Ludwig Boltzmann-Institut für

Historische Sozialwissenschaft

Projektberichte

Die Sozialstruktur der illegalen NS- Bewegung in Österreich 15 (1933–1938)

Projektleiter: Gerhard Botz

Kurt Bauer, Gerhard Botz und Wolfgang Meixner

unter Mitarbeit von Heinrich Berger, Alexander Prenninger und Gerhard Siegl

Jubiläumsfondsprojekt Nr. 12061 Wien April 2011

Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, Wien Cluster Geschichte der LBG

Projektberichte 15

Die Sozialstruktur der illegalen NS- Bewegung in Österreich (1933–1938)

von

Kurt Bauer, Gerhard Botz und Wolfgang Meixner

unter Mitarbeit von

Heinrich Berger, Alexander Prenninger und Gerhard Siegl

Projektleiter: Gerhard Botz

Abschlussbericht

Jubiläumsfondsprojekt Nr. 12061 Wien 2011

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Inhalt

Abkürzungen ...... 7

A Vorbemerkungen ...... 9

A.1 Exposee ...... 9 A.1.1 Einleitung ...... 9 A.1.2 Forschungsstand ...... 10 A.1.3 Problemfelder ...... 12 A.1.3.1 Problemfeld: integrierender sozialhistorischer Rahmen ...... 12 A.1.3.2 Problemfeld: Datenqualität und Repräsentativität der verfügbaren Quellen ...... 13 A.1.3.3 Problemfeld: korrekte Zuordnung der Berufsangaben in ein adäquates Sozialstrukturmodell ...... 14 A.1.3.4 Problemfeld: Sozialstrukturmodelle ...... 15 A.1.4 Forschungsdesign ...... 17 A.1.4.1 Historischer und arbeitstechnischer Rahmen ...... 18 A.1.4.2 Methoden ...... 20 A.1.4.3 Quellen ...... 21 A.1.4.4 Projektteile ...... 21 A.1.5 Zusammenfassung ...... 27

A.2 Arbeitskonzept ...... 28

A.3 Projektverlauf ...... 29

B Tätigkeitsbericht ...... 33

B.1 Projektteil: Analysen von Stichproben aus der NS-Mitgliederkartei 1918/1933– 1938/45 (Gerhard Botz) ...... 33

B.2 Projektteil: 11.000 ausgebürgerte illegale Nationalsozialisten aus Österreich 1933– 1938 (Wolfgang Meixner) ...... 34

B.3 Projektteil: Illegale Nationalsozialisten in Wien 1933–1938 („Wien-Erhebung“) (Kurt Bauer) 38

B.4 Projektteil: Die nationalsozialistischen Häftlinge der österreichischen Anhaltelager 1933–1938 („Wöllersdorf-Erhebung“) (Kurt Bauer) ...... 40 B.4.1 Der Bestand ...... 41 B.4.2 Problempunkte ...... 43 4

B.4.3 „Dichtes“ Material ...... 44 B.4.4 Vollerfassung der gesamten Aktenbestandes ...... 46 B.5.1 Öffentlichkeitsarbeit: Presseartikel „Wir haben nichts zu fürchten“ (Kurt Bauer) 50 B.5.2 Erste wissenschaftliche Präsentation auf dem Österreichischen Zeitgeschichtetag 2008 ...... 56

C Ergebnisse ...... 59

C.1 Klassen, Schichten, Milieus und Probleme – methodische Überlegungen zur Sozialstrukturanalyse ...... 59 C.1.1 Probleme der sozialen Kategorienbildung auf Basis der NSDAP- Mitgliederkartei am Beispiel der „Alten Kämpfer“ (Gerhard Botz) ...... 59 C.1.1.1 „Subsumierendes Verfahren“ ...... 60 C.1.1.2 „Aszendierendes Verfahren“ ...... 61 C.1.1.3 Erhebung zusätzlicher Informationen ...... 65 C.1.2 Das „Machen“ von NS-Parteigenossen? Bürokratie, Mitgliedschafts-Chaos und persönliche Motivationen in Deutschland und Österreich (1933 bis 1945) (Gerhard Botz) ...... 68 C.1.2.1 Hitlers anfängliche Vorstellungen ...... 68 C.1.2.2 Der Reichsschatzmeister als Mitgliederverwaltungsinstanz ...... 71 C.1.2.3 Finanzierungsbedarf, Mitgliedervermehrung und Hierarchien der Mitgliedschaft ...... 81 C.1.2.4 Mitgliederquoten in der Regimephase ...... 94 C.1.2.5 Vergebliche Aufnahmebremsen nach 1935 ...... 101 C.1.2.6 Spätfolgen des Parteiverbots in Österreich und „ostmärkische“ Sonderprobleme ...... 104 C.1.2.7 Versuchte Trendumkehr in der Schlussphase des Regimes ...... 115 C.1.2.8 Fazit ...... 118 C.1.3 Sozialstrukturanalyse nach dem Schichtungsmodell von Reinhard Schüren (Wolfgang Meixner) ...... 123 C.1.3.1 Horizontale Gliederung ...... 124 C.1.3.2 Vertikale, hierarchische Gliederung nach dem beruflichen Status ...... 125 C.1.4 Historische Milieuanalyse (Kurt Bauer) ...... 129 C.1.4.1 Das Modell sozialer Milieus ...... 131 C.1.4.2 Zum Milieubegriff – allgemein ...... 132 C.1.4.3 Zum Milieubegriff – spezifisch ...... 136 C.1.4.4 Zuordnung der Berufe zu den Kategorien des Milieumodells und zu den volkswirtschaftlichen Sektoren ...... 142 5

C.2 Arbeiter und andere „Lohnabhängige“ im österreichischen Nationalsozialismus auf Basis von Stichproben aus der NS-Mitgliederkartei (Gerhard Botz) ...... 159 C.2.1 Vorbemerkungen ...... 159 C.2.2 Vorfaschistischer Nationalsozialismus als Angestellten- und Beamtenpartei (1903–1920) ...... 165 C.2.3 „Entwurzelte“ und jugendliche Gewaltbereitschaft im NS-Frühfaschismus (1921–1926) ...... 168 C.2.4 Aufstieg zur Massenbewegung und Verbreiterung des sozialen Profils (1927– 1932) 171 C.2.5 Ländliche arbeitslose „Burschen“ und desorientierte städtische Arbeiter in der illegalen NSDAP (1933–1938) ...... 178 C.2.6 Monopolpartei und der Versuch, eine nationalsozialistische Volkspartei zu konstruieren (1938–1945) ...... 184 C.2.7 Resümee ...... 188

C.3 11.000 ausgebürgerte illegale Nazis aus Österreich zwischen 1933 und 1938 (Wolfgang Meixner) ...... 190

C.4 Illegale Nationalsozialisten in Wien 1933–1938 (Wien-Erhebung) (Kurt Bauer) ..... 202 C.4.1 Aufbau der Datenbank, Problematik...... 202 C.4.1.1 Das Sample ...... 202 C.4.1.2 Repräsentativität...... 203 C.4.1.3 Prinzipien und Regeln der Datenbank-Erfassung ...... 205 C.4.2 Vorläufige Auswertungen ...... 208 C.4.2.1 Wohnadressen ...... 208 C.4.2.2 Konfession ...... 221 C.4.2.3 Altersstruktur ...... 225 C.4.2.4 Ausbildung ...... 232

C.5 Die nationalsozialistischen Häftlinge der österreichischen Anhaltelager 1933–1938 („Wöllersdorf-Erhebung“) (Kurt Bauer) ...... 239 C.5.1 Die Entstehung des Systems der Anhaltelager in Österreich ...... 239 C.5.1.1 Die Anhalteverordnung vom 23. September 1933 im Detail ...... 254 C.5.2.2 Die weiteren Anhaltegesetze ...... 258 C.5.2.3 Anhaltepraxis und Häftlingszahlen ...... 262 C.5.2.4 Wöllersdorf und die anderen Lager ...... 272 C.5.2 Die Datenbank der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge (Wöllersdorf- Datenbank) ...... 283 C.5.2.1 Probeerfassung ...... 283 C.5.2.2 Die wichtigsten Quellentypen ...... 284 6

C.5.2.3 Prinzipien der Datenerfassung ...... 306 C.5.2.4 Aufbau der Datenbank ...... 307 C.5.3 Vorläufige Auswertungen ...... 322 C.5.3.1 Altersstruktur ...... 322 C.5.3.2 Verteilung der NS-Anhaltehäftlinge nach Bundesländern ...... 333 C.5.3.3 Konfession ...... 344

D Zusammenfassung und Ergebnisse (Gerhard Botz) ...... 347

E Literatur und gedruckte Quellen ...... 353 7

Abkürzungen

AdR Archiv der Republik

AO Auslandsorganisation der NSDAP

BArch Bundesarchiv

BGBl. Bundesgesetzblatt

BKA Bundeskanzleramt

GDfdöS Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit

Grz. Grundzahl

Gz. Geschäftszahl

Ktn. Karton

KWEG Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz

MRP Ministerratsprotokolle

ÖStA Österreichisches Staatsarchiv

Pg. Parteigenosse

PO Politische Organisation (NSDAP im engeren Sinne)

RGBl. Reichsgesetzblatt

RSchM. Reichsschatzmeister

StGBl. Staatsgesetzblatt

VZ 34 Volkszählung 1934

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A Vorbemerkungen

Dieses Forschungsprojekt ging 2006 von folgenden (hier leicht gekürzten) Ausgangsüberlegungen aus:

A.1 Exposee

A.1.1 Einleitung

Im Jahr 2008 ist eine erneuerte Diskussion über Ursachen und Hintergründe des „Anschlusses“ zu erwarten. Bezüglich der Rolle der NS-Bewegung in diesem Regimewechsel kursieren in der österreichischen Öffentlichkeit mehr oder weniger belegbare Meinungen. Obwohl schon einige empirische Vorarbeiten vorliegen, spielen immer noch zum Teil legendenhaften Annahmen über die soziale Herkunft und Motivation der Mitglieder, Anhänger und Sympathisanten des Nationalsozialismus eine große Rolle, selbst in wissenschaftlichen Diskursen.

Für die Frage nach den Ursachen der massiven Durchschlagskraft des National- sozialismus in Österreich ist die Epoche der Illegalität vom Juni 1933 bis zum März 1938 von besonderer Bedeutung. Während die nationalsozialistische Dynamik nach dem „“ rasch erlosch und die „Bewegung“ zum Apparat erstarrte (siehe Hans Mommsen (1976)), lässt sich in der Epoche davor („Verbotszeit“) das ganze Bündel der auf den Nationalsozialismus verweisenden Motive und Argumentationen ohne Beeinträchtigung deuten. Es zeigt sich, für welche sozialen und Altersgruppen, für welche Milieus und Schichten, in welchen Regionen der Nationalsozialismus besonders attraktiv war und wie die nationalsozialistische Mobilisierung funktionierte, sodass sie die Versuche einer 10

antimobilisierenden Stabilisierung durch das autoritäre Regime Dollfuss’ und Schuschniggs auch von innen her unterlaufen konnte.

Ziel des Forschungsprojektes ist es daher, auf der Basis unterschiedlicher serieller Quellenbestände und eines einheitlichen, aber variablen Methodenkonzeptes valide, empirisch fundierte Aussagen zur sozialen Struktur der illegalen NS-Bewegung in Österreich von 1933 bis 1938 zu formulieren.

A.1.2 Forschungsstand

Bis Mitte der 1970er Jahre wurden keine quantifizierenden Untersuchungen zur Sozialstruktur des österreichischen Nationalsozialismus durchgeführt. Nur zur Wähleranalyse gab es ältere Arbeiten von Robert Danneberg (1932) und Walter B. Simon (1959). Erst der „Paradigmenwechsel“ zur Historischen Sozialwissenschaft und das damit erwachende Interesse an empirischen, sozialwissenschaftlichen Methoden, an computerunterstützter Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft führten – deutschen und angelsächsischen Modellen folgend – zu einer Änderung in diesem Bereich. Trotzdem ist die Anzahl der quantifizierenden Studien, die sich explizit mit der Sozialstruktur des österreichischen Nationalsozialismus befassen, überschaubar.

Die bisher am häufigsten zitierten Arbeiten stammen vom Antragsteller (etwa Botz, Changing Patterns 1980, Botz, Strukturwandlungen 1981). Sie basieren auf den Ergebnissen von Mitte der 1970er Jahre von ihm durchgeführten Stichproben- erhebungen in der NSDAP-Mitgliederkartei im Berlin Document Center. Vorläufige Ergebnisse diese Erhebungen wurden in einer Reihe von Artikeln zu unterschiedlichen Themenstellungen in Zeitschriften, Sammelbänden und Festschriften Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre veröffentlicht.

Thomas Albrich und Wolfgang Meixner befassten sich Anfang der 1990er Jahre in ihren Arbeiten anhand der „alten Kämpfer“ (Albrich 1993) sowie „illegaler NS- Aktivisten“ (Albrich und Meixner 1995) mit der Frühzeit sowie der „Verbotszeit“ 11

des Nationalsozialismus in Tirol und Vorarlberg zwischen 1932/33 und 1938. Die Arbeit von Albrich beleuchtet die soziale Zusammensetzung der Tiroler und Vorarlberger NSDAP anhand ihrer Mitglieder des Jahres 1932. Die Arbeit von Meixner untersucht die soziale und regionale Herkunft von zwischen 1933 und 1938 in Tirol und Vorarlberg aufgrund ihrer NS-Gesinnung straffällig gewordenen Aktivistinnen und Aktivisten.

Im Rahmen seiner 2001 fertig gestellten Dissertation zu „Sozialgeschichtlichen Aspekten des nationalsozialistischen Juliputsches 1934“ wertete Kurt Bauer (2001) die Anzeigen gegen 2500 Juliputschisten aus und erstellte auf Basis der gewonnenen Personendaten ein umfassendes Sozialprofil der nationalsozialistischen Juliputsch-Beteiligten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung flossen schließlich in das Buch „Elementar-Ereignis“ (Bauer 2003) ein, das eine umfassende Darstellung des Juliputsches in den Bundesländern enthält.

Erwähnenswert sind daneben eine Mitte der 1990er Jahre verfasste quantifizierende Untersuchung von Michael Gehler (1994) über Korporationsstudenten und Nationalsozialismus in Österreich sowie eine 2003 veröffentlichte Studie von Laurenz Krisch (2003), der sich u. a. ausführlich mit der Alters- und Sozialstruktur der illegalen Nationalsozialist/-innen im Pongauer Kurort Bad Gastein befasste. Weitere kleine Arbeiten zur NS-Sozialstruktur sowie Ansätze im Rahmen größerer historischer Studien sind ebenfalls für Einzelfragen von Interesse.

Nicht vergessen sollte man die von den statistischen Methoden und vom Aufwand her wohl ausgereifteste und fundierteste Arbeit zur Sozialstruktur der Wählerschaft des österreichischen Nationalsozialismus von Dirk Hänisch (1998). Seine 1998 veröffentliche Monographie über die österreichischen NSDAP-Wähler beruht auf minutiös erhobenen und ausgewerteten Wahlergebnissen, also auf Aggregatdaten und nicht Individualdaten (wie bei den anderen genannten Studien). Die Arbeit Hänisch’ kann über die Phase der NS-Massenmobilisierung ab Mitte 1932 bzw. Anfang 1933 nur bruchstückhaft und über die Illegalität ab Sommer 1933 gar nicht Auskunft geben. Die wahlstatistischen und 12

sozialstrukturellen Grundlagendaten wurden auch in Zusammenarbeit mit dem Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft (Wien – Salzburg) erhoben und sind hier in elektronischer Form verfügbar und für weitere Analysen des eingereichten Projekts verfügbar.

Winfried R. Garscha (2005) hat erst jüngst darauf hingewiesen, dass die Geschichte der „illegalen NSDAP“ zwar zu den am häufigsten behandelten Themen der österreichischen Zeitgeschichte zählt, „allerdings meist im Zusammenhang mit dem Juliputsch 1934 und dem ‚Anschluss‘ 1938.“ Weiters weist Garscha auf das völlige Fehlen einer Studie der NSDAP in Wien vor 1938 hin. Zudem steht eine vergleichende Studie über die Zeit (1933 bis 1938) sowie eine Zusammenfassung der meist regionalen Studien noch aus.

A.1.3 Problemfelder

Grundsätzlich lassen sich bei quantifizierenden Studien zur sozialen Struktur des österreichischen Nationalsozialismus wie dieser die folgenden vier Haupt- Problemfelder identifizieren:

• die Frage nach einem integrierenden sozialhistorischen Rahmen,

• die Frage der Datenqualität und Repräsentativität der verfügbaren Quellen,

• die Frage der Zuordnung von Berufsangaben und

• die Frage eines geeigneten sozialgeschichtlichen Modells zur Beschreibung der illegalen Nationalsozialisten, von deren Herkunfts- und Aktions-Milieus und zur Entwicklung von neuen Erklärungsansätzen.

A.1.3.1 Problemfeld: integrierender sozialhistorischer Rahmen

Vor allen anderen Problempunkten stellt sich bei dem geplanten Projekt aufgrund seines spezifischen Forschungsdesigns die grundsätzliche Frage nach einem historischen und arbeitstechnischen Rahmen, der es erlaubt, die unterschiedlichen 13

Teilbereiche zu integrieren, um (für den österreichischen Raum) verallgemeinerbare Befunde zu erhalten (siehe dazu ausführlicher unter Punkt 4).

A.1.3.2 Problemfeld: Datenqualität und Repräsentativität der verfügbaren Quellen

Hinsichtlich der Repräsentativität stellen die unter Punkt 2 erwähnten Studien des Antragstellers, die auf Stichproben aus der NSDAP-Mitgliederkartei beruhen (also der Gesamtheit aller deklarierten NS-Anhänger), den umfassendsten Ansatz dar. Sie bieten allerdings nur sehr generalisierte Ergebnisse, sollen erstmals in einer systematischen Weise analysiert werden und sollen den allgemeinen Bezugsrahmen der in die Tiefe gehenden Detailstudien dieses Projekts ermöglichen.

In Bezug auf die Phase der nationalsozialistischen Illegalität (1933–1938) bestehen allerdings begründete Zweifel, ob die soziale Zusammensetzung derjenigen, die in der Zentralkartei der NSDAP als „illegale“ Parteigenossen erfasst sind, tatsächlich die NS-Sozialstruktur der „Verbotszeit“ ohne Abstriche adäquat abbildet. Weil es für eine im Untergrund aktive politische Bewegung nicht opportun und aus organisatorischen Gründen auch gar nicht möglich war, ein zentrales Verzeichnis ihrer Mitglieder zu führen, wurden erst nach dem „Anschluss“ Mitgliedsnummern (Nummerblock 6,1 bis 6,6 Millionen) für illegale Parteigenossen vergeben und diese in der Münchner Zentralkartei erfasst. Viele, die in der Illegalität eher im Hintergrund standen oder überhaupt nicht in Erscheinung traten, bemühten sich nun um eine möglichst niedrige Mitglieds- nummer (so genannte „Märzgefallene“ bzw. „Märzveilchen“), während andere, durchaus aktive „Illegale“ nach dem „Anschluss“ keinen besonderen Wert auf eine formale Parteimitgliedschaft legten (Jagschitz, 2000). Daher spiegelt die Mitgliedskartei zu diesem Zeitpunkt – kaum weniger als jene der während der Regime-Phase in die NSDAP-Eintretenden – eher die Aufnahmepolitik der Gauleitungen und NS-Reichsleitung, die persönlichen, lokalen und regionalen Protektionsnetze und nachträgliche Rechtfertigungsstrategien der (potentiellen) Parteigenossen wider. 14

Bei den anderen genannten Studien ist aufgrund ihrer lokalen, regionalen, sozialen und/oder zeitmäßigen Einschränkung von vornherein anzunehmen, dass sie nicht die Sozialstruktur der gesamten österreichischen NS-Bewegung in der Phase der Illegalität abbilden, allerdings eine empirisch begründete Hypothesenbildung zulassen können.

A.1.3.3 Problemfeld: korrekte Zuordnung der Berufsangaben in ein adäquates Sozialstrukturmodell

Die überlieferten Berufsangaben in Mitgliederkarteien, Auflistungen und Ver- zeichnissen von Flüchtlingen, Anhaltehäftlingen, Ausgebürgten etc. stellen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Forschung dar. Aufgrund der Erfahrungen bisheriger quantitativer Studien lassen sich beispielsweise folgende Problempunkte feststellen:

• fragliche Zuordnung in die Kategorien „Lohnabhängige“ und „Selbständige“ (z. B. bei Berufsangaben wie „Tischler“, „Bäcker“, „Schmidt“ u. dgl.);

• ungenaue, unpräzise Berufsangaben, die keiner einheitlichen Terminologie folgen (Angaben wie „Arbeiter“, „Hilfsarbeiter“, „Beamter“ u. dgl.);

• fehlende, für eine korrekte sozialstrukturelle Zuordnung aber relevante Angaben zu Besitzgröße, Einkommen und Bildung (z. B. die Angabe „Besitzer“ für Bauer, aus der nicht hervorgeht, ob es sich um einen landwirtschaftlichen Kleinbesitzer handelte, der eventuell nebenbei noch im Taglohn tätig war, oder um den Besitzer eines größeren, wohlhabenden Hofes);

• Unsicherheit, ob es sich bei dem angegebenen Beruf eventuell um eine nur vorübergehend aufgrund von Arbeitslosigkeit ausgeübte Tätigkeit handelte (z. B. ein gelernter Handelsgehilfe, der sich vorübergehend als Bauernknecht oder Bauhilfsarbeiter verdingt).

Diese Probleme lassen sich grundsätzlich durch flexible (Re-)Kodierungen, wie sie die seit zwei Jahrzehnten in Anwendung stehenden Datenbank- und Rechenprogramme gestatten (siehe die Arbeiten Manfred Thallers 1986 und 1988), und durch ein multidimensionales Aggregierungs- und 15

Gruppierungsverfahren, wie es Botz (österreichische NSDAP-Mitglieder 1980) allgemein vorgestellt hat, bewältigen. Weiters kann diese Limitation des Quellenmaterials durch Vergleich und Kontextualisierung mit anderen Untersuchungsgruppen und den Wechsel der Perspektiven überwunden werden. Eine zusätzliche, über den vorhandenen Quellenbestand hinausgehende Datenerhebung ist kaum oder nur mit einem erheblichen, letztlich nicht vertretbaren Mehraufwand möglich; sie könnte auch keinen dem Mitteleinsatz entsprechenden Zuwachs an Genauigkeit und Verlässlichkeit gewinnen.

Es zeigt sich, dass „kleinere“ Studien, deren Datenmaterial beispielsweise aus Gendarmerieanzeigen generiert wurde (wie in der Studie von Bauer 2001), aufgrund des vorhandenen Kontextmaterials (Tatbestandsdarstellung, Aussagen des Beschuldigten und von Zeugen etc.) hinsichtlich der sozialstrukturellen Zuordnung im Regelfall relativ präzis sind. Dahingegen sind sie wegen der wesentlich geringeren Fallzahlen und der regionalen und/oder zeitlichen Einschränkung weniger repräsentativ. „Größere“ Studien, die auf Auflistungen oder Karteikarten basieren, die ausschließlich die „nackten“ Personendaten ohne zusätzliche Angaben enthalten (wie in den Studien von Botz und Albrich/Meixner), sind hinsichtlich der sozialstrukturellen Zuordnung weniger detailliert, können aber einen größeren geographischen Raum (ein ganzes Bundesland oder gar ganz Österreich) sowie einen größeren Zeitraum abdecken, sind also wesentlich aussagekräftiger, was die Gesamtheit der österreichischen Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1938 betrifft. Solche umfassenden Studien ermöglichen zusätzlich auch einen Vergleich im zeitlichen Längsschnitt.

A.1.3.4 Problemfeld: Sozialstrukturmodelle

Alle Autoren der oben erwähnten Studien zur Sozialstruktur des österreichischen Nationalsozialismus haben sich ausführlich mit den Problemen der adäquaten Kategorisierung von Berufsbezeichnungen und sonstigen Sozialindikatoren und einem diesen Kategorisierungen notwendigerweise zugrunde liegenden Modell der sozialen Struktur der Gesellschaft der Ersten Republik Österreich beschäftigt. 16

Dirk Hänisch, der die soziale Basis der österreichischen NSDAP anhand von Wahlresultaten analysierte, entwickelte ein einfaches Modell der „sozialen Gliederung der österreichischen Erwerbspersonen“ aus der amtlichen Statistik. Aufgrund des ausgewerteten Datenmaterials (Wahlergebnisse aus allen Regionen Österreichs) war für Hänisch im Grunde genommen nur die Verwendung eines aus den Ergebnissen der Volkszählung 1934 abzuleitenden und verhältnismäßig groben Sozialstrukturmodells möglich.

Gerhard Botz’ Untersuchungen zur sozialen Struktur der österreichischen NS-Mit- glieder beruhen auf einem vom deutschen Soziologen Theodor Geiger entwickelten Schichtenmodell aus 1932 („Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“). Das Phänomen „Jugendlichkeit“ des Nationalsozialismus untersuchte Botz mittels Kohorten, basierend auf Sozialisationsfaktoren (nach Peter Merkl 1975).

Die Untersuchung von Thomas Albrich und Wolfgang Meixner griff auf das von Reinhard Schüren entwickelte Klassifikationsmodell zur Analyse von Sozialstrukturen des späten 19. Jahrhunderts zurück. Dieses Modell bildet jede in einer Quelle enthaltene Berufsangabe in einem dreistelligen Code ab, der dessen Schichtzugehörigkeit, Stellung im Beruf sowie Wirtschaftssektor oder Arbeitsmilieu festlegt. Daraus leiten sich 65 Berufsgruppen ab, die zur weiteren Analyse Verwendung finden.

Im Unterschied dazu basierten die Untersuchungen von Kurt Bauer zu den nationalsozialistischen Juliputsch-Beteiligten 1934 auf einem von ihm entwickelten, auf Überlegungen von Ernst Hanisch und insbesondere von Gerhard Schultze fußenden Modell sozialer Milieus.

Bemerkenswert ist der Ansatz von Laurenz Krisch in seiner quantitativen Mikrostudie aus 2003. Er verwendet sowohl das Klassifikationsmodell von Reinhard Schüren (1989) wie Albrich/Meixner (1995) als auch das von Bauer entwickelte Milieumodell, und zwar im Sinne der Milieutheorie adaptiert auf die spezifischen Gegebenheiten des Kurortes Bad Gastein. 17

Als grundsätzlich problematisch für quantitative Studien zur Sozialstruktur der österreichischen Nationalsozialisten vor 1938 erweist sich

• erstens die Tatsache, dass – außer der Arbeit von Januschka zur sozialen Schichtung der Bevölkerung Österreichs aus dem Jahr 1938 – kein geeignetes, auf empirischen Grundlagen basierendes, einfach zu adaptierendes Sozialstrukturmodell für die Zwischenkriegszeit in Österreich vorliegt, und

• zweitens die Frage, ob man einer quantitativen Studie eher ein „klassisches“ Schichtenmodell nach Geiger oder eher ein Modell nach Bourdieu, das nicht nur die vertikalen Klassenlagen (Großbürgertum/Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Arbeiterschaft), sondern, innerhalb dieser Klassen „horizontale“ Achsen (Klassenfraktionen) mit spezifischen Positionen und symbolischen Auseinandersetzungen im Raum der Lebensstile unterscheidet, zugrunde legen will.

Die dargestellten Unterschiede bei den in den bisher erschienenen Studien in Ansatz gebrachten Sozialstrukturmodellen führen dazu, dass ein wünschenswerter komparativer Vergleich der Studien auf Basis der ermittelten Zahlen in Form einer Art „Metastudie“ nicht durchführbar ist. Auch die wissenschaftlich notwendige Falsifizierbarkeit der Forschungsergebnisse ist aufgrund der erschwerten Vergleichbarkeit der Ergebnisse nur eingeschränkt möglich.

A.1.4 Forschungsdesign

Die unter Punkt 3 angesprochenen Probleme sollen durch eine durchdachte Forschungsstrategie gelöst werden. Diese Strategie besteht in einem spezifischen Mix der herangezogenen historischen Quellenbestände (Quellenpluralismus), die auf Basis verschiedener Sozialstrukturmodelle (Methodenpluralismus) ausgewertet werden. Durch die einheitliche Strukturierung der Teilstudien und den streng regelgeleiteten Forschungsablauf wird eine Sammelstudie entstehen, die valide allgemeine Aussagen (Thesen) über die soziale Struktur und darüber 18

hinaus über den sozialen Gehalt des österreichischen Nationalsozialismus vor 1938 zulassen.

Diese Thesen sollen über den aufgrund der vom Historiker nicht mehr veränderbaren Eigenheiten der seriellen Quellenbestände notwendigerweise zeitlich, räumlich und sozial begrenzten Horizont der einzelnen Teilstudien hinausreichen. Gleichzeitig sollte durch das spezifische Forschungsdesign besser als bisher die wissenschaftliche Überprüfung (Falsifizierbarkeit) der Forschungsergebnisse gewährleistet sein.

A.1.4.1 Historischer und arbeitstechnischer Rahmen

Die konkrete empirische Projektarbeit wird sich in vier Teile gliedern, um von unterschiedlichen Ansätzen und Perspektiven ausgehend Einblicke in das zu untersuchende Thema zu gewinnen suchen. Diese Teilbereiche sind: a) eine quantitativ-soziographische Analyse der illegalen NSDAP-Mitglieder (offizielles rückwirkendes Aufnahmedatum 1. Mai 1938) (Teil Botz), b) eine regional auf Wien fokussierte quantitativ-sozialgeschichtliche Analyse desselben Personenkreises, jedoch auf der Grundlage einer detaillierteren Datenbasis, die genauere Einzelanalysen und Milieu-Kontextualisierungen zulässt (Teil Bauer), c) eine soziographische Analyse der zwischen 1933 und 1938 ausgebürgerten Nationalsozialisten, die in ihrem überwiegenden Teil in das nationalsozialistische Deutschland gingen, ein Personenkreis, der von den österreichischen Behörden als politisch besonders aktiv und gefährlich eingeschätzt wurde (Teil Meixner), und d) eine Spezialstudie einer besonders aktivistischen Kategorie von Nationalsozialisten, die als solche unter dem stärksten Verfolgungsdruck des „Ständestaates“ stand, die NS-Population des Anhaltelagers Wöllersdorf (Teil Bauer).

Diese gestaffelte Gliederung entspricht im Wesentlichen einer Skala zunehmender Involvierung in den Nationalsozialismus. Sie gestattet eine Kombination von 19

makro- und mikrohistorischem Blick auf Herkunft und Motivation der Nationalsozialisten in deren Verbotszeit in Österreich. Dabei ist anzunehmen, dass jeweils unterschiedliche, präzise herauszuarbeitende sozialstrukturelle, gesellschaftsgeschichtliche, generationelle, familiale und persönlich motivierende Motive und Faktoren des unterschiedlichen pro-nazistischen Engagements im Vordergrund stehen.

• Die allgemeinste, den breitesten Personenkreis (bereits 1932 einige hunderttausend NSDAP-Wähler) umfassende Untersuchungsebene bezieht sich auf Wählerschaften, die in unserem Projekt jedoch naturgemäß wegen des Fehlens entsprechender Wahlen und Daten außerhalb einer eigenen empirischen Untersuchung bleibt, jedoch aus den vorliegenden Wähleranalysen zur Zeit vor 1933 (aufgrund der Literatur) vorausgesetzt werden kann. (Strukturgeschichtliche Aspekte müssen dabei ganz im Vordergrund stehen).

• Schon ein etwas differenzierter, individuumsnäherer Blick wird für die illegalen NSDAP-Mitglieder insgesamt gruppen- und regionalspezifische Erkenntnisse zum Thema zulassen. Innerhalb der zu erwartenden, noch sehr generalisierten, jedoch (einigermaßen) für ganz Österreich repräsentativen Ergebnisse dieser Betrachtungsebene werden Spezialuntersuchungen, die mit einem abnehmenden Grad an Repräsentativität mit einer zunehmenden Informationsdichte und „Wirklichkeits“-Nähe einhergehen, ihren Stellenwert finden; von hier aus wir auch die Gesamtdarstellung geschrieben werden.

• Illegale Nationalsozialisten, die als solche „amtsbekannt“ wurden und in Polizeiakten beschrieben sind, verkörpern ein noch stärkeres Engagement in der radikalen, illegalen Bewegung und eine noch stärkere Bereitschaft zur Übernahme des Verfolgungsrisikos; diese Nazi-Kategorie soll exemplarisch anhand eines Quellenbestandes aus Wien analysiert werden.

• In einem nochmals gesteigerten Maß zeigt – wie wir annehmen – die Gruppe der zwischen 1933 und 1937 tatsächlich ausgebürgerten Nationalsozialisten, die allerdings nicht unbedingt formelle Parteimitglieder gewesen sein mussten, 20

pro-nazistisches Engagement; in ihr haben sich auch andere Motivationsmomente gewissermaßen wie in einem Brennglas gebündelt.

• Auf der obersten Stufe dieser Skala zunehmenden politisch-extremistischen Engagements ist die Gruppe der Anhaltelager-Häftlinge zu positionieren. Eine Analyse der „Wöllersdorfer“ lässt belegbare sozialstrukturelle und - motivationale Thesen über die militantesten bzw. aktivistischsten Nationalsozialisten zu erwarten, sofern diese „erwischt“ und interniert wurden, was wiederum keineswegs von zufälligen, sozialgeschichtlich nicht verzerrenden Momenten abhängt. (Ein Vergleich mit den sozialdemokratischen und kommunistischen Internierten bietet sich an und wird unserer Ergebnisse durch die zu erwartenden Kontraste bzw. Parallelen schärfen.)

Erst in der Kombination dieser Teilbereiche wird die Mehrebenenanalyse des ein- gereichten Projekts die anvisierten Ergebnisse bringen können.

A.1.4.2 Methoden

Es gibt gute Gründe, die – gerade in Hinblick auf noch wesentlich stärker als heute hierarchisch strukturierte historische Gesellschaften – für die Anwendung eines Schichtenmodells sprechen. Ebenso wird man einem möglicherweise flexibleren und leichter zu adaptierenden Milieuansatz eine vom Schichtenmodell abweichende Erklärungskraft zuschreiben können.

Daher scheint es sinnvoll, im Zuge dieses Forschungsprojekts ein und denselben Datensatz auf Basis verschiedener Sozialstrukturmodelle auszuwerten, und zwar

• nach dem Schichtenmodell (nach Reinhard Schüren),

• nach einem auf dem Milieuansatz basierenden Sozialstrukturmodell

• sowie auf Basis der „Wirtschaftlichen Zugehörigkeit der Wohnbevölkerung“ laut österreichischer Volkszählung 1934 (wodurch am besten eine Vergleichbarkeit zur österreichischen Gesellschaft der 1930er Jahre in ihrer Gesamtheit gewährleistet ist). 21

Ein wichtiges Ziel ist es, ein Kodierschema der Berufsgruppenzuordnung zu entwickeln, das nicht nur einem Schichtenmodell à la Schüren folgt, sondern auch Milieumodelle sowie Zuordnungen nach Wirtschaftssektoren (Volkszählung 1934) erlaubt. Dieses Schema könnte sich auch für andere sozialstrukturelle Untersuchungen zur österreichischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit als fruchtbringend erweisen. Damit würde sich die österreichische Forschung in internationale Aktivitäten vergleichender Studien über soziale Mobilität einfügen. (Zur Notwendigkeit internationaler Standards von Berufskodierungen vgl. Marco H. D. van Leeuwen u. a. 2002.)

Zur Untersuchung der räumlichen Verteilung der „illegalen“ Nationalsozialisten wird ein homologisiertes Gemeindeverzeichnis für die Zwischenkriegszeit erstellt. Damit können regionale und lokale Entwicklungen auch bei geänderten Gemeindegrenzen über die Zeit verglichen werden.

A.1.4.3 Quellen

Die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der ausgewerteten seriellen Quellenbestände soll gewährleisten, dass ein möglichst breites Spektrum an formellen Parteimitgliedern, „Alten Kämpfern“, illegalen Aktivisten, mehr oder weniger treuen Anhängern und Sympathisanten der NSDAP erfasst wird (siehe dazu die Ausführungen unter Punkt 4.1.)

Ein Vorteil der Sammelstudie wird es sein, die einzelnen Datenbestände abzugleichen und Personen herauszufiltern, die in mehreren Datensätzen vorkommen.

A.1.4.4 Projektteile

Die folgenden Teilauswertungen werden durchgeführt werden:

Stichprobe aus der NS-Mitgliederkartei (Teil Botz)

Ausgangspunkt dieses Untersuchungsteils sind die Mitgliedskarten jener österrei- chischen NSDAP-Mitlieder, die mit dem offiziellen Beitrittsdatum „1. Mai 1938“, meist rückwirkend, in die NSDAP aufgenommen wurden. Von der „Partei“ wurde 22

ihnen damit der Status eines „Illegalen“ (neben 68.000 „Alten Kämpfern“ gab es im November 1938 in der „Ostmark“ ca. 195.000 solcher mit Datum 1. 5. 1938 Aufgenommene) zuerkannt. Inwiefern dies tatsächlich zutrifft, ist Teil der Voruntersuchungen, die der Bearbeiter dieses Projektteils schon mehrfach publiziert hat und weiter vertiefen wird. Daraus wurde in der Mitgliederkartei im (ehemaligen) BDC eine repräsentative Stichprobe von rund 2500 gezogen, die nach Geburtsjahr, Beitrittsdaten und eventuellem (gar nicht so seltenem) Austrittsdatum, Geburts- und Wohnort, Bundesland, Familienstand, Konfession, Geschlecht, Berufsangaben etc. mit deskriptiver und schließender Statistik untersucht werden sollen (zum Verfahren siehe Botz, NSDAP-Mitglieder, 1980;und allg. ders., Wien, 1978). Weiters wird record linkage mit den demographischen Daten auf niedrig aggregiertem Niveau (Länder, Gemeinden) zum Stichpunkt der Volkszählung von 1934 und den Wahlergebnissen 1930 und 1932 möglich sein, woraus sich Zusammenhänge mit der sozialen Ökologie und den politischen Milieus herstellen lassen werden. Schon früher vom Bearbeiter (Botz Changing Patterns 1980) aufgestellte Thesen können dadurch falsifiziert bzw. getestet oder modifiziert werden, vor allem jene vom Charakter der NSDAP auch in der Illegalität:

• als „asymmetrische Volkspartei“ (in der Illegalität mit einem stärkeren Bias zur Arbeiter- und Angestelltenschaft, verglichen mit späteren Perioden),

• als (alternde) „Jugendbewegung“, deren Mitglieder vor allem den in den Jahren zwischen 1899 und 1913 geborenen Kohorten stammten,

• als weitaus überwiegend männlich (und ledig),

• als im Verlauf der Zeit strukturell wie individuell stark fluktuierend,

• als 1933-38 eher süd- und westösterreichisch-„peripher“

• als stark in Klein-, Mittelstädten verankert, sowie

• als eher protestantisch denn katholisch geprägt.

Dabei soll immer bewusst belieben, dass selbst die feinste Datenanalyse immer von Artefakten ausgeht, die durch andere, nicht immer klar rekonstruierbare 23

Momente, wie den nachträglichen Organisationsinteressen und -vorstellungen des Reichsschatzmeisters oder den Fälschungsmöglichkeiten auf allen Ebenen der NS-Organisation, (mit-)produziert wurden. Daher soll von diesem Teil aus auch eine methodologische Reflexion unseres Tuns erfolgen.

11.000 ausgebürgerte illegale Nationalsozialisten aus Österreich 1933–1938 (Teil Meixner)

Im Österreichischen Staatsarchiv (Archiv der Republik, Bestand „Inneres“) befinden sich 17 Listen mit insgesamt knapp 11.000 Personen, die von der Bundesregierung zwischen 1933 und 1938 aufgrund „österreichfeindlicher Handlungen“ ausgebürgerten wurden. Dabei handelt es sich vorwiegend um nach dem Parteiverbot der NSDAP straffällig und nach Deutschland „geflüchteten“ Aktivisten und Aktivistinnen.

Diese Quelle enthält Angaben zur Person (Geburtsdatum, -geburtsort, Zuständigkeit, Geschlecht, Beruf und allfällige Titel, Wohnort). Damit stellen diese Listen eine der wenigen Datengrundlagen zur überregionalen Erforschung von österreichischen NS-Aktivisten und -Aktivistinnen dar.

Ihre Auswertung wird eine wertvolle Ergänzung und Korrektiv zu der von Gerhard Botz unternommen „Rekonstruktion“ der österreichischen NSDAP- Mitglieder zwischen 1933 und 1938 aus den BDC-Akten liefern.

Dieser Personenkreis stammt vorwiegend aus ländlich-peripheren Gebieten Österreichs und war überwiegend männlich. Die meisten von diesen waren „unterprivilegierte“ junge Männer bäuerlicher oder manuell-arbeitender Herkunft mit erhöhter Bereitschaft zu physischer Gewalt. Fast zwei Drittel von ihnen können dem Arbeitermilieu zugerechnet werden, 30 Prozent dem bürgerlichen Milieu und nur knapp zehn Prozent einem rein besitzenden bäuerlichen Milieu.

24

Nationalsozialisten in Wien 1933–1938 (Teil Bauer)

Die Epoche des illegalen Nationalsozialismus in Wien von 1933 bis 1938 ist ein weitgehend unbearbeitetes Forschungsgebiet. Während für einige österreichischen Bundesländer und Regionen ausführliche, zumeist ereignisgeschichtlich orientierte Studien vorliegen, existiert über die „Illegalen“ in Wien keine relevante Fachliteratur. Ein Wirkungsmodell des österreichischen Nationalsozialismus kann allerdings nicht allein auf der Bedeutung der NS-Ideologie in der „Provinz“ fußen – so sehr man auch versucht ist, den Nationalsozialismus mit Ernst Hanisch (1997) als „Aufstand der Provinz gegen die Metropole“ zu verstehen und ihn unter dem Aspekt der Zentrum-Peripherie-Spannung zu definieren. Gerade diese Sicht bedarf der Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen der Nationalsozialismus in der Großstadt Wien Bedeutung erlangen und eine große Zahl an Anhängern, Sympathisanten und illegalen Aktivisten gewinnen konnte.

Im Rahmen von durch die Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien geförderten Archivrecherchen konnte Kurt Bauer im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik sämtliche Archivkartons (insgesamt 43 Stück) des Bestandes BKA-Inneres 22/Wien von 1932 bis 1938 sichten und protokollieren. Weiters wurden 643 Personendaten von illegalen Nationalsozialisten aus Wien tabellarisch in einer Datenbank erfasst und zusätzlich eine Fülle von Dokumenten fotokopiert, deren Auswertung geschätzte weitere 400 Personendaten ergeben wird. Insgesamt wird die Datenbank schließlich Personendaten von mehr als 1000 Wiener illegalen Nationalsozialisten beinhalten.

Die Auswertung dieser Daten nach den unterschiedlichsten Kriterien wird relevante Aussagen zur Sozialstruktur des Nationalsozialismus in Wien vor 1938 ermöglichen und – im Vergleich mit anderen Studien – die Unterschiede zwischen Hauptstadt und Bundesländern hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der NS-Anhänger aufzeigen.

25

Die nationalsozialistischen Häftlinge des Anhaltelagers Wöllersdorf 1933– 1938 (Teil Bauer)

Per Verordnung des Bundeskanzlers „betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete“ wurde am 23. September 1933 die gesetzliche Voraussetzung zur Einrichtung von Sammellagern geschaffen, in die „sicherheitsgefährliche Personen“ per Bescheid der Sicherheitsdirektoren der einzelnen Bundesländer (in Wien: Polizeipräsident) „auf unbestimmte Zeit“ eingewiesen werden konnten. Das bedeutendste derartige „Anhaltelager“, das einzige, das von 1933 bis 1938 in Verwendung stand, befand sich auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik in Wöllersdorf (Niederösterreich, Bezirk Wiener Neustadt Land), rund 50 Kilometer südlich von Wien. Weitere Anhaltelager und Notarreste wurden an zahlreichen Orten errichtet; große Lager befanden sich vorübergehend u. a. in Kaisersteinbruch im nördlichen Burgenland (rund 40 Kilometer von Wien) sowie in Messendorf bei Graz.

Am 17. Oktober 1933 bezogen die ersten Häftlinge das Lager Wöllersdorf; am 17. Februar 1938 wurden – aufgrund der Amnestie nach dem Berchtesgadener Abkommen – die letzten Häftlinge aus Wöllersdorf entlassen. Die höchsten Belagszahlen wurden nach dem Juliputsch 1934 erreicht: Am 1. Oktober 1934 hielten sich in Wöllersdorf insgesamt 5302 Häftlinge (4747 Nationalsozialisten, 555 Sozialdemokraten oder Kommunisten) auf. Danach sanken die Zahlen kontinuierlich ab: Am 1. Dezember 1937 registrierte man 45 Nationalsozialisten, 11 Sozialdemokraten und 58 Kommunisten, insgesamt also 114 Häftlinge in Wöllersdorf. (Grundlegend: Jagschitz 1975)

Akten bezüglich des Anhaltelagers Wöllersdorf, vor allem personenbezogen Akten, wurden in der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im Bundeskanzleramt-Inneres unter der Signatur 20/g abgelegt. Die Akten befinden sich im Archiv der Republik des Österreichischen Staatsarchivs; laut Inventar sind für die Jahre von 1933 bis 1938 89 Archivkartons vorhanden. 26

Eine Probeauswertung zweier Archivkartons aus 1936 hat insgesamt 177 Personalakten mit sozialstrukturell verwertbaren Daten ergeben. Die weiteren Kartons dürften, laut Auskunft des Archivs, ähnlich zusammengesetzt sein wie die beiden Musterkartons.

Im Regelfall lassen sich die folgenden Daten gewinnen: Name; Geburtsdatum; Beruf; Geschlecht (aufgrund des Vornamens bzw. der weiteren Angaben); Wohnort; Zuständigkeit (Heimatberechtigung); Geburtsort; Konfessionszugehörigkeit; Familienstand (ledig, verheiratet, verwitwet); Parteizugehörigkeit (im Regelfall Nationalsozialist, Sozialdemokrat oder Kommunist); Art und Ausmaß der Tätigkeit für die verbotene Partei (Datum des Deliktes, häufig Angaben Funktion in der Partei); gerichtliche und polizeiliche Vorstrafen (Grund, Ausmaß, Zeitpunkt); Datum der Einweisung in das Anhaltelager, Dauer des Aufenthaltes; zum Teil Angaben zur Biografie (familiäre Hintergründe, Bildungsweg, beruflicher Werdegang, Zugehörigkeit zu politischen Parteien etc.); eventuell Angaben über bestehende Arbeitslosigkeit.

Zumeist ist eine Begründung für die Einweisung in das Anhaltelager enthalten, aus der die politische Biografie, die politischen Aktivitäten und die Funktion in der Partei hervorgehen. Interessant ist beispielsweise die Angabe, ab wann jemand Mitglied einer Partei war oder zu welchem Zeitpunkt jemand eventuell zu einer anderen Partei übergetreten ist (z. B. von den Sozialdemokraten zu den Nationalsozialisten). Von großer Bedeutung sind auch häufig vorhandene Angaben, ob eine Person bis zum Verbot Mitglied der NSDAP, Mitglied der SA, SS, HJ oder einer anderen Teilorganisation war, oder ob sie nur mit dieser Partei sympathisierte.

Insgesamt dürften sich aus dem genannten Archivbestand bei vorsichtiger Schätzung die Daten von rund 6000 bis 9000 Anhaltehäftlingen für eine quantitative Auswertung generieren lassen. Der Anteil der Nationalsozialisten beträgt rund 70 bis 80%, der Anteil der Sozialdemokraten und Kommunisten, die sich aufgrund der Angaben in den Akten nicht immer genau auseinander halten lassen, 20 bis 30%. 27

Die Aufarbeitung dieses Quellenbestandes und die Erfassung der Daten in einer Datenbank wird ein wesentliches Kernstück des geplanten Forschungsprojektes bilden. Die Erfassung eines Archivkartons wird im Regelfall ein bis zwei Personentage in Anspruch nehmen, insgesamt ist also mit einem grob geschätzten Aufwand von ca. 160 Personentagen (oder rund acht Personenmonaten) allein für die Erfassung zu rechnen.

Durch die Auswertung der Daten wird sich ein zeitlich und räumlich umfassendes, äußerst differenziertes Bild der österreichischen NS-Bewegung vor dem „Anschluss“ gewinnen lassen. Da weiters Daten über die anderen illegalen Gruppierungen im „Ständestaat“ generiert werden können – nämlich Sozialdemokraten und Kommunisten –, steht zusätzliches sozialstrukturelles Vergleichsmaterial zur Verfügung.

A.1.5 Zusammenfassung

In vier aufeinander bezogenen und durch ein spezifisches Methodenkonzept mit- einander verknüpften Teilstudien wird in dem geplanten Forschungsprojekt ein breites Spektrum an Parteimitgliedern, „Alten Kämpfern“, illegalen Aktivisten, mehr oder weniger treuen Anhängern und Sympathisanten der NSDAP erfasst. Der Methoden- und Quellenpluralismus bei einheitlicher Strukturierung und streng regelgeleitetem Forschungsablauf wird es ermöglichen, die Vielfalt einer komplex strukturierten Gesellschaft adäquat zu erfassen.

Die gestaffelte Gliederung dieser Studien kann einen umfassenden, tiefgehenden Einblick in die Herkunft und Motivation der Nationalsozialisten in deren Verbotszeit in Österreich gestatten und damit einen essentiellen Beitrag zur Frage nach den Ursachen und Hintergründen des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich leisten.

28

A.2 Arbeitskonzept

Ziel des Forschungsprojekts war es, auf der Basis unterschiedlicher, teils individueller, teils serieller Quellen und eines einheitlichen, aber differierenden Methodeninstrumentariums empirisch fundierte Aussagen zur Geschichte der sozialen Charakteristik der illegalen NS-Bewegung in Österreich von 1933 bis 1938 zu formulieren und damit einen essentiellen Beitrag zur Frage nach den Ursachen und Hintergründen des Aufstiegs der NSDAP und zur Machtübernahme auch iun Österreich („Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich) im März 1938 zu liefern.

In vier aufeinander bezogenen und durch ein spezifisches Methodenkonzept miteinander verknüpften Teilstudien soll ein breites Spektrum an Partei- mitgliedern, „Alten Kämpfern“, illegalen Aktivisten, mehr oder weniger treuen Anhängern und Sympathisanten der NSDAP erfasst werden.

Projektteile

Hauptbearbeiter

NSDAP-Mitglieder 1918 bzw. 1933 – 1938 und Gerhard Botz methodologische Überlegungen

11.000 ausgebürgerte illegale Nationalsozialisten aus Wolfgang Meixner Österreich 1933–1938

Illegale Nationalsozialisten in Wien 1933–1938 Kurt Bauer („Wien-Erhebung“)

Die nationalsozialistischen Häftlinge der österreichischen Kurt Bauer Anhaltelager 1933–1938 („Wöllersdorf-Erhebung“)

Der Pluralismus der verwendeten Methoden und Quellen bei einheitlicher Strukturierung und streng regelgeleitetem Forschungsablauf ermöglicht, es, unterschiedliche Aspekte und die Vielfalt des komplex strukturierten gesellschaftlichen Phänomens Nationalsozialismus besser als bisher zu erfassen.

Trotz dieser Vielfalt standen im Hintergrund der Datenauswertung – administrativ, datentechnisch und methodisch unterstützt von Mag. Heinrich 29

Berger vom LBIHS – drei ergänzend bzw. alternierend angewandte Methoden zur Konstruktion von empirisch am konkreten Material anwendbaren Sozialstrukturmodellen:

1. die bei der österreichischen Volkszählung 1934 verwendeten wirtschaftlich- sozialen Kategorien, um eine Vergleichsbasis mit der österreichischen Gesellschaft der 1930er Jahre zu haben,1

2. das Schichtenmodell nach dem international oft angewandten sog. „Schüren- Code“,2

3. und ein für die Auswertung der nationalsozialistischen Juliputsch-Beteiligten entwickelten historischen Milieuanalyse (Milieumodell)3

A.3 Projektverlauf

Der Projektantrag wurde Anfang 2006 beim Jubiläumsfonds der Oesterreichi- schen Nationalbank eingereicht, am 29. Juni 2006 bewilligt und startete per 1. Jänner 2007. Als Projektende war ursprünglich der 30. Juni 2009 vorgesehen.

Von den Vorarbeiten konnten jedoch schon laufende Publikationsvorhaben von Gerhard Botz und Wolfgang Meixner profitieren. Zunächst liefen die Arbeiten der drei Projektbearbeiter im Wesentlichen parallel und durch Besprechungen koordiniert. Um ein an Kurt Bauer herangetragenes Projekt eines Lehrbuches zur Geschichte des Nationalsozialismus zügig abschließen zu können, erhielt Kurt Bauer jedoch vom Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft als dem Projektträger und vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank für die zweite Jahreshälfte 2007 die Zustimmung für eine halbjährige Unter-

1 Vgl. Botz, Die österreichischen NSDAP-Mitglieder, S. 98–136. 2 Vgl. Schüren, Soziale Mobilität. 3 Vgl. Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte. 30

brechung dieses Forschungsprojektes. 4 Mit 1. Jänner 2008 nahm er die Arbeit an dem Projekt wieder auf und schloss sie im Sommer 2010 weitgehend ab.

Auf die methodisch-theoretischen Arbeiten zur Konstruktion von sinnhaften Kategorien zur Erfassung der „Sozialstruktur“ der (österreichischen) Nationalsozialisten wurde von allen drei Hauptbearbeitern großes Gewicht gelegt; vorläufige Ergebnisse daraus sind vor allem in den Teilen C.1.1, C.1.2, C.1.3 und C.1.4 niedergelegt. Gerhard Botz wurde dabei in der zweiten Jahreshälfte 2010 von Mag. Alexander Prenninger, der auf Werkvertrag vor allem die Rekonstruktion und Transformation bisher noch nicht bearbeiteter Rohdaten durchführte, unterstützt. Valide Inhaltliche Ergebnisse liegen im Teil C.2 vor.

Im Projektteil von Prof. Wolfgang Meixner, der 2007 zum Personal-Vizerektor der Universität Innsbruck bestellt wurde, ging es um eine verbesserte Analyse der sozialstrukturell relevanten Daten von (meist illegalen) Nationalsozialisten, die 1933 bis 1938 vom autoritätsstaatlichen Österreich ausgebürgert wurden. Durch einen Mitarbeiter, Mag. Gerhard Siegl, konnten im Rahmen eines Werkvertrages die ca. 10.500 zur Verfügung stehenden Personendatensätze ergänzt und kontrolliert werden (siehe C.3)

Die Recherche der Daten für die „Wien-Erhebung“ waren von Kurt Bauer bereits in einem früheren Stadium im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik durchgeführt worden (Bestand Bundeskanzleramt-Inneres 22/Wien 1933–38). In einem ersten Projektschritt arbeitete Kurt Bauer diese zum Teil – sofern sie personenbezogene Angaben enthielten – fotokopierten Akten systematisch auf und übertrug sie in eine Datenbank, die nunmehr 1324 Personen enthält. Ein Großteil seiner Arbeit konzentrierte sich auf die quellenkritische Bearbeitung und genaue Dokumentation sowie Erweiterung dieser Datenbank und jener zum folgenden Projektteil. Beide Datenbanken werden nach Abschluss der mit diesem Projekt begonnenen Forschungsarbeiten und unter Beachtung der daten- und

4 Die erwähnte Publikation ist Mitte 2008 erschienen: Kurt Bauer: Nationalsozialismus. Ursprün- ge, Anfänge, Aufstieg und Fall. Wien, Köln, Weimar 2008 (Böhlau Verlag; UTB-Taschenbuch 3076). 616 Seiten, D: 24,90 €, A: 25.60 €. Siehe: http://www.boehlau.at/978-3-8252-3076-0.html. 31

personenschutzrechtlichen Bestimmungen über das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, Wien für einschlägige Forschungen zur Verfügung stehen.

Von vornherein war vor allem die Erfassung und Auswertung der Daten für die „Wöllersdorf-Erhebung“ von Kurt Bauer als Kernstück und Hauptteil der Arbeit an diesem Forschungsprojekt ins Auge gefasst worden.

Akten mit Bezugnahme auf die österreichischen Anhaltelager wurden von 1933 bis 1938 von der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im Bundes- kanzleramt-Inneres unter der Signatur 20/g abgelegt. Dieser Aktenbestand befindet sich im Archiv der Republik des Österreichischen Staatsarchivs; laut Inventar sind 89 Archivkartons vorhanden.

Im Zuge der Bearbeitung dieses Bestandes und der Übertragung der Daten in eine Datenbank stellte sich dreierlei heraus:

Es handelt sich bei den Anhalteakten aus Gründen, die im Abschnitt B noch näher dargelegt werden, um einen – bisher allerdings kaum beachteten und tatsächlich selektiv auch fast nicht zu erschließenden – Schlüsselbestand zur Geschichte und Struktur des österreichischen Nationalsozialismus von 1933 bis 1938 und darüber hinaus zur Geschichte der illegalen Bewegungen im ständestaatlichen Österreich insgesamt.

Die Bestandsbearbeitung und Datenerfassung stellte sich als wesentlich zeit- aufwendiger heraus, als – trotz einer Probeerfassung von drei Archivkartons vor Projekteinreichung – angenommen worden musste.

Die Eigenheit des Bestandes, die ebenfalls im Abschnitt B ausführlich dargestellt wird, macht eine Stichprobenerhebung unmöglich. Als statistisch einzig seriöse und der oben bereits angedeuteten allgemein-historischen Bedeutung des Bestandes einzig angemessene Vorgangsweise kristallisierte sich im Zuge der Arbeit die Vollerhebung (das heißt Erfassung des gesamten Bestandes 1933– 1938) heraus.

Bis Projektende konnte Kurt Bauer in mühevoller Kleinarbeit sämtliche 89 Archivkartons aufarbeiten und die Daten von rund 8400 nationalsozialistischen 32

Anhaltehäftlingen in die „Wöllersdorf-Datenbank“ aufnehmen. Allein für die Durchsicht der Akten und die Erfassung der Daten betrug der Aufwand im Österreichischen Staatsarchiv 265 Personentage. Zusätzliche Datenbankarbeiten (Pflege der Daten, Ausscheiden von doppelt aufgenommenen Personen, Zusammenführen von Daten, Codierungsarbeiten, Recherche von in den Akten genannten Ortsgemeinden etc.) betrug rund 100 Personentage.

Weitere Arbeiten an dem Projekt (Erfassung, Pflege und Auswertung der Wien- Datenbank, Recherchen, Verfassen von Texten, Studium der Literatur und Überarbeitung des Konzepts der historischen Milieuanalyse, Bearbeiten der Datenbank der österreichischen Volkszählung von 1934 etc.) erforderten einen zusätzlichen Arbeitsaufwand von weiteren rund 100 Personentagen.

Bereits als ein Folgeprojekt führt Kurt Bauer seit November 2010 (bis Ende 2011) mit Mitteln, die vom Zukunftsfonds der Republik Österreich zur Verfügung gestellt wurden, die Erfassung und Codierung der sozialdemokratischen und kommunistischen Anhaltehäftlinge durch. Dieses Projekt steht im Zusammenhang mit der politischen und juristischen Rehabilitierung von verfolgten Sozialdemokraten und Kommunisten während der autoritären Diktatur Dollfuss’ und Schuschniggs.5

Weitere Schritte zur einheitlichen, vergleichenden Auswertung sämtlicher vorhandener Datenbestände zur NSDAP sind in Vorbereitung.

5 Kurt Bauer, Die Sozialstruktur der sozialdemokratischen und kommunistischen Häftlinge der österreichischen Anhaltelager (1933–1938); gefördert vom Zukunftsfonds der Republik Österreich, Projektnummer P10-0714. 33

B Tätigkeitsbericht

B.1 Projektteil: Analysen von Stichproben aus der NS- Mitgliederkartei 1918/1933–1938/45 (Gerhard Botz)

Auf der Grundlage einer repräsentativen systematisch gezogenen Zufallsstichprobe (n = 5700) in der „großen Kartei“ der NSDAP-Hauptkartei im Berlin Document Center (heute Bundesarchiv Berlin-Zehlendorf)6 konnten frühere kategoriale und quantitative Ergebnisse über die Sozialstruktur der NSDAP-Mitglieder (Teil C.2 dieses Berichts) verfeinert und erweitert werden

Als Kontrapunkt zu diesem methodischen Vorgehen (quantitative Analyse zu aggregierender Daten) führte der Projektleiter eine spezielle Untersuchung der Art und Weise durch, wie die (Aufnahme suchenden) NS-Sympathisanten oder - Aktivisten in reguläre Parteigenossen überführt wurden (oder nicht). Vor allem nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland bzw. Österreich wurde dies eine als hoch bürokratisches Verfahren intendierte Prozedur, die sehr wenig von der ursprünglichen Dynamik des Zustroms zur NSDAP bis 1933 bzw. 1938 bewahrte, sodass manche kurzschlüssige scheinexakte Ergebnisse als höchst unsicher gelten müssen. Dabei konnte sich Gerhard Botz erstmals auf eine Analyse einer Zufallstichprobe (n = 320) aus NSDAP-Mitgliedern, von denen Parteikanzleiakten angefertigt wurden, innerhalb der oben erwähnten gesamten Stichprobe stützen. Sie erhärten den schon festgestellten Konstruktionscharakter der NSDAP ab 1933 bzw. (in Österreich rückwirkend) ab 1938 (siehe Teil C 1.2).

6 Die Arbeiten wurden dankenswerter Weise durch eine Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg 1976/77 und 1994/95 unterstützt. 34

B.2 Projektteil: 11.000 ausgebürgerte illegale Nationalsozialisten aus Österreich 1933–1938 (Wolfgang Meixner)

In diesem Projektteil wurde zunächst die aus dem „Ausbürgerungsverzeichnis“7 generierte Datenbank8 mit einer gedruckten Quelle („Ausbürgerungslisten“ des Innenministeriums9) abgeglichen. In erster Linie wurden die Spalten „liste“ und „nummer“ händisch um die entsprechenden Vermerke (Person aus dem Verzeichnis bzw. in der Datenbank findet sich in der Liste X unter Nummer Y) ergänzt, gegebenenfalls wurden auch Geburtsdaten ausgebessert bzw. nachgetragen und Anmerkungen, z. B. bei Doppelnennungen, Streichungen aus dem Verzeichnis gemacht.10 Darüber hinaus wurde im Tiroler Landesarchiv recherchiert und einige Jahresjournale der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck ausgehoben, um so auf weitere Listen mit Ausgebürgerten zu stoßen. Es gab in den Journalen Hinweise auf drei Aktenstücke. Beim Aushebeversuch hat sich allerdings herausgestellt, dass die Akten fehlten. Somit konnten die fehlenden

7 Ausbürgerungsverzeichnis der Listen 1 – 15, o. Ort, o. Jahr [1939], 224 Seiten. UB Sig. 22.3060/1.Expl. 8 Excel-File mit 10.422 Datensätzen. Für statistische Auswertungen wurde eine SPSS-Version erstellt. Diese kann über den Ortschlüssel mit den digital vorliegenden Ergebnissen der Volkszählung 1934 verschränkt werden. 9 ÖStA, AdR, BKA/Inneres (02), ZEST Ausbürgerung. Geschäftszahlen 221.283-GD vom 14.10.1933 (1. Verzeichnis), 226.614-GD 1/33 vom 30.10.1933 (2. Verzeichnis), 226.468-St.B. vom 15.11.1933 (3. Verzeichnis), GD-233.658-StB vom 2.12.1933 (4. Verzeichnis), GD-242.501- StB/1933 ohne Datum (5. Verzeichnis), GD 253.736-StB/33 vom 6.1.1934 (6. Verzeichnis), GD 112.071-StB ohne Datum (7. Verzeichnis), GD 185.448-StB vom 21.6.1934 (8. Verzeichnis), GD 210.539-StB vom 29.7.1934 (9. Verzeichnis), GD 309.888-St.B. vom 15.11.1934 (10. Verzeich- nis), G.D. 313248-St.B. vom 26.2.1935 (11. Verzeichnis), GD 346.277-St.B. vom 20.7.1935 (12. Verzeichnis), G.D. 378.205-St.B./35 vom 19.12.1935 (13. Verzeichnis), G.D. 328.287-St.B. vom 9.5.1936 (14. Verzeichnis), GD 360.670-StB vom 18.10.1936 (15. Verzeichnis), GD 328.534-StB vom 8.5.1937 (16. Verzeichnis), GD 377.226-StB/37 vom 14.1.1938 (17. Verzeichnis), GD 171.841-St.B. vom 14.6.1934 ([18.] Berichtigung). Die Listen sind aufgrund der Verordnung vom 16. August 1933, BGBl. Nr. 369, erstellt worden. 10 197 Personen wurden in späteren Listen wieder aus dem Verzeichnis gestrichen. Vier im Verzeichnis enthaltene Personen konnten keiner Liste zugeordnet werden. 35

Listenseiten bislang nicht ergänzt werden. Wohl aber konnten die in der gedruckten Version des Ausbürgerungsverzeichnisses fehlenden Seiten 194–195, 198–199, 202–203 sowie 206–207 durch das in der Universitätsbibliothek Innsbruck aufgefundene Duplikat ergänzt und in die Datenbank eingearbeitet werden.

Aufgrund dieser Arbeiten ist nunmehr eine listenmäßige und damit auch zeitliche Auswertung des Datenbestandes möglich. 36

Verteilung der Personen auf Listen

Kumulierte Liste Häufigkeit Prozent Gültige Prozente Prozente

1 (14.10.1933) 309 3,0 3,0 3,0

2 (30.10.1933) 266 2,6 2,6 5,5

3 (15.11.1933) 401 3,8 3,8 9,4

4 (2.12.1933) 381 3,7 3,7 13,0

5 (o. Datum) 353 3,4 3,4 16,4

6 (6.1.1934) 432 4,1 4,1 20,6

7 (o. Datum) 379 3,6 3,6 24,2

8 (21.6.1934) 481 4,6 4,6 28,8

9 (29.7.1934) 406 3,9 3,9 32,7

10 (15.11.1934) 2706 26,0 26,0 58,7

11 (26.2.1935) 448 4,3 4,3 63,0

12 (20.7.1935) 1006 9,7 9,7 72,6

13 (19.12.1935) 583 5,6 5,6 78,2

14 (9.5.1936) 1676 16,1 16,1 94,3

15 (18.10.1936) 394 3,8 3,8 98,1

16 (8.5.1937) 142 1,4 1,4 99,5

17 (14.1.1938) 55 ,5 ,5 100,0

Gesamt 10418 100,0 100,0

Fehlend 4 ,0

Gesamt 10422 100,0

37

Verteilung auf Listen ohne gestrichene Personen

Kumulierte

Liste Häufigkeit Prozent Gültige Prozente Prozente

1 (14.10.1933) 292 2,9 2,9 2,9

2 (30.10.1933) 251 2,5 2,5 5,3

3 (15.11.1933) 400 3,9 3,9 9,2

4 (2.12.1933) 339 3,3 3,3 12,5

5 (o. Datum) 333 3,3 3,3 15,8

6 (6.1.1934) 427 4,2 4,2 20,0

7 (o. Datum) 369 3,6 3,6 23,6

8 (21.6.1934) 466 4,6 4,6 28,1

9 (29.7.1934) 401 3,9 3,9 32,1

10 (15.11.1934) 2679 26,2 26,2 58,3

11 (26.2.1935) 428 4,2 4,2 62,5

12 (20.7.1935) 992 9,7 9,7 72,2

13 (19.12.1935) 583 5,7 5,7 77,9

14 (9.5.1936) 1671 16,3 16,3 94,2

15 (18.10.1936) 394 3,9 3,9 98,1

16 (8.5.1937) 141 1,4 1,4 99,5

17 (14.1.1938) 55 ,5 ,5 100,0

Gesamt 10221 100,0 100,0

Fehlend 4 ,0

Gesamt 10225 100,0

38

B.3 Projektteil: Illegale Nationalsozialisten in Wien 1933–1938 („Wien-Erhebung“) (Kurt Bauer)

Von der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien in den Jahren 2004 und 2005 zur Verfügung gestellte Mittel ermöglichen es mir, Recherchen zur Geschichte des illegalen Nationalsozialismus in Wien im Archiv der Republik des Öster- reichischen Staatsarchivs sowie im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde durch- zuführen und die wichtigsten Quellenbestände aufzuarbeiten.11

Im Zuge AdR-Recherchen konnte ich sämtliche Archivkartons (insgesamt 43 Stück) des zentralen Bestandes BKA-Inneres 22/Wien 1932–1938 sowie Teile von weiteren Beständen12 sichten, protokollieren und – soweit es sich um Personaldaten handelte – in einer Datenbank erfassen. Diese Datenbank umfasste schließlich 643 illegale Nationalsozialisten aus Wien. Zusätzlich fertigte ich zahlreiche Fotokopien von relevanten Dokumenten an, die Personaldaten enthielten (z. B. Sammelberichte und Sammelanzeigen der Wiener Polizei, diverse Auflistungen mit Personaldaten etc.).

Durch Archivrecherchen in den NS-Personalakten des ehemaligen Berlin Document Center (nunmehr Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde) konnten die Daten von einigen hundert führenden Wiener Nationalsozialisten ergänzt werden. Diese Arbeiten im August 2006 wurden bereits mit Blick auf das Ende Juni 2006 vom Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank bewilligte gegenständliche

11 Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien, Magistratsabteilung 8, Wiener Stadt- und Landes- archiv; Projekt H-1040/2004 („Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus in Wien – Forschungen im Archiv der Republik/ÖStA“) sowie Projekt H-717/2005 („Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus in Wien – Forschungen im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde“). 12 BKA-Inneres, Polizeidirektion Wien, Berichte; NS-Parteistellen (Restbestände des Parteiarchivs der Wiener NSDAP bis 1933); der umfangreiche Akt des Militärgerichtsprozesses gegen den Wiener SA-Führer Viktor Band; die im AdR aus Beständen des BKA geschaffene Zeitgeschicht- liche Sammlung sowie „Gauakten“ (offiziell: „Gaupersonalamt des Gaues Wien“) von Wiener NS- Führern. 39

Forschungsprojekt durchgeführt. Die erhobenen Daten von Wiener National- sozialisten („Wien-Datenbank“) sollten in das Gesamtprojekt zur Sozialstruktur der illegalen NS-Bewegung in Österreich einfließen.

Die datenbankmäßige Erfassung der in den angefertigten Fotokopien enthaltenen Personaldaten erfolgte als erste Stufe des Forschungsprojektes. Die Wien- Datenbank umfasst nunmehr 1324 Personen, darunter sind 39 Frauen (2,95%). 40

B.4 Projektteil: Die nationalsozialistischen Häftlinge der öster- reichischen Anhaltelager 1933–1938 („Wöllersdorf- Erhebung“13) (Kurt Bauer)

Wesentlich umfangreicher, aufwendiger und im Gesamtrahmen des Projektes sicherlich auch inhaltlich bedeutender ist die Erhebung und Analyse der personenbezogenen Daten der nationalsozialistischen Angehaltenen14 des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes. Die Arbeit dafür wurde unmittelbar nach Abschluss der Wien-Erhebung begonnen und zu einem guten Teil im Österreichischen Staatsarchiv durchgeführt.

13 Zur Bezeichnung „Wöllersdorf-Erhebung“ bzw. „Wöllersdorf-Datenbank“ ist anzumerken: Es bestanden neben dem Anhaltelager Wöllersdorf noch eine Reihe weiterer mehr oder weniger improvisierter temporärer Lager, die zur „Verhaltung“ von „sicherheitsgefährlichen Personen“ dienten (z. B. in Kaisersteinbruch im Burgenland oder Messendorf und Waltendorf bei Graz, aber auch Polizei- und Gerichtsgefängnisse wurden zur „Anhaltung“ in Anspruch genommen). Es werden im Zuge dieser Erhebung auch die Daten von Personen erfasst, die in anderen Lagern als Wöllersdorf angehalten wurden, weshalb man korrekterweise von einer „Anhalte-Erhebung“ und „Anhalte-Datenbank“ sprechen müsste. Allerdings war Wöllersdorf das weitaus größte und auch das einzige Lager, das von 1933 bis 1938 in Betrieb war. Und nach wie vor wird „Wöllersdorf“ im historischen Bewusstsein schlechthin mit dem System der Anhaltelager während der Zeit des „Austrofaschismus“ (oder „Ständestaates“) identifiziert, sodass die Titelgebung gerechtfertigt erscheint. 14 In den die Anhaltung betreffenden Verordnungen und Gesetzen wurden Begriffe wie „Häftlinge“ oder „Gefangene“ grundsätzlich vermieden, stattdessen war durchwegs von „Angehaltenen“ die Rede. Die Behörden wichen im alltäglichen Schriftverkehr kaum einmal von dieser Vorgabe ab. Auch ist in den gesetzlichen Bestimmungen nie von „Inhaftierung“ oder „Lagern“ die Rede, sondern „sicherheitsgefährliche Personen“ wurden zum „Aufenthalt an einem bestimmten Ort“ „verhalten“. Man wollte damit jeden Vergleich mit den Konzentrationslagern des Dritten Reichs und der dort praktizierten „Schutzhaft“ vermeiden und verwahrte sich grundsätzlich gegen eine derartige Gleichstellung. Allerdings war der Begriff „Anhaltelager“ letztlich doch nicht zu umgehen. – Entgegen der ständestaatlichen Sprachregelung werde ich auf die Begriffe „Häftlinge“, „Gefangene“, „Inhaftierte“ etc. nicht verzichten, weil es sich bei den Insassen der Anhaltelager ohne Zweifel um Personen handelte, die gegen ihren Willen in hoheitliche Gewahr- sam genommen wurden und diese deshalb mit Fug und Recht als Gefangene oder Häftlinge angesehen und angesprochen werden können. 41

Im Rahmen des Projektes konnten sämtliche Archivkartons (Nr. 4441 bis 4529) des Bestandes ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g gesichtet, hinsichtlich der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge ausgewertet und datenbankmäßig erfasst werden. Die „Wöllersdorf-Datenbank“ umfasst rund 8400 Personen.

B.4.1 Der Bestand

Schriftstücke mit Bezug auf die österreichischen Anhaltelager bzw. die dort angehaltenen Personen, die die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im Bundeskanzleramt-Inneres erreichten, wurden unter der Signatur 20/g abgelegt. Die Gründe, wieso ab Ende 1933 alle die Anhaltung betreffenden Akten gerade unter dieser Signatur, die ursprünglich ganz anderen Inhalten gewidmet war, abgelegt wurden, sind nicht bekannt; es dürften rein organisatorische Gründe dafür ausschlaggebende gewesen sein, weil ein inhaltlicher Zusammenhang nicht zu erkennen ist.

Abb.: Überblick Bestand ÖStA/AdR, BKA-Inneres, 20/g „Sittenpolizei, Gifte (ohne Rauschgift), Rauschgiftverkehr, öff., Bekämpfung.“

Jahr Kartons Nr. Anzahl 1922–1927 4434 1 1928–1929 4435 1 1929 4436 1 1926–1930 4437 1 1930–1931 4438 1 1931 4439 1 1932–1933 4440 1 1933 4441 1 1934 4442–4467 26 1935 4468–4498 31 1936 4499–4510 12 1937 4511–4522 12 1938 4523–4529 7

42

Insgesamt umfasst der Bestand 96 Archivkartons, davon sind 89 für die Aus- wertung der österreichischen Anhaltehäftlinge von Interesse.

Bei intensiver Beschäftigung mit dem Bestand entsteht der Eindruck, dass die Beamten unter dem forcierten Druck der politischen Ereignisse und der rapide steigenden Zahl der Anhaltungen gerade im Laufe der Jahre 1933/34 kaum noch dazu imstande waren, den täglich anfallenden Arbeitsaufwand zu bewältigen. So wurde eine Berufung gegen die Anhaltung im Normalfall erst „erledigt“, wenn der Angehaltene schön längst wieder entlassen worden war.15

Der Bestand ist nicht nur hinsichtlich der sozialstrukturellen Analyse von Interesse, sondern darüber hinaus als hervorragende, allerdings aufgrund seiner relativen Ungeordnetheit schwer zu erschließenden Quelle zur Ereignis-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte des (illegalen) Nationalsozialismus in Österreich im Besonderen bzw. der Epoche von 1933 bis 1938 im Allgemeinen. Auch für die Erstellung einer Kollektivbiographie der österreichischen NS-Eliten finden sich viele nützliche und aufschlussreiche Unterlagen.

Die Erfassung auch von Anhaltehäftlingen des linken Lagers (Sozialdemokraten und Kommunisten) wurde vorläufig zurückgestellt. Eine derartige Datenbank würde einen aussagekräftigen Sozialstrukturvergleich zwischen der sozialdemokratischen/kommunistischen und der nationalsozialistischen Opposition gegen den Ständestaat ermöglichen und wäre zusätzlich ereignisgeschichtlich von höchstem Interesse. Die Erfassung und Auswertung der linken Anhaltehäftlinge wird in einem nächsten Projektschritt, wie einleitend bereits erwähnt, mit Mitteln des Zukunftsfonds der Republik Österreich ermöglicht.

15 Laut § 2 der Verordnung vom 23. September 1933 (BGBl. 431/1933) war eine Berufung mit nicht aufschiebender Wirkung möglich. Mit dem diese Verordnung ersetzenden Bundesgesetz wurde die Möglichkeit zur Berufung allerdings wohlweislich stark eingeschränkt. Laut § 2 des Bundesgesetzes vom 24. September 1934 (BGBl. 253/1934) waren Berufungen nur möglich, wenn die Anhaltung auf mehr als drei Monate oder unbestimmte Zeit verfügt wurde. 43

B.4.2 Problempunkte

Als besonders hinderlich für einen rascheren Fortschritt bei der Datenerfassung erwiesen sich zwei Punkte:

1. Mehrfachnennungen,

2. unstrukturierter Quellenbestand.

Zum ersten Punkt: Der überwiegende Teil der Schriftstücke des ausgewerteten Quellenbestandes enthalten sozialstrukturell relevante personenbezogene Daten. Mehrfachangaben zu ein und derselben Person sind die Regel; der Durchschnitt liegt bei drei bis vier Nennungen, nicht selten finden sich in sechs bis zu acht Schriftstücken Angaben zu ein und derselben Person.

Dieser Umstand machte es nötig, bei jeder Nennung per Suchlauf in der Datenbank zu prüfen, ob die genannte Person bereits erfasst ist und ob Ergänzungen oder Korrekturen in den bereits erfassten Daten nötig sind – was mit einem enormen, ursprünglich trotz der Probeerfassung von drei Archivkartons nicht einkalkulierten Zeitaufwand verbunden war.

Die genannten Ergänzungen und Korrekturen führten allerdings zu einer beträchtlichen qualitätsmäßigen Steigerung des Datenbestandes und Schärfung der Sozialstrukturangaben. Dazu ein fiktives, aber realistisches Beispiel:

• Franz Mustermann aus Kärnten findet sich erstmals in Archivkarton Nr. 4446 in einem Wöllersdorfer Nachtragsverzeichnis (Tageslisten mit neu auf- genommenen Anhaltehäftlingen) mit der Berufsbezeichnung „Fleischer“.

• Der Karton Nr. 4448 enthält den Anhaltebescheid Franz Mustermanns mit der Berufsbezeichnung „Metzgergehilfe“ – was immerhin schon eine Konkreti- sierung hinsichtlich der Stellung im Beruf bedeutet.

• Ein Sammelakt im Karton Nr. 4449 enthält eine Reihe von Anhalteanträgen, die der Kärntner Sicherheitsdirektor im Laufe eines Monats im Bundes- kanzleramt einreichte, im dem Franz Mustermann u. a. als „Fleischergeselle und Gastwirtssohn“ bezeichnet wird. 44

• Und im Archivkarton Nr. 4452 befindet sich schließlich ein Mantelakt mit einem ausführlichen Entlassungsgesuch der Eltern des Angehaltenen. Demnach ist Franz Mustermanns Vater, der eine Gastwirtschaft, Landwirtschaft und Fleischhauerei besitzt, „leidend“; der Betrieb kann auf die Arbeitskraft des Sohnes, der am ehesten als eine Art „Juniorchef“ zu bezeichnen ist, nicht verzichten. Eine in diesem Mantelakt enthaltene Stellungnahme des örtlichen Gendarmeriepostenkommandos bestätigt die in der Eingabe gemachten Angaben im Wesentlichen und liefert zusätzlich Angaben zur Funktion Franz Mustermanns in der NS-Ortsgruppe, wie sie in dieser konkreten Form den bisher ausgewerteten Schriftstücken (Nachtragsverzeichnis, Anhaltebescheid und Anhalteantrag) nicht zu entnehmen waren.

Zum zweiten Punkt: Die zu erfassenden Sozialstrukturdaten liegen im Quellen- bestand nicht als Konstrukte in standardisierter, tabellarischer oder zumindest einheitlich formularmäßig aufgebauter Form vor, sondern sind höchst unterschiedlich strukturiert. Auflistungen von Anhaltehäftlingen, die häufig aus den verschiedensten Gründen erstellt wurden, sind nach keinem einheitlichen Prinzip aufgebaut. Häufig sind datenbankmäßig zu erfassende relevante Angaben in amtliche Schriftstücke aller Art, Berichte, Bescheide, Eingaben, Bittgesuche, Berufungen etc. eingebunden und müssen im wahrsten Sinn des Wortes mühsam „zusammengesucht“ werden. Es macht einen beträchtlichen Unterschied, ob Daten aus Auflistungen und Formularen gleichsam mechanisch übernommen werden können oder ob es notwendig ist, einen mehr oder weniger umfangreichen Akt zu studieren, um an die datenbankrelevanten Daten zu gelangen.

B.4.3 „Dichtes“ Material

Bei aller Mühsal der Datenerfassung muss gesagt werden, dass sich auf diese Art in vielen Fällen ein äußerst „dichtes“ Datenmaterial generieren lässt, das eine tiefgehende und sehr valide sozialstrukturelle Analyse ermöglicht. In Hunderten Fällen liegen genaue Angaben sowohl zur sozialen, familialen Herkunft, zum 45

persönlichen Werdegang, zur beruflichen Karriere und zu den ausgeübten Funktionen in der NSDAP und/oder einer ihrer Gliederungen vor. Das ist allerdings nicht immer so. Von vielen Anhaltehäftlingen sind nur karge Angaben vorhanden, die kaum über diejenigen in Ausbürgerungslisten oder der NS- Mitgliederkartei hinausgehen.

Aus diesem Grund könnte es sinnvoll sein, bei der Auswertung die in der Wöllersdorf-Datenbank erfassten Fälle nach verschiedenen Validitätsniveaus zu kategorisieren und gegebenenfalls abgestuft auszuwerten. Eine derartige Kategorisierung könnte folgendermaßen aussehen:

A Fälle mit vollständigen Angaben in allen in der Datenbank erfassten Bereichen, zudem umfassende, „dichte“ Angaben zur sozialen Herkunft, Lebenslauf, Beruf und Einkommensverhältnissen sowie zu den in der NSDAP ausgeübten Funktionen, wodurch eine möglichst exakte Einstufung innerhalb der Parteihierarchie möglich ist;

B Fälle mit weitgehend vollständigen Angaben in allen in der Datenbank erfassten Bereichen, zudem „dichte“ Angaben entweder zur sozialen oder politischen Positionierung;16

C Fälle, für die Angaben nur auf dem Niveau von knappen tabellarischen Auflistungen oder Karteien vorliegen (also Name, Beruf, Geburtsdatum, Stand, gegebenenfalls Konfession, Wohnort, Geburtsort, Zuständigkeit).

Weiters wird es sinnvoll sein, bei der Auswertung der Wöllersdorf-Datenbank zwischen verschiedenen Gruppen von Anhaltehäftlingen zu unterscheiden, und zwar a) der Gruppe der laut der Anhalteverordnung vom 23. September 1933 Angehaltenen,

16 Die Erfassungspraxis zeigt, dass in vielen Fällen umfassende Angaben zur sozialen Lage eines Anhaltehäftlings vorliegen, während über die politischen Tätigkeit keine ausreichenden Angaben gemacht werden – und umgekehrt. 46

b) der Gruppe der Juliputsch-Minderbeteiligten (laut Bundesverfassungsgesetz vom 30. Juli 1934) sowie c) der Gruppe der laut dem Anhaltegesetz vom 24. September 1934 Angehaltenen.

Es handelt sich dabei zwar vordergründig nur um verschiedene Gesetzes- grundlagen, die zudem – zumindest was die Punkte a) und c) betrifft – von den inhaltlichen Bestimmungen her nur geringfügig voneinander abweichen. Allerdings war mit den genannten drei Gesetzen jeweils eine Änderung der Anhaltepraxis verbunden, was sich auf die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Angehaltenen Unterschiede ausgewirkt haben könnte; das heißt, dass auch diese sozialstrukturellen Ergebnisse in einem hohen Maße von politisch- bürokratischen Entscheidungen beeinflusst sind.

B.4.4 Vollerfassung der gesamten Aktenbestandes

Alternativ zu der im vorgegebenen zeitlichen und finanziellen Rahmen nicht zu bewerkstelligenden Vollerfassung der Daten sämtlicher nationalsozialistischer Anhaltehäftlinge der Jahre 1933 bis 1938 hätte sich eine Stichprobenerhebung angeboten. So hätte man beispielsweise a) nur jeden zweiten, dritten, fünften etc. Archivkarton erfassen oder b) aus jedem Karton nur eine bestimmte, nach einem noch näher zu definierenden Verfahren ausgewählte Anzahl von Fällen aufnehmen können.

Da die Unterlagen aber nicht nach einem neutralen Ordnungsschema – beispielsweise alphabetisch wie etwa die NS-Mitgliederkartei – angelegt ist, sondern sich deren „Ordnung“ aus der nicht mehr rekonstruierbaren Logik der bürokratischen Bearbeitung und Ablage ergibt oder durch nachträgliche archivarische Manipulationen hergestellt wurde, wären statistische Verzerrungen 47

durch eine Strichprobenauswahl nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich gewesen.

Um ein plausibles Beispiel zu konstruieren: Es ist durchaus denkbar, dass von Amts wegen sämtliche Anhaltebescheide gegen Juliputsch-Beteiligte in zwei Archivkartons gesammelt wurden. Ebenso denkbar wäre es, dass gerade diese Kartons aufgrund des oben skizzierten Zufallsauswahlverfahrens a) ausgeschieden und in der Datenbank nicht erfasst werden würden – was angesichts der zentralen Bedeutung des Juliputsches und der großen Anzahl von Juliputsch-Beteiligten unter den Anhaltehäftlingen hinsichtlich der Repräsentativität höchst problematisch wäre.

Ähnlich problematisch und auch arbeitsökonomisch im Grunde nicht zu realisieren wäre die Anwendung des Verfahrens b).

Ebenso unbefriedigend und zweifelhaft wäre es gewesen, die die Erfassung zu einem bestimmten Punkt abzubrechen.

Das hätte folgende Nachteile gehabt:

• Auch bei dieser Vorgangsweise wären zahlreiche sozialstrukturell wichtige Daten, die zufällig in später abgelegten Akten zu finden gewesen wären, nicht erfasst worden. Die Praxis zeigt, dass sich in Kartons aus den Jahren 1935 bis 1937 noch wichtiges Material zu Personen findet, die 1934 in Anhaltung waren.

• Wenn man die Erfassung der Anhaltehäftlinge auch ereignisgeschichtlich für wünschenswert und wesentlich hält, so würde durch dieses Verfahren ebenfalls wichtiges Material nicht aufgearbeitet werden.

Beispielsweise wurden gerade über wichtige NS-Führer Sammelakte angelegt, die über mehrere Jahre geführt und erst relativ spät archiviert wurden. So findet sich über den Wiener SS-Führer Josef Fitzthum – einer zentralen Figur des National- sozialismus in Wien –, der nach längerem Gefängnisaufenthalt erstmals im Dezember 1934 in Anhaltung kam, Mitte 1936 und Mitte 1937 zwei ebenso 48

umfang- wie aufschlussreiche Sammelakte zu Vorgängen der Jahre 1934/35, die unter Umständen nicht erfasst worden wären.

Sukzessive stellte sich im Projektverlauf heraus, dass eine Vollerfassung sämtlicher nationalsozialistischer Anhaltehäftlinge von 1933 bis 1938 unumgänglich war, um Verschiebungen in der sozialstrukturellen Zusammen- setzung der NS-Bewegung im Zeitverlauf abbilden und aufschlussreiche Rückschlüsse auf die soziale Dynamik der illegalen NS-Bewegung in Österreich zwischen 1933 und 1938 ziehen zu können.17

Als ebenso wünschenswert muss eine Vollerfassung aus ereignis-/politik- geschichtlicher Sicht bezeichnet werden. Die Geschichte der illegalen NS- Bewegung in Österreich ist trotz einer größeren Zahl von vorhandenen Detail- studien noch keineswegs als aufgearbeitet zu bezeichnedn. Der Hauptgrund mag darin liegen, dass in den Jahren 1933 bis 1938 von den Akteuren der NS- Bewegung vergleichsweise wenig schriftliche und bildliche Quellen produziert wurden – was bei einer illegalen, im Geheimen arbeitenden, staatlich verfolgten politischen Bewegung nicht weiter verwundert. Zudem hatten die illegalen NS- Aktivisten von einst nach dem Ende der NS-Ära 1945 schon aus strafrechtlichen Gründen18 kein Interesse daran, mit ihren Erfahrungen aus der „Verbotszeit“ an

17 Ein Beispiel: Im Zuge der Datenerfassung wurde klar, dass es bei der zweiten Welle der Einweisungen von illegalen Nationalsozialisten in Anhaltelager zu nicht unbeträchtlichen sozialen Verschiebungen kam. Von der ersten Welle wurden vor allem amtsbekannte Nationalsozialisten aus der Zeit vor dem Verbot (19. Juni 1933) erfasst (Bezirksleiter, Ortsgruppenleiter, ehemalige NS-Gemeinderäte und sonstige führende politische und SA-Funktionäre etc.). Zur Zeit der zweiten Welle hatte der Kenntnisstand der örtlichen Sicherheitsbehörden bereits so weit zugenommen, dass nunmehr verstärkt die aktiven Elemente der illegalen NSDAP erfasst wurden – was mit teilweise beträchtlichen sozialen Verschiebungen verbunden gewesen sein dürfte. (Die erste große Einweisungswelle ist mit der ab Jänner 1934 einsetzenden großen NS-Terrorwelle zu datieren; dann Abbrechen mit der sozialdemokratischen Februarrevolte und dem anschließend von NS- Landesinspekteur Habicht ausgerufenen „Waffenstillstand“; schließlich Einsetzen der zweiten großen Welle ungefähr ab April 1934.) 18 Vgl. § 10 Abs. 1 Verbotsgesetz: „Wer in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 nach Vollendung des 18. Lebensjahres jemals der NSDAP angehört hat und während dieser Zeit oder später sich für die nationalsozialistische Bewegung betätigt hat oder Angehöriger eines der Wehrverbände der NSDAP (SS, SA, NSKK, NSFK) oder NS-Soldatenringes oder des NS- Offiziersbundes gewesen ist oder wer von der NSDAP als ‚Altparteigenosse‘ oder ‚Alter Kämpfer‘ 49

die Öffentlichkeit zu treten. Weiters wurden viele Quellenbestände – etwa die Akten der im Juni 1933 nach München geflohenen österreichischen Landes- leitung, des Hilfswerks für aus Österreich nach Deutschland geflohene National- sozialisten oder die nach dem „Anschluss“ 1938 gegründeten Gauarchive – systematisch vernichtet oder sind in den Wirren des Kriegsendes 1945 verloren gegangen.19 Jüngst erschienene Werke zum nationalsozialistischen Juliputsch 193420 haben allerdings exemplarisch gezeigt, dass sich viele ereignis- geschichtlich relevante Details zur illegalen NS-Bewegung über die vorhandenen und bekannten Bestände an Personalakten21 rekonstruieren lassen.

Die vollständige Erfassung der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge im Bestand BKA-Inneres 20/g, wie sie nunmehr durchgeführt wurde, ist über die sozialstrukturelle Analyse hinaus also auch in ereignisgeschichtlicher Hinsicht von Bedeutung. Diese Datenbank, die nach Projektabschluss am Ludwig- Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, am Institut für Zeit- geschichte der Universität Wien und/oder anderen einschlägigen Institutionen zur Verfügung stehen wird, enthält einen beträchtlichen Teil der in Österreich verbliebenen relevanten Akteure der illegalen NS-Bewegung und kann als wichtiger Ausgangspunkt für weitere ereignis-, organisations- und sozial- geschichtliche Forschungen dienen.

Das letzte für die Vollerfassung der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge ins Treffen geführte Argument (ereignisgeschichtliche Relevanz) spricht auch für eine volle Erfassung der linken Anhaltehäftlinge, wie sie derzeit erfolgt

anerkannt worden ist, hat sich des Hochverrates im Sinne des § 58 des St. G. schuldig gemacht und ist mit Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf bis zu zehn Jahren zu bestrafen.“ (Verbotsgesetz 1947, StGBl. Nr. 13/1945 idF BGBl. Nr. 148/1992.) 19 Siehe dazu neuerdings Gangelmayer, Das Parteiarchivwesen der NSDAP. 20 Schafranek, Sommerfest mit Preisschießen; Klösch, Des Führers heimliche Vasallen; Wolf, Jetzt sind wir die Herren. 21 Beispielsweise die Bestände des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin oder die Gauakten im Österreichischen Staatsarchiv und im Wiener Stadt- und Landesarchiv. 50

B.5 Weitere Aktivitäten

B.5.1 Öffentlichkeitsarbeit: Presseartikel „Wir haben nichts zu fürchten“ (Kurt Bauer)

Ende März 2008 erschien in der Beilage „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse“ ein Beitrag von Kurt Bauer über das Anhaltelager Wöllersdorf. Anlass, den Beitrag zu verfassen, war die Schließung des Lagers durch die National- sozialisten 70 Jahre zuvor.

(Ausschnitt) Text auf der Website der „Presse“: http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/373130/index.do „Wir haben nichts zu fürchten“ 28.03.2008 | 18:40 | Von Kurt Bauer (Die Presse) 51

Österreichische NSDAP-Mitglieder wurden hier genauso festgehalten wie Sozialdemokraten und Kommunisten: im ständestaatlichen Anhaltelager Wöllersdorf. Am 2. April 1938 wurde die Schließung gefeiert: mit einem pathetischen Nazi-Spektakel.

Wöllersdorf liegt günstig, nahe der Südbahn, unweit von Wiener Neustadt, aus ganz Österreich gut erreichbar. Auch ohne Auto kann man von Wien, wenn der Bahnanschluss passt, in einer Stunde dort sein. Station Feuerwerksanstalt. Eine prosaische Gegend: Einfamilienhäuser, Einkaufszentren, Lagerhallen. Keine Spur davon, dass sich hier einst der größte Betrieb der österreichisch-ungarischen Monarchie befand.Ab 1815 erprobte die kaiserliche Armee auf der steinigen Heide nordwestlich von Wiener Neustadt den Einsatz von Raketen. Später stieg man auf die Erzeugung von Munition um, die auf der von Besiedelung freigehaltenen Ebene gleich getestet werden konnte. 1895 nannte sich der rasch wachsende Betrieb schließlich „k. u. k. Munitionsfabrik in Wöllersdorf“, im Volksmund „Feuerwerksanstalt“. Rund um Wiener Neustadt entstand ein militärisch-industrieller Komplex, der im Ersten Weltkrieg gigantische Ausmaße erreichte. Allein in der Wöllersdorfer Fabrik waren um 1917 mehr als 40.000 Arbeiter und Arbeiterinnen unter gefährlichsten Bedingungen tätig.

Szenenwechsel. Anfang 1933: Hitler wurde in Deutschland an die Macht gehievt. In Österreich frettete sich eine Rechtskoalition unter Engelbert Dollfuß mit einer stets gefährdeten Mehrheit von einer Stimme dahin. Anfang März gab eine Geschäftsordnungskrise Dollfuß Gelegenheit, das lästige Parlament auszu- schalten. Zuerst wollte er zur Stärkung seines „antimarxistischen Kurses“ die österreichischen Nationalsozialisten in seine wackelige Koalition einbinden, lehnte sich dann aber mehr und mehr an Mussolini an. Während die Sozial- demokraten Schritt um Schritt zurückwichen, setzten die Nazis im Kampf um die Macht in Österreich zunehmend auf Sabotage- und Terroraktionen. Schließlich, am 19.Juni 1933, kam das Verbot der NSDAP.

Bald gingen die Arreste über von politischen Häftlingen. Es war naheliegend, sich für Auswege aus dieser Misere von den neuen deutschen Machthabern inspirieren 52

zu lassen, die angesichts ähnlicher Probleme im März 1933 in Dachau bei München ein erstes großes Konzentrationslager eingerichtet hatten. Sicherheits- minister griff entsprechende Anregungen aus Heimwehrkreisen auf und unterbreitete dem Ministerrat schließlich Anfang September den Entwurf einer Verordnung. Allerdings stieß er auf heftigen Widerstand des Landbundes, einer deutschnationalen antiklerikalen Bauernpartei, die den autoritären Kurs bislang loyal, aber mit zunehmendem Unbehagen mitgetragen hatte.

Ohne richterlichen Beschluss. Um es kurz zu machen: Christlichsoziale und warteten den in der ersten Septemberhälfte stattfindenden großen Katholikentag ab, entließen dann die Landbund-Minister und beschlossen schließlich in der Sitzung vom 21.September 1933 die „Verordnung des Bundes- kanzlers betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete“. Personen im „begründeten Verdacht“, staatsfeindliche Handlungen vorzubereiten oder zu begünstigen, konnten ohne richterlichen Beschluss auf unbestimmte Zeit angehalten werden. Damit war jeder behördlichen Willkür Tür und Tor geöffnet. Der Begriff „Lager“ wurde in der Verordnung tunlichst vermieden. Wie man auch später beleidigt die Bezeichnung „Konzentrationslager“ von sich wies und ihre Verwendung der österreichischen Presse strikt untersagte.

Einen geeigneten Anhalteort hatten Feys Beamte bereits vor Erlass der Verordnung ausgekundschaftet: ein Objekt in gutem baulichem Zustand in den brachliegenden Wöllersdorfer Werken. Am 17.Oktober 1933 rückten die ersten Häftlinge ein, zehn Nazis aus Schladming und Umgebung, darunter eine Frau, die erste und einzige, eine 34-jährige Lehrerin. Rasch waren die vorbereiteten Plätze besetzt, es musste umgebaut und ausgeweitet werden. Im Jänner 1934 begann eine gewaltige Terrorwelle der illegalen Nationalsozialisten, und die Einweisungen aus allen Teilen Österreichs nahmen sprunghaft zu. In Kaisersteinbruch, Burgenland, richtete man in Baracken des Bundesheeres ein zweites Lager ein, das aber nach einigen Monaten wieder aufgelöst wurde. Dazu kamen später weitere temporäre Lager an verschiedenen Orten. Wöllersdorf war das mit Abstand größte Lager und als einziges von 1933 bis 1938 durchgehend in Betrieb. 53

Nach dem 12. Februar 1934 füllte sich Wöllersdorf mit Sozialdemokraten, deren einziges Vergehen zumeist eine führende Funktion in der Partei gewesen war. Am 1.Juni 1934 betrug der Lagerstand 317 Nationalsozialisten und 627 Sozial- demokraten. Mit Theodor Körner und Adolf Schärf saßen zwei spätere Bundes- präsidenten im Anhaltelager. Nach dem nationalsozialistischen Juliputsch 1934 wendete sich die Verteilung wieder. Anfang Oktober 1934 belief sich der Lager- stand auf 5300 Personen, davon beinahe 90 Prozent Nazis. Danach sanken die Häftlingszahlen kontinuierlich. Zu Weihnachten 1934 zeigte sich das Regime großzügig und entließ mehr als die Hälfte der Angehaltenen. Gerade die National- sozialisten, aber auch Sozialdemokraten und Kommunisten waren bemüht, die Zustände im Anhaltelager propagandistisch zu verwerten und Wöllersdorf als eine Art Hölle auf Erden darzustellen. Aus geheimen Tagebuchaufzeichnungen, geschmuggelten Briefen und Erinnerungen lässt sich ein anderes Bild gewinnen. Die Internierung hinter Stacheldraht in engen, verwanzten Großraumschlafsälen und Baracken war zweifellos nicht angenehm. Die Untätigkeit – es gab keine Zwangsarbeit – und die Eintönigkeit des Lageralltags wirkten zermürbend. Die Menage wurde meist gelobt, zusätzlich konnte man sich Geld zum Kauf von Lebensmitteln, Tabakwaren und dergleichen ins Lager schicken lassen. Eine spezielle Lagerkleidung gab es nicht. Das war zu teuer.

Die angestrebte „seelische Einkehr“ (wie es hieß) im Sinne des christlich-vater- ländischen Regimes blieb aus. Im Gegenteil: Gerade jüngere Nationalsozialisten erhielten in der erzwungenen Gemeinschaft mit älteren, gebildeten Parteigenossen eine weiterführende weltanschauliche Schulung und ideologische Stärkung. Ein 35-jähriger nationalsozialistischer Selchwarengroßhändler aus Wien schrieb in einem von den Lagerbehörden abgefangenen Geheimbrief im Frühjahr 1934 an seine Lieben zu Hause: „Ich habe mir von Wöllersdorf ganz andere Vorstellungen gemacht. Wir haben gar nichts zu fürchten.“

1935 übernahm der Gendarmeriemajor Stillfried die Lagerführung und bemühte sich, die Anhaltehäftlinge stärker zu disziplinieren, was ihn bei vielen verhasst machte. Aber eine von kommunistischer Seite kolportierte Anekdote über Still- fried sagt viel über die spätere Bewertung der Anhaltung durch die Betroffenen 54

aus. Stillfried wurde von den Nazis mit dem ersten sogenannten Prominenten- transport wenige Wochen nach dem „Anschluss“ 1938 ins KZ Dachau eingeliefert. Dort soll er dem inspizierenden Reichsführer-SS vorgestellt worden sein. Himmler höhnisch: „Na, wie gefällt es Ihnen?“ Darauf Stillfried: „Ich wünsche den Gefangenen, dass sie einen Tag wie in Wöllersdorf hier erlebten.“

Sechs Schilling pro Kopf und Tag. Extrem belastend war für viele Anhalte- häftlinge die Ungewissheit über die Dauer ihres Zwangsaufenthaltes. Zu Hause ließen sie oft ein Geschäft zurück und mussten bei längerer Abwesenheit den Ruin befürchten, andere verloren ihren Posten oder, wenn sie arbeitslos waren, die ohnehin karge Notstandsunterstützung. Zahllose Familien standen von einem Tag auf den anderen ohne Existenzgrundlage da. Für die Anhaltung verrechneten die Sicherheitsbehörden pro Tag und Kopf sechs Schilling. Viele konnten diese Summe nicht aufbringen. Berichte über schwere Depressionen, Nervenzusam- menbrüche, Haftpsychosen oder Selbstmordversuche im Lager sind häufig. Krankheiten aller Art kamen oft vor, aber viele Erkrankungen waren vorgetäuscht, etwa eine Ruhrepidemie im Frühjahr 1934.

Überhaupt nützten die Häftlinge das ganze Repertoire des passiven Widerstandes aus, das ihnen zur Verfügung stand. Hungerstreiks, die immer wieder angezettelt wurden, nahm die Lagerleitung durchwegs sehr ernst und reagierte schnell darauf. In Kaisersteinbruch brach Anfang März 1934 eine wilde Häftlingsrevolte aus, weil ein Angehöriger der Wachmannschaft auf die Hänseleien eines Angehaltenen mit einem Gewehrschuss reagiert hatte. Ähnliche spontane Tumulte und organisierte Streikaktionen als Ausdruck der angestauten Frustration gab es im Laufe der Zeit immer wieder. Auch die Flucht aus dem Lager gelang manchen, den Kommunistenführern Fürnberg und Honner etwa, dem SS-Führer Fitzthum oder einigen Juliputschisten.

Ab Ende 1936, seit immer mehr Kryptonazis sich in ständestaatlichen Macht- positionen etablieren konnten, befanden sich durchwegs mehr Sozialdemokraten und Kommunisten als Nationalsozialisten im Lager. Nach dem Berchtesgadener Diktat Hitlers im Februar 1938 gingen schließlich die letzten Häftlinge frei. 55

Am 2. April 1938 veranstalteten die Nationalsozialisten im ehemaligen Lager ein pathetisches Spektakel. Der Ort erhielt den Namen Wöllersdorf-Trutzdorf, Gauleiter Josef Bürckel verkündete den neu gewonnenen Volksgenossen, die deutsche Freiheit benötige keinen Stacheldraht, eine der Häftlingsbaracken ging in Flammen auf. In den folgenden Monaten wurde das Anhaltelager liquidiert, das Betriebsareal auf Geheiß Görings in einen „Luftpark“ umgewandelt. Teile des Wöllersdorfer Lagerinventars gingen an das neu einzurichtende Konzentrations- lager Mauthausen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 29.03.2008)

Der vollständige, ungekürzte Text mit zusätzlichen Quellenangabe und Abbildungen steht als Download unter: http://www.kurt-bauer- geschichte.at/PDF_Texte%20&%20Themen/Anhaltelager_Woellersdorf.pdf zur Verfügung. 56

B.5.2 Erste wissenschaftliche Präsentation auf dem Österreichischen Zeitgeschichtetag 2008

Auf dem Österreichischer Zeitgeschichtetag 2008 in Innsbruck am 28. Mai 2008 war ein Panel dem Thema „’Illegale‘ in Österreich 1933–1938“ gewidmet (Chair: O. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz). Es ging darin um die Präsentation von Zwischenergebnissen zweier „verwandter“ Forschungsprojekte, nämlich des Projektes über „Ausbürgerungen im Austrofaschismus“ (Reiter- Zatloukal/Rothländer) und des NS-Sozialstrukturprojektes.

Referate im Einzelnen:

• Die Ausbürgerungsverordnung vom 16. August 1933 (Univ.-Prof. Dr. Ilse Reiter-Zatloukal, Univ. Wien)

• Die Ausbürgerungsverfahren der Bundes-Polizeidirektion Wien 1933–1938 (Dr. Christiane Rothländer, Univ. Wien) 57

• Schichtenmodell oder Milieu: methodische Überlegungen zur sozialen Herkunft von NS-Sympathisant/innen in Österreich zwischen 1933 und 1938 (Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Meixner, Univ. Innsbruck)

• Die nationalsozialistischen Häftlinge der österreichischen Anhaltelager 1933– 1938 (Dr. Kurt Bauer, LBIHS)

Veröffentlicht wurden die Referate im Tagungsband des 7. Österreichischen Zeitgeschichtetages.22

22 Böhler u. a. (Hgg.), 7. Österreichischer Zeitgeschichtetag 2008, S. 825–836, 845–854 und 855– 865. 58 59

C Ergebnisse

C.1 Klassen, Schichten, Milieus und Probleme – methodische Überlegungen zur Sozialstrukturanalyse

C.1.1 Probleme der sozialen Kategorienbildung auf Basis der NSDAP- Mitgliederkartei am Beispiel der „Alten Kämpfer“ (Gerhard Botz)23

Ein Hauptproblem jedes Versuchs einer eindeutigen Zuordnung von Personen nach Berufsangaben besteht in der Tatsache, dass sich viele dieser Angaben als mehrdeutig im Sinne der erwünschten Kategorie herausstellen. So beinhalten die Berufsangaben auf den NSDAP-Mitgliedskarten Informationen vor allem in folgenden Dimensionen: a) Beruf im engeren Sinn als Komplex von Verrichtungen und Fertigkeiten innerhalb einer arbeitsteiligen Arbeitsorganisation; b) Wirtschaftszweig insofern, als manche Berufe (fast) ausschließlich in bestimmten Wirtschaftszweigen vorkommen, wodurch eine Einordnung der „Berufsträger“ in diese möglich wird; c) arbeitsrechtliche Stellung (als Selbständiger einerseits, und Angestellte und Arbeiter andererseits); d) Bildungsgrad, der zur Ausübung eines bestimmten Berufes erforderlich ist; e) sozialer Status und Prestige eines „Berufsträgers“; f) Einkommenslage;

23 Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen überarbeiteten und adaptieren Auszug aus Botz, Die österreichischen NSDAP-Mitglieder, S. 127–134. 60

g) Stellung zum Produktionsprozess, also in Ausbildung begriffen, aktiv oder im Ruhestand; h) Geschlecht.

Gerade diese Mehrdimensionalität der Berufsbezeichnungen, die mit dieser Aufzählung noch keineswegs erschöpft ist, bereitet die allgemein bekannten Schwierigkeiten. Zu deren Überwindung bieten sich drei verschiedene Wege an:

1. eine Angleichung der Kategorien der Auswertung an die (als unüberwindbar betrachteten) Limitationen des Quellenmaterials und die Subsumtion der Fälle unter die Kategorien, das „subsumierende Verfahren“,

2. ein Pressen des Quellenmaterials in (theoretisch) vorgegebene Kategorien, wobei dieser Vorgang jedoch schon auf einer verhältnismäßig niedrigen Aggregationsebene wie der der Berufe und der Bundesländer erfolgen kann, das „aszendierende Verfahren“ Theodor Geigers,24 und

3. eine Erhebung zusätzlicher Informationen, bis das Datenmaterial den gestellten theoretischen Anforderungen annäherungsweise entspricht.

Bei der diesem Zwischenbericht zugrunde liegenden Untersuchung soll versucht werden, die Hauptinformation „Berufsbezeichnung“ mehrfach auszuwerten, und auf diese Weise, bei vertretbarem Aufwand der Mittel, entsprechende Ergebnisse mit einem vertretbaren Unsicherheitsfaktor zu gewinnen. Die sich daraus ergebende Mehrdimensionalität soll dann selbst als Positivum aufgefasst werden.

C.1.1.1 „Subsumierendes Verfahren“

Im Sinne der erstgenannten Möglichkeit können die „alten Kämpfer“ etwa nach einem gemischten Merkmal (arbeitsrechtliche Stellung im Betrieb und Erwerbsart) nach dem folgenden Schema klassifiziert und subsumiert werden:

• Bauern (einschließlich mithelfende Familienmitglieder),

• Freie Berufe (einschließlich mithelfende Familienmitglieder),

24 Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, S. 17 ff. 61

• Händler und selbständige Gewerbetreibende (einschließlich mithelfende Familienmitglieder),

• Handwerker unsicherer Zuordnung,

• Arbeiter, Handwerksgesellen,

• Angestellte,

• Öffentlich Bedienstete,

• Studenten,

• „Hausfrauen“,

• Sonstige.

Dieses Verfahren hat bei aller anhaftenden Unscharfe den Vorteil, dass es zu einem Ergebnis führt, das mit historischen Erhebungsbefunden wie dem der „NSDAP-eigenen Parteistatistik25 oder den Nachkriegs-Nationalsozialisten- Registrierungen oder auch international relativ gut vergleichbar ist.

C.1.1.2 „Aszendierendes Verfahren“

Entsprechend der zweiten Lösungsmöglichkeit ist Theodor Geiger in seiner „Sozialen Schichtung des deutschen Volkes“ „aszendierend“ vorgegangen. Die österreichische Volks- und Berufszählung vom 22. März 193426 untergliedert die erwerbsfähige Bevölkerung nach 257 Berufen und ihrer Stellung im Betrieb (Selbständige, Pächter, Mithelfende Familienangehörige, Angestellte, Arbeiter, Lehrlinge). Mit Hilfe vorhandener Berufssystematiken kann nun versucht werden, die „alten Kämpfer“ in die 257 Berufsgruppen der Volks- und Berufszählung einzuordnen. Das Ergebnis ist sodann in einer zweifachen Richtung weiter verwertbar. Einerseits können die einzelnen Berufe, deren Besetzungszahl in der

25 Partei-Statistik. Stand: 1. Januar 1935, Herausgeber: Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Bd. 1: Parteimitglieder, o. O., o. J., S. 52 ff. (Eine ähnliche Erhebung ist für Osterreich nicht durchgeführt worden). 26 Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Hg. v. Bundesamt für Statistik. Wien 1935, 11 Hefte. [Nachfolgend zitiert als VZ 34.] 62

Stichprobe z. T. sehr gering ist, kombiniert werden zu größeren Gruppen in tätigkeitsspezifischer, bildungsmäßiger oder wirtschaftssektoreller Dimension. Auch eine Bezugnahme auf die Arbeitslosenrate in den einzelnen Berufen wird dadurch möglich. Die Gefahr von „ökologischen Fehlschlüssen“ ist dabei allerdings gegeben.

Andererseits kann unter der Annahme, dass sich die Zusammensetzung der einzelnen Berufe nach Selbständigen, Angestellten und Arbeitern in der Stich- probe wohl graduell, nicht aber grundsätzlich von der in der Gesamtbevölkerung unterscheidet, durch Addition der Selbständigen-, Angestellten- und Arbeiter- anteile der Anteil dieser drei Sozialgruppen unter den „alten Kämpfern“ rein rechnerisch ermittelt werden. Und selbst wenn die gemachte Annahme nicht richtig wäre, behielte in dem einen von zwei möglichen Fällen (unter den Einzelberufen ist die Streuung der drei genannten Sozialgruppen bei den „alten Kämpfern“ im Sample stärker als in der Gesamtbevölkerung) das Ergebnis seine Brauchbarkeit, weil es darum geht, typische Abweichungen der NSDAP- Mitgliedschaft von der Gesamtbevölkerung festzustellen und die Abweichungen in diesem Fall nicht in ihrer Richtung umgekehrt, wenngleich abgeschwächt, würden. Nur der andere, allerdings wenig wahrscheinliche Fall (die Frequenzen der sozialen Gruppen bei den „alten Kämpfern“ streuen im Sample weniger stark als in der Gesamtbevölkerung) würde eine echte Verfälschung des Ergebnisses bedingen. Diese Gefahr kann allerdings durch Zusatzerhebungen im Sinne der dritten Lösungsmöglichkeit und detaillierte Analysen gering gehalten werden. Am Beispiel von 139 Wiener Nationalsozialisten aus der dritten Stichprobe, mit Beitrittsdaten zwischen 1926 und dem 19. Juni 1933, lässt sich diese Methode folgendermaßen demonstrieren (siehe Tabelle).

63

Tabelle: Zuordnung von 139 Wiener „Alten Kämpfern“ (NSDAP-Eintritt 1926 bis 1933) zu einzelnen Berufen und Aggregation zu berufssozialen „Klassen“

Nr.a An- Anteil an allen Berufsträgern Gewichteter Anteil zahl Selb- Ange- Arbeiter Selb- Ange- Arbeiter ständigeb stellte ständigeb stellte 26 Baumeister 1 .57 .43 .57 .43 38 Sonstige Berufe des Bau- gewerbes 2 .01 .99 .02 1.98 45 Schmied 1 .09 .91 .09 .91 54 Schleifer (Metall-) 1 .12 .88 .12 .88 55 Dreher (Metall-) 1 .01 .99 .01 .99 62 Graveure, Emailleure 1 .25 .00 .75 .25 .75 70 Installateure, Monteure 3 .11 .89 .33 2.67 72 Binder 1 .15 .85 .15 .85 80 Tischler 1 .24 .76 .24 .76 117 Herrenschneider 118 Damenschneider 2 .28 .72 .56 1.44 120 Schuhmacher 3 .43 .57 1.29 1.71 128 Sonstige Berufe der Bekleidungsindustrie 1 .03 .97 .03 .97 135 Buchdrucker 2 .09 .91 .18 1.82 137 Chemigraphen 1 .04 .96 .04 .96 147 Zuckerbäcker etc. 1 .35 .65 .35 :65 150 Fleischhauer 1 .36 .64 .36 .64 160 Gastwirte 1 1.00 1.00 161 Kellner 4 1.00 4.00 164 Selbständige Handelsleute (hier „Kaufmann“) 8 1.00 8.00 170 Agenten, Vertreter 2 .28 .72 .56 1.44 179 Verkäufer 2 .96 .04 1.92 .08 180 Kraftwagenführer 1 .05 .95 .05 .95 184 Schaffner 3 .05 .95 .15 2.85 189 Sonstige Berufe des 1 .01 .99 .01 .99 Verkehrswesens 190 Fuhrleute, Kutscher 1 .06 .94 .06 .94 196 Tierärzte 1 .30 .70 .30 .70 198 Zahntechniker 1 .64 .36 .64 .36 200 Krankenpfleger 1 .03 .94 .03 .03 .94 .03

64

Fortsetzung Tabelle

Nr.a An- Anteil an allen Berufsträgern Gewichteter Anteil zahl 203 Lehrer c 7 .11 .89 .77 6.23 210 Musiker 2 .38 .62 .76 1.24 213 Tänzer 1 .17 .83 .17 .83 214 Artisten 1 .11 .83 .06 .11 .83 .06 220 Beamte der Hoheitsverwaltung 23 1.00 23.00 228 Unteroffiziere und Mann- schaft (Bundesheer) 3 1.00 3.00 229 Offiziere und Beamte der 1 1.00 1.00 Gendarmerie und Polizei 235 Niederes Hauspersonal 2 .10 .90 .20 1.80 237 Sonstige Dienerschaft in 1 1.00 1.00 Betrieben und Ämtern 238 Nicht besonders aus- 4 1.00 4.00 gezählte Selbständige 239 Ingenieure 1 .18 .82 .18 .82 243 Nicht bes. ausgezählte 1 1.00 1.00 technische Angestellte 245 Werkmeister 1 1.00 1.00 246 Leitende Angest. d. kauf- 5 1.00 5.00 männ. Verwaltungsdienstes 247 Buchhalter u. sonst. Angest. 1 1.00 1.00 d. Rechnungsdienstes 252 Nicht bes. ausgezähltes 3 1.00 3.00 kaufmänn. u. Büropersonal 253 Kaufmänn. Büropersonal 11 e 1.00 11.00 ohne nähere Angabe 257 Nicht bes. ausgezählte 5 f 1.00 5.00 Arbeiterberufe, Hilfsarbeiter

Sonstige: g Pensionisten 3 Private 5 „Haushalt“ 5 Studenten 4

Summe ohne Sonstige 122 21.38 61.94 38,68

Anmerkungen: a Nummer des Berufs in der VZ 34 e Darunter 3 Handelsangestellte b Inklusive Pächter und mithelfende f Ausschließlich Hilfsarbeiter Angehörige, ohne Lehrlinge g Hier nicht weiter berücksichtigt c Darunter 3 (Mittelschul-)Professoren d Darunter 2 Autotaxi-Besitzer Vergleichswerte zu den Berufen: VZ 34, Heft 3: Wien, S. 50–155.

65

In der Folge ist das Ergebnis dieser Tabelle aus methodologischen Gründen einer aus demselben Sample, jedoch im „subsumierenden“ Verfahren gewonnenen sozialen Grobgliederung und der Gesamtgesellschaft gegenübergestellt. Dabei ergibt sich eine durchaus befriedigende Übereinstimmung.

Tabelle: Wiener „Alte Kämpfer“ nach ihrer arbeitsrechtlichen Stellung in Prozenten (mit 95% Sicherheitsintervall)

nach dem nach dem Gesamtgesellschaft „aszendierenden“ „subsumierenden“ 1934 (VZ 34, Heft 3, Verfahren Verfahren S. 18) Selbständige (u. mithelfende Familienangehörige) 17,5 (± 6,7) 15,6 (± 6,4) 17,9 Handwerker unsicherer Zuordnung — 6,6 (± 4,4) Arbeiter, Handwerksgesellen 31,7 (±8,3) 28,7 (± 8,0) 55,8 Angestellte, Beamte 50,8 (± 8,9) 47,5 (± 8,9) 26,3 Nicht zuzuordnende Berufstätige — 1,6 (± 2,2) Summe 100 100 100 (N = 122) (N = 122) (N = 933.479)

Diese Tabelle bedarf kaum einer inhaltlichen Interpretation. Ihr Ergebnis ent- spricht etwa dem bekannten Bild über die NSDAP in einer Großstadt: signifikante Überrepräsentation der Angestellten und Beamten, Unterrepräsentation der Arbeiter in der NSDAP bis 1933 verglichen mit der Wiener Gesamtbevölkerung. In dieser Gliederung tauchen jedoch die Selbständigen unter den National- sozialisten überraschenderweise nur annähernd proportional zur Gesamt- gesellschaft auf, ein Befund, der überwiegend auf die Einbeziehung der in der NSDAP im allgemeinen unterrepräsentierten mithelfenden Familienangehörigen zurückzuführen ist. Es bedarf keines besonderen Hinweises, dass eine soziale Gliederung der NSDAP in dieser schematisch zugespitzten Form allerdings nur noch bedingt aussagekräftig ist.

C.1.1.3 Erhebung zusätzlicher Informationen

Die für theoretisch relevante Fragestellungen günstigste Lösungsmöglichkeit des Problems der Kategorienbildung und Zuordnung stellt zweifelsohne die Durchführung von Zusatzerhebungen dar, wie sie in den Projektteilen von Kurt 66

Bauer in einem einmalig großen Umfang geleistet werden. Wenn es sich dabei um ein nur mäßig großes Sample handelt, dessen Einzelfälle aus anderen Quellen ergänzt werden sollen, ist allerdings bald das vertretbare Ausmaß an Arbeit, Zeit und Kosten überschritten. Eine Beschränkung auf wenige Daten oder regionale oder zufällige Teilmengen ist wie im Fall der vorliegenden Untersuchung kaum vermeidbar.

Das Vorhandensein von Gewerbeverzeichnissen bei den österreichischen Bezirksbehörden bietet etwa die Möglichkeit der Klärung der arbeitsrechtlichen Stellung von Fall zu Fall bei Personen mit mehrdeutigen Handwerks- und Handelsberufen. Wie vollständig diese Verzeichnisse sind und welcher Arbeitsaufwand zur Nachuntersuchung in mindestens 300 Fällen bei jeder Stichprobe erforderlich sein wird, kann noch nicht abgeschätzt werden. Für Wien ist dieser Weg durchaus gangbar. Zugleich könnten aus diesem Quellenbestand wertvolle zusätzliche Informationen über die ebenfalls im Gewerberegister verzeichneten Konkurs- und Ausgleichsfälle gewonnen werden.

Weitere Ergänzungen, wenigstens im Fall Wiens, könnten unter Zuhilfenahme verschiedener Adressenverzeichnisse27 und telefonischer Nachfragen bei Nachkommen der Parteimitglieder die Kriterien28 der sozialen Zuordnung schärfen.

Das Bundesland Wien bietet darüber hinaus noch eine weitere, methodologisch und inhaltlich ergiebige Kontroll- und Ergänzungsmöglichkeit durch einen geschlossenen Bestand an Registrierungsakten. Hieran anschließend könnte auch eine gegenseitige Kontrolle von Mitgliederkarte und Registrierungsbogen erfolgen.

27 Wiener Adressbuch. Lehmanns Wohnungsanzeiger, Wien; siehe nunmehr: Mattl-Wurm, Sylvia u. Pfoser, Alfred (Hg.), Die Vermessung Wiens. Lehmanns Adressbücher 1859 – 1942, Wien 2011, und: Compass. Industrielles Jahrbuch, Serie: Österreich, Wien.

28 Anhand der Wiener Bezirksräte des Jahres 1932 habe ich versucht, eine Zuordnung zu berufssozialen Gruppen auf diesem Wege durchzuführen (Botz, Faschismus und Lohnabhängige, S. 118 ff.). 67

Mit Hilfe der drei hier skizzierten Lösungsmöglichkeiten des methodologischen Grundproblems soziographischer Untersuchungen von politischen Organisationen ist zu erwarten, dass auch an die bisherigen Arbeiten über den National- sozialismus in Deutschland anschließende, in zeitlicher und regionaler Hinsicht vergleichbare Ergebnisse zu gewinnen sind, die in der Endauswertung nach arbeitsrechtlichen, beruflichen, ausbildungsmäßigen und Wirtschaftssektorellen Kriterien auf unterschiedliche Weise gruppiert werden können. Allerdings dürfen die Erwartungen in Genauigkeitsgrad und theoretische Relevanz der Ergebnisse einer solchen eher explorativen Untersuchung nicht übersteigert werden. Wesent- liche Momente der Vielschichtigkeit und Dynamik faschistischer Bewegungen müssen einem methodischen Verfahren entgleiten, das ein komplexes Beziehungssystem sozusagen zuerst atomisieren muss, um es überhaupt analysieren zu können. 68

C.1.2 Das „Machen“ von NS-Parteigenossen? Bürokratie, Mitgliedschafts- Chaos und persönliche Motivationen in Deutschland und Österreich (1933 bis 1945) (Gerhard Botz)

In diesem Beitrag soll gezeigt werden, wie die verschiedenen parteitaktischen und -bürokratischen Überlegungen und Interessen unterschiedlicher NS-Führer und NSDAP-Apparate das sozialstrukturelle Erscheinungsbild der Pg. immer stärker zu dominieren begannen. Diese hatten sich tatsächlich bis zu den Zeitpunkten der Machtübernahme im „Altreich“ und in der „Ostmark“ 1933 bzw. 1938 in einer eigenen sozialen Dynamik entwickelt, die es in der Tat sinnvoll machen, das (reichlich überlieferte) Datenmaterial quantifizierend zu untersuchen und daraus in einem gewissen Maße Rückschlüsse auf allgemeine Motivationen und Voraussetzungen zum NSDAP-Beitritt zu ziehen. Daneben können auch individuelle Spielräume und politische wie soziale Zwänge beim Parteibeitritt sichtbar gemacht werden.29

C.1.2.1 Hitlers anfängliche Vorstellungen

„Die größte Gefahr, die einer Bewegung drohen kann, ist ein durch zu schnelle Erfolge abnorm anwachsender Mitgliederstand. Denn so sehr auch eine Bewegung, solange sie bitter zu kämpfen hat, von allen feigen und egoistisch veranlagten Menschen gemieden wird, so schnell pflegen diese die Mitgliedschaft zu erwerben, wenn durch die Entwicklung ein großer Erfolg der Partei wahrscheinlich geworden ist oder sich bereits eingestellt hat.“30

29 Eine frühere kürzere Fassung erscheint demnächst unter dem Titel: Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP-Mitgliedschaft: Von der sozialen Dynamik zur bürokratischen Selbststeuerung? (1933 bis 1945), in: BERUF(UNG): ARCHIVAR. Festschrift für Lorenz Mikoletzky, hg. vom Österreichischen Staatsarchiv. Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 55, Teil II, Wien 2011, S. 1161-1186.

30 Hitler, Adolf: . Bd. 2, 252.-253. Aufl., München 1937, S. 656. 69

Wenn damit Wasser in den Wein gegossen werde, werde das „fanatische Ziel“ verwischt und die Kampfkraft gelähmt, schrieb Hitler 1926 im 2. Band seines „Mein Kampf“31, als die wieder gegründete NSDAP in Deutschland eine kleine Splitterpartei war.32 (Die „alte“ DAP bzw. NSDAP, der Hitler 1920 beitrat – siehe Abb. 1 –, kann hier außer Betracht bleiben.)

Abb. 1: Mitgliedskarte der Deutschen Arbeiter Partei mit der Nr. 555 (aus dem Internet, nachträglich von Unbekannt korr. auf 7!) für vom 1.1.1920

[vgl. Kershaw, Hitler, 1998, S. 312]

Und Hitler fuhr 1926 schon fort:

„Es ist deshalb sehr notwendig, dass eine Bewegung aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus, sowie sich der Erfolg auf ihre Seite stellt, sofort

31 Umfassend: Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers "Mein Kampf". 1922 – 1945. München 2006, S. 90-120. 32 [Zusammenstellung von 1940] Bundesarchiv, Berlin Zehlendorf , Sammlung Schumacher [in Hinkunft: BA, Slg. Sch.], Bl. 376. 70

die Mitgliederaufnahme sperrt und weiterhin nur mehr mit äußerster Vorsicht und nach gründlichster Prüfung eine Vergrößerung ihrer Organisation vornimmt.“33 Es geben einen Unterschied zwischen bloßen Anhängern und den Mitgliedern einer Bewegung: erstere seien durch die Propaganda dazu gebracht worden, mit den Zielen der Bewegung einverstanden zu sein und etwa in Wahlen oder sonst wie dies zum Ausdruck zu bringen, während letztere darüber hinaus auch bereit seien, für die Bewegung kämpferisch einzutreten. Anhänger einer Bewegung, als die sich der Nationalsozialismus verstand, würden dieser durch Propaganda nur „geneigt gemacht“, Mitglieder dagegen „durch die Organisation veranlasst, selbst mitzuwirken zur Werbung neuer Anhänger, aus denen sich dann wieder Mitglieder herausbilden können.“ Für eine Anhängerschaft genüge „nur eine passive Anerkennung einer Idee […], während die Mitgliedschaft die aktive Vertretung und Verteidigung fordert“. Daher „werden auf zehn Anhänger immer höchstens ein bis zwei Mitglieder treffen.“34

Diese frühe Vorstellung des „Führers“ von „seiner“ Bewegung und Partei ent- spricht auf den ersten Blick in einem erstaunlichen Maße der späteren Mitglied- schaftsdynamik bzw.-politik des Nationalsozialismus, die sich in Deutschland seit 1933 und in Österreich 1938 zeigen sollte. Sie zieht sich als ein – nie erreichtes und oft stillschweigend modifiziertes – Idealbild durch die ganze Geschichte der NSDAP-Mitglieder hin bzw. kontrastiert mit ihr. Dies wird hier auch anhand einer Skizze der Entwicklung des von Interessen und politischen Normvorstellungen gesteuerten Machens, nicht einfachen „Wachsens“ der Mitglieder der Staatspartei im Dritten Reich (vor allem zwischen 1933 und Kriegsbeginn) deutlich werden.

33 Hitler: Kampf, S. 657 f. [im Original gesperrt]. 34 Ebenda, S. 651 f. 71

C.1.2.2 Der Reichsschatzmeister als Mitgliederverwaltungsinstanz

Die NSDAP im NS-Regime beschränkte sich nicht auf den Parteiapparat im engeren Sinn, der genau genommen in der NS-eigenen Terminologie als die „Politische Organisation“ (PO) bezeichnet wurde und der die „Parteigenossen“ (Pg.35) angehörten. Vielmehr umfasste die NSDAP auch die „Gliederungen“ der NSDAP, also die SA, die SS, das NSKK, die Hitler-Jugend sowie Dozenten- und Studentenbund und die NS-Frauenschaft. (Deshalb wurden diese Gliederungen auch bei Beitrittsansuchenden genau eruiert, vgl. unten Abb. 6c) Zum gesamten Feld der NSDAP gehörten aber auch die „Angeschlossenen Verbände“ (wie die Deutsche Arbeitsfront, die NS-Volkswohlfahrt und der Reichsbund der Deutschen Beamten), dann auch noch die sogenannten „Betreuten Verbände“ wie das Deutsche Frauenwerk; sie repräsentierten das, was nach der Gleichschaltung der halböffentlichen und privaten Organisationen übrig blieb, und bildeten insgesamt das regimepolitisch wichtige, kontrollierte Umfeld des Nationalsozialismus. So zählte man im September 1939 im gesamten Großdeutschen Reich (mit rund 79 Millionen Einwohnern) kumulativ 69 Millionen solcher NS-Affiliationen.36 Auch bei Berücksichtigung der häufigen Mehrfachzugehörigkeiten gibt diese Zahl eine Vorstellung – nicht eine wörtlich zu nehmende Beschreibung – von der gigantischen nationalsozialistische Durchdringungs- und Partizipationsrate der deutschen (und österreichischen) Gesellschaft, die nach Armin Nolzen auf etwa die Hälfte der gesamten erwachsenen Bevölkerung (unter Einschluss der

35 Diese zeitgenössische Abkürzung bezieht sich auf Parteigenosse(n) im Singular wie im Plural, siehe: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, 2. Aufl., Berlin 2007, S. 466 f. 36 Nolzen, Armin: Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Bd. 9, 1. Halb-Bd.: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Hrsg. von Jörg Echternkamp, München 2004, S, 102 f.und: Nolzen, Armin: Moderne Gesellschaft und Organisation. Transformationen der NSDAP nach 1933. In: Interessen, Strukturen und Entscheidungsprozesse! Für eine politische Kontextualisierung des Nationalsozialismus. Hrsg. v. Manfred Krieger, Christian Jansen und Irmtrud Wojak. Essen 2010, S. 96. 72

Heranwachsenden) zu schätzen wäre.37 In der Folge beschränke ich mich jedoch auf die PO, also auf die NSDAP im landläufigen Sinn.

Die wichtigste Parteiinstanz für das Mitgliedschaftswesen auch während der Bewegungs-, verstärkt noch in der Regimephase des Nationalsozialismus war der Reichsschatzmeister der NSDAP, im Führerstaat personifiziert in Franz Xaver Schwarz (1857-1947); es war nicht etwa der Reichsorganisationsleiter (ab 1934 ), obwohl dieser formell für den Auf- und Ausbau der Organisation zuständig war,38 während Hitler seinem Stellvertreter, , bzw. dessen Stabsleiter, Martin Bormann, zunehmend politische Kompetenzen und die Personalhoheit innerhalb der NSDAP zuwachsen ließ.39 Die funktionale Ver- klammerung der Aufnahme und der organisatorischen Bindung von Parteimit- gliedern mit dem Rechnungswesen der NSDAP und die nicht unbeträchtlichen Einnahmen aus den Mitgliedschaftsgebühren waren und blieben eine Eigenart der NSDAP. Daher hatten die Beitretenden in der voll entwickelten PO (in der „Ostmark“ nach 1938) sofort folgenden Passus zu unterzeichnen:

„Ich verpflichte mich, zur Zahlung der festgesetzten Verwaltungsgebühr und des monatlich im voraus zahlbaren Mitgliedsbeitrags, der sich für mich aus der Beitragsordnung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ergibt. Außerdem bin ich zur Zahlung eines einmaligen freiwilligen [!] Werbe- beitrages von ……. Reichsmark bereit.“40

Die Höhe dieser Zahlungen und Gebühren war nach dem geschätzten Einkommen gestaffelt und durchaus von einer ins Gewicht fallenden Größenordnung, vor

37 Nolzen, NSDAP, S. 102. 38 Organisationsbuch der NSDAP 1940. Hrsg.: Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP. 6. Aufl., München o. J., S. XXX. 39 Smelser, Ronald: Robert Ley. Hitlers Mann an der „Arbeitsfront“. Eine Biographie, Paderborn 1989; Nolzen, Armin: Martin Bormann und die „Reform“ der NSDAP 1933-1945, [ungedruckte] Hausarbeit, Fakultät für Geschichtswissenschaft. Ruhr-Univ. Bochum 1994, S. 24- 28. 40 Antragsformulare wie abgebildet aus der Dienststelle Bürckels im Parlamentsgebäude vom Mai 1938. 73

allem da der Mitgliedsbeitrag monatlich, in Form von zu klebenden Beitrags- marken zu bezahlen war. So wurde für einen als „Illegalen“ anerkannten Maurer- lehrling der „freiwillige Werbebeitrag“ mit 0,50 RM fixiert und der Mitglieds- beitrag zunächst auf 33 Pfennig, dann auf 1 RM angesetzt (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Antrag auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte für Johann A. (Maurerlehrling) vom 15.5.1938 („Illegaler“)

[BDC, Hauptkartei, BA]

Dagegen hatte ein nicht als „illegal“ anerkannter Gastwirt gar 5 bzw. 1,50 RM zu zahlen (siehe Abb. 3), während der aus nationalsozialistischer Sicht nicht ganz Pg.-würdige Universitätsprofessor und Nobelpreisträger Wagner-Jauregg 1941 seine Mitgliedschaft „freiwillig“ mit einem Förderungsbeitrag von gar 100 RM erkaufen musste.41

41 Botz, Gerhard: Parteianwärter und post mortem Parteigenosse. Julius Wagner-Jaureggs Verhältnis zum Nationalsozialismus. In: Beugebauer, Wolfgang, Kurt Scholz und Peter Schwarz 74

Abb. 3: Antrag auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte für Johann A. (Gastwirt) vom 30.5.1938 (nicht als „Illegaler“ anerkannt)

[BDC, Hauptkartei, BA]

Die Mitgliedschaftserlangung ab 1938 muss daher auch als eine Art politischer Ablasshandel verstanden werden. (Einerseits spiegelt sich daran aber auch die Praxis der sozialdemokratischen Mitgliedswesens, andererseits die Imitation staatlicher und anderer öffentlicher Gebührenordnungen jener Zeit.) Im Übrigen galt die pünktliche Bezahlung dieser Beiträge auch als ein wichtiger Hinweis auf die Parteitreue, und umgekehrt führte die Nichtbezahlung (oft) zum Enden der Parteimitgliedschaft. Demgegenüber traten die primären rassistischen, ideologischen und politischen Voraussetzungen für eine NSDAP-Mitgliedschaft fast in den Hintergrund. Vor allem in Perioden der finanziellen Krisen und der

(Hrsg.); Julius Wagner-Jauregg im Spannungsfeld politischer Ideen und Interessen – eine Bestandsaufnahme, Frankfurt a. M. 2008, S. 66-91, hier S. 85. 75

organisatorischen Umbrüche als Konsequenz der „ständestaatlichen“ Repressions- maßnahmen viele Nationalsozialisten und dem Nationalsozialismus Zuneigende in beträchtliche Schwierigkeiten brachte.

Bisher gibt es keine umfassenden Darstellungen42 dieser nicht unwichtigen finanzierungspolitischen Schnittstelle im Nationalsozialismus.43 Erst von hier aus können jedoch manche auch heute immer wieder heftig diskutierte Probleme um Bedeutung und Erwerbung der Parteimitgliedschaft44 und Fragen nach der Sozialstruktur und der quantitativen Entwicklung der NSDAP voll verständlich gemacht werden.

Der Reichsschatzmeister wurde als Parteiorgan bzw. -amt bereits 1925 ein- gerichtet und bis 1945 von Franz Xaver Schwarz geleitet. Dieser war schon damals – neben dem Vorsitzenden (Hitler) und dem Schriftführer – eines von den drei Vorstands- bzw. Hauptleitungsmitgliedern der Reichsleitung der NSDAP, also ein Vereinsorgan, das dem Vereinsgesetz der Weimarer Republik entsprach und wie Hitler45 ganz am Anfang von der Mitglieder-Generalversammlung (22. Mai 1926) gewählt wurde. Das verhinderte nicht, dass diese Leitungsfunktion, die in heutiger Terminologie etwa einem „Vereinskassier“ (fusioniert mit Aufgaben der Rechnungsprüfung) entsprach, mit der raschen Durchsetzung von Hitlers alleinigem Führeranspruch ebenso wie die gesamte NSDAP nach dem anti- demokratischen Führerprinzip organisiert wurde. (Auch auf die unteren

42 Siehe jedoch Degreif, Diether: Franz Xaver Schwarz. Das Reichsschatzmeisteramt der NSDAP und dessen Überlieferung im Bundesarchiv. In: Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte. Festschrift für Hans Booms. Hrsg. von Friedrich P. Kahlenberg. Boppard am Rhein 1989, S. 489-503, sowie die älteren Publikationen: Lingg, Anton: Die Verwaltung der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei. 2. erw. Aufl., München 1940; Lükemann, Ulf: Der Reichsschatzmeister der NSDAP. Ein Beitrag zur inneren Parteistruktur. Inaugural-Dissertation… Berlin [1963]. 43 Jedoch immer noch grundlegend: Orlow, Dietrich: The History of the : 1933-1945. Pittsburgh 1933, passim. 44 Grundlegend nun: Benz, Wolfgang (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2010. 45 Kershaw, Ian: Hitler 1889 – 1936. Stuttgart 1998, 2. Aufl., S. 358. 76

Parteiinstanzen übertrug sich das insofern, als die jeweils leitende Person terminologisch mit dem Amt gleichgesetzt wurde, wie eben beim Reichs- schatzmeister.)

Gemäß der Satzung des „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Vereins e.V.“ vom 22. Mai 1926 war der Schatzmeister für die gesamte Finanzverwaltung des Vereins zuständig. Das galt auch für die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“, die auf der politischen Bühne auftrat und als ihren „Vermögensträger“ den Verein vorschob. Diese formelle Trennung wurde möglichst eingehalten,46 um der bis 1932 nicht auszuschließenden und tatsächlich temporär und regional Wirklichkeit werdenden Gefahr des Parteiverbots zu entgehen, wie Schwarz im Rückblick andeutete:

„Die Trennung zwischen beiden sollte den Verein und sein Vermögen aus politischen Verwicklungen der Partei heraushalten.“47

Hitler bestätigte die Generalvollmacht des Reichsschatzmeisters für sämtliche finanzielle Angelegenheiten der NSDAP mehrfach, verstärkte sie später noch und schuf so eine dauerhafte führerunmittelbare Monopolstellung von Schwarz, die umso mehr zum Tragen kam, als im Dezember 1933 mit dem „Gesetz über die Sicherung von Partei und Staat“ die NSDAP gleichsam „entprivatisiert“, zur

46 So wurden, um einen staatlichen Zugriff auf das Vermögen der NSDAP wie nach dem gescheiterten Putsch von 1923 zu erschweren, auch die Einnahmen des Eher-Verlages und Hitlers aus dem Verkauf von „Mein Kampf“ formal streng getrennt (Plöckinger, Geschichte, S. 180 f.). 47 Vortrag des Reichsschatzmeisters am 13.9.1935 (die Kursivierung entspricht Sperrungen in Original), Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde, Bestand NS 1, Ordner 266 (in Hinkunft abgekürzt als BA, NS1/266), S. 2 = Bl. 112. Nota bene: Ich konnte mit dankenswerter Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung (Bonn) schon im Winter 1994/95 die Archivarbeiten hierzu an Beständen, die damals noch im Berlin Document Center (Berlin-Zehlendorf) lagerten, durchführen. 77

Körperschaft öffentlichen Rechts und „mit dem Staat unlöslich verbunden“ wurde.48

Formell ebenso stark wie der Reichsschatzmeister, unmittelbar politisch jedoch wesentlich mächtiger, war nur die wachsende Machtstellung von Hess und (ab 1941) jene Bormanns. Parallel zum allmählich einsetzenden und dann rapiden Wachstum des Nationalsozialismus und zur Ausdifferenzierung der Partei- leitungsinstanzen entwickelte sich die Finanzverwaltung der NSDAP zu einem immer größer werdenden Apparat, der seit 1931 im „Braunen Haus“ in München untergebracht war. Schließlich beschäftigte sie einige Hundert Parteibeamte und Mitarbeiter in der Zentrale und das Mehrfache davon dezentral bei den einzelnen Gau- und Kreisleitungen im ganzen „Reich“, bevor der ganze Apparat im Laufe des Kriegs, vor allem ab 1943 immer stärker zurückgefahren werden musste.

Schwarz wurde von Hitler, der sich mit Verwaltungs-Kleinkram nicht abgeben wollte und Schwarz voll vertraute, als die „wunderbarste Mischung von gewissenhafter Genauigkeit da und von Großzügigkeit dort“ eingeschätzt, während er von dem ihm feindlich gesinnten Goebbels mit Attributen wie „äußerst penibler“, „abgebauter Beamter, kleiner Idealismus, peinlich in Geldsachen, Münchener Schnauze“ versehen wurde.49 Jedenfalls schaffte er es in dem sich häufig ändernden internen Konkurrenzgefüge der NSDAP, die Kontrolle über die wichtigsten parteiinternen Geldhähne der NSDAP über einen Zeitraum von 20 Jahren zu behalten bzw. anderen Parteiinstanzen gegenüber durchzusetzen; es gelang ihm, den (eigenen) strengen Anspruch eines zweckrationalen, regelhaften, bürokratisch-professionellen Betriebs weitgehend zu wahren, selbst wenn er es mit anderen mächtigen, führerunmittelbaren Faktoren zu tun hatte. Da er keine andere eigene unmittelbare Machtposition hinter sich hatte, konnte er allerdings manches Mal zu einem einzelfallhaften, de facto-Abgehen von seinen

48 Abgedruckt etwa in: Die Ostmark. Eingliederung und Neugestaltung..., hrsg. von Helfried Pfeifer, Wien 1941, S. 40-42, siehe auch Durchführungsverordnung vom 29.3.1935, ebenda, S. 45- 47. 49 Goebbels’ Tagebuch 1925/25 zit. nach Degreif, Schwarz, S. 491 f. 78

strengen Prinzipien veranlasst werden; immer gab es natürlich auch Interventionen vom „Führer“ selbst, dann auch von Hess und Bormann, aber auch gelegentlich von starken Gauleitern und von Reichskommissaren50 wie Josef Bürckel in der „Ostmark“. Lediglich der SS-Komplex Himmlers vermochte es, sich der von Schwarz ausgeübten Finanzkontrolle – natürlich auch der personellen Steuerung – zu entziehen, nur die bedeutungslos werdende Allgemeine SS blieb im Kontrollbereich des Reichsschatzmeisters.51 Innerhalb des von ständigen Macht- und Kompetenzkämpfen charakterisierten Gefüges der NSDAP gelang ihm dies wohl gerade deshalb, weil er sich auf seine immer umfangreicher werdenden Finanzierungs- und Buchhaltungsaufgaben innerhalb der Partei beschränkte. Wohl aus demselben Grund konnte es ihm, selbst wenn Schwarz es gewollt hätte, jedoch nicht gelingen, jene für das NS-System so typische Machtagglomeration zu erlangen, die sich erst aus der Kombination von „bürokratischen Methoden und aus der ‚Führernähe’“ ableitete,52 wie sie etwa für Bormann, Goebbels oder Himmler so charakteristisch wurde.53

50 Vgl. allg. Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung. München 1969 (dtv-Weltgeschichte des 20.Jahrhunderts 9), S. 363-402; Hüttenberger, Peter: Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP. Stuttgart 1969 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 19) und z.T.: Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“. Hrsg. v Jürgen John, Horst Möller und Thomas Schaarschmidt. München 2007. (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer); vor allem auch: Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur. Hrsg. v. Rüdiger Hachtmann und Winfried Süß. Göttingen 2006.

51 [Franz Xaver Schwarz] Ergänzung zu meiner Aufstellung über den Geschäftbereich des Reichsschatzmeisters der N.S.D.A.P., Augsburg, 30.5.1945, BA, NS1/377 (nicht-biogr. Material), S. 5 und 8 = Bl. 114 u. 117 (Hier auch eine umfassende Liste aller unter „Finanzhoheit, Kontrolle und Aufsicht“ stehenden Staats- und Parteistellen sowie sonstiger Organisationen). 52 Longerich, Peter: Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München 1992, S. 263. 53 Auf die Verschränkung des normen- mit dem maßnahmenstaatlichen Herrschaftsprinzip hat im Anschluss an Ernst Fraenkel (Der Doppelstaat, Frankfurt a. Main 1974, S. 21-23) abgehoben: siehe Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus. Göttingen 2008; auch: Rebentisch, Dieter: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik, 1939 – 1945. Stuttgart 1989 und: Mommsen, Hans: Beamtentum im Dritten 79

Immerhin aber lief die gesamte Finanzierung der Partei über den Reichs- schatzmeister, gespeist nicht unwesentlich von den (nicht immer klaglos anteilsmäßig abgelieferten) Mitgliedsbeiträgen der PO, was die NSDAP in ihrer Durchbruchsphase in einem hohen Maße zu einem sich selbst finanzierenden Pyramidenspiel machte,54 dessen Kollaps eigentlich (für manche Partei- bürokraten) abzusehen war, sobald die Partei nicht mehr expandieren konnte. Das wurde u.a. zunächst dadurch verhindert, dass die NSDAP rechtzeitig an die Hebel der Staatsmacht gelangte. Nach der Machtübernahme und -sicherung konnten so beträchtliche Transfers von den Mitgliedsbeiträgen insbesondere von Seiten der „Angegliederten Verbände“, von denen die DAF schon 1938 mit über 22 Millionen Mitgliedern die zahlenstärkste Organisation war,55 durchgesetzt werden. Ebenso wichtig waren Subsidien der Wirtschaft, vor allem die riesige „Adolf-Hitler-Spende der deutschen Industrie“, die allerdings über Hitler bzw. Hess direkt abgewickelt wurden,56 und in steigendem Maße auch staatliche Zuschüsse und über Umwege auch „Arisierungsgewinne“. Schwarz stand aber bei den meisten politischen Vorgängen im Dritten Reich nur im Hintergrund und erlangte erst kurz vor und während des Krieges auch über den engeren Parteibereich hinausgehende, finanziell unterstützende Aufgaben, etwa im Bereich des Vierjahresplans, der materiellen Ressourcenverwaltung und der Versorgung von Parteigenossen.57 Diese Aufgaben nahmen naturgemäß auch quantitativ durch die rasch steigenden Mitgliederzahlen bis in den Krieg hinein zu. Die Zahlungsmoral der Mitglieder scheint – verallgemeinernd gesehen – bis 1933

Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13).

54 Siehe etwa Matzerath, Horst und Henry A. Turner: Die Selbstfinanzierung der NSDAP 1930- 1932, in: Geschichte und Gesellschaft, 3.1, (1977), S. 59-92; vgl. auch Turner, Henry Ashby: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers. Berlin 1985, S.405-415. 55 Vgl. Thamer, Hans-Ulrich: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 – 1945. 3.Aufl., Berlin 1992, S. 496-505. 56 [Franz Xaver Schwarz:] Ergänzungen, S. 2 = Bl. 112. 57 Ebenda, S. 9 f. = Bl. 119 f. 80

relativ hoch, in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre oft gering gewesen zu sein. Sie blieben dann nach der quantitativen Explosion der Mitgliederzahlen entgegen den Erwartungen etwas zurück, bevor die Einnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen mit der zunehmenden Einziehung von Pg. in die wieder sanken.58 Aktive Soldaten waren nach dem Wehrgesetz von 1935 vom Erwerb der Parteimitgliedschaft ausgeschlossen, da Hitler und die Wehrmachtsführung auf einer strikten Trennung von der Partei und Wehrmacht bestanden und an dem damit verbundenen Machtkompromiss bis 1944 festhielten. Daher wurden auch bestehende Mitgliedschaften von zur Wehrmacht Einberufenen bei Aussetzung der Mitgliederbeiträge „ruhend“ gestellt. Dies bedeutete, dass die Mitglieder- entwicklung seit 1939 noch stärker als bisher auch eine Notwendigkeit der parteiinternen Finanzierungspolitik wurde.

Was bisher von der Geschichtsforschung zur Parteientwicklung meist ignoriert wurde,59 ist die Tatsache, dass – wie schon gesagt – der Reichsschatzmeister immer für die Mitgliederaufnahme, -verwaltung und -übersicht im deutschen Staatsgebiet (in Zusammenwirken mit dem Obersten Parteirichter, Walter Buch) als Letztinstanz verantwortlich war.60 Er war es, der schon in der chaotischen Aufstiegsphase des Nationalsozialismus als Registrar der NSDAP die Voraussetzungen für deren politische Handlungsfähigkeit bereitgestellt hatte. Die NSDAP hatte ja vor 1933 weitgehend einer eigenen sozialen Dynamik folgend, angetrieben von Krisenbewusstsein, Protesthaltungen, berufssozialen und milieuhaften Faktoren in breiten Teilen der Bevölkerung, schließlich ein

58 Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred: Geschichte der NSDAP 1920 – 1945. 3. Aufl., Köln 2009, S. 424 f. 59 Dagegen nunmehr die Beiträge in: Benz, Wolfgang (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2010. 60 Siehe auch die ältere Literatur: Lingg, Verwaltung; Lükemann, Ulf: Der Reichsschatzmeister der NSDAP. Ein Beitrag zur inneren Parteistruktur. Inaugural-Dissertation… Berlin [1963] und: Degreif, Diether: Franz Xaver Schwarz. Das Reichsschatzmeisteramt der NSDAP und dessen Überlieferung im Bundesarchiv. In: Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte. Festschrift für Hans Booms, hrsg. Von Friedrich P. Kahlenberg. Boppard am Rhein 1989, S. 489-503. 81

progressives Wachstum an den Tag gelegt, was sie allerdings auch an den Rand der Destabilisierung brachte. Diese Mitgliederentwicklung hatte bis zur Machtübernahme meist den Charakter eines spontanen Wachstumsprozesses gehabt, der sich selbst noch nach 1933 bzw. in Österreich 1938 in einer Art Wettlauf um die Parteimitgliedschaft äußerte und die Organisationsleiter und - vorstellungen innerhalb der NSDAP in beträchtliche Schwierigkeiten brachte. Diese soziale „Naturwüchsigkeit“ hat es Sozialhistorikern und Sozialwissen- schaftlern ermöglicht, aus dem Wachstum der PO Rückschlüsse auf sozial- strukturelle Dispositionen und politisch-kulturelle Rahmen von Tausenden Einzelentscheidungen der beitretenden NSDAP-Mitglieder zu ziehen und statistische Kennzahlen zu entwickeln.61

C.1.2.3 Finanzierungsbedarf, Mitgliedervermehrung und Hierarchien der Mitgliedschaft

Die NSDAP, die 1926 nur etwa 50.000 Mitglieder gezählt hatte, expandierte bis Jänner 1933 auf ca. 850.000 Personen, wuchs innerhalb weniger Monate während der Machtübernahme und unmittelbar danach (1933/34) auf ca. 2,7 Millionen Mitglieder an; dieser (nachträglich administrativ abgesegnete)62 Zuwachs ging auf die die sog. „Märzgefallenen“63 zurück. Bis September 1939 verdoppelte sich

61 Siehe vor allem: Kater, Michael: The Nazi Party. A Social Profil of Members and Leaders 1919- 1945. Cambridge, Mass. 1983; Mann, Reinhard (Hrsg.): Die Nationalsozialisten. Analysen faschistischer Bewegungen. Stuttgart 1980 (Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen 9); Manstein, Peter: Die Mitglieder und Wähler der NSDAP 1919-1933. Untersuchungen zu ihrer schichtmäßigen Zusammensetzung. 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3. 344); Mühlberger, Detlef: Hitler’s Followers. Studies in the Sociology of the Nazi Movement. London 1991; Brustein, William und Jürgen W. Falter: Who Joined the Nazi Party? Assessing Theories of the Social Origins of . In: Zeitgeschichte, 22 (1995), S. 83-108.

62 Nolzen, NSDAP, S. 101; abweichend davon: Kater, Nazi Party, Tabelle 1. 63 Dies übersehend will J. Falter wegen der (registrierten) Aufgenommen unter dem Datum Mai 1933 eher nur von „Maiveilchen“ sprechen: Falter, Jürgen: Die „Märzgefallenen“ von 1933. Neue Forschungsergebnisse zum sozialen Wandel innerhalb der NSDAP-Mitgliedschaft während der Machergreifung. In :Geschichte und Gesellschaft 24.4 (1998), S. 595-616. 82

diese Zahl wiederum auf beinahe 5,3 Millionen, was zum Teil auch auf die territoriale Ausdehnung des Deutschen Reiches zurückging, und sie stand zuletzt (Ende 1944) zwischen 8 und 9, wahrscheinlich bei rund 8,5 Millionen Mitgliedern64. Der Reichsschatzmeister hatte das massenhaft einsetzende Ein- strömen von neuen Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Herkunft zu bewältigen, das phasenweise geradezu lawinenartig anschwoll, gleichzeitig hatte er immer die wachsenden organisatorischen und personellen Ausgaben zu bewältigen, obwohl dafür der Reichsorganisationsleiter verantwortlich war. Denn zu Beginn des Jahres 1940 gab es im (um „Danzig-Westpreußen“ und „Wartheland“ im ehemaligen Polen erweiterten) Großdeutschen Reich insgesamt 41 NSDAP-Gaue, wozu noch die gauähnlich organisierte „Auslandsorganisation“ kam. Dies bedeutete, dass 42 Gauleiter mit ihren Stäben und den untergeordneten Hoheitsträgern erhalten werden mussten, obwohl ein Großteil der nachgeordneten Hoheitsträger und deren Mitarbeiter „ehrenamtlich“ arbeiteten.

64 Falter, Die „Märzgefallenen“, S. 597. Ich folge hier den Aussagen des Leiters des Rechtsamtes des RSchM, Anton Lingg, von Jänner 1947, [Teilprotokoll der] Verhandlung ...., BA 1/266, Bl. 77. Die Schätzungen in der wissenschaftlichen Literatur schwanken zwischen 8 und 9 Millionen. Gegenüber den meist überschätzten, aus den höchsten Mitgliedsnummern bis 1945 abgeleiteten Mitgliederzahlen siehe: Benz, Wolfgang: Einleitung: Die NSDAP und ihre Mitglieder. In: Benz, Parteigenosse, S. 7; Königseder, Angelika: Das Ende der NSDAP. Die Entnazifizierung. In: Ebenda, S. 151. 83

Allein im „angeschlossenen“ Österreich wurden im Sommer 1938 sieben Gaue und insgesamt 82 Kreise (siehe Abb. 4) eingerichtet.

Abb 4: Die Kreise und Gaue der NSDAP in der „Ostmark“, Stand 11.6.1938

[BDC, nichtbiogr. Material, Ordner 303, BA]

Dazu kam die Auslandsorganisation (AO) der NSDAP, in der auch österreichische Pg., die aus dem autoritätsstaatlichen Österreich hatten flüchten müssen, organisiert waren. (Diese AO-Regelung galt jedoch nicht für die „Illegalen“ im Deutschen Reich, die nicht Mitglieder der deutschen NSDAP werden konnten, sofern sie österreichische Staatsbürger waren, woraus für die „Österreichischen Legionäre“ bedeutende Probleme bei der Regelung bzw. Erlangung der Mitgliedschaft resultieren sollten.) So konnten auch die in die österreichischen „Illegalen“ und Juliputschisten, die in die nichtdeutschen Nachbarländer, vor allem nach Jugoslawien, geflüchtet waren, anders als die meisten „Legionäre“ im “Altreich“ vom Anfang an ungehindert, der NSDAP angehören. Dies zeigt etwa eine der nicht wenigen Karteikarten eines „Illegalen“ der noch 1938 dem Gau Auslandsorganisation, anzugehören, wie auch die in Abb. 5 a und 5 b wiedergegeben Karteikarte zeigt. 84

Abb. 5a: Außenseite der „kleinen“ blauen Zentralkartei-Karte von Karl A. (Bürochef) per 1.12.1938 durch die Ortsgruppe Jugoslawien (NSDAP/AO) (vermutlich ein nach Jugoslawien geflüchteter „Illegaler“)

[BDC, Hauptkartei, BA]

Abb. 5b: Innenseiten der „kleinen“ Zentralkartei-Karte von Karl A. (umrandet: Raum zum Aufkleben einer Fotografie des Mitglieds)

[BDC, Hauptkartei, BA]

85

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs war im gesamten deutschen Machtbereich der Führungsapparat der NSDAP, der organisatorischen Differenzierung entsprechend, bereits gewaltig aufgebläht. Er bestand neben den 42 Gauleitern und deren Stellvertretern aus 831 Kreisleitern, 28.606 Ortsgruppenleitern, 104.680 Zellenleitern und 484.872 Blockleitern,65 was mit allen Mitarbeitern rund 1,2 Millionen NSDAP-Funktionäre ergab! Die damit verbundene Steigerung des Finanzierungsaufwandes der PO, ganz zu schweigen von der parallel erfolgenden Explosion der übrigen zur NSDAP gehörenden Funktionäre in den Gliederungen und Verbänden, hatte weittragende Folgen für die Organisation und das Mitgliederwesen.

So weit war es allerdings Mitte der 30er Jahre noch nicht, als sich das Regime nach der Machtübernahme in den ersten beiden Jahren seit 1933 erst breiter in der deutschen Gesellschaft durchsetzen musste. Aber die Aufgabe des Reichsschatzmeisters war es schon damals stärker denn je, den Überblick über die Mitglieder zu behalten und ihr zahlenmäßiges Wachstum nicht nur zu fördern und zu verwalten, sondern auch zu finanzieren, zu kontrollieren und nötigenfalls zu bremsen. Dabei kamen ihm allerdings die von partikularen Interessen getriebenen Gauleiter und der später entstehenden Reichskommissare, immer aber auch die Interventions- und die Steuerungsversuche Hess’ und Bormanns, anfangs auch des Reichsorganisationsleiters, in die Quere. 1933 droht der Wildwuchs an neuen Parteimitgliedern die NSDAP zu blockieren und ins Chaos zustürzen. Ähnliches zeichnete sich später regional nach dem „Anschluss“ Österreichs ab bzw. wurde streckenweise interne Parteiwirklichkeit. Damit wurden Hitlers eingangs zitierte Befürchtungen über die Folgen eines ungebremsten Wachstums bestätigt. So verfügte – nicht zum letzten Mal – der Reichsschatzmeister schon per 1. Mai 1933 eine Aufnahmesperre, die zweierlei Ziele verfolgte.

65 Nach: Nolzen, NSDAP, S. 106 f. Zu den unten beschriebenen Entwicklungen in der Regimephase, die der Machtübernahme Hitler, die zunächst bei weitem noch keine „totale“ war, siehe etwa: Paxton, Robert: The Five Stages of Fascism. In: The Journal of Modern History 70.1 (März 1998), S. 1-23; Reichardt, Sven: Was mit dem Faschismus passiert ist, Teil 1, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 385-406. 86

Zum einen sollte der gigantische Arbeitsanfall, den etwa 1,6 Millionen Neumitglieder darstellten, die im Wissen um eine kommende Mitgliedersperre in Torschlusspanik in die PO zu strömten suchten, für den Verwaltungsapparat des Reichsschatzmeisters überhaupt bewältigbar werden, eine Aufgabe, deren Lösung sich bis zum Jahr 1937 hinzog. Eine genaue Überprüfung der Mitglieder, die keinesfalls immer positiv ausging, wurde als notwendig erachtet, weil die Parteiführer den nicht unberechtigten Verdacht hegten, dass diese „Märzgefallenen“, die früher anders politisch orientiert gewesen sein mussten, aus opportunistischen Gründen umgefallen waren und plötzlich ihre Liebe zum Nationalsozialismus entdeckt hatten. Sie wurden deshalb auch abschätzig – in einem durchaus auch ambivalenten Sinn – mit einem Begriff aus der Berliner 1848er Revolution bedacht. Sie erhielten pauschal das Eintrittsdatum 1.5.1933 zugebilligt, gleichgültig, wann genau sie den Aufnahmeantrag abgegeben hatten und wann dieser zu einem positiven Abschluss gebracht wurde. Da in der informellen NSDAP-Hierarchie die Höhe bzw. Niedrigkeit der Mitgliedsnummer eine große Rolle spielte, sollten aus eher zufälligen Umständen (Abgabe des Antrags und dessen bürokratische Bearbeitung) keine zusätzliche Differenzierung in die prestigemäßige Nummernhierarchie der NSDAP-Mitglieder eingeführt werden, wie untern belegt werden kann. Doch eine einfache Gleichsetzung der Abfolge der Mitgliedsnummern mit den Zeitpunkten der tatsächlichen subjektiven bzw. von der PO zugewiesenen Beitrittsdatums würde in die Irre führen. Denn die Nummernvergabe erfolgte in Deutschland spätestens seit 1933 (in Österreich erst seit 1938) strikt nach für bestimmte Mitgliederkategorien festgesetzten Blöcken.66 Daher entsprach die jeweils höchste Mitgliedsnummer nie der jeweils tatsächlichen Mitgliederanzahl. Das führte auch dazu, dass immer wieder stark überhöhte Zahlen über die NSDAP kursieren, während die PO schließlich bei Kriegsende nicht 10 oder mehr Millionen Mitglieder hatte, sondern nur schätzungsweise 8,5 Millionen Pg. umfasste.67

66 Lingg, Verhandlung (BA 1/266,), Bl. 75. 67 Ebenda, Bl. 77. 87

Wesentlicher war es jedoch für Hitler und die NSDAP-Leiter, dass zwischen diesen „Konjunkturrittern“ und den in der „Kampfzeit“ Beigetretenen eine deutliche Unterscheidung gemacht wurde. Dies war das andere Ziel des Aufnahmestopps und der genauen Prüfung der „Würdigkeit“ dieser Neu-Pg. Denn die NSDAP sollte nach dem Selbstverständnis ihrer Funktionäre, wie schon Hitler in seinem Bekenntnisbuch geschrieben hatte und dies seither immer wieder wiederholte, eine „rassisch einwandfreie“, ideologische und politisch engagierte „Auslese des Volkes“ sein.68 In den NSDAP-Führungen war man der Ansicht, ein Partei-Beitritt vor der Machtübernahme sei eine Garantie für nationalsozialistische Überzeugungsfestigkeit, die sich schon gegen widrige Umstände bewährt hatte und nicht aus der Erwartung direkter persönlicher Vorteile heraus erfolgt sei. Deshalb sei ihre Durchleuchtung nicht mehr vordringlich, sofern es sich um „deutsche Reichsangehörige“ handelte, vor allem ging es aber immer auch darum, ob sie dem Nationalsozialismus ununterbrochen die Treue gewahrt und stets ihre Beiträge eingezahlt hatten, und andere zentrale Voraussetzungen erfüllt waren, vor allem ging es um „rassische“ Einwandfreiheit (Juden, „Mischlingen“ und mit Juden Verheirateten war strikt der Beitritt untersagt, weshalb manche „Verdächtige“ nachweisen mussten, dass es keine jüdische „Versippung“ unter Umständen bis 1800 zurück gab). Wichtig war auch, dass kein „negroider“ Einschlag (vor allem in den französischen Besatzungskindern aus dem Rheinland), sowie – weniger streng – Nicht-Zugehörigkeit zu „einer Freimaurerloge oder einer logenähnlichen Vereinigung (Old Fellows, Druidenorden, Rotary Club) oder einem sonstigen Geheimbund“ gegeben war. Dies mussten künftige Pg. immer in irgendeiner Form, schon bei der Stellung eines (Wieder-)Aufnahmeantrags (siehe Abb. 6 a – d und 6e) oder auf dem Antragsformular bestätigen:

„Ich bin deutscher Abstammung und frei von jüdischem oder farbigem Rasseeinschlag, gehöre keinem Geheimbund noch einer sonstigen Gemeinschaft oder Vereinigung an und werde einer solchen während meiner

68 Organisationsbuch, S. 5 f. 88

Zugehörigkeit zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterparte nicht beitreten.“69

Abb. 6 a-d: Personal-Fragebogen (4 Seiten) zum Antrag auf Mitgliedschaft für Leopold B. (Bäckergehilfe) vom 16.5.1938

[BDC, Hauptkartei, BA]

69 Siehe Antragsformulare: Abb. 2 und 3. 89

[BDC, Hauptkartei, BA]

90

[BDC, Hauptkartei, BA]

91

[BDC, Hauptkartei, BA]

92

Abb. 6 e - f: Vorder- und Rückseite der Bestätigung über die NSDAP- Mitgliedschaft für Leopold B. (Angestellter und Ortsgruppenleiter) wahrscheinlich von 1938

[BDC, Hauptkartei, BA]

93

Dennoch dauerte es lange, bis die NSDAP von allen ehemaligen Freimaurern oder Angehörigen bürgerlich-liberaler oder völkischer Geheimbünde, denen gegenüber man vor allem in Deutschland in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus lax gewesen war, (durch Ausschluss, nachträgliche Absage oder Pardonierung nach Einbekenntnis) weitgehend –nie vollständig – „gereinigt“ war. Religiösen, vor allem katholischen, Aktivisten und Priestern gegenüber bestand ein ähnliches – nie hundertprozentig durchgesetztes – Ausschließungsverhältnis. Dagegen war die NSDAP ehemaligen Anhängern bürgerlicher, auch katholisch-konfessioneller, oder sozialdemokratischer Parteien, gegenüber durchaus nachsichtig. Dasselbe galt auch für ehemalige Mitglieder der „Vaterländischen Front“, sofern sie nicht höhere Funktionäre gewesen waren. Ehemalige Kommunisten hatten es schon schwerer, waren jedoch ebenfalls nicht total ausgeschlossen.

Zu der Pg.-Elite, die parteiamtlich als „Alte Kämpfer“ oder auch „Alte Garde“ bezeichnet wurden, gehörten zunächst solche Mitglieder, die eine Mitgliedernummer bis 100.000 erhalten hatten, also bis 1929 beigetreten und ohne Unterbrechung Pg. geblieben waren. Da es innerhalb der NSDAP bis 1933 eine hohe Fluktuationsrate gab, konnten nicht alle von ihnen, wie eigentlich vorgesehen, sondern nur 30.000 den „Blutorden“ erhalten. Daneben wurden an besonders verdiente Pg. vom Führer persönlich „Goldenen Parteiabzeichen“ und für einen weiteren Kreis andere Ehrungen verliehen. Zu den „Alten Kämpfern“ wurden auch solche SA-, SS- und „Stahlhelm-Mitglieder gerechnet, die vor dem 30. Jänner 1933 ihren Parteieintritt vollzogen, sowie später noch bewährte „Amtswalter“. Einfache Pg., die nur einen Eintritt vor der Machtübernahme aufzuweisen hatten, wurden im „Altreich“ oft als „Alte Parteigenossen“ bezeichnet;70 darunter befanden sich auch viele etwas abschätzig

70 Die Einzelheiten sind keineswegs immer klar, siehe allg. etwa Benz, Einleitung, S. 7; Schmitz- Berning, Vokabular, S. 26; http://de.wikipedia.org/wiki/Alter_K%C3%A4mpfer (24.2.1011); Debatte zwischen Reichsinnenminister, Preußischem Ministerpräsidenten Heß, 20.-26.7.34, Akten der Partei-Kanzlei. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes. Hrsg. v. Institut für 94

„Septemberlinge“ genannte im Zuge des Wahlerfolges vom September 1930 Beigetretene. Aber auch sie gelangten in den Genuss vieler Privilegien. Aus den „oberen“ Schichten dieser Nomenklatur rekrutierten sich vor allem die führenden Funktionäre der PO und anderer Organisationen der NSDAP, sie wurden jedoch auch bei der Arbeitsvermittlung, bei der Postenvermittlung und auf andere Weise bevorzugt und sollten ein Vorbild für die anderen Pg. bzw. „Volksgenossen“ sein. (Im „angeschlossenen“ Österreich wurden diese Privilegien nach 1938 etwas anders zuerkannt, wie noch gezeigt werden soll.)

C.1.2.4 Mitgliederquoten in der Regimephase

Durch die Herausentwicklung bzw. Einführung solcher Kategorien von besonders verdienten (und zu bevorzugenden) Parteimitgliedern wurden jedoch alle Vorstellungen von der NSDAP als einem „Führerorden“ ad absurdum geführt. Mochte das von Hitler genannte Verhältnis von zehn Anhängern (=Wählern) zu 1 bis 2 (d.h. 10 – 20%) Mitgliedern für die 2,5 Millionen Pg., die für das Jahr 1933 zugelassen wurden, noch als Umschreibung einer Elitepartei gelten, so gilt das nicht mehr für die Zehn-Prozent-Regel, die, von Hitler selbst formuliert, zunehmend durch alle Planungsüberlegungen für die Parteientwicklung zu geistern begann: die Zahl der Parteigenossen sollte nach dem am 20.4.37 kundgetanen „Willen des Führers“71 10 Prozent der Gesamtbevölkerung erreichen, aber auch nicht überschreiten. Daran haben sich allerdings nicht alle Gau- und Kreisleiter gehalten, sei es einerseits, weil sie eine zu geringe Aktivität entfalteten oder die Bevölkerung bestimmter Hoheitsgebiete resistent war, sei es andererseits, weil bestimmte Hoheitsträger (vor allem Gau- oder Kreisleiter) einen überschießenden politischen Eifer, der sich auch in einer Steigerung der

Zeitgeschichte, Teil I, Bd. 1: Regesten, bearbeitet von Helmut Heiber, München – Wien 1983 (in Hinkunft abgek.: Akten der Parteikanzlei I,1), 10443. 71 Der Reichsschatzmeister. Der Oberste Richter der Partei: Richtlinien für das Verfahren bei der Aufnahme neuer Mitglieder in die NSDAP. München 10.7.1939, Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Materien 195/4310 (in Hinkunft zit. als: Richtlinien), S.14. 95

Einnahmen und des parteiinternen Prestiges niederschlug, entfalteten und nicht das oft beschworene „Ganze“ im Blick hatte.

Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die auf einen Gau, einen Kreis oder eine Ortsgruppe entfallenden Mitgliederzahlen seit Mitte der 30er Jahre sich nicht primär einer aus der „gesamten“ Bevölkerung hervorgehenden Mitgliederdynamik verdankten, sondern mehr oder weniger einem vorgegebenen (oder imaginierten) Organisationsbild, das spätestens 1937 quellenmäßig greifbar wird,72 entsprachen. Denn laut den Richtlinien für die Neuaufnahme von Mitgliedern, die sogar 1939 im Druck erschienen, sollt für die detaillierte Aufteilung des einem Gau aufgrund der Zahl seiner „Volksgenossen“ zugewiesenen Kontingents von Parteimitgliedern beachtet werden:

„Die Verteilung der den einzelnen Gauen demnach zustehenden Neuaufnahmen nimmt der zuständige Gauleiter, die Verteilung innerhalb der Kreise auf die einzelnen Ortsgruppen entsprechend der Kreisleiter vor. Wird in den Ortsgruppen das zugestandene Kontingent nicht erreicht, so kann der Kreisleiter anderen Ortsgruppen den Rest zuteilen. Dasselbe Recht steht entsprechend dem Gauleiter zu, wenn einzelne Kreise die ihnen bewilligte Zahl von Neuaufnahmen nicht erreichen.“73

Damit erübrigen sich Überlegungen, dass nach der Machtübernahme die Über- oder Unterproportionalität von Parteimitgliedern in einem bestimmten Gebiet – etwa in besonderen Gauen oder in der „Ostmark“ – im Vergleich mit anderen Regionen sehr viel über die Akzeptanz und Begeisterung für den Nationalsozialismus in der Gesamtbevölkerung auszusagen vermögen, wie dies in der Zeitgeschichtsforschung immer wieder vorgekommen ist.74 Die NSDAP versuchte, dem Willen des „Führers“ folgend, sich immer mehr als „getreues Abbild“ der jeweils vorhandenen „Volksgenossen“ zu konstruiere, auch wenn das

72 Anordnung Nr. 24/37 des Stellvertreters des Führers vom 9.2.37, BA NS 1/266. 73 Der Reichsschatzmeister, 10.7.1939, S.14; ähnlich auch Anordnung 34/39 des RSchM vom 10.5.39, in ÖStA, AdR, Materien 195/4310; 74 Jedoch nicht bei: Hagspiel, Ostmark, S. 113. 96

mit dem Prinzip der Freiwilligkeit des Parteibeitritts und der erwarteten individuellen Qualifikationen im Widerspruch kommen konnte.

Dessen war sich auch Hess bewusst, der schon am 9. Februar 1937 unter Bezugnahme auf die schon lange erörterte und vorbereitete Wiederöffnung der Partei anordnete (siehe Abb. 7 a – b):

„Die bevorstehende allgemeine Lockerung der Mitgliedersperre stellt alle Parteidienststellen vor eine große verantwortungsvolle Aufgabe. […] Ein Zwang oder Druck, der Partei beizutreten, darf unter keinen Umständen ausgeübt werden, der Grundsatz der Freiwilligkeit als eines der wertvollsten Merkmale der Bewegung muss vielmehr voll aufrecht erhalten werden![…]75

75 Anordnung Nr. 24/37 des Stellvertreters des Führers vom 9.2.37, BA NS 1/266, Bl. 118 = 86 (Unterstreichung wie im Original). 97

Abb. 7 a – b: Rundschreiben Hess’ über die Freiwilligkeit des Beitritts zur NSDAP vom 20.11.1936

[BDC, nichtbiogr. Material, Ordner 377 I, BA]

98

[BDC, nichtbiogr. Material, Ordner 377 I, BA]

Dabei sollten an „Lebensalter jüngere Volksgenossen […] bei der Aufnahme grundsätzlich“ bevorzugt werden, ebenso „alle die Volksgenossen […], die bereits in den letzten Jahren durch aktiven Einsatz ihren Willen zur Mitarbeit in der Bewegung zu erkennen gegeben haben.“ Allerdings wurde hier auch die oben erwähnte, schon seit den 20er Jahren ausgesprochene Einschränkung, die generell auch auf Theologieprofessoren und religiös (protestantisch oder katholisch) besonders hervortretende Laien bezogen war, einmal mehr wiederholt. Die NSDAP war eben ein antikirchlicher, säkularisierender politischer Faktor, der sich die „Volksgemeinschaft“ nicht durch konfessionelle Gegensätze aufspalten lassen wollte, wie auch Hitler immer betonte, ohne dass sein Wille immer auch tatsächlich umgesetzt wurde: 99

„Um jedes Hineintragen kirchenpolitischer Gegensätze in die Bewegung zu verhindern und um selbst den Verdacht einer einseitigen Stellungnahme für oder gegen eine bestehende Kirchengemeinschaft zu vermeiden, ist von der Aufnahme von Angehörigen des Geistlichen Standes in die Partei abzusehen.“76

Die Höchstquoten für die künftigen Pg.-Aufnahmen sollten den Gauen von Hess und Schwarz gemeinsam vorgegeben werden und bei Bedarf in der schon beschriebenen Weise zwischen den territorialen Untergliederungen so verschoben werden können, dass die Gesamtbilanz der gewünschter Mitgliederquote – 10 Prozent – innerhalb eines Gaues ausgeglichen blieb.

Ebenso wichtig war auch folgende – etwas „parteichinesisch“ formulierte – Bestimmung:

„Den Ortsgruppen- und Stützpunktleitern sind von den einzelnen Gauleitungen umgehend Richtlinien über den gewünschten altersmäßigen Durchschnitt und die der Struktur [gemeint ist die Sozialstruktur, G.B.] der einzelnen Ortsgruppen und Stützpunkte entsprechende Verteilung der Neuaufnahmen auf die einzelnen Berufsschichten zu übermitteln.“77

Damit und durch eine Vielzahl anderer Anordnungen und Bestimmungen wird klar, dass sich die intendierte Selbstkonstruktion der Partei auch auf ihre Sozialstruktur bezog. So wurde immer wieder moniert, dass der Anteil der Pg. bäuerlicher Herkunft und of auch der von Arbeitern nicht ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung entsprach und deshalb gesteigert werden solle.

Eine annähernd der Gesamtbevölkerung entsprechende Geschlechterproportion war in der und für die dominant männliche Partei nicht erwünscht. So sollten später – ab 1942 – gemäß einer Anordnung Bormanns männliche HJ-Angehörige bis zu 30% des jeweiligen Geburtsjahrganges in die NSDAP aufgenommen werden können, während diese Quote für BdM-Mitglieder nur 7% betragen

76 Ebenda, Bl 119 = 87. 77 Ebenda, B. 129 = 88. 100

sollte.78 Immerhin bedeutet das, dass tatsächlich unter den Neuaufnahmen bis 1945 die Frauenanteil auf etwa ein Viertel stieg.

Aber sonst ließ die Partei auch – durchaus einer modernen Politikplanung entsprechend – statistische Tabellen und Übersichten kursieren und eine offizielle Sozial- und Alterstatistik über die Mitglieder zum Jahr 1935 ausarbeiten. Jürgen Falter machte darauf aufmerksam, dass diese reichsweite statistische Untersuchung keineswegs propagandistisch verzerrt ist, wie manche Historiker gemeint haben, „da es sich bei der ‚Partei-Statistik’ um eine strikt parteiinterne, höchst vertrauliche Verschlußsache handelte, die zum Zwecke der Selbstdiagnose und der gezielten Steuerung der künftigen Mitgliederrektutierung durchgeführt worden war.“79 Deshalb sind auch die Berufsangaben auf den Beitrittsansuchen und Mitgliedskarten hinsichtlich ihrer Aussagen über soziale Schichtung, Berufsspezifika und Ausbildungsniveau bis in die ersten Kriegsjahre, als eine zunehmende Verwaltungsvereinfachung einsetzte, ziemlich präzise und aussagekräftig. Die Angestellten der Mitgliederverwaltung beim Reichsschatzmeister waren angewiesen, genaue Berufsbezeichnungen und Statusangaben von jedem künftigen Pg. zu erlangen und zu vermerken. Dies ergab sich schon aus der Absicht, die soziale etc. Zusammensetzung der NSDAP zu steuern und nach einer vorgegebenen „volksgemeinschaftlichen“ Repräsentationsvorstellung zu konstruieren zu suchen.

Dass das Ziel dieser idealen gesellschaftlichen Abbildhaftigkeit der NSDAP dadurch nicht erreicht wurde und weiterhin ein typischer „Mittelstandsbauch“ der Bewegungsphase, der Angestellte, Beamte und Freiberufler überrepräsentierte, erkennbar blieb, ist eine andere Sache. Jedenfalls kann die soziale Zusammensetzung der NSDAP, wie aus den seriellen Parteikarten und -akten einfach quantifizierend rekonstruierbar scheinen mag, ab 1933 bzw. 1938, auch

78 Wetzel, Juliane: Die NSDAP zwischen Öffnung und Mitgliedersperre. In: Benz, Parteigenosse, S. 74-90, hier S. 88 f. 79 Falter, Die „Märzgefallenen“, S. 597. 101

nicht für die österreichischen „Illegalen“, auf ein „kollektives“ Verhalten von in die Partei strömenden „Volksgenossen“ zurückgeführt werden kann.

C.1.2.5 Vergebliche Aufnahmebremsen nach 1935

Den Blick wieder zurücklenkend auf die Zeit unmittelbar nach der Machtübernahme, ist zu sagen, dass durch die seit Mai 1933 bestehende Aufnahmesperre das Mitgliederwachstum nicht wirklich gestoppt wurde; es wurde nun zwar – wie dargelegt – einheitlich geregelt, doch die Vielzahl der auch in der weiteren Folge notwendig oder von der Parteiführung gewünschten Änderungen beweist, dass die parteibürokratische Reglementierung lange nicht perfekt war, ja es nicht sein konnte, weil das NS-Regime selbst, sogar vor dem Krieg, ständig sich in einer Expansion (auch in die Gesellschaft hinein) und in einer zunehmenden Differenzierung (auch Aufsplitterung) befand.80 So wurden in den folgenden Monaten auch für zahlreiche Sondergruppen – Mitglieder von SA, SS, NS-Frauenschaft, NSBO und des „Stahlhelm-Bundes“ sowie über 18jährige Angehörige der rasch zur Staatsjugend ausgebauten HJ – zahlenmäßig ins Gewicht fallende Ausnahmen vorgesehen.81

Um einerseits die weiterhin bestehende Nachfrage nach NSDAP-Mitgliedschaft und andererseits den wachsenden Bedarf an ideologisch und fachlich geeigneten Trägern der vielfältigen Aufgaben in der in die Breite und Tiefe gehenden Diktatur zu decken, entstanden aber bald wieder Überlegungen, die Basis des Regimes durch eine Öffnung für neue Pg. zu erweitern. Dabei spielten nicht zuletzt Geldsorgen der NSDAP eine wichtige Rolle, sodass mit 1. Mai 1937 die

80 Rundschreiben 77/35 und 87/35 des RSchM vom 3.7. bzw. 20.7.1935, Bl. 108 f., BA NS 1/266 (RSchM). (In diesem Bestand finden sich auch die meisten der Erlässe, Anordnungen und Rundschreiben, auf die bisher und in der Folge nur zum Teil Bezug genommen wurde). Zur gesamten Thematik nunmehr die kompetente, jedoch nicht immer kohärente Darstellung in dem oben zit. Sammelband von Benz, Parteigenosse und die Beiträge darin, vor allem die von Juliane Wetzel, Björn Weigel und Armin Nolzen, in: Benz, Parteigenosse. 81 Nolzen, Armin: Vom „Jugendgenossen“ zum „Parteigenossen“. Die Aufnahme von Angehörigen der Hitler-Jugend in die NSDAP. In: Ebenda, S. 123-150, hier 125. 102

Eintrittstore in die NSDAP wieder etwas geöffnet wurden.82 Dahinter stand ein geradezu abstrus anmutender, aber bis Kriegsende weitgehend Realität werdender Vorschlag, den Bormann – in einem damals eher noch unterwürfigen Ton – Schwarz unterbreitete:

„Wir sind uns darüber klar, dass eine ausserordentlich lange Zeit verstreichen wird, bis die vier Millionen, die nun in die Partei aufgenommen werden sollen, tatsächlich als Mitglieder gelten. Das bedeutet einmal, dass die ersten dieser vier Millionen jetzt, also im März 1937 aufgenommen werden und die letzten vielleicht zu Ende des Jahres 1939, obwohl die ersten wie die letzten an sich sich gleichzeitig um Aufnahme in die Partei beworben haben. So, wie die Dinge liegen, spielt nun das Aufnahmedatum eine sehr wesentliche Rolle; schon heute bedeutet es einen ganz wesentlichen Unterschied, ob jemand im März oder im Mai 1933 eingetreten ist. Zum anderen kommt die Partei erst ausserordentlich spät, nämlich frühestens zu Ende 1939 in den Besitz aller Beiträge der jetzigen Anwärter.“83

Dies sind die wahren Gründe, dass eine Parteianwartschaft als Vorstadium zur vollen Parteimitgliedschaft, die den in die NSDAP drängenden Personenkreis vorläufig zufrieden stellen sollte, geschaffen wurde; dies ermöglichte auch die sukzessive Vornahme einer zeitaufwendigeren Überprüfung der „Würdigkeit“ der kommenden Pg. und hatte den Vorteil, einen sofortigen Gelderstrom in die leeren Kassen der NSDAP (durch allerlei Antragsgebühren, „freiwillige“ Spenden und durch die Mitgliedsbeiträge, die sofort ab dem meist zurückliegenden Aufnahmedatum zu bezahlen waren) in Gang zu setzen. „Volksgenossen“, die nicht mehr vor dem 1.5.1933 einen Mitgliedsantrag gestellt hatten und daher unmittelbar noch nicht aufgenommen hatten werden können, sich aber danach im nationalsozialistischen Sinne durch die Tat bewährten, konnten in einem Verfahren, das etwa der normalen Aufnahmeprozedur entsprach, als Anwärter anerkannt werden. So hieß es in einer Anordnung des Reichsschatzmeisters vom Februar 1937: „Ein Parteianwärter hat die gleichen Pflichten wie ein

82 Weigel, Björn: „Märzgefallene“ und Aufnahmestopp im Frühjahr 1933. Eine Studie über den Opportunismus. In: Benz, Parteigenosse, S. 91-109. 83 Schreiben vom 18.3.37, BA, NS1/266, Bl. 96 und 96’ (Unterstreichungen im Original). 103

Parteimitglied, nicht aber dessen Rechte, wie z.B. das Tragen des Parteianzeichens.“84 Die letztgenannte Einschränkung entfiel allerdings ab 30.Jänner 1938. Sobald einem solchen Parteianwärter die volle Mitgliedschaft zugesprochen wurde, erhielt diese Person das formelle Eintrittsdatum „1. Mai 1937“ zugeteilt, wann immer sie auch den Antrag unterzeichnet hatte. Sollte die Aufnahme eines Parteianwärters abgelehnt werden, so galt diese geminderte Parteimitgliedschaft rückwirkend nicht mehr und die einbezahlten Mitgliedsbeiträge sollten rückerstattet werden, was allerdings selten vorgekommen sein dürfte. Schon zum 1. Mai 1939 wurde die Parteianwartschaft im „Altreich“ wieder aufgehoben.85

Diese Lockerung der Mitgliedersperre im „Altreich“ war also nicht von langer Dauer. Sie wurde, als die seit Anfang Mai 1937 beim Beitritt zu bevorzugenden Kategorien – etwa die 2 Millionen Mitgliedschaftswerber Bormanns – die angestauten Anträge abgearbeitet waren und einigermaßen „die Partei zahlenmäßig aufgefüllt“ war, schon acht Monate später (im „Altreich“) wieder rückgängig gemacht. Vor den Toren der Partei standen jedoch immer noch etwa 2 Millionen, die Einlass begehrten und sukzessive aufgenommen werden mussten, wollten die Parteiführer nicht das Entstehen einer gefährlichen Unzufriedenheit an der Basis riskieren. Der Prozess der Zulassung dieser Anwärter wurden bis Ende 1939 wieder vorangetrieben, dauerte jedoch noch bis weit in die Kriegsjahre hinein an, zum Teil auch weil offensichtlich aus organisatorischen Gründen noch mehrfach Sperrfristen für Neuanträge erlassen werden mussten.

Unterdessen hatte eine nicht vollkommen gleichartige und von Sonderfaktoren modifizierte Parallelaktion zur Bewältigung der Probleme mit den Parteimitgliedschaften in dem angeschlossenen Österreich begonnen. Diese Probleme hatten Ursachen mehrfacher Art.

84 Rundschreiben des Gauschatzmeisters Bayerische Ostmark vom 31.5.1937, RSchM 1/266, Bl. 152. 85 Wetzel, NSDAP, S. 77 f. 104

C.1.2.6 Spätfolgen des Parteiverbots in Österreich und „ostmärkische“ Sonderprobleme

Zunächst war der österreichische Nationalsozialismus vor und nach der Gründung einer unter Hitlers Dominanz stehenden Organisation (1926) jahrelang in drei Teile gespalten und auch, nachdem sich die „Hitler-Bewegung“ durchgesetzt hatte, bis 1938 von extremen Fraktions- und Cliquenkämpfen gekennzeichnet.86 Die österreichische NSDAP machte zwar eine annähernd vergleichbare Entwicklung wie ihre große und zum Teil imitierte Schwesterparte im „Reich“ durch, nur dass – vereinfacht gesagt – in ihr die ursprüngliche Ausrichtung der vor-Hitlerschen Partei (DNSAP) auf private und öffentliche Angestellte erst spät in der Struktur einer „asymmetrischen Volkspartei“ der Durchbruchsphase 1932/33 aufging und in ihr die relative Repräsentation von Handarbeitern und Bauern unter ihren Mitgliedern noch etwas relativ niedriger als in Deutschland war. Auch hinkte ihr Massenerfolg bis zu zwei Jahre hinter dem Deutschen Reich her.87 Dieser tief sitzende Eigenart erschwerte auch Hitlers Eingriffsversuche vor und nach 1933 weitgehend wie sie auch die Tätigkeit des ins Land entsandten

86 Umfassend: Pauley, Bruce F.: Der Weg in den Nationalsozialismus. Ursprünge und Entwicklung in Österreich. Vom Autor rev. u. erg. Ausg., Wien 1988; Jagschitz, Gerhard: Von der „Bewegung“ zum Apparat. Zur Phänomenologie der NSDAP 1938 bis 1945. In: TALOS, Emmerich u.a, (Hrsg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2000, 88-122, 87 Vgl. zu den Mitgliedern: Bauer, Kurt: Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934. Wien 2003; Botz, Gerhard: Strukturwandlungen des österreichischen Nationalsozialismus (1904-1945). In: Ackerl, Isabella, Walter Hummelberger und Hans Mommsen (Hrsg.): Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Wien 1981, S. 163-193; Botz, Gerhard: Arbeiter und andere “Lohnabhängige” im österreichischen Nationalsozialismus, in: Hofmann, Jürgen und Michael Schneider (Hrsg.): ArbeiterInnenbewegung und Rechtsextremismus – Labour and Right- Wing Extremism. 42. Linzer Konferenz der Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen, 14. bis 17. September 2006. Hrsg. von Jürgen Hofmann und Michael Schneider. Leipzig 2007 (ITH-Tagungsberichte 41), S. 35-61. Zur Wählerschaft umfassend: Hänisch, Dirk: Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres Sozialprofils. Wien 1998; vgl. auch regional: Elste, Alfred und Dirk Hänisch: Auf dem Weg zur Macht. Beiträge zur Geschichte der NSDAP in Kärnten von 1918 bis 1938. Wien 1997. 105

Reichskommissars Bürckel ab 1938 fast zu einer außerordentlich schwierigen machte.

Sodann hatte die hohe Terrorbereitschaft der österreichischen Nazis, gesteigert unter der auf eine autoritäre Diktatur hin sich entwickelnden Regierung Dollfuss, veranlasst, am 19. Juni 1933 jede nationalsozialistische Betätigung zu untersagen. Die damit eintretende Illegalität versetzte die österreichischen Nationalsozialisten in den Zustand einer zunehmend durch spürbare polizeiliche und gerichtliche Maßnahmen und berufliche Sanktionen betroffenen außerinstitutionellen Opposition, die verstärkt zu außerstaatlicher Gewaltanwendung bis zur Durchführung (eines von Hitler unterstützten88, jedoch fehlgeschlagenen) Putsches im Juli 193489 bereit war. Die Unterdrückungsmaßnahmen des „Christlichen Ständestaat“ bewirkten zunächst eine empfindliche Schwächung des Nationalsozialismus; viele Mitglieder wandten sich deshalb ab (siehe unten Abb. 10a) oder gingen in den Untergrund , die österreichische Landesleitung und die meisten Gauleiter verlegten ihre Tätigkeit nach Deutschland oder wurden inhaftiert wurden. Damit ging auch die separate Mitgliederkartei Österreichs bis auf Reste verloren, was den Wiederaufbau der Partei nach dem „Anschluss“ wesentlich erschwerte.

Schließlich konstituierte die Flucht von einigen Zehntausend Nationalsozialisten ins „Reich“ und andere Nachbarländer ein weiteres gravierendes Unterscheidungsmerkmal zwischen den Nationalsozialisten in Österreich und Deutschland.90 Allein über 14.000 davon gehörten der rebellischen

88 Bauer, Kurt u. Peter Longerich: Neue Erkenntnisse zur Rolle Hitlers, In: Zeitungszeugen. Sammeledition: Die Presse in der Zeit des Nationalsozialismus. Nr. 9, 2009, [S. 2]. 89 Allg. noch: Jagschitz, Gerhard: Der Putsch. Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich. Graz, Wien, Köln 1976.

90 Hans Schafranek nennt, der österreichischen Staatspolizei folgend, eine Zahl von 63.000 Personen, die zwischen 1933 und 1936 nach Deutschland emigriert sein sollen; dazu gehörten nicht nur österreichische NS-Terroristen, sondern auch andere Aktivisten und Mitglieder der NSDAP, sowie viele Angehörige und aus anderen Gründen Emigrierte: Schafranek, Hans: Söldner für den "Anschluss". Die Österreichische Legion 1933 – 1938. Wien 2011, S. 316 f. 106

österreichischen SA an, die im „Reich“ in der „Österreichischen Legion“ in Lagern zusammengefasst und weitgehend isoliert wurde, während die österreichischen SS-Angehörigen in Deutschland eher in deutsche NS- und Staatsstellen integriert wurden. Über 10.000 von ihnen wurde die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt.91 Insgesamt komplizierte die Existenz all dieser radikalisierten österreichischen Nationalsozialisten im „Reich“ die spätere Klärung der Parteimitgliedschaften ungeheurer, weil sie ganz unterschiedlichen Mitgliederstatus – als alte österreichische oder deutsche Pg. (wenn sie deutsche Staatsbürger geworden waren), als Nichtmitglieder in und außerhalb der nationalsozialistischen Gliederungen – hatten. Da sie sich auch als opferbereite Kämpfer für den Nationalsozialisten fühlten, erhoben sie nach dem „Anschluss“ Ansprüche auf mindestens symbolische Anerkennung (innerhalb der NSDAP- Nummernhierarchie) und auf berufliche und wirtschaftliche, überwiegend auf Kosten der verfolgten Juden gehende Kompensationen.

Als Bürckel im März 1938 als „Beauftragter des Führers“ für die NSDAP in Österreich und dann als Eingliederungs-Reichskommissar in Wien seine Tätigkeit aufnahm, stand er vor ähnlichen Problemen, wie sie zwischen 1933 und 1937 im „Altreich“ bestanden hatten; sie waren jedoch gewaltig verschärft durch die eben skizzierte spezifische Problemlage. Da ihm anders als 1933 im „Altreich“ kein funktionierender Parteiapparat zur Verfügung stand und er sich nicht auf die österreichischen Nationalsozialisten verlassen konnte (oder wollte), bediente er sich des personellen Apparats, den er zur erfolgreichen Durchführung der „Volksanstimmung“ am 10. April 1938 aus dem Boden gestampft hatte. Die Gauwahlleiter hatten zunächst die „Erfassung und Aufnahme der Mitgliedschaft zur NSDAP vorzunehmen“. Im Allgemeinen war dieses Verfahren an das

91 Ebenda, S. 60; Garscha, Winfried R.: Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938. In: Tálos, Emmerich und Wolfgang Neugebauer (Hgg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938. 5., völlig überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien 2005, S. 100–120; Albrich, Thomas und Wolfgang Meixner: Zwischen Legalität und Illegalität. Zur Mitgliederentwicklung, Alters- und Sozialstruktur der NSDAP in Tirol und Vorarlberg vor 1938. In: Zeitgeschichte, 22 (1995), S. 149–187.

107

deutsche angelehnt, doch es gab auch beträchtliche Abweichungen. Zunächst richtete sich dieses Erfassungsverfahren an (1.) solche, die bisher schon NSDAP- Mitglieder gewesen waren, sodann auch (2.) an „jene, die bis zum 11. März 1938 sich als Nationalsozialisten betätigt haben.“92 Der erstgenannte Personenkreis erhielt, wenn sich seine frühere Parteizugehörigkeit bestätigte, die reguläre Mitgliederkarte mit der alten Nummer zugewiesen, wenn nicht, dann musste ein neuer Antrag gestellt werden. Da man aus den Problemen, die im „Altreich“ aus der Unmöglichkeit einer raschen Bearbeitung der zu erwartenden Flut von Anträgen entstanden waren, gelernt hatte, wurde in Österreich eine grüne „vorläufige Mitgliedskarte“ eingeführt und für den zweitgenannten Personenkreis ausgestellt (siehe unten). Wenn dabei die Überprüfung ergab, dass der Antragsteller die Kriterien der Mitgliedschaft erfüllte und nachweisen konnte, dass er in der Illegalitätsperiode nicht abtrünnig gewesen war, wurde nach dem üblichen Prozedere eine ordentliche, rote Mitgliedskarte (siehe Abb. 8) ausgestellt und dem Pg. übergeben;93 erst in den letzten Kriegsmonaten wurden keine Mitgliedsbücher mehr ausgegeben. Oft wird auch in der Forschung übersehen, dass die Massenquelle der Parteimitgliedskarten aus der zentralen bzw. örtlichen NSDAP-Verwaltung stammen und nicht jene waren, die die Pg. einsehen konnten.

92 Anordnungen und Verfügungen des Beauftragten des Führers für den Parteiaufbau in der Ostmark, Gauleiter Josef Bürckel. Wien 1939, S. 5. 93 108

Abb. 8: NSDAP-Mitgliedskarte (rot) für Anton R. (Landarbeiter) vom 1.11.1938 (Seite 1 und 4 bzw. 2 und 3) [133 x 100 mm]

[BDC, Hauptkartei, BA]

Da Hitler für diese Kategorie den Nummernblock von 6,100.000 bis 6,600.00094 reserviert hatte, wurde ihm/ihr eine solche zugeteilt. Der Ansturm auf solche Nummern (und Privilegierung) war gewaltig und die Modi des (oft nur vorgetäuschten) Engagements durch die österreichische Situation 1933-38 waren so verworren, dass sich die Erledigungen monate-, ja jahrelang in die Länge ziehen konnten. Solche Mitglieder, die schon zeitgenössisch (und nach 1945) als

94 Ursprünglich nur 6,1 bis 6,5 Millionen. Jagschitz, „Bewegung“, S. 108 schreibt von einem Block von 6,1 – 6,9 Mio. Dagegen ist in einem Besprechungsprotokoll aus dem Büro Bürckels (Knissel) vom 24.4.38 die Rede, dass der RSchM weitere 400.000 Nummern zu den bis dahin bewilligten 6,5 Mio, also bis 6,9 Mio, bereitstellen möge. Dies ist nicht geschehen, sondern es blieb nur bei einer mäßigen Erhöhung auf 6,6 Mio., ÖStA, AdR, RSchM, Hauptämter 3. Siehe auch: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index- 17.html.de (11.1.11). 109

„Altparteigenossen“(Abb. 9a) (bzw. als „Illegale“) bezeichnet wurden, erhielten (zu allermeist rückwirkend) einheitlich das Beitrittsdatum 1. Mai 1938 zugewiesen, gleichgültig, wann sie ihren Antrag eingereicht hatten und dafür eine Bestätigung ausgestellt (Abb. 9b).

Abb. 9a: „Große“ gelbe Ortsgruppen-Karteikarte für Anton B. (Schriftsetzer) vom 4.10.1931 (nach Wiedereintritt per 1.5.38 als „Alt-Pg.“ anerkannt) [210 x 140 mm]

[BDC, Hauptkartei, BA]

110

Abb. 9b:Vorläufige Bestätigung für die „alte“ Mitgliedschaft von Anton B. (Finanzbeamter, [gestrichen:] Schriftsetz.) per 1.5.1938

[BDC, Hauptkartei, BA]

Dies führte nicht nur im Rechtfertigungsdiskurs ehemaliger Nationalsozialisten und in der allgemeinen Öffentlichkeit, sondern auch in der seriösen wissenschaftlichen Literatur immer wieder zu dem Missverständnis, dass ein solcher Nationalsozialist eben „erst“ am 1.5.38 und nicht schon während der Verbotszeit beigetreten war, während der ein anerkannter „Illegaler“ war, mindestens einer sein wollte.95

95 Selbst etwa Neugebauer, Wolfgang und Peter Schwarz: Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten. Wien 2005, S. 115 und 200. 111

In Analogie zum „Altreich“ wurde auch in der „Ostmark“ der auszeichnende Begriff eines „Alten Kämpfers“ eingeführt. „Als ‚lte Kämpfer’ der Ostmark, welche so wie die alten Kämpfer im Altreich bevorzugt zu behandeln sind,“ galten einer Anweisung Bürckels zufolge, vier Arten von Pg., und zwar solche,

die vor dem Stichtag 19. Juni1933 entweder in Österreich oder

in Deutschland ordnungsgemäß beigetreten waren, oder

Träger des „Blutordens“ oder

außerordentlich verdienstvolle Pg. waren.96

Ohne dass die Reorganisation und der Neuaufbau des Mitgliederwesens im ehemaligen Österreich weiter nachvollzogen werden soll,97 sei doch betont, dass auch hier – aus denselben organisatorischen Gründen – eine andere im „Altreich“ (zwischen 1.5.37 und 1.5.39) bestehende Pg.-Kategorie zeitverzögert am 3. November 1938 zum Leben erweckt wurde: der sogenannte „Parteianwärter“. In den ersten Wochen und Monaten nach dem „Anschluss war den Aufnahme Suchenden eine Bestätigung ausgestellt worden, dass sie sich sozusagen im Status der Aufnahme befanden, was ihnen eine bestimmt Bevorzugungen einbrachte. Im Zuge des alle Pg. betreffenden Erfassungsverfahren in der „Ostmark“ wurde auch an Alt-Pg., deren vor 1933 liegender Beitritt (erst später) nach Überprüfung als gültig anerkannt wurden, eine „vorläufige Bestätigung“ ausgestellt (siehe Abb. 9b und 6e). Damit einhergehend wurde ab November 1938 üblicherweise eine braune Bestätigungskarte ausgestellt, die de facto – unter bestimmten zusätzlichen

96 Anordnung Nr. 34/38 vom 23.9.38, ÖStA AdR, Bürckel rot 3. 97 Siehe: Botz, Gerhard: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39. Überarb. und erw. Neuaufl., Wien 2008, S. 266-299; Hagspiel, Hermann: Die Ostmark. Österreich im Großdeutschen Reich 1938 bis 1945. Wien 1995, S. 107- 128. 112

Bedingungen (vor allem politisches Engagement, Zahlung der Beiträge) – die in eine volle Mitgliedschaft mündende Parteianwärterschaft bestätigte.98

Sie wurde denjenigen Antragstellern als vollgültiger Parteinachweis ausgestellt, die nicht in die oben genannten hochrangigeren Mitgliederkategorien (vor 1.5.1938) aufgenommen wurden oder einen rechtzeitigen Antrag versäumt hatten. Solche Antragstellungen auf „Parteianwartschaft“ sollten gemäß einer Weisung des Reichsschatzmeisters mit 16.7.1940 auslaufen, jedoch die Praxis der Mitgliederverwaltung in „ostmärkischen“ Gauen hielt sich nicht daran, und hier gab es auch noch weiterhin „Parteianwärter“.99 Dies verdeutlicht das in Österreich bei der Reorganisation der NSDAP herrschende Chaos, das Gerhard Jagschitz folgendermaßen beschrieben hat:

„Die ungeheure Bürokratisierung der Mitgliederbestätigung, die Ausgabe von immer wieder geänderten Formularen, provisorischen Mitgliedskarten, Zwischenbescheiden und detaillierten Anordnungen führten zu einer Vielzahl von Klarstellungen, Erläuterungen und präzisierenden Weisungen […], dass sich nicht einmal die Zuständigen auskannten.“100

Die Bearbeitung der Anträge war insgesamt so schleppend, dass noch 1944 nicht alle erledigt waren. Auch wurden jene Beitrittswerber, die früher nicht die strengen Kriterien der Anerkennung als Pg., welche noch 1938 an sie gelegt wurden, aus mancherlei Gründen nicht erfüllt hatten (Abb. 10a),101 zwar nicht als „Illegale“ anerkannt, jedoch unter einer minder ehrenvollen Mitgliedernummer noch aufgenommen (Abb. 10b). Allerdings verdoppelte sich die Mitgliederzahl

98 Das Nationalsozialistengesetz. Das Verbotsgesetz 1947. Die damit zusammenhängenden Spezialgesetze kommentiert und hrsg. v. Ludwig Viktor Heller, Edwin Loebenstein und Leopold Werner. Wien 1948, S. II / 35 f. 99 Ebenda, S. 46-49.. 100 Jagschitz, „Bewegung“, S. 107. 101 Vgl. Botz, Gerhard: Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Dokumentarische Evidenz und Erinnerungssplitter zu meinem Vater. In: Ders. (Hrsg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus. Wien 2007, S. 153-159. 113

von 105.035 im Dezember 1937 auf 221.017 im März 1939 und erreichte zwei Jahre später schon 603.007 (inklusive „ruhender“ Mitgliedschaften),102 was schon annähernd 10 Prozent der Bevölkerung entsprach.

Abb. 10a: „Große“ gelbe Ortsgruppen-Karteikarte für Anton B. (Handelangestellter) vom 31.8.1931 (nach Wiedereintritt per 1.5.38 anerkannt) [210 x 140 mm

[BDC, Hauptkartei, BA]]

102 Jagschitz, „Bewegung“, S. 108 f. 114

Abb. 10b: „Große“ blaue Ortsgruppen-Karteikarte für Anton B. (Handelsangest.) rückwirkend ab 1.1.41 (nach Anerkennung auf Wiedereintritt vom 22.4.1944) [200 x 125 mm]

[BDC, Hauptkartei, BA]

Reichskommissar Bürckel und die Gauleiter in den „Alpen- und Donaugauen“ waren offensichtlich der Ansicht, „daß die Hoheitsträger möglichst viele ihrer Meinung nach brauchbare Volksgenossen aufnehmen“ sollten, wie von München aus im Juli 1939 kritisiert wurde.103 Schon acht Monate zuvor war es Bürckel selbst, der weit über den prozentuellen Richtwert, der für das Altreich galt, hinausschoss, als er in einer öffentlichen Ankündigung als allgemeine Richtlinie festzulegen suchte, dass das zahlenmäßige Verhältnis der Pg. und der Parteianwärter, die also ebenfalls potenzielle Pg. waren, zusammen genommen „in den einzelnen Gauen 20 Prozent der Gesamtbevölkerung nicht übersteigt“. Schwarz reagierte empörte darauf und wendete ein, dass bei einer vollen Ausschöpfung dieser Quote „etwa 80-90 Prozent der im wehrfähigen Alter

103 Richtlinien, S. 6. 115

stehenden männlichen Bevölkerung Parteigenossen würden.“ Bürckel zog seine Anordnung stillschweigend wieder zurück.104

C.1.2.7 Versuchte Trendumkehr in der Schlussphase des Regimes

Für das Deutsche Reich insgesamt kann man sagen, dass diese österreichischen Zustände kein absoluter Sonderfall gewesen sein dürften. Denn auch der Gauleiter von Weser-Ems (1929-42), Carl Röver, beklagte in einem Memorandum für Hitler 1942, noch vor seinem überraschenden Tod, einen Zustand, der sich aus dem ziemlich wahllosen Expandieren der Mitgliedschaft generell ergeben habe. Von der NSDAP als „einer geschlossenen Kampftruppe kann keineswegs die Rede sein.“ Ein „Führerorden“ sei die Partei noch nicht,

„weil die Aufnahmegrundsätze offenbar von den finanziellen Bedürfnissen der Partei mit beeinflusst worden sind. Viele sind in die Partei aufgenommen worden, die es lediglich zur Festigung ihrer gesellschaftlichen Position nötig hatten, oder die mit Hilfe der Parteimitgliedschaft berufliche oder wirtschaftliche Vorteile erstrebten.“105

Jedenfalls dem Wunsch des „Führers“ nach sollte in Hinkunft „der Nachwuchs nur mehr aus der Hitler-Jugend“ kommen,106 eine Bestimmung, die in der Folge wie oft in der NSDAP nicht ganz so heiß gegessen wie gekocht wurde. Allerdings erließ der Reichsschatzmeister am 2. Februar 1942 für Kriegsdauer neuerlich eine „totale“ Mitgliedersperre, die schon am 14.7.1942 durch eine geheime Verfügung Hitlers wieder für folgende Ausnahmekategorien durchlöchert wurde.

104 Anordnung Nr. 37 des Reichskommissars für die Wiedervereinigung…, 3.11.38, OStA, AdR, Bürckel rot, 3; siehe auch: Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 266; missverständlich in der sonst den verlässlichen Darstellungen: Heller, Loebenstein u. Werner, Nationalsozialistengesetz, S. II/47 und: Hagspiel, Ostmark, S. 112; nicht jedoch: Bukey, Evan Burr: Hitler's . Popular Sentiment in the Nazi Era, 1938 – 1945. Chapel Hill, NC 2000. 105 [Röver Memorandum (Ohne Titel)]. National Archives Microcopy No. T-81 Roll No 9.7S. 21 (Kopie im Historischen Insitut der Univ. Bochum und im LBIHS; ich danke Hans Mommsen und Armin Nolzen für den Hinweis darauf und die Zusendung einer Kopie). 106 Wetzel, NSDAP, S. 85. 116

Vorzugsweise „können in Zukunft nur junge Deutsche nach Vollendung des 18. Lebensjahres aufgenommen werden“, sofern sie sich vorher in der HJ bewährt hatten. Sodann sollten auch „Volksgenossen“ im Alter von 18 bis 35 Jahren, die als Längerdienende aus der Wehrmacht ausschieden oder sich durch Mitarbeit in einer Gliederung oder einem „Angeschlossenen Verband“ bewährt hatten, die Mitgliedschaft erwerben können. Schließlich behielt sich der „Führer“ noch die Entscheidung über Ausnahmen für „Volksgenossen, die schon das 35. Lebensjahr überschritten haben,“ persönlich vor.107

Ab 1942 wurden daher praktisch nur noch männliche und weibliche Angehörige der Hitlerjugend zu wenigen festgesetzten fiktiven Aufnahmeterminen (vor allem „Führers Geburtstag“) in die NSDAP aufgenommen.108 Dafür wurde 1943 das Mindestaufnahmealter für HJ-Mitglieder auf 17 Jahre gesenkt, während es für sonstige Pg. weiter an die Vollendung des 21. Jahres gebunden blieb.109

Begünstigt durch das Vordingen des Einflusses der Partei in der Wehrmacht, wurde das bis dahin obligate „Ruhen“ der NSDAP-Mitgliedschaft von Angehörigen der Wehrmacht durch eine Novellierung von Paragraph 26 des Wehrgesetzes von 1935 am 24. September 1944 aufgehoben.110 Dies bedeutete nicht, dass nun aktive Wehrmachtssoldaten in einer nennenswerten Zahl – ausgenommen Einzelfälle, wie dem eines der allerletzten führertreuen Generäle, Robert Ritter von Greim111– neu aufgenommen wurden, denn es galt

107 Zit. auch ebenda, S. 195; Bekanntgabe des RSchM 2/43 vom 12.2.43, RSchM 1/266, Bl. 196 f.; gedruckt auch in: „Führer-Erlasse“ 1039-1945. Zusammengestellt und eingeleitet von Martin Moll, Stuttgart 1997, S. 269. 108 Aber auch dabei gab es noch Ausnahmen wie die meines Vaters, der noch am 22.4.1944 rückwirkend mit 1.1.1941 aufgenommen wurde, siehe Botz, Nazi, S. 144. 109 Wetzel, NSDAP, S. 86-90. 110 Kunz, Andreas: Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945. 2. Aufl., München 2007 (Beiträge zur Militärgeschichte 64), S. 115 f. 111 Mitteilung des RSchM vom 15.3.45 (wonach er dem von Hitler mit dem Goldenen Ehrenzeichen ausgezeichneten Generaloberst von Greim, der bald darauf zum Nachfolger Görings ernannt werden sollte, die NSDAP-Mitgliedschaft verliehen habe), Akten der Partei-Kanzlei I,1, S. 117

uneingeschränkt weiterhin die totale Aufnahmesperre, die lediglich für reaktivierte Berufssoldaten gelockert war und seit 1942 für Kriegsversehrte durchlässig blieb.112

In welcher Scheinwelt die Führer des zusammenbrechenden NS-Systems noch verharrten, macht eine Anordnung betreffend „Aufnahmesperre – Vormerkung wertvoller Volksgenossen zur Aufnahme in die NSDAP“ vom 27.2.1945 deutlich. Sie wurde bezeichnenderweise von Bormann, der Schwarz zuletzt zunehmend überspielte, ohne selbst einen Sieg im internen Machtkampf des Regimes zu erringen,113 herausgegeben. Anlass waren offensichtlich „Anregungen“ von Gauleitern gewesen, die eine „vorbildliche Haltung und Mitarbeit“ von „Volksgenossen“ noch in der letzten Stunde durch die Aufnahme in die NSDAP belohnen wollten. Der Leiter der Parteikanzlei jedoch teilte aus dem Führerhauptquartier, während die Rote Armee schon an der Oder stand, den Hoheitsträgern und Verbändeführern der NSDAP mit:

„Diesem an sich verständlichen Wunsch kann vorerst nicht entsprochen werden. Durch die Aufnahme neuer Mitglieder würde u.a. eine erhebliche Verwaltungsarbeit anfallen, die bei der gegenwärtigen Arbeitsbelastung der Partei nicht zu bewältigen wäre. Damit bei einer späteren Lockerung oder Aufhebung der Mitgliedersperre nur Volksgenossen aufgenommen werden, deren jetzige Haltung die Aufnahme rechtfertigt, soll schon jetzt die Auslese beginnen.“114

Die Kreisleiter – unterdessen war die Verwaltung der NSDAP schon so stark dezentralisiert, da die Gaue und die Reichsstatthalter nicht mehr voll funktionsfähig waren – sollten über solche künftige Pg. „Vorschläge in besonderen Ordnern“ anlegen, damit „bereits jetzt die Auslese der Volksgenossen

1084 und Mitcham Jr., Samuel W: Generalfeldmarschall Robert Ritter von Greim. In: Hitlers militärische Elite. Vom Kriegsbeginn bis zum Weltkriegsende. Hrsg. v. Gerd R. Überschär, Bd. 2, Darmstadt 1998, S. 72-79. 112 Verfügung Hitlers V 6/43 vom 19.10.43. In: „Führer-Erlasse“, S. 364 f. 113 Nolzen, Bormann, S. 138- 141, 114 Anordnung 105/45, RSchM 1/266, Bl. 205 und 205’. 118

beginnen“ könne,115 für die Zeit nach dem erhofften „Endsieg“. Hitler und die meisten Parteiführer wollten keineswegs eine unkontrollierbare Aufnahmewelle und „etwa das gesamte Offizierskorps in der Partei haben“.116

C.1.2.8 Fazit

Wenn man die vielfach und ziemlich vollständig in zentralen wie regionalen Archivbeständen erhaltenen Erlässe, Anordnungen, Verfügungen, Ausführungs- bestimmungen, Rundschreiben u. dgl., durchsieht, dann fällt nicht bloß die Reglemtierungswut auf, die die Parteistellen – insbesondere den hier näher angesehenen Reichsschatzmeister – nach der Machtübernahme erfasst hatte. Ihre Logik und Sprache gemahnt an die bestgeschulte preußische (oder bayerische) Bürokratie. Eine Organisation, die keinerlei Auslegungsspielräume und Entscheidungsmöglichkeiten zulässt, hätte auch kein dem Willen des jeweiligen Führers „Entgegen-Arbeiten“, weder ein Gesetzestexte nutzbringendes Auslegen noch überhaupt ein funktionsfähiges Verwaltungs-Handeln ermöglichen können. Beim Lesen dieser Enunziationen drängt sich daher der Eindruck auf, dass es sich dabei um eine Art double speak handelte, das ihre Empfänger zu decodieren vermochten und das geradezu zur Umgehung oder Nichtbeachtung herausforderte.

Die häufige Wiederholung derselben Grundsätze, die sich im „Altreich“ schon Mitte der 30er Jahre herausgebildet hatten, deutet darauf hin, dass es mit der Einhaltung dieser parteiorganisatorischen Normen nicht allzu weit her war. Dies trifft nicht nur in einem besonderen Maße auf die Gaue der „Ostmark“ zu, die oft noch von dem alten österreichischen Verwaltungsregelwerk und den Vor-1938er Interessen und Fraktionen des einheimischen Nationalsozialismus geprägt waren. In abgeschwächter Form gilt dies wohl auch für andere Gebiete des „Reiches“.

115 Ebenda, Bl. 206. 116 Besprechung Hitlers in der Reichskanzlei mit Bormann, dem Chef des OKW und Goebbels am 14.11.44, 17610 (H 101 22320-66 (1275a), Akten der Partei-Kanzlei. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes. Hrsg. v. Institut für Zeitgeschichte, Teil I, Bd. 1: Regesten, bearbeitet von Helmut Heiber, München – Wien 1983. 119

Dieser Zustand blieb ziemlich unverändert bestehen, bis die internen „Kriegsnotwendigkeiten“ des Regimes manche Vereinfachungen erzwangen. Durch dieses „bürokratische“ Prinzip der doppelbödigen Sprache dürfte auch das zeitweise entstehende Durcheinander in Übergangszeiten des NS-Regimes – 1933/34, 1938/39, 1942/43 und 1944 – mitverursacht worden sein.

Meine These ist jedoch, dass diese krisenhaften Zustände systemimmanent waren und in ihnen das zentrale Bauprinzip der NS-Diktatur (E. Fraenkel, F. Neumann) zum Vorschein kam, nämlich das NS-spezifische Neben- und Ineinander von zwei Politikstilen, die idealtypisch eher von Normen oder von einzelhaften „Maßnahmen“ geprägt sind. Diese Interagieren und sich gegenseitige Ergänzen sollte nicht allzu sehr auf einen Dualismus von „Partei“ und „Staat“ oder auf das Zusammenspiel oder Konfligieren diesen beiden „Polen“ zuordenbarer Akteure und Mächtegruppierungen (M. Broszat, P. Hüttenberger) reduziert werden. Jedenfalls entstanden daraus gerade die mächtigsten und inhumansten Instanzen und Politiken wie die des Vierjahresplans, der Propaganda, von SS-Polizei und der Sonderverwaltungen in den besetzten und okkupierten Gebieten, aber auch im Hinterland.

An den zeitweise sich zuspitzenden chaotischen Zuständen innerhalb der Partei wurde von Insidern und aus der Parteikanzlei manchmal recht offene, manchmal verdeckte Kritik geäußert und an Hitler herangetragen, der jedoch auch in dieser Hinsicht sein Gesicht als entscheidungsscheuer und „schwacher Führer“ (H. Mommsen) zeigte. Dahinter standen allerdings auch gegensätzliche Konzeptionen von der NSDAP. Dies war entweder

- eine ideologiegeleitete kleine Elitepartei (C.G.Röver und der frühe Hitler),

- eine Massenpartei, die sozusagen ihre Tentakel (NS-überzeugte Personen) in die ganze Gesellschaft ausschickt, an die „staatlichen“ Funktionssysteme ankoppelt und für fast alle „Volksgenossen“ eine Palette von Angeboten macht, die auf unterschiedliche Weise genutzt werden (A. Nolzen), oder 120

- eine „neue Organisation“, wie sie Bormann und Hess in einer symbiotischen Verschmelzung beider Herrschaftsprinzipien in einer zukünftigen NS- staatlichen Verwaltung im Auge hatten.

Die Realität des Dritten Reiches war jedenfalls eher von dem zweiten Modell, das Schwarz funktionsfähig zu erhalten suchte, geprägt. Das bedeutet jedoch auch, dass damit ein ständiges Mitgliederwachstum nach der Art des oben skizzierten Pyramidenspiels impliziert war, was wiederum fast periodisch zu internen Chaos- und Finanz-Krisen führte; ein Ausweg daraus wurde nicht in einer Konzeptionsänderung und Parteireform, sondern stukturkonservierend wiederum in einer neuen Expansion gesucht. Dieses Modell hatte zunächst die NSDAP, besonders die PO, in der Aufstiegsphase zu einer durchschlagkräftigen und bei Wahlen erfolgreichen Propaganda- und Einschüchterungsmaschine gemacht, die mit der Machtübernahme ihren Massenerfolg im Inneren bürokratisch bändigen musste und daher auch in ihrer Außenwirkung zu erstarren schien. Wenn man jedoch die Wirkung der NSDAP im weiteren Sinn auf die gesamte Gesellschaft im Auge behält, scheinen Ausdifferenzierung, Netzwerke und strukturelle Koppelungen (N. Luhmann, A. Nolzen) gerade für die wenigen Jahre vor und nach Beginn des Kriegs dominant gewesen zu sein, bevor in den allerletzten Kriegsjahren das Prinzip Bormanns und Himmlers an Boden gewann. Die NSDAP erstarrte auch in ihrer Bürokratisierung nicht (vollkommen), sondern transformierte sich immer wieder.

Die NSDAP und das, was als ihre Idee (rassereine „Volksgemeinschaft“, Judenvernichtung, „Lebensraum“ u. dgl.) verstanden wurde, behielt daher in wechselnder Weise lange Zeit ihre systemerhaltende Funktion, nicht zuletzt auch, weil sie sich und ihre Mitgliederschaft wiederholt aufs Neue zu konstruierten suchte. Mitgliederwachstum, Bürokratisierung und innere und dann reichsexterne Expansion waren miteinander verbunden. Daher kommt Merkmalen der NSDAP etwa hinsichtlich Größe, Alters- und Sozialstruktur, Generationserfahrungen und Milieu nur für die Bewegungsphase bis 1933 durchaus eine Erklärungskraft zu, während sie danach hinter dem immer wichtiger werdenden selbstbezüglichen Organisationshandeln zurücktreten. Daher ist es auch riskant, vom sozialen oder 121

altersmäßigen Erscheinungsbild eines untersuchten NSDAP-„Kollektivs“ auf die „objektiven“ Ursachen des NS-Beitritts zu schließen.117 Dies heißt aber auch, dass die millionenfachen Entscheidungen zum Parteibeitritt zwar vor den Machtübernahme mit guten Gründen sehr wohl, aber nach 1933 (bzw. in Österreich ab 1938) in ersten Linie strukturell nicht erklärt werden können.

Abb. 11: Erklärung von Hermine B. vom 2.5.43 über Unstimmigkeiten auf ihrem Beitrittsantrag (Unterschrift durch ihren Vorgesetzten)

[BDC, Parteikorrespondenz Hermine B., BA]

117 Dies ist auch eine nahe liegende, jedoch oft bei anderen Untersuchungen ignorierte „Wahrheit“, die auch in den Analysen über die „Illegalen“ von Kurt Bauer (C.4 und C.5) klar zutage tritt. 122

Erst das Zusammenwirken von sozialen und kulturellen „Gegebenheiten“ der deutschen und österreichischen Gesellschaft, von persönlichen Handlungs- dispositionen und individuellen Verhaltensweisen mit den Vorgaben und Vorstellungen der NSDAP-Organisationen und ihrer Führer könnte die Mitgliedschaft bei der NSDAP besser erklärbar machen. Dazu wären jedoch in einem größeren Umfang (einzelfallhafte) mikrohistorische Beobachtungen über einzelne Pg., wie sie sich etwa mit den personenbezogenen Akten des Reichsschatzmeisters anbieten, erforderlich.118 So konnten Fälle in einem statistisch nicht ganz unerheblichen Maße nachgewiesen werden, etwa von vom Parteigericht aufgedeckten irregulären Mitgliedschaften, wenn die Unterschrift auf dem Beitrittsansuchen von einer anderen Person (siehe Abb. 11 ) abgegeben worden war oder gar Geheimmitgliedschaften ohne jede parteibürokratische Registrierung, lediglich mündlich bei einem Gauleiter konstituiert wurden. Eine genaue Untersuchung dieser Fälle konnte hier (noch) nicht geschehen, vielleicht konnte ich aber dafür einige Eckpunkt zeigen.119

118 Ich habe 1976/77 und 1994/95 im BDC bzw. BA Berlin Stichproben aus der Hauptkartei (großen Kartei) der NSDAP gezogen und bei einer vorläufigen Analyse etwa einzelne Fälle von nicht oder von andern als der beitretenden Personen unterschriebenen Beitrittsansuchen, oder auch Geheimmitgliedschaften (s. auch: Agstner, Rudolf, Gertrude Enderle-Burcel und Michaela Follner: Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Hrsg.: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien 2009), jedoch keine nicht unterschriebenen Anträge im Rahmen von Kollektivbeitritten nachweisen können, was für laufende Debatten über die Nicht- /Parteimitgliedschaft von bekannten Persönlichkeiten der Politik, Literatur oder Wissenschaft nicht irrelevant ist. 119 Ich danke hier für lange anregende (meist telefonische) Gespräche zu diesem Thema meiner Wiener Kollegin Edith Saurer. 123

C.1.3 Sozialstrukturanalyse nach dem Schichtungsmodell von Reinhard Schüren (Wolfgang Meixner)120

Die meisten Arbeiten – aber auch Theorien – zur Genese des Nationalsozialismus ziehen die soziale Herkunft wie die ökonomische Situation von NSDAP-Mit- gliedern – trotz einer oftmals fehlenden empirischen Grundlage – als wichtige Erklärungskriterien für eine Mitgliedschaft heran. Auch die historische Wähler- forschung arbeitet zur Charakterisierung der politischen Lager mit sozialen und ökonomischen Kriterien („Kleinbürgertum“, „Arbeitslose“, soziale Lager etc.). Als Indikator der Analyse von Sozialstrukturen (Klassen- bzw. Schichtungs- modelle) bieten sich die in unseren Quellen vorhandenen Berufsbezeichnungen an. Im Allgemeinen sind in kapitalistisch-marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften Berufe eher statusbildend als statusgebunden. Nicht mehr das Hineingeborensein des Individuums in eine soziale Gruppe ist entscheidend für die soziale Stellung, die diese Person in ihrem weiteren Leben in einer Gesellschaft einnimmt, sondern die Möglichkeit, diese Position durch Arbeit und Bildung zu verändern.

Da die Volkszählung von 1934 auf der Basis der sogenannten Haushaltsvorstände erstellt wurde und die soziale Zuordnung der anderen im gemeinsamen Haushalt lebenden Familienmitglieder von diesen Haushaltsvorständen abgeleitet worden ist, ergibt sich die Problematik, dass zwischen der sozialen Stellung der sogenannten „Wohnbevölkerung“ und jener der „Erwerbstätigen“ zu unter- scheiden wäre. Theoretisch könnte der „Haushaltsvorstand“ in der einen, ein Familienmitglied jedoch in einer ganz anderen Sparte tätig sein. Leider sind in den Veröffentlichungen der Volkszählungsergebnisse von 1934 die eigentlichen „Erwerbstätigen“ nicht so ohne weiteres herauszurechnen, sodass für unsere

120 Bei diesem Abschnitt handelt es sich um eine überarbeite Version von theoretischen Überlegungen zu einem Schichtenmodell zur Analyse der Sozialstruktur der österreichischen Nationalsozialisten, die erstmals in den Beiträgen Meixner, „Illegale NS-Aktivisten“ in Tirol 1933–1938 sowie Albrich/Meixner, Zwischen Legalität und Illegalität angestellt wurden. 124

Untersuchung als Vergleichsgröße immer die Werte für die „Wohnbevölkerung“ herangezogen werden müssen.121

Berufsangaben in Massenquellen sind zudem oft mit einem hohen Grad an Unsicherheit behaftet. Zumeist bleibt unklar, ob es sich bei den Angaben um erlernte oder ausgeübte Berufe handelt, oder ob der Beruf zur Zeit der Erhebung/Angabe überhaupt ausgeübt wurde. Da die Angaben in den Quellen nicht selten nur allgemein gehalten sind („Arbeiter“), lassen sich aus bloßen Berufsangaben nur schwer Rückschlüsse auf die konkrete soziale Stellung einer Person ziehen. Nur unter Berücksichtigung dieser Probleme können Berufs- angaben als Indikator für die Zuordnung einer Person zu einer sozialen Gruppe herangezogen werden.

Obwohl im Folgenden keine Sozialklassifikationen für Familienzugehörigkeit sowie soziale Herkunft gebildet werden sollen, können dennoch Berufsangaben als Indikator zur Bildung der Sozialstrukturzugehörigkeit der untersuchten Personen herangezogen werden. Allgemein bestehen zwei Klassifikations- möglichkeiten zur Bildung von Berufs- bzw. Sozialstrukturen: eine horizontale und eine vertikale Gliederung.

C.1.3.1 Horizontale Gliederung

Diese beruht auf der Systematisierung der Berufe nach ihrer Funktion in der Gesellschaft. Solche funktionalen Gliederungen sind etwa Berufsgruppen, Berufszweige, Wirtschaftssektoren. So wurden etwa in der Volkszählung von 1934 Berufsgruppen nach Wirtschaftsarten gebildet.122

121 Zwar liefert Gustav Otruba in seinem Beitrag über die Wachstumsverschiebungen der österreichischen Wirtschaftssektoren Zahlenangaben über die 1934 in den drei Sektoren „Erwerbstätigen“, jedoch lassen sich seine Prozentangaben aufgrund der Ergebnisse der Volkszählung von 1934 (Wirtschaftsabteilungen) nicht nachvollziehen. Gleiches gilt auch für die seiner Arbeit zugrunde liegende Dissertation von Jörn Peter Hasso Möller. (Vgl. Otruba, Wirtschaftsverschiebungen in den Wirtschaftssektoren Österreichs.) 122 Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Hg. v. Bundesamt für Statistik. Wien 1935, 11 Hefte. [Nachfolgend zitiert als VZ 34.] 125

Zur weiteren Untersuchung werden die Berufsangaben nach der Betriebs- zugehörigkeit gruppiert. Um die Vergleichbarkeit mit der berufsmäßigen Zusammensetzung Österreichs in den 1930er Jahren zu gewährleisten, wurden diese Gruppierungen analog der Volkszählung 1934 vorgenommen. Die Betreiber der Volkszählung haben die Berufsangaben in 189 Wirtschaftsarten, 25 Wirtschaftsgruppen sowie in drei bzw. vier Sektoren gegliedert.123

Es stellt sich die Frage, inwieweit einzelne Berufe oder Wirtschaftszweige bestimmten politischen Mentalitäten zugeordnet werden können, ob die Gründe solcher Mentalitäten ausschließlich im sozioökonomischen Bereich liegen und welche anderen ideologischen, individualpsychologischen, altersspezifischen, regionalen, bildungsmäßige etc. Faktoren noch hinzukommen?124 Zur Beantwortung eines Teils dieser Fragen müssen mitunter zusätzliche Kriterien beigezogen werden, etliche lassen sich aber auch durch indirekten Schluss aus den vorhandenen Quellenangaben beantworten; z. B. der Bildungsgrad von Personen aufgrund des Vorhandenseins von akademischen oder Berufstiteln bzw. speziellen Berufsbezeichnungen.

C.1.3.2 Vertikale, hierarchische Gliederung nach dem beruflichen Status

In der kapitalistisch-marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft ist der berufliche Status zu einem wichtigen Indikator für den gesellschaftlichen Status einer Person oder einer Personengruppe geworden. Insbesondere Fragen des Sozialprestiges begleiten diese Statuskriterien. Zumeist werden solche Unterscheidungen nach den folgenden Kriterien getroffen: entweder Stellung im Beruf (Arbeiter, Angestellte, Meister, Gesellen etc.) oder soziale Gliederung

123 Zu Fragen der Zusammenfassung vgl. Meixner, „Illegale NS-Aktivisten“, S. 87 f. 124 Nahezu sämtliche Arbeiten zur modernen Wahl- bzw. Parteiengeschichte gehen von einem Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und politischen Verhalten aus. Letztendlich beruhen die meisten dieser Arbeiten auf der von Lipset und Rokkan vorgelegten längst überholten Cleavage- Theorie, der zufolge Parteien auf durch die Sozialstruktur vorgeprägte konstitutive soziale Konflikte innerhalb einer Gesellschaft reflektieren. (Vgl. Lipset/Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments. Für eine kurze Zusammenfassung der Kritik an Lipset/Rokkan vgl. Gehler, Soziale Herkunft und politische Orientierung, S. 148–150.) 126

(selbständig bzw. unselbständig Beschäftigte) sowie blue collar/white collar worker (manuelle versus nicht manuelle Tätigkeit).

All diese Unterscheidungskriterien können jedoch nur äußere, rechtliche Merkmale erfassen (etwa die arbeitsrechtliche Stellung sowie innerbetriebliche Hierarchien). Inwieweit das Sozialprestige, das einer Person, einer Personen- gruppe durch solche Merkmale zugeschrieben ist, von dieser/diesen auch intentionalisiert wird, muss hier ausgeklammert bleiben.

Die Unterteilung in die oben angeführten Kriterien erfolgt einerseits unter Einbeziehung eines notwendigen Wissens über die soziale und berufliche Zusammensetzung einer Gesellschaft sowie andererseits unter Anwendung theoretischer Modelle (Schichtenbildung, Klassenstrukturen etc.). Eine Systematisierung der Sozialstruktur sollte deshalb immer folgende Bereiche berücksichtigen:

1. die Art der beruflichen Tätigkeit;

2. die potentielle Zugehörigkeit zu einem Wirtschaftssektor;

3. die Betriebszugehörigkeit;

4. den Berufsstatus;

5. den Ausbildungsgrad.

In der Praxis der Systematisierung treten aber immer wieder Probleme auf. Zumeist bleibt unklar, wovon die Angaben in den Quellen beeinflusst sind (eventuell sozial oder politisch motiviert); nicht selten existieren mehrere Bezeichnungen für ein- und dieselbe Tätigkeit, und nicht zuletzt sind Berufsangaben immer nur für einen beschränkten Zeitraum gültig. Damit lässt auch diese Klassifikationsmethode nicht wirklich einen Rückschluss von den vorgefundenen Berufsangaben auf die Art der ausgeübten Tätigkeiten zu. 127

Zur weiteren Untersuchung wird zur Klassifikation der Sozialstruktur nach einem Schichtungsmodell ein Schema verwendet, das Reinhard Schüren aufgestellt hat.125 Es handelt sich um ein sehr ausgereiftes Klassifikationsmodell, das für verschiedene Zeiten und Regionen Verwendung finden kann und sich in der Praxis bereits bewährt hat. Schüren verwendet einen dreiteiligen Code, der wie in der nachfolgenden Tabelle dargestellt, aufgebaut ist.

Abb.: Dreiteiliger Schüren-Code

a) Schichtzugehörigkeit 1 Untere Unterschicht (ungelernte Arbeiter, Taglöhner) 2 Mittlere Unterschicht (angelernte Arbeiter) 3 Obere Unterschicht (gelernte Arbeiter, untere Angestellte/Beamte) 4 Untere Mittelschicht (Kleinbauern, Handwerksmeister, mittlere Beamte) 5 Obere Mittelschicht (Vollbauern, mittlere Unternehmer) 6 Oberschicht (Großunternehmer, Akademiker)

b) Stellung im Beruf 1 Arbeiter 2 Hausrechtlich gebundene Arbeiter 3 Selbständige 4 Gesellen oder Meister 5 Selbständige Meister 6 Angestellte 7 Beamte, Offiziere 0 Sonstige

c) Wirtschaftssektor oder Arbeitsmilieu 1 Landwirtschaft 2 Häusliche Dienste 3 Handwerk 4 Heimgewerbe 5 Manufaktur, Fabrik, Industrie 6 Handwerk oder Fabrik 7 Handel, Banken 8 Freie Berufe (Professions) 9 Öffentlicher Dienst, Kirchen, Verbände 0 Sonstige oder nicht klassifizierbare Arbeitsbereiche

125 Vgl. Reinhard Schüren, Soziale Mobilität. 128

Daraus lassen sich 67 Berufsgruppen nach Schichtzugehörigkeit, Stellung im Beruf und Wirtschaftssektor/Arbeitsmilieu bilden.126 Diese Gruppen werden (der besseren Vergleichbarkeit wegen) in 15 Berufsgruppen zusammengefasst.127

Abb.: Berufsgruppen der Sozialstrukturanalyse nach Schüren

1 (Ungelernte) Arbeiter 9 „Kaufleute“ 2 Landarbeiter 10 Meister, Wirte 3 (Angelernte) Industriearbeiter 11 Mittlere Angestellte und Beamte 4 Gelernte Arbeiter 12 Vollbauern 5 Handwerker 13 Mittlere Unternehmer 6 Gelernte Industriearbeiter 14 Gehobene Angestellte und Beamte 7 Untere Angestellte/Beamte 15 Oberschicht 8 Kleinbauern

126 Bei Schüren sind es 65. Bei ihm fehlt aber die Gruppe 362, die sich logisch ableiten ließ. Zusätzlich wurde die Gruppe 709 für Pensionisten des öffentlichen Dienstes – zur besseren Abbildung der Quellen – gebildet. 127 Bei Unklarheit einer Gruppenzuordnung wird stets die niedrigere Schicht gewählt. Damit konnte das Problem der in den Quellen auftretenden Selbstüberschätzung durch die Probanden aufgefangen werden. Aus Erfahrungen der empirischen Sozialforschung wissen wir, dass Personen bei der Angabe ihrer sozialen Stellung eher dazu neigen, sich einer höheren Schicht zuzuordnen. 129

C.1.4 Historische Milieuanalyse (Kurt Bauer)128

Menschliche Gesellschaft ist strukturiert. Sie setzt sich nicht aus einer gleichmäßig, gleichsam neutral verstreuten Anzahl von Individuen zusammen, sondern besteht aus Ähnlichkeitsgruppen. Menschen gruppieren sich aufgrund ihrer Lebensbedingungen, ihrer sozialen, regionalen Herkunft, ihrem Wohnort, ihrer Bildung, ihrem Beruf, ihrer Stellung im Beruf, ihrem Einkommen, ihrem ererbten und erworbenen Besitz, ihren kulturellen und sonstigen Vorlieben, ihren religiösen, politischen Überzeugungen etc. Sie leben nicht isoliert, sondern sind Teil einer Gesellschaft, sind in vielfältige, komplexe Beziehungen mit ihren Mitmenschen eingebunden.

Nach einer gebräuchlichen Definition ist Sozialstruktur die „Gesamtheit der relativ dauerhaften sozialen Gebilde (Gruppierungen, Institutionen, Organisa- tionen) einer Gesellschaft, der sozialen Beziehungen und Wirkungszusammen- hänge innerhalb und zwischen diesen Gebilden sowie deren Grundlagen“.129 Menschen, die sich in gleichen oder ähnlichen sozialen Beziehungen befinden, stellen sozialstrukturelle Gruppierungen (Sozialkategorien) dar.130

Als Indikator für die Analyse der Sozialstruktur der illegalen Wiener Nationalsozialisten und der nationalsozialistischen Häftlinge der Anhaltelager dienen in erster Linie die in der Regel überlieferten und in der Datenbank erfassten Berufsangaben, dazu weitere Angaben über Herkunft und Familien- Hintergrund, über Bildung, Besitz, Vermögen und Einkommen – sofern diese Angaben vorhanden sind.

128 Dieser Abschnitt stellt in eine überarbeitete, sowohl gekürzte als auch erweiterte Version des entsprechenden Kapitels meiner Dissertation „Sozialgeschichtliche Aspekte des national- sozialistischen Juliputsches“ dar. Es ist als projektinternes Arbeits- und Diskussionspapier zu bewerten, dass im Zuge der Auswertungen noch weiter überarbeitet werden soll. 129 Zit. n. Hradil, Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich, S. 14. 130 Hradil, Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich, S. 14. 130

Zur Erstellung eines Sozialprofils ist notwendig, die erfassten Berufs und sonstigen Angaben zum sozialen Status nach einem möglichst transparenten, flexiblen und aussagekräftigen Schema in Kategorien einzuordnen. Am einfachsten und sinnvollsten (schon wegen der Vergleichbarkeit) wäre es, ein bereits verwendetes und bewährtes Schema zu übernehmen.

Diesem Thema ist in der historischen Fachliteratur einige Aufmerksamkeit gewidmet worden,131 ohne dass sich ein Modell durchgesetzt hätte, das als allgemein verbindlich anzusehen wäre. Dieser Umstand bedingt, dass die Ergebnisse einzelner, oft sehr aufwendiger Studien nur bedingt vergleichbar sind, weil die Autoren bei der Sozialkategorisierung oft von höchst unterschiedlichen Voraussetzungen ausgingen. Dadurch werden komparative Forschungsprojekte und aufbauende Studien naturgemäß erschwert.132

Die Gründe für die fehlende Standardisierung sind vielfältig. Beim Versuch, Kategorien zu bilden, die die gesellschaftliche Wirklichkeit des untersuchten Zeitraums einigermaßen realitätsnah abbildet, zeigt sich rasch, wie schwer ein derartig lebendiger und komplexer Organismus wie die menschliche Gesellschaft in ein halbwegs organisches Schema zu pressen ist. Zudem bewegt sich jede derartige Kategorisierung gezwungenermaßen im Spannungsfeld zwischen zu starker, alle Unterschiede und Feinheiten verwischender Verallgemeinerung und zu großer Detailtreue, die allgemeine Aussagen erschwert oder sogar unmöglich macht; im Spannungsfeld zwischen notwendiger Trennschärfe und lebensfernem Schematismus. An diesen Fragen scheiterten regelmäßig bereits die amtlichen Statistiker, die mit großem Aufwand Wirtschaftsabteilungen, Wirtschaftsgruppen,

131 Einen Überblick über den Stand bis 1980 bietet der von Reinhard Mann herausgegeben Sammelband „Die Nationalsozialisten“; insbesondere die Beiträge von Jürgen Genuneit, Mathilde Jamin und Michael H. Kater befassen sich ausführlich mit diesem Problemfeld. Dieser Band ist 30 Jahre alt, es muss aber betont werden, dass es in der quantitativ orientierten sozialgeschichtlichen Faschismusforschung seither kaum neue Entwicklungen gegeben hat. 132 Reinhard Mann bezeichnete 1980 die Standardisierung von Berufsklassifikationen als „wichtiges Desiderat“ und forderte, die „Codierung der Berufsvariablen so konkret und dis- aggregiert als möglich“ vorzunehmen, um die Neubildung von Kategorien für Sekundäranalysen und vergleichende Untersuchungen möglich zu machen. (Mann, Die Nationalsozialisten, S. 17.) 131

Wirtschaftsarten, Berufsgruppen, vertikale und horizontale Kategorien etc. definierten. Ebenso kamen die einzelnen Geschichtsforscher bei der Sozial- kategorisierung zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen – abhängig jeweils von dem Maß an Interesse, das sie für diese ebenso knifflige wie letztlich unlösbare Frage aufzubringen bereit waren.

Die genannten Probleme führten dazu, dass die Sozialwissenschaften – in ihrem Gefolge auch die Sozialgeschichte – vom herkömmlichen Schichtenmodell zunehmend ab- und zum wesentlich flexibleren und lebensnaheren Modell sozialer Milieus übergingen.

C.1.4.1 Das Modell sozialer Milieus

Die üblichen, weit verbreiteten und im Alltagsdenken verankerten Klassen- und Schichtenmodelle zur Analyse der Sozialstruktur einer Gesellschaft erweisen sich zunehmend als wenig wirksam. Diese „alten“ Konzeptionen, so argumentieren Soziologen, würden den „neuen“ Differenzierungserscheinungen „fort- geschrittener“ Gesellschaften nicht mehr entsprechen und sollten „neuen“ Modellen weichen.133

So stellt sich die Frage, ob diese „alten“, undifferenzierten Modelle den „alten“, anscheinend weniger differenzierten Sozialstrukturen trotzdem noch gerecht werden, oder ob nicht auch für sozialhistorische Analysen neue, differenziertere und flexiblere Modelle eingesetzt werden sollen. Die Anschauung, historische Gesellschaften seien geringer und gröber strukturiert und differenziert gewesen als „fortgeschrittene“, die beispielsweise in der Studie von Stefan Hradil implizit mitschwingt,134 muss aus sozialgeschichtlicher Sicht in das Reich der Legenden

133 Hradil, Sozialstrukturanalyse; eine ausführliche Darstellung und Kritik des traditionellen Klassen- und Schichtenmodells findet sich auf den Seiten 59 bis 96. 134 Er zitiert beispielsweise eingangs den deutschen Soziologen Theodor Geiger: „Die Gesellschaft von heute wird mit einem Schichtungsmodell interpretiert, das an der Gesellschaft von vorgestern abgelesen wurde“ oder spricht von den „heutigen komplizierten Strukturen“ von der „Vielfalt“ der gegenwärtigen Lebensbedingungen, wobei er frühere Lebensformen unausgesprochen für weniger vielfältig ansieht etc. (Hradil, Sozialstrukturanalyse, S. 7, 9.) 132

verwiesen werden. Allerdings stehen Sozialhistorikern zur Analyse historischer Sozialstrukturen bei weitem nicht dieselben Instrumente zur Verfügung wie modernen Soziologen, sondern sie sind, gleichsam auf Gedeih und Verderb, auf die überlieferten Quellen und deren Aussagekraft angewiesen.

C.1.4.2 Zum Milieubegriff – allgemein

Einer groß angelegten, Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre durchgeführten kommerziellen Marktforschungsstudie, die für die BRD acht verschiedene Milieus identifizierte, liegt der folgende Milieubegriff zugrunde: „Soziale Milieus fassen, um es sehr vereinfacht auszudrücken, Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, die also subkulturelle Einheiten innerhalb der Gesellschaft bilden.“135

Die Definitionskritierien, die dabei zur Anwendung kommen, weisen bereits auf das Manko vieler sozialgeschichtlicher Studien hin, die ebenfalls auf dem Milieumodell basieren. Von den drei in der erwähnten Lebensweltstudie definierten Hauptkriterien

• Wertorientierung (mit den vier Indikatoren Lebensziele, materielle Werte, postmaterielle Werte, Vorstellungen vom Glück),

• Alltagsbewusstsein (mit den vier Indikatoren Arbeits- und Freizeitmotive, Einstellung zu Familie und Partnerschaft, Zukunftsvorstellungen, Lebensstile) und

• sozialer Status (mit den drei Indikatoren Schulbildung, Beruf, Einkommen)136 sind aus den für die gegenständliche Untersuchung ausgewerteten Quellen nur Aussagen zum sozialen Status zu erschließen, und zwar durchgängig nur der Beruf und eher selten Schulbildung und Einkommen.

135 Zit. n. Hradil, Sozialstrukturanalyse, S. 128. 136 Insgesamt zur Lebensweltstudie des Sinus-Instituts Hradil, Sozialstrukturanalyse, S. 127–132. 133

Für Gerhard Schulze sind soziale Milieus „kollektive Konstruktionen im Ordnungsvakuum“. Sie haben eine Ordnungsfunktion und verhindern Chaos. Auf Ebene des Einzelnen gehen der Milieubildung die jeweils spezifischen Existenz- formen voraus, denn es gibt eine für jede Gesellschaft typische Verknüpfung von Subjekt und Situation: „Die Menschen sind nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit über die zahllosen denkbaren Kombination von situativen und subjektiven Aspekten der Existenz verteilt, sondern tendieren zu einer beschränkten Anzahl von Figuren. Existenzformen sind kollektiv verbreitete und im Lebenslauf stabile oder nur langsam veränderliche Muster von Situation und Subjekt.“137

Als Komponenten dieser Muster nennt Schulze im subjektiven Bereich psychische Dispositionen, alltagsästhetische Schemata, Weltbilder, stabile politische Grundhaltungen sowie eingeschliffene Handlungsmuster; im situativen Bereich beispielsweise Beruf, Einkommen, Bildung, soziale Herkunft etc. Darauf baut er seinen Begriff sozialer Milieus auf: „Wenn in einer Gesellschaft überhaupt Existenzformen vorkommen, ist dies gleichbedeutend mit der Segmentierung der Gesellschaft in Ähnlichkeitsgruppen, denn das Typische (Existenzform) gibt es immer vielfach. Der Begriff sozialer Milieus … nimmt auf die Gruppierung von Existenzformen Bezug, fügt jedoch noch ein weiters Element hinzu: die Verdichtung sozialer Kontakte innerhalb der Gruppen. Soziale Milieus seien demnach definiert als Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben.“138

Erst durch diese Binnenkommunikation gewinnen die Ähnlichkeitsgruppen Stabilität – sie bewirkt, dass politische, wirtschaftliche, kulturelle etc. Veränderungen innerhalb sozialer Milieus ähnlich verarbeitet werden.

Dieser Milieubegriff, der auf die bundesdeutsche Gesellschaft zu Ende des 20. Jahrhunderts zugeschnitten ist, vernachlässigt den regionalen, räumlichen, landschaftlichen Aspekt, dessen Bedeutung durch die Verbreitung der Massen-

137 Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 173. 138 Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 174. 134

medien in den letzten Jahrzehnten tatsächlich zurückgegangen ist. Für den in Frage stehenden Zeitraum muss dieser Aspekt jedenfalls stärker betont werden.139 Das kommt in einer Studie von Ernst Hanisch zum Ausdruck: „Im Gegensatz zum Konzept der Klassen oder der politischen Lager ist das Konzept Milieu territorial fixiert, lokal oder regional eingegrenzt. Das Milieu prägt dichte, emotional hoch besetzte soziale Beziehungen: die primäre Umwelt, der Kreis der Alltagskontakte, Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen, Bekannte; intermediäre Instanzen wie Vereine, Genossenschaften, Kirchen, Parteien.“140

Der in weiterer Folge zur Anwendung kommende Milieubegriff lässt sich stichwortartig folgendermaßen zusammenfassen: Milieu meint soziale Konsistenz im regionalen Rahmen; hochspezifische sozioökonomische und -geographische Faktoren spielen zusammen und verdichten sich – so entstehen sozial-/regional- typische Kulturen, Milieus, die bei allen Unterschieden zahlreiche, für eine komparative Untersuchung geeignete Übereinstimmungen mit ähnlich gelagerten regionalen und sozialen Gebilden aufweisen.

Im Unterschied zu dem für die Zwecke dieser Untersuchung bevorzugten soziologischen Milieubegriff steht ein politisch ausgerichteter Begriff von Sozialmilieus bzw. sozialmoralischen Milieus, der zur näheren Umschreibung der gesellschaftlichen Basis politischer Parteien oder genauer gesagt politischer Lager dient. Nach Mario Rainer Lepsius sind Sozialmilieus nicht einfach politische Parteien, sondern soziokulturelle Gebilde, die durch die „kulturell-welt- anschauliche Überformung materieller Interessen“ entstehen. Als wichtigste Gruppen materieller Interessen, die für die Ausbildung von Sozialmilieus maßgeblich sind, werden genannt: „Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche

139 Schulze unterscheidet verschiedene Modelle der Milieubildung. Das ältere, das für die in Frage stehende Zeit noch im Wesentlichen zutreffen dürfte, ist das der Beziehungsvorgabe. Die Milieuzugehörigkeit ergibt sich aus den äußeren Lebensverhältnissen. Bei diesen Milieus handelt es sich um ökonomisch homogene, regional konzentrierte Teilkulturen. Für den Einzelnen ist es nicht leicht, aus dem „situativ bestimmten Milieu“ herauszutreten. (Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 176.) 140 Hanisch, Bäuerliches Milieu und Arbeitermilieu in den Alpengauen, S. 583. 135

Lage, kulturelle Orientierung und schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen“.141 Im Grunde steht dieser Begriff der Sozialmilieus oder sozialmoralischen Milieus neben dem Schichtenmodell, nicht an dessen Stelle.

Das Parteiensystem Deutschlands zwischen 1871 und 1928 wird von Lepsius in vier Sozialmilieus aufgeteilt: das katholische, das sozialdemokratische, das bürgerlich-städtisch-liberale und das agrarisch-konservative.142 Neuere Modelle unterscheiden für die Bundesrepublik mittlerweile sechs im „Raum der Milieus“ zu verortende gesellschaftspolitische Lager: das radikaldemokratische, das traditionell-konservative, das sozialintegrative, das gemäßigt-konservative, das skeptisch-distanzierte und das enttäuscht-autoritäre.143

Den Milieubegriff Lepsius’ auf die Erste Republik Österreich umzulegen hieße, die häufig zitierte Drei-Lager-Theorie Adam Wandruszkas als Basis der sozialstrukturellen Untersuchung der Juliputsch-Beteiligten zur Anwendung zu bringen und zu adaptieren.

Wandruszka geht von drei große Lagern in Österreich aus, die sich bereits in der späten Monarchie ausdifferenzierten und weltanschauliche Grundströmungen repräsentierten: das christlichsozial-konservative, das sozialistische und das nationale.144 Trotz aller Kritik übernimmt Detlef Lehnert dieses signifikanten Grundkonzept und überformt den Begriff des Lagers mit dem des „Integrations- milieus“.145 Zum Ersten nennt Lehnert die sozialdemokratische

141 Weichlein, Siegfried: Sozialmilieus und politische Kultur in der Weimarer Republik, S. 13 f. Insgesamt gibt die Einführung (S. 11–25) einen guten Einblick in die Entwicklung der Begrifflichkeit und den Diskussionstand. 142 Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. 143 Vester, Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, S. 58–64; Vester, Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik, S. 15. 144 Lehnert, Politisch-kulturelle Integrationsmilieus und Orientierungslager, S. 431. Einführend zu Lagerbildung in Österreich zwischen 1848 und 1914: Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 441–448. 145 Lehnert, Politisch-kulturelle Integrationsmilieus und Orientierungslager, S. 435. Lehnert zitiert Karl Rohe: „Politisch wirksam werden Sozialstrukturvariablen wie Klasse, Konfession usw. immer nur dann und nur insofern, wie sie mit kulturellen Sinnbezügen aufgeladen sind.“ Hier setzt 136

Arbeiterbewegung, die in der Ersten Republik – mit starker Konzentration auf Wien und bestimmte Industrieregionen – ein milieuintegrierendes Organisationsnetzwerk mit enormer Dichte und Massenverankerung aufbaute; zum Zweiten das christlichsoziale Integrationsmilieu, dessen Identifikationskern die katholische Kirche sowie zahlreiche kirchliche Einzelorganisationen waren und das über einen ausgesprochen „provinziellen“ Milieucharakter verfügte. Für das „dritte“, das nationale Lager war laut Lehnert „das Fehlen eines ähnlich homogenisierbaren soziokulturellen Integrationsmilieus charakteristisch“; es schmolz in der Ersten Republik im Spannungsfeld zwischen Rot und Schwarz zu einer „Residualkategorie“ ohne regionale Verdichtungen („ereignisspezifische“ Ausnahme: Kärnten) und besondere Milieukonsistenz.146

Gerade für die Klärung der Frage der sozialstrukturellen Herkunft der NSDAP- Sympathisanten und -Parteigänger – also des Zusammenhangs zwischen sozio- kultureller Einbindung und parteipolitischer Präferenz – scheint ein derartiger Ansatz durchaus sinnvoll, ist aber aufgrund der verwendeten Datenbasis und der fehlenden Vorarbeiten für die vorliegende Untersuchung letztlich nicht praktikabel. Zumindest aber soll er im Zuge der weiteren quantitativen Analyse und der Interpretation „mitgedacht“ werden.

C.1.4.3 Zum Milieubegriff – spezifisch

Die historische Milieuanalyse geht davon aus, dass in Gesellschaften Ähnlichkeitsgruppen existieren, die sich durch bestimmte, auf Basis empirisch erhebbarer Daten voneinander unterscheiden lassen – ohne dabei zu verkennen, dass vielfältige Überschneidungen und Grauzonen zwischen diesen Milieus bestehen.

Der Milieubegriff kann unterschiedliche Ausprägungen und Dimensionen haben:

Lehnerts Begriff der Integrationsmilieus an, der die „soziokulturellen, unmittelbar lebens- weltlichen Dimensionen“ erfasst. 146 Lehnert, Politisch-kulturelle Integrationsmilieus und Orientierungslager, S. 435–438. 137

• regionale/lokale Dimension:

großstädtische, kleinstädtische, dörfliche, ländliche, alpine etc. Milieus, Quartiermilieus (Kietz, Grätzl, Stadtteile etc.);

• Alter und generationale Lage:

Milieu der Dorfburschen, Milieu junger Industriearbeiter etc.;

• konfessionelle Dimension:

katholisch, protestantisch – in Verbindung mit regionalen Milieus;

• soziale Dimension:

Milieudifferenzierung nach der sozialen Lage, Status, Art und Weise, in der sich Menschen ihre Subsistenz erwirtschaften; Merkmale: Bildung, Besitz, Einkommen, Beruf (Letzteres das wichtigste Kriterium bis heute, der Beruf ist gleichsam ein Teil der persönlichen Identität, und folgerichtig geht lang anhaltende Arbeitslosigkeit mit dem Verlust eines Teiles der Identität einher).

Das Modell sozialer Milieus ist ein empirisch nicht validiertes – und im Grunde auch nicht zu validierendes – Konstrukt, durch das ich hoffe, der sozialen Wirklichkeit Österreichs 1933–1938 nahe zu kommen.

Die wichtigste historisch überlieferten und daher letztlich einzig maßgeblichen, objektiv erfassbaren Kriterien zur Bestimmung der sozialen Zugehörigkeit von Individuen und der sozialen Strukturierung einer bestimmten historischen Gruppe – in diesem Fall die österreichischen Nationalsozialisten in den 1930er Jahren – sind Bildung, Beruf, Einkommen, Besitz.

Aufgrund dieser den Quellen zu entnehmenden Sozialindikatoren werden der Sozialpraxis der dreißiger Jahre in Österreich angenäherte Ähnlichkeitsgruppen gebildet, ohne dass dafür auf größere empirische Vorarbeiten zurückzugreifen gewesen wäre. Wichtigste Anhaltspunkte zur Bildung dieser Gruppen, die vereinfachend mit Milieus gleichgesetzt werden, waren die sozial- und zeitgeschichtliche Fachliteratur, die für die Volkszählung 1934 vorgenommene Einteilung der österreichischen Bevölkerung nach „Wirtschaftsabteilungen“, 138

„Wirtschaftsgruppen“ und „Wirtschaftsarten“ sowie nicht zuletzt eigene alltagspraktische Überlegungen.

Die üblichen Klassen- und Schichtmodelle sind stark vertikal ausgerichtet. Sie betonen die hierarchische Gliederung der Gesellschaft. Durch das hier skizzierte Milieumodell wird dieses zweifellos wichtige vertikale Element zwar nicht unter den Tisch gekehrt, aber durch eine wesentlich stärkere horizontale Ausrichtung abgelöst. An die Stelle der abstrakten Trennung Oberschicht – Mittelschicht – Unterschicht tritt die lebensnähere und gleichsam organische in bäuerliche Milieus – Arbeitermilieus – kleinbürgerlich/bürgerliche Milieus, die zwar auch ein hierarchisches Element beinhaltet, aber daneben noch eine Reihe weiterer Faktoren implizit und explizit enthält. Diese klassische Dreiheit bezeichne ich als Basismilieus.

Als Strukturmerkmale bäuerlicher und Arbeitermilieus im Österreich in den dreißiger Jahren seien genannt:

• Bäuerliche Milieus: naturnahe und -abhängige manuelle Tätigkeit; dörflich- ländlich, kleinräumig; Landbesitz und ausgeprägtes Besitzdenken; hohe Standortgebundenheit und dichte soziale Kontrolle durch die von der (katholischen) Religion geprägte Lokalkultur; Religiosität; streng hierarchischer Sozialaufbau; primär Subsistenzwirtschaft, aber zunehmende Konjunkturabhängigkeit. Unterbäuerliche Gruppen und Dienstboten sind eng an die Besitzenden (Vollbauern) gebunden (Patron-Klient-Beziehung, familiale Einbindung ins „Ganze Haus“).147

• Arbeitermilieus: manuelle, nicht-selbständige, industriell-gewerbliche (vor- wiegend nicht-landwirtschaftliche) Erwerbsarbeit; starke Abhängigkeit vom Lohngeber und der jeweiligen konjunkturellen Lage; kein Besitz; regional

147 Vgl. Hanisch, Milieu, S. 585; Blickle, Bauer; Bruckmüller, Modernisierung; Mitterauer, Lebensformen; Ortmayr, passim. 139

unterschiedliches, oft starkes, in Österreich fast durchwegs sozialdemokratisch geprägtes „Klassenbewusstsein“; relativ mobil und urban.148

Zu weniger klaren Ergebnissen führt der Versuch, Strukturmerkmale für die klein- bürgerlich/bürgerlichen Milieus – nirgends ist der Plural zutreffender als hier – festzulegen. Der ursprünglichen Bedeutung nach handelte es sich um die Bezeichnung für den in der Stadt anwesenden Bevölkerungsteil. Jedenfalls vereinten sich unter dieser häufig verwendeten, aber selten schlüssig definierten Kategorie höchst heterogene Bevölkerungsgruppen, die eine Mittelstellung zwischen dem gesellschaftlichen „Oben“ und „Unten“ einnahmen, deren Interessen wegen der höchst unterschiedlichen Soziallage aber nur schwer auf einen Nenner zu bringen waren. Versuchsweise wären gewisse gemeinsame „Werthaltungen“ wie Besitzstreben, gesellschaftlicher Aufstieg, Leistung, Individualität, ästhetische Kultur- und Lebensideale etc. zu nennen, die zumindest teilweise eine gemeinsame Klammer zwischen kleinbürgerlichen und bürgerlichen Gruppen zu bilden vermochten.149

Auf Ebene der Basismilieus ist eine grobe Vereinfachung, in der sogar Anklänge an die Harmonisierung und Idealisierung der sozialen Wirklichkeit durch die Ständeideologie mitschwingen, nicht zu übersehen. Andererseits wird kaum jemand die Existenz dieser sozialen Großgruppen leugnen; die Einteilung entspricht letztlich dem sozialen common sense westlicher Gesellschaften.

Allein genommen sind Basismilieus unzureichend für die Beschreibung der sozialen Realität. Aber durch diese Konstruktion wird eine erste Grob- strukturierung erreicht, wodurch einige Fehler anderer, ähnlich gelagerter Untersuchungen vermieden werden. Innerhalb der Basismilieus existieren zahlreiche, oft von völlig gegensätzlichen Interessen getragene Gruppen und

148 Vgl. u. a. Tenfelde, Arbeiter; Maderthaner, Sozialdemokratie (1932 hatte die SDAP rund 650.000 Mitglieder, davon 400.000 in Wien – S. 181); Hanisch, Milieu, S. 592. 149 Vgl. Gerteis, Bürger, insbes. S. 160. – Reinhard Sieder resümiert, dass die bürgerliche Familie des 18. und 19. Jahrhunderts einen „neuen Menschentypus“ produziert habe: „den innengeleiteten, selbstverantwortlichen, disziplinierten Menschen – das krasse Gegenteil des adeligen Müßiggängers.“ (Sieder, Familie, S. 144.) 140

Untergruppen (die ich als Submilieus bezeichne) sowie vielfache Über- schneidungen und Graubereiche.

Die Grenzen zwischen den Milieus sind fließend, und eine exakte Trennung erscheint nicht möglich. Diese – aus quantitativer Sicht gesehen wahrscheinlich bedenkliche – Unschärfe ist aber gleichzeitig die Stärke des Milieuansatzes. Denn auch in der historischen sozialen Realität existieren keine scharfen Trennungs- linien, sondern die Grenzen verschieben sich ständig, müssen in jeder Phase in Frage gestellt und laufend neu definiert werden. Die Segmentierung historischer Gesellschaften nach Milieus wird dem Eigensinn der historischen Akteure besser gerecht, Zwischen- und Randlagen können berücksichtigt werden. Und letztlich ist nach Gerhard Schulze „Unschärfe nicht etwa ein methodischen Problem, sondern Eigenschaft der sozialen Wirklichkeit. Obwohl soziale Milieus niemals exakt gegeneinander abgegrenzt sind, ist anzunehmen, dass sie real existieren.“150

Deshalb bilde ich innerhalb der Basismilieus aufgrund der in den Quellen angeführten Sozialindikatoren möglichst organische und einheitliche Gruppen, die in Hinblick auf die Milieutheorie als Submilieus zu denken wären, bei denen es sich im engeren Sinn aber nur um Berufsgruppen handelt, weil weitere, über die berufliche Tätigkeit und den Erwerb hinausgehende Milieukriterien im Normalfall nicht herangezogen werden können.

150 Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 26. 141

Abb.: Modell der historischen Milieuanalyse: Basismilieus, Submilieus/Berufsgruppen, Sonderauswertungen

Codes 1 2 3

1. Bäuerliche Milieus b 1.1. Bäuerliche Besitzer (Selbständige in Land- und Forstwirtschaft) b-b Bauernsöhne b-bs Gutsbesitzer b-bg Gutsbesitzer-Söhne b-bgs Verwalter und Wirtschaftspächter b-bp 1.2. Knechte (Dienstboten, Gesinde) b-k 1.3. Unterbäuerliche Gruppen (Keuschler, Tagelöhner, Inleute etc.) b-u Söhne aus unterbäuerlichen Gruppen b-us

2. Arbeitermilieus a 2.1. Industrie-/Fabrik-/Werksarbeiter a-i Facharbeiter a-if 2.2. Gewerbliche/kleinbetriebliche Arbeiter a-g Klassische Handwerksberufe a-gh 2.3. Arbeiter, die mittelbar oder unmittelbar im öffentlichen Dienst stehen a-ö 2.4. Hilfsarbeiter/ungelernte Arbeiter a-h

3. Kleinbürgerlich/bürgerliche Milieus m 3.1. Freie Berufe (nicht von der Gewerbeordnung erfasste, zumeist m-a akademisch gebildete Selbständige, „Intelligenzberufe“) 3.2. Studenten m-h 3.3. Selbständige in Handel, Gewerbe und Industrie m-s Söhne von Selbständigen m-ss Wirte m-sw Söhne von Wirten m-sws 3.4. Privatangestellte m-p Höhere, leitende und Privatangestellte mit akademischer Ausbildung m-pa Söhne von höheren und leitenden Privatangestellten m-pas 3.5. Beamte (Angestellte, die mittelbar oder unmittelbar im öffentlichen m-b Dienst stehen) Lehrer m-bl Höhere und akademisch gebildete öffentliche Beamte, Mittel- und m-ba Hochschulprofessoren etc. 3.6. Großbürgertum und Adel m-g Söhne – Großbürgertum und Adel m-gs Schlüssel Tabellenkopf: Code 1: einstelliger Code für die Basismilieus; Code 2: zweistelliger Code für Submilieus/Berufsgruppen; Code 3: dreistelliger Code für die Sonderauswertung von aufgrund der Quellen identifizierbar und von anderen unterscheidbaren Gruppen.

142

Bei dem auf der folgenden Seite präsentierten Milieumodell handelt sich um das für die Sozialstrukturanalyse der nationalsozialistischen Juliputsch-Beteiligten entwickelte Modell, das vorerst für die Zwecke der Auswertung der Wien- Datenbank wesentlich überarbeitet und adaptiert wurde.151 Die Großstadt Wien stellt von ihrer Sozial- und Berufsstruktur ganz andere Anforderung an eine historische Milieuanalyse als der Juliputsch, der sich zum größten Teil in zentrumsfernen, ländlichen Regionen zutrug. Im Zuge der gemeinsamen Codierung und Auswertung der Wien- und der Wöllersdorf-Datenbank sind weitere Adaptionen und Anpassungen dieses Modells zu erwarten, ohne dass es deshalb in seiner Grundstruktur geändert werden müssten.

C.1.4.4 Zuordnung der Berufe zu den Kategorien des Milieumodells und zu den volkswirtschaftlichen Sektoren

1. Bäuerliche Milieus

1.1. Bäuerliche Besitzer (Selbständige in Land- und Forstwirtschaft)

Zu dieser Kategorie zählen Bauern (zumeist Besitzer genannt), Landwirte – alle, die über landwirtschaftlichen Besitz verfügen (oder zumindest selbständig darauf arbeiten) und ihr Einkommen bzw. ihren Lebensunterhalt (zum Großteil) damit bestreiten; alle besitzenden Schichten des bäuerlichen Milieus (außer Keuschler).

Häufig wird der Begriff Auszügler verwendet. Es handelt sich dabei um „Altenteiler“, „Auszugsbauern“ – alte Bauern, die den Hof an den Nachfolger übergeben und sich auf das Altenteil zurückgezogen haben,

151 Die wesentlichsten Änderungen gegenüber dem Juliputsch-Milieumodell: 1. Trennung von Studenten und akademisch gebildeten Selbständigen (Freie Berufe). Während Studenten als Juliputsch-Beteiligte eine äußerst kleine Gruppe darstellten, spielten sie in Wien 1933 bis 1938 eine beträchtliche quantifizierbare Größe. 2. Schaffung einer neuen Unterkategorie: höhere Beamte (dreistelliger Code). 3. Schaffung einer neuen Kategorie: Großbürgertum und Adel (zweistelliger Code). 143

die also „im Auszug“, möglicherweise sogar in einem eigenen „Auszugshaus“ leben. Damit im Zusammenhang steht auch der Begriff „Ausgedinge“. Demnach sind das Personen, die ehemals Bauern waren und diesem Milieu zuzuschlagen sind. Bei der volkswirtschaftlichen Sektorengliederung fallen sie allerdings in Übereinstimmung mit der Systematik der Volkszählung 1934 in die Kategorie „ohne Beruf“.

Besitzersöhne und Bauernsöhne und andere Angehörige des Bauern (der Bäuerin) werden im Sinne der Milieutheorie grundsätzlich den Selbständigen in Land- und Forstwirtschaft zugeschlagen.

Pächter, Wirtschafter, Wirtschaftspächter sind, sofern es sich um Pächter oder Verwalter von landwirtschaftlichen Betrieben handelt, hier einzureihen und ebenfalls dem Primärsektor zuzuschlagen; ebenso wird mit Gutsbesitzern verfahren.

Zur oft im ländlichen, dörflichen Bereich vorkommenden Kombination Besitzer/Gastwirt, Besitzer/Holzhändler, Besitzer/Pferdehändler, Besitzer/Schmied, Besitzer/Fleischhauer/Gastwirt etc. siehe die Ausführungen unter Selbständige in Handel, Gewerbe und Industrie.

1.2. Knechte (Dienstboten, Gesinde)

Hier werden nichtbesitzende Gruppen des bäuerlichen, agrarischen Milieus zugeordnet, also das ländliche Proletariat. Typische vorkommende Bezeichnungen sind Knecht, Bauernknecht, Moarknecht, landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter, Landarbeiter, Dienstbote etc.

Holzarbeiter, Holzknechte, Forstarbeiter: siehe die Ausführungen unter gewerblichen/kleinbetrieblichen Arbeitern.

Landarbeiter in Gutsbetrieben werden den Hilfsarbeitern im Arbeitermilieu (allerdings im Primärsektor) zugeschlagen, da hier die „familiale Verselbständigung“ (Bruckmüller) bereits erfolgt ist, eine unmittelbare Bindung an das bäuerliche Haus, wie beim Gesinde, nicht 144

mehr vorliegt und im Selbstverständnis bereits die Zugehörigkeit zum Arbeitermilieu dominieren dürfte.152 Ist erkennbar, dass die spezifische Tätigkeit auf im Gutsbetrieb eine gewisse Qualifikation erfordert, erfolgt die Zuordnung bei den kleinbetrieblichen Arbeitern.

1.3. Unterbäuerliche Gruppen (Keuschler, Tagelöhner, Inleute)

Hier werden ländliche Kleinbesitzer, die normalerweise von ihrem Besitz nicht leben konnten und daher gezwungen waren, sich – zumeist bei Bauern – als Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner zu verdingen, eingereiht.153 Typische Bezeichnungen sind Keuschler, Kleinhäusler, Häusler. Inwohner bzw. Inleute waren auf Bauernhöfen in Miete lebende Personen, die zumeist als Tagelöhner beschäftigt waren.154

2. Arbeitermilieus

2.1. Industrie-/Fabrik-/Werksarbeiter

Alle Arbeiter, die über eine spezielle Ausbildung und/oder Spezialkenntnisse verfügen und die in der Industrie beschäftigt sind, werden dieser Kategorie zugeschlagen. (Hinsichtlich der Unterscheidung von kleinbetrieblichen und Industriearbeitern siehe die Ausführungen unter „Gewerbliche/kleinbetriebliche Arbeiter“.) Bezeichnungen wie Bergarbeiter, Werksarbeiter, Fabrikarbeiter u. Ä. sind ein deutlicher Hinweis auf eine industrielle Beschäftigung.

152 Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 485 f., 503. 153 „Bei der Häufung von Berufen verschiedener sozialer Stellung, z. B. Kleinhäusler als Selbständiger und als Arbeiter in der Landwirtschaft, wurde der Eigenschaft als Arbeiter, als der für den Lebensunterhalt in der Regel ausschlaggebenden der Vorrang gegeben“ (VZ 34, Heft 1, S. 93). 154 Zu den unterbäuerlichen Gruppen siehe Weber, Häuserlkindheit, sowie Mitterauer, Lebensformen. 145

In einer Sonderauswertung werden Facharbeiter erfasst, die über spezifische Kenntnisse und/oder eine entsprechende Ausbildung verfügen. Hinweise darauf sind Bezeichnungen wie beispielsweise Kesselwärter, Maschinenführer in einer Papierfabrik. Auch Personen mit Berufsbezeichnungen wie Schlosser, Elektriker, Chauffeure etc., die beispielsweise bei der Alpine beschäftigt sind, gelten demnach als industrielle Facharbeiter und nicht als gewerbliche oder kleinbetriebliche Arbeiter. (Wenn allerdings aus dem Kontext nicht eindeutig hervorgeht, dass es sich bei den genannten und anderen ähnlichen Berufen um Industriearbeiter handelt, werden diese den gewerblichen und kleinbetrieblichen Arbeitern zugezählt.)

Maschinenbauer mussten eine kombinierte Schlosser-Dreher-Lehre absolvieren, was nicht drei, sondern vier Jahre dauerte. Es handelt sich um einen handwerklichen oder industriellen Beruf.155

Sägearbeiter, Holzarbeiter, Forstarbeiter: siehe die Ausführungen unter „Gewerbliche/kleinbetriebliche Arbeiter“.

Arbeiter: Liegt nur diese Bezeichnung vor und wird klar, dass es sich um ein größeres, industrielles Unternehmen, eine Fabrik etc. handelt, dann wird der derart Bezeichnete den Fabrikarbeitern im jeweiligen Sektor (vornehmlich wahrscheinlich Sekundärsektor) zugerechnet. Im Zweifelsfall, wenn das Unternehmen aus dem Kontext nicht hervorgeht, erfolgt die Zuordnung bei den gewerblichen/kleinbetrieblichen Arbeitern im Sekundärsektor (siehe auch dort).

2.2. Gewerbliche/kleinbetriebliche Arbeiter

Hier werden primär Arbeiter eingereiht, die im Gewerbe beschäftigt sind, und zwar Gesellen und Lehrlinge, aber auch Meister, sofern sie lohnabhängig und nicht selbständig sind (Schuster, Bäcker, Schneider,

155 Freundliche Information von Dr. Traude Bollauf, 18. 12. 2009: Ihr Vater, Jahrgang 1901, hatte den Beruf des Maschinenbauers erlernt und arbeitete in einem größeren Industriebetrieb. 146

Fleischhauer, Tapezierer, Binder, Uhrmacher, Buchdrucker, Schmiede, Elektriker etc.) – die klassischen Lehrberufe, die unter den Überbegriff Handwerk fallen. Um die Arbeiter in klassischen Handwerksberufen von den übrigen kleinbetrieblichen Arbeitern zu unterscheiden, wird eine Sonderauswertung vorgenommen.156

Weiters zählen zu dieser Kategorie alle kleinbetrieblichen (Fach-) Arbeiter, deren Tätigkeit gewisse Kenntnisse verlangen (auch wenn es sich um keine Lehrberufe im eigentlichen Sinn handelt) und nicht ausschließlich als rein unqualifizierte Hilfsarbeit zu betrachten ist.

Wesentlich ist bei dieser Kategorie vor allem die Unterscheidung von Arbeitern in (zumeist kleineren) Gewerbebetrieben157 und sonstigen Betrieben von Arbeitern in (zumeist größeren) Industriebetrieben.158 Maßgebliches Kriterium ist laut Lehre der Mechanisierungsgrad bzw. der Einsatz von Maschinen. Aus pragmatischen Gründen ziehe ich in Zweifelsfällen (z. B. bei Sägewerken) die (aufgrund der ungenauen

156 Nach einer einfachen lexikalischen Definition wird mit Handwerk die „Gesamtheit jener Gruppe von Wirtschaftenden, die ihre Tätigkeit mit einer in längerer Ausbildung erhaltenen Fähigkeit und Geschicklichkeit ausüben“ bezeichnet. (Gabler Wirtschaftslexikon, Stw. „Handwerk“.) Generell unterscheidet man die Verarbeitung von Steinen und Erden (Steinmetz, Töpferei, Keramik etc.); Edelmetall, Eisen oder Metall verarbeitendes, Holz und Leder verabeitendes Handwerk; weiters Baugewerbe (Maurer etc.), Bekleidungsgewerbe (Schneider, Schuster), Nahrungs- und Genussmittelgewerbe (Müller, Fleischhauer, Bäcker, Brauer, Brenner, Zuckerbäcker usw.), Luxusgüterproduktion und Dienstleistungsgewerbe (Bader, Barbiere, Friseure, Kosmetiker etc.) (Österreich-Lexikon, Stw. „Handwerk“.) 157 Die Definition für „Gewerbe“ laut Wirtschaftslexikon: „Nach Wessels kann man wirtschaftlich unter Gewerbe jede nicht naturgebundene Güterproduktion verstehen, wobei das gesamte Handwerk (auch Handwerksbetriebe mit Dienstleistungscharakter) in die Definition einge- schlossen wird. (Gegensatz: Handel)“ (Gabler Wirtschaftslexikon, Stw. „Gewerbe“). 158 Definition für „Industrie“ laut Wirtschaftslexikon: „Gewerbliche Produktion mit mechanischen Mitteln unter Einschluss der maschinellen Veredelung von Rohstoffen und des Bergbaus“ (Gabler Wirtschaftslexikon, Stw. „Industrie“). – Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 383–395 (für die Zeit von 1848 bis 1918) sowie S. 487–492 (für die Erste und Zweite Republik). Auch er unterscheidet bei den Sozialtypen und Arbeitsverhältnissen im Sekundärsektor zwischen Kleingewerbe und Industrie. – Fielhauer, Landwirtschaft, S. 69 f. ist überzeugt, dass man von einem „eigenen handwerklich-gewerblichen Sektor im ländlichen Raum sprechen kann, auch wenn er vorerst schwer differenzierbar ist und die Übergänge zur Großindustrie fließend sind“. 147

Aussagen in den Quellen) nur zu vermutende Betriebsgröße heran; dabei erscheint allerdings eine zahlenmäßig starre Festlegung nicht zielführend, da genaue Zahlenangaben bezüglich der Größe eines Unternehmens in den ausgewerteten Gendarmerieanzeigen nicht gemacht werden. Bei dieser Zuordnung kommt es somit auf die Einschätzung an, ob es sich bei dem betreffenden Betrieb um einen Kleinbetrieb handelt oder eher um einen Industriebetrieb. Die entsprechende Zuordnung geht allerdings zumeist aus dem Kontext ziemlich klar hervor (z. B. wenn von einer „Fabrik“ die Rede ist).

Ein Sägewerksarbeiter, der in einem kleinen Sägewerk beschäftigt ist, fällt demnach unter die Kategorie gewerbliche/kleinbetriebliche Arbeiter im Sekundärsektor. War er hingegen bei den Funder-Werken beschäftigt, so wird er der Kategorie Industriearbeiter im Sekundärsektor zugeschlagen. Ähnlich beispielsweise bei Schlossern und Elektrikern: Sind sie als Gesellen in einem kleinen Handwerksbetrieb beschäftigt, so zählen sie zur Kategorie gewerbliche/kleinbetriebliche Arbeiter; als Betriebsschlosser oder -elektriker bei der Alpine Montan hingegen werden sie zu den Industriearbeiter gerechnet.

Die Angabe „Meister“ lässt – allerdings keineswegs zweifelsfrei – vermuten, dass es sich um einen Selbständigen handelt; die Zuordnung erfolgt dann bei den Selbständigen in Handel, Gewerbe und Industrie.159 Sollte aus den näheren Angaben zum Tathergang ersichtlich sein, dass der Betreffende, obwohl er Meister ist, im Betrieb eines anderen beschäftigt und nicht der designierte Betriebsnachfolger ist („Juniorchef“) ist, so wird er ebenfalls unter gewerbliche Arbeiter eingereiht.

159 Laut Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 487 f., gab es 1930 in zahlreichen Gewerben noch einen großen Anteil von Selbständigen, so bei den Bauschlossern, Malern und Anstreichern, Huf- und Wagenschmieden, Sattlern, Schneidern und Schuhmachern. 148

Eine Geselle oder sogar Lehrling, bei dem aufgrund der näheren Angaben zu Person klar wird, dass es sich um den „Juniorchef“, also im Regelfall um den Sohn des Besitzer, der den Betrieb später übernehmen soll, handelt, wird hingegen den Selbständigen zugeordnet.

„Chauffeur“ kommt als Bezeichnung recht häufig vor. Laut Duden Wörterbuch handelt es sich dabei um jemand, „der berufsmäßig Personen im Auto befördert“. Aufgrund der Häufigkeit dieser Berufsbezeichnung gehe ich davon aus, das dieser Begriff damals noch weiter gefasst war und auch Lastwagenfahrer einschloss. Diese Berufsgruppe wird ebenfalls den gewerblichen und kleinbetrieblichen Arbeitern zugeschlagen (Transportgewerbe, Tertiärsektor), ein z. B. bei der Alpine beschäftigter Chauffeur (der aber eigentlich ein Lkw-Lenker ist) hingegen den Industriearbeitern, ein Lenker von Linienbussen den im öffentlichen Dienst stehende Arbeitern.

Arbeiter: Liegt nur diese Bezeichnung ohne nähere Erläuterungen vor und ohne dass aus dem Kontext erkennbar wäre, um welches Unternehmen, welche Branche etc. es sich handelt, dann werden die derart Bezeichneten den gewerblichen/kleinbetrieblichen Arbeitern im Sekundärsektor zugeschlagen; allerdings nur, wenn der lokale Kontext diese Zuordnung wahrscheinlich erscheinen lässt.

Bei Doppelnennung eines gewerblichen Berufes und eines Berufes im landwirtschaftlichen Sektor (z. B. Schmied/Knecht oder Kraftfahrer/landw. Hilfsarbeiter) ist anzunehmen, dass es sich beim gewerblichen Beruf um den erlernten handelt, während der landwirtschaftliche möglicherweise aufgrund von Arbeitslosigkeit nur vorübergehend angenommen wurde. Daher werden diese Personen den gewerblichen/kleinbetrieblichen Arbeitern im Sekundärsektor zugeschlagen. Grundsätzlich wird für die Zuordnung immer der „bessere“ Beruf herangezogen, da davon auszugehen ist, dass die „schlechtere“ Stellung nur vorübergehend aufgrund der Arbeitslosigkeit 149

angenommen wurde und der Betreffende seiner ursprünglichen Berufsgruppe wahrscheinlich näher steht.

Für Sägearbeiter, Holzarbeiter, Holzknechte, Forstarbeiter u. Ä. gelten folgende Regeln:

• Arbeiten sie für ein kleines Sägewerk, dann zählen sie zu den gewerblichen oder kleinbetrieblichen Arbeitern im Sekundärsektor.

• Handelt es sich um ein größeres, industrielles Unternehmen, dann sind diese Arbeiter als Facharbeiter in der Industrie zu verstehen und ebenfalls dem Sekundärsektor zuzuschlagen. Die Unterscheidung erfolgt aufgrund der vermuteten bzw. geschätzten Betriebsgröße.

• Geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor, dass es sich um ein größeres, industrielles Unternehmen handelt, dann sind Sägearbeiter den kleinbetrieblichen Arbeitern im Sekundärsektor zuzuzählen. (Sägebetriebe zählen laut VZ 34 zum Sekundärsektor.)

Die Bezeichnung „Holzarbeiter“ ist problematisch, weil es sich ebenso gut um Arbeiter in Forst- bzw. Gutsbetrieben handeln kann (Primärsektor) wie um Arbeiter in einem Sägebetrieb (Sekundärsektor). Hier gilt Folgendes:

Soweit nur die Bezeichnung Holzarbeiter ohne nähere Erläuterungen oder irgendwelche Hinweise vorliegt, werden diese Leute den gewerblichen/klein- betrieblichen Arbeitern zugezählt (weil zu vermuten ist, dass es sich um betriebliche Arbeiter handelt, die nicht mehr direkt an die bäuerliche Familie gebunden und vom bäuerlichen Milieu schon relativ weit entfernt waren); nach der VZ 34 werden sie allerdings dem Primärsektor zugeschlagen (Forst- wirtschaft). Ebenso verhält es sich mit der Berufsbezeichnung Holzknecht, die nur als Variante von Holzarbeiter anzusehen ist.

Wird im Kontext der Bezeichnung „Holzarbeiter“ oder „Holzknecht“ klar, dass es sich um einen bei einem Bauern beschäftigten Holzarbeiter handelt, so wird er den landwirtschaftlichen Arbeitern (hier überwiegt die Zugehörigkeit zum bäuerlichen Milieu) im Primärsektor zugerechnet. 150

Holzarbeiter, die erkenntlich bei einem großen, industriellen Unternehmen beschäftigt sind, werden den Industriearbeitern im Sekundärsektor zugeschlagen, weil davon ausgegangen wird, dass es sich um keinen reinen Forstbetrieb, sondern um ein Sägewerk handelt bzw. der Sägebetrieb überwiegt.

Adäquat wird mit „Forstarbeitern“ in allen Kombinationen verfahren.

2.3. Arbeiter, die mittelbar oder unmittelbar im öffentlichen Dienst stehen

Alle beim Staat, beim Land, bei Gemeinden sowie bei weiteren quasi- staatliche Institutionen (Sozialversicherungen, Krankenkassen, Kammern etc.) beschäftigten Arbeiter (= manuell Tätige); weiters Arbeiter bei öffentlichen Verkehrsbetrieben (Eisenbahn, Straßenbahn), der Post, Telefon- und Telegraphenverwaltung, bei E-Werken, bei staatlicher Monopolbetrieben (Tabak, Salinen etc.), bei den Bundesforsten, dem Bundesheer, der Kirche etc. Nähere Ausführungen zum öffentlichen Dienst und der dieser Kategorie innewohnenden Problematik siehe unten unter „Angestellte, die mittelbar oder unmittelbar im öffentlichen Dienst stehen“.

2.4. Hilfsarbeiter/ungelernte Arbeiter

Grundsätzlich werden hier alle Nicht-Facharbeiter, nicht ausgebildeten Arbeiter im Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor zugeordnet, die zumeist körperlich schwere, aber keine besondere Qualifikationen erforderliche Tätigkeiten ausführen.

Diese Kategorie ist die vielleicht schwammigste – obwohl und gerade weil die Bezeichnung so häufig verwendet wird. Aufgrund dieser Häufigkeit, gleichzeitig aber Unklarheit der konkreten Zuordnung, war es am sinnvollsten, eine eigene Berufskategorie zu bilden. Nicht zuletzt gibt es in der sozialen Wirklichkeit zweifellos eine große Diskrepanz zwischen ausgebildeten Handwerkern und oft hochqualifizierten Facharbeitern in der Industrie einerseits und unqualifizierten, ungelernten Hilfskräften andererseits. Deshalb erscheint diese Kategorie durchaus 151

aussagekräftig und für eine entsprechende soziale Differenzierung von Relevanz.

Hinsichtlich der korrekten Zuordnung gibt es allerdings folgende Probleme:

• Erstens könnte es sich bei der Bezeichnung „Hilfsarbeiter“ auch um Knechte, also landwirtschaftliche Hilfsarbeiter, handeln, die dem Primärsektor bzw. dem Milieu der landwirtschaftlichen Dienstboten und unterbäuerlichen Gruppen zuzuschlagen wären. Allerdings ist davon auszugehen, dass dieser Unterschied im Großen und Ganzen im jeweiligen Nationale beachtet wurde, denn in vielen Anzeigen ein und desselben Gendarmeriepostens werden Personen als „landw. Hilfsarbeiter“ und andere Personen als „Hilfsarbeiter“ bezeichnet, wobei der Kontext oft ergibt, dass mit „Hilfsarbeiter“ ganz konkret nicht- landwirtschaftliche Hilfsarbeiter gemeint sind.

• Zweitens ist mit der unklaren Bezeichnung „Hilfsarbeiter“ noch nicht genau definiert, ob es sich um einen im Primär-, Sekundär- oder Tertiärsektor beschäftigten Hilfsarbeiter handelt. Wenn aus dem Kontext nichts anderes hervorgeht, werden Hilfsarbeiter grundsätzlich dem Sekundärsektor zugeschlagen.160

• Unscharf und fließend ist drittens manchmal auch die Abgrenzung zu den Facharbeitern bzw. Fabrik-/Werksarbeitern. Nicht selten ist es einfach unmöglich zu entscheiden, ob eine in den Anzeigen als Hilfsarbeit deklarierte Tätigkeit nicht doch eher als Facharbeit im weitesten Sinn zu bezeichnen ist. (Beispiel: Die Arbeiter einer Baumschule in der Nähe von Deutschlandsberg, die fast geschlossen am Juliputsch teilnahmen, werden in einem Teil der Anzeigen als Hilfsarbeiter, in einem anderen Teil als Gärtnergehilfen bezeichnet. In diesem Fall kann aus Kontextinformationen eine Zuordnung der

160 Laut VZ 34, Heft 1, S. 211 f., waren im Sekundärsektor 49,5% aller Arbeiter beschäftigt, im Primärsektor 22,6% und im Tertiärsektor 27,9%. 152

Arbeiter als kleinbetriebliche Arbeiter im Primärsektor vorgenommen werden; in anderen Fällen wird das nicht möglich sein.)

Erfahrungsgemäß sind zu den Hilfsarbeitern zu einem großen Teil Nicht- Facharbeiter im Baugewerbe zählen.

3. Kleinbürgerlich/bürgerliche Milieus

3.1. Freie Berufe (nicht von der Gewerbeordnung erfasste, zumeist akademisch gebildete Selbständige, „Intelligenzberufe“)

Zu dieser Kategorie zählen vor allem die klassischen freie Berufe, also Rechtsanwälte, Notare, praktische und Fachärzte, wirtschaftsberatende Berufe, Architekten, Zivilingenieure – sofern sie selbständig und nicht bei einer öffentlichen Institution oder einer Privatorganisation bzw. einer privaten Firma/Wirtschaftsorganisation angestellt sind; weiters freie Künstler, freie Schauspieler und sonstige Bühnenkünstler, freie Musiker, freie Schriftsteller, nicht angestellte Journalisten u. Ä. Zum Großteil handelt es sich um die typischen akademischen und/oder künstlerischen Berufe bzw. um die – im Jargon der Zeit gesprochen – sogenannten Intelligenzberufe.161 Wesentliches Kennzeichen ist die freiberufliche, nicht angestellte Betätigung.

Privat oder öffentlich bedienstete Akademiker werden unter Privatangestellte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes (Beamte) eingereiht.

3.2. Studenten

161 Der Begriff „Intelligenz“ als Bezeichnung für dieses spezielle Schicht wird in den Quellen häufig verwendet. So heißt es in einem Bericht des steirischen Sicherheitsdirektors vom März 1934: „Eine Bewegung in der ehemaligen NSDAP ist kaum wahrzunehmen; die Mitglieder derselben rekrutieren sich hauptsächlich aus den Intelligenzkreisen und es scheint die Annahme gerechtfertigt, dass dieselben von jeder propagandistischen Tätigkeit sich zurückgezogen haben. Dieser Umstand dürfte vermutlich auf die letzten Notverordnungen zurückzuführen sein, die sich insbesondere auf Ärzte, Anwälte und konzessionierte Berufe bezogen und die nunmehr eine Handhabe bieten, gegen diese Kreise wirksam aufzutreten.“ Auch von der „national gesinnten Intelligenz“ ist oft die Rede. 153

Zur Zuordnung nach volkswirtschaftlichen Sektoren:

• Da es sich hier zumeist um wirtschaftlich noch von ihren Eltern bzw. ihrem Vater Abhängige handelt, erfolgt die Zuordnung nach dem volkswirtschaftlichen Sektor entsprechend der Zuordnung des Vaters – sofern erkennbar ist, dass der Student sich nicht „außerhalb des Elternhauses“162 befindet (also noch zu Hause wohnt) und der Beruf bzw. die Position des Vaters in der Anzeige ersichtlich ist. (In der Volkszählung 1934 werden ebenfalls alle „wirtschaftlichen Zugehörigen“ gerechnet, nicht nur die „Berufsträger“.)

• Ist erkennbar, dass der Student außerhalb des Elternhauses wohnt, so wird er keinem volkswirtschaftlichen Sektor, sondern der Kategorie „ohne Beruf“ zugezählt. (Ist beides nicht zweifelsfrei festzustellen, erfolgt keine Zuordnung.)

Milieumodell:

Studenten, die in der NS-Bewegung in Wien eine äußerst wichtige Rolle spielten, werden von den übrigen Angehörigen des Bildungsmilieus getrennt. Schüler werden ihrem Herkunftsmilieu zugeordnet (Beruf des Vaters).

Eine je nach örtlichen Verhältnissen mehr oder weniger enge Verwandtschaft kann zu den anderen bürgerlichen Milieus bestehen, zum einen zu wohlhabenden Selbständigen, vor allem aber zu gehobenen und leitenden Privatangestellten, die zumeist ebenfalls über eine universitäre, zumindest aber gehobene Ausbildung (z. B. Ingenieure der Alpine, Betriebsleiter, Förster etc.) verfügen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Milieus sind gerade in kleinbürgerlich/bürgerlichen Milieus fließend und generell wohl kaum eindeutig festzulegen. Hier dürften starke Unterschiede zwischen Dorf, Kleinstadt, Großstadt sowie regionale Unterschiede bestehen und die jeweilige lokale Praxis eine besonders wichtige Rolle spielen.

3.3. Selbständige in Handel, Gewerbe und Industrie

162 Vgl. VZ 34, Heft 1, S. 115. 154

Unter diese Kategorie fallen alle selbständig Erwerbstätigen und Unternehmer im Handwerk (Schmiede, Schuhmacher, Bäcker, Friseure, Schneider, Schlosser, Elektriker, Wagner, Sattler, Tischler, Buchdrucker etc.), die Besitzer von kleineren und größeren gewerbeartigen Betrieben (Sägewerksbesitzer, Brauereibesitzer u. Ä.) sowie die Besitzer von Industriebetrieben; weiters selbständige Unternehmer und selbständig Erwerbstätige im Handel (Kaufleute, Greißler u. Ä.), im Transportgewerbe (Autofrächter, Taxiunternehmer, Fuhrwerks- unternehmer u. Ä.) sowie im Gastgewerbe. Selbständige Versicherungs- und Immobilienmakler werden ebenfalls hier eingereiht. Laut Volkszählung 1934 zählen zu den Selbständigen alle „Berufsträger …, die für eigene Rechnung wirtschaften“.163

Sehr häufig im ländlichen, dörflichen Bereich sind Kombinationen wie Besitzer/ Gastwirt, Besitzer/Holzhändler, Besitzer/Pferdehändler, Besitzer/Schmied, Besitzer/Fleischhauer/Gastwirt etc. Gerade bei Gastwirten, die neben dem Wirtshaus noch über landwirtschaftlichen Besitz verfügten und/oder eine Fleischhauerei, Gemischtwarenhandlungen etc., handelte es sich zumeist um zentrale Persönlichkeiten eines Dorfes, die verhältnismäßig wohlhabend waren und daher nicht selten auch während des Putsches eine führende Rolle spielten – sie werden deshalb einer Sonderauswertung unterzogen. Die Zuordnung zum entsprechenden volkswirtschaftlichen Sektor ist schwierig, da es sich zumeist um die Kombination aller drei volkswirtschaftlicher Sektoren handelt. Im Grunde wird wahrscheinlich die Selbsteinschätzung der Betroffenen maßgeblich gewesen sein. Hier kann die Zuordnung nicht in jedem Fall stimmen. Aufgrund meiner Erfahrung würde ich Gastwirte am ehesten den Selbständigen im Sekundär- oder Tertiärsektor zuschlagen – zumindest wenn sie im Zentralort eines ländlichen Umfeldes oder

163 VZ 34, Heft 1, S. 93. 155

zumindest in einem größeren, geschlossenen Dorf beheimatet waren. Gehöfte außerhalb des Dorfes, die neben der Landwirtschaft auch noch als Gasthäuser dienten, sind wahrscheinlich in erster Linie Bauernhöfe und die Einkünfte aus dem Gastbetrieb vermutlich als Zusatzeinkommen zu verstehen. – Das heißt grundsätzlich: Die Kombination Gastwirt/Bauer (oder Ähnliches) führt zu Zuordnung bei den Selbständigen im Sekundär- oder Tertiärsektor. Sollte aus irgendeinem Grund erkennbar sein, dass das Bäuerliche eindeutig überwiegt, erfolgt die Zuordnung bei den Selbständigen aus Land- und Forstwirtschaft.

Um den oft gewaltigen Besitzunterschieden – und somit der vertikalen gesellschaftlichen Gliederung – in der Gruppe der Selbständigen einigermaßen gerecht zu werden, wird versucht, im Zuge einer Sonderauswertung den bürgerlichen Großbesitz (Großbürgertum) von den übrigen Gruppen zu trennen, soweit das aufgrund der Angaben in den Quellen möglich ist.

Sägewerks- und Holzunternehmer werden dem Gewerbe, und somit dem Sekundärsektor, zugeordnet. „Holzhändler“ werden aufgrund der Vermutung, dass die so Bezeichneten gleichzeitig über ein Sägewerk verfügten, ebenfalls den Selbständigen im Sekundär- und Tertiärsektor, und zwar dem Sekundärsektor zugerechnet. „Holzmeister“ – Unternehmer, die im Auftrag Schlägerungen durchführten – zählen zu den Selbständigen in Handel, Gewerbe und Industrie, weil sie – ebenso wie die Holzarbeiter – dem bäuerlichen Milieu nicht mehr zugerechnet werden können; aufgrund der Eigenart ihrer Tätigkeit im Forst müssen sie allerdings dem Primärsektor zugeschlagen werden.

3.4. Privatangestellte

Zur Abgrenzung der Angestellten von Arbeitern kann primär die für die Volkszählung 1934 entwickelte Definition herangezogen werden: „Die Abgrenzung zwischen Beamten und Angestellten einerseits, Arbeitern andererseits geschah im Sinne der österreichischen Angestelltengesetzgebung in der Weise, dass die Stellung als Beamter 156

oder Angestellter nur dort angenommen wurde, wo eine überwiegend geistige Betätigung vorlag, während bei überwiegend körperlicher Betätigung die Stellung als Arbeiter gezählt wurde.“164 Die im angloamerikanischen Raum häufig verwendete Bezeichnung für diese Gruppe lautet white-collar workers – im Gegensatz zu den Arbeitern, den blue-collar workers.

Hierher zählen Personen mit Berufsbezeichnungen wie Handelsangestellter, Handelsgehilfe, Privatbeamter, Betriebsbeamter, Werksbeamter, Werkmeister, Handelsvertreter, Versicherungsvertreter, kaufmännischer Angestellter etc., aber auch Berufe mit konkreteren Bezeichnungen wie Chemiker, Förster, Jurist (sofern es sich um bei privaten, also nicht staatlichen oder quasi-staatlichen Betrieben Angestellte) handelt, weiters Buchhalter, Verwalter, Assistent, Verkäufer etc.165

Manchmal kommt auch die Bezeichnung „Beamter“ ohne nähere Erläuterungen und Zusätze vor. In diesem Fall ist es zweifelhaft, ob es sich um einen öffentlich Bediensteten oder um einen Privatangestellten handelt, der in einer Kanzlei, in einem Büro, bei einer Bank etc. arbeitet.

164 VZ 34, Heft 1, S. 93 (kursive Hervorhebung durch mich). Zur Entwicklung des Angestellten- typus in der Spätzeit der Monarchie siehe Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 395 f., zur Entwicklung in der Republik S. 493–497. Ausführlich zum Angestelltenbegriff und sozialwissenschaftlichen Angestelltentheorien siehe Botz, Angestellte, insbes. S. 45–52; weiters Peissl, Proletariat, zum Begriff S. 15–41, zur gesellschaftlichen Positionierung von Angestellten S. 57–77. 165 Im Wirtschaftslexikon werden unter anderem folgende Berufe und Tätigkeiten genannt: „leitende Angestellte, Betriebsbeamte, Werkmeister und andere Angestellte in einer ähnlich gehobenen oder höheren Stellung; Büroangestellte, die nicht ausschließlich mit Botengängen, Reinigung, Aufräumung und ähnlichen Arbeiten beschäftigt werden …; Handlungsgehilfen und andere Angestellte für kaufmännische Dienste, auch wenn der Gegenstand des Unternehmens kein Handelsgewerbe ist; Gehilfen in Apotheken; Bühnenmitglieder und Musiker ohne Rücksicht auf den Kunstwert ihrer Leistungen; Angestellte in Berufen der Erziehung, des Unterrichts, der Fürsorge, der Kranken- und Wohlfahrtspflege; … Verwalter und Verwaltungsassistenten sowie die in einer ähnlich gehobenen oder höheren Stellung befindlichen Angestellte ohne Rücksicht auf ihre Vorbildung“ (Gabler Wirtschaftslexikon, Stw. „Angestellter“). 157

Ist aus dem Kontext oder aus den Aussagen nichts Näheres zu erschließen, werden die (wenigen) so Bezeichneten den Privatangestellten zugeschlagen, da bei öffentlich Bediensteten erfahrungsgemäß die Funktion normalerweise näher umschrieben bzw. genauer definiert wird, allein schon, weil eine Stellung im öffentlichen Dienst auf Seiten der Exekutive besondere Aufmerksamkeit erregte und auch für die Justiz und Regierungsstellen von Bedeutung war.

Förster, Forstadjunkten, Jäger, Aufsichtsjäger etc. in Kärnten werden generell den Privatangestellten im Primärsektor zugeschlagen, da die Bundesforste in Kärnten kaum über Besitz verfügten166 und eine private Anstellung deshalb wahrscheinlich ist.

Durch eine Sonderauswertung wird versucht, „höhere“ von den „normalen“ Angestelltengruppen zu unterscheiden, wodurch eine Verbindung mit den (akademisch) gebildeten Selbständigen möglich ist und eine Art „Bildungs- oder Intelligenzmilieu“ kreiert werden kann.

3.5. Beamte (Angestellte, die mittelbar oder unmittelbar im öffentlichen Dienst stehen)

Die gegenständliche Gruppe der Beamten167 umfasst alle nicht manuell tätigen, im weitesten Sinn im öffentlichen Dienst stehenden Personen.

Neben den im Textheft der Volkszählung 1934 unter „öffentlicher Dienst“ genannten Kategorien Bundesverwaltung, Landesverwaltung, Gemeindeverwaltung, Rechtspflege und Strafvollzug, Heerwesen,

166 Freundliche Auskunft von Dr. Norbert Weigl. 167 „Beamter, im weitern Sinn jeder, der gegen Gehalt im Dienst einer Person, eines Gemeinwesens oder einer sonstigen Körperschaft thätig und ständig beschäftigt ist. In diesem Sinn ist wohl auch zuweilen von den Beamten eines Privatmanns, z. B. eines Fabrikbesitzers, eines Bergwerksinhabers, eines Bankinstituts, die Rede. Im engern und eigentlichen Sinn aber versteht man unter einem Beamten den Inhaber eines öffentlichen Amtes und unterscheidet, je nachdem dies Amt ein Hof-, Staats-, Kirchen- oder Gemeindeamt ist, zwischen Hof-, Staats-, Kirchen- und Gemeindebeamten.“ (Meyers Konversationslexikon, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885–1892, Stw. „Beamter“.) 158

religiöse Dienste und ausländische Hoheitsverwaltung werden hier auch Berufskategorien zusammengefasst, die als „staatlich“ oder doch „quasi- staatlich“ angesehen werden. Das wesentliche Kennzeichen dieser Gruppe ist es, dass es keine Selbständigen gibt, sondern ausschließlich Angestellte oder Arbeiter, und dass als Arbeitgeber „der Staat“ oder quasi-staatliche Institutionen wie Sozialversicherungen, Krankenkassen, Kammern etc. fungieren. Deshalb werden zu dieser Gruppe zusätzlich die folgenden Wirtschaftsbereiche und Berufe gezählt: Eisenbahn sowie jeder weitere öffentliche, nicht private Verkehr, Angehörige der Post, Telefon- und Telegraphenverwaltung, Lehrer (von der Volks- bis zur Hochschule) sowie Angestellte von Kammern und Sozialversicherungen – im Grunde also alle Berufe und Dienste, die mittelbar oder unmittelbar der öffentlichen Hand unterstellt waren.168

Allerdings wäre es mehr als problematisch, gegensätzliche Arbeiter- und Angestellten-(Beamten-)gruppen in einen Topf zu werden, die kaum etwas miteinander zu tun haben und gedankenlogisch nur sehr schwer zusammengefasst werden können. Hier künstlich ein einheitliche Gruppe „öffentlicher Dienst“ zu schaffen, würde den Aussagewert stark schmälern. Andererseits ist das Dienstverhältnis zu einem öffentlichen Dienstgeber und somit die besonders starke Loyalitätsbindung an „den Staat“ im weitesten Sinn ein markantes Merkmal, das nicht übergangen werden sollte. Deshalb wird grundsätzlich zwischen öffentlich bediensteten Arbeitern und Angestellten unterschieden; allerdings soll der öffentliche Dienst auch einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden.

168 Vgl. auch Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 495–497. 159

C.2 Arbeiter und andere „Lohnabhängige“ im österreichischen Nationalsozialismus auf Basis von Stichproben aus der NS- Mitgliederkartei (Gerhard Botz)169

C.2.1 Vorbemerkungen

Erste Vorbemerkung: Es ist unter Historikern und Sozialwissenschaftlern konsensual, zwischen dem Nationalsozialismus als (faschistischer) Bewegung bzw. Partei und als Regime klar zu unterscheiden. Deshalb ist hier auch nur von der NS-Bewegung und der NSDAP als Monopolpartei nach der Machtübernahme die Rede, nicht vom Nationalsozialismus als Herrschaftssystem und dessen Politik der Arbeiterschaft gegenüber. Daraus ergeben sich einige weitere Klarstellungen.

Zweite Vorbemerkung: Nationalsozialismus (wie andere Faschismen der Zwischenkriegszeit) ist in seinen öffentlichen und politischen Dimensionen vor allem „männlich“. Das heißt nicht, die Rolle von Frauen darin auszublenden. Im Kontext dieses Referats verwende ich nur dort, wo Frauen besonders hervorzuheben sind, auch die weibliche substantivische Form.

Dritte Vorbemerkung: Als faschistisch seien hier solche extrem-nationalistische Parteien und (weniger straff organisierte) Bewegungen einschließlich ihres organisatorischen Umfelds170 verstanden, die neben ihrer antidemokratischen, antisozialistischen und antikonservativen Programmatik (und Praxis)171 auf eine massenhafte klassenübergreifende Unterstützung abzielten bzw. sie auch erlangten. Zu ihrer typischen Merkmalskombination gehören vor allem:

169 Erstmals veröffentlicht in: Hofmann/Schneider (Hgg.), ArbeiterInnenbewegung und Rechtsextremismus, S. 35–61. 170 Bottomore, Political Sociology, S. 41–58. 171 Ich folge hier vor allem , Some Notes Toward a Comparative Study of Fascism, S. 12 f.; Payne, Fascism, S. 6–14. 160

paramilitärische Organisationsform und militaristischer Habitus, Führerglaube, Gewaltkult und vernichtender Kampf gegen oft biologistisch begründete, gesellschaftlich-kulturell vorhandene und radikalisierte Feindbilder (Anti- semitismus, Fremdenfeindschaft). Dieses Syndrom hat sich, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend, nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in Italien und Deutschland unter dem Einfluss verschiedener politisch-sozialwirtschaftlicher Krisensituationen entwickelt. Faschismus erscheint als „Dritter Weg“, „weder rechts noch links“.172

Vierte Vorbemerkung: Im Faschismus an der Macht vereinen sich neue und alte Eliten, Ordnungsdenken und „revolutionärer“ politischer Veränderungswille, traditionale mit modernen Aspekten der Politik und Herrschaftstechnik, zum politischen Inhalt werdende säkulare Liturgie und wirtschaftlich-technische Effizienz; daraus werden erst der breite, mit Terror kombinierte Konsens und die militärische Expansionskraft faschistischer Regimes erklärbar.

In modernen und relativ liberal-demokratisch verfassten Gesellschaften lässt sich Faschismus, der typologisch an einem Extrem steht, in einem breiten Kontinuum von rechter Politik verschiedener Ausprägungen lokalisieren, das vom traditionellen Rechtskonservatismus über den Rechtsextremismus bis zum voll entwickelten Faschismus reicht. Korporativer oder autoritärer Nationalismus und elitärer Rechtsextremismus sind etwa in der Mitte dieses Spektrums anzusetzen.173

Fünfte Vorbemerkung: In Österreich entspricht außer dem Nationalsozialismus (als Bewegung und Regime) nur die Heimwehr, insbesondere der Steirische Heimatschutz, weitgehend dem Typus Faschismus, während die „Frontkämpfer- vereinigung“ und diverse kleine militante monarchistische oder „völkische“ (Geheim-)Organisationen der Ersten Republik dem Rechtsradikalismus zuzuordnen sind. Der sog. „Austrofaschismus“, die Diktatur Dollfuß’ und

172 Eatwell, Fascism, S. XXVI; Sternhel, Ni droite ni gauche. 173 Ich kann hier dieses Spektrum nicht ausführen und verweise nur auf: Payne, Geschichte des Faschismus, S. 11–33, und Botz, Faschismus und „Ständestaat“. 161

Schuschniggs als Mischform aus Autoritarismus und Korporatismus mit nationalsozialistischen und italienisch-faschistischen Imitaten „Halbfaschismus“ oder „Parafaschismus“174 – und deren christlich-soziale bzw. Heimwehr- Komponenten, bleiben daher außer Betracht. Nationalsozialismus als Kombination von nationalistischen (anti-internationalistischen), integralistisch- völkischen und sozialpolitischen (pseudosozialistischen) Forderungen kann parteientypologisch auch in einer nicht bzw. vor-faschistischen Form auftreten.175

Sechste Vorbemerkung: Nationalsozialismus ist etwas im Zeitverlauf (in Österreich 1903–1945) und über historische Zäsuren hinweg (etwa 1918, 1923, 1933, 1938) nicht gleich Bleibendes. Seine Proteus-ähnliche Wandlungsfähigkeit, die sich nicht nur aus den sich ändernden historisch-gesellschaftlichen Kontexten, sondern auch aus der jeweils unterschiedlichen organisatorischen Verfasstheit und dem politischen Funktionswandel der Mitgliedschaft ergab, macht einen longitudinalen Vergleich schwierig. Dementsprechend sind meine Ausführungen (im Wesentlichen) chronologisch in fünf Abschnitte gegliedert, die jeweils unterschiedliche Sozialprofile der NS-Bewegung bzw. der NSDAP zeigen können.176

Siebte Vorbemerkung: Für das individuelle, in (mikro-)soziale Prozesse eingebundene politische Verhalten bedeutet es nicht das Gleiche, an einer „Bewegung“ nur durch häufige Versammlungsbeteiligung und Eintragung in eine Mitgliederliste teilzunehmen, oder einem durchbürokratisierten Apparat formell mit allen Verpflichtungen beizutreten, oder einer verbotenen Partei in der Illegalität die Stange zu halten, oder aus mehr oder weniger opportunistischen Gründen die Mitgliedschaft in einer Monopolpartei anzustreben und in eine solche

174 Otto Bauer, Der Faschismus, S. 886; Griffin, The Nature of Fascism, S. 120–128; Borejsza, Schulen des Hasses, S. 149–211; meine Position: Botz, Faschismus und „Ständestaat. 175 Botz, Faschismus und Lohnabhängige in der Ersten Republik, S. 111–115; Mommsen, Die NSDAP: Typus und Profil einer faschistischen Partei, S. 24. 176 Botz, Strukturwandlungen des österreichischen Nationalsozialismus (1904–1945); ähnlich, jedoch nicht inhaltlich gleich auch Paxton, The Five Stages of Fascism. 162

aufgenommen zu werden, oder eben nicht und nur Sympathie dieser Partei gegenüber zu zeigen, sie geheim zu unterstützen oder sie zu wählen.

Dementsprechend kann man sich vereinfachend das „Nazi-Sein“ abgestuft vorstellen, was nicht bedeutet, die Disposition zur Verübung von verbreche- rischen Handlungen damit gleichzustellen. Es kann typisierend – gestützt auf quantitative Daten – als eine Stufenpyramide politischen Involviert-Seins, wozu auch quantitative Quellen vorliegen, gedacht werden, in der jeweils von Ebene zu Ebene die sozialen und ideologischen Bindungen und Engagements zunehmen:177

• Wählerschaft,

• Parteimitglieder,

• politische Aktivisten und mittlere Funktionäre,

• Militante (SA, SS, an Gewalttaten Beteiligte) und

• hohes Führungscorps.

Vor allem auf die zweitniedrigste dieser Teilnahme-Stufen, auf die Partei- mitgliedschaft, beziehen sich hier meine Ausführungen. (Wie üblicherweise bei anderen Parteien auch unterscheiden sich diese fünf Kategorien von National- sozialisten je nach Sozial- und Altersprofilen, Geschlecht und regionaler Herkunft etc. beträchtlich, was bei dem hier auf die NSDAP-Mitgliedschaft fokussierten Blick nur angedeutet werden kann.)

Achte Vorbemerkung: Arbeiter“ verstehe ich hier im Sinne des mittel- europäischen alltagssprachlichen Gebrauchs, der auch die Volkszählungen, Staats- und parteibürokratischen Akte und in einem hohen Maße auch die Selbstverständnisse der Parteimitglieder geprägt hat, bzw. eher von solchen Ordnungsinstanzen und Standardisierungsprozessen erst geschaffen wurde.178

177 Vgl. hierzu Duverger, Political Parties, S. 90–115. 178 Analog zu den „Angestellten“ (Botz, Angestellte zwischen Ständegesellschaft, Revolution und Faschismus) folge ich hier vor allem dem Modell „Jugend“ bei Mejstrik, Totale Ertüchtigung und spezialisiertes Vergnügen. 163

Dennoch kann man nicht einfach annehmen, dass das „Bild“ vom „Arbeiter/von der „Arbeiterin“ in der österreichischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirklich homogen gewesen ist. (Dies bedeutet auch, dass die zur Analyse des Nationalsozialismus herangezogene Kategorie „Arbeiter“ selbst fließend ist; sie unterschied sich im Nationalsozialismus und bei „völkischen“ und deutschnationalen Gruppierungen mehr oder weniger von marxistischen oder ständisch-konservativen Begriffen des „Arbeiters“.)179

Neunte Vorbemerkung: Die sozialistischen und kommunistischen Arbeiter- bewegungen beanspruchten von ihrem Selbstverständnis und ihren Gründungs- konstellationen her – in Österreich und Deutschland weitgehend sozial- geschichtlich zu Recht – politisch-sozial die „Arbeiter“ bzw. die „Arbeiterklasse“, und besonders die Industriearbeiterschaft, zu repräsentieren. Da sich nicht auf Dauer verleugnen ließ, dass Arbeiter und andere Angehörige der „Arbeiterklasse“ in den Sog des Faschismus geraten waren,180 stellte sich die ältere Faschismus- forschung immer wieder die Frage nach dem Ausmaß der Anziehung von verschiedenen Kategorien von „Lohnabhängigen“ insbesondere durch den Nationalsozialismus sowie nach den Ursachen hierfür. Dies war in der Tat solange ein schier unlösbares Problem, als der oben erwähnte Monopolanspruch sozial-

179 Ein hier nicht auszuführendes Problem von eminenter Bedeutung zur Positionsbestimmung von wie immer definierten Berufsgruppen und deren Einschätzung ihrer quantitativen Stärke/Schwäche ist das Gesellschaftsmodell, das diesem Vergleich (auch mit den anderen Parteien) zugrunde gelegt wird. Ich habe hier, ausgehend von der Volkszählung 1934 als Vergleichsbasis für eine Unter- suchung über die nationalsozialistische Partei, aufgrund von deren Sozialcharakteristik, nicht die Gesamtbevölkerung, sondern die Zahl der Erwerbspersonen („Berufsträger“) ohne mithelfende Familienmitglieder, Lehrlinge, Hauspersonal und Hausfrauen genommen und als „Gesamt- gesellschaft“ bezeichnet. Dies bedeutet eine Konzentration der Vergleichspopulation auf die Erwachsenen und einen Teil der berufstätigen Jugendlichen (und die Studenten). Es ist klar, dass die Antworten auf die Fragestellungen dieses Beitrages immer auch von dieser Vorentscheidung abhängen. 180 Siehe allg. viele der informativen einzelnen Beiträge in: Ardelt/Hautmann (Hgg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich; hierin auch mein Beitrag: Arbeiterschaft und österreichische NSDAP-Mitglieder (1926–1945), dem ich hier oft folge. Hier und bei Botz, Strukturwandlungen des österreichischen Nationalsozialismus (1904–1945) auch weitere Anmerkungen und Quellennachweise. 164

deterministisch gerechtfertigt und dem Faschismus generell und dem National- sozialismus im Besonderen ein mehr oder weniger „bürgerlicher“ und/oder „kleinbürgerlicher“ Sozialcharakter zugeschrieben wurde. Dies gilt nicht mehr für die jüngere von kulturgeschichtlichen, handlungs- oder einstellungsorientierten oder epochenspezifischen Erklärungsansätzen inspirierte Faschismusforschung, die seit den 1990er Jahren vor allem bei angelsächsischen Autoren vertreten wird.181 Ja, die Suche nach einer spezifischen sozialstrukturellen Basis des Faschismus scheint vielen heute problematisch, und anderen „historischen Tatsachen“ wie „Männlichkeit“, „Jugendlichkeit“ oder generationenspezifischer „Prägung“, sozialmoralischen Milieus und lokalen Umständen, aber auch ideologischen und kulturellen Faktoren wird ein größerer Erklärungsgehalt beigemessen.182 Vor allem wird auch auf die regionale und zeitliche Variabilität der Erfolgs- und Resistenzkriterien beim Aufstieg der einzelnen faschistischen Bewegungen mehr Gewicht gelegt, so dass kaum mehr von dem Faschismus oder Nationalsozialismus und dessen „sozialer Basis“ im Singular oder als zeitübergreifender Konstante gesprochen wird (siehe sechste Vorbemerkung).183 Dennoch oder gerade deswegen können auch „alte“ Fragen nach den Sozialstrukturen des Nationalsozialismus (und anderer Faschismen) aus

181 Sven Reichardt, Was mit dem Faschismus passiert ist; Griffin, Nazism’s „Cleansing Hurricane“ and the Metamorphosis of Fascist Studies. Umfassender Überblick: Griffin/Feldman (Hgg.), Fascism; global vergleichend: Stein (Hg.), Fascism Outside Europe; darin vor allem: Eatwell, Universal Fascism? Reichardt, Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung; Gentile, Der Faschismus; Pinto, Back to European Fascism. 182 Griffin, Roger: The Nature of Fascism; Reichardt, Neue Wege der vergleichenden Faschismus- forschung, S. 385 f.; Hanisch, Bäuerliches Milieu und Arbeitermilieu in den Alpengauen. Eine konsequente und überzeugende Anwendung des Milieumodells (Lepsius, Extremer Nationalismus) bei Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeiterbewegung. 183 Siehe bereits Botz, The Changing Patterns of Social Support for Austrian National Socialism (1918–1945). 165

historischer oder soziologischer Perspektive in neuem Lichte gestellt und beantwortet werden.184

C.2.2 Vorfaschistischer Nationalsozialismus als Angestellten- und Beamtenpartei (1903–1920)

In Österreich reicht der Nationalsozialismus organisatorisch an die Zeit um 1900 zurück, als in Nordböhmen die „Deutsche Arbeiterpartei“ (DAP) entstand. Ihre Entstehungsbedingungen waren durch eine Überlagerung der industriellen Konflikte in einer ungleichmäßig fortgeschrittenen industriell-kapitalistischen Gesellschaft durch spezifische nationale Probleme dieser Region gekennzeichnet.185 Die überwiegend deutschsprachigen Facharbeiter, Angestellten und öffentlich Bediensteten der böhmischen Randgebiete standen nicht nur im ökonomischen Gegensatz zu den besitzenden und leitenden Klassen, sie sahen sich häufig vor allem seitens der Tschechen durch die Zuwanderung, auf dem Arbeitsmarkt, im Betrieb, in der politischen Arena (Sprachenpolitik) und in ihrer sozialen Geltung in einer drohend empfundenen Konkurrenzsituation, die von der verspätet vom Industrialisierungsprozess erfassten und weniger qualifizierten Arbeiterschaft der böhmischen Kerngebiete ausging. Für einen Teil der deutsch- sprechenden Bergleute, Textilarbeiter, Eisenbahner, Handlungsgehilfen, Beamten dieser nationalen und sozialen „Kampfzone“ stand daher, anders als für die prinzipiell (nicht so sehr in der Praxis) international orientierte sozialdemo- kratische Arbeiterbewegung, die nationale Frage im Zentrum ihrer wirtschaftlich- sozialen Interessenwahrnehmung. Die seit den 1890er Jahren entstehenden deutschnationalen „Arbeiter“-Verbände innerhalb des deutschnational-

184 Mann, Fascists; Paxton, Anatomie des Faschismus; auch Paxton, The Dark Side of Democracy. 185 Zum Kontext mit den tschechischen Vereinen und Parteien siehe vor allem: MaliY, Die Parteien in Mähren und Schlesien und ihre Vereine; siehe auch: Pokorny, Vereine und Parteien in Böhmen. 166

“völkischen“ Parteienspektrums186 suchten daher gegen ihre nationalistischen Mitstreiter aus den bürgerlichen Schichten spezifische Arbeitnehmer-Interessen und gewerkschaftliche Ziele einerseits mit klassenharmonischen Standpunkten und andererseits mit dem Festhalten an der gemeinsamen deutschnationalen und deutsch-“völkischen“ Programmatik zu vereinen.

Diese deutschsprachigen Arbeitnehmer – würde man heute sagen – scheinen vom internationalistischen und klassenkämpferischen Sozialismus keine unmittelbare Vertretung ihrer sozialpolitischen Interessen erwartetet zu haben, effizienter war es für sie, Sozialprotektionismus durch nationalen Protektionismus anzustreben.187 1903/04 griffen daher Führer dieser deutschnationalen Gewerkschaften zur besseren Absicherung ihrer Interessen auf die Politik das auf und gründeten eine eigene Parteiorganisation. Dieser parteipolitische Arm der „völkischen“ Gewerk- schaften war die DAP.188 In ihr lag schon in nuce jenes ideologische und interessenpolitische Grundmuster vor, aus dem später unter den Bedingungen der Nachkriegszeit, etwa auch in Bayern und in Norditalien, faschistische Bewegungen entstehen sollten.

Die DAP, die Anfang 1918 die Bezeichnung „nationalsozialistisch“ in den Parteinamen aufnahm und sich sodann „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiter- partei“ (DNSAP) nannte, blieb eine Splitterpartei, die nur allmählich im Gebiet der späteren österreichischen Republik Fuß fassen konnte. Bei den Reichsrats- wahlen von 1911 erreichte sie mit rund 26.000 Stimmen in der ganzen österreichischen Reichshälfte einen Bruchteil der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Ihr Parteiprogramm enthielt neben deutschnationalen und antisemitischen auch zahlreiche demokratische und sozialreformerisch- antikapitalistische Forderungen, so dass die DAP (und später die DNSAP) im

186 Am umfassendsten: Höbelt, Kornblume und Kaiseradler, und: Judson, Exclusive Revolutionaries. 187 Ähnliches wurde auch für den italienischen Frühfaschismus Mussolinis festgestellt: Sternhel/Sznajder/Asheri, Die Entstehung der faschistischen Ideologie, S. 270 f. 188 Nunmehr: Wladika, Hitlers Vätergeneration, S. 516–576. 167

Spektrum der österreichischen Parteien nicht allzu weit vom rechten, deutsch- nationalen Flügel der Sozialdemokratie Engelbert Pernerstorfers oder Franz Schuhmeiers einzuordnen ist. Als faschistisch im eigentlichen Sinn kann sie noch nicht bezeichnet werden. Auch in sozial-klassenmäßiger Hinsicht haben Führungsschicht und Wählerschaft der DNSAP eine Mittelposition zwischen der Sozialdemokratie und den bürgerlich-liberalen Parteien eingenommen.

1918 spalteten die neuen Staatsgrenzen die DNSAP in drei Teile, in einen größeren, in der Tschechoslowakei weiterhin agierenden Zweig, in einen auf Polen entfallenden kleinen Splitter und in eine deutschösterreichische Partei- organisation. Das bedeutete eine empfindliche Schwächung der national- sozialistischen Partei in Österreich, was sich auch in den Wahlergebnissen zeigte. Unter ihrem neuen Führer Dr. Walter Riehl erlangte sie 1919 in der österreichi- schen Republik nur rund 23.000 (oder 0,78 Prozent der abgegebenen) Stimmen. Auch während der beiden folgenden Jahre trat keine wesentliche Verschiebung in der Attraktivität und der Berufs- und Klassenstruktur der DNSAP ein. Ob diese österreichische alte nationalsozialistische Partei „der eigentliche Vorläufer“ auch der deutschen Nationalsozialisten war, wird unterschiedlich beurteilt. Während diese These etwa der deutsche Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher betont, lehnt der amerikanische Historiker George L. Mosse eine solche, „die Schuldenlast auf die unter österreichischer Herrschaft stehenden Grenzgebiete“ abwälzende These ab.189 Ich selbst folge der ersteren Antwort, wobei eher ein indirekter Transfer von Ideen auf das Nachkriegs-München und die von Wien her gegebene Vertrautheit Hitlers mit der „völkischen“ Parteienlandschaft Österreichs anzunehmen sind.190

189 Mosse, Die völkische Revolution, S. 277; gegenüber: Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 53–59, und Jagschitz, Die Nationalsozialistische Partei, S. 231. 190 Siehe dazu allg.: Hamann, Hitlers Wien. Ich folge hier und in den Abschnitten 2 bis 5 weit- gehend meinen Aufsätzen: Strukturwandlungen, S. 163–193; Quantitative Analyse der Sozial- und Alterstruktur der österreichischen NSDAP-Mitglieder (1926–1945), S. 63–72 (hier auch allg. Literatur- und spezifische Quellenangaben). Auch Mann, Fascists, S. 139–176 folgt meinen Einschätzungen und vertieft sie. 168

C.2.3 „Entwurzelte“ und jugendliche Gewaltbereitschaft im NS-Früh- faschismus (1921–1926)

Erst im weiteren Verlauf der Geschichte der Ersten Republik wurde die DNS AP zur Keimzelle des Nationalsozialismus Hitlerscher Richtung in Österreich, die sich nach mehrfachen Krisen und Spaltungen als „NSDAP-Hitlerbewegung“ schließlich auch organisatorisch ausgliederte und später anwachsend die übrigen nationalsozialistischen Splittergruppen wieder aufsog. Entscheidend für die weitere Entwicklung des österreichischen Nationalsozialismus wurde, dass ihre Führer schon Ende 1919 beschlossen, mit ausländischen Nationalsozialisten, vor allem mit den deutschen, Kontakt aufzunehmen, und 1920 bis 1922 diesen in einer intensiven Zusammenarbeit fortsetzten.

In dem Maß, wie sich Hitler im bayrischen Nationalsozialismus durchsetzte, wurde auch der deutsche Einfluss innerhalb der österreichischen Partei stärker. Die soziale Hauptursache dafür ist – neben den Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und des Zerfalls des habsburgischen interdependenten Wirtschafts- raumes – in der nach dem Ende der Inflation von Bundeskanzler Seipel durchgeführten „Genfer Sanierung“ zu sehen, die zu Massenentlassungen von Beamten und Angestellten und zu einem sprunghaften Ansteigen der Arbeits- losigkeit führte. Die Unzufriedenheit des „neuen Mittelstandes“ hat im selben Zeitraum den raschen Anstieg der nationalsozialistischen Bewegung mitbedingt. Angeblich zählte die nationalsozialistische Partei Mitte 1923 34.000 ein- geschriebene Mitglieder, ihrer mit deutscher Hilfe organisierten paramilitärischen „Ordnertruppe“ gehörten angeblich 9800 Mitglieder an und es gab eine durch Antisemitismus und Gewaltaufforderungen hervorstechende NS-Tages- und - Wochenpresse. Eine Beteiligung an Wahlen lehnte die Mehrheit der NS- Funktionäre, der Münchner putschistischen Taktik folgend, in dieser Phase ab.

In diesen Jahren verzeichnete der österreichische Nationalsozialismus einen Schub von durch die Proletarisierung betroffener Krisen-Absteiger. Vor allem war 169

auch ein Zustrom von Schülern und Lehrlingen, die von der Arbeitslosigkeit bedroht waren, und von Studenten zu beobachten, die, durch den Weltkrieg „entwurzelt“, vielfach erst ihr Studium begonnen hatten, als ihre beruflichen Erwartungen durch die Nachkriegskrise zusammenbrachen. Lehrer, Schulvereins- mitglieder und „deutsche Turner“ spielten bei der Gewinnung der Jugend für den Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Neben ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren, die trotz ihres meist jungen Alters in der republikanischen Armee keine Aufnahme fanden, waren es gerade die zuletzt genannten Gruppen, die zu den aktivsten Mitgliedern des frühen Faschismus aller Richtungen, nicht nur des Nationalsozialismus, wurden. Daher sank das Durchschnittsalter dieser frühfaschistischen militanten Nationalsozialisten auf etwa 23 Jahre (!). Auch bestanden in dieser Zeit enge personelle und teilweise auch organisatorische und ideologische Verknüpfungen mit rechtsradikalen Gruppen des katholisch- konservativen „Lagers“ wie der „Ostara“ und der „Frontkämpfervereinigung“.

Von besonderer Bedeutung für den frühen Nationalsozialismus in Österreich blieben weiterhin die „völkischen“ Gewerkschaften, mit denen Nationalsozialisten und andere deutschnationale Berufs- und „Standes“-Verbände kooperierten. Die einzelnen parteipolitisch unabhängigen „nationalen“ Gewerkschaftsorganisationen waren im „Deutschen Gewerkschaftsbund für Österreich“ zusammengefasst. Zusammen zählten diese Gewerkschaften nach einem steilen Mitgliederanstieg schon 1923 über 45.000 Mitglieder, und erreichten 1928 ihr Maximum mit 51.247 Mitgliedern. Sie erfassten damit allerdings nur etwa 5 Prozent der Gewerkschafts- mitglieder aller politischen Richtungen. Die deutschnationalen Gewerkschaften waren zunächst ein vorrangiges Rekrutierungsfeld des frühen Nationalsozialismus in Österreich, woraus die weiterhin anhaltende besondere Dominanz der Angestellten und Eisenbahnbeamten in seinen Reihen resultierte.191 Dies ist ein markanter Unterschied des österreichischen Nationalsozialismus von seinem deutschen Pendant.

191 Botz, Gerhard: Das Organisationsverhalten der österreichischen Angestellten (und Beamten) von 1880 bis 1938, S. 255–284. 170

Der in Österreich schon vor dem Münchner Hitlerputsch einsetzende innere Zerfall des Nationalsozialismus und die allmähliche Besserung der wirtschaft- lichen Lage wirkten sich auch in Österreich in einem Mitglieder- und Anhänger- verlust der Parteiorganisation aus. Nachdem noch die Abspaltung des langjährigen Parteiobmannes Walter Riehl, der 1924 eine eigene, bedeutungslose Gruppe, den „Deutschsozialen Verein“, gründete, ohne tiefere Auswirkungen geblieben war, kam es im Mai 1926 zur endgültigen Spaltung des österreichischen National- sozialismus in eine Gruppe um den Parteiobmann Karl Schulz und in eine Gruppe unter Hitlers Führung. Behielt erstere den alten Parteinamen und eine gemäßigte Orientierung bei, so band Hitler seine Anhänger streng an die Münchner Parteileitung und an deren politische Grundsätze. Er gab seiner Partei die Bezeichnung „NSDAP Österreichs (Hitler-Bewegung)“. Zahlenmäßig zunächst annähernd gleich stark, erlangte die Hitlerbewegung in den folgenden Jahren ein immer stärkeres Übergewicht. Mit Hitlers innerparteilicher Machtübernahme in Österreich ging auch die Aufgabe des Anspruchs der österreichischen NSDAP einher, primär eine Arbeiterpartei zu sein. Hitler setzte seine Meinung von einer „volksparteiartigen“ Bewegung, die nunmehr voll die faschistischen Merkmale zeigte, durch.192

Schulz dagegen vertrat weiterhin die Meinung, dass die nationalsozialistische Partei, deren Mitglieder zum größten Teil „Lohnabhängige“ und in den „völkischen“ Gewerkschaften organisiert seien, mit diesen zusammenarbeiten müsse. Seine Richtung vertrat in der Folge immer schwächer werdend den Arbeitnehmerflügel des österreichischen Nationalsozialismus, während die Hitlerbewegung vor allem auch selbständige „Mittelständler“ anzog.

Die Heimwehr, die sich nach 1927 weniger aus unmittelbar wirtschaftlichen denn sozialpsychologischen Gründen (bürgerliche Angstpropaganda nach dem Justizpalastbrand und den Unruhen des 15. Juli 1927 in Wien) und wegen der von

192 Umfassende Darstellung hierzu und zu vielen Bereichen: Pauley, Der Weg in den Nationalsozialismus; vgl. dazu auch: Carsten, Faschismus in Österreich; Jagschitz, Der Putsch; Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938. 171

einheimischen Unternehmern und von Italien und Ungarn verstärkt erfolgenden Unterstützung stürmisch entwickelte, war bis Ende der zwanziger Jahre eine wirkungsvolle Konkurrenz, die einen Massenaufschwung der NSDAP verhinderte. Sie saugte als „Volkspartei“ nicht nur einen Teil der früher nationalsozialistischen Anhänger, vor allem Arbeiter in der Oststeiermark, ab, sondern blockierte auch die Ausdehnung der Nationalsozialisten auf die ländlichen Gebiete, solange die Heimwehr eine noch ungebrochene Bewegung war.193

C.2.4 Aufstieg zur Massenbewegung und Verbreiterung des sozialen Profils (1927–1932)

Obwohl sich die NSDAP (Hitler-Richtung) schon 1926/27 organisatorisch zu festigen begann, erreichte sie bei den Nationalratswahlen des Jahres 1927, gemeinsam mit einer anderen deutschnationalen Splittergruppe als „Völkischsozialer Block“ auftretend, nicht einmal das Ergebnis der DNSAP von 1919/1920. Auch als die Weltwirtschaftskrise Österreich erfasst hatte und jeder zehnte Erwerbsfähige arbeitslos war, erreichte sie bei den Nationalratswahlen 1930 und bei den Landtagswahlen in Oberösterreich 1931 nur knapp 3 Prozent.

Doch als der Putschversuch des Steirischen Heimatschutzes unter Walter Pfrimer am 13. September 1931 gescheitert war und schon jeder fünfte Österreicher einen Arbeitsplatz suchte, erhielt die NSDAP verstärkten Auftrieb. Zudem wurde sie durch einen von Hitler entsandten Emissär, Theo Habicht, nach deutschem Vorbild reorganisiert, was ihre Schlagkraft weiter erhöhte. Der entscheidende Durchbruch zur Massenpartei gelang ihr jedoch erst bei den Landtags- und Gemeinderatswahlen im Jahre 1932, bei denen insgesamt zwei Drittel der Wahlberechtigten Österreichs zu den Urnen gingen. Bei diesen Landtagswahlen erreichte die NSDAP in den Bundesländern Wien, Niederösterreich, Salzburg

193 Wiltschegg, Die Heimwehr; Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz; Schneeberger, Sozialstruktur der Heimwehr in Oberösterreich. 172

sowie Vorarlberg zusammen immerhin rund 16 Prozent, allerdings nur halb so viele wie im Deutschen Reich im selben Jahr. Das NSDAP-Wachstum in Österreich hinkte etwa zwei Jahre dem in der Weimarer Republik insgesamt hinterher, in dieser Hinsicht glich es eher dem Muster, das sich auch in den katholischen Gebieten Deutschlands, insbesondere in Bayern, zeigte.

Dieser dennoch beachtliche Wahlerfolg ist auf beträchtliche Wählerwanderungen zurückzuführen. Obwohl diese zwischen Wien und der „Provinz“ stark differierten, kann man ein gemeinsames Muster feststellen. (Verschiebungen von Wähler- und Nicht-Wähler-Potentialen haben dabei eine geringe Rolle gespielt). Eine neuere wahlanalytische Untersuchung des deutschen Historikers Dirk Hänisch194 hat zu einem großen Teil die Ergebnisse früher195 Wahlanalysen präzisiert.196

Zunächst gelang es dem Nationalsozialismus, den größten Teil der Wähler der Partei des deutschnational-liberalen städtischen Bürgertums, der „Großdeutschen Volkspartei“, und einen beträchtlichen Teil der deutschnationalen Bauernschaft, des „Landbundes“, aufzusaugen, ein Trend, der sich bis 1933 in Süd- und Westösterreich fortsetzte, ohne jedoch zu einem stärkeren Einbruch in die katholisch-konservative Landbevölkerung zu führen.

Sodann ist dem Nationalsozialismus, allgemein gesehen, kein wirklich umwälzender Einbruch in den christlichsozialen „Mittelstand“ und in die sozialdemokratische Arbeiter- und Angestelltenschaft gelungen. Wo allerdings auf regionaler Ebene eines der beiden großen politisch-kulturellen Lager zahlenmäßig, organisatorisch und ideologisch schwach vertreten war und sich nicht auf eine starke oder ungebrochene politische „Lager“-Subkultur stützen konnte, gelangen dem Nationalsozialismus auch Einbrüche in das katholisch- konservative „Lager“ und in die Sozialdemokratie. Daher gingen die national-

194 Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler, S. 235 ff. 195 Simon, The Political Parties of Austria, New York 1957, S. 153 ff.; siehe auch: Robert Danneberg, Die Wietier Wahlen 1930 und 1932, Wien 1932. 196 Vgl. Botz, Austria. 173

sozialistischen Wahlgewinne in einigen großen Städten und in Wien stark auf Kosten der Christlichsozialen und in den schwach oder nicht industrialisierten Gebieten und Städten im ländlichen Umfeld auch stark auf Kosten der Sozialdemokratischen Partei. Nicht zufällig ist es, dass auch noch nach 1945 der Anteil der ehemaligen Nationalsozialisten unter den SPÖ-Funktionären in Tirol, Kärnten, in der Steiermark und in Vorarlberg bedeutend höher als in Wien war.197

Schließlich ging die in Auflösung begriffene Heimwehr zum Teil und wiederum in regional stark wechselndem Ausmaß zum Nationalsozialismus über, und zwar überall dort, wo deutschnationale Tendenzen schon immer stark gewesen waren, also vor allem in Südösterreich.198 Auch Protestanten, die 1934 in ganz Österreich nur 4,4 Prozent der Bevölkerung ausmachten, tendierten überdurchschnittlich stark zum Nationalsozialismus, was allerdings nicht wahlentscheidend war.

Obwohl keine bundes- oder landesweiten Wahlen in dem zunehmend diktatorisch regierten Österreich durchgeführt werden konnten, kann man sagen, dass der Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise weiterhin zugenommen hat. Am größten war sein Erfolg in den gesellschaftlich relativ modernisierten Gebieten vor allem der Steiermark und Kärntens, teils auch in Wien. Besonders fasste er in solchen städtisch- und ländlich-industriellen Gebieten Fuß, die einerseits aufgrund ihrer „alten“ Industrien und ihrer Branchen- struktur stark krisenanfällig waren und andererseits in einem sozialstrukturellen Nahe-, wenn nicht Mischungsverhältnis mit besonders traditionellen agrarischen Gebieten standen; hier traten auch soziale und politische Konflikte häufig besonders gewaltsam auf. Schlagendes Beispiel hierfür ist die Obersteiermark.

Es ist nicht überraschend, dass mit diesem raschen Wachstum auch eine Wandlung des sozialen Charakters der NSDAP einherging. Das vorläufige Ergebnis meiner Untersuchung zur berufssozialen Gliederung der NSDAP ist in

197 Sottopietra/Wirth, Ehemalige NationalsozialistInnen in der SPÖ, S. 274 f. 198 Siehe: Elste/Hänisch, Auf dem Weg zur Macht; Falter/Hänisch, Wahlerfolge und Wählerschaft der NSDAP in Österreich 1927 bis 1932; Albrich/Meixner, Zwischen Legalität und Illegalität; Botz/Müller, „Zentren und Peripherien“ im Lichte von Wahlergebnissen der Ersten Republik. 174

vereinfachter Form als Säulendiagramm (siehe Grafik auf der folgenden Seite) dargestellt.199 Das Sozialprofil der Österreicher, die der NSDAP beitraten, variierte in den verschiedenen Zeitabschnitten (horizontal verglichen) stark (die Blöcke der NS-Beitretenden sind dementsprechend unterschiedlich breit dargestellt), so dass man kaum von einer gleichbleibenden Sozialstruktur der NSDAP sprechen kann. Damit korrespondiert die Beobachtung, dass die einzelnen Mitglieder bis 1938 selbst ungeheuer stark fluktuierten. So verließen vor 1938, d.h. bevor die Machtübernahme eine starke politische Kontrolle auch über die eigenen Parteimitglieder legte, schon nach kurzer Zeit wieder 40% die NSDAP, um zum Teil bald aufs Neue wieder einzutreten.

199 Botz, Strukturwandlungen, S. 185. Das Stichprobenverfahren ist dargelegt in meinem Beitrag: Die österreichischen NSDAP-Mitglieder. Allg. siehe auch: Jagschitz, Der Putsch, S. 20–43; Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich (1933–1938. 175

Grafik: Berufssoziale Gliederung der in die NSDAP Eintretenden zwischen 1926 und 1945

(Die Sozialstruktur bezieht sich nur auf Erwerbstätige und Studenten. Die Breite der Säulen entspricht der Anzahl der im jeweiligen Zeitraum bzw. zum fiktiven Aufnahmedatum beigetretenen NSDAP-Mitglieder. Die Säule ganz rechts symbolisiert als Vergleichswert die Sozialstruktur aller Erwerbstätigen in Österreich nach der Volkszählung 1934.)

Quelle: Berechnungen nach eigener Zufalls-Stichprobe (n = 1264) aus der großen Mitgliederkartei im BDC 1976/77, heute im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde.

Beim Vergleich mit der berufssozialen Gliederung der Gesamtbevölkerung fällt auf, dass unter den Mitgliedern bis 1932 Privatangestellte und öffentlich Bedienstete um mehr als das Zweifache und Freiberufler und Studenten noch um ein Vielfaches überrepräsentiert waren. 1933 begannen sich diese Verhältnisse eher auszugleichen oder umzukehren. Im selben Zeitraum nahmen die Anteile der Selbständigen und der Bauern, die anfangs stark unterrepräsentiert waren, zu. 176

Aber auch der Anteil der nichtagrarischen Handarbeiter stieg mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage, um während der Dauer der Krise relativ hoch, jedoch immer unter dem Arbeiteranteil in der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung (ohne mithelfende Familienangehörige 1934 rund 50 Prozent)200 zu bleiben. Es wäre daher falsch, den österreichischen Nationalsozialismus in der Phase, in der sich seine Mitgliedschaft in einer relativ freien sozialen Dynamik entwickeln konnte, als Partei des selbständigen Kleinbürgertums, oder gar als Arbeiterpartei201 zu bezeichnen. Dennoch war, für sich betrachtet, auch der Arbeiteranteil unter den NS-Mitgliedern aller Teilperioden mit 18 bis 31% beträchtlich hoch.202 Eher war die NSDAP in ihrer Früh- und Aufstiegsphase eine

Partei der Angestellten und öffentlich Bediensteten, vor allem bei Bahn und Post, mit einer kräftiger werdenden alt-mittelständischen Komponente (Selbständige). Auch für eine Charakterisierung als umfassende Volkspartei im eigentlichen Sinn fehlten entsprechende Bauern- und Industriearbeiteranteile.

Über die sozialen Ursachen und kollektiven Motivationen des Zustroms zum Nationalsozialismus lassen sich noch kaum präzisere Aussagen machen. Verfehlt erschiene es jedoch, das NS-Mitgliederwachstum der direkten Wirkung von Arbeitslosigkeit zuzuschreiben, etwa in der Form, dass Arbeitslose generell in Massen in die NSDAP geströmt seien, gleich ob sie arbeitslose Industriearbeiter, Handwerker, Angestellte oder entlassene Beamte, Menschen kurz vor ihrer Pensionierung oder junge Leute, die überhaupt noch niemals einen festen Arbeitsplatz erlangt hatten, waren. Allerdings waren diejenigen Arbeiter und Angestellten, die erst in dieser Phase NSDAP-Mitglieder wurden, tatsächlich häufig arbeitslos.

200 Ich gehe von einem Vergleichswert der Arbeiter in der Gesamtgesellschaft von 53,5% der Erwerbstätigen aus, während Faßmann, Der Wandel der Bevölkerungs- und Sozialstruktur in der Ersten Republik, S. 19 einen Arbeiteranteil von 47,4% von den Berufstätigen des Jahres 1934 annimmt. 201 Vgl. Bauer, Arbeiterpartei? 202 Vgl. auch: Kirk, Nazism and the Working Class in Austria, S. 29 f. 177

Viel deutlicher ist die NSDAP bis in die 30er Jahre allerdings als Männerpartei und als Jugendpartei, eigentlich als Partei junger Männer zu charakterisieren, ein Bild, das sich in abgeschwächter Form auch in ihrer Wählerschaft findet. So betrug der Frauenanteil – im Gegensatz zum vorfaschistischen alten National- sozialismus203 – bis 1932 unter den der Partei Beitretenden nur 6 bis 8 Prozent, und auch 1933 war er nicht größer als 12 Prozent. Unter den „Illegalen“ erreichte er bereits 28%, um ab 1943 auf 36% anzusteigen. Bei den Wahlen lagen die Prozentsätze der Frauen, die die NSDAP wählten, jeweils deutlich unter denen der Männer. Bei den Nationalratswahlen 1930 votierten um fast ein Drittel weniger Österreicherinnen als österreichische Männer für die damals noch relativ kleine NSDAP, bei den Landtagswahlen 1932 war dieser geschlechtsspezifische Abstand in Wien auf ein Sechstel, und in Oberösterreich und Salzburg auf etwa ein Viertel geschrumpft. Diese Geschlechterdifferenz im Wahlverhalten war in den städtischen Zentren immer kleiner als in ländlichen Gebieten.204

Die durch vielfältige Quellen belegte Jugendlichkeit der NS-Bewegung – vergleichbar nur mit jener der Kommunisten205 – kommt darin zum Ausdruck, dass über 52% aller NSDAP-Mitglieder (gegenüber 30% in der über 18-jährigen Bevölkerung) zum Zeitpunkt ihres Parteieintritts erst 30 Jahre alt oder jünger waren. Nahezu 80% aller Neu-PGs waren maximal vierzigjährig. Ältere PGs machten nur 20% aller Mitglieder aus. Das arithmetische Mittel der NSDAP- Beitretenden zwischen 1926 und 1933 betrug daher nur rund 32 Jahre. Die Altersstruktur der neuen NSDAP-Mitglieder verschob sich jedoch in den folgenden Jahren fast entsprechend dem Fortschreiben der Jahre nach oben, um erst wieder nach 1942 zu sinken. Vor allem solche Männer, die zwischen 1894 und 1903 bzw. 1904 und 1913 geboren waren, wurden vom Nationalsozialismus, seit er seine faschistische Dynamik erlangt hatte, besonders angezogen. Gerade

203 Diese Einschätzung ergibt sich aus einer Liste der KandidatInnen der DNSAP. 204 Allg. Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler, S. 239–252; eigene Berechnungen nach den Daten auf S. 426 f. 205 Siehe Jagschitz, Anhaltelager, S. 150; Merkl, Comparing Fascist Movements, S. 768. 178

diese Jahrgänge waren es auch, die in der unmittelbaren Vorkriegszeit und während des Ersten Weltkrieges („Kriegsgeneration“) oder erst nach 1918 („Nachkriegskriegsgeneration“) die wesentlichen Phasen ihrer Persönlichkeits- bildung und politischen Sozialisation durchlaufen hatten. Bei den einen hatten patriotische Begeisterung und das „Fronterlebnis“ die ideologische Bereitschaft für jenes Syndrom geweckt, das mit „Volksgemeinschafts“-Ideologie umschrieben wird.206 Bei den anderen dürften der Schock des Zusammenbruchs der alten Ordnungen, Revolutionsangst und nationale Konflikte prägend geworden sein. Generell waren der „Kult der Gewalt“ und das Überwiegen militärischer Lebensformen in der Jugendkultur der zwanziger Jahre günstige Voraussetzungen für dieses rapide Anwachsen des Faschismus.

C.2.5 Ländliche arbeitslose „Burschen“207 und desorientierte städtische Arbeiter in der illegalen NSDAP (1933–1938)

Nach der Machtübernahme im Deutschen Reich führte die gesteigerte national- sozialistische Terrortätigkeit am 19. Juni 1933 zum Verbot der NSDAP und ihrer Gliederungen in Österreich. Ein Großteil der Parteiführer und der Militanten flüchtete nach Bayern, ein Teil auch nach Jugoslawien, und setzte von dort aus seine Tätigkeit fort; deshalb wurden 11.000 illegale Nazis vom „Christlichen Ständestaat“ ausgebürgert. Über 10.000 geflohene NS-Aktivisten – nach deutschen Angaben gab es sogar 35.000 bis 40.000 ins „Reich“ geflüchtete Österreicher mit ihren nachkommenden Angehörigen – wurden in Deutschland als „Österreichische Legion“ in SA-Einheiten zusammengefasst und versuchten von dort aus terroristisch und paramilitärisch das österreichische autoritäre Regime zu

206 Merkl, Political Violence Under the Swastika, vor allem S. 668–678; Merkl, The Making of a Stormtrooper, S. 107–119. 207 Ich folge hier einer Bezeichnung Bauers, Elementar-Ereignis; ähnlich auch: Klösch, Des Führers heimliche Vasallen. 179

destabilisieren, was im Vorfeld des Juliputsches besonders relevant wurde.208 In Österreich konnte die illegale NSDAP bald wieder ihre durch das Betätigungs- verbot eingetretene organisatorische Schwäche überwinden. Am 25. Juli 1934 kam es, von der Wiener SS ausgehend, zu einem Putschversuch, bei dem Bundeskanzler Dollfuß ermordet wurde.209 In der Steiermark und in anderen Bundesländern im Süden und Westen brachen parallel oder verspätet anlaufende Aufstände der illegalen SS und der SA, zu der ein Großteil des Steirischen Heimatschutzes übergegangen war, aus.210 Das rasche Scheitern dieses Umsturz- versuches führte zunächst zu starken Desorganisationserscheinungen in der NSDAP. Das progressive Anwachsen der Parteimitglieder bis Juli 1934 auf schätzungsweise 87.000 verflachte sich zwar zunächst, ging jedoch weiter und kulminierte neuerlich zwischen dem Berchtesgadener Abkommen vom 12. Februar 1938 und dem Vorabend des „Anschlusses“ (Stand ca. 164.000).211

Über die damit einhergehende soziale Umstrukturierung insgesamt gibt es bisher keine verlässlichen zahlenmäßigen Angaben.212 Doch kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der Anteil der militanten Jungen („Burschen“) noch größer wurde. Eine neuere Studie Kurt Bauers über die Juliputschisten ist zu dem Schluss gekommen: „Die aktivsten und fanatischsten NS-Anhänger in der Illegalität waren häufig arbeitslose Jugendliche (Bauern- söhne, Knechte, Handwerker, Hilfsarbeiter) aus unterbäuerlichen und Arbeiter- milieus und dörflich-kleinstädtisch strukturierten, peripheren Regionen.“213 Dieses Bild trifft vor allem auf die Militanten und Gewalttäter, vor allem aus den

208 Neugebauer, Die Anfänge des NS-Terrorismus in Österreich; Reiter, Nationalstaat und Staatsbürgerschaft in der Zwischenkriegszeit, S. 213. 209 Jagschitz, Der Putsch, passim. 210 Schafranek, Sommerfest mit Preisschießen, S. 224 f. 211 Diese Zahlen (nach: Luža, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, S. 328) sind jedoch nur mit äußerster Vorsicht und nur als Richtgrößen zu werten, da sie auch eine große Anzahl von vordatierten Parteieintritten der NSDAP nach 1938 enthalten. 212 Siehe jedoch: Albrich/Meixner, Zwischen Legalität und Illegalität, S. 149–187. 213 Bauer, Elementar-Ereignis, S. 194. 180

Kreisen der SA und SS, zu. Doch da dieser keineswegs kleine Personenkreis ins Ausland flüchten musste, muss sich dementsprechend die Struktur der im Lande verbliebenen und zum Teil in Warte- und Anpassungspositionen gehenden weniger militanten Nazis in komplementärer Richtung verschoben haben.

Daher ist es nicht überraschend, dass in der Verbotsperiode die Sozialstruktur der neu beitretenden Parteimitglieder insgesamt den früheren Trend auf eine Ausweitung des Sozialprofils fortsetzte, allerdings auch deutlich neue Elemente zeigte (siehe Grafik). Der schon 1932 erreichte Stand der Anteile der Bauern hielt sich, nur leicht abnehmend, um die 12-Prozent-Marke. Selbständige in Gewerbe und Handel gingen nur leicht zurück,214 die an sich kleine Gruppe der Freiberufler scheint – berufsbedingt oder durch ideologische Überzeugung – bis 1938 ihre weitaus überproportionale Vertretung in der NSDAP gehalten, wenn nicht ausgebaut zu haben. Dagegen reduzierte sich der Anteil der öffentlich Bediensteten 1933 schlagartig (von 26% auf 10%) und dieser Prozentsatz blieb auch danach deutlich unter den früheren hohen Anteilen bis 1932. Weniger krass fiel auch der Anteil der Angestellten ab, die unter einem geringeren politischen Anpassungsdruck gestanden sein dürften.

Die vom autoritären Regime Dollfuß’ und Schuschniggs politisch und gesell- schaftlich niedergeworfene sozialdemokratische, meist industrielle Arbeiterschaft insgesamt erwies sich dem Nationalsozialismus gegenüber weiterhin als einiger- maßen resistent, wenngleich sich die Nationalsozialisten nach dem 12. Februar 1934 besonders um die Gewinnung der ehemaligen Sozialdemokraten bemühten. Vereinzelt schon vorher, in etwas stärkerem Umfang unmittelbar nach dem Februar 1934 scheint ihnen dies jedoch bei desorientierten Schutzbündlern und jugendlichen Arbeitslosen, meist in Gebieten außerhalb Wiens, tatsächlich gelungen zu sein. Der Anteil der Arbeiter an allen PGs, die nun die NSDAP- Mitgliedschaft erlangten, stieg daher von 1932 auf 1933 um ein Drittel, der der „Handwerker“ (Gesellen oder Meister) verdoppelte sich sogar, so dass Arbeiter

214 Siehe allg.: Eminger, Das Gewerbe in Österreich 1930–1938. 181

und „Handwerker“ – beide nicht scharf zu trennende Sozialgruppen – bis 1938 schon an die Größenordnung ihres Anteils in der Gesamtbevölkerung herankamen.

Erst das österreichisch-deutschen Abkommen vom Juli 1936, das Österreich in zunehmende außenpolitische Abhängigkeit vom Deutschen Reich brachte, räumte den Nationalsozialisten im Inneren einen größer werdenden Handlungsspielraum ein. Damit setzte auch ein verstärkter Anhängerzustrom zum noch immer verbotenen Nationalsozialismus ein, der unmittelbar vor dem „Anschluss“ geradezu den Charakter eines Wettlaufs um die Parteimitgliedschaft annahm. Dadurch kam die während der Verbotszeit in Österreich ohnehin nur rudimentär geführte Mitgliederkartei vollends durcheinander. Dies macht es schwierig, das zahlenmäßige und soziale Bild der illegalen Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1938 auf der Basis der verfügbaren Mitgliederkarteien zu rekonstruieren. Denn in ihnen sind wirkliche „Illegale“, die während der Verbotszeit Nazis wurden, jedoch wegen der Zerschlagung der Parteiorganisation nicht formell aufgenommen werden konnten, ebenso enthalten wie „Märzveilchen“, die sich erst kurz vor dem „Anschluss“ dem Nationalsozialismus zuwandten, oder solche Opportunisten, die es sich durch Protektion und falsche Zeugenaussagen „richten“ konnten. In der Kategorie der „Illegalen“ haben sich daher nicht nur die soziale Dynamik, die das Wachstum der NSDAP in den dreißiger Jahren erklären kann, sondern auch die Tätigkeit der Parteibürokratie und deren Vorstellungen von der Gestalt der „Partei“ niedergeschlagen.

Der von Hitler im März 1938 mit umfassenden Partei- und Staatsvollmachten in die „Ostmark“ entsandte saarpfälzische Gauleiter Josef Bürckel hatte daher mit starker Hand auch die Reorganisation der österreichischen NSDAP zu betreiben. Die chaotischen Zustände auf dem Parteimitgliedersektor wurden erst nach etwa zwei Jahren einigermaßen überwunden. Aufnahmesperre und Überprüfungen der „Würdigkeit“ all derer, die angaben, während der Illegalitätsperiode zum Nationalsozialismus gestoßen zu sein, konnten nicht verhindern, dass Protektionismus und falsche Vordatierungen alle Angaben auf Mitgliedskarten, die eine „Illegalität“ bescheinigten, oft nur wenig über das tatsächliche Verhalten 182

vor 1938 aussagen. Sie sind daher nur mit äußerster Vorsicht zu interpretieren. (Dies gilt auch für meine Ausführungen in diesem Abschnitt.) Wie groß unter dieser Mitgliederkategorie der Anteil derer ist, die fälschlich das karrierefördernde Attribut „illegal“ erworben haben, kann daher nicht genau angegeben werden. Gewisse zahlenmäßige Unstimmigkeiten lassen darauf schließen, dass die Fehler- möglichkeit jedoch in der Größenordnung von 30.000 bzw. 40% der offiziell als „Illegale“ Aufgenommenen liegen könnte.215 Überhaupt erfolgten fast alle formellen Parteiaufnahmen rückwirkend zu dem symbolischen Datum „1. Mai 1938“ unter dem für „Illegale“ von Hitler schon früher reservierten und dann erweiterten Nummernblock zwischen 6.100.000 und 6.600.000.216

Von einer anderen Perspektive, nicht aus jener der NSDAP-Struktur, sondern aus der Perspektive einzelner Sozialgruppen in der Gesamtgesellschaft, kann die Durchdringung der österreichischen Gesellschaft durch den Nationalsozialismus sichtbar gemacht werden (siehe die folgende Tabelle). Die linke Zahlenspalte der Tabelle gibt den Stand von Sommer 1933 wieder, die mittlere Spalte zeigt den Stand am Ende der „Illegalität“ (Aufnahmedatum 1. Mai 1938) und die rechte Spalte den Stand nahe dem quantitativen Höhepunkt der NSDAP, die 1942 (zusammen mit den eingegliederten ehemals tschechoslowakischen und jugoslawischen Gebieten) 688.478 Mitglieder erreichte.217

Als statistisch gesichert kann gelten, dass sich in der Illegalität zum Teil jene Trends fortgesetzt haben, die schon 1933 aufgetreten waren: teils starke Überrepräsentation der Studierenden und Freiberufler, weniger starke (und abnehmende) der Öffentlich Bediensteten und Privatangestellten, (abnehmende) Unterrepräsentation der Bauern und Selbständigen, starke Unterrepräsentation der Handarbeiter. Bedeutende Prozentverschiebungen ergeben sich bei den aus dem

215 Siehe dazu: Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, S. 85. 216 Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien, Buchloe 1988, S. 210, dagegen: Luža, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, S. 327. Siehe vor allem: Das Nationalsozialistengesetz. Das Verbotsgesetz 1947. Die damit zusammenhängenden Spezialgesetze kommentiert und hg. v. Ludwig Viktor Heller u. a. Wien 1948. S. II/38-II/48. 217 Luža, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, S. 85. 183

arbeitsrechtlichen Sozialklassenmodell herausfallenden Residualkategorien und betreffen den oben erwähnten, schon seit den dreißiger Jahren etwas stärker werdenden Zustrom von Frauen, der sich in der „berufssozialen“ Bezeichnung „Hausfrauen“ niederschlägt. Die leichte Tendenz zur Verjüngung der National- sozialisten in der Verbotsperiode schlägt auch bei Schulabsolventen „ohne Beruf zu Buche, die in der NS-Kartei als solche – oder durch eine Leermeldung - gekennzeichnet sind. Die Ausschöpfung der einzelnen berufssozialen Potentiale in der „Gesamtgesellschaft“ ist 1938, verglichen mit 1933, weniger ungleichmäßig (18–21% bei Freiberuflern und Studenten gegenüber 4–5% bei Arbeitern, Selbständigen und Bauern), jedoch insgesamt natürlich höher (5% der Erwerbsbevölkerung).

Tabelle: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die österreichische Gesellschaft (1933–1941)

Geschätzter %-Anteil der NSDAP-Mitglieder an den Berufsgruppen in der „Gesamtgesellschaft“ 1933 (a) 1938 (a) 1941 (a) Studenten (b) 14,2 20,6 47,5 Freie Berufe 14,2 18,0 60,0 Öffentlich Bedienstete 3,9 7,7 38,0 davon: höhere Beamte — 61,9 — Angestellte 3,2 7,0 28,9 davon: leitende Angestellte — 5,3 — Arbeiter 1,6 3,7 14,6 Selbständige in Gewerbe und Handel 1,6 4,8 18,0 davon: im Handel 2,8 7,0 — Landwirte 2,3 5,3 25,7 Anteil aller berufstätigen NSDAP-Mitglieder an allen Berufstätigen in der „Gesamtgesellschaft“ © 2,3 5,1 21,2 (Grundgesamtheit) (68.400) (164.300) (688.300) (Stichprobengröße) (301) (794) (1448) Anmerkungen: (a) Anteil der NSDAP-Mitglieder (in %) an der Gesamtzahl der jeweiligen Berufsgruppe in der Gesamtgesellschaft 1934. (b) Bezogen auf alle Studierenden des Studienjahrs 1937/38. (c) Ohne mithelfende Familienmitglieder, Lehrlinge, Hauspersonal und Hausfrauen. Quellen: Eigene Stichprobenerhebungen in der NSDAP-Hauptkartei (Große Mitgliedskarten) im Berlin Document Center 1976/77 (heute Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde). Berechnungen nach Vergleichswerten in: VZ 34, Heft 1 und 2.

184

C.2.6 Monopolpartei und der Versuch, eine nationalsozialistische Volkspartei zu konstruieren (1938–1945)

Die Machtübernahme des Nationalsozialismus im März 1938 bedeutete einen tiefgreifenden Funktions- und Strukturwandel für die NSDAP und für ihr organisatorisches Umfeld. Die zur Monopolpartei des Regimes gewordene „Bewegung“ verlor nach dem „Anschluss“-Taumel bald ihre Dynamik. Ein Bereich, wo der alte Bewegungscharakter noch eine Zeitlang weiterlebte, waren die internen Cliquenkämpfe und Querelen all jener, deren berechtigte oder überzogene Ansprüche und Erwartungen nicht erfüllt worden waren.218 Und es war vor allem die Judenverfolgung, in der antisemitische Vorurteile und sozial anderwärts unbefriedigte Energien ein Ventil fanden.219

Der voll ausgebaute Parteiapparat wurde ab 1938 immer mehr zum Trans- missionsriemen für Überwachung und Propagandavermittlung von oben nach unten, er diente auch zur Weiterleitung der Stimmungslage von der Basis an die Führer. Es war daher nur konsequent, wenn das Mitgliederwesen der NSDAP — bezeichnenderweise nicht dem „Reichsorganisationsleiter“ der NSDAP, sondern deren „Reichsschatzmeister“ unterstellt – immer mehr reglementiert wurde, zunächst hinsichtlich der Zuteilung von Aufnahmedatum und Mitgliedsnummer je nach „Verdiensten“ in der Vergangenheit, dann auch im Hinblick auf die wünschenswerte Zahl und soziale Zusammensetzung der als Elite des ganzen Volkes gedachten Partei. Dem kam allerdings das Drängen gerade jener Berufs- und Sozialgruppen in der „Partei“ in die Quere, die dem stärksten Anpassungs- druck des Regimes ausgesetzt waren; dies waren die Beamten und andere öffentlich Bedienstete. Von Ende 1939 bis Anfang 1942 wurden daher allmählich

218 Siehe dazu allg.: Bukey, Hitlers Österreich; Regionalgeschichtlich etwa: Bukey, Patenstadt des Führers; Hanisch, Gau der guten Nerven; Slapnicka, Oberösterreich – als es Oberdonau hieß (1938–1945); allg. zur NS-Wandlung: Ackerl, Nationalsozialistische „Wiedergutmachung“; Jagschitz, Von der „Bewegung“ zum Apparat. 219 Botz, Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung. 185

die Schleusen der erlassenen Mitgliedersperren für einen neuen Schwall von um Mitgliedschaft Ansuchenden geöffnet.220

Die Neu-PGs mit Aufnahmedaten 1940/41 unterschieden sich von den „Illegalen“ (siehe Grafik) vor allem durch den wiederum stark gestiegenen Anteil der öffentlich Bediensteten (26%) und eine leichte Steigerung des Bauernanteils (auf 14%). Umgekehrt blieben die Arbeiter, Handwerker und selbständige Gewerbetreibenden wieder etwas stärker abseits.

Ab Anfang 1942 wurde durch Parteierlässe wieder eine allgemeine Mitglieder- sperre verfügt; nahezu nur noch die jeweils neu ins Mitgliedsalter (18, dann 17 Jahre) wachsenden HJ- und BdM-Jahrgänge wurden zur Aufnahme zugelassen, nicht selten auch unter psychisch-sozialen Druck gesetzt oder en bloc auf- genommen.221 Dabei kam eine gezielte sozialgruppenspezifische Kontingentierung zum Tragen. Die Neumitgliederstruktur dieser Jahre zeigt daher ein bedeutendes Zurückgehen des Beamtenanteils (auf 19%) zugunsten von Arbeitern und Handwerkern (auf beachtliche 39 bzw. 13%). Das Hauptanliegen der Strukturpolitiker in der NSDAP-Reichsleitung, die Anhebung des Bauern- anteils in der Gesamtpartei, ging jedoch völlig daneben; der Anteil der Bauern ging sogar um 1% auf 9,8% zurück.

In welch unterschiedlichem, aber allgemein hohem Maße der Nationalsozialismus schon 1941 – die vollkommen gesteuerten Eintritte ganz Junger während der letzten drei Jahre des Dritten Reiches können außer Betracht bleiben – in die österreichische Gesellschaft und in die einzelnen Berufsklassen eindrang, zeigen die Richtwerte in der Tabelle (siehe rechte Spalte). Insgesamt waren in Österreich bis 1941 etwa 21% der in Frage kommenden Erwerbstätigen oder 8,2 % der

220 Verordnungsblatt NSDAP-Gau Wien 3 (1940), Bl. 172; auch: Hugo Meinhart, Parteimitglied und Parteianwärter, Wien 1947, S. 53 ff.; vgl. auch: Das Nationalsozialistengesetz. 221 Verordnungsblatt NSDAP-Gau Wien 5 (1942), Bl. 73; Reichsverfügungsblatt, Ausgabe B, Jg. 1942, S. 128. In einer Zufallsstichprobe (n = 47) aus den NS-Personalakten im BDC fand ich 1994/95 auch mindestens drei Fälle, die wahrscheinlich den Beitrittsantrag nicht selbst unterschrieben hatten. 186

Gesamtbevölkerung222 Parteimitglieder geworden. Diese auch sonst mit dem hohen politischen Organisationsgrad der österreichischen Bevölkerung korrespondierende hohe Partizipation an der NSDAP ist nur zu verstehen aus dem Wunsch besonders vieler Österreicher und Österreicherinnen, in die NSDAP aufgenommen zu werden. Aus welcher Motivation und strukturellen Lage heraus dieses Bestreben im Einzelnen erfolgte, sei hier nicht erörtert. Auch viele österreichische Gauleiter und selbst Bürckel gaben diesem Druck von unten nach. Daher gab Reichskommissar Bürckel im November 1938 einem Erlass heraus, demzufolge in der „Ostmark“ die Anzahl der NSDAP-Mitglieder und Partei- anwärter 20% der Einwohner eines Gaues erreichen dürfe; das lag aber weit über der im „Altreich“ geltenden Richtgröße von 10%. Dieser Erlass wurde daher vom „Reichsschatzmeister“ Franz Xaver Schwarz sofort abgeblockt, der dagegen einwandte, dass damit „etwa 80–90% der im wehrfähigen Alter stehenden männlichen Bevölkerung Parteigenossen würden“ und der Elitecharakter der Partei in der „Ostmark“ vollends verloren gehe.223

In manchen einzelnen Berufsgruppen war dieser Organisationsgrad 1941 jedoch tatsächlich erreicht oder sogar überschritten (siehe obige Tabelle). Etwa 60% aller Freiberufler, ca. 50% der Studierenden und ca. 40% aller öffentlich Bediensteten insgesamt waren NSDAP-Mitglieder geworden. Bei den Angestellten aller öffentlichen Verwaltungszweige betrug dieser Anteil fast 70%, bei den dienstrechtlich und finanziell privilegierten (und kontrollierten) Beamten im engeren Sinn sogar gegen 90%! Höhere Beamte waren praktisch zu 100% PGs geworden, Lehrer etwa zu 60%.224 Von den Bauern und Privatangestellten waren etwa 25 bis 30% der NSDAP beigetreten. Erst im Vergleich mit dem Durch- dringungsgrad der österreichischen Gesellschaft insgesamt225 (rund 21%)

222 Vgl. auch Luža, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, S. 87. 223 Völkischer Beobachter, 19. November 1938, S. 2 und Sammlung Schumacher/304, Bundesarchiv, Koblenz. 224 Vgl. Stiefel, Entnazifizierung, S. 162, 136–142. 225 Nur die ab 18-jährigen Männer und Frauen, jedoch ohne mithelfende Familienmitglieder (meist Frauen), Lehrlinge, Hauspersonal und Hausfrauen. 187

gewinnen diese Zahlen ihre Aussagekraft. Demgegenüber fallen die Anteile der Arbeiter und Selbständigen (im Handwerk und Handel zusammen) deutlich ab: nur etwa 15 bzw. 18% dieser beiden Sozialgruppen waren 1941 national- sozialistische Parteimitglieder, gegenüber 21% der Gesamtbevölkerung.

Das Gesamtprofil der NSDAP nach berufssozialen Gruppen zu bestimmten Zeitpunkten ist aus den hier präsentierten Angaben über die Eintretenden nur unscharf erkennbar geworden. Auch die berufssoziale Statistik der 1947 in ganz Österreich „registrierten“ 541.727 NSDAP-Mitglieder226 ist nicht zuverlässig. Sie zeigt jedoch das bekannte Bild der Überrepräsentierung der Freien Berufe (mit 4,2% um das Vierfache) und der Öffentlich Bediensteten (mit 15,6% um das knapp Eineinhalbfache). Überraschenderweise wiesen Privatangestellte mit 10,8% und Bauern mit 12,8% eine annähernd ähnliche zahlenmäßige Stärke auf wie in der Gesamtgesellschaft. Selbständige wären demnach (mit 22,3%) fast doppelt überrepräsentiert, Arbeiter mit 14,0% dreieinhalbfach unterrepräsentiert gewesen. Sonstige und Hausfrauen machten in der Registrierten-Statistik 20,4% aus. Worauf im einzelnen dieses von meinen eigenen Stichprobenanalysen abweichende Ergebnis zurückzuführen ist, ist nicht genau zu sagen, vielleicht geht sie auf unterschiedliche Berufsklassifizierung und Gruppenbildung zurück.

Sicher ist jedoch, wie der Wirtschaftshistoriker Dieter Stiefel herausgefunden hat, dass die erst zwei Jahre nach 1945 erfolgende (zweite) Registrierung der ehemaligen Nationalsozialisten in deren Berufsangaben nur teilweise den Stand vor 1945 widerspiegelt; teilweise hatten die von der Entnazifizierung erfassten „Ehemaligen“ ihren Beruf und ihre Tätigkeit zwangsweise oder freiwillig gewechselt, wodurch das sozialstatistische Gesamtbild der NSDAP vor 1945 in diesem Datenbestand bzw. deren statistischer Darstellung nicht mehr abgebildet wird.

226 Luža, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, S. 333; Stiefel, Entnazifierung, S. 219 f. 188

C.2.7 Resümee

Der österreichische Nationalsozialismus durchlief in seiner bereits um die vorletzte Jahrhundertwende beginnenden Geschichte strukturell unterschiedliche Phasen: Es wäre verfehlt, ihm eine einheitliche sozial strukturelle Charakteristik zuzuschreiben. Beginnend als politischer Arm der deutschnationalen Gewerkschaften in Böhmen war er zunächst vor allem eine Partei der öffentlichen und privaten Angestellten, in der es auch einen zahlenmäßig zunehmenden Block Selbständiger und eine starke Überrepräsentation von in Freien Berufen Tätigen und Studenten gab. Dies ist eine Eigenart, die dem österreichischen Nationalsozialismus noch bis in die frühen 1930er Jahre nachhing und ihn von der deutschen NSDAP, nicht jedoch immer von ost(mittel)europäischen faschistischen Bewegungen unterschied.

Abgesehen von der wenig erforschten frühfaschistischen Welle während der Inflationskrise in den frühen zwanziger Jahren weitete sich sein Sozialprofil erst auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise tendenziell in Richtung einer „catch- all-party“ (Otto Kirchheimer)227 aus, indem vermehrt Arbeiter, weniger stark auch Bauern angezogen wurden. Stark abhängig von den unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen in der Illegalitätsperiode und nach der Machtübernahme behielt die Sozialstruktur der NSDAP diese Charakteristik in schwankendem Ausmaß bei, auch als die oberste NS-Führung zunehmend versuchte, die berufs- spezifischen Disproportionalitäten auszugleichen und die Partei zu einer politischen (Elite-)Organisation zu machen, die alle Berufsgruppen des „deutschen Volkes“ einigermaßen proportional abbildete.

Die NSDAP war nie eine „Kleinbürgerpartei“, nur anfangs fast so etwas wie eine Partei der „neuen Mittelstände“, niemals war sie, wie heute manchmal polemisch gesagt wird, eine Arbeiterpartei. Sie war eine nationalistische und antisemitische

227 Kirchheimer, The Transformation of the Western European Party System, S. 160; siehe Günther/Diamond, Species of Political Parties, S. 185 f. 189

Sammelpartei, in der die verschiedenen Schichten und Klassen im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unterschiedlich stark vertreten waren.

Eindeutiger ist das geschlechts- und altersspezifische Bild der NSDAP seit Mitte der zwanziger Jahre. Sie war eine „Männerpartei“, in die erst mit ihrem quantitativen Wachstum und ihrer Regime-Reglementierung Frauen vermehrt Eingang fanden. Sie war immer auch relativ jugendlich, jedenfalls hinsichtlich ihrer Mitglieder jünger als die meisten anderen Parteien. Da vor allem die Geburtsjahrgänge zwischen 1894 und 1913 überrepräsentiert waren, möchte ich sie jedoch eher als eine generations- denn als eine altersspezifische Partei bezeichnen.

Diese Charakteristika des österreichischen Nationalsozialismus treten - generalisierend gesagt – umso deutlicher hervor, je höher der Partizipationsgrad an der NS-Politik war, also bei den Militanten und Funktionären, sie verschwimmen eher bei der Wählerschaft. Je nach Region, Milieu und Stadt oder Land wechselte die NSDAP chamäleonartig ihr sozialstrukturelles Aussehen, obwohl sozusagen ihre dominante Farbe nur selten ins Schwarz der Landbevölkerung und fast nie ins Rot der Industriearbeiterschaft spielte.

Kurz: Die österreichische NSDAP war vom Zeitpunkt ihres Massendurchbruchs an eine je nach Sozialgruppen ungleichmäßig erfolgreiche Sammel- und Protestpartei, die zwar alle Schichten und Klassen anzog, aber Arbeiter und Bauern unterrepräsentierte, Angestellte und Beamte stark, Selbständige eher schwach überrepräsentierte, sie war eine „asymmetrische Volkspartei“.228

228 Für Unterstützung bei der Texterstellung danke ich Mag. Sandra Paweronschitz, Univ. Wien. Die quantitativen Forschungen wurden 1976/77 und 1994/95 durch ein Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung in Berlin unterstützt und sind Teil eines längerfristigen Forschungsfeldes des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft (Geschichte- Cluster der LBG) Wien–Salzburg. 190

C.3 11.000 ausgebürgerte illegale Nazis aus Österreich zwischen 1933 und 1938 (Wolfgang Meixner)229

In der Universitätsbibliothek Innsbruck findet sich unter der Signatur „22.3060/1.Expl.“ ein so genanntes „Ausbürgerungsverzeichnis“, das auf 222 Seiten Daten zu insgesamt 10.052 Personen enthält.230 Mit laufender Nummer versehen und alphabetisch geordnet finden sich Angaben zu Name und Beruf, Geburtsdatum und -ort, Heimatort sowie letzter Wohnort in Österreich.

Einem beigehefteten Schreiben vom 25. September 1939 ist zu entnehmen, dass das Verzeichnis vom Tiroler Gaupresseamtsleiter Franz Pisecky231 der Innsbrucker Universitätsbibliothek in zwei Exemplaren übergeben wurde und die Namen von österreichischen Nationalsozialisten enthält, „die nach ihrer Flucht in das Altreich von den Regierungen Dollfuss und Schuschnigg ausgebürgert wurden“. Weiters führt der Gaupresseamtsleiter in diesem Schreiben an, dass das Verzeichnis keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, da seines Wissens mehr als 15 solcher Listen erschienen sind. Daher lautet der vollständige Titel des Verzeichnisses auf dem Schmutztitel „Ausbürgerungsverzeichnis der Listen 1– 15“.

229 Erstmals erschienen in: Christoph Haidacher und Richard Schober (Hg.), Bericht über den 24. Österreichischen Historikertag in Innsbruck. Veranstaltet vom Tiroler Landesarchiv und dem Verband Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine in der Zeit vom 20. bis 23. September 2005 (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 33), Innsbruck 2006, S. 601-607. In den Text wurden jüngere Erkenntnisse eingearbeitet und durch Fußnotenverweise kenntlich gemacht. 230 Die Seiten 194–195, 198–199, 202–203 sowie 206–207 sind im ersten vorhandenen Exemplar nicht bedruckt, im zweiten sehr wohl. Bislang konnten keine weiteren Exemplare in anderen österreichischen Bibliotheken nachgewiesen werden. 231 Zu Franz Pisecky vgl. die Kurzvita sowie weitere Angaben zu seinen NS-Funktionen bei Schreiber, Die Machtübernahme, S. 134. Pisecky findet sich unter der Nummer 6338 als „Piseky [sic!] Franz, Schriftleiter, geb. 14.4.1900, letzter Wohnort in Österreich Innsbruck“ im Verzeichnis. 191

Als Grundlage für die Erstellung dieses „Ausbürgerungsverzeichnisses“ dürften die ersten 15 von insgesamt 17 Verzeichnissen gedient haben, die sich heute im Österreichischen Staatsarchiv, Archiv der Republik, als Bestand des Bundes- kanzleramtes, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit befinden.232

Bislang ausgewertet werden konnten die im Archiv der Republik vorhandenen Verzeichnisse 1 (310 Personen), 2 (266 Personen), 3 (432 Personen), 4 (406 Personen), 5 (410 Personen), 6 (448 Personen), 7 (408 Personen), 8 (496 Personen), 9 (424 Personen), 10 (2.731 Personen), 11 (1.255 Personen), 12 (1.016 Personen), 13 (585 Personen), 14 (1.869 Personen), 15 (398 Personen), 16 (143 Personen) sowie 17 (55 Personen).233

Von diesen 11.652 Personen wurden jedoch immer wieder Personen aus den Verzeichnissen gestrichen bzw. Berichtigungen zu Angaben vorgenommen, sodass insgesamt 10.723 Personen verbleiben.234 Damit ergibt sich eine

232 ÖStA, AdR, BKA/Inneres (02), ZEST Ausbürgerung. Bei den Verzeichnissen 5 und 7 fehlt das genaue Veröffentlichungsdatum. Ich danke Herrn Dr. Rudolf Jerabek für den Hinweis auf die Existenz dieser Verzeichnisse. 233 ÖStA, AdR, BKA/Inneres (02), ZEST Ausbürgerung. Geschäftszahlen 221.283-GD vom 14.10.1933 (1. Verzeichnis), 226.614-GD 1/33 vom 30.10.1933 (2. Verzeichnis), 226.468-St.B. vom 15.11.1933 (3. Verzeichnis), GD-233.658-StB vom 2.12.1933 (4. Verzeichnis), GD-242.501- StB/1933 ohne Datum (5. Verzeichnis), GD 253.736-StB/33 vom 6.1.1934 (6. Verzeichnis), GD 112.071-StB ohne Datum (7. Verzeichnis), GD 185.448-StB vom 21.6.1934 (8. Verzeichnis), GD 210.539-StB vom 29.7.1934 (9. Verzeichnis), GD 309.888-St.B. vom 15.11.1934 (10. Ver- zeichnis), G.D. 313248-St.B. vom 26.2.1935 (11. Verzeichnis), GD 346.277-St.B. vom 20.7.1935 (12. Verzeichnis), G.D. 378.205-St.B./35 vom 19.12.1935 (13. Verzeichnis), G.D. 328.287-St.B. vom 9.5.1936 (14. Verzeichnis), GD 360.670-StB vom 18.10.1936 (15. Verzeichnis), GD 328.534-StB vom 8.5.1937 (16. Verzeichnis), GD 377.226-StB/37 vom 14.1.1938 (17. Verzeichnis), GD 171.841-St.B. vom 14.6.1934 ([18.] Berichtigung). 234 Vor allem die Heimatzuständigkeit, Geburts- und Wohnorte, sowie Geburtsdaten und Namens- schreibungen wurden richtig gestellt. Gestrichen wurden aus dem 1. Verzeichnis 17 Personen wegen Widerruf der Ausbürgerung; aus dem 2. Verzeichnis 15 Personen; aus dem 3. Verzeichnis 1 Person, die doppelt geführt war sowie 1 Person wegen Widerrufs; aus dem 4. Verzeichnis 43 Personen; aus dem 5. Verzeichnis 21 Personen; aus dem 6. Verzeichnis 5 Personen; aus dem 7. Verzeichnis 9 Personen; aus dem 8. Verzeichnis 15 Personen; aus dem 9. Verzeichnis 6 Personen; aus dem 10. Verzeichnis 22 Personen; aus dem 11. Verzeichnis 26 Personen; aus dem 12. Verzeichnis 15 Personen; aus dem 14. Verzeichnis 4 Personen, alle wegen Widerrufs, sowie 1 Person wegen doppelter Führung. Insgesamt 201 Personen. Weiters abzuziehen sind mindestens 728 Personen, die im 10. und 11. Verzeichnis doppelt geführt wurden. Deren genaue Anzahl lässt 192

Diskrepanz zum gedruckten Ausbürgerungsverzeichnis, das aufgrund der Listen 1 bis 15 10.052 Personen enthält, während die um die Streichungen bereinigte Zahl 10.525 beträgt.235

In diesen Verzeichnissen sind Namen und Angaben jener Personen aufgeführt236, die auf Grund der Verordnung der Bundesregierung vom 16. August 1933 (BGBl. Nr. 369) der österreichischen Landes-(Bundes-)Bürgerschaft verlustig wurden.237 Dabei handelt es sich zum Großteil um Anhängerinnen und Anhänger des Nationalsozialismus. Allerdings enthalten die Verzeichnisse auch eine bislang nicht genau eruierbare Anzahl von Personen, die sozialdemokratischer bzw. kommunistischer Gesinnung waren.238

sich derzeit nicht eruieren, weil im vorliegenden 11. Verzeichnis zwei Seiten, die 30 Personen enthalten, fehlen. 235 Diese Diskrepanz lässt sich weitgehend damit erklären, dass in den Listen Personen doppelt geführt wurden, die in das gedruckte Verzeichnis nur mehr einmalig Aufnahme fanden. 236 Neben Vor- und Zunamen sowie allfällige Berufs- bzw. Standestitel enthalten die Verzeichnisse personenbezogene Angaben zu Beruf, Geburtsdatum, Geburtsort, Heimatort sowie letzter Wohnort in Österreich. 237 ÖStA, AdR, BKA/Inneres (02), 1. Verzeichnis. Titelseite des Exemplars der Bezirkshaupt- mannschaft Völkermarkt. Ohne Seiten mit Angaben zu den Personen. 238 So finden sich im 8. Verzeichnis unter der Nummer 22 Dr. Otto Bauer (1881–1938), ehe- maliger NR-Abgeordneter, unter der Nummer 58 Dr. Julius Deutsch (1884–1968), ehemaliger NR- Abgeordneter, unter der Nummer 64 Albin Dostal (1896–1971), Parteisekretär, als „ehemaliger sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter“ in das Verzeichnis aufgenommen, unter der Nummer 156 Karl Heinz (1895–1965), Sekretär des Republikanischen Schutzbundes und Vorsitzender der Sozialistischen Jugendinternationale, ehemaliger NR-Abgeordneter, unter der Nummer 224 Berthold König (1875–1954), Vorsitzender der Eisenbahnergewerkschaft, ehemaliger NR- Abgeordneter, unter der Nummer 225 Johann Koplenig (1891–1968), Schuhmachergehilfe, von 1924 bis 1965 Vorsitzender der KPÖ, im 10. Verzeichnis unter der Nummer 391 Ernst Fischer (1899–1972), Redakteur [der sozialdemokratischen „Arbeiterzeitung“], 1934 der KPÖ beigetreten, im 13. Verzeichnis unter der Nummer 436 Johann Schorsch (1874–1952), Sekretär des Bundes der freien Gewerkschaften, ehemaliger NR-Abgeordneter, sowie im 14. Verzeichnis unter der Nummer 72 Richard Bernas[ch]ek (1888–1945), Schlosser und Parteisekretär, sowie unter der Nummer 1692 Paula Wallisch (1893–1986), Sekretärswitwe nach Koloman Wallisch (1889– 1934), verzeichnet. Diese Personen sind auch im gedruckten Verzeichnis geführt (Nr. 313, 449, 1002, 1105, 1666, 2845, 4138, 4170, 7753 bzw. 9268), was der Intention, die „Namen von österreichischen Nationalsozialisten“ aufzulisten, zuwiderläuft und darauf hindeutet, dass das Verzeichnis rasch und ohne Gegenkontrolle erstellt wurde. 193

Die österreichische Bundesregierung hatte am 19. Juni 1933 auf den zunehmenden Terror der Nationalsozialisten mit einem Betätigungsverbot für die österreichische NSDAP einschließlich all ihrer Unterorganisationen reagiert (BGBl. Nr. 240 vom 20. Juni 1933)239; mit Wirksamkeitsbeginn vom 31. Mai 1933 war bereits die Kommunistische Partei verboten worden (BGBl. Nr. 200 vom 26. Mai 1933). Zahlreiche Nationalsozialisten wurden verhaftet und in Lagern interniert oder flohen ins benachbarte Ausland; besonders nach dem gescheiterten Putschversuch vom 25. Juli 1934.240

Dabei hatte die österreichische Bundesregierung mit Verordnung vom 16. August 1933 das Bundesgesetz vom 30. Juli 1925 (BGBl. Nr. 285) über den Erwerb und den Verfall der Landes- und Bundesbürgerschaft dahingehend abgeändert, dass im § 10 des Bundesgesetzes vom 30. Juli 1925 als Artikel I ein neuer zweiter Absatz eingeschaltet wurde, der eine Ausbürgerung auch dann vorsieht, „wenn ein Landesbürger (Bundesbürger ohne Heimatrecht) im Ausland offenkundig, auf welche Weise immer, Österreich feindliche Handlungen unterstützt, fördert oder an derartigen Unternehmungen teilnimmt oder wenn er sich zu diesem Zweck ins Ausland begeben hat. Das gleiche gilt, wenn er sich ohne Ausreisebewilligung in einen Staat begibt, für den eine solche vorgeschrieben ist.“ Zudem sah der neue Absatz auch einen Vermögensverfall zu Gunsten der Bundesregierung vor. Die konkrete Durchführung dieser „Ausbürgerungen“ wurde den politischen Bezirksbehörden (Bundespolizeibehörde) des letzten Wohnsitzes der betroffenen Person überantwortet. Die Bescheide wurden ohne weiteres Verfahren ausgestellt und an der Amtstafel angeschlagen. Eine Berufung an die Landesregierung war vorgesehen, ihr kam aber keine aufschiebende Wirkung zu.241

239 Vgl. Jagschitz, Die Nationalsozialistische Partei, S. 242–244 sowie nun auch Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938, S. 105 f. 240 Vgl. Jagschitz, Der Putsch sowie Bauer, Elementar-Ereignis. 241 Neuer zweiter Absatz am § 16 des Bundesgesetzes vom 30.7.1925. Artikel III der Verordnung der Bundesregierung vom 16.8.1933 (BGBl. Nr. 369/1933). 194

Mittels eines Runderlasses vom 19. August 1933 an alle Sicherheitsdirektoren sowie an die Vorstände sämtlicher Bundespolizeibehörden wurde diese Verord- nung von Sicherheitsminister Emil Fey präzisiert.242 Darin wird festgehalten, dass der von der Behörde zu erlassende Bescheid rein deklarativen Charakter und sich das Ermittlungsverfahren auf die Feststellung des Zutreffens der für einen Verlust neu aufgestellten Voraussetzungen (staatsfeindliches Verhalten im Auslande oder unbefugte Ausreise) zu beschränken habe. Für die Ausfertigung der Bescheide wurde ein Musterwortlaut zur Verfügung gestellt. Abschließend wurde ausdrück- lich darauf hingewiesen, dass diese neuen Bestimmungen über die Ausbürgerung auch gegen alle bei den Sicherheitsbehörden in Evidenz stehenden ins Ausland geflüchteten Bundesbürger in Anwendung zu bringen seien, auf die die Voraus- setzungen zutreffen. Vor allem gegen jene österreichischen Nationalsozialisten sei die Amtshandlung mit besonderer Beschleunigung durchzuführen, „[…] die nach Kenntnis der Behörden dermalen in Deutschland in der so genannten ‚Öster- reichischen Legion’ eine militärische Ausbildung genießen“.243 Die Grenz- kontrollstellen wurden durch das Bundeskanzleramt angewiesen, die Wieder- einreise dieser Personen nach Österreich zu verhindern. Später im Inland aufgegriffene Personen sollten nach § 2, Abs. 5 des Reichsschubgesetzes als „lästige Ausländer“ behandelt werden.244

242 Die direkt dem Bundeskanzleramt unterstellten Sicherheitsdirektionen waren am 13.6.1933 in allen österreichischen Bundesländern installiert worden (BGBl. Nr. 226/1933). Sie konnten in Sicherheitsbelangen den Bezirkshauptmannschaften, Gendarmerie- und Polizeidienststellen direkt Weisungen erteilen. Vgl. Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, S. 131. 243 ÖStA, AdR, BKA/Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, Gz. 199.915-GD 2 bei GZ 167.727/1936, Runderlass vom 19.8.1933 betreffend die Verordnung der Bundesregierung vom 16.8.1933, BGBl. Nrn. 368 und 369. 244 Ein vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Österreichische Akademie der Wissenschaften gefördertes Forschungsprojekt „Politisch motivierte Migration: Emigration bzw. Flucht aus Österreich, politische Ausbürgerungen im austrofaschistischen Wien 1933–1938 und die Wiedereinbürgerungspraxis insbesondere nach 1945“ unter der wissenschaftlichen Leitung von ao. Univ.-Prof. Dr. Ilse Reiter-Zatloukal und unter Mitarbeit von Dr.in Christiane Rothländer vom Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte untersucht die Ausbürgerungsgesetze sowie deren Praxis, widmet sich aber auch den Wiedereinbürgerungen, insbesondere nach 1945. 195

Die NSDAP blieb lange Zeit in Österreich eine unbedeutende politische Gruppierung, die innerlich zerstritten und zersplittert war. Demgemäß hoch war die Fluktuation unter ihren Sympathisantinnen und Sympathisanten sowie Wählerinnen und Wählern. Dies änderte sich ab Beginn der 1930er Jahre, als mit Wirkung vom 11. Juli 1931 eine Organisationseinheit „Land Österreich“ und eine Landesleitung geschaffen wurde, der die Gauleitungen unterstellt waren. Unter dem neuen Landesgeschäftsführer Theo Habicht gelang es „den Aktivismus einer jungen Bewegung, den sozialen Wandel und die politische Dynamik für die Partei zu kanalisieren“. 245 Genau am Zenit ihrer bislang größten Stärke und Popularität, Mitte 1933, wurde der Partei ein Betätigungsverbot auferlegt. Damit endeten zwar die vorwiegend gewalttätigen Aktivitäten der Sympathisantinnen und Sympathisanten nicht, aber sie wurden in die „Illegalität“ abgedrängt. Die vorwiegend jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten entstammten nicht nur dem rechtsgerichteten akademischen Milieu, sondern auch der Mittelschicht von Staatsbeamtinnen und -beamten, Kaufleuten und Handwerkern sowie aus vorwiegend unterbäuerlichen Schichten in ländlichen Regionen. Die Frauen schienen sich hingegen von der NSDAP und ihren Zielen weniger angesprochen gefühlt zu haben.246

Eine wesentliche, bis heute in der Geschichtsforschung nicht erschöpfend beantworte Frage, ist die nach der Zusammensetzung der NSDAP. Grund dafür ist einerseits die hohe Fluktuation der Mitglieder, andererseits die spezielle Situation der Partei nach ihrem faktischen Verbot ab Mitte 1933. Für die Zeit zwischen 1933 und dem „Anschluss“ im März 1938 kann auf die soziale, regionale, alters- sowie geschlechtermäßige Zusammensetzung nicht mehr direkt geschlossen werden. Daher hat die Forschung immer wieder ex post Beschreibungen der sozialen Zusammensetzung der NSDAP-Mitglieder versucht. Gerhard Botz hat

245 Jagschitz, Nationalsozialistische Partei, S. 235 f. sowie zur Geschichte der NSDAP in Österreich auch Pauley, Der Weg in den Nationalsozialismus. S. 74–104. 246 Vgl. dazu Botz, Arbeiterschaft und österreichische NSDAP-Mitglieder (1926–1945) sowie Bauer, Arbeiterpartei? 196

dafür drei Stichproben aus den NSDAP-Mitgliedskarten im Berlin Document Center (BDC) gezogen, die einerseits die so genannten „alten Kämpfer“ (1.652 bzw. 1.625 Fälle) umfassten, Mitglieder, die der NSDAP bereits vor dem Verbot in Österreich am 19. Juni 1933 beigetreten waren, andererseits Personen, denen nach dem „Anschluss“ nachträglich ein Beitrittsdatum zur NSDAP mit „ 1. Mai 1938“ verliehen wurde und die zumeist eine so genannte 6-Millionen-Nummer erhalten hatten (2.562 Fälle).247

Andere Forscher haben sich Momentaufnahmen bedient, durch die – trotz des Verbotes der NSDAP – Parteigänger fassbar wurden und somit deren regionale und soziale Zusammensetzung rekonstruierbar war. Dies betrifft vor allem die verhafteten Nationalsozialisten im Anschluss an den gescheiterten Putschversuch am 25. Juli 1934 sowie die in den so genannten Anhaltelagern Internierten. Kurt Bauer hat aufgrund von rund 2.500 Anzeigen von Gendarmerie- und Polizei- dienststellen gegen Personen, die sich am Juliputsch beteiligten, deren regionale, soziale, alters- und geschlechtermäßige Zusammensetzung untersucht und liefert damit eine detaillierte Momentaufnahme für die Jahresmitte 1934, allerdings überwiegend für die Gruppe der „Gewaltbereiten“.248 Gerhard Jagschitz unter- sucht aufgrund der Belegzahlen des Anhaltelagers Wöllersdorf die altersmäßige und soziale Zusammensetzung der Insassen. Obwohl hier im Prinzip eine dynamische Quelle vorliegt, die Belegung des Lagers ist in 15-Tagesschritten ab dem 17. März 1933 bis zum 1. Dezember 1937 dokumentiert, liefert er nur für den Mai 1934 eine detaillierte Auswertung (844 Personen, davon 301 National- sozialisten).249

Diese Untersuchungen bieten ein teilweise auseinanderklaffendes Bild der illegalen NSDAP-Sympathisantinnen und -Sympathisanten.

247 Botz, Die österreichischen NSDAP-Mitglieder. 248 Bauer, Elementar-Ereignis, S. 131–201. 249 Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, S. 150 f. Zum „Anhaltelager“ in Wöllersdorf vgl. Zodl, Das Anhaltelager Wöllersdorf 1933–1938. 197

Dies beginnt schon bei der geschlechtermäßigen Zusammensetzung der Gruppe. Außer Zweifel steht, dass die NSDAP vorwiegend Männer als Aktivisten und Sympathisanten angezogen hat. So kommt Kurt Bauer zu dem Urteil, dass „eine getrennte Analyse der Juliputsch-Beteiligten nach dem Geschlecht […] nicht möglich [ist], weil der Putsch eine reine Männersache war. Unter den 2.516 Angezeigten finden sich 24 Frauen, die durchwegs bestenfalls am Rande mit den Ereignissen zu tun hatten.“250 Gerhard Jagschitz erwähnt mit Stichtag vom 7. Oktober 1934 einen Stand von 115 weiblichen politischen Häftlingen, die den Nationalsozialisten zuzurechnen sind.251 Nach Gerhard Botz lag der Frauenanteil in der österreichischen NSDAP bis 1932 unter 10%, bei den „Illegalen“ 28%.252 Laut Radomír Luža betrug der Frauenanteil in der NSDAP in Österreich nach dem „Anschluss“ rund 15%.253 Der weibliche Anteil im „Ausbürgerungsverzeichnis“ beträgt 3,5% (363 Frauen).254

Die regionale Zusammensetzung der österreichischen Gesamtbevölkerung wies laut Volkszählung von 1934 einen Anteil von 27,7% an Personen auf, die in Wien lebten, 22,3% in Niederösterreich, 15% in der Steiermark, 13,4% in Ober- österreich, 6% in Kärnten, 5,2% in Tirol, 4,4% im Burgenland, 3,7% in Salzburg sowie 2,3% in Vorarlberg.255

Die regionale Verteilung der Anzeigen nach dem Juliputsch liefert nach Kurt Bauer folgendes Bild: Rund die Hälfte (50,8%) der Anzeigen erfolgten in der Steiermark, mehr als ein Drittel (37,1%) in Kärnten. Mit deutlichem Abstand folgen die Bundesländer Salzburg (6,6%), Oberösterreich (3,6%), Tirol (1%) und

250 Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte des Nationalsozialistischen Juliputsches 1934, S. 140. 251 Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, S. 150. Zahlen ohne Anhaltelager Wöllersdorf. Dies entspräche bei einem Stand von rund 7100 NS-Häftlingen 1,6%. 252 Botz, Strukturwandlungen des österreichischen Nationalsozialismus (1904–1945), S. 184. 253 Luža, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, Graz – Wien 1977, S. 86. 254 Einschließlich der Listen 16 und 17; nicht bereinigt um die Personen, die nicht zur NSDAP gehörten. 255 VZ 34, Bundesstaat Textheft, Heft 1, S. 14. 198

Burgenland (0,9%). Bei den 300 österreichischen Gemeinden, in denen Aufstände verzeichnet wurden, liegt ebenfalls die Steiermark (61%) vor Kärnten (24%).256

Laut Gerhard Jagschitz saßen im August 1934 knapp 39% (4.507 Personen) und im Dezember 1934 54% (1.323 Personen) aller NS-Häftlinge in Wöllersdorf ein. Bei den in den Bundesländern selber einsitzenden Häftlingen führte die Steiermark mit 45,3% (August 1934) bzw. 21,7% (Dezember 1934) vor Wien (8,9 bzw. 15,3%), Oberösterreich (12,8 bzw. 9,1%) und Salzburg (9,7 bzw. 14%).257 Gerhard Botz liefert aufgrund der Auswertung der von ihm gezogenen 2. Stichprobe folgende regionale Verteilung der „alten Kämpfer“ bzw. der „Illegalen“: Wien (24,3 bzw. 12,3%), Gau „Niederdonau“ und Burgenland (17,9 bzw. 20,8%), Gau „Oberdonau“ (9,6 bzw. 19%), südliches Österreich (32,9 bzw. 34,8%) sowie im westlichen Österreich (14,6 bzw. 12,8%).258

Die 8.463 Personen im „Ausbürgerungsverzeichnis“, von denen ein letzter Wohnort bislang bestimmt werden konnte, verteilen sich wie folgt: Steiermark (22%), Niederösterreich (16%), Tirol (14%), Kärnten (13%), Oberösterreich (12%), Salzburg (10%), Wien (6%), Vorarlberg (5%), Burgenland (2%). Es besteht eine gewisse Diskrepanz zur Verteilung der Geburtsorte. Hier liegt, allerdings bei einer wesentliche kleineren Basis von 4.472 Personen, zwar ebenfalls die Steiermark mit 22% voran, gefolgt von Niederösterreich (18%), Wien (15%), Oberösterreich (13%), Salzburg (12%), Tirol (11%), Kärnten (5%), Burgenland, Vorarlberg sowie Gebiete des früheren Österreich (Österreich- Ungarn) und Deutschland (je 1%).259

256 Bauer, Elementar-Ereignis, S. 132 f. 257 Eigene Berechnungen aufgrund der absoluten Zahlen bei Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, S. 149. 258 Eigene Berechungen aufgrund der absoluten Zahlen (beobachtete Werte in Tabelle 5) bei Botz, Die österreichischen NSDAP-Mitglieder, S. 126. 259 Einschließlich der Listen 16 und 17; nicht bereinigt um die Personen, die nicht zur NSDAP gehörten. 199

1934 war 36,4% der männlichen Bevölkerung unter 23 Jahre alt; 52% zwischen 23 und 59 Jahre und 11,6% über 60 Jahre alt. Das durchschnittliche Alter der männlichen Bevölkerung lag 1934 bei 32,1 Jahren.260 Kurt Bauer errechnete für alle Juliputschisten (Mannschaft und Führer) ein Durchschnittsalter von 28,4 Jahren; das Durchschnittsalter bei der Mannschaft (ohne Führer) lag leicht darunter (27,9 Jahre), das bei den militärischen Führern darüber (31,5 Jahre), das bei den politischen Führern deutlich darüber (38,1 Jahre). Die nach dem Putsch ins Ausland Geflüchteten, die in etwa auch dem Sample des „Ausbürgerungs- verzeichnisses“ entsprechen, lag mit 26,7 Jahren darunter.261 Laut Gerhard Jagschitz gehörten die am häufigsten belegten Alterskohorten der im Mai 1934 in Wöllersdorf angehaltenen Nationalsozialisten (insgesamt 301 Personen) den Geburtsjahren 1906 bis 1910 (85 Personen) sowie 1911 bis 1915 (74 Personen) an. Damit waren diese Personen 1934 zwischen 24 bis 28 bzw. 19 bis 23 Jahre alt.262 Das Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder betrug laut Gerhard Botz 1932 33 Jahre.263

Da eine genaue Zuordnung des jeweiligen Ausweisungsdatums zu den Personen im „Ausbürgerungsverzeichnis“ noch nicht endgültig vorgenommen werden konnte, basiert die hier vorgenommene Altersauswertung auf dem Stichjahr 1938. Die Personen waren damit zum Zeitpunkt ihrer Ausbürgerung um bis zu fünf Jahre jünger. Der häufigste Wert in der Verteilung ist 26 Jahre (1.029 Personen), der Median liegt bei 29 Jahren und der Mittelwert beträgt 30,95 Jahre. Drei Viertel der Ausgebürgerten waren 1938 unter 34 Jahre alt.

Eine wesentliche Frage bei der Erforschung der Anhängerinnen und Anhänger des Nationalsozialismus stellt ihre soziale Herkunft dar. Ist es der „Bewegung“ gelungen, über ihre ursprünglichen sozialen Rekrutierungsgruppen (Beamten- schaft, Handwerker, Händler, Freiberufler) hinaus, neue soziale Schichten

260 VZ 34, Bundesstaat Textheft, Heft 1, S. 35. 261 Bauer, Elementar-Ereignis, S. 137. 262 Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, S. 150. 263 Botz, Strukturwandlungen des österreichischen Nationalsozialismus (1904–1945), S. 181. 200

anzusprechen und für sich zu gewinnen? Es ist hier nicht der Platz, die Komplexität der Ableitung von Schichtungsmodellen aus vorhandenen Berufsangaben zu erörtern.264 Daher soll es bei einer deskriptiven Darstellung der vorhanden Berufe und ihrer Zugehörigkeit zu den Erwerbssektoren belassen sein.

Laut Volkszählung von 1934 waren in Österreich 32,6% der Berufsträger in der Land- und Forstwirtschaft, 35,8% in Industrie und Gewerbe, 16,1% in Handel und Verkehr, 5,8% im häuslichen Dienst, 4,8 in Freien Berufen, 3,9% im Öffentlichen Dienst und 1% im Geld-, Kredit- und Versicherungswesen tätig.265 Zu den häufigsten Berufen gehörten Landwirte (19,6%), landwirtschaftliches Gesinde (6,9%), Personal im Haushalt (4,2%), Hilfsarbeiter (3,8%), selbstständige Handelsleute und Schneider (je 2,8%), Landarbeiter (2,7%), kaufmännisches Büropersonal (2,4%), sonstige Berufe des Baugewerbes (1,6%), Verkäufer (1,5%), Fachangestellte, Maurer und Tischler (je 1,4%), Lehrer, Schlosser und Schuhmacher (je 1,3%), sonstige Berufe in der Textilindustrie (1,1%).266

Laut Kurt Bauer entstammen 37% der Beteiligten am Juliputsch dem primären, 49% dem sekundären und 11% dem tertiären Sektor.267 Der größte Teil der Beteiligten waren Handwerksgesellen (20,3%), Knechte (12,2%), Bauernsöhne (11,9%) sowie Hilfs- und ungelernte Arbeiter (11,7%). Mit etwas Abstand folgen die Selbständigen (9%) sowie die Privatangestellten (6,4%).268 Laut Gerhard Jagschitz waren von den 1934 in Wöllersdorf angehaltenen Nationalsozialisten (301 Personen) knapp 27% Hilfs- und ungelernte Arbeiter (81 Personen); 10%

264 Vgl. dazu die Erörterungen bei Bauer, Arbeiterpartei? sowie Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938. Nicht geteilt werden kann die generelle Skepsis einer Zuordnung von Berufsangaben zu Schichtenmodellen wie sie Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, S. 150, 1975 noch geäußert hat. Vgl. dazu die methodologischen Überlegungen zum wissenschaftlichen Aussagewert von Berufszuordnungen bei Mejstrik (u. a.), Berufsschädigungen in der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit, bes. S. 601–610. 265 VZ 34, Bundesstaat Textheft, Heft 1, S. 106. 266 VZ 34, Bundesstaat Textheft, Heft 1, S. 172–178. 267 Bauer, Elementar-Ereignis, S. 145. 268 Bauer, Elementar-Ereignis, S. 146. 201

waren Handelsangestellte und 7,6% mittlere und kleine Angestellte; 20 Personen waren Studenten.269

Gerhard Botz ermittelt für 122 „Alte Kämpfer“ aus Wien folgende arbeits- rechtliche Stellung: 17,5% Selbständige, 31,7% Arbeiter und Handwerker, 50,8% Angestellte und Beamte.270

Die 8.764 bislang auf ihre Berufszugehörigkeit auswertbaren Personen aus dem „Ausbürgerungsverzeichnis“ verteilen sich wie folgt: 23% waren Hilfsarbeiter, 21% Arbeiter in Kleinbetrieben, 14% Privatangestellte, je 6% Gesellen oder Landarbeiter, 5% Facharbeiter, je 4% Selbständige bzw. Beamte, je 3% Industriearbeiter bzw. Private oder Studenten, je 2% Arbeiter im öffentlichen Dienst bzw. Freiberufler oder Arbeitslose, je 1% Bauern bzw. Bauernkinder oder Lehrer.271

Zusammenfassend lässt sich über die Gruppe der „Ausgebürgerten“ feststellen, dass diese vorwiegend aus ländlich-peripheren Gebieten Österreichs stammten. Überwiegend waren es Männer (96%). Die meisten von diesen waren unterprivilegierte junge Männer bäuerlicher Herkunft bzw. manuelle Arbeiter aus kleinen Gemeinden.

269 Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, S. 150. 270 Botz, Die österreichischen NSDAP-Mitglieder, S. 132. 271 Einschließlich der Listen 16 und 17; nicht bereinigt um die Personen, die nicht der NSDAP angehörten. 202

C.4 Illegale Nationalsozialisten in Wien 1933–1938 (Wien- Erhebung) (Kurt Bauer)

C.4.1 Aufbau der Datenbank, Problematik

C.4.1.1 Das Sample

Als „Sample“ der Sozialstrukturanalyse der Wiener illegalen Nationalsozialsten ist der Archivbestand BKA-Inneres 22/Wien 1933–1938 (Karton 5177–5214/a) zu bezeichnen. In diesem Bestand sind alle von der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit (GDfdöS) des Bundeskanzleramtes-Inneres unter der Signatur 22 („Übertretungen, Excesse“) im regulären Aktenlauf erledigten Dokumente zu finden. Dabei handelt es sich durchwegs um Akten mit politischem Bezug.

Zahlreiche dieser Akten – zu einem großen Teil Berichte der Bundespolizei- direktion Wien an das Bundeskanzleramt-Inneres (das spätere Innenministerium) – enthalten neben äußerst bedeutsamen ereignisgeschichtlichen Informationen auch sozialgeschichtlich relevantes und im Rahmen einer quantitativen Analyse verwertbares Material, insbesondere Daten von Personen, die mit den verbotenen oppositionellen politischen Bewegungen der Nationalsozialisten, Sozial- demokraten oder Kommunisten in Berührung kamen und für diese in der einen oder anderen Weise aktiv waren. Derartige Personaldaten mit Bezug auf die illegale NSDAP wurden systematisch nach einheitlichen Prinzipien in der Wien- Datenbank erfasst.

Diese Datenbank enthält ausschließlich die Daten von Personen, die in dem erwähnten Quellenbestand verzeichnet sind. Die Sichtung der erwähnten anderen Quellenbestände hatte – neben dem allgemein-ereignisgeschichtlichen Interesse – den Zweck, ergänzende und gegebenenfalls korrigierende Personeninformationen zu gewinnen; grundsätzlich wurden aber keine weiteren Personen, deren Daten 203

sich in anderen Beständen finden, zusätzlich in die Datenbank aufgenommen. Durch diese Vorgangsweise sollte ein möglichst einheitliches Sample für die Sozialstrukturanalyse sichergestellt werden. Ich ließ mich bei dieser Vorgangsweise von der Überlegung leiten, dass dieser häufig benützte, wichtige Quellenbestand zu Geschichte der politischen Entwicklung Österreichs in der Zwischenkriegszeit einen gleichsam repräsentativen sozialstrukturellen Querschnitt der Bewegung der illegalen Nationalsozialisten in Wien bieten würde.

C.4.1.2 Repräsentativität

Trotzdem kann die Frage der Repräsentativität der erhobenen Daten nicht mit voller Bestimmtheit beantwortet werden. Die Aktivitäten einer verbotenen und polizeilich verfolgten politischen Partei bringt es mit sich, dass keine oder nur sehr rudimentäre Aufzeichnungen und Karteien über Mitglieder und Anhänger vorliegen.272

Über diese allgemeine Feststellung hinaus ist das politische Verhalten von angeblichen oder tatsächlichen Aktivisten, Anhängern, Mitglieder und Sympathisanten gerade einer Partei wie der NSDAP in der Zeit von 1933 bis 1938 für den Historiker grundsätzlich sehr schwierig zu bewerten. Dass Personen, die in den Jahren des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes in den Verdacht kamen, sich nationalsozialistisch zu betätigen, derartige Anschuldigungen strikt von sich wiesen, ist verständlich. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 hingegen versprachen sich zahllose Menschen Vorteile davon, sich als ehemalige „Illegale“ auszugeben, obwohl sie das niemals gewesen waren.273 1945

272 Eine Auswertung der NSDAP-Mitgliederkartei auf Basis des für die „Illegalen“ 1938 geschaffenen Nummernblocks und dem fiktiven Beitrittsdatum 1. Mai 1938 stößt auf beträchtliche Schwierigkeiten und methodische Vorbehalte. (Vgl. Botz, Die österreichischen NSDAP- Mitglieder, S. 121; allgemein zu Problemen der Mitgliedschaft Jagschitz, Von der Bewegung zum Apparat, S. 107–109.) 273 So weist etwa Roman Eccher in seiner Diplomarbeit nach, dass die die illegale Wiener SA- Brigade 6 als eine Art „Potemkin’sches Dorf“ einzig zu dem Zweck geschaffen wurde, ihren prominenten Mitgliedern nach dem „Anschluss“ die Möglichkeit zu bieten, die aufgrund des Ansturms der „Märzveilchen“ erlassene Mitgliedersperre zu umgehen und als verdiente „Illegale“ in die NSDAP aufgenommen zu werden. (Eccher, SA-Brigade Jäger; vgl. BArch, NS 23/892 – 204

wiederum wollten ehemalige „Illegale“ partout nichts mehr von ihren einschlägigen Aktivitäten zwischen 1933 und 1938 wissen oder versuchten zumindest, diese in einem sehr milden Licht darzustellen.

Hinsichtlich des ausgewählten Samples muss die Frage offen bleiben, nach welchen Prinzipien Berichte über illegale Aktivitäten verbotener politischer Parteien und Bewegungen an die GDfdöS gingen. Auszuschließen ist, dass alle polizeibekannt gewordenen Aktivitäten illegaler Nationalsozialisten in Wien Eingang in den regulären Aktenlauf der GDfdöS und somit in das Sample fanden. Hingegen ist mit gutem Grund zu vermuten, dass sich die zentralen Sicherheits- behörden auf Fälle konzentrierten, denen sich aus verschiedenen Gründen besondere Bedeutung beimaßen.

Es ist wahrscheinlich, dass das Sample zwei besonders stark ins Gewicht fallende Verzerrungen aufweist:

• Bias im öffentlichen Dienst

Die Sicherheitsbehörden richteten aus nahe liegenden Gründen ein Haupt- augenmerk auf die nationalsozialistische Betätigung von öffentlich Bediensteten. Nicht zufällig enthält der Bestand auffallend viele Akten, die einschlägige Verdächtigungen gegen öffentlich Bedienstete (Hoheits- verwaltung, Polizei, Post, Bahn u. dgl.) enthalten. Daher kann man davon ausgehen, dass der ausgewertete Datenbestand ein nicht näher zu gewichtendes Bias im öffentlichen Dienst hat.

Ein Beispiel: Im April 1935 gelang es der Polizei, einen Teil der NS-Bezirks- gruppe des 4. Wiener Gemeindebezirks (Wieden) auszuheben. Der dies- bezüglich in der GDfdöS angelegte Akt enthält ausschließlich Personendaten der öffentlich Bediensteten, die in den sichergestellten illegalen Mitglieder-

„Illegale SA-Brigade 6. Ein Schicksalsbeitrag aus der Kampfzeit der NSDAP in Österreich von 1933 bis zur Machtergreifung 1938“.) 205

listen angeführt waren – also einige wenige von insgesamt rund 300 Personen.274

• Bias bei Führern

Den Führern von nationalsozialistischen Formationen und Parteigliederungen galt ein erkennbar stärkeres behördliches Augenmerk als einfachen Mitgliedern, sodass man die Wien-Datenbank in ihrer Gesamtheit als eine Datenbank der NS-Führerschaft charakterisieren muss.

Aus dieser Erkenntnis folgt für die Auswertung der Wien-Datenbank, was aufgrund der verschiedenen Unwägbarkeiten, die in der Natur der ausgewerteten Quellen liegen, ganz allgemein als Grundprinzip von Analysen historischer Milieus und Sozialstrukturen gelten kann: Bei den ermittelten Zahlenwerten handelt es sich um „Rohdaten“, die einer sorgsam abwägenden, durch weitere Literatur und qualitatives Material (wie beispielsweise lebensgeschichtliche Erzählungen) ergänzten und erweiterten Interpretation bedürfen.

Statistische Auswertungen in Form von tabellarischen Auflistung, Grafiken, Diagrammen etc. vermitteln in der Geschichtswissenschaft – und nur von dieser ist hier die Rede – die Illusion einer gleichsam mathematischen Präzision, die dem Gegenstand nicht angemessen ist. Das heißt nicht, dass der vorliegende Bericht auf grafische Hilfsmittel verzichten wird; diese können für Übersichtlichkeit, Verständlichkeit, Klarheit sorgen und nicht zuletzt der Offenlegung bislang verborgener struktureller Zusammenhänge dienen. Auf eine abwägende, relativierende Analyse und Interpretation der ermittelten Zahlenwerte, die nur unter Heranziehung von Kontextmaterial „funktionieren“ wird, kann der Historiker allerdings nicht verzichten.

C.4.1.3 Prinzipien und Regeln der Datenbank-Erfassung

Erfasst wurden

274 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 22/Wien, Ktn. 5189, Gz. 338.173/35 – „Fialla Ferdinand, Post- inspektor, nationalsozialistische Betätigung“. 206

a) alle Personen, denen von der Polizei explizit illegale NS-Betätigung nach- wiesen werden konnte; b) Personen, denen man zwar aufgrund einer Anzeige kein Vergehen nachweisen konnte, die aber explizit als Nationalsozialisten bezeichnet wurden, die bis zum Parteienverbot aktiv in der Partei tätig waren etc.

Wenn es vor dem Verbot nur „Sympathien“ für die NSDAP gab oder man „Anhänger“ der Partei war, aber nicht explizit als ehemaliges Mitglied bezeichnet wird, dann wurde eine Person nur aufgenommen, wenn zumindest starke Verdachtsmomente auf eine illegale ns Betätigung vorliegen.

Zeitliche Eingrenzung: Es wurden erst Fälle ab 1933 aufgenommen (gegebenenfalls noch vor dem Verbot); das heißt, Fälle aus 1932, die ebenfalls vorhanden sind, wurden gestrichen. Wenn allerdings zusätzlich zu den Angaben aus 1933 bis 1938 noch Angaben aus 1932 vorlagen, so wurden diese ebenfalls in die Datenbank aufgenommen.

Vorstrafen: Aufgrund der Erfahrungen mit der Juliputsch-Auswertung wurde versucht, auch die Vorstrafen der betroffenen Personen zu verzeichnen, was allerdings in den seltensten Fällen geschah. Aufenthalte im Anhaltelager wurden dabei ebenfalls als jeweils eine Vorstrafe (je Aufenthalt) gezählt. Weil es aber nur sehr wenige, unsystematische Angaben dazu gab, wird diese Kategorie in der weiteren Arbeit mit der Datenbank nicht mehr verwendet werden.

Kinderzahl: Auch diese wurde nur sehr selten und unsystematisch angegeben, wodurch eine Auswertung sinnlos erschient. Daher wird auch diese Kategorie in der weiteren Arbeit mit der Datenbank nicht mehr berücksichtigt werden.

Orte: Außerhalb der Wiener Stadtgrenzen, aber im unmittelbaren Einzugsbereich Wiens (wie Mödling, Klosterneuburg, Eichgraben etc.) gelegene Wohnadressen wurden aufgenommen, wenn die betreffende Person ihren Lebensmittelpunkt in Wien hatte bzw. ihre illegalen Aktivitäten hauptsächlich in Wien stattfanden.

Erfasste Daten (Spaltenbezeichnung): 207

Name Hier sind auch abweichende Schreibvarianten, Abweichungen bei Vornamen etc. verzeichnet

Adresse Gemeint ist die Wohnadresse

Zuständigkeit Die in der Regel in den Akten jeweils verzeichnete Gemeinde, in der die betreffende Person Heimatrecht genoss, die also für die Person „zuständig“ war

Geb Geburtsdatum

Rel Religion, Konfessionszugehörigkeit

St Familienstand (ledig, verheiratet, geschieden, verwitwet)

Ki Anzahl der Kinder

Beruf Angabe jeweils im Wortlaut, der in der Quelle verwendet wird; hier wurden auch alle weiteren, gegebenenfalls vorhandenen Kontextinformationen zum sozialen Status einer Person, familiärer Hintergrund, Bildung, Ausbildung, Einkommen, Vermögen und Besitz

Vorstr. Vorstrafen: polizeiliche oder gerichtliche Strafe (nns = nicht wegen ns Betätigung, sondern aus anderen Gründen)

Anmerkungen Zuerst ist das Datum der Erfassung in den Quellen angegeben; weiters sind hier alle weiteren Angaben zur Funktion in der NSDAP etc. enthalten

Ausgeb. Ausgebürgerte und Geflüchtete

Funkt. Funktion in der NSDAP, soweit erkennbar

208

C.4.2 Vorläufige Auswertungen

Eine vollständige Auswertung der Angaben zur Milieuzugehörigkeit der in die Wien-Datenbank aufgenommenen illegalen Nationalsozialisten soll aus forschungsökonomischen Gründen und zur Erreichung der gewünschten Einheitlichkeit gemeinsam mit der Wöllersdorf-Datenbank durchgeführt werden, die zum Zeitpunkt dieses Berichtes noch nicht vollständig vorliegt. Zudem ist zur Ergänzung und Korrektur ein Abgleich der in den beiden Datenbanken enthaltenen Personen vorgesehen, die ebenfalls erst nach Fertigstellung der Wöllersdorf-Datenbank durchgeführt werden kann.

Während also auf das Kernstück des Projektes, die Sozialstrukturanalyse, vorderhand noch verzichtet werden muss, kann in einigen Teilbereichen allerdings bereits eine Auswertung der Datenbank vorgenommen werden. Die nachfolgend präsentierten Ergebnisse sind als vorläufig zu verstehen.

C.4.2.1 Wohnadressen

Gerade in einer Stadt wie Wien mit ihren signifikanten Unterschieden zwischen „besseren“ und „schlechteren“ Wohnquartieren – von „Arbeiterbezirken“ über bürgerlich/kleinbürgerlich dominierten Bezirken bis hin zu den „Nobelbezirken“ des Großbürgertums – kann die Wohnadresse einer Person bereits einen ersten, wesentlichen Hinweis auf ihren sozialen Status, auf ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu enthalten. Die Verteilung der Wohnadressen der Sympathisanten, Anhänger und Aktivisten einer politischen Bewegung verweist also auf ihre sozialstrukturelle Zusammensetzung. 209

Abb.: Auswertung der in der Wien-Datenbank enthaltenen Wohnadressen von illegalen Wiener Nationalsozialisten 1933–1938

Wohnadressen illegaler NS Anteil an der Über-/unter-

absolut in Prozent Wiener repräsentiert Gesamt- bevölkerung 01 Innere Stadt 33 2,58% 2,13% 121 02 Leopoldstadt 65 5,08% 8,00% 64 03 Landstraße 127 9,93% 7,57% 131 04 Wieden 88 6,88% 2,83% 243 05 Margareten 68 5,32% 4,68% 114

06 Mariahilf 49 3,83% 2,66% 144 07 Neubau 68 5,32% 3,13% 170 08 Josefstadt 91 7,11% 2,36% 301 09 Alsergrund 63 4,93% 4,45% 111 10 Favoriten 56 4,38% 8,41% 52

11 Simmering 9 0,70% 2,79% 25 12 Meidling 50 3,91% 5,84% 67 13 Hietzing 104 8,13% 7,53% 108 14 Rudolfsheim 33 2,58% 3,71% 70 15 Fünfhaus 40 3,13% 2,90% 108

16 Ottakring 66 5,16% 8,02% 64 17 Hernals 56 4,38% 4,50% 97 18 Währing 94 7,35% 4,37% 168 19 Döbling 36 2,81% 3,13% 90 20 Brigittenau 41 3,21% 5,23% 61

21 Floridsdorf 42 3,28% 5,75% 57 Summe 1279 100,00% 99,99%

Innenbezirke 652 50,98% 37,81% 135 Außenbezirke 627 49,02% 62,18% 79

Lesebeispiel

2,58% der in der Datenbank der illegalen Wiener Nationalsozialisten 1933–1938 enthaltenen Personen wohnten im 1. Wiener Gemeindebezirk; der Anteil der Einwohnerschaft des 1. Bezirks an der Wiener Gesamtbevölkerung betrug laut Volkszählung 1934 aber nur 2,13%. Demnach kann man davon ausgehen, dass die Nationalsozialisten im 1. Bezirk überrepräsentiert waren. 210

Anmerkungen

Bei manchen in der Datenbank verzeichneten Fällen gab es Doppelangaben, weil Personen, die im Laufe der Jahre mehrmals in den Aktenbeständen aufschienen, ihre Wohnadresse gewechselt hatte. In diesem Fall wurden beide Adressen aufgenommen. Dadurch erklärt es sich, dass die Zahl der Adressen insgesamt (1330) höher ist als die der in der Datenbank insgesamt enthaltenen Fälle (1324). Ausgeschieden wurden sowohl Fälle, für die keine, ungenaue oder missverständliche Wohnadressen vorlagen (25 Fälle) als auch Personen mit Wohnadressen außerhalb der damaligen Stadtgrenze, auch wenn sie im unmittelbaren Einzugsbereich Wiens lebten, sich in Wien illegal betätigten und deshalb von den Sicherheitsbehörden Wien zugeordnet wurden (26 Fälle). Die Prozentuierungsbasis beträgt somit 1279 Fälle.

Es soll nicht verkannt werden, dass es in den einzelnen Wiener Gemeindebezirken höchst unterschiedliche Wohnlagen gab (und gibt), in denen ein beträchtliches soziales Gefälle zum Ausdruck kommt. Ein typischer Arbeiterbezirk wie etwa Ottakring umfasste in seinen Randbereichen am Wienerwald beispielsweise durchaus gutbürgerliche Wohnquartiere, während etwa der klassische großbürgerliche Bezirk Döbling über ein ansehnliches proletarisches Element (etwa rund um den Karl-Marx-Hof) verfügte. Eine flächendeckende Einteilung der Stadt Wien nach dem sozialen Status von bestimmten Wohnquartieren, Bezirksteilen, Vierteln und Straßenzügen und eine Zuordnung der in der Datenbank enthaltenen Wohnadressen dazu erscheint nicht oder nur unter enormen Aufwand möglich und wäre in jedem Fall mit zahlreichen methodischen Zweifeln behaftet – da beispielsweise der Volkszählung 1934 für Wien nur Daten auf Bezirksebene zu entnehmen sind. Der zusätzliche Erkenntnisgewinn einer derartigen, in jedem Fall fragwürdigen Auswertung wäre demgegenüber gering.

Über-/unterrepräsentiert: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

Innenbezirke und Außenbezirke: Als innere Bezirke werden die insgesamt eher kleinbürgerlich- bürgerlichen Wiener Gemeindebezirke 1 bis 9 bezeichnet, die sich innerhalb des Gürtels, einer halbkreisförmigen Umfahrungsstraße, befinden. Die äußeren Bezirke 10 bis 21 gelten bis auf drei Ausnahmen (13., 18. und 19. Bezirk) als eher proletarische Wohnquartiere.

Bias im 3. Bezirk: Die Überrepräsentation der NS im 3. Bezirk kann sich zum Teil durch die Aushebung der NS-Bezirksgruppe Mitte 1936 erklären, durch die allein 37 im 3. Bezirk lebende illegale NS in die Akten der GDfdöS gerieten (und damit in die Wien-Datenbank). Da der Wiener Polizei in anderen Wiener Gemeindebezirken Ähnliches nicht gelang (zumindest hat es keinen Niederschlag in dem von mir bearbeiteten Aktenbestand gefunden), muss man zweifellos von einem leichten Bias im 3. Bezirk sprechen. Allerdings verhält sich der 3. Bezirk in Bezug auf die Überrepräsentation der NS-Wohnadressen ähnlich wie in Bezug auf das Wahlergebnis im Jahr 1932, wo er ebenso wie in der Wohnadressen-Auswertung an sechster Stelle im NS-internen Ranking liegt.

Bias im 8. Bezirk: Eine geringfügige Verzerrung kann sich im 8. Bezirk dadurch ergeben haben, dass sich die Polizei offensichtlich ganz besonders auf das als NS-Hochburg geltende Deutsche Studentenheim in der Pfeilgasse 4 konzentrierte und Bewohner dieses Heimes deshalb relativ häufig in den von mir ausgewerteten Aktenbestand gerieten. Aber selbst wenn man diese vermutliche Verzerrung berücksichtigt, dürfte sich nichts an der führenden Stellung des 8. Bezirks im Ranking ändern. 211

Abb.: Wohnadressen illegaler Nationalsozialisten gereiht nach der Über- oder Unterrepräsentation des NS-Anteils im Verhältnis zur Einwohnerzahl eines Bezirks

über-/unter- über-/unter- repräsentiert repräsentiert 08 Josefstadt 301 17 Hernals 97 04 Wieden 243 19 Döbling 90 07 Neubau 170 14 Rudolfsheim 70 18 Währing 168 12 Meidling 67 06 Mariahilf 144 02 Leopoldstadt 64 03 Landstraße 131 16 Ottakring 64 01 Innere Stadt 121 20 Brigittenau 61 05 Margareten 114 21 Floridsdorf 57 09 Alsergrund 111 10 Favoriten 52 13 Hietzing 108 11 Simmering 25 15 Fünfhaus 108 Über-/Unterrepräsentation: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

212

Abb.: Vergleich der Über-/Unterrepräsentation bei NS-Wohnadressen 1933–1938 mit den NS-Anteilen bei den Wahlen vom April 1932 (gereiht nach dem Bezirksranking der Wohnadressen)

Wohnadressen Gemeinderatswahl 1932 über-/unter- Bezirks- NSDAP-Stimmen- Bezirks- repräsentiert ranking anteil ranking 08 Josefstadt 301 1. 27,91% 3. 04 Wieden 243 2. 31,02% 1. 07 Neubau 170 3. 24,87% 4. 18 Währing 168 4. 28,14% 2. 06 Mariahilf 144 5. 23,54% 5. 03 Landstraße 131 6. 23,25% 6. 01 Innere Stadt 121 7. 17,86% 12. 05 Margareten 114 8. 19,60% 9. 09 Alsergrund 111 9. 21,15% 8. 13 Hietzing 108 10. 18,13% 11. 15 Fünfhaus 108 10. 18,37% 10. 17 Hernals 97 12. 16,96% 13. 19 Döbling 90 13. 21,52% 7. 14 Rudolfsheim 70 14. 13,03% 16. 12 Meidling 67 15. 14,09% 15. 02 Leopoldstadt 64 16. 16,74% 14. 16 Ottakring 64 16. 11,87% 18. 20 Brigittenau 61 18. 10,55% 19. 21 Floridsdorf 57 19. 12,13% 17. 10 Favoriten 52 20. 10,10% 20. 11 Simmering 25 21. 7,28% 21. Lesebeispiel: In der Datenbank der illegalen Wiener Nationalsozialisten 1933–1938 sind Personen mit Wohnadressen im 8. Bezirk im Vergleich zur Einwohnerzahl des Bezirks dreifach überrepräsentiert, damit liegt der Bezirk im Ranking der Wohnadressen von illegalen Nationalsozialisten an erster Stelle unter allen Wiener Bezirken. Bei der Gemeinderatswahl vom 24. April 1932 lag der Stimmenanteil der NSDAP im 8. Bezirk bei nahezu 28%; damit verzeichnete dieser Bezirk den drittstärksten NS-Anteil unter allen Wiener Bezirken.

Anmerkung: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

213

Abb.: Hochburgen und Diasporagebiete der Wiener Nationalsozialisten 1932–1938

Schwarz eingefärbt sind die Hochburgen der Wiener Nationalsozialisten bei der Gemeinderatswahl vom 24. April 1932: 4. Bezirk (Wieden), 18. Bezirk (Währing), 8. Bezirk (Josefstadt), 7. Bezirk (Neubau), 6. Bezirk (Mariahilf). Grau eingefärbt sind die nationalsozialistischen Diasporagebiete: 11. Bezirk (Simmering), 10. Bezirk (Favoriten), 20. Bezirk (Brigittenau), 16. Bezirk (Ottakring), 21. Bezirk (Floridsdorf). In der Illegalität änderte sich an dieser Verteilung laut Auswertung der Wien- und Wöllersdorf-Datenbank im Wesentlichen nichts.

Die vorangegangenen Abbildungen zeigen, dass alle Bezirke, in denen die Nationalsozialisten bei der Wiener Gemeinderatswahl vom 24. April 1932 überdurchschnittlich stark waren, einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Wohnadressen von illegalen Nationalsozialisten 1933 bis 1938 aufweisen. Umgekehrt: Je schwächer die Nationalsozialisten bei den Wahlen 1932 in einem Bezirk waren, desto weniger illegale Nationalsozialisten wohnten 1933 bis 1938 in diesen Bezirken. 214

Wenn man das Bias der Datenbank der illegalen Wiener Nationalsozialisten im Bereich der Führer berücksichtigt, so folgt daraus, dass sich zumindest die Führungsschichten der Wiener Nationalsozialisten in der Illegalität 1933 bis 1938 gegenüber 1932 strukturell in keiner Weise verändert haben. Am stärksten waren die Nationalsozialisten nach wie vor in den innerstädtischen kleinbürger- lich/bürgerlichen Bezirken sowie in Währing, am schwächsten in Arbeiter- bezirken, die als Hochburgen der Sozialdemokratie galten.

Dieser starke NS-Überhang in „besseren“, kleinbürgerlich/bürgerlichen Wohn- gegenden wird noch dadurch verstärkt, dass auch Nationalsozialisten, die nicht direkt im Stadtgebiet, aber in der unmittelbaren Einzugsgebiet Wiens lebten, ihren Lebensmittelpunkt in Wien hatten und sich hier nationalsozialistisch betätigten, ebenfalls stark zu bürgerlichen Orten tendierten (wie Klosterneuburg, Mauer, Perchtoldsdorf oder Mödling).

Als einigermaßen objektives Kriterium zur Bewertung der sozialen Zusammen- setzung eines Bezirks bieten sich die Ergebnisse der österreichischen Volks- zählung 1934 an, die nach Bezirken aufgegliederte Daten über die wirtschaftliche Zugehörigkeit der Wohnbevölkerung enthalten (siehe folgende Abbildung).

Nach allgemeiner Lehre wird die Volkswirtschaft in einen primären (Land- und Forstwirtschaft), sekundären (warenproduzierendes Gewerbe) und tertiären Sektor (Dienstleistungen) eingeteilt.

Die Verteilung der Zugehörigkeit einer bestimmten Bevölkerung zu den volkswirtschaftlichen Sektoren ist deshalb von Interesse, weil sie konkrete Hinweise auf die Milieuverteilung liefert. Im Primärsektor ist das bäuerliche Milieu vorherrschend: 44,8% aller Selbständigen und 93,3% aller mithelfenden Familienmitglieder entfallen auf diesen Bereich. Der Sekundärsektor ist mit 49,5% aller Arbeiter von diesem Milieu, wenn auch weniger signifikant, dominiert. 74% aller Angestellten sowie 27,8% der Selbständigen gehören dem 215

Tertiärsektor an275 – ein überdurchschnittlich ausgebildeter Tertiärsektor ist demnach ein Hinweis auf ein starkes kleinbürgerlich/bürgerliches Milieu.

Dirk Hänisch hat im Zuge seiner Analysen der nationalsozialistischen Wähler- schaft festgestellt, dass die wirtschaftssektoralen Variablen „ein nahezu vollwertiger Ersatz für die Sozialstrukturvariablen sind“.276 Nicht zuletzt deshalb kann eine Analyse der Wiener Gemeindebezirke nach ihren Anteilen an den volkswirtschaftlichen Sektoren Hinweise auf ihre Sozialstruktur liefern.

Abb.: Wiener Wohnbevölkerung nach volkswirtschaftlichen Sektoren

Wohn- Primär- Sekundär- Tertiär- Ohne Beruf bevölkerung sektor sektor sektor 01 Innere Stadt 39.963 0,67% 18,51% 59,53% 19,90% 02 Leopoldstadt 149.861 0,50% 30,78% 50,50% 15,85% 03 Landstraße 141.810 0,61% 32,32% 45,67% 19,71% 04 Wieden 53.063 0,60% 25,85% 49,01% 23,39% 05 Margareten 87.767 0,22% 40,29% 40,43% 16,38% 06 Mariahilf 49.785 0,22% 34,96% 45,79% 17,47% 07 Neubau 58.571 0,23% 33,35% 46,34% 18,69% 08 Josefstadt 44.321 0,42% 26,82% 48,39% 22,98% 09 Alsergrund 83.407 0,27% 25,78% 51,35% 21,06% 10 Favoriten 157.533 0,53% 49,51% 32,56% 14,52% 11 Simmering 52.280 6,83% 44,01% 29,52% 15,69% 12 Meidling 109.499 0,55% 45,94% 35,98% 16,21% 13 Hietzing 141.207 0,89% 35,65% 36,96% 24,30% 14 Rudolfsheim 69.470 0,37% 47,71% 33,80% 16,81% 15 Fünfhaus 54.440 0,21% 41,29% 39,89% 17,24% 16 Ottakring 150.379 0,37% 50,42% 32,50% 14,13% 17 Hernals 84.407 0,53% 45,11% 35,59% 16,31% 18 Währing 81.901 0,77% 30,31% 44,65% 22,89% 19 Döbling 58.641 2,65% 32,14% 43,30% 20,03% 20 Brigittenau 98.021 0,47% 43,67% 37,83% 14,30% 21 Floridsdorf 107.804 3,11% 46,80% 29,42% 17,61% Ø Wien 1.874.130 0,89% 38,78% 40,19% 17,96%

Quelle: VZ 34, Heft 3, S. 2–3; eigene Berechnungen.

275 Zahlen nach VZ 34, Heft 1, S. 211 f. 276 Hänisch, NSDAP-Wähler, S. 358. 216

Anmerkungen zur Abb. auf der Vorseite:

Die Differenz auf 100% erklärt sich aus dem Fehlen der in der VZ 34 ebenfalls ausgewiesenen Kategorie „ohne Berufsangabe“ (die nicht mit der Kategorie „ohne Beruf“ verwechselt werden sollte).

Primärsektor: Abteilung „Land- und Forstwirtschaft“ der VZ 34.

Sekundärsektor: Abteilung „Industrie und Gewerbe“ der VZ 34.

Tertiärsektor: Setzt sich aus den Abteilungen „Handel und Verkehr“, „Geld-, Kredit- und Versicherungswesen“, „Öffentlicher Dienst“; „Freie Berufe“ („Unter den Freien Berufen sind folgende Wirtschaftsgruppen enthalten: Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung, Kunst und Unterhaltung, Rechtsberatung, Interessenvertretung und technische Büros“) sowie „Häusliche Dienste“ („Unter den Häuslichen Diensten sind nur die nicht in Stellung befindlichen und die außerhalb des Haushaltes des Dienstgebers wohnhaften Personen dieser Abteilung gezählt; das im Haushalt des Dienstgebers lebende Personal ist unter dem Wirtschaftszweig des Dienstgebers gezählt“) der VZ 34 zusammen.

Ohne Beruf: Diese heterogene Kategorie setzt sich aus Hausbesitzern und Rentnern, Pensionisten des öffentlich-rechtlichen Dienstes, Privatpensionisten, Sozialrentner, Ausgedinger, in Armenpflege Lebende, Almosenempfänger und Berufslose ohne nähere Angaben zusammen (siehe VZ 1934, Tabelle 9a, Seite 29– 30).

Reiht man die Bezirke nach ihren Anteilen am Sekundärsektor, so zeigt sich, dass sich die bevorzugten Wohngebiete der illegalen Wiener Nationalsozialisten durchwegs in Bezirken mit einem unterdurchschnittlich hohen Anteil an im Sekundärsektor beschäftigten Personen (also in erster Linie Arbeitern) befanden.

Abb.: Reihung der Wiener Gemeindebezirke nach ihrem Anteil am Sekundärsektor (Industrie und Gewerbe)

Anteil Anteil Sekundärsektor Sekundärsektor 16 Ottakring 50,42% 13 Hietzing 35,65% 10 Favoriten 49,51% 06 Mariahilf 34,96% 14 Rudolfsheim 47,71% 07 Neubau 33,35% 21 Floridsdorf 46,80% 03 Landstraße 32,32% 12 Meidling 45,94% 19 Döbling 32,14% 17 Hernals 45,11% 02 Leopoldstadt 30,78% 11 Simmering 44,01% 18 Währing 30,31% 20 Brigittenau 43,67% 08 Josefstadt 26,82% 15 Fünfhaus 41,29% 04 Wieden 25,85% 05 Margareten 40,29% 09 Alsergrund 25,78% Ø Wien 38,78% 01 Innere Stadt 18,51%

Anmerkung: Die sechs wichtigsten NS-Hochburgen in Wien sind kursiv hervorgehoben. 217

Ein gegenteiliges Bild ergibt sich, wenn man den Dienstleistungssektor und die Kategorie „ohne Beruf“ betrachtet. Die Hochburgen der Wiener National- sozialisten lagen durchwegs in Bezirken mit hohen Anteilen an diesen Sektoren.

Abb.: Reihung der Wiener Gemeindebezirke nach ihrem Anteil am Tertiärsektor (Dienstleistungen)

Anteil Anteil Tertiärsektor Tertiärsektor 01 Innere Stadt 59,53% Ø Wien 40,19% 09 Alsergrund 51,35% 15 Fünfhaus 39,89% 02 Leopoldstadt 50,50% 20 Brigittenau 37,83% 04 Wieden 49,01% 13 Hietzing 36,96% 08 Josefstadt 48,39% 12 Meidling 35,98% 07 Neubau 46,34% 17 Hernals 35,59% 06 Mariahilf 45,79% 14 Rudolfsheim 33,80% 03 Landstraße 45,67% 10 Favoriten 32,56% 18 Währing 44,65% 16 Ottakring 32,50% 19 Döbling 43,30% 11 Simmering 29,52% 05 Margareten 40,43% 21 Floridsdorf 29,42%

Anmerkung: Die sechs wichtigsten NS-Hochburgen in Wien sind kursiv hervorgehoben.

Abb.: Reihung der Wiener Gemeindebezirke nach ihrem Anteil an der Kategorie „ohne Beruf“

Anteil Anteil „ohne Beruf“ „ohne Beruf“ 13 Hietzing 24,30% 06 Mariahilf 17,47% 04 Wieden 23,39% 15 Fünfhaus 17,24% 08 Josefstadt 22,98% 14 Rudolfsheim 16,81% 18 Währing 22,89% 05 Margareten 16,38% 09 Alsergrund 21,06% 17 Hernals 16,31% 19 Döbling 20,03% 12 Meidling 16,21% 01 Innere Stadt 19,90% 02 Leopoldstadt 15,85% 03 Landstraße 19,71% 11 Simmering 15,69% 07 Neubau 18,69% 10 Favoriten 14,52% Ø Wien 17,96% 20 Brigittenau 14,30% 21 Floridsdorf 17,61% 16 Ottakring 14,13%

Anmerkung: Die sechs wichtigsten NS-Hochburgen in Wien sind kursiv hervorgehoben. 218

In seiner berühmten Analyse der Wiener Gemeinderatswahl 1932 verwendete Robert Danneberg unter anderem eine Aufstellung der Verteilung der männlichen Wahlberechtigten nach Berufen in Wien 1923, die er auch für das Jahr 1932 noch für aussagekräftig hält.277

Abb.: Verteilung der männlichen Wahlberechtigten nach Berufen in den Wien Gemeindebezirken 1923

Arbeiter und Angestellte Selbständige, Freiberufler und Berufslose 01 Innere Stadt 53,30% 44,88% 02 Leopoldstadt 66,94% 32,73% 03 Landstraße 73,10% 26,70% 04 Wieden 63,81% 36,01% 05 Margareten 73,27% 26,63% 06 Mariahilf 60,74% 39,09% 07 Neubau 61,96% 37,71% 08 Josefstadt 62,77% 36,98% 09 Alsergrund 65,99% 33,79% 10 Favoriten 83,29% 16,61% 11 Simmering 80,94% 18,90% 12 Meidling 76,92% 22,94% 13 Hietzing 71,49% 28,25% 14 Rudolfsheim 77,38% 22,52% 15 Fünfhaus 74,65% 25,06% 16 Ottakring 79,42% 20,50% 17 Hernals 76,70% 23,17% 18 Währing 72,42% 27,34% 19 Döbling 71,81% 27,88% 20 Brigittenau 78,05% 21,87% 21 Floridsdorf 81,64% 18,22% Ø Wien 73,30% 26,49%

Quelle: Danneberg, Gemeinderatswahlen, Nr. 8/9, S. 374.

277 Er führt dazu aus: „Da seit dem Jahre 1923 auch keine sehr wesentliche Änderungen in der Siedlung der Wiener Bevölkerung eingetreten sind, insbesondere die Citybildung keine Fort- schritte gemacht hat, so darf man die Verteilung der Berufsschichten in den einzelnen Wiener Bezirken von damals auch noch für heute ungefähr als richtig anerkennen. Die Gemeindebauten dürften allerdings einige Änderungen hervorgerufen haben.“ (Danneberg, Gemeinderatswahlen, Nr. 8/9, S. 373 f.) 219

Anmerkung zur umseitigen Abb.:

Die bei Danneberg abgedruckte Tabelle ist umfangreicher und umfasst insgesamt acht Kategorien. Für die Zwecke dieser Darstellung wurden die Kategorien zusammengefasst. Die Spalte „Arbeiter und Angestellte“ enthält die Kategorien „Arbeiter in Privatbetrieben“, „Hausgehilfen“, „Privatangestellte“, „Angestellte und Arbeiter in öffentlichen Diensten“; die Spalte Selbständige, Freiberufler und Berufslose die Kategorien „Selbständige“, „Freie Berufe“, „Beruflose (Pensionisten, Rentner usw.)“. Die in der Originaltabelle ebenfalls enthaltene Kategorie „Religionsgenossenschaften“, die im Schnitt 0,21% umfasst, wurde ausgeklammert; daraus erklärt sich, dass sich bei der Addition der Zeilen eine Differenz zu 100 ergibt.

Abb.: Reihung der Wiener Gemeindebezirke nach ihrem Anteil an den Arbeitern und Angestellten unter den männlichen Wahlberechtigten 1923

Arb. u. Angest. Arb. u. Angest. 10 Favoriten 83,29% 03 Landstraße 73,10% 21 Floridsdorf 81,64% 18 Währing 72,42% 11 Simmering 80,94% 19 Döbling 71,81% 16 Ottakring 79,42% 13 Hietzing 71,49% 20 Brigittenau 78,05% 02 Leopoldstadt 66,94% 14 Rudolfsheim 77,38% 09 Alsergrund 65,99% 12 Meidling 76,92% 04 Wieden 63,81% 17 Hernals 76,70% 08 Josefstadt 62,77% 15 Fünfhaus 74,65% 07 Neubau 61,96% Ø Wien 73,30% 06 Mariahilf 60,74% 05 Margareten 73,27% 01 Innere Stadt 53,30% Anmerkung: Die sechs wichtigsten NS-Hochburgen in Wien sind kursiv hervorgehoben.

Abb.: Reihung der Wiener Gemeindebezirke nach ihrem Anteil an den Selbständigen, Freiberuflern und Berufslosen unter den männlichen Wahlberechtigten 1923

Selbst., Freib., u. Ber. Selbst., Freib., u. Ber. 01 Innere Stadt 44,88% 05 Margareten 26,63% 06 Mariahilf 39,09% Ø Wien 26,49% 07 Neubau 37,71% 15 Fünfhaus 25,06% 08 Josefstadt 36,98% 17 Hernals 23,17% 04 Wieden 36,01% 12 Meidling 22,94% 09 Alsergrund 33,79% 14 Rudolfsheim 22,52% 02 Leopoldstadt 32,73% 20 Brigittenau 21,87% 13 Hietzing 28,25% 16 Ottakring 20,50% 19 Döbling 27,88% 11 Simmering 18,90% 18 Währing 27,34% 21 Floridsdorf 18,22% 03 Landstraße 26,70% 10 Favoriten 16,61% Anmerkung: Die sechs wichtigsten NS-Hochburgen in Wien sind kursiv hervorgehoben. 220

Die vorstehenden Abbildungen ergeben ein klares Bild: Die national- sozialistischen Hochburgen befanden sich durchwegs in Bezirken mit überdurch- schnittlich hohen Anteilen an Selbständigen, Freiberuflern und Berufslosen, während die nationalsozialistischen Diasporagebiete durchwegs in Bezirken mit überdurchschnittlich hohen Anteilen an Lohnabhängigen (also Arbeitern und Angestellten) lagen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verteilung der NS-Anhänger über das Wiener Stadtgebiet in der Ära des illegalen Nationalsozialismus 1933 bis 1938 ganz und gar der bekannten Formel von der Mittelstandslastigkeit der NSDAP entspricht. Wie der Vergleich mit den Wahlergebnissen 1932 zeigt, dürfte sich an diesem Bild auch unter den Bedingungen der Diktatur Dollfuß/Schuschnigg wenig geändert haben.

Zu diesem quantitativen Befund passend ergibt auch die Sichtung der eingangs erwähnten Quellen kaum Evidenz dafür, dass Wiener Sozialdemokraten nach dem 12. Februar 1934 und vor dem 12. März 1938 in größerer Zahl zu den National- sozialisten überliefen – viel eher wandten sie sich der Kommunistischen Partei zu. Von einer aktiven „Kampfgemeinschaft“ zwischen Rot und Braun kann keine Rede sein, bestenfalls stand man sich „passiv“ bei, indem beispielsweise die eine illegale Gruppierung nicht Angehörige der anderen an die Polizeibehörden verriet etc. Aus Bundesländern wie Oberösterreich, Kärnten oder Steiermark wird hin- gegen wesentlich häufiger als aus Wien von Übertritten ehemaliger Schutzbündler und Sozialdemokraten zu den Nationalsozialisten bzw. zur SA berichtet.278

Das sehr dichte sozialdemokratische Milieu des „roten Wien“ schottete offen- sichtlich besonders wirksam gegen derartige Versuchungen ab – zumindest bis zum „Anschluss“. Wesentlich stärker als in den österreichischen Flächenbundes- ländern dürfte die sozialstrukturelle Zusammensetzung der NSDAP in Wien auch

278 Vgl. allgemein zu dieser Thematik Konrad, Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938; Schafranek, Zwischen Boykott und Anpassung; Schafranek, Hakenkreuz und rote Fahne; Schafranek, NSDAP und Sozialisten nach dem Februar 1934. 221

noch während der Illegalität als „mittelständisch“ oder „bürgerlich“ zu bezeichnen sein.

C.4.2.2 Konfession

Die Analyse der Wahlergebnisse der Weimarer Republik (Jürgen Falter) zeigt, dass die NSDAP vor allem in evangelischen Gebieten Erfolge feiern konnte. Protestanten waren im Schnitt fast doppelt so anfällig für den Nationalsozialismus wie Katholiken. In weiten Teilen der evangelischen Kirche Deutschlands bestand eine weltanschauliche Nähe zum Nationalsozialismus, der von vielen evangelischen Theologen als nationale Erneuerungsbewegung angesehen wurde. Bei der Konfessionszugehörigkeit handelte es sich, so folgert Falter, „um einen

‚genuinen‘, von anderen Größen weitgehend unabhängigen Einflussfaktor …, der für das Wahlverhalten gegenüber der NSDAP bis ins Jahr 1933 von ausschlag- gebender Bedeutung war“.279

Ähnlich verhielt es sich in Österreich: Dirk Hänisch kommt bei seiner Analyse der österreichischen NSDAP-Wähler zum Ergebnis, dass von der protestantischen Konfessionsstruktur ein „schwacher, aber nachweisbar positiver Effekt auf das Abschneiden der Nationalsozialisten“ ausging.280 Auch nach dem Verbot der NSDAP lässt das Phänomen einer überdurchschnittlichen NS-Affinität von Protestanten nachweisen, wie für den Juliputsch nachgewiesen werden konnte (siehe die nachfolgenden Abbildungen).

279 Falter, Hitlers Wähler, S. 169–193. 280 Elste/Hänisch, Auf dem Weg zur Macht, S. 143–150; vgl. weiters Hänisch, NSDAP-Wähler, S. 253–269. 222

Abb.: Konfessionsstruktur der Juliputsch-Beteiligten

Juliputsch- Mann- militärische politische Aufstands- Beteiligte schaft Führer Führer bundesländer insg. (ohne Städte) römisch-katholisch 90,6% 91,5% 82,4% 84,1% 95,6% evangelisch (A. B.) 9,0% 8,2% 17,7% 15,9% 3,6% erfasste Personen 2129 1914 136 44 2.192.351

Quelle: Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte des Juliputsches, S. 217.

Abb.: Vergleich der Konfessionsstruktur der Juliputsch-Beteiligten mit der Konfessionsstruktur der in der Datenbank der Juliputsch-Beteiligten enthaltenen Aufstands- und Sammlungsorte

römisch- evangelisch erfasste Personen katholisch (A. B.) in der Datenbank der Juliputsch-Beteiligten enthaltene 93,3% 5,8% 143.793 Aufstands- und Sammlungsorte

Juliputsch-Beteiligte (Mannschaft und Führer) 90,6% 9,0% 2.129

über-/unterrepräsentiert 97,1 155,2

100 = gleich; unter 100 = unterrepräsentiert; über 100 = überrepräsentiert

Quelle: Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte des Juliputsches, S. 217.

Die Untersuchungen über den Juliputsch zeigen,

• dass sich der Aufstand zum Teil auf Regionen und Gemeinden mit einem überdurchschnittlichen Protestantenanteil konzentrierte,

• und dass in diesen Gemeinden wiederum Protestanten unter den Juliputsch- Beteiligten deutlich häufiger zu finden waren, als es ihrem Gesamtanteil an der jeweiligen Gemeindebevölkerung entsprochen hätte.

Der Protestantenanteil unter NS-Führern war doppelt so hoch wie unter einfachen Mannschaftsleute und überstieg den Anteil an der Gesamtbevölkerung um das Viereinhalbfache. Die Wurzeln vieler Naziführer im (zu einem guten Teil protestantischen) deutschnationalen Milieu treten deutlich zutage. 223

Wie verhielt es sich diesbezüglich in der Großstadt Wien? Kamen hier andere Einflussfaktoren zum Tragen? Einen Hinweis auf Aggregatebene liefert die Konfessionsverteilung der Wiener Gemeindebezirke (siehe folgende Abbildungen).

Abb.: Reihung der Wiener Gemeindebezirke nach den Anteilen der evangelischen Konfessionsangehörigen

Evangelisch Römisch- Israelitisch Konfessionslos katholisch 04 Wieden 9,98% 75,79% 9,66% 2,61% 01 Innere Stadt 7,86% 62,82% 24,07% 3,24% 06 Mariahilf 7,67% 72,42% 15,10% 3,20% 08 Josefstadt 7,60% 74,15% 13,18% 2,85% 18 Währing 7,13% 81,53% 6,17% 3,09% 03 Landstraße 6,96% 78,76% 9,13% 3,20% 10 Favoriten 6,93% 84,10% 2,31% 5,08% 05 Margareten 6,89% 83,05% 4,37% 3,84% 07 Neubau 6,80% 74,03% 14,82% 2,75% 13 Hietzing 6,70% 82,70% 3,94% 4,41% 19 Döbling 6,57% 78,66% 9,01% 3,82% Ø Wien 5,89% 78,74% 9,39% 4,05% 15 Fünfhaus 5,86% 82,46% 4,73% 4,86% 21 Floridsdorf 5,80% 85,68% 1,72% 5,50% 12 Meidling 5,79% 85,07% 2,27% 4,95% 09 Alsergrund 5,31% 66,56% 23,28% 3,20% 11 Simmering 4,68% 88,76% 0,99% 3,90% 14 Rudolfsheim 4,63% 84,23% 4,32% 4,75% 17 Hernals 4,19% 86,09% 3,58% 3,66% 16 Ottakring 4,18% 85,27% 2,73% 5,11% 02 Leopoldstadt 3,83% 57,77% 33,98% 3,05% 20 Brigittenau 3,46% 74,55% 15,32% 4,58%

Quelle: VZ 34, Heft 3, S. 2–3; eigene Berechnungen.

Anmerkungen:

Die in den Volkszählungsergebnissen angegebenen Positionen „altkatholisch“ und „andere“ wurden weggelassen; bei den Evangelischen wurden Augsburger Bekenntnis und Helvetisches Bekenntnis zusammengefasst.

Die sechs wichtigsten NS-Hochburgen in Wien sind kursiv hervorgehoben.

224

Sämtliche Hochburgen der illegalen NSDAP in Wien liegen in Bezirken mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Angehörigen der evangelischen Konfession. Der stärkste Bezirk der NSDAP bei der Gemeinderatswahl vom 24. April 1932, Wieden, ist mit knapp 10% auch derjenige Wiener Gemeinde- bezirk mit dem höchsten Protestantenanteil.

Die Auswertung der Wien-Datenbank schärft dieses Ergebnis auf Individualebene (siehe folgende Abbildung).

Abb.: Konfessionszugehörigkeit der in der Datenbank der illegalen Wiener Nationalsozialisten enthaltenen Personen

Illegale NS Illegale NS Wiener Gesamt- über- absolut anteilsmäßig bevölkerung /unter- repräs. Römisch-katholisch 612 77,08% 78,74% 98 Evangelisch (A.B. u. H.B.) 161 20,28% 5,89% 344

Konfessionslos 10 1,26% 4,05% 31 Altkatholisch 9 1,13% 1,48% 76 Weitere Konfessionen 2 0,26% — —

Quelle für die Angaben der Konfessionszugehörigkeit der Wiener Gesamtbevölkerung: VZ 34, Heft 3, S. 2– 3; eigene Berechnungen.

Lesebeispiel: 612, das sind 77,08% der in der Datenbank der Wiener Illegalen 1933–1938 enthaltenen Per- sonen waren römisch-katholischer Konfessionszugehörigkeit; der Anteil der römisch-katholischen Konfession an der Wiener Gesamtbevölkerung betrug laut Volkszählung 1934 aber 78,74%. Demnach kann man von einer leichten, nicht ins Gewicht fallenden Unterrepräsentation von Angehörigen der römisch- katholischen Konfession unter den Nationalsozialisten sprechen.

Anmerkungen:

Bei 531 der 1325 in der Datenbank erfassten Personen fehlen Angaben zur Konfessionszugehörigkeit; Prozentuierungsbasis demnach: 794 Konfessionsangaben. – Weitere Konfessionsangaben in der Datenbank: griechisch-katholisch und griechisch-orthodox.

Über-/Unterrepräsentation: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

Die dreieinhalbfache Überrepräsentation von Protestanten unter den Wiener Nationalsozialisten verweist auf das traditionsreiche deutschnational-völkische 225

Milieu, aus dem sich die NS-Eliten in Wien (wie im übrigen Österreich) bevorzugt rekrutierten. Es zeigt sich erneut, was bereits anderen Untersuchungen zu entnehmen ist: Wie im Deutschen Reich verweist evangelische Konfessions- zugehörigkeit stärker als jeder andere Indikator auf eine überdurchschnittlich hohe NS-Affinität.

C.4.2.3 Altersstruktur

In einer immer stärker überregional ausgerichteten Gesellschaft entstehen – über alle Sozialgrenzen hinweg – verstärkt Zusammenhänge zwischen Gleichaltrigen. Das Alter wird zu einem bedeutenden sozialen Indikator – neben Milieu, Geschlecht, Religion, politisch-weltanschaulicher Zugehörigkeit etc. Gemeinsame Erfahrungen von Altersgenossen wirken identitätsbildend.

In der historischen Forschung hat die überdurchschnittliche Jugendlichkeit der Mitglieder der NS-Bewegung immer wieder Aufmerksamkeit erregt.281 Unter den Zeitgenossen wurde das Phänomen ebenfalls schon früh allgemein wahr- genommen. Tatsächlich waren an subversiven, illegalen, gewalttätigen, strafbaren politischen Aktionen Jüngere, zum überwiegenden Teil unter 30-Jährige besonders stark beteiligt, wie Gerhard Botz in seinem Standardwerk „Gewalt in der Politik“ nachweist.282

Die Analyse der Altersstruktur der nationalsozialistischen Juliputsch-Beteiligten ergab, dass knapp zwei Drittel jünger als 30 Jahre waren (Durchschnittsalter: 28 Jahre). Zwischen einfachen Mannschaftsleuten und Führern bestanden markante Unterschiede:

281 Vgl. u. a. allgemein die Einleitung bei Kater, Generationskonflikt; Falter, Hitlers Wähler, S. 146; für Österreich: Pauley, Der Weg in den Nationalsozialismus, S. 93 ff. 282 Botz zufolge gehörten 22% der in der Ersten Republik an politischen Gewalttaten als Täter, Opfer oder Zeugen beteiligten Personen den 16- bis 19-Jährigen und 61% den 20- bis 29-Jährigen an, womit 83% der Militanten unter 30 Jahren alt waren. Das durchschnittliche Alter der sozialistischen Militanten betrug 1932/33 27,7 Jahre, das der katholisch-konservativen und Heimwehr-Militanten 27,2, das der nationalsozialistischen Militanten hingegen nur 23,1 Jahre. (Botz, Gewalt, S. 325–327.) Vgl. zur Frage der Jugendlichkeit der Akteure der politischen Auseinandersetzungen in Wien um 1930 Bauer, „… jüdisch aussehende Passanten“. 226

• Politische Führer waren im Schnitt 38 Jahre alt, zu 80% verheiratet und hatten rund zwei Kinder pro Kopf.

• Militärische Führer waren im Schnitt 31½ Jahre alt, zu 40% verheiratet und hatten ein Kind pro Kopf.

• Einfache Mannschaftsleute ohne Rang waren mit durchschnittlich knapp 28 Jahren wesentlich jünger als ihre Führer; drei Viertel waren unverheiratet.

Die meisten Juliputsch-Beteiligten hatten also am Weltkrieg nicht teilgenommen, waren aber in seinem Schatten geboren und aufgewachsen und unmittelbar von der Not und dem sozialen Niedergang der Kriegs- und Nachkriegsjahre betroffen.283

Die für die Wien-Datenbank erhobenen Daten erlaubten eine ähnliche Analyse der Altersstruktur der illegalen Wiener Nationalsozialisten, wobei allerdings aufgrund der ausgewerteten Quellen eine nach politischen, militärischen Führern und einfachen Mannschaftsleuten gegliederte Analyse in der ausgefeilten Form der Juliputsch-Untersuchung erst nach Beendigung der Erfassung der Wöllersdorf- Daten und der gemeinsamen Auswertung der Wien- und der Wöllersdorf-Daten möglich ist.

283 Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte, S. 165–168, 235. 227

Abb.: Grundzahlen Altersstruktur Wien-Datenbank

Jahrgang Anzahl Jahrgang Anzahl Jahrgang Anzahl Personen Personen Personen 1858 1 1886 3 1905 37 1865 1 1887 10 1906 25 1869 1 1888 8 1907 21 1870 1 1889 16 1908 31 1871 1 1890 18 1909 41 1872 1 1891 20 1910 35 1873 1 1892 19 1911 45 1874 3 1893 23 1912 46 1875 2 1894 15 1913 51 1876 2 1895 15 1914 29 1877 2 1896 28 1915 23 1878 1 1897 23 1916 25 1879 0 1898 32 1917 13 1880 5 1899 23 1918 23 1881 9 1900 37 1919 17 1882 3 1901 48 1920 10 1883 6 1902 32 1921 1 1884 4 1903 42 Gesamt 966 1885 11 1904 26

Anmerkung: Insgesamt enthält die Wien-Datenbank 1324 Personen; in 358 Fällen gibt es keine oder missverständliche Angaben zum Geburtsjahr, sodass die Datenbank insgesamt 966 verwertbare Personenangaben enthält. 228

In ein Balkendiagramm umgesetzt, ergibt diese Tabelle folgendes Bild:

Abb.: Altersstruktur der illegalen Wiener Nationalsozialisten 1933–1938 (in absoluten Zahlen)

50

45

40

35

30

25

20

15

10

5

0 j 1870 j 1872 j 1874 j 1876 j 1878 j 1880 j 1882 j 1884 j 1886 j 1888 j 1890 j 1892 j 1894 j 1896 j 1898 j 1900 j 1902 j 1904 j 1906 j 1908 j 1910 j 1912 j 1914 j 1916 j 1918 j 1920

Bei dem Geburtsjahrgängen 1901 und 1913 zu sind zwei Spitzen zu konstatieren, wodurch sich diese Altersstruktur signifikant von der der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge unterscheidet (siehe dazu Näheres unter Punkt C.5.3.1, wo auch eine grafische Gegenüberstellung der Kurvenverläufe erfolgt).

Der Kurvenverlauf der Altersstruktur der illegalen Wiener Nationalsozialisten dürfte zwei unterschiedliche Gruppen innerhalb der illegalen NSDAP abbilden: zum einen die älteren, zum Teil im vornationalsozialistischen deutschnationalen Milieu sozialisierten politischen NS-Führer, zum anderen die Gruppe der jüngeren NS-Aktivisten – häufig SA- und SS-Angehörige – die sich an illegalen Aktionen aller Art, bis hin zu Bombenanschlägen, beteiligten. Diese Vermutung wird durch gesonderte Auswertungen der unterschiedlichen Gruppen – soweit sie aufgrund der Quellen identifizierbar sind – noch zu überprüfen sein.

Eine weitere Forschungsfrage gilt dem Generationszusammenhang der illegalen Wiener Nationalsozialisten. In der Fachliteratur wurden mehrere Modelle 229

entwickelt, um die historischen Akteure der Epoche des Nationalsozialismus in Generationseinheiten aufzugliedern.

Für die in der Weimarer Republik verantwortlich Handelnden unterscheidet Detlev Peukert vier exemplarische „politische Generationen“: die „Wilhelminische Generation“ der Altersgenossen Wilhelms II.; die „Gründer- zeitgeneration“ der im Jahrzehnt der Reichsgründung Geborenen; die „Front- generation“ der in den achtziger und neunziger Jahren Geborenen und die „überflüssige Generation“ der nach 1900 Geborenen. Die Frontgeneration habe in den Eliten der Weimarer Republik meist nur die „zweite Geige“ gespielt oder sich als Alternative zu den Älteren profilieren können. Vor allem die Jahrgänge um 1900 aber hätten, so Peukert, allen Grund gehabt, ihr Recht gegen die „Weimarer Gerontokratie“ einzuklagen, waren sie doch mit einer stagnierenden Wirtschaft konfrontiert und besonders stark von der Massenarbeitslosigkeit und der Weltwirtschaftskrise betroffen. Aus diesem Grund hätten sich viele Junge den „radikalen Flügeln des politischen Spektrums“ zugewandt.284

Häufig anzutreffen ist die Gliederung in Vorkriegsgeneration, Kriegsgeneration und Nachkriegsgeneration. Als Dreh- und Angelpunkt erscheint in diesem Generationenkonzept der Erste Weltkrieg. Dieses in jeder Hinsicht prägende Ereignis bewirkte je nach Altersgruppe ganz unterschiedliche und weitgehende kulturelle und soziale Orientierungen und Verhaltensmuster, wie aus den Arbeiten zahlreicher Autoren (Merkl, Kater, Botz u. a.) hervorgeht.

Für Österreich entwickelte Franz Schausberger eine Typologie von drei Politiker- generationen außerhalb des sozialdemokratischen Lagers. Er unterschied die gemäßigte, kompromissbereite, konsensfähige, eher demokratisch und parlamentarisch orientierte Vor-Frontgeneration (bis Jahrgang 1888), die für autoritäre Muster eintretende, kompromisslose, antimarxistische Frontgeneration (Jahrgang 1889–1896) sowie die über keine eigene Kriegserfahrung verfügende und von der Jugendbewegung geprägte Nach-Frontgeneration (ab Jahrgang 1897),

284 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 25–31. 230

mit ihrer Suche nach neuer Romantik und der Sehnsucht nach radikaler Überwindung alles Bisherigen.285

Die Dreiteilung in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeneration wird für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung übernommen – allerdings ohne der Typologisierung Schausbergers im Einzelnen zu folgen. Bei der Kriegsgeneration erscheint hinsichtlich der Zuordnung der Jahrgänge eine Modifikation nötig, denn Schausberger zieht die Untergrenze bei den bei Kriegsausbruch 18-Jährigen (Jahrgang 1896) und die Obergrenze bei den 25-Jährigen (Jahrgang 1889). Im Laufe des Krieges eingezogene jüngere Jahrgänge werden in seiner Typologie nicht mehr berücksichtigt, womit die von ihm getroffene Einteilung als etwas zu eng erscheint und deshalb um drei Jahrgänge nach oben ausgeweitet wird. Zweifelsohne waren auch Ältere, vor 1889 Geborene, und teilweise noch Jüngere vom Fronteinsatz betroffen, doch wahrscheinlich nicht in einem solchen Ausmaß und Umfang, der es gerechtfertigt erscheinen ließe, den ganzen Jahrgang der Frontgeneration zuzuordnen.

Die Einteilung der Generationen sieht daher folgendermaßen aus:

• Vor-Frontgeneration (bis Jahrgang 1888),

• Frontgeneration (Jahrgang 1889 bis 1899),

• Nach-Frontgeneration (ab Jahrgang 1900).

285 F. Schausberger, Ins Parlament, um es zu zerstören, S. 200. 231

Tabellarisch und in Form eines Balkendiagramms ergibt sich das folgende Bild:

Abb.: Altersstruktur der illegale Wiener Nationalsozialisten nach dem Generationenschema

Vor- Nach- Frontgeneration Frontgeneration Frontgeneration

Männliche Bevölkerung lt. VZ 34 23,64% 14,76% 33,04%

Illegale Wiener NS 7,85% 24,01% 68,11%

über-/unterrepräsentiert 33 163 206

Anmerkung: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

Abb.: Altersstruktur der illegale Wiener Nationalsozialisten nach dem Generationenschema

70%

Männliche Bevölkerung lt. VZ 34 60% Illegale Wiener NS

50%

40%

30%

20%

10%

0% Vor-Frontgeneration Frontgeneration Nach-Frontgeneration

Die Generation der Älteren, die den Krieg nicht mehr aktiv miterlebte, ist im Vergleich zur österreichischen Gesamtbevölkerung unter den Wiener Nationalsozialisten markant unterrepräsentiert, während die Generation, die den Ersten Weltkrieg an der Front miterlebte, stark überrepräsentiert ist. Noch 232

deutlicher ist der Überhang der Generation der „Kriegskinder“, die persönlich nicht am Krieg teilnahmen, aber die Auswirkungen des Krieges in Form von Hunger, Not, Elend, Depression in ihrer Kindheit und Jugend am eigenen Leib erlebten und erlitten.

Die Teilauswertung der Wöllersdorf-Datenbank und der zusätzliche Vergleich mit den Ergebnissen der Untersuchung der nationalsozialistischen Juliputsch- Beteiligten wird zeigen, dass die Überrepräsentation der Nach-Frontgeneration in diesen beiden Gruppen noch wesentlich stärker ist als unter den illegalen Wiener Nationalsozialisten. (Siehe dazu Näheres unter Punkt C.5.3.1.)

C.4.2.4 Ausbildung

Ausgehend von der Überlegung, dass der Bildungsgrad einer Person ein wesent- licher Faktor zur Bestimmung ihres sozialen Status und damit ihrer sozial- strukturellen Zugehörigkeit nach dem Milieumodell ist, wurde im Rahmen der Wien-Erhebung der Versuch unternommen, mittels Vergabe eines „Schulcodes“ eine Auswertung der in der Datenbank enthaltenen Personen nach dem Grad ihrer Schulbildung vorzunehmen.

Es gibt eine grundsätzliche Problematik, die der Vergabe des Schulcodes inne- wohnt. Prinzipiell könnte man innerhalb gewisser Grenzen aus überlieferten Berufsbezeichnung auf die schulische Ausbildung schließen; bei Berufen wie Notar, Arzt, Rechtsanwalt etc. wird das auch uneingeschränkt der Fall sein. Die Angabe Buchbindergeselle etwa könnte bedeuten, dass der Entsprechende die Grundschule absolviert und anschließen in einer Druckerei in die Lehre gegangen ist; aber damit bewegen wir uns bereits im Bereich der Spekulation. Fraglich wäre beispielsweise, ob ein „Buchhalter“ die Mittelschule oder einfach nur eine Lehre nach Beendigung der Grundschule absolviert hat.

Es wurde bei der Vergabe des Schulcodes so vorgegangen, dass aus der Berufs- bezeichnung auf den Grad der Ausbildung geschlossen wird. Diese Vorgangs- weise beruht auf der Grundannahme, dass in der Regel bei der Berufsangabe der eigentliche, erlernte Beruf angegeben wird, auch wenn dieser infolge Arbeits- losigkeit notgedrungen nicht ausgeübt werden kann. Die Berufsangaben beruhen, 233

gerade im Fall von Verhaftungen, häufig auf Eigenangaben der Betroffenen. Dabei ist davon auszugehen, dass diese den eigenen sozialen Status herausstreichen.

Das heißt, eine Person, die den Beruf eines Schlossers erlernt hat, diesen Beruf aber infolge der Arbeitslosigkeit nicht ausüben kann, sondern sich als Gelegenheitsarbeiter verdingen muss, wird nicht „Hilfsarbeiter“ als Beruf angegeben, sondern „postenloser Schlosser“ od. dgl.; zumindest zeigt die Erfahrung, dass in der Regel der eigentlich erlernte Beruf zusätzlich erwähnt.

In vielen Fällen, das zeigt die konkrete Auswertung, beruht die Zuweisung eines Schulcodes auf Plausibilitätserwägungen, die auf der Gesamtheit der Informationen, die zu einer Person vorliegen, beruht. So scheint es angemessen, zu vermuten, dass ein adeliger Großgrundbesitzer, der „Kaufmann“ als Berufsbezeichnung anführt, zumindest eine Mittelschule absolviert hat. Plausibilitätserwägungen können allerdings nur angestellt werden, wenn ausreichen Personenangaben vorhanden sind. Ist neben einer nackten Berufs- bezeichnung nichts weiteres Relevantes zur Person bekannt, kann auch keine plausibel erscheinende Zuordnung getroffen werden.

Abgestellt wird grundsätzlich auf den regulären Abschluss einer Bildungsstufe. Jemand, der einige Semester studiert, sein Studium aber nie beendet hat, wird nicht als „a“, sondern als „b“ klassifiziert. Das ist bei Studenten nicht möglich, weil aus den Quellen in der Regel nicht hervorgeht, ob sie ihr Studium erfolgreich abschließen konnten oder nicht. Hier gilt einfach der genannte Status als Student; ebenso verhält es sich bei Mittelschülern. 234

Abb.: Bildungs-/Schulcodierung

Code Beschreibung a Hochschule bzw. Universität b Mittelschule (Matura als Abschluss) c Grundschule

a-jur Absolvent einer Universität, Jurist a-tech Absolvent einer technischen Hochschule a-med Mediziner, Absolvent einer Universität a-kauf Diplomkaufmann, Absolvent eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums a-ing Ingenieur, wird für Träger dieser Standesbezeichnung vergeben, wenn kein anderer Titel wie etwa „Dr.“ vorhanden ist* a-arch Architekt a-vet Tierarzt a-chem Chemiker a-phil philosophische Studienrichtung a-boku Bodenkultur a-geol Geologe a-pharm Pharmazeut a-geogr Geograph a-theol Theologe a-bild kün akademischer Maler u. dgl., Absolventen der Akademie der Bildenden Künste a-mus Absolvent einer Konservatoriums, Hochschule für Musik o. Ä. a-stud Student an einer Hochschule bzw. Universität a-stud-jur Student der Rechte etc. (weitere Kürzel wie oben)

b-schül Schüler einer Mittelschule b/c-le Berufe wie „Beamter“, „Buchhalter“, „Privatbeamter“, „Skontist“ etc., bei denen nicht erkennbar ist, ob es sich um Absolventen einer Mittelschule oder um Absolventen der Grundschule mit anschließender kaufmännischer Lehre handelt

c-le Absolvent der Grundschule mit anschließender Lehre c-ol Absolvent der Grundschule ohne anschließende Lehre c-schül Schüler an einer Grundschule

# keine Angaben vorhanden d Zuordnung nicht möglich

235

Zur Behandlung von Berufsangaben im Einzelnen:

zu vergebender Code Allgemein kaufmännische Berufe: Hier zeigt die Auswertung, dass man b/c-le aufgrund der Berufsangaben häufig seriöserweise keine einigermaßen zweifelsfreien Aussagen über die vermutliche Schulbildung machen kann. Bei Angaben wie „Beamter“, „Privatbeamter“, „Bankbeamter“, „Angestellter“, „Skontist“, „Kontorist“, „Prokurist“, „Kaufmann“ etc .könnte es sich sowohl um Absolventen einer Mittelschule als auch um Absolventen der Grundschule mit anschließender Lehrausbildung handeln. Ohne weitere Kontextinformation kann hier keine genau abgegrenzte Zuordnung treffen. Wie sich zeigt, tragen auch Absolventen einer Hochschule die Berufsbezeichnung „Beamter“ oder „Privatbeamter“; es ist aber davon auszugehen, dass in einem solchen Fall in der Regel der Titel oder zumindest die absolvierte Studienrichtung etc. in irgendeiner Weise verzeichnet ist. Daher ist davon auszugehen, dass die mit den genannten Berufsbezeichnungen belegten Personen die Grundschule mit einer anschließenden kaufmännischen Lehre oder die Mittelschule absolviert haben. Handelsangestellter: Meinen Recherchen zufolge ist es keineswegs so, dass b/c-le Handelsangestellter einfach nur eine andere Bezeichnung für Handelsgehilfe ist. Auch diese Bezeichnung sagt per se noch nichts über den Bildungsgrad aus. Handlungsgehilfe bzw. Handelsgehilfe: Eindeutig ein Lehrberuf. c-le Angaben wie „Händler“ (in allen Kombinationen), „Reisender“, b/c „Vertreter“ etc. lassen ohne weiterführende Kontextinformationen keine konkreten Aussagen über die Schulbildung des Betreffenden zu. In der Regel wird aber eine Hochschulausbildung ausgeschlossen werden können. „Geschäftsführer“, „Betriebsleiter“, „…unternehmer“, „…erzeuger“ d ohne alle weiteren Kontextinformationen. Bei „Verkäufer“ besteht keine Klarheit, ob eine Lehre vorhanden ist oder c nicht. Handelsschüler werden nicht „b“ klassifiziert, sondern wie Personen mit c-le Lehrausbildung und Grundschule. (Kriterium für „b“ ist die Matura als Abschluss außer bei Schülern.) Bei Beamte des öffentlichen Dienstes ist eine Lehre mit anschließender b/c-le Beamtenausbildung denkbar oder auch der Einstieg in die Beamtenlaufbahn nach Matura.* Bei öffentlichen Beamten oder Vertragsangestellten, bei denen aufgrund b der Berufsbezeichnung und der erkennbar höheren beruflichen Position zu vermuten ist, dass sie eine Mittelschule absolviert haben. Die Angabe „Lehrer“ lässt auf eine Mittelschulausbildung schließen. b Bei der Angabe „Mittelschullehrer“ wird davon ausgegangen, dass es sich a um einen Absolventen einer Hochschule oder Universität handelt. Die Angabe „Privatlehrer“ muss als unbestimmt angesehen werden; b offensichtlich handelte es sich um jemand, der Nachhilfeunterricht erteilte o. Ä. Ich gehe davon aus, dass für diese Tätigkeit ein Mittelschulabschluss die Grundvoraussetzung war. „Skilehrer“ werden nicht wie sonstige Lehrer behandelt. Steht nur diese d 236

Angabe allein, lässt sich daraus nicht schließen, welche Bildungsstufe die betreffende Person absolviert hat. Für die Standesbezeichnung „Ingenieur“ gilt die „Kaiserliche Verordnung a-ing vom 14. März 1917, womit die Berechtigung zur Führung der Standesbezeichnung ‚Ingenieur‘ festgelegt wird“ (RGBl. 130/1917). Demnach sind Ingenieure diejenigen, welche eine inländische Technischen Hochschule, Montanistischen Hochschule oder Hochschule für Bodenkultur in einer Fachabteilung, für die mindestens zwei Staatsprüfungen vorgesehen sind, ordnungsgemäß absolviert haben. Auch im militärischen Bereich war die Erlangung des Titels möglich. Aus dem Studium des Gesetzestextes ergibt sich, dass man Ingenieure als Absolventen einer Hochschule und damit als Angehörige der Bildungsstufe A klassifizieren kann. „Diplomkaufmann“: Absolvent eines wirtschaftswissenschaftlichen a-kauf Studiums. „Architekt“ (häufig in Kombination mit „Baumeister“). a-arch „Bautechniker“ ohne alle weiteren Kontextinformationen. a/b (Ehemalige) Offiziere: egal, wie die aktuelle Berufsbezeichnung lautet; b außer, es geht aus den weiteren Angaben hervor, dass es sich um einen Hochschulabsolventen handelt. Bei einfachen Polizisten, Gendarmen und Unteroffizieren des Bundesheeres c-le bzw. der alten Armee wird eine einer Lehre gleichzustellende Ausbildung angenommen. Weitere Bezeichnungen: „Wehrmann“, „Heeresangehöriger“ „Kriminalbeamter“ ohne alle weiteren Kontextinformationen. b/c-le „Hilfsarbeiter“ ohne alle weiteren Kontextinformationen. c-ol Berufe, die die Wortteile „…gehilfe“, „…geselle“, „meister“ enthalten, c-le lassen auf eine erfolgreich absolvierte Lehre schließen. Angaben wie „Arbeiter“, „Fabriksarbeiter“ oder „Fabrikarbeiter“, c „Lederarbeiter“ etc. (außer Hilfsarbeiter) lassen nicht erkennen, ob die betreffende Person eine Lehre absolviert hat oder nicht. „Techniker“, ohne alle weiteren Angaben und Kontextinformationen d Aus der Angabe „Elektrotechniker“ ohne weitere Kontextinformationen b/c-le geht nicht eindeutig hervor, ob es sich um einen Absolventen einer Elektrikerlehrer, einer technischen Mittelschule oder gar einer Hochschule handelt. Allerdings ist Letzteres in der Regel auszuschließen, weil angenommen werden kann, dass in einem solchen Fall der Titel angeführt wäre. Personen, die Aufgrund der vorhandenen Angaben zum Beruf und sozialen b/c Status nicht plausibel den Bildungsstufen c (Grundschule) oder b (Mittelschule) zuzuordnen sind. Baumeister ist eine ebenfalls unklare Berufsbezeichnung, was die a/b Ausbildung betrifft. Es ist aber anzunehmen, dass jemand für die Ausübung eines derartigen gehobenen Berufen zumindest die Mittelschule absolviert hatte, möglicherweise sogar eine Hochschule

Resümee nach Durchführung der Schul-/Bildungscodierung:

Die Angaben von Beruf und Titel ermöglichen eine Zuordnung hauptsächlich von Akademikern, während sich bei vielen Berufsangaben von nicht akademischen 237

Berufen häufig eine plausible Bestimmung des vermutlichen Bildungsgrades nicht zu treffen ist. Man könnte alle Personen weglassen, bei denen eine Bildungs- codierung nicht durchgeführt werden kann. In einem solchen Fall muss aber mit größter Wahrscheinlichkeit ein deutlicher Akademiker-Bias erwartet werden, weil aufgrund der vorhandenen Angaben gerade bei Universitäts- und Hochschul- absolventen nach aller Erfahrung fast immer der Bildungsgrad zu bestimmen ist. Akademiker würden also in den seltensten Fällen ausgeschieden werden, während sehr viele Absolventen der Grundschule und Mittelschule ausgeschieden werden müssten.

Aufgrund der nicht zu erreichenden notwendigen Trennschärfe zwischen den Bildungsstufen c (Grundschule) und b (Mittelschule) kann die Bildungs- auswertung nur eine Bestimmung des Anteils von Akademikern sein. Diesbezüglich muss die Auswertung aber wiederum als sehr valid bezeichnet werden.

Abb.: Rohdaten der Auswertung des Bildungs-/Schulcodes

Code absolut anteilsmäßig a 344 26,77% a/b 17 1,32% b 62 4,82% b-schül 25 1,95% b/c 98 7,63% b/c-le 271 21,09% c 42 3,27% c-le 341 26,54% c-ol 31 2,41% c-schül 2 0,16% d 52 4,05%

Anmerkung: Insgesamt enthält die Wien-Datenbank 1324 Personen; in 39 Fällen gibt es keine oder missverständliche Angaben zum Beruf bzw. zur Schulbildung, sodass insgesamt 1285 Berufs- und sonstigen verwertbaren Angaben ein Schulcode zugeordnet werden konnte. 238

Unter den als „a“ klassifizierten Personen befanden sich 171 absolvierte Akademiker (13,3%) und 173 Hörer an einer Universität oder Hochschule (13,5%), ihr Anteil betrug demnach rund ein Viertel aller erfassten illegalen Wiener Nationalsozialisten. Zusätzlich dürfte mehr als ein Drittel eine Mittelschule absolviert haben und nur ein knappes Drittel nicht über die Grundschule hinausgekommen sein.

Selbst wenn man – wie oben angeführt – der Wien-Datenbank mit gutem Grund gewisse Verzerrungen unterstellt, so wird man von einer enormen Über- repräsentation von universitären und, allgemeiner gesprochen, von Bildungs- milieus unter den Wiener Nationalsozialisten in der Ära der Illegalität 1933 bis 1938 sprechen müssen. Die Tatsache, dass der radikale rassenantisemitische Deutschnationalismus der Schönerer’schen Ausprägung seit den 1880er Jahren – und in Anschluss daran ab den frühen 1930er Jahren der Nationalsozialismus – gerade an den Wiener Universitäten und Hochschulen seine Hochburgen hatte, spiegelt sich in der Zusammensetzung der Wiener „Illegalen“ wider. 239

C.5 Die nationalsozialistischen Häftlinge der österreichischen Anhaltelager 1933–1938 („Wöllersdorf-Erhebung“) (Kurt Bauer)

C.5.1 Die Entstehung des Systems der Anhaltelager in Österreich

Ohne die Machtübertragung an Adolf Hitler im Deutschen Reich am 30. Januar 1933 wäre es vermutlich nie zur autoritären Entwicklung in Österreich gekommen. Viele Schritte des sich ab März 1933 formierenden diktatorischen Dollfuß-Regimes sind als halb bewusste, halb intuitive Nachahmungen von Maßnahmen des NS-Regimes zu betrachten.286 Den besten Beleg dafür liefert Bundeskanzler Dollfuß selbst, der am 25. März 1933 im christlichsozialen Klubvorstand verkündet hatte: „Die braune Welle können wir nur auffangen, wenn wir das, was die Nazi versprechen und in Deutschland getan haben, was ohnehin gemildert wird durch verschiedene Richtungen bei uns, selber machen, nur dann wird es gelingen, einem Großteil der Sozi-Mitglieder beizubringen, dass sie keine Macht mehr haben und werden weggehen von den Sozi.“287 Kurz: den Nationalsozialismus nachahmen, um die Sozialdemokratie zu beseitigen.288

286 Erich Voegelin, der einzige namhafte Rechtsgelehrte, der sich 1933/34 explizit hinter die Regierung stellte (Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 216), führte in einem Beitrag für die Wiener Zeitung vom 27. 4. 1934 die verfassungsmäßige „Reformperiode“ beispielsweise unmittel- bar auf die „deutsche Revolution von 1933“ zurück. 287 Goldinger (Hg.), Protokolle Klubvorstand Christlichsoziale Partei, S. 212. 288 Die ab März 1933 geleisteten „Vorarbeiten“ des ständestaatlichen Regimes wurden von den Nationalsozialisten durchaus gewürdigt. So kommt ein Bericht der SS vom Februar 1938 zum Schluss, dass sich im Fall einer „Eingliederung“ Österreichs eine Reihe von als notwendig erachteten gesetzlichen Maßnahmen (Ausschaltung von politischen Parteien, Zensur von Presse und Rundfunk, Verbot von Versammlungen und Aufmärschen, Vermögensbeschlagnahme, Ausbürgerungen etc.) übernommen und bestenfalls verschärft werden müssten. (DÖW, Akt Nr. 14.890; zit. bei Walterskirchen, Engelbert Dollfuß, S. 257 f.) 240

In der Weimarer Republik hatte der Entdemokratisierungsprozess bereits 1930 eingesetzt, als Reichspräsident Hindenburg ein nur vorübergehend tragfähiges Notverordnungsregime auf Basis des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) errichten ließ, das eine Verlagerung der Macht vom Parlament zum Präsidenten brachte. Aus der parlamentarischen Demokratie entstand eine „außer- parlamentarische Quasidiktatur“ (Karl Dietrich Bracher), die schließlich Hitler den Weg an die Macht ebnete.289 Das äußerst vorsichtig gefasste Notverordnungs- recht des österreichischen Bundespräsidenten laut Artikel 18 des Bundes- Verfassungsgesetzes (B-VG) war für eine ähnliche Vorgangsweise ungeeignet. 290 Als wesentlich wirkungsvoller zur Befriedigung diktatorischer Gelüste sollte sich das fatalerweise in den Rechtsbestand der Republik übernommene Kriegs- wirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG)291 erweisen, das die kaiserliche Regierung im Kriegsjahr 1917 ermächtigt hatte, „während der Dauer des durch den Krieg hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse durch Verordnungen die notwendigen Verfügungen zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens (…) zu treffen“. Ermutigt durch das Beispiel des im Deutschen Reich ohne parlamentarische Basis regierenden halbautoritären Kabinetts Papen, startete die Regierung Dollfuß mit einer auf der dubiosen Rechtsgrundlage des KWEG basierenden Verordnung vom 1. Oktober 1932292 einen ersten Versuchsballon – worauf die sozialdemokratische Presse den Kanzler treffend als „kleinen österreichischen Papen“ bezeichnete.293 Ab März 1933

289 Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 184. 290 Bemerkenswert dazu sind die Ausführungen des sozialdemokratischen Wiener Bürgermeisters Karl Seitz im Nationalrat. Siehe Stenographisches Protokoll. 102. Sitzung des Nationalrates, IV. Gesetzgebungsperiode. 20. Oktober 1932, S. 2657 f. 291 Gesetz vom 24. Juli 1917, mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlass der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen (öst. RGBl. 307/1917). 292 Verordnung des Bundesministers für Justiz im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Finanzen vom 1. Oktober 1932 über die Geltendmachung der im 7. Credit-Anstalts-Gesetze (B. G. Bl. Nr. 415 aus 1931) angeführten Haftungen (BGBl. 303/1932). 293 Kleine Blatt, 22. 10. 1932, S. 2. 241

verkündete die Regierung Dollfuß dann insgesamt 471 verfassungswidrige Not- verordnungen294 auf Basis des KWEG.295

Durch die erste diese Verordnungen, die am 7. März 1933 den eigentlichen Verfassungsbruch markierte,296 hob das Dollfuß-Regime das beinahe 70 Jahre zuvor verkündete Grundrecht der Pressefreiheit297 auf und führte, wie Justiz- minister Schuschnigg es im Ministerrat ausdrückte, „eine Art von Vorzensur [ein], die aber nach außen hin nicht als solche in Erscheinung treten dürfe, weil verfassungsmäßig jede Zensur ausgeschlossen sei“.298 Zudem verging sich die Regierung durch einen Weisungserlass299 vom selben Tag am Grundrecht der Versammlungsfreiheit.300 Beide Maßnahmen – unverkennbar dafür gedacht, die politische Opposition zu knebeln – ähnelten verdächtig einer ersten, gegen „Versammlungen und Aufzüge“ sowie „Druckschriften“ gegnerischer Parteien gerichteten Notverordnung der frisch gekürten Regierung Hitler vom 4. Februar 1933.301

294 Diese Zahl lt. Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 319. 295 Ausführlich zur Geschichte des KWEG Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 138–156 und passim. 296 Verordnung der Bundesregierung vom 7. März 1933, betreffend besondere Maßnahmen zur Hintanhaltung der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen Schädigungen des wirtschaftlichen Lebens (BGBl. 41/1933). 297 Artikel 13 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (öst. RGBl. 142/1867), bekräftigt durch den Beschluss der Provisorischen National- versammlung für Deutschösterreich vom 30. Oktober 1918 (StGBl. 3/1918). Lt. Art. 148 Abs. 1 B- VG 1929 galten das Staatsgrundgesetz von 1867 und der Beschluss der Provisorischen National- versammlung von 1918 als Verfassungsgesetze. 298 Zit. n. Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 214. 299 Wiener Zeitung, 8. 3. 1933, S. 1. 300 Artikel 12 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 (öst. RGBl. 142/1867). 301 Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 (dt. RGBl. 1933 I, S. 35) war bereits von der Regierung Papen anlässlich des Berliner Verkehrsstreiks (3. bis 7. November 1932) entworfen, allerdings erst von der Regierung Hitler erlassen worden (daher „Schubladenverordnung“). 242

Eine weitere Parallele: Die Berufung von SA, SS und „Stahlhelm“ zur Hilfs- polizei in Preußen am 22. Februar 1933 nahm die österreichische Regierung zum Vorbild für die Bildung ähnlicher Formationen. Im Mai 1933 schuf sie durch zwei KWEG-Verordnungen einen „freiwilligen Assistenzkörper“ zur Unterstützung des Bundesheeres,302 der ebenso wie das im Juli als „Reserve“ für Polizei und Gendarmerie ins Leben gerufene „freiwillige Schutzkorps“303 aus Mitgliedern der regierungstreuen Wehrverbände gebildet wurde. Peter Huemer meint, dass diese Verordnungen zu jenen Maßnahmen der Regierung gehörten, „die am meisten zur Vergiftung des politischen Klimas in Österreich beitrugen“.304 Allerdings: Während im Deutschen Reich die SS ab 1933 Schritt um Schritt die Polizei über- nahm, konnte in Österreich die stärkste der regierungstreuen Wehrformationen, die Heimwehr, niemals eine ähnlich uneingeschränkte Position erringen. Das Sicherheitswesen blieb, selbst unter Leitung eines Heimwehrministers, stets in der Hand der traditionellen Eliten.

In der Geschichte der NS-Herrschaft kommt der am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Brand des Berliner Reichstags, erlassenen „Reichstagsbrand- verordnung“305 größte Bedeutung zu. „Zur Abwehr kommunistischer staats- gefährdender Gewaltakte“ setzten Hitler und seine nationalkonservativen Verbündeten mit einem Federstrich die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft, darunter das für alle demokratischen, parlamentarisch verfassten Gesellschaften zentrale Recht der persönlichen Freiheit (Artikel 114 WRV). In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten kam es auf Grundlage der Reichstagsbrandverordnung zu Massenverhaftungen von Kommunisten und anderen politischen Gegnern des sich formierenden NS-Regimes. In kurzer Zeit etablierte sich für diese Praxis der „vorbeugenden“ Festnahme ohne konkretes

302 1. und 2. Assistenzkörperverordnung vom 26. Mai 1933 (BGBl. 201/1933 und 202/1933). 303 Schutzkorpsverordnung vom 7. Juli 1933 (BGBl. 292/1933); geändert durch die Verordnung vom 1. September 1933 (BGBl. 402/1933). 304 Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 241. 305 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (dt. RGBl. 1933 I, S. 83). 243

Delikt und richterlichen Befehl der für den Nationalsozialismus so bezeichnende euphemistische Terminus „Schutzhaft“.306

Zusätzlich verschleppten marodierende SA- und SS-Banden im gesamten Reich politische Gegner und sonstige Missliebige auch ohne formellen Schutzhaftbefehl und versperrten, folterten und ermordeten viele von ihnen in SA-/SS-Lokalen, verlassenen Fabrik- und Werkgebäuden, Kasernen, Kasematten, Klöstern etc. Auf diese Art entstanden im März 1933 die ersten, „wilden“ Konzentrationslager. Um diese von den neuen Machthabern bald als unliebsam wahrgenommenen chaotischen Zustände zu beenden, richtete am 21. März 1933 die SA auf dem Gelände einer alten Brauerei in Oranienburg bei Berlin und die SS in einer aufgelassenen Munitionsfabrik in Dachau bei München erste „reguläre“ Konzentrationslager ein. Zahlreiche weitere sollten folgen.307

Zu auch nur annähernd vergleichbaren Exzessen wie während der „nationalen Revolution“ in Deutschland kam es in Österreich höchstens kurzfristig im Februar und Juli 1934. Aber die Entwicklung ab März 1933 war ebenso wie in Deutsch- land von einer markanten Ausweitung von Polizeistrafbefugnissen gekenn- zeichnet, was in der explosiven politischen Lage des Frühjahrs und Sommers 1933 einen enormen Anstieg an politischen Häftlingen zur Folge hatte.308 Bereits die gegen die Pressefreiheit gerichtete Verordnung vom 7. März 1933309 sah – unbeschadet etwaiger strafgerichtlicher Verfolgung – ungewöhnlich hohe Verwaltungsstrafen (Geldstrafen bis zu 2000 Schilling oder Arrest bis zu drei Monaten) vor. In ähnlicher Weise hatte die neue Regierung im Deutschen Reich durch die erwähnte Verordnung vom 4. Februar 1933 die Dauer der polizeilichen

306 Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 325–327. – Schriftliche Schutzhaft- befehle enthielten in der Regel die Formel „Auf Grund der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat (…) wird in Schutzhaft genommen: …“. 307 Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 327–334; Bauer, Nationalsozialismus, S. 218–220. 308 Zur Erweiterung der Polizeibefugnisse und der Herausbildung des Polizeistaates vgl. Mähner, Rolle der Polizei, S. 52–59, sowie Neugebauer, Repressionsapparat und -maßnahmen, S. 311–313. 309 BGBl. 41/1933. 244

Haft stark ausgeweitet.310 Das Dollfuß-Regime schöpfte in weiterer Folge das durch § 2 KWEG vorgegebene maximale Verwaltungsstrafausmaß von sechs Monaten Arrest voll aus. So wurde im Mai 1933 für politische Demonstrationen das vom Verwaltungsverfahrensgesetz311 vorgesehene Höchststrafausmaß von 200 Schilling oder zwei Wochen Arrest auf 2000 Schilling oder sechs Monaten Arrest ausgedehnt312 und im Juni 1933 die Höchstgrenze für Berufungen gegen Strafbescheide der Verwaltungsbehörden von 200 auf 1000 Schilling und von 14 Tagen auf sechs Wochen Arrest angehoben.313

Mit dieser verfassungswidrigen Aus- und Überdehnung des Verwaltungsstraf- verfahrens314 suchte man vor allem eines zu erreichen: Die als notwendig erachtete rasche und harte Abstrafung politisch motivierter Delikte – von Heil- Hitler-Rufen, Hakenkreuzschmierereien, Flugzettelausstreuung über politisch missliebige Äußerungen in der Presse, Durchführung verbotener politischer Versammlungen, Aufmärschen und sonstigen öffentlicher Demonstrationen bis hin zu Sabotage- und Terrorakten aller Art315 – sollte nicht den als politisch unberechenbar eingestuften unabhängigen Richtern,316 sondern weisungsgebundenen Beamten überlassen werden.

310 Vgl. Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 326. 311 Art. 8 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen (BGBl. 273/1925). 312 Verordnung der Bundesregierung vom 19. Mai 1933 zur Hintanhaltung politischer Demonstra- tionen (BGBl. 185/1933). 313 Verordnung der Bundesregierung vom 13. Juni 1933, betreffend die Zulässigkeit von Berufungen gegen Strafbescheide der Verwaltungsbehörden (BGBl. 237/1933). 314 Siehe dazu Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 251 f. 315 Für eine umfassende Typologie nationalsozialistischer Aktionsformen 1933/34 siehe Bauer, Weg zum Juliputsch, S. 103–108. 316 Vgl. Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 131. – Ein Beispiel: Eine Erhebung der steirischen Sicherheitsdirektion vom Oktober 1934 über die „Politische Einstellung von Staatsanwälten und Richtern“ brachte folgendes Ergebnis: 53 Richter wurden als nationalsozialistisch bzw. als völkisch/national eingestuft, 29 als „vaterländisch“ (davon nur fünf als aktiv), weitere 23 Richter als neutral bzw. indifferent. (Bauer, Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus, S. 61.) 245

Abb.: Beispiele für zwischen März und September 1933 auf Grundlage des KWEG erlassene Verordnungen und die darin angedrohten Arreststrafen

Datum Inhalt der Verordnung BGBl. Nr. maximale Arreststrafe

7. März 1933 Hintanhaltung von Schädigungen des wirt- 41/1933 3 Monate schaftlichen Lebens [Vorzensur]

13. März 1933 Anzeigefrist für Versammlungen und Untersagung 55/1933 6 Wochen von Vereinsversammlungen

26. April 1933 Plakatierungsverordnung 155/1933 3 Monate

19. Mai 1933 Hintanhaltung politischer Demonstrationen 185/1933 6 Monate

19. Mai 1933 Fahnenverordnung 186/1933 3 Monate

26. Mai 1933 Verbot der Kommunistischen Partei 200/1933 6 Monate

26. Mai 1933 1. Assistenzkörperverordnung 201/1933 3 Monate

19. Juni 1933 Verbot der NSDAP und des Steirischen 240/1933 6 Monate Heimatschutzes

16. Juni 1933 Missbrauch fremden Eigentums zu politischer 248/1933 6 Monate Propaganda

7. Juli 1933 Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen durch 295/1933 3 bis 6 Monate Terrorakte

16. August 1933 Beschlagnahme des Vermögens verbotener 368/1933 3 Monate politischer Parteien

Die Gefängnisse und Arreste in Österreich waren rasch brechend voll, sodass nichts näher lag, als nach deutschem Muster die Schaffung von Notarresten und Lagern anzuregen. In der Literatur wird häufig auf ein Schreiben des Tiroler Heimwehrführers und Sicherheitsdirektors Steidle an den Wiener Heimwehr- führer und Sicherheitsminister Fey von Anfang August 1933 verwiesen. Inhalt: Das Innsbrucker Gefangenenhaus sei bereits jetzt überbelegt; weil die Zustände in den Arresten „täglich unerträglicher“ würden und wegen der in nächster Zeit „zu erwartenden höheren Tätigkeit der Nationalsozialisten“ beantrage er, Steidle, die Anlegung eines „Sammellagers“ für politische Häftlinge. Fey konnte diesem Vorschlag offensichtlich viel abgewinnen und ließ seine Beamten im Laufe des 246

August 1933 die Vorarbeiten für die Einrichtung derartiger Lager und die Textierung einer entsprechenden Verordnung leisten.317

Zur Schaffung von neuem Raum zur Unterbringung von Verwaltungshäftlingen bedurfte es allerdings keiner im Bundesgesetzblatt verkündeten KWEG- Verordnung; ein Erlass des Ministeriums – wie er tatsächlich am 5. September 1933 erging318 – hätte dafür vollauf gereicht. Tatsächlich hatte man mit der Verordnung anderes im Sinn: die präventive Internierung von politischen Gegnern aller Schattierungen.319

Als Fey im Ministerrat vom 1. September 1933 einen Verordnungsentwurf über die „Internierung oder Konfinierung sicherheitsgefährlicher Personen“ einbrachte, verwies Vizekanzler Winkler, der führende Vertreter des Landbundes in der Regierung Dollfuß, sogleich auf das nationalsozialistische Deutschland: „Redner habe den Eindruck, dass man sich ernstlich bemühe, Maßnahmen, die man sonst bei anderen Staaten ablehne, wie z. B. die Errichtung von Konzentrationslagern und das Vorgehen gegen anders Gesinnte in Deutschland, nachzuahmen.“320 Dollfuß war bei dieser Sitzung nicht anwesend; eine vermutlich treffende Zusammenfassung seiner Haltung lieferte einer seiner engsten politischen Vertrauten, Justiz- und Unterrichtsminister Schuschnigg: „Redner gehöre zu jenen, die vor dem Kopieren der reichsdeutschen Crudelitäten einen Abscheu hätten. Doch müsse er feststellen, dass man auf dem bisher beschrittenen Weg nicht weiter komme. In Innsbruck bestehe Überbelag an Häftlingen; das gleiche

317 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 131 f. und Zodl, Anhaltelager Wöllersdorf, S. 239; weiters beispielsweise Neugebauer, Repressionsapparat und -maßnahmen, S. 313; Mähner, Rolle der Polizei, S. 59; Philapitsch, Wöllersdorf: Trauma oder Mythos, S. 193. 318 Vgl. Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 132, und Zodl, Anhaltelager Wöllersdorf, S. 242. 319 Im Ministerrat vom 1. 9. 1933 entspann sich zwischen Landbund-Staatssekretär Bachinger und Heimwehr-Sicherheitsminister Fey folgender Dialog: „(…) Grundsätzlich müsse sich Redner die Frage vorlegen, ob überhaupt eine Verordnung notwendig sei, wenn man bloß neue Polizeiarreste schaffen wolle. B.M. Fey erwidert, für die verurteilten Häftlinge wäre sie gewiss nicht erforderlich, doch handle es sich auch um Präventivmaßnahmen, die auf eine rechtliche Grundlage gestellt werden sollten.“ (MRP 896, 1933-09-01, Punkt 21, S. 337.) 320 MRP 896, 1933-09-01, Punkt 21, S. 334. 247

gelte von den Gefängnissen der anderen Gerichtshöfe und auch der Bezirks- gerichte. (…) Dazu komme, dass die Vermengung politischer und krimineller Häftlinge auch für normale Zeiten nicht wünschenswert sei. Redner sehe unter diesen Umständen keinen anderen Ausweg, als das System der Sammellager zu wählen. (…) Was die Präventivmaßnahmen anlange, hätten die Ereignisse der letzten Zeit gezeigt, dass solche Vorsorgen notwendig seien, wenn man einen größeren Schaden vermeiden wolle. Es sei klar, dass derartige Vorkommnisse wie der Fall Hofer in Innsbruck,321 wenn sie auch von untergeordneter Bedeutung seien, in der Bevölkerung einen starken Stimmungsdruck verursachten. Daher erweise sich die Androhung einer Präventivverwahrung als sehr zweckmäßig.“322

Der Widerstand des Landbundes verhinderte für Freitag, den 1. September eine Entscheidung über die von Fey gewünschte Verordnung. Winkler hatte auf eine Verschiebung der Diskussion bis nach dem am Freitag kommender Woche beginnenden Allgemeinen Deutschen Katholikentag gedrängt. Aber bereits in der von Dollfuß geleiteten Ministerratssitzung am Mittwoch, 6. September brachte Fey die Frage wiederum aufs Tapet. Winkler reagierte heftig und erklärte, dass „Österreich nicht die im Deutschen Reiche angewendeten Methoden nachahmen, sondern ein Land der Zivilisation bleiben solle“. Wien und die Länder seien voll von Gerüchten, dass die Heimwehr in etwa drei Wochen die Macht an sich reißen wolle. „Für alle diejenigen, die sich dem neuen Kurs nicht mit Begeisterung anschlössen, sollten Konzentrationslager errichtet werden.“ Man könne nicht den Nationalsozialismus bekämpfen und gleichzeitig mit Mussolini paktieren. Er, Winkler, sei jedenfalls nicht gewillt, „der Heimwehr unter dem Titel der Abwehr des Nationalsozialismus die Machtmittel in die Hand zu geben, um in Österreich

321 Flucht des Tiroler NS-Gauleiters Franz Hofer, der am 30. 8. 1933 unter abenteuerlichen Umständen von mit Heimwehruniformen verkleideten Nationalsozialisten aus dem Gefangenen- haus des Innsbrucker Landesgerichtes befreit und über die Grenze nach Italien geschafft worden war. (Kleines Blatt, 31. 8. 1933, S. 5 f.; weiters: ÖStA/AdR, NPA, Liasse Österreich 2/21 1933, Z. 24.871-13/33, Bericht des LGK Innsbruck.) 322 MRP 896, 1933-09-01, Punkt 21, S. 335 f. 248

die Totalität für die Heimwehr aufzurichten“.323 Dollfuß versuchte die Situation zu kalmieren, schlug sich aber letztlich voll auf die Seite Feys, indem er feststellte, dass er die Anhalteverordnung für eine „dringende Notwendigkeit“ halte; schließlich ließ er sich vom Ministerrat die Vollmacht erteilen, in der Frage der Verordnung im Einvernehmen mit Winkler und Fey die weiteren Verfügungen zu treffen.324

Die Diskussion über die Errichtung von Sammellagern für die präventive Internierung politischer Gegner fiel in eine vorentscheidende Phase des Über- gangs vom pseudolegal verbrämten Autoritarismus zur Diktatur. Den Erörterungen im Ministerrat am 1. und 6. September 1933 waren Treffen von Bundeskanzler Dollfuß und Heimwehrführer Starhemberg mit Mussolini vorausgegangen, deren Inhalte und Ergebnisse weitgehend bekannt sind.325 Mussolini hatte bei der Besprechung mit Dollfuß am 19./20. August in Riccione eine große programmatische Rede, die Stärkung der Heimwehr in der Regierung, das Ausschalten des Landbundes, einen betont „diktatorialen Charakter der Regierung“ und die Einsetzung eines Regierungskommissärs für Wien gefordert.326

Die gewünschte Rede – seine bedeutendste, in der er die parlamentarische Demo- kratie verwarf und die Errichtung eines autoritären Ständestaates ankündigte – hielt Dollfuß tatsächlich am 11. September 1933 anlässlich einer Massen- kundgebung der Vaterländischen Front auf dem Wiener Trabrennplatz. Am 21. September wurden Winkler und die anderen Landbundvertreter auftragsgemäß aus der Regierung geworfen. Zur Stärkung der Heimwehr kam es vorläufig nicht in dem von Mussolini gewünschten Ausmaß; Fey musste sogar vorübergehend die

323 MRP 897, 1933-09-06, Punkt 15, S. 367 f. 324 MRP 897, 1933-09-06, Punkt 15, S. 370–375. 325 Maderthaner/Maier (Hgg.), „Der Führer bin ich selbst“, S. 37–55. 326 Maderthaner/Maier (Hgg.), „Der Führer bin ich selbst“, S. 39, 46 f. 249

Sicherheitsagenden abtreten327 und erhielt dafür als Trostpflaster das relativ bedeutungslose Amt des Vizekanzlers zugesprochen.328 Hinsichtlich einer neuen Verfassung und der Ausschaltung der Sozialdemokratie wollte Dollfuß nichts überstürzen. Am 15. September ließ er Mussolini durch den Gesandten Schüller mitteilen, er marschiere rasch, liebe es aber nicht, „wenn ihn dabei Freunde von rückwärts stoßen – das störe den Marsch“.329 Trotz des Zögerns ist zu vermuten, dass Fey und Dollfuß bei der ins Treffen geführten Notwendigkeit von „Präventivmaßnahmen“ gegen politische Gegner weniger an einen zwar möglichen, aber zu diesem Zeitpunkt aufgrund der internationalen Lage unwahr- scheinlichen Angriff der Nationalsozialisten „von innen und von außen“ dachten – wie sie vorgaben330 –, sondern in erster Linie an Begleitmaßnahmen für die von

327 Wie Ex-Vizekanzler Winkler in seinem 1935 erschienen Buch plausibel meint, um ihn und den Landbund ruhigzustellen (Winkler, Diktatur in Österreich, S. 76 f.). – Feys turbulenter Werdegang in der Regierung: 17. 10. 1932: Staatssekretär für Sicherheitswesen; 10. 5. 1933: Bundesminister nach Art. 78 Abs. 1 B-VG betraut mit den Agenden des Sicherheitswesens; 21. 9. 1933: Ent- hebung als Sicherheitsminister und Ernennung zum Vizekanzler (Dollfuß übernimmt u. a. das Sicherheitswesen selbst, als Staatssekretär unterstützt von Carl Karwinsky); 11. 1. 1934: als Vizekanzler und Vertreter des Bundeskanzlers wieder mit der sachlichen Leitung der Angelegen- heiten des gesamten Sicherheitswesens betraut (Karwinsky bleibt Staatssekretär für Sicherheits- wesen); 1. 5. 1934: Enthebung als Vizekanzler und Ernennung zum Bundesminister betraut mit den Agenden des Sicherheitswesens; 10. 7. 1934: Bundesminister ohne Portefeuille und General- staatskommissär für außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen zur Bekämpfung staatsfeindlicher Bestrebungen in der Privatwirtschaft (Dollfuß übernimmt wiederum das Sicherheitswesen und lässt sich dabei von Carl Karwinsky als Staatssekretär unterstützen); 17. 10. 1935: Enthebung als Bundesminister ohne Portefeuille und Generalstaatskommissär, Ausscheiden aus der Regierung und Ernennung zum Verwaltungsratspräsidenten der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft (DDSG). 328 Zur Regierungsumbildung vom 21. 9. 1933 siehe Huemer, Sektionschef Robert Hecht, S. 244– 252. 329 Maderthaner/Maier (Hgg.), „Der Führer bin ich selbst“, S. 50. – Diese kecke Stellungnahme ist als Antwort auf eine Ansprache Starhembergs am 12. 9. 1933 zu werten, der den Kanzler coram publico dazu aufgefordert hatte, die „Bolschewisten“ möglichst rasch aus dem Wiener Rathaus zu werfen. (Maderthaner/Maier, S. 49; Kleines Blatt, 13. 9. 1933, S. 2.) 330 Für die diesbezügliche Argumentation siehe Statement Fey am 1. 9. (MRP 896, 1933-09-01, Punkt 21, S. 336) sowie die Statements von Fey und Dollfuß am 6. 9. (MRP 897, 1933-09-06, Punkt 15, S. 366 bzw. 370 f.). 250

der Heimwehr für die nächsten Wochen und von Dollfuß für die nächsten Monate ins Auge gefasste Ausschaltung der Sozialdemokratie.331

Nach der Regierungsumbildung waren alle Widerstände beseitigt, und Dollfuß ließ die für die diktatorische Entwicklung und zunehmende Faschisierung des österreichischen Staatswesens symbolhafte Verordnung unter dem Titel „Verord- nung des Bundeskanzlers vom 23. September 1933, betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete“ in Kraft treten.332

Ähnlich wie bei der Verordnung vom 7. März 1933 wählte man eine durchdachte rechtliche Konstruktion, um die Fiktion der Verfassungsmäßigkeit der gegen- wärtigen Regierung aufrechtzuerhalten und dem Vorwurf zu begegnen, ein im Verfassungsrang stehendes altehrwürdiges Grundrecht, nämlich das der persön- lichen Freiheit,333 einfach per Notverordnung entsorgt zu haben. Laut dem Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit war die Verhaftung einer Person nur aufgrund eines mit Gründen versehenen, innerhalb von 24 Stunden zuzustellenden richterlichen Befehls erlaubt, und die „zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt“ mussten jeden Verhafteten innerhalb von 48 Stunden ent- weder freilassen oder an die zuständigen Behörden abliefern. Aufgrund dieser beiden Bestimmungen könne die präventive Internierung von politischen Gegnern, „nur im Wege einer Änderung der verfassungsrechtlichen Bestimmun- gen des Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit durchgeführt werden, was

331 Die in der Regierung verbreitete Befürchtung eines bewaffneten Widerstandes der Sozial- demokratie lässt sich beispielsweise anhand eines bemerkenswerten Dollfuß-Statements im christlichsozialen Klubvorstand vom 3. 10. 1933 belegen: „Die Sozi werden innerlich zusammen- brechen, ich bin genau informiert, immer am Laufenden. Wenn sie Dummheiten machen, werden wir mit aller Brutalität vorgehen.“ (Goldinger [Hg.], Protokolle Klubvorstand Christlichsoziale Partei, S. 280.) 332 BGBl. 431/1933, in diesem Beitrag durchwegs als „Anhalteverordnung“ bezeichnet. 333 Gesetz vom 27. Oktober 1862 zum Schutz der persönlichen Freiheit (öst. RGBl. 87/1862). Lt. Art. 148 Abs. 1 B-VG 1929 galt dieses Gesetz als Verfassungsgesetz; es wurde erst per 1. 1. 1991 durch das Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit (BGBl. 684/1988) ersetzt. 251

unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht tunlich“ sei, hieß es in einer „Notiz für den Herrn Bundesminister“.334 Das gesuchte rechtliche Schlupfloch fand sich schließlich im § 5 des Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit. Zum besseren Verständnis ist es zielführend, die beiden Passagen wörtlich zu vergleichen:

• § 5 des Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit (1862):

„Niemand kann zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete ohne rechtlich begründete Verpflichtung verhalten (interniert, konfiniert) werden. Ebenso darf niemand außer den durch ein Gesetz verzeichneten Fällen aus einem bestimmten Orte oder Gebiete ausgewiesen werden.“

• § 1 der Anhalteverordnung (1933):

„Der Bundeskanzler und über dessen Ermächtigung die Sicherheitsdirektoren (in Wien der Polizeipräsident) können Personen, die im begründeten Verdachte stehen, staatsfeindliche oder sonstige die öffentliche Sicherheit gefährdende Handlungen vorzubereiten oder die Begehung oder die Vorbereitung solcher Handlungen zu begünstigen, zu fördern oder dazu zu ermutigen, zwecks Hintanhaltung von Störungen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit zum Aufenthalte in einem bestimmten Gebiete oder Orte verhalten.“

Die vom Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit geforderte „rechtlich begründete Verpflichtung“ wurde nach Meinung des Autors der oben erwähnten Notiz durch die Anhalteverordnung statuiert. Die buchstäblich übernommene Formulierung „zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete … verhalten“ ist als indirekter, aber eindeutiger Verweis auf den § 5 des Gesetzes von 1862 zu verstehen. Das musste reichen, denn Kritik konnte aufgrund der mittlerweile weit fortgeschrittenen Knebelung der Presse sowieso nicht öffentlich

334 MRP 897, 1933-09-06, Beilage O, S. 381. 252

geäußert werden,335 und eine Klage gegen die Verordnung war durch die Aus- schaltung des Verfassungsgerichtshofes ohnehin unmöglich.

Abb.: Gegenüberstellung von vergleichbaren gesetzlichen Maßnahmen im Deutschen Reich und in Österreich 1933/34

Maßnahme Deutsches Reich Österreich

Pressezensur und Verordnung des Reichspräsidenten – Verordnung der Bundesregierung Versammlungsverbot zum Schutze des Deutschen Volkes vom 7. März 1933 (BGBl. 41/1933)

vom 4. Februar 1933 (RGBl. 1933 I, – Erlass des Staatssekretärs für Sicher- S. 35) [„Schubladenverordnung“] heitswesen vom 7. März 1933

Aus- und Überdehnung Verordnung des Reichspräsidenten Zahlreiche Verordnungen der Bundes- von Verwaltungs- und zum Schutze des Deutschen Volkes regierung ab 7. März 1933 Polizeistrafen vom 4. Februar 1933 (RGBl. 1933 I, S. 35) [„Schubladenverordnung“]

Gründung einer Hilfs- Erlass des preußischen Innenministers – Assistenzkörperverordnungen vom polizei aus regimetreuen vom 22. Februar 1933 26. Mai 1933 (BGBl. 201 u. Wehrformationen 202/1933)

– Schutzkorpsverordnung vom 7. Juli 1933 (BGBl. 292/1933)

Verhaftung und Internie- Verordnung des Reichspräsidenten Anhalteverordnung vom 23. September rung ohne konkretes zum Schutz von Volk und Staat vom 1933 (BGBl. 431/1933) Delikt und richterlichen 28. Februar 1933 (RGBl. 1933 I,

Befehl S. 83) [„Reichstagsbrandverordnung“] 

 Anhaltebescheid Schutzhaftbefehl

Gesetzesbeschlüsse ohne Gesetz zur Behebung der Not von Art. 3 Abs. 2 des Bundesverfassungs- parlamentarische Volk und Reich vom 24. März 1933 gesetzes vom 30. April 1934 (BGBl. I Zustimmung (RGBl. 1933 I, S. 141) 255/1934) [„Ermächtigungsgesetz“] [„Ermächtigungsgesetz“]

335 „Was zu dieser Verordnung zu sagen wäre, ist gegenwärtig nicht möglich“, war die einzige Stellungnahme, die sich das das sozialdemokratische Kleine Blatt leisten durfte (26. 9. 1933, S. 1). 253

Hitler – unterstützt von seinen nationalkonservativen Verbündeten – hatte mit der Reichstagsbrandverordnung die wichtigsten Grundrechte ohne alle Skrupel und Umwege außer Kraft gesetzt und die Verordnung damit nach Ernst Fraenkel zur „Constitutional Charter“ des Dritten Reichs gemacht. Eine ähnliche Bedeutung kam der österreichischen Anhalteverordnung niemals zu. Immerhin hob sie das grundlegende Menschenrecht der persönlichen Freiheit auf, und die äußerst vage Beschreibung des von der Verordnung zu erfassenden Personenkreises öffnete jeder nur erdenklichen behördlichen Willkür Tür und Tor. Eine derartige Ver- ordnung, die sich gegen Staatsbürger richtete, denen außer ihrer angeblich „amtsbekannten politischen Einstellung“ (wie es in den Anhaltebescheiden häufig hieß) keine Verfehlungen oder Vergehen nachzuweisen waren, musste ent- scheidend zur Verschärfung der politischen Gegensätze und zur Steigerung des Hasses zwischen den politischen Lagern beitragen.

Bemerkenswert ist, dass die „Verordnung des Bundeskanzler“ nicht die Unter- schrift Dollfuß’, sondern Feys trägt. Formal mag dies damit zu begründen sein, dass Dollfuß am Samstag, 23. September 1933 zur Völkerbundversammlung nach Genf reiste336 und Fey in seiner Vertretung die Verordnung unterzeichnen musste. Aber vermutlich hatte Dollfuß mit dieser Geste dem vorübergehend als Sicherheitsminister entmachteten Fey bewusst den Vortritt gelassen, um ihm Gelegenheit zu geben, die neue Verordnung als sein Werk und sich selbst als starken Mann zu präsentieren. Bei einer Kundgebung des Heimatschutzes in Niederösterreich am Sonntag, 24. September brüstete sich Fey jedenfalls damit, dass er auch als Vizekanzler Einfluss auf das Sicherheitswesen habe. „Um dies deutlich zu dokumentieren, sei gesagt, dass ich erst gestern die neue Notverordnung unterschrieben habe, wonach man Personen nicht erst nach vollbrachter Tat, sondern schon vorher hinter Schloss und Riegel setzen kann, wenn anzunehmen ist, dass das Wirken dieser Personen nicht einwandfrei ist.“ Die Zeitung verzeichnete daraufhin „stürmische Zustimmung“.337

336 Neue Freie Presse, Morgenblatt, 23. 9. 1933, S. 1. 337 Wiener Zeitung, 25. 9. 1933, S. 1. 254

C.5.1.1 Die Anhalteverordnung vom 23. September 1933 im Detail

„Haft“ und „Lager“ waren im Verordnungstext sorgsam gemiedene Begriffe. Die offizielle Ausdrucksweise sollte, wie eine Zeitung kurz nach Erlass der Verordnung preisgab, „Anhaltungsort“ lauten.338 Nachdem Mitte Oktober die ersten Häftlinge in den Wöllersdorfer Werken untergebracht worden waren, bürgerte sich im amtlichen Schriftverkehr trotzdem umgehend der Begriff „Anhaltelager“ ein. Die Verwendung der Bezeichnung „Konzentrationslager“ war allen Behörden und vor allem der österreichischen Presse strikt untersagt.339

Laut § 1 der Verordnung konnten der Bundeskanzler und über dessen Ermächtigung die Sicherheitsdirektoren der Bundesländer (in Wien der Polizei- präsident)340 die Anhaltung von „sicherheitsgefährlichen Personen“ aussprechen. Im Durchführungserlass zur Verordnung legte die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit (GDfdöS) fest, dass die Sicherheitsdirektoren und der Wiener Polizeipräsident diese Ermächtigung in jedem einzelnen Anhaltungsfall einholen mussten.341 So kam es, dass in der heißesten Phase – zwischen Jänner

338 12-Uhr-Blatt, 26. 9. 1933, S. 1. 339 Ein Beispiel: Als das Landesgericht für Strafsachen in einem amtlichen Schreiben an das BKA vom 16. Juli 1934 im Zusammenhang mit Wöllersdorf die Bezeichnung „Konzentrationslager“ verwendete, rief das sofort entschiedenen Protest hervor, wie aus einer Amtsnotiz hervorgeht: „Da diese Bezeichnung für das Anhaltelager Wöllersdorf aus hier nicht näher zu erörternden Gründen unzutreffend und überdies der Gebrauch dieser Bezeichnung i.k.W. auch der inländischen Presse untersagt wurde, wäre das Geschäftsstück dem Bund.-Min. f. Justiz mit dem Ersuchen vorzuschreiben, den Gerichtsbehörden die Vermeidung des Wortes ‚Konzentrationslager‘ für österreichische Anhaltelager aufzutragen.“ (ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4458, Gz. 209.388/34.) Bundeskanzler Schuschnigg scheute sich allerdings nicht, im Ministerrat im Zusammenhang mit den österreichischen Anhaltelagern von „Konzentrationslagern“ zu sprechen. (MRP 984, 1935-02-20, Punkt 8, S. 296.) – Vgl. weiters Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 133. 340 Die Institution der direkt dem Bundeskanzleramt unterstehenden „Sicherheitsdirektoren des Bundes in den Bundesländern“ war im Zuge der Zentralisierung des Sicherheitswesens per Verordnung der Bundesregierung vom 13. Juni 1933 (BGBl. 226/1933) ins Leben gerufen worden. Während sich die Sicherheitsdirektoren der acht Flächen-Bundesländer aus Kreisen des Bundesheeres, der Heimwehr, der Gendarmerie und der Bürokratie rekrutierten, übernahm in Wien der Polizeipräsident diese Funktion. (Vgl. Mähner, Rolle der Polizei, S. 37–40.) 341 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 133. 255

und Juli 1934 – laufend zumeist telefonisch übermittelte lange Listen von Anhalteanträgen in der GDfdöS eingingen, die in der Regel innerhalb von ein bis zwei Tagen telefonisch bewilligt wurden, ohne dass auch nur ansatzweise eine angemessene Prüfung der Anträge möglich gewesen wäre.342

Einen noch größeren Verwaltungsaufwand hatte eine Bestimmung nach § 2 der Anhalteverordnung zur Folge, mit der man wohl so etwas wie Rechtsstaatlichkeit signalisieren wollte. Demnach war gegen den Bescheid, mit dem ein Sicherheits- direktor die Anhaltung aussprach, die Berufung – allerdings ohne aufschiebende Wirkung – an den Bundeskanzler zulässig. Die Sichtung der Aktenbestände im Österreichischen Staatsarchiv zeigt, dass vermutlich kaum jemals einer derartigen Berufung stattgegeben wurde. Selbst in Fällen, wo es augenscheinlich einen Unschuldigen erwischt hatte, verlegten sich die Behörden darauf, die betreffenden Personen stillschweigend aus der Anhaltung zu entlassen und die Berufung als solche abzuschmettern. Aber mit der rasch wachsenden Zahl der Anhaltehäftlinge waren die Behörden so oder so nicht mehr in der Lage, die Tausenden von Berufungen zeitgerecht abzuwickeln. In der Regel widmeten sich die GDfdöS- Sachbearbeiter einem Berufungsakt erst lange nach Entlassung des betreffenden Anhaltehäftlings.

Weiters sollte die Anhalteverfügung laut § 2 für „unbestimmte Zeit“ gelten; der Bundeskanzler und über seine Ermächtigung die Sicherheitsdirektoren konnte sie jederzeit aufheben. Da infolge der Ungewissheit über die Dauer der Anhaltung „Haftpsychosen im größeren Ausmaße“ auftraten, entschloss man sich im Frühsommer 1934 zu einer Änderung dieser Praxis. Der Anhaltebescheid enthielt weiterhin keine Angabe über die Dauer der Anhaltung; aber beim Eintreffen im Anhaltelager informierte man die Angehaltenen von nun an über die

342 Im Zuge der Erfassung der Daten der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge konnte ich einen großen Teil des Bestandes ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g 1933–1938 sichten. Bei allgemein gehaltenen Aussagen, die Eindrücke aus der umfassenden Akteneinsicht wiedergeben, verzichte ich auf Einzelbelege. – Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 133, wertet die Zustimmung des BKA zu Anhalteanträgen der Sicherheitsdirektionen aufgrund der wachsenden Zahl der Häftlinge als „bloßen Formalakt“. 256

voraussichtliche Länge der Haft und belehrte sie, unter welchen Voraussetzungen es bei der angekündigten Anhaltedauer bleiben würde: a) gutes Verhalten im Lager, b) ruhige politische Verhältnisse im Wohnort und c) die Abgabe einer Loyalitätserklärung. Bezüglich der „Anhaltefristen“ hatten die Sicherheits- direktoren Richtlinien der GDfdöS zu beachten.343

Laut § 3 Anhalteverordnung galten für den Vollzug die Bestimmungen des Verwaltungsstrafgesetzes. Demnach durften die Angehaltenen ihre eigene Kleidung tragen und sich selbst verköstigen. Sollten sie sich nicht „aus eigenem Antrieb angemessen beschäftigen“, waren sie zur Arbeit anzuhalten – was letztlich bedeutete, dass Zwangsarbeit nicht vorgesehen war.344

Für den Ersatz der Vollzugskosten (§ 4 Anhalteverordnung) waren die Bestimmungen des § 1 der Verordnung vom 1. September 1933345 heranzuziehen, wonach der zuständige Sicherheitsdirektor die Kosten für außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen „den Personen, die durch strafbares Verhalten diese Sicherheitsmaßnahmen verursacht haben, sowie denjenigen, die dieses Verhalten begünstigt oder gefördert haben“, vorschreiben konnte. Für die Anhaltekosten selbst legte das Bundeskanzleramt schließlich Ende November 1933 per

343 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4454, Gz. 181.038/34 – „Befristung der Anhaltung von sicherheitsgefährlichen Personen im Sinne der Verordnung des Bundeskanzler vom 23. IX. 1933, BGBl. Nr. 431“. – Hier heißt es u. a.: „Die Ungewissheit über die Dauer der Anhaltung wirkte sich bei den Angehaltenen nach den bisherigen Erfahrungen zuweilen dahin aus, dass Haftpsychosen im größeren Ausmaße auftraten, die dann zu Vorkommnissen führten, die nach ärztlicher Meinung ihren Grund in der Hauptsache in der Nervenbelastung der Angehaltenen eben durch die Ungewissheit der Dauer der Anhaltung gehabt haben.“ – Vgl. zum Problem der unbefristeten Anhaltung die Ausführungen Feys im Ministerrat vom 24. September 1934. (MRP 976, 1934-09- 24, Punkt 4, S. 293.) 344 Weiters sah der im § 3 der Anhalteverordnung erwähnte § 12 Abs. 2 Verwaltungsstrafgesetz (BGBl. 275/1925) vor, dass der mündliche und schriftliche Verkehr mit der Außenwelt der amtlichen Aufsicht unterlag. 345 Verordnung der Bundesregierung vom 1. September 1933 zur Hereinbringung von Kosten- ersätzen für außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen (BGBl. 397/1933). – Zweck der Verordnung lt. Sicherheitsminister Fey: „Die Verordnung solle die Möglichkeit bieten, auch jene Leute, die zweifellos die Tat gefördert hätten, ohne dass man aber den gerichtsordnungsmäßigen Nachweis dafür erbringen könne, zur Schadensgutmachung heranzuziehen.“ (MRP 896, 1933-09-01, Punkt 21, S. 338.) 257

Verordnung einen Pauschalbetrag von sechs Schilling pro Person und Tag fest.346 Der Wöllersdorfer Lagerkommandant bezifferte im Februar 1935 die tatsächlichen Kosten der Verpflegung der Angehaltenen pro Person und Tag übrigens mit 1,50 Schilling.347

Der administrative Aufwand zur Hereinbringung der entstandenen Kosten war enorm, der Erfolg mehr als dürftig.348 Die Kosteneintreibung bei den Anhalte- häftlingen selbst verlief meist erfolglos, weil diese nur selten über die not- wendigen Mittel verfügten.349 Auch die Ersatzkostenvorschreibungen an Parteigenossen des Angehaltenen350 dürften nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben. Der steirische Sicherheitsdirektor etwa schätzte die „Aufbringungssumme“ für Anhaltungskosten und Terrorschäden bis Ende Oktober 1934 auf 994.000 Schilling. Er resümierte resignierend: „Diese Summen sind aus der ganzen Bevölkerung des Landes Steiermark nicht hervorzubringen. Insbesonders hat die Praxis bei der Hereinbringung der Verpflegskosten für die Angehaltenen ergeben, dass diese oder deren Familien zu 95% zahlungsunfähig sind, sodass nach den primären 1800 Vorschreibungen nach den gemachten Erfahrungen bei weiteren Ersatzvorschreibungen solche in die Tausende

346 Verordnung des Bundeskanzleramtes vom 28. November 1933, betreffend die Festsetzung eines Bauschbetrages für die Kosten der Verhaltung zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete (BGBl. 525/1933). 347 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4475, Gz. 309.959/35 – „Anhaltelager Wöllersdorf, Kosten für Verwaltungsstrafhäftlinge“. In dem genannten Satz von 1,50 Schilling dürften aller- dings die bestimmt in beträchtlicher Höhe anfallenden Gemeinkosten für die Erhaltung der Lagerobjekte, Bewachung etc. nicht berücksichtigt gewesen sein. 348 Bis 8. 6. 1934 waren von vorgeschriebenen 124.468,32 Schilling lediglich 1582 Schilling tatsächlich eingehoben worden. (Mähner, Rolle der Polizei, S. 60.) 349 Vgl. Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 137. 350 Ein Beispiel aus den Akten: Am 19. 2. 1934 schrieb der steirische Sicherheitsdirektor per Bescheid vier offensichtlich als NS-nahe angesehenen, in der Gegend von Schladming wohnhaften Personen vor, die für einen „erhobenermaßen zahlungsunfähigen“, ebenfalls aus der Schladminger Gegend stammenden nationalsozialistischen Anhaltehäftling angelaufenen Anhaltungskosten von 324 Schilling „binnen 8 Tagen nach Zustellung bei sonstiger zwangsweiser Eintreibung zu ersetzten“. (ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4445, Gz. 125.577/34.) 258

notwendig sind, ehe nur ein Bruchteil der aufzubringenden Summen herein- gebracht erscheint.“351

Nach § 5 Anhalteverordnung waren die Gemeinden verpflichtet, „die zum Voll- zuge notwendigen Sacherfordernisse“ gegen nachträglichen Auslagenersatz beizustellen, und § 6 befristete die Wirksamkeit der Verordnung mit 1. Oktober 1934.

C.5.2.2 Die weiteren Anhaltegesetze

Mit dem unmittelbar nach dem NS-Putsch 1934 verkündeten Bundesverfassungs- gesetz vom 30. Juli 1934352 erließ die Regierung neben der nach wie vor gültigen Anhalteverordnung von 1933 ein weiteres Anhaltegesetz. Demnach waren Minderbeteiligte des Juliputsches, unbeschadet ihrer strafrechtlichen Verfolgung, „an einem bestimmten Orte anzuhalten“ und „ausnahmslos zu schwerer Zwangsarbeit zu verhalten“. Die Anhaltung wurde von den Bezirksverwaltungs- oder Bundespolizeibehörden verfügt; eine Berufung dagegen war nicht möglich; die Entlassung blieb dem Bundeskanzler vorbehalten. Bei bereits dem Gericht überstellten Juliputschbeteiligten stand die Beurteilung der Frage, ob sie als Minderbeteiligte anzusehen seien, dem Staatsanwalt zu. 353 Zudem sollte das Vermögen sämtlicher Juliputschisten – auch der Minderbeteiligten – beschlag- nahmt werden.

351 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 22/Stmk., Ktn. 5139, Gz. 186.533/34 – „Sicherheitsdirektor für Steiermark. Anhaltung sicherheitsgefährlicher Personen, Einbringung von Kostenersätzen.“ 352 Bundesverfassungsgesetz vom 30. Juli 1934 über besondere Maßnahmen gegen die an dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 beteiligten Personen (BGBl. II 163/1934). 353 Zur Aburteilung der Juliputschisten hatte die Regierung einen Tag nach dem Dollfuß-Mord einen eigenen Militärgerichtshof eingerichtet: Bundesverfassungsgesetz vom 26. Juli 1934 über die Einführung eines Militärgerichtshofes als Ausnahmegerichtes zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 im Zusammenhang stehenden strafbaren Handlungen (BGBl. II 152/1934). 259

Das am 24. September 1934 knapp vor Ablauf der alten Anhalteverordnung erlassene neue Anhaltegesetz354 versuchte, den Personenkreis, der zum Aufenthalt an einem bestimmten Ort verhalten werden konnte, genauer zu umschreiben. – Zum Vergleich:

• Definition laut § 1 der Anhalteverordnung (1933): „… Personen, die im begründeten Verdachte stehen, staatsfeindliche oder sonstige die öffentliche Sicherheit gefährdende Handlungen vorzubereiten oder die Begehung oder die Vorbereitung solcher Handlungen zu begünstigen, zu fördern oder dazu zu ermutigen …“

• Definition laut § 1 des Anhaltegesetzes (1934): „… Personen, die geflissentlich staats- oder regierungsfeindliche Bestrebungen fördern oder andere zu staats- oder regierungsfeindlichen Handlungen verleiten oder zu verleiten suchen, insbesondere aber Personen, die sich zu einer politischen Partei bekennen, der die Betätigung in Österreich untersagt wurde, oder von denen auf Grund nachgewiesener Handlungen oder Unterlassungen mit Grund angenommen werden kann, dass sie den Bestrebungen einer solchen Partei Vorschub leisten …“

Diese verfeinerte Definition war Ausdruck einer neuen Politik nach dem Juli- putsch, mit der so etwas wie eine Deeskalation versucht wurde. Der neue Sicherheitsstaatssekretär Hammerstein hatte den Sicherheitsdirektoren bereits per Erlass vom 6. September 1934 mitgeteilt, dass in Hinkunft nur noch solche Personen angehalten werden sollten, die sich „tatsächlich staats- oder regierungs- feindlich verhalten oder in dringendem Verdacht verbotener politischer Betätigung stehen“. Die frühere, allenfalls auch führende Mitgliedschaft in einer mittlerweile verbotenen Partei allein sollte nicht mehr genügen, um eine Person in Anhaltung zu nehmen. Auch von der Praxis der Anhaltungen als bloße

354 Bundesgesetz vom 24. September 1934, betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete (Anhaltegesetz) (BGBl. II 253/1934). 260

Vergeltungsmaßnahme für Terror- und Propagandaakte, deren Täter nicht ermittelt werden konnten, ging man ab.355

Abb.: Wechselnde Rechtsgrundlagen der Anhaltung

Titel gültig ab BGBl. Nr.

Verordnung des Bundeskanzlers, betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete [Anm. KB: „Anhalteverordnung“] 23. 9. 1933 431/1933

Bundesverfassungsgesetz über besondere Maßnahmen gegen die an dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 beteiligten Personen 30. 7. 1934 163/1934 II

Bundesgesetz, betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete (Anhaltegesetz) 24. 9. 1934 253/1934 II

§ 23 des Bundesgesetzes zum Schutze der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit (Ordnungsschutzgesetz) 20. 8. 1937 282/1937

Die Anhaltung war nunmehr – sicherlich im Sinne einer Verwaltungs- vereinfachung – direkt und ohne Ermächtigung des Bundeskanzlers von den Sicherheitsdirektoren „auf bestimmte oder unbestimmte Zeit“ auszusprechen (§ 1); allerdings konnte der Bundeskanzler sie nach wie vor nach eigenem Gutdünken verlängern oder aufheben (§ 3). Berufungen waren nur noch zulässig, wenn die Anhaltung mehr als drei Monate überstieg (§ 2), was angesichts der bisherigen Praxis nicht als Verschlechterung zu werten ist. Die Angehaltenen seien „dauernd mit einer ihren Fähigkeiten entsprechenden Arbeit“ zu beschäftigen (§ 4); der im Gesetz vom 30. Juli 1934 verwendete Begriff „Zwangs- arbeit“ wurde vermieden. Auf spezielle Anstaltskleidung verzichtete man – wohl aus Kostengründen – weiterhin. Rentenbeziehern wurde für die Dauer ihrer Anhaltung die Verfügung über ihre Rente entzogen (§ 5). Ein Teil der Rente fiel

355 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4460, Gz. 236.576/34. – Vgl. Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 133, der darauf verweist, dass mit dem neuen Anhaltegesetz „vom reinen Geisel- prinzip“ abgegangen wurde; er zitiert dafür einen GDfdöS-Erlass vom 30. 9. 1933. 261

den Personen zu, für deren Unterhalt der Angehaltene zu sorgen hatte; der Rest sollte zur Bestreitung der Anhaltekosten herangezogen werden. Ansonsten blieb hinsichtlich des Ersatzes der Vollzugskosten alles beim Alten (§ 6).356

Das Mitte August 1937 verkündete Ordnungsschutzgesetz357 hatte den Zweck einer Zusammenfassung, Vereinheitlichung und zum Teil Glättung und Milderung von in den Jahren 1933 bis 1935 erlassenen restriktiven Verordnungen und Gesetzen.358 Der dem Thema Anhaltung gewidmete § 23 dieses Gesetzes brachte wenig auffallende Änderungen gegenüber dem Anhaltegesetz von 1934. Die Definition (§ 23 Abs. 1) des zur Anhaltung bestimmten Personenkreises war noch ausführlicher als die des Anhaltegesetzes 1934 und ließ den Sicherheitsbehörden jeden erdenklichen Interpretationsspielraum. Sie lautete nunmehr:

• „… Personen, von denen nach ihrem Verhalten mit Grund anzunehmen ist, dass sie geflissentlich staats- oder regierungsfeindliche Bestrebungen fördern, oder andere zu staats- oder regierungsfeindlichen Handlungen verleiten oder zu verleiten suchen, ferner Personen, hinsichtlich derer der begründete Verdacht besteht, dass sie sich an einer drohenden Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit beteiligen werden (…). Die gleiche Verfügung kann gegen Personen getroffen werden, welche durch ein den sozialen Frieden störendes Verhalten die öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit gefährden.“

Zwar verwies die Tagespresse in ihren weitgehend gleichlautenden Kommentaren durchwegs darauf, dass nunmehr Anhalteverfügungen auch aufgrund von

356 Vgl. die Diskussion im Ministerrat vom 24. September 1934 (MRP 976, 1934-09-24, Punkt 4, S. 292–295). Umstritten war einzig die Frage der Befristung der Anhaltung, die zu einer längeren Diskussion führte. 357 Bundesgesetz zum Schutze der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit (Ordnungsschutz- gesetz – OG) (BGBl. 282/1937). 358 Siehe die beinahe gleichlautenden Kommentare in der österreichischen Tagespresse vom 18. August 1937. – So waren die bislang üblichen Doppel- und Mehrfachbestrafungen aufgrund ein und desselben Deliktes nicht mehr möglich; Gerichtsstrafen sollten nicht mehr durch Polizei- strafen erweitert werden. (Vgl. den Kommentar in der Neuen Freien Presse, 18. 8. 1937, S. 1 f.) 262

Störungen des „sozialen Friedens“ möglich waren, blieb aber Erläuterungen zum Hintergrund dieser Bestimmung ebenso schuldig wie Informationen darüber, was unter „Störung des sozialen Friedens“ zu verstehen war. Die Anhaltung galt nur noch auf „bestimmte Zeit“, die zunächst drei Monate nicht übersteigen durfte, aber vom Sicherheitsminister jederzeit verlängert werden konnte. Eine Berufung ohne aufschiebende Wirkung an den Sicherheitsminister war jederzeit, an den Bundesgerichtshof aber erst bei Verlängerung einer Anhaltung möglich.

C.5.2.3 Anhaltepraxis und Häftlingszahlen

Eine vom Sicherheitsdirektor verfügte „Anhaltung“ bedeutete keineswegs automatisch Einlieferung in ein Anhaltelager. Der „bestimmte Ort“ der Anhaltung konnte sich ebenso gut im Arrest eines Bezirksgerichts oder im Polizeigefangen- haus in Wien befinden, wie im Fall des niederösterreichischen Heimwehrführers Alberti.359 Auch während eines längeren Spitalsaufenthaltes konnte der Status der Anhaltung monatelang aufrechterhalten und sogar verlängert werden; ein Beispiel dafür ist der Wiener Stadtschulratspräsident Glöckel.360 Andererseits war es

359 Albrecht Alberti hatte als Landesleiter des Niederösterreichischen Heimatschutzes Verhand- lungen mit dem Wiener NS-Gauleiter Frauenfeld geführt – wahrscheinlich mit Wissen und Zustimmung des Führers des Österreichischen Heimatschutzes Starhemberg (vgl. Wiltschegg, Heimwehr, S. 79 f.) – und war dabei von der Polizei in der Nacht vom 11. auf den 12. 1. 1934 „betreten“ worden. Er wurde schließlich am 18. 1. verhaftet, mit 14 Tagen Arrest bestraft und anschließend in Anhaltung genommen, und zwar im Polizeigefangenhaus Wien in Einzelhaft. Am 30. 4. 1934 wurde er aus der Anhaltung entlassen und in Lunz am See „konfiniert“. Alberti durfte ohne Genehmigung der zuständigen Behörden den Ort nicht verlassen und musste sich zweimal wöchentlich beim Gendarmerieposten Lunz melden. Am 1. 5. 1938 wurde Alberti übrigens unter der Mitgliedsnummer 6.152.627 in die NSDAP aufgenommen. (ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4449, Gz. 153.977/34; BArch, PK, Sign. A0036, Alberti, Albrecht, 7. 11. 1889.) 360 Otto Glöckel war am 13. 2. 1934 verhaftet worden, obwohl es laut Bericht der Bundespolizei- direktion Wien keine Anhaltspunkte dafür gab, dass er sich an der Februarrevolte oder den Vorbereitungen dafür beteiligt hatte. Glöckel blieb wie viele sozialdemokratische Mandatare im Polizeigefangenhaus in Haft, erhielt schließlich am 19. 4. 1934 einen Anhaltebescheid, wurde am selben Tag nach Wöllersdorf und von dort am 11. 7. 1934 in das Rainerspital in Wien überstellt; im September 1934 verfügte die Behörde eine Verlängerung der Anhaltedauer um einen Monat; am 19. 10. 1934 – Glöckel befand sich noch immer im Spital – hatte die Bundespolizeidirektion Wien schließlich mit Rücksicht auf den amtsärztlich bescheinigten schlechten Gesundheitszustand und die „Bejahrtheit“ Glöckels nichts gegen dessen Entlassung aus der Anhaltung einzuwenden. 263

häufig geübte Praxis, dass Personen, die etwa im Verwaltungsstrafverfahren zu drei Monaten Arrest verurteilt worden waren, zur Abbüßung ihrer Reststrafe von beispielsweise sechs Wochen ins Anhaltelager Wöllersdorf361 verlegt wurden, das in diesem Fall also als Notarrest diente. In der Regel verfügten die Sicherheits- behörden nach Ablauf der Verwaltungsstrafe die Anhaltung, worauf der betreffende Verwaltungsstrafhäftling weiter in Wöllersdorf verbleiben musste, nunmehr eben als Anhaltehäftling. Wegen politischer Delikte gerichtlich Verurteilte wurden hingegen grundsätzlich nicht in einem Anhaltelager unter- gebracht; allerdings mussten sie damit rechnen, nach Ablauf der Kerkerstrafe in Anhaltung genommen und nach Wöllersdorf verschickt zu werden.362

Häufig nahm man politische Verwaltungsstrafhäftlinge nach Strafverbüßung in einem regulären Arrestlokal oder Gefängnis in Anhaltung und überstellte sie nach Wöllersdorf. Ebenfalls häufig lieferten Polizei oder Bezirksbehörden (je nach Zuständigkeit) Verwaltungsstrafhäftlinge nach Ablauf ihrer Strafe an das Gericht aus. Wenn nun – was oft vorkam – die Justiz mangels stichhaltiger Beweise die Freilassung verfügte, konnte wiederum der zuständige Sicherheitsdirektor aktiv werden und die Anhaltung aussprechen. So heißt es beispielsweise in einem Anhalteantrag des niederösterreichischen Sicherheitsdirektors für den NS-Orts- gruppenleiter von Waidhofen an der Thaya, der wegen NS-Betätigung bereits eine Verwaltungsstrafe verbüßt hatte: „War zuletzt dem Gerichte wegen Hochverrats- verdachtes eingeliefert, wurde aber wieder freigelassen. Der Sicherheitsdirektor will ihn nach der Entlassung vom Gerichte nicht auf freiem Fuße belassen, weil er ein radikaler Nationalsozialist ist.“363

(ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4451, Gz. 165.730/34 u. Ktn. 4454, Gz. 184.124/34.) Otto Glöckel starb am 23. 7. 1935 im Alter von 61 Jahren. 361 Auch wenn hier und bei den nachfolgenden Beispielen nur das weitaus größte und bekannteste Lager Wöllersdorf genannt wird, gilt, dass daneben noch andere Anhaltelager existierten. 362 Zur Problematik Notarrest – Anhaltelager vgl. Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 135. 363 Quelle: „Wöllersdorf-Datenbank“ des Autors bzw. ÖStA/AdR, BKA-Inneres, 20/g, 1934. 264

Bruno Kreisky berichtet in seinen Erinnerungen vom Schicksal eines sozial- demokratischen Zellengenossen, eines Straßenbahners aus Wien-Favoriten, der sich an der Verteilung der illegalen „Arbeiterzeitung“ beteiligt hatte und deshalb verhaftet worden war. Die drastischen Folgen: Der Mann hatte vorerst drei Monate Verwaltungsstrafe abzusitzen, musste anschließend wegen Betätigung für eine verbotene Partei eine gerichtliche Kerkerstrafe von zwei Jahren verbüßen und kam anschließend ins Anhaltelager Wöllersdorf; zudem hatte er umgehend seine Kündigung als Straßenbahner erhalten, und seine Frau war aus der gemeinsamen Gemeindewohnung geworfen worden. Kreisky: „Im Austrofaschismus konnte man also drei Strafen für ein und dasselbe ‚politische‘ Delikt bekommen. Ein Schwerverbrecher allerdings wurde nur einmal bestraft.“364

Häufigster Grund für die Anhaltung von Nationalsozialisten war bis zu Herbst 1934 die Vergeltung für Anschläge und andere verbotene Aktionen. Ein Beispiel aus dem an der Grenze zu Deutschland gelegenen Bezirk Rohrbach (Ober- österreich) soll diese Vorgangsweise illustrieren: Um etwa 0.40 Uhr des 16. Jänner 1934 fanden im Ort Haslach je zwei Sprengstoff- und Papierböller- anschläge statt, die an mehreren Gebäuden einen geschätzten Gesamtschaden von 6000 Schilling verursachten – eine für damalige Begriffe beträchtliche Summe. Der Tat verdächtigt wurden mehrere aus dem Ort stammende, vor einiger Zeit nach Deutschland geflüchtete Nationalsozialisten; man vermutete, dass sie im Schutz der Nacht auf Schleichwegen über die Grenze nach Haslach gekommen und nach Legen der Bomben wieder nach Deutschland zurückgekehrt waren. Um 10.00 Uhr gab die Bezirkshauptmannschaft Rohrbach die Meldung über die Anschläge an die Sicherheitsdirektion in Linz weiter, die um 10.10 Uhr das Bundeskanzleramt informierte. Um 12.50 Uhr desselben Tages teilte das Bundes- kanzleramt der Linzer Sicherheitsdirektion mit, „dass vier Personen für Wöllers- dorf namhaft zu machen sind“; daraufhin erhielt die Bezirkshauptmannschaft eine entsprechende Weisung aus Linz. Um 16.00 Uhr beantragte Rohrbach die Zwangsanhaltung für die folgenden vier Personen:

364 Kreisky, Zwischen den Zeiten, S. 231 f. 265

• einen 1904 geborenen arbeitslosen Fabrikbeamten, bis drei Monate vor dem Verbot NS-Ortsgruppenleiter, nach wie vor „begeisterter Anhänger“ und vermutlich weiterhin aktiv;

• einen 1897 geborenen Leinenfabrikanten, in dessen Betrieb 15 Arbeiter tätig waren, NS-Ortsgruppenleiter bis zum Verbot, „begeisterter Anhänger“, „Agitator“ und „aller Wahrscheinlichkeit nach der geistiger Führer der Bewegung“;

• einen 1907 geborenen Leinenwarenerzeuger, bis zum Verbot SA-Führer von Haslach und Aigen „und daher dringend der weiteren nationalsozialistischen Betätigung verdächtig“;

• einen 1890 geborenen Zahntechniker, bis zum Verbot „begeistertes Mitglied“ der NSDAP und im „dringenden Verdacht“ stehend, sich weiterhin national- sozialistisch zu betätigen.

Um 17.20 Uhr übermittelte die Sicherheitsdirektion Linz dem Bundeskanzleramt einen Anhalteantrag für die vier Genannten.365 Aktive oder passive Beteiligung an den Anschlägen war keinem nachzuweisen. Ihre Anhaltung gründete in erster Linie darauf, dass sie sich vor dem Verbot aktiv an führender Stelle für die örtliche NSDAP betätigt hatten. Handfeste, vor einem ordentlichen Gericht haltbare Beweise für eine fortgesetzte NS-Betätigung in der Illegalität lagen in diesen und vielen ähnlich gelagerten Fällen kaum jemals vor.366

365 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4442, Gz. 109.928/34. Ein Blick in die „Wöllersdorf- Datenbank“ zeigt, dass zwei bis 3. 4. 1934 und einer bis 22. 4. 1934 angehalten wurde; die vierte genannte Person dürfte der Anhaltung entgangen sein. 366 Um den Sicherheitsbehörden keine Beweise für die Beteiligung an Anschlägen zu liefern, entwickelten illegale NS-Gruppen manchmal phantasiereiche Strategien. Im oberösterreichischen Windischgarsten etwa wurde ein aus dem Anhaltelager entlassener Nationalsozialist Ende April 1934 mit einem Höhenfeuer begrüßt. Die Gendarmerie musste allerdings feststellen, „dass die bekannten Anhänger der NSDAP, welche wegen verbotener Betätigung schon wiederholt angezeigt und auch bestraft wurden, sich auf dem Marktplatze in der Nähe des Postens aufgehalten haben, daher als unmittelbare Täter nicht in Betracht kamen“. So folgerte der Postenkommandant, „dass sich die Anhänger der NSDAP zu dieser Demonstration auswärtige Personen gedungen haben“. (ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4452, Gz. 172.661/34.) 266

Weil die tatsächlichen Täter häufig nicht ermittelt werden oder sich dem Zugriff der Exekutive entziehen konnten, hielt man sich an ortsbekannten National- sozialisten gleichsam schadlos. Auf diese Art wollte man erstens „Vergeltung“ üben, zweitens sollte durch die Inhaftierung der vermuteten Führer und Anstifter die illegale Organisation als solche getroffen und „kopflos“ gemacht werden, und drittens glaubte man, dadurch die anderen Nationalsozialisten im Ort abzu- schrecken und ihr Wohlverhalten zu erzwingen. Die Entlassung aus der Anhaltung knüpfte man durchwegs an die Bedingung, dass im Wohnort der Angehaltenen mittlerweile „Ruhe“ eingekehrt war, also keine merkbaren Aktivitäten der illegalen NS-Bewegung mehr registriert wurden. Konkret gesagt: Die Sicherheitsbehörden betrachteten die Angehaltenen als Geiseln, auch wenn sie diese hässliche Bezeichnung im Amtsverkehr tunlichst vermieden.

Richtlinien für Anhaltefristen, die die GDfdöS im Juni 1934 per Erlass an sämt- liche Sicherheitsdirektionen verschickte, geben Auskunft darüber, aus welchen Gründen die Sicherheitsbehörden Anhaltungen aussprachen und wie die Delikte bewertet wurden.

Abb.: Richtlinien für Anhaltefristen laut GDfdöS (Juni 1934)

Gründe der Anhaltung Empfohlene Anhaltedauer

Anhaltung als Vergeltungsmaßnahme 4–8 Wochen

Anhaltung wegen erwiesener Propaganda durch Flugschriften, Klebezettel, Anbringen von politischen Zeichen, Teilnahme an politischen Demonstrationen u. dgl. 2–4 Monate

Anhaltung prominenter Führer, von denen der Sicherheitsbehörde bekannt ist, dass sie sich weiterhin betätigen, ohne dass ein strafbarer Tatbestand nachgewiesen werden konnte 4–6 Monate

Anhaltung überführter Terroristen, wobei der durch den Anschlag angerichtete Schaden bzw. die Gefährlichkeit des Anschlages zu berücksichtigen sind 6–12 Monate

Quelle: ÖStA, AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4454, Gz. 181.038/34. Hervorhebungen laut Original.

267

Die ersten Anhaltehäftlinge – Nationalsozialisten aus Schladming und der Ramsau im steirischen Ennstal – trafen am 17. Oktober 1933 im frisch adaptierten Lager Wöllersdorf ein. Ab Anfang 1934, mit dem Einsetzen einer gewaltigen NS- Terrorwelle, stiegen die Belagszahlen rasant an und erreichten am 1. Oktober 1934 den Höchststand mit 5302 Häftlingen. Bis Jahresende 1934 sank der Lagerstand dann auf unter 1000 und erreichte in den folgenden Jahren nie mehr diese Marke. Dem grundlegenden Aufsatz von Gerhard Jagschitz sind umfang- reiche Aufstellungen mit den Belagszahlen des Anhaltelagers Wöllersdorf zu entnehmen,367 die einen statistischen Überblick über den Verlauf der Anhaltung in Österreich von 1933 bis 1938 ermöglichen (siehe folgende Abbildungen).

367 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148 f. – Die Auflisten enthalten sowohl Anhaltehäftlinge als auch Verwaltungsstrafgefangene, die im Lager Wöllersdorf interniert waren. Anmerkung: Beim Belagsstand vom 1. 11. 1936 ist in der bei Jagschitz abgedruckten Tabelle ein Fehler festzustellen. Die Addition der Angaben in den drei Spalten (130 Nationalsozialisten + 26 Sozialdemokraten + 91 Kommunisten) müsste eine Summe von 247 ergeben. Tatsächlich wird aber eine Summe von 227 angegeben. Wo der Fehler liegt, kann ohne die Originalvorlagen nicht festgestellt werden; daher wurde keine Korrektur vorgenommen. 268

Abb.: Belag des Anhaltelagers Wöllersdorf 1933–1937, nationalsozialistische und linke Häftlinge gemeinsam

5000

Höchststand Oktober 1934 (nach Juliputsch): 5302 Häftlinge (90% NS) 4000

April/Mai 1934: markanter Anstieg 3000 nach der Februarrevolte (70% Linke)

2000

Juliabkommen 1936

1000

0 J 37 J 36 J 35 J 34 F 37 F 36 F 35 F 34 A 37 A 37 A 36 A 36 A 35 A 35 A 34 A 34 D 37 D 36 D 35 D 34 D 33 O 37 O 36 O 35 O 34 O 33

Quelle: Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148 f.

Der obige Gesamtüberblick zeigt, dass der Häftlingszuwachs nach dem Schutzbundaufstand vom 12. Februar 1934 erst mit Verzögerungen im April und Mai 1934 einsetzte; vorher hatte man – so wäre der Rückgang zwischen 1. März und 2. April 1934 um rund 100 Häftlinge zu erklären368 – vermutlich für den zu erwartenden Ansturm an Sozialdemokraten Platz geschaffen. Bei Betrachtung der Häftlingszahlen getrennt nach Nationalsozialisten und Linken (siehe Abbildungen auf den Folgeseiten) ergibt sich – ausgenommen die Zeit nach dem Februar- aufstand 1934 – ein deutlicher Überhang an nationalsozialistischen Anhalte- häftlingen bis Ende 1936. Ab 1. Dezember 1936 bis zur Auflösung des Lagers im

368 Ein weiterer Erklärungsansatz wäre der nationalsozialistische „Waffenstillstand“ ab 12. Februar 1934, denn anlässlich des Februaraufstandes wurden alle nationalsozialistischen Propaganda- und Terroraktion schlagartig eingestellt; sie setzten erst wieder Anfang März 1934 ein. (Vgl. Bauer, Weg zum Juliputsch, S. 101–103.) 269

Februar 1938 befanden sich durchwegs mehr linke369 als nationalsozialistische Anhaltehäftlinge in Wöllersdorf. Zweifellos eine Folge des „deutschen Kurses“ nach dem Juliabkommen 1936.370

Abb.: Belag des Anhaltelagers Wöllersdorf 1933–1937, nationalsozialistische und linke Häftlinge getrennt

Quelle: Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148 f.

Abb.: Belag des Anhaltelagers Wöllersdorf, nationalsozialistische und linke Häftlinge getrennt – Ausschnitt April 1934 bis Dezember 1937

369 Damit sind hier und in den nachfolgenden Grafiken jeweils „Marxisten“, also sozialdemokra- tische und kommunistische Anhaltehäftlinge gemeint. 370 Bemerkenswert ist der relativ langsame Rückgang an NS-Häftlingen unmittelbar nach dem Juliabkommen – obwohl dabei ja bekanntlich eine Amnestie vereinbart worden war. Es dürfte sich dabei um eine Art schaumgebremste Vergeltungsmaßnahme des Schuschnigg-Regimes für die nationalsozialistischen Ausschreitungen bei der Olympiafeier auf dem Wiener Heldenplatz gehandelt haben. (Vgl. Regierungserklärung, abgedruckt in der Reichspost, 30. 7. 1936, S. 1: „Infolge der Vorfälle, die sich bei der Olympiafeier ereignet haben, wurde die administrative Amnestie sistiert.“) 270

Quelle: Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148 f.

Abb.: Belagszahlen Anhaltelager Wöllersdorf 1933/34

Stichtag NS Linke Ges. Stichtag NS Linke Ges.

17.10.33 11 0 11 04.07.34 548 456 1004

09.11.33 32 3 35 15.07.34 558 459 1017

15.01.34 — — 85 01.08.34 690 746 1436

01.02.34 — — 173 15.08.34 1500 682 2182

15.02.34 — — 313 01.09.34 3404 545 3949

01.03.34 — — 372 15.09.34 4209 551 4760

15.03.34 — — 361 01.10.34 4747 555 5302

02.04.34 — — 267 15.10.34 4256 538 4794

16.04.34 314 99 413 01.11.34 4249 468 4717

01.05.34 323 508 831 15.11.34 3497 462 3959

15.05.34 255 571 826 01.12.34 2676 387 3063

01.06.34 317 627 944 15.12.34 1513 311 1824

15.06.34 397 604 1001 01.01.35 654 171 825

Quelle: Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148 f. – NS = nationalsozialistische Anhaltehäftlinge; Linke = sozialdemokratische und kommunistische Anhaltehäftlinge gemeinsam; Ges. = Gesamtsumme. 271

Rund zwei Monate nach dem Juliputsch erreichte die Zahl der politischen Häft- linge in Österreich mit 13.388 den Höchststand (siehe die folgende Tabelle). Umgerechnet auf die Wohnbevölkerung gab es in der Steiermark, wo der Juliputsch besonders heftig verlaufen war, weitaus am meisten Häftlinge, während Wien, Niederösterreich und das Burgenland signifikant unter dem Durchschnitt lagen.371 Sicherheits-Staatssekretär Hammerstein-Equord bezeichnete die rund 13.000 politischen Häftlinge in Österreich im Ministerrat als „Staatspensionäre“, die den Etat schwer belasteten.372 Daraufhin kam es in den folgenden Wochen und Monaten zu Massenentlassungen, und die Häftlingszahl verringerte sich bis Mitte Dezember 1934 auf 3384 (72% Nationalsozialisten, 16% Kommunisten und 11% Sozialdemokraten).373

371 Der ebenfalls unterdurchschnittliche Anteil in Kärnten, wo der NS-Aufstand nicht weniger heftig als in der Steiermark verlaufen war, dürfte sich damit erklären, dass a) besonders viele Kärntner Aufständische (etwa die aus dem Lavanttal; vgl. Klösch, Des Führers heimliche Vasallen, S. 132 f.) nach Jugoslawien geflüchtet waren, und es b) in Kärnten, im Gegensatz zur Steiermark, keine eigenen Anhaltelager gab. Vermutlich waren die meisten Kärntner, die als Minderbeteiligte am Juliputsch eingestuft worden waren, bereits nach Wöllersdorf abgegangen. 372 MRP 976, 1934-09-28, S. 310. 373 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 149. – In einem Runderlass vom 23. 11. 1934 kündigte die GDfdöS wegen der „veränderten staatsbürgerlichen Einstellung des überwiegenden Teiles der im Anhaltelager Wöllersdorf angehaltenen Personen“ eine „Gnadenaktion“ für Dezember 1934 an. Die Sicherheitsdirektoren wurden eingeladen, nach genau definierten Vorgaben „ohne ziffern- mäßige oder perzentuelle Beschränkungen“ Entlassungsanträge einzubringen. (ÖStA/AdR, BKA- Inneres 20/g, Ktn. 4465, Gz. 318.235/34.) 272

Abb.: Stand der politischen Häftlinge in Österreich am 23. September 1934

National- Linke insgesamt je 1000 sozialisten (Soz. u. Kom.) Einwohner

Wien 629 610 1.239 0,66

Niederösterreich 598 303 901 0,60

Burgenland 22 3 25 0,08

Oberösterreich 906 219 1.125 1,25

Steiermark 3.215 41 3.256 3,21

Kärnten 512 17 529 1,31

Salzburg 689 13 702 2,86

Tirol 265 14 279 0,80

Vorarlberg 261 8 269 1,73

Wöllersdorf 4.507 556 5.063 —

Österreich gesamt 11.604 1.784 13.388 1,98

Quelle: Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 149; eigene Berechnungen.

C.5.2.4 Wöllersdorf und die anderen Lager

Die steinige Heide bei Wöllersdorf-Steinabrückl nordwestlich von Wiener Neustadt wurde von der kaiserlichen Armee seit 1815 als militärisches Test- gelände genützt. Aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte sich in der Region im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein gewaltiger militärisch- industrieller Komplex mit Betrieben in Felixdorf, Lichtenwörth, Hirtenberg, Enzesfeld, Blumau und Sollenau. In Wöllersdorf selbst produzierte man Munition, die auf der von jeder anderweitigen Verbauung und Nutzung freigehaltenen Heide gleich getestet werden konnte. Um 1890 entstand schließlich aus der sogenannten „Feuerwerksanstalt“ die „k. u. k. Munitionsfabrik in Wöllersdorf“, die vom Militärärar während des Weltkrieges ohne Rücksicht auf Kosten und betriebs- wirtschaftliche Überlegungen in eine richtiggehende Rüstungsstadt umgewandelt wurde, in der zeitweise rund 40.000 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt 273

waren. 1918 standen auf dem weitläufigen Gelände mehr als 800 Objekte aller Art.374

Es erwies sich als unmöglich, das monströse Werk in der neu gegründeten Republik auf Friedensproduktion umzustellen. Der Staat saß auf einem riesigen Industrieareal, dessen Erhalt allein Unsummen verschlang. Nach verunglückten Verkaufsversuchen entstand schließlich unter Beteiligung des Bundes und von Privatinvestoren die „Wöllersdorfer Werke AG“, die als Dachgesellschaft in einigen Fabrikobjekten wirtschaftlich mäßig erfolgreiche Tochtergesellschaften ansiedelte. Streitigkeiten zwischen den Teilhabern trugen – zusätzlich zur stagnierenden wirtschaftlichen Gesamtentwicklung – zur Schwächung des Standortes bei. Mitte der 1920er Jahre verkam Wöllersdorf sukzessive zur Industriebrache; im Juni 1925 waren nur noch 125 Arbeiter in zwei Betrieben beschäftigt. Ein neuer Anlauf und intensive Versuche, im In- und Ausland neue Investoren zu finden und Betriebe in Wöllersdorf anzusiedeln, schlugen weit- gehend fehl. 1933 arbeiteten rund zehn kleinere Betriebe in Wöllersdorf; in den Wohnhäusern waren an die 300 Mietparteien untergebracht. Der Großteil des Areals stand leer. Ende des Jahres entschloss sich die Regierung, die Wöllers- dorfer Werke endgültig zu liquidieren, weil weitere Betriebsansiedlungen aufgrund der Wirtschaftskrise ohnehin nicht zu erwarten waren.375

374 Zum militärisch-industriellen Komplex um Wiener Neustadt und zur Wöllersdorfer Munitionsfabrik: Mulley/Leopold, Der militärisch-industrielle Komplex, sowie Leopold, Die k. u. k. Munitionsfabrik. 375 Zur Entwicklung des Wöllersdorfer Areals in der Zwischenkriegszeit: Mulley, Vom Munitions- werk zur Industrieruine. 274

Abb.: Titelblatt einer Werbebroschüre (1929)

Quelle: ÖStA/AdR, BKA-Inneres 22/NÖ, Ktn. 5078, Gz. 137.660-8/29.

Die Broschüre wurde vom Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien nach den Prinzipien der von Otto Neurath entwickelten Bildstatistik gestaltet und sollte Industrieunternehmen und Gewerbebetriebe zur Ansiedlung in Wöllersdorf animieren. Präsident des Verwaltungsrates der Wöllersdorfer Werke AG war Dr. Ing. , Generaldirektor der Gesiba. Neubacher, der 1938 von Hitler zum Wiener Bürgermeister ernannt wurde, saß 1935 als nationalsozialistischer Anhaltehäftling in Wöllersdorf ein.

Im September 1933, als geeignete Orte zur Inhaftierung politischer Häftlinge gesucht wurden, lag nichts näher, als Teile des verkehrsmäßig günstig gelegenen Wöllersdorfer Industriegeländes als Sammellager zu verwenden. Per Erlass vom 5. September 1933 hatte das Bundeskanzleramt die Sicherheitsdirektoren angewiesen, geeignete Objekte zur Unterbringung politischer Häftlinge ausfindig zu machen, worauf der niederösterreichische Sicherheitsdirektor Karwinsky das ehemalige Ledigenheim der Wöllersdorfer Munitionsfabrik, Objekt 862, vor- 275

schlug, „welches 23 Einzelzimmer enthält und einen Gesamtfassungsraum für annähernd 70 Strafgefangene besitzt“.376 Nachdem das am 17. Oktober 1933 erstmals von politischen Gefangenen aus der Steiermark bezogene Gebäude bald voll belegt war, mussten sukzessive weitere Objekte für Anhaltezwecke adaptiert werden.377

Abb.: Ansicht der Wöllersdorfer Werke

Ausschnitt aus einem Gesamtplan des Industriegebietes Wöllersdorf, abgedruckt in der oben erwähnten Werbebroschüre aus 1929. Zu sehen sind u. a. die wenigen noch heute bestehenden Teile der ehemaligen „Feuerwerksanstalt“: die Villenkolonie (Dienstwohnungen für Beamte des Rüstungsbetriebs), die Bahnstation „Feuerwerksanstalt“ der Piestingtalbahn Wiener Neustadt– Gutenstein sowie das Schalthaus des Kraftwerks mit der signifikanten halbrunden Form. Rechts

376 Zit. n. Zodl, Anhaltelager Wöllersdorf, S. 242. 377 Zodl, Anhaltelager Wöllersdorf, S. 242 f.; Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 132, 134; Philapitsch, Wöllersdorf: Trauma oder Mythos, S. 193. 276

von diesem Gebäude befanden sich die Objekte, die ab Oktober 1933 als Anhaltelager verwendet wurden.

Abb.: Planskizze des Anhaltelagers Wöllersdorf, 1935

Quelle: ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4485, Gz. 328.411/35.

Nach der Flucht von drei Anhaltehäftlingen am 28. März 1935 ging es in dem betreffenden Akt unter anderem um die Anordnung der Drahthindernisse im Lager. Das Original der Skizze ist mehrfarbig auf Transparentpapier gezeichnet.

„Wöllersdorf“ steht als Synonym für das System der ständestaatlichen Anhalte- lager schlechthin. Es war das weitaus größte Lager; das einzige, das von Oktober 1933 bis Februar 1938 durchwegs in Betrieb stand. Daneben existierten in verschiedenen Teilen Österreichs vorübergehend weitere Sammellager zur Unterbringung von politischen Häftlingen. Bereits am 24. September 1933 hatte 277

das offensichtlich gut informierte „Prager Tagblatt“ gemeldet, dass in Möllersdorf [sic!] und Bruck a. d. L. „Konzentrationslager“ eingerichtet werden sollten.378 Tatsächlich entstanden in einigen vom Bundesheer zur Verfügung gestellten Baracken in Kaisersteinbruch im Burgenland (rund acht Kilometer vom nieder- österreichischen Bruck an der Leitha entfernt) ein weiteres Anhaltelager; ab 22. Jänner 1934 wurden hier politische Gefangene aus allen Teilen Österreichs inhaftiert. Allerdings lösten die Sicherheitsbehörden das Lager, das Ende Februar 1934 mit 638 Angehaltenen seine höchste Belagszahl erreichte, bereits Ende April 1934 wieder auf.379

Abb.: Kärntner Nationalsozia- listen im Anhaltelager Kaiser- steinbruch, 18. März 1934. Ein Dokument aus den Restbeständen des NS-Gauarchivs Kärnten

Quelle: Museum der Stadt Villach, Fotosammlung

378 Prager Tagblatt, 24. 9. 1933, S. 1. – Vermutlich handelte es sich bei „Möllersdorf“ um einen Hör- oder Übertragungsfehler für „Wöllersdorf“. Auf den südlich von Wien zwischen Guntrams- dorf und Traiskirchen liegenden Ort Möllersdorf würde allerdings eine Zeitungsmeldung vom 26. 9. schließen lassen, wonach „ein Ort in der Nähe von Mödling“ als Anhaltungsort vorgesehen sei. (12-Uhr-Blatt, 26. 9. 1933, S. 1.) 379 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 135; weiters Furch, Anhaltelager Kaisersteinbruch. 278

Unmittelbar nach dem 12. Februar und 25. Juli 1934 entstanden zahlreiche klei- nere Lager, um die große Zahl an gefangen genommenen Aufständischen und politischen Funktionären in Verwahrung nehmen zu können; Jagschitz nennt beispielsweise Amstetten, Hollabrunn, Mödling, St. Pölten oder die Festung Hohensalzburg.380

Größere Lager gründeten die Sicherheitsbehörden in der Nähe der steirischen Landeshauptstadt Graz. Waltendorf, ein Anfang März 1934 zum „Sammellager“ für politische Häftlinge umfunktioniertes Studentenheim, wurde am 22. Dezember 1934 aufgelassen.381 Der „Notarrest“ Messendorf, wie es im amtlichen Sprach- gebrauch hieß, war in den Baulichkeiten einer ehemaligen Zwangsarbeiteranstalt untergebracht, die zur „Steiermärkischen Landesirrenanstalt Feldhof“ gehörte;382 das am 18. Februar 1934 gegründete Lager existierte bis 31. Dezember 1935.383 Während des Juliputsches, am frühen Morgen des 26. Juli 1934, wagten SA-

380 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148. 381 Die 1934 noch eigenständige Gemeinde Waltendorf wurde 1938 von der Stadt Graz ein- gemeindet. (http://de.wikipedia.org/wiki/Waltendorf, aufgerufen 9. 1. 2010.) Unter der Adresse 8010 Graz, Plüddemanngasse 30 findet sich heute das Landesschülerheim Nr. 4. Laut Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148, bestand das Lager Waltendorf vom 1. 3. 1934 bis 1. 4. 1935; abweichend davon heißt es ist einem GDfdöS-Bericht, dass es am 22. 12. 1934 aufgelassen wurde (ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4475, Grz. 310.692/35, Gz. 322.377/35). 382 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4475, Grz. 310.692/35, Gz. 322.377/35. – Es handelt sich um das ehemalige Schloss Messendorf; in der NS-Zeit wurde hier eine Anstalt für geistig Behin- derte eingerichtet, die als Zwischenstation für den Transport in NS-Tötungsanstalt Hartheim bei Linz diente. Heute existiert an der Adresse 8042 Graz, St.-Peter-Hauptstraße 182 ein Waldorf- kindergarten. (http://stpeter.heinzelmaennchen.at/data/808/; http://www.korso.at/archive/kor- so/DStmk/feldhof1200.htm; http://www.waldorfkindergarten-graz.at/messendorf.html, aufgerufen 9. 1. 2010.) 383 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 148. Die Auflösung des Lagers am 31. 12. 1935 wird durch eine Amtsnotiz in ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4499, Gz. 300.800/36 bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt waren 92 Verwaltungsstrafhäftlinge und keine Anhaltehäftlinge in Messendorf inhaftiert. Am 26. 2. 1935 hatte der Stand noch 225 „Strafverbüßer“ (131 Nationalsozialisten, 1 Landbündler, 87 Kommunisten und 6 Sozialdemokraten) sowie 12 Anhaltehäftlinge (5 National- sozialisten, 5 Kommunisten, 2 Sozialdemokraten) betragen. (ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4475, Grz. 310.692/35, Gz. 322.377/35.) 279

Gruppen aus Graz und Umgebung einen Angriff auf das Lager Messendorf. Laut einer NS-Quelle wollten die SA-Leute gemeinsam mit den befreiten Anhalte- häftlingen auf Graz vorstoßen, um dort den NS-Aufstand auszulösen. Der Plan scheiterte kläglich. Die Bundesheer-Bewachungsmannschaft konnten die Angreifer rasch vertreiben; zwei Nationalsozialisten starben bei der Aktion.384

Über ein im Februar 1934 in St. Pölten eingerichtetes Anhaltelager liegt ein ausführlicher Bericht des örtlichen Gendarmeriepostenkommandos vor. Gendarmerie und Freiwilliges Schutzkorps hatten während des Schutzbund- aufstandes allein in St. Pölten rund 150 Personen festgenommen. Da es an geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten mangelte, stellte die Harlander Zwirn- fabrik ein aufgelassenes Lagerhaus zur Verfügung. Die Angehaltenen wurden in einem 85 Schritt langen und 25 Schritt breiten Saal untergebracht. Für die Bewachung waren 36 Mann des Freiheitsbundes (Wehrorganisation der christ- lichen Arbeiter) und drei Gendarmen zuständig. Adaptierungsarbeiten führte das Bauamt des Magistrates St. Pölten auf eigene Kosten durch. Die notwendigen Einrichtungsgegenständige holte man sich aus dem Fundus der Stadtgemeinde St. Pölten oder aus beschlagnahmten sozialdemokratischen Vereinshäusern. Der Bericht gibt auch Auskunft über die Verpflegung („nach militärischer Art“), Quartiersordnung („nach militärischem Muster“) und den alltäglichen Verrichtungen der Anhaltehäftlinge. 79 der insgesamt 238 Inhaftierten kamen nach kriminalpolizeilichen Erhebungen wegen „überwiesener Teilnahme“ am Februaraufstand ins Kreisgericht St. Pölten, zehn „als politisch Verdächtige behufs weiterer Anhaltung“ ins Polizeigefangenhaus St. Pölten, zwei ins Anhaltelager Amstetten, während 147 Angehaltene „mangels einer nach- gewiesenen Schuld“ freigelassen werden mussten. Am 23. März 1934 liquidierte man das am 17. Februar bezogene Lager schließlich.385

384 Bauer, Elementar-Ereignis, S. 243 f. 385 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4448, Gz. 147.824/34. 280

Abb.: Postkarte der illegalen Nationalsozialisten; 1934. Aus den Restbeständen des NS- Gauarchiv Wien

Quelle: Parlaments- direktion, Abteilung „Parlamentarische Dokumentation, Archiv und Statistik“

Nationalsozialistische Vision des Jahres 1934: Ein muskelbepackter germanischer Recke mit zerrissener Kette und Hakenkreuzfahne triumphiert über das ständestaatliche Kruckenkreuz und eine Schlange mit Davidstern. Die von zwei Gestalten in Heimwehruniform bewachte baufällige Baracke im Hintergrund steht für das Anhaltelager Wöllersdorf. Nach dem gescheiterten NS- Putsch vom 25. Juli 1934 wurden hier bis zu 5000 Nationalsozialisten „angehalten“.

281

Mit der vordergründigen Beruhigung der politischen Lage nach dem Juliputsch 1934 ließen die Sicherheitsbehörden sukzessive alle Anhaltelager bis auf Wöllersdorf wieder auf.

Das Disziplinierungsinteresse wandte sich nun sozialen Randgruppen zu. Im Ministerrat vom 20. Februar 1935 diskutierte die Regierung ausführlich gesetzliche Maßnahmen zur „Bekämpfung des Bettlerunwesens“ und deren Unterbringung in den „bestehenden Konzentrationslagern“ (so Bundeskanzler Schuschnigg) wie etwa dem Anhaltelager Wöllersdorf, entschied sich aber zehn Tage später gegen die Verabschiedung eines entsprechenden Bundesgesetzes.386 Trotzdem ließ der oberösterreichische Sicherheitsdirektor Anfang September 1935 in Schlögen im Hausruckviertel ein eigenes Anhaltelager für wegen Landstreicherei und Bettlerei Aufgegriffene einrichten; die Anhaltehäftlinge hatten beim Bau der Nibelungenstraße Passau–Linz Zwangsarbeit zu verrichten.387

386 MRP 984, 1935-02-20, Punkt 8, S. 296–298; MRP 985, 1935-03-01, Punkt 11, S. 311–313. 387 Jagschitz, Anhaltelager in Österreich, S. 135. 282

Abb.: Filmstills aus dem Wochenschaubericht „Wöllersdorf in Flammen“ vom April 1938

Quelle: Filmarchiv Austria.

Am 2. April 1938 veranstalteten die Nationalsozialisten im ehemaligen Anhaltelager ein pathetisches Spektakel. Der Ort erhielt den Namen Wöllersdorf-Trutzdorf, Gauleiter Josef Bürckel verkündete den neu gewonnenen Volksgenossen, die deutsche Freiheit benötige keinen Stacheldraht, eine der Häftlingsbaracken ging in Flammen auf. In den folgenden Monaten wurde das Anhaltelager liquidiert, das Betriebsareal auf Geheiß Görings in einen „Luftpark“ umgewandelt. Teile des Wöllersdorfer Lagerinventars gingen an das neu einzurichtende Konzentrationslager Mauthausen.

283

C.5.2 Die Datenbank der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge (Wöllersdorf-Datenbank)

C.5.2.1 Probeerfassung

Meine bisherigen Erfahrungen mit dem Erstellen von Datenbanken zeigten, dass es ratsam ist, den Aufbau und Einteilung der Datenbank gründlich vorzubereiten, und zwar

• zum einen aus arbeitsökonomischen Gründen (Wie kann die Erfassung so schnell und effizient als möglich durchgeführt werden?),388

• zum anderen, weil ein mangelhafter Datenbankaufbau nachträglich nur noch unter großem Aufwand oder gar nicht mehr korrigiert werden kann.389

Im Anfangsstadium einer Erfassung fallen grundsätzliche Entscheidungen, die für den Verlauf der Erfassung selbst sowie die Auswertung weitreichende Auswirkungen haben können. Daher war es sinnvoll, drei nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Kartons vollständig für eine Probeerfassung zu verwenden. Während der Aufarbeitung der in diesen Kartons vorhandenen Akten und der Erfassung der Datenbank wurde der Aufbau der Datenbank immer wieder korrigiert und angepasst. (Übrigens wurden auch während der regulären Erfassung noch weitere leichte Änderungen und Adaptionen vorgenommen.)

388 Ein arbeitsökonomisches Erfordernis war es beispielsweise, die Tabelle so anzulegen, dass es während der Erfassung nicht nötig ist, sie am Computerbildschirm horizontal zu scrollen. 389 So habe ich beispielsweise bei der Erstellung der 2500 Fälle umfassenden Datenbank der Juliputsch-Beteiligten (Dissertation „Sozialgeschichtliche Aspekte des nationalsozialistischen Juliputsches 1934“) aus Gründen der Zeitersparnis bewusst darauf verzichtet, das vollständige Geburtsdatum sowie den vollständigen Vornamen der Juliputsch-Beteiligten zu erfassen. Tatsächlich reicht das Geburtsjahr zur Altersauswertung. Allerdings habe ich nach Abschluss der Erfassungsarbeit festgestellt, dass eine solche Datenbank nicht nur für eine Sozialstrukturanalyse verwendet werden kann, sondern auch für weitergehende ereignisgeschichtliche Forschungen (etwas in den ehemaligen BDC-Beständen im Bundesarchiv Berlin oder in den Gauakten im ÖStA). Bei derartigen Recherchen ist allerdings die Angabe eines vollständigen Vornamens und Geburtsdatums entscheidend für die Auffindbarkeit von Personalakten. 284

C.5.2.2 Die wichtigsten Quellentypen

Es folgt ein Überblick über die wichtigsten Typen von Schriftstücken, die im Bestand ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g enthalten sind und zur sozialstrukturellen Auswertung herangezogen wurden.

Anhaltebescheide waren die zentralen Dokumente im Verlauf der Anhaltung. Diese von den jeweiligen Sicherheitsdirektoren (in Wien Polizeipräsident) ausgestellten Bescheide, die „unmittelbar nach Zustellung zu vollstrecken“ waren (§ 2 Anhalte- VO), unterschieden sich je nach Bundesland beträchtlich und enthielten mehr oder weniger genaue Personenangaben und Begründungen für die Anhaltung. Diese Begründungen konnten entweder rein formelhaft gehalten sein („amtsbekannte parteipolitische Einstellung“; „begründeter Verdacht“) oder tatsächlich auf die jeweilige Person abstellen (Anführung von Tatbeständen, die eine Anhaltung gerechtfertigt erscheinen ließen, Angaben zur politischen Funktion, politische und gerichtliche Vorstrafen etc.). Je nach Sicherheitsdirektion enthalten diese Bescheide wichtige sozialstrukturell verwertbare Angaben zu Person (Geburts- datum, Geburtsort, Zuständigkeit, Wohnort, Beruf, Stand, selten Konfession) oder aber nur Namen und Wohnadresse.

285

Abb.: Erste Seite des Anhaltebescheids für den späteren Vizekanzler und Bundespräsidenten Adolf Schärf

286

Abb.: Zweite Seite des Anhaltebescheids für Adolf Schärf

287

Abb.: Erste Seite des Anhaltebescheids für den Nationalsozialisten Franz Saureis aus Bad Ischl

Saureis wurde am 20. August 1934 wegen Verbrechens gegen § 6 Sprengstoffgesetz gemeinsam mit einem weiteren Bad Ischler, dem Bauernknecht Franz Unterberger, einem ehemaligen Republikanischen Schutzbündler, hingerichtet. 288

Anhalteanträge

Laut § 1 Anhalte-VO waren der Bundeskanzler und „über dessen Ermächtigung“ die Sicherheitsdirektoren bzw. der Wiener Polizeipräsident berechtigt, die Anhaltung „sicherheitsgefährlicher“ Personen auszusprechen. In der Praxis hieß das, dass die jeweilige Sicherheitsdirektion im Staatspolizeilichen Büro der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit (GDfdöS) im BKA-Inneres einen „Antrag auf Abgabe in ein Anhaltelager“ stellen musste, was in aller Regel telefonisch geschah.390 Die Protokolle dieser manchmal ziemlich ausführlichen Anträge enthalten häufig besonders „dichte“ sozialstrukturell relevante Angaben zur Person sowie aufschlussreiche Begründungen für die Anhaltung, die nicht selten weit über die im Anhaltebescheid genannten Gründe hinausgehen. Allerdings sind diese Anhalteanträge erfahrungsgemäß ziemlich fehlerhaft (vermutlich aufgrund von Hörfehlern bei der telefonischen Übertragung), was die Namensschreibung, Geburtsdaten u. dgl. betrifft und müssen in der Datenbank häufig nachträglich auf Basis genauerer Angaben in anderen Dokumente korrigiert werden. Für gewöhnlich wurde den Anträgen rasch innerhalb von ein bis zwei Tagen, oft auch nach Stunden, stattgegeben (was handschriftlich jeweils mit genauer Angabe des Datums und der Uhrzeit vermerkt ist). Hin und wieder wurde die Anhaltung bestimmter Personen nicht erlaubt (die vorhandenen Daten wurden in einem solchen Fall nicht in die Datenbank aufgenommen).

390 Mit dem Anhaltegesetz vom 24. September 1934 konnte der jeweilige Sicherheitsdirektor direkt, ohne vorher die Erlaubnis des Bundeskanzleramtes einholen zu müssen, die Anhaltung aussprechen – was sicherlich eine gewisse Verwaltungsvereinfachung zur Folge hatte. 289

Abb.: Anträge zur Anhaltung von Nationalsozialisten aus dem Bezirk Kitzbühel des Sicherheitsdirektors für Tirol an die GDfdöS

290

Abb.: Anträge zur Anhaltung von Nationalsozialisten aus dem Bezirk Bruck an der Mur des Sicherheitsdirektors für Steiermark an die GDfdöS

291

Abb.: Anträge zur Anhaltung von Nationalsozialisten aus den Bezirken Amstetten und Neunkirchen des Sicherheitsdirektors für Niederösterreich an die GDfdöS

292

Lebensbeschreibungen

Die Sicherheitsdirektionen hatten der Lagerleitung für jeden Anhaltehäftling eine „Lebensbeschreibung“ zur Verfügung zu stellen, die von den jeweiligen örtlichen Sicherheitsbehörden (Gendarmeriepostenkommandos, Polizeidirektionen) erstellt wurden. Derartige Lebensbeschreibungen enthalten neben den Generalien391 Details zur familialen Herkunft, zur Schulausbildung, zum Berufsweg und zur politischen Betätigung – bieten also häufig ausgesprochen „dichte“, sozial- strukturell relevante Informationen. Allerdings sind derartige Lebens- beschreibungen nur in Ausnahmefällen in Kopie an die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit gegangen und daher leider viel zu selten vorhanden.

Berufungen gegen Bescheide

Nach § 2 Anhalte-VO war gegen die auf unbestimmte Zeit ausgesprochenen Anhaltungen die Berufung an den Bundeskanzler zulässig, der allerdings keine aufschiebende Wirkung zukam. Das hatte eine wahre Flut von Berufungen zur Folge.392 Die Anhaltehäftlinge wurden häufig von Rechtsanwälten vertreten, wobei sich meist – nicht immer – von der Prominenz eines Anwaltes auf die parteiinterne Bedeutung eines Anhaltehäftlings schließen lässt.393 Nicht selten kam es allerdings auch vor, dass Berufungen von den Anhaltehäftlingen selbst eingebracht wurden (diese erhielten ihm Lager häufig die Unterstützung von juristisch geschulten Parteigenossen – waren doch Rechtsanwälte und Rechts- anwaltsanwärter eine wichtige Berufsgruppe unter den Insassen der Anhaltelager).

391 „Generalien (Generalfragen) nennt man auch die allgemeinen Fragen (über Vor- und Zunamen, Alter, Konfession, Stand oder Gewerbe, Wohnort), welche eine Person bei ihrer öffentlichen Vernehmung vorerst zu beantworten hat, bevor auf die Sache selbst eingegangen wird.“ Zit. n. Meyers Konversationslexikon. Band 7. Vierte Auflage, Leipzig, Wien 1885–1892. 392 Weshalb das Regime im Anhaltegesetz vom 24. September 1934 die Anhaltungen befristet aussprach, aber Berufungen nur noch bei Anhaltungen über drei Monaten zuließ. 393 Prominente nationalsozialistische Anwälte, die zahlreiche Anhaltehäftlinge vertraten, waren etwa die Wiener Rechtsanwälte Dr. Alois Bernwieser, Dr. Georg Ettingshausen, Dr. Otto Gustav Wächter, Dr. Arthur Seyß-Inquart, Dr. Walter Riehl oder für die Steiermark etwa Dr. Julius Kaspar, späterer NS-Bürgermeister von Graz. Jedes Bundesland bzw. jeder NS-Gau hatte seine eigenen NS-Promianwälte. 293

Übrigens wurden Berufungen gegen die Anhaltung ausnahmslos abgeschmettert und zudem im Regelfall erst behandelt, wenn der betreffende Anhaltehäftling bereits unter Auflagen entlassen worden war.394

Hinsichtlich der Erfassung von sozialstrukturell relevanten Daten und sonstigen Angaben sind die Berufungen als solche meist unergiebig. Allerdings konnte sich das Bundeskanzleramt veranlasst sehen, bei der zuständigen Sicherheitsdirektion Stellungnahmen über den Berufungssteller einzuholen, die sozialstrukturell oft hochinteressante Informationen über den sozialen Hintergrund und den beruflichen und politischen Werdegang der betreffenden Personen zutage förderten. Von besonderem Wert sind beispielsweise umfassende Berichte der Bundespolizeidirektion Wien. Mit der steigenden Zahl der Anhaltehäftlinge ließen diese Berichte in ihrer Qualität allerdings stark nach, oder es wurde überhaupt auf eine derartig sorgfältige Behandlung einer Berufung verzichtet.

394 Berufungen wurden auch abgelehnt, wenn die Behörden erkennen mussten, dass die Voraus- setzungen für eine Anhaltung bei einer betreffenden Person nicht oder kaum gegeben war, also offensichtlich ein Irrtum vorlag. Da der Anhaltebescheid jederzeit nach Belieben der Behörden aufgehoben werden konnte, entschloss man sich in solchen Fällen zu einer Art „gnadenweisen“ Entlassung anstatt formell einer Berufung stattzugeben. 294

Abb.: Erste Seite einer Berufung des niederösterreichischen NS-Gauleiters und späteren NS- Landesleiters Josef Leopold gegen seine Anhaltung (datiert mit 20. November 1933)

295

Abb.: Erste Seite einer Stellungnahme des Wiener Polizeipräsidenten zu einer Berufung des ehemaligen NS-Gemeinderats Josef Neumann

296

Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof waren von manchen NS-Anwälten wie Dr. Otto Gustav Wächter oder Dr. Arthur Seyß-Inquart recht oft ergriffene Mittel, die von Vornherein aussichtslos waren. Für die Zwecke der Datenbankerstellung sind ohne Belang.

Eingaben, Gnaden-, Bitt- und Entlassungsgesuche an das Bundeskanzleramt bzw. den Bundeskanzler, an den jeweiligen Sicherheits- direktor, an die Vaterländische Front, an den Bundespräsidenten etc. sind ein häufig vorkommender Quellentypus. Derartige Schriftstücke können durchaus datenbankrelevantes Material enthalten, das allerdings nur mit hohem Zeitaufwand zu erschließen ist.

• Einerseits verfassten die Angehaltenen selbst derartige Gnadengesuche, oft über Veranlassung der Lagerleitung, weil bei Amnestien bzw. gewissen Entlassungsschüben (etwa zum 1. Mai 1934) ein vorhergehendes Gesuch an das Bundeskanzleramt unabdingbare Voraussetzung für die Entlassung war. Wer ein derartiges Bittgesuch oder gar eine Loyalitätserklärung (siehe unten) verweigerte, wurde nicht entlassen.

• Häufig waren Eingaben von nahen Verwandten (Ehefrau, Eltern, Geschwister etc.) mit der Bitte um Freilassung (genannte Gründe etwa Krankheit eines nahen Verwanden, Sorge um den Geschäftsgang, Familie ohne Versorgung etc.).

Dazu kamen

Eingaben von Dritten:

• Eingaben der Unternehmen, bei denen die Angehaltenen beschäftigt waren, wobei in der Regel wirtschaftlich argumentiert wurde (eine Sparkasse etwa berief sich darauf, dass ohne den Angehaltenen keine Bilanz erstellt werden könne; ein Elektrizitätswerk, dass durch den Wegfall des Angehaltenen „eine wesentliche Störung in der Abgabeneinhebung, Verrechnung und Abfuhr“ eingetreten sei etc.); 297

• weiters Eingaben von Interessensverbänden und Kammern (Verband der arischen Rechtsanwälte, Notarskammer, Interessensvertretung der Molkereibesitzer, Kärntner Ärztekammer etc.);

• Gemeindebürgermeister baten um die Freilassung von Angehaltenen, weil sie negative wirtschaftliche Folgen für die Gemeinde befürchten (eine Familie müsse beispielsweise ohne den Familienerhalter von der selbst notleidenden Gemeinde versorgt werden; eine Ziegelei, die nur in der warmen Jahreszeit betrieben wurde, dann aber einigen Dutzenden Menschen Arbeit bot, könne ohne den ins Anhaltelager eingewiesenen Besitzer nicht in Betrieb genommen werden etc.);

• interveniert wurde oft auch von einflussreichen Politikern des herrschenden Regimes (so setzte sich beispielsweise der Innsbrucker Bürgermeister bzw. Regierungskommissär für sein Patenkind ein etc.).

Aus diesem und ähnlichem Material lassen sich häufig Aufschlüsse über die Lebensumstände und die soziale Lage eines Anhaltehäftlings gewinnen; voll- ständige sozialstrukturell zu verwertende Daten sind aber eher selten vorhanden. Oft können durch die Auswertung derartiger Eingaben bereits bestehende Datensätze über eine Person sinnvoll ergänzt werden.

298

Abb.: Entlassungsgesuch des NS-Agrarfunktionärs Anton Reinthaler

299

Abb.: Entlassungsgesuch eines nationalsozialistischen Anhaltehäftlings mit Angaben zur finanziellen und sozialen Situation und zum Beruf

300

Abb.: Intervention einer oberösterreichischen Gemeinde für einen national- sozialistischen Anhaltehäftling mit Angaben zum sozialen Status

301

Loyalitätserklärungen, Entlassungserklärungen

Voraussetzung für die Entlassung aus der Anhaltung war in jedem Fall eine „aus freien Stücken“ abgegebene handschriftliche Loyalitätserklärung nach vorgegebener Textierung. Derartige Erklärungen enthielten am Kopf oder Rand häufig hand- oder maschinschriftlich das datenbankrelevante Nationale395 des jeweiligen Anhaltehäftlings.

Zudem hatte der Anhaltehäftling unmittelbar bei der Entlassung noch eine weitere Erklärung zu unterschreiben, in der er alle möglichen Verpflichtungen übernahm (beispielsweise regelmäßige Meldung bei der örtlichen Gendarmerie oder Polizei, die Verpflichtung, den Wohnsitz nicht zu wechseln – oder im Gegenteil, nicht an den ursprünglichen Wohnort zurückzukehren, sondern sich andernorts nieder- zulassen, keine Ansprüche an den Bundesschatz im Zusammenhang mit der Anhaltung zu stellen etc.). Hin und wieder enthalten auch derartige Erklärungen datenbankrelevante Angaben.

395 „Nationale (das, neulat.), Nachweisung, enthaltend Namen, Lebens- und Dienstalter, Größe, Religion, Gewerbe und sonstige Verhältnisse einer Person.“ Zit. n. Meyers Konversationslexikon. Band 12. Vierte Auflage, Leipzig, Wien 1885–1892. 302

Abb.: Am 1. Juni 1934 abgegebene handschriftliche Loyalitätserklärung eines Kärntner Anhaltehäftlings mit beigefügten maschinschriftlichen Generalien

Die Abgabe einer Loyalitätserklärung war zumeist nicht unmittelbar mit der Entlassung verbunden, man war aber gut beraten, eine derartige Erklärung möglichst bald nach der 303

Einlieferung ins Lager abzugeben. Wie aus Egodokumenten von Anhaltehäftlingen hervorgeht, wurde ihr nicht die geringste Bedeutung beigemessen.

Auflistungen und Tabellen, die in der Regel das jeweilige für die Datenerfassung relevante Nationale enthalten, wurden aus den unterschiedlichsten Anlässen erstellt. Die wichtigsten Typen seien nachfolgend genannt:

• Verzeichnisse der Sicherheitsdirektionen über die in ein Anhaltelager überstellten Personen;

• Verzeichnisse der Lagerleitungen der Anhaltelager über die neu eingelangten Anhaltehäftlinge;

• Meldungen über Entlassungen von Anhaltehäftlingen (z. B. der zuständigen Bezirkspolizeikommissariate in Wien über die Entlassung von Anhalte- häftlingen, die sich zur Spitalsbehandlung beispielsweise im Rainerspital oder Franz-Josefs-Spital befunden hatten);

• Meldungen der Sicherheitsdirektionen über gegebenenfalls zu entlassene Anhaltehäftlinge;

• Meldungen der Lagerleitungen über ins Krankenhaus überstellte, über in Hungerstreiks, Lagerrevolten etc. verstrickte Anhaltehäftlinge;

• Auflistungen von für einen „Ernteurlaub“396 vorgesehenen Juliputsch-Minder- beteiligten u. Ä.

396 Die Tatsache, dass viele Bauern, Bauernsöhne und Knechte wegen der Teilnahme am Juliputsch ins Ausland geflüchtet waren, sich versteckt hielten oder in Gefangenschaft befanden, führte zu Befürchtungen, dass es in manchen Gegenden nicht möglich sein werde, die Ernte einzubringen. Diese Frage war bereits im Ministerrat vom 3. August erörtert worden. (MRP, 960, 1934-08-03, S. 25.) Der steirische Heimwehrführer Baron Andreas Morsey richtete am 8. August eine entsprechende Eingabe an den Staatssekretär Hammerstein: „Unter den Mitläufern und Irregeleiteten, die weniger schuldig sind, befinden sich viele selbständige Wirtschaftserhalter bzw. unentbehrliche Bauernsöhne. Im Interesse der landwirtschaftlichen, derzeit dringenden Arbeiten wird eine Freilassung der Inhaftierten gegen Ausstellung eines Reverses vorgeschlagen.“ 304

Abb.: Erstes Häftlingsverzeichnis des Anhaltelagers Wöllersdorf vom 17. Oktober 1933.

(ÖStA/AdR, BKA-Inneres 22/gen., Ktn. 4903, Gz. 223.257/34.) Am 25. August erging daraufhin ein Runderlass der GDfdöS, dass in Anhaltehaft befindliche Putschisten „auf bestimmte oder auf unbestimmte Zeit für die Besorgung dringender landwirtschaftlicher Arbeiten aus der obligatorisch vorgeschriebenen Anhaltung beurlaubt werden“ konnten. (Holtmann, Blutschuld, S. 43.) 305

Kostenersatzvorschreibungen

Bescheide zur Hereinbringung der Anhalte- und Überstellungskosten enthalten nur selten vollständige Generalien, können aber doch von Fall zu Fall zur Ergänzung oder Korrektur der erfassten Daten herangezogen werden.

Bewilligung von Besuchen im Anhaltelager

Die häufig im Aktenbestand zu findenden Ansuchen um Besuchsbewilligung von Verwandten, Freunden oder auch Geschäftspartnern enthalten in der Regel nur selten sozialstrukturell relevante Daten.

Zu den genannten kommt eine Fülle von weiteren Typen von im Bestand enthaltenen Dokumenten, die sozialstrukturell und/oder ereignisgeschichtlich von Interesse sind. Einige Beispiele:

• diverse Konfidentenberichte und „vertrauliche Mitteilungen“ über die Zustände im Lager mit den entsprechenden Stellungnahmen der Behörden dazu;

• in- und vor allem ausländische Zeitungsartikel über Zustände in den Lagern mit behördlichen Stellungnahmen;

• Berichte von Hungerstreiks, Demonstrationen, Aufständen, Revolten, Schlägereien, Flucht von Anhaltehäftlingen, Selbstmordversuchen und gelungenen Selbstmorden etc.;

• den Angehaltenen abgenommene autobiografische Aufzeichnungen, Tagebücher, Stammbücher, Berichte, Gedichte, Lieder etc.;

• Briefe, Kassiber etc., die in das oder aus dem Lager geschmuggelt werden sollten und abgefangen wurden;

• umfangreiche und informative Sammelakte über bekannte Persönlichkeiten unter den Angehaltenen; 306

• Berichte über die Baulichkeiten, notwendige Reparaturen und Anschaffungen, die Unterbringung und Verpflegung der Bewachungsmannschaften, interne Streitigkeiten und Vorwürfe etc.;

• Aufstellungen über die Verpflegung im Lager;

• Berichte über Besuche ausländischer Journalisten (etwa aus der Schweiz, Frankreich, Großbritannien etc.) und anderer Persönlichkeiten wie etwas von F. Van Gildemeester, dem Delegierten der Amerikanischen Hilfsaktion für Zentraleuropa;

• den Angehaltenen abgenommene illegale Flugblätter, Zeitschriften etc.;

• Berichte über Feiern im Lager (etwas Kärntner Abstimmungsfeier, Weihnachten, Ostern etc.);

• Berichte über Lagerabläufe und Organisation, Beschäftigung der Angehaltenen, Arbeitspflicht etc.

• Stellungnahmen zu Fragen der Anhaltekosten und der sonstigen Kosten, die im Zusammenhang mit der Anhaltung anfielen (z. B. Eskorteauslagen, Kosten für Krankenhausaufenthalt etc.);

• tägliche Standesmeldungen

etc.

C.5.2.3 Prinzipien der Datenerfassung

Zur Sicherstellung eines möglichst einheitlichen und methodischen Vorgehens bei der Datenerfassung wurden die folgenden Grundregeln – die auf bisherigen Erfahrungen bei ähnlichen Projekten basieren – definiert:

• Bei Mehrfachnennungen: Jede zusätzliche Information, die bezüglich der sozialstrukturellen und politischen Bewertung eines Falles von Relevanz sein könnte, wird aufgenommen. 307

• Widersprüchliche bzw. sich widersprechende Angaben und Varianten werden ebenfalls aufgenommen und gekennzeichnet.

• Wenn die politische Zuordnung nicht explizit ersichtlich ist und auch nicht indirekt weitgehend zweifelsfrei erschlossen werden kann, erfolgt keine Aufnahme in die Datenbank.

• Plausibilitätsregel: Bei der Datenaufnahme wird grundsätzlich nicht „geraten“. Jede Aufnahme muss plausibel nachvollziehbar und aus dem Inhalt einer Quelle heraus argumentierbar sein. Reine Vermutungen, für die es keine konkreten Anhaltspunkte im erfassten Dokument gibt, sind von einer Aufnahme in die Datenbank ausgeschlossen.

• Die Datenaufnahme soll von der Textierung her (z. B. bei Berufsangaben) quellennah erfolgen. Es werden prinzipiell die in der Quelle verwendeten Bezeichnungen wortwörtlich übernommen; allerdings ist es zeitökonomisch sinnvoll, für häufig vorkommenden Bezeichnungen Kürzel zu verwenden (Beispiele: „ogl“ für Ortsgruppenleiter, „pl“ für Propagandaleiter, „gf“ für geistiger Führer“ etc.).

C.5.2.4 Aufbau der Datenbank

Spalte 1: Name

Vollständige Namensangabe, alle Vor- und Zunamen anführen. Bei differierenden Schreibweisen, Vornamensangaben etc. die abweichende Varianten am Schluss zwischen Schrägstrichen anführen; Beispiel: Griessler, Johann /Griesler/ /Grießler/ /Grissler/ etc. Akademische, Berufs-, Amts- u. dgl. Titel folgen ohne Interpunktion nach dem letzten Vornamen.

Spalte 2: Geb [Geburtsdatum]

So vollständig als möglich, immer nach der Schreibweise: jjjj.mm.tt. Gegebenenfalls vorkommende Abweichungen ebenfalls nennen; Beispiel: 1894.03.19 /1894.03.17/ 308

Spalten 3–5: Wohnadresse

Verwendung eines einheitlichen Gemeindecodes, basierend auf den Aufbau der österreichischen Volkszählung 1934.

Spalte 3: BL [Wohnbundesland]

Prinzipiell wird hier das Bundesland eingetragen, in dem die betreffende Person ihren Hauptwohnsitz hat. Es kam allerdings hin und wieder vor, dass Personen von einer anderen Sicherheitsdirektion als der des eigenen Wohnbundeslandes in das Anhaltelager eingewiesen wurden. Das war häufig in Wien der Fall. (Beispiel: Jemand hat in Klosterneuburg seinen Hauptwohnsitz, war aber in Wien beruflich tätig und/oder politisch aktiv und wurde deshalb auf Veranlassung des Wiener Polizeipräsidenten nach Wöllersdorf überstellt.) Ein anderes Beispiel ist das eines SA-Sturmführer mit Hauptwohnsitz Innsbruck (wo anscheinend auch dessen Frau und zwei Kinder lebten), der offensichtlich in Wels in Oberösterreich politisch aktiv war und folgerichtig vom oberösterreichischen Sicherheitsdirektor ein- gewiesen wurde (eine Art „Politpendler“ also).

In derartigen Fällen wird vorläufig in der Spalte „Wohnbundesland“ das Bundes- land der einweisenden Sicherheitsdirektion eingesetzt. Die Diskrepanz wird vermerkt und mit einem * markiert.

Spalte 4: PB [Wohnbezirk]

Politischer Bezirk laut der Bezirkseinteilung der Volkszählung 1934.

Spalte 5: Gem [Wohngemeinde]

Wohngemeinde laut der Gemeindeeinteilung der Volkszählung 1934. In Wien wird zusätzlich die Nummer des jeweiligen Bezirks und der Straßenname angeführt, in Hauptstädten von Bundesländern ebenfalls zusätzlich der Straßenname.

Spalte 6: Zuständigkeit (Heimatrecht)

Bundesland, politischer Bezirk und politische Gemeinde laut Volkszählung 1934; im Fall einer ausländischen Staatsangehörigkeit der jeweilige Staat. 309

Spalte 7: Geb.-ort [Geburtsort]

In diesem Fall wurde während der Probeerfassung die Entscheidung getroffen, auf eine vollständige Erfassung (also auch der Gemeinde und des Bezirks) zu verzichten, und zwar hauptsächlich, um den Erfassungsaufwand zu minimieren. Es wird nur das jeweilige Bundesland oder der Staat erfasst, in dem der Geburts- ort lag. Da praktisch alle erfassten Personen noch in der Zeit der österreichisch- ungarischen Monarchie geboren wurden, ist hier gegebenenfalls der jeweilige Nachfolgestaat anzuführen – z. B. bei Geburtsort Znaim die CSR, bei Geburtsort Marburg Jugoslawien, bei Geburtsort Triest Italien, bei Geburtsort Bozen Italien/Südtirol (Südtirol immer besonders vermerken) etc.

Ich gehe davon aus, dass zum Ort der Zuständigkeit in der Regel ein wesentlich größerer Bezug bestand als zum Ort der Geburt. Eine Analyse der Wanderungen der Anhaltehäftlinge wird daher in erster Linie auf eine etwaige Diskrepanz zwischen dem Ort der Zuständigkeit und dem aktuellen Wohnort abstellen. Bedeutsam ist allerdings die Frage, wie viele der nationalsozialistischen Anhalte- häftlinge in der Monarchie auf dem Gebiet eines Nachfolgestaates geboren wurden bzw. aus einem Nachfolgestaat stammen (z. B. CSR). Die Klärung dieser Frage ist durch die Angabe des Staates, in dem eine Person geboren wurde, gewährleistet.

Spalte 8: Rel [Religion bzw. Konfession]

Angabe der in den Quellen genannten Konfessionszugehörigkeit.

Spalte 9: St [Stand]

Angabe über den Familienstand (ledig – verheiratet – geschieden – verwitwet).397

397 Die Anzahl der Kinder hatte ich bei der Erfassung der Juliputsch-Beteiligten für meine Dissertation jeweils erfasst, weil sie in den verwendeten Quellen (Gendarmerieanzeigen) systematisch angegeben wurden. Bei der Probeerfassung für die Wöllersdorf-Datenbank stellte sich heraus, dass die Zahl der Kinder (bzw. der von dem Angehaltenen zu versorgenden Personen) ziemlich selten angegeben wurde. Von 525 in der Proberfassung aufgenommenen Fällen (darunter auch noch Sozialdemokraten und Kommunisten) lässt sich nur bei 25 Fällen (4,8%) direkt oder indirekt auf die Zahl der Kinder schließen. Auf diese Erfassung wird daher in weiterer Folge 310

Spalte 10: Beruf und weitere Angaben

Die Angaben in dieser Spalte sind maßgeblich für die Sozialstrukturcodierung nach dem Milieu- und Schüren-Modell und nach der Systematik der Volkszählung 1934. Prinzipiell werden hier alle Informationen erfasst, aus denen auf den sozialen Status, die Milieu- und Schichtzugehörigkeit einer Person geschlossen werden kann. Wie oben erwähnt kann es häufig vorkommen, dass zum sozialen Status einer Person erstaunlich „dichtes“ Material vorliegt, und zwar:

• erlernter Beruf, ausgeübter Beruf und Stellung im Beruf,

• familialer Hintergrund (Herkunft und Beruf der Eltern),

• Schulbildung,

• Lebensweg und beruflicher Werdegang,

• Einkommens- und Vermögensverhältnisse (tw. mit genauen Zahlenangaben, Angaben des Besitzes, Angaben darüber, ob eine Person verschuldet ist etc.398),

• Zahl der Kinder bzw. zu versorgende Kinder und Familienmitglieder etc.

Prinzipiell erfolgt die Erfassung stichwortartig, aber – was die Terminologie betrifft – quellennah und so präzise als möglich. (Wenn also der Name einer Firma angegeben ist, bei der der Anhaltehäftling beschäftig war, so wird diese Angabe übernommen – z. B. „Geschäftsleiter der Fa. Humanic in Leibnitz“.)

Spalte 11: Beginn u Ende [der Anhaltung]

verzichtet. Wenn allerdings Angaben zur Zahl der Kinder bzw. der zu versorgenden Personen vorliegen (was bei Anhalteanträgen, aber auch Berufungen, Gnadengesuchen etc. recht oft vorkommt), wird dies jeweils systematisch in der Spalte 10 vermerkt. 398 Diese Punkte waren den Behörden im Vorfeld deshalb wichtig, weil es um die Klärung der Fragen ging, ob ein ins Auge gefasster Anhaltehäftling die Anhaltekosten würde bezahlen können oder ob unter Umständen sogar die öffentliche Hand für die unversorgte Familie eines Anhaltehäftlings aufkommen würde müssen. 311

Vorab ist festzustellen, dass sich der Beginn einer Anhaltung häufig nicht exakt bestimmen lässt; auch bezüglich des genauen Endes einer Anhaltung können beträchtliche Zweifel bestehen.

Beginn der Anhaltung:

Mangels genauerer Angaben wird prinzipiell das Datum des Anhaltebescheides als Anhaltebeginn angenommen (laut Anhalte-VO war die Anhaltung sogleich mit der Zustellung des Bescheides vollstreckbar).In der Praxis waren die Anhalte- häftlinge aber zumeist in Gewahrsam, wenn der Anhaltebescheid ausgestellt wurde (konkrete Angaben darüber liegen aber nur sehr selten vor).

Ebenso kam es häufig vor, dass Angehaltene bereits vor Beginn der Anhaltung eine Polizeistrafe abzubüßen hatten und anschließend ins Anhaltelager Wöllers- dorf oder ein anderes Lager überstellt wurden (was im Übrigen der Praxis der Schutzhaft im nationalsozialistischen Deutschland entsprach). Es war aber auch möglich, dass Personen, die eine Polizeistrafe von angenommen drei Monaten zu verbüßen hatten (beispielsweise im Polizeigefangenenhaus an der Elisabethpromenade in Wien, genannt „Liesl“), nach zweieinhalb Monaten nach Wöllersdorf überstellt wurden, und hier vorerst in den ersten zwei Wochen rein formell als Arrestanten bzw. Polizeihäftlinge geführt wurden und erst nach Ablauf dieser Frist den Status eines „Angehaltenen“ erhielten. Um möglichst einheitlich und systematisch vorzugehen, wird bei den Angaben in dieser Spalte immer auf den Anfang und das Ende der Anhaltung abgestellt und das Datum des Anhaltebescheides eingesetzt, sofern ein solcher vorliegt. Eine etwaige Polizei- und/oder Gerichtsstrafe wird nicht berücksichtigt – sofern sich das aufgrund der oft ungenauen und vagen Angaben in den Quellen überhaupt trennen lässt.

Wenn kein Anhaltebescheid vorliegt, dessen Datum als Beginn der Anhaltung einzusetzen wäre, so sind andere Angaben zu übernehmen: 312

• beispielsweise das Einlieferungsdatum laut den Angaben des Wöllersdorfer „Nachtragsverzeichnisses“, in dem zudem die Generalien und die politische Zugehörigkeit der neu eingelangten Häftlinge enthalten waren,399

• oder beim Vorliegen eines Anhalteantrags das Datum, zu dem die Anhaltung vom Bundeskanzleramt bewilligt wurde.

Ende der Anhaltung:

Dieses geht aus Entlassungslisten, Entlassungserklärungen oder anderen Dokumenten (beispielsweise nachträglich bearbeiteten Berufungen) hervor.

Bei „Beurlaubung“ die schließlich in eine vorläufige Entlassung umgewandelt wurden, bei den häufig vorkommenden Überstellungen in Krankenhäuser etc. lässt sich das tatsächliche Ende einer Anhaltung oft nur schwer bestimmen.

Befristete – unbefristete Anhaltungen:

Ursprünglich wurden nur Anhaltungen auf unbestimmte Zeit ausgesprochen, was allerdings, wie sich rasch herausstellte, sehr belastend für die Betroffenen und ihre Angehörigen war, häufig zu Haftpsychose und zu ständigen Unruhen in den Lagern führte. Daher wurden die Anhaltungen ab Juni 1934 mit Befristung aus- gesprochen.400 Die ab diesem Zeitpunkt vorliegenden Angaben über die voraussichtliche Dauer einer Anhaltung werden ebenfalls in dieser Spalte vermerkt.

Spalte 12: Gründe für Anhaltung und Funktion in der NS

Die Angaben in dieser Spalte sind maßgeblich für die politische Einordnung bzw. die Bewertung der politischen Aktivitäten und des Ranges einer Person in der NSDAP und/oder einer ihrer Gliederungen (wie SA, SS, HJ, NSBO etc.). Wie bei

399 Wobei natürlich nicht vergessen werden darf, dass sich der Häftling zum Zeitpunkt, als er in Wöllersdorf einlangte, bereits seit Tagen, Wochen oder noch länger in staatlichem Gewahrsam befand. 400 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4454, Gz. 181.038/34 – „Befristung der Anhaltung von sicherheitsgefährlichen Personen (…).“ BKA, GDfdöS, StB, dat. 6. Juni 1934. 313

den Angaben mit sozialem Bezug (Spalte 10) können auch hier entweder sehr „dichte“ oder im Gegenteil nur vage oder gar keine Angaben vorliegen.

An erster Stelle wird in der Spalte jeweils angegeben, wenn sich der Anhalte- häftling in einem anderen Lager als in Wöllersdorf befand (z. B. in Kaiser- steinbruch). Danach folgen stichwortartig, aber von der Terminologie her möglichst quellennah, alle Angaben, aus denen sich auf die politische Tätigkeit einer Person schließlich lässt. Anfänglich wird immer die jeweilige Quelle, aus der die Information stammt, in Kurzform angegeben, also beispielsweise „AHA SD Stmk., bew. 3.6.34“ (= Anhalteantrag des Sicherheitsdirektors für Steiermark, bewilligt vom Bundeskanzleramt am 3. Juni 1934). Trennung der Blöcke jeweils durch Schrägstriche, wobei vorne und hinten jeweils ein Leerzeichen angeschlagen wird.

In dieser Spalte wird durchwegs die Teilnahme am Weltkrieg (welche Funktion, wie lange, Verwundungen, Invalidität, Auszeichnungen etc.) verzeichnet. Ebenso werden Art und Zahl der Vorstrafen (polizeilich – gerichtlich, aus politischen oder nicht politischen Gründen) angegeben.

Spalte 13: Funkt.-code [Funktionscode]

Im Gegensatz zur Sozialstrukturcodierung, die einheitlich nach Abschluss der Datenbankarbeit erfolgen soll, wird die Codierung der politischen Funktion bzw. der politischen Aktivitäten eines Anhaltehäftlings bereits während der Daten- erfassung durchgeführt (und beim Vorliegen neuer Dokumente mit genaueren Angaben gegebenenfalls korrigiert).

Prinzipiell lassen sich aufgrund der vorliegenden Quellen drei Qualitätsstufen unterscheiden, die auch bei der Codierung berücksichtigt werden müssen: a) Es liegen präzise Angaben zur Funktion und zu den Aktivitäten einer Person vor. (Beispiele sind Angaben wie „Ortsgruppenführer“, „Bezirksleiter“, „Propagandaleiter in der Gauleitung“, „Sturmbannführer der “, „SA-Mitglied“ etc.) b) Die vorhandenen Angaben sind verhältnismäßig vage und definieren die verbotenen politischen Aktivitäten mangels konkreter Kenntnis der 314

tatsächlichen Funktion der betreffenden Person mit Beschreibungen wie „radikaler, zu allem bereiter Parteigänger“, „Hetzer“, „fanatischer Anhänger“, „einer der ärgsten Schreier“, „intensive Parteitätigkeit“, „Gewalttäter“, „Aufwiegler“, „arbeitet im Stillen“, „hält sich im Hintergrund“ etc. c) Über die Tatsache hinaus, dass der Betreffende als Nationalsozialist in das Anhaltelager überstellt wurde, ist nichts über ihn bekannt. (Beispielsweise, wenn jemand etwa in einem Aufnahmeverzeichnis des Anhaltelagers Wöllersdorf aufscheint oder ein vorliegender Anhaltebescheid nur eine formelhafte Begründung der Anhaltung, wie etwa „amtsbekannte politische Einstellung“ enthält.) In einem solchen Fall erfolgt keine Funktionscodierung.

Sehr oft findet sich die Angabe „geistiger Führer“ (seltener auch „geistiger Urheber“, „geistiges Haupt“, „geistiger Leiter“ a. Ä.). Es handelt sich dabei um Personen, die im lokalen und regionalen Bereich über eine wichtige Position und großen Einfluss verfügten und nicht selten das Entstehen einer NS-Orts- oder - Bezirksgruppe direkt oder indirekt angeregt oder zumindest begünstigt und gefördert hatten, ohne diese Gruppen selbst formal geführt zu haben. Diese Personen verfügten häufig über beträchtlichen wirtschaftlichen und damit gesell- schaftlichen und politischen Einfluss. Dazu zählten häufig Unternehmer, Guts- besitzer, Großbauern, Großhändler, führende Angestellte in größeren Betrieben mit Einfluss auf die Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften (etwa Werksleiter oder leitende Werksbeamte, Oberförster u. Ä.). Aber auch Ärzte, Tierärzte, Rechtsanwälte, Schuldirektoren, Oberlehrer, führende Beamte der Bundesbahnen oder der Bundes-, Landes- oder Kommunalverwaltungen werden von den Sicherheitsbehörden immer wieder als „geistige Führer“ tituliert. Nach dem Verbot der NSDAP wirkten diese Personen weiterhin als Integrations- faktoren und Kristallisationskerne der illegalen NS-Bewegung, zumeist ohne sich selbst auffallend zu exponieren oder selbst illegal zu betätigen.

Wichtige Hinweise mit Relevanz für die Funktionscodierung ergeben sich auch aus den häufig vorliegenden Angaben zu den vorhandenen Vorstrafen. Wenn jemand zweimal wegen NS-Betätigung polizeilich abgestraft wurde, ist er – auch 315

ohne konkrete Kenntnisse seiner Funktion – zumindest als aktiver illegaler Nationalsozialist anzusehen.

Bei der Funktionscodierung wird allgemein nach den folgenden Prinzipien vorgegangen:

• Mehrfachcodierungen sind möglich, insbesondere wenn eine Person sowohl Träger einer politischen als auch einer militärischen Funktion war; ebenso sind sie sinnvoll, wenn die betreffenden Personen früher im Heimatschutz, in der Bauernwehr etc. aktiv waren.

• Grundsätzlich wird immer der zuletzt (zum Zeitpunkt des Bescheides bzw. des herangezogenen Aktes) erreichte Rang (beispielsweise in der SA, SS oder PO aufgenommen.

• Auch hier gilt die Plausibilitätsregel. Einzig aus einem „Gefühl“ heraus wird niemandem eine Funktion zugeschrieben; für eine bestimmte Codierung muss immer der Quelle selbst ein direkter oder indirekter Hinweis zu entnehmen sein. Ein Beispiel: Bei vielen Jüngeren, die im Anhaltebescheid als „radikale Parteigänger“ tituliert werden und beispielsweise wegen Hakenkreuz- schmierungen, Flugzettelausstreuungen u. dgl. bestraft wurden, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie Angehörige der illegalen SA waren. Geht dieser Umstand aber nicht explizit aus dem jeweiligen Dokument hervor oder liegen nicht plausible Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Einschätzung gerechtfertigt ist, dann kann der betreffende Fall nur als „nsa“ (NS-Aktivist) oder „nsg“ (NS- Gewalttäter) codiert werden, und nicht als „sam“ (SA-Mann) oder „saf“ (SA- Führer).

316

Abb.: Screenprint einer Bildschirmseite der Wöllersdorf-Datenbank

Nach einigen Versuchen entschied ich mich aus arbeitsökonomischen für die Datenerfassung mittels einer Tabelle des weit verbreiteten Texterfassungsprogramms Microsoft Word. Dieses in das Microsoft-Office-Paket eingebundene Programm hat den Vorteil, sowohl mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Microsoft Excel (zur Durchführung von statistischen Berechnungen) als auch mit dem Datenbankprogramm Microsoft Access voll kompatibel zu sein. So wird es nach Abschluss der Erfassung und Fertigstellung der Datenbank problemlos möglich sein, die Word-Tabellen in Access-Karteikarten umzuwandeln und so die Wöllersdorf-Datenbank allgemein der Forschung zur Verfügung zu stellen.

317

In der Wöllersdorf-Datenbank verwendete Funktionscodes: nsm Mitglied der NSDAP (wenn jemand explizit als Mitglied bezeichnet wird, ohne dass Angaben über eine Funktion oder über illegale Aktivitäten gemacht werden). nsa NS-Aktivist; diese Kategorie wird verwendet, wenn die betreffende Person aktiv in der Illegalität für die NS tätig war, dafür auch bestraft wurde, wenn allerdings explizit keine Mitgliedschaft oder Funktion in der Partei, in der SA, SS etc. angegeben ist – was nicht ausschließt, dass der Betreffende nicht trotzdem Mitglied in der einen oder anderen Organisation war; bei dieser Zuordnung besteht also eine gewissen Unschärfe. Anm.: Der Besitzer eines Radios, in dessen Haus NS zusammenkommen, um ns Übertragungen aus D zu hören, ist noch nicht als Aktivist zu bezeichnen; die Tatsache, das jemand unter „nsa“ codiert wird, besagt noch nicht, dass er nicht an Gewalttaten beteiligt war, sondern nur, dass das in den Quellen nicht angegeben war. nsg NS-Aktivist, der laut expliziten Angaben des Bescheides oder anderer Dokumente an Gewalttaten beteiligt war. Als Gewalttat wird alles ab dem Entzünden eines Sprengkörpers (Papierböller) definiert; AH, für die nur die Beteiligung an Schmier- und Streuaktionen, nachrichtendienstliche Tätigkeit etc. ausgewiesen ist, werden unter „nsa“ codiert. nss NS-Sympathisant; Personen, die dem NS nahe steht, ohne Mitglied in der Partei, SA,SS oder einer Unterorganisation zu sein; hier auch Personen, die nur als „radikale Anhänger“ bezeichnet werden, ohne dass sie jemals wg. NS-Betätigung vorbestraft wurden oder dass ihnen eine illegale Aktivität nachgewiesen werden konnte (die bloße Beteiligung an einer Geldsammlung für bedürftige NS oder das Abholen von aus der Haft entlassenen NS mit dem eigenen Pkw reicht noch nicht aus, um als Aktivist bezeichnet zu werden; Kurierdienste für die NSDAP hingegen sind durchaus als aktive NS-Betätigung zu bezeichnen und mit „nsa“ zu codieren. Auch Personen, die dezidiert als NS-Mitglied bezeichnet werden, können in dieser Kategorie aufgenommen werden – Unterscheidungsmerkmal ist allein der Grad an Aktivismus, der sich aus der Quelle ablässt lässt. Insgesamt eine „weiche“ Kategorie mit einer gewissen Unschärfe, die sich aus den ungenauen Angaben in den Quellen ergibt. nsf NS-Führer – ohne genauere Angaben ob in der PO, SA, SS oder einer Unterorganisation. gf Geistiger Führer; in den Quellen regelmäßig verwendeter Begriff, der Personen bezeichnet, die zumeist keine spezifische Funktion in der Partei hatten, aber aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres Einflusses eine wichtige Rolle – vor allem auf lokaler Ebene – spielten; oft handelt es sich um Personen, die eine Art Katalysatorrolle spielten, um diejenigen, die den NS ins Dorf, in die Kleinstadt, in eine bestimmte Region „importierten“. Kann auch verwendet werden, wenn von einer „führenden Stellung“, „maßgebenden Einfluss“, „hohem Ansehen unter den Pg.“ etc. gesprochen, aber der Terminus „geistiger Führer“ nicht explizit verwendet wird. 318

jpx Beteiligter am Juliputsch (wenn unklar ist, ob es sich um einen führend Beteiligten oder einen Minderbeteiligten handelt). jpf Führend am Juliputsch beteiligt. jpm Juliputsch-Minderbeteiligter, Minderbeteiligter am Juliputsch (gem. § 1 BVG vom 30. 7. 1934, BGBl. Nr. 163). kap Kanzleramtsputschist (Teilnehmer an der Besetzung des Bundeskanzleramtes am 25. Juli 1934).

po1 Politische Organisation – Ortsgruppenleiter oder dessen Stellvertreter po2 Politische Organisation – Bezirksleiter oder dessen Stellvertreter (die Tätigkeit in einer Landeshauptstadt wird, auch wenn es sich möglicherweise um die Ortsgruppe handelt, wird wie eine Tätigkeit in der Bezirksleitung behandelt) po3 Politische Organisation – Gauleiter oder dessen Stellvertreter bzw. Gauinspekteur (Gaugeschäftsführer) po4 Politische Organisation – Landesleiter oder dessen Stellvertreter bzw. der Landes- inspekteur pof Politische Organisation – weitere unbestimmte oder bestimmte Funktion (Zellenleiter, Bauernführer, Propagandaleiter, Kassier, Schriftführer, Ortsgruppenleiter- Stellvertreter etc. pofx Politische Organisation – unbestimmte oder bestimmte Funktion auf unbestimmter Ebene. pofr Vor Verbot Propagandaredner – unklar, wie diese Personen bewertet werden sollen, aber man wird ihnen jedenfalls eine führende Rolle zugestehen müssen, unklar auf welcher lokalen, regionalen Ebene. pof1 Politische Organisation – unbestimmte oder bestimmte Funktion auf lokaler Ebene (Ortsgruppe, außer Ortsgruppenleiter und dessen Stellvertreter). pof2 Politische Organisation – unbestimmte oder bestimmte Funktion in der Bezirksleitung (außer Bezirksleiter oder dessen Stellvertreter). Die Tätigkeit in einer Landeshauptstadt wird, auch wenn es sich möglicherweise um die Ortsgruppe handelt, wird wie eine Tätigkeit in der Bezirksleitung behandelt. pof3 Politische Organisation – unbestimmte oder bestimmte Funktion in der Gauleitung (außer Gauleiter oder dessen Stellvertreter); die führenden Tätigkeit (Schriftleiter o. dgl.) in einer auf Gauebene vertriebenen NS-Zeitschrift oder Zeitung wird ebenfalls mit pof3 codiert; ebenso die Funktion als Gauredner oder Landesredner der NSDAP. pof4 Politische Organisation – unbestimmte oder bestimmte Funktion in der Landesleitung (außer Landesleiter oder dessen Stellvertreter).

uo Steht für NS-Unterorganisationen wie NSBO, NS-Hago, Juristenbund, Ärztebund, Beamtenbund, Frauenschaft, Studentenbund etc. uom Mitglied einer NS-Unterorganisation ohne spezifische Funktion. 319

uofx Funktionär einer NS-Unterorganisation unbestimmten Grades. uof1 Niedriger Funktionär einer NS-Unterorganisation. uof2 Höherer und hoher Funktionär einer NS-Unterorganisation ndl Leiter eines illegalen ns Nachrichtendienstes – man kann davon ausgehen, dass die betreffende Person damit in der Partei eine führende Tätigkeit innehatte (allerdings ist nicht klar, wie das im üblichen Führerschema der Partei zu werten ist); wenn noch eine andere Führungsfunktion genannt wird, wird diese zusätzlich angeführt; einfache Mitarbeiter eines Nachrichtendienstes werden unter nsa eingereiht.

sax Angehöriger der SA, bei dem aus den Angaben nicht hervorgeht, ob er nur ein einfaches Mitglied ist oder eine führende Funktion bekleidet. sam SA-Mitglied (Mannschaft). safx SA-Führer unbestimmten Ranges. saf1 SA-Unteroffizier (laut Tabelle „Dienstränge“). saf2 niedrigerer SA-Offizier (laut Tabelle „Dienstränge“). saf3 höherer oder höchster SA-Offizier (laut Tabelle „Dienstränge“). saf23 SA-Offizier, bei dem die Zuordnung nicht ganz klar ist (mangels Angabe der genauen Dienstrangbezeichnung).

ssx Angehöriger der SS, bei dem aus den Angaben nicht hervorgeht, ob er nur ein einfaches Mitglied ist oder eine führende Funktion bekleidet. ssm SS-Mitglied (Mannschaft). ssfx SS-Führer unbestimmten Ranges. ssf1 SS-Unteroffizier (laut Tabelle „Dienstränge“). ssf2 niedrigerer SS-Offizier (laut Tabelle „Dienstränge“). ssf3 höherer oder höchster SS-Offizier (laut Tabelle „Dienstränge“).

hjx Angehöriger der HJ, bei dem aus den Angaben nicht hervorgeht, ob er nur ein einfaches Mitglied ist oder eine führende Funktion bekleidet. hjm Einfaches HJ-Mitglied. hjfx HJ-Führer unbestimmten Ranges. hjf1 Niedriger HJ-Führer. hjf2 Höherer und höchster HJ-Führer. rüflü Aus dem Deutschen Reich zurückgekehrter NS- Flüchtling. sthm Ehemaliges Mitglied des steirischen Heimatschutzes (Kammerhofer-Richtung). sthf Ehemaliger Führer des steirischen Heimatschutzes (Kammerhofer-Richtung). 320

hwm Ehemaliges Mitglied der Heimwehr oder ähnlichen Verbänden (Frontkämpfer, Bund Oberland u. dgl.). hwf Ehemaliger Führer der Heimwehr oder ähnlichen Verbänden (Frontkämpfer, Bund Oberland u. dgl.)

bw Angehöriger der Bauernwehr des Landbundes (mit NS verbündet); Landbundangehörige werden ebenfalls hier eingereiht. bwf Bauernwehr-Führer. bwm Bauernwehr-Mitglied. bwx Angehöriger der Bauernwehr mit unbekannter Funktion (unklar, ob einfaches Mitglied oder Führerfunktion).

Abb.: Dienstränge in SA, SS und Wehrmacht

SA SS Wehrmacht Mannschaft SA-Anwärter; Sturm- SS-Anwärter; SS-Mann Soldat (sam/ssm) mann Obersturmmann Sturmmann Obersoldat Rottenführer Rottenführer Gefreiter; Obergefreiter; Stabsgefreiter

Unteroffizier Scharführer Unterscharführer Unteroffizier (saf1/ssf1) Oberscharführer Scharführer Unterfeldwebel Truppführer Oberscharführer Feldwebel Obertruppführer Hauptscharführer Oberfeldwebel Haupttruppführer Sturmscharführer Stabsoberfeldwebel

Offiziere Sturmführer Untersturmführer Leutnant (saf2/ssf2) Obersturmführer Obersturmführer Oberleutnant Hauptsturmführer Hauptsturmführer Hauptmann Sturmbannführer Sturmbannführer Major Obersturmbannführer Obersturmbannführer Oberstleutnant (saf3/ssf3) Standartenführer Standartenführer Oberst Oberführer Oberführer -- Brigadeführer Brigadeführer Generalmajor Gruppenführer Gruppenführer Generalleutnant Obergruppenführer Obergruppenführer General Chef des Stabes Reichsführer SS Generalfeldmarschall; Reichsmarschall

Quelle: Kammer/Bartsch, Lexikon Nationalsozialismus, S. 242 f.

321

Abb.: Gliederung der SA

Schar kleinste Einheit für den Einsatz Trupp drei bis sechs Scharen bilden eine Truppe 20–60 Mann Sturm zwei oder mehrere Trupps bilden einen Sturm 70–100 Mann Sturmbann besteht aus mehreren Stürmen 250–600 Mann Standarte besteht aus mehreren Sturmbannen 1200–3000 Mann Untergruppe die Standarten eines oder mehrerer politischer Gaue wer- den zu Untergruppen zusammengefasst; wenn die Grenze der Untergruppe mit der Gaugrenze zusammenfällt trägt die Untergruppe noch die Bezeichnung „Gausturm“ Gruppe Zusammenfassung mehrerer Untergruppen nicht über 15.000 Mann Quelle: Das Dienstbuch der NSDAP Österreichs (Hitlerbewegung). Bearbeitet von Theo Habicht, M. d. R. Herausgegeben von der Landesleitung Österreichs der NSDAP (Hitlerbewegung). Linz 1932. S. 106 ff. 322

C.5.3 Vorläufige Auswertungen

Für die Zwecke dieses Berichtes und zu einer ersten Orientierung wurden drei vorläufige Probeauswertungen (Altersstruktur, Verteilung nach Bundesländern und Konfession) vorgenommen.

Diese Auswertungen basieren auf der Erfassung der in den Archivkartons 4441 bis 4506 des Bestandes ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g enthaltenen Personendaten nationalsozialistischer Anhaltehäftlinge. Der Karton 4506 enthält Akten, die ungefähr Mitte 1936 abgelegt wurden; die Probeauswertung bildet somit ungefähr den Stand vom Herbst 1933 (Einrichtung der Anhaltelager) bis zum Juliabkommen 1936 ab, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, dass die Gesamtauwertung durchaus noch in einem gewissen Ausmaß Änderungen, bringen kann.

Die Wöllersdorf-Datenbank enthielt zum Zeitpunkt dieser Zwischenauswertung die Daten von 7712 Personen.401

C.5.3.1 Altersstruktur

Adäquat zur Wien-Auswertung wurden die Geburtsdaten der bisher erhobenen nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge analysiert, um einen Überblick über die Altersstruktur und generationale Lage dieser Gruppe zu gewinnen. (Zu inhaltlichen Fragen und theoretischen und methodischen Überlegungen siehe die Ausführungen unter Punkt C.4.2.3.)

401 Die Zwischenauswertung bildet den Erfassungsstand von Anfang November 2009 ab. 323

Abb.: Grundzahlen Altersstruktur Wöllersdorf-Datenbank (Zwischenauswertung)

Jahrgang Anzahl Jahrgang Anzahl Jahrgang Anzahl Personen Personen Personen

1862 1 1884 38 1903 255

1863 1 1885 34 1904 244

1867 1 1886 47 1905 304

1868 2 1887 52 1906 311

1869 1 1888 50 1907 351

1870 2 1889 56 1908 403

1871 2 1890 77 1909 393

1872 3 1891 74 1910 455

1873 2 1892 91 1911 500

1874 5 1893 94 1912 491

1875 7 1894 86 1913 384

1876 6 1895 105 1914 389

1877 14 1896 142 1915 256

1878 19 1897 160 1916 115

1879 18 1898 174 1917 35

1880 31 1899 186 1918 14

1881 24 1900 203 1919 5

1882 21 1901 215 Gesamt 7225

1883 24 1902 252

Anmerkung: Insgesamt enthält die Wöllersdorf-Datenbank zum Zeitpunkt der Zwischenauswertung 7712 Personen; in 351 Fällen lagen keine Geburtsdaten vor und in 136 Fällen gab es missverständliche, fehlerhafte und unklare Angaben, sodass die Datenbank insgesamt 7225 verwertbare Personenangaben enthält. 324

In ein Balkendiagramm umgesetzt, ergibt diese Tabelle folgendes Bild:

Abb.: Altersstruktur der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge 1933–1936 (Stand der Zwischenauswertung) (in absoluten Zahlen)

500

450

400

350

300

250

200

150

100

50

0 j 1867 j 1869 j 1871 j 1873 j 1875 j 1877 j 1879 j 1881 j 1883 j 1885 j 1887 j 1889 j 1891 j 1893 j 1895 j 1897 j 1899 j 1901 j 1903 j 1905 j 1907 j 1909 j 1911 j 1913 j 1915 j 1917 j 1919 j

325

Abb.: Vergleich der Altersstruktur von illegalen Wiener Nationalsozialisten, NS- Anhaltehäftlingen und Juliputsch-Beteiligten (Jahrgänge 1870–1920)

8%

7% Illegale NS in Wien NS Anhaltehäftlinge 6% Juliputsch-Beteiligte

5%

4%

3%

2%

1%

0% j 1886 j 1888 j 1890 j 1892 j 1894 j 1896 j 1898 j 1900 j 1902 j 1904 j 1906 j 1908 j 1910 j 1912 j 1914 j 1916 j 1918 j 1920 j 1878 j 1880 j 1882 j 1884 j 1872 j 1874 j 1876 j 1870

Anmerkung: Enthaltene Geburtsdaten der Jahrgänge 1870–1920): Juliputsch-Datenbank 2359, Wien- Datenbank 962, Wöllersdorf-Datenbank (Zwischenauswertung) 7219.

Das vorstehende Liniendiagramm zeigt, dass sich die Kurvenverläufe der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge und der Juliputsch-Beteiligten beinahe kongruent sind: steiler, gleichförmiger Anstieg, der beim Jahrgang 1911 (Anhaltehäftlinge) und 1912 (Juliputsch-Beteiligte) seinen Höhepunkt erreicht und dann abfällt. Der wesentlich unruhigere und flachere Kurvenverlauf der Wien-Datenbank weicht hingegen deutlich davon ab; hier sind zwei Spitzen beim Geburtsjahrgang 1901 und 1913 zu konstatieren, worin sich zwei Gruppen innerhalb der illegalen Partei abbilden dürften (siehe die Ausführungen unter Punkt C.4.2.3).

Der Grund für die Ähnlichkeit des Kurvenverlaufs bei den Anhaltehäftlingen und den Juliputsch-Beteiligten könnte darin zu suchen sein, dass nach dem 25. Juli 1934 tausende Juliputschisten als „Minderbeteiligte“ in die Anhaltelager – 326

insbesondere natürlich Wöllersdorf – gesteckt wurden. In absoluten Zahlen stellten diese Minderbeteiligten bestimmt das Gros der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge zwischen 1933 und 1938; aus diesem Grund dürften sie mit ihrer spezifischen Altersstruktur auch den Kurvenverlauf der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge dominieren.

Der Vergleich aller nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge mit National- sozialisten, die bis Anfang Juli 1934 – also noch vor dem Juliputsch – in Anhaltung kamen (siehe Abbildung auf der nächsten Seite), zeigt tatsächlich deutliche Unterschiede im Kurvenverlauf. Die Altersstruktur der Anhaltehäftlinge ohne Juliputsch-Beteiligte ähnelt eher derjenigen der illegalen Wiener Nationalsozialisten (siehe Abbildung auf der übernächsten Seite). Auch in diesem Fall wird die gesonderte Auswertung verschiedener identifizierbarer Gruppen unter den Anhaltehäftlingen nähere und fundierte Aussagen ermöglichen.

Abb.: Vergleich der Altersstruktur der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge (Wöllersdorf-Datenbank) mit und ohne Juliputsch-Beteiligte

327

Anmerkungen:

„Alle NS-Anhaltehäftlinge (inklusive Juliputsch-Beteiligte)“: Enthält die Geburtsdaten von 7219 Personen zum Stand der Zwischenauswertung der Kartons 4441–4506 (Oktober 1933 bis Mitte 1936).

„NS-Anhaltehäftlinge ohne Juliputsch-Beteiligte“: Enthält die Geburtsdaten von 1863 Personen. Die Erfassung bildet zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Zwischenauswertung den Zeitraum von Oktober 1933 bis Anfang Juli 1934 (also wenige Wochen vor dem Juliputsch) ab. Enthalten sind in dieser Auswertung die Karton 4441 bis 4457. Es handelt sich um eine Zwischenauswertung, die für eine Präsentation anlässlich eines Panels am Zeitgeschichtetag Innsbruck, 28. Mai 2008, vorgenommen wurde.

Abb.: Vergleich der Altersstruktur der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge (Wöllersdorf-Datenbank) ohne Juliputsch-Beteiligte mit der Altersstruktur der illegalen Wiener Nationalsozialisten (Wien-Datenbank)

6%

Illegale NS in Wien

5% NS-Anhaltehäftlinge ohne Juliputsch-Beteiligte

4%

3%

2%

1%

0% j 1870 j 1872 j 1874 j 1876 j 1878 j 1880 j 1882 j 1884 j 1886 j 1888 j 1890 j 1892 j 1894 j 1896 j 1898 j 1900 j 1902 j 1904 j 1906 j 1908 j 1910 j 1912 j 1914 j 1916 j 1918 j 1920

Sehen wir uns nun die mit der ersten Welle der Einweisungen in die Anhaltelager (bis Februar/März 1934) gekommenen Nationalsozialisten an und vergleichen sie mit den Juliputsch-Beteiligten (siehe die Abbildung auf der folgenden Seite). In den ersten Monaten ab Oktober 1933 verhafteten die Sicherheitsbehörden als Vergeltung für NS-Terroranschläge und sonstige verbotene Aktionen amts- 328

bekannte Nationalsozialisten, die vor dem Verbot eine führende oder sehr aktive Rolle in der NSDAP gespielt hatten, und überstellten sie in ein Anhaltelager (in der Regel Wöllersdorf oder Kaisersteinbruch).

Abb.: Vergleich von nationalsozialistischen Anhaltehäftlingen der „ersten Welle“ und Juliputsch-Beteiligten nach Geburtsjahrgängen

8%

Anhaltehäftlinge Juliputsch-Beteiligte 7% Geburtsjahrgang 1912 Juliputsch-Beteiligte

6% Anhaltehäftlinge Geburtsjahrgang 1908 5%

Anhaltehäftlinge 4% Geburtsjahrgang 1898

3%

2%

1%

0% j 1871 j 1873 j 1875 j 1877 j 1879 j 1881 j 1883 j 1885 j 1887 j 1889 j 1891 j 1893 j 1895 j 1897 j 1899 j 1901 j 1903 j 1905 j 1907 j 1909 j 1911 j 1913 j 1915 j 1917 j 1919 j j vor 1870 vor j

Diese nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge der ersten Welle waren deutlich älter als die Juliputsch-Beteiligten. Zudem sind zwei voneinander abgesetzte Spitzen im Kurvenlauf zu erkennen. Die erste Spitze wird mit dem Geburts- jahrgang 1898 erreicht, also bei Angehörigen der „Frontgeneration“, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten. Die zweite Spitze betrifft den Jahrgang 1908 – noch in der Monarchie Geborene, deren Kindheit und Jugend vom Weltkrieg mit all seinen Folgen und Nachwirkungen geprägt gewesen war. 329

Die Darstellung der Altersstruktur der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge der ersten Welle in Form von Säulen, die nach Fünfer-Jahrgangsgruppen gebündelt sind, ergibt eine Art Doppelspitze, die besonders auffallend ist, wenn man sie in Beziehung zum gleichbleibend ansteigenden Verlauf bei den Juliputsch- Beteiligten setzt.

Abb.: Nationalsozialistische Anhaltehäftlinge der „ersten Welle“ und Juliputsch-Beteiligte nach Jahrgangsgruppen

35%

Juliputsch-Beteiligte 30% Anhaltehäftlinge

25%

20%

15%

10%

5%

0% 1864–1869 1870–1874 1875–1879 1880–1884 1885–1889 1890–1894 1895–1899 1900–1904 1905–1909 1910–1914 1915–1919

Ein möglicher Interpretationsansatz für diese Doppelspitze, die sich im Frühjahr 1934 zeigt, ergibt sich aus der Praxis der österreichischen Behörden in den Jahren 1933 und 1934 bei der Anhaltung von Nationalsozialisten. Dabei gab es im Prinzip zwei Möglichkeiten:

1. Die Einweisung ins Anhaltelager erfolgte als Vergeltungsmaßnahme für nationalsozialistische Anschläge oder sonstige Demonstrationen. In der Regel 330

erfolgte die Anhaltung ohne irgendein Verdachtsmoment, sondern nur aufgrund mehr oder weniger vager Vermutungen und Verdächtigungen. Man kann dabei mit Fug und Recht von Geiselnahme sprechen.

Es zeigt sich, dass anfangs besonders viele örtliche NS-Führer aus der Zeit vor dem Verbot der NSDAP in die Anhaltelager eingewiesen wurden: meist bereits zwischen 30 und 40 Jahre alt oder älter; häufig der Schicht der Dorf- honoratioren zugehörig, viele bereits vor dem Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei deutschnational-völkisch sozialisiert. Diese Art der sozialstrukturellen Zusammensetzung änderte sich bereits mit der „zweiten Welle“ der Einweisungen ab April 1934 und dann vor allem mit dem Juliputsch.

Jedenfalls lässt sich aufgrund einer auch zeitlich differenzierten Altersstrukturanalyse in der Wöllersdorf-Datenbank, zumindest für die Jahre 33/34, noch sehr stark die bekannte Mittelstandslastigkeit der NSDAP erkennen.

2. Der zweite Weg nach Wöllersdorf kann in etwa folgendermaßen skizziert werden: Jemand, sagen wir ein arbeitsloser Bäckergeselle, wird als vermutlich Beteiligter eines Anschlags verhaftet, obwohl er das entschieden bestreitet. Weil bei der Hausdurchsuchung NS-Flugblätter gefunden werden, erhält er vorerst eine Verwaltungsstrafe von sechs Wochen. Anschließend kommt er wegen des Bölleranschlags für längere Zeit in gerichtliche Untersuchungshaft. Das Gericht lehnt mangels Beweisen eine Anklage schließlich aber ab. Der zuständige Sicherheitsdirektor akzeptiert das nicht und überstellt den besagten Bäckergesellen für weitere vier Monate nach Wöllersdorf.

In einem Anhalteantrag des Sicherheitsdirektors für Niederösterreich heißt es etwa in Bezug auf den ehemaligen NS-Ortsgruppenleiter von Waidhofen an der Thaya, einen beschäftigungslosen Ingenieur: „… war zuletzt dem Gerichte wegen Hochverratsverdachtes eingeliefert, wurde aber wieder freigelassen. Der 331

Sicherheitsdirektor will ihn nach der Entlassung vom Gerichte nicht auf freiem Fuße belassen, weil er ein radikaler Nationalsozialist ist.“402

Es war ebenfalls häufig geübte Praxis, dass gerichtlich wegen NS-Betätigung zu Kerkerstrafen Verurteilte nach Ablauf ihrer Haft ins Anhaltelager Wöllersdorf überstellt wurden. Der gezeigte Kurvenverlauf in der Altersstruktur der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge im Frühjahr 1934 scheint diese zweifache Anhaltepraxis abzubilden:

• Zum einen spiegelt sich darin die im Schnitt rund fünf bis zehn Jahre ältere Gruppe der alteingesessenen NS-Führer aus der legalen Zeit wider,

• zum anderen die jüngere Gruppe von gewaltbereiten NS-Aktivisten und Attentätern, die zum Juliputsch hin immer stärker in Erscheinung traten.

Besonderes Interesse gilt der Frage der Zugehörigkeit zu bestimmten Generations- einheiten (vgl. die Ausführungen unter Punkt C.4.2.3). In Bezug auf die Gesamtheit der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge sieht die Verteilung folgendermaßen aus:

Abb.: Altersstruktur der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge (Zwischenauswertung Wöllersdorf-Datenbank) nach dem Generationenschema

Vor- Nach- Frontgeneration Frontgeneration Frontgeneration

Männliche Bevölkerung lt. VZ 34 23,64% 14,76% 33,04%

NS-Anhaltehäftlinge 5,59% 17,23% 77,16%

über-/unterrepräsentiert 24 117 234

Anmerkung: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

402 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 20/g, Ktn. 4454; aus einem Konvolut mit Anhalteanträgen des niederösterreichischen Sicherheitsdirektors. 332

Abb.: Altersstruktur der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge (Zwischenauswertung Wöllersdorf-Datenbank) nach dem Generationenschema

80%

Männliche Bevölkerung lt. VZ 34 70% NS-Anhaltehäftlinge

60%

50%

40%

30%

20%

10%

0% Vor-Frontgeneration Frontgeneration Nach-Frontgeneration

Wie beim allgemeinen Vergleich der Altersstruktur ergibt die Analyse der Generationszugehörigkeit der Juliputsch-Beteiligten ein ähnliches Bild wie das der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge:

Abb.: Altersstruktur der nationalsozialistischen Juliputsch-Beteiligten nach dem Generationenschema

Vor- Nach- Frontgeneration Frontgeneration Frontgeneration

Männliche Bevölkerung lt. VZ 34 23,64% 14,76% 33,04%

Juliputsch-Beteiligte 4,66% 15,62% 79,72%

über-/unterrepräsentiert 20 106 241

Anmerkung: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

333

Eine vergleichende Analyse der Generationszugehörigkeit der national- sozialistischen Anhaltehäftlinge nach ihrer Funktion in der NSDAP – wie sie erst nach Abschluss der Gesamterfassung der NS-Anhaltehäftlinge möglich ist – wird nähere Aufschlüsse darüber bringen, ob es auch bei den Anhaltehäftlingen je nach Funktion zu ähnlichen Differenzierungen bezüglich der generationalen Lage kam wie sie bei den Juliputsch-Beteiligten.403

C.5.3.2 Verteilung der NS-Anhaltehäftlinge nach Bundesländern

Den ausgewerteten Anhalteakten sind durchwegs Informationen über den Wohnort, die „Zuständigkeit“ nach dem Heimatrecht404 und den Geburtsort der Angehaltenen zu entnehmen – Daten, die für eine Sozialstrukturanalyse von größtem Interesse sind und sehr aussagekräftig sein können. Für die Zwecke dieses Berichtes wird eine vorläufige Zwischenauswertung auf Ebene der Bundesländer sowie, für Zwecke des Vergleichs mit der Wien-Datenbank, auf Ebene der Wiener Bezirke vorgenommen.

Abb.: Verteilung der Wohnadressen der NS-Anhaltehäftlinge nach Bundesländern

absolut anteilsmäßig Burgenland 72 0,95% Kärnten 1434 18,84% Niederösterreich 695 9,13% Oberösterreich 410 5,39% Salzburg 616 8,09% Steiermark 3128 41,09% Tirol 394 5,18% Vorarlberg 64 0,84% Wien 800 10,51% Gesamt 7613

Anmerkung: Von 7712 Fällen in der Datenbank gab es zu 99 keine, unklare, missverständliche oder widersprüchliche Angaben, die ausgeschieden werden mussten.

403 Vgl. Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte, S. 161 f. 404 Zum Heimatrecht und seinen Auswirkungen siehe Klammer, Höfe, S. 213–222. 334

Auffallend ist die Dominanz Kärntens und der Steiermark, die mit 4562 Personen gemeinsam 60% aller NS-Anhaltehäftlinge stellten, obwohl ihr Anteil an der österreichischen Gesamtbevölkerung nur 21% betrug.

Die beiden an den südslawischen Raum grenzenden Bundesländer waren bereits in der Monarchie Hochburgen des Deutschnationalismus und in der Ersten Republik des Nationalsozialismus.405 Während des Juliputsches 1934 fanden in beiden Bundesländern heftige nationalsozialistische Aufstände statt, die rund 180 Todesopfer forderten.406 Und auf die Tausenden, die nach dem Juliputsch als „Minderbeteiligte“ in Anhaltelager gesteckt wurden, ist auch die führende Position dieser beiden Bundesländer unter den nationalsozialistischen Anhaltehäftlingen zurückzuführen.

Abb.: Verteilung der NS Anhaltehäftlinge von Oktober 1933 bis Mitte 1936 nach Bundesländern (mit Juliputsch-Beteiligten)

Prozentueller Anteil Prozentueller Anteil an über-/unter- an den der österreichischen repräsentiert Anhaltehäftlingen Gesamtbevölkerung Burgenland 0,95% 4,43% 21 Kärnten 18,84% 6,00% 314 Niederösterreich 9,13% 22,34% 41 Oberösterreich 5,39% 13,36% 40 Salzburg 8,09% 3,64% 222 Steiermark 41,09% 15,03% 273 Tirol 5,18% 5,17% 100 Vorarlberg 0,84% 2,30% 37 Wien 10,51% 27,74% 38 Über-/Unterrepräsentation: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unter- repräsentiert.

Lesebeispiel: Nur 0,95% aller NS-Anhaltehäftlinge bis Mitte 1936 kamen aus dem Burgenland, sie waren damit im Vergleich zur ihrem Anteil an der österreichischen Gesamtbevölkerung (4,43%) krass unterrepräsentiert.

405 Vgl. beispielsweise: Botz, Soziale „Basis“ und Typologie der österreichischen Faschismen, S. 35. 406 Vgl. Bauer, Elementar-Ereignis, S. 325. 335

Abb.: Verteilung der NS Anhaltehäftlinge von Oktober 1933 bis Mitte 1936 nach Bundesländern

Die dunkle Einfärbung zeigt die Bundesländer, in denen die NS-Anhaltehäftlinge im Vergleich zur österreichischen Gesamtbevölkerung überrepräsentiert waren. Die Prozentwerte geben den Anteil der Bundesländer an der Gesamtheit der Anhaltehäftlinge wieder.

Es zeigt sich, dass neben den beiden genannten, noch das Bundesland Salzburg unter NS-Anhaltehäftlingen auffallend stark überrepräsentiert war. Auch Salzburg war, wenngleich weniger intensiv als Kärnten und die Steiermark, vom Juliputsch ergriffen worden. Auffallend dagegen ist die markante Unterrepräsentation Oberösterreichs, wo in einigen Landesteilen ebenfalls NS-Aufstände im Juli 1934 stattgefunden hatten. Das oberösterreichische Ergebnis kann als Hinweis genommen werden, dass die Verteilung der NS-Anhaltehäftlinge durchaus auch davon abhing, wie engagiert der jeweils zuständige Sicherheitsdirektor gegen NS- Umtriebe vorzugehen bereit war.407 So hatte der oberösterreichische

407 Üblicherweise verfügte jeweils diejenige Sicherheitsdirektion des Bundeslandes, in dem der Angehaltene wohnhaft war, die Einweisung in ein Anhaltelager. Es waren aber auch Ausnahmen möglich – beispielsweise bei in Wien politisch als Nationalsozialisten aktiven, offiziell aber im 336

Sicherheitsdirektor Revertera408 einen NS-freundlichen Ruf, während der Tiroler Sicherheitsdirektor Mörl409 als scharfer NS-Gegner galt – was wiederum erklären würde, wieso vergleichsweise viele Tiroler Nationalsozialisten in Anhaltung kamen. Am wenigsten NS-Anhaltehäftlinge kamen aus dem Burgenland. Aber auch in der Großstadt Wien dürften im österreichweiten Vergleich die illegalen Nationalsozialisten relativ schwach gewesen sein.

Betrachtet man die Verteilung der Anhaltehäftlinge ohne Einbeziehung der am Juliputsch Beteiligten, so ergeben sich einige markante Unterschiede.

Abb.: Verteilung der NS-Anhaltehäftlinge von Oktober 1933 bis Mitte 1934 nach Bundesländern (ohne Juliputsch-Beteiligte)

Prozentueller Anteil Prozentueller Anteil an über-/unter- an den der österreichischen repräsentiert Anhaltehäftlingen Gesamtbevölkerung Burgenland 2,09% 4,43% 47 Kärnten 11,24% 6,00% 187 Niederösterreich 15,65% 22,34% 70 Oberösterreich 12,57% 13,36% 94 Salzburg 15,04% 3,64% 413 Steiermark 15,56% 15,03% 104 Tirol 14,52% 5,17% 281 Vorarlberg 3,13% 2,30% 136 Wien 10,20% 27,74% 37

Über-/Unterrepräsentation: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

Lesebeispiel: 2,09% aller NS-Anhaltehäftlinge bis Mitte 1934 kamen aus dem Burgenland, sie waren damit im Vergleich zur ihrem Anteil an der österreichischen Gesamtbevölkerung (4,43%) deutlich unterrepräsentiert.

unmittelbaren niederösterreichischen Umland wie beispielsweise Purkersdorf, Klosterneuburg, Mödling etc. wohnhaften Anhaltehäftlingen. Schätzungsweise stimmen einweisende Sicher- heitsdirektion und Wohnbundesland allerdings in 95% aller Fälle überein. 408 Zur zweifelhaften Rolle Reverteras Schuster, Deutschnational, S. 82–86. 409 Zu Mörl Walser, Die illegale NSDAP in Tirol und Vorarlberg, S. 72. 337

Auffallend ist eine starke Überrepräsentation von nationalsozialistischen Anhaltehäftlingen aus Westösterreich (Salzburg, Tirol, Vorarlberg) und eine starke Unterrepräsentation von Häftlingen aus Ostösterreich (Wien, Nieder- österreich, Burgenland). Die Anteile von Anhaltehäftlingen aus Oberösterreich und der Steiermark entspricht in etwa den Anteilen dieser Bundesländer an der österreichischen Gesamtbevölkerung; Kärnten ist hingegen deutlich über- repräsentiert.

Die Verteilung der nationalsozialistischen Anhaltehäftlinge ist damit zu diesem Zeitpunkt – ebenso wie auch später – in keiner Weise ein Abbild der österreichischen Gesamtbevölkerung.

Welche Interpretationsansätze ergeben sich daraus?

• Dieses vorläufige Zwischenergebnis könnte durch Zufälligkeiten und Spitzen bei bestimmten Bundesländern bei der Ablage von Akten in der General- direktion für die öffentliche Sicherheit oder bei der Übersendung von Unterlagen der Bundesländer-Sicherheitsdirektionen nach Wien entstanden sein.

• Ein weiterer Erklärungsansatz betrifft die Entschlossenheit der einzelnen Sicherheitsdirektionen im Kampf gegen den illegalen Nationalsozialismus. Die starke Unterrepräsentation in Wien könnte beispielsweise u. a. auch darauf zurückzuführen sein, dass das Wiener Polizeikorps 1933/34 stark von NS- Sympathisanten und illegalen NS-Aktivisten durchsetzt war – wie beim Juliputsch mehr als deutlich zum Ausdruck kommen sollte.

• Die starke Überrepräsentation in Westösterreich dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Bundesländer Salzburg, Tirol und Vorarlberg in den Monaten vor dem Juliputsch Zentren der NS-Aktivitäten in Österreich waren.410 Der Grund: Durch die nahe Gebirgsgrenze zu Deutschland war der Schmuggel von

410 Vgl. Bauer, Struktur und Dynamik des illegalen Nationalsozialismus, S. 89 f. 338

Sprengstoffen und Waffen wesentlich einfacher als im übrigen Österreich; zudem konnten NS-Terroristen nach vollbrachter Tat leicht nach Deutschland entkommen. Das hatte zur Folge, dass in Westösterreich besonders viele aus der legalen Zeit bekannte führende lokale Nationalsozialisten als „Geiseln“ nach Wöllersdorf abgegeben wurden.

Aus den Auswertung der in der Wien-Datenbank erfassten Wohnadressen illegaler Wiener Nationalsozialisten (siehe Punkt C.4.2.1) konnte man schließen, dass es in der Zeit der Illegalität kaum zu sozialen Verschiebungen innerhalb der NSDAP im Vergleich zur Zeit vor dem Verbot kam. Betrachten wir dazu die Verteilung der Wohnadressen von NS-Anhaltehäftlingen aus Wien auf der folgenden Seite:

339

Abb.: Auswertung der in der Wöllersdorf-Datenbank enthaltenen Wohnadressen von Wiener Nationalsozialisten 1933–1936

Wohnadressen von Wiener NS- Anteil an der Über-/unter- Anhaltehäftlingen Wiener repräsentiert absolut in Prozent Gesamt- bevölkerung 01 Innere Stadt 19 2,40% 2,13% 113 02 Leopoldstadt 58 7,32% 8,00% 92 03 Landstraße 64 8,08% 7,57% 107 04 Wieden 39 4,92% 2,83% 174 05 Margareten 41 5,18% 4,68% 111 06 Mariahilf 28 3,54% 2,66% 133 07 Neubau 34 4,29% 3,13% 137 08 Josefstadt 34 4,29% 2,36% 182 09 Alsergrund 37 4,67% 4,45% 105 10 Favoriten 61 7,70% 8,41% 92 11 Simmering 15 1,89% 2,79% 68 12 Meidling 34 4,29% 5,84% 73 13 Hietzing 42 5,30% 7,53% 70 14 Rudolfsheim 26 3,28% 3,71% 88 15 Fünfhaus 22 2,78% 2,90% 96 16 Ottakring 41 5,18% 8,02% 65 17 Hernals 47 5,93% 4,50% 132 18 Währing 51 6,44% 4,37% 147 19 Döbling 21 2,65% 3,13% 85 20 Brigittenau 35 4,42% 5,23% 85 21 Floridsdorf 43 5,43% 5,75% 94 Summe 792 100,00% 99,99%

Innenbezirke 354 44,69% 37,81% 118 Außenbezirke 438 55,29% 62,18% 89

Über-/Unterrepräsentation: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

Lesebeispiel: 19 NS-Anhaltehäftlinge hatten ihre Wohnadresse im 1. Wiener Gemeindebezirk, der Inneren Stadt. Im Vergleich mit dem Anteil der Inneren Stadt an der Wiener Gesamtbevölkerung waren sie damit unter den NS-Anhaltehäftlingen leicht überrepräsentiert.

340

Die Auswertung der in der Wöllersdorf-Datenbank enthaltenen Wohnadressen von 792 nationalsozialistischen Anhaltehäftlingen aus Wien ergibt kein grundsätzlich anderes Bild. Die sowohl aufgrund der Ergebnisse der Gemeinde- ratswahl 1932 als auch der Wien-Datenbank als NS-Hochburgen geltenden Bezirke haben ihre dominierende Position nicht verloren.

Abb.: Bezirksvergleich zwischen der Wöllersdorf- und der Wien-Datenbank

Über-/unterrepräsentiert Wien-Datenbank Wöllersdorf-Datenbank 08 Josefstadt 301 182 04 Wieden 243 174 18 Währing 168 147 07 Neubau 170 137 06 Mariahilf 144 133 17 Hernals 97 132 01 Innere Stadt 121 113 05 Margareten 114 111 03 Landstraße 131 107 09 Alsergrund 111 105 15 Fünfhaus 108 96 21 Floridsdorf 57 94 02 Leopoldstadt 64 92 10 Favoriten 52 92 14 Rudolfsheim 70 88 19 Döbling 90 85 20 Brigittenau 61 85 12 Meidling 67 73 13 Hietzing 108 70 11 Simmering 25 68 16 Ottakring 64 65

Über-/Unterrepräsentation: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unterrepräsentiert.

Lesebeispiel: Der 8. Wiener Gemeindebezirk Josefstadt ist als Wohnadresse illegaler Wiener Nationalsozialisten 1933–1938 (Wien-Datenbank) dreifach überrepräsentiert. Als Wohnadresse von NS- Anhaltehäftlingen 1933–1936 (Wöllersdorf-Datenbank) ist die Josefstadt ebenfalls noch deutlich überrepräsentiert, allerdings weniger stark als in der Wien-Datenbank.

Anmerkungen: Die Reihung der Bezirke erfolgt nach der Wöllersdorf-Datenbank. NS-Hochburgen laut der Gemeinderatswahl 1932 sind kursiv hervorgehoben. 341

Allerdings zeigt der Vergleich der Wöllersdorf-Datenbank mit der Wien-Daten- bank, dass die bisherigen NS-Diasporabezirke im Laufe der illegalen Phase an Stärke zulegten. Besonders deutlich werden diese Verschiebungen, wenn man die Entwicklung der Innen- und Außenbezirke betrachtet.

Die Wöllersdorf-Datenbank deutet also – im Unterschied zur Wien-Datenbank – an, dass es innerhalb der NS-Bewegung in der Zeit der Illegalität doch zu gewissen, nicht allzu gravierenden sozialen Verschiebungen kam. Die klein- bürgerlich/bürgerlich-deutschnationale Mittelschichtpartei war auf dem Weg, eine Volkspartei zu werden, in der auch Arbeiter nicht mehr auffallend unter- repräsentiert waren.

Es muss deutlich gesagt werden, dass es sich dieser Schluss durch Auswertungen auf Aggregatebene handelt. Die Möglichkeit eines „ökologischen Fehl- schlusses“411 ist nicht von der Hand zu weisen. Die Auswertungen auf Individualebene (Milieuanalyse) werden validere Aussagen zulassen, ob die hier angedeutete soziale Dynamik der NS-Bewegung in der Phase 1933–1938 tatsächlich der Realität entspricht.

411 Mit Aggregatdatenanalysen werden in der historischen Wahlforschung beeindruckende Ergebnisse erzielt, wie die Arbeiten von Falter und Hänisch beweisen. Allerdings müssen dafür bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, sonst besteht die Gefahr des so genannten „ökologischen Fehlschlusses“ – das heißt, aufgrund von Aggregatdaten (z. B. Wahlergebnisse einer bestimmten Gemeinde) werden in Kombination mit der Sozialstruktur dieser Gemeinde unzulässige Rückschlüsse auf das Wahlverhalten sowie grundsätzliche Einstellungen und Überzeugungen Einzelner gezogen. Ähnlicher Probleme bestehen auch bei der vorliegenden Untersuchung. Dazu Falter, Wähler, S. 441: „Der Schluss von der territorialen auf die individuelle Ebene ist mit enormem Fehlerrisiko behaftet und daher, außer in extremen Ausnahmefällen, unstatthaft. Man sollte daher stets peinlich genau zwischen den Aussageebenen unterscheiden und auf der Aggregatebene nachgewiesene Zusammenhänge nicht im Sinne von Individual- beziehungen interpretieren.“ Zu den methodischen Problemen und Anforderungen von Aggregatdatenanalysen sowie zu den Auswertungsverfahren siehe die anschauliche Darstellung von Hänisch, NSDAP-Wähler, S. 133–145. Zu typischen Fehlern wahlhistorischer Unter- suchungen, die auch in diesem Zusammenhang Geltung haben, siehe Falter, Wähler, S. 55–60. Allgemein zum ökologischen Fehlschluss Diekmann, Sozialforschung, S. 116 f. 342

Die Verteilung der NS-Anhaltehäftlinge nach ihrer Zuständigkeit ergibt kein wesentlich anderes Bild als das der Wohnorte. Ein geringer Prozentsatz der Anhaltehäftlinge waren ausländische Staatsbürger oder staatenlos. Der hohe Anteil von jugoslawischen Bürgern lässt darauf schließen, dass es sich um deutschsprachige Jugoslawen handelte, die in den NS-Hochburgen Kärnten und Steiermark lebten und sich dort nationalsozialistisch betätigt hatten.

Abb.: Zuständigkeit der NS-Anhaltehäftlinge 1933–1936 nach dem Heimatrecht

Anzahl Burgenland 89 Kärnten 1293 Niederösterreich 684 Oberösterreich 517 Salzburg 468 Steiermark 1840 Tirol 359 Vorarlberg 74 Wien 833 Österr. Bundesbürger ohne Heimatrecht, Optant 3 Österreichische Staatsbürgerschaft insg. 6160

CSR 18 Deutschland 22 Italien 2 Jugoslawien 31 Ungarn 1 Ausländische Staatsbürgerschaft insg. 74

Staatenlos/heimatlos 11

Gesamtsumme 6245 Lesebeispiel: 89 nationalsozialistische Anhaltehäftlinge hatten Heimatrecht in einer burgenländischen Gemeinde.

Anmerkung: Von 7712 Fällen in der Datenbank gab es zu 1451 keine Angaben zur Zuständigkeit; in 16 Fällen lagen unklare, missverständliche, widersprüchliche oder nicht zuordenbare Angaben vor.

Die Auswertung der Geburtsorte zeigt, dass auffallend viele national- sozialistischen Anhaltehäftlinge auf dem Gebiet derjenigen Nachfolgestaaten der 343

Monarchie auf die Welt kamen, in denen die heftigsten Nationalitätenkämpfe ausgefochten worden waren: Tschechoslowakei und Jugoslawien.

Abb.: Geburtsorte der NS-Anhaltehäftlinge 1933–1936

absolut anteilsmäßig Burgenland 71 1,24% Kärnten 1101 19,24% Niederösterreich 468 8,18% Oberösterreich 464 8,11% Salzburg 420 7,34% Steiermark 1683 29,41% Tirol 307 5,37% Vorarlberg 68 1,19% Wien 698 12,20% Österreich insg. 5280 92,28%

Deutschland 59 1,03%

CSR 180 3,15% Italien 55 0,96% Jugoslawien 100 1,75% Polen 15 0,26% Rumänien 1 0,02% Ungarn 11 0,19% Nachfolgestaaten insg. 362 6,33%

England 1 0,02% Frankreich 1 0,02% Griechenland 2 0,03% Kanada 1 0,02% Liechtenstein 2 0,03% Schweiz 7 0,12% Sowjetunion 1 0,02% USA 6 0,10%

Ausland insg. 442 7,72%

Gesamt 5722

Lesebeispiele: 71 NS-Anhaltehäftlinge (das sind 1,24% aller NS-Anhaltehäftlinge) waren auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes geboren. – 180 NS-Anhaltehäftlinge (das sind 3,15% aller NS-Anhaltehäftlinge) waren in einem Gebiet geboren, das in der Zwischenkriegszeit zur CSR gehörte. 344

C.5.3.3 Konfession

Häufig ist in den ausgewerteten Akten nichts zur Konfessionszugehörigkeit der Anhaltehäftlinge zu entnehmen. In 64% aller Fälle liegen überhaupt keine Angaben über das jeweilige religiöse Bekenntnis vor. Bei 43 Personen (1,5%) finden sich in verschiedenen Dokumenten widersprüchliche Angaben zur Konfession, was zum Teil auf Behördenirrtümer zurückzuführen sein dürfte, zum Teil – wie in mehreren Fällen explizit nachzuweisen – aber auch auf einen Wechsel des religiösen Bekenntnisses hindeuten könnte. Ein Kirchenaustritt oder ein Übertritt von der römisch-katholischen zu evangelischen Konfession (hin und wieder auch zur altkatholischen Kirche) muss gerade in der Zeit des Christlichen Ständestaates als demonstrativer politischer Akt gewertet werden.

Wie zu erwarten stellten im katholischen Österreich Angehörige der römisch- katholischen Kirche die erdrückende Mehrheit der Anhaltehäftlinge (siehe folgende Abbildung).

Abb.: Konfessionszugehörigkeit der NS-Anhaltehäftlinge (Zwischenauswertung Wöllersdorf-Datenbank)

konfessionslos altkatholisch

evangelisch

römisch- katholisch

345

Wie andere Untersuchungen (vgl. dazu die allgemeinen Ausführungen unter Punkt C.4.2.2) ergibt auch die Zwischenauswertung der Wöllersdorf-Datenbank eine markante Überrepräsentation von Angehörigen der evangelischen Konfession.412 Der Anteil von Protestanten an den NS-Anhaltehäftlingen war dreimal höher als der an der österreichischen Gesamtbevölkerung.

Abb.: Konfessionszugehörigkeit der NS-Anhaltehäftlinge im Vergleich zur österreichischen Gesamtbevölkerung (Zwischenauswertung Wöllersdorf-Datenbank)

NS-Anhaltehäftlinge Österr. Über-/unter- absolut anteilsmäßig Gesamt- repräsentiert bevölkerung Römisch-katholisch 2323 85,03% 90,42% 94 Evangelisch 348 12,74% 4,37% 292 Konfessionslos 47 1,72% 1,57% 110 Altkatholisch 13 0,48% 0,54% 89 Griechisch-katholisch 1 0,04% — — Gesamt 2732

Über-/Unterrepräsentation: 100 = gleich; über 100 = überrepräsentiert; unter 100 = unter- repräsentiert.

Lesebeispiel: 85% der Anhaltehäftlinge waren Angehörige der römisch-katholischen Kirche, in der österreichischen Gesamtbevölkerung betrug der Anteil der Katholiken allerdings 90,4%, womit Katholiken unter NS-Anhaltehäftlingen leicht unterrepräsentiert waren.

Anmerkung: Von den in der Datenbank enthaltenen 7712 Personen liegen in 4933 Fällen keine und in 47 Fällen unklare oder widersprüchliche Angaben von, womit die Auswertung auf 2732 Fällen beruht.

412 Von insgesamt 348 Fällen werden nur 150-mal Angaben über die Zugehörigkeit zum Augsburger oder zum Helvetischen Bekenntnis gemacht. 146 NS-Anhaltehäftlinge gehörten der evangelischen Kirche A. B. und vier Anhaltehäftlinge der evangelischen Kirche H. B. an. Statistisch seriöse Aussagen lassen sich aufgrund dieser Größenordnungen nicht machen, aber es lässt sich mit gutem Grund vermuten, dass es insgesamt wesentlich eher Lutheraner als Calvinisten waren, die zur NS-Ideologie tendierten. 346

Eine nach Bundesländern und vor allem nach Funktion in der NSDAP spezifizierte Auswertung wird weitere Aufschlüsse über die Verteilung der Konfessionen unter den NS-Anhaltehäftlingen bringen. 347

D Zusammenfassung und Ergebnisse (Gerhard Botz)

Die im Rahmen dieses Projekt durchgeführten Untersuchungen zu Sozial- strukturen der illegalen nationalsozialistischen Bewegung in Österreich während der Jahre 1933 bis 1938 nähern sich ihrem Gegenstand mit unterschiedlichen methodischen Instrumentarien, mittels komplementärer historisch-sozialwissen- schaftlicher Erklärungsmodelle und von einander ergänzenden Blickwinkeln an.

Einerseits werden Verfahren der kontrollierten und differenzierten Standardi- sierung von historischen Massendaten und deskriptiv-statistische Analyse- verfahren angewandt, andererseits kommt ein breites Spektrum historisch- kritischer und textinterpretierender Verfahren zum Einsatz. Letzteres metho- disches Vorgehen (in den Einzelstudien und Datensammlungen von K. Bauer zu Nationalsozialisten in Wien und zu den NS-Aktivisten in österreichischen Anhaltelagern) betrifft vor allem einen umfangreichen Corpus ganz unter- schiedlicher Quellen: meist behördliche Erhebungs-, Polizei-, Gerichtsakten etc., aber auch persönliche Dokumente ebenso wie administrative Erlässe und Gesetze. Ersteres gründet zum Teil auf seriellen Daten relativ limitierten Aussagegehalts, aber potentiell großer repräsentativer Reichweite für alle österreichischen NSDAP-Mitglieder und Aktivisten (vor allem in den Einzelstudien von G. Botz und W. Meixner), zum Teil auf jenen personenbezogenen Daten, die aus einigen Tausend individuellen Quellen (durch K. Bauer) gewonnen werden konnten. Damit werden auch unterschiedliche Partizipationsgrade abgebildet, ansteigend von einfachen (radikalisierten oder sich vom Nationalsozialismus abwendenden) Parteimitgliedern über in der Illegalität aktiven Nazis, Juliputschisten und Terroristen, die entweder in Anhaltlagern (vor allem Wöllersdorf), Polizeigefängnissen oder gerichtlichen Haftanstalten festgehalten wurden oder ins 348

Ausland (meist nach Deutschland) flüchteten, ausgebürgert und dort oft weiter radikalisiert („Österreichische Legion“) wurden.

Dementsprechend sind kontrastierend historische Theorien mittlerer Reichweite, die bisher schon für Erklärungen der faschistischen Bewegungen in Deutschland und Österreich, aber auch darüber hinaus entwickelt wurden, den empirischen Befunden zugrunde gelegt worden bzw. haben sie modifiziert oder falsifiziert. Zum einen handelt es sich dabei um sozial- und wirtschaftsstrukturelle Konzepte, zum anderen um vor allem um milieutheoretische, berufsspezifische und generationelle Modelle. Eine gemeinsame Linie, die alle Einzelstudien des Projekts verbindet, ist die strikte Beachtung, wie und in welchem Ausmaß das staatliche oder NSDAP-interne Organisationshandeln die Artefakte, die der Forschung als hauptsächliche Quellen zur Verfügung stehen, strukturiert und sie bis zu einem gewissen Maße generiert haben. Damit werden die dem Projekt zugrunde gelegte Multidimensionalität und der synthetischer Zugang zu einer umfassenderen Erklärung der illegalen NS-Bewegung und ihrer Nachwirkungen im Regime ab 1938 (in der Kombination von Makro- und Mikrostudien) fruchtbar.

Neben einer Reihe umfangreicher methodisch arbeitstechnisch ausgerichteter Teile des Projekts, die die zugrunde liegenden Daten- und Quellenbasen empirisch nachvollziehbar machen und die daraus resultierenden historisch- sozialwissenschaftlichen Analysen (als viele bisherige Forschungen zum Thema) besser fundieren, konkretisieren sich die bisherigen Ergebnisse in folgenden Teilstudien:

- Das „Machen“ von NS-Parteigenossen? Bürokratie, Mitgliedschafts-Chaos und persönliche Motivationen in Deutschland und Österreich (1933 bis 1945) (Gerhard Botz) 349

- Arbeiter und andere „Lohnabhängige“ im österreichischen National- sozialismus auf Basis von Stichproben aus der NS-Mitgliederkartei (Gerhard Botz)

- 11.000 ausgebürgerte illegale Nazis aus Österreich zwischen 1933 und 1938 (Wolfgang Meixner)

- Illegale Nationalsozialisten in Wien 1933–1938 (Wien-Erhebung) (Kurt Bauer)

- Die nationalsozialistischen Häftlinge der österreichischen Anhaltelager 1933– 1938 („Wöllersdorf-Erhebung“) (Kurt Bauer)

Weiters ist eine umfangreiche Individualdatenbank zu den letzgenanten Studien, die noch kompettiert und entsprechend dokumentiert werden muss, in Ausarbeitung. Sie soll nach Abschluss weiterer Anaylsen am Ludwig Boltzmann- Institut für Historische Sozialwissenschaft an der Universität Wien (unter Wahrung der personen- und datenschutzrechtlichen Bestimmungen) einem weiteren fachlichen Benutzerkreis zugänglich gemacht werden.

In inhaltlicher Hinsicht lassen sich schon unter anderem folgende Ergebnisse festgehalten:

Auch in der Illegalitätsperiode kann der österreichische Nationalsozialismus in einem – gegenüber den Strukturmerkmalen der Jahre 1932/33 abgeschwächten Maße – immer noch nach dem Muster einer „asymmetrischen Volkspartei“ (in der die industrielle Handarbeiterschaft und die besitzenden Bauern unterrepräsentiert sind) charakterisiert werden; allerdings verstärkten sich die während der Illegalität die Biases zugunsten der Arbeiterschaft und der (bisher ohnehin schon über- repräsentierten) privaten Angestellten, während die bäuerlichen Bevölkerungsteile regional und altersmäßig unterschiedlich anfällig blieben.

350

Kann die NSDAP insgesamt über einen größeren Zeitraum hinweg (1925-1942) generell als eine (alternde) „Jugendbewegung“ (überwiegend jünger als 30 Jahre) gelten, so verstärkte sich in der Phase der Illegalität wiederum bei den Aktivisten der jugendliche Charakter, der sich schon aus dem frühen Übergewicht der „Frontgeneration“ (geb. 1889 – 1899) ergeben hatte. Nunmehr ergab sich durch den verstärkten Zustrom noch jüngerer Männer und Jugendlicher der „Nach- kriegsgeneration“ (geb. 1900 – 1920!) eine zweigipfelige Altersstruktur (für Wien). In den Anhaltelagern, wo meist die radikalsten (und am wenigsten mit sozialem und ökonomischen Kapital ausgestatteten) Alterskohorten landeten, dominierten ebenso wie bei den aktiven Juliputschisten die jungen Männer (um das Geburtsjahr 1911 bzw. 1912), die 1934 erst um 22 bzw. 23 Jahre alt waren. (Sie blieben in der NSDAP auch nach 1938 aktiv und stellten ein besonderes Problem der Kontinuität von NS-geprägten Einstellungen in der Zweiten Republik dar.) Dabei zeigte sich auch eine starke Differenzierung nach den unter- schiedlichen Führungs- und Gefolgschaftsebenen, die ebenso bei anderen sozial- strukturellen Kennzahlen in Erscheinung tritt.

Es bestätigte sich, dass der NS-Aktivismus weiterhin „männlich“ und „ledig“ war, Frauen, die auch in der Wählerschaft und unter den Pg. vertreten waren, nur unterstützende Rollen erfüllten und die Anteile von Protestanten verhältnismäßig groß waren. Es stellte sich heraus, dass er stärker als durch sozialschichten- und klassenmäßige Differenzierungen durch spezifische Milieus zu erklären sein dürfte. So ist die Wirksamkeit einer ländlichen Jugendsubkultur (junger Bauern- söhne und Knechten) klar erkennbar, ebenso in einem unterschiedlichen Ausmaß der NS-fördernde Einfluss von Regionalmilieus (in Steiermark, Kärnten und Salzburg), vor allem auch die NS-Dominanz in klein- und mittelstädtischen Milieus.

Forschungsergebnisse dieses Projekts wurden bisher schon in Fachöffentlich- keiten, wie den österreichischen Zeitgeschichtetagen, vorgestellt, sie sind bereits 351

in ein Lehrbuch über den Nationalsozialismus413 eingeflossen und in einigen Beiträgen zu wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert worden.414 Buchpublika- tionen dazu sind in Vorbereitung. Ein wesentliches Instrument für weiter gehende Forschungen zum österreichischen Nationalsozialismus vor der Machtübernahme und dem Anschluss wird eine umfangreiche Individualdatenbank sein.

413 Bauer, Kurt: Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall, Wien 2008, 616 S. 414 Botz, Gerhard: Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP-Mitgliedschaft: Von der sozialen Dynamik zur bürokratischen Selbststeuerung? (1933 bis 1945), in: Beruf(ung): Archivar. Festschrift für Lorenz Mikoletzky, hg. vom Österreichischen Staatsarchiv. Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 55, Teil II, Wien 2011, S. 1161-1186;

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