Rundfunk und Geschichte

3– 4/ 2006 Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

32. Jahrgang Nr. 3–4/2006 Rundfunk und Geschichte Geschichte und Rundfunk

Ruttmann & Konsorten. Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film

Aus Nazis Demokraten machen? Re-education im NWDR 1945–1948

ARTE vor seiner Zeit? Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen im Zuge des Elysée-Vertrags

AMIA-Konferenz der Bewegtbild-Archivare in Anchorage/Alaska

Die ZDF-Archive – Nur Dienstleister für interne Nutzer?

Rezensionen

Bibliografie

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

Zitierweise: RuG – ISSN 0175-4351

Redaktion: Claudia Kusebauch Christoph Rohde Steffi Schültzke Hans-Ulrich Wagner Inhalt

32. Jahrgang Nr. 3–4/2006

Aufsätze Matthias Steinle Referenz in den Medien. Hermann Naber Jahrestagung der GfM 63 Ruttmann & Konsorten. Über die frühen Beziehungen Andreas Scherrer zwischen Hörspiel und Film 05 Manuskripte der Sendereihe »Bairisch Herz«. Ein neuer Bestand des Historischen Archivs Florian Huber des Bayerischen Rundfunks ist erfasst 64 Aus Nazis Demokraten machen? Re-education im NWDR 1945–1948 21 Alexandra Luther Die Forschungsberichte von Infratest Matthias Steinle im Deutschen Rundfunkarchiv 65 ARTE vor seiner Zeit? Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen im Zuge des Elysée-Vertrags: Rezensionen »La Grande Guerre/1914–1918/ Der Erste Weltkrieg« – eine WDR- Internet-Rezension ORTF-Koproduktion (1964) 35 Das Schweizer Internetportal www.memoriav.ch. (Thomas Hammacher) 67 Forum Stefan Maelck: Hans Rink Pop essen Mauer auf. Karl Holzamer – ein »Zeuge (Uwe Breitenborn) 69 des Jahrhunderts« 49 Justin Lewis/Rod Brookes/ Leif Kramp Nick Mosdell/Terry Threadgold: Alte Probleme, neue Chancen. Shoot First and Ask Questions Later. AMIA-Konferenz (Oliver Zöllner) 70 der Bewegtbild-Archivare in Anchorage/Alaska 51 Sammelrezension Werner Faulstich: Alexander Badenoch Mediengeschichte »Feasibility Study« zum 27. Oktober von den Anfängen bis 1700. als »UNESCO World Day Werner Faulstich: for Audiovisual Heritage« 54 Mediengeschichte von 1700 bis ins 3.Jahrtausend. Matthias Buck (Konrad Dussel) 72 Nam June Paik. Ein Nachruf 55 Claudia Maria Wolf: Bildsprache und Medienbilder. Veit Scheller (Manja Rothe) 73 Die ZDF-Archive – Nur Dienstleister für interne Nutzer? 56

Rüdiger Steinmetz Zum Tod von Tilo Prase 62 02 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Sammelrezension Thomas Völkner (Hrsg.) Werner Wirth/Holger Schramm/ Internationales Radio in Europa. Volker Gehrau (Hrsg.): (Christoph Hilgert) 91 Unterhaltung durch Medien. Christoph Klimt: Manfred Mai/Rainer Winter (Hrsg.): Computerspielen als Handlung. Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft Carsten Wünsch: des Kinos. Unterhaltungserleben. (Gereon Blaseio) 92 (Michael Meyen) 75 DEFA-Stiftung (Hrsg.) Gottlieb Florschütz: Apropos: Film 2005 – Das Jahrbuch Sport in Film und Fernsehen. der DEFA-Stiftung. (Jasper A. Friedrich) 76 (Thomas Beutelschmidt) 94

Kilian J- L. Steiner: Bibliografie Ortsempfänger, Volksfernseher und Optaphon. (Konrad Dussel) 77 Zeitschriftenlese 94 (1. 1.–30. 6. 2006) (Rudolf Lang) 97 Markus Behmer/Bettina Hasselbring (Hrsg.): Radiotage, Fernsehjahre. (Adelheid von Saldern) 79 Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte Christian Sonntag: Medienkarrieren. Tagungsband zu »Relating Radio« 105 (Christoph Hilgert) 80 Jahrestagung des Studienkreises Matthias Michael: Rundfunk und Geschichte 2007 106 Spiegel-TV. (Gerhard Lampe) 83

Karin Keding/Anika Struppert: Ethno-Comedy im deutschen Fernsehen. (Karin Knop) 84

Dominik Koch-Gombert: Fernsehformate und Formatfernsehen. (Wolfgang Mühl-Benninghaus) 86

Sammelrezension Siegfried Lenz: Das Rundfunkwerk. Erzählungen. Die Erzählungen. Selbstversetzung. (Hans-Ulrich Wagner) 87

Sammelrezension Maren Köster/Dörte Schmidt (Hrsg.) Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort. Anat Feinberg: Nachklänge. (Hans-Ulrich Wagner) 90 Inhalt 03

Autoren der Aufsätze und Dokumentationen

Dr. Florian Huber, geb. 1967 in Nürnberg, ist Redak- teur und Autor für Dokumentationen und Reporta- gen beim NDR-Fernsehen in . Nach dem Studium der Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Romanistik in München, Freiburg, Orlando (Florida) und Köln arbeitete er als Lektor bei einem Kölner Wirtschaftsverlag sowie als Zeitungsjournalist. 1997/ 98 Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk, 2006 Promotion an der Universität Osnabrück. E-Mail: [email protected]

Hermann Naber, geb. 1933, ist freier Autor und Re- gisseur. Nach dem Studium der Germanistik, Publi- zistik, Anglistik und Philosophie journalistische und schriftstellerische Tätigkeit. Seit 1962 Hörspieldra- maturg beim Hessischen Rundfunk, von 1965 bis 1998 Leiter der Hörspielabteilung beim Südwest- funk. Seit 1977 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in am Main und seit 1989 der Akademie der Künste in . Mehre- re Preise und Auszeichnungen als Autor und Regis- seur von Hörspielen, Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Veröffentlichungen u. a.: Mit den Augen hören, mit den Ohren sehen, In: Max Ophüls. München 1989 (= Reihe Film, Nr. 42); (Hrsg.:) Dichtung und Rundfunk – 1929. Berlin 2000 (= Archiv-Blätter, 5); facts & fiction. Kleine Reise in die Vergangenheit. In: HörWelten. 50 Jahre Hörspiel- preis der Kriegsblinden. Berlin 2001. E-Mail: [email protected]

Dr. Matthias Steinle, geb. 1969 in Wiesbaden, ar- beitet seit 2001 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Universität Marburg. Studium der Medienwissenschaft, Germa- nistik und Geschichte in Marburg und Paris, 2002 Promotion im Rahmen einer Cotutelle (Sorbonne/ Philipps-Universität Marburg) über die gegensei- tigen Darstellung von Bundesrepublik und DDR im Dokumentarfilm. Zahlreiche Publikationen zur Film- und Rundfunkgeschichte, u. a.: Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von Bun- desrepublik und DDR im Dokumentarfilm. Konstanz 2003; (Mit-Hrsg.:) All Quiet on the Genre Front? Zur Praxis und Theorie des Kriegsfilms. Marburg 2006. E-Mail: [email protected] Hermann Naber

Ruttmann & Konsorten

Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film

Am Anfang war die Technik1 brauchbare Hörspielkunst überhaupt – noch kaum realisiert hat: die Aufnahme der Sendung auf mon- Anfang der 40er Jahre hatte John Cage die Idee, für tierbarem Filmtonstreifen.« 4 Mit dem Filmtonstreifen, ein CBS-Hörspiel eine Musik aus Geräuschen zu als Träger von Bild und Ton zugleich, experimentier- komponieren. »Das war ein Hörspiel mit dem Titel ten damals, mit Unterstützung der Elektroindustrie, ‚The City Wears a Slouch Hat‘ von Kenneth Patchen die Erfinder des Tri-Ergon-Systems, Hans Vogt, Jo- und ich hatte vor, die Geräusche aus dem Stück seph Masolle und Jo Engl. zu nehmen und daraus eine Musik zu komponieren, also aus den Geräuschen, die in dem Stück vorge- Als Rudolf Arnheim noch mit der Konzeption sei- sehen waren […]. Aber das war wohl noch zu kom- ner materialistisch fundierten Radioästhetik »Rund- pliziert für die damalige Zeit. Wir hatten ja noch kei- funk als Hörkunst« beschäftigt war, trafen sich am ne 16-Spur-Maschinen, wir hatten überhaupt noch 5. und 6. Juni 1928 die Intendanten der insgesamt keine Tonbandgeräte.«2 Ohne Tonbandgerät keine neun Rundfunkgesellschaften in Wiesbaden zur akustische Kunst – diese Einsicht zieht sich bereits ersten Tagung des neu gebildeten Programmrats. in den 20er Jahren wie ein roter Faden durch viele Hans Bredow, der Vorsitzende des Gremiums, war Zeitungsartikel und Diskussionsbeiträge zum The- als Staatssekretär im Reichspostministerium zu- ma Rundfunk. In diesem Zeitabschnitt spielt die Ge- ständig für den gesamten Rundfunk in Deutsch- schichte von »Ruttmann & Konsorten«, mit einigen land, vor allem für seine technische Entwicklung, Rückblenden und einer Rahmenhandlung, in der die als drahtlose Telegrafie mit batteriebetriebe- der Reichsrundfunkkommissar Hans Bredow als nen Detektorgeräten und mit Kopfhörern begonnen Augenzeuge auftritt. hatte. Die aktuelle technische Entwicklung fand in den Produktionsstudios statt.5 Was dort vor allem In Rudolf Arnheims Ästhetik des Rundfunks, die fehlte, war ein akustisches Aufzeichnungsverfahren damals entstand, trägt eines der zwölf Kapitel die für Tonträger, mit denen Montage- und Mischtech- Überschrift »Hörfilm tut not!«. Der erste Satz lau- niken möglich waren, wie man sie vom Film kann- tet: »Für die Entwicklung der Hörspielkunst wäre te. Hans Bredow war mit diesen Problemen durch- es sehr wichtig, wenn man diejenigen Hörspiele, in aus vertraut, deshalb hatte er das Thema auf die denen mit den Ausdrucksmitteln des Raums und Tagesordnung der Wiesbadener Programmratssit- der Montage gearbeitet wird, nicht im Senderaum zung gesetzt. Bredow berichtete 1956 rückblickend bühnenmäßig ‚aufführen‘, sondern sie in der Art darüber: von Tonfilmaufnahmen stückweise auf einen Film- streifen fotografieren und die einzelnen Tonstreifen nachher regelrecht schneiden und zu einem Hörfilm 1 Über das alte Hörspiel und seine Zeit. Alfred Braun im Gespräch 3 mit Heinz Schwitzke. NDR-Aufnahme vom 23. Januar 1959. NDR zusammenkleben würde.« Immer wieder hat Rudolf Schallarchiv. – In diesem Gespräch sagt Alfred Braun auf eine ent- Arnheim die Vorzüge einer solchen Produktionswei- sprechende Frage von Heinz Schwitzke: »Ich höre zwar oft bei Rund- se anschaulich beschrieben – die Überwindung der funkvorträgen sagen: ‚Am Anfang war das Wort‘, aber ich müsste aus bloßen Abbildung durch planvolle Gestaltung von der Rückschau sagen: ‚Am Anfang war die Technik‘.« 2 Laughtears. Conversation John Cage/Klaus Schöning. In: Klaus Nähe und Ferne zum Beispiel, durch das Tempo der Schöning (Hrsg.): John Cage. Roaratorio. Ein irischer Circus über Fin- Szenenwechsel, durch die akustische Veränderung negans Wake. Königstein im Taunus 1982, S. 92. der Räume und durch die Eigendynamik des Mikro- 3 Rudolf Arnheim: Hörfilm tut not! In: Ders.: Rundfunk als Hörkunst. Frankfurt am Main 2001, S. 82. phons, kurzum die Unabhängigkeit von Aufnahme- 4 Rudolf Arnheim: Film und Funk. In: Ders.: Rundfunk als Hörkunst ort und Aufnahmezeit durch Tonaufzeichnung und (Anm. 3), S. 213. Montage. »Dass der Rundfunk diese Kunst der 5 Alfred Braun im Gespräch mit Heinz Schwitzke (Anm. 1): »Tag und Montage bisher nur unzureichend entwickelt hat, Nacht wurde bei uns in diesem Haus am Potsdamer Platz technisch gebastelt und diese technische Bastelei bezeichnet die Anfänge des liegt vor allem daran, dass er die wichtigste Voraus- gesprochenen Worts im Rundfunk und auch die Anfänge und ersten setzung für eine brauchbare Montage – wie für eine Entwicklungen des Hörspiels.« 06 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

»Im Juni 1928 in Wiesbaden ging es u. a. um die Vor- Gelegenheit nutzen wollte, hatte an vieles zu den- teile der Tonaufnahme und mechanischen Wieder- ken, zum Beispiel an das Problem der Herstellung gabe von Hörspielen, und ich erinnere mich noch, der erforderlichen Geräte. Vor allem war ihm klar, daß unsere jungen Avantgardisten, der Breslauer dass es bei der Veranstaltung im Herrenhaus, dem Friedrich Bischoff und der Frankfurter Hans Flesch, Sitz der ersten Kammer des Preußischen Landtags, leidenschaftlich dafür eintraten. In diesem Zusam- um Überzeugungsarbeit ging. Dort mussten näm- menhang spiegeln sich in meiner Erinnerung Bilder, lich die Spitzen der Behörden, Wissenschaft, Kunst die sich mir besonders eingeprägt haben. Nach der und Technik davon überzeugt werden, dass eine Wiesbadener Tagung hatten wir daran gedacht, mit Technologie, deren Anwendung im Film sie strikt ab- den Erfindern des Tonfilms, Engel [sic!] und Masol- lehnten, nunmehr in großem Stil für den Rundfunk le, ein Abkommen zu schließen, um die Tonaufzeich- nutzbar gemacht werden sollte. Nach den Refera- nung des Films für das Rundfunkprogramm nutz- ten und vor der Eröffnung des Buffets stand also die bar machen zu können. Der Telefunkenerfinder Graf Vorführung von zwei Hörspielen auf dem Programm, von Arco hatte sich auf meine Anregung hin erboten, die eigens für diesen Zweck hergestellt worden wa- zusammen mit dem Chefingenieur des Rundfunks, ren. Mit Bischoffs Hörspielkunst verband man eher Schaeffer, hierfür ein Spezialgerät zu entwickeln. unklare Vorstellungen, aber Walter Ruttmann, der Um die Dinge voranzutreiben, waren der unver- gerade mit seinem Film »Berlin. Die Sinfonie der geßliche Regisseur des sich später entwickelnden Großstadt« Erfolge feierte, war ein Star und für sein deutschen Tonfilms, Ruttmann, und der künstleri- Hörspiel, das erste mit dem Tonfilmband produzier- sche Leiter der ‚Schlesischen Funkstunde‘ und spä- te überhaupt, war schon vorher regelrecht PR-Ar- tere Intendant dieser Anstalt, Friedrich Bischoff, ge- beit getrieben worden, verbunden mit der Bekannt- beten worden, eins der von Bischoff schon zuvor gabe von Titel und Inhalt des Werkes. Man durfte geschaffenen, den dramaturgischen Gesetzen des gespannt sein. Rundfunks besonders angepaßten Hörspiele: ‚Hal- lo, hier Welle Erdball!‘ für das Tonband des Films Was bekamen die Herrschaften zu hören? Bischoff neu zu inszenieren.«6 hatte sein Hörspiel »Hallo! Hier Welle Erdball!« neu inszeniert, und zwar »für das Tonband des Films«. Bredows Formulierung ist an dieser Stelle etwas Hans Bredow erinnerte sich: »Die bei dieser Ge- missverständlich. Wie sich zeigen wird, bekam legenheit erfolgende Vorführung des Hörspiels Ruttmann den Auftrag, ein eigenes Hörspiel zu pro- war ein Wagnis, denn es gab Szenen, die zugleich duzieren und nicht etwa bei Bischoff als Co-Regis- frech, ungebärdig und utopisch waren. Wie der Titel seur mitzuarbeiten. An andere Details erinnerte sich schon ausdrückt, sprang es szenisch um die gan- Bredow genauer: ze Welt und versuchte eine Art Pandämonium des »Bischoff hatte dann in einem primitiven Atelier in Weltgeschehens mit den Mitteln des Rundfunks Berlin-Tempelhof sein Hörspiel für dieses Verfahren auszudrücken.«8 neu gestaltet. Dazu hatte er sich junge Schauspieler geholt, die damals noch unbekannt waren oder die Im Deutschen Rundfunkarchiv sind unter dem Ti- erst im Aufsteigen waren. Es waren Namen darun- tel »Hallo! Hier Welle Erdball! – Eine Hörspielsym- ter, die heute einen bedeutenden Klang im Theater- phonie« zwei Ausschnitte archiviert, die nach dem leben oder bei der Kabarett-Bühne haben. Ich nen- Zweiten Weltkrieg wiederentdeckt worden waren: ne nur Kurt Horwitz, jetzt Staatstheater-Intendant in »Zeitlauf des Mannes K.« und »Sensationen – Kata- München und Ernst Ginsberg; dann aber auch die strofen«. Es handelt sich um das früheste nachweis- damals noch völlig unbekannte Lale Andersen […]. bare Tondokument des deutschen Rundfunks, als Danach hatte die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft Schallplattenumschnitt entstanden am 4. Februar die Spitzen der Behörden, der Wissenschaft, Kunst 1928. Aber es enthält aus dem Hörspiel »Hallo! Hier und Technik zu einer Vortragsreihe in das ehemali- Welle Erdball!« nur eine Szene, von insgesamt neun, ge Herrenhaus in Berlin eingeladen, und bei dieser wie Reinhard Döhl anhand des inzwischen von ihm Gelegenheit war auch darauf hingewiesen worden, daß die Entwicklung immer mehr dahin dränge, ein Aufzeichnungs- und Wiedergabeverfahren für den Rundfunk zu entwickeln.«7 6 Hans Bredow: Freud und Leid in drei Jahrzehnten. In: Linien eines Lebens. Friedrich Bischoff. Gestalt. Wesen und Werk. Tübingen 1956, S. 19–27; Zitat, S. 19f. Das waren sehr weit reichende Vorbereitungen, die 7 Ebd., S. 20. sich bis ins Frühjahr 1930 hinzogen. Bredow, der die 8 Ebd., S. 20. Naber: Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film 07

wiederentdeckten Manuskripts nachgewiesen hat.9 um durch ebenso stetiges Wiederaufdrehen dem Der erste Ausschnitt des Tondokuments mit dem Ti- nächsten akustischen Handlungsabschnitt mäh- tel »Zeitlauf des Mannes K.« gehört überhaupt nicht lich sich steigernde Form und Gestalt zu verleihen. zu Bischoffs Stück. Es handelt sich offenbar um Durch Parallelschaltung im Spiel über zwei Sende- eine Szene aus der lyrischen Suite »Leben in die- räume hinweg ist es möglich, Szenen akustisch in- ser Zeit« von Erich Kästner und Edmund Nick, die einander tauchen zu lassen. Wiederum berühren – von wem und warum auch immer – mit dem Aus- sich hier Hörbild und Film in ihrem dramaturgischen schnitt »Sensationen – Katastrofen« aus Bischoffs Aufbau. Vor allem wird ersichtlich, dass akustische 1927 entstandenem Hörspiel verbunden worden ist. Dramaturgie ohne technische Dramaturgie nicht zu Aber ganz abgesehen von diesen noch immer nicht denken ist.«11 restlos aufgeklärten philologischen Problemen ist das wiederentdeckte Tondokument auch nicht teil- Leider ist die Tri-Ergon-Film-Version von Bischoffs weise identisch mit der 1930 im Herrenhaus vorge- Hörspiel, das mindestens 40 Minuten lang war, nicht führten Neuproduktion auf Filmtonband, die als ver- erhalten geblieben. Es wäre sicher spannend zu er- schollen gelten muss. fahren, wie der Meister der Blende mit dem Schnitt umgegangen ist, den das Filmband erstmals er- Allerdings sollten die auf Schallplatten erhaltenen möglichte. Niemand anderer als die große Cineastin Hörspiel-Ausschnitte einem ähnlichen Zweck die- Lotte Eisner, damals eine junge Journalistin, hat sich nen, nämlich der Demonstration einer technischen für den Berliner »Film-Kurier« die Rundfunksendung Erfindung, auf die Bischoff sehr stolz war. Gemein- angehört, die am 13. Juni 1930 stattfand, also we- sam mit seinem Ton-Ingenieur Gaste hatte er die nige Wochen nach der Veranstaltung im ehemali- Blenden-Technik entwickelt. Die Absage von Bi- gen Herrenhaus: schoff lässt daran keinen Zweifel: »Sie hörten eine »Zwei Hörspiele von diametraler Form: Bischoffs Szene aus ‚Hallo! Hier Welle Erdball!‘ von F. W. Bi- Arbeit ist das typische Hörspiel […]. Ein Versuch, schoff. Sie wurde von vier Schallplatten wiederge- die Totalität des Weltbildes in Ausschnitten zu er- geben. Der Übergang von einer Platte zur anderen fassen: […] Ein Sammelsurium also von allen Af- sollte unmerklich vor sich gehen. Der Versuch wur- fekten menschlichen Daseins. Sammelsurium auch de durchgeführt, um festzustellen, ob eine solche in der Konzeption. Pathetisches, Unpathetisches Wiedergabe der vollwertige Ersatz eines Original- durcheinander […]. Bischoff spielt diese Daseins- hörspiels ist.«10 Mit Originalhörspiel meinte Bischoff äußerungen aus – oft zu lange, zu anhaltend, noch das damals übliche Live-Hörspiel und es ging um nicht genug auf Tonüberblendungen bedacht, die die Frage, ob es möglich sei, Schallplatten, die nur das Hörfilmische verlangt. Man spürt den Ursprung eine Spieldauer von dreieinhalb Minuten hatten, so – das Spiel am Sender, herausgewachsen aus dem ineinander zu blenden, dass der Eindruck eines or- Theaterspiel; man spürt, daß Bischoff regiemäßig ganischen Ganzen entstehen konnte. Aber der In- noch nicht vom Spielsehen, von der Bühne, los- tendant Bischoff interessierte sich nicht nur für Pro- kommt […]. Ruttmann, der von Musikalität Geleite- duktionstechnik, sondern auch für die Wiedergabe te, denkt intensiver in Tönen als der bilderfüllte Bi- im Programm, das heißt für die Frage, unter welchen schoff […].«12 Voraussetzungen die Sendung von Tondokumenten uneingeschränkt möglich sei. Es ging um das Pro- blem der Ton-Aufzeichnung, um genau das Thema 9 Reinhard Döhl: Neues vom alten Hörspiel. In: Rundfunk und Fern- sehen 29(1981), S. 127–141. also, das in Bredows Erinnerung bei der Wiesbade- 10 Friedrich Bischoff: Hörspiel in den Zwanziger Jahren. SWF-Sen- ner Tagung des Programmrats von 1928 eine Haupt- dung vom 29.10.1953 zum 30. Jahrestag des Beginns des Rundfunks rolle spielte. Dort gehörte auch Friedrich Bischoff zu in Deutschland. SWR. Schallarchiv. Nr. 5950093. den Referenten und er berichtete von seinen Versu- 11 F. Walter [i. e. Friedrich] Bischoff: Die Dramaturgie des Hörspiels. In: Rundfunkjahrbuch 1929, S. 202f. chen mit Methoden der Film-Technik, obwohl ihm 12 L. H. Eisner: Reichsrundfunk sendet akustische Filme. In: Film- als Aufzeichnungstechnik nur die Schallplatte zur Kurier (Berlin), Nr. 116, 16.5.1930. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Wal- Verfügung stand: ter Ruttmann. Eine Dokumentation. Herausgeber: Freunde der Deut- schen Kinemathek e.V. Berlin 1989, S. 132. – Die Dokumentation von »Der Beamte am Verstärker übernimmt dabei eine Jeanpaul Goergen bietet mit ihrem umfangreichen Material über das ähnliche Funktion wie der Filmoperateur. Er blendet Oeuvre und die Biographie Walter Ruttmanns auch viele Hinweise auf über, wie wir es in Ermangelung einer ausgespro- die Entwicklung des Tonfilms; aber erst mit den schwer auffindbaren chen funkischen Terminologie nennen, d. h. er lässt Dokumenten über die Erfindung der Tonfilmtechnik durch Hans Vogt, Josef Masolle und Jo Engl entsteht ein vollständiges Bild, das vor al- durch langsame Umdrehung des Kondensators am lem auch die wegweisende Bedeutung dieser Technik für die Hörspiel- Verstärker die beendete Handlungsfolge verhallen, kunst erkennbar werden lässt. 08 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Bei der Veranstaltung im Herrenhaus stand Rutt- Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Das mann als erster auf dem Programm. Im Zusammen- Problem der Tonaufzeichnung für den Rundfunk ließ hang mit der Auftragserteilung hatte Hans Bredow die Leute kalt. Man hatte damals andere Sorgen. ihn als den »unvergesslichen Regisseur des sich entwickelnden deutschen Tonfilms« apostrophiert. Ein Hörspiel von Walter Ruttmann über »das Er- Bei der Beschreibung der Vorführung lässt Bredow wachen eines Bauernhofs« wird in der Hörspielge- seine Erinnerung an Ruttmanns Produktion offen- schichte nirgendwo erwähnt. Bischoffs »Hallo! Hier bar im Stich, nicht einmal der Titel fällt ihm ein. Sein Welle Erdball!« hingegen umso öfter. Aber das, wo- Resümee: »Hatte Ruttmann noch versucht, in sei- rum es eigentlich ging, die Tri-Ergon-Technik, legt nem ebenfalls vorgeführten ersten Tonfilmband, das Bredow mit einem bemerkenswerten Satz zu den das Erwachen eines Bauernhofes zeigte, gleichsam Akten: »Das Tonfilmverfahren war aus verschiede- rustikal Klangfarben zu mischen, um den Vorgang nen Gründen beim Rundfunk nicht zur Einführung durch Laute zu kennzeichnen, so war Bischoffs gekommen.«16 Dafür kamen die Nazis, die mit dem ‚Hallo, hier Welle Erdball!‘ im Gegensatz dazu eine »kulturbolschewistischen« Rundfunk rigoros auf- seltsame Mischung aus Rundfunk, Drama, Revue, räumten. Kabarett und Reportage. Aber nicht etwa ein Kon- glomerat, sondern zusammengebunden durch das Temperament und die künstlerische Gestaltungs- Fotografierte Töne, gemalte Filme kraft des Verfassers.«13 Lotte Eisner sah das et- was anders, aber bei der Veranstaltung im Herren- Eine Rückblende in das Jahr 1913 verdeutlicht, wie haus ging es nicht in erster Linie um künstlerische es zur Verzahnung der beiden verwandten Künste Gestaltungskraft, sondern um die von Bredow ge- Film und Hörspiel überhaupt kam. Die Protagonis- plante Überzeugungsarbeit. »Nach der Vorführung«, ten dieser Geschichte sind Walter Ruttmann und so Bredow weiter, »gab es eine scharfe, lebendige die Tri-Ergon-Erfinder Hans Vogt, Josef Masolle Aussprache von einem so hohem Niveau, wie ich und Jo Engl. es selten erlebt habe. Es war eigentlich nur unsere Absicht gewesen, zur Diskussion zu stellen, ob das Hans Vogt war ein junger Ingenieur der Elektrotech- Filmband für die Tonaufzeichnung des Funks tech- nik aus Oberfranken, der 1913 seine Militärzeit in der nisch genügen könne. Wir hatten erwartet, von den Erprobungsstelle der Marine für Radiotelegrafie in anwesenden Wissenschaftlern Rat und Beistand für Kiel ableistete. Hans Vogt ging eines Tages ins Kino unsere Pläne zu erhalten. Aber die Diskussion be- und sah sich den Film »Der Student von Prag« an. wegte sich sehr schnell von dem technischen Ver- Er ist tief beeindruckt von Paul Wegeners Schau- fahren, um das wir uns bemühten, fort […].«14 Vor spielkunst. Aber ihn stören die Bemerkungen des allem Bischoffs »Pandämonium des Weltgesche- »Erklärers«, vor allem dann, wenn die Schauspieler hens« spaltete die Versammlung in zwei Lager. in Großaufnahme ihre Lippen bewegen. Während Während ihm zu Hilfe kam, versuchten des Krieges spielte die Radiotelegrafie eine wach- andere, darunter bedeutende Literarhistoriker und sende Rolle und der junge Elektroingenieur Hans Publizisten, sein Hörspiel in Grund und Boden zu Vogt wurde bei der Reichswehr entsprechend ein- verreißen. Immer deutlicher wurde, was diese Her- gesetzt. Aber ihn lassen seine Kino-Erlebnisse nicht ren so in Rage brachte – die Tendenz der Darbie- mehr los. Vor allem beschäftigte ihn die Lösung des tung, die sie als »kulturbolschewistisch« anpran- Problems, die Schauspieler im Film nicht nur sehen, gerten. sondern auch hören zu können.

»Kulturbolschewistisch« zu sein, war 1930 ein gra- Auch der Architekturstudent Walter Ruttmann ging vierender Vorwurf; drei Jahre später wurden meh- 1913 in jeden Film. Die bewegten Bilder beginnen rere Intendanten wegen dieses Vorwurfs ins KZ ihn mehr und mehr zu faszinieren. Eines Tages teil- gesperrt. Dieser Bischoff muss sich auch noch ver- te er seiner Mutter in Frankfurt mit, er sei nun ent- teidigen. »Ich sehe ihn«, schrieb Bredow, »in mei- ner Erinnerung vor mir stehen: jung, kämpferisch und geschickt im Redestreit, aber auch von einer Schärfe und Unbedingtheit, die mich als Rundfunk- 13 Hans Bredow: Freud und Leid in drei Jahrzehnten (Anm. 6), Kommissar, der ja stets um Ausgleich bemüht sein S. 20f. 15 14 Ebd., S. 21. mußte, bedenklich stimmten.« Immerhin fand das 15 Ebd., S. 22. Scheitern auf so hohem Niveau statt, dass es in der 16 Ebd., S. 23. Naber: Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film 09

schlossen, Maler zu werden. Er zog nach Mün- Zeit nicht ideal intim sein kann, wenn die Erschei- chen, begann ein Studium an der Kunstakademie, nungsformen mit den Handschuhen der Analogie freundete sich mit Klee und Feininger an und spiel- angefaßt werden.«17 te Cello in den Schwabinger Cafés. Um Geld zu ver- dienen, nahm er an Plakatwettbewerben teil, mit Es ist ein bemerkenswerter Text. Was passiert, Erfolg. Das einzige Plakat, das aus dieser Zeit er- wenn der Mensch wegen der Geschwindigkeit des halten blieb, wirbt für das Café »Botanischer Gar- Überschwemmtwerdens mit Material die Kontrolle ten« in München und gibt seine Neigung zu einfa- über die Zeit verliert? Er verliert auch die Kontrolle chen Formen und kräftigen Farben zu erkennen. Als über die Bilder, es gibt nichts Vergleichbares, Ana- der Krieg ausbrach, war er in München als Maler ei- loges mehr. Das Versagen der alten Erledigungsme- nigermaßen etabliert. Er wurde als Artillerie-Leut- thoden ist zugleich das Versagen des historischen nant an die Ostfront geschickt und war bei Kriegs- Vergleichs, der Schutzfunktion des Analogon. »Wo ende durch seine Erlebnisse schwer traumatisiert, ist die Rettung?« fragt Ruttmann, und seine Antwort obwohl er nie in unmittelbare Gefahr geraten war. Er lautet: Die Rettung ist »eine ganz neue Kunst. Nicht heiratete, zog sich nach Wasserburg am Inn zurück, etwa ein neuer Stil oder dergleichen. Sondern eine wo er erfolgreich wieder als Maler arbeitete, bis er allen bekannten Künsten verschiedene Ausdrucks- durch eine persönliche Katastrophe für eine Weile möglichkeit, eine ganz neue Art Lebensgefühl in aus der Bahn geworfen wird. Als er selbst schwer- künstlerische Form zu bringen, ‚Malerei mit Zeit‘. krank daniederlag, starb seine Frau bei der Geburt Eine Kunst für das Auge, die sich von der Malerei des ersten Kindes. Erst nach einer Weile nahm er dadurch unterscheidet, daß sie sich zeitlich abspielt seine Versuche, Formen aufzulösen und Bewegung (wie Musik), und daß der Schwerpunkt des Künst- sichtbar zu machen, wieder auf. Wichtige Anregun- lerischen nicht (wie im Bild) in der Reduktion eines gen vermittelte ihm erneut das Kino. Vor allem die (realen und formalen) Vorgangs auf einen Moment Bewegung der Bilder übte eine große Anziehungs- liegt, sondern gerade in der zeitlichen Entwicklung kraft aus. Gab es von da einen Weg zum Film als des Formalen.« An dieser Stelle fällt der entschei- Kunst? Ruttmann schrieb Artikel über diese Frage dende Satz: »Die Technik der Vorführung ist die der und bekam sie zurückgeschickt mit der Bemerkung, Kinematographie«18 – also die Zurückgewinnung der es sei doch wohl endgültig erwiesen, dass Film mit Kontrolle über die Zeit durch die Filmkunst. Kunst nichts zu tun habe. Hans Vogt gingen ganz andere Gedanken durch Einer von Ruttmanns Texten hat den Titel »Malerei den Kopf: Wenn die Töne aus Licht wären, könn- mit Zeit«. Darin schreibt er: te man sie genau so wie die Bilder fotografieren. »Die Zeit, in der wir leben, ist gekennzeichnet durch Wenn es gelingen würde, aus Tönen Licht zu ma- eine eigentümliche Hilflosigkeit künstlerischen Din- chen, dann könnte man umgekehrt auch Licht in gen gegenüber […]. Dieser spezifische Zeitcharak- Töne verwandeln – Licht-Ton also. Hans Vogt, der ter ist in der Hauptsache hervorgerufen durch das inzwischen eine Anstellung im Hochfrequenz-La- ‚Tempo‘ unserer Zeit. Telegraf, Schnellzüge, Ste- boratorium des Dr. Seibt in Berlin hatte, kaufte sich nografie, Fotografie, Schnellpressen usw., an sich eine Kamera und begann zu experimentieren. Mit nicht als Kulturerrungenschaften zu werten, haben Verstärkerröhren kannte er sich aus, aber schall- zur Folge eine früher nicht gekannte Geschwindig- empfindliche Lichtquellen waren ein völlig neues keit in der Übermittlung geistiger Resultate. Durch Gebiet. Als er sich von seinem Projekt der fotogra- diese Schnelligkeit des Bekanntwerdens ergibt sich fierten Töne überfordert fühlte, überredete er sei- für das Einzelindividuum ein fortwährendes Über- nen Chef, den Hochfrequenz-Ingenieur Josef Ma- schwemmtsein mit Material, dem gegenüber die al- solle aus Bielefeld einzustellen und wenig später ten Erledigungsmethoden versagen. Man versucht auch den Physiker Dr. Jo Engl aus München. Ihnen sich zu helfen durch eine Flucht zum Mittel der As- ging es nicht um Filmkunst, sondern um Filmtechnik, soziation. Der historische Vergleich, die Heranzie- genauer um Tonfilmtechnik. Ihr Ziel war es, Schall- hung eines historischen Analogons, erleichtert und wellen in Elektrizität und diese in Lichtsignale umzu- beschleunigt die Bewältigung der neuen Erschei- nungen. Die Erfassung und Verdauung dieser Er- scheinungen leidet aber natürlich unter dieser Me- thode – es ergibt sich wohl ein Beschäftigtsein mit 17 Walter Ruttmann: Malerei mit Zeit [1919/1920]. Walter-Ruttmann- Nachlass. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), der Zeit, aber kein ‚Die Zeit sein‘. Denn es ist evident, S. 73f. daß der Kontakt der Individuen mit dem Geist der 18 Ebd. 10 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) wandeln, die gleichzeitig mit den aufzunehmenden der Begleitmusik seines Freundes Max Butting. Bildern auf die lichtempfindliche Schicht des Film- Herbert Ihering schrieb im »Berliner Börsencou- bandes übertragen werden konnten. rier«: »Der Versuch, den Walter Ruttmann als Maler und Max Butting als Musiker unternahmen, ist einer Bald gab es wegen der immer komplizierter werden- der interessantesten, die ich im Film jemals gesehen den Rechtslage bei der Verwertung der anfallenden habe. Er bedeutete nichts geringeres, als Licht und Patente Streit mit Dr. Seibt. Die drei Erfinder mach- Farbe klingend zu machen, als Musik in sichtbare ten sich selbstständig. Am 1. Juli 1919 gründeten farbige Bewegung umzusetzen.« Im Folgenden be- sie in einem ehemaligen Blumenladen unterhalb der schrieb Ihering sehr anschaulich, was in Ruttmanns Vogtschen Wohnung in der Babelsbergerstrasse 94 Film zu sehen war: in Berlin-Wilmersdorf das »Laboratorium für Kine- »Farbige Dreiecke bekämpften farbige Kreise, die matografie«. Bei der Suche nach einem Geldgeber anschwollen und zusammenschrumpften. Strah- bekamen sie tatkräftige Unterstützung von Dr. Ing. lenbündel schwangen, Sonnen kreisten. Es gab nur Hans Harbich, dem Leiter der Abteilung Funkwe- ein Gesetz, das sie gegeneinander- und auseinan- sen beim Telegrafentechnischen Versuchsamt der dertrieb, das die Formen sich dehnen und schwin- Reichspost, der zuvor, wie Hans Vogt, bei der Ra- den ließ: den Rhythmus. Ein Bewegungsspiel von diotelegrafie der Marine gearbeitet hatte. Harbich seltener Reinheit. Im Grunde war es die Urform des brachte sie mit dem Elektrotechnik-Unternehmen C. Filmspiels […]: Formen in rhythmischer Bewegung Lorenz zusammen, das als Gesellschafter einstieg. zu zeigen, unabhängig von stofflichen Hemmun- Die drei Erfinder gaben ihrem Projekt den Namen gen, unabhängig von Belastung durch die Materie. »Tri-Ergon«, also wörtlich das »Werk der Drei«. Sichtbare Musik, hörbares Licht. Dieser Film war nicht photographiert. Er war gemalt […].«19

Aber es handelte sich wohlgemerkt nicht um ei- nen Tonfilm, sondern um einen Film mit Musikbe- gleitung.

Inzwischen war das Tri-Ergon-Team einen wichti- gen Schritt weitergekommen. Am 26. Februar 1921 gelang der erste »sprechende Film«, bei dem Bild und Ton in zeitlich völliger Übereinstimmung sicht- bar und hörbar wurden. Sie nannten ihn ihren »Hei- deröschenfilm«, weil darin die Sprechkünstlerin

»Tri-Ergon«: von links Jo Engl, Joseph Masolle, Hans Vogt. Friedel Hintze Goethes Gedicht in Grossaufnah- Quelle: Deutsches Filminstitut, Frankfurt me aufsagte. Als sie mit Sackleinwand das Problem der Raumakustik gelöst hatten, drehten sie »Piefkes Auch Walter Ruttmann hatte sich mittlerweile eine Geburtstag«, einen Sketch, wie er damals vom Pu- Kamera gekauft und dazu ein Lehrbuch über Kine- blikum geliebt und gelobt wurde. Auch die Geldge- matografie. Seine ersten Versuche – Bewegungs- ber der Firma Lorenz waren zufrieden. Vogt, Masol- studien mit der neuen Kamera – entstehen in einer le und Engl glaubten, sich an ein größeres Projekt Scheune am Starnberger See. Er baute sich mit ein- wagen zu können, mit dem sie das Tri-Ergon-Licht- fachen Mitteln einen Tricktisch, der es ihm ermög- tonverfahren endgültig zum Erfolg führen wollten – lichte, »mit mehreren im Lichtweg liegenden, durch- einen großen Premieren-Tonfilm. Aber auf die Idee, sichtigen und beweglichen Bildplatten« Formen und dafür einen guten Regisseur zu engagieren, kamen Farben auf den Filmstreifen zu bannen. So steht es sie nicht. Sie wollten die Konkurrenz nicht mit Kunst, in seiner Patentschrift, die am 27. Juni 1920 unter sondern mit Können schlagen. Die Konkurrenz, vor dem Titel »Verfahren und Vorrichtung zum Herstel- allem die in Amerika, arbeitete nach wie vor mit len kinematografischer Bilder« ins Register einge- Schallplatten und hatte das Problem der Bild-Ton- tragen wurde. Ruttmann gründete eine Firma, die Synchronisation immer noch nicht gelöst. Ruttmann-Film-GmbH mit Sitz in der Zuccalistras- se 2 in München. Als Geschäftszweig gab er »Ge- zeichnete Filme« an. Am 27. April 1921 erfolgte die 19 Herbert Ihering: Lichtspiel Op. 1. In: Berliner Börsen-Courier, 1. öffentliche Uraufführung seines »Lichtspiel opus 1« Mai 1921. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), im Marmorhaus am Kurfürstendamm in Berlin mit S. 99. Naber: Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film 11

Am 17. September 1922 war es soweit. Im Kinopa- mit der Begrüßungsansprache, Schumanns »Träu- last »Alhambra«, einem Berliner Uraufführungskino merei« sowie zwei Stunden lang Arien und Spitzen- mit 1.000 Plätzen sollte 120 Minuten lang Tonfilm tanz, Theater und Gesang – ein Bunter Abend als gezeigt werden, ein Nummernprogramm allerdings, Film und das am Vormittag um 11.30 Uhr. Im Kino das mit Begrüßungsansprache, Theaterszenen und nebenan liefen die Meisterwerke der Stummfilm- Musikstücken dem stereotypen Bunten Abend ent- kunst »Der müde Tod« von Fritz Lang und »Nosfe- sprach. Bei den Proben stellte sich heraus, dass für ratu« von Friedrich Wilhelm Murnau. die Größe des Saales die Schallwiedergabe bei wei- tem nicht ausreichte. Gebraucht wurde eine zweite So weit war Ruttmann noch nicht. Sein »Lichtspiel Endverstärkerröhre, die es aber nicht gab. Da ent- Opus 2« war zwar Ende Januar 1922 in Frankfurt schloss sich der Könner Josef Masolle ein solches aufgeführt worden, aber nur vor wenigen gelade- Ding in Tag- und Nachtarbeit selbst herzustellen. nen Gästen. Der ihm wohl gesonnene Kritiker Bern- Kurz vor Beginn der Veranstaltung, als das Premie- hard Diebold lobte in der »Frankfurter Zeitung« die renpublikum schon das Foyer füllte, kam ein Bote rhythmische Gliederung und die perspektivische mit der kostbaren Röhre. Für eine erneute Probe Tiefenwirkung, fügte aber hinzu, ein Film wie dieser war keine Zeit mehr. Aber die Vorführung wurde ein werde »einen schweren und langsamen Passions- großer Erfolg. »Ein Ruhmesblatt deutscher Technik«, weg zur Gunst des Publikums zu gehen haben.« Es schrieb am nächsten Tag die »Deutsche Allgemeine sei denn, kluge Geschäftsleute benutzten den ge- Zeitung«: »Der Film spricht, singt und musiziert.«20 malten Film zu einer »Reklame modernster Art«, um durch den »Kompromiß von Kunst und Geschäft« Bei der Fachpresse stieß das Tri-Ergon Team aller- die Augen des Publikums für neue Phänomene zu dings auf einhellige und entschiedene Ablehnung. öffnen.24 Diesen klugen Geschäftsmann fand Wal- Es wurden, weit hergeholt, ästhetische Gründe gel- ter Ruttman in Julius Pinschewer, dem Pionier der tend gemacht oder die Binsenweisheit, dass Groß- Kino-Werbung. Für ihn drehte Ruttmann 1922 Wer- filme nur auf dem Weltmarkt amortisiert werden be-Filme, darunter »Der Sieger« und »Das Wunder«, können, die von der »Berliner Börsenzeitung« bei- die für Excelsior-Reifen bzw. Kantorowicz-Liköre gesteuert wurde. Die allgemeine Meinung brach- warben. Sie waren die ersten abstrakten Werbefil- te Heinrich Fraenkel in der »Licht-Bild-Bühne« auf me überhaupt, mit denen er seinen Lebensunter- den Punkt: »Die Filmkunst darf den akustischen halt bestritt. Film nie beachten; denn des künstlerischen Filmes Wesenheit und Hauptstärke liegt – in seiner Stumm- Nach der Uraufführung von »Lichtspiel Opus 1« im heit.«21 Berliner Marmorhaus hatte Ruttmann die Trickfilme- rin Lotte Reiniger kennen gelernt, die gerade von Fritz Lang den Auftrag bekommen hatte, für sei- Beifall für den Hahn nen Nibelungenfilm, den er mit großem Aufwand für die UFA drehte, Kriemhilds »Falkentraum« als Trick- Was steckte wirklich hinter der allgemeinen Ableh- film zu realisieren. Im Drehbuch stand: »Traumland- nung des Tonfilms? Herbert Ihering kommentierte schaft (Leerer Himmel). Ein fliegender Falke. Auf ihn die Uraufführung des ersten abendfüllenden Tonfil- mereignisses im »Berliner Börsen-Courier« folgen- dermaßen: »Der sprechende Film ist die phänome- nale Erfindung eines Geistes, der sich gerade durch 20 Hans Vogt: Die Erfindung des Tonfilms – Ein Rückblick auf die Ar- beiten der Erfindergemeinschaft Engl-Masolle-Vogt. Erlau bei Passau seine letzte Vervollkommnung wieder aufhebt, der 1954, S. 87. seinen ganzen Reichtum nur darauf verwendet, 21 D.O. in der »Berliner Börsenzeitung« am 18.9.1922; Heinrich Fra- um gegen sich selbst tödliche Waffen zu schmie- enkel in »Die Licht-Bild-Bühne« am 23.9.1922. Zit. nach Hans Vogt: Die 22 Erfindung des Tonfilms (Anm. 20), S. 80 und 87. den.« Diese tödlichen Waffen hatte er gerade im 22 Herbert Ihering im »Berliner Börsen-Courier« am 19.9.1922. Zit. Tri-Ergon-Film besichtigen können. Zum Auftakt nach Hans Vogt: Die Erfindung des Tonfilms (Anm. 20), S. 78. in Großaufnahme erschien dort die Schauspielerin 23 Hans Vogt: Die Erfindung des Tonfilms (Anm. 20), S. 77. – Den hier Rosa Lichtenstein mit folgendem Text: »Ich bin der zitierten fünf Anfangszeilen des Textes von Fritz Böhme folgen 34 wei- tere. Der Schluss lautet: »Licht und Ton, die schwingenden Wellen / erste Gruß aus einem neuen Land! / Vom stummen nun nicht mehr im Verrauschen zerschellen. / Und mein Bild, das dein Bild fand ich den Weg. / Erlöst ist mein Schweigen. staunendes Auge erblickt, / spricht dir als Gruß aus dem neuen Land: / Aus dem Reigen, dem Auf und Nieder an flimmern- / Sieh, es ist nun geglückt, / dass ich den Weg zum Leben fand.« 24 : Der gemalte Film. In: Frankfurter Zeitung, der Wand / hallt nun der Geist auch als Klingen und 1.2.1922. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), 23 Sprache wider […].« Darauf folgten Gustav May S. 101. 12 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) stößt ein Geier nieder und fängt ihn.«25 Ein Alptraum, für alle arbeitete. Beim Empfang im Anschluss an der Siegfrieds Tod vorwegnimmt. Was Fritz Lang das »elektrische Fernkonzert« schwärmte Hans von Lotte Reiniger verlangte, war mit ihrer Spezi- Vogt dem Generaldirektor einer großen Elektrofir- alität, den Scherenschnittbildern, nicht zu machen. ma von dem großartigen Geschäft vor, das mit den, Nachdem sie aber Ruttmanns Film gesehen hatte, auf Tri-Ergon-Patenten beruhenden, »Empfangs- wusste sie, wer den »Falkentraum« gestalten konn- einrichtungen für drahtlose Telegrafie« zu machen te. Ruttman übernahm den Auftrag und der nächs- wäre. Der Generaldirektor antwortete: »Mein lieber te ließ nicht lange auf sich warten. Lotte Reiniger Vogt, Sie mögen ein tüchtiger Erfinder sein, aber arbeitete selbst an einem abend- vom Geschäft verstehen Sie so gut füllenden Scherenschnitt-Film »Die wie nichts. Durch die Antennen wer- Abenteuer des Prinzen Achmed«. den Musikströme beim Dach hinaus- Auf ihren Wunsch schuf Ruttmann geschickt. Empfangen kann sie jeder. die Formenspiele für die Anfangsse- Aber wer wird für etwas, was frei wie quenzen, in denen die Figuren vor- Luft und Licht in sein Haus dringt, gu- gestellt werden. Aber seine Idee von tes Geld aufwenden. Deswegen lieber der »Malerei mit Zeit« ließ ihn nicht junger Freund ist das ganze ein Phan- los, und so entstanden zwischen den tasieobjekt und geschäftlich nicht Werbefilmen die Lichtspiele »Opus 3« durchführbar.«26 Der Generaldirektor und »Opus 4«. hat, wie wir heute wissen, nicht mit der Reichspost gerechnet und nicht Beim Tri-Ergon-Team lief es nicht so mit dem Reichsrundfunkkommissar gut. Am 24. November 1922, also ei- Staatssekretär Hans Bredow, der die nige Wochen nach dem ersten abend- Rundfunkgebühren für jeden Emp- füllenden Tonfilmereignis, gab der Ge- fänger längst eingeplant hatte. Was neraldirektor der C. Lorenz AG in einer war dagegen der Saalfunk! Gesellschafterversammlung bekannt, dass sich die deutsche Filmindustrie Bei der Suche nach neuen Partnern mit der neuen Erfindung des tönen- stellte sich schließlich heraus, dass den Lichts nicht anfreunden könne. Vogts Rechtsanwalt einen Onkel in Nicht nur die Filmindustrie, sondern der Schweiz hatte, also einem Land auch die großen Elektrokonzerne sei- mit einer stabilen Währung, was auch en an der ganzen Angelegenheit nicht deswegen nicht ganz uninteressant weiter interessiert. Das Programm der Lichtspiel Opus 3 war, weil in Deutschland inzwischen Tri-Ergon-Premiere hatte den Herren von Walter Ruttmann. das Pfund Butter eine Million Reichs- Quelle: Deutsches Filminstitut, offenbar den Rest gegeben. Nur ge- Frankfurt. mark kostete. Am 5. Juni 1923 fand stützt auf ein großes Publikumsinte- die Übertragung des gesamten Erfin- resse würden sich die enormen Investitionskosten dungskomplexes statt, mit allen Apparaturen, den für eine neue Industrie überhaupt lohnen. Bunte In- und Auslandspatenten an eine in der Schweiz zu Abende, das war das Programm von gestern, die gründende Tri-Ergon A.G., die sodann die drei Erfin- neue Technik aber sollte die Filme von morgen her- der wieder einstellte, mit einem Monatsgehalt von je vorbringen. Von Lorenz sitzengelassen, musste sich 1.000 Schweizer Franken und einer Beteiligung von Tri-Ergon nach einem neuen Partner umsehen. je dreieindrittel Prozent an den Bruttoeinnahmen.

Vogt, Masolle und Engl versuchten, die Tri-Ergon- Bei Tri-Ergon dachten die Erfinder, mit dem Schwei- Erfindungen Stück für Stück zu vermarkten, die zer Geld im Rücken, bereits wieder ans Filmema- leistungsfähigen Lautsprechersysteme, Statophon chen. Man mietete den Sitzungssaal der Berliner genannt, und die neu entwickelten Mikrofone des Zahnärzte, den sogenannten Schubertsaal am Nol- Typs Kathodophon. Am 4. Mai 1923 veranstalte- lendorfplatz und rüstete ihn für die Filmproduktion ten sie in der Musik-Hochschule ein sogenanntes um. Jetzt hatten sie zur Verbesserung der Rauma- »elektrisches Fernkonzert«, bei dem das Orches- ter im Nebenzimmer musizierte, und das Publikum im Saal die Musik über Lautsprecher hörte. Eine 25 Fritz Lang: Die Nibelungen. Drehbuch. Teil 1. Siegfried, 44. Bild. Art von Saalfunk also, während die Reichspost fie- Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 106. berhaft an der Fernübertragung eines Rundfunks 26 Hans Vogt: Die Erfindung des Tonfilms (Anm. 20), S. 84. Naber: Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film 13 kustik nicht mehr Kartoffelsäcke sondern Samtvor- platten, fabrikmäßig hergestellt. Was man benötig- hänge und sie hatten sogar einen Regisseur. Der te, das musste man einer noch in den Kinderschu- Film sollte »Das Leben auf dem Dorfe« zeigen und hen steckenden Technik ablisten. Aber die Technik auch so heißen. Natürlich sollten neben den Land- folgte uns damals gern und begeistert in bisher un- leuten auch die Tiere zu sehen und gleichzeitig zu begangene Bezirke. Ein Toningenieur, Gaste mit Na- hören sein – Schafe, Hunde, Hühner mitsamt dem men, baute mit einem primitiven Potentiometer ein dazugehörigen Misthaufen für den Hahn. Der kräh- erstes Schaltbrett für einen primitiven Regietisch.«27 te aber immer an der falschen Stelle, bis Hans Vogt, Aber mit einem Regietisch konnte man noch nicht der Bauernjunge, auf die Idee kam, den provisori- viel anfangen, solange die Schallplatte die einzige schen Hühnerstall tagelang zu verdunkeln. Bei der Aufzeichnungs- und Wiedergabetechnik blieb. Für Aufnahme erstrahlte unter den Scheinwerfern der die Rundfunkgesellschaften, die sich in den Län- Misthaufen im »Morgenlicht« und der Hahn hatte dern nach und nach etabliert hatten, lag die Zu- nichts Eiligeres zu tun, als ihn zu ersteigen und zu ständigkeit für den gesamten technischen Bereich krähen, und zwar unentwegt, so dass der Kame- bei der Reichspost. Am Schaltbrett saß immer ein ramann sogar noch Zeit zum Objektivwechsel für Postbeamter. Der Intendant hingegen war Ange- die Nahaufnahme hatte. Der Regisseur hieß Wal- stellter einer privaten Aktiengesellschaft. Das Pro- ter Dörry und hatte noch nie mit dem Tonfilm zu tun gramm wurde durch die allgemeinen Rundfunkge- gehabt. bühren finanziert, soweit die Reichspost sie nicht für sich in Anspruch nahm. Das Publikum aber war begeistert. Der »Hühner- hof-Film«, wie er liebevoll genannt wurde, lief nach Der »Hühnerhof«-Film war zwar ein Erfolg, aber der Uraufführung, die am 24. September 1923 im kein Geschäft und den Schweizer Geldgebern der Alhambra stattfand, noch wochenlang vor ausver- Tri-Ergon wuchsen die Kosten langsam aber sicher kauftem Haus und wurde in den darauf folgenden über den Kopf. Am 20. Januar 1924 stiegen sie aus Monaten bei Wandervorführungen in Deutschland und hinterließen eine marode Firma, die sich alsbald und in der Schweiz mit Beifall überschüttet. Den mit einem Lizenzvertrag zur Herstellung von Tonfil- meisten Beifall bekam stets der Hahn. In der Bran- men in die starken Arme der UFA flüchtete. Techni- che wurde der neue Tri-Ergon-Film jedoch ignoriert. scher Leiter war zu dieser Zeit Josef Masolle, künst- Mit krähenden Hähnen und grunzenden Schwei- lerischer Leiter ein junger Komponist, Guido Bagier, nen würde man nur wieder im Jahrmarktszelt lan- bisher vor allem hervorgetreten mit einer Max-Re- den, nachdem man mit den Filmen von Fritz Lang ger-Biographie, dessen Schüler er war. Auf Drän- und Friedrich Wilhelm Murnau längst die marmor- gen von Masolle baute die UFA in Berlin-Weißen- nen Filmpaläste erobert hatte. see ein neues Tonfilmstudio und sicherte sich mit einer bis zum 31. Dezember 1925 geltenden Opti- Ein paar Wochen später, am 29. Oktober 1923, on die Weltrechte an den Tri-Ergon-Patenten. Für nahmen die regelmäßigen Rundfunksendungen in die Schweizer Finanziers lag darin die letzte Chan- Deutschland ihren Anfang. In der provisorischen ce, ihre Investitionen zu retten. Zentrale im Voxhaus stand man vor dem umge- kehrten Problem. Man konnte den Hahn zwar krä- Für den Neustart des Tonfilms war ein abendfüllen- hen lassen, aber man konnte ihn nicht zeigen. Den der Spielfilm geplant, aber die UFA war dermaßen Leuten mit Phantasie war sofort klar, dass es darauf mit den kostspieligen Dreharbeiten zu Fritz Langs ankam, aus diesem Mangel eine Kunst zu machen, Monumentalfilm »Metropolis« beschäftigt, dass die womit wir wieder bei Bredows jungen Avantgardis- Planungen wochenlang liegen blieben. Dann wur- ten sind, bei Hans Flesch und Friedrich Bischoff, die de aus Ersparnisgründen das Projekt zum Kurz- begriffen hatten, dass die neue Kunst der Technik film herabgestuft und als Stoff »Das Mädchen mit abgerungen werden musste. den Zündhölzern« gewählt, ein Märchen von Hans Christian Andersen. Der Dramatiker und Hörspiel- Bischoff, der genauso wenig Techniker war wie autor Hans Kyser wurde als Drehbuchautor enga- Flesch, sagte zur Wiederentdeckung der alten Plat- giert, aber wieder blieb die Kalkulation wochenlang ten mit seinem Hörspiel »Hallo! Hier Welle Erdball!«: liegen und die Zeit bis zum Ablauf der Option wur- »Es sind nur Bruchstücke, aber ein Anhauch ele- de immer knapper. mentaren Aufbruchs in eine neue der Technik abge- rungene Kunstform ist wohl heute noch zu spüren […]. Es gab noch keine Hallräume, keine Geräusch- 27 Friedrich Bischoff: Hörspiel in den Zwanziger Jahren (Anm. 10). 14 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Die Uraufführungskopie, die das Kopierwerk am soluter Radiokunst«. Er entwirft darin Grundrisse 19. Dezember 1925 lieferte, einen Tag vor der Ur- einer Radioästhetik, die im Wesentlichen auf den aufführung, erwies sich als unbrauchbar, weil man engen Beziehungen zwischen Filmkunst und Radi- das Intervall vergessen hatte, den Abstand nämlich okunst aufbaut. Schon der erste Absatz gab zu er- von 16 Bildern zwischen Bild und dem dazugehö- kennen, dass es Weill um etwas Grundsätzliches renden Ton, ohne den ein Synchronlauf nicht mög- ging: »Vor einigen Wochen [wurde] in einem großen lich ist. Die Anfertigung einer neuen Kopie verzöger- UFA-Theater einem illustren Auditorium von Wis- te sich, weil die Kopiermaschine einen Defekt hatte. senschaftlern, Gelehrten, Künstlern, Kritikern der Erst dreißig Minuten vor Premierenbeginn traf die ‚absolute Film‘ vorgeführt, soweit er bis jetzt gedie- neue Kopie ein. Die geladenen Gäste, die interna- hen ist. Dieses Ereignis gibt erneuten Anlass, den tionale Presse, Behörden, Künstler und Konzerne oft angewandten und allzuoft missbrauchten Ver- waren versammelt, es blieb keine Zeit mehr, die Ko- gleich zwischen Film und Rundfunk einmal zuen- pie zu prüfen. Nachdem die ersten Szenen mit en- de zu denken.«29 Beide, so argumentierte Kurt Weill, thusiastischem Beifall aufgenommen worden waren, werden aus Quellen gespeist, die außerhalb ihres versagte mehr und mehr der Ton, bis er ganz aus- Bereichs liegen: der Film aus Theater und Varieté, fiel. Die Veranstaltung ging in Gelächter und Pro- der Rundfunk aus Musik und Sprechkunst. Da sich testen unter. beide an ein großes Publikum wenden, geht es dar- um, jeweils neue Prägungen der alten Volksvergnü- Die Herren der UFA erklärten daraufhin den Herren gungen zu entwickeln. Alles muss angenehm un- aus Zürich, dass sie nicht länger daran interessiert terhaltend oder allenfalls belehrend sein. Während seien, ihre Option auf die Weltrechte aufrechtzuer- beim amerikanischen Groteskfilm zum Beispiel, »in halten. An dieser Stelle steht in den Erinnerungen der geistreichen Verbindung beider Arten«, der Be- von Hans Vogt, erschienen 1954 im Selbstverlag, griff einer wirklich eigenen Filmkunst bereits däm- ein Satz, der seine große Enttäuschung nicht ver- merte, ist der Rundfunk als Unterhaltungsmittel vor- bergen kann: »Ich fasste damals den für mich au- läufig nur eine neue Institution, die der Vermittlung ßerordentlich schicksalsschweren Entschluss, mich der großen Meisterwerke der Musik und der Lite- infolge dieser geschäftlich so verfahrenen Situati- ratur dient. Aber das Ziel wäre zu niedrig gesteckt, on definitiv an einer Weiterarbeit am Tonfilm zu des- wenn es bei der möglichst idealen Vermittlung von interessieren.«28 Er gründete eine eigene Firma und Meisterwerken bliebe. wandte sich Problemen der aufkommenden Radio- »Was der Film an Neuem gebracht hat: den fortwäh- industrie zu. renden Szeneriewechsel, die Gleichzeitigkeit zwei- er Geschehnisse, das Tempo des wirklichen Le- bens und das übergroße Tempo der Persiflage, die Das absolute Hörspiel marionettenhafte Wahrhaftigkeit des Trickfilms und die Möglichkeit, eine Linie von ihrer Entstehung bis Am 3. Mai 1925 veranstaltete die Berliner Künstler- zu ihrem Übergang in andere Formen zu verfolgen vereinigung »Novembergruppe« in Gemeinschaft – all das – auf akustische Verhältnisse übertragen – mit der Kulturabteilung der UFA eine Matinee mit muss das Mikrophon auch schaffen […]. Und all das dem Titel »Der absolute Film«. Auf dem Programm könnte dann zu einer absoluten Radiokunst führen standen die dreiteilige »Farbensonatine« von Lud- […]. Wir [können] uns sehr gut vorstellen, dass zu wig Hirschfeld-Mack vom Bauhaus Dessau, »Film den Tönen und Rhythmen der Musik neue Klänge ist Rhythmus« von Hans Richter, »Symphonische hinzutreten würden, Klänge aus anderen Sphären: Diagonale« von Viking Eggeling, »Image mobiles« Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Natur- von Fernand Leger, »Entr‘acte« von Francis Pica- stimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen bia und René Clair – sowie die »Lichtspiele Opus und dann ein Heer neuer, unerhörter Geräusche, die 2, 3 und 4« von Walter Ruttmann. Unter den Besu- das Mikrofon auf künstlichem Wege erzeugen könn- chern war auch Kurt Weill, damals 25 Jahre alt, der te, wenn Klangwellen erhöht oder vertieft, überei- ein Jahr zuvor sein Studium an der Akademie der nandergeschichtet oder ineinanderverwoben, ver- Künste als Meisterschüler von Ferruccio Busoni be- weht oder neugeboren werden würden […]. Ob das endet hatte. Er war mit der Vorbereitung der Urauf- führung seines Violin-Konzertes in Paris beschäf- tigt und schrieb nebenbei aktuelle Kolumnen für die 28 Hans Vogt: Die Erfindung des Tonfilms (Anm. 20), S. 87. Zeitschrift »Der Deutsche Rundfunk«. Am 28. Juni 29 Kurt Weill: Möglichkeiten absoluter Radiokunst [1925]. In: Ders.: 1925 erschien dort sein Beitrag »Möglichkeiten ab- Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main 1975, S. 127. Naber: Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film 15 eine Utopie bleiben wird, hängt von den Fortschrit- aufführung verging, wurde viel über den Film ge- ten der Technik ab.«30 schrieben und ein großer Erfolg begann sich abzu- zeichnen. Die Uraufführung von »Die Sinfonie der Die Technik hatte inzwischen das Ihre getan, die Großstadt« fand am 23. September 1927 im Berli- Entwicklung des Tri-Ergon-Tonfilm-Verfahrens war ner Tauentzien-Palast statt. abgeschlossen.

Der wirtschaftliche Durchbruch ließ jedoch auf sich warten. Walter Ruttmann dachte, während er Werbefilme für Pinschewer drehte, über seine gro- ße Sehnsucht nach, »aus lebendigem Material zu bauen, aus den millionen- fachen, tatsächlich vorhan- denen Bewegungsenergien des Großstadtorganismus eine Film-Sinfonie zu schaf- fen.«31 Eines Tages erzählte er beim Sechstagerennen Karl Freund, dem Leiter der Fox-Europa-Produktion, »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt«. Quelle: Deutsches Filminsti- von seiner Idee und hatte tut, Frankfurt. einen Produzenten gefun- Walter Ruttmann. den. Er begann mit den Die Kritiker zeigten sich besonders von der mu- Quelle: Vorbereitungen, sammelte sikalischen Struktur beeindruckt und A. Krasz- Deutsches Filminstitut, Frankfurt Motive, probierte eine klei- na-Krausz glaubte sogar, vier sinfonische Sätze ne Kamera aus und gewann erkannt zu haben: 1. Erwachen der Stadt, 2. Der Edmund Meisel, den Komponisten von Eisensteins Anlauf und die Arbeit des Vormittags, 3. Mittagsrast »Panzerkreuzer Potemkin« für die Musik. Bald stand und Nachmittagstempo, 4. Feierabend und Gros- die Konzeption fest und Ruttmann begann zu dre- stadtnacht.33 Dazu schrieb der Komponist Edmund hen, das meiste nach einem festen Plan, aber er Meisel im »Film-Kurier«: »Ich habe mich bemüht, sammelte auch Unvorhergesehenes, machte Auf- mit möglichst großer Objektivität den Rhythmus nahmen mit einer unter Lastwagenplanen versteck- und die Melodie jedes Vorganges dieses schon an ten Kamera. Was sich nicht ergab, wurde inszeniert. sich musikalisch aufgebauten Films niederzuschrei- Walter Ruttmann schrieb in der »Licht-Bild-Bühne«, ben […]. Die Uraufführungskopie ist für ein Orches- wie sein Berlin-Film entstand: ter von 75 Mann geschrieben, gleichwohl liegt im »Tag für Tag fuhr ich mit meinem Aufnahmewa- Druck eine Bearbeitung für kleinere Besetzungen gen durch die Stadt, um bald im Westen den ver- vor, denn diese Sinfonie soll nicht nur zu großen Pre- wöhnten Kurfürstendammbewohner zu überlisten, mieren, sondern überall und immer wieder gespielt bald im Scheunenviertel ärmstes Berlin einzufan- werden können.«34 So wurde es bei den weiteren in- gen. Täglich wurden die Aufnahmen entwickelt und ternationalen Uraufführungen in Salzburg, London, ganz langsam, nur für mich sichtbar, begann sich Prag, Paris und Tokio wohl auch gemacht. Denn der erste Akt zu formen. Nach jedem Schnittver- Ruttmanns Film war ein Film mit Musik, mit Orches- such sah ich, was mir noch fehlte, dort ein Bild für ein zartes Crescendo, hier ein Andante, ein blecher- ner Klang oder ein Flötenton, und danach bestimm- te ich immer von neuem, was aufzunehmen und was 30 Ebd. für Motive zu suchen waren – ich formte mein Ma- 31 Walter Ruttmann: Wie ich meinen Berlin-Film drehte. In: Licht- nuskript dauernd neu während der Arbeit […]. Beim Bild-Bühne (Berlin), Nr. 241, 8.10.1927. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 80. Schneiden zeigte sich, wie schwer die Sichtbarma- 32 Ebd. chung der sinfonischen Kurve war, die mir vor Au- 33 A. Kraszna-Krausz: Berlin. In: Filmtechnik (Halle), Nr. 22, gen stand.«32 29.10.1927. Zit. n. Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 28. 34 Edmund Meisel über seine BERLIN-Musik. In: Film-Kurier (Ber- Im Juni 1927 wurde der Film, wie damals üblich, von lin), Nr. 222, 20.9.1927. Zit. n. Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann der Zensur freigegeben. In der Zeit, die bis zur Ur- (Anm. 12), S. 116. 16 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) terbegleitung, kein Tonfilm. Doch das beeinträchtig- lin Furore gemacht und Kurt Weill auf völlig neue te den allgemeinen Beifall nicht. Ruttmann war als Ideen zum Thema Radiokunst gebracht hatte. Rutt- Film-Regisseur etabliert, mehr noch, seine hoch ge- manns Drei-Minuten-Film war nach der Berliner lobte Musikalität wies bereits über das Stummfilm- Premiere von der Kestner-Gesellschaft in Hanno- Genre hinaus. ver gezeigt worden, von der Film-Society in London und von der Niederländischen Film-Liga in Amster- Wo blieb der Tonfilm? Die UFA war am 5. März dam, einmal mit Klavierbegleitung, ein anderes Mal 1927 in den Besitz des Hugenberg-Konzerns über- mit Trommel-Untermalung. Für die Baden-Bade- gegangen. Die Tonfilm-Patente fielen damit an die ner Veranstaltung, die der Film-Musik gewidmet Schweizer Tri-Ergon Gesellschaft zurück. Die Ate- war, hatte Hanns Eisler eine Original-Begleitmusik liers in Weißensee wurden an eine Wäscherei ver- für Kammerorchester, für zwei Klarinetten, Trompe- kauft, die technischen Geräte in einem Schuppen te und Streichtrio komponiert. Es gab zwei Vorfüh- untergestellt. rungen. Bei der ersten wurde die stumme Original- Version von Ruttmans Film gezeigt, dazu spielte das Unterdessen arbeitete in Amerika die Film-Firma Kammerorchester Eislers neue Musik, dirigiert von »Warner Brothers« in Verbindung mit dem Elektro- Paul Gergely. Die Sensation war die zweite Vorfüh- Konzern »Western Electric« mit Hochdruck an der rung, die sich an die erste unmittelbar anschloss. Im Entwicklung der sogenannten »Vitaphone-Filme«. Programmheft stand: »Derselbe Film mit derselben Sie beruhten mit einer verbesserten Elektroakus- Musik, aufgenommen durch das Tri-Ergon-Verfah- tik auf der bereits bekannten Kombination von Film ren.«36 Der Dirigent und die Musiker überließen das und Schallplatten. Der Film »Singing Fool« mit dem Podium Guido Bagier. Dieser führte die eigens für Jazzsänger Al Jolson war ein großer Erfolg, was diesen Zweck hergestellte Tonfilm-Version vor. Der William Fox, den Chef der Konkurrenz-Firma »Fox- Tri-Ergon-Chef wusste natürlich, dass im Baden- Film-Corporation« veranlasste, der daniederliegen- Badener Auditorium nicht nur viele berühmte Kom- den Tri-Ergon-Gesellschaft in Zürich für 200.000 ponisten saßen, sondern auch die Herren vom Film Schweizer Franken in bar die amerikanischen Rech- und vom Rundfunk, so dass er hoffte, sein Coup te an den Tri-Ergon-Patenten abzukaufen. »Diese entfalte die gewünschte Wirkung. Einnahme versetzte die Zürcher Tri-Ergon-AG in die Lage, den Erfindern eine letzte Abfindung von Im Frühjahr 1928 erhielt die Tri-Ergon-Musik AG von je 21.000 Reichsmark zu zahlen, und damit war den der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft den Auftrag, zur Tri-Ergon-Männern ihr Lebenswerk wirtschaftlich Eröffnung der »Grossen Deutschen Funkausstel- endgültig entglitten.«35 William Fox verkaufte bald lung« im August einen Film über den Rundfunk zu darauf seine Tri-Ergon-Rechte für 3 Millionen Dollar drehen, und zwar einen Tonfilm. Bagiers Rechnung an den Konzern »Western Electric«, der daraus das war also aufgegangen. Walter Ruttmann sollte die System »Movieton« entwickelte, das fortan bei der Regie übernehmen, Edmund Meisel die Musik kom- Tonfilmproduktion in Amerika führend sein sollte. ponieren. Der erste abendfüllende deutsche Tonfilm stellte unter dem lapidaren Titel »Deutscher Rund- In den Studios in Berlin-Mariendorf war die Tri-Er- funk« ein neues Medium dar, das selbst ohne Bilder gon-Musik AG, wie sich die Firma jetzt nannte, auf auskommen musste. Produktion: Tri-Ergon-Musik die Produktion von Schallplatten ausgewichen. A.G. Berlin, im Auftrag der Reichs-Rundfunk-Ge- Aber der künstlerische Leiter Guido Bagier wollte, sellschaft; Produktionsleitung: Guido Bagier, Hans die Entwicklung in Amerika vor Augen, nicht län- Conradi; Technische Leitung: Joseph Masolle; Ka- ger auf die Gelegenheit warten, seine Tonfilmpläne mera: Reimar Kuntze, Béla Balázs, Paul Holzki; zu verwirklichen. Er entschloss sich, Tatsachen zu Ton: Karl Brodmerkel; Musik: Edmund Meisel; Re- schaffen. Bereits am 16. Juli 1927, also noch vor der gie: Walter Ruttmann. Die Uraufführung fand am 31. Premiere des »Berlin«-Films, wurde in Baden-Ba- August 1928 zur feierlichen Eröffnung der 5. »Gros- den, im Rahmen des Kammermusik-Festivals, Wal- sen Deutschen Funkausstellung« am Kaiserdamm ter Ruttmanns erster Tri-Ergon-Tonfilm uraufgeführt und der Produzent Guido Bagier selbst erklärte dem staunenden Publikum die neue Produktionstech- nik. Den Film allerdings kannten die Eingeweihten schon, es handelte sich um Ruttmanns »Lichtspiel 35 Hans Vogt: Die Erfindung des Lichttonfilms. In: Deutsches Mu- seum. Abhandlungen und Berichte 32(1964), H. 2, S. 49. Opus 3«, uraufgeführt in jener berühmten Matinee 36 Deutsche Kammermusik Baden-Baden 1927–1929. SWF/Theater »Der absolute Film«, die zwei Jahre zuvor in Ber- Baden-Baden 1977, S. 10. Naber: Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film 17 in Berlin statt; weitere Aufführungen folgten im Tau- punktische Zusammensetzung […] dann die Bild- entzien-Palast unter dem Titel »Toki. Der erste Ton- handlung ergeben.«39 Kino-Spielplan der Tri-Ergon-Musik A.G.«. Bei der Eröffnung der Funkausstellung war der Dieser Werbefilm der besonderen Art enthielt laut Film die große Sensation. Ruttmann und der deut- Spielplan des Tauentzien-Palastes folgende Sta- sche Rundfunk waren sich so nah gekommen, wie tionen: 1. Berlin: Im Senderaum der Funkstunde: nie zuvor. Er lernte sehr wahrscheinlich seine Auf- Funkorchester. Ein Hörspiel, Regie: Alfred Braun. traggeber kennen – Hans Bredow, den Vorsitzen- Die Funkoper mit Cornelius Bronsgeest. Verfas- den des Verwaltungsrats der Reichs-Rundfunk-Ge- sungsfeier. Reichpräsident Hindenburg. Potsda- sellschaft, deren Vorstände, den Ministerialrat a. D. mer Platz. Lunapark und Wellenbad. 2. Königsberg: Heinrich Giesecke und Dr. Kurt Magnus, Direktor Der östlichste Sender des Reiches. 3. Leipzig: Völ- der VOX AG, aber auch den Intendanten Friedrich kerschlachtdenkmal. Hauptbahnhof. Rotations- Bischoff, der sich einen Namen als Hörspielregis- Schnellpresse. 4. Breslau: Der Dichter Hermann seur gemacht hatte. Bischoff und Ruttmann ver- Stehr. Schlesische Landschaft mit Schlesierlied. band das gemeinsame Interesse an den vielfachen Spieluhr Friedrichs des Grossen. Oberschlesi- Nutzungsmöglichkeiten der Licht-Ton-Technik; viel- sche Knappenkapelle. Weberei. 5. Hamburg: Ha- leicht ist bei dieser Gelegenheit auch über Bredows fen. Werft. Bei Hagenbeck in Stellingen. Ausfahrt Plan gesprochen worden, mit dieser Technik Hör- der »Deutschland«. 6. München. Kreuzeckbahn. spiele zu produzieren, um herauszufinden, ob sie Zugspitze. Bergwacht. Schnadahüpfl. Schuhplatt- auch für den Rundfunk geeignet sei. ler. 7. Stuttgart: Architektur. Historische Szene im Schloss. Schwarzwaldmotive. Rheinfall bei Schaff- Mit der Gründung der Tobis, der Ton-Bild-Syndi- hausen. 8. Frankfurt a. M.: Altstadt/Neustadt. kat AG, zu der sich die Tri-Ergon-Musik AG und die Frankfurter Rundfunkorgel. Rheinfahrt. 9. Köln: holländischen Küchenmeister-Gruppe mit Unter- Kölner Dom. Schwebebahn. Elberfeld. Industrie: stützung vor allem der Commerzbank zusammen- Zeche, Walzwerk, Dampfhammer, Fried. Krupp A.G. geschlossen hatten, war es gelungen, die Licht- Der Kölner Dom bei Nacht. Ton-Technik auf eine wirtschaftlich solide Basis zu stellen. Am 22. September 1928 wurde Guido Ba- Die Zeitgenossen erinnerten sich vor allem an ein- gier als künstlerischer Leiter der Tonfilm-Produkti- drucksvolle Tonaufnahmen der Natur- und Indus- on in den Vorstand der Tobis berufen.40 Auf den Ton- trieszenen. Pudowkin, der Ruttman besuchte, sah film-Regisseur Walter Ruttmann wartete bereits der in dessen Atelier zum ersten Mal einen Tonfilm und nächste Auftrag: »Die Hamburg-Amerika-Linie hat war ebenfalls von den Tierstimmen und Maschi- [bei] der letzten Weltreise ihres Dampfers ‚Resolute‘ nengeräuschen stark beeindruckt.37 In einem De- tail allerdings widersprachen sich die Zeitgenossen. Während nach der Premiere im »Berliner Tageblatt« zu lesen war, der Film werde strukturiert durch die 37 Herbert Ihering: Berlin. Die Sinfonie der Großstadt. In: Berliner verschiedenen Ansager der Rundfunksender, die Börsen-Courier, Nr. 448, 24.9.1927. Zit. n. Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 33. als »tönende Zwischentitel« fungierten, hat Rena- 38 Renate Gleißberg: Walter Ruttmann – Ein deutscher Avantgardist. te Gleißberg dreißig Jahre später herausgefunden, Deutsches Institut für Film und Fernsehen München. Abschlussarbeit dass diese Funktion von einer Feuerwehrkapel- Sommersemester 1958. Typoskript, S. 16. Zit. nach Jeanpaul Goer- gen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 50. le wahrgenommen wurde: »Die einzelnen Schau- 39 Edmund Meisel: Der Tonfilm hat eigene Gesetze. In: Die Film-Mu- plätze wurden durch eine Feuerwehrkapelle ver- sik, Nr. 28, Beilage zu: Film-Kurier (Berlin), 13.9.1928. Zit. nach Jean- bunden, die mit Pauken und Trompeten durch eine paul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 33. Stadt marschierte und an jedem neuen Schauplatz 40 »Die eigentliche Erfindergemeinschaft ‚Triergon‘ war schon 1925 aufgelöst worden. […] Am 13. August 1928 wurde mit einem Kapital der Handlung erschien. Sie war das einzig verbin- von 12.000.000 Reichsmark die Ton-Bild-Syndikat AG gegründet, in dende Element in diesem Film und gab den einzel- die von den Schweizern die Tri-Ergon-Patente eingebracht wurden. nen Episoden als Leitmotiv einen gewissen Zusam- Masolle wurde technischer Direktor des Unternehmens. Am 3. März 1929 vereinigten sich Tobis und Klangfilm zu einer Art Interessenge- menhalt.«38 Für den Komponisten Edmund Meisel meinschaft […]. Der Patentkrieg mit den außerdeutschen Firmen, ins- konnten alle diese Elemente durchaus zur Partitur besondere mit den Amerikanern, wurde am 22. Juli 1930 in Paris durch des Films gehören, die »nicht etwa aus Noten, son- eine regionale Aufteilung der Arbeitsgebiete beigelegt […]. Lediglich dern aus Bildern, Bildtexten, Geräuschtönen, Mu- am 31. März 1934 sah man die drei Erfinder noch einmal beieinander, als ihnen in einer Sitzung der Deutschen Kino- technischen Gesell- siktönen, gesprochenen und evt. auch gesungenen schaft die von Oskar Meßter gestiftete Meßter-Medaille überreicht Texten bestehen [muss], deren Auswahl und kontra- wurde.« Hans Vogt: Die Erfindung des Tonfilms (Anm. 20), S. 88. 18 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) einen Film vom Leben der Menschen auf der Erde nach Paris, um für dessen Film »La fin du monde« gedreht und dabei auch viel nationales Musik-Mate- die Tonaufnahmen zu realisieren. rial gesammelt. Dieser Film wird in Zusammenarbeit mit dem Tonbild-Syndikat unter der Produktionslei- tung von Dr. Guido Bagier als großer internationaler Radiokunst vom Schneidetisch Tonfilm deutschen Ursprungs herauskommen. Die Bearbeitung liegt in den Händen von Heinrich Mut- An dieser Stelle, also auf dem Höhepunkt seines zenbecher, dem Leiter der Expedition, und Walter Ruhms und seines Erfolges, taucht in Ruttmanns Ruttmann. Die Titel verfasst der Frankfurter Dich- Werkverzeichnis ganz unverhofft das Hörspiel ter Alfons Paquet, die Komposition der verbinden- »Weekend« auf. Auftraggeber sind die Reichs- den Musik hat Wolfgang Zeller übernommen.«41 Das Rundfunk-Gesellschaft und die Berliner Funkstun- Projekt »Melodie der Welt« war von der Hapag als de. Die Uraufführung ist anlässlich der Fünfjahres- Stummfilm begonnen worden. Für die notwendigen feier der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft am 15. Mai Nachaufnahmen mit der Tonfilmkamera unternahm 1930 vorgesehen. Bredows Tonfilm-Hörspiel-Of- Ruttmann als erstes eine Dampferfahrt von Ham- fensive hatte etwas Zeit gebraucht, gute zwei Jah- burg nach Southampton. Dann drehte er im Ate- re von der Beschlussfassung bis zur Durchführung. lier eine Rahmenhandlung mit einem Matrosen, der Dass es sich um eine längerfristige Planung han- stellvertretend für die Zuschauer die Welt erfährt. delte, ging auch aus der Vorankündigung hervor, die Nach sechsmonatiger Arbeit war aus dem Werbe- drei Monate vor dem geplanten Uraufführungster- film, den die Hapag bestellt hatte, ein Film über das min im »Film-Kurier« erschien: Leben der Menschen auf Erden geworden, wie Rutt- »Walter Ruttmann wird dieser Tage in Mariendorf mann es sah. ein von ihm verfaßtes photographisches Hörspiel WEEKEND aufnehmen, das vom Reichrundfunk und Im Programm der »Deutschen Kammermusik« in der Funkstunde, von Dr. Magnus und Funkintendant Baden-Baden ging es 1929 erneut um den Ton- Dr. Flesch, in Auftrag gegeben ist. Das Hörspiel wird film. Walter Ruttmann war mit dem ersten Akt sei- in einer großen öffentlichen Veranstaltung, die vo- ner »Melodie der Welt« vertreten, gemeinsam mit raussichtlich im Herrenhaus stattfinden wird, zum seinem Komponisten Wolfgang Zeller, der ebenfalls Vortrag gelangen und gleichzeitig auch von ande- in Baden-Baden kein Unbekannter war. Außerdem ren Sendern zu Gehör gebracht werden. Ruttmann, leistete sich Ruttmann in diesem Sommer einen der seine Folge von sechs Hör-Szenen in drei Ta- kleinen Scherz, als er für die Tobis den 10-Minuten- gen aufnehmen will, wird mit Dilettanten und nicht Film »Des Haares und der Liebe Wellen« inszenierte, mit Schauspielern arbeiten und neben den Tona- einen Sketch über einen Friseursalon, mit der Musik telieraufnahmen auch Außenaufnahmen in Berliner von Werner Richard Heymann, dem damaligen Star Fabriken, Untergrundbahnhöfen usw. machen. Wir der gehobenen Unterhaltungsmusik. bringen im folgenden den von Ruttmann skizzierten Verlauf des Hörspiels, das akustisch die Vorgänge Im September fand auf Schloss La Sarraz in der des Wochenendes von der Beendigung der Arbeit Schweiz der erste »Kongreß des unabhängigen am Sonnabend bis zum Wiederbeginn der Arbeit Films« statt. Die Delegierten aus fünfzehn Län- am Montag wiedergibt.43 dern, darunter Sergej M. Eisenstein , Alberto Caval- canti und Béla Balázs sowie als deutsche Vertreter Es folgte ein professionelles Treatment, im Hinblick Hans Richter und Walter Ruttmann, waren sich dar- auf die Länge des Films mit sechs Phasen in elf Mi- über einig, dass der »internationalen, volksverdum- nuten, fast schon ein Drehbuch. Lotte Eisner veröf- menden, die Absicht der Künstler vergewaltigenden, fentlichte am 1. März 1930, also zweieinhalb Monate den Kitsch diktierenden kapitalistischen Filmindus- vor der Uraufführung, unter dem Titel »Walter Rutt- trie endlich eine weltumspannende Abwehrorgani- sation entgegengebaut werden muss«, wie es in einer Resolution heißt.42 Unter Ruttmanns Vorsitz 41 Ein Internationaler Kultur-Tonfilm der Hapag. In: Germania (Berlin), beschäftigte sich eine Kommission mit den Sta- 30.9.1928. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), tuten für eine »Internationale Genossenschaft des S. 34. unabhängigen Films«. Nach deren Gründung wur- 42 La Sarraz. In: Film und Volk (Berlin), H. 8, Oktober 1929. Zit. nach de Ruttmann in den provisorischen Verwaltungs- Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 37. 43 Ruttmanns photographisches Hörspiel. In: Film-Kurier (Ber- rat gewählt. Anschließend folgte er einem Ruf des lin), Nr. 41, 15.2.1930. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann berühmten französischen Regisseurs Abel Gance (Anm. 12), S. 130. Naber: Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film 19 mann schneidet ein Film-Hörspiel« im »Film-Ku- ball!«. Einen Tag nach der internen Vorführung der rier« einen interessanten und sachkundigen Werk- »akustischen Filme« schrieb Lotte Eisner im »Film- stattbericht: Kurier«: »Statt des Optischen nur Aufnahme des Akusti- »Ruttmanns WEEKEND ist demgegenüber filmisch schen. In Montage Wiedergabe von Geräuschen, bewußt für den Filmstreifen geschaffen. Ansätze die das Wochenende einleiten, die dann über die aus seiner MELODIE DER WELT, dem Tonfilm, füh- einzelnen Phasen – ‚dem Jazz der Arbeit‘ – ‚Feier- ren hinüber zu dem ganz anderes anstrebenden Nur- abend‘ – ‚Fahrt ins Freie‘ – ‚Pastorale‘ – ‚Wiederbe- Akustischen. WEEKEND: die vieltönige Gestaltung ginn der Arbeit‘ – ‚Jazz der Arbeit‘ – zum Wochenan- des Arbeitsausklanges am Sonnabend, abklingen- fang herüberführen. Ruttmann hat dieses Hörspiel der Jazz der Arbeit; Daseinsglück der Menschen in drei Tagen der vergangenen Woche aufgenom- am Sonntag, Ausflügler, Musikverein, spielende men. Er hat im Atelier, auf dem Hof des Ateliers ge- Kinder, Liebende. Bis am Montag früh mit dem gel- arbeitet. Mit Dilettanten anstelle von Schauspielern; lenden Wecker, dem ersten unmutigen Gähnen wie- mit Menschen, die er zufällig von der Arbeit fortho- der – Kreislauf des Geschehens – die Melodie der len ließ, hat er ein paar Worte, Redewendungen, Arbeit einsetzt. Ruttmann, der von Musikalität Ge- Sprachfetzen, Lieder, Spiele aufgenommen. ‚Denn leitete, denkt intensiver in Tönen, als der bilderfüllte für die natürliche Lautwiedergabe kann ich nur na- Bischoff […]. Sein Film – gegen 250 Meter lang, ge- türliches Material gebrauchen‘, erklärt er. Zu Außen- genüber dem fast vier mal so langen Film des Bres- aufnahmen ist er in Berlin herumgewandert mitsamt lauer Funkintendanten – ist bedingt durch Montage: einem fahrbaren Aufnahmewagen und seinem Mi- 240 Einzelteile sind zu diesen 250 Metern zusam- krofon. Auf Hochbahntreppen, bei der Eisenbahn, mengesetzt worden […].« in Fabriken hat er Geräusche, die er brauchte, auf- genommen. Und jetzt beginnt für ihn die Hauptar- Mit dem Urteil hält sich die Cineastin Lotte Eisner beit: das Schneiden – die Montage […]. Da liegt eine zurück: »Müßig zu fragen, welcher Weg der richti- Menge Material auf dem Schneidetisch, zum Teil gere ist, weil beide Arbeiten nur erste Experimente bereits geschnitten und sorgfältig mit einem Zet- sind, die sich noch auszuwirken haben«.45 tel versehen […]. Aber obschon sich Ruttmann aus- kennt in seinen Tonbildern, gibt natürlich das Abhö- ren den Ausschlag. Drei Magna-Vox-Lautsprecher Das Ende der Experimente stehen im Abhörraum, gekoppelt mit der Vorführ- maschine, in der die paar Meter in der Trommel sind, Während die Nationalsozialisten 1932/33 Schlüs- die vorgeführt werden sollen. Ruttmann hört sich selpositionen in der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft ein Stück Rohmaterial an, ein Streifen mit Tierlau- besetzten und mehrere führende Mitarbeiter verhaf- ten vom Gackern der Hühner bis zum Grunzen von tet wurden, drehte Walter Ruttmann in Italien einen Schweinen; […] Gläserklingen, das überblendet in Film über die Stahlarbeiter von Terni, nach einem Gänsegeschnatter, das überblendet in Kuhglocken, Manuskript von Luigi Pirandello. Nach der Rück- in Läuten von Dorfglocken, bis die Fabriksirene un- kehr aus Italien drehte Walter Ruttmann Werbefilme terbricht, die Klangassoziation zerreißt […].«44 für den Reichsbauernführer über altgermanische Bauernkultur und über die Grundlagen zum neuen Jetzt wird klar, dass Bredow zwar den Titel »Week- Reich. Zwischendurch arbeitete er bei Leni Riefen- end« vergessen hatte, als er, dreißig Jahre spä- stahl an deren »Triumph des Willens« mit. Ein ande- ter, für seinen Freund Bischoff die Geschichte rer Mitarbeiter Riefenstahls, Leo de Laforgue, sel- aufschrieb, aber er erinnerte sich genau an hervor- ber Autor eines Berlin-Films, schrieb damals über stechende Details der Produktion, die mit dem Er- Ruttmanns »Symphonie der Großstadt«: »Wir sa- wachen eines Bauernhofs zu tun haben. Wieder hat- hen schon einmal einen künstlerisch gut gemach- te der Hahn gesiegt. ten Querschnitt des der Arbeit – aber er war

An die Uraufführung am 15. Mai 1930 im Haus des Rundfunks im Rahmen einer Arbeitstagung anläss- lich der Fünfjahresfeier der Reichs-Rundfunk-Ge- 44 -ner [= Lotte H. Eisner]: Walter Ruttmann schneidet ein Film-Hör- sellschaft schloss sich ein paar Wochen später die spiel. In: Film-Kurier (Berlin), Nr. 33, 1.3.1930. Zit. n. Jeanpaul Goer- Ursendung in Berlin und Breslau an. Das Programm gen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 131. 45 L. H. Eisner: Reichsrundfunk sendet akustische Filme. In: Film- hatte den Titel »Hörspiele auf Tonfilmen«, und ent- Kurier (Berlin), Nr. 116, 16.5.1930. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter hielt auch Bischoffs Hörspiel »Hallo! Hier Welle Erd- Ruttmann (Anm. 12), S. 132. 20 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) allzu sehr mit russischen Akzenten gespickt.«46 Der Vorwurf des Kulturbolschewismus holte Ruttmann wieder ein. 1935 wurde Ruttmann Angestellter der UFA-Werbefilm-AG, aber in den PR-Broschü- ren, in denen die UFA ihre Glanzlichter präsentier- te, kam Ruttman nicht mehr vor. Er drehte für sei- ne Firma Städteporträts über Düsseldorf, Hamburg und Stuttgart; einen Film für die deutsche Gesell- schaft zur Rettung Schiffbrüchiger; Filme über die Industriekonzerne Mannesmann, Bayer und Hen- kel; über die Deutschen Waffenschmieden und die Deutschen Panzer. Als letztes war ein Film über die Deutsche Post geplant. Walter Ruttmann schlug sich durch und starb am 15. Juli 1941 an den Fol- gen einer schweren Operation.

Nachdem 1930 die Tri-Ergon-Technik, »aus ver- schiedenen Gründen beim Rundfunk nicht zur Einführung gekommen war«, wie Bredow schrieb, dauerte es erneut 15 Jahre, bis 1946 die Magneto- phon-Technik soweit war, dass sie in den Produk- tionsstudios eingesetzt werden konnte. Jetzt hätte John Cage seine Musik aus Geräuschen aufneh- men, schneiden und montieren können.47

46 Leo de Laforgue: Berlin, wie es selbst der Berliner nicht kennt. In: Film-Kurier (Berlin), Nr. 77, 31.3.1934. Zit. nach Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann (Anm. 12), S. 41. 47 Nicht alle Abdruckrechte der Fotografien konnten geklärt werden. Bitte wenden Sie sich mit begründeten Ansprüchen an unsere Redak- tion. Florian Huber

Aus Nazis Demokraten machen?

Re-education im NWDR 1945–1948

Die Mehrheit der Briten war am Ende des Zweiten der in die Gemeinschaft der Völker integriert wer- Weltkriegs der Auffassung, dass sie es bei der Ver- den sollte, dann sei es sicher, »daß wir zuerst und waltung ihrer Besatzungszone in Deutschland mit vor allem streng sein müssen. Wie ein Kind, das von gut 20 Millionen Nazis und halsstarrigen Anti-De- seinen Eltern üble Neigungen geerbt oder sie aus mokraten zu tun haben. Dafür sprachen die von seiner Umwelt aufgenommen hat, so besitzt die der Siegermacht selbst vorgenommenen Erhebun- deutsche Nation einige sehr schlechte Qualitäten. gen. In einer Umfrage, in der heimkehrende Kriegs- [...] Wir müssen daran gehen, die deutsche Gesin- gefangene nach den Chancen der Demokratie in nung umzuschulen.«5 Die Briten traten ihre Besat- Deutschland befragt wurden, sah über die Hälfte zungszeit im besiegten Deutschland also mit hohen der Befragten ein Scheitern voraus: »The reasons Ansprüchen an. Sie sahen sich vor der historisch most widely given for the disbelief in the possibili- einmaligen Aufgabe, eine moderne Industrienation ty of teaching the German people the ‚English‘ way mit – in ihrer Zone – 22 Millionen Menschen von ih- of democracy are that the German national charac- ren fatalen Denkstrukturen zu befreien und für ein ter is not suited to it and that political institutions europäisches Zusammenleben zukunftsfähig zu must grow slowly in the course of history and can- machen. Das war, sehr vereinfacht ausgedrückt, not forcibly be introduced from outside.«1 Aus wei- das Programm der »Re-education«, der politischen teren Umfragen ließ sich die Tendenz ablesen, dass Umerziehung und Demokratisierung. die Einstellung der Deutschen zum Nationalsozia- lismus über Jahre hinweg positiv blieb. Er galt noch Ein strategischer Brückenkopf bei der Besetzung immer als gute Idee, wenn auch vom Regime man- Deutschlands waren die publizistischen Medien gelhaft umgesetzt.2 und besonders der reichweitenstarke Rundfunk, der, parallel zum Aufbau demokratischer politi- Als die Briten Nordwestdeutschland besetzten, führ- scher Institutionen, ein wichtiges Mittel zur Beein- ten sie ihrerseits ein über Jahrzehnte gewachsenes flussung der politischen Mentalität der Deutschen Feindbild mit sich. Michael Balfour, Mitglied der war. Um die Umsetzung des Re-education-Kon- Kontrollkommission, beschrieb in einem mehrsei- zeptes im NWDR zu analysieren, soll zunächst sei- tigen Charakterkatalog das Wesen des Deutschen ne Genese skizziert werden. In England war dieses als ambivalente Mischung aus Obrigkeitsglauben, Konzept aus einer jahrzehntelang geführten Debat- Geltungsdrang und Passivität. Der »Arroganz und te um den Umgang mit den Deutschen hervorge- Aggressivität der Deutschen« stellte er ihre »Unter- gangen. Auf dieser Grundlage lässt sich nachvoll- würfigkeit in der Niederlage« gegenüber. Der »Man- ziehen, wie und weshalb die Briten Umerziehung im gel an innerem Selbstvertrauen« sei bei den Deut- Rundfunk weniger als inhaltliche und mehr als ord- schen Grund für ihre »Unfähigkeit, Kritik zu ertragen oder Fehler zuzugeben.«3 Im November 1944 war an die vorrückenden britischen Soldaten ein Taschen- führer über Geschichte und Charakter der Deut- schen verteilt worden. Er belehrte darüber, wie die- 1 ISC Branch: Special Survey on the Reactions of German POWs on sen zu begegnen war: »Be fair and just, but don’t be their Return to , August 1947, S. 14. National Archives London. soft«. Die Autoren ließen keinen Zweifel daran, dass Public Record Office (PRO). Foreign Office (FO). 1056/93. die Deutschen so, wie sie waren, nicht bleiben durf- 2 Isaac Deutscher: Reportagen aus Nachkriegsdeutschland. Ham- 4 burg 1980, S. 181. ten: »The Germans have much to unlearn.« 3 Michael Balfour: Vier-Mächte-Kontrolle in Deutschland 1945– 1946. Düsseldorf 1959, S. 83 ff. Das Bewusstsein des Siegers äußerte sich im Kon- 4 Germany. o. O. 1944; Zitate, S. 5 und S. 2. zept der »Umerziehung« als das eines Lehrmeisters, 5 British Zone Review, 27.10.1945; zit. n. Michael Tracey: Das uner- reichbare Wunschbild. Ein Versuch über Hugh Greene und die Neu- der einem verwahrlosten Schüler mit Unnachgiebig- gründung des Rundfunks in Westdeutschland nach 1945. Köln u. a. keit gegenübertritt. Wenn Deutschland jemals wie- 1982 (= Annalen des Westdeutschen Rundfunks, Bd. 5), S. 30. 22 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) nungs- und personalpolitische Aufgabe begriffen durch. Deutschlands »Erziehung« beschränkte sich und praktizierten. Trotzdem und gerade deswegen auf die militärische Niederlage und die »Strafe« des setzte das NWDR-Programm in der britischen Pha- Versailler Friedensvertrags. Mit einem gewissen Fa- se des Senders im Sinne der Re-education neue talismus betrachtete man die Deutschen weiter als journalistische Standards und begann, selbst die unverbesserliche Kriegstreiber mit Rachegelüsten: unbequemen Themen der jüngsten Vergangenheit »If the Germans were to be given an army tomor- aufzurollen. Zum Schluss soll das pessimistische row, [...] they would immediately begin a war of re- Fazit der Briten über ihre eigenen Umerziehungser- venge.«9 Das Bedürfnis nach langfristiger Sicherheit folge anhand der weiteren Entwicklung des NWDR vom deutschen Aggressor war durch den diploma- beurteilt werden.6 tischen Abschluss des Ersten Weltkriegs in Versail- les nicht befriedigt.

Wiederbelebung einer alten Debatte Bis zum nächsten Krieg sollten sich die britisch- deutschen Beziehungen zwischen den Koordinaten Der Diskurs über den verderblichen Charakter der von Kriegsschuldfrage und Versöhnung, von Aufrüs- Deutschen war zu Ende des Zweiten Weltkriegs tung und Appeasement bewegen. Doch auch wenn schon ein halbes Jahrhundert alt. Ab 1890 hat- die Überlegungen zum deutschen Nationalgeist te das Deutsche Reich begonnen, sich aggressiv eher eine Fußnote des Ersten Weltkriegs darstel- in den Wettlauf um Weltmacht und Kolonien einzu- len, so ist es doch frappierend, in welcher Klarheit schalten. Von da an galt Deutschland als unbere- zahlreiche Argumente der späteren Re-education- chenbares Sicherheitsrisiko. Die Katastrophe des Debatte vorformuliert waren: die unverbesserlichen »Great War« löste in Großbritannien eine Flutwel- Deutschen mit ihrem Hang zu Militarismus und Ob- le anti-deutscher Stimmung aus, die über die mili- rigkeitsglaube und demgegenüber das ausgeprägte tärische Gegnerschaft hinaus zu einer Abrechnung britische Sicherheitsbedürfnis; die Forderung nach mit dem deutschen Nationalcharakter wurde. Von einer Demokratisierung Deutschlands und gleich- nun an ging es um mehr als den militärischen Sieg: zeitig der Zweifel an einer oktroyierten Demokra- »The changing of Germany becomes a primary war tie; der nationale Charakter der Deutschen als Wur- aim, the primary war aim for the Allies. [...] Change zel allen Übels und zugleich der Glaube, dass nur there must be in Germany; in the spirit in which the eine Erziehung zur Selbsterziehung dieser Wurzel Government is conducted, in the persons who exer- das Gift entziehen könne. Ambivalenz und Miss- cise the control, and in the relative influence of dif- trauen waren die Hauptwesenszüge des britischen ferent classes in the country.«7 Je näher das Ende Deutschlandbildes während der Weimarer Republik. des Ersten Weltkriegs rückte, desto deutlicher ver- Zwar war mit der territorialen, militärischen und wirt- lagerte sich die Diskussion auf das Wesen der Deut- schaftlichen Beschneidung durch die Siegermäch- schen, auf ihren Geist und ihren Charakter. Wenn te das Deutsche Reich nach 1918 fürs erste seines das Kriegsziel lautete, Deutschland dauerhaft zu Drohpotenzials beraubt. Zudem hatte die Ablösung verändern, so war es nicht damit getan, bei der Re- der wilhelminischen Elite eine parlamentarisch legi- gierung oder der Verfassung den Hebel anzuset- timierte Regierung an die Macht gebracht. Jedoch zen, wie ein Memorandum des Political Intelligence blieben Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit der Department wenige Tage vor dem Waffenstillstand Weimarer Ordnung gegenüber den restaurativen 1918 herausstrich: »Even as regards Germany, it is not so much the forms of the constitution as the spi- rit of the nation with which we are at issue.«8 Doch so sehr man sich über den verwerflichen Charakter der Deutschen einig war, der Ansatz, sie zu Demo- 6 Der hier vorliegende Aufsatz beruht auf meiner Dissertation, die unter dem Titel »Re-education durch Rundfunk. Die Umerziehungs- kratie und internationaler Kooperation zu erziehen, politik der britischen Besatzungsmacht am Beispiel des NWDR 1945– stieß gegen Ende des Ersten Weltkriegs auf Wider- 1948« an der Universität Osnabrück angenommen und demnächst auf spruch. Einem anderen Land die eigene Staatsform dem Server der Universitäts-Bibliothek veröffentlicht wird. 7 Report on the work of the Department of Propaganda in Enemy zu diktieren entsprach nicht der Idee vom Selbst- Countries; zit. n. Keith Wilson: Great War Prologue. In: Nicholas Pro- bestimmungsrecht der Völker: »We recognise fully nay und Keith Wilson (Hrsg.): The Political Re-Education of Germany that each nation should be allowed to make for itself and her Allies. London und Sidney 1985, S. 37. the government which suits its history, its charac- 8 PID: The Situation in Germany and Peace Overtures, 3.10.1918; zit. n. Keith Wilson (Anm. 7), S. 50. ter, its ideals«, schrieb A.J. Balfour am 17. Novem- 9 A. J. Balfour in einer Kabinettssitzung vom 1. Juni 1919; zit. n. ber 1917 in der »Times«. Diese Haltung setzte sich Keith Wilson (Anm. 7), S. 51. Huber: Re-education im NWDR 1945–1948 23

Kräften.10 Mit der Machtergreifung Hitlers sahen spitze dafür machte sich die Abteilung für psycho- sich die Zweifler bestätigt. logische Kriegsführung, die Political Warfare Exe- cutive (PWE), was kein Zufall war, da diese sich auf Parallel zu dieser Entwicklung entbrannte in Groß- die Beeinflussung der gegnerischen Psyche spe- britannien der Streit um das Wesen der Deutschen zialisiert hatte. »The changing of Germany«16 war aufs Neue. Auf der einen Seite standen die Funda- bereits 1918 ein Anliegen der Vorläuferinstitution, mentalisten um ihre Galionsfigur, den wortgewal- des Political Intelligence Department (PID), gewe- tigen Chief Diplomatic Adviser aus dem Foreign sen. Auch Churchill und Außenminister Eden waren Office, Robert Vansittart.11 Von Hitler als einem Be- Anhänger des Propaganda-Kriegs. Es konnte also triebsunfall der Geschichte auszugehen – Vansittart keinen günstigeren Zeitpunkt geben, um die Ver- charakterisierte dies als »theory of accident«, die der änderung der deutschen Volksseele als wichtigstes »doctrine of appeasement« zugrundelag12 – ignorie- Projekt auf die Agenda zu heben. re die historische Tatsache, dass die Deutschen seit Generationen unter wechselnden Führern mit allen Damit schloss sich der Kreis, den die Diskussion Mitteln ihren Weltmachtfantasien nachjagten: »Let über das deutsche Volk seit dem Ersten Weltkrieg us make no further mistake about it, we are fighting beschrieben hatte. War schon 1918 das Unbehagen the German Army, and the German people on whom am deutschen Wesen formuliert worden, so fehlte the Army is based. We are fighting the real and not zu diesem Zeitpunkt in Großbritannien der Wille, the ‚accidental‘ Germany.«13 Das Erklärungsmo- daraus ein außenpolitisches Programm zu machen. dell des deformierten deutschen Nationalcharak- Als Deutschland im Zweiten Weltkrieg zum Wieder- ters gab eine Vorlage für das Programm der späte- holungstäter wurde und sich die Appeasement-Di- ren Besatzungspolitik – die Notwendigkeit eines, in plomatie erschöpft hatte, gab es keine Bedenken Vansittarts Worten, »fundamental change of soul«.14 mehr. Die psychologische Kriegsführung hatte sich Auf der anderen Seite standen die Appeasement- im Kampf mit Goebbels’ Propaganda-Maschine Politiker um Premierminister Neville Chamberlain. bewährt. Die Denktradition Vansittarts und die pro- Er war überzeugt, Hitler am Verhandlungstisch zum gressive Schule der Propagandisten konvergierten Einlenken zu bringen, und so präsentierte er im in der Ausarbeitung der britische Besatzungspoli- September 1938 der britischen Öffentlichkeit trium- tik. Der Weg war frei für die Re-education. Der Akti- phierend das Münchner Abkommen. Als jedoch im vismus der britischen Ministerialbürokratie in Bezug Laufe des Jahres 1939 Hitler immer rücksichtsloser auf Nachkriegsdeutschland schlug auf die rund- agierte, wechselte der Premier den Kurs und erklär- funkpolitischen Planungen durch. Bis Kriegsende te Deutschland nach dem Überfall auf Polen den Krieg. Gleichzeitig machte er klar, dass es ein Krieg nur gegen Hitler und seine Nazi-Kamarilla war: »We have no quarrel with the German people except that 10 Vgl. Marie-Luise Recker: Demokratische Neuordnung oder »Prus- they allow themselves to be governed by a Nazi go- sianism« im neuen Gewand? Großbritannien und die Weimarer Repu- vernment.«15 Chamberlain distanzierte sich von ei- blik. In: Adolf M. Birke und Marie-Luise Recker (Hrsg.): Das gestör- ner pauschalierenden Verurteilung der Deutschen. te Gleichgewicht. Deutschland als Problem britischer Sicherheit im 19. und 20. Jahrhundert. München u. a. 1990 (= Prinz-Albert-Studien, Als allerdings die Wehrmacht nach ihren Blitzsiegen Bd. 8), S. 97 ff. Großbritannien selbst bedrohte, fielen die Einfüh- 11 Vgl. Jörg Später: Britische Debatten über Deutsche und Nazis lungspostulate der Appeasement-Fraktion in sich 1902–1945. Göttingen 2003. Zu Vansittarts Rolle in der Re-education- Diskussion vgl. Lothar Kettenacker: The Planning of »Re-Education« zusammen. Mit Churchill und der Luftschlacht um During the Second World War. In: Nicholas Pronay und Keith Wilson England von 1940 hatte der Glaube an ein im Kern (Hrsg.): The Political Re-Education of Germany and her Allies. London gutes Deutschland ausgespielt. und Sidney 1985, S. 60 ff.; Barbara Marshall: British Democratisation Policy in Germany. In: Ian Turner (Hrsg.): Reconstruction in Post-War Germany. British Occupation Policy and the Western Zones 1945–55. Stattdessen fasste eine neue Denkschule Fuß, die Oxford u. a. 1989, S. 189 ff. in den Kategorien von Propaganda und psycho- 12 So die Wortwahl in seinem Memorandum »The Origins of logischer Kriegsführung argumentierte, die über Germany’s Fifth War« vom 8. November 1939. National Archives Lon- don. PRO. FO. 371/22986. Verhandlungstische hinausdachte und den gan- 13 Ebd. zen Charakter einer Nation infrage stellte. Das Ziel 14 Robert Vansittart: Black Record. Germans Past and Present. Lon- war radikal: die Deutschen in ihrem Inneren zu ver- don 1941, S. 54. ändern, auf ihre mentale Grundverfassung einzu- 15 Neville Chamberlain am 1. September 1939; zit. n. Lothar Kettena- cker (Anm. 11), S. 3. wirken und ihnen mit psychologischen Mitteln den 16 Report on the work of the Department of Propaganda in Enemy zerstörerischen Impetus auszutreiben. Zur Speer- Countries; zit. n. Keith Wilson (Anm. 7), S. 37. 24 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) befasste sich eine Reihe von Institutionen in Re- die Deutschen für sich selbst erfinden. Ein solches gierung und Armee mit dem Problem – Psychologi- Konzept verzichtete auf missionarischen Zwang, es cal Warfare Executive (PWE), Psychological Warfa- postulierte kein Management der tausend Gebote, re Division (PWD), Political Intelligence Department sondern ein reduziertes der Fehlervermeidung: »To (PID), Control Office for Germany and -Info- insist that certain things shall not be done, rather mation Services Directorate/Public Relations Direc- than that other things shall be, i.e. lay down what the tore (COGA-ISD/PRD), Joint Committee und Ger- Germans must not do, but otherwise leave them to man Sub-Committee. do what they like.«19 Ganz so liberal wollten die Bri- ten allerdings die Gestaltungsfreiheit der Deutschen nicht halten. Das Konzept der »indirect rule« ging Durchdringung von innen nicht so weit, dass sie auf die mentalen Selbsthei- lungskräfte des jahrzehntelang als kriegstreiberisch Die Vorstellung, dass Re-education nur in einer erlebten Volkes vertrauen mochten. Um ein Volk zur Hilfestellung zur Selbsthilfe bestehen sollte, hatte Demokratie zu bekehren, musste es zunächst die sich 1943 durchzusetzen begonnen. Überzeugung demokratischen Werte verinnerlichen. Es bedurfte als Vehikel zur Umerziehung – damit war die Hand- einer gezielten geistigen Anregung, des »stimulus of lungsmaxime vorgegeben und sie taucht von da an mind on mind.«20 in den Dokumenten immer wieder auf. So erhielt im Januar 1944 das War Cabinet vom Post-Hostilities Beispiel und Vorbild waren ein Weg, den Deut- Planning Committee, einem Gremium des Foreign schen eine Alternative zu ihren Verfehlungen anzu- Office, ein Geheimpapier mit dem Titel »The Re- bieten. Britische Werte auf Deutschland zu projizie- education of Germany«. Darin wird das Credo der ren hieß jedoch nicht, den Deutschen das britische Re-education-Politiker zitiert: »Germans alone can Modell überzustülpen. »Projection of Britain« ziel- re-educate their fellow countrymen.«17 Diesem Ge- te nicht auf Transplantation, sondern auf Stimu- danken lag auch ein ökonomischer Aspekt zugrun- lierung. Vor kulturellem Imperialismus wurde ein- de. Je mehr man den Deutschen zumutete, desto dringlich gewarnt: »No attempts should be made weniger aufgebläht wäre der britische Kontrollap- in the German way to ram the conquerer’s culture parat. Es war das Konzept der »indirect rule«, der down the conquered’s throat.«21 Die Reaktion der in den Kolonialjahrzehnten erprobten Verwaltungs- Besiegten auf eine Bevormundung im Zeichen ei- praxis, die den Postulaten der liberalen Demokra- ner Siegerkultur wurde als hochsensibel eingestuft, tie ebenso entgegenkam wie der Fremdsteuerung eines großen Flächenlandes. Im Geheimpapier von Januar 1944 beschrieb der Verfasser die auf Deutschland gemünztes »indirect rule«: »In order 17 Con O’Neill (Secretary of the Subcommittee of the Post Hostilities Planning Committee): Memorandum »The Re-education of Germany«, to achieve our object, control of German education 27.1.1944. National Archives London. PRO. FO. 371/39093. should aim, on the whole, at being as indirect, invi- 18 Ebd. – Zum Prinzip der »indirect rule« in der britischen Bildungspo- sible and remote as is compatible with its being ef- litik vgl. Rolf Lutzebäck: Die Bildungspolitik der Britischen Militärre- fective. We should appear to guide rather than lead, gierung im Spannungsfeld zwischen »education« und »reeducation« in ihrer Besatzungszone, insbesondere in Schleswig-Holstein und Ham- 18 to influence rather than to initiate.« burg in den Jahren 1945–47. Frankfurt am Main 1991 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 11), S. 97 f. Allerdings lag darin noch kein Schlüssel, um den in- 19 Memorandum »The Re-education of Germany«, 27.1.1944. Natio- nal Archives London. PRO. FO. 371/39093. neren Widerspruch der »Belehrung zur Selbstverant- 20 Robert Birley in seinem Vortrag »The German Problem and the Re- wortung« aufzulösen. Das Potsdamer Rahmenpro- sponsibility of Britain« vom 3. Dezember 1947; zit. n. Kurt Jürgensen: gramm mit seinen vier D-Prinzipien (demilitarisation, Elemente britischer Deutschlandpolitik: Political Re-education, Re- denazification, deindustrialisation, democratisati- sponsible Government, Federation of Germany. In: Claus Scharf und Hans-Jürgen Schröder: Die Deutschlandpolitik Grossbritanniens und on) ließ sich von den Besatzungsmächten als mehr die Britische Zone 1945–1949. Wiesbaden 1979 (= Veröffentlichungen oder minder offener Schlagwortkatalog lesen. Nä- des Instituts für Europäische Geschichte , Beiheft 6), S. 115. here Festlegungen über die Umsetzung gab es 21 Con O’Neill: »Lines for Emergency Plan; Propaganda to Germany after her Defeat«, 6.7.1943. National Archives London. PRO. FO. 898/ nicht, sodass die britische Deutschlandpolitik Ge- 370. – Ausführlich dazu Gabriele Clemens: Britische Kulturpolitik in staltungsspielraum hatte. Der Weg zu einer Demo- Deutschland 1945–1949. Literatur, Film, Musik und Theater. Stuttgart kratisierung Deutschlands führte über die Köpfe 1997 (= Historische Mitteilungen, Beiheft 24), S. 20 ff.; Gabriele Cle- der Menschen, über ihre politische Moral und we- mens: Die britische Kulturpolitik in Deutschland: Musik, Theater, Film und Literatur. In: Dies. (Hrsg.): Kulturpolitik im besetzten Deutschland niger über ihre politischen Institutionen. Aussehen 1945–1949. Stuttgart 1994 (= Historische Mitteilungen, Beiheft 10), und Funktionsweisen ihrer Demokratie mussten S. 200–218. Huber: Re-education im NWDR 1945–1948 25 was sich im späteren Verlauf als zutreffend erwies. grund, die Medien nicht als Proklamationsorgane Ein Volk, das physisch und psychisch am Boden für demokratische Basislektionen einzusetzen. Sie lag, war zunächst mehr mit Fragen des Überle- sollten vielmehr die Deutschen zur aktiven Diskus- bens beschäftigt als mit Fragen politischer Moral. sion ermutigen, ihnen nicht gekannte Gestaltungs- Daher musste der Versuch, ihm Werte wie Verant- räume ermöglichen und so zur Meinungsäußerung wortung und Toleranz nahe zu bringen, möglichst im demokratischen Sinne beitragen: »The changes subtil vonstatten gehen, »so that they may uncons- we made in the media were of course designed to ciously become more accessible to the ideas and ensure free discussion and the free flow of informa- standards for which Britain stands.«22 Mentale In- tion.«26 filtration, unbewusste Lenkung, Anreiz zur eigenen Umsetzung – Re-education war die Fortführung Das »Manual for the Control of German Informati- der psychologischen Kriegsführung mit besat- on Services« vom 16. April 1945 entwarf ein Drei- zungstechnischen Mitteln. Phasen-Modell zum Wiederaufbau der deutschen Medienlandschaft. Die erste Phase war die des »Blackout«, in der alle Zeitungshäuser und Rund- funksender ausgeschaltet werden sollten, denn sie galten als »so rotten in its structure, so thoroughly impregnated with Nazism, and so completely sub- servient to the Propaganda Ministry, that it had to be rooted out, and re-created from the bottom up.«27 Die zweite Phase war die des Neuaufbaus der Me- dien unter Kontrolle der Besatzer, genauer der In- formations Services Control: »All media by which information is conveyed to the Germans.«28 Die drit- te Phase sah einen kontrollierten Übergang in deut- sche Hände vor. Dies stand in engem Zusammen- Britische Mitarbeiter des NWDR vor dem Hamburger Funkhaus (1945). Quelle: Staatsarchiv Hamburg.

22 Papier aus dem Foreign Office: 29.5.1945. National Archives Lon- Der Rundfunk: don. PRO. FO. 898/401. 23 Als erster befasste sich damit Con O’Neill von PWE in seinem Pa- Deutsche sprechen zu Deutschen pier »Lines for Emergency Plan; Propaganda to Germany after her def- eat«. National Archives London. PRO. FO. 898/370; vgl. Kurt Koszyk: Um eine Bevölkerung von 22 Millionen politisch The Press in the British Zone of Germany. In: Nicholas Pronay und Keith Wilson (Hrsg.): The Political Re-Education of Germany and her umzupolen, bedurfte es der multiplikatorischen Allies. London und Sidney 1985, S. 108. Am 24. Februar 1944 stimm- Vermittlung. Die wichtigste Säule, auf die sich die ten die Minister den vom Foreign Office verfassten »guidelines on re- Re-education-Politik stützen sollte, waren die Mas- education« zu, die auf die Rolle speziell des Rundfunks abhoben. Vgl. senmedien. Seit Sommer 1943 wurde deren Rol- Lothar Kettenacker (Anm. 11), S. 68f. 24 Zum Stand der Forschung über die britische Phase des NWDR vgl. le diskutiert, zunächst in den Fachgremien, spä- Arnulf Kutsch: Unter britischer Kontrolle. Der Zonensender 1945–1948. ter auf Kabinettsebene.23 Besonderes Gewicht lag In: Wolfram Köhler (Hrsg.): Der NDR zwischen Programm und Politik. auf Presse und Rundfunk, die den Briten prädes- Beiträge zu seiner Geschichte. Hannover 1991, S. 83–148; Hans-Ul- rich Wagner: Das Ringen um einen neuen Rundfunk: Der NWDR unter tiniert schienen, politische Einstellungen und Wer- der Kontrolle der britischen Besatzungsmacht. In: Peter von Rüden 24 te zu beeinflussen. So sah es die für die künftigen und Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Die Geschichte des Nordwestdeut- deutschen Nachrichtenorgane zuständige Informa- schen Rundfunks. Hamburg 2005, S. 13–84. tion Services Control (ISC) in einer Direktive vom 20. 25 Information Control Directive No 5. National Archives London. PRO. FO. 1005/739. Juni 1945 als Aufgabe der Medien, bei den Deut- 26 Michael Balfour: In Retrospect: Britain’s Policy of ‘Re-education’. schen den Sinn für individuelle Verantwortung zu In: Nicholas Pronay und Keith Wilson (Hrsg.): The Political Re-Educa- wecken.25 tion of Germany and her Allies. London und Sidney 1985; Zitate, S. 146 und 147. 27 Manual for the Control of German Information Services: 16.4.1945. Für die Besatzungsoffiziere, die den Re-educati- National Archives London. PRO. FO. 1056/195. on-Auftrag umzusetzen hatten, war die Reihenfol- 28 Zit. n. David Welch: Priming the Pump of German Democracy. Bri- ge der Mittel eindeutig: »Of the media, the press and tish » Re-Education« Policy in Germany after the Second World War. In: Ian Turner (Hrsg.): Reconstruction in Post-War Germany. British radio were by a long way the most important.« Da- Occupation Policy and the Western Zones 1945–55. Oxford u. a. 1989, bei stand der Re-education-Grundsatz im Vorder- S. 224. 26 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) hang mit dem Re-education-Konzept. Der Blackout teressengruppen oder Parteien. Diese Konstruktion war gedacht als kompromisslose Zäsur für die Neu- hatte sich als tragfähig erwiesen. formatierung des deutschen Mediensystems, »so that they may unconsciously become more acces- In die Planungen der Londoner Behörden über den sible to the ideas and standards for which Britain Neuaufbau des Rundfunks im besetzten Deutsch- stands.«29 Damit waren neben demokratischen Wer- land waren Fachleute der BBC eingebunden. Im ten auch die journalistischen Standards gemeint. Joint PWE/MoI/BBC Reoccupation Committee (ab März 1943) waren Mitglieder des Deutschen Diens- Die Aufgabe der Re-education im Rundfunk sollte – tes der BBC ebenso vertreten wie in dessen Ger- parallel zur direkten Re-education durch den Ger- man Sub-Committee (ab September 1943), das man Service der BBC – in einer indirekten Variante sich mit den Plänen für Medien- und Rundfunkkon- der deutsche Heimatsender (Radio Hamburg bzw. trolle nach Kriegsende befasste. Einer von ihnen war NWDR) übernehmen,30 dies auf der Grundlage von Hugh Carleton Greene, der Leiter von BBC/German Umerziehung mittels Selbsthilfe, indirekter Einfluss- Service. nahme und Überzeugung. Vor allem sollte dieser Sender von Deutschen betrieben werden, da dies Die Besatzungsmacht in der britischen Zone war auf die Voraussetzung für seine Glaubwürdigkeit bei der BBC-Fachwissen und -Personal angewiesen, um Bevölkerung war. Nur so war das Kriterium zu erfül- im NWDR eine journalistische Plattform nach an- len, dass die Deutschen ihre Landsleute selbst poli- gelsächsischem Muster bereitzustellen. Dazu be- tisch erzögen: »Germans would speak to Germans durfte es zugleich einer klaren Abgrenzung durch and take their full share in the re-education of their die »Definition of functions of BBC German Ser- own people.«31 Im Juli 1945 formulierte das Politi- vice and Nordwestdeutscher Rundfunk«. Die Unter- cal Intelligence Department einen Aufgabenkatalog scheidung war weniger eine technische oder thema- für den Rundfunk: »The essential task is to provide tische, sondern eine der Perspektive: Der britische , talks and features of the type which serve the Sender BBC sollte eine erkennbar englische Hal- ends of British reconstruction and education policy, tung zu politischen Themen einnehmen, der deut- at first under close control and later through Ger- sche NWDR eine erkennbar deutsche. Für die inhalt- mans working under more general supervision. Ra- liche Ausrichtung beider Sender galt die Maßgabe dio Hamburg will be the first training ground for a der Re-education-Politik. Sollte sich der NWDR als German Home Service, where the news writers, en- demokratisches Element etablieren, so musste der tertainment producers, speakers and talks editors Eindruck vermieden werden, es handle sich um ei- of the future will be tested.«32 Im September wur- nen Propagandasender von britischen Gnaden. de der Sender von »Radio Hamburg« umbenannt in Keinesfalls durfte die Erziehungswirkung durch pe- »Nordwestdeutscher Rundfunk«. Die Briten wollten netrante Belehrungen diskreditiert werden: »Nord- also einen einheitlichen Sender für ihre Zone auf- must not be too obvious- bauen, und dieser sollte an das Identifikationsge- ly concerned with the re-education of the audience, fühl appellieren – ein deutscher Sender für deut- or even with any obvious attempt to raise its cultural sche Hörer. standards. Entertainment will not be too obviously ‘edifying’, and information not too obviously ‘instruc- tional’. Excessive attention by Nordwestdeutscher Steuerung des Rundfunks: Rundfunk to the political and historical re-education Ordnungs- und Personalpolitik of the Germans will destroy its credibility.«33

Nichts lag für die Briten in dieser Situation näher, als auf die Erfahrungen und das Know-How der Bri- 29 Methods and Functions of the British Information Services for tish Broadcasting Corporation zu bauen. Die BBC Germany: 29.5.1945. National Archives London. PRO. FO. 898/401. war 1922 als »Company« gegründet und 1927 in ein 30 Näheres dazu in dem Band von Peter von Rüden und Hans-Ulrich öffentlich-rechtliches Unternehmen umgewandelt Wagner (Anm. 24). 31 Zit. n. David Welch (Anm. 28), S. 228. worden. Das Prinzip der Gebührenfinanzierung ent- 32 PID-Memorandum: Information Control in the British Occupied zog die BBC dem Zugriff privatwirtschaftlicher Inte- Zone of Germany, 18.6.1945. National Archives London. PRO. FO. 898/ ressen, ein auf unabhängigen Gremien (»Board of 401. Governors«) basierendes Aufsichtssystem verhin- 33 Major-General W.H.A. Bishop (PR/ISC) an Director-General PID: Respective functions of BBC German Service and Nordwest- derte die Gängelung durch den Staat ebenso wie deutscher Rundfunk, 15.12.1945. National Archives London. PRO. FO. die Instrumentalisierung durch gesellschaftliche In- 1049/204. Huber: Re-education im NWDR 1945–1948 27

Die Besatzer hatten nicht vor, für immer in Deutsch- Die personalpolitische Dimension war der schwie- land die Geschäfte des publizistischen Lebens zu rigste und der am wenigsten planbare Aspekt der führen. Tatsächlich arbeiteten die zuständigen Offi- Re-education-Strategie im Rundfunk. Die Debatten ziere der Broadcasting Control Unit seit Herbst 1945 während der Kriegsjahre waren in dem Ergebnis ge- an einem Fahrplan für die Übergabe des NWDR an mündet, dass nur die Deutschen selbst ihre Lands- die Deutschen: »The control of broadcasting, apart leute zum Besseren erziehen konnten. Die Besatzer from the retention of certain powers to intervene if mussten daher einen funktionierenden Kontroll- politically undesirable matter is broadcast or if the apparat auf die Beine stellen, der der Aufgabe ei- development of NWDR seems to be taking unde- ner politischen Erziehungsmission gewachsen war; sirable forms, should be entirely in German hands dann auf deutscher Seite einen funktionierenden by October 1st, 1948.«34 Dieser Zeithorizont setz- Rundfunkapparat, der politisch korrekt und zugleich te die Kontrolloffiziere unter Druck, bis zur Überga- demokratisch mündig sein sollte: »Granted that the be ein tragfähiges Rundfunksystem zu installieren. Germans are to teach themselves, we have first to Der stufenweise Abbau von Kontrollen und Zensu- teach the teachers – or rather the editors, journalists, rinstanzen war weniger ein Ausdruck liberaler Groß- broadcasters, authors and script writers.«37 Beides mütigkeit, sondern von stringentem Kalkül. Wenn musste parallel erfolgen, um die Orientierungslo- der Zonensender als Instrument der Umerziehung sigkeit der deutschen Bevölkerung nach dem Zu- und des demokratischen Gegengewichts fungieren sammenbruch nicht in geistige Anarchie verwildern sollte, konnte er dies nur aus eigener Kraft. Ab Ok- zu lassen. Für beides musste das geeignete Perso- tober 1948 sollte die deutsche Belegschaft die Ge- nal gefunden werden: die britischen Kontrolloffizie- schäfte führen – bis dahin mussten sie fähig sein, ei- re aus der Besatzungsarmee und die deutschen Ra- genverantwortlich zu handeln. Für die Offiziere von diomitarbeiter aus dem geschlagenen Volk. PR/ISC schien ein solcher Zeitplan machbar, da sie für den NWDR kein ganz neues Modells ausbrüten, Ein wichtiger Anhaltspunkt war wiederum das Para- sondern das der BBC anpassen mussten: »It is pro- digma der »indirect rule«, das der Idee der Demokra- posed during 1947 to give NWDR legal status and tisierung entsprach: »The British policy in German is a charter as a public corporation along the line of one of indirect rule, that is, rule through the indige- the B.B.C. The Director General of NWDR will then nous authorities. The machinery of indirect rule may be responsible to a board of seven or eight Gover- vary from direct instructions which are given to the nors, whose duty it would be to safeguard the poli- indigenous authority, to general directions which al- tical independence of NWDR and to take an active low so much latitude that they are little more than interest in the programme, financial and staff poli- advice, which may or may not be taken; but as long cy of NWDR.«35 as it remains rule those who exercise it must in the last decree be responsible.«38 Indem die Bandbrei- Das NWDR-Statut, das am 1. Januar 1948 im Zu- te der indirekten Hoheitsausübung zur Auslegungs- sammenhang mit der Verordnung Nr. 118 veröf- sache erklärt wurde, wuchsen die Anforderungen fentlicht wurde, sollte die Unabhängigkeit des an das Kontrollpersonal, das über das Ausmaß der Senders festschreiben. Mit der offiziellen Über- Delegierung entscheiden musste. Hohe Bedeutung gabe des von den Briten erarbeiteten NWDR-Sta- kam der vorbeugenden Kontrolle zu. Dieser Wider- tuts an die deutschen Verantwortlichen wurde das spruch sollte die Besatzungszeit der Engländer nochmals deutlich: »The main effect of this Ordi- prägen: »Ihre Manie, alles bis ins kleinste Detail zu nance and Charter will be, while mainting British control of broadcasting, to give the Northwest Ger- man Radio the proposed status of independence vis a vis the State and Political Parties.«36 Als am 34 The Future of Broadcasting in the British Zone, 6.12.1946, Bl. 1. 15. November 1948 die Übergabe des Senders in StA HH. 621-1. NDR. 662; National Archives London. PRO. FO. 1049/ die Hände der Deutschen erfolgte, war die struk- 791. turpolitische Aufgabe der britischen Kontrolloffizie- 35 Ebd. re beendet. Der Versuch, dem NWDR ein Grund- 36 R. Gauntlett (PR/ISC) an Chiefs of Staff: Establishment of the North West German Radio as an Institution of Public Law, 18.11.1947. gesetz der Unabhängigkeit von staatlichen und National Archives London. PRO. FO. 1049/791. politischen Einflüssen zu geben, war dem Wunsch 37 Michael Balfour: A Plan for Re-education: Skeleton, 11.2.1946, entsprungen, in ihm ein Werkzeug zur Demokrati- S. 2. National Archives London. PRO. FO. 1056/25. 38 W.H. Ingrams (Chairman Adm and Local Government Branch, sierung und politischen Re-education der Bevöl- CCG): Appendix D: The Problem of Indirect Rule, 17.8.1945, S. 2. Nati- kerung zu haben. onal Archives London. PRO. FO. 1050/806. 28 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) kontrollieren, führte zwangsläufig zu einer immer di- tung einer neu geschaffenen Abteilung – das Au- rekteren Herrschaft. So hatten sie 1946 25813 Kon- ßenreferat – angeboten, wenn er aus dem Londoner trollbeamte in Deutschland, während die Amerika- Exil zurückkehre. Die Gruppe solcher Remigranten, ner mit 7600 auskamen.«39 die den Aufbau des Zonensenders mitgestalteten, war von starkem Einfluss bei der Durchführung Die Kontrollaufgabe des britischen Personals be- der Re-education. Entscheidendes Argument war stand während der Aufbauphase des Senders groß- für die Briten die Kenntnis deutscher Sprache und teils in personalpolitischen Fragen, über die sie die Mentalität.42 Zusammensetzung der Belegschaft und seine po- litische Ausrichtung steuerten. Kein Zufall war es, Von entscheidender Bedeutung war die Besetzung dass Captain Walter Everitt als Controller des Wort- der Führungsspitze des NWDR. Der erste Leiter von programms eine Schlüsselfigur im NWDR war, ehe Radio Hamburg war Colonel Paul Lieven, der die er 1946 nach England zurückkehrte. Er entstammte Sondereinheit zur Besetzung des Funkhauses am der Hamburger Bankiersfamilie Eberstadt, war auf- 3. Mai 1945 angeführt hatte. Im Juli 1945 übernahm grund seiner jüdischen Herkunft mit seinen Eltern der Fachmann für Werberundfunk Keith Thompson aus Deutschland nach England emigriert, hatte in die Leitung. Sein Nachfolger wurde Ralph Poston, Oxford studiert und war bei Kriegsbeginn ins Pio- im Zivilberuf Geistlicher mit Rundfunkerfahrung, der nier-Korps der britischen Armee eingetreten. Sein bis Sommer 1946 im Amt blieb. Ihm folgte Rex Pal- politisch unzweifelhafter Hintergrund, seine Beherr- mer, ein altgedienter BBC-Mitarbeiter.43 Keine die- schung der deutschen Sprache, seine Absorption ser Besetzungen war mehr als eine Übergangslö- des »British Way« (so änderte er 1944 seinen Na- sung, typisch für das chronische Personalproblem men in »Walter Everitt«) machten ihn für die Re-edu- im Bereich politischer Führungsaufgaben. cation-Aufgabe zum Idealkandidaten.40 Im August 1946 schlug die BBC Hugh Carleton Wie im Fall Everitt fand sich bei den Besatzungs- Greene für die Stelle des NWDR-Controllers vor. offizieren eine ganze Reihe von deutschstämmi- Greene hatte als Korrespondent britischer Zeitun- gen Offizieren.41 Dazu gehörte Rolf E. James, der gen in Deutschland während des Dritten Reichs ge- im NWDR als Assistant Controller die Abteilung arbeitet und war 1938 ausgewiesen worden. 1940 »Talks and Features« beaufsichtigte. Ähnliches galt wurde er Leiter des BBC German Service, der in für Alexander Maass, der als Kommunist Deutsch- der Kriegszeit mit psychologischer Kriegsführung land 1932 verlassen hatte. Er bekam 1945 den Pos- agierte. Damit erfüllte Greene die wichtigste Anfor- ten des »Production Chief« für den NWDR, der der derung: ein Mann mit perfekten Deutschkenntnis- Stelle des Sendeleiters entsprach. Vom 1. Januar sen und tiefem Verständnis deutscher Geschich- 1947 an leitete er mehrere Jahre die neugegründe- te und Mentalität. Er hatte eine eminent politische te NWDR-Rundfunkschule. Maass gehörte zu der Auffassung seiner Rolle, aus Deutschland eine de- Gruppe von linken NS-Gegnern, die wegen ihrer politischen Haltung während des Dritten Reichs für die Aufgaben der politischen Umerziehung ohne 39 Michael Thomas: Deutschland, England über alles. Rückkehr als weitere Prüfung herangezogen wurden. Unter den Besatzungsoffizier. Berlin 1984, S. 120. Kontrolloffizieren, die später zu den wichtigsten 40 Vgl. Peter von Zahn: Stimme der ersten Stunde. Erinnerungen Verbindungsoffizieren zählten, war Michael Tho- 1913–1951. Stuttgart 1991, S. 264 f. 41 Zu den Remigranten im NWDR vgl. Hans-Ulrich Wagner: Über mas. Der 1915 in Berlin geborene Sohn des Thea- alle Hindernisse hinweg: London-Remigranten in der westdeut- termanagers und Autors Felix Hollaender war 1939 schen Rundfunkgeschichte. In: The Yearbook of the Research Cen- nach England emigriert und in die Armee eingetre- tre for German and Austrian Exile Studies. Bd. 5. Amsterdam 2003, ten, was er als privaten Beitrag im Kampf gegen S. 139–157; Gabriele Clemens: Remigranten in der Kultur- und Medi- enpolitik der Britischen Zone. In: Claus-Dieter Krohn und Axel Schildt die Nazis betrachtete. Als Deutscher in englischer (Hrsg.): Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der Uniform war er schließlich mit der Besatzungsar- deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit. Hamburg 2002 mee zurückgekehrt. Später kamen dazu noch wei- (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 39), S. 50– 65. tere Remigranten wie Albin Stuebs, der Ende 1947 42 Englischkenntnisse wurden niedriger angesiedelt, vgl. Peter von aus dem Exil zurückkehrte und stellvertretender Zahn (Anm. 40), S. 248. Leiter der Rundfunkschule wurde, sowie Eberhard 43 Zu den Wechseln an der Spitze des NWDR vor Hugh Carleton Schütz, der im September 1947 erster Programm- Greene vgl. Arnulf Kutsch: Rundfunk unter alliierter Besatzung. In: Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutsch- direktor des NWDR wurde. Walter D. Schultz wurde land. 1999 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische im Frühjahr 1948 von Greene und Grimme die Lei- Bildung, Bd. 361), S. 10 ff. und S. 119. Huber: Re-education im NWDR 1945–1948 29 mokratische Nation zu machen.44 Greene trat am 1. ten auf Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit, auch wenn Oktober 1946 sein Amt beim NWDR an: »Meine Auf- sie sich damit unpopulär machten.46 gabe war, diese Tradition der Freiheit und Unabhän- gigkeit zu vertiefen und zu festigen, dem NWDR ei- Die auffälligste Gemeinsamkeit dieser Gründerge- nen legalen Status im öffentlichen Leben zu geben neration unter britischer Besatzung war das lands- und die neue Institution gegen Kräfte zu verteidigen, mannschaftliche Moment. Eggebrecht, von Zahn, die die redaktionelle und politische Unabhängigkeit Schnabel, Bamm waren alle sächsischer Herkunft, unterminieren wollten.«45 Jürgen Schüddekopf kam aus dem benachbarten Thüringen. Zum großen Teil kannten sie sich unter- Das Prinzip der indirekten Kontrolle stellte auch einander aus Jugendzeiten, nach dem Krieg fanden hohe Anforderungen an die deutschen Mitarbeiter, sie bemerkenswert rasch bei Radio Hamburg zu- die auf einmal Verantwortung übernehmen sollten sammen. Es war offensichtlich, dass diese Män- für die Vermittlung demokratischer Ideale, die ihnen ner das Machtvakuum im fremdbesetzten Sender selbst fremd waren. Es war jedoch die feste Über- nutzten, um im Windschatten des britischen Besat- zeugung der Briten, dass der Qualitätsstandard des zungsregimes ihr eigenes Netzwerk von Gleichge- deutschen Personals für die inhaltliche Beschaffen- sinnten zu etablieren. Die Genannten selbst bezeich- heit des Programms maßgeblich war und nicht um- neten den NWDR als »niedersächsischen Rundfunk gekehrt. Die britische Personalpolitik im NWDR in obersächsischer Besetzung«47, und sie pflegten folgte also dem Grundsatz, dass die richtigen Per- ihre Herkunft bewusst und offensiv: »Manchmal sonen in den richtigen Positionen das richtige Pro- hätte man glauben können, die Sendungen kämen gramm produzieren. Deswegen übten sie in Per- aus Dresden oder Leipzig.«48 Im Kalkül der Kontroll- sonalfragen ihre Kontrollhoheit am stärksten aus. behörden boten zugewanderte Deutsche die Ge- So informell und pragmatisch sie diese scheinbar währ, dass aus der Vergangenheit virulente Ab- handhabten, so blieb das Kriterium der politischen hängigkeiten in Hamburg ebenso wenig eine Rolle Gesinnung dabei stets das entscheidende, wohin- spielten wie falsche Rücksichtnahme auf die Hei- gegen handwerkliche Fragen in den Hintergrund tra- matstadt. Es war ein gewollter Effekt im Rahmen ten. Die zurückhaltende Ausübung der Zensur be- der Demokratisierung des Rundfunks, dass Zuhö- legt, dass die Briten mit dem Personal gleichzeitig rer, Institutionen und Politiker mit lokal unabhängi- die Programminhalte hinreichend unter ihrer Kon- gen Journalisten konfrontiert wurden, die Unbeque- trolle glaubten. Dergestalt sollte die angestrebte mes umso unbefangener bearbeiteten. Meinungsvielfalt am Ende beim deutschen Zuhö- rer ankommen. Deutsche erziehen Deutsche zum demokratischen Denken – so lautete schließlich die Freiheit des Rundfunks: Programmpolitik Formel der Re-education. Nach zwölf Jahren in Diensten einer manipulativen Als die Briten im Sommer 1945 begannen, eine Propaganda waren bei den publizistischen Medien deutsche Belegschaft für Radio Hamburg zusam- in Deutschland journalistische Standards nur in ge- menzusuchen, mochten Zufall und Nachkriegscha- ringen Spurenelementen vorhanden. Die Briten gin- os eine Rolle gespielt haben. Kein Zufall waren das gen sofort daran, die überlieferten Strukturen durch Persönlichkeitsspektrum und die politische Menta- neue zu ersetzen. Objektive Berichterstattung und lität, die diese Mannschaft in der britischen Phase des Senders repräsentierten. Auffällige Gemein- samkeiten legen den Schluss nahe, dass die Kon- trollautoritäten eine klare Vorstellung vom Profil des 44 Bishop war über diese Wahl erleichtert, vgl. sein Schreiben an Wil- deutschen Personals hatten, das den Sender zum liam Haley (Director General BBC, London), 28.8.1946. National Archi- ves London. PRO. FO. 1056/16. Instrument der Re-education machen sollte. Die 45 Hugh Carleton Greene in: Greene’s Germany – Geschichten aus wichtigsten Figuren der ersten Jahre wie Axel Eg- einem anderen Land. Film von Heinrich Breloer, N3-Sendung vom gebrecht, Peter von Zahn, Peter Bamm oder Ernst 25.2.1987. NDR-Fernseharchiv. 1045050. 46 Zur Personalpolitik und den unterschiedlichen Generationshin- Schnabel waren Autodidakten des Rundfunks. Von tergründen vgl. Christina von Hodenberg: Die Journalisten und der ihren Auffassungen her, mitunter grundverschieden, Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit. In: Ulrich Herbert (Hrsg.): ergänzten sie einander in wesentlichen Grundfra- Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Li- gen. Sie alle wollten ein neues, demokratisches beralisierung 1945–1980. Göttingen 2003, S. 278–311; Hans-Ulrich Wagner (Anm. 24), S. 29 ff. Deutschland, sie alle wollten die kritische Ausein- 47 Peter Bamm: Eines Menschen Zeit. Zürich 1972, S. 391. andersetzung mit der NS-Vergangenheit, sie setz- 48 Peter von Zahn (Anm. 40), S. 257. 30 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Meinungsvielfalt, waren die Kategorien, die in den wurde von den Mitarbeitern jener Zeit immer wie- neuen deutschen Medien dominieren sollten.49 Die der hervorgehoben, nicht selten mit dem Hinweis, Wertschätzung von Tatsachen stand an erster Stel- dass darin die Kritik an den Briten selbst inbegrif- le. Nur der korrekte Umgang mit Fakten konnte den fen war: »Nach und nach aber begriff die Öffentlich- neuen Medien Glaubwürdigkeit verschaffen: »To keit: ‚Die am Radio‘ können ja ihre eigene Meinung re-establish in German education the former stan- sagen! Selbst wenn das Kritik an der Besatzungs- dard of respect for objective facts and to extend this macht bedeutet!«55 Der Pluralismus der Meinungen, standard to fields in which it did not even former- ein Wesensmerkmal der demokratischen Gesell- ly operate.«50 Die Auswüchse der Goebbels-Propa- schaft, gehörte mit Faktenorientierung, sprachli- ganda hatten bei den Deutschen das Vertrauen in cher Erneuerung und politischer Ungebundenheit die journalistischen Medien erschüttert. In ihrer psy- zu den journalistischen Standards des neuen Rund- chologischen Kriegsführung hatten die Briten stets funksenders. darauf Wert gelegt, wahrheitsgetreu zu berichten.51 An diesem Grundsatz sollten sich Presse und Ra- Bei den Überlegungen zur Stellung des Senders im dio orientieren, um rasch den Ruch der Propagan- gesellschaftlichen Gefüge hatte die Besatzungs- da loszuwerden, »to create in the minds of authors, macht darauf hingearbeitet, dass der NWDR eine journalists, broadcasting staff, actors and produ- politisch unabhängige Institution würde. Zu gewähr- cers, standards of thought and performance which leisten war dies nur, wenn auch die Programminhal- are free from the taint of propaganda.«52 te diesem Anspruch genügten. Ralph Poston, einer der ersten Chefcontroller des NWDR, machte dies Mit der Betonung der Tatsache als Kern journalisti- in einem Rundschreiben an die Mitarbeiter 1945 schen Berichtens ging eine Aufwertung der Nach- klar: »Der Nordwestdeutsche Rundfunk muss dafür richt einher – im Gegensatz zu der in der deutschen bekannt sein, dass er politisch unparteiisch ist.«56 Presse üblichen Vermischung von Fakten und kom- mentierendem Beiwerk. Die strikte Trennung von Allerdings finden sich in den britischen Planungen Nachricht und Meinung hatte zum Ziel, dem Publi- zwischen 1942 und 1945 für die Medienkontrolle in kum die abwägende Meinungsbildung zu ermögli- Deutschland keine Überlegungen zu einer künftigen chen. In keinem anderen Bereich übten die Briten Programmpolitik. Dabei lag es auf der Hand, dass ihre Kontrollfunktion ähnlich kompromisslos aus. die Ziele der Re-education eine inhaltliche Neuaus- Darin bestand einer der Hauptsätze der Re-educa- richtung mit sich bringen mussten. Dennoch gab es tion, wie es der Chef der Medienkontrollbehörde Bi- weder in den Schreibtischen der Planungsbehör- shop im Sommer 1945 ausführte: »We are not trying den noch im Gepäck der Besatzungsoffiziere eine to create a New Ministry of Propaganda, which in- Agenda für die programmliche Ausrichtung von Ra- stils prescribed ideas into the Germans, but we want, as far as possible, to give Germans the chan- ce to express their own ideas.«53 49 »What we are going to do is to stamp out the whole tradition«, J.M. Um sich von der tendenziösen NS-Diktion zu lö- Troutbeck: Regeneration of Germany, 7.1.1944. National Archives Lon- don. PRO. FO 371/39093. sen, mussten die Mitarbeiter des NWDR eine neue 50 The War Office an Allied Commanders-in-Chief: Germany and Sprache lernen. Die sprachliche Umcodierung wur- Austria in the Post-Surrender Period. Directive No. 8, Re-education in de zu einem der wichtigsten Grundsätze des neuen Germany, September 1944. National Archives London. PRO. FO 371/ 39181. Journalismus: »Unsere Zensoren [waren] empfind- 51 Vgl. Hugh Carleton Greene: Entscheidung und Verantwortung. lich oder vielleicht sogar ein wenig überempfind- Perspektiven des Rundfunks. Hamburg 1970, S. 20. lich gegen alle ‚Nationalismen‘, wobei sie ‚national‘ 52 Political Intelligence Department: Information Control in the Bri- nicht so recht von ‚nationalistisch‘ unterschieden«, tish Occupied Zone of Germany, 18.6.1945. National Archives London. PRO. FO 898/401. berichtete Peter Bamm: »Durch ein Rundschreiben 53 Bishop: British Control Policy for Newspapers, Books, Radio and wurde bestimmt, daß Friedrich der Große aufgehört Entertainments. National Archives London. PRO. FO 371/46702. habe, ‚der Große‘ zu sein. Er sei, wenn er schon zi- 54 Peter Bamm (Anm. 47), S. 388. – Vgl. weitere Erfahrungsberichte der deutschen Mitarbeiter, z. B. von Peter von Zahn. Unveröffentlich- tiert werden müsse, als Friedrich II. von Preußen zu tes NDR-Interview vom November 2000. NDR-Fernseharchiv; Vgl. Axel 54 bezeichnen«. Eggebrecht an Programmdirektor Eberhard Schütz, 13.1.1948. StA HH. 621-1. NDR. 562. Kaum etwas war den Briten so wichtig wie das Prin- 55 Axel Eggebrecht: Meine Umwege zum Rundfunk, S. 49. StA HH. 621-1. NDR. 1257. zip der freien Meinungsäußerung, besonders auf 56 Ralph Posten (Programme Chief): Rundschreiben an alle Ange- politischem Gebiet. Das Recht auf freie Meinung stellten, 29.12.1945. StA HH. 621-1. NDR. 1387. Huber: Re-education im NWDR 1945–1948 31 dio Hamburg bzw. dem NWDR. Dies war zwar kon- d) Serious and light entertainment programmes. sistent im Rahmen der »indirect rule«, die inhaltlich e) Relays of programmes originating in other Zones, auf Selbstbestimmung unter Kontrolle abzielte. Im or outside Germany. Sommer 1945 meldeten sich aber aus den Reihen f) Daily broadcasts of school lessons (Monday to der Medienkontrollbehörden Stimmen, die für eine Saturday inclusive), and special features for adult aktivere Programmpolitik plädierten: »Here we feel education.«60 very strongly that we are putting out news and pic- tures, very soon music and films but that there is no Nachrichten, Berichte, Diskussionen und Vorträ- direction and the Germans are the first to ask for it. ge (talks) bildeten den Hauptanteil im Programm I agree that they must work out their own salvation gegenüber Unterhaltung und Musik. Funktion und but for Heaven’s sake let’s give them a push in the Ausübung der Zensur standen ebenfalls in Ab- right direction.«57 hängigkeit zum Besatzungsziel der Re-education. Die deutsche Bevölkerung sollte sich selbst einem Inzwischen war den Verantwortlichen klar gewor- Mentalitätswandel unterziehen, vom obrigkeit- den, dass Freiheit der Rede und demokratische streuen Diener der Volksgemeinschaft zum mündi- Mitwirkung zwar nicht mit Vorschriften zu erzwin- gen Homo politicus. Zensur hingegen schaffte Ab- gen waren, dass jedoch eine zielführende Informa- hängigkeiten und machte die Besatzungsmacht zur tionspolitik nicht nur Grenzen im Sinne von Zensur neuen Obrigkeit. Freie Meinungsäußerung, Tole- und Kontrolle, sondern auch thematische Schwer- ranz gegenüber Andersdenkenden und die Ver- punkte bestimmen sollte. Schwerpunkt des NWDR- breitung bitterer Wahrheiten war davon nicht zu Programms war unter der britischen Kontrolle das erwarten. Die Aufgabe der Kontrolle musste darin Informationsprogramm. Der Anteil der Wortbeiträ- bestehen, beim deutschen Rundfunkpersonal ein ge nahm gegenüber dem Musikprogramm die meis- Gefühl für Eigenverantwortung zu entwickeln: »It is te Zeit ein, nämlich über mehr als 50% der Sende- no use telling Germans to be and feel responsib- zeit.58 Die für ihre Zwecke relevanten Sendungen le without giving them a chance of responsibility, in waren die journalistischen Wortsendungen. the field of Information Services among others.«61 Kontrolle ja – Zensur nur in Beiträgen, die den alli- Für die deutschen Journalisten im NWDR war die ierten Besatzungsmächten explizit schadeten. Auf am Wortanteil orientierte Programmpolitik der Bri- keinen Fall durfte dem Sender in der Öffentlich- ten willkommen, da sie ihnen ausgedehnte Pro- keit das Image vom verlängerten Arm der Militär- grammflächen und Experimentierfelder zur Verfü- regierung anhaften: »It is considered essential here gung stellte: »Wort herrschte fast unumschränkt. Es that there should be no attempt to censor NWDR’s war kaum zu glauben, wie viele Kommentare, Vor- versions of important official statements.«62 Als im träge, Features, Hörspiele, Lyrik und Glossen da- Herbst 1945 diese Interpretation von Kontrolle for- mals in vier Wochen gesprochen wurden«, erinnerte muliert wurde, hatte sich im NWDR die Zensurpra- sich Peter von Zahn noch Jahrzehnte später.59 xis bereits gelockert. Von da ab erlebten die NWDR- Mitarbeiter eine interventionistische Zensur nur im Im Dezember 1945 war die Profilierung des NWDR so weit vorangeschritten, dass General Bishop für die Medienkontrollbehörden eine spezifische Auf- gabenbeschreibung des Senders vorlegte. Darin 57 Paul Chennington (G Infm Control, HQ 8 Corps District) an Dun- can Wilson (G Infm Control, HQ 21 Army Group): 4.7.1945. National Ar- erscheint eine Inhaltsdefinition mit den wesentli- chives London. PRO. FO. 1056/25. chen Sendeformen: 58 Eine quantitative Analyse des Programms von Radio Hamburg und NWDR zwischen 1945 und 1948 bietet Christof Schneider: Na- »The main feature of NWDR programmes will be: – tionalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks (1945–1948). Potsdam 1999 (= Veröffentlichungen des a) News bulletins covering fully events in the British Deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 23), S. 74 ff. Zone of Germany and such events outside Germa- 59 Peter von Zahn (Anm. 40), S. 283. 60 ny and in other Zones as can be supposed to inte- Major-General W.H.A. Bishop (PR/ISC) an Director-General PID: Annex I to Appendix ‘A’: Programme Contents of Nordwestdeutscher rest the listener in the British Zone. Rundfunk and the B.B.C. German Service, 15.12.1945. National Archi- b) ‘Actuality’ broadcasts of important events in the ves London. PRO. FO. 1049/204. British Zone. 61 Major-General W.H.A. Bishop (PR/ISC Group, Bünde): Can we Re- c) Talks and discussions giving the view of German educate Germany?, November 1945, S. 7 f. National Archives London. PRO. FO. 1056/21. commentators on world events and on events within 62 W.H.A. Bishop (Chief PR/ISC Group) an Director-General PID the British Zone. (London): 16.11.1945. National Archives London. PRO. FO. 1056/26. 32 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Ausnahmefall. Übereinstimmend sprechen die ers- im Dritten Reich.«67 Das Themenspektrum reichte ten Journalisten vom Klima der Toleranz, mit denen von Kriegserlebnissen, Entnazifizierung, NS-Jargon die britischen Kontrolloffiziere ihre Aufgaben wahr- bis hin zur Umerziehung von NS-Eliten. Die Ausei- nahmen.63 Dabei war offiziell die Vorzensur nie ab- nandersetzung mit der Person Adolf Hitlers fand im geschafft worden, doch ihr Stellenwert im operati- NWDR ebenfalls breiten Raum.68 ven Sendebetrieb war eher ein nomineller. Umfragen dokumentierten ein Interesse an den Themen der NS-Vergangenheit. In einer der ers- Ein Beispiel: Der Umgang mit NS-Themen ten Analysen rangierten Fragen zu NS-Verbrechen, nationaler Schuld und Kriegsverbrecherprozessen In den britischen Planungen für den neuen Rund- an oberster Stelle bei den Hörern, auch wenn der funk während der Kriegszeit stand die Haltung der Tenor nicht unbedingt im Sinn der Besatzungspo- Deutschen zu ihrer unmittelbaren Vergangenheit, litik war: »By far the greater proportion of the let- zum NS-System und zum Krieg nicht im Vorder- ters passionately rejected the thesis of ‘communal grund. Vielmehr hatte man in dieser Phase Bürger- guilt’. This reflects the attitude of the general popu- rechte oder Wahlprozeduren als erste Lektion des lation with the difference that in the latter case the Neubeginns vorgesehen. Mit der Besetzung Nazi- thesis is not understood.«69 Die Fragen von Kriegs- Deutschlands jedoch wurde den Siegern ein Aus- verbrechen, persönlicher Verstrickung und Umori- maß von Terror offenbar, das den Fokus der Re- entierung fanden bei den Hörern starken, oft emoti- education umlenkte. Die Deutschen sollten sich onalen Widerhall. Neben der empörten Ablehnung jetzt ihrer Verantwortung bewusst werden, während der Kollektivschuldthese fanden sich Stimmen, die sie an den Neuaufbau gingen. Wenige Wochen nach die neue Offenheit gegenüber den heiklen Themen der Kapitulation tauchten die Themen Kriegsschuld begrüßten. Der anti-militaristische Schriftsteller und und NS-Gräuel in den Anweisungen der Medien- Essayist Gerhard Nebel sah darin bereits die Auf- kontrollbehörden auf: »The long term themes, such arbeitung dessen, was »die aus Konzentrationsla- as war guilt, atrocities, etc. are the subject of spe- gern, Schlachtfeldern und Bombenteppichen üb- cial papers now in preparation. But it is recommen- riggebliebenen geistigen Menschen Deutschlands, ded that in current broadcasting output, treatment was aber vor allem unsere geistig wache Jugend of those themes should be on an information ba- wahrhaft und in der Tiefe bewegt.«70 sis.«64 Die wenig selbstkritische Haltung vieler Deut- scher führte zu der Überzeugung, dass das Thema deutsche Schuld als langfristiger Programminhalt angelegt werden musste: »Information Services Control utilises every opportunity of emphasizing 63 So z.B. Hermann Rockmann in: Bausteine der Demokratie. Ein Film von Heike Mundzeck. 27.4.1986. NDR-Fernseharchiv. 1043418; German war guilt. […] The policy followed by Infor- Vgl. auch die Gespräche von Peter von Rüden mit Heinz Riek und mit mation Services Control is directed to arousing in Julia Dingwort-Nusseck im Jahr 2001. FGRN Hamburg. the German people the full realisation that the cri- 64 ISC Branch (Pol.Division): Methods and Functions of the British mes of their former Government are their moral re- Information Services for Germany, 28.5.1945. National Archives Lon- don. PRO. FO. 898/401. 65 sponsibility.« 65 Col. Edwards an Major-General Bishop (Chief PR/ISC Group): 25.9.1945. National Archives London. PRO. FO. 1056/25. Längst ging es den Besatzungsbehörden nicht 66 Der NWDR berichtete in diesem Zeitraum in insgesamt 623 Pro- grammbeiträgen bzw. 9.552 Sendeminuten – durchschnittlich an je- mehr nur um Nachrichten. Die desillusionieren- dem zweiten Tag – über NS-Themen, vgl. Christof Schneider (Anm. 59), den Erfahrungen der ersten Monate legten es nahe, S. 193. dass ein umfassender Aufklärungsfeldzug anstand. 67 Axel Eggebrecht in: Charles Schüddekopf (Hrsg.): Vor den Toren Obwohl es zu keiner organisierten Kampagne kam, der Wirklichkeit. Deutschland 1946–47 im Spiegel der Nordwestdeut- schen Hefte. Bonn 1980, S. 18. schlug sich die Diskussion nachhaltig im Programm 68 Vgl. Christof Schneider (Anm. 59), S. 127 ff. Im Rückblick bewer- des NWDR nieder. Von 1945 bis 1948 war der Anteil tete Eggebrecht die »Nordwestdeutschen Hefte« allerdings kritisch: der Berichterstattung über den Nationalsozialismus »Ich glaube, dass wir drei oder vier Jahre lang (wir heißt: alle, die das 66 hätten machen können) eine Chance versäumt haben, gar keine Fra- vergleichsweise hoch. Gleiches galt für die »Nord- ge. [...] Viel, viel mehr Leute hätten viel, energischer und viel deutlicher westdeutschen Hefte«, in denen ausgewählte Sen- abrechnen können.«. In: Schüddekopf: Vor den Toren der Wirklichkeit, dungen des NWDR-Programms von 1946 gedruckt S. 19. wurden: »Das erste Heft ist ja insofern programma- 69 ISC Branch: Intelligence Summary No. 4, S. 4. National Archives London. PRO. FO. 1005/1739. tisch, als es gleich losgeht mit einer Sache über vie- 70 Dr. Gerhard Nebel (Dahlhausen) an den NWDR: 25.9.1946. StA HH. le Seiten hinweg: Erinnerungen an das Alltagsleben 621-1. NDR. 1516. Huber: Re-education im NWDR 1945–1948 33

Großen Raum in der Berichterstattung des NWDR so that the elected government know broadly what nahmen die NS-Kriegsverbrecherprozesse von they may and may not do. In Germany to-day there Bergen-Belsen 1945 und Nürnberg 1946 ein.71 Bei- is no public opinion about anything. […] It is unlikely de Prozesse wurden mit aktuellen Tagesberich- therefore that a live, responsible democracy will de- ten von Korrespondenten begleitet und zu beiden velop in Germany in the near future.«74 Prozessen gab es Hintergrundberichte und Analy- sen. Während diese Behandlung der unmittelbaren Für den Bereich des Rundfunks hatte sich ge- Vergangenheit von der deutschen NWDR-Redakti- zeigt, dass mit dem Augenblick der Übergabe an on getragen wurde, waren ursächlich dafür die Zie- die Deutschen die britischen Kontrollbehörden den le der Briten: Erkenntnis der historischen Verant- NWDR in der Gefahr sahen, durch Politisierung und wortung als Grundlage für den demokratischen Bürokratisierung seine mühsam erkämpfte demo- Neubeginn. Wenn auch die Themen nicht vorgege- kratische Legitimation und damit seine erzieheri- ben wurden, hatten die Briten durch ihre Personal- sche Funktion wieder zu verlieren. In den Folgejah- politik dafür gesorgt, dass die Erziehung der Deut- ren versuchten sie alles in ihrer verbliebenen Macht schen durch Deutsche im Rundfunk einen Anfang stehende, um die politische Unabhängigkeit des nahm. Senders zu erhalten. Als sie in dieser krisenhaften Übergangsperiode die Institutionalisierung externer Einflüsse zunehmen und die angestrebte Rundfunk- Re-education durch Rundfunk: freiheit schwinden sahen, erklärten sie den NWDR ein gescheiteres Modell? als politisches Erziehungsinstrument für geschei- tert. Dem entsprach die Resignation, mit dem die Nachdem die Briten im Herbst 1948 den NWDR in Briten zu Ende ihrer Besatzungszeit generell die deutsche Hände übergeben hatten, beobachteten Chancen auf eine Demokratisierung Deutschlands sie noch über Jahre kritisch und angespannt die beurteilten. Diese Einschätzung betraf weniger den Entwicklung des Senders. Würde er die hochge- Zustand der demokratischen Apparate und Institu- steckten Erwartungen erfüllen, ein unabhängiger tionen in Deutschland als vielmehr die politische Akteur im Gefüge der jungen Demokratie zu sein? Mentalität der Bevölkerung, die umzuorientieren In zahlreichen mitunter ausufernden Berichten und 1945 zur Hauptaufgabe der neuen Medien erklärt Korrespondenzen beurteilten die Briten den NWDR worden war. Dem NWDR war es im Urteil der Briten am Ende als Misserfolg im Experiment der Demo- nicht gelungen, sich selbst und seine Hörer auf eine kratisierung und Umerziehung. Sie hielten den Ver- demokratische Linie zu bringen. such für gescheitert, den britischen NWDR – »an or- ganisation in which the team spirit, healthy outlook Doch in der historischen Distanz von mehr als einem and goodwill towards the British was of a high or- halben Jahrhundert legt die abschließende Frage der«72 – in ein funktionierendes deutsches Pendant nach der Wirkung der britischen Umerziehungspo- zu überführen. Dies glaubten sie am Niveau der Pro- gramminhalte feststellen zu müssen: »The standard of programmes and especially of political commen- 71 Die Hörer nahmen an diesem Vorgang ebenfalls Anteil, wenn taries has fallen considerably due to the loss of ca- auch kontrovers, vgl. ISC Branch (Anm. 70). War crime trials, S. 4; ISC pable personnel, the bureaucratisation and the psy- Branch: Survey of German Public Opinion. Summary Dec. 1946. Ques- chological aftermath of the crisis.«73 tion No. 11. National Archives London. PRO. FO. 1056/93; Schriftwech- sel Peter von Zahn. StA HH. 621-1. NDR. 1516. 72 Crowe, Chief of the ISD: Subject: N.W.D.R., 19.5.1950. National Ar- Mit dem Ende ihrer Kontrollhoheit sahen sich die chives London. PRO. FO. 1056/277. Briten nicht imstande, die Geschicke des NWDR in 73 Chief ISD (Berlin) an German Information Department (Foreign ihrem Sinne weiter zu steuern. Im April 1952 unter- Office, London): 9.8.1949. National Archives London. PRO. FO. 1056/ 276. nahm der Leiter der Deutschland-Abteilung des Fo- 74 R.A. Chaput de Saintonge (Foreign Office) an High Commissio- reign Office Roland Chaput de Saintonge eine Reise ner Ivone Kirkpatrick: The Role of British Information Services in Ger- durch Deutschland, um sich ein Bild von der Verfas- many. Summary and Conclusions, 16.5.1952, Bl. 2. National Archives London. PRO. FO. 953/1285. – Bereits vier Jahre zuvor hatte der Lei- sung des Landes und vom Funktionieren der deut- ter der Education Branch einen viel beachteten Warnruf in die Diskus- schen Medien, u. a. des NWDR, zu machen. Sein sion gebracht: »I do not consider that a democratic order in Germany, Bericht kam zu einem frustierenden Befund: »Mo- in political life, social relations or education, is in any way assured.« dern democracy demands a sense of political re- Robert Birley (Educational Adviser, Bad Rothenfelde) an General Brian Robertson (Military Governor and Commander-in-Chief): Prospects sponsibility on the part of the ordinary citizens, and of a democratic order in Germany with special reference to Education, a set of values common to a large portion of them, 24.7.1948. National Archives London. PRO. FO. 371/70716. 34 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) litik im NWDR eine andere Interpretation nahe. Das len deutschen Sonderwegs nicht gerechtfertigt wa- pessimistische Fazit der Briten verkannte die Ge- ren. Im Gegensatz dazu herrscht heute selbst im samtverfassung, in der sich der NWDR auch nach Urteil kritischer Betrachter Konsens darüber, dass 1948 befand. Trotz der politischen Ränkespiele in Deutschland zum demokratischen Staat geworden und um den Sender, auf die sich das Urteil der bri- ist. Die politische Re-education hatte daran ihren tischen Beobachter verengte, hatte er sich als fes- Anteil, und die Entwicklung des NWDR vom Verlaut- ter Pol in der öffentlichen Meinungsbildung etabliert. barungsorgan der britischen Militärregierung zum Die Organisationsform als öffentlich-rechtliche An- selbstbewussten journalistischen Rundfunksender stalt wurde im Grundsatz nicht nur niemals ange- ist dafür ein Beleg. tastet, sondern zum Vorbild in den anderen West- zonen. Die publizistische und politische Ausrichtung der NWDR-Journalisten war nicht demokratiefeind- lich. Das Bekenntnis des Senders zur neuen parla- mentarisch-demokratischen Verfassung stand nie- mals infrage. Dazu kam, dass allein der Umfang der Hörer-Resonanz darauf schließen ließ, dass der Rundfunk als politisches Informationsmittel ak- zeptiert war. Gerade in Krisenphasen wie der Über- gangsperiode nach 1945, der Spaltung des NWDR in NDR und WDR 1955 und der NDR-Staatsver- tragskrise von 1978 bis 1980 zeigte sich das Sys- tem krisenfest.

Die Idee, das System BBC auf deutsche Verhältnis- se zu übertragen, war in einem Punkt tatsächlich gescheitert. Es war nicht möglich, das Organ des Hauptausschusses in Analogie zur britischen Krone als überparteiliche Instanz zu verankern. Dies war eine strukturpolitische Fehlentscheidung seitens der Briten, die die politischen Kräfte in Deutschland in diesem Punkt falsch einschätzten. Der Neube- ginn in Deutschland war keine voraussetzungslose »Stunde Null«, sondern stand im Rahmen vielfälti- ger politischer Kontinuität. Die Ambivalenz der poli- tischen Umerziehung Deutschlands zwischen kon- trollierter Demokratisierung und Selbstbestimmung führte an dieser Stelle zu so starken Abweichungen vom britischen Idealmodell, dass der erzieherische Anspruch als gescheitert galt. Die Deutschen moch- ten formell die Mechanismen westlicher Demokra- tien übernommen haben, doch verinnerlicht hatten sie deren Mentalität offenbar nicht – ein Befund, der im Deutschland der beginnenden 50er Jahre sicher nicht ganz abwegig war. Das alte Misstrauen gegen- über dem deutschen Nationalcharakter wurde hier spürbar, ebenso wie die Angst um die Sicherheit Großbritanniens, die viel später im Zuge der deut- schen Vereinigung sich wieder ihre Bahn brachen.

Doch sowohl der Verlauf des Vereinigungsprozes- ses als auch die Erfolgsgeschichte der bundesre- publikanischen Demokratie in den 40 Jahren zu- vor lassen den Schluss zu, dass die Befürchtungen der Briten um eine Wiederkehr des verhängnisvol- Matthias Steinle

ARTE vor seiner Zeit?

Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen im Zuge des Elysée-Vertrags: »La Grande Guerre/1914–1918/ Der Erste Weltkrieg« – eine WDR-ORTF-Koproduktion (1964)

»Der kleine Bildschirm ist für die großen Gemäl- auf nationaler Ebene heftige Diskussionen hervor- de geschaffen«.1 Mit diesem Kommentar leitete die rief, wie z. B. die Fischer-Kontroverse (1961–65) in französische Tageszeitung »Le Figaro« voller Be- Deutschland zur Problematik der Kriegsschuld. Fol- geisterung ihre Besprechung der ersten, 1964 in gende Fragen stellen sich daher: Wie wurden un- deutsch-französischer Koproduktion realisierten ter den Vorzeichen der Versöhnung gemeinsame zeithistorischen TV-Dokumentation ein. Beider- tagespolitische Interessen mit divergierenden in- seits des Rheins war nicht nur die Presse begeis- stitutions- und nationalspezifischen Vorstellungen tert, auch alle Beteiligten und die Politiker bis hin zu in Einklang gebracht? Wie erfolgte die televisuelle Bundeskanzler Ludwig Erhard lobten das Projekt. Vermittlung dieser Thematik erstmals unter Mitar- Die achtteilige Reihe »Trente ans d‘histoire« [30 Jah- beit von – sonst dem relativ jungen Medium Fernse- re Geschichte] des französischen Fernsehens RTF hen distanziert gegenüberstehenden – Historikern? bzw. ORTF2 aus den Jahren 1964/65 ist ein frühes Welche Selbst- und Fremdbilder auf nationaler und Beispiel gemeinsamer deutsch-französischer Fern- institutioneller Ebene werden im Produktionspro- sehgeschichte, das erstmals die Zeit von 1914 bis zess und im Produkt sichtbar? Und nicht zuletzt die 1944 ausschließlich mit Archivmaterial aufarbeitete. Frage nach der Wirkung, allerdings weniger einer di- Es ist heute in Vergessenheit geraten. Nicht in Ver- gessenheit geraten ist jedoch die kulturpolitische Absicht – mittlerweile institutionalisiert in ARTE –, ebenso wenig wie ein großer Teil des Bilderfundus und die zu seiner Vermittlung verwendeten Darstel- lungsstrategien.3 Die Beiträge über den Ersten Welt- 1 Dreissig Jahre Geschichte – ein Unternehmen ohne Beispiel. In: Le Figaro, 4.9.1964; zit. nach der deutschen Übersetzung in: WDR-In- krieg innerhalb des Gesamtprojekts entstanden in formation: Französische Pressestimmen, 9.9.1964, S. 2f. Historisches deutsch-französischer Koproduktion unter Beteili- Archiv des WDR, unverzeichneter Bestand Fernsehdirektion, Akte gung von Historikern aus beiden Ländern und wur- »Korrespondenz des Fernsehdirektors Hans Joachim Lange mit der Hauptabteilung Zeitgeschehen Fernsehen« [im Folgenden zitiert als: den in der Bundesrepublik und in Frankreich am sel- WDR HA. Lange]. ben Tag ausgestrahlt. In Frankreich handelte es sich 2 Am 27. Juni 1964 erhielt die staatliche französische Rundfunk- dabei um die bis dato aufwändigste zeitgeschicht- anstalt Radiodiffusion-télévision française (RTF) einen neuen Status liche Dokumentarreihe des jungen Mediums über- und wurde umbenannt in Office de radiodiffusion-télévision française (ORTF). – Vgl. Agnès Chauveau: Une institution sans cesse réformée. 4 haupt, in Deutschland war es das größte Projekt In: Jerôme Bourdon u. a. (Hrsg.): La Grande aventure du petit écran. dieser Art zum Ersten Weltkrieg. La télévision française, 1935–1975. Nanterre 1997, S. 42–46; Christian Brochand: Naissance de l’ORTF. In: Ebd., S. 72–73. 3 Herzlichen Dank für die Unterstützung der Recherche an Andrea Diese Koproduktion ist in mehrfacher Hinsicht in- Schmidt und Petra Witting-Nöthen (WDR Köln), Muriel Favre (DRA teressant – politisch, histor(iograf)isch und medi- Wiesbaden) und Christine Barbier-Bouvet (Inathèque Paris). – Für die al. Wie eng die drei Felder miteinander verwoben wissenschaftliche Nutzung der französischen Radio- und TV-Bestän- sind, wird im Konzept der Geschichtspolitik deut- de wurde in Paris die Inathèque eingerichtet. Der Katalog kann onli- ne (http://inatheque.ina.fr/) konsultiert werden. Bei Nachfragen hilft lich: Demnach konstituieren sich Politik und Ge- Christine Barbier-Bouvet (consultation-inatheque@fr) weiter. Infor- schichte wechselseitig in einem Prozess, in dem mationen zu französischen AV-Archiven in der Revue CinémAction: das Ringen um die Hegemonie von Deutungsmus- Les archives du cinéma et de la télévision, Nr. 97, 2000. 4 Laut Isabelle Veyrat-Masson gab es im französischen Fernse- tern und Diskursen von der massenmedialen Ver- hen nie wieder einen ähnlichen »Reichtum an Dokumenten« wie in 5 mittlung abhängt. Gegenstand der deutsch-fran- »Trente ans d’histoire«. Vgl. Isabelle Veyrat-Masson: Quand la télévi- zösischen Gemeinschaftsproduktion war mit dem sion explore le temps. L’histoire au petit écran 1953–2000. Paris 2000, Ersten Weltkrieg ein zeitgeschichtliches Ereignis, S. 118. 5 Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutsch- das nicht nur von den ehemaligen Kriegsgegnern land. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990. unterschiedlich interpretiert wurde, sondern auch Darmstadt 1999, S. 28f. 36 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

rekten, sondern vielmehr im Sinne eines Einflusses Die deutsch-französische Rundfunkkommission auf die Erinnerungskultur, die durch die Praxis me- dialer Geschichtsvermittlung via dokumentarischer Im März 1963 informierte Staatssekretär Karl-Gün- Formate und authentischer Bilder mitgeprägt ist. ther von Hase den WDR-Intendanten Klaus von Hatten die Filme Teil an der Schaffung von Schlüs- Bismarck, »daß beabsichtigt sei, eine allgemeine, selbildern und/oder der Initiierung spezifischer Re- übergeordnete Rundfunk- und Fernsehkommissi- präsentationsstrategien und Bilddiskurse? Gleich- on zu bilden, der zwei Vertreter der ARD (möglichst sam als Paradebeispiel einer »histoire croisée«6 ein Experte für Hörfunk, ein Experte für Fernse- erhellen erst die transnationalen, historischen und hen), ein Vertreter des Zweiten Deutschen Fernse- medialen Verflechtungszusammenhänge die Di- hens, ein Repräsentant der RTF (der nach Auffas- mensionen dieser ersten aufwändigen deutsch- sung der Bundesregierung und der ARD in diesem französischen TV-Koproduktion. Fall identisch ist mit dem Repräsentanten des fran- zösischen Staatsinteresses) und ein Repräsentant der Bundesregierung angehören sollen. […] Außer- Deutsch-französische TV-Kontakte dem soll je eine gesonderte Hörfunk- und Fernseh- kommission gebildet werden.«13 1964 berichtete der deutsche Botschafter in Pa- ris an das Auswärtige Amt, dass die Verantwortli- Aufgabe der Kommission war es, die technisch- chen des französischen Fernsehens »im allgemei- administrative Kooperation, die inhaltliche Zusam- nen nicht im Ruf stehen, Deutschland besonders menarbeit und den Austausch im Programmbe- wohl gesonnen zu sein«.7 Wie kamen zwei so un- reich auszubauen, wobei auch Koproduktionen terschiedlich verfasste, quasi gegensätzlichen Lo- anvisiert wurden. Die bisherigen Versuche von Ge- giken gehorchende Medienanstalten wie die öffent- meinschaftsproduktion waren »nicht recht vielver- lich-rechtliche ARD und die staatlich-zentralistische sprechend«, so der HR-Intendant Werner Hess, und RTF/ORTF auf dem verminten Terrain der Zeitge- seine Feststellung, dass der Hessische Rundfunk schichte zusammen? Initiativen für eine Zusammen- diesbezüglich »von vorne beginnen müsse«, galt arbeit hatte es bereits früh gegeben: So sah das deutsch-französische Kulturabkommen vom 23. Oktober 1954 unter anderem vor, den »Austausch von Rundfunk- und Fernsehsendungen, die der Verbreitung von Kulturgut gewidmet sind«, zu för- dern.8 1955 kam es zum Abschluss eines Fernseh- vertrags zwischen ARD und RTF, in dem sich beide 6 Vgl. Michael Werner und Bénédicte Zimmerman: Vergleich, Trans- Anstalten zum gegenseitigen Austausch von Nach- fer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforde- rung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28(2002), richtenfilmen sowie von Personal, zu einer intensi- S. 607–636. veren Berichterstattung über das Partnerland und 7 Zit. nach Ulrich Pfeil: Nicht alle Deutschen haben ein Herz aus zur Förderung von Koproduktionen verpflichteten.9 Stein. Das Bild des deutschen Widerstands in Frankreich nach 1945. Dieser Vorsatz ist aber, wie ein ARD-Kommissions- In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/2004, S. 23–30; Zitat, S. 27. 8 Abdruck in: Horst Möller und Klaus Hildebrandt (Hrsg.): Die Bun- bericht lapidar konstatierte, »niemals realisiert wor- desrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949–1963. Bd. den«.10 Entscheidende Impulse für die Annäherung 1. München 1997, S. 184–188; Zitat, S. 186. der Rundfunkanstalten gaben Anfang der 60er Jah- 9 Vgl. Ansbert Baumann: Zwischen Propaganda und Information. Die Entwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Hör- re die Regierungen: Ein deutsches Memorandum funk und Fernsehen. In: Revue d‘Allemagne et des pays de langue al- vom 8. November 1962 schlug gemeinsame Radio- lemande, Bd. 37, Nr. 1, 2005, S. 7–27 ; speziell S. 22. und Fernsehsendungen vor, um den Informations- 10 Dr. Weisenfeld: Niederschrift Tagung wegen der deutsch-franzö- stand von Deutschen und Franzosen übereinander sischen Zusammenarbeit am 26./27.4.1963, S. 4. DRA Wiesbaden. A 22 Hessischer Rundfunk: ARD-Akten der Intendanz 1963 [im Folgen- 11 zu verbessern. Der 1963 ratifizierte Elysée-Vertrag den zitiert als: DRA Wi. Intendanz]. formulierte dann eher allgemein, dass die »auf dem 11 Vgl. Ansbert Baumann: Begegnung der Völker? Der Elysée-Ver- Gebiet des Informationswesens bereits bestehen- trag und die Bundesrepublik Deutschland. Deutsch-französische Kul- turpolitik von 1963 bis 1969. Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 53. de Zusammenarbeit […] fortgeführt und ausgebaut« 12 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Fran- 12 werden sollte. Kurz darauf initiierte die Bundesre- zösischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit gierung die Einrichtung einer deutsch-französi- vom 22.1.1963 und Gemeinsame Erklärung. In: www.auswaertiges- schen Rundfunkkommission. Die Federführung fiel amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/dokumente/6-1n.pdf (Stand: 3.9.2006). dem WDR zu, der zu diesem Zeitpunkt geschäfts- 13 Brief von Bismarck an die ARD-Intendanten, 28.3.1963. DRA Wi. führende ARD-Anstalt war. Intendanz 1963. Steinle: Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen 37 auch für die anderen Sendeanstalten der ARD.14 halt von höchster Stelle Die Kenntnisse voneinander waren, wenn über- dürfte auch die Person haupt, gering: WDR-Intendant Weisenfelds eine nicht stellte bei einem Treffen mit »den leitenden Herren unbedeutende Rolle ge- der RTF« im April 1963 fest, dass diese »wenig oder spielt haben,22 waren er gar nicht über die Struktur des Rundfunks und Fern- und seine journalistische sehens in der Bundesrepublik orientiert« waren.15 Arbeit der französischen Regierung doch bereits Das erste Zusammenkommen der deutsch-fran- positiv aufgefallen. An- zösischen Rundfunkkommission fand am 26./27. lässlich des Deutschland- April 1963 in Köln statt. Vertreter der Bundesregie- besuchs von de Gaulle rung waren mit Beobachterstatus anwesend. Beim Dr. Ernst Weisenfeld. 1962 hatte der WDR- zweiten Treffen am 20./21. Juni 1963 in Paris war Quelle: WDR. Bildarchiv Redakteur einen Beitrag Staatssekretär von Hase noch als »stummer Beob- über den Lebensweg des achter der Bundesregierung« dabei.16 Nachdem je- französischen Präsidenten hergestellt. Dieser wur- doch der Intendant des SR auf der Eigenständig- de de Gaulle gezeigt, der »die Objektivität des deut- keit der Sendeanstalten beharrt hatte, sprachen schen Fernsehberichts ausdrücklich« hervorhob.23 sich die Intendanten einstimmig gegen eine weite- re Beteiligung der Bundesregierung aus, die fortan De Gaulle-TV aus westdeutscher Perspektive nur noch von den Ergebnissen unterrichtet wurde.17 Ab dem zweiten Treffen tagten die beiden unterge- Das Plazet von Peyrefitte war für den binationalen ordneten Kommissionen für Fernsehen und Hörfunk Charakter des Projekts unerlässlich. Im Gegensatz (hier war das ZDF nicht vertreten) getrennt. Im Ge- zur föderalen Struktur in Deutschland unterstand gensatz zur zwei Mal jährlich zusammen kommen- der Rundfunk in Frankreich dem Informationsminis- den Hörfunkkommission, die sich heute noch trifft, tagte die Fernsehkommission seltener und ver- zeichnete auch weniger konkrete Ergebnisse als 14 Brief Hess an von Bismarck, 8.5.1963. Ebd. – Einzige Ausnahme die Kollegen vom Radio. Die Einführung der unter- war Baden-Baden, wo 1962 mit der RTF die Unterhaltungsreihe »Pa- schiedlichen Farbfernsehnormen PAL und SECAM ris – ein Kind und Jacqueline« sowie die Sendung »Zwei in einer Hafen- in der Bundesrepublik und in Frankreich Mitte der stadt« produziert worden waren und seit Oktober 1962 Besprechun- 60er Jahre schränkte den deutsch-französischen gen zum Austausch von Dokumentationen und zur Realisierung von Kurz-Fernsehspielen liefen. Vgl. F.B. Zons: Frankreich im Programm Informationsaustausch ein. Nach 1974 trat die Fern- der westdeutschen Rundfunkanstalten, S. 1–13. Ebd. sehkommission nicht mehr zusammen.18 15 Vertrauliches Schreiben an die ARD-Intendanten, 23.4.1963. Ebd. 16 Brief von Bismarck an die ARD-Intendanten, 5.6.1963. Ebd. Der Weg zum Gemeinschaftsprojekt 17 Sybille Burmeister: Ein Projekt im Anschluß an den Elysée-Ver- trag. Die deutsch-französische Hörfunkkommission (1963–1969). In: Die Reihe »Trente ans d‘histoire« bzw. die kopro- RuG 25(1999), H. 1, S. 37–45; speziell S. 38f. duzierten Folgen über den Ersten Weltkrieg fanden 18 Baumann: Zwischen Propaganda und Information (Anm. 9), S. 25f.; Ders.: Begegnung der Völker? (Anm. 11), S. 60. nur mit einem Satz als erfolgreich abgeschlosse- 19 Compte rendu de la rencontre ARD-ZDF-ORTF, Paris 27.11.1964, nes Projekt Eingang in die ARD-Akten der Fern- S. 3; Protokoll über die Zusammenkunft […] am 28.5.1965 in Mainz, sehkommission.19 Das lag daran, dass die Idee von S. 8. DRA Wi. Intendanz 1965. 20 Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 2.9.1964; zitiert nach: WDR- Ernst Weisenfeld zu einer Gemeinschaftssendung Pressestelle: Kritiken zur Fernsehsendung, 5.10.1964 [im Folgen- über den Ersten Weltkrieg bereits aus dem Jahr den zitiert als Kritiken 1]. WDR HA. Lange. – Vgl. WDR-Information, 1962 stammte. In einer WDR-Pressekonferenz am 4.9.1964, S. 1–3. 1. September 1964 erklärte Chefredakteur Franz 21 Coproduction franco-allemande. In: Le Monde, 6.10.1964. 22 Ernst Weisenfeld (geb. 1933) hatte 1951 als Korrespondent des Wördemann, dass die Planung dem Abschluss NWDR in Paris angefangen. 1962 wurde er Chefkorrespondent des des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags Deutschen Fernsehens in Bonn und ab 1964 war er als Frankreich- weit vorausgegangen sei, wobei der Elysée-Vertrag korrespondent in Paris tätig, wo er 1970 die Studioleitung übernahm, bis er 1978 in den Ruhestand ging. – Vgl. Ernst Weisenfeld: 1963: Die »dann zur schnelleren Realisierung« beigetragen erste Koproduktion. In: WDR print, Nr. 339, 2004. S. 6f. Weisenfeld 20 habe. Am Tag der Vertragsunterzeichnung hat- hat zahlreiche Publikationen über Frankreich vorgelegt, die einfluss- te der Pariser ARD-Vertreter Ernst Weisenfeld dem reichste ist die in dritter Auflage erschienene »Geschichte Frankreichs französischen Informationsminister Alain Peyrefitte seit 1945: von de Gaulle bis zur Gegenwart« (München 1997, zuerst 1966). das Vorhaben vorgestellt und war von diesem zur 23 Fernseh-Informationen, 1. September-Ausgabe 1964; zit. nach: 21 Durchführung ermuntert worden. Für diesen Rück- Kritiken 1, S. 14f. WDR HA. Lange. 38 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) ter und war damit direkt der Kontrolle durch die Re- In dieser ebenso selbstbewussten wie selbstlegi- gierung unterworfen. Nicht zu Unrecht war das fran- timatorischen Pose schwingt zum einen die Erfah- zösische Fernsehen als »télévision du Général« und rung in der Auseinandersetzung um das »Adenauer- »Instrument der Regierung« verschrien.24 De Gaul- Fernsehen« und zum anderen die Aufwertung des le werden die Worte zugeschrieben: »la Télévision, föderalen Prinzips gegenüber dem neuen, zentralis- c‘est l‘état«25 und er nutzte seinen Einfluss eben- tisch organisierten Konkurrenten ZDF mit. so ausgiebig zur publikumswirksamen Selbstdar- stellung wie für zensorische Eingriffe.26 Vor diesem Hintergrund waren die ARD-Vertreter der Fernseh- Die Koproduktion als Teil kommission sehr selbstbewusst und blickten stolz, der französischen Reihe »Trente ans d‘histoire« wenn nicht sogar ein wenig mitleidig auf ihre franzö- sischen Kollegen, die dem Primat der Politik unter- Das ambitionierte und diplomatisch sensible Pro- worfen waren: Ein internes ARD-Gutachten sprach jekt einer gemeinsamen Sendung der ehemaligen von einem »reine[n] Staatsrundfunk« und attestier- Kriegsgegner über den Ersten Weltkrieg fügte sich te dem RTF-Generaldirektor Robert Bordaz, »we- auf französischer Seite in einen größeren erinne- der politisch noch publizistisch interessiert« zu sein, rungspolitischen Rahmen. 1964 war zugleich der so dass es »weder politische Reibereien noch etwa 50. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs eine Verteidigung der Autonomie des Hauses« gebe. und der 20. Jahrestag der Befreiung im Zweiten Auch sei aufgrund politischer Platzierungen von Mit- Weltkrieg. Anlässlich dieser Jubiläen wurde auf In- arbeitern »der grösste Teil der Beschäftigten unfä- itiative von Jean Sainteny – als ‚Ministre des An- hig«. Der Vorteil für die Zusammenarbeit sei aber, ciens Combattants‘ zuständig für ehemalige Sol- dass alles, »was die Regierung auf diesem Gebiet daten, Widerstandskämpfer und Kriegsopfer – ein aus dem deutsch-französischen Vertrag herleiten Nationalkomitee gegründet: Dieses ‚Comité natio- will, von treuen Gaullisten ausgeführt werden wird«.27 nal des deux anniversaires‘ sollte die über das Jahr verteilten Aktivitäten wie Gedenkveranstaltungen, Die anstaltsinterne Wahrnehmung spiegelt sich Ausstellungen und andere Feierlichkeiten organi- auch in der deutschen Presseberichterstattung sieren und koordinieren.30 Beteiligt waren namhaf- rund um die Koproduktion zum Ersten Weltkrieg te Persönlichkeiten, darunter als Vorsitzender Henri wieder. Beispielsweise, indem ein Artikel über die Michel, ehemaliger Kämpfer der Résistance und in Genese der Sendung erwähnt, dass diese vom fran- der Nachkriegszeit deren Historiograph sowie ein- zösischen Informationsminister genehmigt worden flussreicher französischer Zeithistoriker.31 Der Auf- war: »Auf die Frage, wer dem WDR den Film geneh- trag für eine großangelegte Fernsehreihe, die die migt habe, erhielt die NRZ [Neue Ruhr-Zeitung] die Zeitspanne zwischen den beiden Schlüsseldaten Antwort: Niemand. Das ist der kleine Unterschied 1914 und 1944 behandeln sollte, ging auf die Anre- zwischen staatlichem Fernsehen und – noch – re- gung des Komitees zurück. lativ unabhängiger Anstalt.«28 So nutzten die ARD- Verantwortlichen das Projekt auch zur Selbstdar- stellung und Propagierung der Unabhängigkeit. 24 Baumann: Begegnung der Völker? (Anm. 11), S. 54. 25 Schreiben der Intendanz: Vertrauliche Information über die RTF, Explizit geschah dies in der Ankündigung der ers- 23.4.1963, S. 1–6. WDR HA. Lange. ten Folge durch den WDR-Intendanten Klaus von 26 Vgl. Jerôme Bourdon: Comment la télévision est entrée en po- Bismarck, der sich mit folgenden Worten live an die litique. In: Ders. u.a.: La Grande aventure du petit écran (Anm. 2), S. 86–91. Zuschauer wandte: 27 Portrait-Skizze RTF von Fried Wesemann, 6.5.1963. DRA Wi. In- »In Frankreich würdigt heute abend ein Mitglied tendanz 1963. der Regierung dieses Ereignis, diese gemeinsa- 28 Kurt Gehrmann. In: Neue Ruhr-Zeitung, 3.9.1964, zit. nach: Kriti- me Darstellung von Jahren, in denen wir erbitterte ken 1, S. 5. WDR HA. Lange. 29 [Klaus von Bismarck]: Manuskript zum Vorspruch zur Sendung Gegner waren. Es entspricht mehr unserer von der »1914–1918« am 2.9.1964. WDR HA. Nr. 5230. Regierung unabhängigen Rundfunk- und Fernseh- 30 RTF: Bulletin de presse, 30.8.–5.9.1964, Nr. 36, S. 9–10. verfassung, wenn wir diese Würdigung selbst vor- 31 Henri Michel (1907–1986), Sozialist und überzeugter Gaullist, ver- dankte seine zentrale Position vor allem seiner Funktion als Präsident nehmen. Als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft des ‚Comité d‘histoire de la seconde guerre mondiale‘. Erfahrungen der Rundfunkanstalten, als Intendant des WDR und mit dem Film hatte er 1955/56 als historischer Berater für »Nuit et bru- nicht zuletzt als Angehöriger einer mitbetroffenen illard« [deutscher Verleihtitel: Nacht und Nebel] (1956) gesammelt, den Generation bin ich froh, Sie auf das Bedeutsame Alain Resnais im Auftrag des von Michel geleiteten Komitees realisier- te. Die Folgen zum Zweiten Weltkrieg von »Trente ans d‘histoire« stan- dieser ersten derartigen Gemeinschaftsproduktion den unter der Leitung von Michel, der auch für den Entwurf verantwort- 29 hinweisen zu dürfen.« lich war. Steinle: Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen 39

Die daraufhin realisierte und 1964/65 ausgestrahlte Geschichtsverständnisses, wie es das im Namen Reihe »Trente ans d‘histoire« umfasste drei Blöcke: der Reihe anklingende Konzept verdeutlicht und drei Sendungen zum Ersten Weltkrieg 1914–1918, eine Pressemitteilung des Senders explizit machte. eine zur Zwischenkriegszeit 1919–1939 und drei »Trente ans d‘histoire« behandele demnach die Zeit zum Zweiten Weltkrieg 1939–1944, der im nachhin- 1914 bis 1944, weil es sich um einen einzigen großen ein noch eine vierte über das letzte Kriegsjahr hin- Konflikt gehandelt habe, der 1914 ausgebrochen zugefügt wurde.32 Verschiedene Teams gestalteten und nach einer Pause 1939 weitergegangen sei: die Filme jeder Einheit stilistisch entsprechend un- »C‘est en fait une nouvelle ‚guerre de trente ans‘« terschiedlich, wobei alle Sendungen ausschließlich – ein neuer Dreißigjähriger Krieg.37 Auch eine über- auf Archivmaterial aufbauten. Um ein »großes his- zeitlich-religiöse Dimension klingt in dem Verweis torisches Fresko« zu schaffen,33 wurde zunächst auf den Dreißigjährigen Krieg an. Damit wurden die bei renommierten Historikern ein Entwurf bestellt, innenpolitischen Widersprüche, vor allem die Spe- der unter Berücksichtigung der Politik-, Diploma- zifik der Vichy-Diktatur und der Kollaboration, als tie-, Militär-, Wirtschafts- und Ideengeschichte Fußnoten im Rahmen eines überzeitlichen, globalen den Rahmen abstecken sollte. Für 1914–1918 wa- Konfliktes der Moderne entsorgt. So ist das Konzept ren dies Pierre Renouvin, Professor an der Sorbon- von »Trente ans d‘histoire« symptomatisch für den ne, und Georg Eckert, Professor an der Universi- gaullistischen Résistance-Mythos in der von Hen- tät Braunschweig; für 1919–1939 Maurice Baumont, ry Rousso für die Zeit von 1954 bis 1971 konstatier- Professor an der Sorbonne, sowie für 1939–1945 ten Periode der Verdrängung von Vichy. Sympto- Henri Michel. Die konkrete Filmproduktion begleite- matischerweise fiel die Produktion der Fernsehreihe ten zwei jüngere Geschichtswissenschaftler als his- in das Jahr des Höhepunkts dieser Phase des »Vi- torische Berater, nämlich für 1914–1918 Marc Fer- chy-Syndroms«, den die feierliche Überführung der ro und für 1919–1945 Georges Merlier, so dass der sterblichen Überreste von Jean Moulin ins Panthe- Akzent ganz bewusst auf historische Sorgfalt dank on im Dezember 1964 darstellte.38 – männlicher – akademischer Autorität gelegt wurde. Daneben waren aber mit Solange Peter für den Ers- ten und Suzanne Baron für den Zweiten Weltkrieg Die Koproduktion Regisseurinnen mit der Realisierung der wichtigs- »La Grande Guerre/1914–1918/ ten Filme betraut.34 Für alle Beiträge wurde Original- Der Erste Weltkrieg« Filmmusik komponiert, für 1914–1918 durch Jean Wiener, für 1919–1939 durch Jeacques Loussier, Diese Aspekte gaullistischer Geschichtspolitik blie- sowie für 1939–1945 durch Antoine Duhamel. ben dem deutschen Fernsehpublikum verborgen, da es nur die koproduzierten Folgen zum Ersten Im Auftrag der französischen Regierung Weltkrieg zu sehen bekam. Der Filmtitel war zwei- sprachig gehalten: »La Grande Guerre/1914–1918 Indem Minister Sainteny akzeptierte, die WDR- ORTF-Koproduktion über den Ersten Weltkrieg in die Reihe aufzunehmen, verschaffte er dem Projekt 32 Erster Weltkrieg: In Frankreich drei Sendetermine am 2.9.1964, 16.9.1964, 28.9.1964; in Deutschland nur die ersten beiden (Gründe da- eine breite Aufmerksamkeit in der Presse und nicht für im Folgenden). Zwischenkriegszeit: Der vorgesehene Termin vom zuletzt bedeutende finanzielle Mittel. So trug der 26.9.1964 wurde auf das historische Datum am 9.11.1964 verschoben. »französische Veteranen-Minister« laut Intendant Zweiter Weltkrieg: 30.11.1964, 14.12.1964, 18.1.1965, 17.6.1965. 33 RTF: Bulletin de presse, 30.8.–5.9.1964, Nr. 36, S. 10. von Bismarck einen erheblichen Teil der Kosten, 34 Solange Peter hatte Frédéric Rossifs Tierfilme in der Reihe »La »etwa 400- bis 650.000 DM«, weil die Dokumenta- vie des animaux« produziert. Suzanne Baron war u. a. für den Schnitt tion in Frankreich bei öffentlichen Veranstaltungen der Filme von Jacques Tati verantwortlich. Für »Trente ans d’histoire« und in Schulen langfristig eingesetzt werden soll- empfahl sie sich als Cutterin der in Frankreich viel beachteten Filme »Le temps du ghetto« (1961) und »Mourir à Madrid« (1963) von Rossif, 35 te. Gleichzeitig wurde »Trente ans d‘histoire« da- dessen kompilatorische Methode Schule machte. mit aber auch in Frankreich explizit zu einer Auf- 35 Brief von Bismarck an von Hase, 14.10.1964. WDR HA. Lange. – Vgl. tragsarbeit für die Regierung. Nach einstimmiger Coproduction franco-allemande. In: Le Monde, 6.10.1964. 36 Alle Informationen zur Produktionsgeschichte stammen, soweit Aussage von Ernst Weisenfeld und Marc Ferro hat- nicht anders vermerkt, aus einem Interview des Verfassers mit Marc te sich die politische Führung nicht in die inhaltliche Ferro am 30. September 2005 sowie einem Telefoninterview des Ver- Gestaltung der deutsch-französischen Koproduk- fassers mit Ernst Weisenfeld am 9. Juni 2006. tion über den Ersten Weltkrieg eingemischt.36 Der 37 RTF: Bulletin de presse, Nr. 36, 30.8.–5.9.1964, S. 9f. 38 Vgl. Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours Rahmen und das Konzept der Reihe aber stellten [1987]. Paris 1990, S. 77ff. Éric Conan und H. Rousso: Vichy, un passé die Sendung unter die Vorzeichen gaullistischen qui ne passe pas. Paris 1996, S. 31ff. 40 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

/ Der Erste Weltkrieg« (im Folgenden »1914–1918«). wurde die TV-Produktion in den Studios von ‚Pa- Hergestellt wurden die Sendungen in Paris, nicht thé Cinéma‘ realisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg zuletzt aus produktionstechnischen Gründen. So hatte sich dieser Filmkonzern auf die Unterhaltung stammten nur knapp zehn Prozent des Bildmateri- von Kinohäusern konzentriert, betrieb daneben als aus deutschen Archiven, »hunderttausend Film- aber noch Studios, die vermietet und für eigene metern aus alliierten Quellen, die als Rohmaterial zur sowie Koproduktionen genutzt wurden. Den Kom- Verfügung standen, waren nur 10.000 Meter deut- mentartext hatte Ferro verfasst, der dann von Paul scherseits gegenüberzustellen«.39 Das Missverhält- Guimard und Jacques Legris ‚fernsehtauglich‘ ge- nis lag unter anderem darin begründet, dass ein macht wurde. Die deutsche Übersetzung besorgte Grossteil des Archivbestands nach dem Zweiten Ernst Weisenfeld. Weltkrieg der DDR zugefallen war. Insgesamt sollen 200.000 Meter Film gesichtet worden sein, von de- Betonung des binationalen Charakters nen 50.000 ausgewählt wurden, um daraus schließ- lich 4.000 Meter zu verwenden.40 Die Abstimmung zwischen den französischen und den deutschen Historikern bereitete keine größeren Die Beratung oblag mit den Historikern Pierre Re- Probleme. Wenn es Konflikte gab, beruhten diese nouvin und Georg Eckert zwei Spezialisten der weniger auf einer deutsch-französischen Differenz deutsch-französischen Beziehungsgeschichte, »die als vielmehr auf einer zwischen »links und rechts«, sich schon früher um die Ausmerzung von Ge- wie Marc Ferro sich erinnert: So wollte beispielswei- schichtslügen aus den beiderseitigen Schulbü- se die französische Seite Streiks und Revolutionen chern verdient gemacht« hatten, wie der ARD- wesentlich ausführlicher behandelt sehen als die Pressedienst betonte.41 deutsche. Marc Ferro betont, dass er die Mitarbeit Um die deutsche Redak- der deutschen Historiker nicht als Kontrolle emp- tion kümmerten sich in fand, sondern vielmehr als Element, das die aus- Köln Heinz-Werner Hüb- führende französische Seite zur Genauigkeit zwang ner und Irene Rietschel und »nationalchauvinistische Tendenzen« verhin- sowie in Paris Ernst Wei- derte – was zur außergewöhnlichen Qualität der senfeld, der als Initiator Sendung entscheidend beigetragen habe.44 das Projekt vor Ort be- treute. Die Autoren des Der binationale Charakter der gemeinsam erarbei- Films waren Solange Pe- teten Sicht auf die Geschichte sollte eine Entspre- ter und Marc Ferro, des- sen Doktorarbeit von Re- nouvin betreut wurde.42 Marc Ferro. Mit frdl. Geneh- 39 Kurt Gehrmann. In: Neue Rhein-Zeitung, 3.9.1964. Zit. nach: Kriti- migung von Marc Ferro Zunächst sollte Ferro ken 1, S. 5. WDR HA. Lange. nur als historischer Be- 40 Télé 7 jours, Nr. 232, 29.9.–4.10.1964, S. 38. rater des als Autor vorgesehenen Frédéric Rossif 41 ARD: Pressedienst, Nr. 36, 2.9.1964, S. 17f. DRA Wi. Intendanz mitwirken, als dieser jedoch absagte, wurde Ferro 1964. – Pierre Renouvin hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und war schwer verwundet worden. Seine wichtigste Publikation aus dem neben Solange Peter Koautor. Nach eigener Aus- Jahr 1934 – »La crise européenne et la Grande Guerre (1904–1918)« – sage verstand er nichts vom »film de montage« wurde fünf Mal neu aufgelegt und über 50.000 Mal verkauft. Georg und Solange Peter kannte sich weder mit Kompila- Eckert (1912–1974) setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem er als Offizier teilgenommen hatte, für internationale Verständigung tionsfilm noch mit Geschichte aus. Als ausführen- durch Geschichtsunterricht und Schulbucharbeit ein. Von ihm ging der de Produzentin organisierte sie die Arbeit und war Anstoß für die ersten großen Konferenzen zwischen früheren Kriegs- mehr »chef d‘équipe« als Regisseurin im eigentli- gegnern aus. Seit 1949 lehrte Eckert als Professor für Geschichtsdi- chen Sinne, in dieser Funktion aber »formidabel« daktik in Braunschweig. 42 Marc Ferro (geb. 1924) war im Zweiten Weltkrieg in der Résistance (Marc Ferro). Dementsprechend spielte die Schnitt- aktiv, unterrichtete von 1946 bis 1960 an einem Gymnasium in Alge- meisterin Denise Baby nicht nur für die Montage, rien Geschichte, bevor er in Paris an der Ecole des Hautes Etudes en sondern auch für die Auswahl, Bewertung und Ver- Sciences Sociales arbeitete. Zu biografischen Angaben siehe das In- 43 terview mit ihm von François Garçon und Pierre Sorlin: Marc Ferro, de wendung des Materials eine zentrale Rolle. Ernst Braudel à »Histoire parallèle«. In: CinémAction: Cinéma et histoire. Au- Weisenfeld erinnert sich, dass sie die »eigentlichen tour de Marc Ferro, Nr. 65, 1992, S. 45–57. Fäden« in der Hand hatte und laut Ferro ist ihr die 43 Ebd., S. 52. – Zu Baby lassen sich keine biografischen Daten er- ästhetische Qualität des Films zu verdanken. Nicht mitteln. 1962 hatte sie u. a. an »Der Prozess« von Orson Welles mitge- arbeitet. unbedeutend dafür ist die Tatsache, dass Baby 44 Veyrat-Masson: Quand la télévision explore le temps (Anm. 4), vom Film kam und kinematografisch dachte. Auch S. 119. Steinle: Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen 41 chung auf der Zeitebene durch gleichzeitige Aus- der Kritiker der »Welt«, dass in Frankreich der Krieg strahlung finden. Diese erfolgte dann nicht wie auf den Bildschirmen eine Viertelstunde länger als vorgesehen zum Jahrestag des Beginns des Ers- in Deutschland dauerte, »die Franzosen haben noch ten Weltkriegs, weil das Datum in die französischen einige Meter Gloire in den Streifen eingeschnitten. Sommerferien fiel. Stattdessen wurde auf franzö- Im französischen Text der Dokumentation ist nur sischen Wunsch der Sendetermin um einen Monat schlicht von Revanche die Rede, im Deutschen wer- nach hinten auf den 2. September verschoben.45 In den die Dinge deutlicher beim Namen genannt, dort Frankreich wurden die Sendungen in den Fernseh- heißt es Revanche für 1871 und Revanche für Elsaß- zeitschriften mit mehrseitigen Fotostrecken und so- Lothringen. Sonst, so versichern die Autoren, sind gar Preisrätseln beworben, und die deutschen Ta- Bild und Kommentar identisch.«49 geszeitungen berichteten im Vorfeld ausführlich über das gemeinsame Fernsehereignis beiderseits Zur Gestaltung von »1914–1918« des Rheins. Die Ankündigungen der Sendeanstalten als Kompilationsfilm und die Pressereaktionen hoben die symbolische Funktion der gleichzeitigen Ausstrahlung beson- »1914–1918« basiert weitestgehend auf Archivbil- ders hervor – was aller- dern, das heißt auf alten Filmaufnahmen sowie ab- dings nur den Tag betraf: gefilmten Fotos, Zeitungen, Postern, Briefen und an- Während alle Folgen im deren Zeitdokumenten. Es handelte sich also um französischen Fernsehen bereits existierendes Material, das im Prozess der zur Hauptsendezeit um Montage zu einem neuen Sinngefüge kompiliert 20.30 Uhr liefen, strahlte wurde und zumeist durch zusätzlichen Ton (Kom- sie die ARD erst um 21.45 mentar und Musik) eine eindeutige Erklärung er- Uhr aus, was von den hielt.50 Der Authentizitäts-Effekt ist aufgrund der meisten Kritikern als »ab- Aura des ‚Vorgefundenen‘, des unabhängig vom sonderliche Programm- Autor Entstandenen, besonders groß, womit Ge- gestaltung«46 scharf be- schichte selbstevident zur Anschauung zu kommen mängelt wurde. scheint. Damit stand »Trente ans d‘histoire« in der Tradition groß angelegter Kompilationsfilme, wie sie Während in Frankreich seit Mitte der 50er Jahre Andrew und Annelie Thorn- drei Teile gesendet wur- dike, Erwin Leiser, Paul Rotha und Frédéric Rossif den, reichten in Deutsch- fürs Kino produziert hatten. Aber auch die ARD hat- land zwei Termine und te mit der 15-teiligen Reihe »Das Dritte Reich« 1960/ entgegen allen Beteue- 61 ein aufwändiges Projekt mit kompilierten Archiv- rungen scheint die deut- bildern realisiert. Im Gegensatz zu dieser wurde in sche Fassung zirka eine »Trente ans d‘histoire« ganz bewusst auf Zeitzeu- Viertelstunde kürzer zu geninterviews verzichtet, um ausschließlich »au- sein.47 Während die meis- thentische Dokumente« sprechen zu lassen.51 ten Presseankündigungen Neben dem in aufwändiger Recherche aus inter- und Kritiken sowie auch Minister Sainteny in sei- Der programmatisch zwei- sprachige Titel im Vorspann nen einführenden Worten und der Abspann der von »gleichem Text, glei- 45 Fernseh-Informationen, 1. Sept.-Ausgabe 1964; zit. n.: Kritiken 1, französischen Kinofassung. chem Bild« sprachen, er- Videostills der 1990 S. 14–15. WDR HA. Lange. edierten Pathé-Kauf- klärte Intendant von Bis- 46 Saarbrücker Landzeitung, 4.9.1964; zit. n. Kritiken 1, S. 13. Ebd. kassette (vgl. Anm. 47) marck dem deutschen 47 ORTF hatte drei Sendeplätze à 50 Minuten, die ARD zwei à 60 Mi- nuten. Eine 1990 von Pathé unter dem Titel »C‘était 1914–1918« kom- Publikum, dass die Ein- merzialisierte VHS-Edition vermerkt auf dem Cover 154 Minuten, dau- bettung der Reihe in Frankreich in Erinnerungsfei- ert aber nur 135 Minuten und scheint die Originalfassung zu sein, die ern zu »einigen unwesentlichen Veränderungen der wie die deutsche Ausstrahlung in zwei Abschnitte gegliedert ist. Dem- Bildfolge« geführt hätte. Zudem hätte differieren- entsprechend ist davon auszugehen, dass die deutsche Fassung – im- merhin! – 15 Minuten kürzer war. des Wissen auf beiden Seiten unterschiedlich aus- 48 Zit. n. Information WDR, 40b/64, 4.9.1964. WDR HA. Lange. führliche Beschreibung erfordert: »Aber jeder ging 49 Gustav Trampe. In: Die Welt, 3.9.1964; zit. n.: Kritiken 1, S. 3. WDR von einer vorletzten Fassung aus, in der Bild und HA. Lange. 50 Vgl. Jay Leyda: Filme aus Filmen – Eine Studie über den Kompila- Text gemeinsam waren, und jede Abweichung wur- tionsfilm. Berlin 1967. 48 de vereinbart.« Über die Unterschiede vermerkte 51 RTF: Bulletin de presse, Nr. 36, 30.8.–5.9.1964, S. 9f. 42 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) nationalen Archiven beschafften Bildmaterial wur- akademische Narration« (Marc Ferro), die aus der de für »1914–1918« ein wichtiges visuelles Element Perspektive des allwissenden Kommentators die zusätzlich angefertigt: Animierte Landkarten, auf Geschichte erzählt. Wurden die Bilder auch von denen die Frontverläufe und deren Verschiebungen den Historikern auf ihren Dokumentstatus hin ge- mittels Pfeilen oder eingefärbten Flächen plastisch prüft, so funktionieren sie im Film eher als Monu- nachvollziehbar gemacht wurden. Die Farbmeta- mente, die viel mehr auf historische Ereignisse ver- phorik – Frankreich in weiß wird von den grau ein- weisen, als etwas beweisen. gefärbten deutschen Truppenbewegungen ‚über- flutet‘ – macht dabei deutlich, wer Aggressor und Erfolg beiderseits des Rheins wer Verteidiger ist und wer die Sequenzen hat an- fertigen lassen. In Deutschland lief die erste Folge unter dem Titel »Von Sarajewo bis Verdun«, die zweite Folge unter Die ausschließlich stummen Bilder wurden durch dem Titel »Von den Materialschlachten bis zur Ab- drei Elemente vertont: Kommentar, Toneffekte und dankung des Kaisers«. Infratest ermittelte eine Seh- Musik. Zwei männliche Sprecherstimmen (Renaud beteiligung von 23% respektive 20% und maß einen Mary, Roger Pigaut) kommentieren im Wechselspiel hohen Zustimmungsindex von +4 bzw. +5 auf einer die Bilder. Der Tonfall des Voice over-Kommentars Skala von -10 bis +10.53 Die Kritik war beiderseits bedient sich unterschiedlicher rhetorischer Stilmit- des Rheins überdurchschnittlich gut. So lobte »Le tel, von nüchtern-sachlicher Beschreibung über Monde«, die Folgen hätten »ein objektives und um- Einfühlung und Empörung bis hin zu sarkastisch- fassendes Bild der Ereignisse […] in der einfachs- zynischen Untertönen, wenn etwa festgestellt wird, ten und ehrlichsten Weise« gegeben. »Le Figaro« dass die Soldaten moderne Techniker sind und wertete die »parallele Dokumentation« als »Ereig- gleichzeitig in Höhlen leben. Die Musik, insgesamt nis ohne gleichen […] voll gewichtiger Bedeutung«.54 eine knappe Stunde eigens für den Film geschrie- Von Bismarck vermerkte, dass die deutsche Presse bener Komposition, wurde von Jean Wiener entwor- in einem Umfang reagierte, »wie es sonst nur in we- fen. Zur Untermalung der dramatischen Bilder hatte nigen Fällen zu beobachten ist«, wobei »der politi- der Komponist versucht, möglichst einfache The- sche Sinn unseres Unternehmens wohlverstanden men zu finden, wie das den Schützengräben unter- und sehr begrüßt wurde«55 und er ließ das Pressee- legte Motiv vom »armen Soldaten von überall«.52 In cho allen Mitgliedern des Bundestags schicken. »Le der von einem Orchester eingespielten Musik domi- Figaro« veröffentlichte einen Brief Erhards, in dem nieren Streich- sowie Blas- und Schlaginstrumente, der Kanzler seine Freude über die »réalisation ob- je nachdem, ob die traurige Kriegsrealität oder Mo- jective et juste« deutsch-französischer Zusammen- bilisierung und militärisches Selbstverständnis il- arbeit äußerte.56 lustriert werden. Neben Tondokumenten wie Reden sind besonders die Toneffekte interessant, die häu- Wie gelang das Kunststück, scheinbar alle zufrie- fig ohne musikalische Untermalung die Bilder be- den zu stellen? Die Historikerin Annie Kriegel sah gleiten. Diese sind illustrierend-mimetischer Natur den außergewöhnlichen Erfolg in drei Gründen, die wie Pferdegetrappel, wenn Kavallerie zu sehen ist, die Qualitäten von »1914–1918« auf den Punkt brin- oder Kanonenlärm, der den zahlreichen Kampfbil- gen: 1. die gelungene »Alchemie« von Materialaus- dern unterlegt ist. Dafür waren von Militärhistorikern die jeweiligen Geschütze identifiziert worden und im

Schallarchiv der Armee die jeweils entsprechenden 52 Siehe das Interview mit Jean Wiener in der Sendung »Au dela de Töne herausgesucht worden. l‘écran« (ORTF, 20.9.1964), Bestand Inathèque. 53 Die Wiederholung am Sonntag (15.11.1964) um 15.15 Uhr hatte eine Weite Teile des Films prägen Kampfbilder, die nur Sehbeteiligung von 33% bei gleicher Akzeptanz. WDR: Jahresbericht des Intendanten für die Zeit vom 1.1.–3.12.1964, S. 62, DRA Wi. Inten- von Geschützdonner und Explosionsgeräuschen danz 1965. begleitet, die faszinative Seite des Kriegsfilm-Gen- 54 Jaques Sicilier: In: Le Monde, 4.9.1964; André Brincourt: Drei- res ausmachen und an die Kriegswochenschauen ßig Jahre Geschichte – ein Unternehmen ohne Beispiel. In: Le Figa- ro, 4.9.1964, deutsche Übersetzung zit. n.: WDR Information, 9.9.1964. aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern. Aber der Film WDR HA. Lange. Die lobenden Reaktionen vermittelte in Deutschland belässt es nicht bei einer Aneinanderreihung von ein »Französische Stimmen zu ‚1914 – 1918‘« betitelter Artikel in: Kir- Schlachtbildern, sondern wendet sich neben dem che und Fernsehen, Nr. 37, 12.9.1964. Kriegsalltag an der Front auch dem an der Heimat- 55 Brief an M. Gérard, 5.10.1964. WDR HA. Lange. – Der vom WDR er- stellte Pressespiegel bestätigt diese Einschätzung. front zu und erläutert die internationale Politik hinter 56 A[ndré] B[rincourt]: A propos de la co-production »Trente ans den Kulissen. Insgesamt handelt es sich um »eine d’histoire«. In: Le Figaro, 22.10.1964. Steinle: Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen 43

wahl und filmischem Rhythmus, 2. die Darstellung aktionen in beiden Ländern wider. Der Kritiker der des Krieges als globalen Konflikt, 3. die Reflexion »Rheinischen Post« brachte dies auf die »vielleicht der verschiedenen Aspekte des totalen Krieges un- etwas zu einfach[e], hier aber sehr dienlich[e]« For- ter Berücksichtigung der Heimatfront und psycho- mel, »daß die Völker überall den Frieden gewollt hät- logischer Faktoren. In ihrer lobenden Würdigung er- ten, die Völker, nicht aber die Regierungen und die hob Annie Kriegel aber auch drei Einwände, die das Militärs«.60 Auf deutscher Seite finden sich in den allgemein positive Echo neben der inhaltlich und äs- Pressereaktionen vereinzelt auch kritische Stimmen thetisch gelungenen Umsetzung auch in bewussten bezüglich der »Züge des Kompromisses«61 und der Leerstellen erklären: 1. die Abwesenheit einer Posi- damit verbundenen »Gefahr, daß dieser Filmbe- tionierung über die Ursachen des Konflikts, 2. eine richt zu keimfrei wird.«62 Der generelle Pressete- Überbetonung der Absurdität des Krieges als pä- nor aber hob beiderseits des Rheins die Objekti- dagogisch korrektes ex post-Urteil unter Vernach- vität hervor und lobte das solchermaßen skizzierte lässigung der historischen Motivationen, 3. mit dem Geschichtsbild. Auch die beteiligten Historiker zeig- Waffenstillstand abzublenden, ohne eine Bilanz zu ten sich höchst zufrieden. Für den um Zusammen- ziehen.57 arbeit mit französischen Geschichtslehrern und His- torikern bemühten Georg Eckert war die Sendung Der sinnlose Krieg als Konsens »bis zu einem gewissen Grade die Krönung unserer Arbeit«63 und für Marc Ferro sein »schönstes Aben- Diese Einwände verweisen auf ein maßgebliches teuer«.64 Element für die konsensuelle deutsch-französische Perspektive auf den Ersten Weltkrieg: Man einig- Scharmützel der »Bürokratie der alten Kämpfer« te sich auf das Bild des sinnlosen Schlachtens in einem Konflikt, in dem sich keine der Parteien die Die Zusammenarbeit der beiden Fernsehanstalten Grausamkeit des modernen Krieges hatte vorstel- hatte gut und weitgehend harmonisch funktioniert, len können. Dementsprechend waren alle Opfer der so dass Intendant Klaus von Bismarck sich bei sei- ‚Katastrophe Krieg‘, wie der Anfang der ersten Folge nem französischen Kollegen und dessen Mitarbei- verdeutlicht. Zu sehen sind Luftaufnahmen von Ru- tern für »das hohe Maß der Fairneß« bedankte.65 inen und verwüsteter Landschaft, gefolgt von lang- Dass das Projekt trotzdem nicht immer einfach ge- samen Schwenks über zerstörte Häuser, untermalt wesen sein muss, bezeugt ein Brief von Ernst Wei- von getragener Musik. Der Voice over-Kommentar senfeld, für den es ein »Krieg an mehreren Fronten« setzt ein mit einem Zitat des französischen Schrift- war, in dem es »manchmal etwas düster aussah«. stellers Guillaume Apollinaire, »Oh Gott, wie schön Den »letzten Kriegsschauplatz dieses Unterneh- ist der Krieg« aus dem Jahr 1914, wozu die Bildebe- mens« stellte der Versuch der »Bürokratie der al- ne als Kontrapunkt Aufnahmen von Leichen, Kriegs- ten Kämpfer« dar, den Erfolg an sich zu reißen.66 krüppeln und einem Soldatenfriedhof mit endlosen Das Ministerium der ‚Anciens Combattants‘ hatte Kreuzreihen zeigt. In Großaufnahmen werden dar- verlautbaren lassen, es handele sich nicht »wie zu auf ein französisches und ein deutsches Grabkreuz Unrecht behauptet, um eine deutsch-französische hervorgehoben, bevor der Film zum Vorabend des Gemeinschaftsproduktion, sondern, genauer ge- Krieges übergeht. So stellt die Eingangssequenz den Ersten Weltkrieg unter die Vorzeichen sinnlo- ser Zerstörung in einem absurden Konflikt, was den 57 Vgl. Annie Kriegel, Marc Ferro, Alain Besançon: Histoire et ciné- verbindenden Ton von »1914–1918« darstellt. Unge- ma: l’expérience de »la Grande Guerre«. In: Annales E.S.C., 20(1965), wöhnlich ist die ironische Distanz, mit der im Fol- Nr. 2, S. 327–336; speziell, S. 331ff. genden das Militär als Institution der Lächerlichkeit 58 Telepress, Nr. 39, 24.9.1964, zit. n.: Kritiken zur Fernsehsendung, preisgegeben wird. Die realsatirische Wirkung von 5.10.1964 [im Folgenden zit. als: Kritiken 2], S. 1–8; speziell, S. 7. WDR HA. Lange. Manöverbildern, in denen Frauen mit Sonnenschirm 59 Le telescope. In: Télérama, Nr. 736, 11.–17.10.1964, S. 22. dem Spektakel beiwohnen, unterstreicht der Kom- 60 Br. In: Rheinische Post, 18.9.1964; zit. n.: Kritiken 2, S. 3. WDR HA. mentar mit der Bemerkung, dass die verantwortli- Lange. 61 Kurt Gehrmann. In: Neue Ruhr-Zeitung, 3.9.1964, zit. n.: Kritiken 1, chen Politiker und Militärs den Krieg als »Landpar- S. 5. Ebd. tie« verkannten. 62 Johann Wohlgemuth. In: Westfälische Rundschau, 3.9.1964; zit. n.: Kritiken 1, S. 6. Ebd. Die Wahrnehmung einer »humanen Grundten- 63 Brief an von Bismarck, 14.10.1964. Ebd. 58 64 François Garçon und Pierre Sorlin: Marc Ferro (Anm. 42), S. 52. denz« und »fürchterlichen Verdammung des Krie- 65 Brief an M. Gérard, 5.10.1964. WDR HA. Lange. 59 ges« spiegelt sich in Leserbriefen und Pressere- 66 Brief an von Bismarck, 5.10.1964. Ebd. 44 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) sagt, um die gleichzeitige Ausstrahlung einer rück- »musikalischer Montage« mit der Gefahr, ein zu har- blickenden Filmdokumentation, die auf Initiative der monisches Bild zu vermitteln.74 französischen Regierung entworfen und durchge- führt wurde«.67 Weisenfeld schickte eine Richtigstel- lung an die Presse, die dort ein Echo im deutschen Erinnerungskulturelle Funktion Sinne fand,68 und die ORTF erklärte auf Anfrage des »epd-Informationsdienstes«, dass »die Dokumenta- Es überrascht, dass das Fernsehereignis komplett in tion ohne die deutsche Beteiligung ‚weder in ihrem Vergessenheit geraten ist und zwar sowohl als bina- Geist noch in ihrem Material‘ die gleiche Qualität tionales trotz der intensiv gepflegten deutsch-fran- gehabt hätte«69. zösischen Beziehungen, als auch als nationales im Rahmen des Großprojektes »Trente ans d’histoire«. Neben der Flüchtigkeit des Mediums sind dafür »Trente ans d‘histoire« – Fortsetzung auch kulturelle Gründe verantwortlich, die sowohl folgt in Frankreich die Form als auch den Inhalt und nicht zuletzt die Diskurshoheit betreffen. In Frankreich war der Kom- Die Frage nach einer gemeinsamen Perspektive pilationsfilm nicht als ‚großes Format‘ fürs Kino ak- für die Fortsetzung der Reihe über die Jahre nach zeptiert. Fréderic Rossifs Leinwanderfolge waren 1918 ist denkbar einfach zu beantworten: Es gab sie mehr der politischen Brisanz der Themen wie War- nicht. Obwohl französische TV-Zeitschriften auch schauer Ghetto und spanischer Bürgerkrieg als der die folgenden Sendungen als Koproduktionen an- ästhetisch akzeptierten Form zu verdanken. Ähnlich kündigten, die in beiden Ländern gleichzeitig aus- wie das Genre stand der Erste Weltkrieg als Thema gestrahlt würden,70 endete die gemeinsame Sicht nicht hoch im Kurs, stattdessen dominierte beider- auf die Geschichte im Jahr 1918. Ein ORTF-Mitar- seits des Rheins die Erfahrung im letzten Konflikt.75 beiter hatte dies damit begründet, dass man für die So war das Medium Fernsehen der Ort, der der »min- Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem für deren Gattung« (Marc Ferro) einen Platz einräumte den Nazismus, noch nicht über die »notwendige und mit der Darstellung einer bisher vernachlässig- Abgeklärtheit im Urteil« verfüge.71 Die Zäsuren, die ten Epoche einen Beitrag in der nationalen Erinne- die vierte Sendung setzt, sind dafür ein anschau- rungsarbeit leistete. »1914–1918« steht beispielhaft liches Beispiel: »1919–1939 – entre deux guerres« für die Funktion des Fernsehens als »Agentur der Er- [zwischen zwei Kriegen] konzentriert sich ganz auf die französische Perspektive: So nehmen die Volks- front-Regierung 1936 und die Einführung des be- zahlten Urlaubs mehr Raum ein als beispielsweise die Machtübernahme Hitlers 1933. Insgesamt war 67 Zit. n. Brief von Bismarck an von Hase, 14.10.1964. Ebd. – Original die Sendung mit Ereignissen aus der ganzen Welt in : Le Monde, 29.9.1964. überfrachtet, so dass die generelle Kritik lautete, 68 Coproduction franco-allemande. In: Le Monde, 6.10.1964. man hätte sich für 20 Jahre mehr Zeit als 110 Minu- A[ndré] B[rincourt]: A propos de la co-production »Trente ans ten nehmen müssen.72 d‘histoire«. In: Le Figaro, 22.10.1964. 69 Zit. n. Brief von Bismarck an von Hase, 14.10.1964. WDR HA. Lange. Um den letzten Block mit den Sendungen zum 70 Z. B. Jacques Siclier: »30 ans d‘histoire«. In: Télérama, Nr. 771, Zweiten Weltkrieg gab es heftige Auseinanderset- 25–31.10.1964. Andernorts wurde die Koproduktion dementiert, aber auf einer gemeinsamen Ausstrahlung insistiert: Télé 7 jours, Nr. 242, zungen zwischen Henri Michel und Suzanne Baron. 7.–13.11.1964, S. 45. Betrachtet man die Sendungen, so fällt auf, dass 71 »Des images inédites« [o.A.]. In: Inathèque-Ausschnittsammlung. der Kommentar um Objektivität bemüht ist, natio- S. a. Le Figaro (4.9.1964), der einen gemeinsamen Nenner für die Zeit nalistische Töne vermieden werden und auch Vi- nach 1918 bezweifelte. 72 Vgl. die Zuschauerpost: Le téléscope. In: Télérama, Nr. 775, chy, antisemitische Propaganda und die Kollabora- 22.–28.11.1964, S. 24. tion zur Sprache kommen. Suzanne Baron betonte 73 RTF: Bulletin de presse, Nr. 49, 25.11.–5.12.1964, S. 8f. im Interview, dass sie mit diesem Film an die Frau- 74 Jacques Sicilier: Septembre 1939 – Printemps 1941. In: Le monde, 2.12.1964. – Für die zweite Folge nahm er allerdings den Vorwurf zu- en appellieren wollte, ihre Kinder vom Hass abzu- rück (Le monde, 16.12.1964). 73 halten. In weiten Teilen ist ihre Kriegsdarstellung 75 Vgl. Annie Kriegel u. a.: Histoire et cinéma (Anm. 57), S. 327; Wolf- eine sorgfältig komponierte Aneinanderreihung von gang Becker und Norbert Schöll: In jenen Tagen. Wie der deutsche »Wochenschau«-Kampfbildern, die in bester Tradi- Nachkriegsfilm die Vergangenheit bewältigte. Opladen 1995; Chris- toph Classen: Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialis- tion der Paradoxie des Antikriegsfilms die Faszinati- mus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955–1965. Köln on vom Krieg transportieren. Ein Kritiker sprach von u.a. 1999. Steinle: Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen 45

innerungsarbeit«,76 die dem sozialen Gedächtnis ei- sitären Rahmen ein. Nach weiteren Filmen Ferros nen öffentlichen Ort jenseits eingefahrener offiziel- schließt sich der Kreis zum ersten Fernsehprojekt ler Jahrestagspraxis und Gedenkdiskurse gegeben mit der zwölf Jahre lang wöchentlich ausgestrahlten hat. Allerdings war das junge Fernsehen in Frank- ARTE-Reihe »Histoire parallèle / Die Woche vor 50 reich nicht besonders gut beleumundet und im Ge- Jahren« (3.9.1989–8.9.2001). An deren Ausgangs- gensatz zum Kino nicht als Kulturfaktor oder gar In- punkt stand der Vergleich deutscher und französi- strument der Geschichtsvermittlung akzeptiert. So scher Wochenschauen, kommentiert von Ferro und hatte beispielsweise keiner von Ferros Kollegen die zunächst einem deutschen Historiker, bevor Ge- Ausstrahlung seines Films gesehen, da diese dem schichtswissenschaftler und/oder Zeitzeugen aus ‚Nullmedium‘ generell skeptisch-ablehnend gegen- der ganzen Welt die Bilder der Vergangenheit ana- über standen und gar keinen Fernsehapparat besa- lysierten.80 Im Laufe der Jahre wurde das Konzept ßen. Ferro selbst hatte die Sendung bei seinem Au- auf andere Bildquellen ausgeweitet und wiederholt tomechaniker verfolgt. Bezeichnenderweise blieb auf Filmdokumente zurückgegriffen, die Ferro im der Beitrag zum Ersten Weltkrieg unter dem Ti- Rahmen von »1914–1918« entdeckt hatte. tel »La Grande Guerre« in Frankreich als Film und nicht als TV-Ereignis in Erinnerung – in Deutsch- Weder das damals ungewöhnliche Fernsehereig- land verhinderte die komplizierten Rechtesituation nis noch der Film sind als solche ins kollektive Ge- selbst eine erneute Fernsehausstrahlung. »La Gran- dächtnis eingegangen. Sie wurden nicht zu einem de Guerre« wurde nichtkommerziell an Schulen und »lieu de mémoire« (Pierre Nora) wie beispielswei- in Sonderveranstaltungen gezeigt, kam aber auch se Alain Resnais‘ »Nuit et bruillard« (1956) oder die unvermutet kommerziell zum Einsatz: Aufgrund der Ausstrahlung von »Holocaust« zum Erinnerungs- positiven Resonanz der Fernsehzuschauer brachte ort für die Judenvernichtung geworden sind. Auch ‚Pathé‘ den Film in Paris ins Kino – wenn auch nur in brachte »1914–1918« keine Schlüsselbilder in Um- ein wenig renommiertes nahe den Champs Elysées. lauf, die als »Superzeichen« durch die Medien ‚va- Das hinderte das interessierte Publikum aber nicht gabundieren‘.81 Wobei es bis heute für den Ersten daran, Schlange zu stehen, wie Marc Ferro sich er- Weltkrieg keine solch bündigen Schlüsselbilder gibt innert. Seit den 90er Jahren war »La Grande Guer- wie für den Zweiten Weltkrieg, beispielsweise die re« dann auch als VHS-Kaufkassette zugänglich Aufnahme von dem mit einem Eisernen Kreuz aus- und blieb zumindest für einen kleinen Kreis thema- gezeichneten Hitlerjungen. tisch Interessierter präsent.77

Kontinuität der Personen, Bilder und Diskurse

»Trente ans d’histoire« stellte für zahlreiche Beteilig- te eine prägende Erfahrung dar. Indem sie bei fol- genden Projekten zur Zeitgeschichte sowohl auf die Methode als auch auf das im Rahmen der Recher- 76 Knut Hickethier: Der Krieg, der Film und das mediale Gedächtnis. che entdeckte Archivmaterial zurückgriffen, trugen In: Waltraud ‚Wara‘ Wende (Hrsg.): Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnah- mezustand im Spannungsfeld politischer, literarischer und filmischer sie zu einer Kontinuität der Bilder und Diskurse bei. Sinnkonstruktion. Würzburg 2005, S. 347–365; Zitat, S. 349. Exponiert steht dafür Marc Ferro, der seine Erfah- 77 Siehe Anm. 47. – Im Jahr 2000 wurden die Rechte von Pathé Té- rungen in weitere thematisch ähnliche Filmprojekte lévision an Hachette verkauft, für die Kommerzialisierung ist Europe Images International zuständig. einbrachte, wie zum Beispiel »Chronique d‘une paix 78 Veyrat-Masson: Quand la télévision explore le temps (Anm. 4), manquée« [Chronique eines verpassten Friedens] S. 119; François Garçon und Pierre Sorlin: Marc Ferro (Anm. 42), (1966) über den Versailler Vertrag sowie »L‘Année S. 53f., siehe ebd. die ausführliche Bibliofilmographie, S. 57. 17« (1967) und »L‘Année 18« (1968) über die letzten 79 Marc Ferro: Der große Krieg. 1914–1918 [1969]. Frankfurt am Main 1988, S. 9. 78 Kriegsjahre, und »Lénine par Lénine« (1970). Zu- 80 Die Sendung lief zunächst nur in Frankreich auf FR3, bis sie mit dem war die Arbeit für seinen ersten Fernsehfilm An- der Einrichtung von ARTE beiderseits des Rheins zu sehen war. Vey- stoß für eine publizistische Gesamtdarstellung des rat-Masson: Quand la télévision explore le temps (Anm. 4), S. 377f. Vgl. Klaus Wenger: »Historie parallèle« – eine Dokumentationsserie »Großen Krieges«, die, auch wenn sie nicht explizit über den Zweiten Weltkrieg von hoher Aktualität. In: Ursula Koch u. a. auf die filmischen Quellen einging, durch diese be- (Hrsg.): Deutsch-französische Medienbilder: Journalisten und For- einflusst, einen neuen Blick auf den Ersten Weltkrieg scher im Gespräch. München 1993, S. 243–246. warf.79 Ende der 60er Jahre führte Ferro als erster 81 Manuel Köppen: Von Effekten des Authentischen – »Schindlers Liste«: Film und Holocaust. In: Ders. und Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Bil- in Frankreich den Film als Gegenstand der ge- der des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln u. a. 1997, schichtswissenschaftlichen Forschung im univer- S. 145–170; Zitat, S. 146. 46 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Der Archivbilddiskurs den. Auf dem Stand heutiger Forschung ist es leicht und entsprechend wohlfeil, viele Szenen als gestellt Die eigentliche erinnerungskulturelle Bedeutung oder nachgedreht zu entlarven. Vor allem weil es im des Projekts liegt dementsprechend weniger im Weltkriegsfilm der 20er Jahre gängige Praxis war, historischen Ereignis oder im Werk, sondern viel- gestellte Bilder mit zeithistorischen – die genauso mehr im medial-historiografischen Zugriff, was in ei- gestellt sein konnten – zu kombinieren. Die Autoren ner ARD-Mitteilung anklingt: von »1914–1918« zählten im Fernsehen zu den ers- »Die Bedeutung des deutsch-französischen Ge- ten, die die Bilder nach Kriterien des historischen meinschaftsfilms über den ersten Weltkrieg liegt Dokumentes bewerteten und auswählten. nach Ansicht derer, die in die bisherige Arbeit Ein- blick nehmen konnten, vor allem in dem Versuch, Die Grenze des Archivbilddiskurses zeigte sich be- den Film als Mittel geschichtlicher Aufzeichnung für reits deutlich bei der Herstellung von »1914–1918«: diese Zeit schon zu verwenden. Die deutsche und Marc Ferro berichtet, dass Unstimmigkeiten mit den die französische Redaktion des Films sind der An- deutschen Historikern eher den Zwängen des Me- sicht, daß dieses Bemühen die meiste Arbeit gekos- diums als divergierenden Meinungen geschuldet tet hat, während die gemeinsame Bewertung und waren. Die Deutschen wollten vor allem die Fol- Kommentierung der Ereignisse relativ leicht zu fin- gen der Blockade betonen, wozu es kaum Bilder den war.«82 gab, wohingegen es, »unglaubliche Bilder« zum U- Boot-Krieg gab – womit dieser im Film überreprä- Es ging darum, das Medium Film als historisches sentiert war. Rückblickend erkannte Ferro die me- Dokument einzuführen. Filmischem Archivmaterial diale Eigendynamik an und zog das Resümee, dass wurde nach quellenkritischer Prüfung Dokument- der Historiker seine Konzeption anpassen müsse, status verliehen, der gesicherte Aussagen über um ein »ästhetisch höherwertiges Werk« zu schaf- die Vergangenheit ermöglichte. So war es nur kon- fen, schließlich sei dies die einzige Möglichkeit, um sequent, den unsicheren Faktor der Erinnerung in mit dem Publikum zu kommunizieren.86 Aus der Not Form individueller Zeitzeugeninterviews und ande- des Geschichtswissenschaftlers im Format des his- re fernsehspezifische Elemente des Jetztzeit-Medi- torischen Kompilationsfilms machte Ferro in seiner ums auszuschließen. ARTE-Reihe »Die Woche vor 50 Jahren« eine Tu- gend, in der die Bilder gerade auf das Nicht-Gesag- Die geschichtswissenschaftliche Nobilitierung des te und Nicht-Gezeigte hin befragt wurden. Archivbildes hat die Illusion eines unverstellten Zu- gangs zur Vergangenheit dank technisch produ- Bei allen Beschränkungen enthält »1914–1918« Do- zierter Bilder befördert.83 Wie der selbstlegitimato- kumente, die – wenn auch nicht als Beweis, so doch rische Archvibilddiskurs zum Tragen kommt, zeigen als Verweis auf historische Befindlichkeit – auch zwei charakteristische rhetorische Formeln, die im heute noch überraschen und einen Zugang zum Zusammenhang der Reihe »Trente ans d‘histoire« Verständnis der Geschichte bieten. Das zeigen bei- immer wieder gebraucht wurden: Ein Topos ist die spielhaft die Bilder von der Heimkehr deutscher Erwähnung der schieren Menge – zum einen der Truppen 1918 nach Unterzeichnung des Waffen- konsultierten Archive sowie der mehrmonatigen Re- stillstands. In den Berliner Straßen jubeln die Deut- cherche in Frankreich, England, Deutschland und schen, als hätten sie den Krieg gewonnen, schließ- Russland, und zum anderen des Materials in seiner lich hatte kein Gegner deutschen Boden betreten, Diversität.84 Quantität steht dabei gleichbedeutend wie der Kommentar betont. Eine Frau singt mit Sol- mit Qualität bzw. ersteres wird als Grundlage von daten. letzterem vermittelt. Ein weiteres zentrales rhetori- sches Argument besteht in der Versicherung, dass es sich um »reale Dokumente« handele, »authen- 82 ARD: Pressedienst 1964, 2.9.64, 36/64, S. 17f. DRA Wi. Intendanz 85 tische Dokumente, dem Leben entrissen«. Dabei 1964. tauchen in »1914–1918« Einstellungen aus »All Quiet 83 Vgl. Matthias Steinle: Das Archivbild. In: Medienwissenschaft, Heft 3, 2005, S. 295–309. on the Western Front« (1930) auf, was aber auch da- 84 Télé 7 jours, Nr. 234, 12.–18.10.1964, S. 44f.; Télé 7 jours, Nr. 232, ran liegen kann, dass Lewis Milestone zugeschrie- 29.9.–4.10.1964, S. 38–41; Télérama, Nr. 771, 25.–31.10.1964, S. 18. ben wurde, in seiner Verfilmung von »Im Westen 85 Télé Magazine, Nr. 503, 12.–18.6.1965, S. 65ff. – Im Interview von nichts Neues« authentische Dokumente verwen- »Au dela de l‘écran« mit Ferro und Peter insistiert der Journalist auf der Feststellung: »keinerlei Fiktion, alles ist Realität« (Anm. 52). det zu haben oder dass in anderen Dokumentati- 86 Kriegel u. a.: Histoire et cinéma (Anm. 57), S. 327–336 ; Zitat, onen diese Bilder dokumentarisch verwendet wur- S. 334. Steinle: Deutsch-französisches Geschichtsfernsehen 47

Diese Aufnahmen gleichen den Siegerbildern der Al- Ereignis, das wie kein anderes Feindbilder vonein- liierten und machen das spätere Unverständnis der ander hervorgebracht hatte? Die gleichzeitige Aus- Deutschen für den Versailler ‚Schand-Vertrag‘ emo- strahlung der Sendungen verlieh diesen einen zu- tional erfahrbar. Erstaunlicherweise tauchen diese sätzlichen Event-Charakter, wie ihn nur das Medium Aufnahmen in den zahlreichen jüngeren Dokumen- Fernsehen bieten konnte. In diesem Verflechtungs- tationen zum Ersten Weltkrieg nicht auf, selbst als zusammenhang wird deutlich, dass die soziale Wir- 2004 anlässlich des 90. Jahrestags dieser »lange kung medialer Konstruktionen nicht in der »direkten Zeit vernachlässigt[e] Krieg wieder in die Medien Instrumentalisierung von Medien, sondern im stets geschwemmt« wurde 87. Eine Aufarbeitung der Ver- neu einzustellenden Gleichlauf von politischer und arbeitung der Bilder des Ersten Weltkriegs hat im medialer Mobilmachung« liegt.89 Der Teil zum Ersten deutschen Fernsehen noch nicht stattgefunden, wie Weltkrieg fügte sich perfekt in das Konzept gaullisti- es etwa die französische Produktion »L‘Héroïque ci- scher Geschichtspolitik ein, ohne diese inhaltlich zu nématographe« (2003; ARTE, 9.11.2005) beispiel- betreiben. Die Scharmützel aus dem ‚Ministère des haft unternommen hat.88 anciens combattants‘, das den Erfolg als rein nati- onalen zu verkaufen versuchte, verweisen mehr auf innerfranzösische Konflikte als auf deutsch-fran- ARTE vor der Zeit? zösische. Letzten Endes erwies sich die Analyse der deutschen Fernsehverantwortlichen als richtig, Obwohl das frühe Beispiel einer ambitionier- dass einmal politisch Beschlossenes auch im wei- ten deutsch-französischen Koproduktion nicht sungsgebundenen französischen Rundfunk so rea- als ‚ARTE vor der Zeit‘ Eingang in die Fernsehge- lisiert würde. Die selbstreflexive Präsentation von schichtsschreibung gefunden hat, handelt es sich »1914–1918« durch die ARD zeigt ihr Selbstbewusst- um mehr als eine politisch gewollte Eintagsfliege im sein als unabhängige Anstalt, die die Zuschauer als gedächtnislosen Live-Medium. »1914–1918« steht kritische Mediennutzer anspricht und über Details beispielhaft für die Funktion des Fernsehens als informiert, die in Frankreich unter den Tisch fallen. »Agentur der Erinnerungsarbeit«. Im Massenme- Die ORTF fungierte quasi als selbstlegitimatorische dium Fernsehen war es möglich, einer wenig ge- Negativfolie. So lässt es sich auch erklären, dass es schätzten Form und einem damals eher unpopu- trotz des Erfolgs des gemeinsamen Projekts keine lären Thema zum Ausdruck zu verhelfen. Was das weitere Zusammenarbeit gab, sobald der politische Kino hauptsächlich unter den Vorzeichen des Spek- Voluntarismus beiderseits nachließ. takulären zu leisten vermochte, war hier unter dem Versprechen wissenschaftlicher Genauigkeit und Bei aller deutsch-französischer Emphase muss historischer Seriosität möglich. Ironischerweise der binationale Charakter des Films eingeschränkt wurde gerade das historiografische Versprechen im werden. Der konkrete Herstellungsvorgang war eine Rahmen des sich entwickelnden Archivbilddiskur- rein französische Angelegenheit, wenn auch in en- ses als spektakuläres Werbeargument vermittelt. ger Abstimmung mit dem ARD-Korrespondenten in Paris. In der Wahrnehmung des französischen Obwohl fürs Fernsehen produziert, war die ästhe- Teams hatte die deutsche Seite mehr eine regulative tische Gestaltung der Filme kinematografisch ori- als kreative Funktion. So steht die Reihe »Trente ans entiert, unter bewusstem Verzicht auf TV-spezifi- d‘histoire« in Frankreich für personelle Kontinuität sche Formen. Leerstellen resultierten ebenso aus in der filmischen Repräsentation von Zeitgeschich- dem Primat medialer Eigengesetzlichkeit, wie aus dem binationalen Produktionskontext geschuldeter Rücksichtnahme. Aber gerade die ästhetischen und politischen Beschränkungen machten die Attrakti- 87 Günter Helmes: Der Erste Weltkrieg in Film und Literatur – Ent- wicklungen, Tendenzen und Beispiele. In: Wende: Krieg und Gedächt- vität für den Zuschauer aus und sicherten durch nis (Anm. 76), S. 121–149; Zitat, S. 121. die Vermeidung nationalchauvinistischer Klischees 88 Vgl. die kritische Bestandsaufnahme von Uli Jung: Nicht-fiktio- die Qualität und den Erfolg beim deutsch-französi- nale Filmaufnahmen aus dem Kaiserreich in Kompilationsfilmen und Fernsehsendungen. In: Uli Jung und Martin Loiperdinger (Hrsg.): Ge- schen Publikum. schichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd. 1: Kaiser- reich 1895–1918. 3 Bde. Stuttgart 2005, S. 486–496. Laurent Véray: Für die Politik und Medienverantwortlichen war es L‘Histoire peut-elle se faire avec des archives filmiques? In: Valé- eine – wenn auch politisch brisante – ‚win win-Situ- rie Vignaux (Hrsg.): » Archives«, Revue: 1895, Nr. 41, 2003, S. 71–83, S. 79ff. ation‘: Wie ließ sich die Aussöhnung besser doku- 89 Harro Segeberg (Hrsg.): Mediale Mobilmachung I. Das Dritte mentieren als mit einer gemeinsamen Sicht auf ein Reich und der Film. München 2004, S. 8. 48 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) te im Fernsehen, verbunden vor allem mit dem Na- men Marc Ferro. Dahinter stecken aber auch zahl- reiche weniger bekannte Beteiligte, die weiterhin fürs Fernsehen arbeiteten und damit nicht zuletzt auch zu einer Kontinuität der Bilder, Methoden und Diskurse beigetragen haben. Vor allem aber wurde ein Archivbilddiskurs gefördert, der dank authenti- schen Materials einen direkten Zugang zur Vergan- genheit verspricht.

Das deutsch-französische Projekt kannte in sei- ner transnationalen Orientierung keine historischen Vorbilder und fand erst mit der Schaffung von ARTE Nachfolger, und auch das nur bedingt. Aktuell fin- det sich im Fernsehprogramm kein Beispiel, im Di- alog über Ländergrenzen hinweg gemeinsame und trennende historische Ereignisse in Form überlie- ferter Wahrnehmungsbilder und verfestigter Vor- stellungsbilder zu hinterfragen, so dass der Blick in die gemeinsame Fernsehgeschichte lohnende Im- pulse geben kann. Forum

Karl Holzamer – ein »Zeuge des Jahrhunderts« Sohn einer katholischen Familie geboren, zu de- ren weitläufiger Verwandtschaft der rheinhessische »Nur wenigen Menschen ist es so wie Ihnen, Herr Schriftsteller Wilhelm Holzamer (1870–1907) gehör- Professor Holzamer, vergönnt, auf ein so abge- te. Nach dem Abitur am damaligen Kaiser-Wilhelm- schlossenes, so konkretes, so sichtbares Lebens- Gymnasium in Frankfurt-Sachsenhausen studierte werk zurückzublicken«, urteilte Gerhard Dambmann er ab 1926 in München, Paris, Frankfurt am Main am 5. Dezember 1984 in der Folge der ZDF-Sende- und Bonn die Fächer Philosophie, Pädagogik, Psy- reihe »Zeugen des Jahrhunderts« gegenüber sei- chologie, Romanistik und Germanistik. 1929 promo- nem Gesprächsgast und befragte Professor Dr. vierte er in München bei Josef Geyser über den »Be- Karl Holzamer zu seiner Tätig- griff des Sinnes« zum Dr. phil. und keit als Gründungsintendant des schloss das Studium 1931 an der ZDF während seiner drei Amtspe- Bonner Pädagogischen Akademie rioden von 1962 bis 1977. Der so mit dem ersten Volksschullehrere- Angesprochene hatte diese Be- xamen ab. Bereits als Gymnasiast wertung bereits ein Jahr zuvor in war er seit 1919 Mitglied des Bun- seinem Lebenserinnerungs-Büch- des »Neudeutschland« und en- lein »Anders, als ich dachte« mit gagierte sich in der katholischen der Feststellung bestätigt, dass Jugendbewegung. Ihr »verdanke er die »Gründungsgeschichte des ich neben Vater und Mutter mei- ZDF […] mit Dank und innerer Be- ne entscheidende Lebenseinstel- friedigung als mein schönstes Ge- lung und die bewusste katholische 3 schenk in meinem Berufsleben Prof. Dr. Karl Holzamer Glaubenshaltung«. Von 1930 bis empfinde.«1 Am 13. Oktober die- Quelle: ZDF/Carmen Sauerbrei 1932 Mitherausgeber der in Düs- ses Jahres 2006 vollendete nun seldorf erscheinenden Zeitschrift Karl Holzamer sein 100. Lebensjahr. Dieses Ereig- »Stimmen der Jugend«, korrespondierte er damals nis gibt Anlass, nicht nur seine Tätigkeit bei Rund- unter anderem auch mit dem Jesuiten und späteren funk und Fernsehen, sondern sein gesamtes Leben Widerstandskämpfer Alfred Delp, der im Februar und Wirken als Gelehrter (Philosoph und Pädago- 1945 hingerichtet wurde. Schon als Student stand ge), als politisch und erzieherisch interessierter Pu- Holzamer politisch der katholischen Zentrumspar- blizist und als gläubiger Christ würdigend in den tei nahe. Von 1931 bis 1933 war er Mitglied des Blick zu nehmen.2 »Reichsjugendausschusses« dieser Partei, der vom späteren CDU-Politiker Dr. Heinrich Krone geleite- Als eine seine Lebenszeit mitprägende Persönlich- tet wurde. Holzamers 1930 von der »Südwestdeut- keit ist Karl Holzamer ein exemplarischer Zeitzeuge schen Rundfunkdienst AG Frankfurt« übertragenes von Rang. Dies wird in seinen autobiografischen Le- Referat über die Thematik »Heimat-Volk-Staat«, im benserinnerungen deutlich. Der Taschenbuch-Pu- »Neudeutschland«-Jugendzeltlager in Oranienstein blikation von 1983 folgte 2003 das gemeinsam mit bei Diez an der Lahn gehalten, enthielt ein uneinge- Bruno Krammer verfasste Werk »Lebensreise zwi- schränktes Bekenntnis zur Weimarer Republik. schen Philosophie und Fernsehen. Erfahrungen-Er- lebnisse-Begegnungen im 20. Jahrhundert«. In den 1931/32 Schulamtsbewerber in Bonn/Köln und an- »thematischen Schwerpunkten« seines Lebens und schließend Volontär-Assistent am Psychologischen Wirkens begegnet man darin der zeitgeschichtli- Institut der Universität Bonn, wollte Karl Holzamer chen Entwicklung vom Kaiserreich und Ersten Welt- krieg über die Weimarer Republik, das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg bis zur Nachkriegszeit 1 Karl Holzamer: Anders, als ich dachte. Freiburg im Breisgau 1983, und der Bundesrepublik Deutschland. Zugleich S. 120. stellt sich in den Stationen seines Berufsweges, gip- 2 Für die Erarbeitung einer noch ausstehenden, umfassenden wis- felnd beim ZDF, ein Stück Mediengeschichte dar. senschaftlichen Biografie über Karl Holzamer stehen im Unterneh- mensarchiv des ZDF nicht nur Chronik-Daten, Presse-, Bild- und Vi- deomaterialien, sondern auch seine Publikationen sowie sein dorthin Karl Johannes Holzamer wurde am 13. Oktober bereits übergegebener persönlicher Vorlass zur Verfügung. 1906 in der Goethe-Stadt Frankfurt am Main als 3 Karl Holzamer: Anders, als ich dachte (Anm. 1), S. 27. 50 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) eigentlich die Hochschul-Laufbahn einschlagen. Politikers Bruno Heck gescheitert war, wählte der Doch mangels Dozentenstellen an den Pädago- ZDF-Fernsehrat am 12. März 1962 das Fernsehrats- gischen Akademien und seit 1937 aus politischen mitglied Karl Holzamer zum Gründungsintendanten Gründen für den Hochschuldienst von den Nazis des ZDF. Durch zweimalige Wiederwahl kam es zu abgelehnt, begann sein Berufsweg beim Medium einer Amtszeit von insgesamt 15 Jahren. Rundfunk. Er erhielt am 15. November 1931 bei der »Westdeutschen Rundfunk AG« in Köln eine Stel- Unter der maßgeblichen und tatkräftigen Leitung le als Assistent der Pädagogischen Abteilung für seines Intendanten konnte sich das ZDF in der »Ära den Schulfunk. Nach dem Machtantritt Hitlers 1933, Holzamer« bemerkenswert schnell zu einer leis- beim nunmehrigen Reichssender Köln, wurde seine tungsfähigen Institution und zur größten Fernsehan- Rundfunktätigkeit eingeengt auf eine Sachbearbei- stalt Europas entwickeln. Holzamer gelang es in den terstelle für konfessionelle Morgenfeiern, Sprachen- Jahren 1962 bis 1977, den verhängnisvollen Steuer- und Landwirtschaftsfunk.4 Nach dem Ausbruch des streit mit dem Bund und den Länderfinanzbehörden Zweiten Weltkriegs wurde er als Bordschütze und zu bewältigen und die ARD für eine konkurrieren- Kriegsberichterstatter für den Rundfunk im Novem- de Partnerschaft zu gewinnen. Bereits 1964 konnte ber 1939 zur Luftwaffe eingezogen. Holzamer kam der Umzug von der ersten provisorischen Sendean- als Oberleutnant im April 1945 für ein Jahr in franzö- lage in Eschborn/Taunus – im Volksmund »Telesi- sische Kriegsgefangenschaft. Dort war er als stell- birsk« genannt – in eine vorläufige Sendezentrale in vertretender Leiter maßgeblich am Aufbau der La- Wiesbaden erfolgen. Im März 1974 folgte dann die geruniversität Larzac beteiligt. Eröffnung des neuen Sendezentrums in Mainz-Ler- chenberg. Der Umstellung auf ein neues Programm- Zum Eröffnungstag der wiederbegründeten Uni- schema Anfang der 70er Jahre mit einem Sendebe- versität Mainz am 22. Mai 1946 wurde der Heimge- ginn am frühen Abend schloss sich bis 1976 die fast kehrte in ein Lehramt für Philosophie, Psychologie vollständige Ausstrahlung des Programms in Far- und Pädagogik berufen, zunächst als außerordent- be an. Der Intendant, der sich selbst in einer eige- licher Professor, ab 1952 als Ordinarius. Als Hoch- nen Sendereihe dem »Gespräch mit den Zuschau- schullehrer war Holzamer unter anderem Leiter des ern« stellte, wirkte auch positiv auf die Gestaltung Akademischen Propädeutikums (Studium genera- eines ebenso anspruchsvollen wie attraktiven Pro- le) und Dekan der Philosophischen Fakultät. Par- gramms mit neuen Ideen ein. Quiz-Sendungen wie allel zu seiner Universitätslaufbahn betätigte sich »Vergissmeinnicht« zu Gunsten der »Aktion Sorgen- Professor Holzamer seit 1949 auch wieder in Rund- kind« – heute »Aktion Mensch« – brachten zwischen funkangelegenheiten – zunächst innerhalb der ARD. 1964 und 1977 insgesamt rund 217 Millionen DM ein. So leitete er von 1949 bis 1960 als Vorsitzender den Nicht zuletzt trugen auch die »Mainzelmännchen«- Rundfunkrat des Südwestfunks in Baden-Baden Einblendungen zwischen den Werbeclips zur Popu- und war in den 50er Jahren als Kandidat für das larisierung des ZDF-Programms bei. Funkhaus in Köln bzw. beim Westdeutschen Rund- funk im Gespräch. Auch nach dem Ende der »Ära Holzamer« kom- men Persönlichkeit und Ansehen des Gründungs- Karl Holzamer, der Mitglied in der CDU geworden intendanten dem ZDF noch zugute. Wie zur Main- war und für diese von 1955 bis 1962 im Mainzer zer Johannes Gutenberg-Universität nach seiner Stadtrat saß, war von Bundeskanzler Konrad Ade- Emeritierung 1974, so unterhielt er auch nach sei- nauer für das Amt des Intendanten vorgesehen, so- ner Pensionierung 1977 engen Kontakt zum Zweiten bald sich die Pläne für eine auf bundesrechtlicher Deutschen Fernsehen. Bereits 1977 stiftete das ZDF Grundlage konzipierte »Deutschland-Fernsehen ein jährlich zu vergebendes »Karl Holzamer-Stipen- GmbH« erfüllen. Einer Klage der Bundesländer ge- dium« zur Aus- und Fortbildung von ZDF-Mitarbeite- gen diese Fernseh-Pläne des Bundes entsprach rinnen und Mitarbeitern. Als Philosoph und Erzieher das Bundesverfassungsgericht aber mit seinem hat Karl Holzamer seinerzeit den Programmauftrag Urteil vom 28. Februar 1961, das die Rundfunk- des Mediums Fernsehen auf seine Weise verstan- hoheit mit Ausnahme der Sendetechnik den Län- dern zusprach. Auf dieser Rechtsgrundlage schlos- sen die Bundesländer am 6. Juni 1961 in Stuttgart den Staatsvertrag über die Gründung eines Zwei- 4 Zu seinen Erfahrungen als Redakteur bei der Westdeutschen Rundfunk AG und beim Reichssender Köln vgl. das Interview von Birgit ten Deutschen Fernsehens (ZDF) ab. Nachdem die Bernard und Renate Schumacher mit Karl Holzamer in: RuG 31(2005), Kandidatur für die Intendantenfunktion des CDU- Heft 3–4, S. 31–43. Forum 51 den und wahrgenommen. Dazu steht er auch heu- Alte Probleme, neue Chancen. te noch mit der Botschaft seines nunmehr hundert- AMIA-Konferenz der Bewegtbild-Archivare jährigen, stets der Weisheit der Erkenntnis und der in Anchorage/Alaska Humanität des Erziehungsauftrags dienenden Le- bens. Mit einer Fülle von Auszeichnungen sind Per- Die Probleme und Chancen der internationalen Ge- son und Lebenswerk Karl Holzamers geehrt worden, meinschaft der Bewegtbild-Archivare waren noch seit er dem ZDF als Gründungsintendant vorstand. nie so groß und zahlreich wie zurzeit. Das zeigte Die Stadt Mainz ernannte ihn 1983 wegen seiner Ver- die diesjährige Konferenz der »Association of Mo- dienste um kommunale Belange zum Ehrenbürger. ving Image Archivists« (AMIA) vom 10. bis 14. Okto- Von 1971 bis 1984 erhielt er das Bundesverdienst- ber in Anchorage/Alaska. Die Branche leidet immer kreuz in seinen drei Abstufungen sowie 1982 den noch an Ressourcenmangel, Identitätsproblemen Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz. Die und fehlenden Ausbildungsstandards, atmet aber Katholische Kirche, deren »Ritterorden vom Heiligen gleichzeitig auch den Geist eines Neubeginns: Mit Grab zu Jerusalem« er seit 1954 angehört, zeichnete einer breit aufgestellten Digitalisierungsinitiative ihn bereits 1966 mit dem Komturkreuz des päpstli- gehen AV-Archive in Universitäten und öffentlich- chen Gregorius-Ordens aus. 2003 erhielt Karl Holz- rechtlichen Sendern vornehmlich in den USA in die amer den »Premio Capo Circeo«, der unter dem Pa- Offensive, was die juristisch geprägte Diskussion tronat des damaligen Präsidenten der Europäischen um die Zugänglichkeit von Fernsehprogrammbe- Kommission Romano Prodi stand und für Verdienste ständen betrifft, die nach ihrer Ausstrahlung für den um die Förderung der kulturellen, sozialen, industri- Großteil der Öffentlichkeit weitgehend verschlossen ellen und politischen Beziehungen zwischen Italien in den Archivkellern schlummern. und Deutschland von der »Vereinigung deutsch-ita- lienische Freundschaft« verliehen wird. Das ZDF hat Die AMIA, 1991 gegründet und also ein – verglichen seinen Gründungsintendanten am 13. Oktober 2006 mit der seit 1936 bestehenden »Society of Ameri- mit einem Festakt im Studio 3 des ZDF-Sendezen- can Archivists (SAA)« – noch recht junger Verband, trum geehrt, den der Sender Phoenix live übertrug sieht im Qualifikationswirrwarr für den Beruf des AV- und damit allen Mitbürgern zugänglich machte, die Archivars ein Grundproblem. Dem soll nun mit der sich ihm mit Respekt und Dankbarkeit verbunden Schaffung einer AMIA-Zertifizierung für Bewegtbild- wissen. Archivare begegnet werden. Ein erstes Positions- papier wurde im Bildungsausschuss erörtert. Daryl Im Schlussabschnitt »Das dritte Lebensalter« sei- Maxwell von »Walt Disney Feature Animation« kon- ner Autobiografie »Lebensreise zwischen Philoso- statierte während des Workshops »Shaping Identi- phie und Fernsehen« von 2003 philosophiert der ty, The Old School and The New School in Moving Menschenfreund Karl Holzamer über den Sinn des Image Archiving«: »Im Krankenhaus zu arbeiten, Lebens. Als Quintessenz seiner Überlegungen un- macht einen noch längst nicht zum Doktor. Im Ar- terbreitet er den Lesern eine altersweise Botschaft, chiv zu arbeiten, macht einen daher auch nicht auto- die er schon in einem Exemplar seiner Lebenserin- matisch zum Archivar.« Er forderte eine Neustruktu- nerungen von 1983 in einer persönlichen Widmung rierung und Vereinheitlichung des Archiv-Studiums. an den Verfasser so zum Ausdruck brachte: »Nah- Nur so könne garantiert werden, dass es in Zu- sehen noch besser als Fernsehen«. Wenn viele Mit- kunft noch Fachpersonal gebe, das 2-Zoll-Bän- bürger sich dieser Weisheit annähmen, würden der abspielen könne, unterstrich Mike Mashon, Ku- sie Karl Holzamer mit einer besondern Freude be- rator der Abteilung »Moving Image (Motion-Picture, schenken. Broadcasting & Recorded Sound Division)« in der Hans Rink, Mainz Library of Congress. Die Situation in Europa sei noch um ein Deutliches schwieriger, ergänzte Ca- therine Cormon vom niederländischen Filmmuse- um. Dort gebe es ein nur rudimentäres Bewusst- sein für die Notwendigkeit audiovisueller Archive, weshalb es zwangsweise auch an den nötigen Stu- diengängen und anderweitigen Bildungsangeboten mangele. Weiterhin wird aber die universitäre Aus- bildung mit anschließender und begleitender Praxi- serfahrung favorisiert. 52 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Weil Vertreter der großen US-TV-Networks fehlten, an der Ecole de bibliothéconomie et des sciences blieb das Benennen eines weiteren schwerwiegen- de l'information der Universität Montreal/Kanada, den Missstands ohne Adressaten. Dass Senderkon- im selben Workshop darlegte. Er entwickelt der- glomerate wie ABC, CBS, FOX und NBC seit eini- zeit mit seinen Studenten Anpassungsvorschläge gen Jahren immer weniger Interesse am Austausch für das MIC-Portal in verschiedenen Sprachversi- in der AMIA-Organisation zeigen, ist mittlerwei- onen und denkt dementsprechend auch über kon- le zu einem blockierenden Makel im Archivwesen text-kulturelle Variationen wie Farben, Währungen, geworden. Allein der öffentlich-rechtliche Sender das Datumsformat, die Art des Schreibstils, aber PBS und einige seiner lokalen Tochterstationen sa- auch jeweils passende erklärende Beispiele z.B. hen sich in der Verantwortung, am institutionsüber- für bedeutende Werke nach. Das könnte auch die greifenden Diskurs teilzunehmen. Die sich damit Bekanntheit des Katalogs fördern, der erstaunli- weiter ausdehnende Kluft zwischen den kommer- cherweise in akademischen Kreisen wie auch in ziellen Sendern und unabhängigen bzw. gemein- der Archivgemeinschaft noch nicht den erwünsch- nützigen Fernseharchiven verstärkt das Dilemma, ten Grad erreicht hat. Selbst unter den Nutzern des in dem sich Forscher und Archivare gleichermaßen stark frequentierten »Public Broadcasting Meta- nicht nur in den USA wähnen: Ohne den aktiven Er- data Dictionary (PBCore)«2 ist MIC laut öffentlich- fahrungsaustausch mit den Senderarchiven und ih- rechtlichen Sendervertretern nur ungenügend be- ren reichen Programmschätzen aus über 50 Jahren kannt. Nicht allein Archivare und Bibliothekare sind Fernsehgeschichte können dringliche Probleme wie die ausgewiesene Zielgruppe des Programms, son- die Schaffung besserer Zugangsmöglichkeiten und dern auch die allgemeine Öffentlichkeit. Pläne gibt Datenbanken nicht nur nicht gemeinsam angegan- es also viele – von einer Aufrüstung nach dem (fer- gen werden, sondern bleiben notgedrungen auch nen) Beispiel des populären Internet-Videoportals unvollständig. »YouTube.com« mit digitalisiertem Archivmaterial bis zur Schaffung eines so genannten »MIC-But- Diese Verschlossenheit vieler Senderarchive macht tons« in Angeboten wie der »Internet Movie Data- auch dem Programm »Moving Image Collections« base (IMDB.com)«. Eines indes soll es nicht geben: (MIC) der Library of Congress zu schaffen, das mit Die vereinzelt geforderte Implementierung von Ver- Unterstützung der Universitäten Georgia Institute knüpfungen zu Kaufmöglichkeiten in Online-Shops of Technology (Atlanta, GA) und der Rutgers Uni- sei zu zeit- und administrationsaufwendig, so der versität (New Brunswick & Piscataway, NJ) entwi- einstimmige Tenor auf dem Podium. ckelt wurde. Mit globaler Perspektive bietet dieser webbasierte Katalog eine bessere Übersicht über Eine Verbesserung der Zugänglichkeit zumindest bestehende Bewegtbild-Sammlungen und soll die von öffentlich-rechtlichen Programmen verspricht Kooperation untereinander fördern. Durch die In- die Initiative »Open Vault«,3 mit welcher der PBS- tegration der sammlungsspezifischen Metadaten Partnersender WGBH ab Ende 2006 seine digi- operiert der Katalog mit einer komplexen Daten- talisierten Archivbestände im Internet verfügbar bank mit Informationen über Standort, Inhalt, Rech- machen will. So wurden bereits 485 Episoden der telage sowie über Zugangsmöglichkeiten. Jane angesehenen Dokumentationsreihe »Frontline« di- Johnson, Projektmanagerin von MIC in der Libra- gitalisiert – mit Speicherressourcen in Höhe von elf ry of Congress, referierte darüber im Rahmen des Terrabyte eines der bisher aufwendigsten Projekte Workshops »Coming Together: Building Communi- ty through Moving Image Collections (MIC)«.1 Bisher haben 14 Archive ihre vollständigen Sammlungsin- 1 Einen Überblick zu MIC gibt Jane D. Johnson: MIC (Moving Image formationen integriert, 232 sind dagegen mit Insti- Collections). In: RLG DigiNews (15.4.2006), Vol. 10, No. 2 (Webres- tutionsprofilen und Verknüpfungen ihrer jeweiligen source: http://www.rlg.org/en/page.php?Page_ID=20916). – Eine differenzierte Darstellung des Metadaten-Konzepts von MIC findet Webseite vertreten. Johnson bezweifelt zwar, dass sich in: Jane D. Johnson: MIC metadata strategies. In: Journal of Di- die US-Networks ihre Sammlungsdaten jemals in gital Asset Management, Vol. 2, No. 1, S. 59–68. – Das MIC-Portal fin- den Union-Katalog speisen werden, hofft aber auf det sich unter der Webadresse: http://mic.loc.gov. 2 PBCore wurde von der Public Broadcasting Community der USA eine Initialzündung aus dem Ausland, indem Sender zum Zwecke des besseren Austauschs von Informationen und Pro- womöglich aus Europa mit gutem Beispiel vorange- grammmaterial innerhalb der öffentlich-rechtlichen Sendergemein- hen und sich am Projekt beteiligen. schaft entwickelt (Webressource: http://www.pbcore.org). 3 Das Internetangebot »Open Vault« – zu deutsch: »Offener Tresor« – des öffentlich-rechtlichen Senders WGBH in Boston (Webressource: Denn schon wird an einer Internationalisierung des http://www.openvault.wgbh.org) wird voraussichtlich ab 5. Dezember Angebots gearbeitet, wie James Turner, Professor 2006 verfügbar sein. Forum 53 dieser Art. Wer sich indes um den ebenso reichen unterlägen oder deren Rechtesituation ungeklärt wie unübersichtlichen und daher von Verlust bedroh- sei. Als Vorschläge für Kosteneinsparungen wur- ten Überlieferungsschatz lizenzfreier Fernsehüber- den die Nutzung gemeinsamer Infrastrukturen wie lieferungen vor allem auch aus dem Lokalfernsehen beispielsweise in einer Universität oder die interor- kümmert, bleibt auch nach dem regen Austausch ganisatorische Zusammenarbeit genannt, ebenso auf der AMIA-Konferenz weitgehend ungeklärt. wie die Verknüpfung unterschiedlicher Projekte, die Gänzlich anders verhält es sich mit lukrativen Pro- einer jeweils gesonderten Finanzierung unterlägen. grammschätzen aus den Archiven der kommerzi- Dies wird als ein effektives Mittel angesehen, um ellen Sender. Anhand des Beispiels der erfolgrei- die negativen Auswirkungen der Digitalisierungsför- chen Sitcom »Seinfeld« (Sony Pictures Television) derung auf Projektbasis einzudämmen, die Lang- wurde gezeigt, wie die Qualität alten Programmma- zeitkontinuität verhindert. Als Störfaktoren wurden terials für das hoch auflösende HD-Fernsehen ver- hierbei indes das häufig noch verbreitete Territorial- bessert werden kann. Hierzu war ein dreieinhalb- denken zwischen Universitäten sowie die dysfunk- jähriger Produktionsprozess notwendig, in dessen tionale Kommunikation zwischen Archivaren und Verlauf die Serie komplett neu aus ihren Einzelbe- Technikern bezeichnet. standteilen zusammengestellt wurde. Das notwen- dige Vorhandensein von Film als Ausgangsmaterial Doch freilich wurden nicht nur Probleme auf der für die Neuabtastung schränkt die Einsatzfähigkeit Konferenz angesprochen, sondern auch die Vorteile der Methode indes stark ein, da häufig schlechter der Digitalisierung. Diese für viele AV-Sammlungen auflösende Bandformate verwendet wurden, deren als notwendig erachtete Richtungsentscheidung Aufwertung vergleichsweise bescheidene Ergebnis- wirkt nicht allein dem Risiko der Unbrauchbarkeit se liefern. Eine weitere Hürde sind neben einem ho- alter Bänder entgegen, deren Alterungsprozess das hen Zeitaufwand auch die Kosten, die im Falle der kulturelle Bewegtbild-Erbe gefährdet. Zukunftssi- 180 Episoden von »Seinfeld« in die Millionen gingen. cherheit durch leichtere Transferier- und Duplizier- Zwar führt laut Aussage von Referent Tom Zaczyk barkeit des Materials, die Einflechtung von Kontext- (Sony Pictures Television) durch die Verbreitung Dokumentation und bessere Identifizierbarkeit wie von HD-fähigen Fernsehgeräten kein Weg an die- zum Beispiel durch Wasserzeichen-Markierungen ser Entwicklung vorbei, doch bleibt zu bezweifeln, sind nur einige Möglichkeiten. Während der Kon- dass sich Archive in großer Zahl auf das finanzielle ferenz wurden vorrangig die dadurch ermöglich- Abenteuer einlassen werden. Es sei denn, es han- ten mannigfaltigen Suchfunktionen erörtert, also delt sich um Formate, die sich durch die technische die Erfassung komplexer Metadaten, inklusive der Qualitätsverbesserung gewinnbringend auf DVD für viele US-Fernsehsendungen vorhandenen Un- oder andere Weise vermarkten lassen. tertitel, die vollständig für die Volltextsuche benutzt werden können. Dies schafft aber auch neue Pro- Die grundsätzliche Frage nach der Machbarkeit von blemfelder – unter anderem die Frage nach effek- Digitialisierungsprojekten beschäftigte die Konfe- tiven Suchmechanismen. Je überfrachteter die Er- renzteilnehmer in mehreren Workshops. Ein inte- gebnisse, desto unbrauchbarer sind die digitalen gratives Angebot wie MIC erscheint daher umso Errungenschaften. notwendiger, je mehr Archive Digitalisierungspro- jekte beginnen, es bislang aber keinen Königsweg Nicht viele Archive werden sich den propagier- gibt, die horrenden Kosten zu minimieren. Lisa Car- ten kostenintensiven »Try and Error«-Prozess leis- ter, die an der University of Kentucky die »Librari- ten können, doch verspricht sich die Archivgemein- es’ Special Collection & Digital Programs« betreut, schaft von den gesammelten Einzelerfahrungen pointierte unter dem Titel »Planning for your digi- bei der Digitalisierung entscheidende Erkenntnis- tizing project«, dass ein solches Vorhaben grund- se. Diese werden in Zeiten, in denen AV-Archive mit sätzlich sehr viel mehr koste, als erwartet wer- attraktiven wie riskanten Angeboten von Internet- de, was vor allem für budgetorientierte Archive nur konzernen wie Google oder Microsoft konfrontiert schwer zu kalkulieren sei. Carter riet deshalb zu kla- werden, immer wichtiger. Dementsprechende Koo- ren Prioritätssetzungen bei der Entscheidung, was perationen versprechen zwar finanzielle Entlastung digitalisiert werden müsse und schlug vom physi- durch das Outsourcing der Digitalisierung, lassen schen Verfall bedrohte Archivalien vor, besonders aber auch die Einforderung von Gegenleistungen oft nachgefragte oder für die primäre Aufgabe des wie der Übertragung von Nutzungsrechten ver- jeweiligen Archivs essentielle Dokumente. Hintan- muten. Durch die Übernahme von »YouTube.com« zusetzen seien Überlieferungen, die Restriktionen durch Google wird eine Häufung derartiger Anfra- 54 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) gen erwartet. Eine breite Veröffentlichung von archi- klingen: Ein Feiertag wird im ersten Schritt erklärt viertem Fernsehprogramm im Internet wird aber an- und im zweiten Schritt wird eine Studie angelegt, gesichts der heiklen Rechtediskussion mittelfristig die in Konsultation mit sämtlichen akronymbelade- ausgeschlossen. nen internationalen Organisationen der Frage nach- geht, was, wie und warum eigentlich gefeiert wird. Als der letzte Konferenzabend mit der Vorführung Mit dem aber schon feststehenden und dieser Zeit- des restaurierten Max Ophüls-Films »Letter from an schrift nahe liegenden Hauptzweck, eine größere Unknown Woman« (1948) ausklang, war die Grund- öffentliche Aufmerksamkeit für die Arbeit und Pro- stimmung angesichts der Präservationserfolge bleme audiovisueller Archive zu schaffen, ist jedoch vor allem im Film-Bereich positiv. Insgesamt ha- die Grundlage für eine wichtige öffentliche Diskussi- ben knapp 450 Archivare und Industrievertreter die on gegeben, die dann auch vermutlich (und hoffent- Möglichkeit genutzt, voneinander zu lernen und den lich) weitergeführt werden kann. Stand eigener Projekte vorzustellen. Trotz der lang- samen Aufweichung der Dominanz des Films inner- Im Zentrum der Studie stand ein Fragebogen, der halb von AMIA zugunsten der Fernseharchivare wol- allen Interessierten bis zum 31. Juli 2006 offen war. len letztere auch weiterhin für mehr Aufmerksamkeit Die Online-Version des Fragebogens ist seit die- werben. So sollen auf dem alle vier Jahre abgehal- sem Stichtag nicht mehr zugänglich, die franzö- tenen »Joint Technical Symposium (JTS)«, das 2007 sische Version war allerdings zum Zeitpunkt des erneut in Kooperation mit AMIA in Toronto/Kanada Verfassens noch auf der Homepage des UNESCO - organisiert wird, Fernsehvertreter nicht mehr wie Forums als Word-Document zu downloaden1. bisher unterrepräsentiert sein. Gleiches gilt freilich Hauptzielgruppen der Befragung waren die Or- auch für die nächste AMIA-Konferenz, die im kom- ganisationen, die in sämtlichen Netzwerken der menden Jahr in Rochester, NY stattfinden wird. UNESCO wirken. Hier ist vor allem das »Co-ordina- Leif Kramp, New York/Hamburg ting Council of Audiovisual Archives Associations« (CCAAA) zu nennen, das selbst aus einer Vielzahl internationaler Medienarchivverbände besteht und »Feasibility Study« zum 27. Oktober als das maßgeblich an diesem Projekt mit der UNESCO »UNESCO World Day for Audiovisual Heritage« zusammenarbeitet. Darüber hinaus sind das brei- tere Archivwesen, Rundfunk- und Filminstitutionen, Audiovisuelle Materialien sind für das (Selbst-)Ver- die »Information for All Programme« (IFAP), Gremien ständnis der Menschheit wichtig und unverzichtbar. des UNESCOs ‚Memory of the World‘, Kulturorga- Vor diesem Hintergrund hat die UNESCO am 5. Ok- ne, Künstlerverbände usw. beteiligt. In einer kurzen tober 2005 die »33c/Resolution 53« angenommen. Email-Korrespondenz mit dem Verfasser deuteten Sie besagt, den 27. Oktober zum »World Day for Au- die Durchführenden auf das große Interesse im All- diovisual Heritage« zu erklären. Wenn man so will, gemeinen hin, auf dessen Frage nach der Beteili- handelt es sich dabei sogar um eine Art Memoria- gung deutscher Instanzen äußerten sie sich sehr lisierung der Memorialisierung, denn offizieller An- zufrieden über die hohe Zahl und die ausführlichen lass für diese Erklärung ist der 25. Jahrestag der Antworten, die sie erhalten haben. am 27. Oktober 1980 angenommenen »Empfehlun- gen für die Sicherung und Bewahrung bewegender Der Fragebogen zielte auf den Zweck eines solchen Bilder«. Dieser Beschluss war seinerzeit bahnbre- »World Day«, auf mögliche Themen und Veranstal- chend für die Anerkennung der »neuen« Medien als tungen an diesem Tag, und er stellt allen voran die wichtiges, eigenständiges und teils sehr vergängli- heikle Frage: Was wird unter ‚audiovisuellem Erbe‘ ches Erbe. Noch heute ist er ein Grundstein der all- überhaupt verstanden, denn hierzu stehen viele De- gemeinen Bewegung, menschliche Erfahrungen zu finitionen zur Verfügung? In den Empfehlungen von dokumentieren und aufzubewahren, die in den ver- 1980, wie auch in der 2001 »European Convention schiedensten Medien entstehen, gesammelt und for the protection of the audiovisual heritage«, wird gespeichert werden. Den üblichen UNESCO -Pro- schlechterdings von »moving pictures (with or wit- zeduren folgend wurde gleichzeitig eine »Feasi- hout sound)« ausgegangen. In der 2005 vom CCAAA bility Study« in Auftrag gegeben. Sie sollte einen Überblick verschaffen über die Möglichkeit(en),

Wünsche und Themen dieses Tages, und sie soll- 1 http://www.unesco.org/cgibin/webworld/portalsforum/ te Ratschläge sammeln. Für Außenstehende könn- gforum.cgi?do=post_attachment;postatt_id=4;guest=3363858, te dies eher nach sprichwörtlicher UNO -Bürokratie 16.10.2006. Forum 55

verfassten Empfehlung für ein neues UNESCO -In- Definition von audiovisuellem Erbe anzunehmen. strument für das audiovisuelle Erbe wird dafür plä- Das würde unter anderem Hörfunkbeiträge, Vide- diert, eine breitere Definition zu suchen, die sowohl ospiele und Musik-Videos und sogar mechanische bereits bestehende als auch kommende Medien mit Musikmaschinen wie Pianolas und Spieldosen mit einschließen kann: »A new instrument should com- einschließen. Der Vorschlag, den Tag in einem all- prehensively cover the whole audiovisual spectrum, gemeinen »Tag der Archive« einzubetten, wurde an- and embrace professional concepts as well as phy- dererseits nicht empfohlen. sical formats and technical terminology […]. Further, definitions and terminology should avoid being for- Anhand dieser Untersuchung und der vorstehenden mat- and timespecific, and inclusive of the widening Empfehlungen werden im nächsten Schritt Strate- range of audiovisual carriers and delivery methods, gien der Implementierung sowie auch die genau- so they will not become dated as formats and me- en Rollen der UNESCO und der Partner definiert thods continue to evolve«2. und schließlich Themen für die ersten Jahren vor- geschlagen. All das ist in den kommenden Mona- Da es sich um eine interne Beratung handelt, wer- ten zu erwarten. den die vollständigen Ergebnisse nicht veröffent- Alexander Badenoch, Eindhoven licht. Ein Bericht für das »Executive Board« der UNESCO mit einer kurzen Zusammenfassung der Weitere Informationen, inklusive der Texte Resultate sowie vorläufige Empfehlungen sind aber des Fragebogens und andere wichtige Dokumente öffentlich zugänglich. Im »Report by the Director- sind im Internetauftritt der UNESCO zu finden: General on the Implications of the Proclamation of http://www.unesco.org/cgi-bin/webworld/ a World Day for Audiovisual Heritage 175 EX/18” mit portalsforum/gforum.cgi?forum=5. dem Datum vom 1. September 20063 werden sechs Kontaktadresse: Joie Springer, Information Socie- Punkte als Hauptzweck genannt: ty Division/Division de la société de l‘information, 1. raising public awareness of the need for preser- UNESCO, 1, rue Miollis, 75732 Paris Cedex 15, vation; Frankreich 2. providing opportunities to celebrate specific local, bzw.: [email protected] national or international aspects of the heritage; 3. highlighting the accessibility of archives; 4. attracting media attention to heritage issues; Nam June Paik. Ein Nachruf 5. raising the cultural status of the audiovisual he- ritage; Paiks Biografie, Paiks Oeuvre und Paiks Weltan- 6. highlighting audiovisual heritage in danger, espe- schauung spiegeln sich in keinem seiner Werke so cially in developing countries. sehr wider, wie in dem des Buddhas, der sein ei- genes Bild in einem Fernseher betrachtet. Mit dem Die konkreten Empfehlungen sind zunächst auf das »TV-Buddha« von 1974 verlieh Paik dem Zusam- Wesentlichste beschränkt. So solle der Tag unter menprall von westlicher und fernöstlicher Kultur, dem bereits existierenden Namen »World Day of Au- von neuester Medientechnik und religiöser Skulp- diovisual Heritage« durchgeführt werden. Es werde tur, von Rückkopplung und Stillstand, von Gegen- auf jedem Fall von der UNESCO ein Logo geschaf- wart und Ewigkeit, von Innerlichkeit und Mediali- fen und es würden allgemeine Richtlinien für The- tät Gestalt. men und Veranstaltungen gegeben, wobei noch nicht festgelegt sei, ob die Organisation die Rolle Paiks Weg von Korea über Europa nach Amerika, eines ‚Organisator‘ oder eines ‚Catalyst und Spon- war der Weg von der Neuen Musik über die Fluxus- sor‘ einnehmen werde – Letzteres werde vorge- Bewegung zur Medienkunst. 1932 in Seoul geboren, schlagen. Vielleicht die wichtigste und begrüßens- verließ Paik als Achtzehnjähriger während des Ko- werteste Empfehlung war, einem Rat der Mehrzahl reakrieges seine Geburtsstadt und promovierte in der Antwortenden folgend, die breitest mögliche Tokio über Arnold Schönberg. Anschließend setzte er seine Studien in München und Freiburg fort. Ent- scheidend waren die Begegnungen mit Karlheinz Stockhausen und John Cage, die er Ende der 50er 2 UNESCO Instrument for the Safeguarding and Preservation of the Jahre während der Tage für Neue Musik in Darm- Audiovisual Heritage: CCAAA issues paper, http://www.ccaaa.org/ ccaaa_heritage.pdf stadt kennen lernte. Obgleich er sich danach mehr 3 http://unesdoc.unesco.org/images/0014/001469/146936e.pdf und mehr dem Visuellen zuwandte, blieben die mu- 56 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) sikalischen Wurzeln der wesentliche Schlüssel zu Die ZDF-Archive – Nur Dienstleister seinen Werken. für interne Nutzer? *

Die Brücke von der Musik zur Medienkunst schlug Die Bedeutung des Rundfunks Paik mit seiner legendären Ausstellung in der Wup- in der modernen Mediengesellschaft pertaler Galerie Parnaß 1963, wo er unter ande- rem zwei Schallplattenschaschliks, vier manipu- Rundfunk und Fernsehen – dies ist inzwischen All- lierte Klaviere und 12 Fernsehgeräte präsentierte. gemeingut – gehören zur heutigen Mediengesell- Zwei dieser Fernseher hatten ihm den Transport schaft und sind als Informations- bzw. Desinfor- nicht verziehen und zeigten entweder gar kein Bild mationsmedium ohne wirkliche Konkurrenz. Ich oder an Stelle des Fernsehprogramms nur noch ei- ergänze diese These noch und sagen: Ohne Rund- nen weißen Strich. Für solche Einmischungen hö- funkarchive gäbe es keinen modernen Hörfunk oder herer Mächte zeigte sich Paik stets dankbar. Den Fernsehen. einen Apparat wendete er mit der Bildseite zum Bo- den und auch der zweite fügte sich auf das Beste Wer sieht nicht sogleich die historischen, etwas un- in das Konzept ein, denn sämtliche Fernsehbilder scharfen schwarz-weiß Bilder mit dem Spieler an waren ohnehin technisch verfremdet worden. Das der Strafraumgrenze, wenn ich die Worte des da- laufende Programm war nebensächlich. Entschei- maligen Reporters wiederhole: »Schäfer nach in- dend war die Überarbeitung, Veränderung und Stö- nen geflankt, Kopfball, abgewehrt, aus dem Hin- rung der Medienbilder. Damit schrieb Paik 1963 in tergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Wuppertal Geschichte. Nie zuvor waren manipulier- Tor, Tor«. te Fernsehbilder ausgestellt worden. Oder bei wem läuft nicht sofort ein Film im Kopf ab, wenn ich folgenden Text, gesprochen von ei- Der Zufallssämling, jener Fernsehapparat, der nem deutschen Politiker in einer Wahlanalyse-Sen- nichts als einen weißen Strich gezeigt hat- dung, gerichtet an seine größte Konkurrentin zitiere: te – Paik nannte ihn »Zen for TV« –, wurde zum »Glauben sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Ge- Ausgangspunkt einer neuen Werkreihe. Auf 24 sprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sach- Bildschirmen neigt sich die Linie gleich dem Stun- lage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundes- denzeiger einer Uhr. »TV-Clock« (verschiedene Ver- kanzlerin werden?« sionen 1963 und 1989) war Paiks augenzwinkernde Live im Fernsehen gesprochene und somit nicht Antwort auf Donald Judds und Carl Andres Minimal- mehr zurückholbare Statements sind auch selbst kunst. Minimal Video bleibt freilich ebenso Episode Teil der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Ära wie jene Werke, die dem Rezipienten bei der Manipu- Helmut Kohl wird immer mit seinen Ausführungen lation der Fernsehbilder eine aktive Rolle zuweisen. in der ZDF-Sendung »Was nun …?«1 in Verbindung gebracht werden: »Ich habe Spenden entgegen ge- Weiterentwickelt wurden von Paik die Multi-Monitor- nommen in einem Umfang zwischen 1993 und 1998, Installationen. Mit dem Bau eines Videosynthesizers der zwischen anderthalb und zwei Millionen Mark schuf er sich Anfang der 70er zusätzlich die Mög- liegt«2, die bekanntlich zum CDU-Finanzskandal lichkeit, das Videomaterial gezielter zu bearbeiten. und zu einem schnellen Generationswechsel in der Wie schon bei seiner ersten Ausstellung in Wupper- CDU-Spitze führten. tal, spielten die konkreten Inhalte nur eine unterge- ordnete Rolle, allenfalls eine thematische Zuord- Das Abfärben von Fernsehereignissen auf unser All- nung des verwendeten Materials ist möglich. Paik tagsleben brauche ich an dieser Stelle wohl nicht komponierte mit Videobildern. Ihre Überblendung weiter auszuführen. Nur auf die Veränderlichkeit in einfachen geometrischen Formen und ihre rhyth- der Wahrnehmung möchte ich noch kurz verwei- misierte Montage und serielle Anordnung in immer sen. Während die etwas ältere Fernsehgeneration größeren Installationen schrieben die Prinzipien der Neuen Musik im Feld der Medienkunst fort. Mit sei- ner visuellen Musik transzendierte er die Medienbil- * Der Aufsatz entstammt einem Vortrag, den der Verfasser auf der der seiner Epoche. VdW-Jahrestagung am 9. Mai 2006 in Berlin gehalten hat. Der Vor- tragsstil wurde beibehalten. Ende Januar 2006 starb Nam June Paik in Miami, 1 ZDF-Sendung »Was nun, Herr Kohl? Fragen an den CDU-Ehren- vorsitzenden« vom 16.12.1999. Florida. 2 Zitiert nach: Fernsehgeständnis mit Folgen, Süddeutsche Zeitung Matthias Buck, Halle vom 30.12.1999. Forum 57 mit dem Kürzel »BB« noch eine schöne französische weiß, werden sie mir nachsehen, dass ich die Be- Schauspielerin mit Namen Brigitte Bardot verband, nutzungsmöglichkeiten schwerpunktmäßig am Bei- steht »BB« bei heutigen Zuschauern eher für die Vo- spiel der größten europäischen Fernsehanstalt, des yeurismussendung »Big Brother«. ZDF, darstelle.

»Leute, schaut in die Archive!« Gesetzliche Grundlagen der Archivarbeit von Rundfunkarchiven Man findet bei den aktuellen Massenmedien die heutige Politik, ihre Akteure und auch alle sonsti- Zuerst einmal muss die Frage geklärt werden, wa- gen Entwicklungen einer modernen Gesellschaft rum die Rundfunkarchive nicht dem Bundesarchiv- wie in einem Brennspiegel vereint. So verwundert gesetz oder den Länderarchivgesetzen mit den es nicht, dass ehemalige Handlungsträger sich die- dort geregelten Nutzungsbestimmungen und Be- ser Medien und ihrer »Gedächtnisorte« erinnern, v.a. nutzungssperren (30 Jahre) unterliegen? Warum wenn sie ihre eigene Rolle umgedeutet haben wol- gibt es in Deutschland kein staatliches Rundfunk- len. Joschka Fischer kritisierte auf den Mainzer Ta- archiv – versehen mit einer Belegexemplarfunktion gen der Fernsehkritik im April dieses Jahres die An- wie bei Büchern in der Deutschen Bibliothek oder maßung vieler Journalisten, die Politik der Republik ähnlich dem französischen »Institut national de mit ihren Beiträgen bestimmen zu wollen, ohne da- l´audiovisuel« (der bekannten INA) oder der Broad- für – im Gegensatz zum aktiven Politiker – die Ver- casting and Recorded Sound Division der us-ame- antwortung für ihr Handeln übernehmen zu müssen. rikanischen Library of Congress? Er konstatierte eine Selbstüberschätzung der Medi- en und forderte zur Bestätigung seiner These aus- Die Medienfreiheit ist in der Bundesrepublik Deutsch- drücklich alle auf: »Leute, schaut in die Archive!«3 land als Konsequenz der eigenen, hauptsächlich der nationalsozialistischen Rundfunkgeschichte ein sehr Wenn die audiovisuellen Medien, wie eben nur an hohes und schützenswertes Gut. Die Westalliierten wenigen Beispielen dargestellt, für die Aufarbei- hatten nach dem 2. Weltkrieg in Westdeutschland tung der Historie so immanent bedeutend sind, wie föderal organisierte, staatsferne Rundfunkanstalten kann es dann sein, dass man in der Kategorie »Ar- aufgebaut. Die Mütter und Väter des Grundgeset- chivwesen« des Bibliotheks-Weblogs »netbib« fol- zes bestätigten diese Staatsferne und formulierten gende Kommentare zu den Rundfunkarchiven le- im Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes: sen muss:  »Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichter-  »Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die stattung durch Rundfunk und Film werden gewähr- ihre Archive traditionell wegschließen« leistet. Eine Zensur findet nicht statt.«  »öffentlich-rechtliche rundfunkanstalten verram- Würden nun die audiovisuellen Quellen der Rund- meln ihre sog. ,archive‘ und entziehen sie dem gel- funkanstalten nicht hausintern, sondern in einem tungsbereich der archivgesetze« staatlichen Rundfunkarchiv eingelagert, wäre  »den rundfunkanstalten muss auf die finger ge- durch das Unterstellungsverhältnis unter die Re- klopft werden und zwar nicht nur behutsam«4 gierung eine Beeinflussung des Bestandsaufbaus oder ein Videolektor der Landesbibliothek Berlin möglich. Es bestünde die Gefahr einer staatlich ge- regt sich aktuell im Weblog »Archivalia« auf: prägten audiovisuellen Überlieferungsbildung. Auf-  »Hierzulande weigern sich die von öffentlichen bauend auf dem auch als Medienfreiheitsartikel be- Mitteln finanzierten Öffentlichrechtlichen Anstalten zeichneten Artikel 5 des Grundgesetzes wird es also (!) nach wie vor, ihre Nachweismittel öffentlich zu- niemals ein zentrales deutsches Rundfunkstaatsar- gänglich zu machen, obwohl sie (nicht nur) zur wis- chiv geben, in dem alle Hörfunk- und Fernsehsen- senschaftlichen Arbeit dringend gebraucht werden. dungen archiviert sind. Auch die Länderarchivge- Dass die Allgemeinheit und die Wissenschaft sich setze berufen sich auf den Grundgesetzartikel und dies seit langem unwidersprochen gefallen lassen, nehmen im jeweiligen Paragraphen zum Geltungs- zeigt, in welcher mentalen Verfassung sich dieses bereich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstal- Land befindet.«5

Welche Möglichkeiten bestehen nun, die Rundfunk- archive zu benutzen und wo befinden sich rechtli- 3 Der glückliche Privatier, Süddeutsche Zeitung vom 05.04.2006. 4 Zitate aus: http:/lognetbib.de/archives/2006/01/08/bbc-open- che oder auch selbstgezogene Grenzen? Da man news-archive/ [21.04.2006]. bekanntlich nur von dem berichten soll, was man 5 Zitat aus: http://archiv.twoday.net/ [02.05.2006]. 58 R u n d f u n k u n d G e s c h i c hte 3 – 4 ( 20 0 6 ) te n von de r Zu s t ä n d i g kei t au s . Be i s p i e l h a f t so l l hi e r stellen verfügt. Unterhält das ZDF diesen personell d e r e n t s p r e c h e n d e A r ti kel d e s A r c h i vge s e t ze s d e s großen Bereich zur Sicherung seiner Programmge- L a n d e s N o r d r h e i n - Wes t f a l e n vom 16. M a i 199 8 g e- schichte und für die externe Nutzung durch die Wis- n a n n t we r d e n : senschaft? Nein. Müsste das ZDF nur die sonst von  § 13 Au s n a h m e n vom A nwe n d u n g s b e r e i c h Unternehmensarchiven wahrgenommene Siche- (1) D i e s e s G e s e t z g i l t n i c h t f ü r d i e öf fe n t l i c h - r e c h t- rungs- und Archivierungsfunktion für die eigene lic he n Re ligions - und Welt a ns c hauung sge me in - Firmen- und Produktgeschichte übernehmen, wür- schaf te n, für die öf fe ntlich - re chtliche n Rundfunk - de der Bereich ABD6 meiner Meinung nach über ein a ns t a lte n und die L a nde s a ns t a lt f ü r Rundfunk Personaltableau und einen Etat verfügen, der dem Nordr hein - West fale n sowie für öf fe ntlich - re chtli - von Archiven in mittelständigen Firmen entspräche c he Unte r ne hme n mit e ig e ne r Re c hts p e r s ö nlic h - (max. 10 Personen). kei t , di e a m Wet tb ewe r b tei l n e h m e n, u n d d e r e n Zu- s a mme nsc hlü s se. Er l ä u te r u n g e n zu A b s a t z 1: A u s ve r f a s s u n g s r e c h t- Senden l i c h e n Gr ü n d e n fin d e t di e s e s Ge s e t z mi t Rü c ks i cht a u f A r ti kel 5 A b s a t z 1 GG au c h fü r di e öf fe n t l i c h - re c htlic he n Rundfunka nst a lten in No rdr he in - West- f a l e n, hi e r in s b e s o n d e r e de n Wes tde u t s c h e n Post- R u n d f u n k Köl n un d di e L a n d e s a n s t a l t fü r Ru n d- produktion Archivieren fu nk No r d r he in - Wes t fa le n keine Anwendu ng.

R u n d f u n k a r c h i ve al s Tei l Redaktionelles d e r jo u r n a li s ti s c he n Pro duk ti o n s ket te Produzieren u n d al s »L a n g ze i tge d ä c h t n i s«

W i e we r d e n d a n n a b e r d i e H ö r f u n k - u n d Fe r n s e h- Einbindung der Fernseharchive in den journalistischen Workflow s e n d u n g e n fü r di e Na c hwel t ar c h i v i e r t ? Wi e un d wo kom m t d e r For s c h e r d e n n a n d i e B i l d e r u n d Tön e, D e r Ge s c h ä f t s b e r e i c h d i e g e s c h i c h t l i c h e E r e i g n i s s e d o k u m e n ti e r e n o d e r A rchiv - Bibliothek - Dokume ntation ( ABD ) de s ZDF s o g a r s e l b s t G e s c h i c h te p r o d u zi e r t h a b e n? G a n z e i nf a c h – d a wo s i e e n t s t a n d e n s i n d, b e i d e n R u n d- D a s ZD F ve r f ü g t ü b e r e ine n s o g ro ße n A rc hivb e - f u n k a n s t a l te n. Ge n a u e r in de r e n A r c h i ven. re ic h, we il e r e r s te n s f ü r die re da k tio ne lle A r b e it Un d d a mit i s t s c h o n e in H auptp ro b le m g e n a nnt : une rl ä s slich ist und e r st z weite ns die ZDF - Pro - D e n n d i e R u n d f u n k a r c h i ve s i n d m i t S t a a t s - , Kom - g r a m m g e s c h i c h te b ewa h r t . A B D i s t d e s h a l b a u c h m u n a l - , K i r c h e n - , U n i ve r s i t ä t s - , W i r t s c h a f t s - o d e r vorde rg r ü ndig a l s ze ntr a le r D ie nstle i stung s b etr ie b s o n s ti g e n A r c hive n ni c ht ve r gl e i c h b a r. D i e R u n d - f ü r Pr o d u k ti o n un d Pr o g r a m m sowi e fü r di e Ver we r- f u nka r c hive b e s i t ze n e ine n Zwi t te r c h a r a k te r. S i e tu n g s e i n r i c h tu n g e n de s ZD F de fi n i e r t . s i n d zu m e i n e n Teil d e s h a u s i nte r n e n Wor k fl ows , s p r ic h : de r jou r na li sti s c he n Pro duk tio ns ket te und D i e A r c hive in d e n R u n df u nka n s t a l te n s tell e n b e i zu m an d e r e n Tei l de r Pr o g r a m m ü b e r l i e fe r u n g. e t was f r e i e r B e t r a c h tu n g n ä m l i c h zu e r s t s o e t was Wohe r kom mt nu n d e r D o p p e l c h a r a k te r ? A ll e öf - wi e M ate r i a l a u s g a b e n, wi e R o h s tof fl a g e r d a r. Mi t fe ntlic h - re c htlic he n und p r ivate n Rundfunka nsta l - H i l fe d e r b e i i h n e n a r c h i v i e r te n L a u f - u n d S t a n d b i l- te n in D e u t s c hl a n d u nte r h a l te n he u te e i g e ne A r - d e r, m i t M u s i ken, G e r ä u s c h e n, Tön e n s owi e A g e n- c h i ve, d i e s i c h i n Tei l a r c h i ve a u f s p a l te n. B e i d e n tu r m e l d u n g e n u n d Tex ti nfo r m a ti o n e n kön n e n n e u e größe ren öf fentlich - re chtlichen Rundfunkanstalten S e n d u n g e n u n d B e i t r ä g e e r ze u g t we r d e n. Zu r Ze i t exi s ti e r e n me i s te n s ei n Fe r n s e h - bz w. Pr o g r a m m a r- we rde n wir mit e ine r Bilde r flu t de r zu r ü ck lie g e n - c h i v, e i n H ö r f u n k - bz w. M u s i k a r c h i v, e i n B i l d a r c h i v de n Fußba llwe ltme i s te r s c haf t g e r adezu e r s c hla - s owi e e i n Tex t a r c h i ve bz w. e i n I nfo r m a ti o n s - / D o k u- g e n. J e d e S e n d u n g m i t R ü c k b l i c ks c h a r a k te r g r e i f t m e n t a ti o n s b e r e i c h. l o g i s c h e r wei s e a u f A r c h i v m a te r i a l zu. D i e s i s t b e - k a n n t . D i e Ver we n d u n g von A r c h i v m a te r i a l i s t a b e r Wen n si e nu n da s Or g a n i g r a m m un d di e da zu g e h ö- a u c h e i n g a n z e n t s c h e i d e n d e r Fak tor zu r Kos te n - r i g e s t a ti s ti s c h e D o k u m e n t a ti o n i m ZD F - J a h r b u c h b etr ac hte n, we rde n s ie s e he n, da s s de r ZD F - A r - c h i v b e r e i c h m i t S t a n d A p r i l 20 0 5 ü b e r 115,5 Pla n - 6 Archiv-Bibliothek-Dokumentation. Forum 59 reduzierung. Benötigt ein Redakteur beispielswei- te oder auch nur bestimmte Bilder benötigen, das se zur Bebilderung eines Ereignisses in Sydney Bil- Band sofort wieder ausleihen, die Bilder beim Cut- der des dortigen Stadtzentrums, so muss er nicht ter abklammern lassen und in ihrem neuen Beitrag nach Australien fliegen oder diese Bilder teuer an- erneut einsetzen. kaufen. Mit Sicherheit findet er von der Olympiaü- bertragung 2000 genügend Bilder im Archiv mit der Am Folgetag nach der 19-Uhr-heute wird nach fest- Skyline Sydneys. Die Archive sind integraler Be- gelegten Dokumentationsregeln diese Sendung in standteil der Produktionskette und erst durch die der Fernsehdatenbank ausführlich dokumenta- Archivierung der eigenen Sendungen ist es heu- risch beschrieben und die Redakteure können spä- te möglich, die vom Zuschauer geforderte und von testens ab Mittag des auf die Sendung folgenden den Rundfunkanstalten sich selbst auferlegte Qua- Tages (also nach rund 17 Stunden) in den Inhalts- lität bei den Nachrichten- und Magazinsendungen beschreibungen der einzelnen Beiträge und auch zu erreichen. in den Beschreibungen dessen, was in den Bild- sequenzen zu sehen ist, im Volltext recherchieren. Die Struktur und die Arbeitsweise der Rundfunk- Der dokumentarische Aufwand der für die Wieder- archive entsprechen ihrem Funktionsauftrag als verwendbarkeit der Sendungen betrieben wird, ist Dienstleister für die programmproduzierenden Be- also enorm. Vergleicht man die Tätigkeiten zur Be- reiche. Im ZDF gibt es deshalb ein Programmarchiv, standserschließung in einem klassischen und in ei- ein Musikarchiv (mit der Bezeichnung »Musikser- nem Rundfunkarchiv, so betreiben die Rundfunkar- vice«), einen Bereich »Informations- und Bildser- chivare eine Art »intensive Einzelblattverzeichnung«, vice« und ein Unternehmensarchiv. Während die fast eine »Wort- oder Satzverzeichnung«. Bei der Er- erstgenannten Archive überwiegend zur Versor- schließung von Fernsehsendungen schwankt somit gung der eigenen Redakteure beitragen, sichert der Zeitfaktor, den man für die Verzeichnung einer das Unternehmensarchiv mit derzeit 3 Planstellen Sendung benötigt, von 1:3 bis 1:8, d.h. eine Fern- die Unterlagen zur Geschichte des ZDF. sehsendung von 1 Stunde Länge dokumentiert der Rundfunkarchivar zwischen 3 Geschäftsbereich ARCHIV-BIBLIOTHEK-DOKUMENTATION (GB ABD) und 8 Stunden. Diese Erschlie- ßungstiefe ist aber für das ef- Geschäftsfeld (GF) Geschäftsfeld (GF) Geschäftsfeld (GF) Übergreifende Funktionen Programmarchiv Informations- u. Musikservice fektive Finden geeigneter Bild- sequenzen zum Einschneiden in Zentrale Aufgaben Programmarchiv Informations- und Bildservice neue Beiträge notwendig.

Studioarchive Koordinationsstelle Musikservice Und die hauseigene Nutzung Bayern, Berlin, PHOENIX Hamburg, NRW der Archive durch die ZDF-Re- dakteure ist hoch. Einige Zah- Unternehmens- archiv len zur Verdeutlichung: Im ZDF-Programmarchiv wird das Struktur des ZDF-Archivbereiches Programmvermögen aus der ZDF-Sendetätigkeit seit 1963 Ohne die Rundfunkarchive könnte kein Redakteur archiviert und dokumentiert. Der heutige Bestand, heute effektiv arbeiten. Ein Beispiel: Die »heute«- zu dem neben dem ZDF-Programm auch die ZDF- Nachrichten von gestern Abend 19 Uhr gelangen Anteile von 3sat, KIKA und ARTE gehören, umfasst sofort nach der Sendung ins Programmarchiv, ein- ca. 1 Mio. Träger. Dies sind rund 250.000 Filme und mal durch Ablage als digitaler File in einem Archiv- Sendungen in hochauflösender Fernsehqualität server und auch in physischer Form auf speziellen und rund 750.000 VHS-Videos. Zusätzlich werden Bandträgern (dies sind im ZDF: DigiBeta oder DV- wichtige Sendungen und Musiken seit 2002 als File CPro50) und dort wird die Sendung sofort mit ei- in einem digitalen, servergestützten Archivsystem nigen wenigen sogenannten Formaldaten noch am vorgehalten, dass derzeit über 5 Terabyte Speicher- Sendetag erschlossen (dazu zählen z.B.: Sendeda- kapazität für Programmbestände und 8 Terabyte für tum, Serien- und Sendetitel, Länge, Produktions- Audiodateien verfügt (Endausbaustufe: 32 TB). nummer, …) und mit einem Labelcode versehen. Damit ist das Sendeband ausleihbar und ZDF-Re- Aus dem Programmbestand werden durchschnitt- dakteure, nicht nur Redakteure der »heute«, kön- lich 770 Träger pro Tag ausgeliehen und eine ähn- nen, falls sie einen Beitrag aus der 19 Uhr-heu- liche Anzahl auch wieder rückgelagert. Die Kol- 60 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) legen am Recherchedesk des Programmarchivs schon wieder – nach dem Grundgesetz – eine recht- übernehmen rund 150 Themen- und Einzelrecher- liche Schranke? Gehören denn nicht alle Inhalte der che am Tag. Ähnliche Zahlen gibt es im Musik-, im Archivdatenbanken dem öffentlich-rechtlichen ZDF Bild- oder im Informationsbereich. Die Archivberei- und damit der Allgemeinheit? che werden also intensiv durch die eigenen Redak- teure genutzt. Wie beschrieben wird die dokumentarische Ar- beitsleistung meiner Kollegen in Datenbanken ge- ABD-Informationssysteme speichert. Diese Arbeitsergebnisse gehören dem ZDF. Aber die Informationen in den Archivdaten- Zu den heutigen Arbeitsabläufen gehört es da- banken unterliegen einem Mix an Eigentums- und bei, dass die Archivare ihre Erschließungsinforma- Nutzungsrechten. Es gibt: tionen per Datenbanken dem Redakteur zur Verfü-  Findhilfsmittel (eigen erbrachte archivisch-doku- gung stellen. Der ABD-Bereich des ZDF propagiert mentarische Arbeitsleistungen) deshalb die Vorstellung, dass die Rundfunkarchiva-  eingekaufte Informationen (Agenturen, Zeitun- re die Inputfachleute sind und die Redakteure die gen etc.) Recherche-, also die Outputspezialisten. Aus die-  eingekaufte Produktions- und Archivmaterialien sem Grund kann der ZDF-Redakteur auf verschie- (Bilder, Musiken etc.) dene Archivdatenbanken zugreifen, in denen er die  Informationensammlungen mit Sonderrechten Erschließungsdaten der einzelnen Archivbestände (Medienprivileg, Datenschutz) wieder findet. Das Angebot von ABD an Informati- Das ZDF kauft Agenturmeldungen, Musiken, Bilder, onssystemen umfasst folgende Datenbanken: Zeitungstexte, Personendaten, Länderinformatio-  Fernsehdatenbank nen usw. bei Zeitungsverlagen, Text- und Bildagen-  Presse-/Agenturdatenbank SPHINX turen ein und gibt ein Teil der von den Zuschauern  Bilddatenbanken BidAS/DELTA gezahlten GEZ-Gebühren direkt an diese Informati-  Bibliotheksdatenbanken onsanbieter weiter. In den dazugehörigen Verträgen  Multimediadatenbank mit diesen Anbietern ist ausdrücklich festgehalten,  Musikdatenbank dass die erworbenen Bilder, Musiken und Informa-  Digitales Archivsystem für Programmbestände tionen nur für die eigene journalistische Arbeit ver- (DAS) wendet werden dürfen. Wir befinden uns nämlich  Digitales Audioarchiv (DAA) auf dem Gebiet des Urheberrechts.

Diese Archivdatenbanken können alle über ein (!) Außerdem gibt es noch Ausnahmeregeln, die es Archivportal angesteuert werden. Schön, könn- Journalisten erlauben, bestimmte datenschutz- te ein Forscher sagen, nun weiß ich genau, wohin rechtliche Festlegungen nur eingeschränkt einhal- ich mich wenden muss, wenn ich einen Film su- ten zu müssen. Der ZDF-Datenschutzbeauftragte che und zu irgendeinem Fakt recherchieren möch- Christoph Bach hat auf dem Bonner Symposium zu te. Denn: »Ich habe da nämlich gehört, dass die- den Mediensammlungen in Deutschland im Herbst se Archivdatenbanken eine wahre Fundgrube sind« 2003 zu diesem Themenkomplex eindeutig die und die Datenbanken kann man doch bestimmt Grenzen der Nutzung aufgezeigt: fürs Internet für alle frei schalten. Die »Fundgru-  »Durch die Begrenzung auf rein journalistische be« existiert, doch leider erhalten die Forscher Zwecke wird eine Verwendung der Daten für andere vom ZDF die Antwort, dass zwar diese Archivda- Zwecke gesetzlich ausgeschlossen. Geschieht dies tenbanken bestehen, diese aber auf Grund des doch, so entfällt das Medienprivileg. […] Entschei- Medienprivilegs sowie aus urheber- und daten- dend ist also, dass die Zweckbestimmung der Ar- schutzrechtlichen Gründen nicht von Dritten ge- chive eine ausschließlich publizistische bleibt.« nutzt werden dürfen. Diese Antwort ist übrigens ein  »Im Übrigen wird es nicht zuletzt unter dem Ge- Grund, für die immer wieder vorgetragene falsche sichtspunkt des Datenschutzes einen freien, unge- Ansicht von Wissenschaftlern, die Rundfunkarchi- regelten Zugriff auf die Medienarchive – etwa über ve wären durch externe Forscher nicht benutzbar. das Internet – auch zukünftig nicht geben.«7 Den Hinweis auf das Urheberrecht und den Daten- Medienprivileg, Urheberrecht und Datenschutz schutz hören aber Forscher nicht so gern, v.a. wenn sie wissen, dass die von ihnen gesuchten Informati- Warum darf eigentlich kein externer Nutzer in den onen vorhanden sind, sie aber an diese nicht so ein- Archivdatenbanken des ZDF stöbern? Wieso gibt es fach herankommen. Auch hat das Internet meiner Forum 61

Meinung nach dazu beigetragen, dass viele denken, che Eingrenzung. Dies hing damit zusammen, dass Urheberrecht geht nur andere etwas an. Und dann der Fernsehrat als gesellschaftliches Kontrollorgan wird, trotz des Wissens um die Gesetzeslage, kräf- des ZDF in seiner Geschäftsordnung für seine Un- tig auf die »bösen« Rundfunkanstalten geschimpft, terlagen festgelegt hat, dass über die Einsicht von wie forschungsfeindlich sie wären. Dritten in Niederschriften öffentlicher Sitzungen der Vorsitzende des Fernsehrates, zurzeit der CDU-Po- Nutzungsmöglichkeiten der ZDF-Archive litiker Ruprecht Polenz, entscheidet. Er soll bei ei- nem berechtigten Interesse dem Begehren statt- Dabei unterstützen alle Rundfunkarchive – auch der geben. Die Einsicht in Unterlagen nichtöffentlicher GB ABD des ZDF – seit Jahren die wissenschaftli- oder vertraulicher Sitzungen bedarf der Zustim- che Forschung, vor allem die Medienwissenschaft. mung des Erweiterten Präsidiums. Die Protokolle Im ZDF gibt es für die Benutzung durch externe der Ausschüsse des Fernsehrates dürfen Dritte auf Forscher klare Regeln. Der Geschäftsbereichs- Grund des vertraulichen Charakters erst nach Ab- leiter ABD entscheidet über den jeweiligen Benut- lauf von 8 Jahren nach der Sitzung einsehen. Somit zungsantrag. Seit 1999 arbeite ich beim ZDF und lassen sich bestimmte Fragen zur Programmgestal- seit dieser Zeit ist nicht ein einziger Antrag auf Be- tung, die ohne die Unterlagen des »Legislativor- nutzung durch externe Forscher abgewiesen wor- gans« Fernsehrat wissenschaftlich nicht auswert- den. Bei zu allgemein formulierten Anfragen erbit- bar sind, erst mit dieser achtjährigen Verzögerung ten wir öfter eine Konkretisierung (die dann häufig beantworten. Aber 8 Jahre sind keine 30 Jahre. nicht erfolgen) oder wir verweisen bei den berüch- tigten Schüleranfragen auf die besser nutzbaren öf- Das zweite Problemfeld, auf das ich noch kurz ein- fentlichen Bibliotheken vor Ort. Aber selbst nicht- gehen muss, ist die häufig geäußerte Bitte, im Pro- wissenschaftliche Nutzungsanfragen, wie die eines grammarchiv ältere Sendungen frei ansehen zu Fans der Serie »Der Alte«, der alle Drehorte der Serie dürfen. Dieses Ansinnen müssen wir überwiegend in München ermitteln wollte, haben wir unterstützt. ablehnen, da es dafür keine Sichterplätze und Per- Allein in diesem Jahr haben wir bisher ca. 35 größe- sonalkapazitäten gibt. Die Rundfunkarchive sind, re wissenschaftliche Benutzungsanfragen ermög- wie schon erwähnt, Teil des redaktionellen Work- licht bzw. die Anfragen direkt beantwortet. Externe flows und keine Fernsehmuseen. Welche Probleme Forscher erhalten in Abhängigkeit von ihrem For- das derzeit im Aufbau befindliche Fernsehmuse- schungsprojekt einen begrenzten Zugang zu den um hier in Berlin, am Potsdamer Platz, v.a. urhe- ZDF-Archivbeständen. Dabei liegt der Schwer- berrechtlicher Art gerade hat, konnten man aktuell punkt der Nutzung bei den im Unternehmensar- am Spiegel-Online-Artikel »Betteln um ,Bonanza‘«8 chiv vorhandenen Textquellen zur Entwicklung des oder im Spiegel-Heft Nr. 17 unter der Überschrift Medienunternehmens ZDF und seines Programms. »TV-Museum ohne Klassiker«9 bzw. im Artikel «Fes- Wie unhaltbar die eingangs zitierten Behauptun- ter Ort für flüchtige Bilder« in der Zeitschrift »epd gen im Internet über die Nutzungsfeindlichkeit der medien«10 lesen. Rundfunkarchive sind, ist hiermit erkennbar. Dies merkt man spätestens dann, wenn man die Kritiker Im ZDF-Unternehmensarchiv haben wir aber seit bittet, konkrete Beispiele der »Nutzungsfeindlich- kurzem einen Video-Sichterplatz, den wir v.a. bei keit« zu benennen. Als Antwort erhält man nur All- sendungsgestalterischen bzw. ästhetischen Fra- gemeinplätze ohne konkreten Hintergrund. gestellungen, externen Nutzern anbieten können. Auch versuchen wir derzeit einen Zugang zum di- Zwei Problemfelder möchte ich abschließend noch gitalen Archiv für Programmbestände programmie- kurz erwähnen. Das erste betrifft den Bereich der Schutzfristen. Im Bundesarchiv- und auch den meisten Landesarchivgesetzen ist eine Schutzfrist von 30 Jahren festgeschrieben. Bei einer Eins-zu- Eins-Umsetzung wären derzeit nur Rundfunk-Un- 7 Bach, Christoph: Medienarchive und datenschutzrechtliches Me- dienprivileg. – in: Zeit-Fragen. Mediensammlungen in Deutschland im terlagen vor 1976 einsehbar. Im ZDF gibt es eine internationalen Vergleich. Bestände und Zugänge. hrsg. von der Stif- solche Regelung nicht. Der Intendant hat sich aber tung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: ausgebeten, über die Einsicht in seine Unterla- 2004. gen und die der Direktoren selbst zu entscheiden. 8 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,413259,00.html [02.05.2006]. Aber auch hier gab es seit 1999 keine Ablehnung 9 , Nr. 17 vom 24.04.2006. bei solchen Anfragen, nur in einem Fall eine zeitli- 10 epd medien, Nr. 36 vom 10. Mai 2006. 62 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) ren zu lassen, so dass der externe Nutzer sich die Teil der heutigen Mediengesellschaft stellen wir uns seit 2002 servergestützt archivierten Sendungen in unserer Verantwortung und nehmen diese »offen«- Browserqualität an einem PC im Unternehmensar- siv wahr. chiv ansehen kann – ohne darüber den eigentlich Veit Scheller, Mainz vorhandenen vollen Zugriff auf alle ABD-Daten- Anschrift: banken zu erhalten. Nicht unerwähnt soll an die- Veit Scheller ser Stelle bleiben, dass das ZDF wie alle anderen ZDF Fernsehsender Sendemitschnitte für private, wis- GB ABD/Unternehmensarchiv senschaftliche oder nichtkommerzielle Nutzung 5510 Mainz bei Übernahme der reinen Kopierkosten auf Anfra- E-Mail: scheller.v@.de ge herstellt. Dafür ist der Bereich Programmservice zuständig, der nicht zum Archiv gehört.11 Zum Tod von Tilo Prase Alle Anstrengungen auf diesem Gebiet betreiben die Rundfunkanstalten übrigens aus eigenem Er- PD Dr. Tilo Prase war Hochschullehrer, Fernsehjour- messen, denn in den durch die KEF genehmigten nalist, Medienforscher und freier Dozent. Tilo Prase GEZ-Gebühren ist nicht ein Cent für die Bereitstel- studierte in den 70er Jahren an der Sektion Jour- lung von Kapazitäten für die wissenschaftliche Nut- nalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er wur- zung der Rundfunkarchive vorgesehen, d.h. es gibt de 1983 promoviert und arbeitete zunächst als keine Etatmittel dafür. Trotz dieser finanziellen Si- Fernsehredakteur und Pressejournalist, dann kehr- tuation erkennen ARD und ZDF ihre Verantwortung te er als wissenschaftlicher Assistent an die Sekti- für die Sicherung der von ihnen produzierten Sen- on Journalistik zurück. Dort gestaltete er zu Beginn dungen an und haben am 9. August 2004 gegenü- der 90er Jahre mit Rüdiger Steinmetz den instituti- ber der Rundfunkkommission der Länder eine frei- onellen Übergang zum Institut für Kommunikations- willige Selbstverpflichtungserklärung abgegeben, und Medienwissenschaft. Seine Habilitation (1990) in der sie sich zur Umsetzung der »Europäischen beschäftigte sich mit dem Bildgebrauch im Fern- Konvention über den Schutz des audiovisuellen Er- sehen. Als selbständiger Dozent und Medienbera- bes« des Europarates sowie des Zusatzprotokolls ter betrieb er Programm- und Zuschauerforschung »Schutz von Fernsehproduktionen« verpflichten. für den MDR und lehrte er an der Fernsehakademie Darin erklären sie im Punkt 7 »Zugang«, dass »ARD Mitteldeutschland. Mehr als 20 Jahre hat er Gene- und ZDF […] unter Beachtung der Primärzwecke rationen von Studenten ausgebildet und ihre Ma- ihrer Archive als Präsenz- und Arbeitsarchive Zu- gister- und Diplomarbeiten betreut. Er war in etli- gang zu den im Rahmen der Selbstverpflichtung ar- chen Forschungsprojekten involviert, publizierte chivierten Programmbeständen für anerkannte kul- u.a. zur Filmsemiotik, zur Regionalität in Hörfunk- turelle, wissenschaftliche und Forschungszwecke« und Fernsehprogrammen, zum Dokumentarfilm im gewähren werden. Eine ähnliche Selbstverpflich- DDR-Fernsehen und begleitete die Arbeit der Zeit- tungserklärung der privaten Rundfunkbetreiber ist schrift »Rundfunk und Geschichte« mit Rezensio- mir bisher leider nicht bekannt. nen und Beiträgen. Ab 2001 war er maßgeblich an der von der DFG geförderten Forschergruppe (Leip- Damit möchte ich meinen kurzen Blick auf das sehr zig, Halle, Berlin und Potsdam) zur Programmge- differenzierte Feld der Benutzung der Rundfunkar- schichte des DDR-Fernsehens beteiligt. Er arbeite- chive durch externe Forscher beenden. Zusammen- te im Leipziger Teilprojekt zu den dokumentarischen gefasst lautet – wie so oft im Leben – meine Antwort Genres. auf die Frage, ob die ZDF-Archive nur Dienstleister für interne Nutzer sind doppelsinnig: Ja und Nein. Am 1. September 2006 ist Tilo Prase nur 52-jährig Die ZDF-Archive und ich denke, ich kann auch für nach einer kurzen, schweren Krankheit gestorben. die ARD-Rundfunkarchive sprechen, sind im Rah- In allen Belangen, beruflich und persönlich, hin- men der ihnen vorgegeben rechtlichen Grenzen und terlässt er tiefe Lücken: wegen seiner profunden der Priorisierung der Nutzung der Archive durch die Kenntnisse, wegen seines warmherzigen, ruhigen eigenen Redakteure offen für die Wissenschaft. Als und klugen Wesens. Das Mitgefühl gilt seiner Ehe- frau und seiner Tochter. Rüdiger Steinmetz, Leipzig

11 Anfragen sind zu richten an: ZDF, Bereich Programmservice, 55100 Mainz, E-Mail: [email protected], Tel.: 06131/709510. Forum 63

Referenz in den Medien. gitalität nicht gleich Täuschung bedeutet, hob Rü- Dokumentation – Simulation – Docutainment. diger Maulko (Hamburg) hervor, der unter der Frage Jahrestagung der Gesellschaft »Referenz und Computerbild« zeigte, wie der digita- für Medienwissenschaft (GfM), Stuttgart, le Fotorealismus auch ein ironisches Spiel mit dem 5.–7. Oktober 2006 Potential des Mediums sein kann. Neben den neu- en Medien und ihrer kommunikativen Funktion, die Mit dem Thema ‚Referenz in den Medien‘ wand- Karin Bruns (Linz) am Beispiel der Blogosphäre te sich die diesjährige Tagung der Gesellschaft für vorstellte, reichte die Spannweite zurück bis in die Medienwissenschaft den komplexen Bezügen der Frühgeschichte des Films mit der bisher nicht ge- Medien und ihrer Bilder zur Welt zu. Angesichts der schriebenen Geschichte des deutschen ethnogra- Kinoerfolge von Dokumentarfilmen, neuer doku- phischen Films, an der Wolfgang Fuhrmann (Kas- mentarischer Formen wie dem Camcorder-Aktivis- sel) arbeitet. mus sowie neuer Formate, die die digitalen Medi- en und das Fernsehen im Rahmen von Infotainment, Besondere Aufmerksamkeit erfuhren dokumenta- Historytainment und Docutainment jüngst hervor- rische Geschichtskonstruktionen, die zumeist hy- gebracht haben, erwies sich die Referenzproblema- bride Formen darstellen, wie sie Henning Wrage tik als ebenso aktuelle wie erhellende Fragestellung. (Berlin) am Beispiel von Produktionen des DDR- Die Tagung, die in Kooperation mit dem Haus des Fernsehens untersuchte. Das Dokudrama wurde Dokumentarfilms beim Südwestrundfunk (SWR) in von Thomas Waitz (Bochum/Köln) vorgestellt, dem Stuttgart stattfand, diskutierte in zwei parallelen es am Beispiel von Hans-Christoph Blumenberg Sektionen neben der historischen und gegenwär- darum ging, ein Modell für eine differenzierte Be- tigen Medienentwicklung auch unterschiedliche schreibung zu entwickeln. Christian Hißnauer (Göt- theoretische Ansätze. Nicht zuletzt bot die Tagung tingen) präsentierte das neue Format der »Living auch eine Plattform für den Austausch zwischen history«, eine Real-Life-Variante des Dokumen- Wissenschaft und Praxis. tarspiels, in der den Protagonisten in einem histo- rischen Setting Rollen und Aufgaben zugewiesen In seinem Eröffnungsvortrag gab Heinz-B. Heller werden wie beispielsweise im Grimme-Preis-prä- (Marburg) einen Überblick über aktuelle Diskurs- mierten »Schwarzwaldhaus 1902«. Als ethnometho- tendenzen zum Dokumentarischen, denn höchst dologisches Krisenexperimentes gelesen, lebt im heterogene Ansätze stünden nebeneinander. Be- Spiel mit der Geschichte vor allem die Gegenwart. dingt durch einen diskursiven Wandel in der Vor- Die historische Entwicklung vom Deutschen Nach- stellung von Referenz sei diese zu einer subjektab- kriegsfernsehen mit den »Schölermanns« bis zur hängigen Größe geworden. Hellers Feststellung, Reality Soap analysierte Joan Bleicher (Hamburg) dass das Subjekt als letzter Garant der Referenz unter dem Blick des Privaten, mit dessen Inszenie- fungiere, wurde mit Rekurs auf ontologische Posi- rung ein besonderes Authentizitätsversprechen ver- tionen – nicht nur im Anschluss an seinen Vortrag – bunden ist. Ein Bruch mit diesem durch Fälschun- allerdings kontrovers diskutiert. Im Laufe der Veran- gen und Fakes führt weniger ins Nichts, wie Martin staltung erwiesen sich die von Heller präsentierten Doll (Frankfurt am Main) zeigte. Der Bruch mit dem Ansätze jedoch gerade im Zeitalter digitaler Mani- Authentizitätsversprechen fungiert vielmehr als In- pulationsmöglichkeiten als weiterführend, da das dikator medialer Ästhetisierungen. Solchen ästhe- Dokumentarische als Differenzqualität zum Fiktio- tisch innovativen Formen ging Ursula von Keitz nalen weiter besteht und der Bezug auf Welt gerade (Zürich) am Beispiel von Andres Veiels »Der Kick« nicht aufgegeben wird. nach. Dieses aktuelle Beispiel um den Mord an ei- nem 16-Jährigen in der brandenburgischen Provinz Theoretisch neue Perspektiven eröffnete vor allem greift die Form des Dokumentarischen Theaters auf ein Gruppenreferat der Arbeitsgemeinschaft Medi- und vermittelt über die Ästhetik, was Kay Hoffmann enwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Un- (Stuttgart) an jüngsten – vor allem aus Österreich ter dem Titel »Hot Stuff: Referentialität in der Wis- stammenden – internationalen Dokumentarfilmer- senschaftsforschung« präsentierte die Gruppe folgen im Kino thematisch ausmachte, nämlich Modelle der Wissenschaftsforschung, die mit zir- die Rückkehr des Politischen. Eine ähnliche Beo- kulierender Referenz und Kaskaden von Inskriptio- bachtung machte auch Peter Zimmermann (Stutt- nen einer anderen Logik und Wahrheitskonstruktion gart), der sich angesichts des Enthusiasmus und verpflichtet sind als sich im sozialen Raum bewe- der Technikeuphorie, wie sie der Camecorder-Ak- gende medienwissenschaftliche Ansätze. Dass Di- tivismus globalisierungskritischer Gruppen an den 64 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Tag legt, an die 70er Jahre erinnert fühlte. Ein Film Vermittlung sind es postmoderne Katastrophento- der Menschenrechtsaktivisten Katerina Cizek und poi, die – in häufiger Anspielung auf einen Titel von Peter Wintonick mit dem Titel »Seeing is believing« Jean Baudrillard – in Agonie liegen. Die Beiträge bildete die Antithese auf das von Matthias Steinle werden wie gewohnt als Publikation in der Schrif- (Marburg/Paris) vorgestellte Filmschaffen von Er- tenreihe der GfM erscheinen. rol Morris. Dieser hielt in seinem Oscar-prämierten Matthias Steinle, Marburg/Paris Film »The Fog of War« fest: »Seeing and believing are both often wrong.« Solche Paradoxien nicht nur auszuhalten, sondern für die Zuschauerwahrneh- Manuskripte der Sendereihe »Bairisch Herz«. mung fruchtbar zu machen, gelang Franziska Hel- Ein neuer Bestand des Historischen Archivs ler (Bochum) im Rückgriff auf das Gilles Deleuzsche des Bayerischen Rundfunks ist erfasst Modell vom Schauspieler. »Das Bairisch Herz. Heiteres und Besinnliches in Den Austausch von Theorie und Praxis schließlich Worten und Liedern«, so lautete über 40 Jahre hin- leitete eine von Joachim Peach (Konstanz) präsen- weg der Titel einer der beliebtesten Unterhaltungs- tierte Reflexion zur Geschichtsdokumentation ein, sendereihen im Hörfunk des Bayerischen Rund- die durch die Arbeit des Filmemachers Jens Peter funks. Die erste Ausgabe vom »Bairisch Herz« wurde Behrend erläutert wurde. Dessen ZDF-Geschichts- am 13. November 1955 ausgestrahlt, die letzte am 6. dokumentation über die biblische Maria Magdalena Oktober 1996. In über 40 Jahren und 764 Folgen fiel aus dem Jahr 2005 rief im Plenum zwiespältige Re- keine einzige Aufnahme der Sendung aus. aktionen hervor, die vom Lob des Autors als »Tin- »Das Bairisch Herz« wurde immer am Sonntag, in toretto der Gegenwart« über »problematisch« bis zu Bayern 1 gegen 20 Uhr ausgestrahlt und dauerte je- »sehr katholisch« reichten. Behrend erwähnte selbst, weils zwischen 40 und 60 Minuten. Anfangs wurde dass Filme, die wie dieser am Karfreitag im ZDF zur pro Monat je eine Folge gesendet (im August gab Hauptsendezeit laufen, nur »apologetischen« Cha- es eine Art Jahres-Zusammenfassung der besten rakter haben können. Dokumentaristen, die als Au- Beiträge), später dann pro Monat meist zwei bis tor-Produzent ihre Filme herstellen und nicht in grö- drei Folgen. ßere d.h. hauptsächlich TV-Strukturen eingebunden Charakteristisch für das »Bairisch Herz« waren im- sind, arbeiten und leben unter zunehmend prekären mer der lokale Bezug und die unverfälschte Mund- Bedingungen, wie Caroline Elias und Thomas We- art mit lokaler Färbung, das Bairische, das Schwä- ber (Berlin) darstellten. Die immer schmalere ökono- bische und das Fränkische. Schwaben und Franken mische Basis führe zu einem Verfall der Doku-Kultur, erhielten daher 1975 eigene Ausgaben – pro Jahr wobei die Hoffnung bestehe, dass die Konkurrenz- anfangs jeweils etwa vier, später sechs. Ab 1982 situation das Fernsehen über kurz oder lang nötige, gab es zusätzlich niederbayerisch-oberpfälzische verstärkt auf Qualität und Vielfalt zu setzen. Wilhelm Ausgaben. Reschl vom SWR (Stuttgart) stellte neuere Tenden- Wie der Untertitel der Sendung bereits verrät, war zen der Geschichtsproduktion im Fernsehen aus »Das Bairisch Herz« immer eine Mischung aus Un- Sicht des Programmpraktikers dar, die sich durch terhaltung und Information, aus humorvollen und den Zwang zur Formatierung, den Hang zur Per- lustigen, aber auch aus nachdenklichen und be- sonalisierung und durch zunehmend fiktionale Ele- sinnlichen Beiträgen in Form von Gedichten, Tex- mente auszeichnen. Den Abschluss bildete Thomas ten, Geschichten und Liedern. Brauchtum, Traditi- Reutter (Mainz) von »Report Mainz«. Am Beispiel ei- on, Dialekt, Geschichte, Prosa und Lyrik hatten hier nes Lebensmittel-Skandals verdeutlichte er die er- einen Platz. schwerten Bedingungen beim Erschüttern der Re- publik, was die kürzlich erfolgte Zeitbeschneidung In den über 40 Jahren »Bairisch Herz« wirkten so der ARD-Magazine um ein Drittel der Sendezeit viele engagierte Männer und Frauen, seien es nun noch schwieriger mache. Dichter, Erzähler, Schriftsteller, Schauspieler, Spre- cher und Musikanten oder Redakteure und Regis- Diese und weitere auf der Tagung präsentierten seure mit, dass alle zu nennen nicht möglich ist. Beispiele haben gezeigt, dass die Diskussion um Trotzdem seien einige der wichtigsten erwähnt: die ‚Krise‘ des Dokumentarischen neben kritisch Oskar Weber, der von Beginn an bis 1985 die Zu- zu bewertenden Entwicklungen auch seine Aktua- sammenstellung der Sendungen vornahm und das lität und soziale Relevanz zeigen. Viel mehr als das umfangreiche Archiv von »Bairisch Herz« aufbau- Reale und die vielfältigen Formen seiner medialen te; Eva Demmelhuber, die 1985 Weber ablöste und Forum 65

zusätzlich Regie führte; Hellmuth Kirchammer, der Die Forschungsberichte von Infratest von der ersten Folge an der Leiter der Hauptabtei- im Deutschen Rundfunkarchiv lung Unterhaltung war; Hans Stadler, der der ers- te Regisseur war; Fritz Straßner, der zunächst Rah- Womit verbrachten Kinder unter 14 Jahren 1971 ihre mensprecher der Sendung und später Nachfolger Freizeit? Welche Einstellung hatten die Westdeut- Stadlers als Regisseur war; Rudi Knabl, der nahezu schen 1967 zu Gastarbeitern? Was für Radiosen- alle Sendungen musikalisch betreute (anfangs zu- dungen bevorzugten Heimatvertriebene in Bayern sammen mit Raimund Rosenberger); Josef Berlin- 1950? Und was hielt die deutsche Bevölkerung 1973 ger, der die niederbayerisch-oberpfälzischen Aus- von den USA? gaben zusammenstellte; Herbert Lehnert, der für Die Studien des Markt- und Meinungsforschungs- Zusammenstellung und Regie der fränkischen Aus- instituts Infratest für ARD und ZDF geben Antwor- gaben verantwortlich war und Robert Naegele, der ten auf ausnehmende Fragestellungen und bieten zunächst nur die Zusammenstellung, später auch ein nicht nur für den Rundfunkhistoriker spannen- die Regie der schwäbischen Ausgaben übernahm. des Forschungsmaterial. 2001 hat TNS Infratest Zu den Autoren der ersten Stunde zählten etwa Ge- damit begonnen, Berichte zur Hörer- und Fernseh- org Lohmeier, Gustl Laxganger, Herbert Schneider, forschung aus den ersten Jahrzehnten der Firmen- Hans Breinlinger, Herbert Lehnert, Max Matheis, tätigkeit an das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) Joseph Maria Lutz und Max Dingler. Im Laufe der abzugeben. Nach einer zweiten Akzession in die- Jahre und Jahrzehnte kamen neben diesen noch sem Jahr werden jetzt unter der Signatur A53 rund viele weitere hinzu. Zusätzlich wurden in das Re- 1200 Infratest- und über 100 Infratam-Studien im pertoire der Sendung auch Beiträge von bekann- Schriftgutbestand des DRA am Standort Wiesba- ten bereits verstorbenen bayerischen Autoren und den aufbewahrt. Autorinnen wie Ludwig Thoma, Karl Valentin, Os- Die ersten der nun im DRA zugänglichen For- kar Maria Graf, Ludwig Ganghofer, Georg Queri und schungsberichte erschienen um das Jahr 1949 Lena Christ aufgenommen. herum. Der Bayerische Rundfunk hatte seinerzeit Die Fischbachauer Deandln (später die Fischbach- begonnen, das von Luise Haselmayer an der Uni- auer Sängerinnen) und die Waakirchner Buam (spä- versität München 1947 gegründete »Institut zur Er- ter die Waakirchner Sänger) lieferten mit dem An- forschung der öffentlichen Meinung« mit seiner fangsjodler den musikalischen Auftakt der Sendung. Hörerforschung zu beauftragen.1 Ein Gründungs- Neben ihnen wirkten aber im Laufe der Zeit ande- mitglied dieses Instituts war der spätere Infra- re Musiker und Musikgruppen, wie Tobi Reiser, der test-Chef Wolfgang Ernst, der bis 1956 zwischen- Roider Jackl, Haindling, die Fraunhofer Saitenmusi zeitlich die Leitung der Abteilung Hörerforschung und die Biermösl Blosn mit. beim NWDR übernahm. Aus dieser Abteilung sind Unter den Sprechern und Sprecherinnen der Bei- ab 1950 rund 180 Untersuchungen, die vielfach das träge finden sich viele beliebte und bekannte baye- Thema Hörspiel behandeln, im Deutschen Rund- rische Volksschauspieler, unter ihnen Gustl Bayr- funkarchiv erhalten. hammer, Toni Berger, Max Grießer, Ludwig Wühr, Der Bestand der späteren Forschungsberichte be- Karl Tischlinger, Erni Singerl, Ludwig Schmid-Wildy, ginnt zeitlich mit der Auflösung des NWDR 1956 Maxl Graf, Katharina de Bruyn, Karl Obermayr, Gerd und der Gründung der »Infratest Marktforschung Anthoff, Jörg Hube, Ilse Neubauer und Wolf Euba. und Sozialforschung KG«. Von 1949 bis zum Er- scheinungsjahr 1987 sind im Deutschen Rundfunk- Die Manuskripte der Sendereihe sind nun erfasst archiv insgesamt fast 40 Jahre Forschungstätigkeit worden und seit August 2006 in Form eines Find- des Unternehmens dokumentiert. buches und online im pdf-Format zugänglich (http: Mit der Gründung des ZDF 1963 konzentrierte sich //www.br-online.de/br-intern/geschichte/). Neben Infratest auf die qualitative Zuschauerforschung den Autoren und Autorinnen der Beiträge, wurden während der Zweig der quantitativen Zuschauer- – soweit bekannt – auch Sprecher, Sprecherinnen forschung von Infratam übernommen wurde. Die und Musikanten, bzw. Musikgruppen mit ins Ver- zeichnis aufgenommen, die an den jeweiligen Sen- dungen mitgewirkt haben. Bis auf wenige Ausnah- 1 Vgl. Karin Bacherer: Geschichte, Organisation und Funktion von men sind die Manuskripte aller Folgen komplett Infratest [Schmolke, Michael (Hg.): Arbeitsberichte des Instituts für erhalten. Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Salz- burg, Bd. 14], München 1987 (phil. Diss. 1985), S. 23f. und vgl. Hans- Andreas Scherrer, München jörg Bessler: Hörer- und Zuschauerforschung [Hans Bausch (Hg.): Rundfunk in Deutschland, Bd. 5], München 1980. S. 98. 66 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Firma Infratam, die von der Attwood-Gruppe, dem »Die Aussagen über die DDR-Bewohner basieren, Konzern A. C. Nielsen und Infratest getragen wurde, […], auf Befragungen von Bürgern der Bundesrepu- ermittelte von 1963 bis Ende 1974 die Einschaltun- blik Deutschland und Berlin (West), die in einem be- gen der Fernsehgeräte für ARD und ZDF. Man be- stimmten Zeitraum die DDR oder Berlin (ost [sic!]) richtete zunächst im Vier-Wochen-Rhythmus, dann besucht haben. Der befragte Besucher wurde auf- im Zwei-Wochenrhytmus und schließlich wöchent- gefordert, in seinen Aussagen nur auf eine bestimm- lich über die Einschaltzahlen ausgewählter Haus- te Person (Person X) in der DDR Bezug zu nehmen halte.2 Von Infratam sind über 100 Berichtshefte und stellvertretend für diese zu antworten.«5 und -reihen im Bestand, die auch einige Sonder- auswertungen umfassen, etwa zu den Wahlsendun- Den Unschärfen der Befragungsform voll bewusst, gen 1969 oder zu den 20. Olympischen Spielen in erhielt man auf diese Weise zumindest gewisse Er- München 1972. kenntnisse, zum Tagesablauf, Freizeitverhalten und Thematisch bunter als die rein quantitativen In- über die West-Fernsehhäufigkeit der DDR-Bürger. fratam-Untersuchungen gestaltete sich die For- schungstätigkeit von Infratest. Neben der kon- Dies sind nur einige Beispiele für den wissenschaft- tinuierlichen Zuschauerforschung in Form von lichen Fundus, den die Infratest-Studien bilden. Al- indizierten Urteilsbefragungen der Fernsehzu- lerdings kann bei den Beständen im Deutschen schauer zu Sendungen des Abend- und Nachmit- Rundfunkarchiv keine Vollständigkeit gewährleis- tagsprogramms, zu Serien im Vorabendprogramm tet werden. Der aus der Belegsammlung bei TNS und zur Fernsehwerbung führte Infratest eine Rei- Infratest hervorgegangene Archivbestand weist he von Zusatzuntersuchungen für ARD und ZDF nach den Jahren Lücken auf und endet bis auf wei- durch.3 Ob politische Einstellungen von Jugendli- teres beim Erscheinungsjahr 1987. Die Untersu- chen, Tagesabläufe von Kindern, Hörerbefragun- chungsberichte sind im Rahmen der allgemeinen gen zu Volksmusik- und Sportsendungen oder dem Nutzungsbedingungen des DRA für wissenschaft- Fernsehverhalten am Heiligen Abend – nahezu kein liche Untersuchungen zugänglich. Studien, die jün- rundfunkrelevanter Aspekt entging den Meinungs- ger als 30 Jahre sind, können nur mit Zustimmung forschern. Pünktlich zum Start des Farbfernsehens des Auftraggebers und von Infratest selbst genutzt in der BRD am 25. August 1967 untersuchte Infra- werden. test beispielsweise die Erinnerungswerte farbiger Alexandra Luther, Wiesbaden Werbespots. Im Studiotest zeigte sich jedoch er- nüchternd, dass im Vergleich zur Schwarz-Weiß- Kontakt: Fassung bei Lufthansa, Kölnisch Wasser oder Dash- Deutsches Rundfunkarchiv Waschmittel »so gut wie kein Wirkungsunterschied« Unter den Eichen 5 bestand.4 65195 Wiesbaden Doch im Fokus der Forschung stand nicht nur der www.dra.de Radio- und Fernsehnutzer in der Bundesrepublik. Friedrich Dethlefs M.A. Der DDR-Bürger war durch sein regelmäßiges Ein- Telefon (0611) 2383-213 schalten der West-Programme auch von Interesse. [email protected] Knifflig war es jedoch, zu verwertbaren Daten und Informationen zu kommen, insbesondere nach dem Bau der Mauer. Der Einfallsreichtum der Meinungs- forscher zeigt sich an folgendem Teil einer Metho- denbeschreibung aus einer Studie von 1982:

2 Vgl. Bessler, S. 199f. 3 Vgl. Bessler, S. 225. 4 Infratest Fernsehforschung: Farbfernsehen Studio-Test, Dash, November 1967, S. 12. 5 Infratest: Sekundärauswertung zur Studie »Die Programmstruk- tur des Deutschlandfunk«. Ausgangsbedingungen in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland, Januar 1982, S. II. Rezensionen

Internet-Rezension idée suisse mit ihren insgesamt sieben Radio- und Das Schweizer Internetportal Fernsehsendern. 1998 kam noch das Schweizeri- www.memoriav.ch sche Institut zur Erhaltung der Fotografie in Neu- chatel hinzu, womit nun alle audiovisuellen Medien »Filme, Videos, Fotos und Tondokumente sind wich- vertreten sind. Neben den Gründungsmitgliedern tige Zeugen unserer jüngeren Vergangenheit. Ihre unterscheidet die Satzung des Vereins noch Kol- Bewahrung, Sicherheit und Erschließung kann sehr lektiv- und Gönnermitglieder. Zu den Ersteren zäh- gefährdet sein, und damit kann natürlich auch die len all die Institutionen und Trägerschaften, die Vermittlung der Inhalte dieser Dokumente an zu- Bild- und Tonarchive unterhalten und sich in ihren künftige Generationen nicht mehr gewährleistet Aktivitäten bemühen, das »audiovisuelle Kulturgut sein. Eine Gesellschaft, welche bedeutsame Ge- der Schweiz zu sichern, zu erschließen und zu ver- dächtniselemente verlieren würde, ginge in der Tat mitteln«3. Gönnermitglieder können alle natürlichen ein großes Risiko ein, nämlich das Risiko, auf ein- und juristischen Personen werden, die »ihr Interesse zelne Bausteine ihrer Identität verzichten zu müs- für die Ziele des Vereins belegen und einen Beitrag sen. Auch würde sie eine Verarmung des Kulturgu- zu deren Erreichung leisten«.4 Die Gründungs- und tes in Kauf nehmen.«1 Mit diesen Worten mahnte am die Kollektivmitglieder bestimmen aus ihren Reihen 29. November 2005 auf einer Sitzung des Schweizer den Vorstand. Die Gönnermitglieder haben weder Nationalrats Hans Widmer, Vizepräsident der Kom- ein Stimmrecht, noch können sie in den Vorstand mission für Wissenschaft, Bildung und Kultur, die berufen werden. Finanziert wird der Verein durch ei- Verantwortung des Bundes für die Sicherung und nen jährlichen Bundeszuschuss von zunächst 1,86 Bewahrung des audiovisuellen Erbes der Schweiz Mio. SFR (ab 1998) und dann 3 Mio. SFR (seit 2003). an. Hintergrund seiner Rede und der Sitzung des Weitere Einkünfte resultieren aus den Mitgliedsbei- Nationalrats war die Verhandlung des Bundeszu- trägen. schusses für den Verein Memoriav. Zu den zentralen Aufgaben des Vereins gehören ne- Die Bemühungen um die Erhaltung dieses Kultur- ben der Sicherung und Erhaltung der audiovisuellen erbes nehmen ihren Anfang 1989, als dem Schwei- Hinterlassenschaften der Schweiz die Sensibilisie- zer Parlament erstmalig ein Radio- und Fernseh- rung für den Umgang mit diesen Archivalien, eine gesetz zur Verhandlung vorgelegt wird. In diesem breite Öffentlichkeitsarbeit sowie der Aufbau und Zusammenhang wird auch die Frage des Umgangs die Pflege eines Netzwerkes. Hierzu unterhält der mit den archivalischen Hinterlassenschaften dieser Verein auch eine eigene Homepage 5. Institutionen evident. Auf die Initiative des Innenmi- nisteriums hin konstituiert sich eine Arbeitsgruppe, Diese ist viersprachig: neben den drei Landesspra- die die Fragestellung über Rundfunk und Fernse- chen Deutsch, Italienisch und Französisch gibt es hen hinaus auf alle audiovisuellen Medien erweitert. noch eine englischsprachige Version. Unterschie- Im Dezember 1995 wird schließlich der »Memori- den werden die Themenbereiche Foto, Ton, Film av – Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kultur- und Video. Jeder dieser Themenbereiche ist un- gutes der Schweiz« gegründet und mit der Aufgabe terteilt in »Aktuelles«, »Projekte«, »Empfehlungen« betraut, sich der Sicherung, Pflege und Vermittlung und »Dokumentation«. Unter der Rubrik »Aktuel- des audiovisuellen Erbes der Schweiz anzunehmen les« finden sich Hinweise auf aktuelle Veranstaltun- und nach »Lösungen zu suchen im Rahmen beste- gen und Tagungen sowie auf laufende Projekte des hender und neuer Institute für eine zentrale Phono- Vereins. Die Arbeit von Memoriav erfolgt über Pro- und Videothek«.2

Gründungsmitglieder sind der Bund, hier vertre- ten durch die Schweizerische Landesbibliothek, 1 www.parlament.ch/ab/frameset/d/n/4710/209829/d_n_4710_ das Bundesarchiv und das Bundesamt für Kom- 209829_209902.htm munikation, das 1943 gegründete Schweizer Fil- 2 Präambel der Statuten des Vereins, als PDF unter marchiv und die 1984 gegründete Landesphono- www.memoriav.ch/de/home/memoriav/association/adhesion.htm 3 Ebenda, S. 4. thek, beides privatrechtliche Stiftungen, sowie die 4 Ebenda, S. 4. öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten SRG SSR 5 www.memoriav.ch 68 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) jekte. Dabei genießen Anfragen aus dem Kreis der siert wurden, sowie 85.000 Radioaufzeichnungen Mitglieder Priorität vor der Beteiligung an Unterneh- der Jahre 1936 bis 1956, die im Rahmen der »Drin- mungen Dritter. Das Spektrum der Aktivitäten des genden Maßnahmen« in den Archiven von Radio- Vereins ist beeindruckend und kann hier nur an- Genève und Radio-Lausanne konservatorisch ge- satzweise vorgestellt und gewürdigt werden6. Er- sichert wurden. wähnt seien aber das Projekt »Politische Informati- Alle Archivalien sind in einer standardisierten Da- on«, eine Sammlung von Ton- und Bilddokumenten tenmaske erfasst und umfassend verschlagwortet. zum politischen Geschehen in der Schweiz im Bun- Online abrufbar sind jedoch ausschließlich die Fo- desarchiv; die Projekte »VOCS« (Voix de la culture tografien8, die Ton- und Filmdokumente können nur suisse) und »IMVOCS« (Images et voix de la cultu- in den Archiven selber eingesehen und gegen eine re suisse), die audiovisuelle Dokumente zum kultu- Gebühr dort auch kopiert werden9. Diese Nutzer- rellen Schaffen in der Schweiz im Schweizerischen bedingungen, wie auch die hierfür notwendige Re- Literaturarchiv sammeln, sowie die »Erhebung über gistrierung vor Ort, machen die persönliche Prä- Filmbestände in der Schweiz«. Die statistischen Er- senz in dem jeweiligen Archiv notwendig. Schon gebnisse können über die Page eingesehen und als hieran wird deutlich, dass Memobase sich vor al- PDF heruntergeladen werden7. lem an inländische Nutzer richtet. Dies wird auch in der Auswahl der erfassten Bestände offensichtlich, Unter der Rubrik »Empfehlungen« stellt der Ver- die ausschließlich Helvetica beinhaltet. Der Umgang ein Publikationen eigener und fremder Provenienz mit Archivbeständen ausländischer Herkunft und vor, die praktische Hinweise im Umgang mit audi- ausländischen Inhalts, die zufällig in der Schweiz ovisuellen Archivalien vermitteln. Alle diese Texte gelandet sind, scheint nach wie vor ungeklärt10. Im- können als PDF heruntergeladen werden. Beson- merhin war und ist die Schweiz auch ein wichtiges ders erwähnt seien hier die »Empfehlung für den Er- Transit- und Exilland. halt von Filmen« (17 Seiten) sowie die Dokumenta- tion »Video – Die Erhaltung von Videodokumenten« Aus deutscher Perspektive überrascht der nationa- (32 Seiten), eine Übersetzung von »Videotape Pre- le integrative Gestus, der dieser Initiative eigen ist, servation Fact Sheets« der Association of Moving ist doch der Versuch einer deutschen Mediathek an Image Archivists (AMIA), ergänzt durch Beiträge der mangelnden Kooperationsbereitschaft der hier- von Kurt Deggeller und Johannes Gfeller z.B. zum von betroffenen öffentlich-rechtlichen wie auch pri- Spezialfall der Kunstvideosammlungen. Unter »Do- vaten Institutionen gescheitert11. Hierbei sind die in kumentation« finden sich umfangreiche Bibliografi- beiden Ländern sehr unterschiedlichen kulturpoli- en zu den jeweiligen Fachbereichen. tischen Voraussetzungen zu beachten. Auch wenn es sich in beiden Fällen um föderalistische Staa- Den sicher größten Mehrwert für den User liefert, ten handelt, hat die bundesstaatliche Kulturförde- neben den zahlreichen downloadbaren Texten und rung in der Schweiz einen größeren Stellenwert als dem halbjährlichen Newsletter, die auf der Home- in der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Kompe- page integrierte Datenbank »Memobase«, über die tenzen sind durch die Aufnahme des Kulturartikels sowohl Bild- wie auch Tondokumente recherchiert werden können. Memoriav selbst unterhält kein ei- genes Archiv, erfasst werden somit Bestände aus den Archiven der Gründungs- und Kollektivmitglie- 6 Einen ersten Überblick gibt – bezogen auf den Bereich Fotografie - Kurt Deggeller: Memoriav – Netzwerk zur Erhaltung des audiovisuellen der. Zurzeit sind dies 150.000 audiovisuelle Doku- Kulturgutes der Schweiz. In: Rundbrief Fotografie Vol. 12 (2005), No. 4, mente, die über verschiedene Suchoptionen ab- S. 35–38. gefragt werden können. Hierbei handelt es sich 7 www.memoriav.ch/de/home/film/projets/d-proj-erhebung% um Beiträge aus der Schweizerischen Filmwo- 20film.htm 8 Zunächst als clickaktives Thumbnail, dann in einer reduzierten chenschau von 1940 bis 1975 und der Tagesschau Bildauflösung von zumeist etwa 640 x 438 Pixel. des Schweizer Fernsehens von 1953 bis 1989 im 9 Anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums der SRG SSR idée suisse hat Schweizer Bundesarchiv, die im Rahmen des Pro- die Radio- und Fernsehgesellschaft damit begonnen, Teile ihres Ar- chivs online zu stellen. Unter www.ideesuisse.ch sind Clips aus Ra- jekts »Politische Information« erfasst wurden; eine dio- und Fernsehsendungen sowie aus Filmwochenschauen abrufbar. Sammlung von 5.000 Fotografien zum Aktivdienst Auch dieses Projekt wurde von Memoriav unterstützt. der Schweizer Armee während des Ersten Weltkrie- 10 Deggeller (s. Anmerk. 6), S. 35. ges, ebenfalls aus dem Bundesarchiv; etwa 20.000 11 Leif Kramp: Happy-End im Trauerspiel? Die Entwicklungsge- schichte der »Deutschen Mediathek« und Perspektiven für ein »Deut- Fotografien, die im Rahmen des Projektes »Der All- sches Fernsehmuseum«. In: Rundfunk und Geschichte Jg. 31 (2005), tag im Laufe der Zeit« recherchiert und digitali- Heft 3–4, S. 5–19. Rezensionen 69 in die Bundesverfassung von 2000 und ein eigenes Co werden derart überzeichnet und lächerlich ge- Bundesamt für Kultur, zuständig für die Förderung macht, dass alles nur zu einem Witz der Geschich- von »kulturellen Bestrebungen von gesamtschwei- te verkommt. Maelcks Buch ist dabei letztlich auch zerischem Interesse«12, umfassend geregelt. Me- eine Satire auf die Deutungshoheit geschichtlicher moriav ist aus einer Initiative des Bundes heraus Aufarbeitung und ihrer Instanzen, worauf schon der entstanden, Bundesbehörden machen einen wich- Untertitel »die Hartholz-Akte« anspielt. Die latente tigen Teil der aktiven Mitglieder aus und die Arbeit Ernstlosigkeit der semidokumentarischen Erzähl- des Vereins wird überwiegend aus Bundesmitteln weise ist durchaus subversiv. Wenn hier Dossiers finanziert. im Stile von Stasiakten über banale DDR-Songs wie Thomas Hammacher, Essen »Türen öffnen sich zur Stadt« (Puhdys) auftauchen, so unterminiert dieses parodistische Prinzip den ei- gentlich ernsten Kontext dieses Vorganges. Und Stefan Maelck dass die Autorschaft des Rolling-Stones-Klas- Pop essen Mauer auf. sikers »Street fighting man« laut »Hartholz-Akte« Wie der Kommunismus den Pop erfand dem Puhdys-Sänger zugeschrieben werden muss und sich somit selbst abschaffte (S.30), ist nur ein weiteres Detail im großen Popkul- Berlin: Rowohlt 2006, 160 Seiten. turpuzzlekosmos Stefan Maelcks, nach dem alles umgedeutet werden müsste. Jenseits seriöser Forschungsliteratur sei an die- ser Stelle auf ein Buch hingewiesen, das dem me- Der Autor fädelt zahlreiche Episoden der Popmusik- dienhistorisch interessierten Leser großes Vergnü- entwicklung der letzten sechzig Jahre auf und setzt gen bereiten dürfte. Geschichte sei, »wenn das, was Links bis in die unmittelbare Gegenwart, wenn er man für einen Witz hält, später wahr wird« (S. 29). z.B. auf den Erfolg der Band Arctic Monkeys ver- Diesem Grundsatz bleibt der hallesche Autor Ste- weist, die erst Ende 2005 Popularität erlangte. Vie- fan Maelck in seinem außerordentlich kurzweiligen les erkennt man wieder. Der Name des recherchie- Buch bis zum Ende treu. Es ist eine griffige Satire in renden fiktiven Journalisten Ludger Bauer ist eine mehrfacher Hinsicht. Anspielung auf Jack Bauer aus der US-Serie »24«. Oder meint Maelck vielleicht doch Rutger Hauer? In erster Linie führt es die Geschichte der westlichen Und wer denkt bei dem Namen Duttweiler nicht Popmusik ad absurdum, indem es behauptet, dass gleich an Max Dettweiler aus dem Musical »Sound alle wichtigen Stars und Trends der internationalen of Music«? Der Begriff der »assoziativen Empirie« Pop- und Rockmusik Manipulationen und Kreati- beschreibt wohl am besten den Charakter dieser onen der Staatssicherheit gewesen seien, die mit aberwitzigen Montage. dem Ziel geschaffen wurden, die westliche Kultur zu destabilisieren. Elvis Presley war hier eigentlich eine In Maelcks Buch kalauert es mächtig. Dahinter ver- Ostagentin namens Elvira Prassler, eingeschleust in bergen sich nicht nur Schalk und Witz, sondern die USA, um den von der Stasi erfundenen Rock’n auch eine tiefe Kenntnis der kulturellen Fundamen- Roll in die westliche Welt zu bringen. Die künstliche te des Ostens. »Der Blues ist ein Meister aus Thürin- Hüfte Margot Honeckers sorgte gar für den berühm- gen, hieß es bei uns im Norden, aber wir lassen ihn ten Hüftschwung (Elvis – the Pelvis). Punk entstand nicht rein. Wir wollten ungestört Bob Dylan hören in Wandlitz und im Rock’n Roll-Labor Schwedt er- [...]« (S.14). Sätze wie dieser offenbaren ganz bei- schuf man Elaborate der Popmusik. Und wenn Lou läufig viel Wahrheit über die popkulturellen Schau- Reed »I’m waiting for my man« sang, dann wartete kämpfe in der alten DDR. Vieles möchte man zitie- er auf den Drogendealer, der in Wahrheit Stasima- ren, die Bemerkung über die alltägliche »Simulation jor Duttweiler war (S.78). von Arbeit« in der DDR (S.23) ebenso wie die kurze Abhandlung über den Berluc-Friedensrockhit »No Ein weiterer Aspekt dieser Satire ist die bitterbö- Bomb!«: »dieser strunzdumme teutonische Akt der se Karikatur der DDR-Kultur und des SED-Staa- Staatsanbiederung. [...] Wenn mich jemand fragt, tes. Die DDR-Herrschaftsapparate, Honecker und wie die DDR wirklich war, dann sage ich gern: fried- lich, und spiele das Lied No Bomb! vor« (S.25).

Der Satire von Maelck liegt allerdings auch eine 12 Geschichte der bundesstaatlichen Kulturförderung, www.bak.admin.ch/bak/themen/kulturpolitik/00601/ ernsthafte These zugrunde, deren wissenschaftli- index.html?lang=de che Ausleuchtung und Überprüfung noch aussteht: 70 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Letztlich geht es um die Sprengkraft des Pop. Über werden kritisch rekonstruiert. Ein echtes Bonbon den Stasi-Popkreator Duttweiler schreibt der Au- ist in diesem Zusammenhang die zitierte Aussa- tor: »Er hat an der Erfindung von etwas mitgearbei- ge des britischen Colonel Brooks, die verdeutlicht, tet, das mächtiger ist als die Atombombe und dabei wie stark selbst die Befehlshaber in der Londoner den Menschen vermeintlich auch noch gut tut.« (S. Kommandozentrale auf die Fernsehberichte von 113) Die Popkultur mit ihren subversiven und grenz- der Front setzten: »›... here in Whitehall ... we had überschreitenden Potenzialen wird in diesem Buch a machine giving us precise and detailed informati- einmal anders gedacht. So ist diese Satire auch eine on. But we still chose instead to take our truth from Inspiration, Undenkbares zu denken. Zu entdecken the television.‹« (S. 82) Eine Wahrheit allerdings, die gibt es viel, zu lachen sowieso. Lesen Sie selbst. die Militärs mit Hilfe des Einbettens von Journalis- Uwe Breitenborn, Berlin ten sehr effektiv selbst gestaltet haben, wie die Stu- die in ihrem weiteren Verlauf darlegt. Mit dem Zitat verweisen die Autoren darüber hinaus auf ein wun- Justin Lewis/Rod Brookes/ derschönes Beispiel für einen sich selbst nähren- Nick Mosdell/Terry Threadgold den Informationskreislauf.2 Schade, dass sie diesen Shoot First and Ask Questions Later. Nebenaspekt nicht weiter verfolgen. Media Coverage of the 2003 Iraq War (= Media and Culture, Vol. 7) Nach diesen Einführungen wird, ebenfalls auf der New York u. a.: Peter Lang Publishing 2006, Basis von Tiefeninterviews aus dem Jahr 2003 so- 212 Seiten. wie zahlreichen Programmmitschnitten, die Per- spektive der eingebetteten Journalisten geschil- Rund drei Jahre nach dem scheinbaren Ende des dert. Sie konnten – darauf weisen sie selbst und Irakkriegs, so jedenfalls von US-Präsident Bush am eine Reihe von Untersuchungen hin – relativ frei be- 1. Mai 2003 offiziell verkündet, legt ein britisches richten und erfuhren von Seiten des Militärs ten- Forscherteam eine Monografie vor, die die Bericht- denziell eher Unterstützung denn Behinderung, von erstattung über die Kampfhandlungen im Frühjahr wenigen, oft singulären Ausnahmen abgesehen. jenes Jahres analysiert. Leitfrage der Untersuchung Insbesondere die US-Streitkräfte gaben sich bene- ist eingangs, welche Auswirkungen das seinerzeit volent, angeleitet von einer höchst professionellen viel diskutierte »Einbetten« von Journalisten in ame- Medienstrategie, deren Komponenten und Zielset- rikanische und britische Kampfeinheiten auf die Be- zungen die Autoren eingangs detailliert darstellen richterstattung hatte. Drei Jahre sind vergangen, in und analysieren. Die eingebetteten Journalisten, je- denen bereits eine Vielzahl von Aufsätzen und Bü- denfalls soweit sie aus den USA und Großbritanni- chern zum Thema erschienen sind, so dass Lewis et en stammten, konnten faszinierende, personalisier- al. Ergebnisse anderer Studien zum Thema kritisch te, freilich auch dekontextualisierte Berichte in die einarbeiten können.1 Von Vorteil ist zudem der inzwi- Heimatredaktionen schicken. Genau diese weit- schen fehlende mediale Zwang, ganz schnell defi- gehende Nicht-Behinderung der Kriegsberichter- nitive Antworten geben zu müssen. Schnellschüsse statter im Irak seitens der westlichen Alliierten war sind nicht immer die besten. der Kern der Medienlenkung. Resultat war parado- xerweise alles in allem eine Berichterstattung zum Der Untersuchungsaufbau ist klar strukturiert. Zu Wohlgefallen der Militärs wie selten zuvor: »... de- Beginn erfolgt eine Sichtung der bisherigen Lite- spite the lack of censorship or restrictions like tho- ratur zu Möglichkeiten und Grenzen von Kriegsbe- se imposed in the Falklands, in Grenada, in Pana- richterstattung und der zunehmend konvergieren- ma, and in the Gulf War, this war produced a picture den Praxisfelder Journalismus, Propaganda, Public of the war that was as favorable to the military as Relations, Public Affairs, Public Diplomacy, News Management usw., in deren Kontext »Embedding« stattfindet. Ein großer Pluspunkt der besprochenen Publikation ist, dass sie nicht nur öffentlich verfüg- 1 Häufig herangezogen werden Howard Tumber/Jerry Palmer: Me- dia at War. The Iraq Crisis. London u.a. 2004 sowie einige Beiträge in bare Dokumente auswertet, sondern auch auf zeit- David Miller (ed.): Tell Me Lies. Propaganda and Media Distortion in nahen Leitfaden-Tiefeninterviews mit führenden the Attack on Iraq. London/Sterling 2004. Verantwortlichen beruht. Der Leser erfährt in se- 2 Wie stark sich auch die alliierten Bodentruppen mitten im Kampf- paraten Kapiteln sowohl die Perspektive des Pen- geschehen zur Lageklärung auf Rundfunkberichte stützten, hat anek- dotisch der eingebettete Journalist Evan Wright protokolliert; vgl. die tagons als auch die des britischen Verteidigungs- Rezension seines Buches »Generation Kill« in RuG Jg. 31 (2005), H. 1– ministeriums. Die Grundlagen des Medienkriegs 2, S. 51f. Rezensionen 71 ever.« (S. 188) Eine Schlussfolgerung, die zumin- tiniert langsam zu anderen Themen über. Mission dest für die Zeit der offiziell definierten Kampfhand- accomplished. lungen 2003 Geltung beanspruchen kann. Ausbli- cke auf die Zeit danach geben die Autoren kaum. Ganz neu sind diese Ergebnisse alles in allem nicht. Bedauerlich ist außerdem, dass die Sprachbarrie- Dieses Buch besticht allerdings durch seine Vielfalt re verhindert hat, auch Hinweise auf deutschspra- an Perspektiven und Stimmen. Die Autoren gehen chige Literatur zu geben, wo man vieles schon eher mit ihren differenzierten Schlussfolgerungen be- nachlesen konnte.3 wusst vorsichtig um, was für ihre Seriosität spricht. Die ersten beiden Kapitel sind etwas holprig zu le- Eine begleitende quantitative wie auch qualitative sen und ganz offenbar aus Textbausteinen mehrerer Inhaltsanalyse der wesentlichen irakkriegsbezoge- Autoren zusammengesetzt worden. Auch an ande- nen Nachrichtensendungen des britischen Fernse- ren Stellen hätte eine genauere Endredaktion dem hens (BBC, ITV, Channel 4 und Sky) schließt sich Band gut getan. Positiv ist, dass dieses Buch sich an. Sie gibt einige, allerdings nicht glasklare Hin- nicht mit oberflächlichen oder voreiligen Antworten weise auf unterschiedliche Grade von Verzerrun- zufrieden gibt. Seine Kritik ist dennoch heftig: Le- gen und Abweichungen vom journalistischen »Ri- wis und seine Mitautoren verweisen mit vielen inte- tual« der Objektivität. Die Autoren kommen zu dem ressanten Details auf den Erfolg einer PR-Strategie Schluss, dass innerhalb eines breit gefassten Rah- »executed through and with media compliance« (S. mens unparteiischer Berichterstattung hauptsäch- 192). Diesem geschmeidigen Zusammenspiel der lich Mutmaßungen dominiert hätten, die eine Pro- Berichterstattung auf der einen Seite und der Re- Kriegs-Haltung scheinbar alternativlos aussehen gierungs- und Militär-Marketing-Maschinerie auf ließen – als Stichwort seien hier nur die angeblichen der anderen seien sich die Medieninstitutionen so irakischen Massenvernichtungswaffen genannt, der nicht bewusst gewesen, da sie zuvörderst auf die vordergründige casus belli. Tiefer recherchiert, gar Einhaltung bestimmter journalistischer Eigenlogiken reflektiert, hätten die untersuchten Medienangebo- wie Objektivität, Neutralität etc. geachtet hätten. te während des Krieges kaum, alternative Quellen oft ignoriert, wobei die BBC in der Analyse noch War das so? Es ist genauso vorstellbar, dass vie- am besten wegkommt. Die weitgehende Übernah- le Entscheider sich dieser Willfährigkeit in ganz zy- me der Sichtweise der westlichen Politiker und Mi- nischer Manier durchaus bewusst waren, schließ- litärs lag wohl auch an der – dank Embedding – lich profitierten beide Seiten davon – Medien wie schieren Übermenge des gedrehten Materials: »... auch Machthaber. Und Politiker und Militärs wis- if the details did not always go [the Pentagon‘s] way, sen längst, wie sie die Medien einfangen können: the thrust of the coverage was very much on their über den Wettbewerb um privilegierten Zugang terms.« (S. 154) zum Kriegsgeschehen, was die attraktivsten Sto- ries und Bilder und damit besten Einschaltquoten Was als Manifestation dieser Strategie letztlich beim und Auflagen verheißt. Freiwillige Unterwerfung un- Zuschauer ankam und hängen blieb, untersuchen ter die ökonomischen Spielregeln des Mediensys- die Autoren ergänzend in einer repräsentativen Be- tems könnte man dies nennen. Speziell das Penta- völkerungsumfrage und mittels sieben Gruppen- gon beherrscht diese Regeln längst recht gut, nicht diskussionen. Während Letztere recht gut nach- zuletzt dank professionellen Inputs aus dem Lager zuvollziehen sind, fehlt bei der Umfrage leider die der Public Relations. Dokumentation des Fragebogens. Besonders im Gedächtnis haften blieb den meisten Befragten »Embedding« wurde so zum größten Coup des Irak- das Niederreißen einer Saddam-Hussein-Statue in kriegs, wie die Autoren festhalten: nicht auf Grund Bagdad im April 2003, ein Vorgang, der wahrschein- irgendeines Versagens der üblichen redaktionellen lich vom US-Militär sorgfältig choreografiert wurde. Praktiken, sondern gerade weil professionelle Jour- Diesen inzwischen recht prominenten Medienevent nalisten ihrem beruflichen Alltag mit all seinen Rou- beleuchten die Autoren sehr schlüssig von mehre- tinen – »business as usual« – akribisch nachgingen ren Seiten: als das prägende Bild vom glücklichen Ende eines Befreiungskampfes, als den narrativen Abschluss des Irakkriegs schlechthin. Innerhalb dieses Frames der offiziellen westlichen Sichtweise 3 Vgl. v. a. die Beiträge von Reeb, Jertz/Bockstette und Schlüter in Martin Löffelholz (Hrsg.): Krieg als Medienereignis II. Krisenkommu- verbreiteten es viele Medien im Frühjahr 2003, nicht nikation im 21. Jahrhundert. Wiesbaden 2004, rezensiert in RuG Jg. 31 nur in Großbritannien und den USA und gingen rou- (2005), H. 3–4, S. 87f. 72 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

(S. 197). Insofern ist das besprochene Buch auch schläge« am Ende jedes Bandes) zusätzliche Hil- über das engere Thema der Kriegsberichterstattung fen zu seiner Festigung liefern sollen. Mit den jeweils hinaus eine kritische Betrachtung eben jener sys- knapp, aber zum Teil sehr dezidiert wertenden Hin- temisch sinnvollen Routinen. Beim nächsten Krieg weisen auf »weiterführende Literatur«, »weiterfüh- wird sicher alles anders. rende Arbeitsaufgaben« und mit dem Sachregister Oliver Zöllner, Stuttgart hat man eigentlich alles, was zu einem modernen Lehrbuch gehört. Selbst ein paar Dutzend, aller- dings ziemlich klein geratene, Abbildungen fehlen Werner Faulstich nicht, um wohl den zunehmend bildersüchtigen Le- Mediengeschichte sern die Nutzung zu erleichtern. von den Anfängen bis 1700. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, Aber gibt es überhaupt das Fach Mediengeschich- 189 Seiten. te mit einem einigermaßen gesicherten und unum- strittenen Set von Fakten und Theorien, die auf die- Werner Faulstich se Weise zu vermitteln wären? Bei der Antwort wird Mediengeschichte man zumindest zögern. Sicher gibt es Bereiche, für von 1700 bis ins 3. Jahrtausend. die man diese Frage bejahen könnte; vieles ande- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, re befindet sich jedoch noch im Stadium der Erfor- 192 Seiten. schung oder ist gar nicht recht erforscht. Faulstich besetzt hier mit der Kühnheit des Pioniers einfach Der in Lüneburg lehrende Werner Faulstich ist der das Gelände und verkündet sozusagen seine The- erste Medienwissenschaftler, der seit Jahren an ei- sen ex cathedra. nem besonders ambitionierten Projekt arbeitet: ei- ner Mediengeschichte aus einer Hand, und dies Nun kann es in diesem Zusammenhang nicht darum nicht nur beschränkt auf irgendeinen Zeitraum gehen, ausführlich seinen Gesamtentwurf zu disku- oder irgendein Medium, sondern als Gesamtüber- tieren mit den zentralen definitorischen Entschei- blick von der Frühgeschichte der Menschheit bis dungen, wie beispielsweise über die Gliederung und zur Gegenwart. Faulstich verfolgt den Anspruch, all Abgrenzung der acht Hauptabschnitte: »Archaische das weltumspannend (wenn auch im Konkreten zu- Periode« bis 2500 v. Chr.; »Multiple hochkulturelle meist auf den deutschen Sprachraum beschränkt) Periode« (2500 v. Chr. bis 800 n. Chr.); »Christliches zu thematisieren, was auch nur einigermaßen als Mittelalter« (800 bis 1400); »Frühe Neuzeit« (1400 Kommunikationsmedium betrachtet werden kann. bis 1700); »Bürgerliche Gesellschaft« (1700 bis Zwangsläufig weitet sich die Publikation von einer 1830); »Industrie- und Massenzeitalter« (1830 bis Mediengeschichte zur Medienkulturgeschichte mit 1900); »Neue elektronische Welt« (1900 bis 1990); dem »methodischen Fokus auf der Funktionalität »Globalisierung und Digitalisierung« (seit 1990). Im von Medien im gesellschaftlichen Teilsystem Kul- neunten Hauptabschnitt verknüpft Faulstich Aspek- tur« (Bände I & II, jeweils S. 8). te des Medien(teil)systems mit anderen Bereichen der Gesellschaft. Hervorzuheben ist an dieser Stelle Von dem auf sechs Bände angelegten Gesamt- vielmehr, welche Probleme sich durch die zwangs- werk sind bislang fünf erschienen. Während der läufige Verknappung ergeben: Manches, was bes- abschließende sechste Band noch in Arbeit ist, er- tenfalls als spekulative Hypothese zu qualifizieren schien bereits eine Art Readers-Digest-Fassung, ist, gerinnt zum fraglosen faktischen Befund; ande- die die ausführliche Argumentation von insgesamt res, was der Nuancierung bedürfte, wird – trotz er- mehr als 1.800 Seiten auf weniger als 400 Seiten giebiger Forschungslage – zur irreführenden Skizze verkürzt. Dem Charakter der Reihe »UTB basics« reduziert. Wenige Beispiele müssen zur Illustration entsprechend wird dieser knappe Raum durch ein genügen. Im ersten Band sind es vor allem die Ka- großzügiges Layout eingeschränkt, insbesondere pitel über die Anfänge und die Hochkulturen der An- mit der Marginalspalte, in der die zentralen Stich- tike, in denen mehr Gewissheit suggeriert wird, als worte des jeweiligen Textes hervorgehoben sind, aufgrund der dürftigen Quellenlage zu vertreten ist. zudem wenn in »Definitionen«, »Merksätzen« und Die Frau als Medium und die »erste Medienrevo- (vereinzelten) »Gesetzesannahmen« das Wichtigs- lution«, die von ihr zum »zweiten Schlüsselmedium te des Stoffes zusammengefasst wird und wenn der Mediengeschichte«, zum »Opferritual der Jä- am Ende jedes Abschnitts »Übungs- und Wieder- ger« weiterführt (Band I, S. 18ff.) – das mögen zwar holungsfragen« (samt gebündelter »Lösungsvor- anregende Überlegungen sein; ihre spekulative Ge- Rezensionen 73 stalt hätte jedoch viel deutlicher herausgestellt wer- form ein in seiner Geschlossenheit durchaus beein- den müssen. Voller Verwunderung muss man dann druckendes und in vielen Detailbeobachtungen an- feststellen, dass hingegen die Erfindung der Schrift regendes Szenarium zu entwerfen, zu dem in dieser samt ihrer Folgen kaum thematisiert wird. Selbst Form keine Alternative in Sicht ist. wenn man der Meinung ist, »Schrift ist selbst kein Konrad Dussel, Forst Medium«, sondern nur ein Instrument, das seiner- seits wiederum der (Träger)Medien bedarf, so be- dürfte ein solcher »Merksatz« mehr als nur einer Claudia Maria Wolf apodiktischen Formulierung. Hier fehlt eine aus- Bildsprache und Medienbilder. führliche, die Argumente abwägende Begründung Die visuelle Darstellungslogik (Band I, S. 35). von Nachrichtenmagazinen Wiesbaden: VS Verlag Im zweiten Band sind es dann eher Pauschalitä- für Sozialwissenschaften 2006, 335 Seiten. ten, die für Irritation sorgen. Allen Ernstes behaup- tet Faulstich, »die elektronischen Medien Radio und Zwölf Jahre nach dem von Gottfried Boehm ‚aus- Fernsehen [… ] zielten […] primär auf Indoktrinati- gerufenen‘ Iconic Turn sind in naturwissenschaftli- on und Ausbeutung, jeweils unter dem Deckman- chen Disziplinen, in der Informatik, den Geschichts- tel von Unterhaltung« (Band II, S. 109). Das mag die wissenschaften und auch Politikwissenschaften NS-Angebote charakterisieren und – wenn man es – also jenseits der Kunstgeschichte und der Me- so pointiert sehen will – auch den kommerziellen dienwissenschaften – Bilder in der wissenschaft- Rundfunk. Verdienten die jahrzehntelangen Public- lichen Auseinandersetzung zunehmend zum For- Service-Bemühungen etwa der BBC und der deut- schungsgegenstand geworden. Eine Vielzahl von schen öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht eige- Forschungsansätzen und Publikationen begleiten ne Erwähnung? Wenn man dann sucht, findet sich die bildwissenschaftlichen Diskurse. Mit den bild- noch der eine oder andere entsprechende Hinweis wissenschaftlichen Diskussionen wurden Begriffe (Band II, S. 118; S. 158f.); zur Relativierung dieses wie »Bilderflut«, »Bilderkrieg« und »Macht der Bil- Kritikpunkts trägt dies jedoch nicht bei. der« etabliert, die gleichzeitig den Fokus der aka- demischen Forschung andeuten: Bilder als eigen- In Faulstichs Mediengeschichte ist darüber hinaus ständige Kraft, die Einfluss auf die menschliche der eine oder andere Fehler zu finden: zum Beispiel Wahrnehmung der Welt nehmen. ist die traditionelle fotochemisch fundierte Foto- grafie wirklich nicht als »elektronisches Medium« Die Autorin Claudia Maria Wolf ist ausgebildete vi- zu bezeichnen (etwa Band II, S. 107); und die Ver- suelle Gestalterin und promovierte Politikwissen- lagskonzentration bei den deutschen Zeitschriften schaftlerin. Im Rahmen ihrer Dissertation, die die- ist viel höher als bei den Zeitungen und nicht um- sem Buch zugrunde liegt, will sie einen Beitrag zur gekehrt (Band II, S. 152f.). Allerdings hat Faulstich Erforschung der visuellen Politikvermittlung leisten. insgesamt solide recherchiert. Wie einleitend be- Im Speziellen wendet sich die Autorin Nachrichten- reits ausgeführt, sind es mehr seine zum Teil recht magazinen aus dem Printbereich zu. eigenwilligen, aber für den Lernenden kaum als solche erkennbaren Thesen, die Vorbehalte pro- Leider bildet den Hauptteil der vorliegenden Publi- vozieren müssen. In Zeiten, in denen die Histori- kation ein Forschungsüberblick zu relevanten The- ker immer mehr den Glauben an die Möglichkeit orien und Ansätzen, die Analyse kommt viel zu kurz. der ‚einen‘ Geschichte verlieren und statt dessen Insofern ist der bild- und politikwissenschaftliche beginnen, die grundsätzliche Fragmentiertheit, ja Erkenntnisgewinn dieser Abhandlung begrenzt. Zusammenhanglosigkeit des Vergangenen metho- disch zu reflektieren, entwirft Faulstich seine Vari- Einen Forschungsüberblick gibt Wolf zu den The- ante der Meistererzählung alten Stils, in der alles men »Politik und Medien« sowie »Politikvermittlung seinen Platz hat und auch die Frage nach den Grün- durch Bilder«. Des Weiteren geht sie auf die Beson- den der gesellschaftlichen Veränderung ihre einfa- derheiten des Formats »Nachrichtenmagazin« ein che Antwort findet: Es ist der Medienwandel, der sie und stellt dabei vor allem marktspezifische Bedin- erzeugt (Band I, S. 122). gungen heraus. Zudem gibt es Kapitel zur »visuel- len Kommunikation« und zum »Verstehen visueller Insgesamt sollte man derartige Einwände aber auch Darstellungslogiken«. Der Leser erhält einen fun- nicht übertreiben. Faulstich gelingt es, auch in Kurz- dierten Einblick in die Themen, allerdings fehlt hier 74 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) eine konkrete Positionierung der Autorin, die eine tografischer Darstellungen«, »Einsatz von Infogra- Argumentation in Richtung ihrer Analyse deutlich fik«, »Verwendung von bildhaften Darstellungen all- machen würde. Theoretische Erklärungsansätze gemein«, »Visuelle Blickfänger«, »Einsatz wörtlicher wie das »Framing« oder zeichentheoretische An- Zitate der visuellen Nachrichtenaufbereitung«, »Dar- sätze finden im Verlauf immer wieder Erwähnung, stellungsform ‚Interview‘« und »Die ‚Kurznachricht‘ werden für eine Analyse allerdings nicht operatio- als Form der Nachrichtenvermittlung«. nalisiert. Damit verfehlt Wolf ihr eigentliches Ziel, »eine Basis In einem weiteren Kapitel wendet sich Wolf dem für grundsätzliche Aussagen über die Entwicklung ‚Praktikerwissen‘ professioneller visueller Medien- des Mediums auf der Ebene des ‚visuellen Stils‘« gestalter zu. Sie verfügten über einen aktiven (Bild-) (S. 238) zu ermöglichen. So zieht die Autorin aus ih- Wortschatz, den sie routiniert anwenden. Wolf greift rer quantitativen Erhebung keine Schlüsse für einen dazu auf das Fachwissen in der Literatur zur visuel- »visuellen Stil«. Als Ergebnis der Analyse stellt sie len Mediengestaltung zurück und arbeitet das »Co- lediglich fest, dass unter medienhistorischer Per- dierwissen« der professionellen Praktiker heraus. spektive visuelle Elemente in Nachrichtenberich- Mit den gewonnen Erkenntnissen der »visuellen ten verstärkt genutzt werden: Heute gibt es mehr Codes der Nachrichtenaufbereitung« (S. 196), wie Bilder, mehr Infografiken, mehr visuelle Blickfän- Form, Farbe, Position, Typografie, Foto und Grafik, ger als vor über dreißig Jahren. Kurze Informatio- liefert sie hoch interessante Einblicke in medienge- nen aus Text- und Bildelementen, so Wolf, bilden stalterische Arbeitsgrundlagen. Leider bleibt die Li- einen Konsumenten-freundlichen Informationstep- teratur ihre einzige Basis. Zeit und Aufwand, so Wolf, pich. Aber das sind keine neuen Erkenntnisse, die ließen Interviews mit Mediengestaltern nicht zu. uns in verschiedenen bildwissenschaftlichen Un- Die herausgearbeiteten Tendenzen in der medien- tersuchungen mit den eingangs erwähnten Begrif- gestalterischen Praxis dienen als Codierungsgrund- fen von der »Bilderflut« oder von »Bilderkrieg« nicht lage für die einzelnen Kategorien der dann folgen- schon längst nahe gebracht worden wären. Unver- den Analyse, zu der Wolf erst im letzten Drittel des ständlich bleibt vor allem, warum Wolf die im ers- Buches kommt. Empirische Grundlage sind Materi- ten Teil dargestellten zeichentheoretischen oder alstichproben der US-amerikanischen Nachrichten- ikonografischen Ansätze nicht anwendet, um eine magazine »Time« und »Newsweek«, der deutschen fundierte Analyse zu leisten. Lediglich im Anhang Magazine »Der Spiegel« und »Focus«, der öster- werden sehr interessante Beispiele von redaktio- reichischen Nachrichtenmagazine »Profil« und »For- nellen Seiten abgedruckt, denen allerdings nur sehr mat« sowie des britischen Magazins »The Econo- knappe Beschreibungen beigefügt sind. Auch zum mist«. Soweit vorhanden, verwendet die Autorin ein »Framing« im Journalismus äußert sich Wolf nicht Heft je Quartal aus den Jahren 1972, 1982, 1992 und wieder. Schade ist darüber hinaus, dass sie ihre 2002, also Stichproben aus insgesamt 96 verschie- Analyseergebnisse kaum in Bezug auf das darge- denen Heften mit 4.188 redaktionell gestalteten Sei- stellte »Praktikerwissen« interpretiert. ten. Problematisch bleiben dabei zwei Punkte, auch wenn Wolf diese benennt. Zum einen hat das bri- So schließt nicht nur die Autorin mit der Einschät- tische Magazin »The Economist« eine Sonderstel- zung, dass die politikwissenschaftliche Bildfor- lung, weil es mehr ein Wirtschafts- als ein politi- schung auch mit dieser Abhandlung noch ein De- sches Nachrichtenmagazin ist und darüber hinaus siderat bleibt. ein sehr eigenwilliges Erscheinungsbild hat. Zum Manja Rothe, Halle/Saale anderen ist das österreichische Magazin »Format« im Gegensatz zu den anderen untersuchten Maga- zinen erst ab 1998 auf dem Markt und kann somit für drei Untersuchungszeiträume nicht genutzt werden. Hier wäre es in jedem Fall sinnvoll gewesen, ein an- deres Nachrichtenmagazin zu wählen.

Kern des analytischen Teils ist eine Frequenzanaly- se der genannten Nachrichtenmagazine, d.h. erho- ben wird allein die Häufigkeit der visuellen Elemente. Die Auswertung erfolgt nach folgenden Kategorien: »Entwicklung von Berichtlängen«, »Verwendung fo- Rezensionen 75

Werner Wirth/Holger Schramm/ dung ist oder das Strandleben auf Mallorca. Dies Volker Gehrau (Hrsg.) erklärt zum Beispiel, dass plötzlich Computerspie- Unterhaltung durch Medien. le in den Gegenstandsbereich der Kommunikati- Theorie und Messung onswissenschaft aufgenommen werden. Warum (= Unterhaltungsforschung, Band 1) hat sich das Fach eigentlich noch nicht mit Skat- Köln: Herbert von Halem Verlag 2006, 256 Seiten. spielern befasst? Auch die Gründe für den Erfolg der medienpsychologischen Richtung, den Peter Christoph Klimmt Vorderer reklamiert hat, liegen auf der Hand. Hier Computerspielen als Handlung. präsentiert sich eine Gruppe, die die aus den Na- Dimensionen und Determinanten des Erlebens turwissenschaften stammenden Gütekriterien für interaktiver Unterhaltungsangebote wissenschaftliche Arbeit erfüllen kann. Man stützt (= Unterhaltungsforschung, Band 2) sich auf einen anerkannten Theoriebestand (aus der Köln: Herbert von Halem Verlag 2006, 228 Seiten. Psychologie), prüft einzelne Theorien oder Ansät- ze mit Hilfe von Experimenten und genügt so nicht Carsten Wünsch nur den Standards, die die empirisch-quantitative Unterhaltungserleben. Richtung in der Kommunikationswissenschaft eta- Ein hierarchisches Zwei-Ebenen-Modell bliert hat, sondern produziert zugleich in kürzester affektiv-kognitiver Informationsverarbeitung Zeit, am besten jeweils mit mehreren Autoren, eine (= Unterhaltungsforschung, Band 3) Unmenge von Veröffentlichungen, die wiederum im Köln: Herbert von Halem Verlag 2006, 318 Seiten. Kampf um Institutionalisierung (Stellen, Gelder) zu einem Wettbewerbsvorteil werden können. »Wir sind also inzwischen wer!« hat der Medienpsy- chologe Peter Vorderer im Januar 2005 in Zürich Ob dies irgendwann für »richtige Feinde« reichen vor der DGPuK-Fachgruppe Rezeptionsforschung wird, hängt auch vom Ausbau der Kommunika- mit Blick auf »die Unterhaltungsforschung« gerufen tionswissenschaft in den kommenden Jahren ab und diesen Jubelschrei unter anderem mit »zahl- und damit von den Chancen für akademische Kar- reichen Zeitschriften- und Buchpublikationen« be- rieren. Im Moment gilt es den Versuch festzuhalten, gründet sowie mit »zahlreichen Konferenzen, Sym- einen Kanon für »die Unterhaltungsforschung« fest- posien, Jahrestagungen, die dem Thema gewidmet zuschreiben, zu dem Werner Frühs triadisch-dyna- sind«. Zu seinem Glück fehlten Vorderer damals nur mische Unterhaltungstheorie, die Arbeiten von Dolf noch »richtige Feinde«. Wenn man endlich »von eher Zillmann und vielleicht noch die von Louis Bosshart traditioneller Seite des Fachs des Abweichlertums« gehören. Diesen Versuch der Kanonbildung doku- bezichtigt werde, dann könne man tatsächlich sa- mentiert vor allem Band 1, der acht der 18 Beiträge gen, »die Unterhaltungsforschung ist legitimer, ja der erwähnten Züricher Tagung enthält: jeweils vier sogar zentraler Bestandteil der Kommunikations- zur »Theorie der Unterhaltungsforschung« und zur wissenschaft« (Band 1, S. 47f.). Für einen Rezensen- »Messung von Unterhaltung« sowie die drei Keyno- ten ist das natürlich verlockend. Wann war es leich- tes von Bosshart (»Zur Genese der Unterhaltungs- ter, in einen Kanon aufgenommen zu werden – und forschung in der deutschsprachigen Medien- und zwar nicht in irgendeinen, sondern in den eines For- Kommunikationswissenschaft«), von Früh (»Unter- schungsbereichs, den der damalige ICA-Präsident haltung: Konstrukt und Beweislogik«) und Vorde- Jennings Bryant 2004 zu den Top drei der nächsten rer (»Kommunikationswissenschaftliche Unterhal- Jahre gezählt hat (Vorwort zu Band 1, S. 7)? tungsforschung: Quo vadis?«). Dass es hier nicht wie bei anderen Tagungsbänden um einen Blick in Argumente für eine Attacke ließen sich leicht fin- die »Werkstatt« geht, sondern um den »state of the den. Die Herausgeber der Schriftenreihe »Unter- art«, zeigt nicht nur die Marginalisierung empirischer haltungsforschung« stehen für eine psychologische Beiträge mit nur drei Aufsätzen, sondern auch die Sichtweise, die sich auf einzelne Medienangebo- Länge der Literaturlisten. te und auf die analytische Mikroebene konzentriert und weder nach dem Alltag der Menschen fragt, in Bei den Bänden 2 und 3 handelt es sich um Disser- den Mediennutzung eingebettet ist, noch nach dem tationen, was allerdings nirgendwo verraten wird; Stellenwert, den die jeweiligen Angebote in diesem selbst der übliche Dank an den jeweiligen Doktor- Alltag haben. Zugespitzt formuliert: Für einen Psy- vater fehlt. Christoph Klimmt (Hannover) entwickelt chologen ist es eigentlich egal, ob der Stimulus, auf auf der Basis von Zillmanns Unterhaltungstheorien den seine Probanden reagieren, eine Fernsehsen- »ein handlungstheoretisches Rahmenmodell unter- 76 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) haltsamen Mediengebrauchs« (S. 9), wendet die- der empirischen Umsetzung sowie für die Beherr- ses Modell dann auf die Nutzung von Computer- schung der Auswertungsverfahren ist jedoch auch spielen an und prüft seine Idee schließlich mit Hilfe hier zu fragen, ob der Nutzen den Aufwand recht- von zwei Experimenten. Im Rahmen des oben skiz- fertigt. Noch mehr Mikro geht nicht. zierten Paradigmas ist diese Studie kaum zu kritisie- Michael Meyen, München ren. Dennoch bleiben Fragen: Dient »Unterhaltung durch Medien« tatsächlich »ausschließlich ichbe- zogenen Zielen« (S. 51)? Macht es Sinn, hier von Gottlieb Florschütz »Spielhandlungen« zu sprechen, die nichts mit den Sport in Film und Fernsehen. »Funktionskontexten des Alltags« zu tun haben (S. Zwischen Infotainment und Spektakel 53)? Sind Medienmenüs, zu denen Computerspie- Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2005, le möglicherweise gehören, nicht längst zu Distink- 408 Seiten. tionsmerkmalen geworden, die ohne Alltagsbezug gar keinen Sinn machen? Lernen Computerspie- Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – es gibt sie ler nicht vor allem »für das Leben« – und zwar et- bereits in einer Vielzahl: Abhandlungen über das was ganz anderes, als in einem Halbstunden-Ex- Verhältnis von Sport und Medien. Nun liegt ein wei- periment zu erfassen ist, zum Beispiel Ausdauer, teres Werk vor, welches im Titel bereits seinen Un- Entscheidungskraft sowie das Orientieren in kom- terschied zu einseitig auf Fernsehsport fixierte Ab- plexen und unbekannten Umwelten? Und die Fra- handlungen betont: »Sport in Film und Fernsehen. ge aller Fragen: Kann ich »Unterhaltungserleben« in Zwischen Infotainment und Spektakel« von Gottlieb Laborsituationen messen, in denen der Zwang ge- Florschütz. Die Latte des wissenschaftlichen Maß- radezu angelegt ist? Wie relevant sind die Ergebnis- stabs wird im Geleitwort von Knut Hickethier hoch se, die »die Unterhaltungsforschung« auf diese Wei- aufgelegt: »Florschütz hat eine Gesamtschau ge- se liefern kann? wagt und das kulturelle Phänomen des Medien- sports und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft Diese beiden letzten Fragen muss sich auch die Ar- vermessen.« Florschütz will diesem Ansinnen ge- beit von Carsten Wünsch (Leipzig) gefallen lassen, recht werden, indem er versucht, alle Erscheinungen die in einer Rezension schon deshalb nicht sinnvoll des Mediensportes, angefangen von Leni Riefen- besprochen werden kann, weil er die Aufgabe hat- stahls Film zu den Olympischen Spielen 1936 bis hin te, einen Ausschnitt aus der Unterhaltungstheorie zu den Gepflogenheiten in Sportportalen des World seines akademischen Lehrers Werner Früh zu prü- Wide Webs, medienwissenschaftlich zu beleuchten. fen. Wünsch fragt, ob es tatsächlich die von Früh Dass ihm dabei beständig der Fehler unterläuft, die vermutete »Valenztransformation« gibt – die posi- »Olympiade«, nämlich den Zeitraum zwischen den tive Bewertung von objektiv negativen Inhalten wie Olympischen Spielen, mit den Sportspielen selbst Mord, Horror oder gescheiterten Lebensentwürfen zu verwechseln, und dass er auch den Titel des in Talkshows. Die Dissertation ist dabei fast ein Neu- Riefenstahlschen Films selbst verändert1, zeigt be- aufguss von Frühs Monografie »Unterhaltung durch reits, dass man im Willen um einen Gesamtabriss Fernsehen« aus dem Jahr 2002. Zu diesem Buch schnell auf der glatten Oberfläche von Allgemein- hatte Wünsch bereits einen Überblicksaufsatz über plätzen ausgleiten und Details veruntreuen kann. »Unterhaltungstheorien« beigesteuert. Wie damals Florschütz wählt einen Ansatz, der die Gesamt- sichtet er jetzt die Ansätze, die für sich beanspru- schau selbst einer Stereotypisierung unterwirft: chen, das Unterhaltungsphänomen erklären zu kön- »Gegenstand ist […] die Produktion von Spekta- nen, stellt dann überraschenderweise fest, dass nur keln und körperlichen Performances im TV-Sport- die Theorie von Werner Früh weiterhilft, stellt diese Spiel, Aufführung, Ästhetik werden mit der Intention Theorie ausführlich vor und widmet sich dann dem der Unterhaltung, Business, Kultur und Kommerz in Problem, wie negative Emotionen bei der Rezepti- Verbindung gebracht« (S. 6). Den Band durchzieht on von Fernsehinhalten in die positive Metaemoti- dieses alleinig gültige Paradigma genauso wie die on Unterhaltung überführt werden. Das Untersu- fehlende Trennschärfe der Begriffe bis zur letzten chungsdesign ist sehr aufwändig. Wünsch hat mit Seite – nicht der Mediensport steht im Mittelpunkt, leicht manipulierten Filmen und einem CRM-Ver- sondern der Nachweis einer pathologischen Ver- fahren (Continuous-Response-Measurement) ge- arbeitet und in einer Vorführungspause außerdem einen Fragebogen eingesetzt. Bei allem Lob für den 1 S. 22: Der Autor macht aus »Fest der Völker – Fest der Schönheit Ideenreichtum und das handwerkliche Können bei – Olympia 1936« folgerichtig »Olympiade 1936«. Rezensionen 77

zerrung im Verhältnis Sport und Medien, und diese Rahmenberichterstattung (Gewinnspiele, Come- steht von vornherein fest. Die Forschungsprämis- dy, Homestories etc.) zu Livesportereignissen mit sen werden weitgehend theoriefrei eingeführt. So Theatralisierung »analog zu Hollywood- oder Büh- zwängt der Autor den Untersuchungsgegenstand nen-Inszenierungen« (S. 290) gemein? Es gibt keine unangenehm zeitig in ein Raster aus einschlägigen Antwort darauf und wahrscheinlich ist auch »Bou- Begriffen wie Entertainisierung, Infotainisierung, levardisierung« gemeint – solcherlei Ungenauigkei- Boulevardisierung, zu welchen er, wenig Gewinn ten diskreditieren jeglichen vernünftigen Ansatz im bringend, die »Spektaklisierung« hinzufügt. Die un- Buch. systematische theoretische Einbindung in medien- wissenschaftliche Denkräume bringt denn auch Dass der Autor seinem Anspruch nicht gerecht nur unbefriedigende Ergebnisse bei der angestreb- wird, ist zum großen Teil wohl auch jeglichem Feh- ten »Genredefinition ‚Sportfilm‘« (39ff.) zu Tage, die len professioneller Beratung seitens des Verlages etwa den Film »Forrest Gump« »unter dem Genre geschuldet: Mit einem Lektor hätte solche aberwit- ‚Sportfilm‘ firmieren« (S.42) lässt, was wohl auch zigen Formulierungen wie »Körperliche Bewegung den Laien verwundern dürfte. wird gefeiert« im Zusammenhang mit der Enter- tainisierung des Sportes genauso vermieden wer- Dennoch ist der Teil I des Buches »Sport im Film« den können wie die Hinweise auf die Rede der DDR- der stärkste, innovativste und informativste Part Sportfunktionärin Ulla Donath zum angeblichen des Bandes. Seiner eigenwilligen Kategorisierung »sozialistischen Reichsparteitag« (S. 262). Auch der Sportfilme folgend, offeriert der Autor einen doppelte Abschnitte und Zitate (z. B. S. 249) sowie Überblick über das breite Spektrum von Filmen zum zahlreiche orthografische Aussetzer erleichtern das Thema. Hier entwickelt der Band seine Stärken: die Lesen nicht. Nützlichkeit dieser Darstellung wird durch die kom- mentierte und sehr umfangreiche Sport-Filmogra- Am Ende verwundert es nicht, dass nach nur ei- fie im Anhang des Buches verstärkt. Überhaupt ner Seite zur Forschungsmethodik und dem Feh- machen gerade die zum Teil sehr umfangreichen len wissenschaftlicher Thesen, deren Aufstellung Filmbeschreibungen das Buch als Nachschlage- auch bei einer vorwiegend qualitativen Bearbeitung werk interessant. Die eingeflochtenen medientheo- des Untersuchungsgegenstandes üblich ist, ledig- retischen Kommentare wirken jedoch wie zweckge- lich sechs Seiten für eine Ergebnisdarstellung zur bundene und spontane Interpretationen, nicht wie Verfügung stehen, die noch einmal allseits bekann- Analysen. te Allgemeinplätze hintereinander stellt.

Der zweite Teil zum »Sport im Fernsehen« generiert Nun, dieses Wagnis einer Gesamtschau belohnt den sich komplett zu einem Sammelsurium jeglicher ste- populärwissenschaftlichen Leser wohl eher als die reotyper Beschreibungen, die zum Thema veröffent- Studierenden oder Wissenschaftler, für die dieser lichten wurden. Der Autor unterzog sich nicht der oberflächliche Rundgang durch die Klischees nur Mühe, Themen und dazugehörige Literatur, die im wenig Erkenntnisgewinn birgt und überflüssig ist. Gegensatz zur seiner Auffassung bereits umfang- Jasper A. Friedrich, Leipzig reich auch im deutschen Raum vorhanden ist, tief zu erörtern. Die Vereinnahmung des Films im »Drit- ten Reich« mit der »SED-Propaganda« der DDR und Kilian J. L. Steiner den damit verbundenen politisch-ideologischen Ortsempfänger, Volksfernseher und Optaphon. Missbrauch des Sportes in beiden Systemen sim- Die Entwicklung der deutschen Radio- pel gleichzusetzen, ist so wenig originell und richtig, und Fernsehindustrie und das Unternehmen wie »Infotainment« als »neues Zauberwort« der Me- Loewe 1923–1962 dienwissenschaft zu bezeichnen. Nicht nur hier hät- Essen: Klartext Verlag 2005, 381 Seiten. te ein tieferer Blick auch in die angelsächsische und amerikanische Literatur mehr Nutzen gebracht, als Der Untertitel der vorliegenden Publikation bietet der Wille zum Besprechen jeglicher und möglicher eine präzise Inhaltsbeschreibung von Kilian Stei- Phänomene des »Mediensports«. Auf Definitionen ners Dissertation. Steiner untersucht zum einen die diskussionswürdiger Begriffe wie z. B. »politische Entwicklung der deutschen Radio- und Fernsehin- Instrumentalisierung«, »Politisierung«, »Theatrali- dustrie und zum anderen die Position, die das Un- sierung« etc. verzichtet der Autor weitgehend bzw. ternehmen Sigmund Loewes darin einnahm. Die gerät auf gefährlich falsche Fährten: Was hat die gängigen Zäsuren 1933 und 1945 markieren da- 78 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) bei zwar Kapitel-, nicht aber Untersuchungsgren- praktischen Materialzugänglichkeit Kompromisse zen: Ausführlich wird nicht nur die Gründungsde- schließen. kade während der Weimarer Republik (1923 bis 1933), sondern auch die komplizierte Entwicklung Loewe war aber nicht nur irgendein Unternehmen in der Zeit des Nationalsozialismus analysiert. Und der heranwachsenden deutschen Unterhaltungs- selbst die Nachkriegsgeschichte bis zum Tode des elektronikindustrie, sondern gehörte durchaus zu Firmengründers (1962) wird behandelt, wenn auch den auch von Chandler avisierten »core compa- wesentlich knapper als die beiden vorangegange- nies«, jenen zentralen Betrieben, die nicht nur durch nen Zeitabschnitte. die Größe des Umsatzes, sondern auch durch ihr innovatives Potenzial die Entwicklung der Bran- In seiner Untersuchung orientiert sich Steiner an che bestimmten. Steiners Titel gibt hierzu wichtige dem unternehmensgeschichtlichen Konzept der Stichworte (die leicht um etliche weitere zu ergän- »learning base«, das von Alfred D. Chandler nicht zen wären): War der 1926 eingeführte Radio-»Ort- zuletzt an der amerikanischen Unterhaltungselekt- sempfänger« als frühes preiswertes Massenpro- ronikindustrie entwickelt wurde. Es geht davon aus, dukt eine der wichtigen Neuerungen während der dass sich Unternehmen als Voraussetzung für einen Weimarer Republik, so war der »Volksfernseher« langfristigen Bestand eine gewisse Basis für weitere das Projekt, mit dem sich Loewe mit ziemlicher Si- Lernprozesse schaffen müssen, nachdem sie sich cherheit in den späten 30er Jahren profiliert hät- als wettbewerbsfähig erwiesen haben. Erst auf der te, wenn dem nicht die antisemitischen Maßnah- Grundlage dieser »learning base« können sie ihre men des NS-Regimes entgegengestanden hätten. Produkte weiterentwickeln sowie sich auch wech- Und schon kurz nach der Rückgabe der Aktien an selnden gesellschaftlichen und politischen Verän- Firmengründer Siegmund Loewe konnte die Firma derungen anpassen. Steiners Anspruch ist es zu un- 1950 mit einem in seinen Ansätzen durchaus weg- tersuchen, ob eine solche »learning base« bei dem weisenden Tonbandkassettengeräte, dem »Opta- Unternehmen Loewe in den 30er Jahren bereits be- phon«, auf den Markt kommen. Die Möglichkeit, die stand und ob sie in der Zeit des Dritten Reichs ver- darin vorhandenen Mängel zu eliminieren, wurden loren ging. Loewe konnte nach 1945 neben Grundig jedoch nicht genutzt. Obwohl Loewe 1952 hinter nur noch bis in die 50er Jahre seine marktführende Grundig noch die Nr. 2 der Branche bildete, setzte Position behaupten. danach ein nahezu unaufhaltsamer Abstieg ein, der nach dem Tod Loewes im Verkauf der Firma an Phi- Zur empirischen Überprüfung des Konzepts wäre lips endete. zwar ein anderes Beispiel sinnvoller gewesen. Ana- log zur US-amerikanischen Radio Corporation of Diese vielfältigen Aspekte seines Themas verknüpft America (RCA), auf die Chandler den Fokus legt, Steiner mit großem Geschick und beeindruckender hätte man für Deutschland Telefunken thematisie- Sachkenntnis. Neben den allgemeingeschichtli- ren können. Von der wirtschaftlich problematischen chen werden auch wirtschaftswissenschaftliche Gegenwart des früheren Marktführers Telefunken und technische Themen in stringenter Gliederung nach 1945 einmal abgesehen: Die seit 1985 wieder angemessen gewürdigt. Angesichts des durchweg unabhängige (und seit 1999 börsennotierte) Loewe beachtlichen Argumentationsniveaus bleibt nur un- AG hatte kaum damit zu rechnen, mit einer selbst zu verständlich, warum das abschließende Resümee verantwortenden problematischen Vergangenheit fast ganz die Zusammenfassungen seiner Haupt- konfrontiert zu werden, wenn das Unternehmensar- abschnitte wortwörtlich wiederholt. chiv vorbehaltlos der historischen Forschung geöff- Konrad Dussel, Forst net würde. In der ansonsten so kritischen NS-Pha- se war das – in nationalsozialistischer Terminologie – ‚halbjüdische‘ Unternehmen zunächst durchweg in Abwehrkämpfe gegen nationalsozialistische Zu- dringlichkeiten verstrickt, die dann mit der ‚Arisie- rung‘ 1938 endeten. Das rüstungswirtschaftliche Engagement während des Zweiten Weltkriegs er- folgte als Staatsbetrieb.

Aber die Ideale der wissenschaftlichen Theorie mussten bei Steiner wie so oft mit der Realität der Rezensionen 79

Markus Behmer/Bettina Hasselbring (Hrsg.) über den Frauenfunk nach 1945 fehlen einerseits Radiotage, Fernsehjahre. die Bezüge zur historischen Frauen- und Gender- Interdisziplinäre Studien forschung über jene Zeit. Selbst auf eine damals so zur Rundfunkgeschichte nach 1945 entscheidende Frage, wie der Frauenfunk mit dem Münster: LIT Verlag 2006, 314 Seiten. Thema »Mütter und Beruf« (»Schlüsselkinder«) um- ging, wird nicht eingegangen. Andererseits arbeitet Der vorliegende Sammelband präsentiert 14 Vorträ- die Autorin gut die Ambivalenz des Frauenfunks her- ge, die auf der Tagung des Historischen Archivs des aus: rechtliche Gleichstellung im Bereich der Ausbil- Bayerischen Rundfunks und der Fachgruppe Kom- dung, des Berufs sowie als Ehefrau und Staatsbür- munikationsgeschichte der Deutschen Gesellschaft gerin bei gleichzeitiger Stärkung der traditionellen für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Frauenrolle. Im Beitrag von Jürgen Wilke und Jut- (DGPuK) im Januar 2004 gehalten wurden. Dass in- ta Spiller über die Wahlkampfberichterstattung von terdisziplinäre Studien zur Rundfunkgeschichte ein 1953 bis 1983 werden zwar die Unterschiede zwi- schwieriges Metier sind, zeigt exemplarisch gera- schen ARD und ZDF hinsichtlich der Wahlkampf- de diese Veröffentlichung. Und dass auch die Be- sendungen deutlich gemacht, doch wird der Frage, wertung der Beiträge ein Problem darstellen kann, warum die dokumentarischen Sendungen 1969 zu- macht die folgende Rezension, in der die Aufsätze nahmen und eine Personalisierung (erst) in den 80er hauptsächlich aus dem Blickwinkel einer Historike- Jahren eintrat, nicht nachgegangen. rin beurteilt werden, ebenfalls deutlich. Die Unterschiedlichkeit der Wertmaßstäbe zwi- Als Erstes fällt auf, dass die Literaturreferenzen schen den Fächern wird auch an den theorieorien- noch stark fachbezogen sind: Medienwissenschaft- tierten Aufsätzen deutlich. So besteht in dem Bei- ler ignorieren viele Arbeiten, die von Seiten der His- trag über »Schwarzhören« von Karin Falkenberg eine toriker geschrieben wurden, und umgekehrt. Ferner überaus große Diskrepanz zwischen medientheore- zeigt sich, dass die Qualitätskriterien zwischen den tischen Beobachtungen und dem empirischen Er- Fächern offenbar recht unterschiedlich sind. Man- trag, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass che Beiträge sind zwar nach historiografischem es sich um die Vorstellung eines Forschungsprojek- Maßstab zu deskriptiv und für Historiker unzurei- tes handelt. Schwierigkeiten ergeben sich für Histo- chend kontextualisiert, aber aus Sicht der Medien- riker auch mit der Einschätzung des Beitrages von wissenschaften werden diese wohl durchaus positiv Edzard Schade. Seine Überlegungen zu systemthe- gewichtet, weil sie medienimmanente Analysen dar- oretischen Zugängen sind zwar nachvollziehbar. Al- stellen; anderenfalls wären sie sicherlich gar nicht lerdings nützen sie in der historischen Medienfor- erst veröffentlicht worden. Das gilt etwa für den Bei- schung, um die es ihm ja bei der Betrachtung der trag von Barbara Schmied über die diversen Ver- Schweizer Rundfunkgeschichte explizit geht, recht änderungen der Abendschau-Sendungen, die die wenig, wie er schließlich selber eingesteht. Seine Autorin vor allem auf die Veränderungen in der Fern- Reflexionen über Programme führen allerdings zu sehlandschaft, auf die Konkurrenz der Sender um der Erkenntnis, dass sich dahinter sehr viel Ver- Einschaltquoten, auf Wechsel in der Redaktionslei- schiedenes verbergen kann und deshalb mit dem tung sowie auf Programmumschichtungen zurück- Begriff vorsichtig umgegangen werden muss. führt. Der Beitrag von Kristina Wied stellt die Ver- änderungen der Wahlabendsondersendungen dar, Gewinnbringend ist hingegen für Historiker Monika die sie als eine Folge der Fortschritte in der Fern- Bolls Analyse des Nachtprogramms, das als Forum sehtechnik und der Konkurrenz der Fernsehsen- des intellektuellen Selbstverständnisses in den 50er der untereinander interpretiert, wobei sie hervor- Jahren bekanntlich eine nicht unbedeutende Rolle hebt, dass »allein durch die Präsentationsweise« gespielt hat. Aufschlussreich ist auch der Aufsatz (S. 142) gesellschaftliche Veränderungen themati- von Birgit Bernhard über die Architekturgeschichte siert worden seien. Im Beitrag von Michaela Maier des Funkhauses Köln. Sie stellt den 20er-Jahre-Bau über die amerikanischen Untersuchungen zu den vor, berichtet über die axialen NS-Konzeptionen Hörgewohnheiten der SBZ-Radiohörer und -höre- und analysiert schließlich den offen-freundlichen rinnen kommt die Autorin nach ihrer Materialaus- Neubau der 50er Jahre. Antje Eichler untersucht breitung zu dem Schluss, dass auch noch in den die vielseitigen Berichte zu den Studentenunruhen 50er Jahren der Rias-Sender und andere Westsen- 1968. Es sei jedoch, wie sie zu Recht hervorhebt, in der häufiger als die DDR-eigenen Sendungen ge- der Regel mehr über die Studenten als mit ihnen dis- hört worden seien. Im Beitrag von Annegret Braun kutiert worden. Auch der Beitrag von Ellen Latzin 80 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) ist für Historiker sehr informativ, geht es doch hier stark Öffentlichkeit, Meinung und gesellschaftlicher um die Reisen bayerischer Rundfunkproduzenten in Diskurs geprägt. Wer waren also die Journalisten die USA, die zu einer Netzwerkbildung stark beitru- der ersten deutschen Nachkriegsjahre? gen. Allerdings hätte dem Aufsatz eine Blickerwei- terung auf Amerikareisende anderer Berufsgruppen Christian Sonntag hat sich dieser Frage angenom- gut getan. So bleibt die Reichweite des Dargebote- men. Seine unlängst veröffentlichte Studie »Medien- nen doch recht begrenzt. Mit Gewinn liest man auch karrieren« beruht auf einer 2005 am Historischen den Aufsatz von Sebastian Lindmeyr über die Aus- Seminar der Universität Hamburg abgeschlosse- einandersetzungen im Hinblick auf die Novellierung nen Dissertationsschrift. Der regionale Fokus auf des Bayerischen Rundfunkgesetzes 1972/73, die Hamburg schmälert keineswegs die Bedeutung zu einem besonderen Weg bayerischer Rundfunk- dieser Arbeit für die Geschichte des westdeutschen geschichte führte. Die Wiedergabe eines Podiums- Journalismus der 40er Jahre, insbesondere für die gesprächs zu diesem Thema mit Zeitzeugen lässt Phase der Lizenzpresse:1 Zum einen waren in Ham- zudem ein lebendiges Bild der damaligen Kämpfe burg die für die Nachkriegszeit zentralen Printmedi- entstehen. Ein ergiebiges Forschungsfeld scheint en wie »Die Zeit« oder »Die Welt« beheimatet. Zum sich auch im Hinblick auf die binationale Frank- anderen sind die Ergebnisse des Bandes regionen- reich-Bayern-Kooperation zu erschließen, über die und medienübergreifend von Relevanz. Ursula E. Koch berichtet. Anhand der Analyse ein- zelner Sendungen dokumentiert Koch diese Verbin- Über die Zeit der Lizenzpresse liegen zwar bereits dung recht konkret. Nützlich ist schließlich der kurze exzellente Werke etwa von Koszyk und speziell für Forschungsüberblick über die Rundfunkgeschich- Hamburg von Gossel vor.2 Ebenso wurde der As- te, den Ansgar Diller als Einleitung präsentiert, auch pekt personeller Kontinuitäten vom Journalismus im wenn er sich, wie er selbst schreibt, auf die politisch- »Dritten Reich« bis in den Journalismus der Bun- organisatorischen Forschungsarbeiten beschränkt. desrepublik in der Forschung betont. Dabei handelt Trotz seiner Bemühungen um die Anerkennung un- es sich aber meist um Arbeiten, die sich den so ge- terschiedlicher Zugriffe auf die Mediengeschich- nannten »Elite-Journalismus« in Person von Hans te bleibt als Gesamteindruck das noch immer und Zehrer oder Werner Höfer herausgegriffen haben.3 offenbar auch weiterhin bestehende Auseinander- Untersuchungen, die die Ergebnisse solcher Arbei- klaffen der Fragestellungen, Literaturreferenzen und ten einmal systematisch unter Einbeziehung der Re- Forschungsschwerpunkte zwischen den einzelnen Disziplinen dominant. Das macht nachdenklich. Adelheid von Saldern, Hannover/Göttingen 1 Die Alliierten hatten bekanntermaßen im Mai 1945 in ihren Besat- zungszonen die Verbreitung von Medien unter deutscher Verantwor- tung vollständig untersagt. Lediglich unter direkter Kontrolle der Be- satzungsmächte – etwa in den so genannten »overt papers« oder in Christian Sonntag den neuen Hörfunkstationen – konnten Deutsche zunächst journalis- Medienkarrieren. tisch tätig werden. Schrittweise wurde dieses Verbot gelockert. In der Biografische Studien über Hamburger britischen Zone wurden neben gesamtzonalen Zeitungsprojekten wie Nachkriegsjournalisten 1946-1949 »Die Zeit« und »Die Welt« ab dem Frühjahr 1946 zunächst regionale Zeitungen geschaffen bzw. lizenziert, die in ihrer Blattlinie den maß- (= Forum Kommunikation und Medien, Band 5) geblichen politischen Parteien CDU, SPD, FDP und KPD zugeordnet München: Martin Meidenbauer wurden. Sonntag nennt sie – abweichend von dem bislang in der Li- Verlagsbuchhandlung 2006, 376 Seiten. teratur üblichen und definitorisch feineren Begriff »Parteirichtungs- zeitungen« – »Parteizeitungen«. Die Zulassung des überparteilichen »Hamburger Abendblatts« symbolisiert eine Abkehr von dieser Politik. Dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kei- Ab 1948 wurde das Lizenzierungsverfahren zudem in deutsche Verant- ne – in der Erinnerung oft vielleicht so empfundene wortung überführt, 1949 endete die Lizenzpflicht. – »Stunde Null« gegeben hat, ist seit einigen Jah- 2 Kurt Koszyk: Geschichte der deutschen Presse IV: Pressepolitik für Deutsche 1945–1949. Berlin 1986; Daniel A. Gossel: Die Hamburger ren Konsens in der historischen Forschung. Zu viele Presse nach dem Zweiten Weltkrieg. Neuanfang unter britischer Be- Kontinuitätsstränge relativieren die Zäsur der alliier- satzungsherrschaft, Hamburg 1993 (=Beiträge zur Geschichte Ham- ten Besatzungsherrschaft, ja sogar der Re-Demo- burgs, Band 45). 3 Etwa: Lutz Hachmeister/Friedemann Siering (Hrsg.): Die Herren kratisierung der westdeutschen Gesellschaft ab Mai Journalisten: die Elite der deutschen Presse nach 1945. München 1945. Besonders deutlich wird dies beim Blick auf 2002; Matthias Weiß: Journalisten: Worte als Taten. In: Norbert Frei den Verlauf von so manchem Berufsweg, so man- (Hrsg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt/ cher Karriere. Besondere Brisanz erwächst daraus New York 2001, S. 242–299; Otto Köhler: Unheimliche Publizisten. Die verdrängte Vergangenheit der Medienmacher. München 1995; Peter bei einem Berufsfeld wie dem Journalismus. Von Köpf: Schreiben nach jeder Richtung: Goebbels-Propagandisten in kaum einem anderen Berufsstand werden ähnlich der westdeutschen Nachkriegspresse. Berlin 1995. Rezensionen 81 daktionen überprüfen, sind eher selten.4 Es stellt nachweisen kann, vielen Journalisten den Weg über sich die Frage, inwieweit Lebens- und Berufsläu- die Zäsur von 1945 hinaus. Die Mehrzahl der Redak- fe und publizistische Aussagen auf der redaktionel- teure und Lizenzträger hatte schon während des len Ebene in Zusammenhang stehen. Erst unter die- »Dritten Reichs«, oft aber auch schon vorher jour- sem Blickwinkel wird das Ausmaß von Kontinuitäten nalistisch gearbeitet. Auffällig viele von ihnen ka- einschätzbar. men aus Berlin; nicht selten von vermeintlich weni- ger nazifizierten Publikationen wie »Das Reich« oder Sonntag hat nun für Hamburg 308 Journalisten er- »Deutsche Allgemeine Zeitung«. Die Forschung hat fasst, die zwischen 1946 und 1949 in der Hamburger die Behauptung der sublimen Opposition solcher Nachkriegspresse für die Zonenzeitung »Die Welt« Blätter sowie das Ausmaß des vielfach in Anspruch und die sechs Lizenzzeitungen »Die Zeit«, »Ham- genommenen »Zwischen-den-Zeilen-Schreibens« burger Echo«, »Hamburger Allgemeine Zeitung«, längst relativiert. Nach 1945 forderten manche »Hamburger Freie Presse«, »Hamburger Volkszei- Journalisten für sich ein, dass regimetreue Aussa- tung« und das erst 1948 gegründete »Hamburger gen oder gar eine NSDAP-Mitgliedschaft in den zu- Abendblatt« tätig gewesen waren. Diese Auswahl rückliegenden Jahren lediglich eine – unehrliche basiert notwendigerweise auf forschungspragma- – Anpassung an die Zeit gewesen seien. Davon mö- tischen Grenzziehungen, vor allem definitorischer gen diese auch überzeugt gewesen sein. Differen- Art. Gleichwohl nötigt diese aufwändige Kernerar- ziert beschreibt Sonntag diese bewusste wie auch beit Respekt ab. In einem Anhang sind knapp die unbewusste Selbstgleichschaltung des deutschen (berufs-)biografischen Angaben der Journalisten Journalismus. Erfrischend klar bleibt es für ihn ein dokumentiert. oftmals zynischer »Verrat an den journalistischen Tugenden« (S. 39). Und diesen Verrat nimmt Sonn- Die Untersuchung holt in der Darstellung mitunter tag letztlich besonders jenen übel, die auch nach weit aus. Gleichwohl ist das Vorgehen von Sonn- 1945 journalistisch arbeiteten, ohne sich selbstkri- tag sinnvoll, zunächst noch einmal die Situation der tisch zu hinterfragen. Dieses Urteil trifft nicht nur Presse bzw. dann speziell der Hamburger Presse längst als weit rechts stehend identifizierte Jour- im »Dritten Reich« sowie die Pressepolitik der bri- nalisten wie Richard Tüngel. Es gilt insbesondere tischen Besatzungsmacht, nachzuzeichnen. Sonn- auch für vermeintlich liberale Journalisten wie Al- tag gelingt dies sehr gut. Interessant wird die Unter- fred Frankenfeld. suchung aber vor allem bei der Vorstellung der von ihm untersuchten Zeitungen. Der Fokus liegt dabei Es finden sich in den Hamburger Redaktionen, so auf den Redaktionen und deren jeweiliger Zusam- arbeitet Sonntag heraus, erstaunlich wenige Be- mensetzung. rufsanfänger. Bei den parteinahen Lizenzzeitungen ab dem Frühjahr 1946 handelte es sich, mit Ausnah- Sonntag wählt einen kollektivbiografischen Zu- me der CDU-nahen »Hamburger Allgemeinen Zei- gang. Dabei handelt es sich letztlich um die statisti- tung«, sogar eher um Wieder- als um Neugründun- sche Auswertung der zusammen betrachteten, un- gen. Aber auch in den Redaktionen von Zeitungen terschiedlichen Berufsbiografien nach bestimmten wie »Die Zeit« oder »Die Welt«, die zunächst unter Variablen, wie Alter, Geschlecht, Funktion in der Re- unmittelbarem Einfluss der britischen Besatzungs- daktion, frühere Mitgliedschaft in der NSDAP. Da- macht standen, ist die Zahl der journalistischen Be- durch werden die Einzelschicksale erst kontextuali- rufsanfänger gering. siert. Die Abfolge der sechs analysierten Zeitungen in den Kapiteln 4 und 5 wirkt darstellerisch mögli- Sonntags These, dass die unterschiedlich starken cherweise etwas dröge; allerdings ist eine solche personellen und weltanschaulichen Kontinuitäten Strukturierung für die Übersichtlichkeit unerläss- in den Redaktionen letztlich auch Auswirkungen lich. auf die publizistischen Aussagen hatten, erscheint prinzipiell plausibel. Näher belegen kann Sonn- Hamburg war 1945/46 de facto zu einem Sammel- becken für renommierte deutsche Journalisten ge- worden. Eine aus verschiedenen Gründen eher in- konsequente britische Presse- und Personalpolitik 4 Hervorzuhebende Ausnahme ist eine im Umfeld des Mainzer Ins- und eine gegenüber NS-Verstrickungen generell tituts für Publizistik entstandene Arbeit über die Situation in der fran- zösischen Besatzungszone: Sigrun Schmid: Journalisten der frühen laxe Haltung deutscher Verantwortlicher ebneten, Nachkriegszeit: eine kollektive Biographie am Beispiel von Rheinland- wie Sonntag für die sechs Hamburger Zeitungen Pfalz. Köln 2000. 82 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) tag dies nur exemplarisch durch eine vergleichen- Trend, der bei Wissenschaftsverlagen leider immer de Analyse der Bewertungen, die die untersuchten mehr um sich greift. Gleich in der Einleitung finden Zeitungen über den Nürnberger Hauptkriegsverbre- sich etwa Fehler im Drucksatz. Für eine Autorin gibt cher Prozess abdruckten. Als besonders problema- es unterschiedliche Schreibweisen; manchmal ist tisch erscheint Sonntag in diesem Zusammenhang von »Norddeutschen Heften« anstatt von »Nord- die redaktionelle Haltung der Wochenzeitung »Die westdeutschen Heften« die Rede. Das ist unschön, Zeit«. In deren Redaktion gaben bekanntlich für ei- aber zu verschmerzen. Ärgerlicher ist da schon, nige Zeit rechtskonservative Journalisten den Ton wenn sich ein Fehler einschleicht, der in die Irre an, ehe das Blatt nach dem Eingreifen von Gerd führen kann: So wird Hanns Ruppersberg, Redak- Bucerius und Marion Gräfin Dönhoff schrittweise teur und bald Essener Redaktionsleiter der Zeitung seine heutige liberale Reputation erlangte. Die Kri- »Die Welt«, von Sonntag konsequent – aber eben tik an der »Siegerjustiz« der Besatzungsmächte ist falsch – als »Hans Ruppertsberg« angeführt. Rup- für Sonntag symptomatisch (S. 289). Die Berichter- persberg ging später als Pressesprecher zum Nord- stattung maßgeblicher Zeit-Redakteure ist für ihn westdeutschen Rundfunk (NWDR). Apropos: Einen entsprechend kein Ausweis journalistischen Mutes »politischen Chefredakteur« namens Jupp Wolff hat oder ein Zeichen für eine selbstbewusste Vermes- es beim NWDR, anders als es Sonntag im Anhang sung der neu gewonnenen Meinungsfreiheit, son- behauptet, so nicht gegeben. dern insgesamt gesehen »revanchistisch« (so die Zuspitzung im Klappentext). Die Schärfe des Ur- Hier ergibt sich im Übrigen eine mögliche neue teils mag übertrieben sein, ist aber in der Tendenz Untersuchungsperspektive. Aus forschungsprag- richtig. Gleichwohl befand sich der deutsche Jour- matisch nachvollziehbaren Gründen hat Sonntag nalismus der Nachkriegsjahre, trotz verschiedener darauf verzichtet, näher auf Rundfunkjournalis- retardierender Momente, nicht in einer Phase der ten bzw. die Rundfunkarbeit der von ihm identifi- Restauration, wie Sonntag ebenso klar stellt. zierten Journalisten einzugehen. Angesichts vielfa- chen Grenzgängertums, also der Printpräsenz von Aus illustrativen Gründen durchbricht Sonntag die Rundfunkjournalisten bzw. der Rundfunkpräsenz kollektivbiografische Analyse im sehr lesenswerten von Printjournalisten in jenen Jahren, erscheint eine achten Kapitel. Darin stellt er den beruflichen Wer- weitergehende Untersuchung geboten.6 Der Me- degang von zehn Hamburger Nachkriegs-Journa- dienstandort Hamburg spielte auch hier eine be- listen näher vor: Alfred Frankenfeld, Rudolf Küster- sondere Rolle. meier, Rolf Seutter von Loetzen, Erich Hoffmann, Christoph Hilgert, Hamburg Ernst Samhaber, Ilse Elsner, Rudolf Michael, Jür- gen Schüddekopf, Ernst Friedländer und Peter Blachstein. Ergänzend stellt Sonntag Hamburger Journalisten vor, die ihren Beruf nach 1945 nicht mehr ausüben durften. Diese Personalisierung ver- anschaulicht die Bandbreite der Hamburger »Me- dienkarrieren« nach 1945 erheblich und stellt eine wichtige Ergänzung zum kollektivbiografischen Zu- gang dar.

5 Christina von Hodenberg, Die Journalisten und der Aufbruch zur Die Studie von Sonntag stützt sich auf reichhaltiges kritischen Öffentlichkeit. In: Ulrich Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozes- Quellenmaterial. Bedauerlich ist, dass so renom- se in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945– mierte Häuser wie »Stern«, »Spiegel« und »Zeit« 1980. Göttingen 2002, S. 278–311 sowie jetzt aktuell: Dies., Konsens Sonntag den Zugang zu ihren Archiven – anders als und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006. etwa der Axel-Springer-Verlag – nicht gewährt ha- 6 Diesem Sachverhalt wurde bislang noch nicht ausreichend ge- ben. Bemerkenswert breit angelegt ist die Grund- nug nachgegangen. Erste, noch nicht befriedigende Ansätze bieten lage an verwendeter Forschungsliteratur. Deshalb aber u.a.: Gerhard Becker: Karriereverläufe der Rundfunkintendanten seit 1946. In: RuG Jahrgang 11 (1985) H. 3, S. 268–287; Arnulf Kutsch: mag man die Nichtberücksichtigung von Christina Deutsche Rundfunkjournalisten nach dem Krieg. Redaktionelle Mitar- 5 von Hodenberg eigentlich nicht kritisieren. beiter im Besatzungsrundfunk 1945–1949. Eine explorative Studie. In: RuG Jahrgang 12 (1986) H. 3, S. 191–214; Nori Möding/Alexander von Der positive Gesamteindruck des Buchs wird aller- Plato: Nachkriegspublizisten: Eine erfahrungsgeschichtliche Unter- suchung. In: Peter Alheit/Erika M. Hoerning (Hrsg.): Biographisches dings durch Kleinigkeiten etwas getrübt, die schein- Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung. bar Folge eines eingesparten Lektorats sind – ein Frankfurt/New York 1989, S. 38–69. Rezensionen 83

Matthias Michael genen Arbeiten von Heidemarie Schumacher und Spiegel-TV. des Rezensenten2. Bei aller Bescheidenheit: Die Analyse eines politischen Fernsehmagazins Lektüre dieser Forschungsarbeiten hätte zumindest Konstanz: UVK 2005, 290 Seiten. Fehleinschätzungen wie die erspart, dass »Spiegel- TV« mit der Verwendung der Schulterkamera Bewe- Matthias Michael arbeitet als Regisseur, Publizist gung ins politische Magazin gebracht habe: »Dieses und Medientrainer in München. Er war mehrere Jah- Reportage-Element, das die Bildaussage deutlich re lang Autor und Redakteur bei »Spiegel-TV« und verstärkt, haben fast alle anderen Magazine ko- hat mit der vorliegenden Studie an der Universität piert, sowohl öffentlich-rechtliche als auch private« Dortmund 2004 promoviert. (S. 11). – Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Schon Hans Heigert und Dagobert Lindlau setzten in der Michaels Arbeit besteht aus drei Teilen: 1. einem zweiten Hälfte der 60er Jahre bei »Report aus Mün- langen medienhistorischen Vorspann, der allge- chen« auf Reportageelemente, ja gaben dem Maga- meine Fernseh- und besondere Magazin-Aspek- zin deshalb programmatisch diesen Titel. Auch Rü- te thematisiert; 2. dem Hauptteil (Kapitel 4) zum diger Proske und Gert von Paczensky heuerten in »Spiegel-TV-Magazin«, seinen publizistischen, re- den 60er Jahren für »Panorama« Dokumentarfilme- daktionellen und produktionsästhetischen Rah- macher wie Klaus Wildenhahn an, und Gerhard Bott menbedingungen; 3. einem Abspann in Form einer schickte in den 70er Jahren Reportageteams zu den empirischen Studie (Zuschauerbefragung und »Ex- Konfliktorten der Politik: nach Brokdorf (Auseinan- perteninterviews«). dersetzungen um Atomendlager), Frankfurt (Haus- besetzungen), Holland (»Abtreibungsfahrten«). Hier, Um die Bewertung vorwegzunehmen: Den ersten beim »Panorama« der 70er Jahre, brillierte der junge Teil sollte man schnell durchblättern. Denn die Wirk- Journalist Stefan Aust mit seinen Reportagen über lichkeits- und Politikbegriffe hätten für eine Disser- Gastarbeiter, Kriegsdienstverweigerer, Berufsver- tation durchaus fundierter ausfallen dürfen. Einen bote und Lauschaffären. Als Aust später, als die präziseren medientheoretischen Ansatz sucht man CDU im NDR das Sagen bekam, nicht einmal Hilfs- vergebens. System- oder gattungstheoretische Ar- korrespondent in Helsinki geworden wäre, ergriff er beiten wurden offenbar nicht zur Kenntnis genom- die Chance und nahm das Angebot Augsteins an: men. So klingt es naiv und pauschal, wie Micha- Mit »Spiegel-TV« setzte er durchaus fort, was bei el seine Grundthese ausbreitet: »Wie das gesamte »Panorama« damals nicht mehr möglich war. Fernsehen, so klammert auch das Spiegel-TV-Ma- gazin große Wirklichkeitsteile aus« (S. 12). »Wirk- Auch andere argumentative Schieflagen der Dis- lichkeit« ist ja gerade ein scheues Geschöpf, und sertation ließen sich durch bessere Informationen mithilfe von z.B. Niklas Luhmann oder Siegfried J. vermeiden: »Den Glauben an die gesellschaftsver- Schmidt ließe sich der Unterschied zwischen Wirk- ändernde Kraft ihrer Magazine können die Macher lichkeit und Realität (als Wirklichkeit und Kommu- angesichts der Vielzahl von Sendungen und des da- nikat der Massenmedien) für eine Analyse des Ma- rin skandalisierten Alltags allmählich aufgeben« (S. gazins gerade im Kontext vergleichbarer Formate 11). – Man liest solche Diagnosen mit gemischten besser nutzbar machen. Gefühlen: Sollte jemand solche Absichten haben, dann könnte er sie im bestehenden Mediensystem Auch die hinführenden medienhistorischen Grund- in der Tat vergessen. Das Problem ist vielmehr, dass lagen Michaels gehen oft fehl. So behauptet der Au- Michaels Satz so tut, als hätten die früheren Maga- tor: »Über die Konflikte um die politischen Fernseh- zinmacher solche Intentionen gehabt. Weder Hei- magazine sind etliche Publikationen erschienen, die keinen Anspruch auf wissenschaftliches oder sys- tematisches Vorgehen erheben« (S. 77). Das mag sein, ist aber ignorant, wenn Michael Literatur an- führt, die völlig veraltet ist und über den Stand vor- 1 Etwa eine Diplomarbeit von Elisabeth Laurenz im Fach Journalis- läufiger Annäherungsversuche an das Thema nicht tik am Institut für Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maxi- 1 hinausgelangt . Die wissenschaftliche Basisliteratur milian-Universität München aus dem Jahre 1984. hat Michael offensichtlich nicht eingearbeitet: z.B. 2 Lampe, Gerhard: Das »Panorama« der sechziger Jahre. Zur Ge- die aus dem DFG-Sonderforschungsbereich »Bild- schichte des ersten politischen Fernsehmagazins der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1991; ders.: »Panorama«, »Report« und »Monitor«. schirmmedien« an der Gesamthochschule Siegen Geschichte der politischen Fernsehmagazine 1957–1990. Konstanz unter der Leitung von Helmut Kreuzer hervorgegan- 2000. 84 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) gert und Lindlau bei »Report aus München« noch Lesenswert ist die Dissertation allerdings wegen ih- Proske/Paczensky, Fest, Merseburger, Bott bei res Hauptteils. Hier gelingt es Michael, die Entwick- »Panorama« waren Altachtundsechziger; sie waren lung von »Spiegel-TV« und seiner Unterabteilungen – der unterschiedlichen Parteimitgliedschaft einiger »Spiegel-TV-Magazin« und »Spiegel-TV-Reporta- zum Trotz – in ihrem Beruf lagerlose Journalisten, ge« einleuchtend im Kontext der veränderten Me- die nach zumeist angelsächsischem Vorbild Poli- dienlandschaft des »Dualen Systems« darzustellen. tik kritisch begleiteten; allenfalls glaubte Mühlfenzl Nicht nur die veränderten Sende- und Sehge- nach der Machtübernahme des BR durch die CSU wohnheiten des freien Markts und seiner Tendenz in den 70er Jahren daran (oder Mertes in den spä- zum »Infotainment« werden als Faktoren analysiert, ten 80er Jahren), das bayerische »Report« könne auch das »cross over« von print- und TV-Journalis- die Bundesrepublik für die Unionsparteien sturmreif mus und den daraus erwachsenden Zwängen der schießen. Nein, den »Glauben an die gesellschafts- Mehrfachverwertung von Themen. Nicht zuletzt verändernde Kraft der Magazine« setzte Noelle- durch seinen Status als Insider kann Michael die Neumann im Auftrag der CDU in die Welt – durch Produktionsbedingungen detailliert in seine Ausei- Untersuchungen zu politischen Haltungen von Re- nandersetzung einbeziehen und so die im Alltag ge- dakteuren. Noelle-Neumann versuchte nämlich zu bräuchlichen Rezepturen der Beiträge – persuasi- erklären, weshalb die Unionsparteien in der Wahl ve Bildmontage oder rhetorische Koketterie – offen von 1969 die Macht verloren hatten und glaubte in legen und dadurch den Unfehlbarkeitsmythos von der »linken Mentalität« der politischen Fernsehma- »Spiegel-TV« bei allem Respekt entzaubern. gazine die Ursache zu erkennen. Die Folgen dieser Gerhard Lampe, Halle/Saale Studien bis heute sind bekannt: Die Union begann einen (allerdings nur zumTeil erfolgreichen) Sturm- lauf, um Magazine und ganze Sender zu dominie- Karin Keding/Anika Struppert ren, was fatalerweise dazu führte, dass die SPD es Ethno-Comedy im deutschen Fernsehen. ihr gleichtat. Inhaltsanalyse und Rezipientenbefragung zu »Was guckst du?!« Auch die Gesamteinschätzung von »Spiegel-TV- (= Internationale und Interkulturelle Magazin« ist widersprüchlich und in der Argumen- Kommunikation, Band 4) tation unausgereift. So wirft Michael dem Magazin Berlin: Frank & Timme Verlag seine Unberechenbarkeit vor – mal kritisiere es Lin- für wissenschaftliche Literatur 2006, 206 Seiten. ke, mal Rechte, mal die Mitte, um wenig später ge- rade in dieser Unabhängigkeit seinen Vorzug zu ah- Verdienstvollerweise wenden sich die Autorinnen nen (S. 238ff). einem bislang – zumindest im deutschsprachigen Raum – wissenschaftlich unterrepräsentierten Feld Einfach ärgerlich sind die zahlreichen Druckfehler: zu: der Ethno-Comedy. Bei diesem telemedialen Die Medienwissenschaftlerin Heidemarie Schuma- Subgenre handelt es sich – wie auch bei dem Gen- cher wird gelegentlich zur Handwerkerin und heißt re Comedy-Show insgesamt – um ein weitgehend dann fälschlich Schuhmacher, ein ehemaliger Bür- marginalisiertes Terrain, dessen bisherige Vernach- germeister von New York verliert seine italienischen lässigung umso mehr überrascht, da sich sowohl Wurzeln und heißt statt Giuliani Guliano: Was ist mit die Medien- als auch die Kommunikationswissen- den Lektoren geschehen? schaft seit geraumer Zeit der Erforschung populä- rer Fernsehformate angenommen hat. Den Eindruck der Vorläufigkeit der Publikation kann leider auch die nachgestellte und mit der Ge- Die Verfasserinnen etablieren einleitend ihren Un- samtargumentation kaum verbundene »repräsenta- tersuchungsgegenstand, nämlich die im Jahr 2001 tive Studie« nicht abschwächen. Zwar bekommt das erstmals ausgestrahlte SAT.1-Show »Was guckst Profil des »Spiegel-TV«-Publikums durch die Zu- Du?!«, und formulieren hier bereits wirkungsorien- schauerbefragung klarere Konturen und werden Er- tierte Hypothesen, die unter anderem auf das »In- wartungshaltungen und Geschmacksbewertungen tegrationspotenzial« der Sendung und den Beitrag deutlicher; aber letztlich bestätigt sich hier der seit derselben zur »Auseinandersetzung mit fremden Adorno bekannte Zweifel an der empirischen Sozi- Kulturen« abzielen (S. 11). Die gut strukturierte alforschung, dass sie eben nur die Meinung über ein kommunikationswissenschaftliche Abschlussarbeit Phänomen wiedergebe und nicht den Gegenstand weist im zweiten Kapitel eindrucksvoll den hohen selber durchdringe. Stellenwert von humoristischen Fernsehinhalten Rezensionen 85 nach, bestimmt das Format Ethno-Comedy termi- nischen und interethnischen Witzes gut verdeutlicht nologisch und stellt die zu untersuchende Sendung und auch die Position des »Witzproduzenten« kri- »Was guckst Du?!« kurz, aber präzise in ihrem for- tisch reflektiert. malen Aufbau vor. Die theoretischen Überlegungen werden in Kapitel Die theoretische Fundierung des Themas liefert in- vier übersichtlich in ein grafisch veranschaulichtes struktiv das dritte Kapitel, in dem grundlegende Ter- Modell der Rezeption von Ethno-Comedy-Shows mini wie Kultur, Ethnizität, Stereotype, Humor und überführt, innerhalb dessen der aktive und selek- Witz sowie ethnischer Witz reflektiert werden. Hier tiv rezipierende Zuschauer mit seinen Erwartungen, irritiert zweierlei: Wenngleich eine intensive Ausei- Fremd- und Selbstbildern als situativ und kontext- nandersetzung mit den Begriffen erkennbar wird, gebunden konzipiert und dem telemedialen Unter- bleiben sie wenig konturiert. Es wird nicht recht haltungsangebot mit den darin repräsentierten Bil- deutlich, welche Definitionen für die eigene Unter- dern und Stereotypen gegenübergestellt wird (S. suchung als sinnvoll erachtet und den empirischen 77). Bei der anschließenden Auflistung der For- Studien zugrunde gelegt werden. Dem Begriff Eth- schungsfragen wäre eine Präzisierung und Zusam- nizität – dem Schlüsselbegriff einer Arbeit zu Ethno- menführung der theoretischen Erkenntnisse und Comedy – wird gerade einmal eine Seite gewidmet. Vorannahmen als Brücke zu den formulierten Hy- Es folgen ebenfalls knappe Ausführungen zur Iden- pothesen hilfreich gewesen. titätskonstruktion und Stereotypenforschung. Die Rolle der Medien innerhalb des diskursiven Prozes- Die beiden ambitionierten Autorinnen scheuen im ses der Schaffung und Stabilisierung der relevanten empirischen Teil der Arbeit (S. 80ff.) keine Mühe, Identitätskategorie »Ethnie« bleibt hier ebenso un- berücksichtigen sie doch beide Seiten des kommu- berücksichtigt wie die Rolle der Medien als Agenten nikativen Austauschs und nehmen – nachdem sie der Fremdheitskonstruktion und -dekonstruktion im ihre gewählten Forschungsmethoden begründet Folgekapitel, welches sich dezidiert mit dem kom- und vorgestellt haben – einerseits eine qualitative plexen Feld Identitätskonstruktion und auf Basis der Inhaltsanalyse von sechs repräsentativen Episoden sozialpsychologischen Bildforschung der Untersu- von »Was guckst Du?!« vor und führen rezeptions- chungen zu Selbst- und Fremdbildern annimmt. seitig fünf Fokusgruppeninterviews sowie zwei In- Die im Gesamtkontext der Arbeit überstarke Profi- terviews via Online-Chat mit insgesamt dreißig Pro- lierung der Diskussion von Unterhaltung u.a. aus an- banden durch. thropologischer, emotionspsychologischer und mo- tivationaler Perspektive in der Tradition des Uses Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse bieten im leser- and Gratifications-Approach bleibt dabei im Kon- freundlichen Duktus zunächst eine kurzweilige De- text der Gesamtstudie – wenngleich sie eine präzise skription der Kernthemen, Hauptakteure und der Zusammenfassung derselben bietet – wenig nach- spezifischen Figurenzeichnung mit Blick auf stere- vollziehbar, dient die Darstellung letztlich doch ein- otype Repräsentationen von in Deutschland leben- zig dazu, dem Format Ethno-Comedy ein hohes Un- den Türken, Polen und anderen »ethnischen« Grup- terhaltungspotenzial zu bescheinigen. pen mit Migrationshintergrund, welche auch dem Uneingeweihten ein facettenreiches Bild der Co- Die Ausführungen zu Humor und Witz basieren auf medy-Show »Was guckst Du?!« liefern. Zugleich den Inkongruenztheorien des Komischen, wobei wird auch ein Abgleich der humoristischen medi- hier der im Kontext der Studie relevante Aspekt des alen Darstellung ethnischer Gruppen mit Ergeb- soziokulturellen Wissens bei der Wahrnehmung ko- nissen aus einschlägigen Migrationsstudien vor- mischer Inkongruenzen zu Recht hervorgehoben genommen, was zu aufschlussreichen Einblicken wird (S. 69). Es werden jedoch auch Aggressions- in die Lebenssituation der fokussierten Gruppen und Degradationstheorien erfasst, um den Witz in Deutschland führt, zudem fundierte Ergebnisse in seiner sozialen Dimension als machtvolles Ele- der Stereotypenforschung vermittelt. Die Autorin- ment der Unterdrückung und Herabsetzung, aber nen versäumen es nicht, auch rein quantitative An- eben auch der Auflehnung und Subversion treffend gaben zur Auftrittshäufigkeit der »ausländischen« zu skizzieren. Wenngleich eine begriffliche Engfüh- Akteure zu ermitteln. Bei der Auswertung wird die rung auf den Witz stattfindet – wodurch eine be- quantitative Repräsentation deutscher Akteure je- dauerliche Begrenzung des komplexen komischen doch unterschlagen. Gerade die Relation von Ver- Formenkreises stattfindet – wird innerhalb dieser tretern der so genannten »Mehrheitskultur« wäre Kategorie die unterschiedliche Bedeutung des eth- im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen be- 86 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) sonders aufschlussreich gewesen. Die Skizzierung Dominik Koch-Gombert spezifischer Komikstrategien wie z.B. die Kette aus Fernsehformate und Formatfernsehen. Stereotyp – Widerlegung – Stereotyp (S. 131) ge- TV-Angebotsentwicklung in Deutschland lingt überzeugend, auch wenn die Aufdeckung von zwischen Programmgeschichte Möglichkeiten der Konstruktion und Dekonstruktion und Marketingstrategie ethnischer Zuschreibungsmechanismen durch De- (= Forum Kommunikation und Medien Band 4) tail- bzw. Feinanalysen der Komik in »Was guckst München: Martin Meidenbauer du?!« weitgehend ungenutzt bleibt. Verlagsbuchhandlung 2005, 545 Seiten.

Im Rahmen der Rezipientenbefragung – an der 19 Die vorliegende Monografie behandelt sicher eine deutsche, zwei deutsch-ukrainische, zwei deutsch- der aktuellsten Fragestellungen innerhalb der Me- türkische und sechs deutsch-indische Männer und dienökonomie, die vor dem Hintergrund der sprung- Frauen teilnahmen –, zielen die Leitfragen u.a. auf haften Erweiterung von Fernsehprogrammen im die wahrgenommene Darstellung der »ethnischen Zuge der Digitalisierung an Bedeutung noch zu- Gruppen«, auf die Wirkung stereotyper Figuren- nehmen wird. Wie der Autor überzeugend nach- zeichnungen und den Diskriminierungsgehalt der weist, haben Formate, die weltweit adaptiert wer- Sendung ab. Nach Analyse und Interpretation der den, nicht nur die Programmplanung grundlegend Interview-Auswertung werden schließlich die jeweils verändert, sondern sie besitzen auch eine wichti- individuellen Rezeptionsweisen von Deutschen mit ge Orientierungsfunktion für den Zuschauer. Infol- und ohne Migrationshintergrund veranschaulicht. ge dieses vermehrten Angebotes würden Fernseh- Es wird aufgezeigt, welche Wissensvorräte und Ste- formate und Formatfernsehen in Zukunft demnach reotype über angebliche Wesenszüge der charak- auch weiterhin eine sehr wichtige Rolle spielen. Um terisierten ethnischen Gruppen bei den Befragten das Lektüreergebnis vorwegzunehmen, hier liegt existieren, wobei durch Transkriptionen im Anhang eine außergewöhnliche Arbeit vor, die sich dem The- und detaillierte Analysen kompletter Interviewse- ma im besten Sinne des Wortes interdisziplinär nä- quenzen die intersubjektive Nachvollziehbarkeit hert. Durch die Verbindung von mediengeschicht- und Überzeugungskraft der Dateninterpretation si- lichen, -ökonomischen und -politischen Aspekten cherlich noch erhöht worden wäre. sowie der gezielten Einbeziehung einzelner Gat- tungen und Formate in die Betrachtung entstand Stellt man in Rechnung, dass es sich bei der vor- eine Monografie von erstaunlicher Breite und Tie- liegenden Publikation um eine studentische Ab- fe. Da sie sprachlich präzise und gut lesbar abge- schlussarbeit handelt, so haben die Autorinnen eine fasst wurde, bietet sie sowohl interessierten Laien respektable Leistung erbracht, die bereits zu Recht als auch Fachleuten gleichermaßen eine anregen- durch die Verleihung des Förderpreises für jun- de Lektüre. ge Kommunikationswissenschaftler der Thüringer Landesmedienanstalt (TLM) gewürdigt wurde. Die Inhaltlich hat der Autor sein Buch in drei große Tei- Autorinnen schaffen eine erste empirische Grund- le gegliedert: »Entstehung, Entwicklung und Eta- lage zu Rezeption und Wirkung der Ethno-Come- blierung des Formatfernsehens in Deutschland«; dy, zumal sie den explorativen Charakter der Studie »Genreentwicklungen« und »Medienökonomische ausreichend reflektieren und die Grenzen einer Ein- Erklärungsansätze«. Sie werden durch eine umfas- zelforschung betonen. Wer also in Zukunft zum The- sende Einleitung und ein Schlusskapitel, das die er- ma Ethno-Comedy forscht, wird mit Gewinn auf Ke- zielten Ergebnisse zusammenfasst, ergänzt. Die in- dings und Strupperts Studie zurückgreifen können, haltliche Spannbreite des ersten Teils reicht von der die zu weiteren systematischen Forschungsbemü- Gründungsphase des öffentlich-rechtlichen Rund- hungen inspiriert und mit ihren Resultaten fundierte funks bis zur Ausdifferenzierung des Formatfernse- Anschlussmöglichkeiten liefert. hens in der Gegenwart. Das bedeutet, dass im ers- Karin Knop, Lüneburg ten Abschnitt, der sich mit der »Strukturentwicklung auf der Ebene der Sender« beschäftigt, die gesam- te deutsche Fernsehentwicklung von 1952 bis zur Herausbildung der Musikkanäle und des Transakti- onsfernsehens nachgezeichnet wird. Letzteres wird, soweit ich sehe, erstmalig als Bestandteil der dua- len Rundfunkordnung ausführlich analysiert. Da die Untersuchung um 2002 endet, fehlen selbstredend Rezensionen 87 alle Verweise auf die neuen Entwicklungen im Netz. Siegfried Lenz In einem zweiten Schwerpunkt des ersten Teils wird Das Rundfunkwerk. für den gleichen Zeitraum die Entwicklung der Pro- Hörspiele, Essays, Features, Gespräche u. a. grammstrukturen aufgezeigt. Hrsg. von Hanjo Kesting. 2 mp3-CDs mit Begleitbuch Im dritten Abschnitt hat der Autor für alle wichtigen Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. Genres gegenwärtiger Programmstrukturen nicht nur deren Entwicklung, sondern die Ebene der Pro- Siegfried Lenz grammbeschaffung und wichtige auf dem Markt Erzählungen. agierende Produktionsfirmen dargestellt. Wie bis- Hrsg. von Hanjo Kesting. 8 CDs mit Booklet her noch an keiner Stelle nachzulesen, arbeitet der Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. Autor hier heraus, seit wann und wie Formate für die Programmstrukturierung eingesetzt werden. For- Siegfried Lenz matfernsehen wird so überzeugend als das Ergeb- Die Erzählungen. nis sich verändernder Marktstrukturen des deut- Mit einem Geleitwort von Marcel Reich-Ranicki schen Rundfunksystems von den 50er Jahren bis Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, 2002/2003 dargestellt. 1536 Seiten.

Der zweite Teil ist in einen ausführlichen histori- Siegfried Lenz schen Abschnitt und einen medienökonomischen Selbstversetzung. gegliedert. Ersterer liefert nicht nur einen knappen Über Schreiben und Leben Rückblick auf das jeweilige Genre, sondern definiert Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, 100 Seiten. und typologisiert es auch. Die hier verwendeten Ar- beitsdefinitionen sind auch in anderen Kontexten Im Frühjahr dieses Jahres feierte ein »Erfolgsschrift- gut brauchbar, und insofern weist das Buch über steller« (FAZ), ein »großer deutscher Erzähler« (»Die seine unmittelbaren Fragestellungen weit hinaus. Zeit«), ein »Meister des Mikrokosmos« (»Die Welt«) Im letzten Teil liefert Koch-Gombert schließlich me- seinen 80. Geburtstag und mit ihm ein begeistertes dienökonomische Erklärungsansätze für den Um- Millionenpublikum im In- und Ausland. Die Rede ist gang der Fernsehsender mit Formaten. Formate von Siegfried Lenz, am 17. März 1926 in Lyck ge- selbst werden als Versuch der Akteure zur Risi- boren, einer Kleinstadt in Ostpreußen, in den Ma- kominimierung interpretiert. Ausführlich beschäf- suren. Aus der Peripherie des deutschen Sprach- tigt sich die Monografie mit Produktentwicklungs- raums hatte es den jungen Soldaten über Dänemark strategien und im engen Zusammenhang damit mit und Schleswig-Holstein bei Kriegsende nach Ham- Fragen der Innovationsbereitschaft von Anstalten burg verschlagen, in die Hafenstadt, die ihm zu ei- und Sendern. Es wird deutlich, dass es in der ge- ner neuen lebenslangen Wahlheimat werden soll- samten Branche an einem Innovationsmanagement te – aus vielerlei Gründen: Siegfried Lenz heiratete fehlt, obwohl gerade hier, so die überzeugende Dar- eine Hamburgerin, hier studierte er, absolvierte ein stellung von Koch-Gombert, ein erheblicher Bedarf Zeitungsvolontariat und arbeitete als Journalist zu- vorliegt. Schließlich werden die Grenzen der bishe- nächst für die britische Zonenzeitung »Die Welt«, rigen Medienforschung aufgezeigt. Daraus resultiert dann für den Nordwestdeutschen und später für wiederum ein Bedarf an Programm- und Formatfor- den Norddeutschen Rundfunk. Aber auch der schungen, die über die bisher existierenden metho- Schriftsteller Siegfried Lenz reüssierte in der Han- dischen Ansätze hinausgehen. sestadt. 1950 erschien sein erster Roman »Es wa- ren Habichte in der Luft« in eben jenem Hamburger Insgesamt liegt hier eine Publikation vor, die für Me- Traditionsverlag Hoffmann und Campe, dem er un- dienökonomen und Medienhistoriker gleicherma- gebrochen die Treue hält und mit dessen Verlegern ßen von großem Interesse sein dürfte und zugleich Kurt und Thomas Ganske ihn eine enge Freund- die Diskussion um medienwissenschaftliche Grund- schaft verband und bis heute verbindet. Es ist also begriffe befördert. nicht verwunderlich, dass der renommierte Ver- Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berlin lag seinen Jubilar 2006 mit einer ganzen Reihe von Neuerscheinungen ehrt.

Speziell für die in der medienwissenschaftlichen Forschung aktuellen Fragestellungen nach den 88 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) vielfältigen Beziehungen von Literatur und Rund- auch früheste Texte von Siegfried Lenz ein, darun- funk, von Schriftsteller und Medien bieten diese ter die bislang weitgehend unbekannten Erzählun- Veröffentlichungen ein besonders beeindrucken- gen »Phantasie in Kisten« und »Pointe auf Krepp- des Material. Denn wie kaum ein anderer deutscher sohlen«, die der Volontär 1948/49 im Feuilleton der Schriftsteller gehört Siegfried Lenz zu den Doppel- »Welt« einreichte. Insgesamt rund 60 Texte, die bis- begabungen der literarischen Szene. Lenz ist näm- lang nur in Zeitungen und Zeitschriften erschienen lich beides, er ist Romancier und Journalist, Er- waren, liegen hier zum ersten Mal versammelt vor zähler und Rundfunkautor. Seine Texte werden für – chronologisch geordnet und – im Gegensatz zur einen auf das Buch-Medium orientierten Markt ge- zwischen 1996 und 1999 erschienenen »Werkaus- schrieben und viele seiner Texte entstehen für das gabe in Einzelbänden« – mit einem kurzen bibliogra- technische Massenmedium Rundfunk. Zwar wäre fischen Anmerkungsteil versehen. eine solche Medienarbeit, solch ein multimediales Schreiben nicht weiter bemerkenswert – Ähnliches Reichlich Genuss für die Ohren bieten darüber hi- ließe sich von vielen Schriftstellern im Umfeld der naus zwei neue CD-Ausgaben, die mit zusammen »Gruppe 47« und auch außerhalb berichten –, doch knapp 40 Stunden Audiophonem allen Hörbuch- es gibt, wie die jetzt vorliegenden vier neuen Buch- Begeisterten eine lang anhaltende Freude berei- und CD-Veröffentlichungen zeigen, ganz besonde- ten. Auf acht CDs werden unter dem Label »Erzäh- re Strategien, wie Siegfried Lenz mit dem Medium lungen« N(W)DR-Aufnahmen aus den Jahren 1953 Rundfunk umgeht. Zunächst zu den Veröffentli- bis 1965 ediert. Der Bogen, den Hanjo Kesting als chungen im Einzelnen. verantwortlicher Herausgeber schlägt, beginnt mit der Erzählung »Mitwisser«, die Lenz im April 1953 Reichlich Textmaterial bieten die beiden neuen im Kulturellen Wort des NWDR las und die die bis- Buchausgaben. Der bibliophil gestaltete schma- lang älteste erhalten gebliebene Aufnahme dar- le Band »Selbstversetzung. Über Schreiben und stellt. Seinen Höhepunkt erreicht dieser Bogen mit Leben« versammelt neun der wichtigsten und be- dem sechsteiligen Erzählzyklus »Die Gleichgülti- kanntesten Essays dieses Schriftstellers. Zwischen gen«, einer Auftrags- oder Gelegenheitsarbeit, die 1961 und 1981 entstanden, trugen diese entschei- Lenz dem Literaturredakteur Wilhelm Asche über- dend dazu bei, das Selbst- und das Erscheinungs- gab und im November 1960 im Studio las. Den Ab- bild dieses Autors zu bestimmen. Marcel Reich-Ra- schluss bilden zum Teil größere Erzählungen wie nickis viel zitierten Urteile über Siegfried Lenz als ein »Ihre Schwester« und »Nachzahlung« (beide 1964), »Moralist ohne Zeigefinger« und als ein »gelassener die in dem ein Jahr später erschienenen Erzähl- Mitwisser« haben nicht zuletzt in der generationsty- band »Der Spielverderber« Eingang fanden. Viele pischen Bestimmung des Autors »Ich zum Beispiel. medienphilologische Fragen stellen sich. Es gibt in Kennzeichen eines Jahrgangs« (1966) und in des- dieser Edition Erzählungen, die offensichtlich aus- sen geografischer Verortung »Meine Straße« (1973) schließlich für das Medium geschrieben wurden ihren Ausgangspunkt. Im Essay »Der Sitzplatz ei- (vgl. »Mitwisser«); andere wurden im Hörfunk ge- nes Autors« (1965) widmet sich der Autor eben die- sendet und dort gleichsam ausprobiert, bevor sie ser Beständigkeit, Gelassenheit und Ruhe, die das in einem größeren Zyklus gedruckt erschienen (vgl. Publikum an dem Wahl-Hamburger zu schätzen die Erzählung »Das war Onkel Manoah«, die 1954 weiß. Denn Lenz versucht einen Pakt mit dem Le- geschrieben und gelesen wurde, 1955 dann in dem ser zu schließen, er will, dass Autor und Leser sich Zyklus »So zärtlich war Suleyken« Aufnahme fand). begegnen: »Jeder Ort ist der Literatur sozusagen Schließlich weist Kesting in seinem Booklet auf »Ab- recht. Nicht die Adresse des Autors bedeutet uns weichungen von der Sendefassung« hin, wenn ge- etwas, sondern die Frage, ob wir seine Konflikte sendete Texte in Buchpublikationen Aufnahme fan- und Probleme zu unseren Konflikten und Proble- den, aber Titel- und Textveränderungen erfuhren. men machen können« (S. 69). Hinzu kommt der mit über 1500 Seiten wahrlich umfangreiche Band Mit 28 Stunden »Rundfunkwerk« auf zwei mp3-CDs »Die Erzählungen«. Dickleibig versammelt er knapp bietet die gleichnamige Edition einen Fundus an, 170 Erzählungen, umschließt ein Lebenswerk, das der nahezu alles umfasst, was man sich wünschen zwischen 1948 und 2004 eine Welt in Geschich- kann: elf Originalhörspiele, darunter »Das schönste ten erschafft und die uns umgebende Welt immer Fest der Welt« (1955), »Zeit der Schuldlosen« (1959) wieder neu mit Geschichten erschließt. Im Gegen- und »Zeit der Schuldigen« (1960); dreizehn Features, satz zu den bislang vorliegenden Ausgaben von Er- darunter frühe Reiseberichte wie »Die Insel der Re- zählungen schließt diese Edition zum ersten Mal signation. Sardinische Augenblicke« (1953/54) Rezensionen 89 und gesellschaftskritische Analysen wie »Die neu- den Kunst, einer neuen Oralität gegenüber dem en Stützen der Gesellschaft« (1956). In der »Werk- gedruckten Wort diskutiert. Döblin setzte sich da- gruppe« »Essays, Feuilletons, Reisebilder, Zur Lite- für ein und prägte die Formel vom »Sprachsteller« ratur« versammelt Kesting 21 Aufnahmen der Jahre gegenüber dem »Schriftsteller«. Als der Nordwest- 1954 bis 2003 und in der »Werkgruppe« »Autobio- deutsche Rundfunk mit seinen begnadeten Erzähl- grafische Texte, Gespräche und Dokumente« noch talenten Walther von Hollander, Peter Bamm und einmal sechs Aufnahmen – hier als regelrechte Gregor von Rezzori an diese Tradition anknüpft, ist Trouvaille herausgehoben die in vielerlei Hinsicht der junge Siegfried Lenz mit dabei. Er beteiligt sich hörenswerte Sendung »Autoren als Discjockeys: an Stegreiferzählungen, also vor dem Mikrophon Siegfried Lenz« aus dem Jahr 1968. entwickelten Geschichten, die in den 50er Jahren im »Nachtprogramm« des Hamburger Senders ge- Liest und hört man in diesen literarischen Kosmos sendet werden und auf Band erhalten sind. Dane- hinein, so fällt auf, wie ökonomisch, wie haushäl- ben beteiligt sich Lenz intensiv an der Suche nach terisch der Autor mit seinen Einfällen, Grundmoti- radiophonen Prosaformen. »Funknovelle« lautet ven und Themen umgeht. Ein Beispiel: das Tauchen. der Untertitel seiner »Fischer von Jinjaboa«, einem »Der Hafen ist voller Geheimnisse« entsteht 1955, Stück, das die Hörspielabteilung damals betreute. 1960 folgt »Auf Wiedersehen unter Wasser. Vom Seine Radiogeschichte »Der Störenfried« findet im Tauchen und von Tauchern«. Dazwischen steht das Erstdruck Eingang in einen Band, der sich program- Tauchen im Mittelpunkt des 1957 erschienenen Ro- matisch den »Funkerzählungen« widmet. Lenz nutzt mans »Der Mann im Strom«. Lenz sagt in einem In- alle diese Gelegenheiten, um explizit als »Erzähler« terview: »Die Übersetzung einer Geschichte in ein aufzutreten. anderes Medium ist mir immer wie eine zusätzliche Härteprobe vorgekommen.« Aber im Gegensatz zu In all den Jahren entwickelt sich ein spezieller »Sieg- anderen Autoren wie etwa Max Frisch, der das Ra- fried-Lenz-Sound«, der heute so bekannt ist. Lenz dio als Lackmus-Test für seine Theaterarbeit ge- kann auf seine spezielle Sprecherleistung aufbau- nutzt hat, prüft Lenz weniger ganze Geschichten, en. Seit den 50er Jahren tritt er vor das Mikrophon, sondern nur einzelne Elemente. Die »Härteprobe«, spricht fast alle seine journalistischen wie literari- von der Lenz spricht, betrifft nur einzelne Bausteine. schen Texte selbst, er übernimmt Rollen in Hör- Diese unterwirft der Medienarbeiter Lenz allerdings spielen und Features. Kritiker bescheinigten seiner vielfachen Tests, er misst sie geradezu aus, betrach- Stimme, die eines »geborenen Geschichtenerzäh- tet sie von verschiedenen Seiten, und er schleift sie lers« zu sein: »ganz entkrampft, mit all seiner lie- sich jeweils zurecht. In diesem Zusammenhang ist benswürdigen Melancholie, die von soviel Selbst- auch das zu sehen, was mehrfach mit der journalis- ironie begleitet wird, daß sie niemals sentimental tischen Qualität seiner Recherchen für die Romane werden kann. «1 Es ist eine einfache, klare, sympa- und Erzählungen gerühmt wurde. Die Details in sei- thische Stimme. Sie ist fest, bestimmt und sie ist nen literarischen Arbeiten stimmen, sie sind genau einnehmend. Sie moduliert professionell, wirkt aber beobachtet, sie sind exakt wiedergegeben. Hier be- nicht gekünstelt. Sie ist eine ideale Stimme, wie sie gegnet einem auf Schritt und Tritt der journalistisch der Rundfunk nach 1945 gesucht und ausgeprägt ausgebildete Autor, aber auch der Medienarbeiter, hat. »Der Mikrophon-Sprechstil ist eine ganz ande- der seine Elemente erprobt hat. re Sache«, konnte man damals in der »Hör Zu« le- sen, er ist »intimer, persönlicher, behutsamer, locke- Eine zweite Beobachtung lässt sich machen. Sieg- rer, nüchterner, vertraulicher, direkter«2. Was für die fried Lenz nutzt viele seiner Rundfunkarbeiten von Reporter galt, die von der Welt zu erzählen hatten, Anfang an als strategisches Mittel, um sich als Er- das nutzt der Schriftsteller, um sich als »Erzähler« zähler auf dem Markt zu etablieren. Lenz knüpft da- zu etablieren – lange Zeit vor dem Boom der Hör- mit – bewusst oder unbewusst – an eine medien- bücher unserer Tage. Seit längerem schon nutzt der theoretische Debatte an, die schon früh mit dem Hausverlag von Siegfried Lenz dies, indem er folge- Siegeszug des neuen Mediums in der Weimarer Re- publik begann – die Reflexion auf Stimme und auf radiophones Schreiben. Führend bei diesen Über- legungen ist kein Geringerer als Alfred Döblin. 1929, 1 Rudolf Walter Leonhardt: Siegfried Lenz. In: Schriftsteller der Ge- auf einer Arbeitstagung der Reichs-Rundfunk-Ge- genwart. Deutsche Literatur. Dreiundfünfzig Porträts. Hrsg. von Klaus Nonnenmann. Olten und Freiburg i.Br. 1963, S. 218. sellschaft zum Thema »Dichtung und Rundfunk«, 2 Thilo Koch: Wort-Sendungen »funkgerecht«. In: Hör Zu! 3(1948), werden die neuen Möglichkeiten einer erzählen- Nr. 5, S. 4. 90 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) richtig Lesungen der literarischen Werke publiziert. dischem Klang und von den unterschiedlichen per- Mit den jetzt vorliegenden neuen Höreditionen, die sönlichen Lebenswegen der Künstler die Rede ist. zum 80. Geburtstag des Schrift- und Sprachstellers Dabei weisen drei der von Anat Feinberg befragten Siegfried Lenz erschienen sind, erhält man bemer- Musikschaffenden enge Verbindungen zum Medi- kenswerte Gelegenheiten, über viele Stunden hin- um Rundfunk auf: Michael Wieck, Eliahu Inbal und weg diesem Autor stimmlich zu folgen. Michael Gielen. Wieck, von 1952 bis 1961 erster Vi- Hans-Ulrich Wagner, Hamburg olinist am RIAS Symphonieorchester und von 1974 bis 1993 erster Geiger am RSO Stuttgart, schildert sein Schicksal als Sohn einer so genannten »Misch- Maren Köster/Dörte Schmidt (Hrsg.) ehe« sowie ab 1941 Zwangsarbeit und Deportation. unter Mitarbeit von Matthias Pasdzierny 1928 in Königsberg geboren, sind 1945 die Gefah- Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort. ren für ihn noch nicht gebannt, da er als Deutscher Remigration und Musikkultur drei Jahre in einem russischen KZ interniert wird. In München: edition text+kritik 2005, 276 Seiten, dem von Anat Feinberg sehr umsichtig geführten, Audio-CD. auf die Persönlichkeit des Gesprächspartners ein- gehenden Interview wird viel von der Atmosphäre Anat Feinberg deutlich, in der die Orchesterarbeit in den Nach- Nachklänge. kriegsjahren stattfand: Man wusste andeutungswei- Jüdische Musiker in Deutschland nach 1945 se voneinander, klammerte aber die Vergangenheit Berlin und Wien: Philo Verlag 2005, 280 Seiten. aus und stellte sich gegenseitig keine Fragen. In den Gesprächen mit den beiden Dirigenten Eliahu Inbal »Ich war mir von Anfang an darüber im klaren, daß und Michael Gielen wird dieser Hintergrund der mu- diese Programme mit einer eindeutigen Zielsetzung sikalischen Arbeit ebenfalls deutlich. Antisemitische und einer europäischen Perspektive aufgebaut wer- Bemerkungen nahmen beide nicht wahr, aber sie den müßten […]. Nach unserer Auffassung (die sich wussten um den latenten Antisemitismus ihrer Um- allerdings grundsätzlich von der des verflossenen gebung. Michael Gielen, geboren 1927 in Dresden Regimes unterscheidet) ist der Rundfunk ein Kul- und 1950 aus dem argentinischen Exil nach Wien turinstrument […].« Mit solch ambitionierten Wor- zurückgekehrt, machte diese Erfahrung. Gielen ten unterstrich der nach Kriegsende aus Paris zu- startete damals in der österreichischen Metropole rückgekehrte Heinrich Strobel im März 1947 die als Korrepetitor seine Karriere als Dirigent, die ihn »Arbeit und Aufgabe der Musikabteilung des Süd- unter anderem in den 80er Jahren als Chefdirigent westfunks«. Das Zitat des Baden-Badener Redak- des SWF-Symphonieorchesters wirken ließ. Gielen teurs führt ins Zentrum einer bislang wenig beach- fand erst spät, 1972 nach dem Tod seiner Mutter teten Forschungsfrage – nämlich der nach der Rolle und unter dem Eindruck der Lektüre jüdischer Mys- der Remigranten in der deutschen Musikkultur der tiker, zu einem Bewusstsein als Jude. Gleichwohl ist Nachkriegszeit, welche entscheidend von den die Zerrissenheit der Moderne eben auch eine spe- Klangkörpern, den Studioreihen und Redaktionen ziell jüdische Erfahrung, so Gielen: »Die Musik von der Rundfunksender mitgeprägt wurde. Die beiden Mahler und Schönberg ist wahrhaft eine Musik, die vorliegenden Publikationen verdienen in diesem Zu- den Zustand des Menschen und der Gesellschaft sammenhang Aufmerksamkeit. ausdrückt, während Richard Strauss oder ähnli- che Komponisten das ja verdrängen, verschmieren, Der Sammelband der beiden Musikwissenschaft- schönreden […]« (S. 87). lerinnen Maren Köster und Dörte Schmidt mit elf Aufsätzen, drei Interviews und einer profunden Bi- Solche Gespräche mit den Remigranten bilden bliografie steckt das weite Forschungsfeld von Emi- eine unverzichtbare Basis für die Forschung, wes- gration und Musikkultur erstmals systematisch ab. halb auch Interviews mit Zeitzeugen in die Publikati- Wie ein Kontrapunkt gesellt sich der ansprechend on von Maren Köster und Dörte Schmidt eingebun- aufgemachte Band von Anat Feinberg dazu. Die den sind. Ihr Sammelband, der aus den Vorträgen an der Hochschule für Jüdische Studien in Hei- auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in delberg lehrende Autorin legt darin 13 Gespräche Tutzing im Jahr 2003 entstand, bietet auf der bei- mit jüdischen Musikern vor, die in Deutschland le- gefügten CD Auszüge aus drei intensiv nachfra- ben und auftreten – »Erkundungsreisen«, wie Anat genden Arbeitsgesprächen – darunter mit Micha- Feinberg schreibt (S. 26), in denen viel von Motiva- el Gielen sowie dem österreichischen Komponisten, tion, Integration, jüdischem Selbstverständnis, jü- Textdichter, Radio- und Fernsehkabarettisten Ger- Rezensionen 91 hard Bronner. Das Ziel der Herausgeberinnen, die chen Forschung aufgenommen werden. Die Bedeu- »Erforschung der Remigration für die Musikkultur tung des nicht nur von Heinrich Strobel so empha- nach 1945 in größerem Umfang anzustoßen« (S. 9), tisch beschworenen »Kulturinstrument« Rundfunk nehmen darüber hinaus die wissenschaftlichen Stu- für die Remigration ist in Hinsicht auf dessen Rol- dien in Angriff, darunter: Philip V. Bohlmann über die le als Produzent und Auftraggeber, als Impulsgeber »Musik als Inszenierung kultureller Identität in der und Mittler für Remigranten und deren Werke noch Remigration« (S. 47–74), Dörte Schmidt über »As- keineswegs erfasst. pekte der Remigration Theodor W. Adornos und der Hans-Ulrich Wagner, Hamburg »Zweiten Wiener Schule« (S. 75–104), Gerd Rienä- cker über »Komposition als Vermittlung zwischen Vergangenheit und Zukunft« (S. 105–120), Peter Thomas Völkner (Hrsg.) Gülke über die »DDR als Umfeld für zurückgekehr- Internationales Radio in Europa. te Musikwissenschaftler« (S. 121–134) und Reinhard Situation und Zukunftsperspektiven Kapp über »Folgen der Emigration, Voraussetzun- Remscheid: Gardez! Verlag 2006, 104 Seiten. gen der Remigration – aufführungsgeschichtlich be- trachtet« (S. 174–231). Auslandsrundfunk und internationaler Rundfunk be- finden sich seit dem Ende des Kalten Krieges in ei- Explizit mit dem Rundfunk beschäftigt sich Ulf nem tief greifenden Umbruch. Die Ost-West-Kon- Scharlau (S. 155–173), der erstmals einen Überblick frontation hatte dem Auslandsrundfunk eine klare über die Remigration von Musikern im west- und Funktion und Legitimation und damit auch die not- im ostdeutschen Rundfunk nach 1945 gibt. Dabei wendige Finanz- und Personalgrundlage gegeben – muss sich der in programmgeschichtlichen Din- nach 1989/90 gerieten die Sender in eine Krise. Der gen ausgewiesene Stuttgarter Musikwissenschaft- Stellenwert, der den Auslandssendern beigemessen ler und SWR-Mitarbeiter gleich in mehrfacher Hin- wurde, sank deutlich. Erst in jüngster Zeit zeichnet sicht beschränken. So entstammen seine Beispiele sich – nicht zuletzt unter den Vorzeichen eines Be- ausschließlich dem Bereich der E-Musik und sie drohungsgefühls gegenüber fundamentalistischen konzentrieren sich – entsprechend dem von Maren Tendenzen in islamisch geprägten Gesellschaften Köster einleitend skizzierten »Konturen eines For- und Kulturen – eine erneuerte Wertschätzung für schungsfeldes« (S. 18–30) – vor allem auf die ers- den internationalen Rundfunk ab. Dabei wird aller- te und zweite Phase einer Rückkehr in den späten dings nicht mehr allein auf den Hörfunk zur Verbrei- 40er und 50er Jahren. Im Zentrum von Scharlaus tung des Programms gesetzt. Ausführungen stehen daher beispielsweise auch nicht Michael Gielen und Michael Wieck, sondern Der hier zu rezensierende Sammelband verspricht die vier biografischen »Fallbeispiele« Heinrich Stro- einen Überblick über die aktuelle Situation und bel, Musikchef des SWF; Harry Hermann Spitz, Lei- über Zukunftsperspektiven des Internationalen Ra- ter der Musikabteilung des NWDR in Hamburg; der dios; dabei wird aber auch auf die bisherige Ent- Komponist Paul Hindemith und der deutschstäm- wicklung des Auslandsrundfunks eingegangen. Der mige, ehemalige amerikanische Kontrolloffizier in Herausgeber Thomas Völkner – lange Jahre Verant- Stuttgart David Berger, der bis in die 80er Jah- wortlicher für den deutschen Kanal des World Radio re hinein einen musikalischen Brückenschlag zwi- Network – hat dafür Autoren gewinnen können, die schen den USA und Deutschland unternahm. Aber ihre Erkenntnisse aus der praktischen, meist leiten- auch einer weiteren Forderung der Herausgeberin- den Arbeit von in der Regel öffentlich-rechtlichen nen kann die rundfunkgeschichtliche Forschung Auslandsrundfunkanstalten schöpfen können. auf diesem Gebiet derzeit noch nicht nachkom- men. Wenn Dörte Schmidt in ihrem Einleitungses- In seiner Tour d’Horizont skizziert Thomas Völk- say »Über die Voraussetzungen unserer Musikkultur. ner, welche Auswirkungen die Entwicklung der Me- Die Aktualität der Remigration als Gegenstand der dientechnik und die damit verknüpften Veränderun- Musikgeschichtsschreibung« (S. 9–17) fordert, den gen bei den Mediennutzungsgewohnheiten haben. »spezifischen Beitrag der Remigranten, der remig- Dies ist der einzige Beitrag im Band, der mit Litera- rierten Ideen und Werke in diesem Prozess zu ver- turbelegen arbeitet. Die anderen Artikel behandeln stehen und zu überliefern« (S. 15) und nicht nur den konkrete Fallbeispiele, d.h. bestimmte Sender. Sie Blick auf Biografisches, sondern auch auf Kontex- können hier nicht ausführlich gewürdigt werden; of- te, Netzwerke und Strukturen zu lenken, so müsste fenbar handelt es sich in den meisten Fällen um Vor- dieser Impuls vor allem in der programmgeschichtli- tragsskripte. 92 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006)

Ein Teil der Beiträge geht dabei auf die Entwicklung Thema zu Rate zu ziehen.1 Der von Völkner gewähl- der Sender bis zu den Umstrukturierungen nach te Fokus auf Auslandsrundfunk, noch dazu in der der Wende von 1989/90 ein. Dabei handelt es sich implizit öffentlich-rechtlichen Organisationsform, aber um keine systematischen medienhistorischen kann eben nur einen Ausschnitt des Phänomens Untersuchungen. Miroslav Krupika etwa skizziert wiedergeben. die mittlerweile eingestellten deutschsprachigen Programme von Radio Prag und Ingrid Hüttmann Zu kurz kommt deshalb die Schilderung außereuro- zeichnet die wechselvolle Geschichte »Voice of the päischer Entwicklungen. Diese dürften auf die Ge- Mediterrean (VOM)« aus Malta nach. Vorwiegend staltung und Ausrichtung des europäischen Aus- auf die Vergangenheit bezogen ist auch das abge- landsrundfunks Rückwirkungen gehabt haben. druckte Gespräch mit dem ehemaligen Vizedirektor Auch Hinweise auf privatwirtschaftliche Initiativen von »Radio Polonia«, Aleksander Opalski. im Bereich des europäischen Auslandsrundfunks sucht man in den Beiträgen vergebens. So hätte Der andere Teil der Beiträge des Bandes widmet eine Würdigung des Projekts »German TV«, auch sich verstärkt den möglichen Zukunftsperspektiven gerade im Hinblick auf dessen Scheitern, instruk- des Auslandsrundfunks. Die derzeitige Chefredak- tiv sein können. Auch eine Einordnung global agie- teurin von DW-WORLD.DE Uta Thofern kann dabei render, längst transnational geprägter Medienkon- detailreich aus Sicht der Deutschen Welle berichten zerne vom Format der News Corp. eines Rupert und Völkners Einschätzungen aus der Einführung Murdoch wäre in diesem Zusammenhang reizvoll bestätigen. So werden, wie Thofern prognostiziert, gewesen. die Veranstalter von Auslandsrundfunk »im Digital- zeitalter« nicht mehr nur auf Hörfunk, sondern ver- Gleichwohl bietet der Sammelband Einblicke in die stärkt auch auf Fernsehen und Internet zurückgrei- gegenwärtige Arbeit verschiedener europäischer fen, um ihre Inhalte an die Zielgruppen zu bringen. Auslandsrundfunkstationen. Über diese ist neuere Denn auch in Schwellen- und Entwicklungsländern Literatur knapp. Zudem finden sich im Band zahl- gewinnen diese Medien rasch an Relevanz. Gleich- reiche Hinweise auf die Entwicklungen und Trieb- wohl sei die Hörfunkausstrahlung damit nicht ana- kräfte in einem aktuell höchst dynamischen Medi- chronistisch geworden: sie bleibt »für Krisen- und enbereich. Kriegsgebiete sowie Regionen mit eingeschränk- Christoph Hilgert, Hamburg ter Medienfreiheit alternativlos«, zudem können so breitere Gesellschaftsschichten erreicht werden, wie Uta Thofern zu Recht betont (S. 26). Eine wich- Manfred Mai/Rainer Winter (Hrsg.) tige Rolle werden »on-demand« abrufbare Inhal- Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft te spielen. Wie Nicholas D. Lombard in dem Band des Kinos. aufzeigt, konzentriert man sich deshalb etwa in der Interdisziplinäre Positionen, Schweiz inzwischen ganz auf das Internet als Platt- Analysen und Zugänge form für Auslandsprogramme. Köln: Herbert von Halem Verlag 2006, 320 Seiten.

Alle Beiträge zeugen von einer gewissen Wehmut Spätestens seit Beginn der 90er Jahre zählen die und Zukunftsangst der Programmmacher, auch Cultural Studies (mit ihren Vertretern aus Gender wenn sie sich unterschiedlicher Beispiele bedienen. und Race Studies) zu den prominentesten und So entstehen – wie häufig in Sammelbänden – par- einflussreichsten Forschungsrichtungen der ang- tielle Redundanzen. lo-amerikanischen Filmwissenschaft. Die deutsch- sprachige Forschung hat sich ihrer Theoreme und Die Aufsätze des Bandes skizzieren, wie vom Her- Modelle jedoch nur zögerlich angenähert. Die em- ausgeber beabsichtigt (S. 22), die Lage des europä- phatische Beschäftigung britischer und amerikani- ischen Auslandsrundfunks. Sie sind dabei durchaus scher Forscher mit Phänomenen der Populärkultur programmatisch, als Statements für eine Fortset- kritisierten zunächst vor allem jene, die Massenme- zung der Rundfunkarbeit, zu verstehen. Die Beiträ- dien in der Tradition der Frankfurter Schule als glei- ge sind deshalb eher weniger für eine erste Orien- tierung oder eine abschließende wissenschaftliche Einordnung und Bewertung der Situation des Aus- 1 Etwa: Harald Kuhl: Internationaler Auslandsrundfunk. In: Interna- landsrundfunks gedacht. Zumindest empfiehlt es tionales Handbuch Medien 2002/03 (hrsg. v. Hans-Bredow-Institut). sich zusätzlich eine Überblicksdarstellung zum Baden-Baden 2002, S. 149–161. Rezensionen 93 chermaßen uniformierte Werkzeuge zur Etablierung Cultural Studies zentralen Paradigma bietet er eine und Repetition der herrschenden kapitalistischen überzeugende Kritik an einer der wichtigsten kon- Ideologeme verstanden. Erst seit wenigen Jahren kurrierenden filmwissenschaftlichen Forschungs- erscheinen nunmehr auch in Deutschland regelmä- richtungen, der kognitiven Filmtheorie David Bord- ßig Untersuchungen populärkultureller Phänomene, wells und Noel Carrolls. Winters Argumentation geht die nicht nur die Dichotomisierung von Hoch- und zudem am Rande auf verschiedene Filmgenres ein Massenkultur zu umspielen versuchen, sondern die und berührt damit ein Thema, das für den gesamten auch Aspekte von Produktion und individueller Re- Band von besonderer Bedeutung ist. Er folgt einer zeption in den Vordergrund stellen. Beobachtung, die die moderne filmwissenschaftli- che Genretheorie bereits konstatiert hat1. Gesell- Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, schaftliche Dichotomisierungen wie Race und Gen- der eine Konferenz aus dem Jahr 2003 dokumen- der können insbesondere entlang filmischer bzw. tiert, zählen zu den wichtigsten deutschsprachi- medialer Kategorisierungssysteme wie Genres gen Vorreitern der Cultural Studies. Ihre Einleitung sichtbar gemacht werden. Auch in den folgenden liest sich denn auch wie ein nachgereichtes Prälu- Beiträgen, darunter Lothar Mikos’ Forschungsdar- dium zu diesem Trend: Mit großer Force beklagen stellung zu »Film und Fankulturen«, tauchen unter- sie – durchaus zu Recht – die langjährige Selbst- schiedliche Genres wiederholt auf. beschränkung der deutschen Filmwissenschaft auf ästhetische und textimmanente Zusammenhän- Neben der Genretheorie refokussiert der Sammel- ge, die noch dazu einen idealtypischen Zuschauer band in Brigitte Hipfls Beitrag mit der psychoana- voraussetzt. Stattdessen propagieren sie die Not- lytischen Filmtheorie einen weiteren ‚Klassiker‘ der wendigkeit einer Annäherung von Medien-/Film- Filmwissenschaft. Ihr gerät die Gegenüberstellung wissenschaft und Soziologie, insbesondere unter zu den Cultural Studies allerdings etwas zu strikt, so Berücksichtigung von (der nach wie vor großen Re- dass leider wichtige, beide Denkschulen verbinden- levanz des Massenmediums Film angemessenen) de Analysen wie Carolyn J. Clovers »Men, women Gesellschaftsanalysen. Diese Forderung in inter- and Chain Saws« oder Linda Williams »Hard Core« disziplinärer Fokussierung einzulösen, darum be- außen vor bleiben. mühen sich die ansonsten durchaus differenten Einzelbeiträge des Bandes. Beinahe die Hälfte des Bandes nehmen »Analysen und Fallstudien« ein, und auch hier operieren allein Im ersten von drei Abschnitten mit dem Titel »Posi- vier der sieben Beiträge mit Filmgenres: Am gelun- tionen« untermauert Manfred Mai die Ausführungen gensten Ursula Ganz-Blättler, die die Wiederho- der Einleitung, indem er die Interdependenzen von lung als wichtigstes Element im Katastrophenfilm- Film und Gesellschaft anhand der Ambivalenzen Revival der 90er Jahre herausarbeitet, und Markus zwischen dem Film als Kunstwerk und seinen öko- Wiemker, dem es neben einer prägnanten Kurzdar- nomischen Rahmenbedingungen aufzeigt. Lorenz stellung der Genretheorie gelingt, mit dem Simula- Engells Beitrag bietet einen kühnen Entwurf, der auf tionsfilm ein noch in der Entstehung befindliches der einen Seite eine eigenständige Epochenstruk- Genre zu skizzieren. Die hier versammelten Beiträ- tur der Filmgeschichte entwickelt, um die Zusam- ge sind auf populärkulturelle Phänomene der Ge- menführung ästhetisch-geisteswissenschaftlicher genwart gerichtet; die historische Relevanz derar- und soziologisch-kulturwissenschaftlicher Frage- tiger Untersuchungen klingt in der Untersuchung stellungen zu erlauben, sich auf der anderen Seite zu Science-Fiction-Filmen von Rainer B. Jogschi- aber auch darum bemüht, das Medium Film in eta- es an. blierte Modelle der Mediengeschichtsschreibung einzupassen. Angela Kepplers Beitrag fällt hier ab: Zwar wird in den Beiträgen immer wieder auf die In ihrer Diskussion der Darstellbarkeit des immer in Notwendigkeit verwiesen, außerfilmische Kontex- Bewegung befindlichen und mit Ton kombinierten te wie die Rahmenbedingungen bei Produktion und Filmbildes bleiben wichtige theoretische Vordenker Rezeption in die Analyse mit einzubeziehen, jedoch dieses Problems, darunter Raymond Bellour und kommt dies im eigentlichen Analyseteil etwas zu Michel Chion, unerwähnt. kurz. Dass einige der im Band vertretenen Autoren

Der Abschnitt »Zugänge« setzt ein mit Rainer Win- ters Reaktualisierung von Stuart Halls Encoding/ 1 Claudia Liebrand/Ines Steiner (Hrsg.): Hollywood hybrid. Decoding-Modell. Ausgehend von diesem für die Marburg 2003. 94 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) nicht aus dem engeren Umfeld der Film- oder Me- museums, Elke Schieber, mit dem Szenaristen und dienwissenschaft stammen, wird gelegentlich bei Prosaisten Angel Wagenstein 2003 in Sofia führte. der verwendeten Terminologie deutlich – so wer- Seine bewegende Biografie verdeutlicht die beson- den Fernsehen und Film in manchen Passagen dere Konfliktlage, in der sich der jüdische Kommu- nicht ausreichend medial differenziert. Dennoch: nist bulgarischer Herkunft sowohl zur Zeit der na- Hier liegt ein in vielen Beiträgen überzeugendes tionalsozialistischen Expansion als auch während Kompendium vor, das das Potenzial einer sinnvol- der stalinistischen Phasen osteuropäischer Poli- len Verbindung von Film- und Gesellschaftsanalyse tik befand. Am Beispiel seiner Arbeiten für »Ster- deutlich aufzeigt. Und damit stellt der vorliegende ne« (1959) und »Goya« (1971) in der Regie von Kon- Sammelband einen wichtigen Schritt in der Popu- rad Wolf berichtet der Drehbuchautor konkret über larisierung von Konzepten der Cultural Studies im die zahlreichen Eingriffe von Seiten einer inquisito- deutschsprachigen Raum dar. rischen Kulturbürokratie. Gereon Blaseio, Köln Die Mitherausgeberin des DEFA-Jahrbuches, Erika Richter, widmet sich ihrer damaligen Studienkollegin DEFA-Stiftung (Hrsg.) und heutigen Autorin Helga Schütz, aus deren Fe- (Erika Richter/Ralf Schenk/Claus Löser) der bislang sieben Spielfilme und zwölf Prosaarbei- apropos: Film 2005 – Das Jahrbuch ten stammen. Erika Richter liefert damit die längst der DEFA-Stiftung. fällige Würdigung einer publikumsscheuen Schrift- Berlin Bertz+Fischer Verlag 2006, 328 Seiten. stellerin. Anders als viele ihrer Kollegen wie etwa Wolfgang Kohlhaase oder Ulrich Plenzdorf schrieb Das sechste DEFA-Jahrbuch wird das letzte sein: Schütz parallel zu ihren Szenarien kontinuierlich Er- Die herausgebende Stiftung hat sich entschlossen, zählungen und Romane, die sich oft auf biografi- die ambitionierte Reihe mit nun insgesamt an die sche Begebenheiten stützen. Richter konzentriert hundert Beiträgen einzustellen. Trotz positiver Kri- sich hier auf die Filme »P.S.« und »Fallada – Letz- tiken und ungeachtet des durchweg hohen Niveaus tes Kapitel« (1978 bzw. 1988 in der Regie von Ro- und der wissenschaftlichen wie historischen Rele- land Gräf). An ihnen wird das kreative Spannungs- vanz der meisten der hier regelmäßig vorgestellten feld der unkonventionellen Szenarien der Schütz Forschungsergebnisse oder Erinnerungsberichte deutlich. Im Kapitel »Geschichte und Geschich- konnte sich die ansprechend aufgemachte Publika- ten« berichtet des Weiteren der frühere Direktor der tion nicht auf dem Buchmarkt durchsetzen. Der fi- Leipziger Dokfilm-Woche, Fred Gehler, über seine nanzielle Aufwand schien angesichts der niedrigen Anfänge als Filmkritiker. 1961 wurde er auf den Re- Verkaufszahlen und der zur Verfügung stehenden gisseur Gerhard Klein aufmerksam. An Klein inter- Zuschüsse nicht mehr gerechtfertigt. So konzent- essieren ihn vor allem die Berlin-Filme über die All- rieren sich die begrenzten Mittel in Zukunft auf die täglichkeit der noch offenen Stadt der 50er Jahre, bereits 2004 begonnene und einfacher ausgestat- die vom Stil des italienischen Neorealismus geprägt tete »Schriftenreihe der DEFA-Stiftung«, in der nun waren. Gehler gelingt es auf präzise und einfühlsa- geförderte Studien mit einem einheitlichen Erschei- me Art, die Einflüsse dieser moralischen, inhaltli- nungsbild im Eigendruck oder in Kooperation mit chen und ästhetischen Haltung nachzuweisen. Verlagen vorgestellt werden. Die französische Wissenschaftlerin Caroline Moi- Die vorliegende Ausgabe des Jahrbuches vereint ne betrachtet Filme von Wolfgang Kohlhaase und noch einmal verschieden akzentuierte Aufsätze liefert einen sachlichen Überblick über wesentli- über die Geschichte und die Rezeption des DDR- che Karrierestufen des bekannten Drehbuchautors. Films, ergänzt um einige Beiträge zur gegenwärti- Abschließend widmet sich Claus Löser in sehr per- gen Kinoproduktion. Die wie in den vorausgegange- sönlicher Manier der Biografie des oppositionellen nen Ausgaben heterogen angelegte Textsammlung »Spielverderbers« Thomas Brasch. Der Autor, Über- – vom persönlich gefärbten Essay bis zur wissen- setzer, Theatermann und Regisseur hatte den Film schaftlich untermauerten Analyse – ist in vier Ab- als »die Königklasse der künstlerischen Artikulation« schnitte gegliedert. (S. 63) begriffen, aber selbst nur drei Kinoarbeiten nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik realisie- Am Anfang des ersten Kapitels »Geschichte und ren können. »Zu Engel aus Eisen« (1981), »Domino« Geschichten« steht ein ausführliches Gespräch, (1982) und »Der Passagier« (1987) legt Löser durch- das die Sammlungsleiterin des Potsdamer Film- aus produktive Interpretationsansätze vor. Rezensionen 95

Im zweiten Kapitel des DEFA-Jahrbuchs »Deutsch- zum anderen Jörg Foths provozierendes Endzeitbild landbilder im Film« wendet sich zunächst die freie »Letztes aus der DeDaeR« (1990). Autorin und Filmemacherin Sonja M. Schulz der jün- geren deutschen Kinoproduktion zu. Sie arbeitet die Der Publizist Matthias Dell erläutert zunächst an- gängigen Stereotype bei der filmischen Auseinan- hand theoretischer Modelle, wie sich kollektive Er- dersetzung mit Themen im Kontext des »Dritten innerung konstituiert bzw. die Konstruktion von Reichs« heraus. Die intellektuellen Erklärungsver- Vergangenheit funktioniert. Auf dieser Grundlage suche oder die ironischen und artifiziellen Brechun- analysiert er drei Gruppen von Nachwende-Filmen gen früherer NS-Analysen seien ihrer Ansicht nach und ihre Motive, die jeweils spezifisch andere Bilder von konventionellen Melodramen abgelöst worden. einer nicht mehr existenten DDR entwerfen: die Re- In den zahlreichen Filmen, von »Comedian Har- giearbeiten mit einem »DEFA-Blick« (»Der Tango- monists« (1997) über »Aimée & Jaguar« (1999) bis spieler« von Roland Gräf 1990, »Der Verdacht« von »Rosenstraße« (2003), geschehe nun »die Relekt- Frank Beyer 1991 und »Verfehlung« von Heiner Ca- üre des Faschismus als Verhinderung des Privaten row 1991), einem »West-Blick« (»Das Versprechen« Glücks« (S. 83). von Margarethe von Trotta 1994 und »Die Stille nach dem Schuß« von Volker Schlöndorff 2000) sowie Weiterhin bietet das zweite Kapitel eine Zusammen- mit einem »Pop-Blick« (»Sonnenallee« von Leander fassung der umfänglichen und bereits publizier- Haußmann 1999 und »Good bye, Lenin!« von Wolf- ten Untersuchung des Marburger Wissenschaft- gang Becker 2003). lers Matthias Steinle zu den »Deutsch-deutschen Feindbildern«. Er seziert die Muster der jeweiligen Der Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel hinter- Feindbilder im »gemeinsamen Kommunikations- fragt das Bild der Deutschen im russischen, sow- raum« (S. 89) des Kalten Krieges als eine deutsch- jetischen und postsowjetischen Film. Vor allem die deutsche Propagandageschichte mit spezifischen Feindbilder aus Kriegstagen wirken als Trauma nach Motiven und Repräsentationsstrategien. Beide Sei- und werden bis heute zur Stabilisierung des natio- ten haben (schwer) verfügbare Realaufnahmen vor nalen Selbstbewusstseins instrumentalisiert. Ort mit Wochenschau-Material bzw. zusätzlichen Danach erfolgt ein Sprung in das aktuelle Kino. Der Archivquellen kompiliert und mittels gezielter Kom- Publizist und Lektor Michael Töteberg beschreibt mentare oder ausgesuchter Zeitzeugen politisch in- den Werdegang des als Tragikkomödie angelegten strumentalisiert. DDR-Rückblicks »Good bye, Lenin!«: seine über- raschende Karriere, die 1992 mit einem abgelehn- Dietrich Kuhlbrodt liefert einen Zeitzeugenbericht ten Drehbuch begann und mit seiner Premiere auf über die Präsenz von DEFA-Beiträgen auf den der Berlinale 2003 sowie seinem Status als Kultfilm Oberhausener Kurzfilmtagen seit 1956, die dem und der Präsenz als Blockbuster in über 60 Län- sozialistischen Film unter dem verbindenden Mot- dern ihren Höhepunkt fand. Der kommerzielle Er- to »Wege zum Nachbarn« trotz einiger Widerstän- folg und kulturelle Transfer des Films war möglich de stets ein Forum geben wollten. Er schildert als geworden, weil er das Abschiedsmotiv und den My- Jurist und Filmkritiker die vielschichtigen Auseinan- thos vom sozialen Glück spielerisch bedient hatte dersetzungen über die Beteiligung von DDR-Filmen, und sich damit international als durchaus kompa- die mal als offizielle Propaganda, mal als künstleri- tibel erwies. sches Statement für negative wie positive Schlag- zeilen sorgten. Im Kapitel »Aus der Geschichte der DEFA« setzt sich die Themenvielfalt der vorangegangenen Beiträge Die Germanistin Reinhild Steingröver untersucht das fort. Der Historiker Detlef Kannapins untersucht bislang kaum beleuchtete Verhältnis der DEFA-Re- die Nachwirkungen des NS-Films auf den ostdeut- gisseure zum Staat DDR und damit die stets ambi- schen Film, beginnend mit einer Darstellung der valente Beziehung, die sich zwischen Loyalität und Defizite der früheren DDR-Forschung. Danach ver- Distanz bewegte. Sie geht sehr differenziert dem sucht er nachzuweisen, wie stark der NS-Film und schwierigen Thema Geist und Macht anhand zwei- seine Protagonisten viele der frühen DEFA-Arbei- er später DEFA-Produktionen nach, die sowohl auf ten stilistisch prägten: eine »ästhetische Erblast« (S. die »verlorene Utopie Sozialismus« (S. 119) verwei- 204), die an konkreten Beispielen erläutert wird. sen als auch indirekt die gesellschaftliche Rolle des Der ehemalige Dokumentarfilmregisseur Günter desillusionierten Filmemachers reflektieren: zum ei- Jordan beleuchtet das Schicksal eines ambitionier- nen Egon Günthers resignativer Film »Stein« (1991), ten Filmprojekts über das Leben von Carl von Os- 96 Rundfunk und Geschichte 3–4 (2006) sietzky, der als engagierter Friedenskämpfer und Stärken und Schwächen des Jahrbuchkonzeptes. Demokrat der faschistischen Gewalt zum Opfer ge- Auf der einen Seite verweist eine solche Zusam- fallen war. Er legt schlüssig dar, dass das Unterneh- menstellung auf gegenwärtig aktuelle Themen und men Anfang der 50er Jahre nicht aufgrund ideolo- neue Forschungsansätze; zudem gibt sie Anregun- gischer Vorbehalte gegenüber der pazifistischen gen für die weitere, intensivere Auseinandersetzung Haltung des Herausgebers der »Weltbühne« ge- mit dem einen oder anderen Aspekt der DEFA-Ge- scheitert war, sondern letztlich an den unterschied- schichte und konkret mit bislang zu wenig beachte- lichen Ansprüchen der beteiligten Autoren Alfred ten Filmen bzw. involvierten Personen. Auf der an- Kantorowicz, Axel Eggebrecht und Rudolf Leon- deren Seite aber müssen sich die Autoren auf eine hard, die der komplexen Figur des »heimatlosen Lin- begrenzte Darstellung beschränken, so dass oft- ken« konzeptionell nicht gerecht werden konnten. mals nur ein erster Problemaufriss möglich ist. In diesen Fällen bietet die monothematische »Schrif- Als Beteiligter gibt Dieter Wolf dann einen Einblick tenreihe der DEFA-Stiftung« fortan einen Ausweg, in die institutionelle Entwicklung des DEFA-Spiel- weil hier einzelne Facetten näher betrachtet, ent- filmstudios, das mit der Bildung filmkünstlerischer sprechende Kontexte berücksichtigt und zusätzli- Dramaturgengruppen Anfang der 60er Jahre eine che Archivmaterialien publik gemacht werden kön- partielle Dezentralisierung erlebte. Am Beispiel der nen. Dieses Konzept wurde mit den ersten Bänden weniger prominenten und kurzlebigen Arbeitsge- bereits umgesetzt (siehe www.defa-stiftung.de). Es meinschaft »Solidarität« und deren Filme demonst- wäre zu wünschen, dass es gelingt, die Reihe auf riert er die Potenziale und Grenzen solcher Reform- Dauer fortzuführen und weiter zu profilieren. bestrebungen in einem planwirtschaftlichen und Thomas Beutelschmidt, Berlin politisch gelenkten Umfeld. Die gewisse Selbst- ständigkeit und Eigenverantwortung endeten je- doch jäh mit den Beschlüssen des unrühmlichen SED-Verbotsplenums 1965.

Last not least zeichnet der Publizist Günter Agde die ungewöhnliche Biografie der ersten DEFA-Re- gisseurin Eva Fritzsche nach, die sich seit 1947 zu- nächst dem Kurzfilm widmete und nach dem Schei- tern ihres dokumentarisch-fiktionalen Ansatzes die Leitung der Synchronabteilung innehatte. Nach 1956 arbeitete die überzeugte, aber stets aufmerk- sam kritische und damit unbequeme Kommunistin freiberuflich für das Theater sowie als Autorin und Designerin: ein widersprüchliches Leben unter den Bedingungen der DDR-Gesellschaft.

Traditionell schließt das Jahrbuch mit einem um- fangreichen und informativen »Nachspann«. Er ent- hält neben den Berichten über die Aktivitäten – hier wären vor allem die umfangreichen Filmreihen in Wien und New York hervorzuheben – Förderent- scheidungen und Preise der DEFA-Stiftung sowie neben einer Bibliografie und neuen DVD-Veröffent- lichungen noch weitere Kurzbeiträge: Wolfgang Klaue würdigt die Gründung des früheren Staatli- chen Filmarchivs der DDR; Barton Byg, Séan Allen und Keiko Yamane geben jeweils einen Überblick über die DEFA-Rezeption und -Forschung in den USA, Großbritannien und Japan.

Allein die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der hier vorgestellten Beiträge offenbaren noch einmal die Bibliografie

Zeitschriftenlese 94 (1. 1.– 30. 6. 2006)

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Tagungsband zu »Relating Radio« Jahrestagung des Studienkreises Rundfunk und Geschichte 2007 zum Verhältnis Betreff: Das Radio – So allgemein und gleichzeitig von Medien und Politik im 20. Jahrhundert. konkret ließe sich das Anliegen der zurückliegenden Von der Politisierung der Medien Tagung »Relating Radio« paraphrasieren. Es ging zur Medialisierung des Politischen? um das Radio als Beziehungsgeflecht: Praxis, The- orie, Auftrag, Kunst, Geschichte und vor allem sei- Vom 18. bis 20. Januar 2007 findet die Jahrestagung ne Zukunft. Am 4. und 5.Oktober fand diese Tagung des Studienkreises Rundfunk und Geschichte statt. statt, an der sich der Studienkreis als Tagungsaus- Ihr Thema lautet: »Von der Politisierung der Medien richter beteiligte. An zwei Tagen trafen sich Radio- zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis praktiker, Rundfunktheoretiker, Historiker und Ra- von Medien und Politik im 20. Jahrhundert«. Veran- diokünstler und diskutierten zum Teil kontrovers die stalter dieser Tagung sind neben dem Studienkreis technischen, rundfunkpolitischen und angebots- Rundfunk und Geschichte (StRuG) die Fachgrup- strukturellen Entwicklungen »ihres« Mediums. Ein pe Kommunikationsgeschichte der DGPuK sowie Tagungsbericht ist in den »Fernseh-Informationen« das Zentrum für Zeithistorische Forschung, Pots- 10/2006, S.25–28 enthalten. dam (ZZF). Der Tagungsband, von den Hauptinitiatoren der Ver- anstaltung herausgegeben, wird im November er- Das 20. Jahrhundert war im Hinblick auf Politik nicht scheinen: nur ein »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm), das etwa durch den Gegensatz von Demokra- Relating Radio. tie und Diktatur gekennzeichnet war, es lässt sich Communities Aesthetics Access – Beiträge auch als eine Zeit der Vergesellschaftung von Poli- zur Zukunft des Radios, hrsg. von Golo Föllmer tik beschreiben. Gemeint ist damit die – schon im 19. und Sven Thiermann, Leipzig 2006 Jahrhundert einsetzende – Involvierung immer wei- terer Teile der Bevölkerung in politische Diskurse: Das Radio befindet sich im Um- Politik konnte zunehmend weniger in Arkanberei- ���������� bruch: Internet und mobile Tech- chen stattfinden, sondern hatte sich der (inszenier- ����� nologien lassen neue Formen ten) Unterstützung breiter Bevölkerungskreise zu ������������������������� ������ des ,Hörfunks‘ wie Ableger wu- versichern. »Moulder« und »Mirror« der Vergesell-

����������������������� chern. Das Prinzip Radio expan- schaftung von Politik sind die Massenmedien, de- ���������� diert, und zugleich schrumpft es ren Nutzung sich nun schichtübergreifend zur All-

������������������������������������������������� in der Form, wie wir es bisher tagspraxis entwickelte. kannten. Reichweiten dehnen sich spielend ins Globale aus Durch die Ausweitung von Öffentlichkeiten sowie und treffen kleinste lokale Interessengruppen. Sen- die Entwicklung neuer audio-visueller und elektro- deformate und Archivkonzepte müssen in der Fol- nischer Medien gestaltet sich das Verhältnis zwi- ge veränderte Hörbedürfnisse und Zielgruppen wi- schen Politik und Medien zunehmend komplex. derspiegeln. In dynamischen Aushandlungsprozessen werden Wie verändert sich in diesem Prozess die Ästhe- Wirklichkeiten konstruiert, »Politik« im 20. Jahr- tik des Radios? Bilden Radiomacher und -hörer im hundert erscheint aus dieser Perspektive geradezu 21. Jahrhundert neue Formen von Gemeinschaften? als »Produkt« massenmedial vermittelter Diskurse, Welche soziale und politische Bedeutung hat der er- oder anders ausgedrückt: Darstellung und Herstel- leichterte Zugang zum Radio als Produktionsappa- lung von Politik fallen zunehmend zusammen. rat? Was lehrt die beschleunigte Radioentwicklung in den Umbruchstaaten Osteuropas? Ziel der Tagung ist es, die umfassende und sich Produzenten und Hörer müssen sich heute auf ein wandelnde Rolle der Medien bei der Vergesell- neues Radio einigen. 32 Beiträge zu Geschich- schaftung von Politik für das ganze 20. Jahrhundert te, Gegenwart und Zukunft dieses Mediums ge- in den Blick zu nehmen und somit Erkenntnisse über ben Hinweise, welche Richtungen das Radio ein- grundlegende und langfristige Prozesse im Verhält- schlägt. nis von Politik und Medien zu gewinnen. Die aktuel- 106 Rundfunk und Geschichte 1–2 (2006) len Diskussionen über dieses Verhältnis werden so um eine historische Dimension erweitert.

Der dazu unter anderem in der letzten Ausgabe 1–2 von »Rundfunk und Geschichte« veröffentlichte Call for Papers wurde im Oktober 2006 geschlossen und von den Veranstaltern erfolgreich ausgewertet. Zu- sammen mit mehreren Grundsatzreferaten führen- der Kommunikations-, Medien- und Geschichtswi ssenschaftler/innen kann so eine Auswahl interes- santer Themenvorschläge vorgestellt werden. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Ausga- be von »Rundfunk und Geschichte« stand das voll- ständige Tagungsprogramm noch nicht endgültig fest. Eine Einladung des Vorsitzenden des Studien- kreises Rundfunk und Geschichte wird die Mitglie- der rechtzeitig erreichen und mit dem genauen Ver- lauf bekannt machen. Die Jahrestagung beginnt am 18. Januar 2007 um 20.00 Uhr im ARD-Hauptstadt- studio (Wilhelmstraße 67a, 10117 Berlin). Die Fach- tagung selbst findet am 19. und 20. Januar 2007 im Deutschen Bundestag statt (Paul-Löbe-Haus, Kon- rad-Adenauer Str. 1, 10557 Berlin). Hierfür ist eine Anmeldung erforderlich.

Kontakt (Veranstalter): Dr. Klaus Arnold, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt: [email protected] Dr. Christoph Classen, Zentrum für Zeithistorische Forschung: [email protected] Dr. Susanne Kinnebrock, Universität : [email protected] Professor Dr. Edgar Lersch, SWR Stuttgart: [email protected] Dr. Hans-Ulrich Wagner, Universität Hamburg/Hans-Bredow-Institut: [email protected]

Kontakt (Anmeldung): Veit Scheller, Studienkreis Rundfunk und Geschichte – Schatzmeister – c/o ZDF, ABD/Übergreifende Funktionen, Unternehmensarchiv, 55100 Mainz: [email protected] Herausgeber: Studienkreis Rundfunk und Geschichte e.V. www.rundfunkundgeschichte.de Redaktionsanschrift: Dr. Hans-Ulrich Wagner (Aufsätze/Dokumentation), Hans-Bredow-Institut, Forschungsstelle zur Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland, E-Mail: [email protected] Christoph Rohde (Forum), NDR/Dokumentation und Archive, E-Mail: [email protected] Claudia Kusebauch (Rezensionen), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, E-Mail: [email protected] Steffi Schültzke (Redaktion/Koordination), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Medien- und Kommunikationswissenschaften, MMZ, Mansfelder Str. 56, 06108 Halle, Tel. 0345– 552 35 89, E-Mail: [email protected] Herstellung: Michael Puschendorf, Halle Druck: Druckerei Teichmann, Halle

Redaktionsschluss: 15. Oktober 2006