ISSN 1619-5442 | Herausgegeben vom Institut für Medien und Kommunikation des Departments Sprache, Literatur, Medien SLM I der Universität Hamburg.

Mediengeschichte als Unternehmensgeschichte

Überlegungen zu einem neuen Paradigma

Hrsg. Knut Hickethier

no _03 Bisher sind erschienen:

Heft 1 Knut Hickethier: Medienkultur und Medienwissenschaft. Das Hamburger Modell. Vorgeschichte, Entstehung, Konzept (93 Seiten, 2001. Dieses Heft ist leider vergriffen)

Heft 2 Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Fernsehgeschichte. Modelle - Theorien - Projekte (77 Seiten, ISSN 1619-5442, 2003.)

Heft 3 Knut Hickethier (Hrsg.): Mediengeschichte als Unternehmensgeschichte. Überlegungen zu einem neuen Paradigma (99 Seiten, mit Abbildungen, ISSN 1619-5422, 2006)

Heft 4 Jürgen Voigt: Dokumentarfilm im Fernsehen. Überlegungen zu einem facettenreichen Genre (56 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISSN 1619-5442, 2003.)

Heft 5 - in Vorbereitung: Klaus Bartels/Jan-Noël Thon (Hrsg.): Computer/Spiel/Räume. Materialien zur Einführung in die Computer Game Studies

Heft 6 Annamaria Benckert, Margarete Czerwinski, Knut Hickethier und Hanno Willkomm (Hrsg.): “Wir hatten einen Lacher” - Die Geschichte der deutschen Wochenschauen (85 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISSN 1619-5442, 2002.)

Heft 7 Wolfgang Settekorn (Hrsg.): Fussball - Medien / Medien - Fussball Zur Medienkultur eines weltweit populären Sports (127 Seiten, Teil 1 und Teil 2, ISSN 1619-5442, 2006)

Heft 8 - in Vorbereitung: Joan Bleicher: We love to entertain you (Arbeitstitel)

Koordination : Prof. Dr. Knut Hickethier Universität Hamburg Medienkultur Institut für Germanistik II Von-Melle-Park 6 20146 Hamburg Mediengeschichte als Unternehmensgeschichte Überlegungen zu einem neuen Paradigma

mit Beiträgen von

Knut Hickethier Jan-Otmar Hesse Hans-Ulrich Wagner Mark Lührs Florian Kain Joan Kristin Bleicher Impressum

Universität Hamburg Fakultät für Geisteswissenschaften Department für Sprache, Literatur, Medien - SLM I Studiengänge Medien- und Kommunikations- wissenschaft / Medienkultur

Hamburger Hefte zur Medienkultur (HHM) Preprints aus dem Zentrum für Medien und Medienkultur des Departments SLM I der Universität Hamburg

Hrsg. von Ludwig Fischer, Knut Hickethier, Johann N. Schmidt und Wolfgang Settekorn in Zusammenarbeit mit Klaus Bartels, Joan Kristin Bleicher, Jens Eder, Bettina Friedl, Jan Hans, Corinna Müller, Hans-Peter Rodenberg, Peter von Rüden, Rolf Schulmeister, Joachim Schöberl, Harro Segeberg

Gestaltung und Redaktion: Daniel Kock

Layout-Vorlagen: Timo Großpietsch

Druck: Print & Mail der Universität Hamburg ISSN 1619-5442

© 2006 by ZMM

Anschrift des Studiengangs: Universität Hamburg Institut für Medien und Kommunikation Von-Melle-Park 6 20146 Hamburg Sekretariat: Tel: 040.42838-4816 Fax: 040.42838-3553 Web: http://www.sign-lang.uni-hamburg.de/ Medienprojekt/ Vorwort

Im Jahr 2005 entstand innerhalb der Gesell- Einblick in ihre Forschungen zur Unterneh- schaft für Unternehmensgeschichte (GUG) mensgeschichte eines bekannten Hambur- der Arbeitskreis ‚Medienunternehmensge- ger Programmkinos („Abaton“). schichte’. Auf einem Treffen in Die Beiträge von Knut Hickethier und am Main kamen Unternehmenshistoriker, Jan-Otmar Hesse versuchen einen ersten Medien- und Komunikationsgeschichtler theoretischen Rahmen zu liefern. Hicke- und Archivare aus öffentlich-rechtlichen thier erörtert das Konzept ‚Medienunter- und privatrechtlichen Medienunternehmen nehmensgeschichte’ aus der Sicht der Me- zusammen, um über Für und Wider einer dienwissenschaft, deutlich noch mit einer Unternehmensgeschichtsschreibung der Me- gewissen Skepsis, wie umfassend Medie- dien zu diskutieren. Am Ende dieser Tagung nunternehmensgeschichte als ein Konzept stand die Gründung des Arbeitskreises ‚Me- der Mediengeschichtsschreibung zu verste- dienunternehmensgeschichte’. hen ist. Die angedeuteten Möglichkeiten Im Frühjahr 2006 tagte der Arbeitskreis in greift Jan-Otmar Hesse als ausgewiesener Hamburg. Gastgeber war das Institut für Unternehmenshistoriker auf und entwickelt Medien und Kommunikation der Universität mit einer gewissen Emphase die Perspekti- Hamburg, mit Unterstützung des Norddeut- ven eines solchen Ansatzes. schen Rundfunks. Auf diesem Treffen ging Die Veröffentlichung dieser Beiträge in es neben den methodischen Grundsatzfra- dieser Preprintausgabe will zu weiteren gen, die weiter diskutiert wurden, vor allem Forschungen in diesem neuen Sektor der um die Darstellung einzelner Arbeiten und Medienhistoriographie anregen. Es gibt Forschungsvorhaben von historisch ar- noch viel zu tun und es ist noch viel zu ent- beitenden Medienwissenschaftlern. Dabei decken. standen vor allem Beiträge zu den elektro- nischen Medien und zum Film im Vorder- Dank gilt vor allem Gabriele Pieri von der grund. Hans-Ulrich Wagner und Mark Lührs Geschäftsführung der Gesellschaft für Un- berichteten von ihrer Arbeit an der Ge- ternehmensgeschichte (www.unternehmens schichte des Nordwestdeutschen Rundfunks geschichte.de), die die Tagungen organisiert zwischen 1948 und 1955, Florian Kain hat. Dank auch Jan-Otmar Hesse mit seinen stellte Ergebnisse seiner Untersuchungen zahlreichen Anregungen und der Mitarbeit zur ZDF-Geschichte der Zeit von 1976 bis in der Leitung des Arbeitskreises. 1982 vor und Joan K. Bleicher lieferte einen Knut Hickethier Inhalt

I. Ist Medienkommunikation ein Marktgeschehen? S. 08 Zu Kategorien und Modellen einer möglichen Unternehmensgeschichtsschreibung der Medien (Knut Hickethier) Zu den Arbeitsgebieten der Mediengeschichtsschreibung Unternehmensgeschichte der Medien - ein neues Paradigma? Unternehmenskonzept und Technikgeschichte Öffentliche Unternehmen oder Institutionen? Der Unternehmer oder der Akteur? Das Fehlen einer Wirtschaftsgeschichte der Medien Netzwerke als vertrauensbasierte Kooperationsformen Der Markt als ökonomiegeschichtliche Kategorie

II. Medienunternehmen in der deutschen S. 29 Unternehmensgeschichte (Jan-Otmar Hesse)

III. Mehr-Wert-Fragen: Reflexionen auf eine S. 39 Unternehmensgeschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Hans-Ulrich Wagner) Paradigmenwechsel? Politik und Markt in der Rundfunkgeschichte Zwischen Kultur und Ökonomie: Zur Unternehmensgeschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Formative Years: Zur „Unternehmensgeschichte“ des NWDR 1945-1955

IV. Bausteine einer NWDR-Unternehmensgeschichte S. 60 (Mark Lührs) Ein verordneter Kompromiss: Unternehmungsgründung des NWDR Wirtschaftliches Interesse: Analyse der rechtlichen Grundlagen und Organisation des NWDR Soll und Haben: der NWDR ab 1948 aus ökonomischer Sicht

V. Das ZDF in der Ära Karl-Günther von Hase S. 71 (Florian Kain)

VI. Abaton - Unternehmensgeschichte eines Kinos S. 80 (Joan Kristin Bleicher) Die ökonomische Bedeutung immaterieller Güter Themenschwerpunkte bisheriger Forschungsarbeiten zur medienhistorischen Unternehmensgeschichte Die Besonderheiten der Programmkinos Zur möglichen Methodik der regionalen Unternehmensgeschichte eines Programm-Kinos Die Vor- und Frühgeschichte des Abaton Zur Finanzgeschichte Führungsmodell des Abaton Das Abaton und seine Wechselwirkung mit der Hamburger Filmszene Gratwanderungen zwischen Kunst und Kommerz Die Akteursbeziehungen des Abaton Die Bedeutung von Programm-Kinos als regionaler Veranstaltungsort

Ist Medienkommunikation ein Marktgeschehen? Zu Kategorien und Modellen einer möglichen Unternehmensgeschichtsschreibung der Medien Knut Hickethier

1. Einleitung Medien und die dabei verwendeten Diskurs- muster, Begriffe, Prämissen und Argumenta- Das Konzept der Unternehmensgeschichte tionen in den Mittelpunkt stellt. Diese hier der Medien steht zwischen dem Ideal einer nur grob skizzierte Segmentierung schließt alles umfassenden Darstellung des Vergan- Übergänge, Querverbindungen und spezielle genen und der Arbeit einer theoriegeleiteten Fokussierungen ein. Alle medienhistoriogra- Erschließung eines historischen Teilbereichs fische Arbeit steuert dabei auf eine integrale der Medien, der Medienökonomie. Mediengeschichte zu. Sucht man nach Zuordnungen, ordnet sie Unternehmensgeschichte ist also auf der Seite sich in eine letztlich an Gerhard Maletzkes der Institutionen, der Kommunikatoren, der Kommunikationsmodell1 orientierte und Macher angesiedelt, wobei sie die anderen sich im Wissenschaftsbetrieb verfestigte Sektoren der Medienkommunikation nicht Systematik der Segmentierung von Teila- außer Acht lassen kann. Sie legt den Fokus, spekten der Mediengeschichtsschreibung wie schon der Begriff sagt, auf das Verständ- ein, die sich bislang traditionell nach dem nis von Medien produzierenden Institutionen Kommunikationsschema ordnet: einer als „Unternehmen“, wobei zu klären ist, wer Geschichte der Kommunikatoren (also der und was damit gemeint ist. Institutionen und Macher), einer Geschichte der Medientechnik, einer des Mediums und seiner Medialität, der Aussagen (zusammen- 2. Zu den Arbeitsgebieten der Me- zufassen in einer Produkt- und Programm- geschichte der Medien), einer Geschichte diengeschichtsschreibung der Rezeption, der Wahrnehmung durch die ‚Institutionsgeschichte’ des Rundfunks – um Individuen und schließlich auch der Funkti- es an diesem Feld der Mediengeschichts- onen der Medien für die Gesellschaft. Hinzu schreibung einmal auszuführen – setzt als kommt in der neueren Zeit eine Medienge- die älteste Form der Rundfunkgeschichts- schichtsschreibung, die Mediengeschichte schreibung mit dem „Studienkreis Rundfunk als Diskursgeschichte beschreibt, die also und Geschichte“ und der „Historischen die Frage nach dem Sprechen über die Kommission der ARD“ in den 1970er Jahren

_ 8 Knut Hickthier ein und konzentriert sich auf die historische Geschichte des Fernsehens in der Bundes- Erschließung der Rundfunkanstalten der republik Deutschland6 und im DRA-Projekt Weimarer Republik, dann auch der frühen zur Geschichte des Weimarer Rundfunks.7 Bundesrepublik, wobei die Zeit des Dritten Daran schlossen sich Beiträge zur Rezepti- Reichs immer noch seltsamerweise oft um- onsgeschichte des Rundfunks an.8 gangen wird. Man kann eine solche sektorale Kategori- ‚Institution’ meint hier die Organisationsform sierung der Medienhistoriografie auch auf und ihre Entwicklung, die administrativen andere Medien übertragen, wobei sich deren Strukturen, dann auch die politischen und historiografische Entwicklungen oft gegen- juristischen Rahmen in den Mediengesetzen, läufig zueinander verhalten haben. Verordnungen etc. Wesentlich sind auch die Beim Film wandte sich die Geschichtsschrei- personellen Entwicklungen – hier gibt es ein bung z.B. zunächst den Produkten zu, den nicht unerhebliches Interesse der Rundfunk- einzelnen Filmen, ging letztlich von litera- mitarbeiter, vor allem der Programmverant- turgeschichtlichen Modellen einer an einem wortlichen, das eigene Tun festgehalten und Kanon der für wichtig und geschichtsbil- gewürdigt zu wissen. In diese Institutionsge- dend erachteten Filme orientierten Darstel- schichtsschreibung waren auch einzelne Pro- lung aus, verbreiterte diesen Ansatz, indem grammverantwortliche (etwa Hans Bausch sie auch Genre- und Gattungsgeschichten als langjähriger SDR-Intendant und ARD- schrieb (etwa die Geschichte des Westerns Vorsitzender)2 sowie Archivare der Sender- 3 oder des Dokumentarfilms), um erst danach archive involviert. Hinzu kommen dann sehr sich sowohl der Produktionsgeschichte als früh auch Arbeiten zur technischen Entwick- auch der Rezeptionsgeschichte zuzuwenden. lung, dem Aufbau und der Durchführung des 4 Letztere setzt ein als eine Regionalgeschich- Sendebetriebs. Die universitäre Forschung 9 5 te der Kinos , der in ihnen sich entwickeln- hielt sich hier in Grenzen, erhielt aber durch den Öffentlichkeit und der Filmrezeption. die Arbeit des „Studienkreises Rundfunk und Sie beschreibt auch die einzelnen Strukturen Geschichte“ wesentliche Impulse. der Kinos, stellt ihre Betreiber vor etc. und In den 1970er Jahren kam es in diesem bildet dabei schon eine auf die Darstellung Studienkreis, aber auch außerhalb von ihm kleiner Einzelunternehmen ausgerichtete in der entstehenden Medienwissenschaft Form der Unternehmensgeschichte. Auf zu einer historiografischen Hinwendung zu der Produktionsseite entstand in den 1980er den Inhalten, Sendungen, Formen und Dar- Jahren eine Beschäftigung mit den großen stellungsprinzipien des Rundfunks (Hörfunk Filmunternehmen, z.B. mit der Ufa; hier und Fernsehen) unter dem Stichwort der Sen- sind insbesondere die Arbeiten von Klaus dungs- und Programmgeschichte. Wichtigste Kreimeier (1992)10, sowie Hans-Michael Beiträge sind hier die Arbeiten im „Sonder- Bock / Michael Töteberg (1992)11 zu er- forschungsbereich Bildschirmmedien“ zur wähnen, an die dann vor allem im Umkreis

Ist Medienkommunikation ein _ 9 Marktgeschehen? des Hamburger Cinegraphs die Geschichts- Materials, der unterschiedlichen Formen der schreibung der Tobis und anderer kleinerer Institutionalisierung der Mediengeschichte Filmfirmen anknüpfte. Gerade Kreimeiers und vor allem an einem unterschiedlichen Buch über die Ufa war eine filmgeschicht- gesellschaftlichen Interesse an der histo- liche Besonderheit, weil hier erstmals die riografischen Erschließung der jeweiligen internen Widersprüche des bis dahin als Medien liegen. Alle medialen Teilbereiche monolithisch verstandenen Ufa-Konzerns kennzeichnet die Tendenz, nicht nur einen und die Bedeutung der Mitarbeiter sichtbar Sektor, sondern möglichst alle zu erschlie- gemacht wurden. ßen und die entstehenden Ergebnisse dieser In der Pressegeschichtsschreibung setz- arbeitsteilig vorgenommenen zu integralen te wiederum die Historiografie zunächst Darstellungen zusammenzufügen. – schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Medienübergreifende Darstellungen liegen als Darstellung einzelner Presseunterneh- ebenfalls vor, wenn Sie etwa an Faulstichs men und Zeitungen ein, geht dann zu einer Versuch denken, eine Mediengeschichte Territorialgeschichte über (z.B. über die als Kulturgeschichte von den Anfängen der Zeitungsstadt Berlin durch Mendelssohn), Menschheit bis heute zu schreiben,13 oder um dann sich mit einzelnen Formen, Zei- dann als Chroniken bzw. Chronologien von tungstypen etc. differenzierter zu beschäf- Mediendaten.14 tigen. Immer wieder werden aber auch Unternehmensgeschichte der Medien fängt Unternehmensbiografien unterschiedlicher also einerseits nicht ‚bei Null’ an, sondern Art (etwa zum Hause Springer) vorgelegt. kann auf viele Arbeiten zurückgreifen, die Erst in den 1960er Jahren kommt es dann sie sicherlich aus ihrer Perspektive neu zu übergreifenden Pressegeschichtsdarstel- 12 gewichten muss, andererseits hat sie sich lungen. selbst einzufügen in ein Tableau vielfältiger Von einzelnen Vorarbeiten abgesehen kam Ansätze der Mediengeschichtsschreibung, es erst spät zur Geschichtsschreibung an- die an unterschiedlichen ‚Baustellen’ des derer Medien, etwa die der Telegrafie, des historischen Bewusstseins über die Medien Telefons, der Post, wobei hier die neue Be- arbeiten. deutung von netzbasierten Medien wie dem Internet/Computer oder den Suchmaschinen Impulse zur Beschäftigung mit diesen Be- 3. Unternehmensgeschichte der reichen setzte und den Blick auf historische Medien – ein neues Paradigma? Formen der Netzorganisation lenkte. Mediengeschichte als Unternehmensge- Diese Differenz der Entwicklungen hat bin- schichte zu betreiben, ist ein Konzept neueren nenwissenschaftliche Ursachen, die in der Datums, auch wenn es dafür seit Beginn des Erschließbarkeit des medienhistorischen 20. Jahrhunderts in der Verlags- und Presse-

_ 10 Knut Hickthier _ 11 geschichte frühe Beispiele gegeben hat. Der Branchen konzentriert sie sich auf einzelne allgemeinen Unternehmensgeschichte geht Firmen („Unternehmen“). Sie weist aber es vereinfachend gesagt um sechs zentrale neben der Eingrenzung des Gegenstands Fragen, die sich vor allem mit der Bestim- auch spezifische Fragestellungen auf und mung ihres Gegenstands beschäftigen:15 hat vor allem in jüngster Zeit konzeptionelle - Wie konstituieren sich erfolgreiche Ansätze entwickelt, die sehr stark von öko- Unternehmen, wie entstehen sie und nomischen Theorien geprägt sind. So liefert wie erhalten sie sich über unter- der theoretische „Werkzeugbaukasten“, den Hartmut Berghoff vor kurzem bereitgestellt schiedliche historische Phasen hin- 16 weg? hat, zahlreiche theoretische „tools“ von der „Neuen Institutionenökonomie“ über die - Wie lässt sich die innere Struktur „Corporate Gouvernance“ bis zur „Evoluti- eines Unternehmens beschreiben, onsökonomie“ und anderem mehr. Berghoff welches sind die Konzepte der Un- selbst weist auf die möglichen Verengungen ternehmensorganisation, ihrer Kultur, hin, die in einer alleinigen Ausrichtung der ihres Systems, als soziokulturelles Unternehmensgeschichtsschreibung auf Handlungsfeld? ökonomische Modelle liegen. - Welchen Einfluss haben technische Diese Gefahr eines „ökonomischen Re- Innovationen auf die Unternehmens- duktionismus“17 ist hier noch einmal an- entwicklung? zusprechen, weil sich auch in den neueren - Wie sind erfolgreiche Unternehmer- Darstellungen des Selbstverständnisses der persönlichkeiten beschaffen, welche Medienmacher ein solcher Ökonomismus Eigenschaften besitzen sie, welche in den Vordergrund gedrängt hat und zuneh- Typen haben sich herausgebildet? mend auch die publizistischen Debatten über die Medien und die Medienkritik bestimmt.18 - Was sind die Paradigmen des unter- Es bestehen deshalb innerhalb der Medien- nehmerischen Handelns (ökonomi- wissenschaft gewisse Bedenken gegenüber sche Effizienz, Kultur vs. Kommerz einer ausschließlich ökonomietheoretisch usf.), wie werden unternehmerische basierten Medienunternehmensgeschich- Entscheidungen getroffen? te. Sie resultieren daraus, dass eine solche - Wie agieren Unternehmen mit ande- Geschichtsbetrachtung zu einem Zeitpunkt ren (Netzwerke als vertrauensbasierte auftritt, als die Verfasstheit der Institutionen Kooperationsformen)? gerade in dem besonders umkämpften Be- reich der elektronischen Medien zwischen Im Kern ist Unternehmensgeschichte ein ‚public service’ und ‚Kommerzfunk’ beson- Teil der Wirtschaftsgeschichte. Gegenüber ders umstritten ist. Viele möchten sich nicht globalen und nationalen Darstellungen der zum Legitimationsgehilfen von Kommerzia- Wirtschaft insgesamt oder auch einzelner

_ 10 Ist Medienkommunikation ein _ 11 Marktgeschehen? lisierungsinteressen machen, indem sie auch 4. Unternehmenskonzept und Tech- den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bereits nikgeschichte als ein letztlich verkapptes Unternehmen verstehen und alle Rundfunkprozesse nur Für die Unternehmensgeschichte ist die Re- noch ökonomisch deuten. flexion der Technik, vor allem ihr rascher und auf die Schaffung von Marktvorteilen Die Bedenken gerade auch der Rundfunkhis- bedachter Einsatz, von wesentlicher Be- toriker resultieren aber auch daraus, dass der deutung. Die technische Entwicklung und Gegenstand jeweils unterschiedlich bewertet ihre wirtschaftliche Ausnutzung wird in der wird. Allgemeine Unternehmensgeschichte Unternehmensgeschichtsschreibung deshalb hat ihre Paradigmen im wesentlichen in der als enormer Impuls für unternehmerische Auseinandersetzung mit großen Unterneh- Aktivitäten und Firmenexpansionen ver- men und Konzernen (beispielgebend waren standen und mit großer Aufmerksamkeit 19 hier Krupp und Siemens) , dann auch mit betrachtet. Dabei geht es in der Regel um den Unternehmen des Mittelstands gewon- Fertigungs- und Distributionstechniken, die nen. Es geht um Unternehmen, in denen das im Sinne der Unternehmensziele, also der kaufmännische Denken, die Fragen der Öko- Gewinnerwirtschaftung, nutzbar gemacht nomie, der Gewinnorientierung vor denen werden. Technikentwicklung wird deshalb nach der Besonderheit ihrer Produkte stand vor allem ökonomiefunktional gedacht. und steht. Zumindest ist es eine Prämisse Unternehmensgeschichte fragt, wie es den der Unternehmensgeschichtsschreibung, Unternehmen gelang und gelingt, technische dass die Unternehmen der Stahlproduktion Innovationen möglichst rasch aufzunehmen und die der Lebensmittelherstellung oder und sich daraus Wettbewerbsvorteile zu ver- der Fernsehkommunikation als gleich oder schaffen. Mediengeschichtsschreibung geht ähnlich strukturierte Objekte zu betrachten stattdessen von einem eher umfassenderen, sind. kulturwissenschaftlichen Verständnis der Mediengeschichtsschreibung – und auch die Technik aus.20 Medieninstitutionen selbst – haben aber bis Mit ‚Technik’ wird auch jeweils unterschied- in die 1980er Jahre hinein ihre Tätigkeit als liches gemeint. Für die modernen Massen- grundlegend different zu der der Stahlpro- medien seit der Presse und der Telegrafie ist duktion gesehen und dem kommunikativen Technik das, was sie überhaupt erst konsti- Aspekt ihrer Angebote einen besonderen tuiert und ihren institutionellen Zweck be- Status zugewiesen. Diese Besonderheit der stimmt. Auch Radio- und Fernsehsendungen Medienkommunikation bestand und besteht mit den in ihnen vermittelten Informationen, darin, dass sie Öffentlichkeit herstellt und der durch sie ermöglichten Unterhaltung, der gesellschaftlichen Selbstverständigung sind immer medial, also durch eine Medien- dient und damit eine Infrastruktur für das technik verfasst und anders gar nicht denk- Funktionieren der Gesellschaft liefert.

_ 12 Knut Hickthier _ 13 bar. Technikeinsatz ist hier also nicht nur als und des Fernsehens ist aber auch bekannt, ein Mittel zur Schaffung von Marktvorteilen dass sich die Technikentwicklung nicht zu sehen (diese Funktion kann teilweise auch nur als eine Perlenkette stetiger Erfolge bestehen), sondern unterliegt einer institutio- darstellt, sondern dazwischen auch immer nalisierten Standardisierung, so dass der ein- wieder gescheiterte Entwicklungen auf- zelne Anbieter von Sendungen nur dann neue weist, die gern verschwiegen werden, um Technik einführen kann, wenn die Empfänger das Konzept einer Mediengeschichte als über entsprechende Nutzungsmöglichkeiten Erfolgsgeschichte nicht zu gefährden. Denn verfügen bzw. diese in einem entsprechen- gerade die Entwicklung der Technik der den günstigen Preis-Leistungsverhältnis zur Rundfunkmedien, z.B. des Fernsehens, ist Verfügungen gestellt werden. Bringt z.B. ein ja von Beginn an nicht teleologisch auf das Sender seine Angebote nur noch im HDTV- Ziel einer Mediengestalt, wie wir sie heute Format und die Haushalte verfügen nur in kennen, ausgerichtet, sondern hat sich erst geringem Umfang über HDTV-Empfänger, suchend in der Erprobung unterschiedlicher kann er sich damit wenig Marktvorteile ver- Modellvorstellungen von einem Fernsehen schaffen. Er benötigt sogar noch zusätzliche als Bildtelegrafie zum Fernkinematographen Technik, um seinen HDTV-Formate wie- und Bildrundfunk, vor allem zu einem Pro- derum mit der alten Sende- und Empfangs- grammfernsehen entwickelt (und auch man- technik kompatibel zu machen, verzichtet che Wege, die uns heute als Irrwege erschei- also gerade auf den Zusatznutzen, den das nen – denken Sie an das sogenannte mecha- HDTV-Angebot liefern könnte. Er kann nur nische Fernsehen – nicht ausgespart).21 Auch versuchen, durch weitere zusätzliche Kosten hier sind andere als nur im ökonomischen der Werbung und andere Promotionsaktionen Sinne unternehmerische, etwa staatliche seine neue Technik durchzusetzen. Das sol- Faktoren von Bedeutung gewesen, die die che zusätzlichen Markteinführungskosten als Entwicklung wesentlich beeinflusst haben. Transaktionskosten enorm sein können, ha- Gerade die neuere Medienentwicklung ist ben gerade in der jüngsten Mediengeschichte voll von wiederholt ausgerufenen techni- zahlreiche Innovationsversuche gezeigt. schen Revolutionen. Hier ergeben sich für Es muss hier also zwischen den medien- die zeitnahe Mediengeschichtsschreibung konstitutiven und den medienakzidentiellen interessante neue Aufgabenfelder, wenn wir Techniken unterschieden werden. Medien- diese technischen Entwicklungen nicht nur konstitutive Techniken können in aller Regel in ihren politischen, sozialen und kulturellen nicht von einzelnen Unternehmen, sondern Auswirkungen erörtern, sondern auch in den nur von marktübergreifenden, oft staatlichen Kontext einer Medienökonomie stellen, die Institutionen eingeführt werden, die daraus sowohl unternehmens- und branchenbe- jedoch keine Marktvorteile ziehen. zogene Kosten und Nutzen reflektiert, als Aus der Technikgeschichte des Hörfunks auch nutzerbezogen und volkswirtschaftlich

_ 12 Ist Medienkommunikation ein _ 13 Marktgeschehen? argumentiert. Hier lassen sich ganz neue siert, vergleichbar mit anderen öffentlichen Fragestellungen und Konzepte aus medien- Einrichtungen, die in ihren Handlungsmög- geschichtlicher Sicht für eine allgemeine lichkeiten durch die Konstruktion des öffent- Unternehmensgeschichte entwickeln. lichen Rechts bestimmt wird, das wiederum Teil des Verwaltungsrechts ist. Die im Ver- lagswesen diskutierten Dichotomien zwi- 5. Öffentliche Unternehmen oder schen „Kultur und Kommerz“22 oder die im Institutionen? Theater- und Filmbereich zwischen „Kunst und Kommerz“ hat es deshalb im Rundfunk Bezugspunkt meiner Überlegungen ist die in vergleichbarer Weise nie gegeben, auch Rundfunkgeschichtsschreibung, weil bei ihr wenn vielleicht der eine oder andere Beitrag die Differenzen zu einer unternehmensge- in den Radio- und Fernsehdebatten sich die- schichtlichen Perspektive besonders ausge- ser Begriffe bedient und sie den Theater- und prägt sind. Denn der Rundfunk (und damit Filmdiskussionen entlehnt hat. sind entsprechend der Rundfunkdefinition im Folgenden immer Radio und Fernsehen In der Mediengeschichtsschreibung wurde gemeint) etablierte sich zunächst (in der bisher vor allem der Begriff der Institutions- Weimarer Republik) als halb private, dann geschichte verwendet, weil sich der Begriff (noch vor dem „Dritten Reich“, aber vor neutraler gegenüber den verschiedenen allem in ihm) als staatliche und nach 1945 Möglichkeiten gesellschaftlicher Korporati- (in der Bundesrepublik Deutschland) als onsformen verhält und ‚Institutionalisierung’ öffentlich-rechtliche Institution. Er hat sich den Aspekt der dauerhaften Verankerung nach 1945 als Agentur der Gesellschaft der Medien im gesellschaftlichen Gefüge verstanden, die (und ich klammere hier erst impliziert, der dem Verständnis der Medien einmal die privatrechtlichen Anbieter nach als gesellschaftlicher Agentur zur Sicherung 1984 aus) eine Art von Auftragsproduktion des Gemeinwesens stärker entspricht als der betreibt, um die gesellschaftliche Selbstver- Unternehmensbegriff.23 ständigung zu organisieren, die wiederum Institutionen sind „geronnene Kultur“, weil die Voraussetzung für das Funktionieren des sie „kulturelle Wertorientierungen in eine Gemeinwesens, des Staates, ist. normativ verbindliche soziale Ordnung“ Ökonomie wurde und wird hier als Bedin- überführen und den Menschen als eine „ob- gung und Rahmen verstanden, nachgeordnet jektive Macht“ gegenübertreten.24 Dem Un- dem Rahmen, den die Politik durch spezi- ternehmensbegriff ist wiederum stärker der fische Gesetze, Verordnungen etc. stiftet. Handlungsbegriff eingeschrieben, weshalb Dementsprechend galt der Rundfunk nach sich heute auch manche Institutionen Ab- 1945 als eine Institution, die zwischen teilungen zulegen, die sich „Unternehmens- Staat und Wirtschaft angesiedelt ist, weder planung“ nennen. „Unternehmen“ sind im staatlich noch privatwirtschaftlich organi- engeren Sinne jedoch ökonomisch basierte

_ 14 Knut Hickthier _ 15 Korporationsformen und kategorial Unter- nach außen, deren innere Kerne aber zum formen des allgemeinen Institutionsbegriffs, einen die Organisation des Sendebetriebs, ebenso wie die „Anstalten“ des öffentlichen zum anderen die der Programmbeschaffung Rechts, wie Vereine oder – im kleineren und zum dritten die politische und finanziel- Maßstab – die Ehe. le Verwaltung darstellt. Natürlich operierten die öffentlich-rechtli- b) Dann gibt es das Modell der von der chen Rundfunkanbieter schon immer auch Politik abhängigen Behörde, die sich in wirtschaftlich, zahlten Löhne und Gehälter, ihrer Struktur an der Verwaltungsstruktur erwarben gegen Geld Autorenrechte, kauften staatlicher Behörden orientiert und zu- Produktions- und Distributionsmaterial ein, meist in einem direkten Akzeptanz- oder mieteten oder kauften Grundstücke, veräu- Widerspruchsverhältnis zu den politischen ßerten auch Sendungen an andere Rund- Vorgaben der Rahmenbildungen steht. Der funkanbieter etc. Aber ihre Ökonomie folgt Rundfunk mit seiner Geschichtsschreibung anderen Zielen und ist anders strukturiert als stellt auf diese Weise seine Eigenständigkeit ein auf Gewinnerzielung ausgerichteter Wirt- gegenüber der Politik und die permanenten schaftsbetrieb. Versuche, Unabhängigkeit zu gewinnen, in Die Institutionsgeschichte verstand ihren den Vordergrund und begreift sich selbst Gegenstand ‚Institution’ schon immer in un- als eine Art vierte Gewalt innerhalb des terschiedlicher Weise. Der kursorische Blick Gemeinwesens. Diese Bemühungen um in die Arbeiten von Först, Köhler, Lersch, Unabhängigkeit resultieren gerade aus dem Rüden/Wagner (diese zum NWDR) lässt fol- den politischen Institutionen ähnlichen gende Modelle erkennen:25 Selbstverständnis einer quasi behördlichen Einrichtung, die im Inneren als Verwaltung a) Zum einen das Modell der Pionier-Ge- aufgebaut ist. Wir haben es hier implizit auch schichte: Hier wird die Erfindung des - je mit Bürokratie-Modellen zu tun und das Ziel weiligen Mediums durch seine Mitarbeiter der Rundfunkanstalten, Entscheidungshier- beschrieben, zumeist anekdotenhaft, als Er- archien abzuflachen, Entscheidungswege zu zählung einer verschworenen Gemeinschaft, verkürzen, ist vor dem Hintergrund solcher die in Hingabe zum Medium sich aufopfernd Modellbildungen der eigenen Institution zu für alles einsetzt. Die NS-Fernsehgeschichte sehen. ist in den Erinnerungen von Wagenführ bis Riek nach diesem Muster gestrickt, wobei c) Der systemtheoretisch sich begründende alle konstitutiven Elemente wie die politische Ansatz, die Rundfunkanstalten als Systeme Verfassung ausgeblendet werden. Daraus ent- zu begreifen, schließt an solchen Bürokra- steht dann, quasi in Form einer ‚organischen’ tie-Modellen an (Niklas Luhmanns Sys- Herausbildung, ein administratives Gebilde temtheorie ist ja letztlich selbst aus dem mit einer eigenen Struktur, mit Vernetzungen Verwaltungsdenken heraus entstanden). Systemtheorie hat sich aber vor allem in der

_ 14 Ist Medienkommunikation ein _ 15 Marktgeschehen? Beschreibung von Redaktionseinheiten (hier und vorstehen, wobei für diese Begrifflich- der politischen Berichterstattung) etabliert keit der Theaterbetrieb Pate gestanden hat. (Manfred Rühl u.a.), nicht aber insgesamt für Viele der Programmverantwortlichen des den Rundfunk und auch nicht in einer histo- Rundfunks sahen und sehen sich vorrangig rischen Perspektive. Dies liegt jedoch daran, als Intellektuelle, oft sogar als Literaten; z.B. dass es gerade in der Medienwissenschaft vor 1945 Ernst Hardt und Friedrich Bischoff, eine lang anhaltende Kontroverse zwischen oder in den 1950er und 1960er Jahren Heinz ‚Konstruktivisten’ und den ‚Historikern’ im Werner Hübner, Clemens Münster, Hans damaligen Siegener Sonderforschungsbe- Joachim Lange, Heinz Schwitzke, die alle reich ‚Bildschirmmedien’ gegeben hat, der selbst auch als Romanautoren oder Drama- solche Erprobungen letztlich verhindert hat. tiker tätig gewesen waren. Auch wenn sie d) Zu den verschiedenen Konzepten gehört dann im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen auch, dass die Institution selbst als Teil einer Institution administrativ handelten, zum Teil größeren, integral gedachten Darstellung weitreichende ökonomische Entscheidungen anzusehen ist, bei der die Institution mit trafen, verstanden sie sich in erster Linie als ihren verschiedenen Aspekten in einem verantwortlich handelnde Akteure im Kultur- Zusammenhang mit dem Programm, das sie betrieb, als Sachwalter der Öffentlichkeit, der produziert und vermittelt, mit dem kulturel- Kultur, als Garanten einer demokratischen len, sozialen und politischen Kontext gese- Meinungsbildung, nicht jedoch als Unter- hen wird. Eine solche, in einer umfassenden nehmer vergleichbar mit Sigmund Loewe, Geschichte eines Mediums integrierten In- Max Grundig oder anderen, um im Bereich stitutionsgeschichte, in der der ökonomische der Mediengeräteproduktion zu bleiben.27 Aspekt selbst wiederum ein Element ist, Die Herausstellung des „Unternehmers“ als kann in der Mediengeschichtsschreibung als 26 zentralen Akteur eines Wirtschaftsbetriebs ‚state of the art’ angesehen werden. ist wohl als Reaktion auf eine Wirtschafts- geschichte anzusehen, die eher allgemeine als medienspezifische Strukturen im Blick 6. Der Unternehmer oder der Ak- hat. In der Mediengeschichte ist die Rolle teur? der handelnden Akteure nie vernachlässigt Rundfunkprogrammanbieter in Deutschland worden, hier kamen nicht nur die leitenden haben sich über Jahrzehnte hinweg nicht Personen in den Blick, sondern immer auch primär als wirtschaftliche Unternehmen und die anderen Mitarbeiter, wobei diese gerade ihre Verantwortlichen nicht als Unternehmer im Rundfunk – etwa als Leiter von Pro- verstanden, sondern letztlich als Institutio- grammbereichen, als Autoren, Regisseure, nen der öffentlichen Meinung und als Kul- Darsteller, Moderatoren etc. – oft wesent- turbetriebe, denen ja auch nicht Unterneh- liche Impulse für die weitere Entwicklung mer, sondern eben Intendanten vorstanden des Mediums gegeben haben. Umgekehrt

_ 16 Knut Hickthier _ 17 entfallen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk onen zu vermitteln, die für den Fortbestand Handlungsrollen, die sich aus der Eigentü- des Gemeinwesens von Bedeutung sind. Es merschaft oder dem Kapitalbesitz ergeben. geht auch darum, den politischen Druck auf Mediengeschichte ist eben nur zum kleineren die Rundfunkinstitution abzuwehren, den Teil auch Industriegeschichte und mit dieser Einfluss wirtschaftlicher Interessen durch nur bedingt vergleichbar. Es wäre daher zu Wirtschaftsunternehmen, Verbände etc. auf diskutieren, ob es auch so etwas wie einen den Rundfunk zu minimieren und die ei- „öffentlichen Unternehmer“ (oder einen gene Institution zu stabilisieren. Dies sind „öffentlich-rechtlichen“ oder „staatlichen“ Aufgaben, die sich primär nicht ökonomisch Unternehmer) gibt und ob die Bedingungen definieren. dafür ein ökonomisches Handeln implizie- Es ist vielleicht für eine aus einer marktwirt- ren. Jan-Otmar Hesse hat ein solches Mo- schaftlich orientierten Wirtschaftsgeschichte dell für den Generalpostmeister Heinrich kommende Historiografie auch schwer zu von Stephan entworfen.28 Sicherlich lassen verstehen, dass es überhaupt nicht selbst- sich so auch Personen wie Hans Bredow, verständlich ist, gesellschaftliche Kommu- Adolf Grimme, Hans Bausch und andere in nikation als Ware zu begreifen oder gar den ihrem strukturierenden und konzeptionel- Markt als Grundform aller Kommunikation len Einfluss auf die Rundfunkanstalten als zu verstehen, diese damit prinzipiell nur öffentliche Akteure beschreiben, aber es ist ökonomisch zu denken und als kapitalistisch genau zu untersuchen, ob sich die Modelle verfasst zu modellieren. des Unternehmers, die etwa an den Siemens- Sicher ist das Konzept des ‚Unternehmers’ Brüdern, an den Krupp-Eigentümern, an Oet- brauchbar bei privatrechtlich organisierten ker, Stinnes oder anderen entwickelt worden Medien, wie sie z.B. die großen Verlage sind, als Paradigma für die Beschreibung sol- darstellen. Und natürlich ist eine Geschichte cher Rundfunkvertreter eignen oder ob hier des Hauses Springer sinnvoll als Unter- sich nicht ganz andere Sets an Eigenschaften nehmensgeschichte zu schreiben und das herausgebildet haben. Unternehmerbild von Axel Cäsar Springer Bei herausragenden Intendanten des öf- gehört selbstredend mit zum Profil der Ver- fentlich-rechtlichen Rundfunks wie Hans lagsgeschichte. Doch es geht ja um die Frage Bausch, Klaus von Bismarck, Karl Holza- einer grundlegenden Paradigmenbildung in- mer, Friedrich Wilhelm von Sell oder Pro- nerhalb der allgemeinen Mediengeschichts- grammdirektoren wie Dietrich Schwarzkopff schreibung. ist zu fragen, welcher Art ihre gestaltenden Dass sich heute in den Rundfunkanstalten Initiativen waren. Denn schließlich geht es die Vorstellung zu etablieren beginnt, dass hier darum, unterschiedliche Interessen der Rundfunk unternehmerisch zu betreiben ist, Gesellschaft zum Ausgleich zu bringen, liegt zum einen natürlich daran, dass wir es Partizipation zu ermöglichen und Informati-

_ 16 Ist Medienkommunikation ein _ 17 Marktgeschehen? seit 1984 mit kommerziell agierenden Sen- Management-Etagen oder die vielleicht doch deunternehmen zu tun haben, deren primäre schon existierenden Unternehmensarchive Aufgabe nicht die Erfüllung eines gesetzlich hineinbegeben haben, ganz zu schweigen. vorgegebenen Programmauftrags ist, son- Zusammenfassend ist also festzuhalten: Bei dern die über das Betreiben von Program- einer unternehmensgeschichtlichen Perspek- men Gewinne für die Eigentümer erwirt- tive für die Rundfunkgeschichte sollte nicht schaften müssen. Wir haben es also hier mit ein an der Geschichte der Industrieunterneh- ganz anderen Institutionen zu tun als sie bis men gewonnenes Fachverständnis auf einen Mitte der 1980er Jahre im Rundfunk tätig gesellschaftlichen Bereich übergestülpt wer- waren. Die kommerziellen Sendeunterneh- den, der sich von seiner Genese her nicht auf men produzieren zwar auf der Produktebene eine Philosophie des Unternehmens und des scheinbar das Gleiche, betreiben jedoch in Unternehmers gründet. Die Gefahr besteht, Wirklichkeit etwas ganz anderes, agieren dass dabei die Konstruktion der öffentlich- mit anderen Rollen des gesellschaftlichen rechtlichen Einrichtung als eine zu überwin- Handelns und gehen auch von einem grund- dende Vorform des ‚Eigentlichen’ oder gar legend anderen Verständnis aus von dem, – unter einem marktökonomischen Apriori – was an kommunikativen Produkten herge- als ein deutscher ‚Sonderweg’ (ein beliebtes stellt wird. historiografisches Modell) erscheint und von Es ist ja von daher auch verständlich, dass der Geschichtsschreibung marginalisiert wir erst jetzt, 20 Jahre nach dem Entstehen werden soll. Statt dessen ist nach den beson- der ersten privatrechtlichen Sendeunterneh- deren Bedingungen der Medienökonomie zu men in Deutschland, anfangen, über Fern- fragen, ist eine Wirtschaftsgeschichte der sehen unter einem unternehmensgeschicht- Medien zu schreiben, in der die Unterneh- lichen Aspekt nachzudenken. mensperspektive ihre legitimen Platz hat. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass wir über die neuen großen Programmanbieter wie RTL, Sat.1, Pro Sieben keine histori- 7. Das Fehlen einer Wirtschaftsge- ografische Beschreibungen besitzen, wenn schichte der Medien ich von programmgeschichtlichen Studien, Es fehlen – und das scheint mir gravierend etwa von Joan K. Bleicher29, einmal absehe. zu sein – differenzierte Untersuchungen Es fehlen institutions-, programm- und re- über die Binnenstruktur der Rundfunkan- zeptionsgeschichtliche Untersuchungen zu stalten in ihren administrativen Elementen, diesen Sendern, selbst auf der allgemeinsten die ökonomisch fundiert sind: also z.B. die Ebene; es fehlt schon allein, dass das schon Anfang der siebziger Jahre in den großen bekannte Wissen über diese Unternehmen Anstalten durchgeführte Neuorganisation zusammengetragen und systematisch dar- des Produktionsbetriebs und die Umstellung gestellt wurde. Von Studien, die sich in die des Rechnungs- und Finanzwesens von einer

_ 18 Knut Hickthier _ 19 kameralistischen hin zu einer betriebswirt- fizite steht die Feststellung, dass es eine schaftlichen Organisation – also gerade für Wirtschaftsgeschichte des Rundfunks bis- die ökonomisch agierenden Bereiche inner- lang ebenfalls noch nicht gibt. Zwar liegen halb der Medienbetriebe.30 inzwischen unterschiedliche theoretische 33 Dazu gehört auch eine systematische und Arbeiten zur Medienökonomie vor, doch historische Aufarbeitung der Planungs-, auch hier handelt es sich letztlich um erste Entscheidungs- und Realisationsprozesse, Aspektierungen des gesamten Feldes. Im Vordergrund stehen immer wieder Beiträ- wie sie modellhaft zwar z.B. von Karstens/ 34 Schütte31 für den privatrechtlichen Fernseh- ge zur Medienfinanzierung, neuerdings bereich (hier stand der Sender VOX Pate) auch Beiträge zur Marktstruktur, wobei die und in Einzelstudien zur Fernsehprodukti- Verwendung des Marktbegriffs allerdings 32 häufig nur metaphorisch im Sinne der- Zu on allgemein vorliegen, aber bisher nicht 35 auf einer allgemeinen Ebene durchgeführt schauerresonanz gedacht wird. In jüngerer wurden. Gerade hier kann eine auf die Pro- Zeit hat sich allerdings auch eine ökono- mietheoretische Betrachtung von Märkten duktions- und Sendestrukturen ausgerich- 36 tete unternehmensgeschichtliche Analyse durchgesetzt. der einzelnen Rundfunkinstitutionen für Eine solche spezielle Wirtschaftsgeschichte die Forschung fruchtbar sein, weil damit fehlt zum einen für die öffentlich-rechtlichen auch mögliche Differenzen zwischen den Anstalten. Zwar gibt es immer wieder auch verschiedenen Rundfunkanstalten sichtbar eine Thematisierung der Finanzstrukturen werden können. des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in den Dass es umfassende Analysen über insti- integral angelegten Darstellungen einzelner tutionelle Binnenstrukturen (‚die sozialen Medien oder einer Medienbranche, doch Beziehungen innerhalb des Großbetriebs fehlt es an detaillierten und differenzierten Fernsehanstalt’) allenfalls nur rudimentär Studien. Dass solche über den Rundfunk in gibt, liegt auch daran, dass die Sendean- der Vergangenheit nicht entstanden sind, hat stalten anfangs nur institutionell, aber nicht natürlich auch etwas mit der wirtschaftli- soziokulturell gedacht wurden und sich spä- chen Konstitution des öffentlich-rechtlichen ter die Auffassung einer Black Box für die Rundfunk zu tun, der als hauptsächlich ge- Institution durchsetzte, also die Vorstellung, bührenfinanzierter Rundfunk über regelmä- dass die Rundfunkinstitutionen vor allem ßig steigende Einnahmen verfügte und diese an ihren Produktionen (am Programm und im Sinne einer öffentlichen Verwaltung eta- seinen Sendungen) und weniger an ihrer in- tistisch ausgab. Daran war historiografisch neren Betriebsstruktur und dem Befinden der wenig interessant, weil es weder größere Mitarbeiter zu messen seien. Veränderungen noch fundamentale Krisen gegeben hat. Selbst die Debatte Anfang Im Hintergrund der zu konstatierenden De- der 1970er Jahre über den hohen Anteil der

_ 18 Ist Medienkommunikation ein _ 19 Marktgeschehen? Werbefinanzierung an den Einnahmen der weiter, die eine solche Kapitalvernichtung öffentlich-rechtlichen Anstalten (beim ZDF als eine Art von Transaktionskosten für die in dieser Zeit fast die Hälfte des gesamten Etablierung der Unternehmen auf dem Markt Etats) hat nicht zu einer umfangreichen wirt- verbuchen. schaftsgeschichtlichen Untersuchung des Eine solche Wirtschaftsgeschichte wäre na- Fernsehens angeregt. türlich auch für die Post und die Telekom zu Eine solche Wirtschaftsgeschichte fehlt zum schreiben und es ist von großem Interesse, anderen aber auch für die jüngeren privat- wie hier staatliche Unternehmen eine zwei- rechtlichen Sendeunternehmen. Dabei wäre stellige Zahl von Milliarden DM in Form es hier schon lohnenswert, nicht nur den von Kabeln für die Etablierung des privat- Aufstieg und Zusammenbruch der Kirch- rechtlichen Fernsehens vergraben haben. Die Gruppe einmal unter wirtschafts- oder noch Gesellschaft hat hier über die Postgebühren besser unter unternehmensgeschichtlicher enorme Beträge für eine neue Fernseh-Infra- Perspektive aufzuarbeiten, sondern auch struktur aufgebracht, die zunächst von der generell die Ökonomie des privatrechtlichen Bevölkerung gar nicht angenommen wurde Fernsehens. Es ist doch schon erstaunlich, und mit der dann später private Medienei- dass zwar die großen Fernsehunternehmen gentümer Gewinne erwirtschaftet haben. wie RTL und SAT.1 1984/85 starten, aber Wirtschaftsgeschichte setzt – schon aus RTL erst 1992, also acht Jahre später, erst- Gründen der Machbarkeit – als Geschichte mals in den schwarzen Zahlen ist, SAT.1 erst der ökonomisch agierenden Einheiten, also 1998 und viele kleinere Programme immer der einzelnen Institutionen an, um danach noch in den roten Zahlen stecken. Die An- durch eine Zusammenschau neben der laufkosten sollen insgesamt 4,5 Mrd. DM betriebswirtschaftlichen auch die volks- betragen haben – welches Kapital wurde wirtschaftliche Dimension in den Blick zu denn hier vernichtet? Wer hat diese Etablie- bekommen. rung eines kommerziellen Fernsehens denn bezahlt? Hier hilft auch der Vergleich mit der industri- 8. Netzwerke als vertrauensbasierte ellen Unternehmensgeschichte wenig, wenn Kooperationsformen wir erfahren, dass die Anfangsschulden von Krupp aus der Familienkasse der Verwand- Diese Überlegungen führen zu weiteren Pro- ten beglichen wurden,37 weil die Dimensi- blemstellungen, die unter dem Aspekt der onen der neuen Kapitalvernichtung in den Netzwerke eine unternehmensgeschichtliche Medien sehr viel größer waren als dass sie Perspektive erhalten können. Wir haben bis- noch aus dem Familienvermögen hätten her vom Fernsehen als einer Institutions- und bewältigt werden können. Aber vielleicht Unternehmensstruktur gesprochen und dabei helfen hier die ökonomischen Markttheorien vor allem die Sendeunternehmen im Blick

_ 20 Knut Hickthier _ 21 gehabt. Nun ist ein Kennzeichen der Rund- Filmförderung hinzukam, erzeugten eigene funkkommunikation, dass die Sender nicht Formen einer öffentlich-rechtlich-kommer- alles, was sie ausstrahlen, auch selbst produ- ziellen Produktionsstruktur, die bis heute die zieren. Zwar war es das Ideal des deutschen gesamte deutsche Film-Fernsehwirtschaft Rundfunks, Produktion und Distribution in geprägt haben. einer Hand zu halten, doch war eine solche Dazu gehört auch, dass die öffentlich-rechtli- Struktur schon in den allerersten Anfängen chen Anstalten in der beginnenden Kinokri- des Radios und des Fernsehens nicht zu rea- se 1958-1962 aus der Auflösung der gerade lisieren und mit dem wachsenden Program- erst 1956 durch die Banken und im Auftrag mausbau, der sowohl Hörfunk wie Fernsehen der Bundesregierung neu gegründeten Ufa- kennzeichnet, erst recht nicht. Das heißt, der und Bavaria-Filmkonzerne die Bavaria Stu- Rundfunk muss permanent Sendungen von dios als Bavaria-Atelierbetriebsgesellschaft anderen Produzenten einkaufen. Dazu bedarf erworben haben, Teile der Ufa-Studios in es eines Netzes von zuliefernden anderen den ZDF-Besitz übergingen und auch der Rundfunksystemen oder an unabhängigen NDR sich über seine Werbetochter in die Produzenten. Realfilmstudios (heute Studio Hamburg) Spätestens seit den 1960er Jahren gibt das einkaufte. Die Sender sind damit selbst in bundesdeutsche Fernsehen die Produktion die kommerzielle Film-Fernsehproduktion von Sendungen auch direkt an externe Produ- eingestiegen, wobei gerade dieser Einstieg zenten in Auftrag. Heute wird diese Form der der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten Auftragsproduktion ‚outsourcing’ genannt. in die Filmwirtschaft diese überhaupt le- Diese Praxis wurde bereits vor der Gründung bensfähig hielt. des ZDF (im Kontext der Planung eines staat- Hier lassen sich weitere Arbeitsfelder für lichen, aber kommerziell produzierten Bun- unternehmensgeschichtliche Analysen fin- desfernsehens und der „Freies Fernsehen“ den, denn der Kranz von privatrechtlichen GmbH) auf breiter Ebene etabliert und führte Firmen, der sich um die öffentlich-recht- dazu, dass z.B. das ZDF seit dessen Beginn lichen Sendebetriebe angelagert hat, ist in den 1960er Jahren mit ca. 80 programm- vielfältig und bunt. Aus diesem Kranz sind produzierenden, privatwirtschaftlich arbei- auch wieder neue Firmen-Agglomerate bis tenden Film- und Fernsehproduzenten eine 38 hin zur Konzernbildung entstanden. Die dauerhafte Geschäftsbeziehung einging. Kirch-Gruppe entstand ja gerade aus einer Spezifische Wirtschaftsbeziehungen mit pri- solchen Vielfalt bunter Firmen, die, ausge- vatrechtlichen Firmen auf allen Ebenen der hend vom Filmrechtehandel, sich in diese Dienstleistungen für die Produktion und Dis- öffentlich-rechtliche Fernseh-Wirtschaft tribution entstanden. Die dabei entstehende einschmiegte, durch die Herstellung eines Vernetzung, zu der ab Mitte der 1970er auch engen (nicht öffentlich gemachten) wirt- noch über das Film-Fernseh-Abkommen die schaftlichen Verbundes einer Vielzahl von

_ 20 Ist Medienkommunikation ein _ 21 Marktgeschehen? Firmen eine privatrechtliche vertikale Kon- Denn es gibt ja nicht nur den einen Zuschau- zernstruktur erzeugte, deren Verästelungen ermarkt, auf dem öffentlich-rechtliche und in all ihren Teilen erst nach der Insolvenz der privatrechtliche Anbieter miteinander kon- Kirch-Gruppe sichtbar wurde. Auch beim kurrieren. Sondern dieser Zuschauermarkt Bertelsmann-Konzern gibt es vergleichbare selbst ist janusköpfig mit dem Werbemarkt Firmengeflechte, wenngleich auch diese verbunden: Die Zuschauer sind mit ihrem etwas transparenter sind als bei der Kirch- Interesse an einzelnen Sendungen über die Gruppe. Thomas Lehning hat hier eine erste Zuschauerforschung, insbesondere die Ein- Darstellung des Unternehmens anhand von schaltquotenmessung, direkt mit dem Wer- Firmenmaterialien vorgelegt, auch wenn bemarkt verbunden, wenn die so erhobenen eine ökonomietheoretische Grundierung Einschaltquoten als ‚Preis’ für die Schaltung nicht vorgenommen wurde.39 von Werbespots dienen. Der Rundfunkbe- Die in solchen Firmenagglomeraten vorhan- reich ist auf diese Weise ein Markt, der in denen Beziehungsgeflechte, die als Netz- seiner Struktur mit vielen indirekten Entgel- werke auf der Basis eines angewachsenen ten arbeitet. Georg Franck hat hier beispiels- weise eine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ Vertrauens funktionieren, sind für eine me- 40 diengeschichtliche Untersuchung von gro- postuliert. Francks Überlegungen eines ßem Interesse, weil sie in ihrem Zusammen- Ersatzes der ‚harten’ Geld-Ökonomie durch wirken bislang wenig aufgearbeitet sind. eine ‚weichere’ Ökonomie der Aufmerksam- keit, der Prominenz, des Ruhms etc. sind jedoch abzuschwächen, denn es handelt sich 9. Der Markt als ökonomiege- dabei doch eher um Ergänzungen und Mo- difikationen einer sonst gleichwohl intakten schichtliche Kategorie und weiter bestehenden Grundierung der Mediengeschichtsschreibung muss sich Medien durch eine Geldökonomie.41 deshalb endlich auch der Wirtschaftsge- Hartmut Winkler hat ein Modell der Zirkula- schichte der Medien annehmen, und diese tion für die Medien als Strukturmodell vor- ist sicherlich zunächst am leichtesten über gelegt, das er „Diskursökonomie“ genannt die Geschichte einzelner Produktions- und hat und versucht, alle Prozesse innerhalb der Sendefirmen zu schreiben. Sie muss dabei Medien durch die Kategorien des Tausches den Marktbegriff ernst nehmen und ihn vor und der Zirkulation zu definieren.42 Winkler allem seiner ideologischen Pathosformeln ist damit einer eher strukturphilosophischen entkleiden, mit der er gern in öffentlich ge- Medientheorie verpflichtet, die von der Form führten publizistischen Debatten versehen ihres Theorieverständnisses medienphiloso- wird, wenn immer davon zu lesen ist, dass phischen Konzepten (etwa von Flusser, Kitt- sich Sendungen ‚am Markt zu bewähren ler, Virilio u.a.) verpflichtet ist und diese um hätten’. transformierte ökonomische Kategorien in

_ 22 Knut Hickthier _ 23 der Tradition von Alfred Sohn-Rethel, Karl Denn die Unternehmen können auf den Marx u.a. erweitert. Eine jedoch sehr stark verschiedenen Märkten mit jeweils völlig an der Materialität der Wirtschaftsprozesse verschiedenen Interessen und einem je spe- orientierte Unternehmensgeschichtsschrei- zifischen – oft auch in seiner Tendenz gegen- bung müsste den Begriff des Marktes und sätzlichen - Markthandeln auftreten. Um ein der Zirkulation sehr viel enger fassen, um die Beispiel zu geben: ein Filmproduzent, der historisch zu erfassenden Gegenstandsfelder in den 1950er Jahren seine Filme letztlich der Medienökonomie einzugrenzen und bear- nur dem Verleih verkaufen kann und damit beitbar zu machen. Zu fragen ist deshalb, ob eine starke Marktstellung bestimmt, steht es auf einer strukturellen Ebene tatsächlich dem Fernsehen als Konkurrenz des Kinos eine spezielle „Ökonomie des Medialen“43 weniger kritisch gegenüber als Verleih und gibt, und ob bei ihr der Tausch- und Zirkula- Kinotheaterbesitzer, die in ihrer Existenz tionsbegriff so weit ausgeweitet wird, dass er durch das Fernsehen bedroht sind. Denn der entweder anthropologisch fundiert oder ins Produzent gewinnt mit dem Fernsehen einen Metaphorische überhöht wird. neuen Abnehmer und wird damit gegenüber Für die konkrete Verwendung des Marktbe- den Distributionsagenten Kino und Fernse- griffs in einer wirtschaftsgeschichtlichen Un- hen im Programmmarkt gestärkt. tersuchung der Medien ist daran zu erinnern, dass es neben diesem Angebots-Zuschauer- Markt auch einen Markt der Programmbe- 10. Fazit schaffung gibt, sowie einen Arbeitsmarkt, auf Diese Skizze von möglichen Perspektiven, der die verschiedenen Mitarbeiter rekrutiert aber auch von Differenzen, die das Konzept werden; weiterhin einen Markt der Produkti- ‚Unternehmensgeschichte’ für die Medien- onstechniken und der Betriebsmittel, der Dis- geschichte besitzt, wurde am Beispiel des tributionskanäle, der Endgeräte und weitere Rundfunks erörtert; sie lässt sich auf andere Märkte, auf denen die mit dem Hörfunk und Bereiche, etwa das Kino und die Filmwirt- dem Fernsehen befassten Unternehmen tätig schaft, das Verlagswesen oder die Presse, sind. Es ist hier genau zu schauen, wie die ausdehnen, ebenso auch für Untersuchungen Märkte mit den divergenten Interessen der quer zu den einzelnen Medien auf medien- Marktbeteiligten aussehen. Die Medienge- übergreifende Konzernbildungen, Cross- schichtsschreibung muss von einem Markt- over-Verflechtungen und -Vernetzungen verständnis wegkommen, das, auch wenn es anwenden. zwischen den Märkten differenziert (etwa Unternehmensgeschichte als eine histori- wenn zwischen Märkten der Inhalte, Über- ografische Untersuchung der Medien, die tragungswege und Endgeräte unterschieden 44 vom Paradigma des Unternehmens und des wird) , letztlich nur wieder auf den Nutzer Unternehmers ausgeht, stellt im Spektrum hin orientiert ist. einer sich sektoral aufteilenden Medienge-

_ 22 Ist Medienkommunikation ein _ 23 Marktgeschehen? schichtsschreibung keinen ganz neuen As- Literatur pekt dar, sie gewinnt jedoch durch die expli- zit ökonomietheoretische Ausrichtung den Abramson, Albert 2002: Die Geschichte des Fernse- Charakter einer speziellen theoriegeleiteten hens. München: Fink. Mediengeschichtsschreibung, der von vielen Adelman, Ralph / Hesse, Jan-Otmar / Keilbach, Judith Medienhistorikern, die sich auf andere As- / Stauff, Markus / Thiele, Matthias 2006: Ökono- mien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation pekte der Mediengeschichte konzentrieren, in den Medien- und Kulturwissenschaften. Biele- mit Vorbehalt aufgenommen wird. Denn sie feld: Transscript. bricht das bis jetzt bestimmende konsensua- Altmeppen, Klaus-Dieter / Karmasin, Matthias (Hrsg.) le Verständnis einer an einem medientheore- 2003/04: Medien und Ökonomie. Wiesbaden: Ver- tischen Paradigma ausgerichteten integralen lag für Sozialwissenschaften (bisher 3 Bde.). Bausch, Hans (Hrsg.) 1980: Rundfunk in Deutsch- Mediengeschichtsschreibung auf. land. München: DTV Einen umfassenden Ansatz, Medienge- Berghoff, Hartmut 2004a: Moderne Unternehmensge- schichte insgesamt neu zu konfigurieren, schichte. Paderborn u.a.: Schöningh. Berghoff, Hartmut 2004b. Wozu Unternehmensge- kann Unternehmensgeschichte nicht bieten, schichte? Erkenntnisinteressen, Forschungsansät- dafür ist das aus verschiedenen anderen ze und Perspektiven des Faches. I)n: Zeitschrift Bereichen kommende historiografische für Unternehmensgeschichte Jg.(2004) H.2, Interesse an den Medien zu vielfältig, sind S.131-148. die vielfältigen politischen, sozialen und Bleicher, Joan K. (1997): Programmprofile kommer- zieller Anbieter seit 1984. Opladen: Westdeutscher vor allem kulturellen Dimensionen der Me- Verlag. diengeschichte nur unter der Gefahr eines Bock, Hans-Michael / Töteberg, Michael (Hrsg.) „ökonomischen Reduktionismus“ in ein 1992: Das Ufa-Buch. Kunst und Krisen Stars und Unternehmenskonzept zu zwängen. Regisseure. Wirtschaft und Politik. Frankfurt/M.: Zweitausendeins. Als ein Impuls jedoch, die dringend notwen- Dussel, Konrad 1999: Deutsche Rundfunkgeschichte. dige wirtschaftshistorische Erschließung Eine Einführung. Konstanz: UVK. der Medien voranzubringen, kann Unter- Dussel, Konrad/Lersch, Edgar/ Müller, Jürgen K. 1995: Rundfunk in Stuttgart 1950-1959. Stuttgart: nehmensgeschichte sicher verstanden wer- SDR. den und dabei mit großem Gewinn für die Eder, Klaus 1997: Institution. In: Wulf, Christoph Mediengeschichtsschreibung Erfahrungen, (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Modelle, Theorieansätze liefern. Sie kann Anthropologie. Weinheim/Basel: Beltz, S. 159- vielleicht auch für sich selbst aus der Spezi- 168. Faulstich, Werner 1996ff.: Geschichte der Medien. fik der Medien – als Öffentlichkeit stiftende Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht (bisher 4 und gesellschaftliche Selbstverständigung Bde.). organisierende Institutionen – neue Anre- Franck, Georg 1994: Ökonomie der Aufmerksamkeit. gungen gewinnen. München: Hanser. Först, Walter (Hrsg.) 1974: Aus Köln in die Welt. Köln/Berlin.

_ 24 Knut Hickthier _ 25 Först, Walter (Hrsg.) 1980: Nach fünfundzwanzig Hickethier, Knut / Bleicher, Joan K. 2002: Aufmerk- Jahren. Köln u.a. Kohlhammer/Grote. samkeit, Medien und Ökonomie. Hamburg: LIT. Gall. Lothar 2000: Krupp. Der Aufstieg eines Indus- Hiebel, Hans H. / Hiebler, Heinz / Kogler, Karl / trieimperiums. Berlin: Siedler. Walitsch, Herwig 1999: Große Medienchronik. Geißendörfer, Hans W./Leschinsky, Alexander München: Fink. (Hrsg.): Handbuch Fernsehproduktion. Neuwied/ Hörisch, Jochen 2001: Der Sinn und die Sinne. Eine Kriftel: Luchterhand. Geschichte der Medien. Frankfurt/M.: Eichborn. Goebel, Gerhard 1953: Das Fernsehen in Deutschland Karstens, Eric/Schütte, Jörg 1999: Firma Fernsehen. bis zum Jahre 1945. In: Archiv für das Post- und Wie TV-Sender arbeiten. Reinbek: Rowohlt. Fernmeldewesen 5.Jg.(1953), Nr.5, S. 259-393. Kocka, Jürgen 1969: Unternehmensverwaltung und Heinrich, Jürgen 1999: Medienökonomie. Opladen: Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847- Westdeutscher Verlag. 1914. Stuttgart: Klett. Hesse, Jan-Otmar 1997: Heinrich von Stephan (1831- Köhler, Wolfram (Hrsg.) 1991: Der NDR. Zwischen 1897). Unternehmer im Dienst der Staatsverwal- Programm und Politik. Beiträge zu seiner Ge- tung. In: Post- und Telekommunikationsgeschich- schichte. Hannover: Schlütersche Verlagsanstalt. te 1/1997, S.10-12. Koszyk, Kurt 1966: Deutsche Presse im 19. Jahrhun- Hesse, Jan-Otmar 2004: Review of Medienunter- dert. Berlin: Colloquium Verlag (Geschichte der nehmen zwischen Kultur und Kommerz. H-Net deutschen Presse Teil II). Reviews, April 2004. URL: http://www.h- Koszyk, Kurt 1972: Deutsche Presse 1914-1945. Ber- net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=722 lin: Colloquium Verlag (Geschichte der deutschen (24.1.2006). Presse Teil III). Hosp. Gerald: Medienökonomik. Medienkonzentrati- Kreimeier, Klaus 1992: Die Ufa-Story. Geschichte on, Zensur und soziale Kosten des Journalismus. eines Filmkonzerns. München: Hanser. Konstanz: UVK. Kreuzer, Helmut / Thomsen, Christian W. (Hrsg.) Hickethier, Knut 1998: Geschichte des deutschen 1993/94: Das Fernsehen in der Bundesrepublik Fernsehens. Stuttgart/Weimar: Metzler. Deutschland. München: Fink (5 Bde.). Hickethier, Knut 2002: Geschichte der Fernsehpro- Lehning, Thomas 2003: Das Medienhaus. Geschichte duktion. In: Geißendörfer, Hans W./Leschinsky, und Gegenwart des Bertelsmann-Konzerns. Mün- Alexander (Hrsg.): Handbuch Fernsehproduktion. chen. Neuwied/Kriftel: Luchterhand, S.224-237. Lenk, Carsten 1997: Die Erscheinung des Rundfunks. Hickethier, Knut 2003: Einführung in die Medienwis- Einführung und Nutzung eines neuen Mediums senschaft. Stuttgart/Weimar: Metzler. 1923-1932. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hickethier, Knut 2004: „Das Wunder der Technik“. Leonhard, Joachim-Felix (Hrsg.) 1997: Programmge- Die Genese eines Mediums durch die Erprobung schichte des Hörfunks in der Weimarer Republik. anderer Medienparadigmen: das Fernsehen zwi- München: DTV. schen Telegrafie, Tonfilm und Radio. In: Segeberg, Lerg, Wilfried B. 1970: Die Entstehung des Rund- Harro (Hrsg.): Die Medien und ihre Technik. The- funks in Deutschland. Herkunft und Entwicklung orien – Modelle – Geschichte. Marburg: Schüren, eines publizistischen Mittels. Frankfurt/M. S. 183-206. Lerch, Edgar 1989: Die Bedeutung der alten und Hickethier, Knut 2005: Der Herbst der Medienkri- neuen Medien für Wirtschaft und Gesellschaft. tik. In: Gerd Hallenberger u.a.: Neue Kritik der In: Pohl, Hans (Hrsg.): Die Bedeutung der Kom- Medienkritik. Werkanalyse, Nutzerservice, Sales munikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Stutt- Promotion oder Kulturkritik? Köln: Herbert von gart: Franz Steiner Verlag, S. 459-485. Halem Verlag: edition medienpraxis 2005, S. 59- Lersch, Edgar 1990: Rundfunk in Deutschland1934- 83. 1949. Stuttgart: SDR.

_ 24 Ist Medienkommunikation ein _ 25 Marktgeschehen? Maletzke, Gerhard 19963: Psychologie der Massen- Anmerkungen: kommunikation. Hamburg: Hans-Bredow-Insti- tut. 1 Maletzke, Gerhard: Psychologie der Monkenbusch, Helmut (Hrsg.) 1994: Fernsehen. Me- Massenkommunikation. Hamburg 1963: Hans- dien, Macht und Märkte. Reinbek: Rowohlt. Bredow-Institut. Mühl-Benninghaus, Wolfgang / Zerdick, Axel (Hrsg.) 2 z.B. Bausch, Hans (Hrsg.): Rundfunk in 2000: Ökonomie der AV-Medien: Fernsehen. Ber- Deutschland. München 1980: DTV lin: Vistas. 3 z.B. Först, Walter (Hrsg.): Aus Köln in die Welt. Paech, Anne 1985: Kino zwischen Stadt und Land. Köln/Berlin 1974; Geschichte des Kinos in der Provinz: Osnabrück. Först, Walter (Hrsg.): Nach fünfundzwanzig Marburg: Jonas. Jahren. Köln u.a. 1980: Kohlhammer/Grote; Paschen, Herbert u.a. 2002: Kultur – Medien – Märk- Lersch, Edgar: Rundfunk in Deutschland1934- te. Berlin: Edition Sigma. 1949. Stuttgart 1990: SDR; Pethig, Rüdiger / Blind, Sofia (Hrsg.) 1998: Fernseh- Köhler, Wolfram (Hrsg.): Der NDR. Zwischen finanzierung. Ökonomische, rechtliche und äs- Programm und Politik. Beiträge zu seiner thetische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Geschichte. Hannover 1991: Schlütersche Verlag. Verlagsanstalt; Pierenkemper, Toni 2000: Unternehmensgeschichte. Dussel, Konrad/ Lersch, Edgar/ Müller, Jürgen Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnis- K.: Rundfunk in Stuttgart 1950-1959. Stuttgart se. Stuttgart: Steiner. 1995: SDR. Plumpe, Werner 2004: 1968 und die deutschen Un- 4 z.B. Goebel, Gerhard: Das Fernsehen in ternehmen. Zur Markierung eines Forschungsfel- Deutschland bis zum Jahre 1945. In: Archiv für des. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte das Post- und Fernmeldewesen 5.Jg.(1953), Nr.5, jg.(2004), H.1, S.45-66. S. 259-393. Rüden, Peter von / Wagner, Hans-Ulrich (Hrsg.) 5 Vgl. Lerg, Wilfried B.: Die Entstehung des 2005: Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks in Deutschland. Herkunft und Rundfunk. Hamburg: Hoffmann und Campe. Entwicklung eines publizistischen Mittels. Scholten, Jens / Scharnetzky, Tim / Hesse, Jan-Otmar Frankfurt/M 1970. (Hrsg.) 2004: Das Unternehmen als gesellschaft- 6 Stellvertretend: Kreuzer, Helmut / Thomsen, liches Reformprojekt. Essen: Klartext. Christian W. (Hrsg.): Das Fernsehen in der Segeberg, Harro (Hrsg.) 2004: Die Medien und ihre Bundesrepublik Deutschland. München 1993/94: Technik. Theorien – Modelle – Geschichte. Mar- Fink (5 Bde.). burg : Schüren. 7 z.B. Leonhard, Joachim-Felix (Hrsg.): Steffen, Joachim / Thiele, Jens / Poch, Bernd (Hrsg.): Programmgeschichte des Hörfunks in der Spurensuche. Film und Kino in der Region. Ol- Weimarer Republik. München 1997: DTV. denburg: Carl v. Ossietzky Universität 1993. 8 Lenk, Carsten: Die Erscheinung des Rundfunks. Steiner, Kilian J.L. 2005: Ortsempfänger, Volksfern- Einführung und Nutzung eines neuen Mediums seher und Optaphon. Die Entwicklung der deut- 1923-1932. Opladen 1997: Westdeutscher Verlag. schen Radio- und Fernsehindustrie und das Unter- 9 Vgl. Paech, Anne: Kino zwischen Stadt und Land. nehmen Loewe 1923 – 1962. Essen: Klartext. Geschichte des Kinos in der Provinz: Osnabrück. Stöber, Rudolf 2000: Deutsche Pressegeschichte. Ein- Marburg 1985: Jonas; führung, Systematik, Glossar. Konstanz: UVK. Steffen, Joachim / Thiele, Jens / Poch, Bernd (Hrsg.): Spurensuche. Film und Kino in der Region. Oldenburg: Carl v. Ossietzky Universität 1993.

_ 26 Knut Hickthier _ 27 10 Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Filmkonzerns. München 1992: Hanser. Jg.2004, H.2, S.131-148, hier S. 141ff. 11 Bock, Hans-Michael / Töteberg, Michael (Hrsg.): 17 Ebd., S. 142 Das Ufa-Buch. Kunst und Krisen Stars und 18 Vgl. Hickethier, Knut: Der Herbst der Regisseure. Wirtschaft und Politik. Frankfurt/M. Medienkritik. In: Gerd Hallenberger u.a.: 1992: Zweitausendeins. Neue Kritik der Medienkritik. Werkanalyse, 12 Vgl. Koszyk, Kurt: Deutsche Presse im 19. Nutzerservice, Sales Promotion oder Jahrhundert. Berlin 1966: Colloquium Verlag Kulturkritik? Köln 2005: Herbert von Halem (Geschichte der deutschen Presse Teil II); Verlag: edition medienpraxis 2005, S. 59-83. Koszyk, Kurt: Deutsche Presse 1914-1945. 19 Vgl. Gall. Lothar: Krupp. Der Aufstieg eines Berlin 1972: Colloquium Verlag (Geschichte der Industrieimperiums. Berlin 2000: Siedler; deutschen Presse Teil III); Kocka, Jürgen: Unternehmensverwaltung und kürzlich auch: Stöber, Rudolf: Deutsche Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847- Pressegeschichte. Einführung, Systematik, 1914. Stuttgart 1969: Klett. Glossar. Konstanz 2000: UVK. 20 Vgl. Segeberg, Harro (Hrsg.): Die Medien und 13 Faulstich, Werner: Geschichte der Medien. ihre Technik. Theorien – Modelle – Geschichte. Göttingen 1996ff: Vandenhoeck & Rupprecht Marburg 2004: Schüren. (bisher 4 Bde.); 21 Vgl. Hickethier, Knut: „Das Wunder der Technik“. auch: Hörisch, Jochen: Der Sinn und die Sinne. Die Genese eines Mediums durch die Erprobung Eine Geschichte der Medien. Frankfurt/M. 2001: anderer Medienparadigmen: das Fernsehen Eichborn. zwischen Telegrafie, Tonfilm und Radio. In: 14 Hiebel, Hans H. / Hiebler, Heinz / Kogler, Karl Segeberg, Harro (Hrsg.): Die Medien und ihre / Walitsch, Herwig: Große Medienchronik. Technik. Theorien – Modelle – Geschichte. München 1999: Fink; Marburg 2004: Schüren, S. 183-206. Abramson, Albert: Die Geschichte des 22 Hesse, Jan-Otmar: Review of Medienunternehmen Fernsehens. München 2002: Fink. zwischen Kultur und Kommerz. H-Net Reviews, 15 Ich beziehe mich hier vor allem auf Berghoff, April 2004. URL: http://www.h-net.msu.edu/ Hartmut: Moderne Unternehmensgeschichte. reviews/showrev.cgi?path=722 (24.1.2006). Paderborn u.a. 2004: Schöningh; 23 Hickethier, Knut: Einführung in die Berghoff, Hartmut: Wozu Medienwissenschaft. Stuttgart/Weimar 2003: Unternehmensgeschichte? Erkenntnisinteressen, Metzler, S. 31f. Forschungsansätze und Perspektiven des Faches. 24 Eder, Klaus: Institution. In: Wulf, Christoph In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Jg.2004, H.2, S.131-148; Anthropologie. Weinheim/Basel 1997: Beltz, S. Pierenkemper, Toni: Unternehmensgeschichte. 159-168, hier S. 159 Eine Einführung in ihre Methoden und 25 Siehe Literaturverzeichnis Ergebnisse. Stuttgart 2000: Steiner; 26 Vgl. Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte Hesse, Jan-Otmar: Review of eines Filmkonzerns. München 1992: Hanser; Medienunternehmen zwischen Kultur und Hickethier, Knut: Geschichte des deutschen Kommerz. H-Net Reviews, April 2004. Fernsehens. Stuttgart/Weimar 1998: Metzler; URL: http://www.h-net.msu.edu/reviews/ Dussel, Konrad: Deutsche Rundfunkgeschichte. showrev.cgi?path=722 (24.1.2006). Eine Einführung. Konstanz 1999: UVK. u.a. 16 Berghoff, Hartmut: Wozu 27 Vgl. für diesen Bereich: Steiner, Kilian J.L.: Unternehmensgeschichte? Erkenntnisinteressen, Ortsempfänger, Volksfernseher und Optaphon. Forschungsansätze und Perspektiven des Faches. Die Entwicklung der deutschen Radio- und

_ 26 Ist Medienkommunikation ein _ 27 Marktgeschehen? Fernsehindustrie und das Unternehmen Loewe Fernsehens. Stuttgart/Weimar 1998: Metzler, S. 1923 – 1962. Essen 2005: Klartext. 120f. 28 Hesse, Jan-Otmar: Heinrich von Stephan 39 Lehning, Thomas: Das Medienhaus. Geschichte (1831-1897). Unternehmer im Dienst der und Gegenwart des Bertelsmann-Konzerns. Staatsverwaltung. In: Post- und Telekommunikati München 2003. onsgeschichte 1/1997, S.10-12. 40 Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. 29 Bleicher, Joan K. (1997): Programmprofile München 1994: Hanser. kommerzieller Anbieter seit 1984. Opladen: 41 Vgl. Hickethier, Knut / Bleicher, Joan K: Westdeutscher Verlag. Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. 30 Vgl. dazu: Hickethier, Knut: Geschichte des Hamburg 2002: LIT. deutschen Fernsehens. Stuttgart/Weimar 1998: 42 Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Frankfurt/M. Metzler, S. 323ff. 2004: Suhrkamp. 31 Karstens, Eric/Schütte, Jörg: Firma Fernsehen. 43 Adelman, Ralph / Hesse, Jan-Otmar / Wie TV-Sender arbeiten. Reinbek 1999: Keilbach, Judith / Stauff, Markus / Thiele, Rowohlt. Matthias: Ökonomien des Medialen. Tausch, 32 Vgl. Geißendörfer, Hans W./Leschinsky, Wert und Zirkulation in den Medien- und Alexander (Hrsg.): Handbuch Kulturwissenschaften. Bielefeld 2006: Fernsehproduktion. Neuwied/Kriftel 2002: Transscript. Luchterhand; darin: Hickethier, Knut: Geschichte 44 Paschen, Herbert u.a.: Kultur – Medien – Märkte. der Fernsehproduktion, S.224-237. Berlin 2002: Edition Sigma, S. 135ff. 33 Altmeppen, Klaus-Dieter / Karmasin, Matthias (Hrsg.): Medien und Ökonomie. Wiesbaden 2003/04: Verlag für Sozialwissenschaften (bisher 3 Bde.); Heinrich, Jürgen: Medienökonomie. Opladen 1999: Westdeutscher Verlag; Mühl-Benninghaus, Wolfgang / Zerdick, Axel (Hrsg.): Ökonomie der AV-Medien: Fernsehen. Berlin 2000: Vistas. 34 Pethig, Rüdiger / Blind, Sofia (Hrsg.): Fernsehfinanzierung. Ökonomische, rechtliche und ästhetische Perspektiven. Opladen 1998: Westdeutscher Verlag. 35 Stellvertretend: Monkenbusch, Helmut (Hrsg.): Fernsehen. Medien, Macht und Märkte. Reinbek 1994: Rowohlt. 36 Paschen, Herbert u.a.: Kultur – Medien – Märkte. Berlin 2002: Edition Sigma; Hosp, Gerald: Medienökonomik. Medienkonzentration, Zensur und soziale Kosten des Journalismus. Konstanz 2005: UVK. 37 Vgl. Berghoff, Hartmut: Moderne Unternehmensgeschichte. Paderborn u.a. 2004: Schöningh, S. 255ff. 38 Vgl. Hickethier, Knut: Geschichte des deutschen

_ 28 Knut Hickthier _ 29 Medienunternehmen in der deutschen Unternehmensge- schichte Jan-Otmar Hesse, Frankfurt am Main

Noch schwerer als die Definition, was ein gendsten Phänomene unserer gegenwärtigen Unternehmen ist, fällt sicherlich die Ein- Wirtschaft. Ist es bloße Ignoranz oder gibt grenzung einer deutschen Unternehmens- es besondere methodische Schwierigkeiten, geschichte – die Entscheidung, welche die die Historiker in die Verlegenheit bringt, wissenschaftliche Untersuchung dazu gehört lieber die zwanzigste Darstellung zum und welche nicht. Ganz gleich aber, wie weit Krupp-Konzern oder zu einem Automobil- oder eng man das Feld der Unternehmensge- unternehmen zu verfassen, als Holtzbrinck schichte auch fasst, eines ist wohl einigerma- oder die Kirch-Gruppe einmal ordentlich ßen sicher: Medienunternehmen sind von ihr unter die unternehmenshistorische Lupe bislang kaum untersucht worden. Die beiden zu nehmen? Im Folgenden sollen zu dieser neueren Einführungen in die Unternehmens- und verwandten Fragen einige erste essay- geschichte, wie auch neuere Einführungsauf- istische Überlegungen formuliert werden. sätze befassen sich nicht eigens mit Medien- Ein Schlüssel zum Verständnis des blinden unternehmen.1 Studien zu deren Geschichte Flecks der deutschen Unternehmensge- werden meist außerhalb der „Zunft“ der Un- schichte dürfte in dem Begriff des Me- ternehmenshistoriker verfasst – mit der Fol- dienunternehmens selbst liegen, scheint ge, dass häufig der Beitrag von Medienunter- dieser den Untersuchungsgegenstand doch nehmen zur gesellschaftlichen Kultur stärker eher zu verdunkeln, als zu erhellen. Die im Vordergrund steht als ihr Beitrag zum ge- Schwierigkeit des Begriffs hat dabei zwei sellschaftlichen Reichtum. Natürlich haben Dimensionen: zum einen eine historische, solche Bemerkungen etwas Holzschnittarti- weil die Existenz von großen Medien- ges, bisweilen gar Anmaßendes, wenn nur unternehmen eine vergleichsweise junge „den Unternehmenshistorikern“ zugetraut Erscheinung der (deutschen) Wirtschafts- wird, eine gute Unternehmensgeschichte zu geschichte ist; zum anderen hat der Begriff schreiben, jedenfalls eine, die dem zweiten aber auch eine theoretische Dimension, Wortteil des Medienunternehmens adäquate suggeriert er doch nicht zuletzt mit dem Bedeutung zollt. Letztlich drückt sich da- in den letzten Jahren ausgebauten Bereich rin aber nichts weiter aus als eine gewisse der „Medienökonomie“ eine ganz eigene, Hilflosigkeit angesichts des Mangels einer von anderen Unternehmen auch theore- systematischen Erforschung eines der prä-

_ 28 Medienunternehmen _ 29 in der dt. Unternehmensgeschichte tisch zu unterscheidende Produktionsweise. Unternehmensgeschichte traditionell eng auf Noch vor vierzig Jahren – so meine be- die Industrieunternehmen fokussiert war und gründete Vermutung – war von „Medien- auch mit anderen Unternehmen des Dienst- unternehmen“ in deutschen Tageszeitungen leistungsbereiches, sei es aus dem Bereich wohl kaum zu lesen. Damals war dort noch von Reisen und Tourismus oder aus dem Be- viel spezifischer von „Presseunternehmen“, reich der Werbeindustrie, so ihre Mühe hatte. „Verlagen“, „Rundfunksendern“ oder Mittlerweile ist die Bedeutung des Dienst- „Filmfirmen“ die Rede. Erst in der Ära der leistungssektors in allen Industrienationen „Pressekonzentration“ seit den 1960er Jah- nicht mehr von der Hand zu weisen und ren kam es dann auch zu medienübergreifen- damit auch die der Medienunternehmen.2 den Fusionen, beginnend vielleicht mit dem Vor allem in Bezug auf die hier entstandenen Interesse namhafter Zeitungsverleger an Arbeitsplätze erhielten die Dienstleistungs- dem expandierenden Fernsehen, an dem sie unternehmen und damit auch die Medienun- sich nicht zuletzt deshalb beteiligten, weil ternehmen eine hervorragende Bedeutung. sie befürchteten, Werbekunden zu verlieren. Der expandierende Medienbereich hat zahl- Mit der Einführung des Privatfernsehens reiche neue und heute als überaus erstre- erreichte die Entstehung einer Branche von benswert angesehene Berufe hervorgebracht Medienunternehmen sicherlich eine neue (Journalisten und Werbefachleute). Schwerer Qualität und Namen wie Leo Kirch kamen tut sich die wirtschaftshistorische Forschung nun ins öffentliche Bewusstsein, nachdem noch mit dem Beitrag des Mediensektors zur dieser sein Quasimonopol für die Rechte an wirtschaftlichen Wertschöpfung, denn rein Spielfilmen im System des öffentlich-recht- quantitativ, d.h. gemessen an seinem Beitrag lichen Rundfunk noch gut verborgen hatte. zum Sozialprodukt, fällt der Mediensektor Bertelsmann, Holtzbrinck und Weltbild hei- noch immer hinter die wertschöpfungsin- ßen seit dem die „big players“ in der deut- tensiven Branchen wie den Maschinenbau schen Medienlandschaft und der noch in den oder die chemische Industrie zurück, da es 1960er Jahren wahrhafte Entrüstungsstürme sich bei allen diesen makroökonomischen auslösende Springer-Konzern konnte bald Daten um Bewertungen des Outputs eines das Image des beherrschenden „Medienmo- Sektors nach den Marktpreisen handelt. guls“ mit Konkurrenzunternehmen teilen. Da Allein in Bezug auf die Börsenkapitalisie- also der Begriff des Medienunternehmens rung machten die großen Medienunterneh- ein vergleichsweise junger zu sein scheint, men in den letzten Jahren von sich reden, die historische Unternehmensforschung wenn beispielsweise der Börsenwert von aber per definitionem mit beständigen und EM.TV, einem Unternehmen, das mit Film- dauerhaften Strukturwandelsprozessen be- rechten handelt, den von adidas überstieg.3 schäftigt ist, mag hier ein Desiderat entstan- Die ökonomische Bedeutung von Medie- den sein. Hinzu kommt schließlich, dass die nunternehmen im nationalen wie auch im

_ 30 Jan-Otmar Hesse _ 31 internationalen Kontext kann also heute nicht die ökonomische Funktionsweise der kaum noch angezweifelt werden. Will man Konzerne. Aber wie funktionierten eigent- nun aber den Entwicklungspfad nachzeich- lich diese Unternehmen, wo machten sie nen, der die Medienunternehmen zu dieser ihren Gewinn, welche Organisationsstruktur Bedeutung führte, so muss die historische bildeten sie aus und – vor allem – wie ver- Unternehmensforschung die heutigen Me- änderte sich diese im Zeitverlauf? Schließ- dienunternehmen nach ihren Ursprüngen lich sind auch die jüngeren Entwicklungen aufspalten. Heutige Medienunternehmen noch hinzuzufügen: die Entstehung von sind Konglomerate aus älteren Spezialunter- Unternehmen, die „Neue Medien“ produ- nehmen, die in der historischen Forschung zieren oder mit ihnen operieren. Natürlich häufig von sehr unterschiedlichen Disziplinen wird man den Sony-Konzern und auch untersucht wurden: Historische Forschungen IBM weiterhin als Unternehmen der elek- zum Fernsehen beziehen sich beispielswei- trotechnischen Industrie zu klassifizieren se fast ausschließlich auf das Modell des haben, die stärker von der Technik- als der öffententlich-rechtlichen Rundfunks, so dass Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte hier eben nur bedingt taugliche Vorarbeiten untersucht wurde, welche sich auch als erste für das Verständnis des Privatfernsehens historische Subdisziplin dem Computer und vorhanden sind, das seit den 1980er Jahren der Softwareindustrie zugewandt hat. Ange- aber gleichwohl eine wichtige Sparte auch sichts der Tatsache, dass beispielsweise die für Presseunternehmen darstellt. Die histo- „Play-Station“ genauso wie der gewöhnli- rische Erforschung von Buchverlagen wurde che PC kaum mehr als isolierte Einzelpro- umfassend von Seiten der Buchwissenschaft dukte gesehen werden können, da sie in betrieben, die aber eine Neigung aufweist, der Wertschöpfung von ihren „Peripherien“ die traditionsreichen und avantgardistischen (Programmen und Spielen genauso wie die Verlage zu untersuchen, so dass wir kaum darauf bezogenen Merchandising-Produkte) historische Modelle zur Beschreibung von stets übertroffen werden, hätte aber auch populären Buchverlagen haben, die aber diese Unternehmensentwicklung als Vorge- heute ausgesprochen einflussreich auch schichte in die Geschichte der Medienunter- hinsichtlich der Vermischung mit anderen nehmen einzugehen. Denn beispielsweise Geschäftszweigen sind. Die allgemeine Ge- über die Verbindung von Musik und Filmen, schichtswissenschaft brachte zahlreiche Stu- die in zunehmendem Maße über das Internet dien zu den Presseverlagen des Deutschen vertrieben werden, ist die Grenze zwischen Kaiserreiches hervor – Scherl, Ullstein und einem „Softwareunternehmen“ wie Micro- Mosse – und auch der Hugenberg-Komplex soft und einem „Medienunternehmen“ wie der Weimarer Republik wurde untersucht. Time/AOL zusehends marginal geworden. Immer aber stand hierbei die Frage der po- Damit weist der Begriff des Medienun- litischen Einflussnahme im Vordergrund und ternehmens eine bedenkliche empirische

_ 30 Medienunternehmen _ 31 in der dt. Unternehmensgeschichte Unschärfe aus, die ihn für die historische aller Unternehmen in der Bundesrepublik Unternehmensforschung fast untauglich ausmachen.4 Andere Klassifizierungen von macht. Allerdings birgt er zugleich den Unternehmenstypen beziehen sich auf die Vorteil, unterschiedliche Disziplinen unter Rechtsform oder den Grad der Beteiligung dem Leitsatz der empirischen Evidenz zu der Eigentümerfamilie an der Unterneh- gemeinsamer Forschung zu vereinigen. mensführung, durch den „Familienunter- Die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten nehmen“ charakterisiert werden.5 Solche wie auch die Unterschiede zu anderen Un- Klassifizierungen sind beispielsweise damit ternehmensformen, die die vormals noch verbunden, dass Familienunternehmen be- selbständigen Unternehmenseinheiten des sonders innovativ sein können, weil sie Medienbereichs zu großen „Medienunter- geringere Kapitalkosten haben als andere nehmen“ zusammenführten, lassen sich Unternehmen und zudem die Entscheidungs- nur historisch beschreiben und erklären. wege von Investitionsentscheidungen kürzer Nun handelt es sich aber bei dem Begriff ausfallen als vergleichsweise in Managerun- des „Medienunternehmens“ keineswegs nur ternehmen. Natürlich sind solche Klassifizie- um eine thematische Fokussierung auf einen rungen immer mit Abgrenzungsproblemen Teilbereich von Wirtschaft und Gesellschaft, verbunden und werden daher äußerst kritisch sondern der Begriff beansprucht darüber hi- diskutiert, insbesondere wenn der Erfolg ei- naus abstrakte theoretische Erkenntnispoten- nes Unternehmens monokausal auf bestimm- tiale, die zweite der oben genannten beiden te Strukturmerkmale zurückgeführt wird. Dimensionen des Begriffs. Das erschwert Keine Klassifizierung operiert aber mit eine Beschäftigung der Unternehmensge- einem branchenbezogenen Begriff des Un- schichte mit den Medien zusätzlich, denn sie ternehmens, mit dem etwa typische „Eisen- kannte bislang keine branchenbezogenen, und Stahlunternehmen“ ausgemacht werden sondern lediglich strukturbezogene Unter- könnten, die in der Logik eines solchen nehmensbegriffe. So wird zwischen Groß- Begriffs eine ganz eigene, d.h. von anderen unternehmen, kleinen und mittelständischen Branchen verschiedene Funktionsweise aus- Unternehmen (KMU) unterschieden, wobei gezeichnet seien. Genau diesen Anspruch die Unterscheidung sich häufig auf die Zahl erhebt aber in der Tendenz der Begriff des der Mitarbeiter bezieht. Unternehmen mit Medienunternehmens und genau deshalb ist weniger als 500 Mitarbeitern werden dabei er für die Unternehmensgeschichte interes- als KMU klassifiziert. Medienunternehmen sant. Zahlreiche Analysen haben in Medie- gehörten (jedenfalls in der Vergangenheit) nunternehmen eine ganz besondere Form wohl überwiegend zu dieser Gruppe von des Wirtschaftens zu entdecken geglaubt. Unternehmen, die ebenfalls in der unterneh- Medienunternehmen – so diese Vorstellung menshistorischen Forschung ein Desiderat – operierten mit anderen betriebswirtschaft- darstellen, obwohl sie heute mehr als 99% lichen Kalkülen und auf der Grundlage an- derer wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten,

_ 32 Jan-Otmar Hesse _ 33 als ‚gewöhnlicheʼ Unternehmen und aus pien mehr oder minder kostenlos zu haben diesem Grunde sei eben der Begriff des wären. Des weiteren wird auf den Charakter Medienunternehmens keine rein thematische von Medienerzeugnissen als ein „doppel- Beschreibung, sondern vielmehr ein theore- tes Gut“ rekurriert, die Tatsache, dass eine tischer Begriff. „Weil Medienkonzerne das Zeitung oder eine Fernsehsendung einer- Selbstbeobachtungssystem der Gesellschaft seits Informationen an die Leser verkauft wesentlich organisieren“, so schreibt Lutz und andererseits die Leserschaft als Wer- Hachmeister im Medienjahrbuch, „können beadressaten an die werbende Wirtschaft.8 wir sie im systemtheoretischen Sinne als Derartige besondere Regeln im Bereich der Konzerne zweiter Ordnung bezeichnen.“6 Medienunternehmen haben einige Forscher Dabei ist die Aufbietung tiefgründigen sys- zu der Meinung geleitet, dass es sich hier temtheoretischen Wissens überhaupt nicht um eine eigene Sparte von Unternehmen notwendig, um dieses Argument zu stützen. handele, die auch nicht mit den herkömm- Medienunternehmen produzieren in einem lichen Methoden untersucht werden könne. sensiblen Bereich moderner Demokratien Andere sind der Meinung, dass auf der und sind daher über das Wettbewerbsrecht Grundlage der Untersuchung von Medien aber auch durch die gesellschaftliche Kon- und Medienunternehmen die eigentlichen trolle an strengere Auflagen gebunden, als Grundlagen der Wirtschaft überhaupt erst das für Produzenten anderer Konsumproduk- gefunden werden könnten. Für den Bereich te zutrifft. Während eine marktbeherrschen- der ‚Neuen Medienʼ, d.h. der „Netzwerkö- de Stellung im bundesdeutschen Gesetz über konomie“, schrieben beispielsweise Carl Wettbewerbsbeschränkungen üblicherweise Shapiro und Hal Varian noch vor kurzem: bei einem Marktanteil von 33% erreicht ist, „Technology changes. Economic laws do kann im Medienbereich bereits bei geringen not.“9 Die Unternehmensgeschichte hat das Marktanteilen interveniert werden, wenn ein Glück, sich in solchen theoretischen Fra- „Meinungsmonopol“ vorliegt.7 Aber auch gen nicht entscheiden zu müssen, sondern über das „Demokratierisiko“ der Medienpro- ist vielmehr in der Lage, zu deren Dis- duktion hinaus wird in der Forschung betont, kussion empirische Evidenz beizusteuern. dass die Produktion im Medienbereich mit Natürlich kann bei einer Erforschung von ganz besonderen ökonomischen Problemen Medienunternehmen auf reichhaltige auch verbunden sei, die sich nur hier und nicht in historische Forschung zu Medienunterneh- anderen Unternehmen finden: Da wird mit men zurückgegriffen werden.10 Am besten den hohen „First copy costs“ argumentiert, erforscht dürfte dabei die Geschichte zahl- der Tatsache, dass die Produktion der ersten reicher Buchverlage sein, was zum einen Einheit eines Gutes (eines Films oder einer daran liegt, dass es sich hierbei um ausge- Zeitschrift) faktisch die gesamten Produkti- sprochen traditionsreiche Verlage handelt, onskosten darstellten, während weitere Ko- zum anderen um Unternehmen, die mit der

_ 32 Medienunternehmen _ 33 in der dt. Unternehmensgeschichte Geschichte der Eigentümerfamilie eng ver- wirtschaft nicht denkbar gewesen wäre.13 knüpft sind. Wenn auch häufig die Geschich- Die wohl problematischste empirische Vor- te von Buchverlagen den Kulturaspekt dieser leistung ist dagegen im Bereich von Fernse- Unternehmen sehr stark in den Vordergrund hen und Radio zu finden. Da diese Bereiche stellt und betriebswirtschaftliche Studien in Deutschland lange Zeit ausschließlich in selten sind, kann die Unternehmensge- der Form der öffentlich-rechtlichen Rund- schichte in diesem Forschungsbereich auf funkanstalten organisiert waren, bricht sich eine gut erforschte Empirie zurückgreifen. die Einsicht, dass auch diese Institutionen In noch viel stärkerem Maße gilt dieser Be- im Rahmen einer marktwirtschaftlichen fund für die Filmwirtschaft in Deutschland: 11 Ordnung als ökonomische Institutionen sich Auch hier ist in der Vergangenheit intensiv zu verhalten und zu wirtschaften hatten, nur geforscht worden, allerdings im wesentli- allmählich Bahn. Die besondere Institutiona- chen zu Entstehungsgeschichte und -kontext lisierung als „Öffentlich-Rechtlicher Rund- einzelner Filme, während die Ökonomie des funk“ wird dabei nicht als eine spezifisch Filmgeschäfts in Deutschland noch immer zeitgenössische Lösung für die komplexen eher stiefmütterlich behandelt wird. Klaus ökonomischen Probleme auf den Märkten Kreimeiers Geschichte der Ufa ist in dieser für das Rundfunk- und Fernsehangebot Hinsicht ein Schritt in die richtige Richtung, angesehen, sondern als eine ausschließlich aber nicht mehr. Berücksichtigt man nicht politische Entscheidung. Dabei entwickelte nur die reine Produktion von einzelnen Fil- gerade der Begründer der „Neuen Institu- men, sondern vor allem den überaus wich- tionenökonomie“, Ronald H. Coase, seine tigen Bereich des Vertriebs, der über die Vorstellung von Transaktions- und Institu- Mehrfachverwertung von Filmen heute den tionenkosten im Rahmen seiner Arbeiten zu wesentlich wichtigeren Wertschöpfungsbe- seiner Dissertation über die englische BBC reich darstellt, ist die Frage letztlich noch in den 1940er Jahren.14 Weit mehr als nur immer ungeklärt, wo die Filmwirtschaft 12 politische Vorgaben wären danach auch in überhaupt ihr Geld verdiente. Vielleicht ist der Ära des öffentlich-rechtlichen Rund- im Bereich des Films die Aufarbeitung der funks in Deutschland zu berücksichtigen: Geschichte eines ausgemachten Sonderkon- die Knappheit der terrestrischen Frequenzen, zerns wie der Ufa, mit ihrer komplizierten die Monopole in jedem Fall hätten entstehen Verflechtung in die Kriegswirtschaft und lassen; das technische Übertragungsmonopol die absterbende Monarchie, sogar der fal- der staatlichen Reichspost, das als Minimal- sche Weg, existierte doch unter den Flügeln forderung der staatlichen Autorität angese- des Monopolisten eine Reihe kleiner, aber hen wurde; der enorme Einfluss der elek- nichts desto trotz einflussreicher Verleih- trotechnischen Industrie, deren Interesse an und Produktionsfirmen sowie unabhängiger privatwirtschaftlicher Konkurrenz in diesem Kinoketten, ohne die die gesamte Film- wichtigen Nachfragebereich sich in Grenzen

_ 34 Jan-Otmar Hesse _ 35 hielt. Das unter diesen Rahmenbedingungen der „Medienunternehmen“ sehen die his- entstandene institutionelle Regime löste of- toriographischen Vorleistungen indes noch fenbar effizient ein Knappheitsproblem und wesentlich marginaler aus: Im Bereich der war nicht schon allein deshalb das Gegenteil Presseunternehmen sind wirtschafts- und einer ökonomischen Institution, weil staat- unternehmenshistorische Forschungen bis- lich fixierte Gebühren einen Umsatz von lang nicht unternommen worden. Das tradi- vornherein garantierten und Konkurrenz ge- tionsreiche Gebiet der Publizistik hat zwar setzlich ausgeschlossen wurde. Auch inner- in den letzten Jahrzehnten ein reichhaltiges halb dieser engen regulatorischen Grenzen Wissen über unterschiedliche Zeitungen aber, das zeigen die Fallstudien zu ähnlich und Zeitschriften zusammengetragen. Der konstruierten staatlichen Unternehmen wie betriebswirtschaftliche Hintergrund für der Reichspost oder der Reichsbahn,15 wa- diese publizistischen Produkte blieb indes ren eine Vielzahl von Handlungsalternativen in der historischen Forschung weitgehend möglich, die beispielsweise zu einer erhebli- unberücksichtigt.16 Die Akzentuierung der chen Variationsbreite auf der Kostenseite ge- politischen Einflussnahme von oder auf führt haben Die Unternehmensgeschichte im Presseerzeugnisse wird auch in jüngeren Fall des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat Darstellungen übernommen: Zeitschriften nichts anderes zu klären als die Frage, warum und Zeitungen werden in erster Linie unter in einer Sequenz von aufeinander bezogenen dem Gesichtspunkt der politischen Kultur ökonomisch relevanten Entscheidungen eine verhandelt, weniger unter dem des ökono- bestimmte Selektion eingetreten ist und sich mischen Erfolgs. Jedenfalls teilweise ist hieraus ein spezifischer Verlauf ergab. Nur freilich der fehlende Archivzugang oder auf diese Weise lässt sich herausfinden, mit gar die fehlende Existenz von Unterneh- welchen „Ineffizienzen“ der öffentlich-recht- mensarchiven für eine solche Schieflage liche Rundfunk in Deutschland konfrontiert der unternehmenshistorischen Forschung war, solange privatwirtschaftliche Konkur- verantwortlich. Zumeist werden Persön- renz (und damit ein adäquater Vergleichs- lichkeiten wie Axel Springer oder Gerd maßstab) nicht vorhanden war. Zudem kann Bucerius daher als reine politische Akteu- auf diese Weise gezeigt werden, dass mit der re, d.h. biographisch in der Tradition der Einführung des „dualen Systems“ in den „Verlegergeschichte“ untersucht,17 während 1980er Jahren eben kein privatwirtschaftli- die ökonomischen Bedingungen ihres Er- cher Anbieter einer staatlichen Administra- folgs, seien diese in klugen Managemen- tion gegenüber gestellt worden ist, sondern tentscheidungen oder einer weitsichtigen vielmehr sich die ökonomischen Produktions- Organisation ihrer Finanzanlagen zu suchen, bedingungen für beide Institutionalisierungs- nicht thematisiert werden. Da vor allem die formen des Rundfunks zugleich änderten. Verlage von populären Zeitungen und Zeit- Bei dem vierten wichtigen Traditionsbereich schriften sowie die Boulevard-Presse-Ver- lage als eine Keimzelle auch in die moder-

_ 34 Medienunternehmen _ 35 in der dt. Unternehmensgeschichte nen Medienkonzerne eingegangen zu sein dienunternehmen darstellen wird, genauso scheinen, beispielsweise im Weltbild- oder wie auf der anderen Seite der Wertschöp- im Holtzbrinck-Verlag, so muss in diesem fungskette der weite Bereich der Informa- Geschäftszweig das wohl größte unterneh- tionsbeschaffung über den „Verbraucher“. menshistorische Desiderat vermutet werden. Markt- und Meinungsforschung gehört zu Die vier Keimzellen für die modernen den ganz frühen Praktiken der Medienunter- Medienunternehmen, die Buchverlage, die nehmen, wobei die Frage noch nicht geklärt Presseverlage, die Filmwirtschaft und den ist, zu welchem Grad eine professionelle Bereich Rundfunk und Fernsehen, weisen Markt- und Meinungsforschung von die- also einige Lücken in ihrer unternehmens- sem Sektor sogar entwickelt und erst später 20 historischen Erforschung auf, die zumeist auf andere Bereiche übertragen wurde. dazu führen, dass die „Produktion von Der Begriff des „Medienunternehmens“ – so Kultur“ häufig als politisches und nicht als können wir zusammenfassen – ist zunächst ökonomisches Kalkül angesehen wurde. nichts weiter als ein heuristischer Begriff Über die vier zentralen Traditionslinien für die unternehmenshistorische Forschung. hinaus bildeten sich zudem vor allem zwei Er fasst die ökonomische Aktivität einer Bereiche im Gebiet der Medienunternehmen Branche zusammen, die von der Unterneh- heraus, deren Analyse überhaupt noch nicht mensgeschichte bislang nicht ausreichend vorangeschritten ist. Gemeint sind zum ei- berücksichtigt wurde und die sich daher nen der Bereich der Werbung, zum anderen von der Unternehmensgeschichte weitge- der Bereich der Markt- und Meinungsfor- hend unbemerkt zu einem der wichtigsten schung, beide aufs engste mit den Medien- Wachstumsindustrien moderner Industriege- unternehmen verkoppelt. Zwar ist über die sellschaften entwickeln konnte. Fasst man Werbegeschichte im Allgemeinen und auf hierunter Unternehmen zusammen, die mit kulturhistorischer Basis in den letzten Jah- der Organisation der gesellschaftlichen In- ren intensiv geforscht worden.18 Aber wie- formationsverarbeitung im Medium der öf- derum standen die Unternehmen hier nicht fentlichen Meinung beschäftigt sind, so dient im Mittelpunkt, nicht zuletzt, weil sie ein der Begriff als Transferbegriff historiogra- sehr neues Kapitel in der deutschen Unter- phischer Vorarbeiten aus unterschiedlichen nehmensgeschichte darstellten, da Werbung Fächern ebenso wie als theoretischer Begriff, wohl bis in die 1960er Jahre hinein nicht mit dem nach den vermuteten Eigentümlich- in Form von eigenständigen Unternehmen keiten der Produktionsweise im Medienbe- (Werbeagenturen) produziert wurde.19 Die reich gefahndet werden kann. Zugleich wird Werbung ist aber auf so vielfältige Weise in die Unternehmensgeschichte mit dem Be- die Medienunternehmen integriert, dass ihre griff des Medienunternehmens Zeuge eines Erforschung zwangsläufig einen Teilbereich tiefgreifenden gesellschaftlichen Transfor- der Erforschung der Geschichte von Me- mationsprozesses der letzten vierzig Jahre.

_ 36 Jan-Otmar Hesse _ 37 Anmerkungen: 9 Shapiro, Carl / Varian, Hal R.: Information Rules. A 1 Pierenkemper, Toni: Unternehmensgeschichte. Eine Strategic Guide to the Network Economy. 1999, Einführung in ihre Methoden und ihre Ergebnisse. S. 1. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000; Berghoff, 10 Vgl. zu diesem Überblick über die unternehmens- Hartmut: Moderne Unternehmensgeschichte. Eine historische Forschung auch meine Bemerkungen themen- und theorieorientierte Einführung. Pa- in: Hesse, Jan-Otmar: Die „Quadratur des Zir- derborn, München: UTB 2004, Plumpe, Werner: kels“. Zur Geschichte des Riniger-Verlages und Unternehmen. In: Ambrosius, Gerold / Plumpe, des „Blick“ zwischen „Landeserfolg“ und Ge- Werner (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. schäftsinteresse. In: Hesse, Jan-Otmar / Schanetz- Eine Einführung für Historiker und Ökonomen. 2. ky, Tim / Scholten, Jens (Hg.) Das Unternehmen Aufl. München 2006, S.61-94. als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen 2 Häußermann, Hartmut / Siebel, Walter: Dienstleis- und Entwicklungen der „moralischen Ökono- tungsgesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp mie“. Essen 2004, S.51-71. 1995 11 In den USA ist die Forschung zur Hollywood- 3 Hachmeister, Lutz: Einleitung: Medienpolitik und Industrie wesentlich weiter fortgeschritten. Vgl. Wirtschaftskrise. In: Hachmeister, Lutz / Ragner, auch hierzu die Arbeiten von Vinzenz Hediger. Günther (Hg.): Wer beherrscht die Medien? Die 50 12 Vinzenz Hediger: The Product that Never Dies. Zur größten Medienkonzerne der Welt. Jahrbuch 2003. Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des München 2002: Beck, S.7-30, S. 12f. Films. In: Adelmann, Ralf/ Hesse, Jan-Otmar u.a. 4 Berghoff, Hartmut: Moderne Unternehmensge- (Hg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert schichte. Eine themen- und theorieorientierte und Zirkulation in den Medien- und Kulturwis- Einführung. Paderborn, München: UTB 2004, S. senschaften. Köln: Transkript 2006 107f. 13 Klaus Kreimeier: Die Ufa-Story. Geschichte eines 5 Colli, Andrea: Family Business 1850-2000. London Filmkonzerns. Frankfurt am Main 2002. 2003. 14 Ronald H. Coase: British Broadcasting. A study in 6 Hachmeister, Lutz: Einleitung: Medienpolitik und monopoly. London 1950. Wirtschaftskrise. In: Hachmeister, Lutz / Ragner, 15 Hesse, Jan-Otmar: Im Netz der Kommunikation. Günther (Hg.): Wer beherrscht die Medien? Die 50 Die Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung größten Medienkonzerne der Welt. Jahrbuch 2003. 1876-1914. München: Beck 2002, Alfred C. Mi- München 2002: Beck, S.7-30, S. 18. erzejewski: The most valuable asset of the Reich. 7 Vgl. den Bericht der Kommission zur Ermittlung der A history of the German National Railway. 2 Vol. Konzentration im Medienbereich: Fortschreitende Chapel Hill 1999 and 2000. Medienkonzentration im Zeichen der Konvergenz, 16 Natürlich gibt es auch hier medienökonomische Berlin 2000, S. 16, dort die Rede von der Notwen- Studien, die teilweise auch mit empirischem digkeit eines „spezifischen Medienkonzentrations- Material (wenn auch nicht mit Archivmaterial) rechts“. arbeiten: Vgl. Bruck, Peter A. (Hg.): Print unter 8 Eine knappe Zusammenfassung findet sich bei An- Druck. Zeitungsverlage auf Innovationskurs. Ver- drea Grisold: Replacement. Wie die ökonomische lagsmanagement im internationalen Vergleich. Theorie Medienwelten ‚verortetʼ. In: Adelmann, München 1994 Ralf/ Hesse, Jan-Otmar u.a. (Hg.): Ökonomien 17 Stöber, Rudolf: Axel Springer. Ein Medienunter- des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in nehmer mit Fortune. In: Schulz, Günther (Hg.): den Medien- und Kulturwissenschaften. Köln: Geschäft mit Wort und Meinung. Medienunter- Transkript 2006. nehmer seit dem 18. Jahrhundert. München 1999, S.292-310.

_ 36 Medienunternehmen _ 37 in der dt. Unternehmensgeschichte 18 Borscheid, Peter / Wischermann, Clemens (Hg.): Bilderwelten des Alltags. Werbung in der Kon- sumgesellschaft des 19. und 20 Jahrhunderts. Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg. Stuttgart 1995. 19 Ausnahmen bei: Rainer Gries: Produkte als Medi- en. Zur Kulturgeschichte der Produktkommunika- tion in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig 2003. 20 Patrick Vonderau: „Monster returns in Shocker that will attract where audiences like thrills and chills.“ Produkt und Publikum in der Genrepro- duktion Hollywoods. In: Adelmann, Ralf/ Hesse, Jan-Otmar u.a. (Hg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften. Köln: Transkript 2006

_ 38 Hans-Ulrich Wagner _ 39 Mehr-Wert-Fragen: Reflexionen auf eine Unternehmensgeschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Hans-Ulrich Wagner

1. Paradigmenwechsel? privatrechtlichen Initiativen der frühen Politik und Markt in der Rundfunk- 1920er Jahre schon bald von staatlichen geschichte Kontroll- und Lenkungsrechten überformt worden waren.1 Nur wenige Jahre nach dem Ende des Zwei- ten Weltkriegs wurden in den Besatzungszo- Westdeutschland erlebte eine Phase, in der nen der drei westalliierten Siegermächte in von insgesamt vier Möglichkeiten, den Deutschland öffentlich-rechtliche Rundfunk- Rundfunk zu organisieren – nämlich als anstalten ins Leben gerufen. Zwischen 1948 Staatsrundfunk, als privater Rundfunk, als und 1949 wurden die bis dahin als Sender gemischtes Rundfunksystem und als öf- der alliierten Militärregierung arbeitenden fentlich-rechtlicher Rundfunk –, das zuletzt Institutionen weitgehend in deutsche Ver- genannte Modell realisiert wurde und bis zu antwortung übergeben. Durch eine Militär- Beginn des so genannten „dualen Systems“ verordnung in der britischen Zone sowie mit in den 1980er Jahren die nahezu ausschließ- Hilfe der von den jeweiligen Landesparla- liche Rundfunkform bildete. Basierend auf menten verabschiedeten Rundfunkgesetze in der Finanzierung durch Rundfunkgebühren der amerikanischen und in der französischen versprach ein komplexes System von bin- Zone kam es so zu einer grundlegenden nenpluralistisch besetzten Gremien eine Neuordnung des Rundfunksystems in West- Selbstverwaltung des Rundfunks mit einem deutschland. Diese neue, öffentlich-rechtli- Höchstmaß an Staatsferne und Staatsfreiheit. che Verfassung stellte ein bis dahin in der Zusammen mit einem einer pluralen Ge- deutschen Rundfunkgeschichte unbekanntes sellschaft verpflichteten Programmauftrag Organisationsmodell dar. Denn hier hatte sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunks man in den Jahren der Weimarer Republik ein ideales Instrument der Demokratisierung und des Dritten Reichs ausschließlich Erfah- werden. rungen mit gemischt-wirtschaftlichen sowie mit eindeutig staatlichen Organisationsmo- Von daher überrascht es nicht, dass dieses dellen gesammelt, nachdem die anfänglichen Gebilde in der damaligen Öffentlichkeit und

_ 38 Mehr-Wert-Fragen _ 39 in der rundfunkgeschichtlichen Forschungs- untersuchte. Die „empirische Bestandsauf- literatur zunächst primär als eine gegenüber nahme von Leistungen und Defiziten im staatlichen und parteipolitischen Einflüssen Sinne einiger wichtiger wirtschaftlicher, ar- und Begehrlichkeiten empfindliche und beitsmarktpolitischer und kultureller Grund- stets gefährdete Organisation angesehen funktionen des WDR“ bescheinigte der gro- und – wenn möglich – verteidigt wurde. ßen öffentlich-rechtlichen Anstalt auf vielen Rundfunkmitarbeiter und Rundfunkhisto- Gebieten „Produktivität“, gab „Vorschläge riker widmeten sich dem „Kampf um die für ein im Rahmen des Rundfunkauftrages Autonomie des deutschen Rundfunks“, sie mögliches ‚unternehmerisches Handeln’“ untersuchten als Gegenbild zu ihrer damals und gab den Auftraggebern „Material“ an aktuellen Situation den Rundfunk der Wei- die Hand, „in welchen Bereichen der WDR marer Republik als „politisches Kräftespiel“ durch Verbesserungen im Management und als „Instrument der Politik“ und sie leg- eine verstärkte eigene ‚unternehmerische ten die „Organisation des Rundfunks in der Konzeption’“ gewinnen könne.4 Nicht nur Bundesrepublik Deutschland“ dar.2 Auch im Zusammenhang mit der engeren Frage wenn politisch motivierte Vorwürfe über nach den kulturellen Aufgaben des öffent- das wirtschaftliche Gebaren seit den späten lich-rechtlichen Rundfunks sowie seiner ge- 1940er Jahren nicht selten Schlagzeilen setzlich verankerten Position als „kulturelles machten und in offiziellen Stellungnahmen Phänomen“ kam damals die Perspektive auf, immer wieder von der „Wirtschaftlichkeit“ dieses Gebilde sowohl von Außen als auch des Rundfunks die Rede war, wenn Haus- in der Selbstdarstellung explizit als „Unter- haltspläne und -abschlüsse öffentlich ge- nehmen“ zu begreifen und zu beschreiben. macht und die Verantwortung gegenüber den Das zeigte sich auf vielen Gebieten. Die Gebühren zahlenden Hörern beschworen „Führungsstrukturen öffentlich-rechtlicher wurde – der Begriff des „Unternehmens“ als Rundfunkanstalten“ konnten nun als beson- zentrale Kategorie spielte lange Zeit keine dere Form einer „Unternehmensverfassung“ Rolle. geschildert werden; ihre Handlungen wurden jetzt „vor dem Hintergrund sich wandelnder Dies änderte sich mit der Einführung des du- Marktbedingungen“ gesehen, um „Möglich- alen Systems in Deutschland zu Beginn der keiten und Probleme einer marktorientierten 1980er Jahre.3 Nicht zufällig erschien 1989, Führung von Rundfunkanstalten aufzuzei- nur wenige Jahre nach diesem entscheiden- gen“.5 Mittlerweise treten öffentlich-rechtli- den Wechsel, eine groß angelegte Studie che Rundfunkanstalten ganz selbstverständ- des Zentrums für Kulturforschung, die – im lich als „Unternehmen“ auf, sie präsentieren Auftrag des Westdeutschen Rundfunk – den sich in ihren PR-Broschüren und bei ihren WDR als „Kultur- und Wirtschaftsfaktor“ Internetauftritten als solche, indem sie sich

_ 40 Hans-Ulrich Wagner _ 41 der Öffentlichkeit beispielsweise dezidiert gen. Sie stehen im Zusammenhang mit der als ein „modernes Medienunternehmen mit Etablierung des dualen Rundfunksystems einem attraktiven und erfolgreichen Radio- und sind vor dem Hintergrund einer welt- und Fernsehangebot“ vorstellen.6 weiten Deregulierung zu sehen.7 Drei aktu- elle Beispiele aus einer großen Vielzahl kön- Ausgehend von dieser skizzierten rundfunk- nen schlaglichtartig verdeutlichen, welche geschichtlichen Entwicklung werden im Fol- Brisanz es hat, wenn die deutschen Rund- genden zwei Aspekte vertieft. In einem ersten funkanstalten in ihrer besonderen organi- Schritt werden Grundlinien herausgearbeitet, satorischen Verfasstheit als Körperschaften worin die Besonderheit einer „unternehmens- des öffentlichen Rechts auf spezifische öko- geschichtlichen“ Sicht des öffentlich-rechtli- nomische Bedingungen reagieren müssen. chen Rundfunks liegt, und ein so genanntes Zwei-Sphären-Modell vorgestellt. Der zwei- te Schritt entwickelt anhand eines konkreten Beispiel 1: Wer bestimmt die Höhe der Untersuchungsobjekts – des NWDR zwi- Rundfunkgebühren? schen 1945 und 1955 – Überlegungen, ob, wie und wozu eine unternehmensgeschicht- Die tragende Säule der Finanzierung des öf- liche Perspektive fruchtbar gemacht werden fentlich-rechtlichen Rundfunks ist die Rund- kann, um mediengeschichtliche Prozesse zu funkgebühr. Im Rundfunkgebührenstaats- analysieren, ohne sich gleichzeitig dem Vor- vertrag ist festgehalten, dass jeder zur Zah- wurf auszusetzen, mit a-historischen Begriff- lung verpflichtet ist, der ein Empfangsgerät lichkeiten und Modellen zu operieren. bereithält, unabhängig von der tatsächlichen Nutzung der Programmangebote, also den ‚Leistungen’ des ‚Unternehmens’. Die Ge- 2. Zwischen Kultur und Ökonomie: bühr ist ihrem Charakter nach kein Entgelt Zur Unternehmensgeschichte des für eine Leistung, die man in Anspruch an- öffentlich-rechtlichen Rundfunks nimmt, sondern ein Mittel zur Finanzierung der Gesamtveranstaltung Rundfunk. Bis zur Unternehmensgeschichtliche Überlegungen ersten Erhöhung dieser Rundfunkgebühr sehen sich gegenwärtig mit dem Eindruck zum 1. Januar 1970 betrug diese pro Monat der Ökonomisierung und Kommerzialisie- zwei DM. Seither fanden mehrere Anpas- rung der Medien und Mediensysteme in sungen statt; zum gegenwärtigen Zeitpunkt Deutschland konfrontiert. Seit den 1980er betragen die Grundgebühr 5,52 Euro und die Jahren beobachten und begleiten Medienwis- Fernsehgebühr 11,51 Euro im Monat. Den senschaftler, -ökonomen und -juristen diese öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbietern rasanten und weitreichenden Entwicklun- in Deutschland bescheren diese zusammen

_ 40 Mehr-Wert-Fragen _ 41 Einnahmen von rund sieben Milliarden Euro und Sparsamkeit ermittelt worden ist.“8 pro Jahr. Doch wer setzt die Höhe dieser Der von der KEF abschließend formulierte wichtigen Einnahmequelle für die öffent- Vorschlag für die Gebührenhöhe wird den lich-rechtlichen Rundfunkanstalten fest? Landesregierungen und Landesparlamenten übermittelt und dient als Grundlage für deren Die Gebührenhöhe wird mittlerweile in Entscheidung. einem durch den Rundfunkfinanzierungs- staatsvertrag geregelten Verfahren ermittelt. Für eine anhaltende Debatte sorgte die Ab- 1994 hatte das Bundesverfassungsgericht weichung von diesem Vorschlag, als die erklärt, dass die bis dahin geltenden Regeln Landesparlamente mit der Unterzeichnung wegen mangelnder Staatsferne verfassungs- des achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags widrig seien. Denn das Ziel in dem Verfah- im Oktober 2004 lediglich eine Erhöhung um ren der Festsetzung der Gebührenhöhe soll 0,88 Euro beschlossen, statt den von der KEF sein, der Politik und dem Staat möglichst formulierten 1,09 Euro. Dies bedeutete und kein Einfallstor zu bieten. Hierzu dient die bedeutet für die öffentlich-rechtlichen Rund- bereits 1975 erfolgte Einsetzung der Kom- funkanstalten nicht nur, dass ihre Einnahmen mission zur Ermittlung des Finanzbedarfs geringer ausfallen als erwartet. Der Streit der Rundfunkanstalten, kurz: KEF. Diese entzündete sich darüber hinaus vor allem an Gründung der Ministerpräsidenten der Bun- der weiterreichenden Frage, ob bzw. wann desländer wurde nach dem Gebührenurteil und mit welcher Begründung die Parlamen- des Bundesverfassungsgerichts 1994 so te von der Empfehlung der KEF in ihrem konstituiert, dass ihr seither 16 unabhängige Gebührenfestsetzungsverfahren abweichen Sachverständige aus den Bereichen Rund- dürfen. „Der Gebührenvorschlag der KEF funkrecht, Medienwirtschaft, Rundfunk- ist Grundlage für eine Entscheidung der Lan- technik und Wirtschaftsprüfung sowie von desregierungen und der Landesparlamente“, den Landungsrechnungshöfen angehören. so die KEF und weiter: „Davon beabsichtigte Die wichtigste Aufgabe der KEF ist es, die Abweichungen soll die Rundfunkkommis- von den Rundfunkanstalten formulierten sion der Länder mit den Rundfunkanstalten Bedarfsanmeldungen fachlich zu überprüfen unter Einbeziehung der KEF erörtern. Die und den Finanzbedarf festzustellen. Diese Abweichungen sind zu begründen.“9 Der Überprüfung, so die KEF, „bezieht sich dar- offizielle Verweis der Landespolitiker auf auf, ob sich die Programmentscheidungen die allgemeinen Sparmaßnahmen der öffent- im Rahmen des rechtlich umgrenzten Rund- lichen und privaten Haushalte konnte viele funkauftrages […] halten und ob der aus nicht zufrieden stellen, zumal der Versuch ihnen abgeleitete Finanzbedarf im Einklang deutlich war, in Wahlkampfzeiten um die mit den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit Gunst der Wähler zu ringen und sich dazu

_ 42 Hans-Ulrich Wagner _ 43 des populären Protests gegen einen Quasi- schen Rechts dann unzulässige – staatliche Selbstverständlichkeitsanspruch der Öffent- Beihilfe anzusehen sei. lich-Rechtlichen zu bedienen. So entstand die Frage, ob hier die verfassungsrechtlich verankerte Staatsfreiheit des Rundfunks Beispiel 2: Zwischen Gebührenprivileg nicht unzulässigerweise tangiert worden ist. und unzulässiger Beihilfe Um dies zu klären, haben die öffentlich- rechtlichen Rundfunkanstalten mittlerweile Basis des öffentlich-rechtlichen Rundfunk- eine Klage vor dem Bundesverfassungsge- systems ist – wie soeben aufgezeigt – die richt eingereicht. Finanzierung über eine monatliche Gebühr, die von den Rundfunkteilnehmern zu ent- Zwei damit verbundene Aspekte zeigen richten ist. Die Rundfunkanstalten werden die Problematik. So gerieten die öffent- durch dieses „Gebührenprivileg“ in die lich-rechtlichen Rundfunkanstalten in die Lage versetzt, ihrem Programmauftrag Schlagzeilen, als sie im Zuge der geringer nachzukommen, unabhängig von direkten ausgefallenen Gebührenerhöhung unpopu- staatlichen Zuwendungen, und sie werden läre Sparmaßnahmen ergriffen – beispiels- dadurch in einer grundsätzlich anderen Wei- weise die Zusammenlegung des SWR- se im Markt positioniert als die privatwirt- Rundfunkorchesters Kaiserslautern mit dem schaftlich organisierten Rundfunkanbieter, Rundfunk-Sinfonie-Orchester des Saarlän- die vor allem auf Werbeeinnahmen ange- dischen Rundfunks bis 2007 und die Ankün- wiesen sind. Eine wesentliche Konfliktlinie digung weiterer Rationalisierungen bei den läuft nun entlang dem Spannungsverhältnis anderen SWR-Klangkörpern. Denn hiermit von nationalem und europäischem Recht. lieferten sie all jenen Munition, die das Die Generaldirektion Wettbewerb der Eu- Gebührenprivileg der öffentlich-rechtlichen ropäischen Union (EU) prüft seit 2003/04 Rundfunkanbieter mit deren besonderer Rol- in Brüssel sehr genau die Verwendung der le als Kulturfaktor verbinden. Aber auch in Gebühren der öffentlich-rechtlichen Rund- einer anderen Hinsicht ist die Tatsache, dass funkanstalten in Deutschland. Ein konkreter sich die Landespolitiker über die KEF-Emp- Streitfall ist die Klage des Verbands Privater fehlung hinwegsetzten, problematisch. Denn Rundfunk und Telekommunikation (VPRT) auf der Ebene der Europäischen Gemein- über den Einsatz von Rundfunkgebühren schaft wird derzeit sehr genau beobachtet, für die Online-Aktivitäten der öffentlich- welchen Einfluss staatliche Stellen auf den rechtlichen Anstalten. Ein im Auftrag der gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Friedrich-Ebert-Stiftung am Hans-Bre- Rundfunk haben und ob das Gebührenpri- dow-Institut erarbeitetes und im November vileg nicht als eine – im Sinne des europäi- 2004 in Brüssel vorgestelltes Gutachten

_ 42 Mehr-Wert-Fragen _ 43 widerlegt die Auffassung, es handele sich wendig sei.12 bei den Rundfunkgebühren um eine im Sin- ne europarechtlicher Gesetze unzulässige Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstal- Beihilfe. Kern ihrer Argumentation sind die ten wurden nämlich seit langem in der na- besonderen Aufgaben und Funktionen des tionalen Rechtssprechung ausdrücklich als öffentlich-rechtlichen Rundfunks, vor allem „kulturelles Phänomen“ verankert, wie etwa die Gewährleistung freier öffentlicher Kom- das Bundesverfassungsgericht in seinem ers- munikation.10 ten Urteil vom 28. Februar 1961 ausweist. Insofern pocht man in Deutschland bzw. in Der Streit ist allerdings noch nicht beigelegt. den Bundesländern auf die Kompetenzen „Im Fadenkreuz der EU“ titelte die Wochen- der deutschen Rechtssprechung und die dort zeitung „Die Zeit“ in ihrem Wirtschaftsteil verankerte kulturelle Eigenständigkeit. Wo und mokierte sich – wie viele andere Pres- man sich in der Sache beweglich zeigt, ist die seorgane – über Beispiele fragwürdiger On- deutliche Profilierung des öffentlich-recht- lineaktivitäten (Verkauf von Produkten im lichen Programmauftrags, wie im Beispiel Onlineshop, Kontaktbörse mit 0190er Num- der Transparenz- und Selbstverpflichtungs- mern) und zweifelhafte Qualitätskriterien für erklärungen nachfolgend erläutert wird. In Produktionen im Vorabendprogramm bzw. den letzten Monaten ist hier eine regelrechte die Verschränkung der TV-Angebote mit den Offensive zu beobachten, die zwei Dinge im Bedingungen der Werbebranche (Product Auge hat – eine neue Debatte um öffentlich- Placement; Verrechnung der Einnahmen rechtliche Qualität und ein Bewusstsein für der Werbetöchter mit pauschalen Kosten- Public Value. Beide Ziele sollen das Be- rechnungen fürs Vorabendprogramm).11 Das wusstsein der Mediennutzer bzw. der Gesell- Problem, um das es in der Korrespondenz schaft schärfen für das, was mit dem Dienst der Brüsseler Wettbewerbshüter mit der an der öffentlichen Kommunikation geleistet Bundesregierung geht, ist das unterschied- wird. Der NDR-Intendant Jobst Plog rekur- liche Grundverständnis. Für die EU ist der riert im jüngsten „ARD-Jahrbuch“ genau auf Rundfunk klar ein Unternehmen auf einem diese Punkte, die unternehmensgeschichtlich Markt, das demzufolge dem europäischen interessant sind. Unter der Überschrift „Mehr Wettbewerbsrecht unterliegt. Er hat einen Wert für alle“ fordert er „neue Vermittlungs- klaren Dienstleistungscharakter. Die deut- strategien“ für den besonderen Wert des schen Stellen betonen demgegenüber die gebührenfinanzierten, öffentlich-rechtlich Vorstellung des Rundfunks als einem Public regulierten Rundfunks: „Die ARD ist über- Service, der mit Informationsfreiheit und zeugt davon, dass sie einen ‚Mehrwert für Programmauftrag für übergeordnete Werte alle’ schafft – einen ‚Public Value’. Doch wie Demokratie und kulturelle Identität not- viele öffentliche Debatten zeigen, dass diese

_ 44 Hans-Ulrich Wagner _ 45 Auffassung der ARD durchaus hinterfragt Personen, Gruppen oder Stellen angemessen oder nicht erkannt wird. Dies ist auch ein und fair berücksichtigt werden. Wertende Vermittlungsproblem der ARD“. Offensiv, ja und analysierende Einzelbeiträge haben regelrecht kämpferisch heißt es programma- dem Gebot journalistischer Fairness und in tisch: „Unsere Schlagkraft ist die Schlagkraft ihrer Gesamtheit der Vielfalt der Meinungen des Mehrwerts für alle. Diesen Mehrwert zu zu entsprechen. Ziel aller Informationssen- betonen und auszubauen, bedeutet, die Zu- dungen ist es, sachlich und umfassend zu kunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterrichten und damit zur selbständigen zu sichern.“13 Urteilsbildung der Bürger und Bürgerinnen beizutragen.“14

Beispiel 3: Der Öffentlichkeit verpflichtet Doch solche gesetzlichen Bindungen, ob- wohl selbstverständlich öffentlich gemacht, Das gebührenfinanzierte, öffentlich-rechtlich finden selten Aufmerksamkeit. Einen organisierte Rundfunkmodell legitimiert sich bemerkenswerten Schritt unternahm die über einen Programmauftrag, dem die einzel- BBC, die öffentlich-rechtliche Rundfunk- nen Rundfunkanstalten bei ihren Entschei- anstalt in Großbritannien. Sie schlug 1995 dungen und Handlungen verpflichtet sind. von sich aus vor, jährlich Selbstverpflich- Die Rolle der Öffentlichkeit wird darin im- tungserklärungen vorzulegen. In der Royal mer wieder, wenn auch in unterschiedlichen Charter verankert, gibt sie seither jeweils Formulierungen festgeschrieben. So heißt für das kommende Jahr Auskunft über ihre es beispielsweise im gültigen Staatsvertrag öffentlichen terrestrischen Programme, sie über den als Mehrländeranstalt organisierten reflektiert auf ihre speziellen Public-Ser- NDR: vice-Aufgaben und rechtfertigt sich gegen- über der Öffentlichkeit hinsichtlich ihres „Der NDR ist in seinem Programm zur Wahr- Gebührenprivilegs. Erst auf einen gewissen heit verpflichtet. Er hat sicherzustellen, dass Druck hin übernahmen die öffentlich-recht- 1. die bedeutsamen politischen, weltanschau- lichen Rundfunkanstalten in Deutschland lichen und gesellschaftlichen Kräfte und diese Möglichkeit, ihren Programmauftrag Gruppen aus dem Sendegebiet im Programm und dessen Ausgestaltung zu präsentieren angemessen zu Wort kommen können, und einer öffentlich geführten Diskussion 2. das Programm nicht einseitig einer Partei zugänglich zu machen. Im September 2004 oder Gruppe, einer Interessengemeinschaft, legten die ARD sowie das ZDF das erste Mal einem Bekenntnis oder einer Weltanschau- ihre Selbstverpflichtungserklärungen vor, ung dient und 3. in seiner Berichterstattung die künftig alle zwei Jahre erscheinen sollen. die Auffassung der wesentlich betroffenen Sieht man sich allein schon die Präambel der

_ 44 Mehr-Wert-Fragen _ 45 Leitlinien für die Programmgestaltung der der Medienprodukte als Kultur- und als ARD 2005/06 an, so wartet man mit hohen Wirtschaftsgut vor Augen führen. Zielsetzungen auf, wenn von einem „Fak- tor für die freie und demokratische Mei- nungsbildung der Bevölkerung“ die Rede Publizistik Wirtschaft ist, von „einer unverzichtbaren Funktion in der demokratischen und pluralistischen -Programmauftrag -Unternehmenserfolg Gesellschaft der Bundesrepublik“, und Qua- -Kulturgut -Markt litätsanspruch, Orientierungsfunktion sowie -Öffentliche -Strategische Wett- Kulturfaktor und -medium angesprochen Meinungsbildung bewerbsposition werden. Erst gegen Ende der Präambel wird -Öffentlicher Mehrwert -Eigennutzorientierung auf das „Interesse der Gebührenzahler“ ein- -Public Value -Shareholder Value gegangen, indem man lakonisch bekräftigt: -non-profit-Orientierung -Performance Die ARD setzt „ihre Gebührenmittel effizi- Demokratisierung Effizienz 15 ent“ ein. Meinungsvielfalt Rentabilität Informationszugang

Zwei-Sphären-Modell

Ausgehend von diesen drei Beispielen Die drei vorgestellten Beispiele haben einen lässt sich ein Modell entwickeln, das dem Einblick vermittelt, in welchem Spannungs- Doppelcharakter des öffentlich-rechtlichen feld der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht, Rundfunks in Deutschland Rechnung trägt. wie sehr er zwei an sich unterschiedlichen Zwei Sphären sind hierbei grundsätzlich zu Regelsystemen angehört. Das ‚Unternehmen’ beachten – das der Publizistik auf der einen öffentlich-rechtlicher Rundfunk wäre dem- Seite und das der Wirtschaft auf der anderen nach in mehrerer Hinsicht als Gegenstand Seite. Entsprechend lassen sich Zielsetzun- einer unternehmensgeschichtlichen Pers- gen festhalten, die als Gegensatzpaare einan- pektive ausgewiesen. So ist er nahe liegend der gegenüber stehen, wie etwa die Orientie- als eine komplexe „soziale Organisation“ rung an Werten wie öffentliche Kommunika- anzusehen, wie sie beispielsweise Werner tion und Kulturgut bzw. Profit, Rentabilität Plumpe als Gegenstand einer historischen und Effizienz. Das nachfolgend skizzierte Unternehmensforschung aufzeigt.16 Denn medienökonomische Modell soll die bisher ganz selbstverständlich geht es um „zahlende beschriebene grundsätzliche Verfasstheit des und zu bezahlende Organisationen“, um Re- öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Corpus gelsysteme, die grundsätzlich nach betriebs- Mixtum und die Doppelinstitutionalisierung wirtschaftlichen Kriterien organisiert sind,

_ 46 Hans-Ulrich Wagner _ 47 die unternehmensinterne Differenzierungs- „Wozu Unternehmensgeschichte?“ Hartmut und Kommunikationsprozesse herausbilden, Berghoff stellte 2004 unter diesem Titel um auf Herausforderungen einer komplexen nicht nur „Ökonomen und Praktikern in Un- Umwelt zu reagieren und um schlichtweg ternehmen“ entscheidende Funktionen für zu „überleben“. Aber auch wenn man von unternehmensgeschichtliche Beschäftigung einer Definition von Medienunternehmen vor, sondern bot den Fachwissenschaftlern als komplexe Sinndeutungsgemeinschaften an, sich gleichsam aus einer Tool-box, ei- ausgeht, wie Clemens Wischermann, der nem „Werkzeugkasten“ zu bedienen.18 Aus- die „Produkte“ fixiert, die auf einem Markt gehend von der minimalistischen Definition der „Kulturindustrie“ um Aufmerksamkeit von „Unternehmen“ als „Basiseinheiten konkurrieren,17 gelangt man zu einem Feld moderner, arbeitsteilig organisierter Gesell- sozialer Interaktion, das grundsätzlich auch schaften“ entwickelte er vier „Fundamental- ökonomisch beurteilt wird. Das Dienstleis- dimensionen“, in denen er die Unternehmen tungs- wie das Produktionsunternehmen angesiedelt sah, nämlich grundsätzlich in ei- Rundfunk bewegt sich auf Medienmärkten nem ökonomisierten Lebensbereich; sodann und entwickelt ein Akteursverhalten, dessen als Akteur in einem Feld sozialer Interakti- Handlungen sich zwar gesellschaftlich an- on; generell als Kultur schaffende Institu- ders rechtfertigen, dessen Grundlagen jedoch tion, die Alltags- und Orientierungswissen immer auch betriebswirtschaftlichen Kriteri- bereithält, sowie schließlich als politischer en folgen. Akteur.

Jan-Otmar Hesse ging 2001 in seinem „Lite- 3. Formative Years: raturbericht“ zum Thema „Unternehmensge- Zu einer „Unternehmensgeschich- schichte als Medium der Mediengeschichte“ te“ des NWDR 1945-1955 weiter, als er die im vorangegangenen Kapi- tel skizzierten Polaritäten als grundsätzlich Diese Schlaglichter auf einige aktuelle Pro- anerkannte und zum Ausgangspunkt für ein zesse und Zustände des öffentlich-rechtli- pragmatisches Plädoyer nahm: „Nicht mehr chen Rundfunks führen noch einmal zurück Kultur statt Ökonomie lautet das Credo der auf die Möglichkeiten spezieller medien- Unternehmensgeschichte, sondern Kultur unternehmenshistorischer Perspektiven und Ökonomie sowie Information und Me- und Ansätze. Denn bereits innerhalb der dien“.19 Vor dem Hintergrund des seit 2001 fachwissenschaftlich geführten Diskussion in Hamburg laufenden Forschungsprojekts zur „Unternehmensgeschichte“ werden die zur Geschichte des Nordwestdeutschen Forderungen nach theoriegeleiteten Ansätzen Rundfunks werden im Folgenden drei Bei- mittlerweile explizit mit der Frage verknüpft: spiele aufgegriffen. Es handelt sich um Ein-

_ 46 Mehr-Wert-Fragen _ 47 zelstudien, die helfen, darauf zu reflektieren, für dessen Produkte – seine informierenden, wie eine speziell medien-unternehmensge- unterhaltenden, bildenden und kulturellen schichtliche Beschäftigung aussehen könn- Programmangebote – sollten grundsätzlich te und welche Möglichkeiten sie eröffnen andere sein als die der Lizenznehmer bzw. würde.20 Firmeneigentümer. Dabei war der Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen, dieses in Beispiel 1: Zur Startsituation des seiner Bedeutung kaum zu überschätzende „Medienunternehmen“ NWDR Medium den staatlichen Einflüssen zu -ent ziehen und politisch weitgehend unabhängig Geht man von dem in der britischen Zone zu machen. entstandenen Nordwestdeutschen Rundfunk aus, so führt dieser Untersuchungsgegen- Ein Briefwechsel zwischen dem britischen stand auf die Kontexte der sich nach dem Chief Controller Hugh Carleton Greene und Ende des Zweiten Weltkriegs in vielfacher dem sogenannten „Vater des Rundfunks“, Weise neu konstituierenden Medienbranche. dem Deutschen Hans Bredow, verdeutlicht Der Rundfunk, ins Leben gerufen von einem diese Positionierung des Rundfunks. Bre- britischen Militärkommando und sehr bald dow, damals Regierungspräsident in Hessen- ausgestaltet durch das Hinzuziehen deut- Nassau und Berater der amerikanischen Of- scher Mitarbeiter, hatte eine umfassende fiziere in Rundfunkfragen, hatte Mitte 1947 publizistische Aufgabe zu erfüllen. Dabei den Kontakt zu Greene aufgenommen, als kam dem „Medienunternehmen“ Rundfunk dieser seine Rundfunkkonzeption vehement – so hier arbeitshypothetisch vor allem von gegen die Begehrlichkeiten der erstarkenden Seiten des Finanzmarktes in einem allge- politischen Parteien verteidigen musste. In meinen Unternehmensmodell aufgefasst vielen Punkten deckten sich die Überzeugun- – eine in mehrfacher Hinsicht ökonomische gen des deutschen Rundfunkmitbegründers Sonderkonstellation zu. Blickt man nämlich und des hochrangigen britischen Offiziers. auf das intermediale Feld, so fällt als erstes Der Rundfunk sollte keine private Erwerbs- ein komplexes ökonomisches System auf, gesellschaft sein; er sollte der Allgemeinheit in dem die Neuordnung der verschiedenen dienen, keine Partikularinteressen verfol- Medien erfolgte. Tages- und Zeitschriften- gen; er sollte der Öffentlichkeit dienen und presse, Verlagswesen sowie der Film- und von Repräsentanten dieser Öffentlichkeit Kinobetrieb wurden im Zuge einer diffe- getragen werden. Vor allem in einem Punkt renzierten Lizenzierungspraxis vorwie- jedoch unterschieden sich die Auffassungen, gend privatwirtschaftlich organisiert – das wie das gesamtgesellschaftliche Dienstleis- Medium Rundfunk wurde von Anfang an tungsunternehmen zu etablieren sei: Bredow hiervon ausgenommen.21 Die Bedingungen schlug die Kontrolle des Rundfunks durch

_ 48 Hans-Ulrich Wagner _ 49 Britische Mitarbeiter des NWDR vor dem Funkhaus Hamburg (1945). Staatsarchiv Hamburg

den Rechnungshof vor, Greene wies eine sol- waltet werden, daß die Wirtschaftsführung che Kontrolle zurück. Bredow hatte dazu am einer Nachprüfung durch den staatlichen 6. Oktober 1947 an Greene geschrieben: Rechungshof standhält.“22

„Ich hatte noch vergessen, Ihnen zu sagen, Greenes umgehende Antwort vom 18. Okto- dass ich eine Ausschaltung des Rechnungs- ber 1947 verdeutlicht noch einmal die Linie hofes nicht für zweckmäßig halte. Infolge seiner Argumentation, die klar auf eine weit der überhöhten Gebühren hat schon immer reichende politische Unabhängigkeit zielt: ein öffentliches Misstrauen gegen die Wirt- schaftsführung des Rundfunks bestanden. „Die Ausschliessung des Rechnungshofs Diese Tatsache wird bald wieder hervortre- ist veranlasst durch ungünstige Erfahrun- ten und eine schlechte Atmosphäre schaffen. gen, die der Rundfunk kürzlich mit dem Dagegen ist die Überprüfung durch den ho- Rechungshof gemacht hatte. Zum Beispiel hes Ansehen genießenden Rechnungshof der wurde dem NWDR vor ein paar Wochen beste Schutz […]. Die Rundfunkgebühren vom Rechnungshof ohne irgendeine Ankün- sind ja nicht wie in USA Privatmittel, son- digung oder Unterhaltung auferlegt, 50% dern da es sich um eine Art Hoheitsgebühr seines technischen Aufwandes an Kosten zu handelt, werden sie als öffentliche Mittel be- kürzen oder andere Einschränkungen vor- trachtet und man erwartet, daß diese so ver- zunehmen, die – wenn ausgeführt – einen

_ 48 Mehr-Wert-Fragen _ 49 sehr schlechten Einfluss auf die gesamten te für den Funk- und Fernmeldeverkehr auf Sendungen gehabt haben würden. Nur die die Regierungen der alliierten Siegermächte Tatsache, dass die Britische Militärregie- übergegangen. Der Rundfunk als eines der rung noch für den NWDR verantwortlich wichtigsten publizistischen Medien war ist, bewahrte ihn vor Ausführung dieser in der britischen Zone in einer ersten Pha- auferlegten Sparmassnahmen. Mir scheint, se – zwischen Mai 1945 und Jahresende dass, wenn eine Körperschaft wie der Rech- 1947 – ausschließlich eine Zoneneinrichtung nungshof die Möglichkeit hat, in dieser und fiel – wie in dem Dokument von Greene Weise dem Rundfunk Sparmassnahmen zu erwähnt – unter den Vorbehalt der Militär- diktieren, unsere gesamte Politik hinsicht- regierung. Dabei ist es wichtig, zunächst lich der Errichtung eines Rundfunksystems, zwischen militärischen Einrichtungen und das vom Staate unabhängig ist, unterminiert der Besatzungsverwaltung zu unterscheiden. werden würde.“23 Militärische Truppen hatten – wie überall in Hamburg – im Mai 1945 öffentliche Einrich- Diese beiden Dokumente zeigen, was ein tungen und Verwaltungen übernommen. Be- „unternehmensgeschichtlicher“ Blick über reits im Juni 1945 übertrug die in Hamburg die institutions- und organisationsgeschicht- stationierte Militärregierung, das 609 (L/R) liche Perspektive der Rundfunkforschung zu Military Government Detachment, dem Bür- leisten vermag. Mark Lührs setzt sich in sei- germeister der Stadt Hamburg weitreichende nem Beitrag in diesem Band mit der Entste- Rechte für die finanzielle Kontrolle der Ver- hung dieser öffentlich-rechtlichen Satzung waltungen. Diese legte auch bezüglich des eingehend auseinander und beleuchtet die Rundfunks in der Hamburger Rothenbaum- Phase, in der dieses neue System sich unter chaussee am 13. Juli 1945 fest: deutscher Selbstverwaltung zu bewähren hatte. „1. You will assume financial control of Ra- dio Hamburg forthwith in accordance with An dieser Stelle soll unter dem Aspekt der the following constructions. „Unternehmensgründung“ kurz auf den 2. An account in the name of Radio Hamburg Transformationsprozess zurückgeblendet will be opened at the Reichsbank, Hamburg. werden, als zwischen Kriegsende und Ende 3. The Reichsbank, Hamburg will furnish 1947 der Rundfunk als eine „Station of any credit necessary to ensure the efficient the Allied Military Government“ geführt working of Radio Hamburg. wurde. Denn auch hier zeigt der Blick auf 4. The balances of the accounts in the name finanzielle Gegebenheiten interessante Auf- of Radio Hamburg with the unternoted banks schlüsse. Am 8. Mai 1945 war die deutsche will be transferred to the Reichsbank account Staatsgewalt einschließlich der Hoheitsrech- referred to in paragraph 2 above and will be

_ 50 Hans-Ulrich Wagner _ 51 used in accordance with Article IV of Mili- den Konkurrenten British Forces Network tary Government Law No. 52 […]. und Deutschsprachiger Dienst der BBC. 5. All cash balances held by Radio Hamburg will be paid into the Reichsbank account re- Daneben gab es die unausweichlichen Kon- ferred to in paragraph 2. flikte mit der Post, die in Deutschland die 6. All expenditures (including salaries and monatlichen Rundfunkgebühren in Höhe fees) of Radio Hamburg will be paid through von zwei Reichsmark von zirka drei Millio- the Reichsbank account. nen angemeldeten Hörern weiterhin einzog. 7. Sales for salaries, wages and fees payable Sie zogen sich bis Ende 1947 hin, denn es by Radio Hamburg will confirm to the exist- scheint mitunter unklar gewesen zu sein, ing Arbeitsamt Tariff Order […].”24 welche Summen aus den Rundfunkgebüh- ren die Post einbehielt bzw. an den Zonen- Diese Maßnahmen der britischen Militärre- haushalt überwies. Ab dem 1. November gierung zielten darauf ab, die Besatzungs- 1945 leitete die Post einen 50-prozentigen kosten möglichst gering zu halten. Es wurde Anteil des allerdings von ihr ausgewiesenen überlegt, wie der Rundfunk über deutsche Gebührenaufkommens an die Hamburger Mittel finanziert werden kann. In der Zwi- Finanzbehörde bzw. ab April 1947 über das schenzeit, bis Oktober 1945, nahm die in Zonal Budget Office (Zonenhaushaltsamt) London gebildete Control Commission for an den NWDR. Die Auseinandersetzungen British Element, kurz CCG(BE), wurden dadurch verschärft, dass die An- in der britischen Zone ihre Arbeit auf. Mit gelegenheiten der Post auf britischer Seite Datum vom 16. Oktober 1945 endete darauf- bei der P&T (Post and Telecommunication) hin die finanzielle Kontrolle des Rundfunks Branch angesiedelt war und starke Rivalitä- durch den Hamburger Bürgermeister bereits ten in der britischen Verwaltung herrschten. wieder und das entsprechende Reichsbank- Die Arbeit einer „finance working party“, konto wurde aufgelöst.25 Die Broadcasting bestehend aus Vertretern des Central Budget Control Unit, eine Abteilung der CCG(BE), Office, der Reichspost und dem NWDR, war übernahm die Verantwortung für den Sender. im Verlauf des Jahres 1947 konfliktreich. Generalmajor W.H. Alexander Bishop, Chef Diese Erfahrungen, aber auch die Tatsache, der Information Services Control Group, dass die Post als so genannte Reichssonder- setzte alles daran, dass der Rundfunk in der verwaltung einer besonderen finanziellen Zone als möglichst eigenständige Einrich- Kontrolle unterlag und als reichs- bzw. spä- tung existieren konnte. Dies bedeutete zu- ter dann bundesweite Institution beim Staat nächst die bis 1. Januar 1946 erfolgreich ab- angesiedelt war, bestärkten Hugh Carleton geschlossene Sicherstellung der Existenz mit Greene in seiner Auffassung, bei der zu die- einem eigenen Funktionsauftrag gegenüber ser Zeit geplanten Neuordnung des Rund-

_ 50 Mehr-Wert-Fragen _ 51 funks in der britischen Zone den Einfluss der zung und Vertiefung ihrer politischen und Post vollkommen auszuschalten.26 kulturellen Sendungen veröffentlichte. Die „Nordwestdeutschen Hefte“ erschienen „im Auftrage des Nordwestdeutschen Rund- Beispiel 2: Intermediale Zusammenarbeit funks“; die beiden NWDR-Redakteure Axel und Abgrenzungen Eggebrecht und Peter von Zahn firmierten als Herausgeber. Lizenzträger war jedoch Im Dezember 2005 veröffentlichte Benjamin der junge Axel Springer, der kurz zuvor Haller seine Studie über die „Zeitschriften- den Verlag Hammerich und Lesser von sei- pläne des NWDR“, die von der Forschungs- nem Vater Hinrich übernommen hatte. „Für stelle zur Geschichte des Rundfunks in Axel Springer war die Herausgabe der Zeit- Norddeutschland initiiert worden war.27 Sie schrift mit wenig Aufwand verbunden. Um untersucht eine inter-mediale Fragestellung die Beschaffung und Auswahl der Beiträge aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt, als kümmerten sich Eggebrecht und von Zahn, der Nordwestdeutsche Rundfunk mehrfach für Korrekturen sowie alle anderen redakti- Zeitschriftenpläne verfolgte und dabei mit onellen Arbeiten stellte der junge Verleger der Presse kooperierte bzw. auf deren Gebiet seinen Jugendfreund Walther Hansemann als übergriff. Lange Zeit nämlich galt die publi- Redakteur ein. Springer selbst hatte sich da- zistische Gewaltenteilung als charakteris- her lediglich um den Druck und den Vertrieb tisch für das Mediensystem der Bundesrepu- zu kümmern.“28 Die bereits Ende 1946 in blik Deutschland. Mit großem Erfolg hatten einer Auflage von 100.000 Exemplaren- er die westalliierten Siegermächte gleichsam scheinende Zeitschrift erwies sich mit einem ein erstes „duales System“ etabliert. Doch Verkaufspreis von einer Reichsmark für den zwischen dem in den Dienst eines „Public Verleger als unternehmerischer Erfolg. Denn Value“ gestellten öffentlich-rechtlichen für den redaktionell betreuten Inhalt hatte er Rundfunk und der privatwirtschaftlich orga- Fixkosten von 1.000 Reichsmark aufzuwen- nisierten Presselandschaft gab es vielfache den, die zunächst an den NWDR, dann sehr Verknüpfungen. bald an die beiden Herausgeber gingen. Für den Rundfunk bedeutete die Kooperation Einen ersten Ausdruck fand diese gemein- mit dem privaten Verleger die Möglichkeit, same publizistische Aufgabe in den „Nord- seinen publizistischen Auftrag der Demokra- westdeutschen Heften“. Von Frühsommer tisierung, der Bildung und Erziehung, cross- 1946 bis zur Währungsreform 1948 kam medial zu verfolgen. diese Zeitschrift auf den Markt, die dem Vorbild des „Listener“ folgte, einem Peri- Die nächste Etappe der Zusammenarbeit odikum, das die BBC seit 1929 zur Ergän- bot sich mit der Gründung der Programm-

_ 52 Hans-Ulrich Wagner _ 53 zeitschrift „Hör zu!“. Bereits die Startau- lenden Hörers – beispielsweise im Feldzug flage der im Verlag Hammerich und Lesser gegen die „Pest im Äther“, also die Ein- erscheinenden Zeitschrift betrug 252.000 führung von bestimmten Werbeformen im Exemplare, das einzelne Heft kostete 30 Radioprogramm. In Wirklichkeit verfolgte Pfennig. Innerhalb weniger Jahre wurde aus man gemeinsam mit anderen deutschen der „Rundfunkzeitung des NWDR“ eine der Zeitschriftenverlegern handfeste eigene In- größten deutschen Familienzeitschriften mit teressen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk einer marktführenden Stellung und damit wurde im Wettbewerb des Marktes zu einem eine der Säulen des expandierenden Ver- Kontrahenten, dessen „Verflechtungspoli- lagsimperiums Axel Springers.29 Im Vertrag tik“ und dessen „Expansionsdrang“ Einhalt zwischen dem NWDR und dem Hammerich- zu gebieten war. In einem Memorandum und-Lesser-Verlag war im Juni 1946 festge- wandte sich im Frühjahr 1951 die Fach- legt worden, dass der NWDR dem Verlag gruppe Rundfunk-Programmzeitschriften das ausschließliche Recht für den Abdruck im Verband Deutscher Zeitungsverleger an des vollständigen Wochenprogramms über- die Öffentlichkeit und erhob „schärfsten lasse, wohingegen dieser für redaktionelle Protest“ gegen die „Konkurrenz“, die den Veröffentlichungen die „vorherige Einwil- „freien und unabhängigen Rundfunk-Zeit- ligung des NWDR“ einhole.30 Doch schon schriften“ erwachsen sollte.31 im Sommer 1948 kündigte der Rundfunk das alleinige Abdrucksrecht des Wochenpro- Die in den Jahren 1950 und 1951 verfolgten gramms auf, um eine Förderung der freien Pläne des NWDR, eine eigene Rundfunk- Konkurrenz zu erzielen und eine Anhebung zeitschrift zu gründen, beriefen sich auf seine der Qualität der bestehenden Radiozeit- Satzung, in der von der britischen Militärre- schriften. Der Siegeszug der „Hör Zu!“ war gierung festgelegt war: „Der Nordwestdeut- jedoch nicht mehr aufzuhalten, denn der von sche Rundfunk darf auch Zeitschriften, Bro- Chefredakteur Eduard Rhein verfolgte Kurs schüren und andere Schriften herausbringen, hin zu einer Publikumszeitschrift mit Ser- die für Rundfunkhörer von Interesse sind.“ vice- und Illustriertenangeboten war bereits Doch seitens der Zeitschriftenverleger ernte- beschritten. te man mit den ersten hausintern entwickel- ten Probenummern so viel Kritik, dass in der Der Konflikt zwischen dem öffentlich-recht- sogenannten „Friedenskonferenz“ im März lichen Rundfunk und dem privaten Verleger 1951 eine Kompromisslösung vereinbart spitzte sich in den folgenden Monaten zu. werden konnte. „Ausgehend von dem Vor- Wiederholt war die „Hör zu!“ dem Rundfunk schlag Springers: ‚Der Rundfunk tut etwas mit scharfer Kritik begegnet. Vordergründig für die Rundfunkpresse, und die Rundfunk- gab man sich als Anwalt des Gebühren zah- presse tut etwas für den NWDR’, bewegten

_ 52 Mehr-Wert-Fragen _ 53 sich auch die Verantwortlichen des NWDR auf die privaten Verleger zu. So gestanden sie diesen ausdrücklich das Recht auf kriti- sche Kommentierungen zu.“32

Diese historische medienökonomische Fra- gestellung aus der NWDR-Geschichte der Nachkriegsjahre verdeutlicht ihre Relevanz auch dadurch, dass ihre unternehmensge- schichtlich auszumachenden Pole mehrfach wiederkehren. So flammte in den 1970er Jahren die Streitfrage nach der Vermark- tung der Programminformationen wieder auf und in den1980er Jahren wurden die Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaft- Titelblatt der ersten Probenummer „Der Hörer“, April 1950 lichen Betätigung der öffentlich-rechtlichen Staatsarchiv Hamburg Rundfunkanstalten noch einmal ausgiebig erörtert. Die aktuelle Diskussion im Zusam- gangspunkt dienen, wenn man auf der Seite menhang mit den Online-Angeboten um der Außenkommunikation metaphernreiche die Definition dessen, was als „programm- Fensterreden liest, die in biederer Wortwahl begleitend“ anzusehen ist und was nicht, die Integrations- und Orientierungsfunktion knüpft letztlich daran an. des Nachkriegsrundfunks beschwören, und auf der Seite der Binnenkommunikation Bü- rokratisierung und eine kameralistische Un- Beispiel 3: Zum Selbstverständnis des ternehmensführung, vergleichbar der einer Medienunternehmens Rundfunk Behörde, konstatiert.

Zum Selbstverständnis der Führungsspitze Eine Studie, die unlängst an der „Forschungs- des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – in stelle“ erarbeitet wurde, bietet in diesem der Regel in der Funktion des Intendanten Zusammenhang interessante Aufschlüsse. 33 einer Anstalt – gibt es erste Arbeiten. Eine Janina Fuge untersuchte die drei zwischen umfassende Studie zu den Leitbildern und 1951 und 1955 durchgeführten Aktionen des Vorstellungen, zu dem Problemlösungs- NWDR zur Bekämpfung der Schwarzhörer wissen der Rundfunkverantwortlichen steht im Sendegebiet. Diese Maßnahmen dienten allerdings noch aus. Die These von einem zunächst konkret der Haushaltskonsolidie- gespaltenen Bewusstsein könnte als Aus- rung, sie waren aber auch Möglichkeiten der

_ 54 Hans-Ulrich Wagner _ 55 Imagepflege und Ausdruck einer forcierten Hörerbindungsaktivität.34 Sowohl die Bin- nen- als auch die Außenkommunikation dieser großen öffentlich-rechtlichen Rund- funkanstalt veränderten sich demnach – wie die Autorin nachweist – im Verlauf der ersten Hälfte der 1950er Jahre grundlegend.

Zunächst setzte man im Sender auf die große Geste. Ganz im Sinne alter Belehrungs- und Bildungsstrategien sollte der Schwarzhörer „zum Guten“ erzogen und seine moralische Urteilsfähigkeit diszipliniert werden. Der NWDR, der ein finanzielles Interesse hatte, kombinierte seine Schlüsselintention mit einem Prämien- und Werbesystem, das dazu diente, der Rundfunkanstalt ein positives Image zu verschaffen. Die Rundfunkanstalt Der „Wellendetektiv“. sollte in der Bevölkerung positiv konnotiert Staatsarchiv Hamburg werden, sie sollte als engagiert, kreativ, großzügig, als Begleiter im Alltag wahrge- nommen werden. Das Werben von Schwarz- Bild vom Hörer wird deutlich, das sich mit hörern war dabei eine Art Überredungskunst, dem des mündigen Bürgers nicht in Ein- an dessen Ende eine Belohnung für die klang bringen lässt. Einsicht ins Gute stand. Doch von Anfang an zweifelte der Senderriese im Nordwesten Überlagert wurde diese merkwürdig gespal- offensichtlich auch an der tatsächlichen Zug- tene Sicht schließlich durch eine ganz ande- kraft des sanften Werbens. Mit dem Hinweis, re Entwicklung. Schnell hatten die NWDR- im Falle der fehlenden Einsicht den „Wellen- Organisatoren die Erfahrung gemacht, dass detektiv“ einzusetzen – eine Wunderwaffe, ihre Hörerwerbung immer mehr Kosten die notorische Schwarzhörer überführt –, und verursachte. Immer relevanter wurde das der Drohung mit Rechtsvorschriften verließ finanzielle Kalkül im Haus. In dieser kurzen der NWDR den Weg der „Samthandschuhe“. Zeit – so Janina Fuge – hatte der NWDR ein Dem Schwarzhörer wurde mit der peinlichen unternehmerisches Selbstbewusstsein entwi- Bloßstellung und Überführung eines unmo- ckelt, in dem der Schwarzhörer schließlich ralischen Tuns gedroht. Ein zwiespältiges nicht mehr nur umschwärmt wurde, sondern

_ 54 Mehr-Wert-Fragen _ 55 zu einer bilanzierbaren rechnerischen Größe historischen Untersuchungszeitraum andere wurde. Nach drei Aktionen hatte der NWDR einflussreiche Akteure in ihrem komplexen bis auf einen akzeptablen Bodensatz an Zusammenwirken mit dem Rundfunk fokus- Rest-Schwarzhörern alle erreicht, so dass siert werden – Akteure der Medienbranche die Antwort auf die Frage, was zusätzliche auf einem gemeinsamen, sich ausdifferen- Werbung noch bringen soll, negativ ausfiel. zierenden Markt, aber auch Akteure der In- Die ausschließliche Kosten/Nutzen-Re- dustrie und anderer Wirtschaftsbereiche wie chung hatte den Ausschlag gegeben. etwa der Technik, der Werbe- und der Mu- sikwirtschaft. Aus der „Tool-box“ möglicher unternehmensgeschichtlicher Ansätze sind Mehr-Wert Instrumentarien zu entwickeln, die das Agie- ren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Die hier vorgestellten Überlegungen und seiner konstitutiven Phase beschreiben und Beispiele mögen für ein Set möglicher Fra- bewerten – etwa in Form der Herausbildung gestellungen sensibilisieren, die – unterneh- einer besonderen Unternehmenskultur mit mensgeschichtlich fokussiert – so bislang in symbolischen und rituellen Handlungsmus- der mediengeschichtlichen Forschung keine tern oder als ganz besonderes System der oder nur am Rande Beachtung fanden. Der Unternehmenskontrolle/Corporate Gover- Impuls, der von einer theoriegeleiteten un- nance, das die Informations-, Kontroll- und ternehmensgeschichtlichen Forschung aus- Entscheidungsflüsse auf mehreren Ebenen geht, erweist sich gerade für die Frühphase der Rundfunkanstalt verdeutlicht. des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, also vor den grundlegenden Strukturwandel der Aber auch die gegenwärtig geltenden Pa- späten 1970er und frühen 1980er Jahre, als radigmen der Mediengeschichtsschreibung produktiv. – die kulturwissenschaftlich ansetzende Programmgeschichtsforschung und die Zum einen, weil die Paradigmen der Me- an gesellschaftlichen Folgen interessierte diengeschichtsschreibung sich gewandelt Mediennutzungsforschung – können Im- haben – weg von der traditionellen Orga- pulse erhalten. Das gesellschaftlich codierte nisations- und Institutionsgeschichte, die „Medienprodukt“, zum einen Bestandteil eng mit der Frage nach dem Einfluss der eines komplexen, aber genau strukturierten Politik auf das Medium Rundfunk ver- Programmangebots seitens der Produzenten, bunden war. Durch eine deutlich breitere zum anderen Konstrukt seitens der Medien- Kontextualisierung, die für die Analyse von nutzer, unterliegt grundsätzlich exogenen Handlungen in der aktuellen Medienbran- und endogenen Rahmenbedingungen, die che ganz selbstverständlich ist, können im von unternehmerischen Strategien abgeleitet

_ 56 Hans-Ulrich Wagner _ 57 sind: Exogen, weil nicht nur vom Publikum schichte des deutschen Rundfunks von 1923/38. immer neue Erwartungen an das Medium Hamburg 1955; Hans Brack u.a.: Organisation des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutsch- Rundfunk herangetragen werden, sondern land 1948-1962. Hamburg 1962. dieses umgekehrt auch um die Aufmerksam- 3 Zur Geschichte des Rundfunks in Deutschland seit keit für sein spezifisches Angebot jeweils zirka 1980 vgl. den von Dietrich Schwarzkopf ringen muss; endogen, weil fiktionale und herausgegebenen Sammelband, der bereits im Untertitel mit den offensichtlich polaren Begrif- nichtfiktionale Programmangebote in einem fen „Wettbewerb“ und „Öffentlichkeit“ aufwar- komplexen arbeitsteiligen Prozess erstellt tet: Rundfunkpolitik in Deutschland. Wettbewerb werden. Die literatur- bzw. medienwissen- und Öffentlichkeit. München 1999. schaftliche Forschung hat mit ihren Model- 4 Karla Fohrbeck und Andreas Johannes Wiesand: Der WDR als Kultur- und als Wirtschaftsfaktor. len vom Medienarbeiter und der Anwendung Köln u. a. 1989 (= Annalen des Westdeutschen der soziologisch ausgerichteten Feld-Theorie Rundfunks, Band 7). – Zitate, S. 217-222. hierzu Vorarbeiten geleistet. 5 Vgl. Hans Bolsenkötter: Führungsstrukturen öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten. In: Unternehmensverfassung in der privaten und Mehr-Wert also? – Der Versuch, pragmatisch öffentlichen Wirtschaft. Festschrift für Prof. Dr. unternehmensgeschichtliche Ansätze zur Erich Potthoff zur Vollendung des 75. Lebensjah- Erklärung des Systems des frühen öffentlich- res. Baden-Baden 1989, S. 278-289; Peter Eich- rechtlichen Rundfunks vor der Einführung horn und Hans Raffée (Hrsg.): Management und Marketing von Rundfunkanstalten. Baden-Baden des dualen Systems in Deutschland heranzu- 1990; Zitat aus dem „Vorwort“, S. 5. ziehen, verspricht aufschlussreiche Ergebnis- 6 Was Sie schon immer über den NDR wissen woll- se. Die umfassende intermediale Geschichte ten … Die häufigsten Fragen und ihre Antworten. einer öffentlich-rechtlichen Anstalt als Kul- Hrsg. vom NDR. Markenkommunikation. Stand: August 2004. – Hervorhebung HUW. tur- und als Wirtschaftsfaktor in den Nach- 7 Vgl. Marie Luise Kiefer: Ökonomisierung der kriegsjahren könnte als Zielmarke dienen. Medienbranche – Herausforderungen für die Publizistikwissenschaft und die Medienpolitik. In: Edzard Schade (Hrsg.): Publizistikwissen- schaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge Anmerkungen: zu einer Reflexion der Fachgeschichte. Konstanz 2005, S. 191-208; Werner A. Meier und Otfried 1 Vgl. Karl Christian Führer: Wirtschaftsgeschichte Jarren: Ökonomisierung und Kommerzialisie- des Rundfunks in der Weimarer Republik. Pots- rung von Medien und Mediensystem. Einleitende dam 1997 (= Veröffentlichungen des Deutschen Bemerkungen zu einer (notwendigen) Debatte. Rundfunkarchivs, Band 6). In: Medien und Kommunikationswissenschaft 2 Vgl. Hans Ulrich Reichert: Der Kampf um die Au- 49 (2001), H. 2 [Themenheft Ökonomisierung], tonomie des deutschen Rundfunks. Heidelberg S. 145-158; Marie Luise Kiefer: 20 Jahre privater und Stuttgart 1955; Hans Bausch: Der Rundfunk Rundfunk in Deutschland. Versuch einer Be- als politisches Kräftespiel der Weimarer Republik standsaufnahme aus medienökonomischer Pers- 1923-1933. Tübingen 1956; Heinz Pohle: Der pektive. In: Media Perspektiven, Heft 12, 2004, Rundfunk als Instrument der Politik. Zur Ge- S. 558-568.

_ 56 Mehr-Wert-Fragen _ 57 8 Vgl. die Homepage der KEF: www.kef-online.de/ Medium der Mediengeschichte. Ein Literaturbe- inhalte/ (Abruf, 25.1.2006). richt. In: Archiv für Sozialgeschichte. 41. Band. 9 Ebd. 2001, S. 539-555; Zitat, S. 554. 10 Vgl. den gekürzten Abdruck des Gutachtens von 20 Das Projekt verfolgt selbst keine dezidiert unter- Thorsten Held und Wolfgang Schulz: „Keine nehmensgeschichtlichen Ansätze, sondern ist Beihilfe“. Europarechtliche Beurteilung von On- 2000/2001 mit dem Auftrag gestartet, 1.) den line-Angeboten öffentlich-rechtlicher Rundfunk- grundlegenden mediengeschichtlichen Transfor- anstalten. In: epd medien, Nr. 91, 20.11.2004, mationsprozess in den ersten Jahren nach dem S. 3-8. Ende des Zweiten Weltkrieges systematisch 11 G. Hamann: Im Fadenkreuz der EU. Die Brüsse- aufzuarbeiten sowie 2.) programmgeschichtliche ler Kommission prüft, ob ARD und ZDF ihre Studien zu den Programmangeboten zu leisten Gebühren sauber verwenden. Die Sender haben und sich der historischen Mediennutzung zu wid- keine gute Antwort darauf. In: Die Zeit, Nr. 32, men. – Zur Arbeit der Forschungsstelle zur Ge- 29.7.2004, S. 17. schichte des Rundfunks in Norddeutschland vgl. 12 Vgl. z. B. Dieter Dörr: Öffentlich-rechtlicher www.nwdr-geschichte.de. Rundfunk und die Vorgaben des Europarechts. 21 Eine solche umfassende intermediale Geschichte In: Media Perspektiven, Nr. 7, 2005, S. 333-342. steht noch aus; vgl. jedoch das an der Forschungs- 13 Jobst Plog: Mehr Wert für alle. In: ARD-Jahrbuch stelle für Zeitgeschichte in Hamburg angesiedelte 2005, S. 15-23; Zitat, S. 23. Projekt „Medienmetropole Hamburg. Medien und 14 § 8, Absatz 1 des NDR-Staatsvertrags vom 17./ Öffentlichkeit von den 1920er bis zu den 1960er 18.12.1991, zuletzt geändert mit dem Staats- Jahren“. Ansonsten verfolgen die in den letzten vertrag zur Änderung des Staatsvertrags über Jahren erschienenen Mediengeschichten sehr den NDR vom 1./2.5.2005 in Kraft getreten am unterschiedliche Ansätze: Jürgen Wilke (Hrsg.): 1.8.2005. In: ARD-Jahrbuch 2005, S. 388f. Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutsch- 15 Leitlinien für die Programmgestaltung der ARD land. Bonn 1999; Helmut Schanze (Hrsg.): Hand- 2005/2006. In: Funk-Korrespondenz 52(2004), buch der Mediengeschichte. Stuttgart 2001; Irme- Nr. 39, 24.9.2004, S. 10-20; Zitat, S. 10. la Schneider und Peter M. Spangenberg (Hrsg.): 16 Werner Plumpe: Das Unternehmen als soziale Or- Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte ganisation – Thesen zu einer erneuerten histori- der Medien nach 1945. Band 1. Wiesbaden 2002. schen Unternehmensforschung. In: Akkumulati- 22 Bredow an Greene, 6.10.1947. DRA Wiesbaden. A on. Informationen des Arbeitskreises für kritische 15. Nachlass Hans Bredow. Unternehmens- und Industriegeschichte, Nr. 11, 23 Greene an Bredow, 18.10.1947. Ebd. 1998, S. 1-7. 24 From: 609(L/R) Military Government Detachment. 17 Clemens Wischermann: Unternehmensgeschichte To: The Bürgermeister of Hamburg, 13.7.1945. als Geschichte der Unternehmenskommunika- StA HH. 621-1. NDR. Zum Zeitpunkt der Aus- tion. Von der Koordination zur Kooperation. wertung noch unverzeichnet. – Zum Hintergrund In: Ders. u. a. (Hrsg.): Unternehmenskommuni- dieses Dokuments vgl. Hans-Joachim Bohnen- kation im 19. und 20. Jahrhundert. Neue Wege sack: Finanzen und Finanzkontrollwesen in der der Unternehmensgeschichte. Dortmund 2000, Hansestadt. Hamburg in der ersten Nachkriegszeit S. 31-40. 1945/46 unter besonderer Berücksichtigung des 18 Hartmut Berghoff: Wozu Unternehmensgeschich- Besatzungskostenhaushalts. o. O. o. J. [= Ham- te? Erkenntnisinteressen, Forschungsansätze und burg 1986]; Rainer Weinert: Britische Besat- Perspektiven des Fachs. In: Zeitschrift für Unter- zungspolitik und deutsche Rechnungshöfe 1944- nehmensgeschichte, H. 2, 2004, S. 131-148. 1947. Berlin 1989. 19 Jan-Otmar Hesse: Unternehmensgeschichte als 25 609(L/R) Military Government Detachment. Sub-

_ 58 Hans-Ulrich Wagner _ 59 ject: Radio Hamburg, 16.10.1945. StA HH. 621- 1. NDR. Zum Zeitpunkt der Auswertung noch unverzeichnet. 26 Die Konflikte des NWDR mit der Post bis 1955 zeichnet Mark Lührs nach: Unterschiedliche Blickwinkel: Die Post und der NWDR. In: Peter von Rüden und Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks. Hamburg 2005, S. 337-352. 27 Benjamin Haller: Die Zeitschriftenpläne des NWDR. Hamburg 2005 (= Nordwestdeutsche Hefte zur Rundfunkgeschichte, Heft 4). Online abrufbar unter: www.nwdr-geschichte.de.– Die- se Darstellung in der Schriftenreihe der „For- schungsstelle“ basiert auf einer 2004 betreuten Magisterarbeit. 28 Benjamin Haller (Anm. 27), S. 14f. 29 Zur Geschichte der „Hör Zu“ vgl. v. a. Lu Seegers: Hör zu! Eduard Rhein und die Rundfunkpro- grammzeitschriften (1931-1965). Potsdam 2001 (= Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunk- archivs, Band 34). 30 Vertrag zwischen dem NWDR und dem Verlag Hammerich und Lesser über die Herausgabe ei- ner Rundfunkzeitschrift des NWDR. Hamburg, 30.6.1946. StA HH. 621-1. NDR. Nr. 1297. 31 Memorandum der Fachgruppe Rundfunk-Pro- grammzeitschriften im Verband Deutscher Zei- tungsverleger e.V. Hamburg o. J. [= 1951]. – Vgl. auch die Kampagne in der Presse 1950/51; u. a. ew: Expansionsdrang eines Monopols. In: FAZ, 23.2.1951. 32 Benjamin Haller (Anm. 27), S. 53. 33 Vgl. Günther Schulz (Hrsg.): Geschäft mit Wort und Meinung. Medienunternehmer seit dem 18. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozial- geschichte. München 1999. Darin: Edgar Lersch über: Rundfunk-Intendanten als Medienunterneh- mer (S. 199-234) und Ansgar Diller über: „Führer der Sender“. Rundfunkintendanten im „Dritten Reich“ (S. 235-250). 34 Janina Fuge: Der „Wellen-Detektiv“ und das „Gute in dem Herrn Schwarzhörer“. Die Schwarz- höreraktionen des Nordwestdeutschen Rund- funks 1951-1954. In: Rundfunk und Geschichte 32(2006), S. 18-33.

_ 58 Mehr-Wert-Fragen _ 59 Bausteine einer NWDR-Unternehmensgeschichte

Mark Lührs

In diesem Jahr feiern der Norddeutsche und Ein verordneter Kompromiss: Un- der Westdeutsche Rundfunk ihr 50-jähriges ternehmensgründung des NWDR Jubiläum – nicht ohne die gemeinsamen Wurzeln gebührend zu würdigen. Schließ- „Ich bin hier, um mich überflüssig zu ma- lich bedingte der Start von NDR und WDR chen“, sagte Hugh Greene 1946 bei seinem das Ende des NWDR (Nordwestdeutscher Amtsantritt als NWDR-Chief Controller.5 Rundfunk). Der ersten öffentlich-rechtlichen Die Weichen dafür sollte er selbst stellen: Anstalt in Westdeutschland, die ab 1945 im- Engländer wie auch Amerikaner und etwas merhin elf Jahre lang sendete, widmen sich widerwilliger die Franzosen wollten zwar zahlreiche Arbeiten – hauptsächlich mit dem den Rundfunk im besiegten und besetzten Schwerpunkt der Institutionsgeschichte.1 Deutschland wieder in deutsche Hände über- geben, aber wie und wann das vonstatten ge- Teilweise nur am Rande werden dabei As- hen sollte, blieb vorerst offen. Nur eines war pekte behandelt, die im Arbeitskreis Medien- klar: Der westdeutsche Nachkriegsrundfunk geschichte der Gesellschaft für Unterneh- sollte in Abkehr zum nationalsozialistischen mensgeschichte thematisiert werden.2 In den Propagandarundfunk staats- und politikfern folgenden Betrachtungen sollen einige As- reorganisiert werden. pekte einer Unternehmensgeschichte, wie sie Toni Pierenkemper herausgearbeitet hat3, am Aus angloamerikanischer Sicht war damit Beispiel des NWDR ‚ausprobiert’ werden. eine Organisationsform als Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder als Aktienge- Drei Kapitel, die Hintergründe und Motive sellschaft mit staatlichem Einfluss, wie sie der NWDR-Gründung, allgemeine und fi- sich in der Weimarer Republik durchgesetzt nanzielle Bestimmungen und schließlich An- hatte, ausgeschlossen. Auch das Modell gaben zu Einnahmen und Ausgaben4 behan- des privatwirtschaftlichen Rundfunks nach deln, sollen dabei nur erste Bausteine einer amerikanischem Vorbild kam vorerst nicht NWDR-Unternehmensgeschichte sein. in Betracht: Die dafür nötigen finanziellen Mittel, so die offizielle Begründung der

_ 60 Mark Lührs _ 61 Besatzungsmächte, ständen nicht zur Ver- wählte politische Vertreter den Volkswillen fügung. Eine befürchtete Meinungsmacht widerspiegeln und damit qua Wahl berufen, der Wirtschaft und der Wille, den Rundfunk ja quasi beauftragt wären, den Rundfunk nicht ohne gesellschaftlich verankerte Auf- zu kontrollieren. Dieser Logik verschlossen sicht aufzubauen, spielten ebenfalls eine sich die Briten nicht, hielten aber an dem Ziel Rolle für dieses Veto. Als Alternative blieb fest, keine zentrale, staatliche Rundfunkins- das britische Modell einer öffentlich-rechtli- tanz zuzulassen. Stattdessen beanspruchten chen Anstalt, gedacht als Dienstleistung ge- die Länderregierungen die Rundfunkverant- genüber der Öffentlichkeit, beauftragt vom wortung. Staat, aber unabhängig von ihm. Die einsetzenden Verhandlungen um eine Diesem Modell – und damit dem Vorbild der Rundfunkneuordnung zwischen der briti- British Broadcasting Coorporation (BBC) – schen Besatzungsmacht und den Ländern sollte die von Briten initiierte Rundfunk- Nordwestdeutschlands führten schließlich zu organisation im Nordwesten Deutschlands einem Kompromiss: Als Ersatz für die Krone folgen. Allerdings ließ sich das BBC-Mo- wurde beim NWDR ein Hauptausschuss in- dell, in dem die britische Krone als politisch stalliert, der sich aus gesellschaftlich als re- unabhängige Institution ein Aufsichtsgremi- levant erachteten Gruppen zusammensetzte. um nominiert, das wiederum das BBC-Füh- Zu denen zählten auch Vertreter der Länder- rungsgremium wählt, nicht ohne weiteres regierungen und damit der Parteien. Durch auf Deutschland übertragen. Greene stand die britische Verordnung Nr. 118 wurde der vor dem Problem, die neutrale Nominierung NWDR im Januar 1948 als öffentlich-recht- eines deutschen Aufsichtsgremiums ohne liche Anstalt konstituiert und ein Großteil der monarchische Hilfe gewährleisten zu müs- Rundfunkverantwortung in deutsche Hände sen. Ein ständisch besetztes und politisch gelegt. Die Verordnung und die ihr ange- unabhängiges Organ schien dafür noch am hängte Satzung waren nach 1945 die erste besten geeignet zu sein. Rechtsgrundlage, die Rechte und Pflichten einer deutschen Rundfunkanstalt festlegten. Die angestrebte Politikferne des Rundfunks fand in Deutschland aber nicht überall Zu- Wirtschaftliches Interesse: Analyse spruch. Vor allem politische Parteien for- der rechtlichen Grundlagen und derten Einfluss auf das Medium, das große Organisation des NWDR Bedeutung für die Bildung der öffentlichen Meinung (und damit bei den Wahlentschei- Die Verordnung Nr. 1186 bestimmte als ers- dungen) besaß und in deutscher Tradition tes den Zweck des Unternehmens – „die Ver- bis dato nie vollständig politisch unabhän- breitung von Nachrichten und Darbietungen gig betrieben wurde. Neben rechtlichen unterhaltender, bildender und belehrender Ansprüchen argumentierten sie, dass ge-

_ 60 Bausteine einer _ 61 NWDR-Unternehmensgeschichte Art“. Als zweites wurde die Rechtsform die Geschäftsführung und die Arbeiten des benannt – „unabhängige Anstalt des öffentli- Generaldirektors, der außer- und gerichtlich chen Rechts“. Weiter wurde ein Vetorecht der für die Geschicke des NWDR verantwort- britischen Militärregierung bei der Wahl von lich war. zwei Gremien und die Unabhängigkeit des dritten Gremiums verfügt. Die Verordnung Was die finanziellen Richtlinien anbelangt, bildete den Rahmen, die Satzung sollte alles legte die Verordnung fest, dass die Post die weitere bestimmen. Sie wurde zeitgleich er- Rundfunkgebühren einzieht und die Militär- lassen und ist deutlich ausführlicher. regierung bestimmt, welcher Anteil an den NWDR abgeführt werden muss. Die Sat- Fasst man die wichtigsten Aspekte zusam- zung bestimmte das genaue Vorgehen: Der men, legte die Satzung fest, dass an der Finanzdirektor erstellte einen Haushalts- Spitze des NWDR drei Gremien stehen entwurf für das kommende Geschäftsjahr.7 sollten: Der sechszehnköpfige, pluralistisch Dieser Plan wurde dem Generaldirektor besetzte Hauptausschuss sollte den sieben- übergeben, der ihn wiederum dem Verwal- köpfigen Verwaltungsrat wählen und der tungsrat vorlegte. Der Verwaltungsrat konn- wiederum den Generaldirektor. Der Verwal- te Änderungen vornehmen und musste den tungsrat – besondere Befugnisse hatte der Haushalt abschließend genehmigen. Verwaltungsratsvorsitzende – überwachte Am Ende eines Geschäftsjahres legte der

_ 62 Mark Lührs _ 63 Generaldirektor die vom Finanzdirektor er- mehreren Instanzen geprüft, besprochen und stellte Abrechnung dem Verwaltungsrat vor, genehmigt werden mussten, führte dazu, dass der sie wiederum dem Bundesrechnungshof8 die Haushaltspläne häufig erst im Herbst oder zur Prüfung übergab, bevor der Hauptaus- Winter des laufenden Geschäftsjahrs verab- schuss die abschließende Genehmigung schiedet und die Abrechnungen teilweise erst übernahm.9 Außerdem wurde festgelegt, vier Jahre nach Geschäftsjahresabschluss dass die Verwendung der Einnahmen al- vom Hauptausschuss genehmigt wurden.10 lein durch den NWDR bzw. seine Gremien bestimmt und Überschüsse des NWDR an Betrachtet man die Einnahmen des NWDR die Kulturfonds der Länder zurückgeführt (Siehe Seite 62), die zu fast hundert Prozent werden sollten. aus dem Gebührenaufkommen resultierten11, Dieses Vorgehen, bei dem die Finanzen von drängt sich der Gedanke auf, dass der NWDR

_ 62 Bausteine einer _ 63 NWDR-Unternehmensgeschichte auch als wirtschaftlicher Faktor wahrgenom- die Ausgaben bestimmen sollten.14 Die men werden musste. So wurde beispielweise Haushaltspläne, die NWDR-Finanzdirektor 1950 im Verwaltungsrat der Vorwurf einiger Georg Hubrich erstellte, folgten dem Muster Banken thematisiert, dass NWDR-Rückstel- behördlicher Buchhaltungen. Der eigent- lungen und -Reserven lediglich bei Hambur- liche Gegenstand der Pläne und Abrech- ger Banken deponiert würden.12 Den Ländern nungen – die Ausgaben – unterteilte sich ging es auch um ihr ‚Stück’ von diesem ‚Ku- in zwei Kostengruppen und anfangs acht chen’ und die öffentlich-rechtliche Anstalt Abschnitte. In der ersten Kostengruppe der war nicht nur Gegenstand zahlreicher politi- Fortlaufenden Kosten fielen: scher Begehrlichkeiten. - Abschnitt A – Hauptausschuss und Verwaltungsrat Soll und Haben: Der NWDR ab 1948 - Abschnitt B 1 – Hauptverwaltung aus ökonomischer Sicht13 - Abschnitt B 2 – Gemeinschaftsauf- gaben des NWDR Die verbindliche Grundprämisse der - Abschnitt C – Funkhäuser NWDR-Finanzen war, dass die Einnahmen - Abschnitt D – Sendeanlagen

_ 64 Mark Lührs _ 65 - Abschnitt E – Zentraltechnik benanteil. Weiter fällt auf, dass Hamburg und In der Kostengruppe der Einmaligen Ausga- Köln ähnlich viel Mittel zur Verfügung stan- ben wurden aufgeführt: den, während Hannover und Berlin deutlich - Abschnitt F – Einmalige Ausgaben geringere Anteile zugewiesen wurden. - Abschnitt G – Rückstellen und (Siehe Seite 64) Rücklagen15 Diese Aufteilung folgt der Ellipsen-The- Anhand eines Organigramms des NWDR orie, die Hamburg und Köln zu den zwei 1951/52 (Siehe Seite 63) wird einerseits Zentren des NWDR erklärte.16 Geriet das deutlich, welch’ komplexes Gebilde der Gleichgewicht in Gefahr, wurden Kosten aus NWDR war, und andererseits, wohin die dem Hamburger Etat aus- und bei Gemein- Gelder der einzelnen Abschnitte flossen. schaftsaufgaben eingegliedert.17 Argumenta- tionen, dass Nordrhein-Westfalen und damit Mit bis zu 45 % aller Ausgaben bekamen die mehr als die Hälfte der Gebührenzahler des Funkhäuser den bei weitem größten Ausga- NWDR vernachlässigt würden, verstummten

_ 64 Bausteine einer _ 65 NWDR-Unternehmensgeschichte deshalb freilich nicht. schaftliche Motive dürften dabei eine Rolle gespielt haben.19 Jeder der Abschnitte wurde in folgende Aus- Kurz nachdem Grimme den Posten als Ge- gaben-Arten unterteilt: neraldirektor im Herbst 1948 angetreten - Persönliche Ausgaben und Reorganisationsmaßnahmen eingelei- - Rundfunkeigene Ausgaben tet hatte, hielt der Hauptausschuss Anfang - Sächliche Ausgaben 1949 fest: „Die Reorganisation des NWDR - Sonstige Ausgaben besonders hinsichtlich der Haushaltsfüh- rung, der Höhe des Personalstandes und Unter Persönliche Ausgaben fielen „Ge- der Bezüge ist mit allem Nachdruck wei- hälter, Löhne, gesetzliche und freiwillige terzuführen.“20 Erich Klabunde, von 1949 soziale Leistungen usw.“. Rundfunkeigene bis 1950 als Vorsitzender des Deutschen Ausgaben waren „Zweckausgaben, die für Journalistenverbandes Mitglied des NWDR- Rundfunkanstalten typisch sind (Honorare, Hauptausschusses, wurde auf der folgenden Urhebervergütungen, Lizenzgebühren, Pro- Sitzung noch deutlicher. Er plädierte dafür, grammgemeinkosten, Magnetofonverbrauch, dass im Rahmen der Reorganisation 300 An- Leitungskosten usw.)“. Sächliche Ausgaben gestellte sofort und 300 in sehr kurzer Zeit umfassten „Geschäftsbedürfnisse, Ersatz und ausscheiden müssten und drohte, dass ein Unterhaltung von Betriebs- und Geschäfts- Hauptausschuss-Mitglied (hier dürfte er sich ausstattungen, Postgebühren, Bücher usw.“. selbst gemeint haben) sein Amt niederlegen „Beiträge, Spenden usw.“ wurden als Sonsti- könnte, wenn das Notwendige nicht durch- ge Ausgaben verbucht. Diese Ausgabenarten geführt würde.21 Auch der Verwaltungsrat wurden wiederum differenziert in verschie- stimmte ein. Dessen Vorsitzender Heinrich dene Ausgabenansätze, die ,„mit einer kur- Raskop hielt im Mai 1949 fest: „[E]s sei zen Zweckbestimmung ... versehen, ... die die Hauptaufgabe des Verwaltungsrats und Art der Ausgabe genauer erkennen läßt.“18 des Generaldirektors, die Mitarbeiter des (Siehe Seite 65) NWDR zunächst dazu zu bringen, sich nicht nur in künstlerischer Hinsicht, sondern auch Die Ausgabenarten „Persönliche Ausga- in finanzieller Hinsicht Gedanken über die ben“ und „Rundfunkeigene Ausgaben“ aller Arbeit des NWDR zu machen.“22 Abschnitte zusammen – und damit primär die Personalkosten – waren durchweg der Ein weiteres Beispiel dafür, dass es in den größte Ausgabenartenposten des NWDR. Gremien nicht ausschließlich um kulturelle Sie sorgten immer wieder für Diskussionen sondern auch um finanzielle Aspekte ging, in den Gremien. Häufig wurden bei den ist das Ringen um die Überschusszahlun- Haushaltsbesprechungen Stellen gestrichen gen, die der NWDR an die Kulturfonds der oder zumindest vorübergehend gesperrt. Vor Länder abführen sollte. Gewinne waren bei allem länderpolitische und aber auch wirt- der öffentlich-rechtlichen Anstalt schließlich

_ 66 Mark Lührs _ 67 nicht eingeplant und Rückstellungen und Verwaltungsrat den Haushalt sowie die Ab- Rücklagen nur in Ausnahmefällen (wie z.B. rechnung und der Hauptausschuss nur die bei größeren Neubauten) konsensfähig. Zwar Abrechnung zu verabschieden hatte,27 wurde herrschte im Mai 1948 noch Unklarheit, ob ausgehebelt. 1950 wurde eine Unterkommis- es solche Länderfonds überhaupt gäbe, aber sion für Haushaltsfragen gegründet – wieder schon im September – und damit im laufen- gegen einige Stimmen aus NWDR-Gremien den Geschäftsjahr – war das Problem gelöst: –, die sich aus Mitgliedern von Verwaltungs- Ein Vorschuss von 1,8 Millionen DM wurde rat und Hauptausschuss zusammensetzte. Es entsprechend dem Verhältnis der angemel- wurde „zum Ausdruck gebracht, dass, ehe deten Hörer an die Länder verteilt.23 die nicht mehr zweckmässige Bestimmung der Satzung zur Ursache von Meinungsver- Nur drei Monate später, im Dezember 1948, schiedenheiten zwischen den beiden Organen wurde für die Vorrauszahlung von Über- würde, es das Beste sei, sich über einige sat- schüssen ein modus vivendi gefunden: Die zungsmässige Bedenken hinwegzusetzen“.28 Überschüsse, die eigentlich erst mit der Abrechnung feststehen konnten, wurden be- Als der Bundesrechnungshof 1955 (erneut) reits im Haushaltsplan festgelegt. An diesem die Frage aufwarf, „ob der NWDR entspre- Verfahren, dass in den Gremien teilweise chend seiner Stellung als öffentlich rechtliche heftige Kritik hervorrief,24 änderte sich in Anstalt bei der Haushalts- und Wirtschafts- den folgenden Jahren nichts.25 Die vermeint- führung die für die Anstalten des öffentlichen lichen Überschüsse, die ca. fünf Prozent der Rechts allgemein geltenden Rechte zu beach- Einnahmen ausmachten, wurden weiterhin ten habe“29, erwiderte Grimme, dass nur in während der laufenden Geschäftsjahre an Ausnahmefällen die Auflagen umgangen und die Kulturfonds der Länder, die selbststän- den besonderen Ansprüchen des Rundfunks dig über deren Verwendung entschieden, entsprochen worden sei. Dem anschließen- überwiesen. Die Subventionierung kulturel- den Hinweis des Bundesrechnungshofs, ler Einrichtungen oberhalb der Landesebene dass bei den Studios Flensburg, Oldenburg stand auch zur Debatte, aber u.a. Nordrhein- und Dortmund Einsparungen möglich seien, Westfalens Ministerpräsident Karl Arnold, entgegnete die Unterkommission, dass sie Mitglied im Hauptausschuss, lehnte das vorerst keine Handlungsmöglichkeit sehe, da vehement ab.26 die Studios auch rundfunkpolitisch motiviert seien. Ebenfalls umstritten war eine andere Ent- wicklung, die dafür sorgte, dass der Verwal- Angesichts dieser Beispiele verwundert es tungsrat bei der Genehmigung des Haushalts nicht, dass der NWDR die Frage nach dem den Hauptausschuss zumindest partiell be- eigenen Status nicht beantworten konnte oder teiligte. Die durch die Satzung vorgeschrie- wollte. Bernhard Marschall, Mitglied der Un- bene Trennung der Kompetenzen, dass der terkommission für Etatfragen, hielt bereits in

_ 66 Bausteine einer _ 67 NWDR-Unternehmensgeschichte einem ausführlichen Bericht über den Haus- Anmerkungen: haltsplan 1951/52 fest: „[D]er Rundfunk ist weder eine Behörde im eigentlichen Sinne 1 U.a. Rüden, Peter von; Wagner, Hans-Ulrich trotz der Rechtsform als Anstalt des öffentli- (Hrsg.): Die Geschichte des Nordwestdeutschen chen Rechts, noch ist er auf ein Gewinnstre- Rundfunk. Hamburg: 2005. Dieser erste von ben ausgerichteter kaufmännischer Betrieb, zwei Abschlussbänden der Forschungsstelle zur sondern er ist ein Ding an sich.“30 Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland, einem Kooperationsprojekt von NDR, WDR, Hans-Bredow-Institut und Universität Hamburg, Zahlreiche andere interessante Aspekte einer widmet sich der NWDR-Institutionsgeschichte. NWDR-Finanzgeschichte, wie zum Beispiel Der zweite Band mit dem Schwerpunkt Pro- Debatten um die Neubauten des NWDR, die grammgeschichte des NWDR erscheint Ende Verhandlungen um einen Tarifvertrag, die 2007. 2 Entwicklung des Fernsehetats oder die Aus- Es stellen sich Fragen, ob, inwieweit oder ab wann öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten als Un- einandersetzungen mit der Post, insbeson- ternehmen betrachtet werden können. Diesem dere Steuerfragen und vieles andere mehr, grundsätzlichen Problem im Zusammenhang mit könnten ebenso wie eine Bearbeitung wei- dem NWDR widmet sich der Beitrag von Hans- terer Aspekte der Unternehmensgeschichte Ulrich Wagner in diesem Band. 3 helfen, das „Ding an sich“ genauer zu spezi- Vgl. Pierenkemper, Toni: Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergeb- fizieren. Aber detailliertere und weitere Bau- nisse. Stuttgart: Steiner, 2000. (= Grundzüge der steine einer NWDR-Unternehmensgeschich- modernen Wirtschaftsgeschichte ; 1). te müssen einer postjubilaren Bearbeitung 4 Ein Manko dieses Arbeitsberichtes muss vorerst vorbehalten bleiben. bleiben, dass die wiedergegebenen Angaben zu Einnahmen und Ausgaben Haushaltsplänen (und nicht den Abrechnungen) entnommen wurden. Mehr zur Quellensituation siehe Fußnote Nr. 13. 5 Greene, Hugh Carleton: Entscheidung und Verant- wortung. Perspektiven des Rundfunks. Hamburg: 1970, S. 46f. 6 Vgl. Verordnung Nr. 118 mit Anhang Satzung des Nordwestdeutschen Rundfunks, 1.1.1948. In: Amtsblatt der Militärregierung Deutschland. Bri- tisches Kontrollgebiet, Nr. 22, S. 656-660. Die Verordnung wurde 1949 geändert. Vgl. Verord- nung 118 (1. abgeänderte Fassung) mit Anhang Satzung des Nordwestdeutschen Rundfunks, 1.7.1949. In: Amtsblatt der Militärregierung Deutschland. Britische Zone, 6.8.1949. Nr. 30, Teil 10 B, S. 7-12. 7 Geschäftsjahre gingen vom 1. April eines Jahres bis zum 31. März des nächsten Jahres. 8 Eine Anfrage beim Bundesrechnungshof ergab,

_ 68 Mark Lührs _ 69 dass dort lediglich für das Rechnungsjahr 1948/ Genehmigung des Haushalts 1949/50, da Unter- 1949 Akten auffindbar sind. lagen fehlten und ein Defizit von 10,5 Millionen 9 Nur erwähnt sei, dass es außerdem noch Sonde- DM ungedeckt war. Er verfügte, dass bis zur retats, Außerordentliche Haushalte und anderes Verabschiedung des Haushalts restriktiv gewirt- mehr gab. schaftet werden müsse. Protokoll der 12. Sitzung 10 Erst 1955 wurden die Abrechnungen der des NWDR-Verwaltungsrat, 7.-10.4.1949. NDR Jahre1949/50, 1950/51 und 1951/52 genehmigt. Hamburg. Gremienbüro. Vgl. Protokoll der 33. Sitzung des NWDR- 15 Vgl. NWDR (Hrsg.): Der NWDR-Etat. Haushalts- Hauptausschuss, 5.2.1955. NDR Hamburg. Gre- plan des Nordwestdeutschen Rundfunks für das mienbüro. Rechungsjahr 1951/1952. Hamburg: o.J., S. 5ff. 11 Weitere Einnahmen waren beispielsweise Rück- 16 Vgl. Wagner, Hans-Ulrich: Produktiver Wetteifer: erstattungen für den Betrieb von Sendeanlagen Das Funkhaus Köln. In: Rüden, Peter von; Wag- zur Ausstrahlung des Programms von British ner, Hans-Ulrich (Hrsg.): Die Geschichte des Forces Network, Einnahmen aus Verkäufen Nordwestdeutschen Rundfunks. Hamburg: 2005, aller Art, Haus- und Grundstückserträge. Zu- S. 223. sammengerechnet machten diese Einnahmen im 17 Vgl. Protokoll der 30. Sitzung des NWDR-Verwal- Rechnungsjahr 1951/52 weniger als 1,5 % der tungsrat, 28.-29.10.1950. NDR Hamburg. Gremi- Gesamteinnahmen aus. Vgl. NWDR (Hrsg.): Der enbüro. NWDR-Etat. Haushaltsplan des Nordwestdeut- 18 NWDR (Hrsg.): Der NWDR-Etat. Haushaltsplan schen Rundfunks für das Rechungsjahr 1951/ des Nordwestdeutschen Rundfunks für das Re- 1952. Hamburg: o.J., S. 11. chungsjahr 1951/1952. Hamburg: o.J., S. 5f. 12 Vgl. Protokoll der 28. Sitzung des NWDR-Verwal- 19 Nur ein Beispiel für länderspezifische Interessen tungsrat, 16.-17.8.1950. NDR Hamburg. Gremi- waren die Versuche des niedersächsischen Ver- enbüro. waltungsratsmitglied Dr. Justus Danckswert, den 13 Zur Haushaltsführung unter britischer Kontrolle Fernsehversuchsbetrieb und die Abteilungen Kul- zwischen 1945 bis 1948 fehlen bisher verlässli- turelles Wort und Kirchenfunk nach Hannover zu che Angaben. Haushaltspläne und Abrechnun- verlegen. Vgl. Schaaf, Dierk Ludwig: Politik und gen lassen sich erstmalig für das Jahr 1949/50 Proporz im NWDR. Rundfunkpolitik in Nord- nachweisen. Die Haushaltspläne des NWDR und Westdeutschland 1945-1955, Hamburg: 1971 sind ab 1951/1952 als gedruckte Broschüren (Dissertation).), S. 91 u. 102. herausgegeben worden. Vgl. NWDR (Hrsg.): 20 Protokoll der 6. Sitzung des NWDR-Hauptaus- Der NWDR-Etat. Haushaltsplan des Nordwest- schuss, 12.7.1949. NDR Hamburg. Gremienbüro. deutschen Rundfunks für das Rechungsjahr 21 Protokoll der 7. Sitzung des NWDR-Hauptaus- 1951/1952. Hamburg: o.J.; weitere Berichte schuss, 14.10.1949. NDR Hamburg. Gremienbü- für die Rechnungsjahre 1952/53, 1953/54 und ro. 1954/55. Verschiedene weitere Quellen sind im 22 Protokoll der 5. Sitzung des NWDR-Hauptaus- Staatsarchiv Hamburg, Depositum 621-1 (NDR) schuss, 5.4.1949. NDR Hamburg. Gremienbüro. einsehbar. Ein Findbuch zu den bereits verzeich- 23 Vgl. Protokoll der 5. Sitzung des NWDR-Verwal- neten Archivguteinheiten ist unter www.nwdr- tungsrat, 8.9.1948. NDR Hamburg. Gremienbüro. geschichte.de abrufbar. Darüber hinaus liefern 24 Vgl. Protokoll der 45. Sitzung des NWDR-Verwal- die Protokolle des NWDR-Hauptausschuss und tungsrat, 23.2.1952. NDR Hamburg. Gremienbü- -Verwaltungsrat von 1945 bis 1956, die im NDR ro. Gremienbüro aufbewahrt werden, weitere An- 25 Bei der Besprechung des Haushalts 1954/55 wurde haltspunkte. vom HAS bemängelt, dass erstmalig keine Über- 14 Im April 1949 verweigerte der Verwaltungsrat die schusszahlung an die Kulturfonds der Länder

_ 68 Bausteine einer _ 69 NWDR-Unternehmensgeschichte vorgesehen wären. Karl Mohr, Verwaltungsrats- 28 Protokoll der 36. Sitzung des NWDR-Verwal- vorsitzender, entgegnete, dass die bisherige Pra- tungsrats, 18.3.1951. NDR Hamburg. Gremien- xis, Überschüsse im Vorwege anzusetzen, nicht büro. sachgemäß gewesen sei. Vgl. Protokoll der 28. 29 Protokoll der 33. Sitzung des NWDR-Hauptaus- Sitzung des NWDR-Hauptausschuss, 27.3.1954. schuss, 5.2.1955. NDR Hamburg. Gremienbüro. NDR Hamburg. Gremienbüro. 30 Protokoll der 15. Sitzung des NWDR-Hauptaus- 26 Vgl. Protokoll der 10. Sitzung des NWDR-Verwal- schuss, 10.3.1951. NDR Hamburg. Gremienbüro. tungsrat, 13.-14.2.1949. NDR Hamburg. Gremi- Dem stimmte auch der NWDR-Haushaltsplan enbüro. 1951/52 zu: „Nun ist eine Rundfunkanstalt, je- 27 1948 hatte der Verwaltungsrat den Hauptausschuss denfalls in Westdeutschland, weder eine Behörde noch zurechtgewiesen und betont, dass sich des- noch ein rein wirtschaftliches Unternehmen mit sen Aufgaben auf die in Verordnung und Satzung Gewinnstreben, sondern ein Gebilde eigener erwähnten beschränken müsse. Vgl. Protokoll der Art.“ NWDR (Hrsg.): Der NWDR-Etat. Haus- 2. Sitzung des NWDR-Verwaltungsrat, 5.6.1948. haltsplan des Nordwestdeutschen Rundfunks für NDR Hamburg. Gremienbüro. das Rechungsjahr 1951/1952. HH: o.J., S. 6.

_ 70 Mark Lührs _ 71 Das ZDF in der Ära Karl-Günther von Hase

Florian Kain

Als Karl-Günther von Hase im März 1977 heit notwendig. Dafür wurden Stimmen aus sein Amt als neuer Intendant des Zweiten dem Lager der Sozialdemokraten benötigt, Deutschen Fernsehens antrat, war ihm ein die Stolte jedoch in drei Wahlgängen nicht guter Ruf vorausgegangen. Sein Wahlergeb- bekam, da die SPD an ihrem eigenen Kandi- nis war mit gerade mal fünf Gegenstimmen daten festhielt – dem journalistisch versierten beeindruckend. Nur selten in der Geschichte ZDF-Chefredakteur Reinhard Appel. Sowohl des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Stolte als auch Appel hatten im Gegensatz Deutschland wurde die Neubesetzung eines zu Hase eine hohe Qualifikation für das Intendantenpostens so einmütig gefeiert wie Amt vorzuweisen. Appel hatte zunächst als die überraschende Entscheidung des ZDF- Redakteur u.a. bei der Stuttgarter Zeitung Fernsehrats für den knapp sechzig Jahre gearbeitet und war bereits von 1973 bis 1976 alten Diplomaten Karl-Günther von Hase. Intendant des Deutschlandfunks gewesen. Er Und das, obwohl der frühere Major im war danach auf eigenen Wunsch zum ZDF Generalsstab, der von 1962 bis 1967 Regie- als Chefredakteur gewechselt. Und verant- rungssprecher unter Adenauer, Erhard und wortete in dieser Position alle aktuellen In- Kiesinger gewesen war, keinerlei Erfahrun- formationsprogramme. gen mit dem Medium Fernsehen gesammelt Stolte wiederum hatte seine Karriere 1962 hatte. Noch zum Zeitpunkt seiner Wahl als persönlicher Referent des ZDF-Grün- befand sich Hase in Großbritannien, wo er dungsintendanten Karl Holzamer begründet. sieben Jahre lang Botschafter der Bundes- Ab 1967 war er Leiter der neugeschaffenen republik Deutschland gewesen war. Auf Hauptabteilung Programmplanung des ZDF. Wunsch von Christian Schwarz-Schilling, Nach Stationen beim Südwestfunk war er dem Vorsitzenden des CDU-Freundeskrei- 1976 zum ZDF zurückgekehrt und hatte das ses im Fernsehrat, hatte er sich als „Joker“ Amt des Programmdirektors übernommen, zur Verfügung gehalten für den Fall, dass der in dem er für alle fiktionalen Programman- eigentliche Favorit der Christdemokraten, gebote zuständig war. Er verkörperte bereits ZDF-Programmdirektor Dieter Stolte, keine damals den Typus eines Fernsehmanagers an Mehrheit finden würde. Denn die der CDU der Schnittstelle zwischen kulturellem Auf- nahestehenden Fernsehratsmitglieder waren trag und unternehmerischer Verantwortung. zwar in der Mehrheit, aber für die Wahl Da er den Mitgliedern des SPD-Freundes- des Intendanten war eine Dreifünftelmehr- kreises aber zu deutlich im konservativen

_ 70 Das ZDF in der Ära _ 71 Karl-Günther von Hase Lager verortet war und befürchtet wurde, sich dennoch damit arrangieren, dass es ein dass der damals 42-jährige Stolte, so er ge- Seiteneinsteiger war, der im ZDF nun die wählt würde, wie zuvor Holzamer in den dar- Macht hatte. Das barg ein enormes Kon- auffolgenden 20 Jahren das ZDF dominieren fliktpotential. Zu besonders schweren Aus- würde, beharrten diese auf Appel, obwohl er einandersetzungen kam es von Anfang an aufgrund der Mehrheitsverhältnisse erst recht zwischen Reinhard Appel und Karl-Günther keine Chance auf das Amt hatte. Diese Situa- von Hase, da sich der neue Intendant mit Ap- tion war paradox: Einer der besten Fachleute pels Verantwortungsbereich, dem aktuellen war als Intendant nicht tragbar, weil er zu Nachrichtenjournalismus, jedenfalls besser lange zur Verfügung stand. auskannte als mit dem ihm völlig fremden Nach mehreren ergebnislosen Wahlgängen Aufgabengebiet Stoltes – und sich entspre- und einer drohenden Blamage des Fern- chend häufiger einmischte. sehrats präsentierte der CDU-Freundeskreis Die Einwendungen Hases waren in der Re- schließlich zur allgemeinen Überraschung gel bezogen auf personelle Entscheidungen Karl-Günther von Hase als Kompromiss- Appels und dabei nicht fachlich, sondern kandidaten, der von den Sozialdemokraten politisch motiviert. Hase zeigte sich in den schließlich akzeptiert wurde. Deren Hoff- ersten zwei Jahren seiner Amtszeit offen nung, einen Mann gewählt zu haben, der für Einflüsterungen und Forderungen, die nicht so sehr wie Stolte einer Seite verpflich- aus dem CDU-Freundeskreis im Fernsehrat tet war, stellte sich allerdings recht bald als an ihn herangetragen wurden. Das sorgte Trugschluss heraus. Das gleiche galt auch immer wieder für neue Auseinanderset- für die Erwartung, mit Karl-Günther von zungen mit Reinhard Appel, der mit Ver- Hase einen qualifizierten Mann gefunden zu bissenheit für seine in der Regel fachlich haben. gut begründeten Personalwünsche kämpfte, Denn der neue Intendant kannte sich nach sich jedoch gegen Hase nicht durchsetzen sieben Jahren Deutschland-Abstinenz mit konnte. Denn dieser war sich seiner Macht der Fernsehlandschaft in der Bundesrepub- sehr wohl bewusst, auch wenn er zunächst lik überhaupt nicht aus. Es scheint schwer nicht viel mehr mit ihr anzufangen wusste, vorstellbar, doch Hase kannte noch nicht mal als in Personalauseinandersetzungen mit der den Unterschied zwischen den Nachrichten- Chefredaktion Unnachgiebigkeit an den Tag sendungen „heute“ und „Tagesthemen“. Für zu legen. die Profis in den programmbildenden Di- Doch Karl-Günther von Hase machte in sei- rektionen, insbesondere für Reinhard Appel ner Zeit als Intendant eine interessante Ent- und Dieter Stolte, war das eine schwierige wicklung durch. Je länger er an der Spitze Situation: Beide wären selbst gerne in den des ZDF stand, desto stärker identifizierte er 14. Stock des Lerchenberghochhauses ein- sich mit dem Unternehmen und desto unab- gezogen, beide wussten um ihre bessere Ge- hängiger wurde er von den Einflüsterungen eignetheit für das Amt – und beide mussten und Forderungen etwa Christian Schwarz-

_ 72 Florian Kain _ 73 Schillings oder des bayerischen Minister- gab Hase eine neue Unabhängigkeit: Nun präsidenten Franz-Josef Strauß (CSU). Auch brauchte er noch weniger auf die Wünsche mit Reinhard Appel verband ihn aller Aus- der Christdemokraten Rücksicht zu nehmen, einandersetzungen zum Trotze nach einiger wie er es zuvor – zu seinem eigenen Scha- Zeit eine Grundsolidarität und gegenseitiges den – getan hatte. So unterstützte er 1979 Vertrauen. Als Appel 1979 wegen einer aus sogar eine Mitarbeiterresolution, die sich dem Ruder gelaufenen Folge der Sendung gegen die fortwährenden Angriffe Christi- Bürger fragen – Politiker antworten, in der an Schwarz-Schillings auf den öffentlich- der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl in Den rechtlichen Rundfunk richtete. Bei dem in Haag von linksradikalen Holländern vor lau- den späten siebziger Jahren immer schärfer fenden Kameras scharf angegriffen worden werdenden Konflikt zwischen Kontrollierten war, mit Rücktrittsforderungen Christian und Kontrolleuren im ZDF bezog Hase klar Schwarz-Schillings konfrontiert wurde, Stellung. Er konkretisierte diese mit einer stellte sich Hase deutlich hinter seinen Chef- medienpolitischen Erklärung auf der Sitzung redakteur. So ging Karl-Günther von Hase, des Fernsehrats am 26. Oktober 1979, in was sein bis dahin eher schlechtes hausinter- der er nachdrücklich für die Erhaltung des nes Ansehen betraf, sogar selbst gestärkt aus öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems ein- der Krise hervor. trat, aber Vorkehrungen des ZDF für den Fall Sein klares Bekenntnis zu Appel wurde ankündigte, dass die Politik eine Öffnung des im ZDF mit Genugtuung registriert, wo er Systems herbeiführen werde. bislang nur als verlängerter Arm der CDU Tatsächlich wurde inzwischen im ZDF am ins Lerchenberg-Hochhaus gegolten hatte. Konzept für ein Europaprogramm via Satellit Andererseits schwächte sein Eintreten für gearbeitet, aus dem 1984 schließlich 3Sat den bei den Konservativen ungeliebten entstand. Bereits seit mehreren Jahren gab Appel Hases Position bei der Union. Die es einen Arbeitskreis, der sich mit der Frage Wahrscheinlichkeit, dass er ein weiteres Mal auseinandersetzte, in welcher Form sich das zum Kandidaten für das Intendantenamt auf- ZDF an Kabelpilotprojekten beteiligen könn- gestellt werden würde, nahm nun rapide ab, te, die von den Ländern zwar avisiert, aber zumal das Unionslager im Fernsehrat auch noch nicht realisiert worden waren. Zwar war enttäuscht darüber war, dass Hase, pflichtbe- es für den Intendanten einer öffentlich-recht- wusster Preuße, der er war, das Prinzip des lichen Anstalt kein ungewöhnlicher Vorgang, ausschließlich öffentlich-rechtlich verfaßten wenn er vor Gremienvertretern dafür plädier- Rundfunks gegen alle Pläne verteidigte, das te, auf die Zulassung von Konkurrenz zu ver- TV-System im Zuge der neuen technischen zichten. Aber es war bemerkenswert, dass er Möglichkeiten durch Kabel- und Satelliten- dies nun auf so exponierte Weise tat. Gerade, fernsehen auch für privatrechtliche Anbie- weil er es bis zur Affäre um Appel eben nicht ter zu öffnen. Die Ahnung, dass ihm eine darauf angelegt hatte, sich als Gegenpart von zweite Amtszeit nicht vergönnt sein würde, Schwarz-Schilling zu produzieren.

_ 72 Das ZDF in der Ära _ 73 Karl-Günther von Hase Reinhard Appels Bürgersendung mit Helmut Entscheidungsinstanz, sowohl für den fikti- Kohl war zum Wendepunkt im Verhältnis onalen Programmsektor als auch die zentra- zwischen Unionsparteien und Intendant len strategischen Entwicklungsschritte der geworden, das ab Ende 1979 zunehmend Anstalt. Denn Hase vertraute seinem Rat, er formeller wurde. Allerdings konnte Hases wusste um die höhere fachliche Kompetenz wachsende Emanzipation von der CDU/ Stoltes. So war es auch kein Zufall, dass es CSU nichts daran ändern, dass er im ZDF regelmäßig Stolte war, der sich für das ZDF weiterhin als Leichtgewicht galt, was seine öffentlich zu Programmthemen äußerte. Qualitäten als Fernseh-Manager anging. Allerdings darf auch das Werk des Chefre- Seine Aufgabe beim ZDF hat er in fünf In- dakteurs Reinhard Appel nicht unterschätzt tendanten-Jahren niemals so gut in den Griff werden, der maßgeblich dazu beitrug, dass bekommen, dass eine zweite Amtszeit zur re- sich das Image des ZDF vom „Unterhal- alistischen Perspektive hätte werden können. tungsdampfer“ zum „Informationssender“ Hase verstand zu wenig von programmpoli- wandelte. Ein wesentliches Element war tischen Aspekten, außerdem fehlte er häufig die Entwicklung des HEUTE-JOURNALS, mit krankheitsbedingt. Dazu kam, dass das Uni- dem die Anstalt den ebenfalls am 2. Januar onslager im Fernsehrat 1982 im Gegensatz 1978 gestarteten TAGESTHEMEN der ARD eine zu 1977 aufgrund von Veränderungen in den ebenbürtige Nachrichtensendung entgegen- Mehrheitsverhältnissen des Gremiums eine stellte. Appels Einfluss und Ansehen sank realistische Perspektive erkannte, dieses Mal jedoch mit den Angriffen gegen sein eigen- Programmdirektor Dieter Stolte durchzuset- williges Konzept der „Bürgersendungen“ zen, von dem auch in der Amtszeit Hases jene mit Politikern, die durchaus einen ehren- wesentlichen Impulse ausgegangen waren, werten journalistischen Ansatz hatten, aber die die Entwicklung der Anstalt maßgeblich in der Umsetzung häufig misslangen bzw. bestimmten. Dazu zählte nicht nur die Posi- öffentliche Kritik hervorriefen. Das Grund- tionierung der Anstalt im Hinblick auf deren prinzip dieser Sendungen bestand darin, Beteiligung an den Kabelpilotprojekten, die dass Appel sich als Moderator zurücknahm Entwicklung erster Überlegungen zu einem und stattdessen sogenannte „Bürger“ Fragen europäisch akzentuierten Europaprogramm, an einen jeweils eingeladenen Politiker stel- sondern auch institutionelle Neuorganisatio- len sollten. Doch entweder befanden sich im nen wie die Gründung einer Hauptredaktion Studio zahlreiche Anhänger des jeweiligen Show, sowie eine weitsichtige Personalpoli- Parteienvertreters, die dann auf kritische tik und die Vorbereitung der Programmstruk- Fragen lieber verzichteten, oder es waren turreformen. So können bereits die Jahre ab erbitterte Gegner, die die Politiker frontal 1980 als Ära Stolte bezeichnet werden, ob- und zum Teil aggressiv angriffen, was einer wohl er erst 1982 Intendant wurde. substanziellen Gesprächsführung ebenfalls Letztlich war Stolte sogar die ganzen fünf abträglich war und zum Teil zu tumultarti- Jahre über die zentrale Gestaltungs- und gen Szenen führte, die in der Presse skanda-

_ 74 Florian Kain _ 75 lisiert wurden. tungsbedürfnissen breiter Publika stand in Hintergrund der von Appel eingeführten der Amtszeit Hases aber noch nicht allein im Bürgersendungen war die 1976 von der Mei- Mittelpunkt des programmlichen Handelns. nungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann So wurden aus Gründen angeblich mangeln- aufgestellte Theorie, dass die vermeintlich der Qualität sowohl der amerikanische Vier- mehrheitlich SPD-nahen Fernsehjourna- teiler Holocaust als auch die US-Fernsehse- listen der sozialliberalen Regierung durch rie Dallas als zur Ausstrahlung ungeeignet einseitige Moderationen den Weg bereitet erachtet. Beide wurden schließlich von der hätten. Um dieser Theorie und dem daraus ARD gekauft, Holocaust Anfang 1979 zum resultierenden politischen Druck der Uni- bestimmenden Fernsehereignis der späten onsparteien vorzubeugen, wollte sich Appel siebziger Jahre. bewusst zurücknehmen und stattdessen Bür- Prägend für die Programmentwicklung des ger die Fragen stellen lassen. Insbesondere ZDF zu dieser Zeit war die vom ZDF da- im Rahmen der Wahlberichterstattung 1980 mals sehr deutlich vertretene, sogenannte zeigte sich in den Diskussionssendungen, „gesellschaftliche Integrationsaufgabe“ des dass die Zurücknahme des journalistischen Fernsehens. Das ZDF, so sah es vornehmlich Elements in Politik-Sendungen aber nicht Dieter Stolte, sollte dazu beitragen, gesell- das adäquate Mittel war, um dem immer schaftliche Konflikte und Kontroversen zu wieder laut werdenden Vorwurf der Ein- überbrücken, statt sie zu schüren. Es sollte in seitigkeit in der Berichterstattung zu be- besonderem Maße integrativ wirksam sein. gegnen. Die Interviewsendungen mit den Die Ausweitung und Neuentwicklung von Spitzenkandidaten der Parteien gerieten zur Unterhaltungsprogrammen bot sich dazu an, Abfolge artiger Frage- und Antwortspiele, weil sie gerade nicht die gesellschaftlichen die so konzipiert waren, dass kein kriti- Differenzen zum Austrag brachten – und scher Impetus deutlich wurde. Dass Appel deshalb in besonderem Maße integrativ wir- zunächst kaum bereit war, sein Konzept der ken konnten. Doch hing diese Entwicklung Bürgersendungen zu überarbeiten und auch eher mit dem Wettlauf gegen die ARD zu- neue Formen des Streitgesprächs zu entwi- sammen, die, in der Publikumsgunst immer ckeln, war der journalistischen Profilierung häufiger von den Mainzern abgedrängt, am des ZDF in diesen Jahren abträglich und Hauptabend mit einer Unterhaltungsoffensi- wurde nicht nur in der Anstalt, sondern auch ve ab 1978 reagierte, auf die das ZDF wieder- in der Presse kritisiert. um Antworten finden musste. Die vermehrte Dennoch hatte der Informationssektor in Ausstrahlung unterhaltender Sendungen war den Jahren 1977 bis 1982 eine zentrale Be- jedoch kein Phänomen der vorgreifenden deutung für das Gesamtprogramm, die auch Anpassung an mögliche konkurrierende nicht abnahm, als das Engagement auf dem privatrechtliche Anbieter. Betrachten wir Unterhaltungssektor intensiviert wurde. Die beispielsweise den Sektor Show: Natürlich konsequente Orientierung an den Unterhal- gelang es dem ZDF, sich mit Neuverpflich-

_ 74 Das ZDF in der Ära _ 75 Karl-Günther von Hase tungen wie den Moderatoren Frank Elstner, sehen nicht mehr wegzudenken ist. Die Leit- Thomas Gottschalk und Desirée Nosbusch, idee lautete einfach, den Erkenntnissen der die alle Anfang der achtziger Jahre an das publizistischen und kommunikationswis- Haus gebunden wurden, gut vorzubereiten senschaftlichen Diskussion über die Män- auf die Konkurrenz, die dem Sender auf gel von Nachrichtensendungen Rechnung diesem Feld noch erwachsen würde. Doch zu tragen. Das bedeutete vor allem, Politik zu diesem Effekt kam es eher zufällig, weil auf eine natürliche Weise interessanter und das Haus ohnehin unter Handlungsdruck griffiger zu vermitteln, als dies bis dahin der stand, nachdem das Ende der Ära von Peter Fall war. Frankenfeld, Margret Dünser und Hans Ro- Prägend für die Programminnovationen senthal bereits eingeläutet oder zumindest und Personalzukäufe des ZDF in den späten absehbar war, also Neuverpflichtungen bzw. siebziger und frühen achtziger Jahren war Neuentdeckungen nötig waren, um auf die- also die Konkurrenzsituation zur ARD mit sem Programmsektor bestehen zu können. ihren stärker werdenden Dritten Program- Doch Unterhaltungssendungen verdrängten men – und nicht das mögliche Aufkommen die Nachrichten- und Politikprogramme, neuer kommerzieller Anbieter. Hierbei Dokumentationen sowie das anspruchsvolle allerdings war das ZDF erfolgreich. Trotz Fernsehspiel in der Ära Hase nicht. Um- des wachsenden Drucks durch die populärer strukturierungen und neue Formen in der konzipierten Dritten erzielte das ZDF im aktuellen Berichterstattung, allen voran die Durchschnitt ebenso hohe, zum Teil sogar Einführung des Heute-Journals unter Chef- höhere Einschaltquoten als das Erste. Im redakteur Reinhard Appel ab 1978 waren Show-Bereich gelangen den Mainzern mit ebenfalls nicht der Sorge vor kommerziellen Frank Elstner und Thomas Gottschalk spek- Anbietern geschuldet, sondern hatten ihren takuläre Abwerbungen von der Konkurrenz, Grund in der Erkenntnis, dass herkömmli- im Hintergrund wirkten mit Wolfgang Penk che Nachrichtensendungen die Zuschauer und Holm Dressler zwei Spitzenkräfte, die oftmals nicht mehr in akzeptabler Zahl er- dem Unterhaltungssektor des ZDF wesent- reichten. Das Heute-Journal als wichtigste liche Impulse verleihen konnten. Die phä- Programminnovation der Jahre 1977 bis nomenal erfolgreiche Etablierung der Show 1982 sollte als neues Nachrichtenmagazin Wetten, dass…? im Jahr 1981 war dafür ein wochentags mit vertiefenden, ausführlichen Beleg. Die Sendung war eine gelungene Hintergrundinformationen, Reportagen und Selbstinszenierung des Fernsehens als große Kommentaren das Weltgeschehen einordnen Maschine, die Wünsche erfüllt. Bedeutende und für das Publikum verständlicher machen. Programme von fernsehgeschichtlichem Ein Konzept, das bis heute trägt. Damals Rang wurden in den späten siebziger und konnte noch niemand ahnen, dass hier eine frühen achtziger Jahren auch für Kinder neue Form der Präsentation von Nachrichten bzw. Familien entwickelt, allen voran die etabliert wurde, die aus dem deutschen Fern- zur Weihnachtszeit ausgestrahlten und auf-

_ 76 Florian Kain _ 77 wendig produzierten fiktionalen Mehrteiler Romane Walter Kempowskis durch Eberhard nach literarischen Vorlagen wie Timm Tha- Fechner, die den Ruf des Mediums TV als ler und Silas, bei denen jeweils Kinder im bedeutsamsten Geschichtenerzähler unserer Mittelpunkt abenteuerlichen Geschehens Zeit eindrucksvoll untermauerte. Rund drei- standen. ßig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik konnte das ZDF mit Ein Kapitel für sich ein Im Bereich des fiktionalen, zeitgeschicht- Filmwerk vorstellen, das das Schicksal einer lich ausgerichteten Erzählfernsehens sowie typisch deutschen Familie aus Rostock nach auf dem Sektor der klassischen Literaturver- Kriegsende zum Thema hatte. Eine Indivi- filmung gelang es dem ZDF in dieser Epoche dualgeschichte, die gleichzeitig Geschichte durchaus, Wegmarken zu setzen. Die spät- eines gesamten Volkes war. siebziger und beginnenden achtziger Jahre, jene Etappe der deutschen TV-Geschichte, in der sich der drohende medienpolitische Heftige öffentliche Debatten um das Pro- „Urknall“ der Dualisierung der Rundfunk- gramm des ZDF knüpften sich unter an- landschaft schon ankündigte, aber die Pro- derem an die Berichterstattung über die grammplanung noch nicht real beeinflusste, Entführung des Arbeitgeberpräsidenten können als Phase gelten, in der es dem ZDF in Hanns-Martin Schleyer im sogenannten besonderer Weise gelungen ist, unter Beweis „Deutschen Herbst“ 1977 an. Den verant- zu stellen, was öffentlich-rechtliches Fern- wortlichen Redakteuren um Reinhard Appel sehen zu leisten im Stande ist. Hochwertige war es besonders wichtig, auf Zuspitzungen Produktionen, die heute als „Fernsehereig- und Dramatisierungen zu verzichten, um die nis des Jahres“ jeweils wochenlang von den Angst in der Bevölkerung nicht noch zu ver- Feuilletons gefeiert werden würden, waren stärken. Das Fernsehen als Erklärer, aktuel- regelmäßig Bestandteile des Programms und ler Begleiter und Bewerter der Geschehnisse begründeten einen Trend zum mehrteiligen stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Fernsehfilm mit großen Erzählpanoramen. einer sensibilisierten Gesellschaft mit einem Beispielhaft stehen dafür Wallenstein, der stark ausgeprägten Informationsbedürfnis opulente Vierteiler nach der Biographie von auf der einen Seite, aber einer neuen Emp- Golo Mann, der es in großer, repräsentativer findlichkeit für Bilder auf der anderen Seite. Realisation im Rahmen von 360 Sendemi- Viele Zuschauer bewerteten das Programm nuten Ende November 1978 schaffte, eines nach Kriterien wie Zumutbarkeit, Pietät der bedeutendsten Themen der europäischen und Takt, die nicht immer nachzuvollzie- Geschichte nachzuerzählen und szenische hen oder gar vorauszusehen waren. Dazu Übersetzung eines großen Geschichtswerks kam die Besorgnis der Krisenstäbe, dass zu sein. Ein noch bedeutenderer Beitrag zur die Veröffentlichung sensibler Informati- Programmgeschichte des deutschen Fern- onen Schleyer das Leben kosten könnten. sehens war die mehrteilige Verfilmung der Öffentliche Kritik zog das ZDF vor allem

_ 76 Das ZDF in der Ära _ 77 Karl-Günther von Hase dadurch auf sich, dass es zahlreiche Filme Innere Sicherheit/ Terrorismus auch nur zu aus dem Programm strich, die in irgendeiner streifen. Der Kabarettist befand sich sowohl Weise an die Schleyer–Entführung erinnern mit der Presse als auch mit ZDF-Oberen konnten, egal ob es sich dabei um Folgen der und Politikern, die im Fernsehrat vertreten Krimi-Serie Der Alte oder Mafia-Filme han- waren und das Aus der „Notizen“ forderten, delte. Die Begründung der Ansagerinnen, die in Konflikt, nachdem er die Ermordung von es damals noch gab, war stets die gleiche: aus Generalbundesanwalt Buback durch RAF- aktuellem Anlass. Terroristen als Aufhänger für satirische Betrachtungen verwandte – Ausführungen, die als radikal bzw. geschmacklos bewertet Die Logik solcher Entscheidungen ließ sich wurden und einen Skandal provozierten. In mitunter schwer nachvollziehen, gerade, den darauffolgenden zwei Jahren beobach- wenn einerseits ein Mafia-Film entfernt wur- tete Christian Schwarz-Schilling jede Folge de, Stunden später aber Sketchsendungen des Magazins mit Argusaugen und es kam zur Ausstrahlung kamen. Doch mit keiner selten vor, dass Karl-Günther von Hase und Programmentscheidung hatte es sich das Dieter Stolte danach keinen Beschwerde- ZDF leicht gemacht. Dieter Stolte war der brief erhielten, in dem sich Schwarz-Schil- Ansicht, dass es der Anstalt gelungen sei, die ling nicht über irgendeinen Beitrag oder eine Terroristen von öffentlicher Kommunikation Äußerung Hildebrandts aufregte. Nachdem weitgehend abzuschneiden, sie seien nicht er wegen seines medienpolitischen Kurses mehr in der Lage gewesen, sich zu produzie- selbst zur Zielscheibe von Hildebrandts ren. Tatsächlich hatten allein die ständigen Spott geworden war, veranlasste Stolte, Programmänderungen den Zuschauern aber der seine Chancen auf die Nachfolge Karl- eine von den Entführern erzwungene Aus- Günther von Hases nicht gefährden woll- nahmesituation suggeriert. te, schließlich das Ende der Reihe. Auch er traf also opportune Entscheidungen. Welchen Einfluss gesellschaftliche Ent- Der Vorgang zeigt deutlich, welch großen wicklungen und politischer Druck auf die Einfluß Politiker und Parteien damals auf ZDF-Programmpolitik haben konnte, zeigte das Programmangebot einer öffentlich- sich am Beispiel Dieter Hildebrandts, der bis rechtlichen Fernsehanstalt ausüben konnten. 1979 das Satiremagazin Notizen aus der Pro- Die gegenseitige Abhängigkeit von Kon- vinz beim ZDF verantwortete, das aufgrund trollierten und Kontrolleuren war sehr groß. massiver Proteste insbesondere des CDU- Was die Vorbereitung des ZDF auf die Freundeskreises im Fernsehrat von Dieter mögliche Öffnung des Fernsehsystems für Stolte zunächst zensiert und später abgesetzt privatrechtliche Anbieter angeht, so lässt wurde. Hildebrandt wurde durch Anweisung sich feststellen, dass die Mainzer vergleichs- der Programmdirektion verboten, das Thema weise viel Energie auf die Entwicklung von

_ 78 Florian Kain _ 79 Konzepten für die Kabelpilotprojekte ver- Wenn Dieter Stolte noch in den letzten Mona- wendeten, doch relativ spät, nämlich erst ab ten vor seiner Amtsübernahme in Windeseile 1981, damit begannen, sich mögliche Beiträ- eine Überarbeitung des Vorabendprogramms ge für ein Satellitenprogramm zu überlegen. in die Wege leitete und millionenschwere Symptomatisch ist hierbei, wie überrumpelt, Spielfilminvestitionen anbahnen ließ, dann aber dann auch rasch die Führungsetage des zeigte dies allerdings, welchen Handlungs- Mainzer Fernsehunternehmens reagierte, als bedarf auch der Programmdirektor im Hin- bekannt wurde, dass sich deutsche Zeitungs- blick auf die neu entstehende Konkurrenz verleger an einem Satellitenprogramm von erkannte. Allein eine starke Unterhaltungsre- Radio Luxemburg beteiligen wollten. Die daktion und neue Showmaster reichten nicht Appelle Karl-Günther von Hases, man müs- aus, um das ZDF dauerhaft erfolgreich auf se sich um eine Zusammenarbeit bemühen, Kurs zu halten, auch wenn sie eine wichtige sich „an einen Tisch setzen“, konnten jedoch Voraussetzung darstellten. Stoltes Wandlung kaum als geeignete Reaktion gelten. Denn vom verantwortlichen Gestalter einer kul- weshalb sollten sich die am privatrechtlich turellen Veranstaltung hin zum wirtschaft- verfassten Fernsehen interessierten Verleger lich agierenden Manager eines modernen auf eine Kooperation mit Öffentlich-Recht- Medienunternehmens hatte erst begonnen, lichen einlassen, wenn sie auch eigenver- seine unternehmerischen Strategien für ein antwortlich Fernsehen gestalten konnten? Überleben des öffentlich-rechtlichen Rund- Auch wenn eine Fernsehlandschaft mit funks in Zeiten dualer Konkurrenz mussten Hunderten von Kanälen für die damals Ver- noch entwickelt werden. Als neuer Intendant antwortlichen noch völlig unvorstellbar war des Zweiten Deutschen Fernsehens hatte er – dass Medienunternehmen nicht freiwillig dafür ab 1982 alle Möglichkeiten. Bereits im bereit sein würden, zumindest mittelfristig Oktober 1982 endete das sozial-liberale Re- wirtschaftlich aussichtsreiche Perspektiven gierungsbündnis und es kam zu einer Koali- ungenutzt zu lassen, das hätte auch der ZDF- tion von CDU/CSU und FDP, die eine Kehrt- Führung im Jahre 1981 schon bewusst sein wende in der Rundfunkpolitik des Bundes können. Vergleichsweise intensiv hatte sich herbeiführte. Christian Schwarz-Schilling das Fernsehunternehmen stattdessen mit übernahm das Amt des Bundespostministers eher nebensächlichen Entwicklungen be- und er machte es zum Motor der Förderung fasst. Dazu zählten sowohl der Test von Vi- des privatrechtlichen Rundfunks. deotext-Angeboten als auch die bundesweite Ausstrahlung des Wiederholungsprogramms am Vormittag und vor allem die Kabelpilot- projekte, die 1982 noch immer nicht an den Start gegangen waren und deren Nutzwert immer fraglicher wurde, je länger die politi- sche Debatte dauerte.

Das ZDF in der Ära _ 79 Karl-Günther von Hase Abaton Unternehmensgeschichte eines Kinos Joan Kristin Bleicher

Aus der Perspektive der Wirtschaftswissen- schaften1 befasst sich die moderne Unterneh- mensgeschichtsschreibung mit der Entwick- lung von Unternehmen als wirtschaftlichen und sozialen Einheiten. Einen Teilbereich der untersuchten Entwicklungen bildet die jeweilige Position von Unternehmen in der Volkswirtschaft. Das Erkenntnisinteresse der konkreten fachlichen Beschäftigung mit dem Teilbereich Unternehmensgeschichte ist häufig an das allgemeine Unternehmes- interesse gebunden: 1. Zum einen folgt die Unternehmensge- schichte dem Ziel zu verhindern, dass in der Vergangenheit schon einmal begangene Fehler noch einmal begangen werden. 2. Zum anderen versucht sie zu erreichen, dass in der Vergangenheit erfolgreiche Me- thoden, sofern sie sich zur Lösung besonde- rer Problemkonstellationen eignen, erneut zum Einsatz gelangen.2 konzeptuelle Begriffe vor, um Unternehmer- Ein Blick in Publikationen zur Unterneh- und Unternehmensgeschichte enger als bis- mensgeschichte lässt die Bedeutung der her zu verzahnen: personenorientierten Geschichtsschreibung erkennbar werden, die sich auf die Person 1. Die Geschäftswelt, verstanden als kom- des Unternehmers, seine Unternehmenszie- plexes Feld von Akteursbeziehungen so- le und seine Strategien fokussiert. Morten wohl innerhalb des Unternehmens, als auch Reitmayer (Trier) schlug als Erweiterung innerhalb verschiedener Submilieus - sei es dieses Forschungsansatzes in einem Ta- der Region, der Branchen oder des Umfangs gungsvortrag eine Konzentration auf drei ökonomischer Macht,

_ 80 Joan Kristin Bleicher _ 81 2. Die Unternehmensstrategie, deren Ent- Die ökonomische Bedeutung imma- wicklung und Durchsetzbarkeit nur abhängig terieller Güter von Merkmalen und Strukturen dieser Ge- schäftswelt zu analysieren und zu erklären Innerhalb der Wissensgesellschaft folgt die ist, Produktion immaterieller Güter den Vor- gaben der traditionellen Warenökonomie. 3. Und schließlich der unternehmerische Ha- Immaterielle Güter müssen ebenso wie die bitus, der durch die familiäre und durch die traditionellen materiellen Waren bestimmten betriebliche Sozialisation geprägt werde.3 Anforderungen gerecht werden. Immateri- Nimmt man zu diesen Kernbereichen die elle Güter müssen aber auch wie die ma- kulturhistorische Perspektive hinzu, so ent- teriellen Güter auf eine Nachfrage treffen stehen neue Gesichtspunkte, die insbesonde- und knapp sein, um einen Preis erzielen zu re für die wissenschaftliche Rekonstruktion können. Insbesondere die direkte und indi- der Geschichte von Medienunternehmen rekte Bedürfnisbefriedigung stellt die Unter- relevant sind. Der unternehmerische Habi- nehmen des Kulturbereichs vor besondere tus von Bertelsmann Eigentümer Reinhard Herausforderungen. Mohn kann nur bedingt als Erklärungswert Medienangebote scheinen diesen An- und für die Entwicklung von Strategien und Ak- Herausforderungen besonders gerecht zu teursbeziehungen des global in unterschied- werden, was sich in einer steigenden Bedeu- lichen Akteursbeziehungen agierenden Kon- tung und Ausdifferenzierung der Medien- zern verwendet werden. ökonomie niederschlägt. Sie ist ständigen Dieses komplexe Wechselverhältnis erfass- Veränderungen unterworfen, da sich durch ten die Wirtschaftswissenschaften in den neue Medientechniken auch neue Angebote letzten Jahrzehnten mit dem Konzept der Un- konzipieren, produzieren und vermarkten ternehmenskultur. 4 Jedoch bezog sich dieser lassen. Gestiegene Rechnerkapazitäten und Begriff eher auf die Unternehmen selbst, neue Software-Entwicklungen ermöglichen ihrem selbstgewählten Image gegenüber es „normalen“ Netznutzern im Internet mit Kunden und Geschäftspartnern nach außen eigenen Informationen in Weblogs den klas- und ihrem Führungs- und Arbeitsstil gegenü- sischen Journalismus zu ergänzen. 6 ber den eigenen Mitarbeitern nach innen. Die Die für Medienangebote charakteristische Bedeutung von kulturproduzierenden und Mischung aus traditioneller kommerzieller -verbreitenden Unternehmen selbst blieb in Gewinnorientierung und innovativer kul- dieser Diskussion eher randständig. Und das tureller Konzeption und Produktion löst trotz der steigenden Bedeutung der Produkti- Untersuchungsinteressen der betriebswirt- on immaterieller Güter, die sich in Begriffen schaftlichen Forschung ebenso aus wie der wie Informations- oder Wissensgesellschaft medienwissenschaftlichen Geschichtsfor- niederschlägt. 5 schung. Noch verzerren bestehende For-

Abaton - _ 81 Unternehmensgeschichte eines Kinos schungslücken die Beobachterperspektive. versuchen einen internationalen Markt mit Der Einfluss amerikanischer Filmproduktion vermarktbaren Träumen zu versorgen. Paral- ist nicht mehr so dominierend, wie es film- lel zu den globalen Akteuren lassen sich auch historische US-amerikanische Publikationen national agierende Unternehmen wie etwa gerne vermuten lassen. In der Zahl der Pro- die deutsche UFA in den Blickwinkel des duktionen weit überlegen sind mittlerweile historischen Interesses nehmen. Gleichzeitig asiatische und afrikanische Produktions- bleibt ein regionaler Markt mit mittelständi- standort, was sich in der ironischen Verwen- schen Unternehmen für die Produktion und dung von Bezeichnungen wie Bollywood und Verbreitung von Medienangebote erhalten. jüngst Nollywood niederschlägt. Es zeichnet Zu diesen regional agierenden Unternehmen sich ein Spannungsfeld aus nationaler Pro- zählen auch die Programm-Kinos wie das duktion und internationaler Verbreitung ab. Abaton, dessen historische Entwicklung im Medienhistorische Untersuchungen im Be- Zentrum dieses Beitrags steht. Programm- reich Unternehmensgeschichte stehen vor Kinos bilden die Schnittstelle zwischen der besonderen Herausforderungen, da sie nur Filmwirtschaft und einer kulturell interes- Kernbereiche übergreifender Veränderungen sierten Teilöffentlichkeit. In den Programm- des Mediensystems erfassen können. Kinos werden vor allem Produkte der Filmkunst verbreitet und damit sogenannte „meritorische Güter“ mit gesellschaftlich Themenschwerpunkte wünschenswerten Inhalten, aber einer be- bisheriger Forschungsarbeiten grenzten Nachfrage, die eigentlich eine Fi- zur medienhistorischen nanzierung durch öffentliche Subventionen Unternehmensgeschichte bedarf. 7 Im regionalen Raum zeichnet sich mit den Programm-Kinos so etwas wie eine Die bisherige medienhistorische Forschung Gegenöffentlichkeit zu den zunehmend glo- zeigt unterschiedliche Schwerpunktbildun- bal agierenden Medienkonzernen der Film- gen. Bislang galt das Interesse zunächst dem industrie ab. Es werden Filme präsentiert, Bereich der Unternehmergeschichte aus die unabhängig von Filmkonzernen wie etwa dem Verlagswesen oder der Filmproduktion. Warner Brothers produziert wurden. Es folgten Untersuchungen den programm- verbreitenden öffentlich-rechtlichen Insti- tutionen etwa den Rundfunksendern SWR Die Besonderheiten der Programm- oder dem Fernsehsender ZDF. Im Fokus der Forschung stehen auch global agieren- Kinos de Konzerne wie etwa Bertelsmann, die im Programm-Kinos stehen in einem besonde- Vergleich zu anderen Medienunternehmen ren Spannungsfeld zwischen kommerziell eine besonders große Reichweite besitzen. ausgerichteten Wirtschaftsunternehmen und Multinationale Konzerne wie etwa Disney kulturöffentlichen Institutionen für die Ver-

_ 82 Joan Kristin Bleicher _ 83 breitung der Filmkunst. Gleichzeitig sind sie tung von Quellenmaterial des Unterneh- auch Veranstaltungsraum für die Kommuni- mens selbst, vorhandenen historischen kation über Filme etwa durch Filmemacher, Untersuchungen und den Quellen, die die Schauspieler und Publikum. publizistische Berichterstattung über ein Das Filmprogramm der Programmkonkur- Unternehmen dokumentieren, die von mir renz unterscheidet sich in seiner Struktur angewendete Oral history in Form von mit von der kommerziellen Konkurrenz der einer Digitalkamera dokumentierten bislang Multiplex-Kinos durch den Verzicht auf das ca. 120 Minuten seit 2003 durchgeführte Stripping Modell der Verbreitung jeweils umfassenden Interviews mit dem Kinobesit- aktueller Hollywood Blockbuster: „Die drei zer und Gründer Werner Grassmann. oder vier täglichen Vorstellungen wurden Mit diesem kombinierten Verfahren wird die von den Kinomachern mit unterschiedlichen Geschichte des Unternehmens eng verknüpft Filmen bestückt. Dem Publikum wurde diese mit dem Teilbereich der Unternehmerge- verhältnismäßig komplizierte Programm- schichte. Vorhandenes Quellenmaterial und struktur mit einem gedruckten Programmzet- historische Daten etwa zur Kinogeschichte tel oder Programmheft vermittelt, das in der in Hamburg bildeten eine Grundlage der Regel monatlich erscheint.“ 8 Auch werden Fragen und wurden im Gespräch mit subjek- in dieser komplizierten Programmstruktur tiver Erinnerung zu Unternehmensstrategien der täglichen Filmvielfalt nicht nur aktuelle und ihren Auswirkungen veranschaulicht, Produktionen verbreitet, sondern auch exem- gleichzeitig fand im zweiten Schritt ein Ab- plarische Beispiele aus der Filmgeschichte gleich subjektiver Erinnerungen mit bereits wieder zur Aufführung gebracht. Auf diese filmhistorisch ermittelten objektiven Datie- Weise aktualisieren Programm-Kinos das rungen statt. visuelle Gedächtnis ihres jeweiligen Kultur- Darüber hinaus gab es zum Abaton Jubi- raums. läum im Jahr 2000 weitere Interviews, die u.a. im Internet dokumentiert sind. Der von Werner Grassmann selbst konzipierte und Zur möglichen Methodik der re- produzierte Dokumentarfilm „Abatonsaga“ gionalen Unternehmensgeschichte (Regie: Christian Bau) wertet neben den In- eines Programm-Kinos terviews mit Zeitzeugen und den Kinobetrei- Das Hamburger Abaton lässt sich diesem bern selbst vorhandenes Archivmaterial wie Modell des Programm-Kinos zuordnen. Sei- etwa das Filmen von Regisseurdiskussionen ne historische Entwicklung will dieser Bei- durch Abatonmitarbeiter aus und macht so trag rekonstruieren. Eine sinnvolle Methodik Unternehmensgeschichte mit filmischen dieser regionalen Unternehmensgeschichte Mitteln anschaulich. ist neben der traditionellen Archivauswer- Das von mir geführte Interview mit dem

_ 82 Abaton - _ 83 Unternehmensgeschichte eines Kinos Kinobesitzer ließ neben einer Fülle von mische Nutzung und einer kostenbewussten Detailinformationen erkennen, welchen Unternehmensführung. allgemeinen Leitlinien Grassmann in seiner Arbeit verfolgte. Seine kulturell motivierte Suche nach Filmen, die bestehende Lücken Die Vor- und Frühgeschichte des im Angebot der Hamburger Kinolandschaft Abaton füllen, kombiniert er mit ökonomischen Kal- Werner Grassmann nimmt als Unterneh- kül. Dazu zählt eine strategische Auswahl mensgründer des Abaton, aber auch in seiner besonders motivierter und filmenthusiasti- Funktion als Filmproduzent und Regisseur scher Mitarbeiter, wie etwa der derzeitigen für sich in Anspruch, die Idee des Programm- Geschäftsführer Mathias Elwarth, und der Kinos vorweggenommen zu haben. Doch Optimierung von Einnahmemöglichkeiten war das Abaton nicht das erste und auch nicht durch bessere Raumnutzung der Aufteilung das einzige Kinoprojekt Grassmanns. in Großes, Kleines und Oberes Kino. In Richtung der Vermarktung des Kinos als Er- In den frühen fünfziger Jahren war Grass- lebnisraum zielt eine ergänzende gastrono- mann zunächst neben seiner Tätigkeit im väterlichen Verlagsbetrieb als Filmvorführer in einem Filmclub tätig. Dort wurden Filme gezeigt, die in den kommerziell ausgerich- teten Kinos keine Chance hatten, in das Programm aufgenommen zu werden. Da die Anzeigenwerbungen für den Verlag des Va- ters weitestgehend vergeblich blieben, kam Grassmann auf die Idee, den Unternehmen im Hafen die Beteiligung an einem satirisch ausgerichteten Dokumentarfilm über den Hamburger Hafen anzubieten. Die Resonanz war positiv, jedoch bestanden die Geldgeber auf eine öffentliche Präsentation des Films. Im Lager des väterlichen Kinos richteten Axel von Koss und Grassmann den Proto- typ des späteren Abatons ein, ein Kino mit nur wenig Plätzen. Die Idee eines eigenen Kunstkinos war geboren und wurde mit der Gründung des kleinen Kinos „Studio 1“ in der Schmelinskistraße 8 realisiert. Von 1953 bis 1956 fungierte Grassmann als Betreiber dieses mit 25 Plätzen intimen Theaters für

_ 84 Joan Kristin Bleicher _ 85 Filmkunst. Grassmann bezog seine Filme „Studio 1“. In den sechziger Jahren war er von kleinen holländischen und Schweizer als Redakteur beim Fernsehen des Süddeut- Verleihunternehmen. Er nutzte seine neben- schen Rundfunks und als Regisseur bei der berufliche Tätigkeit als Filmkritiker, um bei Tagesschau tätig. seinen Texten für vier Hamburger Tageszei- Gemeinsam mit dem Juristen Winfried Fed- tungen auf die jeweils gezeigten Filme auf- der plante Grassmann Ende der sechziger merksam zu machen. Jahre ein Forum für die Filme Hamburger Knut Hickethier konstatiert für die frühen Filmemacher, aber auch für den internati- fünfziger Jahre die Filmklubs als Auffüh- onalen Autorenfilm zu schaffen, für den es rungsorte: „Kinos, bei denen man an der damals in Hamburg keine Abspielstätten Kasse kostenlos die Mitgliedschaft eines gab. Bislang waren diese Filme vor allem Filmklubs erwerben konnte und nur den in kleinen Filmclubs zu sehen, deren Tei- Eintrittspreis für die Vorführung zu bezahlen löffentlichkeit sich auf die Mitglieder be- hatte. Ein solches Kino konnte so den Zu- schränkte und deren Räumlichkeiten sehr schauern Filmklassiker zeigen, zu denen sie begrenzt waren. sonst nie Zugang erhalten hätten. (...) 1954 Nach einer problematischen Suche nach hatte Grassmanns Filmklub bereits 2000 geeigneten Räumlichkeiten wurde eine alte Mitglieder und machte damit dem tradierten Garage mit Glasdach neben dem Universi- Hamburger Filmklub verstärkt Konkurrenz. tätscampus zu einem Kino umgebaut, dass Weil dieses Vorgehen öffentlich Aufmerk- im Oktober 1970 eröffnet wurde. Mittler- samkeit erregt hatte, konnte Grassmann nun weile ist das Gebäude zur finanziellen Sa- auch auf anderen Wegen als über das Insti- nierung der Stadt zum Verkauf freigegeben, tut für Filmkunde Stummfilm-Kopien für so dass die künftige Nutzung des Kinos ge- seine Aufführungen beziehen, indem er neu fährdet scheint. entstandene internationale Kontakte nutzte (Spiegel 1954b, 47). Das Beispiel zeigt, wie schwierig es oft war, Filmklassiker einem Der Name Abaton war bei der Unterneh- interessierten Publikum zugänglich zu ma- mensgründung sowohl kultursymbolisch chen.“ 9 als auch aus der Perspektive des Marketing ökonomisch klug gewählt. Abaton bezeich- Das Kino „Studio 1“ wurde schnell populär net nicht nur den Raum des Allerheiligsten und auch von damals prominenten Persön- im griechischen Tempel, Grassmann und lichkeiten wie Sabine Sinjen und Hildegard Fedder wollten im Telefonbuch als erstes Knef besucht. Nach einigen Jahren schied unter der Rubrik Kino auftauchen. Auf diese Axel von Koss aus, um selbst weiter Filme Weise sollten Zuschauer auf der Suche nach zu drehen. Auch Grassmann drehte weiter geeigneten Abspielstätten für den geplanten Dokumentarfilme und finanzierte aus den Kinoabend direkt an den Grindelhof gelenkt dort erzielten Erträgen den Kinobetrieb von

_ 84 Abaton - _ 85 Unternehmensgeschichte eines Kinos Zur Finanzgeschichte Die Anschubfinanzierung für die Kinoneu- gründung erfolgte ausschließlich auf priva- ter Basis und trotz der Skepsis hinsichtlich der kommerziellen Erfolgsaussichten eines Kulturunternehmens in Kooperation mit Bankkrediten. Schließlich war die in den Jahren vor der Abaton Gründung Zahl der Kinos in Hamburg drastisch zurückgegan- gen. Immerhin hatte es 1959 179 Kinos in Hamburg gegeben, 1976 waren davon 73 Kinos übrig geblieben. 10 Unterstützt wurden die Finanzierungsbemühungen von Grass- mann und Fedder durch eine Kreditzusage des SPD-Senats von 40000 DM, die jedoch vom Finanzsenator wieder zurückgezogen wurde. Werner Grassmann erläutert in einem Zeitungs-Interview die finanzielle Basis der Kinogründung: „Als Fernsehproduzent war ich relativ er- folgreich und habe eine Menge Fernseh- werden. Symbol und Marketing fallen in der spielfilme gemacht, die unter dem „Kleinen Architektur des Kinogebäudes wirkungsvoll Fernsehspiel“ oder den dritten Programmen zusammen. liefen. Mein Kompagnon Dr. Fedder hat als Die Leuchtreklame des Namens lässt den Anwalt Geld verdient. Das ganze hat 500.000 heiligen Raum von Ferne werbewirksam gekostet, heute würde es wahrscheinlich 3 sichtbar werden, der Besucher muss erst ein- Millionen kosten. Die Kulturbehörde hatte mal durch eine Art Kirchenportal schreiten uns 40.000 Mark zugesagt und auf diese Zu- und eine Reihe von Treppen erklimmen, sei- sage hin haben wir angefangen. Dann wurde ne Opfergabe an der Kasse darbringen und dieser Zuschuss vom Finanzsenator Brandes den Wächter der Pforte passieren bevor er (SPD) abgelehnt, mit der Begründung, dass das Allerheiligste in dem Tempel der Film- Kinos alle pleite gingen. Mit der Hamburger kunst betreten kann, um dort die Erleuch- Vereinsbank hatte ich als Produzent zusam- tung durch den Kinoprojektor zu erleben. men gearbeitet. Die haben uns dann ohne Sicherheit 300.000 Mark geliehen, weil sie Zutrauen hatten. Die haben sich natürlich scheckig gelacht über den SPD-Mann, der

_ 86 Joan Kristin Bleicher _ 87 das Ganze an 40.000 Mark scheitern lassen In den siebziger Jahren sorgten medienpoli- wollte.“ tische Bemühungen um die Einrichtung und Die knappe Finanzierung machte sich vor al- Finanzierung eines Kommunalen Kino für lem in der preisbewussten Ausstattung, etwa eine erste ernste Krise des Abatons. Werner in einer veralteten Vorführtechnik bemerkbar, Grassmann betont rückblickend im Inter- die von einem ehemaligen UFA-Mitarbeiter view: „Die Idee der öffentlichen Zuschüsse immer wieder notwendig in Stand gesetzt kam ja erst mit Hilmar Hoffmann 1971 auf, werden musste. Leider kam es mehrfach zu als es das Abaton schon gab. Die Stadtvä- Pannen bis hin zu Bränden im Vorführraum, ter haben dann gesagt: „Wir brauchen kein die den Vorstellungsbeginn verzögerten. Bis Kommunales Kino, wir haben ja schon das heute hat sich die Skepsis gegenüber neues- Abaton.“ Das war eine Unverschämtheit, ter Vorführtechnik erhalten. Dem digitalen weil wir dadurch den Schwarzen Peter beka- Kinobetrieb hat sich das Abaton noch nicht men und die Hamburger Filmemacher sich angeschlossen. zurecht beschwerten, dass das Abaton einem Kommunalen Kino im Weg stünde. Als das Schon nach kurzer Zeit war in den siebziger Kommunale Kino schließlich etabliert war, Jahren klar, dass die ursprünglich intendierte ging es weiter damit, dass die Stadt sagte, sie Werbefreiheit des Kinos nicht realisierbar finanzierten es nur zu Zwei Drittel. So hatte war. Das Werbeprogramm vor dem Film Heiner Roß dann 200.000 Mark zu wenig in sicherte vielmehr die Existenz des Kinos in der Kasse und machte das Abaton-Modell. schwierigen Anfangszeiten und in späteren Er zeigte also kommerziell attraktive Fil- finanziellen Krisen. me, damit er das fehlende Geld einspielen Um die Einnahmen zu optimieren, musste die konnte. Dadurch nahm er uns aber Publikum vorhandene räumliche Aufteilung des Kinos weg. Dieser Dissens endete schließlich da- verändert werden. Im Gründungsjahr 1970 mit, dass Heiner Roß etwas weniger kom- wurden die Filme zunächst nur in einem Ki- merzielle Filme spielte und wir nicht gleich nosaal gezeigt, der 520 Zuschauern Platz bot. aufschrieen, wenn wieder ein kommerzieller Schon bald versuchte man durch die Auftei- Film dort lief. Die Stadt Hamburg hat es dem lung in zwei Kinosäle, das Programmange- Kinogeschäft in den Siebzigern nicht leicht bot zu erweitern und den vorhandenen Raum gemacht.“ Dennoch schrieb das Abaton im 12 optimal zu nutzen. Bereits 1971 entstanden Jahr 1977 erstmals schwarze Zahlen. zwei Säle mit 312 und 104 Sitzplätzen, die In den achtziger Jahren setzte sich diese die bis dato andauernde finanzielle Krise Entwicklung zur Programmausweitung wei- des Kinos aufbesserten. 11 In den neunziger ter fort und es gab u.a. diverse Reihen etwa Jahren wurde im ersten Stock des Kinos ein mit asiatischen Autorenfilmen zu sehen. In weiterer kleiner Saal eingerichtet. den neunziger Jahren sorgten in Hamburg neue Multiplex-Kinos am Dammtor Bahn-

_ 86 Abaton - _ 87 Unternehmensgeschichte eines Kinos hof und in Othmarschen für einen Verdrän- gungswettbewerb und damit für eine weitere finanzielle Krise des Abatons. Das Kino Publikum wollten die ihm werbewirksam angepriesenen neuen Dimensionen des Fil- merlebens ausprobieren. Insgesamt jedoch gingen in den neunziger Jahren die Zuschau- erzahlen weiter zurück. Die Krise des ame- rikanischen Films war auch eine allgemeine Krise sinkender Besucherzahlen, die ihren Tiefpunkt im Jahr 1997 erreichte. Trotz der Erfolge der Breitleinwandkinos blieb ein an Filmkultur interessiertes Stammpublikum seiner Heimat Abaton treu und sah sich dort Filme an, die in den Multiplex-Kinos floppten. Geschäftsführer Matthias Elwardt betont die Erfolge mit Filmen, „die anders- wo keine Rolle spielten: „Zugvögel“ und „The Big Lebowski“. „Lola rennt“ ist bei uns besser als in Multiplexen gelaufen.“ 13 Unternehmen selbst erwirtschaftet, etwa aus Auch bekannte Schauspieler wie Nina Petri, dem Eintrittskartenverkauf und die Einnah- Dieter Sattmann und Moritz Bleibtreu sehen men eines in der Anfangsphase geführten sich hier die Filme ihrer Kollegen an und Plattenladens sowie aus der dem Kino an- Verleiher veranstalten hier zahlreiche Pres- geschlossenen Gastronomie (Abat-Inn), die sevorführungen für die Fachöffentlichkeit nach Angaben Grassmanns bis heute den ei- der Fernsehkritiker. gentlichen Gewinn des Unternehmens bringt. Er bezeichnete in einer Rede bei der AG Kino das Abaton ironisch als Pizzabäckerei Die aktuelle Finanzierung des Abatons mit einem angeschlossenen Abspielbereich.14 und die vergleichbarer Programm-Kinos Die Erweiterung des Spielbetriebs durch eine erfolgt durch die öffentliche Förderung im den Publikumsinteressen angepasste Gastro- Sinne von Bundesfilmpreisen für das beste nomie machte aus der Abspielstätte einen Kinoprogramm (2000 waren es bereits 25 Treffpunkt, der eine kommunikative Weiter- Preise) und der Mitgliedschaft bei der EU beschäftigung mit dem Gesehenen in einem geförderten Gemeinschaft von Europa Ci- angenehmen Rahmen ermöglichte. Grass- nemas. Hinzu kommen Einnahmen, die das mann spricht rückblickend auch von einem Kommunikationszentrum für den Film.

_ 88 Joan Kristin Bleicher _ 89 Führungsmodell des Abaton die Korrespondenz ebenso wie für die Pro- grammwerbung zeugt von dem bis heute Mit der Personalunion aus Eigentümer und vorhandenen Marketingbewußtsein der Manager folgte das Abaton lange Zeit dem Kinobetreiber. in Deutschland bis in die siebziger Jahre hi- nein einflussreichen Führungsmodell, dessen Vorteil in einer besonders weitreichenden Das Abaton und seine Wechselwir- Interessensidentität besteht. Die nach außen hin bestehende doppelte Führungsspitze aus kung mit der Hamburger Filmsze- Werner Grassmann als Filmproduzenten und ne dem Anwalt und Kaufmann Winfried Fed- Der Kinobeginn entstand nicht im luftlee- der, aber auch die Kofinanzierung durch die ren Raum, sondern in einem vorgeprägten Gastronomie ermöglichte die fortdauernde filmkulturellen Umfeld. Das Abaton Kino erfolgreiche Gratwanderung zwischen Kunst ging aus der Hamburger Filmemacher Coop und Kommerz. Ein Vorbild für diese Mi- hervor zu dessen Mitgliedern neben Helmut schung ist Alexander Kluges Unterscheidung Herbst, Theo Gallehr, Klaus Wildenhahn, zwischen Handwerk und Industrie der Film- Klaus Wyborny, Franz und Ursula Winzent- wirtschaft. „Wir verstehen uns als qualitäts- sen auch Werner Grassmann zählte. Das orientierte Handwerker, die darauf achten, Kino des Filmcoop Mitglieds Grassmann dass die Absätze, die wir unter die Schuhe war auch als neuer Aufführungsort für die nageln, auch gerade sind und die Kunden, von den Mitgliedern produzierten Filme ge- die darauf laufen, zufrieden bleiben. Zwar dacht, die vorher in den Räumlichkeiten des muss vernünftig kalkuliert werden, aber es Coop-Treffpunkts in der Brüderstrasse oder ging uns nie darum, Millionen zu verdienen, zum Teil in angemieteten Räumen etwa auf sondern gutes Kino zu bieten“ 15 erläutert dem Uni-Campus zu sehen waren. Bereits in Grassmann. der Brüderstrasse entstand die für das Aba- Diese Idee des guten Kinos verweist auf die ton Programm charakteristische Mischung künstlerischen Ursprünge des Abatons sie si- aus Vorführung und Diskussion. gnalisiert aber auch den Unique Selling Point In den Räumen der Brüderstrasse 17 der des Qualitätskinos und des Diskussionsfo- sogenannten „Filmmacherei“ fand 1968 rums mit internationalen Autorenfilmern in mit einem dreitägigen Nonstop-Festival die einer sonst eher von populären Hollywoodfil- erste Hamburger Filmschau statt, die Film- men geprägten Hamburger Kinolandschaft. historiker als die Geburtsstunde des „Ande- Auch die frühe Wahl eines Bildes des Ende ren Kinos“ 16 bezeichnen. Die Veranstalter der sechziger Jahre bekannten Hamburger der Filmschau setzten auf die Strategie des Künstlers Werner Nöfer als Kinologo für

_ 88 Abaton - _ 89 Unternehmensgeschichte eines Kinos Negativmarketings, um die Veranstaltung zu der parallelen Vorführung von zwei Filmen bewerben: „Es ist überfüllt, rauchig - alles gewöhnungsbedürftig. Dennoch kamen viele voller Gläser und Flaschen. Die vorgeführ- Besucher, zu denen auch Filmemacher aus ten Filme sind zumeist aus dem Untergrund anderen Städten zählten. Werner Nekes und von Amsterdam, London, New York, San Dore O. siedelten nach der Filmschau in eine Francisco, Tokio, Wien, Hamburg und an- der Filmmacherei benachbarte Wohnung deren Filmmetropolen. Sie haben es schwer, über. Damit gingen intensivere Kontakte mit sich zu orientieren... Also! Kommen sie der Filmemacherszene des Neuen Deutschen nicht zum großen Film In!“ Films einher. So konnte das Abaton etwa in Die Warnung an das breite Publikum schien den frühen siebziger Jahren im Hamburger berechtigt, denn viele der gezeigten Filme Raum zunächst exklusiv Filme von Rainer verweigerten sich dem klassischen Erzählki- Werner Faßbinder zeigen. no und machten die Zuschauer mit den Dar- Die Besucherzahlen und Diskussionen stellungsmustern des experimentellen Films zeigten ein Interesse an einem öffentlichen vertraut. Hellmuth Costards Eröffnungsfilm Forum für andere Filme. Die Filmschau im „Warum hast du mich wachgeküsst?“ spielte März 1969 fand bereits in mehreren Kinos bereits mit den Darstellungskonventionen und Veranstaltungsorten auf der Hamburger populärer Filme. Nach einem vielverspre- Reeperbahn statt. chend aufwändigen Vorspann sahen die Werner Grassmann bemerkt in einem Inter- Zuschauer eine nackte Frau, die sich im view rückblickend zum Ende der sechziger Spiegel filmt. Leider legt sie anschließend Jahre bei den Hamburger Filmemachern zur großen Enttäuschung der männlichen die vorhandene Problematik der Filmver- Besucher die Kamera in eine Schublade, so breitung: „Wir hatten Filme, aber fanden dass die Leinwand bis zum Ende des Films 17 niemand, der unsere Filme zeigte. Da kam dunkel blieb. die Idee auf, ein eigenes Kino zu haben, in Auch andere auf der Filmschau gezeigten dem wir unsere Filme präsentierten. Das war Produktionen enttäuschten die bestehenden nicht machbar, weil die Gruppe sehr hetero- Zuschauererwartungen, die sich an erzäh- gen war. Jeder hatte andere Vorstellungen, lenden Spielfilmen oder politischer Agitati- andere Ideen und auch andere finanzielle on orientierten. In „Andy Warhol Farbfilm“ Möglichkeiten.“ stellten sich Thomas Struck und Hellmuth Einige Mitglieder der Coop waren besonders Costard neben ein Schwarz-Weiß Poster von stark vom politischen Zeitgeist der 68er Ge- Andy Warhol und winkten zehn Minuten neration geprägt. Sie wollten „Filme haben, lang dem Publikum zu. die politisch waren und sich auf die Gesell- Nicht nur einzelne Filme, sondern auch die schaft bezogen, nicht nur reine Phantasie- Vorführungspraxis des Festivals war mit produkte.“18 Diesen politisch motivierten

_ 90 Joan Kristin Bleicher _ 91 Filmemachern standen andere Regisseure versuchte auf ihre Weise das ästhetische gegenüber, die eher mit künstlerischen Aus- Innenleben des Kinos aufzubessern. 21 Bis drucksformen experimentieren wollten. Der heute nutzen nationale und internationale Konflikt spitzte sich 1970 bei einem banalen Regisseure das Abaton als Premierenkino Anlasse, einem Streit um die Gestaltung ei- und das ihm angeschlossene Restaurant als nes Verleihkatalogs zu, so dass die Gruppe Treffpunkt, um sich mit ihren deutschen schließlich nach heftigen Diskussionen und Gästen auszutauschen. Sam Mendes hängte, kleineren Schlägereien in der Brüderstrasse wie ein Foto belegt, sogar selbst das Plakat auseinander fiel. 19 Das Kino hat die Coop für seinen Film „American Beauty“ auf. überdauert und viele der Mitglieder weiter Um die finanziellen Möglichkeiten durch als Filmemacher und Hochschullehrer aktiv Einnahmen aus dem Kartenverkauf zu blieben. optimieren konzipierten Fedder und Grass- Die politische Motivation des Filmeprodu- mann ein Programmangebot, das durch eine zierens und -zeigens übertrug sich auch auf Mischung aus künstlerischen und kommer- das Publikum. „Wenn wir politische Filme ziellen Filmen gekennzeichnet ist. Diese Mi- zeigten,“ erinnert sich Grassmann in einem schung aus Kultur und Unterhaltung bildete Interview mit dem Hamburger Abendblatt, bereits eine Erfolgsstrategie etablierter Kul- „wurde manchmal danach so heftig und turunternehmen etwa von Verlagshäusern lange diskutiert, dass die nächste Vorstellung mit Belletristik Programmen. Auch im Aba- ausfallen musste.“ 20 Den Kinoeinnahmen ton trug die Mischstrategie des Program- war das Ausfallen von Vorstellungen sicher- mangebots zur finanziellen Absicherung des lich nicht sehr förderlich, die Debattenkultur Risikounternehmens bei. In der Anfangs- um den Film jedoch konnte profitieren. Die phase sorgten insbesondere die damals in Gratwanderung von Kunst und Kommerz Deutschland noch nicht so bekannten Marx war hier zugunsten der Kunst ausgefallen. Brother Filme, aber auch B-Movies etwa die im Nachtprogramm um 23.00 Uhr präsen- tieren Erotikfilme in der Reihe „Erotik im Gratwanderungen zwischen Kunst Untergrund“ für ausverkaufte Vorführungen. und Kommerz Die Idee für diese Filmreihe importierten Grassmann und Fedder aus Bremen. Aus Bereits bei der Premiere des Abaton Film- heutiger Perspektive sieht Grassmann vor programms im Oktober 1970 mit dem Do- allem in den damals in Hamburg noch weit- kumentarfilm „Monterey Pop“ waren mit gehend unbekannten Marx Brother Filmen Unterstützung der Hamburger Kulturbe- und in der anarchistischen Komödie „Harold hörde zahlreiche internationale Gäste etwa and Maude“ die Rettung des Kinos aus den der amerikanische Autor und Filmemacher in den frühen siebziger Jahren andauernden Kenneth Anger und Bridget Pork, die Chefin finanziellen Krise. der Warhol-Factory, anwesend. Bridget Pork

_ 90 Abaton - _ 91 Unternehmensgeschichte eines Kinos Seit der Etablierung des Kinos in den sieb- für Filme. Die AG Kino besteht aus diversen ziger Jahren wurden vermehrt kommerzi- Programm-Kinos wie dem Abaton-Hamburg, elle Filme gezeigt. Ein ähnliches Program- Ziegelhof-Kino Oldenburg, Cinema Ostertor mangebot findet sich in Hamburg etwa im Bremen und dem Studio in den Rathaus- Metropolis Programm-Kino, das einen Lichtspielen Lindau. stärkeren Schwerpunkt auf den Bereich Bereits seit den sechziger Jahren vertrat Filmgeschichte und internationale Experi- Grassmann als Regisseur aber auch als mentalfilme legt. Produzent für Fernsehspiele und Dokumen- Das Abaton entwickelte sich seit 1970 tationen die Interessen von Produzenten. schnell über das regionale Forum für die Als Gründer und Betreiber des Abatons Filme Hamburger Filmemacher zum Forum avancierte er zum engagierten Vertreter der für den internationalen Autorenfilm, dessen Interessen von Kinobetreibern und dabei Vertreter auch im Kino zu Gast waren und auch zum kontinuierlichen Kritiker der staat- in die Diskussion mit den Hamburger Filme- lichen Film- und Kinoförderung. Am 17. machern eintraten. Februar 1972 gründete Werner Grassmann Um diese Debattenkultur zu institutionali- in Hamburg die Arbeitsgemeinschaft Kino sieren entstanden aus dem Abaton heraus (AG Kino), die nicht nur der Senkung von 1974 mit den Hamburger Kinotagen die ers- Verleihkosten, sondern auch dem Austausch ten Hamburger Filmfestivals, die bestehende von Filmen zwischen den Programm-Kinos Kontakte zwischen Hamburger Filmema- diente. Die AG Kino besaß mit der FiFiGe chern und internationalen Vertretern inten- (der Hamburgischen Filmeinkaufs GmbH) sivierten und neue Kontakte ermöglichten. einen eigenen Verleih. Zu den Zielen der Der Eventcharakter dieser Festivals führte Arbeitsgemeinschaft Kino gehörte die Suche dazu, dass sich in Hamburg so etwas wie und Ausstrahlung verschollener Filme der eine Filmkultur etablieren konnte. Filmgeschichte, aber auch die Suche und Ausstrahlung von Neuentdeckungen, die den Programmangeboten kommerziell aus- Die Akteursbeziehungen des Aba- gerichteter Kinos entgegengesetzt wurden. Der eigene Verleih ermöglichte die Verbrei- tons tung nicht kommerzieller Filmangebote. Seit Das Abaton beschränkt sich nicht nur auf die 1972 findet mit den jährlichen Kinotagen Aufführung, sondern ist auch an der Archi- eine Messe statt, bei der den AG-Mitgliedern vierung, der Produktion und dem Verleih von neue Filmproduktionen vorgestellt werden.22 Filmen beteiligt. In Kooperation mit anderen Wim Wenders nutzte das Abatonkino als Programm-Kinos lassen sich so Kosten spa- Abspielstätte des gedrehten Materials bei ren. Zwölf Programm-Kinos teilen sich in seiner Produktion für „Der amerikanische der AG Kino Verleihmiete und Zollgebühren Freund“. Im Kino ist die Produktionsfirma

_ 92 Joan Kristin Bleicher _ 93 Studio Eins angesiedelt, die u.a. Kurz- und Abaton bildet das aufwändig produzierte Dokumentarfilme produziert. Das Archiv monatlich erscheinende Programmmagazin der Produktionsfirma ist ebenfalls im Kino und eine vergleichbar gestaltete Webseite, untergebracht. die nicht nur über das Programm, sondern Zu den Akteursbeziehungen des Abatons auch über die Filme und die Geschichte des zählt die spannungsvolle Beziehung zur Ki- Kinos informiert. Unternehmensgeschichte nolandschaft in Hamburg. Grassmann hatte findet auch im eigenen Hause statt, wie es bereits mit seinem Kleinkino Projekt einen etwa der von Werner Grassmann produzierte Konflikt mit dem damaligen Hamburger Dokumentarfilm „Die Abaton Saga“- ver Filmklub-Vorsitzenden von Loewi ausgelöst. anschaulicht. Produktion und Verbreitung, „1954 kam es deshalb zu einem Konflikt, als Archivfunktion und Erzählung gehen in den der Hamburger Filmklub-Vorsitzende von selbstproduzierten Film über die Geschichte Loewis gegen den Inhaber des Hamburger des Ortes, in dem er uraufgeführt wird, eine Kleinkinos „Studio 1“, Werner Grassmann, spannungsvolle Symbiose ein. vorging, der mit solchen kostenlosen Film- klubmitgliedschaften den Zuschauern seines Kinos sonst nicht zugängliche Filme ermög- Die Bedeutung von Programm-Ki- lichte. Grassmann hatte mehrere Wochen nos als regionaler Veranstaltungs- lang Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin ort gezeigt, den von Loewis den Mitgliedern des Programm-Kinos wie das Abaton besitzen „Jungen Arbeitskreises Film“, der seinem auch einen hohen Faktor als regionaler Ver- Filmklub angeschlossen war, nicht zeigen anstaltungsort. Bis heute nehmen Drehbuch- durfte, weil diese formal nicht Mitglieder des autoren, Schauspieler und Redakteure in öf- Filmklubs waren. Als der Leiter des Instituts fentlichen Diskussionen Stellung zu Fragen für Filmkunde, Wilhelm Lavies, Grassmann der Konzeption und Produktion von Filmen, deshalb keine Filmkopien zur Verfügung informieren aber auch über deren Dramatur- stellte, gründete dieser mit Freunden eine gie und Machart. So besteht ein Nebeneffekt eigene „Studio 1-e.V.-Vereinigung zur Auf- von Programm-Kinos in der Erziehung des 23 führung guter Filme“. Publikums zu medienkompetenten und kriti- Auch heute steht das Abaton in einer span- schen Zuschauern. nungsvollen Beziehung zur konkurrierenden Im Kino finden auch zahlreiche Lesungen Kinolandschaft in Hamburg. Zwar werden etwa von international renommierten Au- im Abaton keine Blockbuster Movies wie toren wie Julian Barnes statt, die zum Teil in den Multiplexen gezeigt, es gibt aber auch mit den Verfilmungen der vorgestellten deutliche Parallelen in den Programmen Romane oder den Lieblingsfilmen der Auto- etwa zu den Zeisekinos, dem 3001 und dem ren kombiniert werden. Magazin. Ein Kernfaktor des Marketing im

_ 92 Abaton - _ 93 Unternehmensgeschichte eines Kinos Dieses nun seit 36 Jahren bewährte Prinzip Fazit der Mischung aus Vorführungen interna- tionaler Autorenfilme, Diskussionen über Das Abaton hat auf die wirtschaftswissen- Produktionen und weiteren kulturellen schaftlichen Anforderungen an immaterielle Veranstaltungen wurde mittlerweile in die Güter seine eigene Antwort gefunden. Es be- Provinz exportiert. Seit der Jahrtausend- friedigt vorhandene Bedürfnisse Hamburger wende betreibt Werner Grassmann das Kino Cineasten, es stiftet einen Nutzen als Forum in Boizenburg/Mecklenburg Vorpommern. des Austauschs über den Film in Hamburg Dort werden Filme nicht nur gezeigt, son- und es zeigt knappe Güter, nämlich Filme, dern auch bei Open Air Veranstaltungen die man in den Multiplexen vergeblich vom Kinogesellschafter Grassmann selbst sucht. Dazu zählen auch Arbeiten etablierter erzählt, wie etwa „Der Tanz der Vampire“. Hamburger Filmemacher und Studierender Es finden nicht nur Lesungen, sondern auch Hamburger Filmstudiengänge. Gleichzeitig Kabarett und Tanzveranstaltungen statt. schafft das Abaton einen gelungenen Kreis- lauf aus Vertrauens- und Erfahrungsgütern. Eine Konkurrenz durch die Multiplex Gi- Die erlebnisorientierte Erfahrung mit bereits ganten ist mit diesem Konzept sicher nicht gesehenen Filmprodukten schafft Vertrauen zu fürchten. Und auch der derzeitige Abaton für künftige unbekannte Produktionen. Leiter Matthias Elwardt verkündet selbst- bewusst: „(...) es wird auch weiterhin ein Werner Grassmann hält sein Kinokonzept Publikum für Filmkunst, also auch Nischen gerade in Zeiten des Filmtauschs via Inter- für anderes als Multiplex-Kinos geben. Und net und der Digitalisierung der Kinos für dass muss auch sein, denn der kommerzielle zukunftsträchtig: „Das Kino wird sich mehr Film braucht den Humus des Kunstfilms.“24 und mehr verändern. Es wird zu einem Ort Und vielleicht brauchen auch die global der Gemeinsamkeit werden, in dem Besu- agierenden Medienkonzerne den Humus cher hinterher über den Film diskutieren, und fremde Menschen einander näher regionaler Medienunternehmen. Kinoge- 25 schichte steht im Kontext eines kreativen kommen.“ Auch in Zukunft wird das Pro- Umfelds von Filmemachern und einem inte- gramm-Kino also mehr sein als die bloße ressierten Publikum ebenso wie im Umfeld Abspielstation für Filme. anderer Medienunternehmen.

_ 94 Joan Kristin Bleicher _ 95 Literatur: ternehmensgeschichte, Unternehmens- kultur - Sachsen und Deutschland im 19. Baumgarth, Carsten: Medienökonomie. In: und 20. Jahrhundert. Leipzig. 2003. In: Helmut Schanze (Hrsg): Metzler Lexi- http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ kon Medientheorie Medienwissenschaft. tagungsberichte/id=311. Abgerufen am Stuttgart 2002. S. 233. 26.1.2006. Bleicher, Knut: Die neue Offenheit - Strate- Solomon, Bettina: Achtung, sie betreten die gien, Strukturen und Kulturen im Wan- popcornfreie Zone. Hier wird nach dem del. In: Ders.: Management im Wandel. Film gegessen: Das Abaton-Kino - eine Meilensteine der Entwicklung eines inte- Hamburger Institution wird 30 Jahre alt. grierten Managements. Künzelsau 2005. In Die Welt 27.10.2000. o.S. S. 109-126. Töteberg, Michael: Filmstadt Hamburg. Bleicher, Joan Kristin: Die Rolle der Medi- Von Hans Albers bis Wim Wenders, en in der Wissensgesellschaft. In: Jürgen vom Abaton zu den Zeiskinos. Kino- Berthel (Hrsg.): Auf dem Weg in die Wis- Geschichte(n) einer Großstadt. Hamburg sensgesellschaft- Veränderte Strategien, 1997. S. 20. Strukturen und Kulturen. Frankfurt am Töteberg, Michael: Es tut sich was im Un- Main 2001. S. 204-222. derground. Das Andere Kino, Abaton Blomberg, Katja: Wie Kunstwerte entstehen. und die FilmCoop. In: Ders.: Filmstadt o.O. 2005. Hamburg. Von Hans Albers bis Wim Fischer, Walter Boris: Kommunikation und Wenders, vom Abaton zu den Zeise Ki- Marketing für Kulturprojekte. o.O. 2001. nos: Kino-Geschichte(n) einer Großstadt. Fischer, Walter Boris: Kunst vor Manage- Hamburg 1997. ment. o.O. 2004. von Münch, Ingo: Werner Grassmann - von Gillmor, Dan: We the Media. Grassroots Hamburg nach Boizenburg. In: Die Welt Journalism By The People For The Peo- vom 12.12.2002. o.S. ple. Cambridge 2006. Wendler, Lutz /Ax, Martin: Humus für den Hickethier, Knut: Die bundesdeutsche Kino- Kommerzfilme. Überleben in den Zeiten öffentlichkeit in den fünfziger Jahren. In: der Multiplexe. Matthias Elwardt vom http://www.uni-konstanz.de/paech2002/ Abaton im Gespräch. In: Die Welt vom zdm/beitrg/Hickethier.html. Abgerufen 12./13.5.1999. S. 39. am 19.5.2006. Wietstock, Ellen (Hrsg.): Der deutsche Film Interview mit Werner Grassmann geführt - vertrieben zwischen kultureller und von Joan Kristin Bleicher im Juli 2003. nichtgewerblicher Filmarbeit. Ein Fach- Seegers, Armgard: Kino zum Mitdenken. symposium des VertriebsKontors. Edi- In: Hamburger Abendblatt vom 28./ tion blackbox. Hamburg 1999. 29.10.2000. S. 7. www.geschichte.wiso.uni-erlangen.de/Fach/ Pietsch, Eva: Unternehmergeschichte, Un- FACH_2.HTM. Abgerufen am 26.1.2006.

_ 94 Abaton - _ 95 Unternehmensgeschichte eines Kinos Anmerkungen: zwischen kultureller und nichtgewerblicher Film- arbeit. Ein Fachsymposium des VertriebsKontors. 1 Etwa der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an Edition blackbox. Hamburg 1999. S. 17. der Universität Erlangen mit ihrem Forschungs- 12 Siehe dazu: Seegers, Armgard: Kino zum Mit- schwerpunkt Unternehmensgeschichte. denken. In: Hamburger Abendblatt vom 28./ 2 Siehe dazu: http://www.geschichte.wiso.uni- 29.10.2000. S. 7. erlangen.de/Fach/FACH_2.HTM. Abgerufen am 13 Wendler, Lutz / Ax, Martin: Humus für den Kom- 26.1.2006. merzfilme. Überleben in den Zeiten der Multiple- 3 Siehe dazu Pietsch, Eva: Unternehmergeschich- xe – Matthias Elwardt vom Abaton im Gespräch. te, Unternehmensgeschichte, Unternehmens- In: Die Welt vom 12./13.5.1999. S. 39. kultur - Sachsen und Deutschland im 19. 14 Vgl. hierzu Ebenda S. 18. und 20. Jahrhundert. Leipzig. 2003.In: http:// 15 Vgl. hierzu Ebenda S. 39. hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/ 16 Siehe dazu: Töteberg, Michael: Es tut sich was im id=311. Abgerufen am 26.1.2006. Underground. Das Andere Kino, Abaton und die 4 Vgl. hierzu: Bleicher, Knut: Die neue Offenheit FilmCoop. In: Ders.: Filmstadt Hamburg. Von - Strategien, Strukturen und Kulturen im Wandel. Hans Albers bis Wim Wenders, vom Abaton zu In: Ders.: Management im Wandel. Meilensteine den Zeise Kinos: Kino-Geschichte(n) einer Groß- der Entwicklung eines integrierten Manage- stadt. Hamburg 1997. S. 204. ments. Künzelsau 2005. S. 109-126. 17 Ebenda S.206. 5 Vgl. hierzu: Bleicher, Joan Kristin: Die Rolle der 18 Interview mit Werner Grassmann geführt von Joan Medien in der Wissensgesellschaft. In: Jürgen Kristin Bleicher im Julie 2003. Berthel (Hrsg.): Auf dem Weg in die Wissensge- 19 Ebenda S.207. sellschaft- Veränderte Strategien, Strukturen und 20 Seegers, Armgard: Kino zum Mitdenken. In: Ham- Kulturen. Frankfurt am Main 2001. S. 204-222. burger Abendblatt vom 28./29.10.2000. S. 7. 6 Vgl. hierzu: Gillmor, Dan: We the Media. Grass- 21 Vgl. hierzu das entsprechende Statement Grass- roots Journalism By The People For The People. manns in dem Dokumentarfilm „Die Abatonsa- Cambridge 2006. ga“. 7 Siehe dazu: Baumgarth, Carsten: Medienöko- 22 Siehe dazu: Töteberg, Michael: Es tut sich was im nomie. In: Helmut Schanze (Hrsg): Metzler Underground. Das Andere Kino, Abaton und die Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft. FilmCoop. In: Ders.: Filmstadt Hamburg. Von Stuttgart 2002. S. 233. Hans Albers bis Wim Wenders, vom Abaton zu 8 Wietstock, Ellen (Hrsg.): Der deutsche Film den Zeise Kinos: Kino-Geschichte(n) einer Groß- – vertrieben zwischen kultureller und nichtge- stadt. Hamburg 1997. S. 207. werblicher Filmarbeit. Ein Fachsymposium des 23 Siehe dazu: Töteberg, Michael: Es tut sich was im VertriebsKontors. Edition blackbox. Hamburg Underground. Das Andere Kino, Abaton und die 1999. S. 17. FilmCoop. In: Ders.: Filmstadt Hamburg. Von 9 Hickethier, Knut: Die bundesdeutsche Kino- Hans Albers bis Wim Wenders, vom Abaton zu öffentlichkeit in den fünfziger Jahren. http: den Zeise Kinos: Kino-Geschichte(n) einer Groß- //www.uni-konstanz.de/paech2002/zdm/beitrg/ stadt. Hamburg 1997. S. 207. Hickethier.html. Abgerufen am 19.5.2006. 24 Wendler, Lutz / Ax, Martin: Humus für den Kom- 10 Töteberg, Michael: Filmstadt Hamburg. Von merzfilme. Überleben in den Zeiten der Multiple- Hans Albers bis Wim Wenders, vom Abaton zu xe – Matthias Elwardt vom Abaton im Gespräch. den Zeiskinos. Kino-Geschichte(n) einer Groß- In: Die Welt vom 12./13.5.1999. S. 39. stadt. Hamburg 1997. S. 20. 25 von Münch, Ingo: Werner Grassmann – von 11 Die Zahlangaben entstammen aus: Wietstock, Hamburg nach Boizenburg. In: Die Welt vom Ellen (Hrsg.): Der deutsche Film – vertrieben 12.12.2002. o.S.

_ 96 Joan Kristin Bleicher _ 97 _ 96 _ 97