Ort einem brei- nen. teren Publikum zu präsentieren. 2 Laut AWA 2005 liegt die Gesamtreichweite bei 4,35 Millionen. Den Christiane Breithaupt, Berlin Markt teilen sich die großen deutschen Publikumsverlage Gruner & Jahr (35%), Burda (32%), Heinrich Bauer (18%) und Jahreszeitenver- lag (7%) sowie andere (8%), Quelle: Der Markt für Essen, siehe FN 14. 3 In: Der Markt für Essen und Genießen. Getränke und Foodtrends. Focus Verlag München, 2002, S. 25. Die Feinschmecker sind auch überdurchschnittliche Verwender von Convenience-Produkten, eben- da S. 27. 4 Restaurants, die mindestens 15 Punkte bei allen Gastro-Führern erreichten. Vgl. http://www.restaurant-hitlisten.de/bewertung.htm. 52 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) taurants erhielten die Spitzenbewertung »internati- dem in den 70er Jahren die neuen Zeitschriften »Es- onal berühmte Küche«.5 sen & Trinken«, »Der Feinschmecker« und »Gour- met« aufbauten und so den neuen Kochtrend der Ein Projektziel ist es herausfinden, welche wirt- »Nouvelle Cuisine« forcieren konnten. schaftlichen Einflüsse, gesellschaftlichen Rahmen- bedingungen und kulturellen Impulse an der Ent- Ein weiteres Zwischenergebnis betrifft das zwei- wicklung vom kulinarischen Ausgangspunkt der te große Medium, das Fernsehen. Bereits im Start- 50er Jahre, einer Dekade, die man allenthalben mit programm des Deutschen Fernsehens vergab der dem Begriff »Fresswelle« abzubilden versucht, zu NWDR einen Sendplatz an eine Kochshow. Sie den Gourmet-Höhen der Gegenwart beteiligt wa- ging am 20. Februar 1953 um 21.30 Uhr unter dem ren. In einer ersten Phase des Projekts wurden die Namen »Bitte, in 10 Minuten zu Tisch. Kochkunst Vorannahmen überprüft, die den Begriff »Fresswel- für eilige Feinschmecker« auf Sendung. Das Kon- le« zur häufig gebrauchten Umschreibung des Ess- zept stammte von dem Schauspieler Clemens verhaltens in Nachkriegsdeutschland machten. Die Hahn, der als erster deutscher Fernsehkoch un- Ergebnisse der Hamburger Forschungsstelle zur ter dem Namen Clemens Wilmenrod auftrat. Die Zeitgeschichte 6 zum Maßstab gewählt, verdeutli- Sendung entwickelte sich zur festen Größe im öf- chen, dass der Alltag der 50er Jahre weit differen- fentlichen Bewusstsein. Wilmenrod selber errang zierter war, als das vielfach transportierte Bild vom Star- und Kultstatus, obwohl er nur zweimal im Mo- ‚feisten’ Deutschen. Jenseits der unkritisch verbrei- nat auf Sendung ging. Ungeachtet seiner begrenz- teten Zahlen eines angeblich riesigen Fleischver- ten kochhandwerklichen Fähigkeiten verstand er brauchs7 gilt es danach zu fragen, welche Vorbilder es sich selbst zu vermarkten und nutzte seine Be- das deutsche Ernährungsverhalten im Lebensalltag kanntheit für den Abschluss lukrativer Werbeverträ- jener Zeit geprägt haben. Wie man von Befragun- ge mit der deutschen Lebensmittel- und Haushalts- gen weiß8, spielten Kundenzeitschriften, die bei den warenindustrie von Bosch bis Hertie.12 Lesern außerordentlich beliebt waren, eine wichtige Rolle, insbesondere deren Rezeptseiten galten als eine Rubrik, die starke Beachtung fand. Die rhetori- 5 Nach dem Sterne- bzw. Punkte-System von heute verzeichnet sche Darstellung der Gerichte, ihre Namensgebung, die Varta-Rangliste im Jahr 2006 acht Restaurants auf dem Spitzen- die Beschreibung ihrer Zubereitung, die Präsentati- niveau (entsprechen 3 Michelin-Sterne), 29 könnten 2 Michelin-Sterne on neuer Geschmacksrichtungen anhand abwechs- führen und 236 wären mit 15 Punkten nur einen Punkt vom einfachen lungsreicher Zutaten, eignen sich zur Rekonstrukti- Michelin-Stern entfernt, vgl. http://www.restaurant-hitlisten.de/ bewertung.htm. on der Strukturen eines kulinarischen Bewusstseins 6 Hier nur drei Beispiele: Axel Schildt und Arnold Sywottek (Hrsg.): der 50er Jahre. Die Untersuchung der Rezeptseiten, Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft Küchenzettel und Ratschläge zum Kochen lassen der 50er Jahre. Aktualisierte und ungekürzte Studienausgabe. Bonn 1998. den Schluss zu, dass neue Speiseakzente, der Ge- Michael Wildt:Die Kunst der Wahl. Zur Entwicklung des Konsums brauch exotischer Gewürze, innovative Trends und in Westdeutschland in den 1950er Jahren. In: Hannes Siegrist feinschmeckerische Details sowohl von Mittel- als u.a.(Hrsg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gellschafgts- und auch kleinbürgerlichen Schichten rezipiert wurden. Kulturgeschichte des Konsums. Frankfurt1997, S. 307–325. 7 Die auch als widerlegt gelten können, vgl. Michael Wildt: Abschied Das heute kursierende Bild von der kollektiven und von der ‚Freßwelle’ oder: die Pluralisierung des Geschmacks. Essen in maßlosen Völlerei jener Jahre ist ein Klischee, das der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre. In: Alois Wierla- von der Wirklichkeit weit entfernt war. cher u.a. (Hrsg.): Kulturthema Essen, Berlin 1993, S. 211–225. 8 Vgl. Horst Kerlikowsky: Die Kundenzeitschrift. Berlin 1967, S. 234ff. Die bisherigen Untersuchungen führen zum Ergeb- 9 Wie »Die Kluge Hausfrau« (Edeka), »Rewe-Post«, »Die Spar-Fami- nis, dass die großen Kundenzeitschriften der 50er lie« oder »A&O der Hausfrau«; sie erschienen wöchentlich in einer Auf- Jahre 9, sowie diejenigen des Bäcker- und Fleischer- lage von über drei Millionen Exemplare. 10 Etwa »bäckerblume«, »Auf Wiedersehen« (heute »Lukullus«) sowie 10 handwerks und der Milchwirtschaft zusammen mit »dein Blatt – frisch und froh« (Milch). den auf die Hausfrau fokussierten Ratgeber-Zeit- 11 Z.B. »Ratgeber für Haus und Familie«, 1901 gestartet als Kunden- schriften11, einen beträchtlichen Einfluss auf das zeitschrift für »Weck«-Gläser, seit 1978 bis heute als »Ratgeber für Frau und Familie« erhältlich, monatlich verkaufte Auflage von 250.000 Essverhalten und Essbewusstsein der Deutschen Exemplare. hatten. Insofern kann man sie als die direkten Vor- 12 Wie unangreifbar populär Wilmenrod war, lässt sich daran able- läufer der Foodzeitschriften bezeichnen, die mit der sen, dass »Der Spiegel« erst Mitte 1959, nach 130 Sendungen, eine Ti- Publikation »Ich und meine Familie« 1966 zum ers- telgeschichte über ihn brachte, die sich den Anschein gab, ihn vom Sockel zu stoßen, dabei war er seit 1958 nur noch einmal im Monat auf ten Mal auf dem Markt auftauchten. Das Medium Sendung und das am Samstagnachmittag. Vgl. Der Spiegel, 13. (1959), Kundenzeitschrift hat somit das Terrain bereitet, auf Nr. 26, 24.6.1959, S. 47–57. Miszellen 53

Wilmenrod ist aber nicht nur Zeuge dafür, dass ,Pro- Die Medienbestände duct-Placement‘ schon von Anfang an zum Fern- des Historischen Archivs des WDR sehbetrieb gehörte. Durch seine Person gewann das Essen selbst an Popularität und wurde ein öf- Bereits im Jahr 1998 ist in dieser Zeitschrift (RuG fentliches Thema. Bislang kaum untersucht sind 1/1998) ein Artikel über das Historische Archiv des die konkreten wirtschaftlichen Impulse, die von Wil- WDR erschienen. Die Zahl der verzeichneten und un- menrods Kochsendung ausgingen, so beispielswei- verzeichneten Bestände hat sich seit dem wesent- se die Stimulierung der Nachfrage beim Lebensmit- lich erhöht. Die Recherchemöglichkeiten und der telhandel, die seine Rezeptempfehlungen auslösten. Servicestandard haben sich erheblich verbessert. Ab 1954 gab Wilmenrod die Rezepte im Fachblatt »Lebensmittelzeitung« bekannt, sodass der Handel Im WDR ist ein Historisches Archiv seit 1964 ausge- sich rechtzeitig bevorraten konnte. Ebenfalls gingen wiesen, damals war es noch als Stabsstelle an die von Wilmenrods Sendung Impulse für das Verlags- Hörfunk-Sendeleitung gebunden. Die damalige Lei- wesen aus. Beim Buchverlag Hoffmann&Campe er- terin sah es als ihre primäre Aufgabe an, Zeitzeug- schien schon 1954 die erste Rezeptsammlung Wil- nisse und Quellen zur Geschichte der Vorgängeran- menrods, drei weitere Bücher folgten. Ebenfalls stalten WEFAG, WERAG und des Reichsenders Köln erfolgreich war Wilmenrods Konkurrent Hans Karl zu sammeln. Sie knüpfte daher zahlreiche Adam, der von 1958 bis 1964 für den Bayerischen mit noch lebenden Zeitzeugen und konnte eine Rei- Rundfunk kochte und über 50 Bücher veröffentlich- he von Quellen – Manuskripte, Korrespondenzen, te. Ulrich Klever, Fernsehkoch beim ZDF von 1968 Fotos, Kompositionen, Werbemittel etc. – und die bis 1972, übertraf beide im publizistischen Schaffen. Gründungsakten zusammentragen, die noch heute Seit den 60er Jahren bis 1990 hat Klever weit über den Grundstock der dokumentarischen Sammlung 200 Bücher rund ums Essen veröffentlicht. Diese bilden. Dieser Sammelbestand wurde weiter durch wenigen Beispiele sollen an dieser Stelle genügen, die zufällige und nichtsystematische Überlieferung um die volkswirtschaftlichen Anstöße anzudeuten, von Schriftstücken aus der englischen Besatzungs- die vom Medium Fernsehen zum Thema Essen aus- zeit zum Aufbau des Funkhauses nach dem Krieg, gegangen sind. Ein weiteres Erkenntnisziel liegt in wie auch zur personellen Besetzung durch den In- der Untersuchung der Kommunikationseffekte, die tendanten Burghardt ergänzt. zwischen Sender und Zuschauer oder Zuhörer von Kochsendungen der 50er Jahre ausgingen und die- 1976 folgte als Leiterin die ehemalige Chefsekretä- se auf kulinarische Implikationen zu überprüfen. Im rin des ausgeschiedenen WDR-Intendanten Klaus Staatsarchiv Hamburg lagern Akten mit Hörerpost von Bismarck, Eleonore Fuhr, die nun aus der klei- und Presseecho zu Wilmenrods Sendungen, ihre nen Sammelstelle eine Dokumentationsstelle für Analyse wird die nächste Projektaufgabe sein. die WDR-Geschichte machte, indem sie einen Ka- Jochen Darmstädter, Dortmund talog aufbaute, der den Zugriff über eine biografi- sche, chronologische sowie über eine Stichwortkar- tei ermöglichte. Eleonore Fuhr erkannte, dass sich die Geschichte des Senders nur mit Hilfe der Pri- märquellen nachzeichnen lässt und sorgte dafür, dass die Überlieferung der wichtigsten Akten, de- rer sie noch habhaft werden konnte, eingeleitet wur- de und die Akten in einem ersten Schritt erschlos- sen wurden. Ihre Nachfolgerin, Christa Nink, leitete 1989 schließlich die Umwandlung der Dokumenta- tionsstelle in ein klassisches Unternehmensarchiv ein, das heißt dass die Übernahme die historisch re- levanten Akten nach Bewertungskriterien des Histo- rischen Archivs des WDR und deren Verzeichnung nach archivwissenschaftlichen Regeln erfolgt und ein Datenbankprogramm genutzt wird.

Seit den 90er Jahren stellte sich das Historische Archiv mehreren Strukturveränderungen. Der Ein- gliederung in das WDR-Printarchiv mit Verlust der 54 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Selbständigkeit folgte zuletzt die Anpassung an Hauses die rechtlichen Rahmenbedingungen, als ein neues, prozessorientiertes Organisationsmo- Finanz- und Veraltunsdirektor behielt er den Etat- dell mit dem Ergebnis, dass das Historische Archiv rahmen im Auge und war für alle verwaltungstech- des WDR dem Bereich Recherche zugeordnet wur- nischen Abläufe zuständig. de und in der Fachgruppe Historisches Archiv und Medieninformation aufgegangen ist, die auch noch H Ö RFUNK: Sendeprotokolle und Programmfah- eine Reihe zentraler Informationsdienstleitungen zu- nen, ab 1946 als Mikrofiche bzw. auf CD-Roms. Be- sätzlich übernimmt. Seit den 90er Jahren hat sich stand des HF-Direktors Fritz Brühl, Bestände aus das Aufgabenspektrum in wechselseitiger Bezie- den Bereichen und Redaktionen Kultur, Politik und hung zu den Beständen des Historischen Archivs Musik. Neben zahlreichen Sendemanuskripten fin- stark erweitert. det sich Hörerpost, sowie interne und externe Kor- respondenz. Der inzwischen abgewickelte Schul- funk ist vollständig im Archiv verwahrt, aber noch Die Bestände des Historischen Archivs nicht verzeichnet. Die Jugendsendung »Radiothek« des WDR im Überblick und viele andere Jugend- und Kindersendungen lie- gen vor. Die Sendereihe »Samstagabend in WDR 3« liefert ein gutes Bild über den Zustand des Lan- Aktenarchiv des NRW in den 70er und 80er Jahren, das »Zeitzei- Das Aktenarchiv beinhaltet mit rund 13.000 ver- chen« bietet bis in die Gegenwart lebendige Beiträ- zeichneten und mindestens ebensoviel unverzeich- ge zu allen Bereichen des kulturellen Lebens. neten Akten, Schriftgut aus fast allen Bereichen des NWDR und WDR. FERNSEHEN: Sendeakten der Sendereihe »Hier und Heute«; Schulfernsehen; Fernsehfilm; Unter- NWDR-Bestände lagen der Redaktionen Unterhaltung, Politik – z.B. Kulturelles Wort insbesondere Kinder-, Frauen-, Monitor, Kultur, Wissenschaft, Kunst, Theologie und Land- und Kirchenfunk, Literatursendungen, Schul- Kirche, Kinderfernsehen. Ausgenommen sind hier funkakten mit Korrespondenz, Hörspiel-Manuskrip- die Akten des NWRV. te, Manuskripte aus dem Bereich Politik, Akten des Justiziariats 1948-1955 sowie verschiedene Einzelü- TECHNIK UND PRODUKTION: Mehr als 180 Akten berlieferungen aus anderen Bereichen des Hauses, aus dem Produktionsbereich von den 60er bis 80er z.B. Bauabteilung und Musikredaktion. Die meisten Jahren sowie Akten der Grafik. Die Akten der Hör- Überlieferungen setzen erst 1952, mit dem Jahr des funk- und Fernsehtechnik und der Bauabteilung in Umzuges in das Funkhaus Wallrafplatz, ein. Auswahl, sind zum großen Teil noch unverzeichnet.

WDR-Bestände KURZBIOGRAPHIEN: Kurzbiografien von rund INTENDANZ: Bestand des NWDR/WDR-Intendan- 600 WDR-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. ten Hanns Hartmann 1947–1960, Bestand des Inten- danten Klaus von Bismarck 1961–1976. Die Bestän- BESTANDSÜBERSICHTEN: Mehr als 100 Be- de der Intendanten Friedrich-Wilhelm von Sell und standsübersichten geben eine Einführung in wich- Friedrich Nowottny sind noch unverzeichnet. tige Bestände.

JUSTIZIARIAT: Bestand von Hans Brack (1948– 1974), zugleich Verwaltungs- und Finanzdirek- WDR im Bild tor. Hier finden sich umfangreiche Sachakten zu Die Historische Fotosammlung zur Rundfunkge- allen anstehenden juristischen Fragen des Sen- schichte bis 1945. Fotos zu Personen, Technik ders. Technische und politische Fragen zur Einfüh- und Gebäuden. Produktionsfotos aus Hörfunk und rung von UKW und Fernsehen und Stereofonie sind Fernsehen des NWDR und WDR. Die Fotos sind hier genauso berührt, wie die Vorbereitungen und zum Teil digitalisiert. rechtliche Probleme in Baufragen. Personal- und tarifrechtliche Auseinandersetzungen schlagen Plakatsammlung sich hier nieder, wie Fragen nach Gebühren, Entgel- Die Plakatsammlung von rund 3000 NWDR- und ten und Steuerrecht. Die Liquidation des NWDR ist WDR-Plakaten ab 1952. Thema, ebenso der Aufbau der juristischen Struktur des WDR. Der Justiziar setzte für alle Bereiche des Miszellen 55

Objektdokumentation »Theorien und Methoden Die Objektdokumentation mit einer Sammlung von der Kommunikationsgeschichte«. Merchandisingartikeln, historischer Sende-Epis 20 Jahre »medien&zeit« (Fernsehstandbildern) bis ca. 1980, z.B. Pausen- und Jahrestagung der Fachgruppe standbilder – »Wir schalten um nach…«, Programm- Kommunikationsgeschichte der DGPuK vorschauen für Zuschauer aus der damaligen DDR, in Wien vom 19. bis 21. Januar 2006 Vor- und Nachspänne zu Fernsehproduktionen, Sti- cker, museale Stücke rund um den WDR, z.B. Mi- Auftakt: 20 Jahre »medien&zeit« niatur-Studiodekoration für Wahlsendungen oder Hintergrundgrafik für die Gestaltung des »Berich- Die kommunikationshistorische Fachzeitschrift tes aus Bonn«. »medien&zeit« erscheint seit 1986 in Wien und wird vom Arbeitskreis für historische Kommuni- Technische Sammlung kationsforschung (AHK) herausgegeben. Dieser Die Technische Sammlung mit historischer Produk- nahm den runden Jahrestag zum Anlass, 20 Jah- tionstechnik des WDR, z.B. Kameras, das soge- re »medien&zeit« im Rahmen eines akademischen nannte »Farbfernsehlabor«, Hörfunkstudioausstat- Festakts im Festsaal der Universität Wien zu be- tungen, Filmabtaster. gehen. An den beiden folgenden Tagen lud der Arbeitskreis für historische Kommunikationsfor- schung in Kooperation mit dem Institut für Publi- Service und Dienstleistungen zistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni- versität Wien zur Jahrestagung der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte der Deutschen Gesell- Das Historische Archiv des WDR liefert intern Da- schaft für Publizistik- und Kommunikationswissen- ten, Hintergrundinformationen, sowie Material und schaft. Die Alma Mater Rudolphina Vindobonensis Unterlagen vor allem für Hörfunk- und Fernseh- war für drei Tage zum Nabelpunkt der Kommunika- sendungen, Publikationen, Öffentlichkeits- und tionsgeschichte geworden. Pressearbeit, Reden, Jubiläen. Extern unterstützt das Historische Archiv wissenschaftliche Arbeiten, Dem Selbstverständnis des Arbeitskreises entspre- Buchprojekte und Ausstellungen. Anfragen kom- chend, wurde das Programm des Festakts an das men aus nahezu allen Bereichen der Wissenschaft, kurz zuvor zu Ende gegangene so genannte Gedan- da das WDR-Programm alle diese Fragen abdeckt. kenjahr – als in Österreich politisch motivierte Über- Nachdem die Organisationsgeschichte in den letz- formung und Umdeutung des Begriffs »Gedenk- ten Jahren weitgehend geschrieben scheint, wen- jahr« – angelehnt. Dem europäischen Gedanken det sich die Rundfunkgeschichte nun verstärkt dem verpflichtet, war »Europäische Erinnerungskultur« Programm zu. Hier kann das Historische Archiv des das Leitthema, dessen Dimensionen gleicherma- WDR eine Fülle von Beständen anbieten. ßen literarisch wie wissenschaftlich ausgeleuchtet Petra Witting-Nöthen, Köln wurden und letztlich auch in die »Zukunft der Erin- nerung« münden sollten. Kontaktadresse: Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz präsen- tierte in genuin für den Festakt angestellten Über- Historisches Archiv und Medieninformation legungen einen Rückblick auf die Ereignisse und Frau Petra Witting-Nöthen Versäumnisse des Gedankenjahres, aus der fein- Appellhofplatz 1 geistigen, sehr persönlichen, dennoch generalisier- 50667 Köln baren Sicht einer Literatin. Vor rund 250 Besuche- Tel.: 0221/220-2767 rinnen und Besucher diskutierte im Anschluss daran Fax: 0221/220-8638 eine prominent besetzte Podiumsrunde – der Kom- Mail: [email protected] munikationswissenschafter Thomas A. Bauer, der Historiker und Bruno-Kreisky-Preisträger Oliver Rathkolb, die Kulturwissenschafterin und Histori- kerin Heidemarie Uhl sowie der Leipziger Ost- und Ostmitteleuropa-Historiker Stefan Troebst – unter der Leitung des Wissenschaftsreferenten der Stadt Wien, Hubert Ch. Ehalt, über die Un-Möglichkeit eines gemeinsamen »europäischen Gedächtnis- 56 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) ses«. In dieser Runde wurde gleichermaßen vom posium am 1. und 2. Dezember 2005, aus dem Ende der kollektiven Geschichte, vom Traum ge- kommunikationshistorischen Bereich. Dies ist nicht meinsamer europäischer Geschichte und von der zuletzt ein Leistungsindikator der Kommunikations- Unmöglichkeit einer verbindlichen Geschichte über geschichte an diesem Institut. nationale Grenzen und Perspektiven hinweg ge- sprochen. Wolfgang Duchkowitsch aus Wien unterstrich in seinem Eröffnungsstatement die Konnektivität Die Gelegenheit, auf seine eigene Geschichte zu- kommunikationshistorischer Forschung, indem er rückzublicken nutzte »medien&zeit« zugleich auch einerseits an die Wiener Tagung »Wege zur Kommu- als Ausgangspunkt, um seine eigene Zukunft zu nikationsgeschichte« von 1986 erinnerte und solche präsentieren. Das Internet-Fachinformationssys- Settings als jene diskursiven Rahmen bezeichnete, tem www.medienundzeit.at wird künftig als virtu- in denen Geschichtsdiskurse und Diskurse über die elle Manifestation des kommunikationshistorischen Kommunikations-Geschichte stattfinden sollten. Netzwerks dienen und soll – ähnlich der Grenzüber- Die solcherart umrissene Zielsetzung dieser Tagung schreitung in den elektronischen Raum – die Gren- komplettierte DGPuK-Fachgruppensprecher Mar- zen des Fachs erweitern: epistemologisch wie auch kus Behmer aus München unter Verweis auf das geographisch. »legendäre« Plädoyer Wolfgang R. Langenbuchers, das dieser in der Rundfrage zur »Zukunft der Kom- DGPuK-Jahrestagung der Fachgruppe munikationsgeschichte« schon in »medien&zeit«- Kommunikationsgeschichte: Ausgabe 3/1987 so übertitelte: »Kommunikations- »Theorien und Methoden geschichte endlich schreiben«. Diese Tagung sollte der Kommunikationsgeschichte« helfen, diesem Ziel bedeutende Schritte näher zu kommen. Eingedenk dieser Programmatik konsta- Gedanklich geleitet von der »historischen« Grün- tierte Behmer, das Fach habe in den vergange- dungstagung von »medien&zeit« im Jahr 1986 – nen 20 Jahren seine Wege zur Kommunikationsge- DGPuK-Jahrestagung »Wege zur Kommunikati- schichte weiter ausdifferenziert – dies spiegle sich onsgeschichte« –, wurden am 20. und 21. Januar daher folgerichtig auch im Vortragsprogramm wider. am Campus der Universität Wien Stand und Ent- Der erste Tag stand im Zeichen theoretischer Zu- wicklung des »kommunikationswissenschaftlichen gänge zur Kommunikationsgeschichte, der zweite Denkfachs« erörtert: In einer gemeinsamen Tagung Tag war der Methodologie gewidmet. des Herausgebergremiums von »medien&zeit«, dem Arbeitskreis für historische Kommunikations- Theorien der Kommunikationsgeschichte forschung, und der Fachgruppe Kommunikations- Den Auftakt bildete das Panel »Kommunikationsge- geschichte in der Deutschen Gesellschaft für Pu- schichte – gesellschaftswissenschaftliche Perspek- blizistik- und Kommunikationswissenschaft DGPuK tiven«: Horst Pöttker aus Dortmund, zurzeit Gast- wurde den »Theorien und Methoden der Kommu- professor in Wien – stellte die vielleicht rhetorische nikationsgeschichte« nachgespürt. Rund 70 Kom- Frage: »Wozu noch Kommunikations-Geschichte?« munikations-, Medien- und Kulturwissenschaftler Dies tat er freilich unter Verfolgung einer provokan- sowie Interessenten aus anderen Fachbereichen ten These, wonach Geschichte, Tendenzen in Wis- folgten der Einladung nach Wien, darunter Teil- senschaft und Wissenschaftspolitik folgend, auch nehmerInnen aus Österreich, Deutschland, der abgeschafft werden könnte: Tradition als Zukunfts- Schweiz, den Niederlanden, Großbritannien, der bremse? Geschichte als bloßes »Reservoir für An- Tschechischen Republik, der Slowakei und den ekdoten«? Geschichtsbewusstsein ohne moralisie- USA. rende Konnotation? Pöttker erläuterte gerade anhand solcher Fragen Die Eröffnung nahm der Dekan der Fakultät für So- die Sinnhaftigkeit von Geschichte, indem er sich in zialwissenschaften der Universität Wien, Rudolf einer dialektischen Perspektive jenen Paradigmen Richter, vor. Hervorzuheben war für ihn insbeson- widmete, wie Geschichte zu schreiben sei: Entge- dere die Tatsache, dass alleine im zum Zeitpunkt der gen positivistischer Positionen, die die Singularität Tagung laufenden Wintersemester drei internationa- der Vergangenheit betonen, sollte Nietzsches »Ge- le Tagungen unter der Ägide des bzw. in Kooperati- genkonzept« zur Hilfe genommen werden und eine on mit dem Institut für Publizistik- und Kommunika- neue Form des »Erzählens« unter stetem Gegen- tionswissenschaft der Universität Wien stattfanden, wartsbezug forciert werden. Um diese Ansprüche davon auch eine weitere, das Ernest-Dichter-Sym- zu erfüllen – als Beispiel nannte Pöttker eine »ge- Miszellen 57

genwartsbezogene Geschichte des Journalismus« Prägung Differenzierungsvorgänge erklären kann – müsste sich das Fach auch vermehrt auf die An- und als Alternative ein Ansatz vorgeschlagen, der wendung empirischer Methoden auf die Vergangen- darauf gerichtet ist, die systemtheoretische Sicht- heit konzentrieren. weise durch eine akteursbezogene, eine hand- lungstheoretische Perspektive zu ergänzen. Arnold Rainer Gries aus Wien plädierte in seinem Vortrag versuchte, die disparate Bezugnahme der beiden dafür, »Kommunikationsgeschichte als Kulturge- »großen« Theoriegebäude aufeinander, miteinan- schichte« zu verstehen. In solch einem bislang noch der zu verbinden. kaum explizierten Konzept ortet er »Beziehungs- probleme« zwischen diesen beiden lediglich »sub- »Faktoren des Wandels in der Mediengeschichte« kutan« zusammengedachten Perspektiven. Dabei standen im zweiten Panel zur Diskussion, wenn- sei etwa eine »Kulturgeschichte des Kommunizie- gleich die Benennung dieser Abschnitte schon im rens« deutlicher Ausdruck oft strapazierter, selten Vorfeld weder die Trennschärfe zwischen den Pa- jedoch tatsächlich praktizierter Transdisziplina- nels noch die Idealtypenbildung innerhalb der Bei- rität. Der Paradigmenwechsel sei in anderen Be- träge einforderte. reichen sehr viel deutlicher vollzogen, der Cultural »Die Wissenssucht der Moderne und ihre Dealer« Turn hin zu »Alltagsgeschichte« oder ähnlich gear- – Kurt Imhof aus Zürich forderte von der Kommu- teten Phänomenen in der Geschichtswissenschaft nikationsgeschichte ein, Konstruktions- und De- mittlerweile bereits fester curricularer Bestandteil. konstruktionsprozesse von Geschichte in der Ge- Bedeutungs- und Sinntexturen, Narrationen »des sellschaft zu analysieren; exemplifiziert anhand Selbst/des Anderen«, »des Gegenwärtigen/des des Themas »Geschichte«, anhand der verbreiteten Vergangenen« würden in kulturwissenschaftlicher Sehnsucht nach Geschichte-n und deren Distribu- Perspektive selbstverständlich über Kommunika- enten. Warum, wie und unter welchen Bedingun- tionen vermittelt. Warum werde dies nicht für das gen entstehen welche Geschichtskonstruktionen? Selbstverständnis der Kommunikationsgeschich- Über Typologien von Sozialfiguren, Mechanis- te nutzbar gemacht – oder auch der Kommunika- men von Sinnstiftung und die Rolle von »Experten« tionswissenschaft insgesamt? Der notwendigen in modernen Gesellschaften gelangte Imhof zur Weitung des begrifflichen Werkzeugs steht Gries Schnittstelle Wissenschaft/Öffentlichkeit. Die Wis- aufgeschlossen gegenüber. Warum sollte nicht senschaftssprache müsse in eine Mediensprache das Selbstverständnis der Kommunikationsge- übersetzt werden, damit auch in der öffentlichen schichte für ein derart breites Spektrum an Fragen Wahrnehmung Relevanz und Reputation der Kom- zuständig sein? Kulturelle Aushandlungsprozesse munikationsgeschichte unter Beweis gestellt wür- über Sinn weisen langfristig stabile Strukturen auf, den. Denn in der »expertensüchtigen« Gesellschaft die sich über Kommunikation ereignen – jedoch ist popularisierte Wissenschaft gefragt, die Kom- entgegen dem DGPuK-Selbstverständnis über in- munikationswissenschaft, wie auch die Kommuni- terpersonale Kommunikation. Alltagshandeln und kationsgeschichte, als eine Leitwissenschaft dieser Rituale scheinen hier wichtiger als massenmedia- Gesellschaft sollte ihre »Dealer-Funktion« wahrneh- le Kommunikation. Dem notorisch geäußerten Ein- men – nur müsste sie sich ihrer blinden Flecken be- wand der Quellen- und Methodenproblematik be- wusst werden. gegnete Gries antizipativ, indem er heuristische Rudolf Stöber aus Bamberg dekonstruierte in sei- Vorgehensweisen anregte, anstatt auf empirische nem Vortrag die wechselvolle Beziehung zwischen Beweisführungen zu pochen. Eingedenk nöti- den für das Fach zentralen Substantiven Medien ger epistemologischer Grenzziehungen verwies und Zeit. Das interdependente Verhältnis von Me- er beispielhaft auf das Generationenparadigma, dienentwicklungen und Zeitkonstrukten wurde aus das Spezifika kommunikativer Habitualisierungen, historischer Perspektive erläutert. Innovations- und etwa in der Kreation von Eigen- und Fremdbildern, Lebenszyklen von Medien, der Einfluss der Medien- aufweise und so notwendigerweise auch Erkennt- nutzung auf die soziale Zeit sowie Mechanismen der nisgrenzen aufzeige. Aber »Innovationen nehmen Verfestigung von Zeitstrukturen standen im Mittel- an den Grenzen ihren Anfang«, schloss Gries pro- punkt von Stöbers Ausführungen. grammatisch. »Journalismus – Person – Werk«: Dieses stakkatoar- Klaus Arnold aus Eichstätt betrachtete die Kom- tige Dreieck wurde von Wolfgang R. Langenbuch- munikationsgeschichte als »Geschichte von Diffe- er aus Wien mit Einschätzungen und Anregungen renzierungen«. In dem Vortrag wurde versucht, zu zur biographisch fundierten Journalismusforschung prüfen, inwieweit die Systemtheorie Luhmannscher ausgefüllt. Damit solle der »biographischen Blind- 58 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) heit« der Kommunikationsgeschichte entgegen Erik Koenen aus Leipzig lieferte mit seinem Auf- gewirkt werden, vor allem eingedenk der unzu- takt am zweiten Tag die Komplettierung der theo- lässigen Gleichsetzung von Medien- als Journalis- retischen Zugänge zur Kommunikationsgeschichte, musgeschichte. Die Defizite einer Sozialgeschichte wenngleich in seinem Vortrag über Fachgeschich- des Journalismus sind evident. Daher forderte Lan- te methodische und methodologische Aspekte genbucher mit Nachdruck eine Verknüpfung von stets mitgedacht wurden und entsprechend ihrer »Biographie« und »Werk«, einschlägige Vorarbei- Brauchbarkeit für Fachgeschichte bewertet wur- ten gebe es wohl, die Synthese müsse jedoch erst den. Koenen erläuterte die »aufklärerische« Funk- erfolgen. En passant regte er auch eine Vernetzung tion von fachgeschichtlicher Forschung für die Ge- derartiger Forschungsbemühungen an – denn in der genwart der Kommunikationswissenschaft. Durch Zusammenschau erschließe sich aus vielen indivi- die Analyse der kognitiven, sozialen und histori- duellen Sozialgeschichten eine größere Kulturge- schen Identität sowie deren Genese sei es mög- schichte des Journalismus. Die Kommunikationsge- lich, Fachgeschichte eine ethisch-normative Qua- schichte solle sich ebenso der Literaturgeschichte lität zu geben. Illustriert wurde dies etwa durch nähern wie für sich die Geschichte journalistischer Fragen, die am Übergang von der totalitären NS- Persönlichkeiten – wieder – entdecken. Schließlich Zeitungswissenschaft in die Republiken danach an- plädierte Langenbucher für eine Kanonisierung des gesiedelt sind. Journalismus über Person und Werk. Manfred Knoche aus Salzburg stellte Kommunikati- Methoden der Kommunikationsgeschichte onsgeschichte in den Rahmen einer »Kritik der Poli- Die »Werkzeuge« historischer Kommunikationsfor- tischen Ökonomie der Medien«. Von der Ideologie- schung standen im Mittelpunkt des breiten »Me- kritik des Historischen Materialismus ausgehend, thoden«-Panels. Durchweg wurde versucht, auf formulierte er die zentrale These, wonach Medien Methodenprobleme und ihre Anwendungsberei- als Instrument zur Legitimation, Anerkennung, Ak- che einzugehen, entsprechend der Programmpla- zeptanz von Macht und Herrschaft dienen. Dies nung sollten vor allem innovative methodische As- werde in modernen Gesellschaften tendenziell kri- pekte der jüngeren Vergangenheit hervorgehoben tiklos hingenommen, der Konsum diene als Ersatz- werden. Eröffnet wurde dieses Panel mit Betrach- religion, mithin auch der Konsum medialer Inhalte. tungen von Josef Seethaler aus Wien zur Quellen- Knoche plädierte nicht nur für eine Stärkung kriti- kunde im Bereich historischer Pressedokumenta- scher Theorien, sondern auch für die »Wiederein- tion und -forschung; ähnlich Hans Bohrmann aus führung« der zentralen Kategorien Macht und Herr- Dortmund, der über den Umgang mit Zeitungssta- schaft in den kommunikationshistorischen Diskurs. tistiken sprach. Jürgen Wilke aus Mainz widmete Folgerichtig hob er die Kommunikationsgeschichte sich quantitativen Methoden und deren Nutzbar- in den Rang einer probaten Analyseinstanz für Fra- machung für die Kommunikationsgeschichte. Dabei gen aus dem Komplex »Macht und Medien«. zielte er auch auf den theoretischen Anspruch der- Susanne Kinnebrock aus Erfurt freute sich, in der artiger Methoden ab, erläutert anhand von Beispie- »Hauptstadt der Gender Studies« über frauen- und len aus den vergangenen zwei Dekaden. Markus geschlechtergeschichtliche Perspektiven im Fach Behmer brachte in einem illustrativen Vortrag die vorzutragen. In einem großen Überblick stellte sie wichtigsten Aspekte und Anwendungsgebiete der die Entwicklung hin zu Genderbewusstsein dar, Oral History sowie deren Erkenntnis-Möglichkeiten verfolgte die Ausbildung verschiedener Strömun- und -Grenzen in der kommunikationshistorischen gen und Strategien in differenziert zu betrachten- Forschung näher. Maria Löblich aus München prä- den Frauen- bzw. Geschlechtergeschichten. Kinne- sentierte einen innovativen Ansatz zur Methodolo- brock exemplifizierte diese Näherungen anhand des gie fachhistorischer Forschung: Sie stellte ein ka- Themas »Berufsgeschichte von Journalistinnen«. Ei- tegoriengeleitetes Schema vor, das zum Ziel hat, nerseits könne man biographische Forschungen wissenschaftssoziologische Blicke auf die Kommu- durchführen, auf Berufsbilder und -bedingungen nikationswissenschaft zu werfen – die historische eingehen und dadurch »Frauen sichtbar machen«. Perspektive birgt die Besonderheit, dass die em- Andererseits könne man auch Geschlechterspezifi- piriegeleitete Kategorienbildung auf historischen ka eingehen, Qualitäten und Leistungen von Jour- bzw. historisch-hermeneutischen Fundamenten nalisten jenen der Journalistinnen gegenüberstel- fußt. Senta Pfaff aus München stellte den Framing- len oder unterschiedliche Kommunikations- und Ansatz und seine Anwendung auf kommunikations- Schreibstile herausarbeiten – und so letztlich ge- historische Fragestellungen anhand des Beispiels schlechterbewusst forschen. »Bundeswehr und 20. Juli« dar. Christoph Classen Miszellen 59 aus Potsdam schließlich diskutierte ausgehend von Kommunikationsgeschichte nachzuspüren. Dem- Michel Foucaults Diskursbegriff und der damit ver- entsprechend formulierte Rundfragen im Jahr 1987 bundenen Gesellschaftsanalyse und -theorie die und 1992 knüpften direkt an den Ergebnisband der Probleme und Potentiale qualitativer Diskursana- »Wege zur Kommunikationsgeschichte« an. lysen sowie deren theoretisch-methodische Imp- Dies soll auch in den ausgehend von der 2006er-Ta- likationen. gung geplanten Publikationen geschehen: So sollen die Ergebnisse beider Tage in einem Tagungsband Vergleichende Aspekte sollte das abschließende versammelt werden, der über das Tagungspro- Panel bieten: So lieferte Stefan Schwarzkopf aus gramm hinausgehend auch noch weitere Beiträ- London eine komparative Sicht auf die Werbege- ge bieten soll – neben zum Tagungstermin verhin- schichte am europäischen Festland, in Großbritan- derten Kolleginnen und Kollegen ist daran gedacht, nien und jenseits des Atlantiks in Amerika. für weitere Fachbereiche gezielt Beiträgerinnen und Danusa Serafinova als Gastreferentin aus Bratis- Beiträger einzuladen. lava unterstrich die Bemühungen der jungen Wis- »medien&zeit« wird ausgehend von Tagungsvorträ- senschaftskulturen in den ehemals sozialistischen gen im kommenden Heft 2/06 ausgewählte Beiträ- Staaten, indem sie aktuelle Forschungen mit histo- ge zu »Theorien der Kommunikationsgeschichte« rischen Perspektiven verknüpfte: Jüngere Skandali- versammeln, ohne zu beanspruchen, das Theorien- sierungen im slowakischen Pressemarkt und Rund- spektrum, aus dem die Kommunikationsgeschich- funkbereich versuchte sie in Beziehung zu setzen te als Disziplin »zwischen den Disziplinen« schöpft, mit geänderten Kommunikationskulturen in den Re- abzudecken – vielmehr um teils unterrepräsentierte, formstaaten – mit dem zentralen Aspekt der »Turbo- vernachlässigte, verschüttete oder einfach wieder Boulevardisierung«. entdeckte Perspektiven zur Diskussion zu stellen. Die Geschichte eines Medienunternehmens und de- ren Stellenwert für die Kommunikationsgeschichte Die abschließende Diskussion mündete überdies in stand im Zentrum des Vortrags von Peter Meier und nunmehr bereits klar umrissene Folgeprojekte: So Tom Häussler aus Bern. In gewisser Weise konnten stellten sich einerseits Anknüpfungspunkte für eine sie damit direkt an ihre Vorrednerin anknüpfen, als weitere Tagung heraus; andererseits soll die Debat- die inkriminierten Presseprodukte der Slowakei aus te auch über einen virtuellen Diskurs laufen. Einig- dem Schweizer Ringier-Konzern stammen. Häuss- keit, so schwierig dieser Begriff im wissenschaftli- ler und Meier loteten den Wandel dieses Unterneh- chen Kontext ist, herrschte über die Notwendigkeit mens von 1833 an ebenso aus wie die Möglichkeiten verbindlicher Grundgerüste und Gegenstandsbe- und Grenzen einer Verknüpfung von Kommunikati- reiche, Begrifflichkeiten und Bezugspunkten, mit- ons- und Wirtschaftsgeschichte im Spannungsfeld hin also letztlich doch eines konsensualen Selbst- zwischen »Masse, Markt und Macht«. verständnisses.

Das Finale bildete eine vom Autor dieses Berichts Erst die Rezeption dieser Publikationen, die wach- formulierte Zusammenfassung der Tagung, einge- sende zeitliche Distanz wie auch in ungleich hö- bettet einerseits in eine Retrospektive auf die Ta- herem Maße die fortschreitende intellektuelle Be- gung »Wege zur Kommunikationsgeschichte« und schäftigung mit »Theorien und Methoden der die Entwicklung des Faches seither, andererseits Kommunikationsgeschichte« wird den wissen- eine Vorschau auf künftige Bestrebungen, das Fach schaftlichen Mehrwert dieser Tagung klären hel- weiter zu vernetzen – angeregt etwa durch Diskus- fen. Doch bereits spontan artikulierte Einschätzun- sionsbeiträge in der abschließenden Plenumsrunde. gen verdeutlichen in Abgleich mit Zielsetzung und Moderiert wurde diese bereits vom neu gewählten Themenspektrum dieser Tagung, diese als legitime Sprecher der Fachgruppe: Klaus Arnold wurde ein- Nachfolgerin der Tagung von 1986 »Wege zur Kom- stimmig für die kommenden beiden Jahre mit dieser munikationsgeschichte« zu sehen und stimmen op- Funktion betraut. Ihm zur Seite steht Susanne Kin- timistisch, dass der Stellenwert von Kommunikati- nebrock als Stellvertreterin. onsgeschichte unbeschadet von der derzeit wieder aufkeimenden Selbstverständnisdiskussion inner- Wissensbilanz halb der DGPuK weiter wachsen wird. Denn ent- Die Ergebnisse dieser Tagung sind nicht zuletzt gegen manch anderen paradigmatisch statischen auch in Beziehung zu setzen mit frühen Bemühun- Erkenntnisbereichen der Kommunikationswissen- gen von »medien&zeit«, Stand und Entwicklung, in schaft, besinnt sich die Kommunikationsgeschichte weiterer Konsequenz auch den Perspektiven von ihrer epistemologischen Herkunft und beansprucht 60 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) gleich gar nicht, »die« einzige Wahrheit zu offerieren, testen zugänglichen Teilbestand. Zum Bestand ins- sondern bloß zur Disposition zu stellen. gesamt gehören jedoch auch Originalnegative und Dies kann wohl auch als wichtigstes Fazit der Ta- zeitgenössische Repronegative auf Film und Glas- gung gezogen werden: Die Scientific Community ist träger, sowie Glasdias und Fotoalben. Die etwa sich abseits der notwendigen und wichtigen Exem- 1700 Glasnegative dienten vermutlich zur Verviel- plifizierungen und beispielhaften Fallbetrachtungen fältigung von Bildmotiven für die Öffentlichkeitsar- einig, dass diese Beschäftigung nur auf dem Fun- beit, darauf deuten die auf die Glasträger aufgetra- dament permanenter und kritischer theoretischer genen Abdeckungen hin. Über das Verhältnis von und methodischer Reflexion erfolgen kann. Originalplatten und Reproaufnahmen in diesem Teil- Bernd Semrad, Wien bestand kann nur spekuliert werden. Sie scheinen überwiegend vor 1933 entstanden zu sein, einzel- ne Glasnegative sind aber nachweislich noch 1935 Die Bildbestände und 1939 angefertigt worden. Die Glasdias wurden im Deutschen Rundfunkarchiv bei Vorträgen auf Rundfunkausstellungen und Ver- Frankfurt am Main anstaltungen während der Touren des Werbewa- gens der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft einge- Das Deutsche Rundfunkarchiv betreut an seinem setzt. Sachlich-inhaltlich lässt sich der Bildbestand Standort Frankfurt am Main1 die Bildüberlieferung annähernd entlang der Epochengrenze teilen: Wäh- der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft2. Nach 1945 ge- rend für den Rundfunk der Weimarer Republik vor hörte das Bildarchiv der Reichs-Rundfunk-Gesell- allem die technischen Einrichtungen zur Rundfunk- schaft zu den Beständen des DDR-Lektorats für ausstrahlung und -produktion im Bild dokumentiert Rundfunkgeschichte bevor es 1993 zum Deutschen sind, liegen für den Rundfunk der nationalsozialis- Rundfunkarchiv Frankfurt kam. Das Bildarchiv im tischen Zeit mehr sendungs- und anlassbezogene Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt enthält außer- Fotoaufnahmen vor. Die rund zweitausend Perso- dem Fotodokumente aus Nachlässen und Privatbe- nendossiers betreffen Rundfunkmitarbeiter sowie sitz3 und hat seine thematischen Schwerpunkte ins- im Rundfunk tätige Künstler und Zeitgenossen bei- gesamt beim Rundfunk der Weimarer Republik und der Zeitabschnitte, überwiegend aber der Zeit nach der Zeit des Nationalsozialismus.4 Hervorzuheben 1933. ist die Sammlung von Hörerbildern aus der Früh- zeit des Rundfunks, die unter anderem durch einen Motivbestand zum Rundfunk Rundfunkaufruf zum 60. Geburtstag des Rundfunks der Weimarer Republik 1983 zusammengetragen wurden. Die Bildproduk- Einen Schwerpunkt des Bildbestands zum Weima- tion der ARD-Rundfunkanstalten ist im Deutschen rer Rundfunk bilden die Aufnahmen der Sendean- Rundfunkarchiv nur zu kleinen Teilen vertreten. lagen und technischen Einrichtungen der verschie- Das meiste Material wurde zur Illustration von For- denen Sender. Die Sendeanlagen sind schon von schungspublikationen oder zur Bebilderung aktuel- den Zeitgenossen den regionalen Sendegesell- ler und historischer Beiträge im ARD-Jahrbuch an- schaften zugeordnet worden, obwohl sie von der gefordert. Die Bildüberlieferung von Hörfunk und Reichspost betrieben wurden. Das Bildmaterial Fernsehen der DDR ist im Deutschen Rundfunkar- selbst stammt wahrscheinlich zum Teil von den Fir- chiv Potsdam-Babelsberg archiviert. Die Sicherung der Bildüberlieferung und die Bildung eines reprä- sentativen historischen Bestandes wurden seit eini- gen Jahren durch eine kooperative Datenbank mit 1 Das Deutsche Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main ist wegen digitalem Bildarchiv gefördert, die das Deutsche Umbauarbeiten am ARD-Hochhaus des Hessischen Rundfunks bis Rundfunkarchiv den Bildarchiven der ARD-Rund- voraussichtlich März 2008 in Wiesbaden untergebracht. Für Archive sind die dann insgesamt vier Jahre keine große Zeitspanne, weshalb funkanstalten zur Mitnutzung anbietet. hier durchgehend vom Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt gespro- chen wird. Der Bildbestand aus der Zeit bis 1945 umfasst ge- 2 Die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft bestand von 1925 bis 1945. 3 Unter anderem das Bredow-Funkarchiv, die Nachlässe von Paul schätzte 30 000 Motive, überwiegend auf zeitge- Laven und Heinrich Brunswig. nössischen Papierabzügen. Die Abzüge sind klas- 4 Einen Überblick über das Spektrum der Motive bietet die Home- sisch in Dossiers geordnet, die einer eigenen, auf page des Deutschen Rundfunkarchivs www.Deutsches Rundfunk die Bestandsinhalte bezogenen Systematik folgen. Archiv.de unter dem Menüpunkt Netzwerk Mediatheken. Die Home- page wird derzeit überarbeitet und demnächst neu freigeschaltet. Die Recherche und Nutzung bezogen sich bisher vor Bildgalerie wird dann unter dem Menüpunkt Rundfunkgeschichte zu allem auf diesen, inhaltlich und technisch am leich- finden sein. Miszellen 61 men, die die Sender errichteten, Lorenz und vor al- der kleineren regionalen. Dazu kommen Ausstellun- lem Telefunken, wurde aber schon sehr früh von den gen, auf denen die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft regionalen Sendegesellschaften, der Reich-Rund- einen Stand zum Rundfunk präsentierte, etwa auf funk-Gesellschaft und den Programmzeitschrif- der Pressa in Köln 1928 und verschiedene Land- ten als Pressebild- und Illustrationsmaterial einge- wirtschaftsausstellungen. Die Fotos dokumentieren setzt. Die klassischen Motive mit zwei Sendetürmen vorwiegend die Auftritte der Rundfunk-Gesellschaft und der dazwischen ausgespannten Sendeanten- selbst, nur gelegentlich auch Aspekte der Gesamt- ne oder den eigentlichen Sendeapparaten mit ihren ausstellung. Breit festgehalten sind die zahlreichen eindrucksvollen Röhren fehlen auch heute in keiner Grafiken und Objekte, die von der Rundfunk-Gesell- historischen Darstellung und sind in der Fachwelt schaft zur Visualisierung statistischer, technischer wohlbekannt. oder anderer Sachverhalte eingesetzt wurden. Hier zeigt sich die enge organisatorische Nähe des Bild- Zu den Senderdossiers gehören auch Motive aus archivs zur Presseabteilung.6 den Sendesälen, Aufnahme- und Technikräumen, die durchaus auch manche Programm-Macher, Einen letzten Schwerpunkt bilden Motive mit Hörsi- Künstler und Techniker in Aktion zeigen. Bei vie- tuationen unterschiedlicher Zielgruppen in verschie- len Motiven bilden die Personen im Bild aber nur denen Lebenslagen. Es dürfte sich überwiegend um

Sendergebäude und Antennenanlage des Nebensenders Stettin Wechsel einer RS 15 Sender-Endröhre beim Sender Leipzig anfang 1933. Foto: RRG / DRA der 30er Jahre. Foto: Schröter / DRA das belebende Beiwerk zu den abgebildeten tech- nischen Einrichtungen und Räume.5 Verglichen mit der in den zeitgenössischen Programmzeitschriften abgebildeten Bildproduktion, ist nur ein kleiner Teil der situativen, ereignis- und personenbezogen Bild- produktion in das Archiv der Reichs-Rundfunk-Ge- sellschaft eingegangen und heute im Bestand des Deutschen Rundfunkarchivs überliefert. Trotzdem haben die programm- und produktionsbezoge- nen Fotoaufnahmen oft etwas Exemplarisches. Sie zeigen zum Beispiel eine Programmsparte wie die Funkgymnastik oder die Geräuschproduktion, aber kein bestimmtes Aufnahmeereignis. Häufig fehlt Zielgruppenwerbung für das neue Medium: Mobile Radioempfän- auch das Aufnahmedatum, und die Aufnahmen ger für die Freizeit. Foto: DRA werden über Jahre in der Programmpresse immer wieder benutzt. 5 Vgl. Kerstin Lange: Die Bilder der AEG. Material, Sprache und Ent- Ein weiterer Schwerpunkt im Bestand zum Weima- stehung. In: Lieselotte Kugler (Hrsg.): Die AEG im Bild, Berlin 2000, S. rer Rundfunk sind Aufnahmen von den Funkaus- 9–22, S. 16. 6 Vgl. Dr. Dittrich: »Wie verhält sich der Rundfunk zum Tingel-Tan- stellungen, vor allem der seit 1924 jährlich stattfin- gel?« Ein Besuch im Archiv der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft. In: denden großen Berliner Funkausstellung, aber auch Funk 1927, Heft 14, S. 112. 62 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Auftrags-Aufnahmen handeln, die gezielt zur Wer- archivierten Diaserie der Reichs-Rundfunk-Gesell- bung für das damals neue Medium angefertigt wur- schaft hat ergeben, dass die Nummernkohärenz im den. Ob die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft selbst Lauf der Zeit verloren gegangen sein muss. Zeitge- oder ursprünglich die Gerätehersteller als Auftrag- nössische Behälter und Findmittel existieren darü- geber fungiert haben, konnte bisher ebenso wenig ber hinaus kaum noch. Einige Abzüge sind auf Kar- ermittelt werden wie die persönlichen Urheber. Je- teikarten geklebt, auf denen teilweise auch die sonst denfalls handelt es sich bei diesen Aufnahmen nicht eher seltenen Urheberangaben notiert sind. um Gerätewerbung im engeren Sinne, sondern eher um Propaganda für das Radiohören an sich. Zu den Neben dem eigentlichen Archiv der Reichs-Rund- umworbenen Hörergruppen gehörten Kinder, Haus- funk-Gesellschaft umfasst das Bildarchiv des frauen und die Landbevölkerung. Geworben wurde Deutschen Rundfunkarchivs heute auch Aufnah- außerdem für das Radiohören bei der Arbeit und in men der regionalen Sendegesellschaften und der der Freizeit sowie für den Gemeinschaftsempfang in Programmpresse, unter anderem der Zeitschrift Schulen, Heimen und Krankenhäusern. »Funkstunde«. Besonders stark vertreten sind Auf- nahmen der Leipziger Sendegesellschaft Mirag, Entstehung und Ordnung deren Bildüberlieferung vermutlich zu DDR-Zeiten des Bestandes in die Berliner Rundfunkzentrale abgegeben wur- Das von 1925 bis 1933 in das Archiv der Reichs- de. Daneben sind wegen der räumlichen Nähe vor Rundfunk-Gesellschaft aufgenommene Bildmateri- allem die Berliner Sendegesellschaften Funkstun- al war seinerzeit nach verschiedenen Nummernkrei- de und Deutschlandsender und die Programmzeit- sen sachsystematisch grob sortiert. Die Systematik, schrift »Funkstunde« breiter im Bestand vertreten. zu der bisher keine Unterlagen gefunden wurden, Die kostenintensive Beschaffung und Aufbereitung die sich aber aus den Altsignaturen der Glasnegati- von Fotomaterial für die offiziösen Programmzeit- ve ableiten lässt, muss schon sehr früh um die Jahre schriften konnte einen großen Anteil an den kompli- 1926 oder 1927 entstanden sein. Die Sachgruppen zierten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den R – vermutlich »Rundfunk« – und Rs – vermutlich Sendegesellschaften und ihren jeweiligen Tochter- »Rundfunksender« – sind jedenfalls nur zwei unter unternehmen annehmen. So wird sicher nicht im- anderen, die sich verschiedenen Sparten des Funks mer zu entscheiden sein, ob die eigentliche Prove- insgesamt widmen.7 Die Gruppen R und Rs sind je- nienz eines Fotos bei der Sendegesellschaft oder doch quantitativ die größten und auch in einem ihrer Programmzeitschrift liegt.8 Viel Material wird katalogartigen Album mit Kontaktabzügen nach- aber von der einen oder anderen Seite angekauft gewiesen. Das Album gliedert das Material nach sein. Jedenfalls tragen viele Abzüge allein oder zu- Sendegesellschaften und einer allgemeinen Rub- sätzlich den Stempel von Fotografen oder Bilda- rik mit Hörerbildern und Infografik. Die spätesten genturen, die durchaus regelmäßig für die Sende- Motive stammen vom Anfang der nationalsozialisti- gesellschaften und deren Programmzeitschriften schen Zeit. Aufnahmen vom Tag von Potsdam und tätig gewesen sein müssen9. Leider tragen zahlrei- der Eröffnung des Reichstages in der Krolloper am che Abzüge gar keine Urheberangaben. 21. März 1933 zeigen den Wandel in der Einschät- zung und Handhabung des Rundfunks deutlich an.

Im Papierbildbestand, der schon länger nicht mehr die ursprüngliche Ordnung aufweist, kehrt ein Teil der Motive auf zeitgenössischen Abzügen wieder, ebenso auf Glasnegativen und Dias. Verbinden- des Kriterium sind die R- und Rs-Nummern, die 7 Vielleicht wurde diese Systematik auch von dem umfassenden auf allen Trägern vorkommen, sich allerdings nicht Pressearchiv benutzt, dass von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft zu einem vollständigen Bestand zusammenfügen zu allen Fragen des Rundfunks gepflegt wurde. Vgl. FN 3. Presse- und zum Teil mehrfach oder auch abweichend für archiv und Bibliothek der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, zu denen auch eine große Zahl ausländischer Bücher und Zeitschriften gehört verschiedene Motive vergeben wurden. Überkle- haben, sind 1943 einem Bombenangriff zum Opfer gefallen. Vgl.: Welt- bungen und Durchstreichungen im Katalogalbum Rundfunk 1943, Heft 6, S. 230. weisen darauf hin, dass im Laufe der Zeit einzel- 8 Vgl. Thomas Bauer: Deutsche Programmpresse 1923–1941, Mün- ne Motive aktualisiert oder aus der Nutzung für die chen 1993, S. 57f. 9 Hier sind vor allem Curt Ullmann, Horst G. Lehmann, von Dühren Öffentlichkeitsarbeit genommen wurden. Auch der und Henschel, Atlantic und Transocean, alle Berlin, oder Johannes Vergleich mit einer beim Westdeutschen Rundfunk Mühler, ein Leipziger Industrie- und Landschaftsfotograf zu nennen. Miszellen 63

Entstehung und Zusammensetzung sebilderdienst mit angekauften Motiven.11 Ob der des Bildbestandes Bestand noch zu Zeiten der Reichs-Rundfunk-Ge- der nationalsozialistischen Zeit sellschaft mit deren Archiv zusammengelegt wur- Die Bildüberlieferung der Zeit des Dritten Reichs de oder erst später, ist bisher nicht bekannt. Ob setzt sich zusammen aus Fotoabzügen, die im sys- das von den Mitarbeitern der Presseabteilung auf- tematisch geordneten Hauptbestand des Bildar- genommene Bildmaterial primär für Pressezwecke chivs des Deutschen Rundfunkarchivs enthalten vorgesehen war oder eher der Unternehmensdo- sind, einer ungefähr 600 Blatt umfassenden Kar- kumentation diente, lässt sich anhand der ausge- tei mit bis zu neun Kontaktabzügen, Entstehungs- werteten Quellen nicht abschließend entscheiden. daten und Inhaltsangaben – archivintern NS-Kar- Auffällig ist, dass nach der Einstellung der Rund- tei genannt – und einem Negativ-Bestand mit rund funkprogrammpresse im Mai 1941 die Fotoproduk- 1800 Motiven auf 6 6 -, 6 9 - und Kleinbild-Film, zu tion keineswegs zurückgefahren wird. In der Über- denen noch die Originalhüllen mit ihren mehr oder lieferung sind die Jahrgänge 1941 und 1942 sogar weniger reichhaltigen Beschriftungen vorliegen. Die wesentlich stärker vertreten als 1939 und 1940. Ein nitrozellulosehaltigen Negativ-Originale wurden im Teil dieser späten Motive findet auf den Bildseiten vergangenen Jahr aus Sicherheitsgründen und um der Ersatz-Zeitschrift »Reichs-Rundfunk« Verwen- den gesetzlichen Vorschriften Genüge zu tun von dung. einem Dienstleister auf hochwertigem Sicherheits- diafilm reproduziert, digitalisiert und anschließend kassiert. Bei den vorbereitenden Ordnungsarbei- ten konnten Teile der ursprünglichen, zu DDR-Zei- ten verloren gegangenen Bestandsordnung rekon- struiert und viele Informationen zur Datierung und zur Urheberschaft zurückgewonnen werden. Das dabei gewonnene Gesamtbild zeigt eine relativ gro- ße Schnittmenge unter den Motiven aller drei Teil- bestände – Fotoabzüge, NS-Kartei und Negative – wobei unter den Negativen aber auch viele Moti- ve entdeckt wurden, die bisher für Recherche und Nutzung nicht zugänglich waren und kaum bekannt sein dürften.

In den Jahren 1933 und 1934 wurde neben vielen anderen Bereichen des Rundfunks offensichtlich auch die Produktion von Bildmaterial neu organi- siert. Während für die Weimarer Zeit bisher kei- ne Mitarbeiter der Sendegesellschaften als Foto- grafen zu identifizieren waren,10 fotografieren jetzt zwei Mitarbeiter der Presseabteilung, Fritz Glatow Rundfunksprecher-Wettbewerb der RRG 1935. Foto: RRG / DRA und Valentin Kubina, regelmäßig für den im Berli- ner Haus des Rundfunks angesiedelten Reichssen- Wie die zahlreichen Fotografenstempel auf den Pa- der Berlin, der ehemaligen Funkstunde, und den pierabzügen belegen, werden außerdem mehrere Deutschlandsender, ehemals Deutsche Welle. Bei- freie Bildberichterstatter beschäftigt und zusätz- de Organisationen werden in diesen Jahren ebenso liches Material von Bildagenturen wie Atlantic und wie die anderen deutschen Sendegesellschaften Scherl angekauft. Über die Rechtsvereinbarungen zu Filialsendern der Reichs-Rundfunkgesellschaft, konnten bisher keinerlei Unterlagen ermittelt wer- verschmelzen zunehmend miteinander und bestrei- ten zuletzt die im Verlauf des Zweiten Weltkrieges verbleibenden beiden innerdeutschen Rundfunk- programme. Das Bildarchiv des ebenfalls in Ber- lin beheimateten Deutschen Kurzwellensenders für den Auslandsrundfunk ist heute zumindest in Tei- 10 Das gilt zumindest für den im Deutschen Rundfunkarchiv überlie- ferten Bestand. len ebenfalls im Bestand enthalten. Der Kurzwel- 11 Vgl. Pressedienst des Deutschen Kurzwellensenders. Deutsche lensender unterhielt zeitweise einen eigenen Pres- Ausgabe. Nordamerika-Zone, Nr. 1, März 1939 v. 1.2.1939. 64 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) den. Die Karteikarten, auf denen Ankäufe leider nur Haus des Rundfunks oder bei Reportagen vor Ort selten vorkommen, enthalten immerhin einen Re- entstanden sind. Breit dokumentiert sind insbeson- produktionsvermerk. Viele Bildabzüge tragen au- dere Hörfunkaufnahmen für Zeitfunksendungen, ßerdem grafische Zeichen, die wahrscheinlich das die augenscheinlich traditionelle Wirtschaftswei- gleiche bedeuten.12 Die Ordnung des Bildbestan- sen und die Verwurzelung der Bevölkerung in »Blut des vollzieht die organisatorischen Entwicklungen und Boden« darstellen sollten. Ganze Fotostrecken des deutschen und speziell des Berliner Rundfunks zeigen Landschaften, Höfe und Bauern, darunter nach. 1934 wurden nach einem kurzen Intermezzo schließlich auch den Zeitfunkreporter mit seinem neue Nummernkreise eingeführt, B für »Reichssen- Mikrofon im Gespräch mit dem arbeitenden Volk. der Berlin« und D für »Deutschlandsender«. Beide In den Jahren 1934 und 1935 entstehen eine Rei- Bestände teilen sich in eine Serie für Personendos- he solcher Zeitfunksendungen, die programmge- siers und eine für Programmanlässe und andere schichtlich noch nicht aufgearbeitet sind. Ereignisse. Wie der Negativbestand zeigt, liegt un- ter den zugeordneten, mit einer laufenden Nummer Ein zweiter Schwerpunkt sind Aufnahmen der zahl- versehenen Dossiers meist nicht der ganze Film, reichen öffentlichen Unterhaltungssendungen im sondern eine neu nummerierte Auswahl, die mit der Haus des Rundfunks. Vor allem das später der Reihenfolge der Aufnahmen nicht unbedingt über- Wehrmacht gewidmete »Wunschkonzert« unter der Leitung von Heinz Goedecke, oder andere Sende- reihen wie »Ankerspill« oder »Fortsetzung folgt« sind zwar nicht vollständig, aber doch mit vielen Einzel- sendungen vor allem aus den Jahren 1941 und 1942 im Bild dokumentiert. Das aus Beiträgen bekann- ter Film-, Rundfunk-, Musik- und Unterhaltungs- künstler zusammengesetzte Programm bot offen- sichtlich immer wieder Anlass für Fotoaufnahmen, die sich in den Personendossiers wiederfinden. So- gar das Programm des Fernsehsenders Paul Nip- kow, das ansonsten nicht so breit im Bild dokumen- tiert ist, wie man es sich wünschen würde, ist mit einigen öffentlichen Unterhaltungssendungen aus Der Bariton Willi Domgraf-Fassbaender beim 8. Wunschkonzert im dem Kuppelsaal des Reichssportfeldes vertreten, Berliner Haus des Rundfunks am 28.02.1937. Foto: Atlantic / DRA bei denen immerhin auch schon ein Fernseh-Bal- lett auftrat. Ein Teil der Motive findet sich in der einstimmt. Die Personen- und Sachdossiers kombi- Zeitschrift »Reichs-Rundfunk« wieder, die nach der nieren gelegentlich auch Aufnahmen von verschie- Einstellung der Programmzeitschriften im Mai 1941 denen Anlässen. Die Entstehungsdaten sind dann eine der wenigen ist, die noch Fotomaterial prä- oft nicht sauber dokumentiert. Die meisten Dos- sentiert. Wie dies in der Tagespresse aussah, wur- siers haben aber nur ein einziges Entstehungsereig- de bisher noch nicht überprüft. Auf jeden Fall über- nis zum Gegenstand und sind so leichter einzuord- rascht die Fülle an Fotoaufnahmen, die noch bis nen. Ab Mai 1939 wird die Bestandsordnung nach 1943 entstanden sind. Nummernkreisen, die sich einem Programmveran- stalter zuordnen lassen, aufgegeben. Die Hausfoto- Einen bedeutenden Teilbestand bilden die Foto- grafen waren ohnehin schon von 1934 an für beide aufnahmen von den Olympischen Spielen 1936 in Berliner Sender tätig gewesen. Das nach 1939 ent- Deutschland. Sie illustrieren die sportlichen Ereig- standene Material bleibt meist auf einen der beiden nisse nur am Rande, stellen aber die Rundfunkakti- Sender bezogen, aber nur was den Programman- vitäten als wesentlichen Teil der propagandistischen lass betrifft, nicht organisatorisch. Zu den meisten Vermittlung des Ereignisses in alle Welt umso mehr Aufnahmen dieser Zeit sind die Negative nicht erhal- in den Mittelpunkt. Angefangen bei den Winterspie- ten. Die NS-Kartei enthält Aufnahmen bis 1944. len in Garmisch-Partenkirchen, der Begleitung des olympischen Feuers von Griechenland bis Berlin, Die Motive des NS-Bildbestandes Inhaltlich zeigen die Motive gegenüber denen des

Weimarer Rundfunks ein neues Interesse. Schwer- 12 Ein roter Kreis steht vermutlich für rechtefrei und ein rotes Kreuz punkt sind Bilder, die bei Rundfunkaufnahmen im für nicht rechtefrei – wohl im Sinne von honorarpflichtig. Miszellen 65

über die technischen Einrichtungen des sogenann- Dass sich viele Porträts und Momentaufnahmen ten Olympia-Weltsenders und die Kommentatoren- aus der Tätigkeit von Rundfunkmitarbeitern und plätze in den verschiedenen Sportstätten mit Rund- Mitwirkenden aus Musik, Literatur, Kleinkunst und funkreportern aus aller Welt bis hin zur Verleihung Zeitgeschichte nochmals in den Personendossiers der speziellen Ehrenzeichen an die Rundfunkmitar- wiederfinden, wurde bereits erwähnt. Darunter be- beiter nach Abschluss der Spiele. Das in Auszügen finden sich nicht nur zahlreiche bekannte und weni- in dem Bildband Olympia-Weltsender13 wiederge- ger bekannte Künstler wie die Dirigenten Eugen Jo- gebene Material, vermittelt einen sehr plastischen chum, Oswald Kabasta und Herbert von Karajan, Eindruck von dem Aufwand und der Modernität der die Filmstars Brigitte Mira, Heinrich George und eingesetzten Mittel. Heinz Rühmann, die Sängerinnen und Sänger Ro- sita Serrano, Peter Anders und Maria Cebotari son- Ein anderer Versuch, den Rundfunk als Integrations- dern auch viele Rundfunkmitarbeiter aus der ersten instrument mit Zielrichtung Volksgemeinschaft ein- und zweiten Reihe – Hörfunkdramaturg Gerd Fricke, zusetzen, waren die Volkssenderaktionen der Funk- Chorleiter Hans-Georg Görner oder Landfunkleiter ausstellungen von 1934 bis 1936. Diese zunächst Hilmar Deichmann. In den meisten Fällen handelt vom Reichsverband Deutscher Rundfunkteilneh- es sich um bisher wenig oder gar nicht beachte- mer (RDR) und nach dessen Auflösung von der tes Material, das biografischen Arbeiten zu diesen Deutschen Arbeitsfront und dessen Kraft-durch- Personen sicher neue Aspekte hinzufügen könnte. Freude-Organisation in Zusammenarbeit mit der Das Deutsche Rundfunkarchiv wird diesen Fundus Reichs-Rundfunk-Gesellschaft veranstalteten Ak- künftig stärker in seine Hinweisdienste einzubezie- tionen brachten Volkskünstler zur Funkausstellung hen und so dessen Nutzung und wissenschaftliche nach Berlin und in das Rundfunkprogramm und soll- Auswertung anregen.14 ten so offenbar zur Mobilisierung der Bevölkerung einerseits und zur Popularisierung des Rundfunks Überlieferung des Bestands andererseits beitragen. Ähnlich funktionierten auch der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft die in dieser Zeit durchgeführten Rundfunkspre- nach 1945 cher-Wettbewerbe, die vorgaben Naturtalente aus Bei Kriegsende muss das Bildarchiv der Reichs- der Bevölkerung für das Mikrofon gewinnen zu wol- Rundfunk-Gesellschaft im Verfügungsbereich der len. All diese Aktionen sind im Bild breit dokumen- sowjetischen Besatzung gewesen sein, vielleicht tiert, wurden letztlich aber aufgegeben, weil das Ni- noch im Haus des Rundfunks selbst, von wo es veau der Beiträge offenbar nicht die gewünschte spätestens bei der Übersiedlung des Berliner Rund- Wirkung erzielte. funks in den Ostteil der Stadt 1952 gebracht wurde. Später kam der Bestand in die Obhut des Lektorats Neben dem Programmgeschehen sind auch zahl- für Rundfunkgeschichte beim Rundfunk der DDR – reiche Ereignisse im Bild dokumentiert, die man Bereich Hörfunk. Dort erhielt er eine neue Ordnung, heute zur Unternehmensgeschichte rechnen würde. bei der die seinerzeit möglicherweise noch vorhan- Dazu gehören Amtseinführungen wie die von Eu- denen ursprünglichen Zusammenhänge verloren gen Hadamovsky als Sendeleiter der Reichs-Rund- gingen. Nach der Auflösung des DDR-Rundfunks funk-Gesellschaft 1933, Intendantentagungen von und der Angliederung der Rundfunkarchive Ost an 1935 bis 1939, aber auch eine Betriebsversammlung das Deutsches Rundfunkarchiv als Standort Berlin, 1935, der Funkball oder Sammelaktionen zum soge- heute Potsdam-Babelsberg wurde das Bildarchiv nannten Tag der nationalen Solidarität 1935. In- und 1993 ins Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt ge- ausländische Besuche wurden gerne von Reichs- bracht, das für die Rundfunküberlieferung vor 1945 intendant Glasmeier in wechselnden Uniformen im zuständig ist. Haus des Rundfunks empfangen und mit Festak- ten im Großen Sendesaal geehrt. Dazu gehört ein Nach umfangreichen Ordnungs- und Sicherungsar- Empfang 1939 für den frankistischen General Quei- beiten im Bestand und an den verschiedenen Mate- po de Llano, der sich im spanischen Bürgerkrieg rialien, nach langjährigen Entwicklungsarbeiten an als Pionier der Rundfunkpropaganda hervorgetan Bilddatenbank und digitalem Bildarchiv sowie nach hatte, oder auch der Besuch des Oberfehlshabers des Heeres Walther von Brauchitsch wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, bei dessen 13 Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (Hrsg.): Olympia-Weltsender, Beginn der Rundfunk bekanntlich in verschiedener ohne Jahr (1936). Hinsicht eine wichtige Rolle spielte. 14 Vgl. www.dra.de/Hinweisdienste 66 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) drei Jahren Erfassungs- und Digitalisierungsarbeit ist heute etwa die Hälfte des Papierbildbestandes dokumentiert und digitalisiert. Dazu gehören etwa drei Fünftel der Personendossiers und die meisten Sendegesellschaften der Weimarer Zeit. Der Be- stand der Filmnegative aus der nationalsozialisti- schen Zeit wurde im vergangenen Jahr anlässlich des Sicherungsprojekts geordnet und digitalisiert. Das Material muss noch in Datenbank und digita- les Archiv eingearbeitet werden, für Recherche und Nutzung steht es aber schon jetzt zur Verfügung. Bei den vielfältigen Ordnungs- und Erschließungs- arbeiten wurden immer wieder auch Informationen zur Bestandsgeschichte und einzelnen Urhebern gesammelt, die inzwischen einen gewissen Über- blick gestatten, wie er hier versucht wurde. Das Potential dieses Bestandes ist jedoch weder do- kumentarisch noch die Forschung zum Rundfunk im Dritten Reich, insbesondere zum Rundfunkpro- gramm betreffend, ausgeschöpft. Friedrich Dethlefs, Frankfurt Rezensionen

Peter von Rüden/Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.) 1 Das Kapitel zur NWDR-Zeit unter deutscher Ver- Die Geschichte antwortung enthält neben dem Überblick von Pe- des Nordwestdeutschen Rundfunks. ter von Rüden auch Einzelstudien zu Werner Fincks Hamburg: Hoffmann und Campe 2005, Verhältnis zum NWDR und zur Situation Radio Bre- 464 Seiten. mens in Norddeutschland. Dem Thema Regionali- sierung, insbesondere dem Aufbau und der Arbeit Im Herbst 2000 starteten der Norddeutsche und der der Funkhäuser und Studios, ist der umfangreichste Westdeutsche Rundfunk, die Universität Hamburg Abschnitt gewidmet. Neben den Studios in Köln und sowie das Hans-Bredow-Institut ein Forschungs- Hannover sind die Aktivitäten in Flensburg, Olden- projekt, das sich speziell der Geschichte des Rund- burg und im rheinisch-westfälischen Grenzgebiet funks in Norddeutschland in den ersten Jahren nach berücksichtigt. Als politische Spannungsfelder be- dem Ende des Zweiten Weltkriegs widmet. Der vor- trachten die Herausgeber das NWDR-Studio Bonn liegende Band liefert einen Überblick über die Er- sowie das Verhältnis des Senders zur Bundesregie- gebnisse der bisherigen Arbeit. Die Herausgeber rung und zur Post. Die Autoren werden dabei ihrem Peter von Rüden und Hans-Ulrich Wagner haben Anspruch gerecht, sich bewusst den Forschungs- nach verschiedenen Einzelpublikationen, Vorträgen, desiderata zuzuwenden. Hörfunk- und Fernsehbeiträgen die Erkenntnisse zusammengefasst. Im Wesentlichen schöpfen die Dass dem Standort Berlin lediglich ein Beitrag in- Autoren aus dem Fundus der NWDR-Akten, die im nerhalb des Abschnitts »In Auflösung« gewidmet Staatsarchiv Hamburg zu finden sind, und es ist ein wird und auch das Studio Köln nur in einem Aufsatz verdienstvolles Unterfangen der Arbeitsstelle, die- gewürdigt wird, kann allenfalls so gedeutet wer- se Quellen über ein Findbuch, das auch im Internet den, dass bereits andere Arbeiten hierzu vorliegen. verfügbar ist (http://www.hans-bredow-institut.de/ Der Eindruck einer »Hamburg-Zentriertheit« drängt nwdr/findbuch/index.html), der Forschung zugäng- sich in der Gesamtbetrachtung immer wieder auf. lich zu machen. Dies lässt sich beispielsweise an Formulierungen wie »Nordrhein-Westfalen schert aus« bei der Be- Die 16 Beiträge der neun Autoren dokumentieren schreibung der Auflösung des NWDR verdeutlichen. den organisations- und institutionsgeschichtlichen Eine Einordnung des NWDR in größere Strukturen Aufbau des NWDR, sofern dieses Thema nicht an wie den Verbund der ARD sowie die Darstellung des anderer Stelle bereits aufgearbeitet ist. Insofern bil- Verhältnisses zu den anderen Rundfunkanstalten det die Publikation nicht eine fortlaufend zu lesende wäre aufschlussreich auch im Hinblick auf die wei- Geschichte des NWDR. Vielmehr stehen die Aufsät- tere Entwicklung von NDR und WDR gewesen. ze durchaus für sich und füllen die Lücken bisheriger Forschungsarbeit zum NWDR, die in der Auswahl- Die Lektüre des vorliegenden ersten Bandes macht bibliografie am Ende des Bandes dokumentiert ist. neugierig auf den zweiten Teil, der sich den Pro- Hier findet das interessierte Publikum zwar wesent- grammangeboten des NWDR und der Mediennut- liche Titel. Für eine weitere rundfunkhistorische Be- zung widmen wird. Bis 2007 sollen die programm- schäftigung mit dem Thema hätte man der Biblio- geschichtlichen Erkenntnisse zum Hörfunk und zu grafie allerdings Vollständigkeit gewünscht. den ersten Fernsehsendungen veröffentlicht wer-

Die Abfolge der Beiträge orientiert sich an der Chro- nologie, beginnend mit der britischen Besatzungs- 1 Zum Jahresbeginn 2006 begingen der Norddeutsche und West- zeit, die Hans-Ulrich Wagner detailliert nachzeich- deutsche Rundfunk ihren 50. Geburtstag. Die beiden größten Rund- net und die Rolle der Protagonisten eingehend funkanstalten der ARD verdanken ihre Entstehung der Auflösung des behandelt. Hierbei wäre ein Namensregister wün- NWDR, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Rundfunklandschaft in Norddeutschland prägte. Zwei Ende 2005 erschienene Publikatio- schenswert gewesen. Will der Leser den handeln- nen sowie das vierte und neueste Heft der »Forschungsstelle zur Ge- den Personen im Gesamtband weiter nachspüren, schichte des Rundfunks in Norddeutschland« an der Universität Ham- bleibt er leider auf der Strecke. Auch ein Sachregis- burg dokumentieren die Arbeit des NWDR und beleuchten zugleich ter würde die Benutzung erleichtern und ist vielleicht interessante einzelne Facetten. Sie bieten einen differenzierten Über- blick über die Entwicklung des Rundfunks in den späten 40er und frü- für den zweiten Band als Gesamtregister für die bei- hen 50er Jahren und somit einen wesentlichen rundfunkhistorischen den Teile anzuregen. Beitrag zur deutschen Nachkriegsgeschichte. 68 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) den. Die verdienstvolle Arbeit der Forschungsstel- erneut veränderte dritte Probenummer unter dem le wird in ihrer Gesamtheit erst wirklich gewürdigt Titel »Hören und Sehen«. Wegen gravierender Span- werden können, wenn die der Forschung nunmehr nungen mit der Programmpresse, die allerdings zu vereinfacht zugänglichen Dokumente vollständig einer verbesserten Zusammenarbeit mit der Rund- ausgewertet sind und der NWDR in seiner Vielfalt funkpresse führte, und öffentlicher Kritik wurden dargestellt werden kann. Der vorliegende Band ist letztlich die Pläne begraben. aber in jedem Fall ein wichtiger Beitrag zum Ver- ständnis der Rundfunkgeschichte der Nachkriegs- Haller zeichnet die Entstehung und das Ende der zeit. Zeitschriftenpläne des NWDR präzise und span- Inge Mohr, Berlin nend nach. Die Arbeit ist sowohl presse- als auch rundfunkgeschichtlich ein Baustein in der Medien- geschichte der Nachkriegszeit sowie in der Ge- Benjamin Haller schichte des NWDR ein interessanter Aspekt, der Die Zeitschriftenpläne des NWDR. zur Lektüre empfohlen wird. (= Nordwestdeutsche Hefte zur Rundfunk- Inge Mohr, Berlin geschichte, hrsg. von Peter von Rüden und Hans-Ulrich Wagner, Heft 4). Hamburg: 2005, 59 Seiten. Ingrid Scheffler Schriftsteller und Literatur Benjamin Hallers 2004 an der Universität Ham- im NWDR Köln (1945–1955). burg verfasste Magisterarbeit widmet sich einer in- Personen – Stoffe – Darbietungsformen ter-medialen Fragestellung der Frühzeit des Nach- (= Veröffentlichungen des kriegsrundfunks. Der NWDR stellte Überlegungen Deutschen Rundfunkarchivs; Bd. 40). an, eine eigene Rundfunkzeitschrift herauszugeben. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 2005, Diesem Vorhaben spürt der Verfasser in den Doku- 297 Seiten. menten und Quellen der Jahre 1946 bis 1951, dar- unter im Axel Springer AG Unternehmensarchiv, im Die im Jahr 2000 von Ingrid Scheffler in Halle vorge- Staatsarchiv Hamburg und den Archiven des NDR, legte Habilitationsschrift beschäftigt sich mit einem nach und fördert dabei rundfunkhistorisch Interes- der interessantesten Aspekte des deutschen Nach- santes zutage. kriegsrundfunks. Eine intensive Auseinanderset- zung mit Archivalien und Quellen bildete die Grund- Der Verfasser dokumentiert die Entstehung und lage für die faktenreiche und detaillierte Schilderung Wandlung der von Axel Springer verlegerisch ver- des literarischen Schaffens im NWDR Köln. antworteten »Nordwestdeutschen Hefte«, die bis 1948 aus dem Abdruck der Sendemanuskripte des Ausgehend von der Vorkriegszeit, der Arbeit des NWDR bestanden. Er erläutert die Haltung der 1946 WERAG -Intendanten Ernst Hardt und der national- gegründeten Rundfunkzeitung »Hör zu!« gegenüber sozialistischen Literaturarbeit im Reichssender Köln dem NWDR und zeichnet den aus Unzufriedenheit gliedert Scheffler ihre Darlegungen chronologisch mit der Berichterstattung über den NWDR resultie- in zwei Etappen: die Frühphase des NWDR von renden Plan nach, eine eigene Programmzeitschrift 1945 bis 1948 und die spätere Zeit von 1948/49 bis herauszubringen, denn dies war dem NWDR als ein- 1955, in der die Literatur einen festen Programm- zige deutsche Rundfunkanstalt nach dem Vorbild platz innerhalb des Ressorts »Kultur und Wissen- der Royal Charter der BBC gestattet worden. schaft« hatte.

Die Aspekte der Konzeption dieser Zeitschrift bil- In der ersten frühen Phase des NWDR analysiert den den Schwerpunkt dieser Untersuchung. Mit Scheffler die institutionellen Rahmenbedingungen, dem Exposé der NWDR-Mitarbeiter über die Pläne die programminhaltlichen Möglichkeiten und per- des Westermann Verlags bis zu den Überlegungen, sonellen Voraussetzungen, wobei der Zugang über einen eigenen Zeitschriftenverlag zu gründen, wer- die Protagonisten im Vordergrund steht. Auch hin- den die Zwischenschritte dargestellt, die schließ- sichtlich der thematischen Charakteristik und der lich zur Produktion einer ersten Probenummer un- Präsentationsformen konzentriert sie sich auf die ter dem Titel »Der Hörer« im April 1950 führten. Der Schriftsteller und veranschaulicht so das Spektrum, zweiten Probenummer mit gleichem Titel, aber neu- das im NWDR Köln zu finden war. er Gestaltung und anderer Konzeption folgte eine Rezensionen 69

Die Literaturvermittlung ab 1949 ist mit ihrer insti- Der erste Teil trägt zusammen, was über die Wo- tutionellen Etablierung verbunden, und die Formen chenschau im NS-Staat bereits veröffentlicht wur- der Literaturkommunikation erstrecken sich nun- de und ergänzt dies durch eine Fülle weiterer De- mehr von der Literatur- und Buchkritik über die tails, vor allem bezüglich der handelnden Personen Hörspiele, Hörfolgen, Vorträge und andere Bei- und ihrer Arbeitskontexte. Weil das Inhaltsverzeich- träge. Wesentlicher Bestandteil auch dieses Kapi- nis sehr undifferenziert ist und ein Namensregis- tels ist die Auseinandersetzung mit den einzelnen ter fehlt, kann jedoch kaum selektiv auf die an sich Schriftstellern, die im NWDR zu Wort kamen, und sehr interessanten biografischen Studien zurück- deren verschiedene Wege der radiophonen Gestal- gegriffen werden. Durch akribische Quellenver- tung der Zeitgeschichte. gleiche kann Bartels die relativ große Bedeutung der Wochenschau-Macher, wie beispielsweise von Scheffler resümiert, dass die literarische Radio- Hans Weidemann (S. 77f., 164), Eberhard Fangauf kultur bereits im NWDR zwischen Dokumentaris- (S. 89f.), Eckard Ziegler (S. 172) oder Hans-Dieter mus und Fiktionalität anzusiedeln ist. Genre-Vermi- Schiller (S. 173), herausstellen. Die Erinnerungen schungen zwischen journalistischen und fiktionalen von Fritz Hippler, in denen er Propagandaminister Elementen zur Beschreibung der Nachkriegsrealität Goebbels die ganze Verantwortung zuschieben will, werden praktiziert, es seien aber dennoch eindeu- kann Bartels überzeugend als Entschuldigungsver- tig zwei unterschiedliche Formen der Wirklichkeits- such entlarven. darstellung zu unterscheiden: intentional dokumen- tarische Sendungen und Sendungen mit fiktionalem Leider verzichtet Ulrike Bartels weitgehend darauf, Charakter, realisiert als Hörspiel. ihre inhaltsanalytischen Ergebnisse in ihren ersten Teil einfließen zu lassen (oder umgekehrt). Für den Die Studie ist nicht nur Rundfunkhistorikern, son- zweiten Teil wählt sie den Ansatz, die Inhalte aller dern auch Literaturwissenschaftlern zur Lektüre überlieferten Wochenschauen (für die Kriegsjahre empfohlen. Ein umfassendes Quellen- und Litera- ohne Lücken) quantifizierend zu analysieren. Dies turverzeichnis vervollkommnet sie und macht sie zu ist ein Vorhaben, dessen Berechtigung gar nicht ge- einer hilfreichen Publikation zur Nachkriegsliteratur nug unterstrichen werden kann. Leider ist es mit ei- und Rundfunkgeschichte. nigen methodischen Detailmängeln verbunden, die Inge Mohr, Berlin den Gegnern derartiger Analysen unnötige Argu- mente liefern. In zahlreichen Tabellen wird einfach die »Anzahl der Sujets in Prozent pro Jahr« darge- Ulrike Bartels stellt. Ist es bereits ärgerlich, dass überall die abso- Die Wochenschau im Dritten Reich. lute Zahl der analysierten Beiträge pro Jahr fehlt, so Entwicklung und Funktion ist völlig unverständlich, dass nirgends das metho- eines Massenmediums dische Problem der unterschiedlichen Beitragslän- unter besonderer Berücksichtigung gen diskutiert wird. Um dies an einem Beispiel zu völkisch-nationaler Inhalte veranschaulichen: Die Deulig-Tonwoche 150/1934, Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang 2004, von Bartels in einem Exkurs vorgestellt, bestand aus 551 Seiten. elf Beiträgen mit Sendelängen zwischen 27 Sekun- den und 2 Minuten 49 Sekunden. Es war wohl nicht Für einen Rezensenten ist es immer unangenehm, ganz zufällig, dass gerade der mit Abstand längste zu einem Buch Stellung nehmen zu müssen, in dem (und am Ende platzierte) Beitrag der »Feier für die zweifellos eine Menge Arbeit steckt, und das doch Gefallenen des 9. November in München« gewidmet nicht einfach nur gelobt oder zumindest aufgrund war. Die bloße Zählung der Beiträge unterschlägt seiner Thesen konstruktiv-kritisch diskutiert wer- damit zwei sehr wichtige Zusatzinformationen. den kann. So beginnt es sich am besten zunächst einmal mit einer Bestandsaufnahme: Ulrike Bartels Die sich schon bei diesem Beispiel aufdrängenden hat ihre schon 1996 (!) in Göttingen vorgelegte Dis- weiterführenden Fragen bekommt Bartels durch die sertation in zwei Teile gegliedert, einen institutions- scharfe Trennung ihrer beiden Teile leider nicht in geschichtlichen und einen inhaltsanalytischen. Mit den Blick. Nachdem sie im ersten Teil überzeugend jeweils rund 260 Textseiten hätte jeder davon als nachgewiesen hat, dass sich Goebbels erst nach eigene Dissertation durchgehen können. Und viel- der Errichtung des »Deutschen Film-Nachrichten- leicht wäre dann auch Zeit für eine stärkere inhaltli- büros« im Mai/Juni 1935 intensiver mit der Wochen- che Durcharbeitung geblieben. schau-Produktion zu beschäftigen begann, hätte 70 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) sie gerade die Art und Weise der offensichtlichen Geschichte möglichst auf zähl- und wägbare Da- Politisierung der Wochenschauen nach 1935 pro- ten zu reduzieren. Aus einem weiten Rahmen nähert blematisieren müssen. Einerseits wäre ideologiekri- sich Barbara Schmied ihrem Thema. Sie rekapitu- tisch die Grauzone zwischen völkisch-national und liert zunächst die Fernsehentwicklung in Deutsch- nationalsozialistisch, andererseits die unüberseh- land als eine Zusammenfassung der politischen und bare Selbstgleichschaltung der Beteiligten zu the- technischen Ereignisse, in fünf Abschnitten streng matisieren gewesen. von den 50er bis zu den 90er Jahren nach Jahr- zehnten gegliedert. Dann wird der Fokus verengt auf Doch selbst wenn man sich mit den von Bartels das Programm des Bayerischen Fernsehens, wie es gelieferten Zahlen begnügt: Für ihre Interpretati- vom Rundfunkgesetz intendiert ist und in konkre- on sollte man sich doch die rudimentärsten Kennt- ten Programmbestandteilen umgesetzt wurde. Bis nisse deskriptiver Statistik angeeignet haben. Die schließlich der eigentliche Forschungsgegenstand Unterscheidung zwischen Prozenten und Prozent- in den Blick rücken darf: die »Abendschau«. In sie- punkten übersieht sie völlig. Eine Steigerung von ben Abschnitte gliedert Schmied die Geschichte der 0,82 auf 3,73 Prozent in der Kategorie »Aufrüstung/ Sendung: 1954 bis 1956: die Anfänge der »Mün- kriegsvorbereitende Maßnahmen« bei der Deulig- chener Abendschau«; 1956 bis 1970: »Münchener Tonwoche im Jahr 1933 auf im Jahr 1934 wird von Abendschau«; 1970 bis 1988: »Abendschau«; 1988 Bartels als »deutliche Steigerungsrate von 2,91%« bis 1991: »Abendschau im Dritten Programm«; 1991 beschrieben (S. 329). Tatsächlich besteht hier eine bis 1994: »Bayern Live – Die Abendschau«; 1994 bis Steigerung von 455 Prozent – der Anteil hat sich 2000: »Bayern Live – Die Abendschau (Splitting)« ja mehr als vervierfacht. Leider sank er bereits im und 2000 bis 2003: »Abendschau«. Jeden Ab- nächsten Jahr auch wieder auf 1,98 Prozent. schnitt geht sie mit sechs »Forschungsfragen« an, fragt nach Sendungsstruktur, Präsentationsform, Diesen Einwänden zum Trotz ist abschließend die Zielsetzung und Konzeption, Inhalten, den Hinter- Bedeutung zentraler quantifizierter Befunde zu be- gründen für Veränderungen und vor allem, ob die tonen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Zum einen Sendung, wie behauptet, tatsächlich tagesaktuell ist es sehr eindrücklich zu sehen, wie viel Wert so- und Bayern-bezogen ist und die Moderatoren auch wohl die Deulig- als auch die Ufa-Tonwoche in den mit bayerischem Akzent sprachen und sprechen. Vorkriegsjahren auf Unterhaltung und Sport legten; Methodisch kann Schmied nicht einheitlich vorge- 1935 etwa betrugen die Anteile 37,62 bzw. 37,26 Pro- hen, weil es vor allem aus der Frühzeit an Quellen zent. 1940 lagen sie nur noch bei 7,5 und 1942 bei fehlt und viele der Mitarbeiter von einst verstorben 0,4 Prozent. Zum anderen ist überraschend, dass oder nicht mehr erreichbar sind. Für eine inhaltsa- das nationalsozialistische Kernthema »Juden« nie nalytische Untersuchung standen erst ab 1991 Film- eine nennenswerte Rolle spielte. Der Spitzenwert aufzeichnungen zur Verfügung. So wählt sie einen betrug 1939 2 Prozent; 1940 und 1942 spielte das »Methodenmix aus Inhaltsanalyse und Leitfaden- Sujet überhaupt keine Rolle. Befunde dieser Art (die gesprächen zur Ergänzung der Quellenanalyse« (S. von Bartels leider nur ansatzweise interpretiert wer- 51), das heißt für die ersten Jahre dominieren als den), zeigen, dass das Thema »Wochenschau im Quelle fünf Interviews, die die Autorin mit Zeitzeu- Dritten Reich« noch längst nicht abschließend be- gen führte, für die mittleren Jahre gewinnen schrift- handelt worden ist. liche Dokumente an Bedeutung, während eine In- Konrad Dussel, Forst haltsanalyse erst für die letzten Jahre möglich war. Den Ergebnissen merkt man diesen »Methodenmix« allerdings kaum an. Es gelingt Schmied, für jeden Barbara Schmied Abschnitt der Geschichte der »Abendschau« die 50 Jahre Abendschau. kleinsten Veränderungen im Ablauf zu rekonstru- (= Forum Kommunikation und Medien, Bd. 3). ieren, die mit den Improvisationen der ersten Jahre München: Martin Meidenbauer Verlags- begannen und fortgeführt wurden über wechseln- buchhandlung 2004, 280 Seiten. de Längen der Sendung zwischen 30 Minuten und zwei Stunden, die Herausbildung verschiedener fes- Diese Magisterarbeit widmet die Autorin den »Ma- ter Rubriken, die Verlegung der »Abendschau« aus chern der Abendschau« des Bayerischen Rund- dem Vorabendprogramm des ARD-Gemeinschafts- funks, die als älteste regionale Informationssendung Programms ins regionale Dritte bis hin zur Einrich- der ARD im November 2004 ihren 50. Geburtstag tung regionaler Fenster in den 90er Jahren. Es gab feierte. Es ist ein nettes Geschenk, das versucht, die Politik, Kultur, Sport, Wetter, Feuilletonistisches, In- Rezensionen 71 terviews und fertige Beiträge, Studiogespräche und Ingrid Scheffler (Hrsg.) Kommentare. Das alles mit unterschiedlichen the- Literatur im DDR-Rundfunk. matischen Schwerpunkten an verschiedenen Ta- Günter Kunert – Bitterfelder Weg – Radio-Feature gen. Und natürlich sprachen die Moderatoren stets (= Jahrbuch Medien und Geschichte, 2005). mit »bayerischer Sprachfärbung« (S. 76). Auch der Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2005, Regionalbezug war meist gegeben und das Kriteri- 312 Seiten. um der »Tagesaktualität« erfüllt. Der vorliegende Sammelband vereinigt drei Beiträ- Schmied häuft zahlreiche Fakten an und verteilt sie ge zur Geschichte der Literatur im DDR-Hörfunk. mit angestrengter Redundanz auf die sechs For- Leider wird im Vorwort nicht ausgeführt, in welchem schungsfragen. Jede einzelne soll für jeden einzel- Verhältnis diese Beiträge bezüglich ihrer Entste- nen Abschnitt beantwortet werden. Oft lässt sich hung zueinander stehen beziehungsweise welche zu den Inhalten allerdings nicht mehr sagen als zur Kriterien hier zum gemeinsamen Abdruck führten. Struktur oder zur Präsentation. Schmied kommt es Insgesamt stehen sie in einer lockeren Chronolo- offenbar nur auf das Zusammentragen von Daten an gie, die sich von den 50er Jahren bis kurz vor die und weniger ihre Deutung und Einordnung in einen Wendezeit erstreckt. Für alle drei Beiträge wurden allgemeinen rundfunkpolitischen Kontext. Die Dar- zahlreiche Materialien und Tondokumente aus dem stellung der Hintergründe für Veränderungen bleibt Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg immer nur auf den eher vagen Blick der an der Sen- ausgewertet, insbesondere die Hörfunkmanuskrip- dung selbst Beteiligten begrenzt: Den Druck des te und die so genannten »Argumentationen«, die von Werbeumfelds bringen die Interviewten ins Spiel den Redaktionen für die Freigabe von offizieller Sei- und die Orientierung an Zielgruppen. Es bleiben te formuliert wurden und neben der Inhaltsangabe Hinter-Gründe. Wie sie in konkretes Handeln um- auch die politische Zielsetzung einer Sendung wie- gesetzt wurden, wird nicht deutlich. Schmied ver- dergeben sollten. säumt es auch, eine Verbindung herzustellen zwi- schen der im ersten Teil ihrer Arbeit dargestellten Ingrid Pietrzynski beschäftigt sich unter dem Titel deutschen und bayerischen Fernsehgeschichte und »Im Orkus verschwunden?« mit den frühen Hörfunk- der Geschichte der »Abendschau«. So beschreibt arbeiten des Schriftstellers Günter Kunert in den Schmied, mit welcher »Ernsthaftigkeit« der BR sei- Jahren 1953 bis 1962. Kunert nutzte zu Anfang sei- nen Programmauftrag wahrnahm, wenn er bei- ner schriftstellerischen Karriere den Rundfunk als spielsweise bei der Ausstrahlung von Filmen wie willkommenen Textabnehmer und ökonomisches »Nicht der Sexuelle ist pervers, sondern die Situati- Standbein. So schrieb er allein für den Hörfunk bis on, in der er lebt« oder »Die Konsequenz« aus dem 1962 fast 100 Sendungen. Nachdem Günter Agde in ARD-Verbund ausscherte. Es wäre doch spannend »apropos film 2003«, dem Jahrbuch der DEFA-Stif- gewesen, einmal zu fragen, wie sich diese »Ernst- tung, unter dem Titel »Kunerts Kino« vier frühe Fil- haftigkeit« in der »Abendschau« niederschlug. Oder mentwürfe Kunerts untersuchte, können nun dank welche Rolle etwa ein Franz Schönhuber spielte, der des Beitrags von Pietrzynski Kunerts Rundfunkar- von 1975 bis 1981 die Sendung leitete. Dabei wä- beiten insgesamt als ein wichtiger Teil seiner ers- ren sicher auch kritische Fragen nötig gewesen, die ten Schaffensperiode umfassend betrachtet wer- möglicherweise zu kritischen Anmerkungen hätten den. Pietrzynski stellt detailliert die verschiedenen führen können, die wohl schlecht zu einem Geburts- Genres vor, in denen Kunert tätig war, wobei sie die tagsgeschenk gepasst hätten. jeweiligen Vorgaben der staatlichen Kulturpolitik an- gemessen berücksichtigt. Ab 1953 schrieb Kunert Was bleibt, ist das Material, das die Autorin zusam- für verschiedene Reihen Satiren, Glossen und lite- mengetragen hat, vor allem auch die vier Interviews, rarische Parodien. Kurz darauf wurde er den Hö- die sie dankenswerter Weise in transkribierter Form rern auch als Lyriker vorgestellt, wobei sich dabei im Anhang veröffentlicht. Leider fehlt das Interview seine lakonisch-ironischen Gedichte von der eher mit Franz Schönhuber, das nach Angaben der Auto- agitatorisch-plakativen Lyrik abhoben, die seiner- rin »keine neuen Erkenntnisse über die Sendung an zeit im DDR-Hörfunk vorherrschte. Daneben war er sich brachte« (S. 54). Eine historische Einordnung literaturjournalistisch tätig und verfasste Rezensio- und Bewertung des Gesammelten steht allerdings nen zu Neuerscheinungen aus DDR-Verlagen. Bis- noch aus, nicht nur im Hinblick auf die Publikums- her eher unbekannt war wohl die Tätigkeit Kunerts resonanz – wie Schmied meint. als Autor von Kriminalhörspielen. Die ab Dezember Wolfram Wessels, Mannheim 1956 in der Hörfolge »Ich sage aus« ausgestrahl- 72 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) ten Sendungen sind jedoch leider nicht in der Ton- bei die Bereiche »Berufsleben«, »Freizeit und Alltag«, fassung überliefert und selbst als Manuskript sind »Jugend«, »Die Rolle der Frau« sowie »Kunst und im DRA nur zwei von zehn Folgen archiviert. Auch Kultur« heraus. Eine thematische oder formale Ent- im Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Gün- wicklung des Genres sei während seiner 25-jähri- ter Kunert zahlreiche Bestände als Vorlass überge- gen Geschichte nicht erkennbar gewesen. ben hat, sind keine weiteren Materialien zu seiner frühen Rundfunktätigkeit zu finden. Einen breiten Die drei Beiträge des Sammelbandes beleuchten Raum nehmen in der Untersuchung Kunerts Wer- auf interessante Weise verschiedene Facetten der ke mit Musik ein, die in Zusammenarbeit mit dem DDR-Hörgeschichte und präsentieren dazu für die Komponisten Kurt Schwaen entstanden sind. In- Rundfunkforschung interessante Materialien aus grid Pietrzynski verdeutlicht in ihrem Beitrag da- dem Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam-Ba- mit sehr gut das breite Schaffen Kunerts für den belsberg. Hörfunk innerhalb seiner frühen Schaffensperiode. Andreas Kozlik, Marbach am Neckar Neben dem Quellenmaterial des DRA verwendete Pietrzynski Aussagen von Kunert aus Gesprächen mit der Autorin. Diese Vorgehensweise bleibt me- Heiner Boehncke/ thodisch allerdings bedenklich, zumal Pietrzynski Michael Crone (Hrsg.) die Äußerungen von Kunert nicht kritisch betrach- Radio Radio. tet. Auf den von der DDR-Kulturpolitik ab 1959 pro- Studien zum Verhältnis pagierten »Bitterfelder Weg« und die verstärkte von Literatur und Hörfunk Berücksichtigung der »wachsenden künstlerisch Frankfurt/Main: Peter Lang 2005, ästhetischen Bedürfnisse der Werktätigen« bei 357 Seiten. der Entwicklung einer sozialistischen Nationalkultur geht Ingrid Scheffler in ihrem Beitrag »Direktive Kul- Der viel versprechende, offen formulierte Titel des turpolitik und literarische Praxis im DDR-Hörfunk« Bandes »Radio Radio« wird anhand einer Vielzahl ein. Sie untersucht die Umsetzung dieses Themas von Aspekten eingelöst, der spezifizierende Unterti- in den Literatursendungen der DDR-Sender in der tel »Studien zum Verhältnis von Literatur und Rund- Zeit von 1959 bis 1964. Dazu geht sie auf verschie- funk« jedoch nur bedingt, denn das Verhältnis zur dene Genres des Hörfunks, wie Literatursendungen, Literatur wird in den Einzelbeiträgen manchmal nur Hörspiele, Lesungen und Rezensionen, ein. Dabei knapp oder auch gar nicht thematisiert. thematisiert Scheffler die Diskrepanzen zwischen den politischen Vorgaben und dem tatsächlich Er- Der Sammelband enthält folgende sechs Haupt- reichten, beispielsweise anhand des offenkundigen kapitel: 1. »Radio Radio«, 2. »Radio und Literatur«, Qualitätsunterschieds zwischen den »professionel- 3. »Das Radio und die Propaganda«, 4. »Das Ra- len« Schriftstellern und den Arbeiterautoren, aber dio und die Autoren«, 5. »Das Radio und der Sport«, auch anhand der Erfahrungen, die die Schriftsteller 6. »Das Radio und sein Publikum«. Das Inhaltsver- als Brigademitglieder auf Zeit gemacht haben. Hier zeichnis spiegelt das schwierige Unterfangen wider, wird insbesondere auf das unveröffentlichte Tage- die mannigfaltigen Aspekte in einen sinnvollen Zu- buch des Funkautors Gerhard Stübe eingegangen, sammenhang zu bringen. So ist zum Beispiel inner- in dem ein, im Gegensatz zur später daraus hervor- halb des 4. Kapitels »Das Radio und die Autoren« gegangenen Hörfunksendung, deutlich kritischeres die Reihenfolge der Unterkapitel nicht ganz nach- Fazit seines Aufenthalts gezogen wird. vollziehbar, denn chronologische Gliederungsprin- zipien wechseln sich mit thematischen ab. Die He- Patrick Conley beschäftigt sich unter dem Titel rausgeber und redaktionellen Mitarbeiter hätten »Das Radio-Feature und seine Themen« mit der durchaus zu der Vielfalt des breiten Themenspek- Anfang 1963 gegründeten Feature-Abteilung des trums »Radio« und den sich daraus ergebenden Rundfunks der DDR und ihrer Themenauswahl von Schwierigkeit stehen können: Eine koordinieren- 1964 bis zur Wende. Dabei sieht Conley den An- de statt einer subordinierenden Gliederung hätte spruch des DDR-Rundfunks als gescheitert an, so- m.E. zur besseren Orientierung des Lesers beitra- wohl agitatorisch zu wirken als auch künstlerischen gen können. Anforderungen zu genügen. Seiner Meinung nach wurde keine dokumentarische Sichtweise entwi- Die einzelnen Beiträge sind, wie das Vorwort der ckelt, sondern Darstellungen nur klischeehaft um- Herausgeber darlegt, aus Hausarbeiten von Stu- gesetzt. Als thematische Schwerpunkte stellt er da- dierenden entstanden, und es lohnt sich wirklich, Rezensionen 73 diese Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zu- und Sendeformate, sondern auch die äußeren For- gänglich zu machen. Die Konzeption des Bandes men des Radioapparates Aufschlüsse über die ver- beansprucht keine Vollständigkeit, sondern präsen- änderte Relevanz und Rezeptionserwartungen des tiert selektiv-kaleidoskopische Darstellungen. So Radiohörers geben. nimmt die abgedruckte Bibliographie bewusst eine In mehrerer Hinsicht sehr informativ ist die Darstel- zeitliche Limitierung bis zum Jahr 1945 vor. Auch lung von Johanna Meyer-Sepp »Der Sprecher, die wenn von einer »Auswahlbibliographie« die Rede Stimme der Hörer«, die zu weiterreichenden und tie- ist, vermisst man trotzdem manche Zeitschriften- fergehenden Studien anregt. Die Autorin betont zu beiträge, etwa die aktuellen von Birgit Bernard zum Recht den Authentizitätscharakter des auditiven Thema »Westdeutscher Rundfunk und Nationalso- Mediums, der auch im Bereich der Literatur zu ei- zialismus« oder Beiträge von Harro Zimmermann ner eigenständigen Radioliteratur geführt hat. Sie und Karl Prümm in der Zeitschrift »Lili« zum The- stellt dar, dass die Polarität von akustischen und vi- ma »Radio«. suellen Medienangeboten im Kontext der Radiokri- tik bereits früh kontrovers diskutiert worden ist und Der einführende Beitrag des Bandes im ersten verweist auf die aktuellen Klagen über zu viel »vi- Kapitel »Radio Radio« mit dem Titel »Radiogere- suelle Überbetonung«, dem das Medium Hörfunk de – Worte rund um ‚Funk’« bedient sich des Asso- den »Aspekt der Fantasie-Stimulanz« entgegen- ziativen als Methode. Doch sind nicht alle dieser auf- zusetzen habe. Dieser ausführliche Beitrag veran- gezeigten anregenden Bezüge so neu, manches ist schaulicht überzeugend, wie die Stimme im Radio bereits nachzulesen, zum Beispiel in den assoziati- eine Konstruktion von Identität, Raum, Handlung ven Wortspielen von Jochen Hörischs Schriften. So und damit eine glaubhafte, authentische Präsenz erläutert Hörisch den Begriff »Sendung« mindes- zu schaffen in der Lage ist. tens ebenso plausibel wie Adrian Haus den Begriff »Empfängnis« anhand von Assoziationen zu religi- Die Arbeit zur »Literaturkritik im Rundfunk: [!] der ösen Sprachverwendungen. Haus stellt bei Begrif- Weimarer Republik« gibt gleichfalls eine Reihe von fen, die zur Kennzeichnung der Rundfunkstruktur guten Einblicken in die damaligen Facetten und benutzt werden, – sicher zutreffend – einen Bezug Funktionen der Kritik. Der mit Rücksicht auf die zum militaristischen Sprachgebrauch her, über- Themenstellung nur kurze Ausblick auf die Kritik im springt jedoch die zum Zeitpunkt der Einführung »Dritten Reich« sollte jedoch den Hinweis auf ein des Rundfunks längst etablierte Verwendung die- Verbot der Kritik im Nationalsozialismus nicht un- ser Begriffe in anderen Medienbereichen: Der Be- terschlagen. Die Autoren Tatjana Jahnke und Oli- griff »Intendant« wurde im Theater eingesetzt und ver Davin stellen nicht nur die Literaturkritik im Hör- von den Radiomachern aus diesem Medium adap- funk vor, sondern beachten auch Bezüge zwischen tiert. Funkkritik und Theaterkritik. Weiterhin geben sie In- formationen über die bedeutendsten Kritiker dieser Der kulturhistorische Abriss von Luna Naso At- Zeit, angefangen von Alfred Kerr über Bertolt Brecht, schekzai zum Stichwort »Oralität und Radio« ver- Walter Benjamin und Herbert Ihering. Studierende sucht eine Neuverortung des Mediums angesichts erhalten in diesem Beitrag vor allem einen guten der wachsenden Digitalisierung und der damit ver- Einstieg in die Walter Benjamin-Radioforschung. bundenen veränderten Mediennutzung. Das Haupt- Gleiches gilt auch für Bettina Korbs Darstellung von merkmal »Oralität« wird in den Kontext von der sei- Kurt Tucholskys Rundfunkarbeit, die aufzeigt, dass nerzeit von W.J. Ong hergestellten Beziehung von Tucholsky sich im Radio wie in seiner Pressepubli- »Literalität und Oralität« gestellt und verweist u.a. zistik für freiheitliche Strukturen und einen öffentli- auf aktuelle Forschungen, die vor allem die Me- chen Rundfunk aussprach. dienkonvergenz und eine Auflösung der funktiona- len Grenzen von Radio-, Fernseh- und PC-Nutzung Positiv hervorzuheben ist die Arbeit von Tanja Hil- diagnostizieren. tenkamp »Zensur? Die Kulturbeiräte in den 20er Jahren«. Hier wird ein äußerst wichtiger Einzelas- Claudia Konwisorz beleuchtet mit ihrer Darstellung pekt der Hörfunkforschung angemessen fokussiert; über »Design – Radio als Möbel« eine nicht-litera- die Kulturbeiräte in ihrer Entstehung, ihrer Zusam- rische Facette der Erscheinungsform Radio. Mit ih- mensetzung, mit ihren Aufgaben und ihrem Ein- rem Überblick über die Produktentwicklung der fluss sowie ihrer Programmmitwirkung aufgezeigt. Rundfunkindustrie in den 20er und 30er Jahren Um »Literatur für alle – Sinn von Literaturvermitt- zeigt sie auf, dass nicht nur die Programminhalte lung im Radio«, und zwar in der Anfangsphase des 74 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Rundfunks, geht es in dem Beitrag von Mara Per- lich, doch immer hinreichend fundiert. In Hinblick kons, in dem die Autorin Rezeption und tatsächliche auf die Gesamtbeiträge kommen auch Redundan- Wirkung für das proklamierte »Radio an alle« unter- zen vor, da jedoch jeder Beitrag unabhängig von- sucht und problematisiert. einander einzeln zu rezipieren ist, stört dies nicht wirklich. Der Versuch, das Radio in der Vielzahl sei- Zwei Beiträge befassen sich mit dem Thema »Pro- ner Erscheinungsformen darzustellen und in seinen paganda«. Während der erste von den Autoren Ta- medialen Aspekten zu erfassen, ist insgesamt ge- bea Seidler und Benedikt Prellwitz vor allem das glückt. Radio als Propagandainstrument mit Blick auf das Ingrid Scheffler, Köln Ausland wahrnimmt, wendet sich der Beitrag von Laura Anthes mehr dem Medium mit seinen Ziel- gruppenprogrammen und den ideologischen In- Karin Falkenberg tentionen zu, die beispielsweise zum Verbot von Radiohören. Jazzmusik und zur Sendung propagandistischer Zu einer Bewußtseinsgeschichte 1933 bis 1950 Hörspiele führten. Haßfurt und Nürnberg: Hans Falkenberg Verlag/ Institut für Alltagskultur 2005, 368 Seiten. Die in diesem Band publizierten Hörspielanaly- sen, wie die von Mareike Hein und Benjamin Lau- Der Anspruch der vorliegenden Arbeit wird ebenso terbach zu Enzensbergers »Untergang der Titanic« bescheiden formuliert wie er letztlich hochgesteckt und die von Yvonne Manske zu Albert Ostermai- ist. Karin Falkenberg verspricht, mit ihrer 2004 an ers »Radio Noir« und »Erreger«, praktizieren zum der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Teil interessante neue Analysemethoden. So un- eingereichten Dissertation »Bausteine zu einer ternimmt nämlich Yvonne Manske den Versuch Wahrnehmungs- und Bewußtseinsgeschichte des einer »stimmphysiologischen und literaturwissen- Radiohörens« vorzulegen (S. 13f.). In der Tat gelingt schaftlichen« linguistischen Analyse und erzielt da- es der Autorin, das Thema »Radiohören zwischen mit aufschlussreiche Befunde. Daniel Ladnar zeigt 1933 und 1950« faszinierend auszuloten, eine inte- anhand von Bertolt Brechts Radioarbeit »Der Flug ressante »Bewußtseinsgeschichte« der Deutschen der Lindberghs« die Diskrepanz zwischen Brechts zwischen NS-Machtergreifung und Zusammen- praktischer Radioarbeit und Radiotheorie auf. Un- bruchsgesellschaft zu entwerfen und mit einem un- gewöhnlich aber ergebnisreich bietet sich Florian gewöhnlichen Untersuchungsdesign aufzuwarten. Klöppingers Versuch »Fußball im Ohr« dar, dem Wie geht Karin Falkenberg ihr Thema an? Von ei- Sport als Thema in Hörspielvariationen und Radio- ner »Ethnomethodologie« ist einleitend die Rede (S. Collagen aufzuspüren. Wichtig ist, dass auch die 23ff.), von einem Ansatz zwischen Medienwissen- Thematisierung des Mediums Radio in der Belletris- schaft und Ethnologie. Dahinter verbirgt sich die tik mit Iris Winterhalders Beitrag berücksichtigt wor- Überlegung, von lebensgeschichtlichen Quellen aus- den ist. Eher zufällig hingegen erscheint, dass die- gehend bewusstseinsgeschichtliche Schlüsse zie- se Exemplifizierung am Beispiel eines Romans aus hen zu können. Die Verfasserin interviewte im Rah- Lateinamerika erfolgt. – Der Abschlussbeitrag von men einer Feldforschung zwischen 1997 und 2001 Edda Kleinichen »Das Rundfunk-Publikum 1923– insgesamt 62 Personen. Sie führte Gespräche mit 1933« betrachtet mit Hilfe soziographischer Ana- zwischen 1903 und 1945 geborenen »Ohrenzeu- lysen die Zielgruppenorientierung und den Wandel gen«, die sie aufgrund einer öffentlichen Ausschrei- von Hörgewohnheiten in der frühen Radiozeit, gibt bung ihres Projekts gefunden hatte. Die zugrunde also wieder einem programmübergreifenden Unter- gelegten Leitfragen dienten dazu, einen »Bewußt- suchungsziel Raum. werdungsprozeß« in Gang zu setzen, sodass die 32 Männer und 30 Frauen sich im Verlauf der zwischen Mit diesem Band erhalten am Thema »Radio« Inte- eineinhalb und über fünf Stunden langen Gespräche ressierte und Studierende einen aufschlussreichen »auf die Alltagshandlung des Radiohörens« besin- Einblick in die zahlreichen Perspektiven, die dieses nen mussten (S. 28). Diese im Erzählen konstruier- Medium eröffnet. Die Publikation erscheint vor al- ten Geschichten bilden das Zentrum der Arbeit, um lem für Themen-Neueinsteiger geeignet, sie dient vielen Fragen der Medienwahrnehmung im Verlauf aber gleichzeitig zur Vertiefung und Erweiterung von knapp zwei Jahrzehnten auf die Spur zu kom- von wissenschaftlichen Ansätzen der Hörfunkfor- men. Doch damit nicht genug. Falkenberg verknüpft schung. Die Qualität der Beiträge ist zwar hinsicht- diese lebensgeschichtlichen Quellen in einem zwei- lich der wissenschaftlichen Methodik unterschied- ten Schritt mit literarischen Texten um das Radio- Rezensionen 75 hören, also mit fiktionalen, künstlerisch gestalteten Der Kriegsbeginn stellte – so Karin Falkenberg – Erzählungen, in denen aber ebenfalls Geschichten eine Zäsur dar. Plötzlich war man persönlich be- konstituiert und überliefert werden. In einem dritten troffen, in die Ereignisse involviert. Radiohören zu Schritt schließlich sammelte die Autorin sämtliche Hause galt der Information über die fernen Kriegs- Quellen rund um das Radiohören – von zeitgenös- schauplätze, auf denen Ehemänner, Väter und Söh- sischen Pressetexten bis hin zu Fotos und Plaka- ne kämpften; Radiohören als Soldat galt der Ab- ten – und wertete diese für ihr Ziel aus, eine »dich- lenkung durch Unterhaltung. Das »Wunschkonzert te Beschreibung der kulturellen Ausprägungen des für die Wehrmacht« konnte sich so zur Kultsendung Radiohörens im Zeitraum von 1933 bis 1950« zu er- entwickeln, hatte es doch das Ziel, die Kluft zwi- möglichen, bzw. – anders ausgedrückt – der Frage schen Heimat und Front für einen Moment zu schlie- nachzuspüren, »wie sich Radiohören im Laufe die- ßen und starke Emotionen auf beiden Seiten zu ka- ser Jahre entwickelt und verändert hat, wie es tech- nalisieren. Emotionale Qualitäten sorgten auch für nisch im Alltag funktionierte, wie es individuell und die Bedeutung eines einzelnen Liedes im kollekti- kollektiv wahrgenommen wurde und welche politi- ven Bewusstsein der Befragten – dem »Lili Marle- schen, medienpolitischen und wirtschaftlichen Hin- en«-Schlager, den der Soldatensender Belgrad in tergründe dafür eine Rolle spielten« (S. 20). den letzten Kriegsjahren popularisierte. Die Auto- rin differenziert den Zeitraum 1939 bis 1945 jedoch Um diese Ziele einzulösen, setzt Karin Falkenberg noch weiter. Das so genannte »Feindsender«-Hören drei große thematische Kapitel an. Sie unterschei- ist ihrer Ansicht nach trotz des Verbots am 1. Sep- det zwischen dem Radiohören in den Friedensjah- tember 1939 in Deutschland von Anfang an »keine ren des NS-Regimes zwischen 1933 und 1939 (S. Ausnahme« gewesen (S. 115) und habe sich ange- 53–76), dem Radiohören während des Zweiten sichts immer bedrohlicher werdender Frontverläu- Weltkrieges (S. 77–150) und dem Radiohören nach fe zu einem »massenhaften Hören« entwickelt (S. Kriegsende, der allgemeinen Notzeit bis hin zur be- 237). Entscheidende Bedeutung habe das Radio- ginnenden Wirtschaftsreformzeit Anfang der 50er hören schließlich gegen Kriegsende gewonnen, als Jahre (S. 151–232). Dreimal innerhalb von zwanzig die Luftlagemeldungen zusammen mit all den Ge- Jahren – so die zentrale These der Autorin – verän- räuschen des Bombardements und der Sirenen zu derten sich die Bedingungen und die Bedeutungen einer Erinnerung an die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Radiohörens in Deutschland grundlegend. Wo- wurden. ran macht Falkenberg dies fest? Auch die dritte Periode der Untersuchung ist in sich Für die erste Phase des hier abgehandelten Unter- differenziert. Das Ende des Krieges und der Neu- suchungszeitraums sieht die Autorin die neue Emo- start des Rundfunks unter westalliierter Besatzung tionalität der NS-Propaganda als bestimmend an. bescherten selbstverständlich neue Töne, aber Vor dem Hintergrund grundsätzlicher rundfunkpo- auch neue Reaktionen traten bei den Hörern zu litischer Veränderungen seit 1932/33 auf der einen Tage: Skepsis angesichts jahrelanger Propaganda und weitgehend programmlichen Kontinuitäten auf und Faszination für das Neue – nicht zuletzt für die der anderen Seite sind die Macht der Stimme von Musik, für die neuen Tanzrhythmen. Dabei spielte in Hitler und Goebbels, die künstliche und auch emo- den Nachkriegsjahren speziell die technische Ent- tional wirkende Nähe zu den Großveranstaltungen wicklung eine große Rolle. War man zunächst mit und die neuen Rituale verantwortlich für neue »Ra- der Reparatur der alten Geräte beschäftigt und hör- dioerlebnisse« (S. 65). Die Interviewten erinnern te unter technisch zum Teil abenteuerlichen Bedin- sich nach mehreren Jahrzehnten an die politischen gungen, so wurde mit zunehmender Kaufkraft ein Großveranstaltungen, die über das immer populä- neues Radiogerät mit deutlich verbesserter Hör- rer werdende Medium Rundfunk übertragen wur- qualität bald zum Statussymbol. Bürgerliche Nor- den. Obwohl sie das Hören dieser Übertragungen malität wurde angestrebt, der alte Empfänger als meist als politischen Zwang erinnern, sind sie mit nationalsozialistisches Symbol verbannt und ein »intensiven Emotionen« verbunden (S. 68). Das Ra- neues Gerät zum Mittelpunkt einer privaten, fami- dio bescherte in diesen Jahren offensichtlich vie- liär-häuslichen Hörsituation. len Hörern eine Faszination der Teilhabe. Die für die Propaganda der Nationalsozialisten so charakteris- Mit solchen und vielen weiteren umfassend recher- tische Strategie, speziell Hitler zwischen Nähe und chierten und sehr genau dargestellten Phänomenen Distanz, zwischen Präsenz und Absenz zu inszenie- – auf 322 Textseiten erwarten den Leser immerhin ren, scheint demnach aufgegangen zu sein. 1430 Fußnoten, dazu 36 Seiten Literaturverzeich- 76 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) nis und 82 Abbildungen – bietet die vorliegende Ar- miert. Falkenberg weiß zwar um die »Perpetuierung beit eine wahre Fundgrube an Fakten und Facetten von historischen Ereignissen durch Medien jedwe- rund um das Radiohören in knapp zwei Jahrzehnten. der Art« (S. 242), aber in der Darstellung spielt die- Doch das allein wäre der Autorin zu wenig, weshalb se methodische Reflexion eine zu geringe Rolle. Die noch einmal auf grundlegende methodische Fra- Suche nach der »Tonspur für das Lebenskino«, wie gen der Rezeptionsgeschichtsforschung eingegan- der Essayist Michael Rutschky 1988 diese ästhe- gen werden soll. tisch-auditive Wahrnehmung im Zusammenhang mit Alltagserfahrung genannt hat, ist also span- Nachdem man in der rundfunkgeschichtlichen For- nend und kann weitergehen – auch was beispiels- schung allzu lange ausschließlich organisationsge- weise die 50er und 60er Jahre anbelangt, die sicher- schichtliche Themen behandelt hat und seit den lich nicht nur mit dem Weltmeisterschafts-Schrei 80er Jahren sich programmstrukturellen und pro- von 1954 und den Musik-Erlebnissen bei American grammgeschichtlichen Untersuchungen widmet, Forces Network (AFN) beschrieben werden können. setzt man sich seit gut einem Jahrzehnt intensiv Ein Miteinander von einem solch elaborierten rezep- auch mit historischer Radio-Rezeption bzw. -Ap- tionsgeschichtlichen Ansatz, wie ihn die vorliegen- perzeption auseinander. Vor allem im Zuge von kul- de Untersuchung jetzt der Forschung zur Verfügung turwissenschaftlichen Ansätzen entwickelte man stellt, und einem programmgeschichtlich fundierten überzeugende Fragen nach der historischen Me- Design dürfte für die nächsten Jahre interessante dienaneignung, ausgehend von der Überzeugung, Aufschlüsse in der Mediengeschichtsforschung er- dass Mediengebrauch eine individuelle, aktive warten lassen. Leistung des Nutzers ist, dass Radiohören Alltags- Hans-Ulrich Wagner, Hamburg relevanz hat und unter historischer Perspektive zur Erinnerungsleistung und damit zum kulturellen Ge- dächtnis beiträgt. Hierbei zielen die Untersuchun- Das Literarische Quartett. gen auf Veränderungen von Einstellungen, Normen, Gesamtausgabe aller 77 Sendungen Werten und habituellen Mustern, also auf Phäno- von 1988 bis 2001 mene einer longue durée. Auf der Seite der Pro- (= Digitale Bibliothek, Ausgabe 126). grammgeschichte entspricht dem die Abwendung Berlin: Directmedia Publishing 2005, von der Einzelsendung und die Hinwendung zum 1 CD-ROM oder in 3 Bänden, Programmangebot als Ganzem, als einem komplex 1.982 Seiten. strukturierten Menü, das über längere Zeit hinweg angeboten wird. Der »ethnomethodologische« An- »Welch grandioser Fehlstart!« schrieb die »Frankfur- satz von Karin Falkenberg über die Erinnerungsleis- ter Rundschau im März 1988 nach der ersten Aus- tung der Befragten und der erzählten Geschichten gabe des »Literarischen Quartetts und auch in der geht hier einen anderen Weg. Ihre Periodisierungs- übrigen Tagespresse erhielt die Sendung anfangs schritte fallen zum einen sehr viel kleinteiliger aus, eher negative Kritiken. Heute, fast fünf Jahre nach weil sich ereignisgeschichtliche Zäsuren der Po- Einstellung der Sendereihe, wird »Das Literarische litikgeschichte mit solchen der Mediengeschichte Quartett« allgemein als die bekannteste und wohl verbinden. Erinnert werden zum anderen – wie bei auch populärste Literatursendung im deutschspra- der Lektüre der Untersuchung sehr schnell deutlich chigen Fernsehen anerkannt. Die Meinungsfreudig- wird – allein herausragende Sendungen, also die keit ihrer ständigen Teilnehmer Marcel Reich-Rani- Hitler-Rede, das »Wunschkonzert«, »Lili Marleen«, cki, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler, die in den die Luftwarnmeldung. Denn diese Programmhigh- letzten neun Sendungen durch Iris Radisch abge- lights sind mit lebensgeschichtlichen Bedeutungen löst wurde, versprach kurzweilige Gespräche und verbunden, sie werden emotional erinnert, nicht ko- die inszenierte Disharmonie führte zu manchem hef- gnitiv. Sie konstituieren entscheidend »Erlebnisge- tigen Schlagabtausch. Durch diese Elemente wurde nerationen« mit, von denen Falkenberg am Schluss die Sendung auch für ein eher literaturfernes Publi- spricht und folgerichtig auf die akustisch-medialen kum durchaus sehenswert. Sechsmal im Jahr dis- Prägungen unseres Gedächtnisses hinweist. Hier- kutierte die Runde mit einem wechselnden Gast live bei erweist sich freilich eine Sache zunehmend als im ZDF über belletristische Neuerscheinungen, ak- problematisch – die Überformung der individuellen tuelle Wiederauflagen und zeitlose Klassiker, so bei- Gedächtnisleistung durch eine immer größer wer- spielsweise anlässlich des Goethejahres 1999. Die dende Flut an Medienangeboten, die Erinnerungen Sendung wurde im Dezember 2001 nach 77 Folgen an NS-, Kriegs- und Nachkriegszeit prägt und for- eingestellt, ihre ungebrochene Popularität führte je- Rezensionen 77 doch dazu, dass es im Jahr 2005 zwei Neuaufla- sinnvolle Funktionen zur Verfügung. Neben der ein- gen anlässlich der Jubiläen von Friedrich Schiller fachen Volltextsuche ist eine komplexere Suche mit und Thomas Mann gab sowie 2006 eine Sendung Operatoren und Platzhaltern möglich. Dass dies je- zu Heinrich Heine. doch kein adäquater Ersatz für ein Personenregister sein kann, zeigt sich beispielsweise bei der Suche Bis zur Ausstrahlung des »Literarischen Quartetts« nach Erwähnungen Ernst Jüngers, wo Sätze wie dürfte wohl keine Literatursendung in Deutschland »das ist so wie bei Jünger« in den zahlreichen Fund- einen derartig großen Einfluss auf die Literaturre- stellen des gleich lautenden Komparativs unterge- zeption ausgeübt haben. Allein die positive Bewer- hen. Über die Funktionen der Software informiert tung eines besprochenen Buches konnte dieses zu eine rund 30-seitige Einführung, die der CD-ROM einem Bestseller machen, so beispielsweise den als Booklet beigegeben ist, wobei sich die aufge- Roman »Rituale« von Cees Nooteboom. führten Beispiele leider nicht auf den vorliegenden Band beziehen. Nun liegen die Gespräche von 13 Jahren »Literari- schem Quartett« erstmals vollständig in Textform Die CD-ROM enthält als Zugabe ausgewählte Hör- vor. Zu verdanken ist dies dem Berliner Verlag Di- beispiele. So können sechs Sendungen vollständig rectmedia, der sich mit seiner Reihe »Digitale Bibli- sowie 32 weitere Besprechungen angehört werden. othek« auf die CD-ROM-Edition elektronischer Text- Unklar bleiben jedoch die Auswahlkriterien dieser und Bildsammlungen spezialisiert hat. Zu diesem Hörbeispiele. So ist diesbezüglich weiterhin auf die Zweck wurden sämtliche 77 Sendungen der Jahre vier bereits 2001 im Verlag Hertzfrequenz erschie- 1988 bis 2001 transkribiert und sowohl auf CD-ROM nenen Audio-CDs mit thematisch gebündelten Be- wie auch in Buchform veröffentlicht. sprechungen (»Best of«, »Unser Goethe«, »Streit- Lust«, »Unsere Klassiker«) zu verweisen. Wie im Vorwort der Edition geschildert wird, soll da- durch »das Literarische Quartett als Nachschlage- Grundsätzlich stellt sich natürlich die Frage, wa- werk zu den Autoren und ihren Werken verfügbar« rum eine elektronische Publikation des »Literari- gemacht werden. Das Ergebnis kann sich sehen schen Quartetts« völlig ohne Filmszenen erscheint. lassen. Chronologisch geordnet und nach einzel- Inwieweit kann eine Fernsehdiskussion lediglich in nen Büchern unterteilt, können jetzt die Gesprä- Worten beziehungsweise in Hörform adäquat wie- che und Besprechungen des Quartetts nachgele- dergegeben werden? Ein gutes Beispiel für diesen sen werden. Um die Dynamik der Sendung auch Mangel ist die Sendung des »Literarischen Quar- in der Schriftform zu wahren, wurde versucht, den tetts« vom 30. Juni 2000, die letzte Ausgabe, an Satzrhythmus und die Gedankensprünge der ein- der Sigrid Löffler teilnahm. Denn ein wesentlicher zelnen Sprecher möglichst originalgetreu wieder- Grund für das Ausscheiden der österreichischen zugeben. Wenn mehrere Teilnehmer gleichzeitig Literaturkritikerin und Publizistin aus der Stamm- sprachen oder sich ins Wort fielen, was ja nicht so besetzung des Quartetts war die damalige Ausein- selten war, wurde dies in der Transkription durch andersetzung mit Marcel Reich-Ranicki anlässlich Unterstreichung oder editorische Ergänzungen ver- der Besprechung des erotischen Romans »Gefähr- merkt. Durch ein Verzeichnis der besprochenen Bü- liche Geliebte« von Haruki Murakami. Während die- cher kann sowohl in der Buch- wie in der CD-ROM- se Konfrontation in der Transkription und in der Ausgabe leicht festgestellt werden, welche Autoren Hörform fast nur erahnt werden kann, war sie in der wann und mit welcher Veröffentlichung im »Literari- Fernsehaufzeichnung in Gestik und Mimik offen- schen Quartett« besprochen wurden (Friedrich Dür- sichtlich. Inhaltlich nicht unwichtige optische Ele- renmatt, Günter Grass, Vladimir Nabokov, Aleksan- mente der Sendung, wie der erhobene Zeigefinger dar Tišma und John Updike immerhin viermal, Philip Reich-Ranickis oder das Stirnrunzeln der Teilneh- Roth und Martin Walser fünfmal, Peter Handke so- mer, gehen so ebenfalls verloren. gar sechsmal). Eine Auflistung der Teilnehmer und Gäste mit kurzen biografischen Angaben ist eben- Insgesamt ist diese Edition des »Literarischen Quar- falls enthalten. Das Nachlesen der Gespräche ver- tetts« eine begrüßenswerte Publikation, es stellt führt, so jedenfalls die Erfahrung des Rezensenten, sich nur die Frage, warum angesichts des großen leicht zu längerem Schmökern. Aufwands, der in die Transkription gesteckt wurde, dabei so wenig Wert auf eine fundierte editorische Dank der in der Reihe »Digitale Bibliothek« einge- Einleitung gelegt wurde. setzten Software stehen bei der CD-ROM viele Andreas Kozlik, Marbach am Neckar 78 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Friedrich Krotz kompakt in ihren Grundannahmen, Abläufen und Neue Theorien entwickeln. Bezügen zueinander vorgestellt werden. Eine Einführung in die Grounded Theory, die Heuristische Sozialforschung Krotz’ Darstellungen sind gründlich, systematisch, und die Ethnographie anhand von Beispielen anschaulich und lassen sich flüssig lesen. Wesent- aus der Kommunikationswissenschaft liche Erkenntnisse werden, wie es sich für ein gu- Köln: Herbert von Halem Verlag 2005, tes Lehrbuch gehört, immer wieder aufgegriffen 315 Seiten. und, wenn nötig, modifiziert wiederholt. Die zentra- len Abläufe von Forschung nach Art der vorgestell- In den Sozialwissenschaften herrschen formallo- ten Verfahren werden an vielen treffenden Beispie- gisch-deduktiv orientierte Operationsschemata vor. len illustriert. Ein klassisches »How-to«-Lehrbuch, Konsequent bilden quantitative Methoden und Ver- also eine praxisorientierte Einführung, wie man fahren den Mainstream in den sozialwissenschaft- bestimmte Techniken, also etwa Tiefeninterviews, lichen Disziplinen, so auch in der Kommunikations- Gruppendiskussionen, Beobachtungen, Codiero- wissenschaft. Friedrich Krotz hat, gewissermaßen perationen, im Feld detailliert anwendet, hat Krotz gegen den Strom, ein Lehrbuch verfasst, das einen nicht geschrieben. Doch dafür gibt es ja reichlich soliden Einstieg in qualitative Forschungsansätze weiterführende Literatur. Nicht zuletzt will das Buch bietet, und zwar speziell in solche, mit deren Hilfe Studierende ermutigen, die für Anfänger nicht im- Wissenschaftler neue Theorien generieren können: mer leicht zu erschließenden Originalquellen zu le- also nicht, salopp gesagt, mit quantitativen Verfah- sen; für deren Verständnis bietet Krotz eine hervor- ren lediglich das verifizieren, falsifizieren oder ver- ragende Orientierung. Das vorliegende Buch gehört feinern, was sie ohnehin bereits zuvor wussten oder auf jede Lektüreliste für das Grundstudium bzw. die ahnten. Keineswegs lehnt Krotz quantitative Metho- Bachelor-Phase medien- und kommunikationswis- den und Verfahren und ihre Art und Weise der Theo- senschaftlicher Studiengänge, und zwar in Ergän- rienprüfung pauschal ab. Sie seien sehr wohl für vie- zung zu Einführungen in quantitative Methoden und le Fragestellungen gut geeignet und angemessen deren Forschungslogik, keineswegs als Alternative. – jedoch kaum für das systematische Aufdecken Bei der Lektüre sind mir mehrere im Text angeführ- neuer Wissensbestände im heuristischen Sinne. te Verweise auf Fallstudien aufgefallen, die im Li- Vor diesem Hintergrund führt das Buch in drei qua- teraturverzeichnis fehlen. Dies könnte eine zwei- litative Verfahren empirischer Sozialforschung ein: te Auflage korrigieren. Auch ist es eigentlich nicht die »Grounded Theory«, wie sie von Barney Gla- stimmig, von der »Grounded Theory« als Verfahren ser, Anselm Strauss und späteren Mitautoren in zu sprechen, auch wenn sich dies in der akademi- den USA entwickelt worden ist; die in manchen As- schen Gemeinde begrifflich so eingebürgert haben pekten ähnlich angelegte »Heuristische Sozialfor- mag: Eine »gegenstandsbegründete Theorie« soll schung« nach Gerhard Kleining; und schließlich die ja vielmehr das Resultat bestimmter Techniken und – eher als umfassende Forschungsstrategie denn Forschungsprozesse sein, die Strauss und Corbin als klar umrissene Methode anzusehende – Ethno- in einem ihrer Lehrbücher schlicht »qualitative For- graphie, die Berührungspunkte zu mehreren Fach- schung« nennen.1 »Grounded Theorizing« oder »ge- gebieten aufweist, wie Medienethnologie und Cul- genstandsbegründete Theorieentwicklung« wären tural Studies. Diese pragmatische Auswahl macht wohl angemessenere Begriffe; eine von Krotz auf didaktisch Sinn. Seite 284 angeführte Quelle benennt dies auch. Aber, ach Wissenschaft, Du hast Probleme. Das Buch beschränkt sich nicht auf ›abfragbares Oliver Zöllner, Stuttgart Methodenwissen‹ wie viele andere Einführungen in Techniken der Sozialforschung, sondern rekonstru- iert in Teil I zunächst die »Grundlagen einer Theo- rie theoriegenerierender Forschung«. Krotz macht klar, dass das scheinbar allgemein gültige quan- titative Paradigma der Sozialwissenschaften nur eine mögliche Sicht, eine mögliche Herangehens- weise an Fragestellungen ist – und dass man eben auch ganz andere Fragestellungen und Lösungswe- 1 Anselm Strauss/Juliet Corbin: Basics of Qualitative Research. ge entwickeln kann. Wie man dies anstellt, führt er Techniques and Procedures for Developing Grounded Theory. 2. Auf- in Teil II aus, wo die drei genannten Verfahren recht lage, Thousand Oaks u.a. 1998. Rezensionen 79

Lothar Mikos/Claudia Wegener (Hrsg.) Reflexivität folgt dabei selbst den sechs zentralen Qualitative Medienforschung. Stationen einer Studie. Die einzelnen Abschnitte Ein Handbuch umfassen die unterschiedlichen Konkretisierungs- Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2005, möglichkeiten des jeweiligen Arbeitsschritts in Form 615 Seiten. einzelner Beiträge. Unter Abschnitt 5 »Auswertung« finden sich beispielsweise Beiträge von der »Qua- Lothar Mikos und Claudia Wegener hatten den An- litativen Inhaltsanalyse« über die »Filmanalyse« bis spruch, eine fundierte Einführung zu schreiben, »die hin zur »Interpretativen Ethnographie«, um nur einige nicht nur theoretische Grundlagen bietet und einen zu nennen. Die Beiträge selbst sind alle gleich auf- Einblick in die zentralen Anwendungsfelder qualita- gebaut. Den Einstieg liefert eine konzise Darstellung tiver Medienforschung, sondern darüber hinaus als des jeweiligen Themas, gefolgt von dessen theore- detaillierte Anleitung zum qualitativen Forschen ver- tischer Erörterung und dessen praktischer Umset- standen werden kann« (S. 16). Das ist ihnen rund- zung an Hand eines Beispiels. Abgerundet werden um gelungen und dürfte insbesondere für Studen- die Aufsätze durch ein kurzes Fazit entweder mit ten erfreulich sein, die sowohl nach Analysethemen Ausblick auf weitere zukünftige Anwendungsgebie- als auch nach adäquaten Methoden suchen. Zu- te, wie kulturvergleichende Studien, oder auch mit gleich werben die Herausgeber für die qualitati- entscheidenden Hinweisen für die konkrete Anwen- ve Medienforschung. Ihre Stärke bei der Untersu- dung, beispielsweise bei Codierungen, sowie einem chung der ganz alltäglichen Medienwelten liege »in weiterführenden Literaturverzeichnis. ihrem offenen Charakter und ihrer Zielsetzung als eine ›entdeckende Wissenschaft‹, die nicht theore- Der Band berücksichtigt sowohl gängige Ansät- tische Vorannahmen zu bestätigen sucht, sondern ze und Verfahren, wie z.B. das »Qualitative Inter- sich gerade von der Nähe zur sozialen und kultu- view« im Kapitel »Erhebungsmethoden«, aber auch rellen Praxis der Menschen zu neuen theoretischen speziellere methodische Verfahren wie das »Szeni- Einsichten inspirieren lässt« (S. 16). Gerade ein sol- sche Spiel« oder »Kinderzeichnungen«. In letzte- ches Verständnis von qualitativer Medienforschung rem Beitrag stellt Norbert Neuss die methodische macht ein Handbuch wie das vorliegende beson- Reichweite der Kombination von Zeichnungen und ders notwendig und nützlich. Es eignet sich für alle, zeichnungsbezogener Kommunikation z.B. für die die einen strukturierten Einstieg in das Thema qua- Erforschung des medialen Umgangs von Kindern litative Forschung und Medien suchen. Besonders dar. Hinzu kommt, dass sich mehrere Beiträge mit anschaulich macht es, dass anhand von vielen Bei- dem Problem der Auswertbarkeit des Visuellen be- spielen gezeigt wird, wie konkrete Untersuchun- schäftigen und teilweise methodisches Neuland gen in diesem Rahmen tatsächlich aussehen kön- betreten wird. Beiträge wie beispielsweise Jo Rei- nen und Untersuchungsgegenstände methodisch cherts »Wissenssoziologische Bildinterpretation« greifbar werden. liefern in knapper und gut strukturierter Form Ein- blicke in ganz aktuelle Forschungsbereiche. Der Aufbau des Handbuchs und der Beiträge ge- stalten es sehr übersichtlich und benutzerfreund- Die einzige Schwäche des Bandes liegt darin, dass lich. Die Vielseitigkeit schuldet das Handbuch sei- leider nicht in allen Beiträgen das hohe Niveau an nem interdisziplinären Verständnis von qualitativer Verständlichkeit und methodischer Fundiertheit ge- Medienforschung. Berücksichtigt werden neben halten wird. So besticht beispielsweise der Beitrag medienwissenschaftlichen Erkenntnismodellen bei- über »Kulturvergleichende Studien« zwar durch die spielsweise auch Methoden der Musikwissenschaft Aktualität und Kreativität des vorgestellten Bei- oder der Psychologie. spiels, nicht jedoch durch die klare Darstellung me- thodischer Substanz. Die Publikation ist in sieben Abschnitte gegliedert. Die ersten sechs beschäftigen sich explizit mit der Die Autoren, die Aktualität der Beispiele und auch qualitativen Medienforschung. Der siebte umfasst die Struktur der einzelnen Beiträge machen das den Anhang mit einem sehr ausführlichen Regis- Handbuch insgesamt zu einem sehr hilfreichen ter, das somit auch die Verwendung des Buches und verlässlichen Begleiter im Forscheralltag. Das als Nachschlagewerk ermöglicht. Der Aufbau des sprichwörtliche »in der Kürze liegt die Würze« ist Handbuchs mit (1) Theoretischem Hintergrund, (2) in dieser Veröffentlichung Programm und sorgt da- Forschungsdesign, (3) Erhebungsmethoden, (4) für, dass die Vielfältigkeit und grundsätzliche Offen- Aufzeichnung, (5) Auswertung, (6) Präsentation und heit der qualitativen Medienforschung – für dieses 80 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Handbuch zumindest – gebändigt und nicht ver- Wohnquartier, Touristenmeilen, Flughafen, Shop- wässert wird. ping Mall, Supermarkt, vor, an denen sich die zu- Anja Peltzer, Augsburg vor aufgestellten Thesen überprüfen lassen sollen. Dieses Unterfangen bleibt notgedrungen skizzen- haft und enttäuscht, auch wenn es für ethnogra- Rico Lie fisch orientierte Forscher durchaus anregend ist. Spaces of Intercultural Communication. Aber der Kontrast zwischen der wuchtigen Theo- An Interdisciplinary Introduction rie und den mageren Anschlüssen zur Empirie ist to Communication, Culture, augenfällig. Empirie war, fairerweise zugestanden, and Globalizing/Localizing Identities nicht das erklärte Ziel der Publikation, aber wo Bü- Cresskill (N.J.): Hampton Press 2003, cher einer Zikkurat gleich selbstreferentielle Theo- 241 Seiten. riemodelle in schwindelnde Höhen schrauben und man als Leser befürchten muss, die Bodenhaftung In dieser tief und breit angelegten Literatursich- zu verlieren, da steht Wissenschaft vor der Gefahr, tung verfolgt Rico Lie die Entwicklung der akade- verschwurbelte Kunst für die Kunst zu liefern oder mischen Beschäftigung mit Kommunikation, Kultur hermetisch zu wirken. und Identität im transkulturellen Zusammenhang. Es gibt kaum eine Linie oder Nebenlinie, die er in Was folgt nach dieser Bruchstelle? Zwei Abschnit- seiner Darstellung nicht berücksichtigt. Dies ist die te über mögliche Perspektiven der »audience eth- große Stärke des Buches, aber zugleich auch seine nography« (S. 151–201). Eine Vielzahl von Litera- Schwäche: Es fasert aus. Die letzten beiden Kapitel, turtiteln aufarbeitend, fordert Lie einen stärker in denen es um anthropologisch-ethnographische holistischen Zugang zur Fernsehforschung, abseits Zugänge zur Fernseh- bzw. Publikumsforschung disziplinärer Grenzzäune oder Fokussierungen auf geht, wollen nicht mehr überzeugend ins zuvor äu- nur einzelne Teile, beispielsweise »Rezeption«, der ßerst detailliert dargelegte Gerüst der Diskussion sozialen Konsumptions- und Interpretationspro- um Globalisierung und Lokalisierung von Identitä- zesse, in denen Mediennutzung stattfindet. Letz- ten passen; doch dazu später. tere sieht der Autor in umfassendere Prozesse menschlichen Handelns eingebettet, deren Ana- Zuvor bietet das Buch einige exzellente Darstel- lyse Anthropologie und Ethnologie seit jeher ver- lungen. Teil I »The Embedding of Communication folgten. Das alles ist nicht wirklich neu, ist in seiner in Culture« fasst sehr gut lesbar auf rund 40 Sei- stringenten und systematischen Darstellung aller- ten den bisherigen Stand der Theorieentwicklun- dings gut zusammengefasst. Indes fragt man sich, gen rund um Medienwissenschaft, Cultural Studies, wozu es der vorangegangenen 150 Seiten bedurft Kultursoziologie, -anthropologie usw. zusammen. hatte, verstehen sich die letzten 50 Seiten doch Diese Abschnitte kann man guten Gewissens auch auch weitestgehend ohne sie. Themen-Einsteigern empfehlen. Auch die Diskus- Oliver Zöllner, Stuttgart sionen rund um kulturelle Globalisierungskonzepte, die Teil II »Framing Globalizing/Localizing Identities« bietet, sind eingangs nutzbringend zu lesen. Im wei- Michael Reufsteck/Stefan Niggemeier teren Verlauf der Darstellung verliert sich allerdings Das Fernsehlexikon. deren klarer Zielhorizont; ein Theoriereferat baut auf Alles über 7000 Sendungen das nächste auf und lässt vor allem beeindrucken- von Ally McBeal bis zur ZDF-Hitparade de Satzgebilde wachsen, in denen Mutmaßungen München: Wilhelm Goldmann Verlag 2005, Abstraktionen befruchten, die sich auf spitzfindige 1.512 Seiten. Variationen von Begrifflichkeiten stützen. InTeil III »Spaces of Intercultural Communicati- Einer Mammutaufgabe haben sich Michael Reuf- on: The Case of Television« wird dieser Duktus steck und Stefan Niggemeier angenommen: Mit zunächst fortgesetzt. Er kulminiert in einem Ver- »Das Fernsehlexikon« legen sie das bisher um- such, das vielschichtige und elaborierte Theorie- fassendste Druckwerk mit über 7000 Sendungen gebäude um »liminale« und »liminoide«, oder sind aus 55 Jahren ost- und westdeutscher Fernsehge- es »liminal/oide«?, Räume interkultureller Kommu- schichte vor. Getreu ihrem Motto »Dies ist das Buch nikation empirisch umsetzbar erscheinen zu las- für alle, die eigentlich lieber fernsehen« (S. 7) bie- sen. Lie stellt auf insgesamt 16 Seiten »deskriptiv« ten sie ein ebenso unterhaltsames wie kompeten- einige Beispiele aus Brüssel, wie innerstädtisches tes Nachschlagewerk für jedermann. Rezensionen 81

Das wird bereits auf den ersten Seiten des Buches se Fülle an Informationen bezogen haben, welche deutlich, wenn der Comedian Bastian Pastewka im Quellen und Archive benutzt wurden, bleibt aller- Vorwort eine Fünf-Typengesellschaft von Fernseh- dings weitestgehend offen. nutzern vorstellt – den Fernseh-Kenner, den Unwis- senden und Nuancierungen dazwischen. Auch die Hervorzuheben ist, dass es sich die Autoren nicht Autoren Stefan Niggemeier, einer der renommier- nehmen lassen, Stellung zu mehr oder weniger testen deutschen Medienjournalisten, und Michael miss- oder gelungenen Sendungen zu beziehen. Reufsteck, Moderator eines Fernsehquiz’ bei SWR3, Da kann es schon mal vorkommen, dass die Talk- machen das Fernsehen als gesellschaftliches Phä- show »Vera am Mittag« so vorgestellt wird: »Werk- nomen aus, ohne allerdings (medien-)wissen- tägliche Talkshow mit Vera Int-Veen und nichtpro- schaftliche Diskussionen auszubreiten. Fachkun- minenten Gästen, die miteinander und um Worte dige Leser dürften an dieser Stelle eine fundiertere ringen« (S. 1283). Auseinandersetzung mit dem Fernsehnutzungsver- halten vermissen. Abgerundet wird das ansprechende Werk von zahl- reichen, größtenteils farbigen Abbildungen, die im Im Rahmen dieses Lexikons wäre auch eine Chro- Schnitt alle vier Seiten das kompakte Seitenlayout nologie der Programmgeschichte des Fernsehens auflockern. Allein die Bildnachweise beanspruchen mit entsprechenden Zäsuren wie der Einführung etwas mehr als drei maximal ausgelastete Seiten. der kommerziellen Sender hilfreich gewesen. Er- Hinzu kommen noch 85 Seiten Personenregister, satzweise bietet das Buch immerhin ein fünfseiti- die auch dem Wissenschaftler eine Hilfe sind. ges Glossar, das allerdings ebenso knapp gehal- ten ist wie die weiterführenden Literaturhinweise. Diesem wird dieses Werk bei einer ersten Recher- Lediglich 15, wenngleich einschlägige, Werke wer- che hilfreich sein. Den Fernseh-Nostalgikern bietet den empfohlen. Gleichzeitig wird auf drei Internet- das zwei Kilogramm schwere Buch unterhaltsame Adressen verwiesen, die angesichts eines Überan- Lektüre-Stunden ebenso wie den Unwissenden, die gebots an Internetportalen zum Thema nur als eine Dank dieses Buches doch noch in den intimen Kreis persönliche Auswahl zu betrachten sind. der Fernseh-Enthusiasten gelangen können. Mark Lührs, Hamburg Nicht ganz so subjektiv, aber dennoch kritisch zu betrachten sind die Auswahlkriterien, die den Sen- dungen einen Platz in dem Lexikon sicherten. Die Insa Sjurts (Hrsg.) Begrenzung auf Sendungen, »die mindestens drei Gabler Lexikon Medienwirtschaft. Teile, Folgen oder Ausgaben hatten« (S. 7), zeigt Wiesbaden: Betriebswirtschaftlicher Verlag deutlich die Grenzen des Werkes, das von den Auto- Dr. Th. Gabler/GWV Fachverlage 2004, ren und neun Verlagsmitarbeitern erarbeitet wurde. 676 Seiten. Vage Formulierungen wie »Von diesen Sendungen sind alle enthalten, die auch nur halbwegs wichtig Von »Abdruckverlangen«, einem Teil des Gegendar- waren« oder »Sendungen kleinerer Sender und aus stellungsanspruchs, bis »ZZ-Fachgeschäft«, einem den Dritten Programmen sind in Einzelfällen erfasst, Zeitungs- und Zeitschriftenladen, bietet das von wenn sie größere Bedeutung hatten« (S. 7), lassen Insa Sjurts herausgegebene Fachlexikon in mehr die Kriterien, die zur Erwähnung einer Sendung als 2500 Stichwörtern und kurzen Fachartikeln ei- führten, undurchsichtig werden. nen kompakten Überblick über die wichtigsten Konzepte und Begriffe der Medienwirtschaft. Die- Die Einträge an sich sind detailreich, informativ und ses Fachgebiet wird nicht rein betriebswirtschaftlich nicht zuletzt pointiert. Sie umfassen Angaben zum fokussiert, sondern in durchaus vielfältigen Bezü- Sendetitel, Art der Sendung, Sender der Erstaus- gen zur weiteren Medienpraxis und Kommunikati- strahlung, Angaben zur Produktion, substantielle In- onswissenschaft. So finden sich z.B. Einträge nicht haltsbeschreibungen und häufig amüsante Hinter- nur zu »Bluetooth«, »Electronic Marketing« oder grundinformationen. Zum Beispiel wird dem Mythos »Personalbeschaffung«, sondern auch zu »Chartra- um den viel zitierten Satz von »Derrick«-Darsteller dio«, »Page Impression«, »Medien und Politik« oder Horst Tappert, »Harry, hol schon mal den Wagen« »Spaltung, digitale«, um einige exemplarisch her- (S. 257), nachgegangen. Woher die Autoren die- auszustellen. Auch wer sich schon immer kompakt über den »Popstar« als Begriff, Talent, Kommunika- tionsstandard, Marke und Qualitätsmonitor (S. 464) 82 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) informieren möchte, wird gut bedient. Die Länge der zerfällt der Band in nebeneinander stehende Einzel- Einträge ist den Themen angemessen: vom Kurzar- beiträge unterschiedlicher Qualität und Tiefe. Auch tikel bis zum komprimierten State-of-the-Art-Über- der von Jäckel formulierte Anspruch, die soziologi- blick mit Schaubildern, Tabellen und weiterführen- sche Auseinandersetzung mit verschiedenen Ver- der Literatur. breitungsmedien unter technischen, sozialen und politischen Aspekten vorzustellen, hält der Band Rundfunkhistorische Bezüge stehen im besproche- insgesamt nicht ein. Die damit intendierte Konzen- nen Lexikon äußerst selten im Vordergrund, es feh- tration auf Verbreitungsmedien wie Presse, Hör- len dementsprechend Artikel zur Rundfunk- oder funk oder Fernsehen und die Abgrenzung von an- Pressegeschichte, aber immerhin findet sich un- deren (soziologischen) Kommunikationsmedien wie ter »Propaganda« (S. 483ff.) eine Darstellung auch Geld, Wahrheit oder Liebe muss sich der Leser im- der Geschichte des Begriffs und des Phänomens. mer wieder vor Augen führen, denn in den Einzelbei- Es gibt sogar einen Eintrag zum Riepl’schen Gesetz trägen wird darauf nicht erneut verwiesen und man (S. 515). Nützlich ist, dass viele der in der weit ver- fragt sich hier und da, ob der anvisierte Medienbe- zweigten Medienbranche kursierenden Abkürzun- griff tatsächlich immer zugrunde liegt. gen – von DiSEqC über ICANN bis xML – aufgelöst und erläutert werden. Hier half bisher meist nur eine Trotz der mangelnden editorischen Leistung findet -Recherche. der interessierte Leser in dem Band dennoch Bei- träge, die den Anspruch auf ein Lehrbuch zumin- Verwunderlich ist, dass in einem Lexikon zur Medi- dest punktuell legitimieren. Es sind typische und enwirtschaft zwar vieles zu »ARD«, »ARD-Auslands- durchaus fundierte Lehrbuchtexte, die sich auf die korrespondentennetz« oder etwa »ARD-Finanzaus- Darstellung der vorliegenden Forschungsergebnis- gleich« (S. 28ff.) zu lesen ist und ebenso das ZDF in se konzentrieren. Döbler etwa liefert zum Thema einem Artikel gewürdigt wird (S. 664ff.), man aber Mediennutzung eine ausgewogene kompakte Dar- nach RTL, Sat.1 oder ProSieben vergebens sucht. stellung vom Buch bis zum Internet durch verschie- Auch Bertelsmann, Sony und TimeWarner werden dene Milieus. Die Aktualität der herangezogenen nicht eigens berücksichtigt, obwohl sie angesichts Studien und die prägnanten Verweise auf komple- ihres (nicht nur) wirtschaftlichen Einflusses von In- xe Begriffe sind bestechend. Erfreulich ist auch der teresse sein dürften. Insgesamt aber macht dieses Beitrag von Stegbauer, der aufschlussreich Werke Lexikon einen hervorragenden Eindruck und ist für soziologischer Klassiker auf deren Nutzbarkeit für die schnelle und dennoch gründliche Recherche eine Netzwerkperspektive analysiert. Zugleich in- von großem Nutzen. terpretiert er die Netzwerkforschung für die medi- Oliver Zöllner, Stuttgart enzentrierte Lesart. Sehr fundiert ist zudem das Ka- pitel von Vogelgesang zur Bedeutung von Medien für ›abweichendes Verhalten‹. Der historische Über- Michael Jäckel (Hrsg.) blick über die Thesen, beispielsweise zu Katharsis Mediensoziologie. oder Inhibition, wird den aktuellen Entwicklungen Grundfragen und Forschungsfelder gegenübergestellt und so zeitgemäße Medienwir- Wiesbaden: VS-Verlag 2005, kungstheorien etabliert. 388 Seiten. Am erfreulichsten sind jedoch die Beiträge, die nicht Die Mediensoziologie hat sich zu einer etablierten nur als fundierte Lehrbuchtexte einzuschätzen sind, Bindestrich-Soziologie entwickelt, die soziologi- sondern zugleich Innovationswert haben. Gleich der sche Problemkreise unter medialen Aspekten be- erste Beitrag im Band ist wirklich überzeugend: Jä- trachtet oder mit medialen Phänomenen verbin- ckel und Grund suchen frühe Thematisierungen der det. Jäckel legt einen Band vor, der als Lehrbuch Medien-Problematik bei den Klassikern der Sozio- verstanden sein will, das sich „insbesondere an logie. Dabei sind bemerkenswerte Fundstellen be- Studierende der Sozial- und Kommunikationswis- sprochen, darunter sehr interessant Small, Vincent senschaften“ richtet. Die nähere Betrachtung des und Tarde, die selten in diesem Zusammenhang er- Bandes hinterließ beim Rezipienten allerdings mehr wähnt werden. Weiter gelingt es auch Keppler in ih- und mehr den Eindruck, dass es dem Editor nicht rem Beitrag zur Bedeutung von Medien für die Kon- gelungen ist, sein Anliegen durchzusetzen. So fehlt struktion sozialer Wirklichkeit, nicht nur einen guten es dem Band an einer für ein Lehrbuch adäquaten Überblick zu geben. Zugleich liefert sie interessante Struktur und einem erkennbaren Konzept. Vielmehr Denk-Anstöße: So werden Verbreitungsmedien als Rezensionen 83

Subsystem konzipiert, das die Gesellschaft bestän- sichtlich und verständlich, nur scheint das Thema dig mit Irritationen versorgt, die von den Individuen im Verlauf der Argumentation abhanden zu kom- verschieden bearbeitet werden müssen. Sehr sys- men. Der Beitrag von Mai zu Medien als sozialem tematisch und fundiert werden auch die medialen System verwendet, zumal in einem soziologisch an- Kontexte sozialen Wandels von Münch und Schmidt gelegten Band, einen zu diffusen Systembegriff. besprochen. Der Beitrag relativiert Utopien, wie z.B. von Rheingold, weist auf drei Fehlschlüsse hin und Insgesamt liegt hier also ein sehr durchwachsener macht außerdem die These des zweiten Struktur- Band vor, aus dem sich der interessierte Leser ein- wandels der Öffentlichkeit prominent. Ein Beitrag zelne Beiträge dennoch herauspicken sollte. von Imhof bezüglich der Auswirkungen der Medien Sascha Trültzsch, Halle (Saale) auf die Öffentlichkeit ist ebenfalls positiv hervorzu- heben. Er besticht durch Systematik und Nutzung aktueller Beispiele zur Erläuterung der Probleme Thomas Heimann moderner medialer Öffentlichkeit. Zugleich sind die Bilder von Buchenwald. einschlägigen Ansätze fundiert und verständlich er- Die Visualisierung des Antifaschismus läutert. Ebenfalls sehr interessant arbeiten Schultz in der DDR (1945–1990) und Weßler die Bedeutung der Medien für die Trans- (= Zeithistorische Studien. Herausgegeben nationalisierung heraus. Lobenswert ist hier, dass vom Zentrum für Zeithistorische Forschung sie dabei nicht dem Trendbegriff Globalisierung Potsdam, Bd. 28). aufsitzen, sondern systematisch die entscheiden- Köln u.a.: 2005, 256 Seiten. den theoretischen Ansätze aufarbeiten, um drei ei- gene Thesen zu formulieren. Ein beispielhafter Bei- Wie die Bilder der Vergangenheit das kulturelle Ge- trag ist auch der von Lenz und Zillien zur sozialen dächtnis der Gegenwart und Zukunft mitprägen, Ungleichheit. Es werden einschlägige soziologische erinnerungspolitisch instrumentalisiert werden und Theorien referiert, aber auch die Auswirkungen so- welche semantischen Um- und Neuformulierungen zialer Schichtung auf den Mediengebrauch bespro- deren Verwendungsgeschichte zur Folge hat, ist in chen und darüber hinaus gezeigt, wie der Medien- den letzten Jahren für die Fotografie in Auseinan- gebrauch die soziale Ungleichheit erneut verstärkt. dersetzung mit den NS-Verbrechen detailliert un- Der abschließende Beitrag des Bandes von Bohn tersucht worden.1 Im Film stand eine ausführliche zu den Medien der Gesellschaft hätte sicher besser Darstellung der zu »Ikonen der Vernichtung« geron- am Anfang stehen sollen, denn hier wird der Medi- nenen »Tat als Bild« bisher noch aus. So ist Thomas enbegriff soziologisch ausdifferenziert. Sie arbeitet Heimanns Studie über die Entwicklung der »Bilder sehr übersichtlich und gut verständlich Luhmanns von Buchenwald«, die sich in die Forschung zum und auch Parsons Theorie der Kommunikations- antifaschistischen Gründungsmythos der DDR ein- medien auf. Die Unterscheidung der verschiedenen schreibt, in mehrfacher Hinsicht innovativ: Konzen- Medien mit ihren Codes und Programmen wird sys- trierten sich bisherige Untersuchungen zum An- tematisch nachgeholt und zwar in einer Form, die tifaschismus auf den Rundfunk2 oder Spielfilme3, auch soziologisch unbedarften Lesern durchaus verständlich sein sollte. Der Rekurs auf Foucault für das Thema Sexualität macht den Beitrag wirk- lich wertvoll. 1 Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung: öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. (Schriftenreihe des Fritz-Bauer-Instituts, Bd. 14) Berlin Neben diesen überzeugenden Einzelbeiträgen ent- 1998. Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der hält der Band allerdings auch Texte, die durch un- deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001. präzise Begriffswahl und weniger überzeugende Ar- 2 Christoph Classen: Faschismus und Antifaschismus. Die nati- onalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Hörfunk (1945– gumentationen auffallen, allerdings nur in geringer 1953). Köln, Weimar, Wien 2004. Zahl vorkommen. So schlägt Willems für die Ausei- 3 Detlef Kannapin: Antifaschismus im Spielfilm der DDR. DEFA- nandersetzung mit der medialen Inszenierung so- Spielfilme 1945–1955/56. Köln 1997. Christiane Mückenberger: Aus- einandersetzung im DEFA-Dokumentarfilm mit dem deutschen Fa- zialer Rollen die Reetablierung der Theater-Meta- schismus unter besonderer Berücksichtigung der fünfziger Jahre. In: pher vor. Er entwickelt zwar die eigene These von Gerhard Moldenhauer, Peter Zimmermann (Hg.): Der geteilte Himmel. der Theatralisierung anderer Subsysteme, z.B. von Arbeit, Alltag und Geschichte im ost- und westdeutschen Film. (Clo- Politik. Diese These geht jedoch kaum über bereits se Up, Bd. 13) Konstanz 2000, S. 43–55. Wolfgang Becker: Der Anti- faschismus in den DEFA-Spielfilmen. In: Filmarchiv Austria (Hg.): Der Bekanntes von Goffman und Meyrowitz hinaus. Jä- geteilte Himmel. Höhepunkte des DEFA-Kinos 1946–1992. Bd. 2, Wien ckels Text zur sozialen Integration ist zwar über- 2001, S. 75–90. 84 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) entwickelt Heimann beispielhaft eine medienüber- Heimann kann im Weiteren zeigen, dass die Fest- greifende Perspektive auf Literatur, Film und Fern- schreibung des in der DDR Sag- und Zeigbaren mit sehen, ebenso wie einen genreübergreifenden »Nackt unter Wölfen« nicht unproblematisch war: In Zugriff auf fiktionale und nichtfiktionale Formen. Ne- der Folgezeit bewegten sich die Filme zwischen Ste- ben den Primärquellen, ostdeutschen Filmprodukti- reotypen und Individualisierung der Lagergeschich- onen, die anschaulich durch Stills im Band vertreten te. Methodisch oder formal neue Ansätze führten sind, basiert die Darstellung auf einer breiten Unter- häufig zu Konflikten, wurden als Tabubrüche wahr- suchung von Aktenmaterial, ergänzt durch Zeitzeu- genommen und provozierten Zensurmaßnahmen: geninterviews. Beispielsweise durfte das ästhetisch experimen- telle Fernsehspiel »Esther« (1963) nach Protesten Nach einem einleitenden Kapitel über die »Macht des Autors Apitz erst nach dessen Tod 1980 aus- filmischer Bilder und ihre Frag-Würdigkeit« werden gestrahlt werden. frühe Filme vorgestellt, in denen zunächst Lager- erfahrungen allgemein thematisiert wurden. In den Ein ausführliches Kapitel ist den drei im Auftrag der DEFA-Beiträgen dominierten Trauerarbeit und To- Gedenkstätte produzierten Einführungsfilmen von tenehrung sowie die Leidensgeschichte des Wider- 1962, 1975 und 1985, die den Besuchern vor Ort standes. Im Kalten Krieg wurde dann in der DDR gezeigt wurden, gewidmet. An diesen bisher kaum relativ schnell eine Leiterzählung durchgesetzt, die beachteten Filmen arbeitet Heimann überzeugend die komplexe Geschichte des KZ-Buchenwald auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Erinne- staatspolitisch stützende Elemente reduzierte: vor rungspolitik, medialer Produktion und Rezeption im allem den kommunistisch geleiteten Widerstand DDR-spezifischen Wahrnehmungsdispositiv her- und die Selbstbefreiung durch die Häftlinge un- aus. Die Entwicklung im Umgang mit den »Bildern ter Ausklammerung unliebsamer Fakten. Stamm- von Buchenwald« in der DDR verdeutlicht, wie das ten die ersten filmischen Bearbeitungen von der Bemühen, zeitgemäße Formen zu finden, mit forma- DEFA, so spielte auch das junge Medium Fernse- len und inhaltlichen Beschränkungen wie z.B. der hen schon früh eine wichtige Rolle in der staatlich Neutralisierung von Zeitzeugenerinnerungen ein- gelenkten Gedenkkultur; unter anderem war die mit herging. Der letzte Einführungsfilm aus dem Jahr einem Staatsakt begangene Einweihung der Ge- 1984/85 hatte, unter anderem wegen des nüchter- denkstätte 1958 eine der ersten großen Live-Sen- nen Umgangs mit dem Thema, Probleme mit der dungen des DFF. Freigabe. Bis zum Mauerfall blieb die Thematisie- rung der Nutzung des KZ durch die Sowjetarmee Unter dem Titel »Wege in den Kanon« folgt eine aus- nach Kriegsende tabu. Erst 1990 griff das DDR- führliche Darstellung, wie die Verfilmungen von Bru- Fernsehen einen eigenen Beitrag aus dem Jahr no Apitz’ Roman »Nackt unter Wölfen« die narrati- 1985 auf, um sich kritisch mit diesem Teil der Nach- ven Muster und visuellen Schlüsselbilder kanonisch kriegsgeschichte und eigenen Auslassungen aus- prägten. Kaum bekannt dürfte sein, dass der po- einanderzusetzen. Gleichzeitig zeigt der TV-Beitrag pulären DEFA-Verfilmung von 1961 ein Jahr zuvor die Beständigkeit der Mythen, da nach wie vor der eine TV-Adaption vorausging, die seiner Zeit einer Eindruck einer Selbstbefreiung der Häftlinge evo- der größten Erfolge des DDR-Fernsehens war. Die- ziert wird. se wie auch den DEFA-Film von Konrad Wolf be- schreibt Thomas Heimann detailliert und ästhetisch Als Scharnier für die Vermittlung des staatlichen versiert, so dass seine Schlussfolgerungen – hier Antifaschismus der DDR litt der Erinnerungsort Bu- wie im ganzen Band – im wörtlichen Sinn ›augen- chenwald im Laufe der Jahre unter »Abnutzungser- scheinlich‹ sind. Am Beispiel der DEFA-Verfilmung scheinungen« (S. 228). Davon waren zwar auch die zeichnet Heimann auch die freundliche, aber dis- Film- und Fernsehbeiträge betroffen, jedoch wirk- tanzierte Kritik in der Bundesrepublik nach und kon- ten sie diesen Abnutzungserscheinungen, so das statiert am Beispiel einer WDR-Dokumentation aus Fazit von Heimann, tendenziell entgegen, indem dem Jahr 1975, dass diese »im wesentlichen der sie zu einer Auseinandersetzung mit den Sag- und DDR-offiziellen Darstellung folgte« (S. 102). Dies Zeigbarkeitsregeln aufforderten. Mediale Dynami- bleibt leider einer der wenigen Verweise auf west- ken und neue Formen wie das Zeitzeugeninterview, deutsche Reaktionen und Beiträge zum Thema Bu- aber auch Ambitionen der ›Macher‹, den gestalteri- chenwald; interessant wäre es gewesen, auch zu schen Spielraum zu erweitern, führten zu einem Fa- Westfilmen, die via Fernsehen in der DDR präsent cettenreichtum, der sich im Rahmen des Topos’ An- waren, mehr zu erfahren. tifaschismus an dessen ideologischer Engführung Rezensionen 85 rieb. Vor diesem Hintergrund sind gerade »weithin hatte, verschwanden die kritischen Artikel aus dem unbekannte Filme oder die ›kleinen‹ Produktionen Blatt und später auch die »Stacheltiere« von der des DDR-Fernsehens« (S. 232) aufschlussreich und Leinwand. Die Verhaftungen von zunächst mit Eh- Heimanns Schlussplädoyer für eine Auseinander- rungen überhäuften Mitgliedern des Leipziger Stu- setzung mit diesen ist angesichts der reichen Er- dentenkabaretts »Rat der Spötter«, unter ihnen der gebnisse seiner wegweisenden Studie nur zuzu- heutige Tatortkommissar des MDR Peter Sodann, stimmen. können als markanter Beleg gelten, dass sich nach Matthias Steinle, Marburg dem Mauerbau die Führungsspitze der DDR end- gültig stark genug fühlte, um gegen vermeintliche Kritiker entschieden vorgehen zu können. Sylvia Klötzer Satire und Macht. Insbesondere an diesem, aber auch am Beispiel Film, Zeitung, Kabarett in der DDR des Potsdamer »Kabaretts am Obelisk« macht Klöt- (= Zeithistorische Studien. zer deutlich, was auch für viele andere Auseinander- Herausgegeben vom Zentrum setzungen von Künstlern mit der Zensur oder an- für Zeithistorische Forschung Potsdam, Bd. 30). deren Formen der inhaltlichen Einflussnahme galt: Köln u.a.: Böhlau 2006, 261 Seiten. Dass Drangsalierungen oder Verbote oft von nach- geordneten Institutionen ausgingen. Insofern hing Der Satire in der DDR inhaltlich und dabei auch noch die Spannbreite inhaltlicher Möglichkeiten von Ka- den sie vertretenden Personen gerecht zu werden, barettaufführungen sowohl vom Verhandlungsge- ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Im Unter- schick der Beteiligten als auch vom Wohlwollen der schied zu westlichen Demokratien waren etwa die auf Bezirksebene Verantwortlichen ab. Rezipienten hier gewohnt, zwischen den Zeilen zu lesen und auch im Kabarett oder Film Anspielungen Im zweiten Teil ihres Buches wendet sich die Autorin wahrzunehmen, die aus der gegenwärtigen Pers- der zweiten Hälfte der 70er und den 80er Jahren zu. pektive längst ihre Prägnanz verloren haben. Hin- Am Beispiel des »Eulenspiegels« kann sie an Hand zu kommt beim Kabarett, dass ausschließlich auf einer genauen Quellenrecherche und von ihr geführ- die Texte zurückgegriffen werden kann, während ten Interviews nachweisen, wie diese Zeitung in dem die Performances auf der Bühne, die eine entschei- Maße zunehmend inhaltlich eingeengt wurde, wie dende Rolle für das Verhältnis von Schauspielern sich die Situation im Land verschlechterte. Auf die und Publikum spielten, nicht mehr nachvollziehbar Satire in den audiovisuellen Medien der DDR konnte sind. sie an dieser Stelle verzichten, weil es sie nach dem Ausscheiden der »Drei Dialektiker« aus dem »Kessel Die Autorin meistert, um es vorwegzunehmen, mit Buntes« nach der 28. Sendung nicht mehr gab. In- ihrem lesenswerten Buch diese Aufgabe sehr gut. sofern war es folgerichtig, dass Klötzer mit der Be- Bereits im Inhaltsverzeichnis wird deutlich, dass schreibung der Geschichte des »Kabaretts am Obe- sie sich auf geschickt ausgewählte Beispiele be- lisk« und den letzten Programmen der Dresdener schränkt und auf vorschnelle Verallgemeinerungen »Herkuleskeule« ihre Untersuchung beendet. verzichtet. Den Anfang bilden relativ ausführliche Bemerkungen zur Rolle der Satire in der Nach- Die Autorin weist mehrfach zu Recht auf die äußerst kriegszeit, die nach einem blühenden Neuanfang begrenzten Möglichkeiten des Einsatzes von Satire zu Beginn der 50er Jahre kaum noch nachweisbar in der DDR hin. Sie resultierten nicht zuletzt aus dem ist. Mit der »Stacheltier«-Produktion der DEFA und Verständnis der offiziellen Lesart der Satire: »Statt der Gründung der einzigen Satirezeitschrift der DDR etwa den Staat und die Gesellschaft aus dem Blick- »Eulenspiegel«, die nicht nur die DDR überlebt hat, winkel des Individuums zu kritisieren, soll die Satire sondern sich auch heute noch großer Beliebtheit bei im Sozialismus der DDR vom idealen Staat auf das den ostdeutschen Lesern erfreut, beginnt nach dem ungenügende Individuum zielen.« (S. 11) Des Wei- 17. Juni 1953 eine neue Periode. Aus Sicht der Par- teren zielte die Kritik natürlich auch auf mehr oder tei- und Staatsführung kam der Satire in dieser Zeit weniger aktuelle Ereignisse der Bundesrepublik. Als die Aufgabe zu, das in die Krise geratene Gesamt- Problem der Darstellung in der Frühzeit zeigt sich system zu stabilisieren, indem man Ventile öffnete, hier der Vergleich mit dem Westen Deutschlands. um den angestauten Unmut in der Bevölkerung über Mit Recht verweist die Autorin mehrfach auf die die existierenden Verhältnisse zu kanalisieren. Als Westberliner »Insulaner«, deren Auftritten im Hör- sich das Herrschaftssystem 1956 wieder stabilisiert funk die DDR nichts entgegenzusetzen hatte. Unbe- 86 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) streitbar waren die Texte dieses Kabaretts intelligent rischer Perspektive und systematischer Durchdrin- und zum Teil mit sehr eingängigen Melodien unter- gung. Gezeigt wird einerseits wie Feindbilder an legt. In ihren Grundaussagen unterschieden sie sich »Gedächtnisbilder« anknüpfen bzw. diese generie- aber kaum von denen eines zeitgenössischen Bon- ren. Andererseits wird eine Typologie »des Bösen« ner Regierungssprechers. Unter diesem Blickwin- versucht, indem das Regelwerk der Feindbildkon- kel wäre die Frage nach der Rolle des Kalten Krie- struktion, wie Kongruenz gegnerischer Feindbilder, ges und der auf beiden Seiten gehegten Hoffnung, Worst-Case-Denken, bipolares Schema, doppel- möglichst schnell der Ödnis der Nachkriegszeit zu te Standards, beschrieben und die Archetypen der entkommen, in Bezug auf die Satire noch einmal zu Feinde versammelt werden. stellen. Ohne dass sich an den Grundaussagen des Buches etwas ändern würde, könnten sich manche In den nachfolgenden 25 Aufsätzen werden dann der Gewichtungen noch verschieben. die Feindbilder in der DDR, der Sowjetunion, in Po- Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berlin len, Ungarn und Albanien untersucht. Grundsätzli- che Analysen von Feindbildern als Propagandakon- strukte, bezogen auf konkrete historische Kontexte, Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.) stehen neben Fallstudien, die die Zerrbilder einzel- Unsere Feinde. ner sozialer Gruppen und das Funktionieren einzel- Konstruktionen des Anderen im Sozialismus ner Medien wie Volkslied oder Film in den spezifi- Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2004, schen Kommunikationsprozessen der Legitimation 558 Seiten. und Delegitimation, der Abgrenzung und Identitäts- stiftung untersuchen. Agenten, Saboteure, Spekulanten, Schieber, Kula- ken, Popen, Militaristen, Faschisten... Die im Sozi- Die »Bonner Ultras«, die »Kriegstreiber« und alismus aufgezogene Galerie verbrecherischer Vi- »Schlotbarone« waren Figurinen des Feindbildes sagen schien ebenso lang wie grausam-gruselig. von der Bundesrepublik. Wie diese im Offizial- Doch es waren nicht skurrile Kopfgeburten, son- diskurs der DDR zur Hochzeit des Kalten Krieges dern die Werke professioneller Propagandisten. Die die Plakate und Propagandaschriften bevölker- malignen Masken hatten historisch konkrete Wider- ten, zeichnet Monika Gibas nach. Das dargestell- sacher zum Ausgangspunkt und wurden in den Er- te Westdeutschland erschien vor allem als Kolonie zählungen der Massen reproduziert. der USA, die Bundeswehr als remobilisierte Wehr- macht. Dieses Bild eines vom »US-Imperialismus« Im interdisziplinären und internationalen Dialog hat- kolonisierten Marionettenstaates greift auch Tho- ten Rainer Gries und Silke Satjukow sich schon mit mas Haury auf, wenn er das Wechselspiel von kom- den »sozialistischen Helden« befasst1. Nun wurde munistischem Selbstbild und dem Feindbild in der die Kulturgeschichte der Propagandafiguren fort- frühen DDR untersucht. Die kommunistische Par- gesetzt mit den »Feinden des Sozialismus«, debat- teiherrschaft sollte legitimiert werden in einer Kom- tiert zuerst 2003 auf einer internationalen Tagung in bination aus Selbstdarstellung als wahrer Vertreter Weimar und nun dokumentiert im daraus hervorge- gesamtdeutscher Interessen und den Feindkarika- gangenen Sammelband. Ins gemeinsame Thema – turen des vaterlandslosen Finanzkapitals und der die Konstruktion des Anderen in osteuropäischen kosmopolitischen Kulturbanausen. Ländern und in der DDR – führen die Herausge- ber Satjukow und Gries mit einer ebenso notwen- Gleich mehrere Aufsätze befassen sich mit der In- digen wie fundierten theoretischen Grundlegung szenierung von Feindbildern in Film und Fernse- ein. Die sozialpsychologischen Voraussetzungen hen. Wie Feindbilder im wörtlichen und metapho- im Freund-Feind-System, in der Bestimmung von rischen Sinne in Bewegung geraten, zeigt Thomas Ethnien und der Behauptung von Raum und Umwelt, Lindenberger, wenn er die Darstellungsvarianten werden erörtert und die dualen Schemata im Feind- von Rockmusik und Jugenddelinquenz in DEFA- bild-Dispositiv zerlegt. Besonders aufschlussreich Filmen nebeneinander stellt. An Hand von »Ber- und produktiv ist hierbei die Verbindung von histo- lin – Ecke Schönhauser« (1957), »Die Glatzkopf- bande« (1963) und »Heißer Sommer« (1968) und bezüglich der Filmmotive des Rock’n’Roll und ju- gendlicher Aufsässigkeit beschreibt Lindenberger 1 Vgl. u.a. Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der das unterschiedliche, doch historisch erklärbare DDR. Berlin 2002. Herangehen von Kulturpolitik und Filmemachern. Rezensionen 87

Es reichte vom Denunzieren jugendlicher Delin- sätzen allerdings die Spezifik der Transportmedien, quenz als konterrevolutionärer Straftat bis zum so etwa der a priori hypertrophierenden Karikatur, Changieren mit der Attraktivität internationaler Ju- zu kurz zu kommen. gendkultur. Wenn Jörg-Uwe Fischer den Science- Fiction-Film »Stunde des Skorpions« (DFF 1968) Nicht nur die Feinde wechseln nach politischen Um- untersucht, wird die spannende Frage nach dem brüchen, sondern auch ihre Bilder durchleben einen Feind in der Zukunft aufgeworfen. Die Konstella- Bedeutungswandel. Isabelle de Keghel verdeutlicht tion dieses utopischen Kriminalfilms: Eine kleine dies an der sowjetischen und postsowjetischen Gruppe von Restimperialisten will mit einer neuen Imagination des letzten Zaren Nikolaj II. Zar Nikolaj Superwaffe gegen die kooperierende humanisier- mutierte von einem blutigen Tyrannen zum nunmeh- te Menschheit vorgehen. rigen Heiligen, zum Märtyrer, der den Bolschewi- ki moralisch überlegen gewesen sei. So wie dieser Aufschlussreich für die Genese von Feindbildern Aufsatz anregen kann, über die Ikonisierung und de- sind die Studien von Martin Sabrow und Christoph ren kommunikative Konsequenzen nachzusinnen, Classen. Sabrow zeigt den Wandel des Bildes vom ist das ganze Werk angelegt, den Diskurs weiterzu- Anderen in der Legitimationskultur der DDR auf. führen. Diese Notwendigkeit machen auch die Her- Auch wenn Sabrow diesen Diskurs vorwiegend an ausgeber deutlich, wenn sie im Nachwort mit Blick der Wissenschaftsgeschichte der DDR analysiert, auf die Feindbilder im unbeendeten Irakkrieg – den dürften doch solche erfassten Wandlungsprozes- gefolterten Gefangen einerseits und den zur Schau se vom »vertrauten Feind« über den »objektiven gestellten Geiseln andererseits – vor dem Gewalt- Gegner« bis zum »kollegialen Konkurrenten« An- potenzial warnen, das Feindbildern innewohnt. In regung sein, in der formellen Starre von Feindbil- der Zusammenschau vieler Beiträge wird deutlich, dern deren diskursive Dynamik zu erfassen. Die Ge- wie sehr die propagierten Feindbilder fungiblen se- schichte des Faschismus als eine Gegnerkategorie mantischen Behältern ähneln, die nach Opportuni- behandelt Classen. Gerade weil das ganze Faschis- tät geöffnet wurden und in der ein buntscheckiges mus-Paradigma so untrennbar mit dem antifaschis- Sammelsurium an Feindmasken Platz hatte. Nicht tischen Selbstverständnis der DDR verbunden war, zuletzt bleibt noch zu vermerken, dass der umfäng- meint Classen, bleibe eine verkürzte Interpretation liche Band von den Herausgebern bzw. dem Verlag als Herrschaftstechnik unzulänglich. Mit seinem er- in Illustration, in Satz, Layout und Einband vorzüg- weiterten kulturgeschichtlichen Zugriff versucht er, lich ausgestattet wurde. Faschismus und Antifaschismus als symbolisch Tilo Prase, Leipzig vermittelte Sinngebungsmuster zu erfassen, die das durchaus authentische Empfinden der Prota- gonisten nicht ausblenden. Martin Löffelholz (Hrsg.) Krieg als Medienereignis II. Mit den Habsburgern und den Preußen vergleicht Krisenkommunikation im 21. Jahrhundert Árpád von Klimó diese historischen Feindbilder und Wiesbaden: VS Verlag 2004, ihre Wandlungen in Ungarn und der DDR. Während 366 Seiten. Klimó nicht nur den zeitgeschichtlichen Kontext für das Feindbild von den Habsburgern, sondern auch Das 21. Jahrhundert ist noch recht jung; insofern die schrittweise Differenzierung in Ungarn schlüs- impliziert der Untertitel dieses Sammelbandes eine sig darlegt, scheint er die Preußen-Rezeption in der Prophetie. Denkt man diese, mit einer gehörigen DDR der 80er Jahre nicht wahrgenommen zu haben. Portion Zynismus, weiter, so dürften sich Medien-, Während er ein »bis zum Schluss« ungewandeltes Kommunikations-, Kultur-, Politikwissenschaftler, Preußenbild annimmt, ritt der Alte Fritz schon wie- Soziologen, Militärforscher und alle davon berühr- der »Unter den Linden« und das DDR-Fernsehen ten Bindestrich-Akademiker auf die nächsten rund feierte »Sachsen Glanz und Preußens Gloria«. Wei- 95 Jahre freuen: Ihnen wird es nicht an Forschungs- tere Aufsätze befassen sich mit Fleischspekulanten gegenständen mangeln. Was allein seit dem Golf- im Nachkriegspolen, mit den sowjetischen Feind- krieg von 1991 an Fachliteratur über Krisen- und bildern vom polnischen Pan und dem deutschen Kriegskommunikation erschienen ist, füllt bereits Faschisten, mit den Kulaken und den »Feinden der eine veritable Bibliothek. Die Kriege auf dem Bal- Kolchosordnung« und dem Feind in sowjetischen kan, in Afghanistan und wiederholt im Irak sowie der Massenliedern bzw. in Malerei und Film. Insgesamt paradigmatische »11. September« haben dem For- scheint in diesen sehr anregenden, erhellenden Auf- schungsgebiet neuen Aufschub gegeben. 88 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Zu einem Zeitpunkt, da der vorhandene Literatur- Politiker und Militärs werden in ihrer Handhabung und Forschungsstand auszufasern beginnt, hat von Public Affairs oder Public Relations zunehmend sich Martin Löffelholz die verdienstvolle Aufgabe professionell – und sind der redaktionellen Praxis gestellt, dieses – trotz seiner Prominenz im Me- der Mainstreammedien oft voraus. Doch es bil- dienalltag akademisch noch unterbelichtete – For- den sich Gegenöffentlichkeiten, vor allem im Inter- schungsgebiet erneut zu systematisieren und neu- net, beispielsweise mittels Weblogs und inzwischen ere Forschungsstränge und Theorieansätze der auch Podcasting. Aber auch deren Instrumentalisie- Krisen- und Kriegskommunikation aufzuzeigen.1 rung als Raum der Kriegführung hat schon längst Dies leistet der ausführliche Einführungsbeitrag eingesetzt. Löffelholz und seine Autoren sammeln des Herausgebers, der einen hervorragenden Ein- zu diesen Entwicklungen wichtige Belege. Die Bi- stieg bietet und kaum einen relevanten Aspekt der bliografie im Anhang des Buches ist für weitere For- bis dato erschienenen Fachliteratur unberücksich- schungen ein ebenso nützliches Arbeitsmittel. tigt lässt. Oliver Zöllner, Stuttgart

Im ersten Themenblock zeigen Thomas Domini- kowski, Michael Kunczik und Philip Hammond wich- Victoria Strachwitz tige historische Perspektiven und Kontinuitäten auf, Der Falklandkrieg als Medienevent. im zweiten ordnen Alexander Görke, Jan Staiger Streitkräfte, Politik und Medien und Thomas Hanitzsch das Thema anhand von so- im Wechselspiel zial- und kommunikationswissenschaftlichen The- Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2005, orien ein, wobei systemtheoretische Ansätze zum 163 Seiten. Teil eine zentrale Rolle spielen. Die eher kasuistisch angelegten Studien der beiden abschließenden Blö- Mit dem Falklandkrieg greift Victoria Strachwitz ei- cke widmen sich der »militärischen Kommunikation nen in der aktuellen Forschungslandschaft wenig im Krieg«, dazu aus der Innenperspektive von Streit- beachteten Konflikt auf und analysiert ihn rückbli- kräften Hans-Joachim Reeb, Walter Jertz und Cars- ckend anhand der Fragestellung, warum und wie ten Bockstette sowie Carsten Schlüter, und »Politik, der Krieg zu einem Medienevent wurde. War es die Vernetzung und Militainment«, dazu in der Außen- gezielte Einflussnahme der Regierung Thatcher, die sicht auf Medien, ihre Inhalte und Produktion Chris- den Falklandkrieg zu einem Medienereignis mach- toph Weller, Hans-Jürgen Bucher sowie Fabian Vir- te? Oder dramatisierte die Royal Navy die Kriegs- chow und Tanja Thomas. Spätestens bei diesen gefahr, um sich gegen mögliche Etat-Kürzungen zu Beiträgen wird deutlich, welche bedeutsame Rolle wehren? Auch die kontroverse Frage, ob Margaret militärisches Denken, der Diskurs des Militärischen Thatcher damals tatsächlich den Falklandkrieg be- schlechthin, in der globalisierten (Welt-)Medienge- gann, um von Problemen in der Innenpolitik abzu- sellschaft spielt – und zwar meist unhinterfragt. Die lenken, wird in dieser Studie thematisiert. Mechanismen dieses Diskurses werden in allen Fallstudien, deren Ergebnisse hier nicht paraphra- Das Hauptinteresse der Autorin gilt der Beschrei- siert werden können und sollen, aus unterschied- bung von Vorbereitung und Durchführung der Fal- lichen Perspektiven detailliert nachgezeichnet. Sie kland-Kriegsberichterstattung. Die Studie ist auf mögen exemplarisch sein, führen aber die wesent- die Darstellung der britischen Perspektive begrenzt lichen Konturen des Forschungsgegenstandes vor und schließt am Ende mit einem Bogen zur Bericht- Augen. erstattung im Irak-Krieg 2003. Die vermuteten Pa- rallelen zwischen den »embedded journalists« und Wie aktuell die Befunde des Sammelbandes sind, den Korrespondenten auf den Schiffen der Royal zeigen vielerlei konfliktäre Ereignisse im Frühjahr Navy erweisen sich jedoch als marginal, da in bei- 2006. Das Forschungsgebiet Krisen- und Kriegs- den Kriegen völlig unterschiedliche journalistische kommunikation dürfte sich prächtig weiterentwi- Arbeitsbedingungen herrschten. ckeln. Ebenso ihr Gegenstand in der Medienpraxis. Strachwitz stellt neben einigen Einführungen zur Entstehung des Konflikts um die Malvinen sowie zum Wesen der Kriegsberichterstattung den Ver- 1 Er hat dies, zum Teil mit denselben Autoren, bereits elf Jahre zuvor lauf des Krieges aus medialer Perspektive präzise in einem Vorgängerband getan. Vgl. Martin Löffelholz (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommu- dar. Diese chronologisch aufgebaute Beschreibung nikation. Opladen 1993. findet auf zwei analytischen Schienen statt: erstens Rezensionen 89 wird das Verhältnis zwischen Regierung und Medi- Die grundlegende Frage, was denn nun die Ursa- en dargestellt und zweitens das Verhältnis zwischen chen für die Entwicklung des Falklandkrieges zum Militär und Medien. Die Unterteilung der Medien-In- »Medienevent« und schließlich zur Darstellung als formationsquellen in Regierung und Militär ist zum Medienevent in den Medien selbst sind, wird dem einen eine gelungene Operationalisierung für eine Leser eher indirekt beantwortet: einerseits ist es Analyse von Kriegsberichterstattung. Zum anderen das »Verhältnis zwischen Regierung und Medi- wird anhand der Logiken der drei Akteure Medien, en« (S. 109), andererseits ist es die »besondere Regierung, Militär überzeugend argumentiert, wie […] Aura, die die Medienpräsenz den Ereignissen das Verhältnis Militär-Medien von gegenseitigem verlieh« (S. 95). Und in der Summe waren es auch Respekt und Vertrauen geprägt war, hingegen das alle drei Akteure Medien, Regierung und Militär, die Verhältnis Regierung-Medien von Misstrauen und durch ihre unterschiedlichen Handlungslogiken die- von ausbleibenden oder gar falschen Informationen. se Vermarktung des Krieges herbeiführten (S. 98). Die Kombination dieser beiden Verhältnisse führte Für die Motivation Thatchers, den Falklandkrieg in- dann laut Strachwitz zu dem Ergebnis, dass der Fal- nenpolitisch nutzbar zu machen, kommt die Autorin klandkrieg ein Medienereignis wurde. zu dem Fazit, dass der Krieg durch Thatcher nicht provoziert wurde, aber dass sie ihn medial so ge- Die Beschreibungen des Kriegsverlaufs und sei- steuert hat, dass sich die Darstellung positiv auf die ner medialen Vorbereitung lesen sich überaus an- nächste Wahl ausgewirkt hat. schaulich. So wird beispielsweise berichtet, wie die Akkreditierung der britischen Journalisten reich- Der Mehrwert dieser Studie liegt also insgesamt lich ungesteuert verlief und für vier Zeitungen man- weniger in der Ursachenforschung der medialen gels anderer Kriterien durch Losglück entschieden Darstellung des Falklandkrieges als vielmehr im wurde – die gute Fee war die Gattin des Pressever- prozesshaften Nachzeichnen derjenigen Faktoren bandsdirektors John LePage. Weiterhin stellt die und Ereignisse, von denen die Autorin annimmt, Autorin die begrenzten technischen Möglichkeiten dass sie auf die Medienberichterstattung Einfluss der Berichtsübermittlung vom Kriegsschiff in die genommen haben. In Kombination mit dem Verfüg- Heimatredaktionen dar und auch die bewussten barmachen von aufschlussreichen Experteninter- Desinformationskampagnen der britischen Regie- views wurde hier eine empirische Grundlage für die rung sowie die Reaktionen der Medienberichterstat- weitere Erforschung der medialen Aufbereitung des ter, die dann auf alternative und teilweise feindliche Falklandkrieges geschaffen. Quellen auswichen. Henrike Viehrig, Köln

Die empirische Basis für diese Beschreibungen bil- den in der Hauptsache fünf ausführliche Experten- Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.) interviews mit ehemaligen Vertretern der Thatcher- Medien des kollektiven Gedächtnisses. Regierung, der damaligen Labour-Opposition, der Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifizität Medien und des Militärs. Im Gegensatz zur sons- (= Medien und kulturelle Erinnerung, Bd. 1). tigen Geheimhaltungspraxis sind die Interviews im Berlin: De Gruyter 2004, 310 Seiten. Anhang der Studie im Wortlaut abgedruckt. Sie er- wiesen sich als eine höchst spannende Zusatzlek- In den seit einigen Jahren in großer Zahl erschei- türe. Bis auf das Interview mit Simon David Jenkins, nenden Veröffentlichungen zum »kollektiven Ge- dem politischen Redakteur des »Economist«, er- dächtnis« kommt eine Fragestellung erheblich zu scheinen die Gespräche in ungekürzter Fassung, kurz: Wie werden Informationen über Vergangenes was dem Leser die Einordnung der wörtlichen Zi- gespeichert bzw. warum und wie entstehen im Ein- tate im Nachhinein zusammenhängend ermöglicht. zelnen im Fortgang der Zeiten auf Basis dieses Wis- sen jeweils andere, neue ›Vergangenheitsversionen‹ Eine weitere empirische Quelle – neben der ein- und wie werden diese in großen Sozialverbänden schlägigen Sekundärliteratur und einer Inhaltsana- im Einzelnen verbreitet? Denn dass gemeinsame lyse der britischen Presse – stellen in dieser Studie Erlebnisse in überschaubaren Erfahrungsgemein- die Leserbriefe dar. Der Inhalt veröffentlichter Leser- schaften und ihrer unmittelbaren Kommunikation briefe ist streng genommen Teil des Medieninhalts, bewahrt und tradiert werden, ist ja eher die Aus- aber hier wird zusätzlich die Zahl der eingesandten nahme. In den älteren Publikationen sind die Aus- Briefe als Messgröße für das Interesse der Medien- führungen oftmals metaphorisch und unkonkret, rezipienten am berichteten Krieg operationalisiert. wenn es darum geht, den Umgang von Großkollek- 90 Rundfunk und Geschichte 31 (2005) tiven mit der Vergangenheit genauer zu beschrei- auf einige grundlegende Schwächen der Argumen- ben und insbesondere in seinen Wirkungszusam- tation aufmerksam macht. Weil nicht unterschieden menhängen zu erklären. werde zwischen dem, was erinnert wird und dem, womit und wodurch erinnert wird (S. 42), behandel- Aus der Tagung »Kulturelles Gedächtnis und Erinne- ten die Autoren, so Schmidt, eine beliebige Band- rungskulturen« des Giessener Graduiertenzentrums breite von Themen, die für die nationale Identität Kulturwissenschaften ging nun der hier anzuzeigen- der Franzosen als bedeutsam erachtetet werden; de Sammelband hervor. Seine Bedeutung besteht manche Ausführungen unterschieden sich so nicht darin, nicht nur die seit über einem Jahrzehnt vor- von einer konventionellen geschichtswissenschaft- genommenen Präzisierungen zu dem Konstrukt zu- lichen Darstellung. sammenzutragen, das als »kommunikatives« bzw. und »kulturelles Gedächtnis« bezeichnet wird. Die Aleida Assmann arbeitet noch einmal klar die we- Herausgeber und Autoren des Bandes fragen da- sentlichen Differenzen zwischen dem »Speicherge- nach, auf welchen medialen Grundlagen das kom- dächtnis« einerseits und dem im kollektiven Diskurs plexe Wechselspiel zwischen Fragestellungen der sich vollziehenden Evozieren der gespeicherten In- Gegenwart und einer an der Vergangenheit orien- halte andererseits heraus, was sie als »Funktions- tierten Vergewisserung vor sich geht. Dazu enthält gedächtnis« bezeichnet. Unter diesem Sammel- der Band einige Grundsatzbeiträge und etliche Fall- begriff werden die gesellschaftlichen Handlungen beispiele, wobei alle Autoren um systematische He- und Institutionen begriffen, die sich ex professo rangehensweisen und stringente Begriffsbildungen der Erzeugung und Verbreitung von Vergangen- bemüht sind und blumige Metaphern vermeiden. heitsversionen widmen, so im Erziehungswesen, in Es geht einerseits darum, die jeweilige Vielfalt der der Geschichtswissenschaft usw. Dabei verdeut- Vergangenheitsreservoire anzuführen und zu be- licht Assmann an drei exemplarischen Studien für schreiben. Berücksichtigt werden weit mehr als nur die Zeit um 1800, 1900 und 2000, wie unterschied- Archive als Schrift- und Bildspeicher, nämlich auch lich das Funktionsgedächtnis jeweils angesichts der Bauwerke, Denkmäler, (Kultur-) Landschaften. De- Zeit bedingten Voraussetzungen ›arbeitet‹ und da- ren Vergangenheit konservierende ›Gehalte‹ wer- mit auch zu unterschiedlichen Konstruktionen des den andererseits immer wieder neu in die aktuellen Vergangenen gelangt. Diskurse der Gegenwart hervorgeholt und verbrei- tet. Um die Vielfalt der Phänomene gleichwohl un- Was den Zusammenhang von individuellen und ter einheitlichen Prämissen interpretieren zu kön- kollektiven Erinnerungsprozessen angeht, bedarf nen, schlagen die Herausgeber in ihrer Einleitung es auch hier präziser Begriffsbildung und intensiver vor, zur Beschreibung dieser Prozesse sich eines Forschung, wie der Beitrag des Psychologen Ger- weiten Medienbegriffs zu bedienen und greifen auf ald Echterhoff verdeutlicht. Er knüpft einerseits mit Vorschläge des Kommunikationswissenschaftlers Ausführungen zum »kollektiv-semantischen Ge- S.J. Schmidt zurück. Darüber hinaus machen sie dächtnis« an Assmanns Funktionsgedächtnis an, darauf aufmerksam, dass die Speicher- und Verteil- andererseits bezeichnet er Funktionsweisen des medien sich keineswegs neutral gegenüber ihren In- Erinnerns in überschaubaren Erinnerungsgemein- halten verhalten, vielmehr hinsichtlich der Materia- schaften als »episodisch-semantisches Gedächt- lität ihrer Struktur sowie ihrer sozialen Integration nis« und untersucht sie näher. einen beträchtlichen Einfluss darauf haben, was und wie etwas verwahrt und schließlich als relevan- Schließlich konkretisiert Jens Ruchatz am Beispiel te Vergangenheit verbreitet wird. der Fotografie, wie das Speichergedächtnis vom sozialen Gebrauch einer bestimmten Technik der Wie notwendig begriffliche Reflexion und Klar- Fixierung – hier von Bildern – abhängig ist. Bereits heit ist, verdeutlicht der erste Beitrag des die all- im Augenblick des Festhaltens werden dem foto- gemeinen Beiträge enthaltenden zweiten Teils grafischen Abbild Merkmale des unwillkürlichen über »Gedächtnistheorie/Medientheorien«. Patri- Überrests oder bewusst inszenierter Traditionsbil- ck Schmidt unterzieht einige Aspekte des von Pi- dung eingeschrieben, ein Prozess, der sich bei sei- erre Nora herausgegebenen dreibändiges Werks ner weiteren Verwendung wiederholt. »Lieux de Mémoire« einer ausführlichen Kritik. Die Verdienste dieser Pionierstudie zu Inhalten und In den Fallbeispielen werden jeweils »geschichts- Funktionieren kollektiver Erinnerung in Frankreich und kulturanthropologische«, »literaturwissen- werden jedoch nicht geschmälert, wenn Schmidt schaftliche« und »politikwissenschaftliche Medien- Rezensionen 91 und Gedächtniskonzepte« vorgestellt. Sie zeigen die die Handschrift Guido Knopps, des Leiter der auf, wie jeweils verschiedene historische Ausgangs- Redaktion Zeitgeschichte des ZDF tragen. Wäh- bedingungen und gesellschaftliche Voraussetzun- rend sich dieser in Bezug auf den Wirklichkeits- und gen das Wechselspiel zwischen den Speicher- und historiografischen Wert seiner Produktionen weiter- Verbreitungsmedien, also die Prozesse bestimmen, hin unbescheiden gibt, wächst das allgemeine Un- in denen aus den in den Speichermedien verwahr- behagen an einer beliebigen Bebilderung in (Fern- ten Zeugnissen, dem dort abgelagerten Wissen seh-) Dokumentationen. über vergangene Zeiten für die Gegenwart, relevan- te ›Vergangenheitsversionen‹ erstellt werden. Dabei Dennoch werden in Feuilleton und auch Wissen- wird immer wieder hervorgehoben, dass ohne Letz- schaft selten Sinn und Unsinn der Verwendung von tere ein schriftliches Zeugnis oder etwa eines der historischen dokumentarischen Filmaufnahmen Architektur bedeutungslos bliebe. thematisiert.

Bei den Fallbeispielen sind der (Kino-)Film und die In Deutschland gibt es weder eine ernst zu nehmen- elektronischen Medien – Hörfunk und vor allem das de wissenschaftliche noch publizistische Debatte Fernsehen – kaum vertreten, einige Bezüge lassen darüber, wie denn der Konstruktionscharakter von sich herstellen mit den Ergebnissen des Beitrags filmischer bzw. televisionärer Geschichtspräsenta- von Ruchatz. Das Fernsehen speichert riesige Men- tion in die Darstellungen einzubinden ist, geschwei- gen an bildlichen Repräsentationen gegenwärtigen ge denn, dass es Beispiele dafür gibt, an denen dies Geschehens und holt gleichzeitig in großem Um- beispielhaft vorgeführt würde. Auch aus diesem fang das Gespeicherte als für die jeweilige Gegen- Grunde mussten Eva Hohenberger und Judith Keil- wart bedeutsam wieder hervor und stellt es in neue bach in dem von ihnen zusammengestellten Rea- Kontexte. Warum und unter welchen Voraussetzun- der fast ausschließlich auf dazu – teilweise bereits gen es permanent in tagesaktuellen Beiträgen wie in in den 90er Jahren erschienene – Literatur amerika- explizit sich mit Geschichte befassenden Sendun- nischer und französischer Provenienz zurückgrei- gen unterschiedlichste ›Vergangenheitsversionen‹ fen. In den Beiträgen werden teilweise recht abs- in Umlauf bringt, ist nur teilweise erforscht. Augen- trakt die angeschnittenen Probleme diskutiert oder fällig sind die sich im Laufe der Jahrzehnte perma- in den Aufsätzen vorhandene Beispiele selbstrefle- nent verändernden technischen Möglichkeiten der xiver und realitätskritischer Produktionen vorge- Sprach- und Bildspeicherung, ausgehend von äu- stellt. Nahezu alle Autoren der Aufsätze stehen so ßerst schwerfälliger analoger bis hin zur enorm be- genannten poststrukturalistischen bzw. postmoder- weglichen miniaturisierten digitalen Aufnahme- bzw. nen Theoriekonstrukten und von daher einem Ge- Speichertechnik. Technik ist jedoch nur ein – wenn schichtsverständnis nahe, das den Zusammenhang auch besonders wichtiger – Faktor, der die im Um- von textueller und/oder bildlicher Geschichtsdar- lauf befindlichen Ansichten über die Vergangenheit stellung und Realität distanziert bis sehr kritisch bestimmt. Der Sammelband macht vielfältige An- oder als gar nicht gegeben betrachtet. gebote, auch die Forschungen zum Erinnerungsdis- kurs im Fernsehen als Teil kollektiver Gedächtnis- Der Sammelband enthält einige Grundsatzbeiträ- prozesse voranzutreiben. ge, die am unreflektierten engeren Bezug von Er- Edgar Lersch, Stuttgart kenntnis, Sprache und Realität dieses Verhältnis in Bezug auf Geschichte und ihre mediale Vermitt- lung beziehen, wie von Rosenstone und White. Den Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hrsg.) größeren Teil des Bandes nehmen Beschreibungen Die Gegenwart der Vergangenheit. und Explikationen von realisierten Film- bzw. Fern- Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte sehbeiträgen ein, in denen postmoderne Filmema- (= Texte zum Dokumentarfilm 9). cher die Realitätsillusion zu durchbrechen suchen Berlin: Verlag Vorwerk 8 2003, 278 Seiten. und mit Hilfe verschiedener Gestaltungsverfahren den Konstruktionscharakter des vorgestellten Zu- Das tagesaktuelle Feuilleton reagiert seit gut einem sammenhangs von Vergangenheit sichtbar machen. Jahrzehnt regelmäßig mit einer Flut von Kritiken und Das geschieht etwa in einem hoch artifiziellen Zu- Polemiken auf den schon länger anhaltenden Boom sammenschnitt von offiziösen Wochenschau- und an Geschichtssendungen im bundesdeutschen privaten Amateurfilmaufnahmen, die unter ande- Fernsehen und insbesondere auf die tatsächlichen ren Christa Blümlinger in dem Aufsatz über Archiv- oder vermeintlichen Innovationen der Sendereihen, kunstfilme vorstellt. 92 Rundfunk und Geschichte 31 (2005)

Einer der leichter nachvollziehbaren Beispiele für eine Distanzierung von den normalerweise in Ge- schichtsdokumentationen verwendeten Verfah- ren ist das von Errol Morris, der widersprüchliche Zeugenaussagen nachinszeniert und Aussage und Spielszene mit weiteren Dokumentzitaten konfron- tiert, die zusammengenommen eben gerade kein stimmiges Bild der Vergangenheit ergeben. In ge- wisser Weise knüpft Judith Keilbach daran an, in- dem sie den Umgang mit Zeitzeugen im deutschen Fernsehen historisiert. Von ihrer beglaubigenden Funktion etwa der NS-Verbrechen in den 60er Jah- ren mutierten sie, so Keilbach, zum beliebig ein- setzbaren Emotionalisierungsfaktor seit den 90er Jahren: Auch aus dieser Sicht besteht – ganz ab- gesehen von anderen quellenkritischen Einwän- den – Bedarf, in entsprechender Form den jeweili- gen Beitrag der Zeitzeugen für die Konstruktion von Vergangenheit auch in Fernsehdokumentation er- fahrbarer zu machen.

Angesichts der oftmals im postmodernen Jargon, aber selten in vertrauter Terminologie und Argu- mentationsweise daher kommenden Texte aus un- bekannten, auch von den Herausgeberinnen nicht ausreichend vermittelten angloamerikanischen bzw. französischen Diskussionskontexten, erschließt sich die genauere Stoßrichtung häufig mühsam. Hinzu kommt, dass die lediglich verbalen Beschrei- bungen einzelner Film- bzw. Fernsehproduktionen die Vorstellungskraft des Lesers strapazieren. Der- weil stellt sich häufiger die Frage, ob überhaupt und inwieweit die beschriebenen, Realitätsillusi- onen durchbrechenden Verfahren in die Alltag- spraxis eines Fernsehangebots integriert werden können, das an das breite Publikum gerichtet ist. Angesichts in der Gegenwart unübersehbarer ge- nereller Trends zu ›unangestrengter‹ Unterhaltung in allen Programmgenres und fehlender Traditio- nen selbstreflexiver Methoden werden vermutlich Formen, die mit den »Konventionen des Realitäts- fernsehens« spielen, nur schwer zu entwickeln sein. Gleichwohl besteht Bedarf, mit den in dem Band an- gesprochenen Problemstellungen nicht nur den all- zu selbstherrlichen Authentizitätsgestus einzelner televisionärer Geschichtsvermittler zu konterkarie- ren, sondern auch für den Programmalltag innovati- ve Strategien zu entwickeln. Edgar Lersch, Stuttgart Bibliografie

Zeitschriftenlese 92 (1.1. - 30. 6. 2005)

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LENDZIAN, MAJA: Unverzichtbar. 40 Jahre »Moni- POKAHR, KATRIN: Das Ur-Magazin. In: WDR print. tor«: Das Politmagazin der Zukunft stand im Mit- Nr. 346. 2005. S. 10. telpunkt der Geburtstagsmatinee (10. 6. 2005). In: Zum 40-jährigen Bestehen des »Mittagsmaga- WDR print. Nr. 351. 2005. S. 7. zins« auf WDR 2.

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Rudolf Lang, Köln Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

In Kooperation mit dem Studienkreis dienstrukturellen Veränderungen (Ausdifferenzie- für Rundfunk und Geschichte: rung kommunaler Radiopraktiken, Veränderungen Relating Radio. des Radiomarktes durch Netzmedien, MP3 und mo- Communities, Aesthetics, Access biles Computing etc.) schlägt das Radio heute wie- Internationale Tagung zu künstlerischen, der ganz neue Wege ein. politischen und sozialen Perspektiven des Radios am 4. & 5.10.2006, Auf der Basis einer breit angelegten Bestandsauf- im Rahmen des Radiokunst-Festivals nahme sollen Möglichkeiten einer Reformulierung RADIO REVOLTEN (20.9.–18.10.2006), des Mediums diskutiert werden, welche insbeson- Halle an der Saale; dere die Vielfalt der Kontexte des Radios berück- sichtigt. Das Anliegen der so entstandenen Be- Hintergrund schreibungen sollte es sein, die Ergebnisse für eine Das Radio entwickelt seit jeher seine journalistische, avancierte Radiopraxis künstlerischer, journalisti- politische und ästhetische Tradition in unmittelbarer scher und politischer Art fruchtbar zu machen. Auseinandersetzung mit seinen Kontexten: Techni- sche Bedingungen, Rundfunkmarkt, Produzenten- Panel-Themen gruppe und Hörerschaft veränderten und verän- 1. Community Radio/Radio Community dern sich ständig und prägen die Situation des Das Ideal von einer vielfältigen, akustisch vernetz- Mediums kontinuierlich neu. ten Community ist zentraler Bestandteil der Utopie von einem besseren Radio. Prozesse des Communi- Erforschungen dieser Kontexte des Radios gründen ty-Building sind daher elementare Bestandteile von nicht selten auf einen technisch-strukturellen Blick, Medienhandeln. Wie stehen aber Ideal und Realität der auch Grundlage der Diskussion neuer Medien- zueinander? Welche Rolle kann dem Radio über- technologien ist. Daneben werden mit den Rezep- haupt zukommen? Wie verlaufen die tatsächlichen tionsmechanismen auf HörerInnen-Seite oder den Verbindungen und Grenzlinien zwischen Communi- Herstellungs- und Präsentationsstrukturen inner- ty-Radios als Produktionsgemeinschaften und Hör- halb des Mediums auch verschiedene soziale Teil- Communities als gedachte Gemeinschaften und prinzipien der Radiokontexte untersucht. So etwa, Schnittmengen von Sendern und Empfängern? wenn innerhalb der Cultural Studies Medienrezep- 2. Kunsttheoretische Positionen zum Radio tion als aktiver Prozess gefasst wird, oder wenn In Bezug auf künstlerische Inhalte wird das Radio in der medienwissenschaftlichen Redaktionsfor- nicht nur zur Übertragung, sondern auch zur unmit- schung Handlungsstrukturen der Produzierenden telbaren Produktion benutzt: Das Medium Radio aufgedeckt werden. ist historischer Materialpool, technische Apparatur und sozialer Kontext für Kunstproduktionen. Wie Das Anliegen der Tagung ist es, die verschiedenen kann der aktuelle Stellenwert des Radios als künst- Stränge der Radioforschung vor dem Hintergrund lerisches Werkzeug bzw. Umgebung beurteilt wer- historischer Strukturprozesse mit Blick auf die den? Welche historischen Entwicklungslinien sind drastischen Veränderungen der Mediensituation in dabei von Bedeutung? Wie wird und wie könnte das jüngster Zeit und die sich damit verändernden Sen- Radio als Instrument der Darstellung von und des depraktiken aufzunehmen und das ‚Prinzip Radio‘ Einwirkens auf soziale Prozesse genutzt werden (im auf seine realen und potenziellen Beziehungen zu Sinne einer „soziologischen Kunst“)? Welche Rolle den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Le- spielen ästhetische Traditionen? Welche intermedi- bensbereichen zu befragen. Hierbei spielt u.a. das alen Bezüge zu anderen Kunst- und Kommunikati- Verschwimmen der Grenze zwischen den ehemals onsformen prägen evtl. die Zukunft radiobasierter weitgehend separierten Bereichen Rezeption, Pro- Kunst? Wie verändern sich radiokünstlerische Pro- duktion und Distribution eine wichtige Rolle. duktionsbedingungen und Ästhetiken unter Berück- Das Medium Radio steht dabei für eine spezifische sichtigung neuer Praktiken wie Podcasting etc.? Kommunikationssituation, deren soziale und ästhe- 3. Access: Zugang, Aneignung, Identität tische Konkretisierungen höchst unterschiedlich ‚Zugang‘ ist eine der Schlüsselkonzeptionen mo- ausfallen. Unter den aktuellen technischen und me- derner Gesellschaften. Dem Radio als vergleichs- weise einfaches Medium kann dabei eine besonde- re Funktion der Zugangsermöglichung zum System der elektronischen Massenmedien zukommen. Wie sehen die Wege des Zugangs zum Radio heute aus? Welche Formen und Bedingungen der Aneig- nung, Erschließung und Ausweitung von Zugängen lassen sich ausmachen? Welchen Einfluss auf die Konzeptionalisierung moderner Identität haben die zahlreichen Möglichkeiten, sich selbst als Medien- produzent (über Offene Kanäle, Community-Ra- dios, diverse Sendeformen via Internet etc.) zu be- tätigen? Welche Rolle spielen diese grundsätzlich als zugangsoffen definierten und wahrgenomme- nen Radios innerhalb des Mediensystems? 4. East Side Stories – Neue alte Radiokulturen in Ost- und Südosteuropa Die Transformation der Gesellschaften Ost- und Südosteuropas ging einher mit einer Umstruktu- rierung der Rundfunklandschaften. Ehemals staat- liche Rundfunkanstalten wurden schrittweise in öf- fentlich-rechtliche Modelle nach westlichem Muster überführt, während zugleich privat-kommerziel- le Neugründungen am Markt konkurrieren. Das ist ein widersprüchlicher Prozess, der im Geran- gel zwischen alten/neuen Machtblöcken, einheimi- schem Kapital und Global Players der Medienbran- che vor allem eines nur unzureichend ermöglicht: eine selbstorganisierte Öffentlichkeit, die für die Weiterentwicklung anspruchsvoller politischer und experimenteller Radioformate entscheidend sein könnte. Zwar haben sich (vor allem im Internet) zahlreiche Medieninitiativen entwickelt – allein, ih- nen fehlt in der Regel der Zugang zum etablierten Rundfunk. Unter welchen Bedingungen können ex- perimentierende Radiokulturen in den Ländern Ost- und Südosteuropas existieren? Inwieweit bestehen Chancen, eigene Frequenzen und Ausstrahlungska- pazitäten zu erlangen? Welche Rolle könnte dabei die Europäische Union bzw. die europäische Rund- funkpolitik übernehmen?

Informationen zur Tagungsanmeldung unter: www.radiorevolten.net Herausgeber: Studienkreis Rundfunk und Geschichte e.V. www.rundfunkundgeschichte.de Redaktionsanschrift: Dr. Hans-Ulrich Wagner (Aufsätze/Dokumentation), Hans-Bredow-Institut, Forschungsstelle zur Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland, E-Mail: [email protected] Christoph Rohde (Miszellen), NDR/Dokumentation und Archive, E-Mail: [email protected] Claudia Kusebauch (Rezensionen), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, E-Mail: [email protected] Steffi Schültzke (Redaktion/Koordination), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Medien- und Kommunikationswissenschaften, MMZ, Mansfelder Str. 56, 06108 Halle, Tel. 0345– 552 35 89, E-Mail: [email protected] Herstellung: Michael Puschendorf, Halle Druck: Druckerei Teichmann, Halle

Redaktionsschluss: 15. März 2006