Am Umschlag: "Beschauschein vom 11. 4. 1945. Der Beschauarzt verübte beim Zusammenbruch Selbstmord." Aus: Erlaftal-Bote, 90. Jg., Nr. 17, 23. April1980.

MITTEILUNGEN DES INSTITUTS FÜR WISSENSCHAFT UND KUNST, 46. JG. 1991 I NR. 4, öS 50,-

1 WlFIBJM_~ ' EDITORIAL INHALT

Historische Forschung und Vermittlung darf nicht Jacqueline Vansant auf Gedenktage und Jubiläen beschränkt bleiben. NATIONALSOZIALISMUS UND Der Arbeitskreis "Nationalsozialismus in der Öster• AUTOBIOGRAPHIEN VERFOLGTER reichischen Provinz" versucht die insbesonders FRAUEN ... :...... 2 durch das Gedenkjahr 1938/88 in Fluß gekommene Beschäftigung mit dem deutschen Faschismus in Klaus-Dieter Mulley Österreich interdisziplinär weiterzuführen und auch "AHNENGAU DES FÜHRERS" Lokalforschern eine Plattform für die Präsentation Alltag und Herrschaft in "Niederdonau" und Konfrontation ihrer Forschungsergebnisse zu 1 938-1945 ...... 7 geben. Die folgenden Beiträge zeigen eine Vielfalt der Zugänge zum regionalen und lokalen Gesche­ hen. Eine Ablöse der "alten Heimatgeschichten", in Franz Steinmaßl welchen die Zeit 1938 bis 1945 ausgeklammert DAS HAKENKREUZ IM HÜGELLAND oder auf die Erwähnung von ein paar überregiona• Widerstand und Verfolgung im len Ereignissen beschränkt, somit die Mitwirkung ei­ Bezirk Freistadt 1938-1945 ...... 18 nes Großteils der Bevölkerung an der Etablierung und Aufrechterhaltung des NS-Regimes schamhaft Ernst Langthaler verschwiegen wurde, scheint sich anzubahnen. Im THESEN ZUR GESELLSCHAFTS­ Arbeitskreis werden nicht nur Regional- oder Lokal­ GESCHICHTE DES NATIONAL­ geschichten diskutiert, sondern - wie der Beitrag SOZIALISMUS AM BEISPIEL "Nationalsozialismus und Autobiographien verfolg­ FRANKENFELS 1932-1956 ...... 22 ter Frauen" zeigt - auch "überregionale" Aspekte und Konsequenzen des Nationalsozialismus vorge­ tragen, besprochen und zum "heimatlichen" Ge­ Robert Streibel schehen in Beziehung gesetzt. Was Altred Pfoser in DIE "GAUHAUPTSTADT" KREMS einem anderen Zusammenhang schrieb, gilt auch Eine Geschichte in vier Bildern ...... 39 hier: " ... vielleicht wird es eines Tages aufgrund zahlreicher Einzeluntersuchungen möglich sein, ei­ Wolfgang Quatember ne kompakte Geschichte des gesellschaftlichen und NSDAP UND NSDAP-MITGLIED­ kulturellen Strukturwandels in Österreich zu liefern. SCHAFT IN EBENSEE Dabei gelte es auch auf die Alternativen, die Chan­ Anmerkungen zu einer Lokalgeschichte cen, Möglichkeiten und Weichenstellungen im Ge­ 1923-1945 ...... 47 schichtsprozeß hinzuweisen. ln der Bestimmung dessen, was wir waren und woher wir kommen, wird LITERATUR ZUM THEMA ...... : . ... 53 sich zugleich die Frage nach unserer (möglichen) Zukunft stellen." KURZBIOGRAPHIEN Klaus-Dieter Mulley/Robert Streibel DER AUTORIN UND AUTOREN ...... 68

Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Institut für Wissenschaft Linie des Blattes: Verständigung der Öffentlichkeit über und Kunst. Für den Inhalt verantwortlich: Dr. Helga Kasch!. Alle 1090 Wien, Berggasse 17/1 Tel. 0 222/34 43 42. Satz: Büro die Arbeit des Instituts für Wissenschaft und Kunst sowie Hannes Riedinger, 3423 St. Andrä-Wördern, Schloßgasse 7, Tel. Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Arbeiten, die 0 663/800 314. Druck: Glanz & Hofbauer Ges.m.b.H., 1200 Wien, Treustraße 5, Tel. 0 222/330 73 67. damit im Zusammenhang stehen. IWK·Mitteilungen

JACOUELINE VANSANT NATIONALSOZIALISMUS UND AUTOBIOGRAPHIEN VERFOLGTERFRAUEN

Autobiographien bieten die Möglichkeit, den persön• Überlebens gerichtet, auf Hamsterfahrten, Wieder­ lichen Werdegang im Umfeld der Zeitgeschichte zu herstellen der Wohnungen, Wegräumen des studieren. Im Zusammenhang mit dem Nationalso­ Schutts. Man hatte an den Fronten, in den Betrie­ zialismus sind Autobiographien von Verfolgten von ben, bei den Bombardierungen, durch den Ein­ besonderer Bedeutung. Da die historischen Doku­ marsch der Russen - wie es im Volksmund hieß - mente dieser Zeit hauptsächlich von den Tätern genug gelitten, jeder hatte Verwandte, Freunde, Be­ stammen, können sie den Schicksalen der Ermorde­ kannte verloren, alle fühlten sich als Opfer der ten und Verfolgten nicht gerecht werden. ln einigen ,schlechten Zeiten' ."4 Aus dieser engen persönlichen Fällen sind die persönlichen Geschichten sogar ein Perspektive konnten die Österreicher sich selbst Schlüssel zu Geschichten, die sonst verlorengegan­ leichter als Opfer sehen und Fragen der Schuld gen wären. Im Österreichischen Kontext spielen sie und/oder des moralischen Versagens meiden. eine bedeutende Rolle, weil die kollektiven Erinne­ Jene, deren bloße Anwesenheit diesen Opfersta­ rungen von und über diese Zeit nicht von den Ver­ tus in Frage stellte, waren nicht willkommen. Es gab folgten geprägt worden sind. 1 Darüberhinaus haben keinen offiziellen Aufruf, sie zurückzuholen und die historische Untersuchungen bis vor kurzem nicht als Heimkehr nach Österreich war oft ein langwieriger Korrektiv der kollektiven Erinnerungen gedient.2 Prozeß.5 Die Mehrheit der Österreicher zeigte wenig Jene Österreicher, die unter dem Nationalsozialis­ Interesse, geschweige denn Verständnis für das mus verfolgt worden waren, fehlten in den Geschich­ Schicksal der Verfolgten. Künstler Carry Hauser, der ten und der Geschichte, die nach dem Zweiten Weit­ die Jahre der Ostmark in der Schweiz verbrachte, krieg geschrieben worden sind; und sie fehlen immer reflektiert über die Haltung der meisten Österreicher noch. Die geläufige Bedeutung solcher Wörter wie nach dem Krieg in seinem Aufsatz "Vergessen darf "Heimkehrer", "Vertriebene", "Flüchtling" und "Opfer" ich nicht", in dem er traurig erkennen mußte, daß ein spiegeln eine Verzerrung der Stellung der "deut­ "Graben, der nicht ausgefüllt werden kann" die Exi­ schen" Soldaten und der allgemeinen Österreichi• lanten von jenen, die zurückblieben, trennte. 6 Weni­ schen Bevölkerung und eine Umschreibung der Ge­ ge interessierten sich für die Erlebnisse der ande­ schichte wider. ln seinem Artikel "Nach dem Krieg. ren; voller Selbstmitleid wollten sie nur die Österreicherinnen als Opfer und Täter", schreibt der Geschichte ihres eigenen Leides erzählen. Genau Historiker Peter Malina: "Wenn in Österreich nach wie ein anderer Exilösterreicher ihr voraussagte, 1945 von Kriegs-,Heimkehrern' gesprochen wurde, fand Schriftstellerin Hilde Spiel, daß in der Zeit dann waren nicht jene gemeint, die aus der Vertrei­ gleich nach dem Krieg Österreicher emsig an einer bung nach Österreich zurückgekehrt waren; wenn Umschreibung der Geschichte mit ihren eigenen Ge­ von Vertriebenen die Rede war, dann nicht von je­ schichten arbeiteten. "Enteignung, Demütigung, Ver­ nen, die nach dem ,Anschluß' 1938 gezwungen ge­ haftung und Todesgefahr, illegale Flucht über ver­ wesen waren, ihre Heimat Österreich zu verlassen; sperrte Grenzen, Jahre des Exils, ein feindlicher wenn Opfer beklagt wurden, dann waren in der Re­ Ausländer in einem vom Kriege zerrütteten Land - gel nicht jene Zehntausende gemeint, die in den all das würde zunichte werden, würde sich in Luft Konzentrationslagern und Gefängnissen ermordet auflösen, mit einem Fingerschnalzen weggeweht wurden."3 Die "Heimkehrer" waren die Soldaten, die So beginnt auch Herr Hnatek, von Mitleid mit sich vom Krieg und aus Gefangenenlagern zurückkehr• selbst ergriffen, sein Schicksal und das Schicksal ten; die "Vertriebenen" waren jene ethnische Deut­ Wiens zu bejammern, dessen Staub ich so erfolg­ sche aus Osteuropa, die gezwungen wurden, das reich von meinen Schuhen geschüttelt habe. ,Die Gebiet zu verlassen; und zu den Opfern zählten die Frau Doktor haben gut daran getan, daß Sie fort Soldaten, die im Krieg starben, die Zivilbevölkerung, sind. Allein die Luftangriffe - dreimal haben sie die die als Folge der Bombardierungen starb, und jene ganze Stadt in Brand gesteckt' ."7 Spiels eigene Ge­ die das Land aus den Ruinen wieder aufbauen und schichte und jene anderer Exilanten schienen für die von vorne beginnen mußten. Mehrheit der Österreicher nicht zu existieren. Während der letzten Kriegsjahre und gleich nach Eigentlich war die allgemeine Einstellung, daß die dem Krieg erlitt die Mehrheit der Österreicher die Exilanten es im Ausland leichter gehabt hatten, und meisten persönlichen Verluste, die es leichter zulie­ über sie wurde sogar mit Verachtung gesprochen. 8 ßen, in die Opferrolle zu schlüpfen. Hans Witek und Die folgende Aussage des Dirigenten Karl Böhm Hans Safrian schreiben in dem Nachwort zu Und stellte die Erlebnisse der Exilanten ins falsche Licht: keiner war dabei: "Die Sorgen der Zuhausegebliebe­ "Die anderen, die in die Emigration gegangen sind, nen· waren hauptsächlich auf die Organisation des hatten es ja eigentlich besser als ich, der ich zu Hau-

2 IWK-Mitteilungen se geblieben bin. Sie hatten keine Bombenangriffe chischen Geschichte betrachtet, vergleichbar mit der zu überstehen; sie hatten Arbeit."9 Indem er das Besatzung anderer Länder. Da Österreich als Staat Wort "Emigrant" benutzt, legt er eine Wahl bzw. eine nicht existierte, konnte es für den Krieg nicht verant­ Entscheidungsmöglichkeit in einer Situation nahe, wortlich gemacht werden. die um Leben und Tod ging. Die Mehrheit der Exilan­ Jahre später wiederholte Kurt Waldheim ganz un­ ten mußte um ihre Existenz kämpfen, und manche reflektiert diese Haltung in seinen Memoiren Im wurden Bombardierungen ausgeliefert; vor dem Na­ Glaspalast der Weltpolitik (1985): ,,Wir standen auf tionalsozialismus waren sie nie 100% sicher. dem Standpunkt, daß zwar Österreicher ungefragt in Jene, die aus den Konzentrationslagern zurück• der deutschen dienen mußten, daß aber kehrten, wurden von der allgemeinen Bevölkerung der durch den Anschluß als Völkerrechtssubjekt auch nicht freundlich aufgenommen, die ihnen mit ausgelöschte Staat Österreich niemandem den dem Herunterspielen ihrer Erlebnisse begegnete. Krieg erklärt und mit niemandem Krieg geführt hatte. Die jüdische Kommunistin Mali Fritz schreibt in ihren Im Gegenteil, Österreich war das erste Opfer der Memoiren Essig gegen den Durst. 565 Tage in Au­ Aggressionspolitik des nationalsozialistischen Drit­ schwitz-Birkenau, daß ein Arzt ihr sagte, nachdem ten Reiches gewesen. Dagegen stand die soge­ er erfahren hatte, daß sie in Auschwitz war: "Soo nannte Moskauer Deklaration, in der von der Verant­ schlimm wird's schon nicht gewesen sein, sonst wä• wortung Österreichs für die Teilnahme am Krieg die ren Sie ja nicht hier."10 Rede gewesen war."14 Offensichtlich betrachtet Ein großer Teil der Bevölkerung fürchtete sich vor Waldheim die Jahre nicht als wesentlichen Teil der Repressalien, Beschlagnahme des Eigentums, und Österreichischen Geschichte. einige hatten Angst, daß sie wegen ihrer Teilnahme Durch die ständig steigende Spannung zwischen an den Verbrechen angezeigt werden könnten. 11 ln­ Osten und Westen konnten Österreichische Politiker dem man das Leiden der anderen verschwieg die Situation ausnützen und aus dem Staatsvertrag und/oder herabspielte, konnte die Schuldfrage ver­ eine Klausel wiederherausnehmen. Eine Klausel mieden werden, und das eigene Leiden schien legiti­ wurde gestrichen, in der ausgedrückt wurde, daß mer zu sein.12 Österreich eine Teilverantwortung für den Zweiten ln seinem Essay bemerkt Hauser, daß sogar jene, Weltkrieg tragen mußte.15 Das Fehlen dieser Klausel die nicht involviert waren, sich mit den Zurückge• legitimierte Osterreichs Widerwillen, Wiedergutma­ kehrten nicht wohl fühlten. "Die Schwierigkeit lag chung an Israel zu zahlen. Darüberhinaus war es oft aber darin, daß viele meiner Landsleute, auch völlig leichter für ehemalige Soldaten, eine Pension zu be­ unbelastete, die eben gezwungen waren, unter und kommen und später für ehemalige Nazis Besitz zu mit den Nazis zu leben, immer voraussetzten, man reklamieren, als für die, die aus den Konzentrations­ wisse von irgendeinem ihrer schwachen Momente, lagern, Gefängnissen und dem Exil zurückkehrten.1 6 von ihrer Hörigkeit und scheinbaren Zugehörigkeit Das herausragendste Beispiel ist vielleicht der zur braunen Gesellschaft". Kriegsverbrecher Helmut Rehder, der seine Österrei• So wie die Perspektive des Einzelnen als Opfer chische Staatsbürgerschaft vor 1938 aufgab und definiert wurde, wurde Österreich als Staat ebenfalls dennoch eine Kriegspension bekommt. 17 als Opfer gesehen. Nicht wie im Jahre 1918 als die Solche Verzerrungen und Mißdeutungen konnten Bemühungen der Regierung ein österreichisches und können nur durch eine Verleugnung und/oder Bewußtsein zu bilden, scheitern mußten, konnte Falsifizierung der Erlebnisse jener Verfolgten auf­ 1945 der Wunsch, sich von den Deutschen und dem recht erhalten werden. ln dem dünnen Heft Man hat Staat Deutschland zu distanzieren, zu dem Zweck ja nichts gewußt! konstatiert Karin Berger, daß es ausgenutzt werden. Nicht die Österreicher, sondern symptomatisch für die Art und Weise ist, in der an die Alliierten mußten überzeugt werden, daß Öster• die Zeit erinnert wird. ln ihrer Familie sah sie Photos reich eine von Deutschland getrennte Einheit war, von Onkeln und Cousins in Uniform; sie hörte Ge­ ein Opfer des Nationalsozialismus, das nicht für den schichten von den Frauen, die sich gerne an die er­ Krieg verantwortlich gemacht werden konnte. Im Be­ sten Jahre unter dem Nationalsozialismus in den zug auf die Moskauer Deklaration vom Jahre 1943 Reicharbeitsdienstlagern erinnerten. Ihr wurde von sahen österreichisc~e Politiker ihre Aufgabe darin, den Bombardierungen und langen bangen Stunden zu beweisen, daß Osterreich eigentlich "das erste in den Luftschutzkellern erzählt. Jene, die unter dem Qpfer der Hitlerschen Aggressionspolitik" war, daß Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden, Osterreic~er zur Befreiung ihres Landes beitrugen waren jedoch abwesend. Was sie oft hörte, war die und daß Osterreich als Staat nicht freiwillig am Krieg bekannte Österreichische Litanei: ,,Wir waren arm, teilgenommen hatte.13 wir haben gelitten, wir haben nichts gewußt."18 Die Österreichische Regierung veröffentlichte Kurt Waldheims Darstellung seiner Vergangenheit 1946 ihren offiziellen Standpunkt der Nazi-Zeit ge­ weicht nicht sehr weit von dieser Interpretation ab. genüber in dem Rot-Weiß-Rot Buch, einer Kombina­ Seine Autobiographie bietet ein Paradebeispiel für tion von Kommentar und historischen Dokumenten. diese Österreichische Weise, die Geschichte umzu­ Der "Anschluß" wurde als Vergewaltigung Öster• schreiben. Abgesehen davon, daß er Daten fälschte, reichs dargestellt, wobei der Rest der Weit es als un­ nannte er sich einen "Heimkehrer" und "einen bedeutend abtat, Mexiko ausgenommen. Die sieben ·Flüchtling im eigenen Land", da er von der Steier­ Jahre der Ostmark werden als Bruch in der österrei- mark nach Baden bei Wien unter abenteuerlichen

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Umständen mußte. Er behauptet auch, daß Öster• se sehr unterschiedlichen Frauen ähnliche Schick­ reich das erste Opfer des Nationalsozialismus sei, sale. Obwohl ihre Identifikation mit einer jüdischen verlassen von der Weit im März 1938. Den eigentli­ Gemeinde und ihre Definition ihres Judentums ihren chen Opfern des Nationalsozialismus wird nur in ei­ Ausdruck sehr unterschiedlich fanden, verband die­ nem Absatz Lippendienst erwiesen, aber sonst blei­ se äußere Gewalt, die sie als zu einer Gruppe gehö• ben sie in seinem Narrativ unsichtbar. Die Lehren, rig machte, sie in eine gewisse Schicksalsgemein­ die er aus dieser Zeit schöpfte, waren nicht jene des schaft. Über Nacht wurde ihr Land eine Todesfalle moralischen Versagens der Österreicher während für sie. Die Erinnerungen an diese Tage, die Kämpfe der Ostmark, sondern er lernte von der Kraft der rauszukommen, und ihr Wissen des Völkermordes, Österreichischen "Opfer", die ihr Land nach dem besonders an den Juden wurden ein Teil der kollek­ Zweiten Weltkrieg wiederaufbauen mußten. tiven Erinnerung dieser Gruppe. in allen drei Auto­ Die unlängst erschienenen Autobiographien von biographien findet man ein penibles Auflisten der er­ Österreicherinnen, die gezwungen wurden, ihre mordeten Familien-Mitglieder, die nicht fliehen "Heimat" 1938 zu verlassen oder in Konzentrations­ konnten. Die unterschiedlichen Rollen der nicht-jüdi• lagern oder Gefängnissen inhaftiert waren, stellen schen Bevölkerung kommen auch zum Vorschein. die Integrität einer solchen Interpretation der Ver­ Trotz dieser Schicksalsgemeinschaft der Autorin­ gangenheit in Frage. Sie schildern ihre Erlebnisse nen benutzt nur Lachs ihre jüdische Identifikation als auf dem Hintergrund politischer Ereignisse, die eine Prinzip der Organisation für ihre Geschichte. Sie andere Perspektive österreichischer Geschichte er­ sucht das Allgemeine in dem Spezifischen und fordern. in meiner Studie habe ich Interviewbücher nimmt sich selbst als Beispiel. Sie versucht eine und Orai-History Sammlungen nicht berücksichtigt, Kontinuität zwischen ihren Erfahrungen vor 1938 weil ich untersuche, wie diese Frauen aus sich her­ und danach festzustellen und interpretiert den An­ aus ihre eigene Geschichte in Sprache formen- oh­ schluß nicht als Bruch in der Österreichischen Ge­ ne Anleitung anderer. 19 in dieser Arbeit bespreche schichte, sondern als Fortsetzung von dem, was vor­ ich Autobiographien von jüdischen Frauen, die 1938 her geschehen ist. Österreich entflohen sind und so bald wie für sie Lachs sieht ihre Geschichte als polnische Jüdin möglich nach Kriegsende zurückkehrten. Ich be­ im Zusammenhang mit dem Los der osteuropä• schränkte die Auswahl auf drei, indem ich Autobio­ ischen Juden und Juden in Wien, und sie verfolgt graphien von prominenten Schriftstellerinnen wie das Aufsteigen des Antisemitismus in Wien seit z. B. Hilde Spiel und der bekannten Schauspielerin 1914. Ihre Autobiographie fängt 1907 mit ihrer Ge­ Adrienne Gessner nicht in Betracht zog. ln dieser Ar­ burt in Trembowla an, schildert die Flucht ihrer Fami­ beit bespreche ich die folgenden Autobiographien: lie aus Galizien 1914 und beschreibt ihre Kindheit, Stella Klein-Löws Erinnerungen (1980), Minna Jugend und die Jahre als Erwachsene in Wien. Lachs' Warum schaust du zurück (1986) und Fran­ Zurückblickend auf Wien 1914 geht Lachs einer ziska Tausigs Shanghai Passage (1987). Einstellungsänderung Juden gegenüber und insbe­ Die drei Autobiographien sind nicht wegen des sondere polnischen Juden gegenüber nach. 1914 Bekanntseins der Autorinnen von Interesse für die wird sie noch "artiges lmmigrantenmädel" genannt. Öffentlichkeit, sondern vielmehr wegen der Schilde­ Die positive Bezeichnung verwandelt sich und artet rung der Zeit. Wie der Ex-Österreicher Egon in "Pollak" zu "Jud" bis "Saujud" aus. Lachs schildert Schwarz in seiner Autobiographie Keine Zeit für Ei­ zahlreiche Beispiele des Antisemitismus in Wien: chendorff (1979) konstatiert: "Ein bekannter, wo­ Sie variieren von prejorativen Namen bis Prügeleien möglich sogar berühmter Name verleiht der dazuge­ gegen jüdische Studenten an der Universität, denen hörigen Autobiographie einen gewissen Konsum­ die Polizei, ohne einzuschreiten, ruhig zusieht. Sie wert, mag sie auch noch so voll von Banalitäten beschreibt auch einen Antagonismus in der jüdi• sein. Will ein Privatmensch, der niemals vor eine schen Gemeinde zwischen den osteuropäischen Ju­ breitere Öffentlichkeit getreten ist, ein Publikum an den und der assimilierten jüdischen Bevölkerung seinen Erinnerungen interessieren, so müssen die und zwischen reformierten und orthodoxen Juden. Ereignisse, die sein Leben ausgemacht haben, in ir­ Obwohl Lachs Schilderung Wiens vor dem "An­ gendeiner Weise exemplarisch sein, geprägt von schluß" bis zu den Ereignissen im Jahre 1938 und den charakteristischen Einflüssen der Epoche, die danach logisch hinführen sollte, ändert sich ihre Ein­ an den Lesenden wie am Schreibenden wirksam stellung als Erzählerin, wenn sie über die Zeit nach sind."20 1938 erzählt (S. 185). Sie kann ihre Geschichte mit Die Autobiographien der Frauen dienen nicht nur der gleichen analytischen und distanzierten Per­ als Korrektiv der Schilderung der Verfolgten in spektive nicht länger erzählen. Die Erinnerungen Österreich, sondern bieten auch Einsicht in das Ver­ dieser Zeit und das Wissen der verübten Verbrechen hältnis Frauen zur Geschichte und der Definition ih­ sind sowohl überwältigend als auch schwer zu be­ res Selbstes. 21 Wenn wir die Gruppenzugehörigkeit wältigen. Die Erinnerungen möchte sie unterdrük• unter die Lupe nehmen, können wir die Identitätsbil• ken, aber zur gleichen Zeit möchte sie ihnen eine dung untersuchen und dessen Einfluß auf die Form Form geben. Wegen der Schicksalsgemeinschaft der Selbstbiographie studieren. fühlt sie sich verpflichtet, eine Geschichte weiter zu Mit dem "Anschluß" und dem darauffolgenden geben, die in Vergessenheit geraten könnte. Egal vom Staat sanktionierten Antisemitismus teilten die- wieviel Kontinuität Lachs etablieren möchte, schei-

4 IWK-Mitteilungen nen die Ereignisse nach 1938 jeder Logik zu wider­ als Vergleich mit der Katastrophe, die ihr Leben spä• streben. Sie können nur zu einem Bruch führen. ter durcheinanderbringt Hier betont sie hauptsäch• Lachs sieht auch ein Dilemma mit dem Schreiben lich die Umwälzungen, welche der Erste Weltkrieg in über diese Zeit. Lachs schreibt: "Auch wir, die Be­ ihr Leben als geborene Tochter der Großbourgoisie drohten und Leidtragenden und doch Überlebenden und junge Ehefrau eines ungarischen Offiziers der haben es nicht begreifen können. Ich weiß, daß es K. u. K. Armee brachte. Jahren, in denen das Fami­ mir versagt bleiben wird, das Unsagbare und Un­ lienglück von der "größeren" Geschichte nicht ange­ schildbare darzustellen, um andere es verstehen griffen wird, werden keine Beachtung geschenkt. und mitempfinden zu lassen. Das Unvorstellbare Tausig überbrückt die Jahre 1918-1938 mit drei kar­ läßt sich nicht darstellen, das Unfaßbare nicht be­ gen Sätzen. 19 greifen" (S. 185). Die Wucht der Ereignisse droht ein Der Verlust ihres Mannes, ihre Trennung von ih­ Schweigen aufkommen zu lassen. Sie macht die Le­ rem Sohn, die Bedrängnisse der Flucht, ihr Leben in serlnnen darauf aufmerksam, daß die Sprache nicht Shanghai und ihre Rückkehr bilden den Kern ihrer ausreicht, um die Ereignisse darzustellen. Zur glei­ Lebensgeschichte. Jedoch ist ihr durch ihren Status chen Zeit aber sieht sie die absolute Notwendigkeit, als Außenseiterin das Schicksal anderer bewußter. ihr zu gedenken. Oft unterbricht sie ihre eigene Geschichte nicht nur Stella Klein-Löw stammt aus einer sehr liberalen mit ergreifenden Geschichten anderer Flüchtlinge, jüdischen Familie, in der Religion kaum eine Rolle sondern auch mit den Geschichten anderer am Ran­ spielte. ln ihrer Autobiographie tritt ihre jüdische de der Gesellschaft, besonders Frauen. Sie schildert Identifikation in den Hintergrund. Sie dient mehr als das Leben der Chinesinnen, die wegen extremer Ar­ Basis einer Identifikationsmöglichkeit mit Außensei• mut sich selbst verkaufen müssen und auch ihre tern als die Basis ihrer Selbstdefinition. Kinder, um ihre Existenz und deren ihrer Familien zu Klein-Löws Identifikation mit sozialistischen Idea­ sichern. Sie zeigt auch große Humanität, wenn sie len und ihr Engagement in der sozialistischen Bewe­ die Geschichte eines unpolitischen japanischen gung gestalten ihre Lebensgeschichte. ln Erinnerun­ Ehepaares erzählt, dessen Sohn nach dem Krieg als gen, einer Art "Bildungsautobiographie", schildert Kriegsverbrecher hingerichtet wird. Als Mutter hat Klein-Löw die persönliche Entwicklung eines Indivi­ sie großes Mitleid mit ihnen. duums durch die Ideale des Sozialismus und der Was bewegte diese drei Frauen, in ein Land zu­ Partei. Klein-Löw geht den Spuren ihrer Entwicklung rückzukehren, wo sie 1938 so brutal behandelt wur­ als Sozialistin nach und zieht einen roten Faden von den? Für viele Verfolgte war eine Rückkehr aus der Kindheit bis zu ihrer Pensionierung. Schon als emotionalen, abgesehen von finanziellen Gründen, Kind machte die große Kluft zwischen ihrer reichen unmöglich. Als z. B. Jean Amery aus dem Konzen­ Großmutter und den armen Bauern, die in der Nähe trationslager befreit wurde, kehrte er in seine Wahl­ von ihr wohnten, einen großen Eindruck auf sie. Sie heimat Belgien zurück. Später begang er Selbst­ spürte ihre erste Wut gegen die soziale Ungerechtig­ mord. ln dem Essay "Wieviel Heimat braucht der keit. Ihre Wiederaufnahme in Österreich nach dem Mensch" schrieb er über das Verhältnis vieler Ver­ Krieg erfolgt und wird ermöglicht durch ihre Identifi­ folgter zu ihrer ersten Heimat: "Wir aber hatten nicht kation mit sozialistischen Idealen. Klein-Löw defi­ das Land verloren, sondern mußten erkennen, daß niert sich hauptsächlich als politischer Mensch. es niemals in unserem Besitz war. Für uns war, was Während einer Zeit, wo sie politisch unaktiv ist, hat mit diesem Land und seinen Menschen zusammen­ sie in England das Gefühl, daß sie ihr Selbst verliert; hing, ein Lebensmißverständnis."22 Im Vergleich da­ nur durch wiederaufgenommenes Engagement zu konnten diese drei Frauen noch einen Identifika­ glaubt sie, ihr Selbst wiedergefunden zu haben. tionspunkt finden, der es ihnen ermöglichte, ohne Franziska Tausigs Autobiographie Shanghai Pas­ überwältigende Bitternis zurückzukehren. sage deutet weder auf ein Interesse an der Politik ln einem Land ohne Tradition des Sich-Erinnerns noch auf eine besonders starke jüdische Identifika­ der Verfolgten, wo viele der Bevölkerung sich selbst tion hin. Für Tausig spielen die Familienangehörigen als Opfer des Nationalsozialismus sehen, sind sol­ und ihr Status als Außenseiterin die gestaltenden che Lebensgeschichten unschätzbar. Durch ihre Rollen in ihrer Lebensgeschichte. persönliche Darstellung und vor allem ihre emotio­ Tausigs Autobiographie ist eine Mischung der Ge­ nalen Komponenten erleichtern sie einem großen schichte der Umwälzung der Familie durch die histo­ Publikum die Beschäftigung mit dieser Zeit, die rischen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts, gleichzeitig Zugang zu einer anderen Perspektive insbesondere der dreißiger und vierziger Jahre, und der Zeitgeschichte eröffnet. Sie könnten besonders die Geschichten anderer Außenseiter. ln dem ersten wertvoll sein, indem sie Engagement für eine ferne Kapitel dienen die knappen Beschreibungen ihrer Vergangenheit erregen.23 Als positive Nebenwirkung Geburt 1895, ihrer Kindheit und Jugend in Wien und könnten die Geschichten in das Österreichische Kol­ ihrer Einführung in die Gesellschaft und ihrer Heirat lektivgedächtnis integriert werden.

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ANMERKUNGEN: wurde, die eine solche Mitverantwortung für den Krieg festgelegt hätte - mit allen sich daraus ergebenden 1. Ich schließe mich Karen Louise Remmler an, wie sie in schwerwiegenden Folgen." ihrer Dissertation Maurice Halbwachs' Begriff vom kollek­ 16. Brigitte Galanda, "Die Maßnahmen der Republik Öster• tiven Gedächtnis zusammenfaßt "According to Maurice reich für die Widerstandskämpfer und Opfer des Faschis­ Halbwachs, collective memory represents the percep­ mus- Wiedergutmachung", in: Verdrängte Schuld, ver­ tions, memory images, and identity passed on by a group fehlte Sühne, hrsg. von Sebastian Meissl, Klaus-Dieter to its members." Walter Benjamin's Eingedenken and the Mully und Oliver Rathkolb (Wien: Verlag für Geschichte Structure of Rememberance in lngeborg Bachmann's To­ und Politik, 1986),S. 137-149. desarten, Washington University, 1989, S. 14. Sein un­ 17. Christian S. Ortner, Am Beispiel Helmut Rehder, (Wien: vollendetes Manuskript Das kollektive Gedächtnis er­ Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstan­ schien 1967 in deutscher Sprache beim Ferdinand Enke des, o. D.). Verlag, Stuttgart. 18. Karin Berger, "Aus Angst, uns ein Bild zu zerstören", 2. Talos, Hanisch und Neugebauer behaupten in der Einlei­ "Man hat ja nichts gewußt!" (Wien: Verein zur Förderung tung zum Band NS-Herrschaft in Österreich 1938-1945 feministischer Projekte, 1989), S. 3. (Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1988), S. IX: "Auch 19. ln den letzten zehn Jahren ist das steigende Interesse an wenn es kaum glaubhaft klingt: der hier vorliegende Sam­ Autobiographien und Interviewbüchern anhand der wach­ melband ist der erste Versuch österreichischer Historiker senden Zahl der Publikationen zu sehen (siehe "Litera­ und Sozialwissel")_schaftler, eine Gesamtdarstellung der tur"). NS-Herrschaft in Osterreich zu wagen. Fünfzig Jahre nach 20. Egon Schwarz, Keine Zeit für Eichendorff (Königs• dem sogenannten ,Anschluß'! Das Defizit an Forschung tein!Ts.: Athenäum, 1979), S. 1. wird in seinen Dimensionen erst sichtbar, wenn man ver­ 21. Siehe auch Helga Ernbacher S. 13-14 in ihrer Einleitung gleicht, welche Forschungsleistungen in der Bundesrepu­ zu 1938 -Zuflucht Palästina von Anna Rattner und Lola blik Deutschland mittlerweile erbracht worden sind." Sie Blonder und Erika Thurner S. 9-10 in ihrer Einleitung zu führen den Mangel auf Österreichs Opferstatus zurück. Wien - Belgien - Retour? von Susanne Kriss, Hertha 3. Peter Malina, "Nach dem Krieg. Österreicherinnen als Fuchs-Ligeti und Gundl Herrnstadt-Steinmetz. Siehe Opfer und Täter," in: Österreicher und der Zweite Weft­ auch das erste Kapitel "Female-Centered Themes: Ana­ krieg, hrsg. vom Dokumentationsarchiv des Österreichi• tomy and Destiny", in Gender and Destiny. Women Wri­ schen Widerstandes & Dr. Wolfgang Neugebauer (Wien: ters and the Holocaust (New York/Westport/London: österreichischer Bundesverlag, 1989), S. 161. Greenwood Press, 1986), S. 13-38. 4. Hans Witek & Hans Safrian, Und keiner war dabei. Doku­ 22. Zitiert nach Konrad Paul Liessmann, "Von der Heimatlo­ mente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938 sigkeit des Menschen," in: Forum, XXXVII. Jahrgang, (Wien: Picus V~rlag, 1988), S. 193. Heft Oktober/November 1990, Nr. 442/443, S. 25. 5. Peter Eppel, "Osterreicher im Exil 1938-1945", in: NS­ 23. Detlev J. K. Peukert, Inside Nazi (New Ha­ Herrschaft in Österreich 1938-1945, S. 564-566. ven/London: Yale University Press, 1987), S. 22-23. 6. Carry Hauser, "Vergessen darf ich nicht", in: Vom Reich zu Osterreich, hrsg. von Jochen Jung (: Resi­ denz Verlag, 1938), S. 31. LITERATUR: 7. Hilde Spiel, Rückkehr nach Wien (Frankfurt a. M./: Ullstein, 1989), S. 69-70. Im Jahre 1968 bei Nymphen­ burger Verlagshandlungen erschienen. Autobiographien 8. Eppel, S. 554. Dort schreibt er: "Die Goebbelsche Propa­ von ö~terreichischen Frauen, die ins Exil gingen und ganda, wonach es sich die Emigranten in den Kaffeehäu• nach Osterreich zurückkehrten sern von Paris, London oder New York gut gehen ließen, STELLA KLEIN-LÖW, Erinnerungen (Wien: Jugend & wirkt bis in die Gegenwart nach." Volk, 1980) 9. Karl Böhm zitiert nach Peter Malina, S. 161. MINNA LACHS, Warum schaust du zurück (Wien: Europa 10. Mali Fritz, Essig gegen den Durst (Wien: Verlag für Ge­ Verlag, 1986) sellschaftskritik, 1986), S. 136. FRANZISKA TAUSIG, Shanghai Passage (Wien: Verlag 11. Ruth Wodak et. al., "Wir sind alle unschuldige Täter" für Gesellschaftskritik, 1987) (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990), S. 22-23 und Witek & ANNA RATTNER, 1938 - Zuflucht Palästina (Wien & Safrian, S. 195. Salzburg: Geyer Edition, 1989) 12. Wodak, S. 24. Siehe auch Alexander und Margarete Mit­ scherlichs Die Unfähigkeit zu Trauern (München: Piper, von Frauen im Exil, die nicht nach Österreich zu­ 1967). rückkehrten 13. " Conference" in Henry Steel Commager Docu­ (ANNA RATTNER) LOLA BLONDER, 1938 - Zuflucht ments of American History, 9. Auflage, 2 Bände. (New Palästina (Wien & Salzburg: Geyer Edition, 1989) York: Meredith Corporation, 1971) 2. Bd, S. 479. Öster• KRISS, FUCHS, LIGETI, HERRENSTADT-STEINMETZ, reich wird nicht nur als Opfer erklärt, sondern auch an Wien -Belgien -Retour? (Wien & Salzburg: Geyer seine Verantwortung erinnert: " is reminded, Edition, 1989) however, that she has a responsibility, which she cannot evade, for participation in the war at the side of Hitlerite von Frauen, die in Konzentrationslagern und/oder Germany, and that in the final settlement account will ine­ Gefängnissen waren und nach Österreich zurück• vitably be taken of her own contribution to her Iiberation." kehrten 14. Kurt Waldheim, Im Glaspalast der Weltpolitik (Düssel• MALl FRITZ & HERMINE JURSA, Es lebe das Leben dorf/Wien: Econ Verlag, 1985),S. 51. (Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1983) 15. Waldheim, S. 51. "Es gehörte zu den vielen außerordent• ANTONIA BRUHA, Ich war keine Heidin (Wien: Europa­ lichen Verdiensten Leopold Figls, daßer-als Außenmi• verlag, 1984) nister - in Moskau buchstäblich im letzten Augenblick MARAGRETE SCHÜTTE-LIHOTZKY, Erinnerungen. Aus erreichte, daß 1955 aus dem Text des bereits unter­ dem Widerstand 1938-1945 (Berlin: Verlag Volk und schriftsreifen Staatsvertrages jene Klausel gestrichen Weit, 1985)

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MALl FRITZ, Essig gegen den Durst (Wien: Verlag für Maria Sporrer/Herbert Steiner (Hrsg.), Rosa Jochmann­ Gesellschaftskritik, 1986) Zeitzeugin (Wien: Europaverlag, 1987) CEIJA STOJKA, Wir leben im Verborgenen (Wien: Picus Verlag, 1988) Interviewbuch mit einer jüdischen Frau, HELENE LEGRADI, Das andere Wien (Salzburg & Wien: die im Konzentrationslager war Geyer Edition, o. J. 19887) MARGARETE GLAS-LARSSONN, Ich will reden ANNA KNES, über den Wellen (Kiagenfurt: C. Röchner, (Wien/München/Zürich/New York: Verlag Fritz Mol­ 0. J.) den, 1981) ANNA STRASSER, Tatsachenbericht. März 1938- Mai 1945(St. Valentin, 1981) Autobiographischer Roman HANNA STURM, Die Lebensgeschichte einer Arbeiterin. Interviewbücher mit Frauen, die im Widerstand Vom nach Ravensbrück (Wien: Verlag für arbeiteten Gesellschaftskritik, 1982) Jelka, aus dem Leben einer Kärntner Partisanin (Eisen­ kappe!: Longo Mai, 1984) Seit 1982 werden Zeitzeuginnen von Mitarbeitern Der Himmel ist blau. Kann sein. Frauen im Widerstand 1938-1945 (Wien: promedia, 1985) des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Ich geb' Dir einen Mantel, daß Du ihn noch in Freiheit tra­ Widerstands interviewt. Die Zahl der Interviewten bis gen kannst(Wien: promedia, 1987) Oktober 1990 betrug 725.

KLAUS-DIETER MULLEY "AHNENGAU DES FÜHRERS" Alltag und Herrschaft in "Niederdonau" 1938-1945

EINLEITUNG 1945 in aller Radikalität verwirklicht werden. Die in den Jahren nach 1918 von Vertretern "bürgerlicher" Am 1. August 1948 schrieb ein niederösterreichi• Mittelschichten durch "geistige Zersetzung" und "sitt­ scher Kreisleiter aus dem Internierungslager seiner lichen Verfall" gekennzeichnete angebliche "Desinte­ Familie rückblickend: gration der Gesellschaft", an welcher nach faschisti­ "Unser größter Fehler als Nazi war wohl der, daß schen Vorstellungen vor allem "Marxismus" und De­ wir an ein Idealbild des deutschen Volkes glaubten, mokratie- somit die sozialistische Arbeiterbewegung das, wie wir nach und nach sehen mußten, weit ab - maßgeblichen Anteil hatten, sollten durch die Inte­ von der Wirklichkeit blieb. Eine Siedlungsgemein­ schaft deutsch sprechender Menschen ist noch lan­ gration in einen deutschen ("arischen") Machtstaat ge nicht das deutsche Volk! Ein bluts- und gefühls• unter einem charismatischen "Führer" aufgehalten mäßig gleichartiger Volkskörper hätte vielleicht den werden. Wenn auch die gesellschaftspolitischen Zu­ Anforderungen der schweren Zeit stand gehalten, kunftsvorstellungen der Österreichischen Nationalso­ die bloße Siedlungs- und Sprachgemeinschaft aber zialisten und "völkischen" Deutschnationalen im De­ konnte die Druck- und Zerreißprobe der politischen tail durchaus variierten, so herrschte in diesem "La­ Entwicklung und des Krieges nicht durchhalten! ger" doch ein allgemeiner Grundkonsens über eine Das nennt man tragische Schuld! Die beste Absicht im entsprechenden Zeitpunkt zu errichtende "deut­ und wertvollste Arbeit kann nicht zum Ziele kom­ sche Volksgemeinschaft" vor. Die "Endlösung der so­ men, wenn der vorliegende Werkstoff unrichtig ein­ geschätzt wird." zialen (und für Österreich auch nationalen) Frage" Nicht das fehlende Eingeständnis jeglicher Schuld war programmiert. Am radikalsten formulierte dies an der Errichtung und Aufrechterhaltung der natio­ der in Scheibbs wohnende Privatgelehrte Franz Hai­ nalsozialistischen Gewaltherrschaft interessiert hier, ser in seinen Büchern und Vorträgen im "Deutschen sondern die im Zitat zum Ausdruck kommende Ein­ Club". ln deren "Mitteilungen" wurden seine Werke stellung. Sie kann als handlungsleitende Motivation mit Empfehlung an die Mitglieder besprochen. So for­ gedeutet werden. Es ging auch den niederösterrei• derte ein Rezensent schon 1926 die Abkehr der chischen Nationalsozialisten um die Errichtung eines Deutschnationalen von der "liberalen Hypnose": "bluts- und gefühlsmäßigen Volkskörpers". "in der Überwindung der liberalen Hypnose, die uns Dieses, aus "völkischen Utopien" entwickelte Kon­ gewisse Grundanschauungen, wie falsch verstan­ zept einer nach realistischen Kriterien aufgebauten dene und falsch verwendete Humanität, die Über• ,,Volksgemeinschaft" sollte in den Jahren 1938 bis schätzung der Würde und des Wertes der Men-

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sehen an sich, der sogenannten politischen Frei­ wendet und bezeichnete vor allem das Abdrängen heit, um nur einige der wichtigsten Punkte hervor­ der Tschechen aus angeblich "deutschen" Gebieten. zuheben, in Fleisch und Blut hat übergehen lassen, ln der Zwischenkriegszeit witzelten deutsche Beam­ wird auch für mein Gefühl eine Hauptaufgabe künf• te des Außenministeriums über die "Eindeutschung tigen Wiederaufbaus liegen müssen ... " sozusagen der Österreichischen Wirtschaft" und Von den niederösterreichischen Nationalsozialisten meinten damit den zunehmenden Einfluß der deut­ liegen für die Zeit vor 1938 keine programmatischen schen Großindustrie in Österreich. ln der national­ Äußerungen vor. Doch allein ihre Aussprüche im nie­ sozialistischen Sprachregelung und Praxis hieß derösterreichischen Landtag 1932/33, oder die Radi­ "Eindeutschung" die nach "rassen-biologischen kalisierung der antisemitischen Kampagnen durch Grundsätzen" durchzuführende Eingliederung, "Be­ niederösterreichische Nationalsozialisten 1937/38, handlung" und Angleichung in Sprache, Kultur und ließen für eine Machtübernahme Schlimmes be­ Lebensweise von sogenannten ,,Völkern artverwand­ fürchten. Ihr Handeln vor 1938 zeigt ein Bild grund­ ten Blutes". in dieser Arbeit wird dieser Bedeutungs­ sätzlicher Übereinstimmung mit radikal-"völkischer" inhalt im Sinne von "deutsch machen" bzw. "nationa­ Ideologie. Dieser Aspekt wird nämlich gerne verges­ lisieren", auf alle Maßnahmen zur Errichtung und sen, wenn der interne Machtkampf 1937/38 zwi­ Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Herr­ schen dem niederösterreichischen Landesleiter des schaft in Niederösterreich 1938 bis 1945 ausge­ NSDAP und den sogenannten "Betontnationalen" dehnt. Allein die erzwungene Namensänderung von unter Arthur Seyss-lnquart analysiert wird. Niederösterreich auf "Niederdonau" veranschaulicht Wenn auch, wie sich zeigen sollte, regionale Poli­ eine der vielfältigen Formen der vom Deutschen tik im "Dritten Reich" im hohen Maße von Berlin oder Reich erzwungenen "Eindeutschung". Sie bezeich­ München aus bestimmt wurde, so hat regionale Poli­ net in ihrer Gesamtheit nicht nur Verwaltungs- und tik, gespeist aus frühen "völkischen" Ordnungs­ verfassungsrechtliche Eingliederung des Landes, vorstellungen, oft zu jener "kumulativen Radikalisie­ den aufgrund der ökonomischen und imperialisti­ rung" (Hans Mommsen) der NS-Herrschaft bei­ schen Interessen des Großdeutschen Reiches getragen, welche dieNS-Verbrechen ermöglichte. durchgeführten politisch-sozialen Umgestaltungs­ Eine Landesgeschichte der Jahre 1938 bis 1945 prozeß, sondern meint auch .,Konkretisierung von wird sich also jene vor Ort verbreiteten und diskutier­ Deutschnationalismus durch den Nationalsozialis­ ten Zukunftsvorstellungen als Grundlage der mus" (Anton Staudinger), wie sie sich insbesonders Beschreibung des Herrschaftshandels genauso zu in Verfolgung von Juden, Sinti und Roma, "Asozia­ vergegenwärtigen haben, wie die "Erwartungshaltun­ len", also in der sogenannten "Rassen-", sowie in gen" (Ernst Hanisch) der verschiedenen Schichten der Familien- und Bevölkerungspolitik niederschlug. und Klassen der Bevölkerung. Es ist nicht zu verges­ Zielten auch alle außenpolitischen Maßnahmen sen: Der von vielen Teilen der Bevölkerung nicht nur des Regimes auf die Erlangung der Vorherrschaft aus "völkischen", sondern aus wirtschaftlichen und der "arischen Rasse" in Europa, so sollte im inneren anderen Motiven gewünschte "" an Herrschaftsbereich eben jene sogenannte "Reini­ Deutschland, bezeichnet als "nationale Frage" die gung von allen Minderwertigen", "Volksfremden" und Eigenstaatlichkeit des Landes, und die verfehlte, "Volksfeinden", kurz die "Endlösung der sozialen weil auf dem deutschen Volksbegriff aufbauende Frage" (Götz Aly) durchgeführt werden. "Eindeut­ "Österreich-Ideologie" des Austrataschismus sowie schung" bezeichnet somit einen vielfältigen politi­ gerade die Errichtung und Herrschaft dieses Öster• schen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Pro­ reichischen Konkurrenzfaschismus, welcher für den zeß. Dieses Konzept der von den deutschen Großteil der Arbeiterklasse mit Recht die Unterdrük• Machthabern geleiteten und von der regionalen Eli­ ker im Land suchen ließ und das, wenn auch irreale, ten unterstützten, ja zum Teil radikalisierten Integra­ so doch damals in den Ängsten vorhandene Damo­ tion, zeichnet jenen Rahmen, in dem sich die natio­ klesschwert einer Restaurierung der Habsburger­ nalsozialistische Herrschaft im Spannungsfeld monarchie, diese verschiedenen politischen Gegen­ zwischen gesamtstaatlicher Leitung und Lenkung warts- und Zukunftsprojektionen also, wirkten, und provinzieller Realität im faschistischen Herr­ zusammen mit wirtschaftlichen Problemen, als Folge schaftssystem manifestieren sollte. der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, in unter­ "Eindeutschung" hieß etwa 1938 für die National­ schiedlicher Gewichtung motivierend für einen "An­ sozialisten im "Deutschen Reich" und in Niederöster• schluß", für eine Integration mit Deutschland. Zumin­ reich: dest schmälerten sie das Protestpotential gegen die e Innen- und Außenpolitisch: Schaffung eines Le­ auf einen "Anschluß" gerichteten Aktivitäten im ln­ bens- und Wirtschaftsraumes, welcher als "Grenz­ oder Ausland - und trugen letztlich auch zum Gelin­ gau" die Funktion eines Bollwerkes gegenüber gen der deutschen Annexion Österreichs bei. dem Osten haben und gleichzeitig wirtschaftliche Dies sollte beachtet werden, wenn in der Folge und volkstumspolitische Expansion ermöglichen die Jahre 1938 bis 1945 im Rahmen einer gesell­ sollte. schaftsgeschichtlichen Konzeption als "Eindeut­ e Wirtschaftlich: Nutzbarmachung des Landes, schung" beschrieben werden. Der Terminus "Ein­ seiner seit Ende der Monarchie zum Teil brach deutschung" wurde gegen Ende des 19. Jahrhun­ liegenden industriellen Ressourcen und seiner derts durchaus synonym mit "Germanisierung" ver- landwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit für den

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Wirtschaftsraum eines "Großdeutschen Reiches". 2. die wirtschaftliche Ausrichtung der industriellen • Sozialpolitisch: Schaffung einer "blut- und und landwirtschaftlichen Betriebe sowie die Auf­ gefühlsmäßig verbundenen deutschen Volksge­ rechterhaltung deren Produktion durch Zwangsar­ meinschaft", die unter "Ausmerze von allen beiter behandelt werden. Minderwertigen" aus gesunden, "arischen Men­ 3. Die "Bevölkerungspolitik" bildete einen Schwer­ schen" bestehen sollte. punkt der Maßnahmen der Partei und Verwaltung • Kulturpolitisch: Absicherung der wirtschaftlichen, in Niederösterreich. Dies hieß: "Aussonderung" sozialen und politischen Zielsetzungen durch von "Gemeinschaftsgegnern" und "Gemein­ Stärkung des Landesbewußtseins. Die Nieder­ schaftsfremden". Niederdonau nahm bei manchen österreicher bzw. "Niederdonauer" sollten als stol­ dieser Maßnahmen eine Vorreiterrolle ein. ze Bürger des "Ahnengaues des Führers" die im­ 4. Allerdings ließen sich nicht alle Niederösterrei• perialistischen Ziele des Nationalsozialismus cher, die nun von staatswegen zu "Niederdonau­ bedingungslos unterstützen. er" geworden waren, in das Konzept einer ,,Volks­ Durch den Einsatz terroristischer Mittel, geschickter gemeinschaft" integrieren. Es gab Widerstand Manipulation und kurzfristiger Verbesserung in wirt­ und Resistenz. schaftlichen und sozialen Bereichen gelang es dem 5. Eine kurze Situationsanalyse des Endes der na­ Nationalsozialismus seine Herrschaft trotz abneh­ tionalsozialistischen Herrschaft wird die Überle• mender Zustimmung von Seiten der Bevölkerung un­ gungen abschließen. angefochten bis zur Befreiung durch die alliierten Ar­ meen aufrecht zu halten. Es ist deshalb unter Beachtung des von Hitler­ 1. NS-MACHTERGREIFUNG UND ETABLIERUNG deutschland 1939 begonnenen Krieges und der da­ DES HERRSCHAFTSSYSTEMS mit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Probleme im "Hinterland" zu fragen: Die Machtübernahme vollzog sich in Niederöster• a) wie dieser Entwicklungsprozeß der "Eindeut­ reich durch eine geordnete Übernahme der Landes­ schung" in "Niederdonau" ablief, verwaltung durch die Nationalsozialisten, durch die b) welchen Beitrag die niederösterreichischen sofortige Besetzung nahezu aller Dienststellen des Machthaber für die Beschleunigung dieses Pro­ Landes und durch von der NSDAP organisierte Be­ zesses leisteten, geisterungsstürme, Umzüge und Racheakte an ehe­ c) wie die einzelnen regionalen Herrschaftsträger maligen Gegnern von unten. (Partei, Bürokratie, Wirtschaft, Wehrmacht) und Am Vormittag des 12. März 1938 wurden die Be­ ihre Repräsentanten im Gesamtrahmen der auf amten des Landhauses zu einer Versammlung geru­ Reichsebene unter strukturellen Gesichtspunkten fen, bei der die ersten personellen Veränderungen als "Polykratie" (Peter Hüttenberger) bezeichne­ bekanntgegeben wurden. Die Versammlung wurde ten NS-Herrschaft agierten, von dem seit dem Vorabend als Landeshauptmann d) was und wer wie lange den vom Regime geforder­ agierenden Julius Kampitsch geleitet. Stehend muß• ten lntegrationsprozeß stützte, ten die Beamten das "Horst-Wessel-" und das e) ob und wie sich der Alltag der Menschen verän• "Deutschlandlied" singen. Der der NSDAP, derte, f) welche Gruppen bzw. Maßnahmen in ihren Fol­ gen für das Regime (des)integrierend wirkten, Die folgende Bildserie (Bildarchiv Robert Streibel) zeigt g) inwieweit Widerstand und Resistenz auch als bei einem Besuch des Pionierübungsplatzes in "Ausdeutschung", somit auch zur Erweckung ei­ der "Gau hauptstadt" Krems 1938. nes neuen, vielleicht antifaschistischen Öster• reichbewußtseins, wirken konnten, und letztlich h) welche Folgen die NS-Integration für das Land Niederösterreich in seiner langfristigen sozialen und ökonomischen Entwicklung hatte? Eine vom Verfasser in Arbeit befindliche Studie "Nie­ derösterreich 1938-1945" wird eine Gesamtinterpre­ tation der nationalsozialistischen Herrschaft in Nie­ derästerreich versuchen. Das Handeln von Teilen der Bevölkerung wird genauso der Analyse unterzo­ gen, wie jenes der Regimerepräsentanten. Die folgenden Ausführungen werden in gebotener Kürze deskriptiv- gleichsam zur Illustration des For­ schungsprojekts- einige Aspekte der NS-Herrschaft in Niederösterreich behandeln. Ausgehend von dem genannten Modell der "Eindeutschung" sollen: 1. die Eingliederung Niederösterreichs als "Reichs­ gau" des "Deutschen Reiches" und der Aufbau des nationalsozialistischen Herrschaftssystems,

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Roman Jäger, versuchte in seiner Rede, etwaige sammengetrommelt werden, um Umzüge und Ver­ "Eindeutschungs"-Befürchtungen der zum Großteil sammlungen zu organisieren. Bei der Besetzung doch christlich-sozialen Beamtenschaft zu zerstreu- von Bürgermeisterposten mußte auf Nicht-National­ en: sozialisten zurückgegriffen werden, da es in Zwerg­ "Fürchten Sie nicht, daß wir verpreußt werden. Ich gemeinden kaum Parteimitglieder gab. Dagegen kenne Preußen und das übrige Deutschland und hatte die NSDAP in den größeren Ortschaften be­ kann sagen, daß wir Österreicher in mancher Hin­ reits seit Frühjahr einen Mitgliederansturm von soge­ sicht mehr Preußen sind, als die draußen!" nannten "Konjunkturrittern" zu bewältigen: in Melk Wenige Stunden später wurde die Bildung der neuen etwa, ließ sich der den Beitritt zur Landesregierung vollzogen: Dr. Roman Jäger wurde NSDAP und die Ausstellung von sogenannten "ille­ neuer Landeshauptmann für Niederösterreich, Lan­ galen" Mitgliedsnummern bezahlen. desstadthalter blieb Julius Kampitsch. Am 14. März, Bereits am 13. März 1938 hatte Hitler den saar­ anläßlich der Fahrt Hitlers nach Österreich, prokla­ pfälzischen Gauleiter Josef Brücke! zum Beauftrag­ mierte Jäger für Niederösterreich den "Ahnengau ten für die von ihm angeordnete "Volksabstimmung" des Führers". in einem Telegramm an Hitler ver­ bestellt. Brücke! sollte zusammen mit einem Stab sprach er: "reichsdeutscher" Beamter und Parteifunktionäre die "Niederösterreich als frühester und sicherster Hort der deutschen Ostmarksendung gelobt in diesem Neuorganisation der NSDAP in Österreich durchfüh• beglückenden Augenblick ewige Treue und unver­ ren. Die bisherigen Gauleiter der NSDAP wurden zu brüchliche Gefolgschaft. Der Gau Ihrer Ahnen bleibt Gauwahlleitern und sollten ihr Amt vorerst kommissa­ deutsch und nationalsozialistisch für immer." risch ausüben. Auch auf den unteren Ebenen der Was das hieß bekamen jüdische Beamte sogleich zu Kreise und Ortsgruppen wurde so verfahren. Die spüren: Sie wurden zusammen mit Vertrauten des NSDAP wurde zur Wahlkampfmaschine. Es setzte ei­ austrofaschistischen Regimes ihres Dienstes enth­ ne Propagandalawine ein, wie sie das Land noch nie oben. Der Abstammungsnachweis wurde zum An­ vorher gesehen hatte. Die einzelnen Funktionäre der stellungserfordernis. Bereits am Abend des 11. März Partei versuchten sich gegenseitig an Radikalität und war der niederösterreichische Sicherheitsdirektor Dr. Durchsetzungsvermögen zu übertreffen. Massenver­ Gautsch verhaftet und durch Dr. Fritz Simmer er­ anstaltungen wurden vor allem in den Industrieorten setzt worden. Am 13. März wurden per Regierungs­ abgehalten. Allein in Neunkirchen sollen am 9. April beschluß offiziell die Gemeindetage aufgelöst, und 30.000 Menschen zusammengekommen sein, um somit die in vielen Orten bereits vollzogene Macht­ den Führer der "Deutschen Arbeitsfront", Reichsor­ übernahme nachträglich legalisiert. Zum kommis­ ganisationsleiter Robert Ley, zu hören. Höchste sarischen Leiter der ebenfalls von den Nationalso­ Funktionäre von Partei und Staat besuchten Nieder­ zialisten besetzten niederösterreichischen Landwirt­ österreich. Robert Ley sprach in Wr. Neustadt, Frank schaftskammer wurde der Univ.-Doz. Dr. Ludwig in Krems, Reden hielten Darre, Dietrich und Sauckel. Löhr bestellt. Während in allen Regionalzeitungen und auf Pla­ Während Jäger an Hitler telegraphierte, setzten katen die "Feierliche Erklärung der Österreichischen örtliche NSDAP-Formationen ihren bereits am Bischöfe" zum Anschluß und Kardinal lnnitzers "Heil Abend des 11. März 1938 begonnenen Rachefeld­ Hitler" gezeigt wurde, ist ein entsprechender Aufruf zug gegen Gegner fort. in allen Bezirken kam es zu des St. Pöltner Bischofs Memelauer nicht bekannt. Verhaftungen, Mißhandlungen und brutalen Über• Dafür zeichneten sich die ehemaligen niederöster• griffen. Vor allem die früheren Repräsentanten der reichischen SDAP-Funktionäre durch NS-wohlwol­ austrofaschistischen Diktatur, aber auch Juden, wa­ lende Stellungnahmen aus: Heinrich Schneidmadl ren davon betroffen. Die Gewalttätigkeiten nahmen und der Kremser Abgeordnete Lazar gaben ähnliche derart überhand, daß sich die Machthaber gezwun­ Erklärungen wie ab. gen sahen, gegen ihre eigenen Parteigenossen vor­ Der Propagandafeldzug richtete sich in erster Li­ zugehen. nie gegen die Arbeiterschaft, welche für den Natio­ Davon unbeeinflußt ging die gezielt nalsozialismus geworben werden sollte. Oie hohe vor. Der frühere Landeshauptmann Josef Reither Arbeitslosigkeit und die damit bedingte schlechte so­ wurde im Auftrag der GESTAPO vom Gendarmerie­ ziale Lage ließen den Nationalsozialismus erste Er­ postenkommando Tulln festgenommen und nach folge erzielen. Bereits im März verkündete Gauleiter Wien ins Straflandesgericht transportiert. in einer Roman Jäger Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Nacht- und Nebel-Aktion wurde er am 1. April zu­ noch vor der "Volkabstimmung" fuhren die ersten Ar­ sammen mit rund 100 anderen prominenten Häftlin• beiter ins "Reich". Die Nationalsozialistische Volks­ gen nach Dachau transportiert. wohlfahrt (NSV) und der "Hilfszug Bayern" verteilten Während in den größeren Städten und Gemein­ Lebensmittelpakete. den des Landes von der NSDAP organisierte "Freu­ Am 25. März 1938 gab der niederösterreichische denumzüge" abgehalten wurden, spürte man in klei­ Landeshauptmann und Gauleiter der NSDAP, Dr. nen Gemeinden vorerst noch wenig von den Roman Jäger, sein "Arbeitsprogramm" für Nieder­ geänderten politischen Verhältnissen. Die groBteils österreich bekannt: kleinbäuerliche Bevölkerung stand dem Nationalso­ "Als wir nach dem Zusammenbruch des alten Regi­ zialismus eher skeptisch gegenüber. Vielfach muß• mes die Gestaltung der Dinge in Niederösterreich ten die NSDAP-Mitglieder mehrerer Ortschaften zu- übernommen haben, stand für uns eines fest: Nie-

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derästerreich muß geholfen werden. Dieses schö• wie in der Parteikanzlei erste Überlegungen zur ne, an wirtschaftlichen Möglichkeiten reiche Land Neuordnung des Landes Österreich sowie zur per­ und seine arbeitsame Bevölkerung muß zu neuen sonellen Besetzung, angestellt. Niederösterreichs Leben erwachen." NSDAP war in einer schlechten Startposition: Der Das "Regierungsprogramm" sah im einzelnen vor: frühere einflu Breiehe Gau- und Landesleiter der 1. Abbau der Arbeitslosigkeit durch Erstellung eines NSDAP, , war nicht nur bei Hitler, son­ Sofortprogramms mit Bereitstellung der dafür er­ dern bei nahezu allen seinen früheren Kollegen in forderlichen Mittel von 16,3 Millionen S. Ungnade gefallen, Landeshauptmann und Gauleiter 2. Ausbau von Einrichtungen des Fürsorge- und Ge­ Dr. Roman Jäger ein treuer Leopold-Anhänger. Für sundheitswesens. die niederösterreichischen "Parteigenossen" schien 3. Hebung des Fremdenverkehrs durch die Durch­ es eine Selbstverständlichkeit, daß ihr Leopold - führung "großzügiger Veranstaltungen echt deut­ 1927 bis 1938 in höchsten Parteifunktionen tätig -, scher Festkultur". der neue Gauleiter und Landeshauptmann werden 4. Errichtung eines gewerblichen Fortbildungsschul­ würde. Als aber Dr. Jäger erklärte, daß er nicht in wesens, welches den "allermodernsten Ansprü• Konkurrenz zu Leopold Gauleiter werden wolle, chen" entsprechen sollte. blieb als Niederösterreicher nur der St. Pöltner Arzt 5. Abbau der Subventionspolitik in der Landwirt­ Dr. übrig. Jury, der einen SS-Rang inne­ schaft und Modernisierung derselben. hatte, wurde wahrscheinlich auch vom Reichsführer 6. Reformierung der Steuerpolitik, wobei als erste SS favorisiert und Ende Mai 1938 Maßnahme die Abschaffung der Fahrradsteuer als Gauleiter der NSDAP bestellt. Als Stellvertreter angekündigt wurde. wurde ihm der bisher in der Reichskanzlei tätige Karl 7. Ausbau der Elektrizitätswirtschaft durch die Ver­ Gerland, gleichsam als Aufpasser, zur Seite gestellt. wirklichung bisher zurückgestellter Projekte. Jä• Einer der von vielen Dienststellen unterstützten ger kündigte den Bau des bereits im Planungssta­ Pläne sah überhaupt nur die Schaffung von vier dium befindlichen Donaukraftwerkes Ybbs­ Reichsgauen vor, was die vollkommene Auflösung Persenbeug an. Niederösterreichs bedeutet hätte. Hitler selbst unter­ Nur der Rückgriff auf geplante, aber nicht durchge­ sagte derartige Konzeptionen. Dutzende andere Va­ führte, Vorhaben der ständestaatliehen Verwaltung rianten wurden in der Folge durchgespielt. Die erste einerseits sowie die wirtschaftliche Eingliederung scheinbar definitive Veröffentlichung der "Gaugren­ Österreichs in den größeren deutschen Markt, bot zen" verursachte in Niederösterreich einen Schock, den NS Machthabern die Möglichkeit derartige Pro­ zumal man wußte, daß die räumliche Gliederung der gramme zu erstellen. Arbeitsbeschaffung für die Ar­ Partei mit den Landesgrenzen nahezu identisch sein beitslosen, bessere Aus- und Fortbildung für das werde: Niederösterreich hatte, das wußte man Gewerbe, Abbau der Überschußgüter Wein und Ge­ schon längere Zeit, Gebiete an Wien abzugeben - treide für die Bauern, Betätigungsfelder als Manager gleichzeitig aber wurden nun dem Gau Steiermark für die Beamtenschaft- das Programm schien für al­ die Bezirkshauptmannschaften , le Schichten und Klassen der Bevölkerung, für alle Teile von Bruck a. d. Leitha sowie das gesamte Bur­ Wirtschaftszweige etwas zu bieten. genland zugeteilt. Diese Meldung wurde nach hefti­ Das Ergebnis der am 1 0. 4. 1938 abgehaltenen gen Protesten und Interventionen korrigiert. Der mit ,,Volksabstimmung" war, angesichts des nationalso­ 31. Mai 1938 bekanntgegebene Gebietsumfang des zialistischen Drucks, eine nahezu 1 00%-Zustim­ NSDAP-Gaues "Niederdonau" umfaßte: Das Gebiet mung: Von den knapp 1 Million Stimmberechtigten des ehemaligen Bundeslandes Niederösterreich mit stimmten 1.491 mit "nein" und 1.104 Stimmen waren den vier nördlichen Bezirken des Burgenlandes ungültig. Hunderte Gemeinden konnten das von den (Neusiedl, , Oberpullendorf und Matters­ Nationalsozialisten geforderte 100%-Ergebnis brin­ burg) und abzüglich der Erweiterungen von Groß- gen. Eine detaillierte Betrachtung zeigt, daß die An­ zahl der "Nein"-Stimmen in den Industriegemeinden tendenziell am höchsten war, wenn auch noch im­ mer verschwindend gering. Über 20 "Nein"-Stimmen hatten Baden (35/31), die später zu Wien gehörigen Gemeinden Mauer (31/16), Hadersdorf (25/19), Brunn a. Gebirge (21/1 0), Mödling (27/26) sowie Korneuburg (21/2), Neunkirchen (20/7), Hohenberg (25/1 0) und Klosterneuburg (32/26). Nahezu überall mußte offen, ohne Benützung der Wahlzelle, abge­ stimmt werden. Konnte man eine "nein"-Stimme identifizieren, oder stimmte jemand demonstrativ of­ fen ab - wie ein Mann in Lunz/See - wurde er von der Gendarmerie abgeführt, von der Bevölkerung beschimpft und von der GESTAPO vernommen. Während der propagandistischen Vorbereitung der Volksabstimmung wurden im Stabe Brückels so-

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Wien, welches nun im Süden ungefähr bis Baden, im Krupp A. G. anläßlich der Übernahme der Berndor­ Westen bis Preßbaum - Alland, im Norden bis fer Metallwarenfabrik verdeutlicht die Zielsetzung bei knapp vor Korneuburg und im Osten bis Fischamend der "Eindeutschung" der Österreichischen Industrie: reichte. Durch die auf deutschen Druck im Septem­ "Ich darf wohl als selbstverständlich voraussetzen", ber 1938 durchgeführte Eingliederung des Sudeten­ schrieb der Göring-Beauftragte für Wirtschaftsfra­ landes ins "Deutsche Reich" wurde Niederdonau um gen, "daß sie bei der Übernahme dieses Werkes al­ Gebiete von der Tschechoslowakei erweitert. Hier les tun werden, um möglichst bald die Österreichi• vor allem um die Verwaltungsbezirke Neubistritz, sche Wirtschaft in den Zustand zu bringen, der nun Znaim und Nikolsburg sowie um ein Gebiet um En­ im allgemeinen deutschen, nicht nur Österreichi• schen Interesse allein wünschenswert ist." gerau bei Preßburg. Ab der Besetzung der Tsche­ choslowakei und der Errichtung des "Protektorats" Durch "Arisierung", d. h. durch den Raub jüdischer unterhielt die ND-Gauleitung Kreisleitungen in Brünn Betriebe sowie durch Ausbau bestehender unproduk­ und lglau. Bei der Gauleitung wurde ein "Verbin­ tiver Betriebe, wollte man das eigene Firmenimperi­ dungsstab Böhmen und Mähren" gegründet, auf um verstärken. Außerdem wollte man sich die zum dessen Tätigkeit Jury groBen Wert legte, zu mal er Teil noch immer guten Handelsbeziehungen nieder­ mit weiteren Gebietszuwächsen rechnete, ja sogar österreichischer Unternehmen in die Tschechoslowa­ von einer "Gauhauptstadt" Brünn träumte. kei und in den Südosten nutzbar machen. Darüber• Die räumliche Gliederung der Partei wurde nahe­ hinaus: Im Zuge der forcierten Aufrüstung im Deut­ zu gleich von der staatlichen Verwaltung übernom• schen Reich war es zu einem Arbeitskräfte- und men. Mit dem Ostmarkgesetz vom 14. April 1939 Rohstoffmangel gekommen. Die industriellen Kapazi­ wurde Niederösterreich als Verwaltungs­ täten waren weitgehend ausgelastet. Österreich bot gebiet des "Deutschen Reiches" und mit einer be­ nun die Chance, was die deutschen Industriellen scheidenen Selbstverwaltung ausgestattet. schon sehr früh erkannten, hier sich Firmen nicht nur einzuverleiben, sondern auch billig produzieren zu können. Diese deutschen Interessen trafen sich mit 2. WIRTSCHAFT UND MODERNISJERUNG den wirtschaftlichen Vorstellungen der niederöster• Die Besuche von "Reichsmarschall" Göring, der auch reichischen Regionalpolitiker. in der Beseitigung der gleichzeitig Hitlers "Beauftragter für die Durchführung Arbeitslosigkeit, im Wiederaufbau einer starken und des Vierjahresplanes" war, und vom Leiter des leistungsfähigen Industrie sahen auch sie die Chan­ Reichsnährstandes Walther Darree im März 1938 ce für eine wirtschafliehe Gesundung des Landes. dienten nicht allein propagandistischen Zwecken, Darüberhinaus sollte die Infrastruktur verbessert, die sondern hatten ökonomische Interessen. Mit der An­ Energiegewinnung erweitert, der Fremdenverkehr nexion Österreichs setzte ein Sturm deutscher Fir­ gesteigert und die Landwirtschaft entschuldet wer­ men auf österreichisches Kapital ein. Vor allem die den. niederösterreichischen Konzernbetriebe der Credit­ Göring, der nicht nur gesamtwirtschaftliche, son­ anstalt waren davon betroffen. Die "Reichswerke A. dern auch die Interessen seines Stahlkonzerns (Her­ G. Hermann Göring" übernahmen die Feinstahlwerke mann-Göring-Werke) und auch die des Luftfahrtmi­ Traisen, die Werke der Gebrüder Böhler A. G., die nisters vertrat, bestimmte den Raum Wiener sich um die "Enzesfelder" vergrößerten, gingen mehr­ Neustadt zum Zentrum der Luftwaffe und der Luftrü• heitlich an den "Deutschen Stahlverein", die Friedrich stung in Österreich: Die infrastrukturellen Vorausset­ Krupp A. G. übernahm von der Creditanstalt fast ge­ zungen waren dafür mit den zwei Wr. Neustädter schenkt die Aktienmehrheit der Berndorfer Metallwa­ Flughäfen und dem Flughafen von Bad Vöslau-Kot• renfabrik etc. Mit welchen Mitteln und Zielsetzungen tingbrunn sowie durch stillgelegte Werksanlagen in hierbei gearbeitet wurde, veranschaulichen zwei Bei­ der unmittelbaren Umgebung optimal gegeben. Die spiele: Am 24. März sandte der Gauleiter der NSDAP von Göring gegründeten "Wiener Neustädter Flug­ von Thüringer und "Stiftungsführer" der Wilhelm­ zeug Werke" sollten zu einem der größten Rü• Gustloff-Werke ein Telegramm an Göring betreffend stungskonzerne auf österreichischem Boden wer­ der Arisierung der Hirtenberger Patronenfabrik. den. Zeitweise waren 20.000 Arbeiter mit dem Sauekel schrieb: Aufbau des Werkes beschäftigt, welches am 30. "Auf ursprüngliche Empfehlung von Pg. Keppler be­ März 1939 die Fertigstellung des ersten "allein aus absichtige ich, für die Wilhelm-Gustloff-Stiftung die den Mitteln der Ostmark" erzeugten Flugzeuges mel­ Hirtenberger Patronenfabrik zu übernehmen. Diese dete. An einem zweiten Rüstungsschwerpunkt Linz Produktion ist für unsere nationalsozialistischen - Steyr - St. Valentin war der Raum Niederdonau Wilhelm-Gustloff-Werke dringend notwendig. Ich vorerst nur peripher beteiligt. Das sogenannte "Nibe­ bitte daher, da sich unter anderen für diese ehe­ lungenwerk" der Steyr-Werke in St. Valentin erzeug­ mals jüdische Fabrik in Österreich auch die I. G.­ te Panzer. in Moosbierbaum wurde von der IG-Far­ Farben sehr stark interessieren, meiner Bitte zu entsprechen und der Erwerbung dieser Fabrik ben eine Anlage zur Treibstoffherstellung errichtet. durch die Wilhelm-Gustloff-Stiftung Ihrerseits zuzu­ Entlang der Donau sollten mehrere große Alumini­ stimmen. Ich bin der Meinung, daß die I. G.-Farben umwerke entstehen. Diese Einbeziehung Niederdo­ nicht alles haben müssen." naus in die Rüstungsindustrie brachte vorderhand Ein Schreiben von an den stellver­ einen Abbau der Arbeitslosigkeit und eine Phase tretenden Aufsichtsratsvorsitzenden der Friedrich des wirtschaftlichen Aufschwunges für das ganze

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Land. Die großen Industrien beschäftigten zahlrei­ statt: Wollsocken vom Kaufmann wurde gegen Fett, che Zulieferfirmen, das Kleingewerbe und der Ein­ Häute oder Eier getauscht. Im Rahmen einer großen zelhandel konnte seine Umsätze steigern. Doch be­ Umschuldungsaktion mußten nun Kleinschulden von reits nach nicht weniger als drei Jahren, als der erste den Gläubigern unter dem Druck der NSDAP nachge­ große Luftangriff Wr. Neustadt traf und bald ganz lassen werden, größere Beträge wurden auf Antrag Niederdonau in den Luftkrieg miteinbezogen wurde, auf 51 Jahre umgeschuldet. Allerdings wurde der wünschte man sich, man hätte keine kriegswichtige Bauer damit vom NS-Herrschaftssystem abhängig Industrie. Die anfängliche Begeisterung wich der Er­ und somit erpreßbar: Neuverschuldung und Veräu ße• nüchterung. rung wurden genehmigungspflichtig, Betriebsüber• Die großen Rüstungsvorhaben sowohl im, wie wachungen konnten angeordnet werden. Diese Ein­ auch außerhalb des Reichsgaues, benötigten große schränkung der bäuerlichen Wirtschaftsfreiheit, die Mengen von Energie. Der Ausbau der niederöster• viele Bauern klar erkannten, trug dazu bei, daß in Nie­ reichischen Erdölfelder wurde voran- und erstmals derdonau bis 1940 von 22.000 eingebrachten Anträ• professionell betrieben. Die Rohölförderung stieg gen über ein Drittel, nämlich 8.000, wieder zurückge• von 33.000 t im Jahr 1933 auf über 1 ,200.000 t im zogen wurde. Darüber hinaus wurde die Durchfüh• Jahre 1944. Die Schaffung eines einheitlichen Ver­ rung der "Entschuldung" von vielen Bauern als bundnetzes elektrischer Energie durch die "Gauwer­ Selbstverständlichkeit, und nicht als große wirt­ ke Niederdonau" war einer jener nationalsozialisti­ schaftspolitische Leistung des Nationalsozialismus schen Maßnahmen, die sowohl im regionalen, wie gesehen. Allerdings brachte die "Entschuldung" Fort­ auch im kriegswirtschaftlichen Interesse lagen. schritte in der Mechanisierung der Landwirtschaft. Bereits 1941, unter Eindruck der militärischen Sie­ Besonders in den Jahren bis 1942, als noch landwirt­ ge des "Deutschen Reiches" begann man in Nieder­ schaftliche Motoren und Maschinen erzeugt werden donau mit der wirtschaftlichen Nachkriegsplanung. durften, wurde von den Bauern, die nun mehr Geld Man träumte bereits von einer kontinentalen Groß• hatten, vom Angebot der Mechanisierung Gebrauch raumwirtschaft, in welcher Niederdonau auf Grund gemacht. seiner geopolitischen Lage eine besondere Rolle zu­ Die Mechanisierung der Landwirtschaft ging zu fallen sollte. Der "Dr. Hugo Jury-Plan" war wohl das langsam, um ein Problem nationalsozialistischer größte wirtschaftlich-soziale Planungsvorhaben in Wirtschaftspolitik zu lösen: Durch den raschen Auf­ der sogenannten "Ostmark". Bei der Pressevorstel­ und Ausbau von Industrie und Infrastruktur setzte ei­ lung meinte der Gauwirtschaftsberater über die In­ ne Landflucht von der Landwirtschaft zur Industrie tention der Planung: und zum Bauwesen ein. Diese nahm so große "Die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Leistungsstei­ Formen an, daß die Nationalsozialisten darin eine gerung muß allen vorschweben: die besondere Be­ Gefährdung der "Ernährungssicherung" erblickten. deutung des Gaues in seiner Grenzlage. Der Gau­ Weder durch Zwangsverpflichtungen, Abwande­ leiter will einen Mustergau schaffen und deshalb rungsverbot und Lohnerhöhungen konnte man die­ müsse der !reuen und arbeitsamen Bevölkerung ei­ sem Problem beikommen. Kinder und Familienan­ ne besser Lebensmöglichkeit geboten werden." gehörige wurden in der Folge verstärkt zur Arbeits­ Der Traum von einer wirtschaftlich-sozialen Umge­ leistung in der Landwirtschaft herangezogen. Letzt­ staltung, von einer Drehscheibe Niederdonaus nach lich, als der Arbeitskräftemangel durch den Kriegs­ Ost und Südosten, wurde 1942 jäh unterbrochen, als beginn bedrohliche Formen anzunehmen drohte, infolge der Kriegsereignisse auf "Führerbefehl" alle griff man auf den Einsatz von ausländischen Zivilar­ Nachkriegsplanungen einzustellen waren. beitern und später von Kriegsgefangenen zurück. Der Auf- und Ausbau der niederösterreichischen Ohne den Einsatz von ausländischen Zivilarbei­ Industrie, der hier mit einigen wenigen Beispielen im tern und Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit wäre Rahmen einer "wirtschaftlichen Eindeutigkeit" be­ die Wirtschaft, sowohl die Industrie-, wie die Iandwirt- schrieben wurde, mußte durch eine Modernisierung und Technisierung der Landwirtschaft abgesichert werden. Eine krisenunabhängige, autarke Ernäh• rungsbasis ist Grundvoraussetzung für jedes Expan­ sionsstreben. Die nationalsozialistische "Blut- und Boden-Ideologie", die Betonung eines auf die Ernäh• rungssicherung des gesamten "deutschen Volkes" re­ duzierten Aufgabenbereich des Bauerns, sollte dem Nachdruck verleihen. Auch hier trafen sich die Wün• sche der deutschen Wirtschaftsstrategen mit regio­ nalen Notwendigkeiten. Die niederösterreichische Landwirtschaft war stark verschuldet. Viele Betriebe waren 1938 von Zwangsversteigerung bedroht. Die Bauern hatten nicht nur bei Banken und Sparkassen, sondern auch bei Händlern, Ärzten oder in Gasthäu• sern Schulden. ln manchen Gebieten des Bundeslan­ des fand in den drei ßiger Jahren ein Naturalhandel

13 IWK-Mitteilungen schaftliehe Produktion ab 1940 nicht mehr aufrecht­ sichern sollte. Ein Mittel dieser imperialistischen zuerhalten gewesen. Durch den Masseneinsatz von Strategie war die Errichtung einer sogenannten Zwangsarbeitern sicherte sich das nationalsozialisti­ "Volksgemeinschaft", die alle "Deutschen" nach ras­ sche Regime die Fortführung ihres Eroberungskrie­ sistischen Kriterien, umfassen sollte. "Volksgemein­ ges. Das "Leben in der Heimat" war genauso den schaft'' hieß nicht Auflösung bestehender gesell­ Zwangsarbeitern zu verdanken, wie der Aufbau jener schaftlicher Unterschiede in Besitz, Einkommen und Industrie, die später nach 1947 die Flaggschiffe der Status, sondern den Aufbau einer "bluts- und gesin­ "Verstaatlichten" darstellen sollten. Bereits im August nungsmäßigen Gefühlsgemeinschaft" zur Unterstüt• 1941 waren im Landarbeitsbezirk Niederdonau-Wien zung der Maßnahmen der nationalsozialistischen über 88.500 ausländische Arbeitskräfte in Industrie Diktatur. Dies hieß konkret: und Landwirtschaft beschäftigt. Bereits 1943 war der 1. Aufbau von Gemeinschaften unter der Führung Anteil von Zwangsarbeitern in einzelnen Industriebe­ der Staatspartei des "Dritten Reiches", der trieben über 60% der Belegschaft. Über die Behand­ NSDAP und ihrer "Gliederungen", in Beruf und lung dieser Arbeiter berichtete der Landrat von Kar­ Freizeit, zu Hause: "Dorfgemeinschaft" und "Be­ neuburg im Jänner 1943: triebsgemeinschaft" wurde allerorts propagiert. "Bei einem Teil der bei der Schiffswerft in Korneu­ 2. Vollkommene Unterordnung unter die Anweisun­ burg beschäftigten französischen Zivilarbeiter ha­ gen und Befehle von Partei und Staat. ben sich deutschfeindliche Strömungen geltend ge­ 3. Verfolgung und Vernichtung von allem, das dem macht. Die Belegschaft eines Zimmers hat Aufbau dieser rassistisch begründeten "Volksge­ deutschfeindliche Lieder gesungen und sich provo­ zierend geäußert, sie wolle in die Heimat zurück, meinschaft" entgegen zu stehen schien. Nur die um gegen die Achsenmächte kämpfen zu können. "deutschen Niederösterreicher" sollten in einen Auf Grund der Ermittlungsverfahren wurden 16 Gesamtkörper nationalsozialistischer Gesinnung französische Staatsangehörige im Wege der GE­ integriert werden. STAPO in das Arbeitserziehungslager Ober-Lan­ "Eindeutschung" hieß in diesem Zusammenhang zendort eingeliefert." Konkretisierung von ideologisch vorgeformten völ• Als der Mangel an Arbeitskräften immer größer wur­ kisch-rassistischen Deutschnationalismus. de, wurden Häftlinge aus Konzentrationslagern vor Es scheint, daß nur in wenigen anderen Gebieten allem in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Auf dem des sogenannten "Großdeutschen Reiches" die Be­ Gebiet des heutigen Niederösterreich wurden 1944 strebungen zur Etablierung einer "deutschen Volks­ elf Konzentrationslager als Au Benlager des KZ gemeinschaft" so zielgerichtet aufeinander abge­ Mauthausen in Melk, Wr. Neustadt, Wr. Neudorf, stimmt verfolgt wurden als in Niederdonau. Hinterbrühl, Hirtenberg, Schwechat, Amstetten, St. Der Maßnahmenkatalog der von der Gauleitung Valentin und St. Aegyd errichtet. Die Konzentra­ Niederdonau mit maßgeblicher Unterstützung der tionslager wurden zum Arbeitskräftereservoir für die staatlichen Behörde und der Wirtschaft vorgelegt Rüstungsindustrie und erlangten somit wirtschaftli­ wurde, reichte von der Förderung familienpolitischer che Bedeutung. Die Häftlinge mußten unter un­ Einrichtungen über die Verfolgung von Juden, Volks­ menschlichen Bedingungen zum Teil in unterirdi­ gruppen und Kirchen bis zur Vernichtung von schen Stollenanlagen arbeiten: So etwa in Melk, wo "Zigeunern", sogenannten "Asozialen" und psy­ unter der Tarnbezeichnung "Quarz" eine unterirdi­ chisch und physisch Kranken. Auch waren die von sche Anlage zur Herstellung von Kugellager für Niederösterreichern im März und April 1945 began­ Steyr-Daimler-Puch errichtet wurde, oder in der leer­ genen Morde und Massaker nicht die Tat einiger we­ gepumpten Seegrotte bei Hinterbrühl, wo "Heinkei"­ niger Fanatiker, sondern die grausam-logische Kon­ Volksjäger hergestellt wurden. Walther Kastner, da­ sequenz von sieben Jahren rassenpolitischer mals Direktor von Semperit, erzählte von einem Schulung und Indoktrinierung. Besuch der unterirdischen Hallen bei Melk: Im Jänner 1940 präsentierte das "rassenpolitische "Ich besuchte diese Betriebsstätten, die SS-Leitung Amt" der NSDAP Niederdonau eine Wanderausstel­ führte mich, der Eindruck war schauerlich: schlech­ lung, in der alle sogenannten "bevölkerungspoliti• te Luft und Beleuchtung, allerorten Schmutz, aus Fertigungsabfällen und Sand gemischt; im trüben schen Maßnahmen" zusammengefaßt wurden. Leit­ Kühlwasser wuschen die Arbeiter ihr Eßgeschirr, es sätze dabei waren: "Reinerhaltung des Blutes", "Be­ waren durchwegs Gefangene. Ein Vorarbeiter, ein seitigung der Minderwertigkeit" und "Förderung der kräftiger Mann, schlug mit einem Knüppel einen Besten": schwachen Arbeiter ... " Beim Betreten der mit 100 Tafeln ausgestatteten Im April 1945 wurden die Konzentrationslager im Ausstellung war eine Tafel mit den Schlußworten heutigen Niederösterreich aufgelassen und die Häft• aus Hitlers "Mein Kampf" angebracht: linge mußten zum Teil zu Fuß den Todesmarsch "Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung nach Mauthausen antreten. sich der Pflege seiner rassischen Erziehung wid­ met, muß eines Tages zum Herrn der Erde wer­ den." 3. BEVÖLKERUNGSPOLITIK ln Niederdonau wurde genau nach jenen Zielsetzun­ Das Ziel des Nationalsozialismus war der Aufbau gen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik einer Gesellschaft, welche die Vorherrschaft des verfahren, die Reichsinnenminister Frick 1934 mit "Deutschen Reiches" in Europa ermöglichen und folgenden Worten kennzeichnete:

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"Seien wir uns dessen bewußt, daß mit der Ausmer­ Gemeinde sei "judenrein". Insgesamt 2.612 Ge­ ze und Auslese, die durch unsere rassenhygieni­ schäfte, Liegenschaften, Betriebsstätten und Fa­ sche und rassenpolitische Gesetzgebung eingelei­ briken wurden "arisiert", dies hieß, von sogenann­ tet werden, noch nichts erreicht ist, wenn wir nicht ten "arischen" Käufern geraubt. Im Juli 1938 fand durch positive bevölkerungspolitische Maßnahmen die Familiengründung und die ausreichende Fort­ in Krems der erste "Rassenschande"-Prozeß ge­ pflanzung des wertvollen erbgesunden deutschen gen einen Fleischhauermeister aus Eggenburg Menschen erreichen." statt. ln der sogenannten "Reichskristallnacht" e Letzteres sollte in Niederdonau nicht nur durch ordnete Gauleiter Dr. Hugo Jury an: "Demonstra­ die reichseinheitlich eingeführten Ehestandsdarle­ tionen gegen Juden und jüdische Geschäfte" sei­ hen und Kinderbeihilfen erreicht werden, sondern en nicht zu unterbinden, "aber auch nicht zu orga­ durch eine besondere Erfassung aller "erbtüchti• nisieren". Das jüdische Vermögen sollte offenbar ger Familien". Darüber hinaus wurden besondere dem Staat möglichst unversehrt in die Hände fal­ Kurse für Frauen, die keine Kinder bekommen len. Dennoch: ln St. Pölten drang eine aufge­ konnten, abgehalten. Beratungsstellen für "kinder­ brachte Menschenmeute in den jüdischen Tempel lose Ehen" wurden geschaffen und als Pilotprojekt ein und verbrannte anschließend öffentlich die stolz präsentiert. ln der arisierten Lungenheilstät• Schriften der jüdischen Jugendbücherei. Kurz da­ te von Pernitz wurde für die sogenannte "Ost­ rauf plante man in Niederdonau als Pilotprojekt mark" das erste "Lebensborn"-Heim ("Wiener­ die Errichtung von Arbeitslagern für Juden. Die wald") der SS zur Betreuung lediger Mütter bis 1941 nicht ausgewanderten Juden wurden in gegründet. Sogenannte "NS-Schwestern" sollten die Vernichtungslager deportiert. die Gesundheitspflege in kleinen Gemeinden för• e Die Sinti (NÖ) und Roma (Bgld.) wurden in dern und überwachen. Niederösterreich schon immer als "Landplage" e ln den Grenzkreisen gegen Nordosten wurden zur gesehen. Die Bezirkshauptmannschaften mach­ Züchtung eines bäuerlichen Nachwuchses eigene ten immer wieder Vorschläge zur "Eindämmung Landdienstlager eingerichtet: Die jungen Men­ des Zigeunerunwesens". Vorschläge, die von der schen, die an diesem Lager teilnahmen, sollten Ausweispflicht über den Entzug von Gewerbebe­ "nach Beendigung ihrer Ausbildung als Wehrbauern rechtigungen bis zur Kinderwegnahme reichten. und Bäuerinnen in den neugewonnenen Ostgebie­ Die nationalsozialistische Herrschaft bot ihnen ten ihren eigenen Boden bebauen und helfen, das nun die Möglichkeit einer "Lösung der Zigeuner­ Land deutsch zu machen." plage". Als der Bürgermeister von Neustift-Forch­ e ln jedem Kreis wurden Stützpunkte der "Deut­ tenau, Bernhard Wilhelm Neureiter, die "Bekämp• schen Gesellschaft für Rassenhygiene" gegrün• fung der Zigeunerplage in Niederdonau" als det. Die Landräte mußten auf Anweisung Dr. Ju­ "Beauftragter des Rassenpolitischen Amtes" in rys die örtliche Leitung übernehmen. die Hand nahm, lebten in Niederdonau 2.700 Zi­ e Der "rassenpolitischen Erziehung" wurde beson­ geuner. Als Sofortmaßnahme sandte er 300 da­ deres Augenmerk zugewendet. Die Propaganda­ von in ein Konzentrationslager. Als dies - seiner leiterin der NS-Gaufrauenschaft führte dies be­ Auffassung nach - zu wenig Wirkung zeigte, for­ reits im August 1938 bei einer Tagung in Wr. cierte er den Bau eines Zigeunerlagers in Lacken­ Neustadt aus: bach. "Schon dem Kleinkind muß der Unterschied zwi­ "Es war nun endlich möglich geworden, die Erfas­ schen dem deutschen Menschen und dem Juden sungsaktion auf die am meisten zigeunerverseuch­ eingeprägt werden, wie Himmel und Hölle. Jedes ten Kreise des Gaues Niederdonau auszudehnen." Mädchen muß die Fähigkeit besitzen, den getarn­ Im September 1941 waren rund 1.850 Zigeuner aus ten Juden auch im Ausland zu erkennen." Niederdonau in Lackenbach. 1942 wurden hier auf Mit welcher Konsequenz dies durchgeführt wurde, Betreiben der Gauleitung und mit Billigung Himmlers läßt sich daran ermessen, daß die Generation der heute über 55jährigen bei vielen Menschen im Fern­ sehen einen Juden zu erkennen glaubt. e Die Verfolgung und Vertreibung der Juden wurde in Niederdonau mit Hilfe der Bevölkerung konse­ quent durchgeführt: 1938 lebten in Niederöster• reich 8.010 sog. "Giaubensjuden". Bereits im Mai 1939 waren es nur noch 427. Von den 3.222 Ju­ den des Burgenland lebten ein Jahr später nur noch 12 im Lande. Bereits in den Tagen der natio­ nalsozialistischen Machtübernahme kam es zu pogromartigen Ausschreitungen von Teilen der Bevölkerung. Mit allen Mitteln, wie wirtschaftli­ chen Boykott, Bade- und Trachtenverbot und "wil­ den" Enteignungen wurden die Juden zum Ausrei­ sen gezwungen. Zahlreiche Ortschaften meldeten in der Folge mit Stolz der Regionalpresse, ihre

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Versuche zur Sterilisierung durchgeführt. Im ersten Der Gauleiter wurde von zu vielen Helfern mit Begei­ Halbjahr 1943 kam es zu Deportationen von Zigeun­ sterung dabei unterstützt. ern nach Auschwitz, wo sie entweder durch die La­ gerbedingungen oder in den Gaskammern vernichtet wurden. 4. VOLKSGEMEINSCHAFT UND VOLKSMEINUNG • Die Verfolgung der Zigeuner wurde nicht nur aus rassischen Motiven heraus, sondern auch im Rah­ Die von den Nationalsozialisten geplante und durch­ men der Aktion gegen "Gemeinschaftsfremde" geführte Integration der Niederösterreicher in eine durchgeführt. Unter dem Deckmantel einer "vor­ "deutsche Volks- und Schicksalsgemeinschaft" ge­ beugenden Verbrechensbekämpfung" wurden lang trotz der genannten verbrecherischen Maßnah• "Asoziale" festgenommen und als Zwangsarbeiter men der "Auslese" und "Ausmerzung" nur zum Teil. eingesetzt. Auch diese Projekte wurden vom Ras­ ln Niederdonau war es vor allem die Integrations­ senpolitischen Amt der NSDAP Niederdonau be­ macht der katholischen Kirche, die von den Natio­ obachtet und geleitet. Im August 1939 befahl nalsozialisten nicht gebrochen werden konnte. Trotz Gauleiter Jury die einheitliche Erfassung von so­ der Verfolgung von Priestern, der Auflösung der ka­ genannten "Asozialen" in Niederdonau. Es blieb tholischen Vereine und Klöster, der Einschränkung den einzelnen Gendarmeriebeamten und Landrä• des Religionsunterrichtes und der Einführung des ten überlassen die "Gemeinschaftsunfähigkeit" Kirchenbeitrages, blieb sie für viele die nahezu ein­ festzustellen. Allein in Amstetten wurden 100 zige Alternative zum Nationalsozialismus. ln den männliche und 25 weibliche Asoziale registriert. 1939 gegründeten Pfarrgemeinderäten versammel­ Diese wurden auf Grund von häufig begangenen ten sich bald die, von den Nationalsozialisten im Eigentumsdelikten, sogenannter Arbeitsscheu März 1938, entfernten katholischen Gemeinderats­ und zu häufigem Alkoholismus und bei Frauen in­ mitglieder und bildeten eine örtliche "Gegenregie­ folge eines angeblich unsittlichen Lebenswandels rung". Zu öffentlichen Demonstrationen und Tumul­ namentlich aufgezeichnet. 1942 wurde dieses ten kam es vielerorts, als der Religionslehrer Verfahren unter verschärftem Druck wiederholt. ln abberufen, oder das Kruzifix aus der Schule entfernt der Durchführung der Erfassung und Behandlung werden sollte. Aus Amstetten wurde im Jänner 1942 von "Gemeinschaftsunfähigen" gewann Niederdo­ berichtet: nau Vorbildcharakter für das "Deutsche Reich". "Die Ablieferung der Glocken stößt auf volles Ver­ Zwangssterilisierung wurde auch hier in Erwä• ständnis, auch bei der Landbevölkerung. Dagegen gung gezogen. herrscht sofort Aufregung, wenn irgendwelche • Nachweislich durchgeführt wurde die Sterilisie­ Maßnahmen angeordnet werden, die als gegen die rung in den Heil- und Pflegeanstalten Mauer-Öh• Religion gerichtet angesehen werden." ling und Gugging. ln den genannten Anstalten Die NSDAP mußte in vielen Gemeinden vor der wurde auch mit Wissen und Unterstützung von kirchlichen Jugendbetreuung kapitulieren. ln Ybbs Partei und Staatsverwaltung die Vernichtung so­ etwa versorgte die nationalsozialistische Frauen­ genannten "lebensunwerten Lebens" ohne Hem­ schaft die Buben des Ortes nach der Erstkommu­ mungen praktiziert: Hier wurden eigene Schocktö• nion mit einem festlichen Frühstück. Manchmal mar­ tungsmethoden entwickelt und deren Wirkung bei schierten örtliche Funktionäre der Partei in voller Kongressen in Gugging Psychiatern und Ärzten Uniform bei Prozessionen oder kirchlichen Begräb• an lebenden Menschen demonstriert. Der Direktor nissen mit, was ihnen allerdings eine entsprechende von Gugging verantwortete sich 1946 so: Rüge von der Partei einbrachte. Die Pfarreien wur­ "Ich habe unter diesen ( ... ) Verhältnissen seelisch den zur Nachrichtenbörse über die Lage "an der schwer gelitten. Ich habe auch den Gedanken er­ Front" und über das Schicksal von im Krieg Vermiß• wogen, ob ich nicht aus der Anstalt scheiden soll, ter. Über sie ging auch ein reger Briefwechsel, der gab ihn aber deshalb wieder auf, weil ich dann mei­ trotz oftmaliger Verwarnung durch GESTAPO und ne Dienstwohnung hätte aufgeben müssen und ich Landrat nicht eingestellt wurde. Die Zunahme der zu diesem Zeitpunkt einen Transport nach Ober­ Kircheneintritte ab 1943 verdeutlicht die zunehmen­ österreich (meiner Möbel) nicht hätte durchführen können." de Integrationskraft der Katholischen Kirche bei ab­ Alle der hier genannten Maßnahmen dienten der Er­ nehmender Akzeptanz des Nationalsozialismus. richtung einer ,,Volksgemeinschaft" und wurden mit Neben der Katholischen Kirche hatte als einzige ausdrücklicher Billigung, wenn nicht sogar auf Initia­ Gruppierung die Kommunistische Partei in Nieder­ tive des und Arztes, Dr. Hugo Jury, österreich eine Organisation. Sie unterhielt als einzi­ durchgeführt. Er sah seine politische Aufgabe, wie ge politische Partei der Arbeiterbewegung eine ille­ er bei der Eröffnung einer Akademie für ärztliche gale "Provinzkommission" für Niederösterreich in Fortbildung in Krems ausführte, im Beseitigen des Wien und St. Pölten. Sie bauten groBteils entlang Übels, aus dem die Symptome einer Krankheit kom­ den Bahnstrecken Stützpunkte auf, die miteinander men: in losen Kontakt waren. Waren die Schwerpunkte "Und wenn mein Gau heute als Mustergau bezeich­ kommunistischen Widerstandes im Raum St. Pöl• net wird, dann ist dies hauptsächlich darauf zurück• ten-Krems und im westlichen Niederösterreich rela­ zuführen, daß ich Gauleiter, wie als Arzt gearbeitet tiv weit voneinander entfernt, so hatte die Partei im habe." Industrieviertel eine sehr hohe Organisationsdichte.

16 IWK-Mitteilungen ln nahezu jeder kleinen Ortschaft bestanden KPÖ• sierte man Industriearbeiter, die durch den Besitz Zellen. Ihre Tätigkeit bestand nicht nur im Weiterge­ von Schwerarbeiterkarten dem Normalverbraucher ben von Nachrichten, Werben von Mitgliedern, in besser bestellt waren. der Unterstützung der Familien gefangener Genos­ Von der angepeilten ,,Volksgemeinschaft" war sen, sondern auch in der antifaschistischen Agita­ wohl bald keine Rede mehr. Die "Eindeutschung" be­ tion in Betrieben. Die Bedeutung der Tätigkeit der gann als "Ausdeutschung" zu wirken. So zumindest KPÖ, in welcher damals viele Sozialisten und auch sah es bereits im Oktober 1943 der Landrat von Parteilose die Möglichkeit anti-nationalsozialisti­ Neunkirchen in seinem monatlichen Lagebericht schen Kampfes fanden, darf besonders für Nieder­ "Man muß leider mit tiefem Bedauern feststellen, österreich als sehr hoch eingeschätzt werden. Das daß der Großdeutsche Gedanke, der Gedanke der hohe Ethos, mit dem die kommunistischen Wider­ Einheit aller Stämme des Deutschen Volkes in den standskämpfer agierten, zeigt sich auch dadurch, Jahren vor dem Anschluß viel stärker und lebendi­ daß es der GESTAPOtrotz vieler Verhaftungen und ger war als heute." grausamer Folter nie gelang, die weitverzweigte und miteinaner verbundene Organisation zu zerschla­ gen. Dennoch blieb aktiver Widerstand in Niederdo­ 5. DAS ENDE DER NS-HERRSCHAFT nau eher die kleine Ausnahme, denn die Regel. Trotz abnehmender Akzeptanz und zunehmender Die unmittelbaren Folgen der "Eindeutschung" Nie­ Terrorherrschaft unterstützte die Mehrheit der Nie­ derösterreichs zeigten sich in den letzten Kriegs­ derösterreicher, oder Niederdonauer, den National­ wochen. Im Zusammenhang mit der Deportation der sozialismus. Bereits mit Kriegsbeginn, spätestens ungarischen Juden, wurden diese ab Herbst 1944 in 1941 wurde die Form der "Eindeutschung" als nicht Niederdonau zur Zwangsarbeit in Industrie, Landwirt­ unbedingt positive Entwicklung gesehen. Aus dieser schaft und zum Bau militärischer Anlagen eingesetzt. "Eindeutschung", die durch den Stopp sozialreforme­ Allein im Juni 1944 kamen vier Züge mit insgesamt rischer Umgestaltungsmaßnahmen auf unterster 12.000 ungarischen Juden in Straßhof an und wur­ Ebene und durch die kriegswirtschaftlichen Versor­ den zur Zwangsarbeit an Betriebe verteilt, im Herbst gungsengpässe genauso bedingt waren, wie durch folgte ein Transport mit weiteren 30.000 Juden. Mit die Einberufungen zur Wehrmacht, wurde 1943 Resi­ dem Näherrücken der Ostfront wurde in Polen das gnation. Dennoch wurden in der "Heimatfront" fleißig Konzentrationslager Ausschwitz geräumt und die für die Wehrmacht in Millionen unbezahlter Stunden Häftlinge zur Fortführung des Vernichtungsprozes­ gearbeitet und Parteiveranstaltungen besucht. Kritik ses nach Mauthausen transportiert. Niederdonau wurde dort laut, wo es um wirtschaftliche und persön• wurde zum Durchzugsland zahlreicher Transporte. liche Belange ging. Wenn die Fettversorgung zusam­ Am 5. Februar berichtete der Landrat Amstetten: menbrach, keine Öfen erhältlich waren, Kleider und "ln den letzten Tagen rollten ganze Züge mit Kon­ Schuhwerk nur an bestimmte Personngruppen aus­ zentrationslagerhäftlingen aus dem geräumten Konzentrationslager Auschwitz durch St. Valentin. gegeben wurden, dann stellte man das faschistische Die Häftlinge waren in offenen Güterwagen notdürf• System und seinen "Führer" in Frage. Trotz Erzeu­ tig bekleidet zusammengepfercht. Während des gungs- und Ablieferungsschlacht behielten die Bau­ Transportes starben viele Häftlinge durch Erfrieren ern auch unter rigoroser Strafandrohung mehr als ih­ oder Zertreten. Bei einem dieser Transporte, beste­ ren Eigenbedarf zurück und konnten damit die nicht hend aus 6000 Häftlingen, waren in St. Valentin landwirtschaftlich-tätige Bevölkerung zu einem guten schätzungsweise 200-300 Häftlinge bereits tot." Teil mit zusätzlichen Nahrungsmitteln versorgen. Der Der Weg der Judentransporte quer durch Nieder­ Tausch- und Schwarzhandel nahm in den Jahren österreich nach Mauthausen war mit Toten gesäumt. 1944/45 ungeahnte Formen an. Sogenannte Es gibt keine Chronik, die über das Jahr 1945 berich­ "Schwarzschlachtungen", obwohl sehr streng geahn­ tet und die "KZier" nicht erwähnt, die durch die Ort­ det, waren überall an der Tagesordnung. schaften wie Tiere getrieben wurden. Nicht nur in Gleichzeitig kamen jedoch Neid und Mißgunst Randegg und Göstling, sondern auch in Sulzbach, deutlicher als je zuvor zum Durchbruch. Zahlreiche bei Hainburg und in Persenbeug kam es zu furchtba­ Denunziationen bei Partei und GESTAPO mit oft fa­ ren Massakern. Männer, Frauen und Kinder wurden talen Folgen gingen auf persönliche Differenzen und unter Mithilfe der örtlichen Bevölkerung ermordet. wirtschaftlich-soziale Unterschiede zurück. "Warum Die Bevölkerung der umliegenden Ortschaftenwußte gerade wir, und nicht die anderen?", war eine der oft davon und sah teilnahmslos zu. Durch Androhung gestellten Fragen. So etwa war die bäuerliche Be­ und Durchführung von Standgerichten, wie etwa in völkerung des Kreises Lilienfeld sehr erbost darü• Scheibbs oder Neunkirchen, wurde die Möglichkeit ber, daß zwar ältere Jahrgänge aus der Landwirt­ des Einschreitens auf mehr als nur Zivilcourage be­ schaft eingezogen wurden, obgleich - wie sie schränkt. Die Leistung der sich nach der Befreiung meinten - doch noch genügend jüngere nicht überall plötzlich konstituierenden "Befreiungsbewe­ Kriegsdienstverpflichtete da wären. ln Korneuburg gungen" war deshalb in entscheidenden Situationen forderte man einfach die Einziehung dort anwesen­ oftmals sehr gering. So müssen heute schon jene der ungarischer Soldaten, da sie eine Belastung für Niederösterreicher gefeiert werden, die sich trauten, die Ernährungsversorgung der einheimischen Be­ den am Weg zu ihrer Vernichtung befindlichen Men­ völkerung darzustellen schien. Immer wieder kriti- schen, ein Stück Brot zu geben.

17 IWK-Mitteilungen

FRANZ STEIN MASSL DAS HAKENKREUZ IM HÜGELLAND Widerstand und Verfolgung im Bezirk Freistadt 1938-1945

Die folgenden Bemerkungen zum "Hakenkreuz im demokratisch orientierten Landbündler und Groß• Hügelland" werden sich einleitend mit der politischen deutschen wurden so in die Illegalität gedrängt, Lage und den sozialen Milieus im politischen Bezirk schlossen sich der NSDAP an und übernahmen ab Freistadt beschäftigen, weiters auf die Probleme bei 1938 politische Funktionen für das NS-Regime. der nationalsozialistischen Durchdringung des "Hü• Die Anhänger der SDAP splittern sich nach dem gellandes" nach 1938 eingehen, um dann Hinweise Partei- und Betätigungsverbot 1934 auf: Ein Teil be­ auf die Mühlviertler Menschenjagd des Jahres 1945 tätigte sich nicht mehr politisch und war angesichts zu geben und auf das Schicksal der Freistädter Wi­ der tristen wirtschaftlichen und sozialen Situation mit derstandsgruppe "Neues Freies Österreich" hinzu­ dem eigenen Überleben beschäftigt. Andere traten weisen. Literaturhinweise schließen den Beitrag ab. der Vaterländischen Front bei, ein linker Flügel schließt sich dem illegalen Kampf gegen den Austra­ DER BEZIRK FREISTADT taschismus an. Ein numerisch nicht zu gering zu ver­ anschlagender Teil der ehemaligen SDAP trifft sich Der Bezirk Freistadt/Oberösterreich umfaßt das mit den illegalen Nationalsozialisten. Als Beispiel da­ nordöstliche Mühlviertel, hatte 1937/38 neununddrei­ für mag Franz Kelischek gelten, der nach dem 1. ßig politische Gemeinden und ca. 50.000 Einwoh­ Weltkrieg Sprecher des Linzer Soldatenrates war, ner. Wirtschaftlich dominierte die Land- und Forst­ dann nach Königswiesen zurückkehrte, 1933/34 zu wirtschaft, der Bezirk verfügte über keinen einzigen den Nationalsozialisten stößt und 1938 bis 1945 Na­ größeren Industriebetrieb. Während die Mehrzahl zibürgermeister seiner Heimatgemeinde wird. der Bevölkerung in den Landgemeinden politisch na­ hezu 100% christlichsozial eingestellt war, hatte ent­ NS-MACHTÜBERNAHME 1938 lang der Eisenbahnlinie Linz- Summerau eine stär• kere politische und gesellschaftliche Differenzierung Die Machtübernahme im März 1938 stellte für die stattgefunden: Hier gab es Teile einer schon organi­ Nationalsozialisten des Bezirkes Freistadt zum Teil sierten Arbeiterbewegung ebenso wie großdeutsch ein personelles Problem dar. Während in den poli­ eingestellte Bauern, Gewerbetreibende und Freibe­ tisch ausdifferenzierten, westlichen Gemeinden die rufler, die in der Kommunalpolitik aber eng mit den Rekrutierung eines ausreichenden Funktionärska• Christlichsozialen zusammenarbeiteten. ders und die Gewinnung einer repräsentativen An­ zahl von "Parteigenossen" offenbar problemlos von­ Ergebnisse der Nationalratswahlen 1927 und 1930 statten ging, war es im christlichsozial dominierten bäuerlich-klerikalen Milieu für die NSDAP schwer, Partei 1927 in% 1930 in% geeignete Funktionsträger zu finden, bzw. sich durchzusetzen: ln der Gemeinde Unterweißenbach Christlich-soziale 18.410 75% 15.761 66% etwa war vor 1938 der Gastwirt und Fleischhauer­ SDAP 4.150 17% 4.067 17% meister Fürst Bürgermeister. Im März 1938 kamen Landbund 1.707 7% 1.806 8% Heimatblock 978 4% die örtlichen Nationalsozialisten, Bauernsöhne und GrDtVP + LB 1.197 5% Knechte aus der Umgebung, zu ihm und forderten: NSDAP 384 2% "Umbruch ist, Du mußt zurücktreten, jetzt sind wir dran!" Fürst schaute sie an und erwiderte: "Eng 24.492 100% 23.961 100% Lausbuben gib i die Gemeinde net!" Womit die De­ batte offenbar zu Ende war und Fürst bis 1945 Bür• germeister blieb. Auch in Lasberg blieb der Bürger• Verteilung der Gemeinderatsmandate meister aus der sogenannten "Systemzeit" bis 1942 im Amte. ln Unterweitersdorf wiederum fanden die Politisches "Lager" GRW 1924 GRW 1929 Nationalsozialisten zwar einen Bürgermeister, aber der erwies sich so unfähig, daß der frühere Bürger• Christlich-Soziale 77,5% 75,5% meister als Gemeindesekretär engagiert werden Sozialdemokraten 10 % 13 % mußte, und damit "aus dem Hintergrund" die Ge­ Deutschnationale 10 % 10 % schäfte weiterführte. Der folgende Konflikt zwischen dem bestellten Amtsträger und dem alten Bürger• Zwischen 1934 und 1938 wurden die Großdeut• meister als Gemeindesekretär führte 1941 zum völli• schen ebenso aus den Gemeindeausschüssen ent­ gen Zusammenbruch der Gemeindearbeit Unterwei­ fernt wie die Sozialdemokraten (1934). Die bis dahin tersdorf blieb zwar in der Folge eine selbständige

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Gemeinde, die Geschäfte des Bürgermeisters wur­ "daß die Landwirtschaft an Besserung noch verspürt den jedoch dem hauptamtlichen Gemeindeoberen hätte". Aus Pregarten wird im Juni 1938 gemeldet, des benachbarten Marktes Pregarten übergeben. daß einzelne Landwirte "mit den bisherigen Preisen Wie schwer es die Nationalsozialisten im bäuerli• ihrer Produkte nicht ganz zufrieden" seien. chen Milieu des Mühlviertels mit der Durchsetzung ihrer Herrschaft hatten, zeigt ein Bericht aus Schö• NATIONALSOZIALISMUS UND nau vom 20. September 1938: "Die Mitgliederbewe­ ARBEITERSCHAFT gung für die einzelnen Gliederungen geht nur spär• lich vor sich ... Im allgemeinen muß berichtet Stand auch die sozialdemokratische Arbeiterbewe­ werden, daß die Bevölkerung noch immer nicht Wert gung dem Nationalsozialismus ähnlich ablehnend und Zweck dieser Gliederungen versteht." gegenüber wie die katholische Bauernschaft, so gab Auch die Neumarkter Nationalsozialisten melde­ es hier doch eine Fülle von Berührungspunkten, die ten im Juli 1938 Schwierigkeiten beim Aufbau der sich insbesonders bei jenen politisch und sozial "Volksgemeinschaft", bedingt durch falsche Vorstel­ nicht voll in die Organisationen der SDAP integrier­ lungen in der örtlichen Bevölkerung: "Es scheint, ten Teilen der Arbeiterklasse auswirken sollten. Zum daß ein Teil der Bevölkerung das Wirtschaftspro­ einen argumentierte die NSDAP propagandistisch, gramm des Nationalsozialismus falsch verstanden daß sie selbst als Arbeiterpartei angetreten sei (die hat. Es gab Leute, die glaubten, wenig oder gar kei­ Liquidierung der Linken in der NSDAP wurde geflis­ ne Steuern mehr zahlen zu brauchen. Von dieser sentlich verschwiegen), zum anderen wurde der Sorte von Leuten hört man, daß sie enttäuscht sind." Austrataschismus als gemeinsamer Gegner immer Das Verhalten bei Sammlungen war für die National­ wieder betont. Im Bezirk Freistadt ist die politische sozialisten ein Barometer für die Feststellung ihrer Entwicklung bei den bis 1934 geschlossen sozialde­ Akzeptanz in der Bevölkerung. ln Königswiesen wur­ mokratisch organisierten Holzarbeitern in Sandl und den die Sammlungen der Nationalsozialisten von Königswiesen interessant. Nach der Ausschaltung Teilen der Ortsbevölkerung negiert: "Der Großteil der Sozialdemokratie 1934 traten die Holzarbeiter der Bauernschaft hat sich der Opferbereitschaft ent­ geschlossen zur neuen (christlichen) Einheitsge­ zogen. ( ... ) Es gab viele Bauern, die sich den (Ab­ werkschaft über, schaffen es aber, bewährte ehema­ zeichen) verkaufenden Kindern geradezu grob be­ lige Sozialdemokraten an die Spitze ihrer Betriebsrä• nommen haben ... ". Auch in St.Oswald war der te zu hieven. Auch wenn diese nun nicht mehr Unmut im September 1938 unüberhörbar: "Auch hat gewählt, sondern von den christlichen Funktionären man wieder von allen Schichten der Bevölkerung des Einheitsgewerkschaftsbundes bestellt, ihre über die vielen Abgaben für die Partei, z. B. Luft­ Funktion auszuüben hatten, genossen sie weiterhin schutz, NSV, DAF usw. Klagen gehört." das Vertrauen der Holzarbeiterschaft Mit diesen ge­ werkschaftlichen Restbeständen machte der Natio­ DIE STIMMUNG UNTER DEN BAUERN nalsozialismus radikal Schluß: Mit der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF) entstand eine Einheitsorganisa­ Wie bereits erwähnt fanden die Nationalsozialisten tion zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, in im bäuerlichen Milieu die geringsten Sympathien. der die Interessensvertretung der Arbeitnehmer Die Gewinnung der Bauernschaft gehörte deshalb durch Propaganda und Disziplinierung ersetzt wur­ zu den vordringlichsten Zielen der Nationalsoziali­ de. Dennoch hatte die NSDAP auch unter Arbeitern sten am Lande. So etwa verboten sie die Versteige­ Erfolge, wie etwa aus St.Leonhard berichtet wird. ln rung landwirtschaftlicher Güter, was den stark ver­ der Region Pregarten - Wartberg bestand die SA schuldeten Betrieben zwar half, aber mittelfristig zur aus Eisenbahnern und verbreitete vor allem unter Folge hatte, daß die Bauern keine Kredite mehr be­ den zur Zwangsarbeit eingesetzten ausländischen kamen. Auch die angekündigten Umschuldungen Arbeitskräften Angst und Schrecken. Andererseits hatten vorerst Erwartungen geweckt, die dann nicht gibt es genau aus diesem Gebiet und dem Umfeld erfüllt wurden. Ein im April 1938 verfügter totaler der Eisenbahner eine auffallende Häufung politi­ Preisstop für landwirtschaftliche Produkte verhinder­ scher Delikte. Die Erfolge der Nationalsozialisten te die von den Bauern ersehnte Verbesserung ihrer beim Abbau der Arbeitslosigkeit trug zur Akzeptanz Einkommen, was allerdings insgesamt durch die ge­ des neuen Regimes bei und wurden vor allem von stiegenen Absatzmöglichkeiten ausgeglichen wurde. der Arbeiterschaft begrüßt. Schon ab Mai 1938 gab Die Belebung des Arbeitsmarktes durch den Beginn es im ganzen Bezirk Freistadt keinen Arbeitslosen der großen Straßenbauvorhaben führte sehr schnell mehr. Der lokale Arbeitsmarkt war vor allem durch zu einem akuten Arbeitskräftemangel in der Land­ die Straßenbauvorhaben Linz - Freistadt - Tsche­ wirtschaft. Die Stimmungsberichte ab Juni 1938 be­ cheslowakei und Pregarten - Königwiesen- Nieder­ klagen die Landflucht: Von den landwirtschaftlichen donau beeinflußt. Selten zeigte sich -und das muß Dienstboten dürfte ein hoher Anteil in den besser be­ in diesem Zusammenhang angemerkt werden - der zahlten Straßenbau mit geregelter Arbeitszeit abge­ Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzbeschaffung wandert sein. So waren die Bauern insgesamt gese­ und Krieg so deutlich: Auf den Straßen, die im Som­ hen enttäuscht: Ein Bericht aus Sandl vom 27. Mai mer 1938 gebaut wurden, marschierten ab dem 1. 1938 bezieht sich auf die stagnierenden Agrarpreise Oktober die deutschen Soldaten in die Tschechoslo­ und berichtet von der häufig vertretenen Meinung, wakei.

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Die Stimmungsberichte der Gendarmerie geben Staatspolizeileitstellen übernehmen von den Stalag­ die Klagen der Arbeiterschaft über zu geringe Löh• kommandanturen die wiederergriffenen flüchtigen ne, schlechte Arbeitsbedingungen und Unzufrieden­ kriegsgefangenen Offiziere und überführen sie im heit wieder und zeigen, daß die Integration der Ar­ bisher üblichen Verfahren, falls den Umständen beiterklasse den Nationalsozialisten bei partiellen nach nicht ein besonderer Transport erforderlich er­ Erfolgen doch nicht ganz gelungen ist. So wird im scheint, in das KL Mauthausen. Auf dem Transport­ Mai 1938 aus Tragwein berichtet: "Die Arbeiterschaft nicht auf dem Weg zum Bahnhof, soweit dieser vom klagt, daß die Kollektivvertragslöhne zu niedrig seien Publikum eingesehen werden kann - sind die und wünscht deren Erhöhung". Aus Sandl wird im Kriegsgefangenen zu fesseln. Der Lagerkommand­ Mai 1938 gemeldet: "Auch die Arbeiter, hauptsäch• antur Mauthausen ist mitzuteilen, daß die Überstei• lich vom Steinbruch Zemann in Steinwald, sind mit lung im Rahmen der Aktion ,Kugel' erfolgt." Vom ihren Lohnbedingungen nicht ganz zufrieden." Aus März 1944 bis Februar 1945 wurden ungefähr 4.700 der Gemeinde Tragwein im August 1938: "Unter den dieser Häftlinge in Mauthausen konzentriert, unter ( ... ) Arbeitern befinden sich einige Elemente, ( ... ) ihnen 4.300 sowjetische Kriegsgefangene. Die hohe die meinen, weiterhin Politik treiben zu dürfen und Anzahl der Eingelieferten legt die begründete Ver­ schwerlich zu bessern sind." Der dortige Gendarme­ mutung nahe, daß es sich dabei nicht nur um wie­ rieposten empfahl eine exemplarische Bestrafung, derergriffene Flüchtlinge gehandelt haben kann, um "diese Elemente" vor weiteren "Ausschreitungen" sondern mit der "Aktion" eine systematische Ausrot­ abzuhalten. Ein Gendarmeriebeamter aus Leopold­ tung der sowjetischen Militärkader beabsichtigt war. schlag philosophierte im August 1938 über die Grün• Im Februar 1945 waren von den 4.700 eingelieferten de der Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft und Soldaten nur noch 580 am Leben. kam zu dem Schluß: "Wie zu allen Zeiten gewisse Ende Jänner 1945 wurden Ausbruchsplanungen Menschen mit nichts zufrieden sind, so gibt es auch sowjetischer Offiziere der Lager-SS bekannt. 25 an heute noch solche. Besonders sind solche Nörgler in den Überlegungen beteiligte leitende Offiziere wur­ der Arbeiterschaft zu finden." Noch 1941 berichten den sofort erschossen. Dennoch kam es am 3. Fe­ die Gendarmeriebeamten von Sandl und Wartberg bruar zu einem Massenausbruch, an dem über 500 von Sozialdemokraten und Kommunisten, die für die sowjetische Kriegsgefangene teilnahmen. Der Aus­ "nationale Idee" nicht zu gewinnen wären. bruch war einmalig in der Geschichte der deutschen Konzentrationslager: Nachdem der Blockälteste und DIE MÜHLVIERTLER MENSCHENJAGD seine Stubendienste erdrosselt worden waren, stürmten die Häftlinge durch die Barackentüren und Unter dem Begriff "Mühlviertler Hasenjagd" ist der -fenster auf den Vorhof, schalteten mit Schaumlö• Ausbruch totgeweihter sowjetischer Offiziere und schern und Wurfgeschossen die Wachposten aus Kommissare in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar und schlossen mit nassen Decken die stromführen• 1945 aus dem Konzentrationslager Mauthausen in den Stacheldrähte kurz. Bereits diese Phase der die Geschichtsschreibung eingegangen. Dabei han­ Flucht kostete hundert Häftlingen das Leben. Es hat­ delt es sich um eine Sprachschöpfung jener Unmen­ te an jenem Tag minus acht Grad, die Felder waren schen, die diesem schrecklichen Blutbad den harm­ von einer dünnen, ca. 20 bis 30 cm tiefen Schnee­ losen Charakter einer herbstlichen Hasenjagd geben decke bedeckt. Barfüßig mußten die meisten Flücht• wollten. Um die sprachliche Komplizenschaft mit linge über den Schnee, auf dem die Fußabdrücke dem Massenmord zu beenden, wird hierfür künftig der Flüchtenden deutlich sichtbar waren. Die Haupt­ der - den tatsächlichen Ereignissen entsprechende fluchtrichtung war Norden. Noch in derselben Nacht -Begriff "Mühlviertler Menschenjagd" verwendet. löste die SS eine Großfahndung aus, die im Block Bei den etwa 500 Flüchtlingen handelte es sich verbliebenen wurden noch in derselben Nacht er­ durchwegs um sogenannte K-Häftlinge, wobei das mordet. ln die Fahndung wurden Gendarmerie, "K" für "Kugel", somit für "Tod durch Erschießen" und Hitlerjugend miteinbezogen. Soweit stand. Obwohl bereits seit Oktober 1941 sowjetische für den Bezirk Freistadt rekonstruierbar, sind im Be­ Kriegsgefangene in Mauthausen zu tausenden den reich Pregarten/Wartberg mindestens sieben KZ­ Tod gefunden hatten, wurde die Situation durch ei­ Häftlinge durch Einheimische erschossen worden. nen Geheimerlaß des Oberkommandos der Wehr­ Ein 15jähriger Hitlerjunge bekannte sich im Oktober macht am 2. März 1944 weiter verschärft: ln diesem 1946 schuldig des Mordes an zwei Häftlingen: "Ich "Kugelerlaß" wurde angeordnet, daß alle nicht zu ei­ bekenne mich schuldig. Ich war Mitglied der HJ. ln nem Arbeitseinsatz verpflichteten Kriegsgefange­ der fraglichen Nacht im Februar 1945 wurde ich ge­ nen, Unteroffiziere und Offiziere (mit Ausnahme von weckt und mir gesagt, ich soll sogleich auf den Briten und Amerikanern), die bei einem Fluchtver­ Marktplatz kommen. Als ungefähr 50 Mann HJ und such ertappt wurden, sofort der "Aktion K" zugeführt Volkssturm versammelt waren, mußten wir auf Be­ werden sollten. "Aktion Kugel" bedeutete die Über• fehl des Bürgermeisters Fröhlich antreten. Dann stellung der bei der Flucht ertappten an die Staats­ sagte uns NN., daß ungefähr 400 Häftlinge aus polizei. Ein vom SS-Gruppenführer Heinrich Müller Mauthausen ausgebrochen seien. Er sagte aus­ gezeichneter Durchführungserlaß des Chefs der Si­ drücklich, daß keine Gefangenen gemacht werden, cherheitspolizei und des SD vom 4. 3. 1944 regelte sondern jeder angetroffene KZ-Häftling sofort zu er­ die Übergabe der Soldaten an die Staatspolizei: "Die schießen sei. Es wurden Gewehre ausgegeben. Ich

20 IWK·Mitteilungen erhielt ein Gewehr und sechs Schuß Munition. Wir in jenen Aufzeichnungen, die der Gestapo nicht in die marschierten dann zum Bahnhof und dort hat uns Hände gefallen waren. Am 9. und 10. Oktober 1944 der Gendarmeriebeamte MM. wieder ausdrücklich kam es in Freistadt zu einer großen Verhaftungswel­ erklärt, daß keine Gefangenen zu machen sind. Ich le. Die Gestapo nahm 50 bis 60 Personen fest. ging mit einer 10 bis 15 Mann starken Gruppe zu der Die Verhaftungen erfolgten wahllos, zumal nur ein ungefähr 3 km entfernten Kriegsmühle und von dort "harter Kern" von etwa zehn Personen über die Ar­ nach Steinbichl. Dort trafen wir drei oder vier SS­ beit und die Pläne der Gruppe Bescheid wußte. Aus Männer, welche gerade zwei KZier eskortierten. Un­ diesen Häftlingen wurde von der Gestapo alles ter diesen befand sich ein Obersturmführer. Dieser scheinbar wichtige herausgeprügelt Erschütternde rief uns zu, hier sind ja zwei HJ-Angehörige, die sol­ Zeugenaussagen berichten über die grausame Miß• len die Häftlinge gleich erschießen. Er rief uns zu ei­ handlung der Widerstandskämpfer. Ende Februar nem auf der Straße stehenden SS-Auto, zu welchem 1945 kommt es dann zu mehreren Volksgerichtshof­ auch die beiden Häftlinge geführt wurden. Dort be­ verfahren in Linz, von denen aber nur ein Urteil vor­ fahl er den Häftlingen sich umzudrehen. Dann sagte handen ist. Neun Freistädter wurden zum Tode ver­ er zu mir und B: "Jetzt schießt ihr sofort." Ich und B. urteilt. Nach der Verhängung des Todesurteils erschossen je einen KZ-Häftling durch einen Schuß richteten die Verurteilten ein Gnadengesuch an Hit­ in den Hinterkopf. Die beiden Häftlinge stürzten so­ ler, welches allerdings infolge der sich dramatisch fort tot zu Boden. Wir mußten dann die beiden Lei­ entwickelnden militärischen Lage wohl nicht mehr chen in das Auto laden. Es war ein geschlossener behandelt wurde. Somit waren alle folgenden Maß• Kastenwagen und es dürften schon Tote drinnen ge­ nahmen auch nach dem nationalsozialistischen wesen sein." Die Täter aus dem Bezirk Freistadt wa­ Recht rechtswidrig. Am 26. April 1945 erschien ren: 3 Angehörige der Hitlerjugend, die zum Zeit­ plötzlich Ministerialdirigent Dr.Krützner aus Berlin punkt der Tat noch keine siebzehn Jahre alt waren bei Oberstaatsanwalt Dr.Oskar Wetzl in Linz und und fünf Erwachsene, von welchen drei nicht einmal ordnete die Hinrichtung von 13 Personen an. Es soll­ Mitglieder der NSDAP waren. Eine Person war einfa­ ten acht Freistädter und fünf Linzer Kommunisten, ches Parteimitglied, nur ein einziger, Rudolf Knoll welche in einem Hochverratsprozeß im Februar aus Pregarten, war ein hochkarätiger Nationalsozia­ 1945 von einem Volksgerichtshof in Linz zum Tode list. Letzterer sollte auch am "Freistädter Sozialisten­ verurteilt worden waren, ermordet werden. Dr.Krütz• mord" führend beteiligt sein. ner hatte keinen schriftlichen Befehl und erteilte die Weisung zur Hinrichtung nur mündlich. Dr.Wetzl gab DIE FREISTÄDTER WIDERSTANDGRUPPE diese Weisung an den Staatsanwalt Dr.Richard Si­ "NEUES FREIES ÖSTERREICH" kory erst mündlich, dann schriftlich weiter. Sikory be­ auftragte den Landesgerichtsrat Dr.Julius Skalnik Vermutlich im Mai 1944 bildete sich in Freistadt eine mit dem Vollzug. Am 1. Mai 1945 wurden die 13 Per­ Widerstandsgruppe, deren Zusammensetzung be­ sonen mit einem Bus zur Militärschießstatt nach merkenswert war, da den weltanschaulich-ideologi­ Treffling gefahren und dort von einer Gruppe des schen Rahmen, der den sonst nach Lagern differen­ örtlichen Volkssturms, bestehend aus fünf Mann und zierten Österreichischen Widerstand sprengt: Der einem Kommandanten, hingerichtet. größte Teil der Mitglieder stammte aus dem ehrist­ Zwei Lastwägen mit Särgen standen schon bereit. liehsozialem Freistädter Bürgertum, allerdings unter Die Leichen wurden zum "Russenfriedhof" nach Einschluß von ehemaligen Sozialdemokraten, einem Wegscheid gebracht und in einem Massengrab ver­ Monarchisten, dem Mitbegründer der Freistädter scharrt. Erst nach der Befreiung wurden die Leichen NSDAP, einem Notar und ehemaligen großdeut• in ihre Heimatgemeinden überführt und dort am schen Gemeinderat sowie einem Kommunisten. Alle weltanschaulich-politischen Gruppierungen der Zeit vor 1938 waren in dieser Gruppe vertreten. Begrün• det wurde die Gruppe von Ludwig Hermentin. Her­ mentinwar ursprünglich Mitglied der SDAP gewesen, war Gründer der Freistädter Mietervereinigung, agi­ tierte aber bereits 1933 für die noch bevor ihn, den Krankenkassenbeamten, die politische Re­ pression des Austrataschismus gezwungen hätte, die politische Einstellung zu wechseln. Alte Freistädter Sozialdemokraten sprechen noch heute über ihn als Verräter. Allerdings gelang es ihm, ob Opportunist oder nicht, 1944 angesehene Bürger und gewiefte Funktionäre in einer Gruppe zu versammeln. Über ih­ re Tätigkeit ist wenig bekannt. Ein überlebendes Mit­ glied berichtete, daß die Gruppe über Linz und Wien Verbindungen mit den Alliierten hatte und im Falle ei­ ner alliierten Luftlandung die zivilen Behörden zu übernehmen gedachte. Ein "Postenplan" findet sich

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16. Juli 1945 bestattet. Die restlichen Verhafteten LITERATURHINWEISE kamen entweder im Laufe des Frühjahres 1945 frei oder wurden von den amerikanischen Truppen am 4. Die vorliegenden Ausführungen beruhen auf dem Buch des Mai 1945 befreit. Dieser Mord an Freistädter Bür• Verfassers, in welchem noch zahlreiche weitere Beispiele gern durch Akademiker und einfache Volkssturman­ von Akzeptanz, Resignation, Widerstand und Verfolgung im Bezirk Freistadt einschließlich einer Dokumentation gehörige drei Tage vor der amerikanischen Befrei­ über die Ereignisse in den Gemeinden des Bezirkes mit ung, zeigt grausam, wie weit die Begeisterung und detaillierten Quellenangaben aufgearbeitet sind. Über die Unterwerfung unter die NS-Herrschaft in Österreich Mühlviertler Menschenjagd wird im April 1992 eine Dar­ gehen konnte. Gegen die mörderische Seilschaft der stellung erscheinen. Beide Bücher sind über den Kleinver­ Linzer Staatsanwälte und Richter gab es in der 2. lag des Verfassers (p.A. F.St.,Helbetschlag 23, 4264 Republik nie ein Gerichtsverfahren. Aber auch die Grünbach) zu beziehen. Stadt Freistadt hat es bis heute verabsäumt, diesen Franz Steinmaßl: Das Hakenkreuz im Hügelland. Nationalso­ in den letzten Kriegswochen im Bemühen um ein zialismus, Widerstand und Verfolgung im Bezirk Freistadt 1938-1945. Grünbach (Mühlviertler Kultur- und Umweltin­ baldiges Ende der NS-Herrschaft ermordeten Bür• itiative) 1988. 430 Seiten. gern ein Denkmal zu setzen. Nur am Ort der Hinrich­ Thomas Karny: Die Hatz. Bilder zur Mühlviertler "Hasenjagd". tung, in Treffling, weist ein Denkmal auf dieses na­ Grünbach (Edition Geschichte der Heimat) 1992. ca. 180 tionalsozialistische Verbrechen hin. Seiten.

ERNST LANGTHALER THESEN ZUR GESELLSCHAFTSGESCHICHTE DES NATIONALSOZIALISMUS AM BEISPIEL FRANKENFELS 1932-1956

Wenn zu Allerheiligen die "Kameraden", die Politiker e Nationalsozialismus in der "Bewegungsphase" und die Vereine zur Totengedenkfeier- in Franken­ (1932-1938), oder: Warum konnte die NSDAP in fels bezeichnenderweise "Heldenehrung" genannt - der Dorfgesellschaft der 30er Jahre Fuß fassen aufmarschieren, dann findet vor dem Kriegerdenk­ (I.)? mal die alljährliche Inszenierung des offiziellen Ge­ e Nationalsozialismus in der "Systemphase" (1938- schichtsbildes über die Jahre 1938 bis 1945 statt. 1945), oder: Wie erfuhr die/der Einzelne die NS­ Man hört in den Reden viel von "Tapferkeit", "Ehre" Herrschaft (II.) und wie reagierte das dörfliche So­ und "Pflichterfüllung". Warum die Frankenfelser Bur­ zialgefüge darauf (I II.)? schen die "Freiheit des Vaterlandes" ausgerechnet • Nationalsozialismus in der "lntegrationsphase" in der russischen Steppe "verteidigten", anscheinend (1945-1956), oder: Warum konnte der National­ widerspruchslos ihr Leben "für die Angehörigen in sozialismus in die Nachkriegsgesellschaft Ein­ der Heimat opferten" und dafür mit dem "Eintritt in gang finden (IV.)? die große Armee" belohnt wurden, bleibt im dunkeln. Ein Beispiel für "Vergangenheitsbewältigung" 50 Jahre "danach". I. DIE NSDAP KONNTE IN DER DORFGEMEIN­ Dieser Forschungsbericht enthält erste Ergebnis­ SCHAFT DER 30ER JAHRE FUSS FASSEN se eines lokalhistorischen Projekts, das sich unter DURCH ... anderem die Aufhellung dieser dunklen Flecken im kollektiven Bewußtsein der Frankenteiserinnen zum ... DIE INTERESSENSLAGEN BESTIMMTER Ziel gesetzt hat. Ich werde an dieser Stelle weder SOZIALER GRUPPEN; mein theoretisches Selbstverständnis erörtern, noch eine möglichst lückenlose Chronologie der Ereignis­ Der Frankenfelser Gemeindesekretär, geboren se anstreben, sondern - stets das Konzept einer 1883, war ein "Hecht im Karpfenteich". Obwohl er "Gesellschaftsgeschichte" vor Augen -folgende Fra­ als öffentlich Bediensteter 1933 erklären mußte, we­ gestellungen in thesenhafter Form diskutieren: der Mitglied der NSDAP noch des Heimatschutzes

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Welche Berufsgruppen sind in der NSDAP besonders stark vertreten?*>

4,2% 5,1%

53,8%

Wohnbevölkerung 1934 NSDAP-Mitglieder 1937 (N = 1651) (N = 39)

.. ·:"'·.. . ..: .. .. ·:...... ·.... , ·' ·.~,, . :··.: . ·. ;::.::!:;:·;·;:::::?·" '~)''Wirt~~haftliche Zugehörigkek' (ka~egoriel1'1aut \1 olkszählung··l934/'~er INohnb"'Y91kerung von Fra~kenfeis'(~t*~?~ ~~;, J .• 1934) un~!:':9er: f1itgliedEwde~ NSDAP-Frankenfels (Stand:} .1. 12.)n7) in Proze~t · · · ··· · · · ·

a.e:gerl.uetu''" 1-\nm<,rKLm<><•n geberfdle i:eriaue Bezteichpung und die A~zahl der B~;~fe der.'~SQAP-Mitgliedet an)f ' .·Land-··ung· Fo~stwirtsch~ft: ~auer:(6),·La~d~)b~iter. (I 2) :Säg~~~)Q~~~sitzer(l•), ~äge:;6~iter;'(l), :H91~iP6eit~r •. (l), : lnd~strieynd· G~f:rhe:,.~auc~fa.n?kehr:er(l )r~ilfsar~eit~r (3), Sch~i~d : :Zimmerer (I);Bäi:~ergehilfe(ll,··•·.·,·.'····' .· ... ··•··. '··' : 1 : . Handel undYerkehr: f3ahiwomand{ I),Weitheriwärter{l ),Bahn,arb•eit••r:(2),1

Öffentlic~;r::pi~l1st: Ge~~Mdesekr~tä~:H) '

1916-1928 (28,5X)

1891-1895 (5,1X)

1911-1915 (18,3X) 1896-1988 (7,7%)

1986-1918 (28,5X)

23 IWK·Mitteilungen zu sein, engagierte er sich während der 30er Jahre fach überrepräsentiert (25,6% gegenüber 14,9%). für die "Bewegung". Was veranlaßte ihn, sich der Ebenfalls deutlich über der gesamtgesellschaftli­ NSDAP anzuschließen und seine sichere Stellung chen Bedeutung bewegen sich die Anteile von dadurch aufs Spiel zu setzen? Der Frankenfelser Handel und Verkehr (12,8% gegenüber 7,8%), Gemeindesekretär verband sein Engagement für die des öffentlichen Dienstes (2,6% gegenüber 1 ,2%) "Bewegung" mit der Hoffnung, sich aus lokalen Ab­ und der Freiberufler (5, 1% gegenüber 1 ,0%). Die hängigkeiten befreien zu können. Sein Gehalt bezog "illegale" NSDAP entspricht auf Grund der vorlie­ er nämlich aus der Gemeindekassa, und die genden Ergebnisse eher dem Typ einer "Volks­ "schwarzen" Bauern im Gemeinderat ließen ihn die partei mit Mittelstandsbauch". Abhängigkeit von ihrer Gunst bei jeder Gelegenheit Die Auswertung der Geburtenjahrgänge der "Illega­ spüren. Er erhoffte sich von der "Modernisierung" len" liefert ebenfalls einige bemerkenswerte Er­ der Verwaltung nach der NS-Machtübernahme seine kenntnisse: Aufnahme in den Landesdienst e Der Nationalsozialismus war vor allem eine Bewe­ War die Frankenfelser NSDAP generell eine Be­ gung der zwischen 1900 und 1920 Geborenen wegung sozialer lnteressensgruppen? Um diese (69,2%). Die Frankenfelser NSDAP war damit im Frage zu klären, müssen wir die soziale Herkunft der Vergleich zu anderen Ortsgruppen eine über• Nationalsozialisten etwas genauer betrachten. Ein durchschnittlich "junge" Partei. Vergleich der "wirtschaftlichen Zugehörigkeit" der • Das Durchschnittsalter der Neubeitretenden sank Nationalsozialisten und der Gesamtbevölkerung lie­ zwischen 1932 (35,3 Jahre) und 1937 (19,5 Jah­ fert - quasi aus der ,,Vogelperspektive" - einen er­ re) ziemlich kontinuierlich um fast die Hälfte. Die sten Eindruck von der sozialen Basis der Frankenfel­ NSDAP war demnach ab dem Parteiverbot 1933 ser NSDAP: eine Sammelbewegung von Jugendlichen - das • Der Frankenfelser NSDAP gelang- im Gegensatz jüngste Neumitglied war 16 Jahre alt! - und jun­ zu anderen Ortsgruppen der näheren Umgebung gen Erwachsenen. - ein deutlicher Einbruch in die bis Anfang der Teilt man die Nationalsozialisten nicht in die politisch 30er Jahre christlichsozial dominierte Bauern­ motivierte "wirtschaftliche Zugehörigkeit" der Volks­ schaft. Der Anteil der NSDAP-Mitglieder aus der zählung 1934 ein, sondern in ein modernes Struktur­ Land- und Forstwirtschaft (53,8%) liegt nur knapp modell, das Alter und Beruf kombiniert, dann lassen unter dem gesamtgesellschaftlichen Wert sich genauere Aussagen über die Sozialstruktur der (58,9%). NSDAP treffen: e Die Frankenfelser NSDAP war- im Gegensatz zu • Rund 2h der Mitglieder arbeiteten als Lohnabhän• den "Mittelstands"-Theorien- keine Bewegung ei­ gige in der Landwirtschaft (Landarbeiter: 30,8%), ner bestimmten sozialen Klasse oder Schicht, in Handwerk und Handel (Arbeiter und Angestell­ sondern entsprach eher einer Sammelbewegung te: 23,1%), und im öffentlichen Dienst, zu dem aller Gruppen der Dorfgesellschaft, in der aller­ hier auch die Eisenbahner und die Lehrer gezählt dings die nichtagrarischen Mittelschichten deut­ wurden (15,4%). Die Selbständigen (Bauern: lich stärker vertreten waren: Die Angehörigen des 15,4%, Gewerbetreibende: 12,8% und Freiberuf­ Bereichs Industrie und Gewerbe sind fast zwei- ler: 2,6%) machten rund 1/s der "Illegalen" aus.

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193B 1932 1934 1936 1938 194B 1942 1944 1946 Beitrittsjdhr

24 IWK-Mitteilungen e Auffallend ist, daß die NSDAP-Mitglieder aus den hängt möglicherweise mit ihren Emanzipationsbe­ "Unterschichten" (Lohnabhängige in Landwirt­ strebungen aus "traditionalen" Strukturen zusam­ schaft, Handwerk und Handel) bis auf eine Aus­ men, was sich am Beispiel des Gemeindesekretärs nahme zwischen 1900 und 1920 geboren wurden, dokumentieren läßt. also extrem jung waren. Die "Mittelschich- ten" hingegen (Bauern, Selbständige in Handwerk und ... RELATIV KURZFRISTIGE Handel, Öffentlicher Dienst und Freiberufler) re­ SOZIOÖKONOMISCHE KRISEN; krutierten sich überwiegend aus älteren Jahrgän• gen. Der Frankenfelser Schmiedemeister K., geboren Den vorliegenden Ergebnissen zufolge waren es vor 1880, hatte während der 30er Jahre mit großen allem die Kleineigentümer in Landwirtschaft, Hand­ Schwierigkeiten zu kämpfen. Seine wirtschaftliche werk und Handel und die zwischen 1900 und 1920 Existenz stand auf dem Spiel: Neben den 600 S, die Geborenen anfällig für das Abdriften zur NSDAP. er verschiedenen Kaufleuten schuldig war, forderte Die Interessen der Selbständigen waren geprägt das Hammerwerk Obergrafendorf 100 S, und sei­ durch den ständigen Konkurrenzkampf mit den nem Gehilfen war er die selbe Summe schuldig. Großbetrieben (Großgrundbesitzer, Fabriken, Wa­ Überdies hatte er eine Zahlungsverpflichtung an sei­ renhäuser) und die mit Argwohn beobachtete gesell­ ne Tocher von 500 S. Sein Eigentum, sein Haus und schaftliche und politische Mobilisierung der Arbeiter­ seine Schmiede, wurden 1935 zwangsversteigert. schaft. Aus dieser Konfliktsituation resultierte die Bereits 1932 schloß er sich der NSDAP an und muß• Angst, zwischen diesen beiden Mühlsteinen zerrie­ te seine "illegale" Betätigung mit mehrmaligen Ver­ ben zu werden, und die Hoffnung auf die Sicherung haftungen 1934/35 bezahlen. der eigenen Existenz in einer "volksgemeinschaftli­ K. war jedoch keineswegs ein Einzelfall: Unter chen" Ordnung. Die zwischen 1900 und 1920 Gebo­ den zahlreichen Zeitungsberichten ab 1930/31 über renen wuchsen im nationalistischen Klima des Er­ die Wirtschaftskrise im oberen Pielachtal schildert sten Weltkriegs auf, erlebten die nationale der folgende Artikel der "St. Pöltner Nachrichten" Frustration nach 1918, wurden durch den Antisemi­ vom September 1931 über die Absatzschwierigkei­ tismus und Antimarxismus der 20er Jahre geprägt ten der Gastwirte, die auf einen landwirtschaftlichen und internalisierten die antidemokratischen Stim­ Nebenerwerb angewiesen waren, die Situation be­ mungen ihrer Zeit. Ihre Sozialisationserfahrungen sonders dramatisch: "Er (der Gastwirt, EL) kaufte schufen einen fruchtbaren Nährboden für die faschi­ sich im Vorjahr wieder eine Kalbin um 140 S, fütterte stischen Ideologien. Nicht zufällig rekrutierten sich sie nach Kräften und verkaufte sie nun vor zwei Ta­ die Frankenfelser paramilitärischen Bewegungen gen. Was nahm er für die Kuh ein? Man höre und (Heimwehr ab 1927, Heimatschutz ab 1931, "illega­ staune, nicht etwa 240 und 300 S, wie früher, son­ le" SA ab 1934, Ostmärkische Sturmscharen ab dern nur mehr 130 S. Er bekam heuer weniger, als 1934) aus diesen Altersgruppen. Daß vor allem die der Einkaufspreis vom Vorjahr betrug, er zahlte also Angehörigen der "neuen" Mittelschichten (Arzt, Leh­ 10 S drauf. Wie soll er aber nun die Steuern bezah­ rer, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, ... ) über• len? Da er die Steuern aus der Gastwirtschaft nicht proportional zum Nationalsozialismus überliefen, ziehen kann, muß er sie schuldig bleiben, bis andere

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EI ßduern Ldnddrh. Selbst. Arh./Ang. öff. Bed. Freie Ber. Berufsgruppen Quelle; .· . . , , II vor 1891 EJ 1891-19EIEI 1;-1/STO/JAT- Hi$torische Datenbank.•:t.ur ~ 19EI1-191EI ~ 1911-1928 Franken(elser Lokalge,schichte. (O~iNS(>AP)

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Zeiten kommen. Da das Steueramt aber auf bessere leidigenden Brief an den Herrn Bürgermeister Josef Zeiten nicht wartet, wird er eines Tages gepfändet Niederer in Untermassig geschrieben zu haben, in und ihm ein Stück versteigert! Er wird also neue welchem er seine Parteizugehörigkeit zur ,National­ Auslagen haben, wird wieder um ein Stück ärmer sozialistischen Partei' betont und für die Zukunft be­ sein und langsam zum Proletarier, zum Heloten für hauptet." Die Gendarmen dürften diese Aktion je­ ein System herabsinken, das die Berufspolitiker so doch eher als "Lausbubenstreich" gewertet haben, schön finden und an dem sie festhalten mit allen weil sie H. wegen seiner "innigen Bitten" nicht ver­ Kräften!" hafteten. Auch wenn hier von einer bewußten Überzeich• Der Brief, den H. an den "schwarzen" Bürgermei• nung der realen Verhältnisse zum Zweck der politi­ ster schrieb, fügt sich lückenlos in eine Propaganda­ schen Agitation auszugehen ist, erlauben diese Be­ welle der Frankenfelser Nationalsozialisten ein, die richte dennoch Einblicke in den Zusammenhang bald nach der Gründung der Ortsgruppe im Juli 1932 zwischen sozioökonomischer Krise und politischer anlief. Die Themenpalette der Versammlung reichte Radikalisierung. Die ab 1930/31 auch im oberen Pie­ vom "Programm der NSDAP" über die "Herrschaft lachtal spürbare Wirtschaftskrise traf neben den der Systemparteien" bis zur Frage "Wie ist unser Lohnabhängigen auch die Kleinunternehmer in Volk aus der heutigen großen Not zu bringen?" Aus Landwirtschaft, Handwerk und Handel, für die die den zahlreichen Artikeln, die in den nationalsoziali­ Schere zwischen steigenden Kosten (z. B. wegen stischen "St. Pöltner Nachrichten" erschienen, las­ hohen Kreditzinsen) und sinkenden Einnahmen (z. sen sich die strukturellen Merkmale der öffentlichen B. wegen Preisverfall) zunehmend enger wurde. Die Agitation der Frankenfelser Nationalsozialisten von Krisensymptome- die u. a. auch im Rückgriff auf die der Gründung im Juli 1932 bis zum Verbot der Partei Naturalwirtschaft zum Ausdruck kamen- verstärkten im Juni 1933 ableiten: die Angst vor der drohenden "Proletarisierung" und • Die NS-Propaganda richtet sich vor allem an die führten zu einem Vertrauensverlust dieser mittel­ bäuerliche Bevölkerung, was auch an der Wort­ ständischen Schichten in die ohnehin nie voll akzep­ wahl - "Die Früchte der ausgestreuten Saat wer­ tierte demokratische Ordnung. den bestimmt reifen"- erkennbar ist. • Die christlichsoziale Partei ist folglich der takti­ ... PROTESTBEWEGUNGEN GEGEN DAS sche Hauptgegner. Von den Anhängern der So­ ETABLIERTE HERRSCHAFTSSYSTEM; zialdemokratie, die als "mordender, brennender Bolschewismus" diffamiert werden, erwarten sich Der Sägewerksbesitzer H., Jahrgang 1909, war seit die Frankenfelser Nationalsozialisten anschei­ 1932 Mitglied der NSDAP. Am 31. Juli 1934 mußte nend keinen großen Zulauf. er nach einer Hausdurchsuchung laut Eintragung in • in den öffentlichen Auftritten wird versucht, den der Schulchronik "einbekennen, einen mehr als be- politischen Gegner persönlich zu diffamieren.

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Dem christlichsozialen Landtagsabgeordneten sehe Propaganda zur Mobilisierung von Protestbe­ Kaiser warfen die Frankenfelser Nationalsoziali­ wegungen gegen das demokratische "System" nüt• sten vor, er hätte seine "Studien im Dörrhäusl und zen. Besonders gelegen kam ihnen die Verurteilung im Stadl vor den Heuschobern" gemacht. des christlichsozialen Bürgermeisters von Franken­ e Mit allen Propagandaaktivitäten versuchten die fels 1931 wegen Veruntreuung von Gemeindegel­ Nationalsozialisten an die sozioökonomische dern, die unter der Schlagzeile "Eine gefallene Par­ Lage vor allem der Bauern und Gewerbetreiben­ teigröße" als Beispiel für die Auswüchse der den anzuknüpfen ("Preisverfall", "Steuern") und Herrschaft der "Systemparteien" instrumentalisiert ihre Ängste anzusprechen ("Verschuldung", wurde. "Zwangsversteigerungen"). Das Verbot der NSDAP am 19. Juni 1933 und die • Hauptinhalt der NS-Propaganda ist die Kritik an nun einsetzenden staatlichen Gegenmaßnahmen der demokratisch-parlamentarischen Ordnung zwangen die Nationalsozialisten zu einer Änderung und seinen Repräsentanten, den "Systempartei­ ihrer Taktik. Die Kriminalisierung konnte die öffentli• en". che Agitation der NSDAP nicht dauerhaft eindäm• • Zusätzlich knüpfen die Nationalsozialisten mit an­ men, wie die Eintragungen in den Eingangsbüchern tisemitischen, antimarxistischen und antidemokra­ der Bezirkshauptmannschaft zeigen: Durch Verbrei­ tischen Parolen an bestehende Feindbilder im Be­ ten von Flugzetteln, Streuen von Hakenkreuzen, wußtsein der Bevölkerung an ("jüdischer Schreiben von Drohbriefen und spektakuläre Bolschewismus"). Schmieraktionen - Frau L. erinnert sich, daß • Äußerst subtil ist der Antiklerikalismus der Fran­ sie beim Kirchgang (im Winter 1933/34) ein riesiges kenfelser Nationalsozialisten: Sie kritisieren zwar Hakenkreuz, das mit roter Farbe auf die verschneite die katholische Kirche und seine Repräsentan• Wiese gemalt war, bemerkte - konnten die "Illega­ ten, den Pfarrer, beschwören andererseits jedoch len" das Interesse der Bevölkerung an dieser "ge­ Hitler als "Retter des wahren Christusglaubens". heimnisumwitterten" Organisation schüren. • Einen besonderen Aspekt stellt die lnstrumental­ isierung des sozialen Status prominenter Fran­ ... DESINTEGRATIONSPROZESSE IN kenfelser Nationalsozialisten dar. Jury und Pilger, POLITISCH-SOZIALEN MILIEUS; beides Frankenfelser Gemeindeärzte, besaßen in der Bevölkerung hohes Ansehen und wurden als Der Frankenfelser Oberlehrer K. W., geboren 1889, nationalsozialistische Leitbilder, "die sich in auf­ war- wie die vielen Vertreter seiner Berufsgruppe­ opfernder, christlicher und sozialer Weise in den ein "Großdeutscher". Als Leiter des "Männerge• Dienst des Volkes stellen" im Kontrast zum "unge­ sangsvereins Frankenfels" pflegte er seit den 20er bildeten Systempolitiker" präsentiert. Jahren das "deutsche Liedgut" und betrieb fast ein Die antiparlamentarischen Kräfte (Heimatschutz ab Jahrzehnt lang die Absetzung des christlichsozialen 1931, NSDAP ab 1932) konnten die spürbare Ver­ Bürgermeisters Schagerl, der angeblich die Lehrer schlechterung der sozioökonomischen Lage breiter öffentlich als "notwendiges Übel" bezeichnete. Am Bevölkerungsschichten ab 1930/31 durch populisti- Ostersonntag 1934 wurde auf seine "Intervention"

Woher kommen die Wähler der NSDAP?*> ·

HIB,IlY..,----~---~---~---~----, *)' Antriled~,~'~t1Mfu~~'Ja~i~~~ii~~~~~~~~~·· ' P.a~ei~n,PE!i:den:~.~VV 1'~30 un Tw. 193 2 an de~ ~ü ltigery ~till1 . . N ~ 81l.llZ ------·--M-- "------~------['. ~ : : Ab,kü~~"g~n: ... ·. ·.·' ··.· , .. HB: Heimatblcxk(kandidie~~•nluiJ93o) ·· · 61l,llZ CSP: ChristlkhsC>Zia.le Partei NS: NationalsozialistisfJ1E!peuts<;he'Ärbei­ terpartei (Hiderbewe~un~) 41l.llZ ------~- ---~------GD: GroßdeutscheVolkspartei LB: Landbund (kandidierte 1930 ~~~amJl'1E!n mit der Großdeut;Schen Volk$p<\rtei) . .. Zll.llZ SOAP: Sozialdemokratische Ar~E!~pa~#i .• '

ll, llZ 1---~-~t- ~ ~ "'" "' ~ CD" Qu(!/tel"l: .. .··.· .. ·.. ·· .... N ~ N Eigene Berechnup~~O' nach: Nö, I I I I -Zil.llY. '--~-H-B--'-~-----'------'------'---S-D"-P---' amtsdirektion (Hg.): Ergebnis dfrLT':."{; CSP NS GD+LB H vomU Apri/.193l;WienJ93Z; St,. II NRW 38 CD LTW 32 rnrn +/- Zeitung, Nr. 46/1930 V9rnJ3;1J.,,:S::J()/ : ·: .11 ...... ,8

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hin eine Ortsgruppe der Vaterländischen Front" ge­ 1931 und das Überlaufen des Heimatschutzflügels gründet, zu deren Kassier und Pressereferenten er in das NS-Lager 1931/32 setzten neben den Ablö• 1935 aufstieg. sungdbewegungen von den "Systemparteien" ab Daß W. ein eher untypisches Beispiel für die Auf­ 1930 das Potential für eine Sammelbewegung des lösungserscheinungen des deutschnationalen "La­ Protests frei, das die ebenfalls als "Systempartei" gers" Anfang der 30er Jahre darstellte, zeigt ein Ver­ diffamierte Vaterländische Front ab 1934 nur ansatz­ gleich der Ergebnisse der Nationalratswahl 1930 weise mobilisieren konnte. und der Landtagswahl 1932: • Als einzige Partei konnte die NSDAP von den ... DIE EIGENDYNAMIK SOZIALER NETZWERKE; Stimmenverlusten der anderen Parteien profitie­ ren (+7,2%) und dadurch ihre Wählerschaft mehr Der Kaufmann P., geboren 1902, übernahm bereits als verdreifachen. als 25jähriger das Geschäft der Eitern. Der von sei­ • Einen besonders drastischen Zersetzungsprozeß nen politischen Gegnern als "Sozifresser" gebrand­ erlebte das "großdeutsche" Lager (-1 ,4%): Seine markte P. war eines der Gründungsmitglieder der Wählerschaft schrumpfte um die Hälfte. Frankenfelser NSDAP im Juli 1932. Während des • Der "Heimatblock" (-1 ,0%) kandidierte nicht mehr Parteiverbots verstand er es, sich durch den Beitritt und lief fast geschlossen zu den Nationalsoziali­ zur "Vaterländischen Front" geschickt zu tarnen. sten über. Während der "Illegalität" versuchte er, durch ständige • Die Christlichsoziale Partei mußte ebenfalls Ver­ Besuche seinen Nachbarn, den Schuhmachermei­ luste hinnehmen (-2.0%), die jedoch gemessen ster T., für die Bewegung zu gewinnen. T. trat zwar an der gesamten Stimmenanzahl relativ gering allem Anschein nach nicht der NSDAP bei, die Agita­ waren. tion war jedoch so intensiv, daß er in den Verdacht • Die Sozialdemokratie verlor die meisten Stimmen geriet, sich "illegal" für die NSDAP zu betätigen und (-2,8%) und büßte damit rund ein Achtel ihrer die Gendarmerie 1934 sein Haus durchsuchte. Wählerschaft ein. Aus diesem Beispielläßt sich ableiten, daß neben Die Spaltung der Frankenfelser Heimwehrbewegung der öffentlichen Propaganda ein Faktor für den "Auf-

Wo wohnen die "illegalen"· Nationalsozialist~n?*>

*) Geographische Verteilung der Wohnsitte der Frankenfelser NSDAP-Mitglieder (Stand: 3 I. 12. 1937)

legende; Haus A Wohnsitx eines nachweisbaren NS Wohnsitz eines wahrscheinlichen NS A X Bergspitze mit Höhenangabe • • • ® Gemeindegrenze ...... _ Gewässer A • A (j) Region "Höllgraben" ® Region "Markt" ® Region "Frankenfelsberg" @ Region "Weißenbach"

Quellf#p; v Gamsjäger, Bernhard: ·Franken(elser ·Hiluserl>tii:h. t Frankenfels f 987; S.. 486. . _j HISTC:JDAT ~Histnf

28 IWK-Mitteilungen stieg" der Frankenfelser NSDAP besonders zum tra­ verhafteten - angeblich auf Grund einer Anzeige gen kam: die persönliche Agitation im Alltag. Die des Bäckermeisters T. - Friewald nach dem Unter­ Verteilung der Wohnsitze der "Illegalen" zeigt sehr richt. Er wurde wegen "Betätigung für die verbotene deutlich, daß die NSDAP nur in bestimmten Regio­ NSDAP" zu 6 Wochen Arrest verurteilt und seines nen des Gemeindegebiets Anhänger gewinnen Dienstes enthoben. konnte: im "Höllgraben", im "Markt", auf dem "Fran­ Friewald war nicht der einzige Angehörige der so­ kenfelsberg" und im "Weißenbachtal". Neben der Fa­ zialen Elite, der zum Nationalsozialismus überlief. milie (ln einer Familie lebten 4 "Illegale"!) bot das so­ Ein beträchtlicher Teil der "Dorfintelligenz" (Lehrer, ziale Netzwerk der Nachbarschaft, in das jeder Arzt, Gemeindesekretär) engagierte sich bereits seit Dorfbewohner auf vielfältige Weise eingebunden 1932/33 für die "Bewegung". Die Frankenfelser war, den NS-Aktivisten immer wieder Anknüpfungs• NSDAP schöpfte ihre Anziehungskraft zu einem punkte, um für die "Bewegung" zu werben: bei der Großteil aus dem hohen sozialen Status dieser Füh• gemeinsamen Arbeit, bei privaten Zusammenkünf• rungsclique, was u. a. in der NS-Propaganda, aber ten oder bei festlichen Anlässen, zu denen die Nach­ auch in der gegnerischen Polemik ("studierte natio­ barn eingeladen waren. Die vielfältigen familiären nalsozialistische Maulhelden") zum Ausdruck kam. und nachbarschaftliehen Beziehungen erleichterten Besonders nach der Bestrafungswelle gegen die NS­ die Werbung neuer Mitglieder und ließen "braune Führung 1934/35 konnten die "Helden der Bewe­ Nester" auf der Frankenfelser Landkarte entstehen. gung" heimliche Sympathien in der Bevölkerung ge­ winnen . . . . DIE SOZIALE ATTRAKTIVITÄT LOKALER ELITEN; ... ALLGEMEINE STAATSPOLITISCHE RAHMENBEDINGUNGEN. Leopold Friewald, Lehrer an der Frankenfelser Volksschule, entsprach dem, was man eine "geach­ Der Bundesbahnbedienstete K., geboren 1902, ar­ tete Persönlichkeit" nennt. Er hing - so eine Lobes­ beitete als Weichenwärter auf dem Bahnhof Schwar­ hymne aus dem Jänner 1940 - "an seinen Schülern zenbach. Am 1. August 1936 gab er seine Beitritts­ mit unbändiger Liebe. ( ... ) ln den Gesangsstunden erklärung zur NSDAP ab. Er dürfte bereits seit standen oft und oft Menschen vor der Schule und längerer Zeit mit der "Bewegung" sympathisiert ha­ lauschten den herrlichen deutschen Liedern, die die­ ben, doch als öffentlich Bediensteter hätte er mit ser Mensch den Kinderherzen lehrte." Friewald, ge­ dem Parteibeitritt seine Stellung riskiert- er wartete boren 1897 und damit Angehöriger der "Frontgene­ ab. Das "Juliabkommen" 1936 zwischen dem Deut­ ration" des Ersten Weltkriegs, engagierte sich schen Reich und Österreich, das die faktische Lega­ jedoch nicht nur für seinen Beruf, sondern auch für lisierung der NSDAP einleitete, dürfte für ihn den die Politik. Er gründete am 1. Juli 1932 mit fünf wei­ Ausschlag zum Beitritt gegeben haben. teren Gesinnungsgenossen eine NSDAP-Ortsgrup­ Daß das jeweilige politische Klima den Beitritt zur pe in Frankenfels. Am 1. Juli 1935 erschienen Gen­ NSDAP begünstigt bzw. erschwerte, zeigt ein Blick darmen in der Volksschule Frankenfels und auf die Beitrittsdaten der Mitglieder.

· Wann treten die "Illegalen" bei?*> ·· *) ·A~t~ile; :d~~ B~i~r;~~~~~~::d~r·: N~bÄ~:.: ' 1937 (5.1X) · Mitglieder.arri,•Mitgliederstand .·. · 1937 • ... . . ·...... "\t9mJLI2~ ·....•

1936 (25.6X) 1932 (38,5X)

1935 (5,1X)

1933 (12,8X) HISTODAT - Historische.Quelle: Datenbaryk.. . ····· .... ,zur · w~_ Frankenfelser Lokalgeschichte (DateiNSDA~)

29 IWK-Mitteilungen e Die größten Zuwächse, gemessen am Mitglieder­ II. DIE/DER EINZELNE ERFUHR DIE stand 1937, erreichte die NSDAP in den Jahren NS-HERRSCHAFT ALS ... 1932 und 1933 (38,5% bzw. 12,8%), als die "Be­ wegung" noch öffentlich agieren konnte, und 1936 ... KONKURRENZ DER LOKALEN (26,5%) als durch das "Juliabkommen" der staatli­ HERRSCHAFTSTRÄG ER; che Druck nachgelassen hatte. e Trotz der Schwächung der Organisation durch die Der Frankenfelser Oberlehrer ahnte am Morgen des Verhaftungswelle gegen die "illegale" Parteifüh• 12. März 1938 bereits die Ereignisse, die ihn erwar­ rung 1934/35 erzielte die NSDAP in diesen Jah­ teten: "Meine Frau sagte am 12. März früh, als ich ren überraschend hohe (12,8% bzw. 5,1 %) Zu­ aufstand: ,Heute hast du als Oberlehrer ausge­ wachsraten. spielt.' Ich wußte es, wollte ihr aber keine unnötigen • 1937 zeichnete sich durch den geringen Zuwachs Sorgen bereiten." Im Konferenzzimmer erwarteten (5, 1%) ab, daß die "Bewegung" das Mitgliederpo­ ihn bereits die neuen Machthaber: "Nach meinem tential, das unter den Bedingungen der "Illegalität" Eintritt ( ...) teilte mir Gendermarieinspektor S. mit: vorhanden war, bereits zum Großteil ausge­ ,Über Auftrag der NSDAP sind sie als Oberlehrer der schöpft hatte. Schule Frankenfels enthoben und haben sofort alle Die staatlichen Gegenmaßnahmen konnten die in Betracht kommenden Agenden der Schulleitung "Bewegung" nicht eindämmen, wie die wachsen­ an den neuen Leiter Leopold Friewald zu überge• de Mitgliederzahl und der Ausbau der Parteiorga­ ben. Sie werden keinen Schaden erleiden, die nisation (SA-Gründung 1934 und HJ-Gründung NSDAP kennt keine Rache."' Völlig überraschend 1937) belegen. Im Gegenteil: Die verfolgten Natio­ stellte der Bezirksschulrat W. am 22. März wieder nalsozialisten galten als "Helden" im Kampf gegen ein. Zwei Tage später ließ ihm der Ortsgruppenleiter das "System" und sicherten der Partei durch die nochmals mitteilen, daß er als Oberlehrer abzutreten Faszination des Verbotenen heimlich Sympathien habe. Am 14. April versicherte ihm der Bezirksschu­ in der Bevölkerung. Daß die Verfolgungsmaßnah• linspektor, "man werde an mir alles gutmachen." Er men relativ wirkungslos waren, lag auch an den be­ wurde jedoch nicht mehr eingestellt. Auch ein neuer­ sonderen Frankenfelser Verhältnissen: Durch den licher Anlauf wurde 1943 von der Frankenfelser Frankenfelser Gemeindesekretär hatten die Natio­ NSDAP-Führung verhindert. nalsozialisten Zugang zu wichtigen Informationen, Dieser offensichtliche Konflikt zwischen dem Herr­ der Gemeindearzt konnte die Agitation für die "Be­ schaftsanspruch der Frankenfelser NSDAP und der wegung" als Krankenbesuch tarnen, und die Fran­ Schulverwaltung ist nicht allein durch das Kompe­ kenfelser Gendarmen übten eine äußerst zurückhal• tenzchaos der ersten Tage nach dem "Anschluß" zu tende Auskunftspraxis bei Erhebungen des erklären. Mehrere Herrschaftsträger konkurrierten in "politischen Leumunds" durch die Bezirkshaupt­ Frankenfels um die Durchsetzung ihrer Interessen: mannschaft • Die "Partei", repräsentiert durch den Ortsgruppen-

Wie ist die NSDAP in den 40er Jahren organisiert?

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Quelle;

: Get;rJ~in~tc/li~fri.Jnkenf~s, b~dner. OlOO!I~S:ZeJ/en:. und•B/Q(k~eqeichni~ der NSDAP·Fr~nkenfei~

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Ieiter, versuchte sofort nach dem "Anschluß", ein­ durch häufige Ortsgruppenleiterwechsel gesunken flußreiche Posten von Systemgegnern zu "säu• sein. Der Bürgermeister und der Ortsbauernführer bern", das Frankenfelser Vereinswesen zu absor­ waren nicht unglücklich darüber, weil ihnen Friewald bieren und durch ein dichtes Netz von "Zellen-" "zu scharf" war und die beiden nun selbst "alles aus­ und "Biockleitern" die Kontrolle über das Privatle­ handeln" konnten. Das "Dorfdreieck", also die Ko­ ben der Bevölkerung sicherzustellen. Viele operation zwischen Ortsgruppenleiter, Bürgermei• Mitglieder verstanden die "Partei" und im beson­ ster und Ortsbauernführer, entwickelte sich in dern die SA als lnteressenvertretung: Bei Mei­ Frankenfels zu einer bäuerlich dominierten "Achse" nungsverschiedenheiten mit dem Finanzamt, bei Bürgermeister - Ortsbauernführer, bei der die Stellenbewerbungen oder bei Ansuchen um NSDAP nur fallweise mitmischen konnte. Die Be­ Bezugsscheine wandte man sich an den Orts­ schlüsse des Gemeinderats, die Praxis der UK-Stel­ gruppenleiter oder an den SA-Truppenführer, der lung und die Lebensmittelrationierung zeigen, daß - wollte er die Sympathie der "Parteigenossen" alle nichtbäuerlichen Schichten des Dorfes in vieler­ nicht verlieren- die Anliegen meist unterstützte. lei Hinsicht benachteiligt waren. • Die Gemeindevertretung, repräsentiert durch den Bürgermeister, trat auf Vorschlag der NSDAP zu­ ... BÜROKRATISIERUNG DES ALLTAGSLEBENS; sammen. Die Gemeinderäte führten jedoch ein Schattendasein, da in der Kommunalverwaltung Der Tischlergehilfe N. wuchs in einer sozialdemokra­ "nicht ein Mehrheitsbeschluß, sondern das verant­ tisch geprägten Familie auf. Wegen eines Lungenlei­ wortliche Manneswort des einzelnen" Geltung dens konnte er sich der Einberufung zur Wehrmacht hatte. Ihre Tätigkeit reduzierte sich auf die Kennt­ entziehen, was ihm einige Anfeindungen einbrachte. nisnahme des Gemeindebudgets, auf die Festset­ Während des Krieges wurden er und seine Familie zung von Gebühren und auf die nachträgliche Opfer einer Intrige: Die Leiterin der NS-Frauenschaft Bestätigung von Personalentscheidungen der zeigte am Gemeindeamt an, daß sie bei seinem NSDAP. Wohnhaus "so viele Hühner" bemerkt hätte. Sein • Der "Reichsnährstand", repräsentiert durch den Vater mußte sich daraufhin auf dem Gemeindeamt Ortsbauernführer, der einerseits als quasi-staatli­ rechtfertigen. Der Bürgermeister drohte ihm: "Es ches Organ für die Ausführung der kriegswirt­ werds eich so lang spün, bis ma eich aushebn schaftlichen Maßnahmen verantwortlich war. lassn." Andererseits mußte er danach trachten, die Loya­ Der NS-Bürokratie gelang es, wie dieses Beispiel lität der Bauern nicht zu verlieren und galt als An­ zeigt, ihre Arme bis in die hintersten Winkel des Pri­ laufstelle für bäuerliche Interventionen: "1 bin aber vatlebens auszustrecken. Diese "Kolonialisierung heut no stolz drauf, daß i mei Ortsbauernschaft in der Lebenswelt" durch den Staatsapparat erfuhren Schutz gnommen hab. Mia kann niemand was die Dorfbewohner jedoch auf sehr unterschiedliche nachsagn . . . Oder bei die ganzen UK-Stellun­ Weise: gen, net? Wiavü Ortsbauernführer warn, die a • durch die Einführung der Zivilehe ab 1. August bissl was angnommen habn? ln Frankenfels kann 1938; mir kana nachsagn, daß ma oana was gebn hätt • durch sozialpolitische Maßnahmen, die der Ge­ müssn dafür, und für wievü hab i mi aufgeopfert? burtenförderung dienten (Ehestandsdarlehen, Kaum bin i an Tog dahoamgwesn, is scho wieder Kinderbeihilfe) und vielen Frankenfelser Lohnab­ a anderer dagwesn, hab i für den nach St. Pölten hängigen die Heirat ermöglichten; fahrn müssn. Weil i mit dem Wehrbezirkskomman­ • durch die "Entschuldungsaktion", die laut Aussa­ do guat gstandn bin, hob i eigentlich a hauptsäch• ge des ehemaligen Ortsbauernführers rund die lich alles durchbracht." Diese Doppelrolle brach­ Hälfte der Frankenfelser Bauern in Anspruch nah­ te ihn wiederholt in Konflikte: mit den Behör• men; den (beispielsweise bei Meinungsverschiedenhei­ • durch öffentliche Arbeitsbeschaffungsaktionen (z. ten über die amtlichen Höchstpreise), mit Nicht­ B. die Regulierung des Redenbachs 1938, die die Bauern (beispielsweise durch "Freundschafts­ Frankenfelser NS-Führung zur Propagandaformel dienste" für Bauern, die ihre Konkurrenten beim "Frankenfels hat keine Arbeitslosen mehr!" veran­ Kauf einer Wirtschaft ausbooten wollten) oder laßte); Bauern (beispielsweise wenn er UK-Gestellte ein­ • durch die staatlichen Aufträge an Gewerbebetrie­ rücken ließ). be (z. B. fertigte der Schuhmacher ab 1938 in er­ Die einzelnen Herrschaftsträger waren durch die ster Li nie Soldatenstiefel an); handelnden Personen verflochten: Friewald, der "il­ • durch Maßnahmen zur "Ernährungssicherung" ab legale" Ortsgruppenleiter avancierte im März 1938 Kriegsbeginn (Ablieferungspflicht der Bauern, zum Bürgermeister. Der Ortsgruppenbauernführer Ausgabe von Lebensmittelkarten); war gleichzeitig 1. Beigeordneter im Gemeinderat. • durch den staatlich organisierten Ersatz der ein­ Der Presseleiter der NSDAP war 2. Beigeordneter. gerückten Arbeitskräfte durch "Fremdarbeiter" ab Der Propagandaleiter der NSDAP leitete als Ge­ 1939 (z. B. arbeiteten im November 1924 27 meindearzt auch die Gesundheitsverwaltung. Nach "fremdvölkische Arbeitskräfte" bei Frankenfelser der Versetzung Friewalds 1938 dürfte der Einfluß Bauern); der NSDAP in der dörflichen Herrschaftsstruktur • durch die quasi-offiziellen Spendenaktionen, die

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einer Zwangsabgabe gleichkamen. Der "St. Pölt• Der Zweck dieser "Ästhetisierung der Politik" liegt ner Anzeiger" meldete beispielsweise 1940, daß auf der Hand: Die Lage der Kleinbauern, die Arbeits­ 277 Sammler auch die am entlegendsten woh­ bedingungen der Sägewerksarbeiter oder die Diskri­ nenden "Volksgenossen" aufsuchten, die "ihr minierung der Frau in der patriarchalischen Dorfge­ Scherflein mit(-brachten, EL), und mit oft schwer­ meinschaft ändern sich durch die Inszenierung der fälligen, ausgeschundenen und zitternden Hän• "Volksgemeinschaft" nicht. Wohl aber konnte die den den überbrachten Opferbeitrag (bestätigten, Einbindung des Einzelnen- mit Ausnahme der "Ge­ EL)." meinschaftsfremden", die ausgegrenzt und terrori­ siert wurden - in diese Rituale ein (falsches) Be­ ... INSZENIERUNG EINER "VOLKSGEMEIN­ wußtsein erzeugen, das die realen SCHAFTLICHEN" DORFÖFFENTLICHKEIT; Machtverhältnisse verschleierte und den Alltag da­ durch erträglicher machte. "Diese Fahrt wird so manchen in Erinnerung blei­ ben", schloß der Berichterstatter über einen Be­ ... TERRORISIERUNG GESELLSCHAFTLICHER triebsausflug des Sägewerkes in der "St. Pöltner RANDGRUPPEN Zeitung" im Juli 1939. Der Sägewerksbesitzer H., geboren 1909, lud seine Arbeiter und deren Frauen Der Hilfsarbeiter S., geboren 1904, litt laut Diagnose zu einer Fahrt in die "grüne Steiermark" ein. "Bei so der Mauer-Öhlinger Ärzte an "paranoider Schi­ manchem von diesen 15 Arbeiterfrauen und Män• zophrenie". 1936 veranlaßte die Bezirkshauptmann­ nern wird es das erstemal ihres Lebens gewesen schaft St. Pölten seine Einweisung in die psychiatri­ sein, in Gesellschaft ihrer Arbeitskameraden und - sche Anstalt Mauer-Öhling/Niederösterreich. Im kameradinnen so sorglos ins Grüne fahren zu kön• Sommer 1940 erfuhr seine Frau von der Anstaltslei­ nen und dort ein neues schönes Stückehen Erde un­ tung, daß er am 8. Juli in die Heilanstalt Nieder­ seres geliebten Vaterlandes kennen zu lernen ( ... ). hart/Oberästerreich überstellt wurde. Bereits drei Ein kühles Lüftchen durchzieht den Wald, was für je­ Wochen später hielt sie die Todesnachricht in Hän• den Erfrischung bringt, auch dem vom Alltag abge­ den. S. sei am 26. Juli 1940 in der Pflegeanstalt hetzten Arbeiter( ... )." Grafeneck/Württemberg an einem "perforiertem Ma­ Dieser Tag mußte wirklich etwas Besonderes für gengeschwür und Bauchfellentzündung" gestorben. jeden Teilnehmer gewesen sein. Der Unternehmer, Seine Leiche wurde- angeblich "auf Anordnung der der bis dahin von seinen Arbeitern volle Leistung für Polizeibehörde" - eingeäschert, weil "in der Anstalt wenig Geld verlangt hatte, kehrte plötzlich seine Seuchengefahr herrschte". Es besteht kein Zweifel menschliche Seite hervor und sorgte sich um ihre darüber, daß S. im Rahmen der "Euthanasie"-Aktion Freizeit. Die Inszenierung sozialharmonischer Ritua­ ermordet wurde. le, die hier zum Ausdruck kommt, spielt auch in an­ S. mußte die rassenpolitischen Vorstellungen des deren Bereichen der Dorföffentlichkeit eine Rolle: NS-Regimes mit dem Leben bezahlen. Neben der • Durch fast alle propagandistischen Zeitungsbe­ "Euthanasie" wurden Frankenteiserinnen durch richte der Frankenfelser NSDAP zieht sich die Eheverbote und durch Zwangssterilisierung Opfer Spur des "Biut-und-Boden"-Mythos, der den Bau­ der ,.Erbgesundheitspolitik". Die Initiative für diese ern, der "mit seiner Scholle aufs innigste verwur­ Aktion ging zwar "von oben" aus. Der Frankenfelser zelt ist," zu einem gesellschaftlichen Leitbild er­ Bürgermeister, der Gemeindesekretär und der Ge­ hebt. meindearzt ermöglichten jedoch die Verfolgungs­ • Die "Erntehilfe", der Einsatz freiwilliger Helfer bei maßnahmen, indem sie ihre "Pflicht" erfüllten und der Erntearbeit, wurde Jahr für Jahr als Beispiel akribisch angefertigte Listen über die "erbkranken für die "wahre Volksgemeinschaft" hochstilisiert, Personen der Gemeinde Frankenfels" an die Ge­ denn "es war nicht nur des Bauern Brot, sondern sundheitsbehörden weiterleiteten. das Brot des ganzen deutschen Volkes, das sie (die Erntehelfer, EL) hier aufspeichern halfen." 111. DAS DÖRFLICHE SOZIALGEFÜGE REAGIERT • Der 1. Mai wurde in der "Führergemeinde" Fran­ AUF DIE NS-HERRSCHAFT DURCH ... kenfels als "Tag der nationalen Arbeit" unter dem Maibaum als Zeichen der Verbundenheit began­ ... DIE ATOMISIERUNG DER "TRADITIONALEN" gen. Nachdem der Bürgermeister aus dem 1. GESELLSCHAFT; Stock seines mit Fahnen, Girlanden und einem Hitlerbild geschmückten Wohnhauses eine "tief­ Der Schuhmachergehilfe N., geboren 1922, erlebte empfundene, herzliche Ansprache" gehalten hat­ 1938 in der "Hitlerjugend" eine große Zeit: "Interes­ te, "versammelte sich die Gemeinde vor den sant wars für uns schon am Anfang, weil do hamma Lautsprechern zur Führerrede." scho Boxhandschuhe kriegt, an Fußball, und ein • Am "Ehrentag der Mutter" veranstaltete die NS­ Gewehr hamma a kriagt, a Kleinkalibergwehr ( ... ). Frauenschaft alljährlich eine Feier, in der die Müt• Natürlich, des hat uns scho gfalln, jetzt hamma a ter der Gemeinde bewirtet, beschenkt und mit Gwehr, net, und a Munition hamma a ghobt." Zur HJ Mutterkreuzen dekoriert wurden. Diese Inszenie­ ging er, weil seine Freunde, vor allem die "intelligen­ rung sollte die "in ihr (der Mutter, EL) ewig sich teren, was a biß! oben waren", führende HJ-Mitglie­ erneuernde Kraft unseres Volkes" beschwören. der waren.

32 IWK-Mitteilungen

Die Organisierung der Frankenfelser Jugendli­ • Innerhalb der NSDAP, die durch ihren Totalitäts• chen in der HJ stellt nur ein Beispiel für den "sozia­ anspruch nahezu das gesamte dörfliche Vereins­ len Wandel" des dörflichen Sozialgefüges unter der leben zerstörte, eröffneten sich nun für Bevöl• NS-Herrschaft durch Desintegration, also Auflösung kerungskreise, die bisher kaum "Führungs• bisheriger Bindungen, bzw. Integration in neue For­ positionen" innehatten, Aufstiegschancen, die ne­ men des Zusammenlebens dar: ben dem sozialen Ansehen auch materielle Vor­ • Zunächst war es einmal die Familie, die durch die teile versprachen. Besonders die "Zuagrasten", vielfältigen neuen Integrationsangebote betroffen also jene Frankenfelser, die nicht hier geboren war. Die Jugendlichen wurden durch die wöchent• wurden, nahmen dieses Angebot wahr. lichen HJ-Heimabende, die öffentlichen Ausrük• • Die Neuformierung des sozialen Lebens durch kungen und die Lageraufenthalte der unmittelba­ die NS-Herrschaft bedeutete für manche Bevölke• ren Erziehungsgewalt der Eitern entzogen. Den rungskreise einen subjektiven Emanzipationspro­ Frauen gelang es ansatzweise, ihre Beschrän• zeß. Der Jugendliche, der in Schule und Eitern­ kung auf "Kinder", "Küche" und "Kirche" durch die haus bisher nur unterdrückt wurde, bekam in der Übernahme öffentlicher Funktionen in der NS­ Hitlerjugend Befehlsgewalt über Gleichaltrige. Die Frauenschaft und den Ersatz der eingerückten Frau, die in der Öffentlichkeit bisher nichts zu re­ Männer zu durchbrechen. den hatte, übernahm in der NS-Frauenschaft so­ • Das Frankenfelser Vereinswesen vor 1938 - ge­ ziale (Gestalten von "Fronturlauberfeiern" für die nauer: das, was der Austrataschismus nicht be­ Soldaten), politische (geschlossenes Auftreten reits 1934 beseitigt hatte - wurde durch die bei feierlichen Anlässen) oder kulturelle Funktio­ NSDAP entweder liquidiert (Vaterländische Front, nen (Theateraufführungen). Der Landarbeiter, der Christlich Deutscher Turnverein), absorbiert (Ve­ bisher nur gehorchen und im Stall schlafen muß• teranenverein) oder zumindest kontrolliert (Feuer­ te, lernte in der Wehrmacht ein geordnetes Le­ wehr). Daß die NSDAP ihren Totalitätsanspruch ben kennen und erlebte zum erstenmal das nicht widerstandslos durchsetzen konnte, zeigt Gefühl, befehlen zu dürfen. Auch wenn die an­ der Fall des Frankenfelser Feuerwehrkomman­ fängliche Faszination bald abflaute, konnte das danten und SA-Truppenführers B., der in einem NS-Regime durch die vielfältigen Integrations­ Streit mit einem Kirchberger SA-Sturmführer an­ angebote zunächst breite Bevölkerungskreise läßlich einer Feuerwehrübung betonte, daß der mobilisieren, die den Blick abwandten, wenn Mit­ Dienst in der Feuerwehr der Verpflichtung für die bürger ausgegrenzt, verfolgt oder ermordet wur­ SA vorginge. den. • Die Sozialkontakte, vor allem die nachbarschaftli­ Der Nationalsozialismus konnte zwar keine dauer­ ehen Beziehungen, wurden allem Anschein nach haften Strukturen schaffen, beschleunigte jedoch schwer erschüttert. Nahezu alle Zeitzeugen beto­ durch die "Atomisierung" des "traditionellen" Sozial­ nen die in der NS-Zeit herrschende Verunsiche­ gefüges einen "sozialen Wandel", der sich in der rung durch die Überwachung ("Man hat ja nie­ Nachkriegsgesellschaft fortsetzte und die relati­ mand traun können."), die Angst vor Denun­ ve Rückständigkeit der lokalen Gesellschaft gegen­ ziationen und den daraus resultierenden Rückzug über den objektiven Produktionsverhältnissen auf­ ins "private Leben". holte.

Wie entwickelt sich die Mitgliederzahl der NSDAP?*>

168~------~ *) Kumulierte Beitritte ;zur NSDAP l9J2 bis 1945 (Datenbasis: Mitgliederstand 27. 4. 1945)

8 ,Quelle:' 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1948 1941 1942 1943 1944 1945 Ji!STODAT -•His~or~s.f,h~ paten/>ottg'zYi .: Jdhr Franken(elserLo/

33 IWK·Mitteilungen

... DIE ERSTARRUNG DER PARTEISTRUKTUR; Ortsgruppenleiter nach 1938 Reichsbahnbedien­ stete waren. Der EisenbahnerS., Jahrgang 1925, trat- wie fast • Die "Partei" versuchte den verloren gegangenen alle seiner Altersgenossen- in die Hitlerjugend ein. "revolutionären" Elan durch eine "Verjüngungs• Im Oktober 1942 mußte er zur Wehrmacht einrük• kur" wettzumachen: War die NSDAP bis 1938 ei­ ken. Am 20. April 1943, dem "Führergeburtstag", ne Bewegung der zwischen 1900 und 1920 Ge­ wurde er mit 18 Jahren - angeblich ohne sein Wis­ borenen ("Alten Kämpfer": 52%, "Illegale": 95%, sen - in die NSDAP aufgenommen, ohne daß er je "Märzveilchen": 69%), dominierten in den 40er ein Mitgliedsbuch erhalten oder Beiträge bezahlt Jahren die Jahrgänge der nach 1920 Geborenen hätte. (~1 %). Hier spiegeln sich die automatischen Dieser Fall ist symptomatisch für die "Erstarrung" Uberstellungen von der Hitlerjugend zur NSDAP der Parteistruktur in der "Systemphase" in den 40er wider. Jahren: • Nach einem regelrechten Wettlauf um das be­ ... INDIVIDUELLES ABWEICHENDES gehrte Mitgliederbuch der NSDAP 1938 (58 Bei­ VERHALTEN. tritte), 1939 (8 Beitritte) und 1940 (15 Beitritte) versiegte der Zustrom zur "Partei" allmählich. Im August 1939 nahmen die Frankenfelser National­ Dennoch ist es beachtlich, daß noch 1943 (5 Bei­ sozialisten in einem Zeitungsartikel öffentlich gegen tritte) und 1944 (6 Beitritte), als sich die militäri• die "Raunzer und Meckerer", die behaupteten: "1 sche Niederlage bereits abzeichnete, Frankenfel­ spür nix, daß besser worden is", Stellung, indem sie ser der NSDAP beitraten. einem dieser "böswilligen Systemlinge" die Segnun­ • Die NSDAP entwickelte sich von einer "Volkspar­ gen des Nationalsozialismus für den "Gebirgsbau­ tei des Protestes" vor 1938 zu einer Versorgungs­ ern" aufzählten. Abschließend drohten sie zynisch, institution, die ihren "elitären" Charakter verloren "solch Unverbesserliche ein bißchen ins Sanatorium hatte: Während unter den "Alten Kämpfern" die Dachau zu schicken, damit sie ihr Erinnerungsver­ Selbständigen in Landwirtschaft (30%), Hand­ mögen wieder zurückbekommen." werk und Handel (17%) dominierten und die "Ille­ Der Bauer und Müller S. weigerte sich im Juni galen" vor allem eine Bewegung der Lohnabhän• 1940, an der vormilitärischen Ausbildung der SA gigen in Landwirtschaft (52%), Handwerk und teilzunehmen und begründete dies folgendermaßen: Handel (29%) waren, drängten im März 1938 die 1. hätte er seine Arbeitsverpflichtungen zu verrich­ nichtagrarischen Schichten (Arbeiter/Angestellte: ten, 2. müßte er am Sonntag Vormittag "dem Leuten 35%, Selbständige: 15%, öffentlich Bedienstete: ums Geld nachrennen", 3. wäre sein einziger Bruder 15%) in die Partei. Ab dem 1. Mai 1938 traten vor gefallen, "was einem nicht ganz egal ist", und 4. wä• allem die öffentlichen Bediensteten ("38er": 38%, re er am Sonntag "müde von den Strapazen der Wo­ "Nach 38er": 29%), also alle, die durch ihr Partei­ che". Er wurde vom SA-Standartenführer in St. Pöl• buch berufliche Vorteile erwarten konnten, der ten verwarnt. NSDAP bei. Es ist nicht verwunderlich, daß alle Der Tischlergehilfe N. konnte sich infolge eines

Aus welchen sozialen Gruppen stammen die neuen "Pgs."?*> -

N = 23 N = 21 N = 26 N = 32 N = 42 · *~ ·~~teHe der B~rti~#~H~~ 'i~::~~~.:~~~~:: . beitritten d~~i~V{eilig~ryZeitrauiY)~ t?3,7 ~ls · 194,~ (Oatenba~i~:; f)j~OAP·I)11~gli~der an1 2Zdot945) ......

+"' 7fli: ,b.llrn~r~~~~~llr. : < •••.: iI ·•·•·•··· , Ol ~·~l~ll:93s, 'llndt. ,s~ .~~~~ , •• , < .••.• ,· •... ·'·'·. ,, c ,, Ol 4fli: +"' '.'38er1': Belirltt zwiscf\~n 2. s, 19 3~ tind 3'1; Cl:"' 3Bi: 12. 1938 · ''Nach 38er';: ß~itrltt ~W:isc~~ri J/ I. J93'f 2Bi: und27. 4. 1945 1Bi: Bi: "l'llte KäMpfer" "Illegale" "Märzvei Iehen" "38er" "Nach 38er" ,Quett~·'· · ... ·.. ··.··.•,•> • Bauern 111 Landarbeiter D Selbständige HISTO[)AT, Hi~,~?~$~h~'Dat~n,b1J?(.zy~ ... .t ~ l'lrb./l'lngest. ~ öff. Bedienstete ~Sonstige Fronkenfe~er·Loka~escbi~h~e .. (C(IJt~.NSDAP).•.' ~ ...... ~

34 IWK-Mitteilungen

Lungenleidens dem Wehrdienst entziehen. Er muß• fernbleiben, dem Sohn/der Tocher den Beitritt zur te daher als Luftschutzwart seine "Pflicht" an der Hitlerjugend verbieten ... ) "Heimatfront" erfüllen. Gegen Ende des Krieges ge­ e Protest: überwiegend öffentliche Aktionen, die lang es ihm, den Plan des Gendarmeriekomman­ sich gegen Teilbereiche des NS-Regimes richten danten, gegnerische Flugzeuge mit Gewehren abzu­ (den Gendarmeriekommandanten von seinem schießen, zu vereiteln: "Mia ham uns eh scho nix Plan, gegnerische Flugzeuge abzuschießen, ab­ mehr gschert, es war eh scho hübsch am End. Ham­ bringen ... ) ma gsagt: ,Herr Inspektor, des geht net. Was e Widerstand: öffentliche Aktionen, die das NS-Re­ glaubns, wann mia des machen, die haun des gan­ gime generell ablehnen (für die "Rote Hilfe" sam­ ze Frankenfels zsamm!' Des hat er si doch nochand meln und werben ...) sagn lassn, weil ma alle gredet ham." Ein Klischee läßt sich auch in Frankenfels widerle­ Der Eisenbahngehilfe K. spendete seit 1939 für gen: Es gab weder den "dämonischen Nazi" noch die kommunistische "Rote Hilfe", warb in seinem Be­ den "heroischen Widerstandskämpfer". Vielmehr kanntenkreis weitere Spender und übergab die Bei­ läßt sich bei fast allen Frankenteiserinnen eine "Ge­ träge einer Zugschaffnerin der Mariazellerbahn, die mengelage" sowohl systemkonformer als auch ab­ das Geld in St. Pölten weiterleitete. Nachdem die weichender Verhaltensweisen feststellen. Ob je­ Gestapo dieses Netzwerk aufdeckte, wurde K. 1943 mand in Konflikt mit dem Regime geriet, hing im zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Juli 1943 wur­ wesentlichen von zwei Faktoren ab: von der polizei­ de er in ein "Strafbataillon" einberufen. Er desertier­ lichen Eingreifschwelle (Die meisten Widerstands­ te in Jugoslawien und kämpfte im V. Österreichi• handlungen stellten das System nicht in Frage, son­ schen Freiheitsbataillon gegen den Faschismus. dern waren "alltägliche" Aktionen, die erst durch den Diese vier Fälle markieren die Bandbreite abwei­ Zugriff des NS-Regimes kriminalisiert wurden und chender Verhaltensweisen - vom ,,Widerstand" zu größtenteils unter der polizeilichen Eingreifschwelle sprechen wäre zu unscharf - von Frankenteiserin­ lagen.) und von der Lebensweit des Einzelnen (Im nen unter der NS-Herrschaft, die sich in vier Katego­ Eisenbahnermilieu oder in kirchlichen Kreisen war rien einordnen lassen: das Risiko, aufgedeckt zu werden, weit geringer als • Nonkonformität private Aktionen, die gegen ein­ beispielsweise im nationalsozialistisch kontrollierten zelne Normen des NS-Regimes verstoßen Sägewerk.). ("Feindsender" hören, Spenden für das ,,Winter­ hilfswerk" verweigern, "Grüß Gott" statt "Heil Hit­ IV. DER NATIONALSOZIALISMUS KONNTE IN ler" verwenden, "Schwarzschlachten", an kirchli­ DIE NACHKRIEGSGESELLSCHAFT EINGANG chen Feiern teilnehmen, "Raunzen" und FINDEN DURCH ... "Meckern" ... ) e Verweigerung: überwiegend private Aktionen, die ... VERBÜROKRATISIERTE "ENTNAZIFI­ sich gegen einzelne konkrete Anordnungen von ZIERUNG"; NS-Behörden richten (Teilnahme an der "vormili­ tärischen Ausbildung" verweigern, trotz Aufforde­ Am 1. August 1945 versetzte gegen 17 Uhr ein oh­ rung von Heimabenden der NS-Frauenschaft renbetäubender Knall die Bewohner des .. Höllgra-

Wann wurden die neuen "Pgs." geboren?*>

N = 23 N = 21 N = 26 N = 32 N = 41 188i: *) ~ntEju~

------35 IWK·Mitteilungen bens" in Schrecken: Ein Wagen, den ehemalige Den nach der Befreiung 1945 zunächst geächte• NSDAP-Mitglieder mit der auf den Straßen herum­ ten Nationalsozialisten gelang es bald, sich in der liegender Munition beladen mußten, explodierte. Die Dorföffentlichkeit der späten 40er- und 50er Jahre Bilanz: Drei Tote und ein Schwerverletzter, der spä• zu etablieren. Im wesentlichen standen ihnen drei ter im Krankenhaus starb. Wege offen, die ihnen eine Integration in die dörfli• Dieser Vorfall ist symptomatisch für die "Entnazifi­ chen Strukturen ohne die Aufgabe rechtsextremer zierung" ab 1945: Nicht die politisch-pädagogische Bewußtseinsinhalte ermöglichten: Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Be­ • Rückzug ins "Privatleben": Besonders jenen Na­ wußtseinsinhalten stand im Vordergrund, sondern tionalsozialisten, die in ihrem Leben bereits vier die bürokratische Abwicklung der "Entnazifizie­ Systembrüche erlebt hatten (1918, 1934, 1938 rungsmaßnahmen", die von der Registrierung, der und 1945), hatten "genug von der Politik" und ver­ kurzfristigen Verhaftung, der Heranziehung zu öf• mieden nun jegliches öffentliche Engagement, fentlichen Arbeiten, der Beschlagnahme des Vermö• was sie jedoch nicht daran hinderte, im privaten gens bis zur Entlassung der öffentlich Bediensteten Kreis die "alten Zeiten" zu beschwören. reichte. Daß diese anfangs konsequent durchge­ • Integration in bestehende Sozialverbände: Neben zogenen Maßnahmen weder bei den Betroffe­ dem Vereinswesen waren es vor allem die politi­ nen, noch bei der Bevölkerung einen Lernprozeß in schen Parteien, die den "Ehemaligen" eine neue Gang setzten, liegt auf der Hand. Im Gegenteil: politische "Heimat" anboten. Besonders nachdem Vorfälle wie der Unfall im "Höllgraben" ließen die die "Minderbelasteten" 1948 wieder ihre vollen "Ehemaligen" in den Augen vieler Frankenteiserin­ staatsbürgerlichen Rechte erhalten hatten, be­ nen als Opfer einer rachesüchtigen Bürokratie er­ mühten sich die Frankenfelser Parteien um die scheinen und förderten die partielle Solidarisierung Sympathien der "Ehemaligen", indem sie bei­ dagegen. spielsweise deren Antrag auf "Entregistrierung" unterstützten. Die NRW 1949 gaben diesen Be­ ... BEDINGUNGSLOSE INTEGRATION mühungen recht: Bei einer Wahlbeteiligung von DER NATIONALSOZIALISTEN; 98% konnte die ÖVP ihren Stimmenanteil im Ver­ gleich zur NRW 1945 um 1 ,6% steigern, .(1945: Der Bauer K., geboren 1917, gehörte seit 1936 der 508 Stimmen, 1949: 651 Stimmen), die SPO büß• SA an. Als Mitglied des 1956 gegründeten Kamerad­ te 4,4% ein (1945: 226 Stimmen, 1949: 242 Stim­ schaftsbundes marschierte er 1957 bei einem Fest­ men), die KPÖ konnte sich um 0,6% steigern umzug mit und sorgte in den sozialdemokratischen (1945: 4 Stimmen, 1949: 11 Stimmen), die WDU "St. Pöltner Nachrichten" für Aufsehen: "Er durfte erzielte 1 ,3% (12 Stimmen) und die "4. Partei" er­ natürlich nicht fehlen, behängt mit Naziorden. Ein reichte 0,9% (8 Stimmen). Der Großteil der "Min­ Schnappschuß vom vorwöchigen Fest in Franken­ derbelasteten" wählte diesen Ergebnissen zufol­ fels, bei dem die Kameradschaftsbündler noch vor ge 1949 die ÖVP, die anderen Parteien konnten der Feuerwehr als halboffizielle Organisation in Er­ nur marginale Stimmenzuwächse verzeichnen. scheinung traten." Unter diesen Umständen überrascht es nicht, daß

Wie wählen die "Minderbelasteten"?*>

lBB,BY.,----..----~------~----, *) An~~ile. d~rStimme.nf~r .~i~i~o.liti~chen ParteiEm·bei den N RW1945 und•dEin NRW . ' gülti&E.n ~ Di : I : ,.9.4.~.·.a~.;den. Sti~.~~o:·ü,··f>~ci~~o~ ;····· SB,BY. -CO- "'-----t------1------t------... C5:l I I 1 ~ r. : : : ÄbkÜriu•r·t~··: ' qyp········· .. ' ' ' 6B,BY. ----~------~------~------SPö ' ' ' ' ' KP

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36 IWK-Mitteilungen

der ehemalige NS-Bürgermeister in den 50er Jah­ Viertel der Befragten (76%) lehnen die Wiederkehr ren als ÖVP-Mandatar im Gemeinderat saß. eines "kleinen Hitler" zumindest teilweise ab. Etwas • Gründung von "Peer Groups": Die Integration der mehr als die Hälfte (56%) zählt zu den uneinge­ Nationalsozialisten in die Dorföffentlichkeit fand schränkten Gegnern. Die "Hitler-Fans" stellen dem­ 1956 mit der Gründung einer Ortsgruppe des nach eine durchaus ernstzunehmende Größe im po­ "Österreichischen Kameradschaftsbundes" ihren litischen Geschehen der Gemeinde dar. Interessant Abschluß. Die Sozialdemokraten warfen diesem ist es auch, die Antworten der verschiedenen Alters­ Verein von Beginn an die "Pflege der Tradition der gruppen zu vergleichen. Hier fällt auf, daß der Kreis deutschen Wehrmacht" vor, und die Vereinsfunk­ der Befürworter mit zunehmendem Alter größer wird tionäre selbst machen kein Hehl aus ihren Absich­ (13%, 18%, 34%), jedoch bei den über 60jährigen ten: Ziel sei, "Ehre und Ansehen der Soldaten zu leicht absinkt (27%). Die Befragten, die einen "klei­ wahren" und "das Andenken an die Kameraden nen Hitler" voll ablehnen, sind bei den 30- bis 39jäh• aufrecht zu erhalten, die in Liebe, Gehorsam und rigen (64%) und in der Altersgruppe bis 29 Jahre Pflichterfüllung Gesundheit und Leben für die Hei­ (61 %) am stärksten vertreten. Ihr Anteil schrumpft mat (!) geopfert haben." Es wäre überzogen, dem bei den über 60jährigen (55%) und ist am niedrig­ Verein generell die Pflege NS-Gedankenguts vor­ sten in der Altersgruppe zwischen 40 und 59 Jahren zuwerfen. Dennoch muß betont werden, daß der (44%). Kameradschaftsbund ehemaligen Nationalsoziali­ Wo liegen die Ursachen für diesen "Nostalgiefa­ sten immer wieder eine Plattform bot, um - zum schismus" im Bewußtsein der Frankenfelserlnnen? Teil in führender Position - im vertrauten Kreis • Rechtsradikale Meinungen stoßen in der Franken­ oder in der Öffentlichkeit, etwa bei "Heldenge­ felser Öffentlichkeit kaum auf Widerspruch. Die denkfeiern", Grabreden für verstorbene "Kamera­ Frankenfelser Politiker tolerierten nach 1945 die den" oder Vereinsjubiläen, rechtsextreme Ansich­ Tradierung nationalsozialistischer Ideen, um sich ten zu verbreiten. der politischen Loyalität der ehemaligen National­ sozialisten zu versichern. ... RECHTSEXTREMETENDENZENIM • Zur "Verklärung" der NS-Zeit trugen sicherlich KOLLEKTIVEN BEWUSSTSEIN. auch die realen Erfahrungen der Bevölkerung in den ersten Jahren der Besatzungszeit bei. Plün• Daß der Nationalsozialismus nach 1945 nicht plötz• derungen, Vergewaltigungen und Erschießungen lich aus den Köpfen der Frankenteiserinnen ver­ durch sowjetische Soldaten ließen in den Augen schwunden ist, muß nicht besonders betont werden. mancher Frankenteiserinnen den Vernichtungs­ Auf die Frage "Manchmal wäre es nicht das schlech­ krieg der Nazis gegen die Sowjetunion im nach­ teste, es käme wieder ein kleiner Hitler" antworteten hinein als gerechtfertigt erscheinen. Das demo­ 1988 die Frankenteiserinnen folgendermaßen: Etwa kratische System erschien vielen als unfähig, die ein Viertel der Frankenteiserinnen (23%) stimmen "Ruhe und Ordnung", die sie in der NS-Zeit erfah­ dieser Aussage zumindest teilweise zu, wobei 6% zu ren hatten, sicherzustellen. den uneingeschränkten Befürwortern gehören. Drei • Die besondere Anfälligkeit bestimmter Altersgrup-

· Sehnsucht nach dem "kleinen Hitler"?*>

~)• Meinu.~~su ri1fraget~trt~IMma ''t<1~nc~tm11··· wäre.e~Jl1F~t.; .•~~~·····~cb.l.~cb~e~~e•:.es;~~me.• wi~.d~r.~in 'kf~i~~~ Hitl~('·~~te~·~~r · Fra:pke~fefser ßeyölkew:unglrri J~nner f988. (N;:; 1()0) .

GestiMt < 29 J. 38-39 J. 48-59 J. > 68 J. ~volle ZustiMMung ~ tw. ZustiMMung Dill tw. Ablehnung II volle Ablehnung II weiß nicht

37 IWK·Mitteilungen

pen für rechtsextreme Geschichtsbilder liegt m. E. AUFRISSE. Zeitschrift für politische Bildung (Themenheft Na­ hauptsächlich in ihren subjektiven Erfahrungen mit tionalsozialismus). Heft 3/1981. (Vgl. besonders die Auf­ dem Nationalsozialismus begründet. Die Gruppe sätze von Perz/Safrian, Ehalt, Pelinka, Weidenholzer und der 40- bis 59jährigen weist den höchsten Anteil Ucakar.) BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hg.), Die Ergebnisse der von Befürwortern (34%) und den geringsten Anteil Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Heft uneingeschränkter Gegner (44%) einer Wieder­ Niederösterreich, Textheft (= Statistik des Bundesstaates kehr eines "kleinen Hitler" auf. Die meisten dieser Österreich), Wien 1935. Generation erlebten die NS-Zeit im Kindes- bzw. DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN Jugendalter und verbinden damit überwiegend po­ WIDERSTANDES (Hg.), Widerstand und Verfolgung in sitiven Erfahrungen (z. B. in der Hitlerjugend). Die Niederösterreich 1934-1945. Eine Dokumentation. 3 Bde. "Soldatengeneration" (über 60 Jahre), die das Wien 1987. (Vgl. besonders die Aufsätze von Jagschitz und Neugebauer.) Grauen des Krieges kennengelernt hat, weist zwar FALTER, JÜRGEN W., Hitlers Wähler. München 1991. ebenfalls ein beträchtliches Potential an Befürwor• GAMSJÄGER, BERNHARD, Frankenleiser Häuserbuch. tern auf (27%), lehnt jedoch mehrheitlich die Rück• Frankenfels 1987. kehr zu autoritären Herrschaftsformen ab (55%). KAINDL-WIDHALM, BARBARA, Demokraten wider Willen? Ein schwieriges Problem stellt das relativ hohe Po­ Autoritä:,e Tendenzen und Antisemitismus in der 2. Repu­ tential uneingeschränkter Hitler-Befürworter bei blik (= Osterreichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. den unter 29jährigen (9%) dar. Möglicherweise ist 40). Wien 1990. dies Ausdruck einer generellen Politik(er)verdros­ KÜHNL, REINHARD, Faschismustheorie. Ein Leitfaden. Heil­ bronn 1990. senheit der jungen Erwachsenen. MANNLICHER, EGBERT, PETZ, RUDOLF, SCHATTEN­ FROH, ERNST, Die deutsche Gemeindeordnung (=Ver­ QUELLEN UND LITERATUR*): waltungsbücherfür die Ostmark, Bd. 1). München- Berlin 1939. UNGEDRUCKTE QUELLEN: MULLEY, KLAUS-DIETER, Nationalsozialismus im politi­ schen Bezirk Scheibbs (= Heimatkunde des Bezirkes BEZIRKSHAUPTMANNSCHAFT ST. PÖL TEN (REGISTRA­ Scheibbs, Bd. 8). Scheibbs 1988. TUR): Eingangsbücher und Akten GR Xl1930 bis 1945. MULLEY, KLAUS-DIETER, Die NSDAP in Niederösterreich GEMEINDEARCHIV FRANKENFELS: allgemeine Akten 1918 bis 1938. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des "An­ 1930 bis 1960, Heimatrolle, Meldekartei 1938 bis 1945. schlusses", in: ÖGL Heft 3/4/1989. Gemeinderatsprotokolle 1938 bis 1945, Heirats-, Sterbe­ NÖ. LANDESAMTSDIREKTION (Hg.), Ergebnis der Land­ und Geburtenbuch 1938 bis 1945. tagswahlen in Niederösterreich vom 24. April 1932. Wien GENDARMERIEPOSTENKOMMANDO FRANKENFELS: 1932. Gendarmeriechronik. PEUKERT, DETLEV, Volksgenossen und Gemeinschafts­ PFARRAMT FRANKENFELS: Heirats-, Sterbe- und Gebur­ fremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter tenmatriken 1938 bis 1945. dem Nationalsozialismus. Köln 1982. SLG. GAMSJÄGER, ST. PÖLTEN: Fotodokumentation zur PFEIFER, HELFRIED, Die Ostmark. Eingliederung und Neu­ Frankenleiser Lokalgeschichte. gestaltung. Wien 1941. SLG. LANGTHALER, FRANKENFELS: Nachlaß Kar! Weber, PRINZ, MICHAEL, ZITELMANN, RAINER (Hg.), Nationalso­ Interviews mit Zeitzeugen 1988 bis 1991 (Tonbandproto­ zialismus und Modernisierung. Darmstadt 1991. (Vgl. be­ kolle), diverse Privatdokumente, HISTODAT-Historische sonders die Aufsätze von Zitelmann, Falter, Ritschl, Smel­ Datenbank zur Frankenleiser Lokalgeschichte (Datei se.~, Stephenson und Prinz.) NSDAP). ST. POLTNER ANZEIGER 1938 bis 1944. VOLKSSCHULE FRANKENFELS: Schulchronik, Band 3, ST. PÖLTNER NACHRICHTEN 1930 bis 1938. Klassenbücher 1930 bis 1945. ST. PÖL TNER WOCHENPOST 1947 bis 1960. ST. PÖL TNER ZEITUNG 1930 bis 1960. GEDRUCKTE QUELLEN UND LITERATUR (AUS­ SIEDER, REINHARD, Für eine Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit, in: IWK-Mitteilungen des Institutes für Wissen­ WAHL): schaft und Kunst. Heft 4/1987. TALOS, EMMERICH, HANISCH, ERNST, NEUGEBAUER, ACKERL, ISABELLA, HUMMELBERGER, WAL TER, WOLFGANG (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938- MOMMSEN, HANS (Hg.), Politik und Gesellschaft im al­ 1945 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. ten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 36). Wien 1988. (Vgl. besonders die Aufsätze von Mulley, 60. Geburtstag. 2 Bde. Wien 1981. (Vgl. besonders die Kernbauer/Weber, Mooslechner/Stadler, Freund/Perz, Aufsätze von Botz und Hanisch.) Talos, Bergerund Jagschitz.) ALLTAGSGESCHICHTE DER NS-ZEIT. Neue Perspektive oder Trivialisierung? (=Kolloquien des Instituts für Zeitge­ schichte) München 1984. ARDEL T, RUDOLF G., HAUTMANN, !:-JANS (Hg.), Arbeiter­ *)Aus Platzgründen wurde auf einen ausführlichen schaft und Nationalsozialismus in Osterreich. in memori­ am Kar! R. Stadler (= Veröffentlichung des Ludwig-Boltz­ Anmerkungsapparat verzichtet. ln das Quellen- und mann-lnstituts für Geschichte der Arbeiterbewegung). Literaturverzeichnis wurden nur jene Titel aufgenom­ Wien - Zürich 1990 (Vgl. besonders die Aufsätze von men, die für den vorliegenden Aufsatz unmittelbar Botz und Hanisch). Verwendung fanden.

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ROBERT STREIBEL DIE "GAUHAUPTSTADT" KREMS Eine Geschichte in vier Bildern

PROLOG Trost, der Sohn sei im Kampf gefallen, fehlt leider auch." (13.Februar1941) "DIE JUDEN VERBRENNEN WIR NATÜRLICH" ln diesem Brief schreibt Faber auch davon, daß er Aus dem Briefwechsel eines geehrten Österreichers "wegen einer dummen Sache nach Berlin" müsse, versichert aber: "Meine Anwesenheit will ich benüt• Dichte Wolken hängen aus den Rauchfängen des zen, um einige wichtige Stellen zu besuchen." Kreisgerichtes Krems, seit Tagen werden die Öfen Um diese Reise nach Berlin sollten sich Jahre auf Volltouren geheizt in jenen letzten Tagen des später Legenden vom heimlichen Widerstandskämp• April 1945. Die Zeugnisse für die Schreckensherr­ fer Faber ranken, der mit den Nazis in Konflikt gera­ schaft der Nazi in Krems werden vernichtet. Das En­ ten war. Am 12. März 1941 schreibt er: "Von Berlin de des Krieges ist abzusehen. bin ich gut zurückgekehrt. Es wäre alles angeneh­ Als die Schornsteine des Kreisgerichtes nicht mer, wenn man nicht kleine Widersacher hätte, die mehr aufhören zu rauchen, gibt es keine "Donau­ einem lästig werden können. Mein Aufenthalt galt wacht" mehr, selbst die Worte des Kreisleiters Wilt­ dem, solchen Leuten einmal das Wasser abzugra­ hum von Februar, der im Brauhofsaal rief: "Es gilt, ben. Für heute schließe ich meinen Bericht, begrüße sich gegen bolschewistisches Chaos und Zwangsar­ dich herzlich mit ,Heil Hit/er', Dein alter . .. " beit zu behaupten. Der Kampfruf heißt heute: Euro­ Trotz dieser erfolgreichen Berlinreise beneidet päische Ordnung gegen Zerstörung, Geist gegen Herbert seinen Freund Friedl. "Wir können wohl an­ Ungeist", sind inzwischen Schall und Rauch. Nicht nehmen, daß du dort unten am Balkan viel Ab­ wenige Kremser müssen im letzten Aufgebot des wechslung an Menschen und Landschaft erlebt hast Volkssturms fallen. und Dinge gesehen hast, die wir Mitteleuropäer uns sonst nicht denken können. Jedenfalls hast Du nicht das Einerlei des Alltags, der auf uns oft recht drük• KREMS IST STILLER GEWORDEN kend wirkt. Alle Soldaten, die hier hinten sitzen, be­ neiden Euch, obwohl das Maß der Mühen und An­ Ein Großteil der Dokumente wurde vernichtet, durch strengungen gerade diesmal alles Frühere überbo• Zufall blieb aber ein Briefwechsel erhalten, der zu­ ten haben soll." mindest die Stimmung eines Teils der Bevölkerung Nach dem Angriff auf die Sowjetunion heißt es, wiedergibt, in einer Zeit, in der die Phrasen von der "daß wir im Geiste bei Euch sind, und regste Anteil­ Weltherrschaft noch realen Boden zu haben schie­ nahme allenthalben vorhanden sind, kannst Du ver­ nen. Der Autor der Briefe ist kein Unbekannter: der sichert sein. Wir bewundern die gewaltigen Taten Besitzer des Faberverlages Dr. jur. Herbert Faber, der deutschen Wehrmacht . .. So wie die Weft voll der in den Siebzigerjahren, ausgezeichnet mit dem Spannung die Dinge verfolgt, so harren wir auch im Goldenen Ehrenzeichen der Republik Österreich Vertrauen auf den Erfolg der deutschen Waffen auf (verliehen durch Kirchschläger in Anwesenheit von den endgültigen Erfolg. Hier zuwarten zu müssen, Kreisky), starb. ist oft unerträglich, vielleicht aber erträglicher, als in Adressat der 20 Briefe zwischen dem 27. Septem­ einer Hinterlandsgarnison in qualvollen Zuwarten ber 1939 und dem 4. November 1942 ist Gottfried abseits stehen zu müssen." (7. Juli 1941) Österreicher, Buchhändler und glühender Verfechter Im September schreibt Faber über einen gewis­ des Nationalsozialismus. Briefe, die "Herbert" sei­ sen Wrubel, gegen den ein Parteigericht laufe und nem lieben "Friedl" an die Front schickte, in denen der sich "unlängst in der Buchhandlung äußerst her­ ausführlich über die Situation im Geschäft, das Her­ ausfordernd benommen" habe. Als Laxheit betrach­ bert Faber in der Zwischenzeit für seinen Freund tet Faber, daß Wrubel noch nicht seines Amtes in führte, berichtet wird, in denen aber immer wieder der Volksbücherei enthoben ist. "Es ist ein Hohn, die Stimmung in der Gauhauptstadt geschildert wird. daß solche Leute alles durchsetzen können. Da wird "Seit der letzten Einrückung ist Krems noch stiller man einmal durchgreifen müssen. Gegen diese geworden. Militär gibt es natürlich genug." (13. Fe­ Überläufer aus dem schwarzen Lager." bruar 1941) Oder wenige Tage später: "Die Gaustadt steht im "Krems ist still geworden. Immer mehr Leute wur­ Zeichen der Trauer, der Sohn Oberstleutnant Leo­ den eingezogen, so dass man keine Bekannten trifft. po/ds ist bei einem Fliegerunfall . .. in Aspang ver­ Otto soll in einiger Zeit auf Arbeitsurlaub kommen. unglückt. Alle tot! Dienstag wird Ewald Leopold be­ Er steht im Süden am Meer, wenn ich richtig rate. graben. Der Schmerz der Eltern ist übergroß. Der Kern ist an der mittleren Front und Gmiener ist

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Kriegsgerichtsrat bei einer Division nahe Leningrad. NUR EINE "WILDBEWEGTE ZEIT"? Ich muss annehmen, dass dieser Brief Dich zur Weihnachtszeit oder noch später zur Jahreswende Dr. Hermann Stingl leitete die Amtsgeschäfte zwi­ antrifft. So schließe ich meine Epistel mit den besten schen 12. März und 23. August des Jahres 1938. Wünschen zu diesen Festen, die ja heuer für uns al­ "Zum zweiten Mal rief die Vaterstadt Herrn Dr. le kein festliches Gepräge haben. Wir weilen im Ge­ Stingl, als im März Adolf Hit/er uns die Freiheit danken bei Euch, die Ihr mit Euren Opfern dem deut­ brachte ... Wieder hatte er das Schifflein in wildbe­ schen Volke eine bessere Zukunft sichert. Es ist wegter Zeit zielbewußt durch die stürmischen Wo­ hart, Euch allen Unbilden der Jahreszeit ausgesetzt gen geführt", schreibt die "Landzeitung". 1 zu wissen und nicht helfen zu können. Wir können Zu seiner Verabschiedung drückt Landeshaupt­ Euch in diesen Tagen nur eines Wünschen, dass mann Dr. Jury für die "ersprießliche Tätigkeit" die Euer Kampf bald siegreich zu Ende geht, dass für Anerkennung von Staat und Partei aus. Dr. Stingel uns alle der Endsieg bevorsteht und dass wir Euch war bereits einmal Bürgermeister der Stadt in den bald in einer glücklicheren Heimat begrüssen kön• Jahren 1921 und 1924 und Sohn des "nationalen nen. Das wünschen wir Euch und uns und wissen, Führers" der Stadt im vorigen Jahrhundert, Hans dass der Führer unerschüttert den Weg des Sieges Stingl (1832-1893). geht und uns für alle Zukunft den Platz an der Sonne sichern wird. DER SOHN ALS ERBE Wenn ein glücklicher Zufall Dir wenigsten die Dr. Hans Stingl, "kerndeutsch von der Sohle bis zum Stunden am Weihnachten und Neujahr ruhiger ge­ Scheite/"2 lebte von 1832-1893 in Krems, wo er sich stalten wollte, dann würden wir uns freuen. aktiv für Gemeindeangelegenheiten einsetzte. Der ln alter Verbundenheit und Treue grüsse ich Dich Sohn tritt Jahrzehnte später als Verwalter des Ge­ mit dankengutes des Vaters auf. Großdeutschtum und Heil Hit/er! Judenfeindlichkeit sind Bestandteile des Gedanken­ Dein alter Freund gutes der Nationalsozialisten. Das Großdeutschtum Herbert" des vorigen Jahrhunderts des alten Stingl ist sicher­ lich mit anderen Maßstäben zu messen, den Haß gegen das Judentum hat der Freund von Georg Rit­ Auf diesem Weg zum Platz an der Sonne lagen tau­ ter von Schönerer ebenfalls gepflegt. Nach nur ei­ sende Tote, in den Konzentrationslagern wurden da­ nem Jahr schied er freiwillig aus dem Reichsrat aus, für Juden verbrannt, in Krems brannten zumindest "weil er in sozialen Fragen und hauptsächlich wegen Bücher. seiner radikalnationalen und judenfeindlichen Hal­ "Ansonst ist nicht viel zu berichten. Der Kreisleiter tung mit der damals maßgebenden Wählerschicht hat Auftrag gegeben, die Leihbücherei zu durchkäm• seines Bezirkes in Meinungsverschiedenheiten ge­ men, weil nicht geeignete Bücher enthalten sein sol­ raten war. '8 Hannelore Hruschka stellt in ihrer Dis­ len. Der neue Direktor der Lehrerinnenbildungsan­ sertation für die 80er Jahre des vorigen Jahrhun­ stalt Bierbaumer erhielt den Auftrag, die Bücher derts fest: durchzusehen. Es fallen nicht nur vereinzelte noch "Für diesen Zeitraum ist, was den lokalen Antise­ vorhandene jüdische Autoren, sondern auch auslän• mitismus in Krems betrifft, ein Mann maßgebend dische Schreiber in Wegfall. Die letzterwähnten Bü• und zwar Dr. Hans Stingl, über den eine Zeitung cher wollen wir zurücklegen für spätere Zeiten, da 1890 schrieb: ,Aus dem judenliberalen Dr. Stingl von diese Bücher zugelassen sein werden. Die Juden einst ist mittlerweile der antisemitische Heißsporn verbrennen wir natürlich." von heute geworden ... ""~ (26. Februar 1942) ERFOLGREICHES SCHAFFEN FÜR DEN FÜHRER

I. DIE BÜRGERMEISTER Mit Erlaß vom 3. August 1938 wurde Franz Retter "zur einstweiligen Besorgung der Gemeindegeschäf• AN DER SPITZE DER "GAUHAUPTSTADT" te der neugebildeten Großgemeinde Krems und zum Gemeindeverwalter mit dem Titel eines Oberbürger• Am 4. Juni 1938 um 13 Uhr wurde von der Telegra­ meisters bestellt". in einem Jubiläumsartikel5 wird zu phie des Deutschen Reiches folgendes Telegramm seiner Biographie angeführt: Geboren am 28. März an den "Führer und Reichskanzler Adolf Hitler Ber­ 1898 in Stein, diente in den Reihen des Sappeurba­ lin" übermittelt: taillons Mautern, kämpfte an der italienischen Front. "Die seit alther völkisch erprobten und dem Natio­ Die unglücklichen Auswirkungen des "Schanddikta­ nalsozialismus verschworenen Schwesterstädte tes von St. Germain und Versailles" hätten ihn in die Krems-Stein erbitten ihre Bestimmung zur Gau­ Reihen Adolf Hitlers geführt ("wie es seine Art ist an hauptstadt von Niederdonau." vorderster Front"). 1933 wird er zum ersten national­ Unterschrieben ist dieses Telegramm mit: Dr. sozialistischen Bürgermeister von Stein und muß Stingl und Retter. Wer waren nun die Bürgermeister, hernach als "politisch Verbannter im Reich leben". die sich stolz auf die völkische Tradition beriefen? Im Akt, der nach der Verhaftung des Landesleiters

40 IWK·Mitteilungen der NSDAP Josef Leopold über die illegale Tätigkeit zu sein, nach dem Sprichwort ,Die Kleinen hängt der Nationalsozialisten 1935 angelegt wurde, wird man, die Großen läßt man laufen' zu verfahren." Franz Retter als Gauleiter von Niederösterreich an­ Zum Bürgermeister der Gaustadt Krems wurde geführt.6 Unter den Genannten findet sich ein weite­ 1938 der Kreisspielwart Dr. Max Thorwesten beru­ rer Kremser, nämlich lng. Hiedler in der Funktion ei­ fen.10 Im ,,Völkischen Beobachter"11 schreibt er: nes "Führer des SS-Abschnittes Österreich". "Schon bei der Heimkehr der Ostmark in das Deut­ Dr. Max Thorwesten, der damalige Bürgermeister sche Reich war es klar, daß damit auch für die Stadt von Krems, würdigt 1941 die Aktivitäten Retters bei Krems ein neuer Abschnitt in ihrer Entwicklungsge­ der Enteignung GöttweigsJ Unter dem Titel "Über• schichte beginnen werde." Geschlossen wurde der nahme der kommissarischen Verwaltung des Stiftes Artikel mit den Worten: "Wenn vom Führer der Be­ Göttweig"8 war am 22. Februar 1939 gemeldet wor­ fehl zum Beginn der Arbeiten gegeben wird, dann den: "Verschiedene wirtschaftliche Mißstände, wel­ wird auf lange Zeit Leben in unsere Stadt einkehren che die Gefahr einer schweren Schädigung der ... Und was dann entstehen wird an Bauten ... das Volkswirtschaft bedeuten, zwangen den Staat . .. " wird der altehrwürdigen Stadt Krems einen neuen Bereits im April desselben Jahres wird von einem Ausdruck geben, indem sich die Schönheit der Alt­ großen "Kulturlager der Hitlerjugend in Göttweig" be­ stadt harmonisch mit den neuen Schöpfungen natio­ richtet.9 nalsozialistischer Baugesinnung vermählen wird." Dr. Thorwesten über diese Maßnahme: "Als ein Ereignis von ungeheurer Tragweite ist die Einwei­ II. DIE OPFER sung Göttweigs in das Eigentum der Stadt Krems im Jahre 1939 anzusprechen", dies wird den "unsägli• DIE ARBEITSSKLAVEN VON KREMS chen Bemühungen des Oberbürgermeisters" zuge­ schrieben. Lange bevor die ersten Flugzeuge der Alliierten ihre Bomben über den Städten der "Ostmark" abwarfen, RETTER LÄSST PRÜGELN als die Kampflinie noch durch ferne Länder ging und der Endsieg zum x-ten Mal angekündigt worden war, Bei der Vereidigung von Bürgermeistern des Kreises verlief die Front bereits mitten durch die Stadt. Bevor Krems erklärte der Kreiskommunalreferent unter leb­ noch die Kremser die Folgen dieses verbrecheri­ haftem Beifall den nationalsozialistischen Grundsatz schen Kriegesam eigenen Leib zu spüren bekamen, "Gemeinnutz geht vor Eigennutz". Die Realität sah sahen sie diese für die Bevölkerung der überfallenen anders aus, wie der Prozeß gegen Oberbürgermei• Länder. Fremdarbeiter in der Heimat waren keine ster Retter im April 1948 zeigte. Bei der Beschlag­ Seltenheit in einer Situation, wo viele Männer an der nahmung des Stiftes hatte sich Retter die Briefmar­ Front standen. Kriegsgefangene wurden in Betrie­ kensammlung des Benediktinermönchs Gottfried ben als Arbeitstiere gehalten. Ungeschminkt zeigt Pfaff angeeignet. Der Besitzer erhielt 1945 seine das System die schrankenlose Ausbeutung. Die Sammlung zurück, ein Kuvert mit 10.000 Stück der "Ostarbeiter" hatten das schwerste Los zu tragen, wertvollsten Marken fehlte jedoch. Wie eng Retter sie waren in der Diktion der Nationalsozialisten Un­ mit Verbrechern vom Schlage eines Leo Pilz (SA­ termenschen, wie dies ja auch in der "Deutschen Standartenführer) zusammenarbeitete, zeigt die An­ Gesellschaft für Rassenhygiene, Ortsgruppe Krems" eignung des Schlosses Nieder-Ranna durch den propagiert wurde. Oberbürgermeister. Eine Anzeige wegen Ernäh• Die Baracken für die Kriegsgefangenen in der rungssabotage war der willkommene Anlaß für die Hütte Krems lagen auf dem Areal der heutigen "Sa­ Verhaftung des Besitzers Laurent Deleglise. Retter len". Dort lebten Ostarbeiter (Russen und Ukrainer), selbst ist bei der Verhaftung anwesend. Da Deiegli­ Italiener, Franzosen. So mancher Funktionär der Na- se nicht bereit ist, zu verkaufen, wird er mit Schlägen und Torturen (z. B. Trinken von Rizinusöl) gefügig gemacht, er unterschreibt den Kaufvertrag und er­ hält von Retter den Betrag von 7.000 Mark, der je­ doch bei Notar Dr. Mayr hinterlegt wurde. Da Dele­ glise, der persönlich von Retter nach Wien gebracht wurde, fürchten muß, ins KZ zu kommen, willigt er ein, 4.000 Mark "freiwillig" an die Stadtgemeinde zu­ rückzuzahlen. Der Restbetrag wird nach einem An­ ruf bei Dr. Mayr durch die Gestapo kurz vor Kriegs­ ende ebenfalls wieder rücküberwiesen. Retter wird 1948 zu drei Jahren verurteilt. Die "Kremser Nachrichten" schrieben damals über die Verurteilung Retters, der vor Gericht erklärte, "ich war und bin Nationalsozialist": "Es gibt zahlreiche Fälle, in denen kleine Ortsgruppenleiter oder Illegale zu höheren Strafen verurteilt wurden, aber es scheint in Österreich -und nicht nur bei uns- üblich

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zis sah in diesen Arbeitssklaven die willkommene Die Flucht gelang, eine waghalsige Reise auf den Gelegenheit, nüchtern oder betrunken den "Herren­ Dächern der Transportzüge. Bei der ersten Haus­ menschen" hervorkehren zu können. "Mancher hat durchsuchung in der Wohnung seiner Eitern in sie gedroschen, die Fremdarbeiter, das kann man Krems wurde Richard Ott nicht gefunden- er lag zu­ sich gar nicht vorstellen", erinnert sich ein Arbeiter gedeckt im Ehebett. Es war aber nur eine Frage der der Hütte Krems. Zeit, bis die Gestapo seine Spur aufgenommen hat­ Stefan Pfuster, ein Rottenmanner, der 1942 mit te. Er fand Zuflucht bei Bekannten in Stein - im dem Werk nach Krems gekommen war, arbeitete bis Haus neben dem Sägewerk Lohr/Schütz. Durch Zu­ zur Bombardierung im Walzwerk als Partieführer. fall entdeckte Herbert Schebor, der mit Richard Ott "Manchmal sind's aufgetaucht mit der Hakenkreuz­ die Schulbank gedrückt hatte und sich nun auf Fron­ binde und ham gstänkert: ,So faul sind deine Leut, turlaub befand, den Versteckten. Sehebors Weg de arbeiten nix.' I hob zu dem gsagt: ,Frags amoil, führte zur Gestapo, wo er Anzeige erstattete. warums da san, freiwillig nämlich net, schau da an, Nach der Befreiung wurde Herbert Sehebor beim was z'fressn kriagn, wias schlofn, und dann probier Wiener Volksgericht verurteilt. Der Schutzpolizist, sölber 8 Stunden hackln."' der den tödlichen Schuß abgegeben hatte, setzte Die Baracken für die Arbeiter des Metallbetriebes sich in den Westen ab. Die Kremser Gestapo-Beam­ "Nuss und Vogel" standen in der Nähe des Frachten­ ten, die die Untersuchung gegen die Familie Ott ge­ bahnhofes. Dort haben so an die 50 Ukrainer, Män• führt hatten, wurden nie zur Verantwortung gezogen. nerund Frauen, Alte und Junge und Kinder gehaust. Einem Kriegsgefangenen im Betrieb ein Stück Brot TAUSENDESTARBEN IM zuzustecken, konnte bereits gefährlich sein! KRIEGSGEFANGENENLAGER GNEIXENDORF Edith Klein, wegen hitlerfeindlicher Aussagen in der Tabakfabrik gekündigt, arbeitete in der Heeres­ Im Kriegsgefangenenlager Gneixendorf wurden viele abnahme bei Nuss und Vogel. "Da war eine schwan­ tausende russische, französische und polnische gere Ukrainin, die ist an einer schweren Maschine Kriegsgefangene und verschleppte Personen festge­ gesessen. Der haben wir, wenns möglich war, einen halten. Mangels ausreichender Verpflegung und Apfel oder eine Birne gegeben. Sie und das Kind ärztlicher Betreuung, durch Zwangsarbeit und un­ sind aber gestorben." menschliche Behandlung kamen tausende Kriegs­ Ein Erlebnis von Edith Klein, als sie von Nuss und gefangene um. Im Lager gab es eine organisierte Vogel weg mußte, charakterisiert deutlich die Ein­ illegale Gruppe von Gefangenen, die mit der heran­ stellung mancher Kremser zu den Kriegsgefange­ rückenden roten Armee in der zweiten Aprilhälfte nen. "Komm ich zum Birngruber hin und sag. ,Da bin 1945 Funkkontakte aufnahmen. Um eine reibungslo­ ich, mich schickt das Arbeitsamt!' ,Sie? Aber ich hab se Übergabe der Gefangenen zu ermöglichen, wur­ doch eine Ukrainerin bestellt, nein, Ihnen kann ich den einige vertrauenswürdige Bewachungsorgane die Arbeit nicht zumuten, ich kann Ihnen ja nicht zu­ der Deutschen Wehrmacht davon informiert. Diese muten, sich unters Auto zu legen und den Dreck unterstützten das Vorhaben der illegalen Gruppe. wegzuräumen.'" Diese Zusammenarbeit wurde an den Kommandan­ ten des Lagers verraten. Ein Oberleutnant, ein Un­ VOR DER KIRCHE ERSCHOSSEN teroffizier und ein Gefreiter wurden verhaftet, am Südtirolerplatz öffentlich gehenkt und drei Tage lang Die Hände mit Handschellen gefesselt, ein Verband als abschreckendes Beispiel für die Kremser Bevöl• über der linken Hand, steigt der 20jährige Richard kerung hängen gelassen. Ott aus dem Auto der Gestapo. Plötzlich reißt er sich Auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefange­ los, beginnt zu laufen, die Kirche ist vielleicht seine nenlagers Gneixendorf wurde 1984 zum Andenken letzte Chance, das Todesurteil ist ihm so gut wie si­ an die im Lager. umgekommenen französischen cher. Zum zweiten Mal von der Wehrmacht deser­ Kriegsgefangenen ein Denkmal errichtet. Im Krem­ tiert, bereits 1941 als "Rädelsführer" einer Kommuni­ ser Friedhof gibt es ein Ehrengrab für 1 .600 russi­ stenbande bezeichnet. sche Kriegsgefangene, die im Lager Gneixendorf Der Schuß des Schutzpolizisten trifft - Richard starben. Ott stirbt auf dem Pfarrplatz, 4. Februar 1945, 6 Uhr abends. DER BLUTFREITAG VON STEIN Mit der Herrschaft der Nazis hatte er sich nie an­ freunden können. Bis Ende Juli 1941 arbeitete er als Am 6. April sollten über Befehl des Reichsjustizmini­ Installateur bei der Firma Haider. Ein Versuch, aus steriums in Berlin zu langer Haft Verurteilte vor der dem "Reich" zu flüchten, scheiterte. Im Oktober anrückenden Roten Armee nach dem Westen eva­ 1943 desertierte Richard von der Wehrmacht, wurde kuiert, Häftlinge mit geringerer Strafe entlassen wer­ aufgegriffen und vom Gericht der Division Nr. 177 ei­ den. Der Direktor der Strafanstalt Stein, Regierungs­ ner Strafkompanie zugeteilt. Das Gnadengesuch rat Kodre, ließ die Häftlinge, politische Gefangene seiner Mutter wurde abgewiesen: ",hr Sohn muß erst aus Österreich, Frankreich, Griechenland, der im Straflager zum Soldaten erzogen werden." Tschechoslowakei, Polen und anderen Ländern im Als dem Lazarett in Czestockowa in Polen setzte Hof antreten, um die Evakuierung und Entlassung er sich mit zwei Kameraden am 4. Jänner 1945 ab. vorzubereiten. Dem Verwalter der Anstalt, Alois

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Baumgartner, einem treuen ehemaligen Illegalen, immer wieder, Spitzel in den Kreis der Widerstands­ paßte die Entscheidung des Reichsjustizministe­ kämpfer einzuschleusen. riums nicht. Kreisleiter Wilthum und SA-Standarten­ Neben dem Einkassieren von Mitgliedsbeiträgen führer Leo Pilz wurden geholt. Über Befehl von Wilt­ für die Partei und von Spenden für die "Rote Hilfe", hum wurde nun auf die im Hofe der Anstalt mit denen Familien von Inhaftierten unterstützt wur­ Versammelten von hereingerufenen SS-Truppen den, versuchte die Gruppe um Zeller, mit Flugblät• das Feuer eröffnet, nachdem Leo Pilz als erster eine tern und Zeitungen die Wahrheit über den National­ Handgranate in die Menge der Häftlinge geworfen sozialismus und seine verbrecherischen Ziele zu hatte. verbreiten. Ein Abziehapparat wurde von St. Pölten Ein furchtbares Massaker entstand. 384 Häftlinge nach Krems transportiert, zuerst bei Rosa Holzer wurden erschossen, Verwundete, die unter den To­ und dann bei der Familie Schwarz in Furth 139 ver­ ten lagen, wurden mit Genickschüssen erledigt. steckt. in der Anklageschrift gegen Anna Schwarz Häftlinge, denen die Flucht gelang, wurden bei Meid­ wegen "Nichtanzeige eines Hochverratsvorhabens" ling im Tal und bei Hadersdorf gestellt und ermordet. heißt es: 12 Insgesamt forderte das Massaker 502 Tote. "Im Februar 1941 kam der Gatte der Angeklagten vor der Arbeit nach Hause und brachte einen Ver­ vielfältigungsapparat mit. Auf Befragen erklärte ihr 111. DIE WIDERSTANDSKÄMPFER der Gatte, daß er den Apparat . .. von Franz Zel/er übernommen habe." "IM HERZEN DES FEINDES" Die Spenden der "Roten Hilfe" waren für viele Fa­ milien, deren Erhalter verhaftet worden war, die ein­ Wenn heute über den Widerstand der Österreicher zige Überlebenschance. Von ihrem kärglichen Ge­ gegen den Nationalsozialismus gesprochen wird, so halt spendeten auch Arbeiter und Arbeiterinnen der ist den Beispielen, die dann zitiert werden, meist ei­ Tabakfabrik Stein. Im Akt gegen Anton Hirnschall, nes gemeinsam: Die aktive Rolle der Arbeiter und Otto Schöps, Leopoldine Anker! und Maria Malat13 Arbeiterinnen bleibt meist unberücksichtigt. Krems heißt es wiederum, daß Zeller "die Aufstellung einer kann keineswegs als eine Hochburg der Arbeiter­ lokalen KP-Organisation" betrieben habe. schaft bezeichnet werden. Daß selbst "im Herzen "Einer seiner Mitarbeiter war der Schmied Franz des Feindes", wie die "Rote Fahne" bereits 1932 Wieland, der eine rege Werbetätigkeit entwickelte schrieb, Widerstand geleistet wurde, zeigt ein Blick und dafür zu zwölf Jahren verurteilt worden ist. Wie in die Akten. in jenem Verfahren hervorgekommen ist, ist es sei­ ner Aktivität zuzuschreiben, daß die KPÖ in zwei Be­ HOCHVERRAT trieben im Gebiet von Krems und Umgebung Ein­ gang fand." "Im Namen des Deutschen Volkes" steht über den Anton Hirnschall spendete für die Familien der In­ Papieren, rechts darüber "Hochverratssache". Im haftierten monatlich zwischen 0,5 und 1 RM, ebenso Prozeß gegen den in der Kunsttischlerei Geppert be­ die andern Angeklagten. schäftigten Johann Hromada, den Hilfsarbeiter Franz Baumgartner, den Tabakarbeiter Franz Wie­ FÜR EIN FREIES, SOUVERÄNES ÖSTERREICH land und den in der Schuhfabrik Schmitt arbeitenden Josef Klaffl heißt es in der Urteilsverkündung: Die Anklage beschuldigte die vorhin Genannten, an "ln Krems und Umgebung hatte es der mittlerweile der "Vorbereitung des hochverräterischen Unterneh­ vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilte Spitzen­ mens einer gewaltsamen Änderung der Verfassung funktionär Franz Zel/er im Herbst 1939 unternom­ des Reiches" mitgewirkt zu haben. Das Eintreten für men, eine Organisation der KPÖ durchzuführen." ein freies, souveränes Österreich wurde meist mit An anderer Stelle in diesem Akt taucht der Name "Gebietshochverrat, nämlich auf die gewaltsame des ehemaligen Sozialdemokraten (Revolutionäre Losrei ßung der Alpen- und Donaugaue vom Reich Sozialisten) Johann Hoffmann auf: gerichteteneuere Ziele der KPÖ" umschreiben. "Dem unmittelbaren Einfluß Zellers sowie eines Die Gestapo arbeitete genau, doch eine vollstän• anderen führenden Kremser Kommunisten, des vom dige Zerschlagung des Widerstandes gelang nicht. Volksgerichtshof bereits zum Tode verurteilten Jo­ Die Standhaftigkeit von Zeller, Strasser und Hoff­ hann Hoffmann, der die Verbindung zwischen Zeller mann gegen die Torturen der Gestapo läßt sich oft und der kommunistischen Landesleitung in St. Pöt• nur an Zwischentönen in den Anklageschriften able­ ten aufrecht erhalten hatte, erlag ferner . .. " sen. Deutlich wird dies in der Anklageschrift gegen den Schlosser Alois Schallinger14, der zu den Mitbe­ ZELLER,HOFFMANN,STRASSER gründern der KPÖ in Krems in den 30er Jahren zu zählen ist. Indem Schallinger eine Tätigkeit für die Franz Zeller, Johann Hoffmann und Ferdinand Stras­ KPÖ leugnete und Zeller im Verhör mehrmals beton­ ser sind drei Widerstandskämpfer, die in Krems ge­ te, daß Schallinger seinen Werbungsversuch "aus­ lebt und gearbeitet haben. Ihre Namen tauchen noch drücklich zurückgewiesen hat", kommt das Gericht in einer Reihe anderer Hochverratsakten auf. Trotz zur Feststellung: "Es konnte weiters aber nicht er­ aller Vorsichtsmaßnahmen gelang es der Gestapo wiesen werden, daß Schallinger, wie die Anklage

43 IWK-Mitteilungen behauptet, für die KPÖ mit Erfolg geworben wäre ... rung der Brücke am 8. Mai 1945, 6 Uhr früh, mit sei­ Angesichts diese Sachlage kam eine Verurteilung nem Stabe (Adjutant Platte, Leutnant Runge) im des Angeklagten wegen Verbrechens der Hochver­ Kraftwagen von Krems abgesetzt, hat seine nach ratsvorbereitung nicht in Frage." Westen marschierende Truppe bei Eis im Wald­ viertel überholt ... und ist bei Grein nach Passieren DIEFOLTER KANN SIE NICHT BRECHEN der Oberösterreichischen Grenze in Perg noch am 8. Mai 1945 um 23 Uhr angekommen ... hat im Rat­ Ein weiterer Beweis dafür, daß Zeller, Strasser und haus seine Waffen abgegeben . . . und nunmehr Hoffmann selbst unter Folter geschwiegen haben, zuverlässig gewußt, daß bedingungslos kapituliert lieferte Franziska Wagner, die in der Gruppe mit­ wurde." gearbeitet hatte, verhört wurde, aber einer Ver­ haftung entging. Sie hat ihr Leben einem "Gsiberl", IM INTERESSE DER NATIONALSOZIALISTISCHEN einem Kassiber, zu verdanken, den Johann Hoff­ GEWALTHERRSCHAFT mann in seiner Wäsche ins Freie geschmuggelt hat­ te und in dem Anweisungen für das Verhalten vor So steht es im Protokoll der Prozesse gegen Ferdi­ der Gestapo enthalten waren. Ebenfalls verhört, nand Soche (geb. am 5. 11. 1892), den letzten aber nicht verhaftet, wurde Edith Klein, die Beträge Kampfkommandanten von Krems. 15 Soche wird vom für die "Rote Hilfe" gesammelt und bis zu dessen Volksgericht am 18. Mai 1946 zu sechs Jahren Verhaftung Johann Hoffmann übergeben hatte. Voll­ schweren Kerkers, verschärft durch ein hartes Lager kommen unentdeckt blieb die Gruppe um den Bäk• vierteljährlich, verurteilt. 16 (,, . .. schuldig, ... als Will­ ker Franz Hollerer, die ebenfalls Geld gesammelt fährigkeit gegenüber Anordnungen, die im Interesse hatte. der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ergan­ gen sind, durch die Weitergabe zur Ausführung des SO BIN ICH GEWORDEN, DER ICH BIN ... Befehls ... die boshafte Beschädigung fremden Ei­ gentums vorsätzlich veranlaßt zu haben . .. ") Viel über die menschliche Größe dieser Widerstand­ Bei seiner ersten Einvernahme im August 1945 kämpfer sagen die letzten Briefe von Ferdinand hatte Soche - damals noch nicht in Haft - jede Strasser aus. An seine Frau schreibt er am 14. Juni Beteiligung an der Zerstörung der Brücke geleug­ 1942: ",ch bin ruhig und erwarte in schwerer Haft net. Im Prozeß ein dreiviertel Jahr später erklärte den Tag, an dem sich mein Geschick erfüllt und der Oberst, die Brücken nur für die Sicherheit der mein Lebenswerk seinen Abschluß findet." Stadt Krems gesprengt zu haben. Die Verhandlung ln seinem Abschiedsbrief an die Eitern: "Glaubt lieferte ein anschauliches Bild von Krems in den nicht, daß ich vor dem Tod zittere, ich habe nun letzten Wochen der nationalsozialistischen Herr­ schon das Sterben in zwei Kriegen mitgemacht, ha­ schaft. be selber dem Tod unmittelbar ins Gesicht geschaut, und mir ist er nichts gar so Schreckliches. Freilich, KREMS IST ZU VERTEIDIGEN ein Tod durch Erschießen - und diese Todesart hat man früher immer für Revolutionäre gehabt - wäre Am 10. April 1945 wurde Soche zum Kommandan­ schöner." ten von Krems ernannt. Vom SS-Oberstgruppenfüh• ln seinem letzten Brief gibt er eine kurze Biogra­ rer Sepp Dietrich, Kommandant der 6. SS-Panzerar­ phie seines Lebens und schließt mit den Worten: "So mee, erhielt Soche den Befehl, "die Stadt Krems und bin ich geworden, der ich bin, mit meinen Kenntnis­ ihre Umgebung zu verteidigen." 350 Mann standen sen, hart, mein Ziel unverrückbar verfolgend, ohne ihm zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung - ein Ring Kompromisse ... " von Feldbefestigungen sowohl am Südufer als auch am Nordufer der Donau sollte angelegt werden. Der Befehl sah sogar vor, sich "nötigenfalls er­ IV. DAS ENDE schießen zu lassen und die Stadt Krems bis zum Häuserkampf zu verteidigen". Bei einer lnspizierung DER LETZTE BEFEHL DES OBERST SOCHE der Befestigungsanlagen durch Korpsgeneral Büh• nau räumte dieser Soche das Recht ein, bei einem "Als die Brückenkommandanten . . . die Meldung plötzlichen Durchbruch der Roten Armee gegen das überbringen ließen, daß die Schießenden die beiden Südufer der Donau, die Brücken sprengen zu las­ Brücken vom Süden nach Norden passiert hatten, sen. erteilte nun der Angeklagte den schriftlichen Ausfüh• Ende April war das Ende des Krieges abzusehen. rungsbefehl zur Sprengung der beiden Donaubrük• Der Stab von Soche hatte bereits im Stadtgraben in ken (. . .)" einem Luftschutzkeller Zuflucht gesucht. Über Rund­ funk erfuhren sie, daß Hitler tot sei, in Berlin ge­ 8. MAI1945 kämpft werde, Wien längst befreit und die Städte lnnsbruck, Salzburg und Linz bereits in amerikani­ "Der Angeklagte hat sich, nachdem er die Vollzugs­ schen Händen seien. ln über Krems abgeworfenen meldung der Brückensprengung an das Korps Büh• Flugblättern wurde die Bildung der Regierung Ren­ nau hinausgegeben hatte, sofort nach der Zerstö- ner am 27. April verkündet.

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Oberst Soche selbst lieferte in seinem Verhalten EPILOG Anfang Mai den Beweis, daß es sehr wohl möglich war, sich Befehlen zu widersetzen. Nach den Plänen IST KREMS BESSER ALS SEIN RUF? von Bühnau sollten das Elektrizitätswerk, das Gas­ DER VERSUCH EINES RESÜMEES werk und das Wasserwerk in Krems "lahmgelegt" werden, das heißt soweit zerstört werden, daß sie Am Ende der Detailstudie über die Juden der Gau­ drei Wochen nicht in Betrieb gesetzt werden könn• hauptstadt Krems bleiben eine Menge offener Fra­ ten. Soche führte nach einer Vorsprache beim Ober­ gen. Sich dieser Tatsache bewußt zu sein, bedeutet bürgermeister Retter diesen Befehl nicht aus und gleichzeitig, den Prozeßcharakter der Geschichtsfor­ ließ überdies die an der Wienerbrücke angebrachten schung zu akzeptieren. Neben zusätzlichen Informa­ Sprengladungen am 6. Mai entfernen. tionen, die zu einzelnen Familien und Vorgängen Kommandant Soche verfügte zu diesem Zeitpunkt noch gefunden werden können, drängt sich auch die über 1 500 Mann. Den Plänen von Bühnau gemäß Frage auf, inwieweit die Judenverfolgung in Krems sollte er seine Kampfeinheit "am Nordufer der Donau sich von der in anderen Kleinstädten in Niederöster• entwickeln ... wobei eine Linie von der Eisenbahn­ reich unterschieden hat. Eine Möglichkeit des Ver­ brücke angefangen mit dem Schwerpunkt in der gleichs bestünde nun in einer Untersuchung der Tat­ Stadt Krems bis hinauf längs der Donau zur Rollfäh• sache, wie schnell und bereitwillig die von überge_ re Weißenkirchen zu besetzen und zu halten war". ordneten Stellen angeordneten Befehle zur Verfol­ Bühnau hatte seinen Sitz in der Schallaburg bei gung der Juden von den lokalen Behörden ausge­ Melk aufgeschlagen, der oberste Befehlshaber, führt wurden. Die dürftige Quellenbasis für Krems Generaloberst Rendulic, befand sich zu diesem und die fehlenden Vergleichsstudien zu anderen nie­ Zeitpunkt bereits in amerikanischer Kriegsgefan­ derösterreichischen Kleinstädten weisen dieses Vor­ genschaft, von wo aus er seine letzten Befehle er­ haben als Projekt für die Zukunft aus. teilte. Vorsichtige Rückschlüsse auf die Besonderheiten in bezug auf die Behandlung der Juden lassen die IN DREI KOLONNEN DURCH DAS KREMSTAL im Band ,,Widerstand und Verfolgung in Niederöster• reich" publizierten Listen über die Vertreibung der Nachdem Soche und sein Stab im Stadtgraben die Juden vom März 1938 bis zum Jahr 1940, die auf nicht für sie bestimmte Aufforderung abgehört hat­ Angaben der Israelitischen Kultusgemeinde beru­ ten, daß sich die Truppen nach Westen zurückzie• hen. Diese Daten und ihr Vergleich erscheinen als hen und trachten sollten, bis zum 9. Mai, 1 Uhr eine Möglichkeit, den Terror meßbar zu machen, nachts, in amerikanische Gefangenschaft zu kom­ denn die unterschiedliche Bereitschaft der Juden, men, erteilte der Stadtkommandant seinen Einheiten bereits vor dem Pogrom im November 1938 die Hei­ den Befehl, "sofort von Krems aufzubrechen und matstadt zu verlassen, muß wohl auf die unter­ noch in dieser Nacht vom 7. auf den 8. Mai in drei schiedliche Intensität der Judenhetze zurückgeführt Kolonnen durch das Kremstal bzw. längs der Donau werden. Die im folgenden angestellten Überlegun• sich in Marsch zu setzen ... " gen mögen als Denkanstoß im Prozeß der Ausein­ andersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus EIN GEFÜGIGER OFFIZIER angesehen werden. Für Niederösterreich ergibt sich in bezug auf die Der letzte Befehl sah die Sprengung der Brücke vor. Vertreibung der Juden folgendes Bild, wobei auch War es Liebe zu seiner Stadt, die er schützen woll­ die Tatsache zu berücksichtigen ist, daß zwischen te? Das Gericht kommt zu einer anderen Einschät• Städten, die innerhalb des 50 Kilometer breiten Kor­ zung, folgt dem Zeugen, dem damaligen Adjutanten ridors entlang der tschechoslowakischen Grenze Soches, Siegtried Platte, der meint, "daß die Spren­ gelegen sind, und den übrigen Städten und Orten gung der Brücke deswegen durchgeführt wurde, da­ unterschieden werden muß, da die Vertreibung der mit für das im Abschnitt Stockerau stehende 2. Pan­ zerkorps eine Rückzugsmöglichkeit nach Westen offen bleib und diese Rückzugsmöglichkeit durch ei­ nen raschen Vorstoß über die Donau durch die Rote Armee nicht in Gefahr kommt". Das also war der ein­ zig wahre Beweggrund für die Anordnung: ". .. die­ sen SS-Einheiten als letzte Stütze des nationalso­ zialistischen Gewaltregimes eine freie Rückzugs• möglichkeit offen zu halten." Dies alles, so das Gericht, gibt zu dem Schluß An­ laß, "daß eben Sache ein gefügiger Offizier war, der den Befehlen der SS-Generale und der deutschen Generale auch noch in den letzten Tagen des Krie­ ges blind gehorchte, solchen Befehlen, die nur kriegsverlängernd waren und der nationalsozialisti­ schen Herrschaft dienten."

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Juden innerhalb der 50 Kilometerzone neben rassi­ nem Artikel über die historische Vertreibung der schen Überlegungen auch mit dem Sicherheitsfaktor Juden aus der Stadt geradezu nostalgisch zu dem begründet wurde. Schluß kommt: "wie einig war man sich im Mittelalter Demnach verließen 43,9% der Juden, die im März in der Freude über die Entfernung des Volksfein­ 1938 noch in Krems lebten, die Stadt, 40,1% die des."17 ln dieselbe Richtung zielt auch die Ankündi• Stadt Hollabrunn und 35,7% der Juden die Stadt gung einer Wanderausstellung des rassenpoliti­ Wiener Neustadt im selben Zeitraum, während es in schen Amtes in Krems Anfang des Jahres 1939, in Neunkirchen 63,1% gewesen sein dürften. Die Ver­ der es hieß: "daß es den Gegnern des Nationalso­ gleichszahlen mit anderen niederösterreichischen zialismus noch vielfach gelingt, auf dem Gebiet der Städten zeigen, so weit die publizierten Listen stim­ Rassenlehre und der nationalsozialistischen Ras­ men, daß es sich dabei um Spitzenwerte handelt, senpolitik die Dinge und Begriffe zu verwirren und denn "nur" 18% der Juden von Tulln und 15% der oft sogar bis in unsere Reihen hinein Unheil zu stif­ Juden von Amstetten entschlossen sich in diesem ten."18 Zeitraum, ihre Stadt zu verlassen. Nach der Erfassung der "Giaubensjuden" im Jahr 1940 wurden auch die restlichen Juden aus Krems geholt und nach Wien gebracht. Durch die Tatsache, Die Vertreibung der Juden aus Niederösterreich daß in Krems kein Büro der Gestapo untergebracht

16 war, wurden, soweit bekannt ist, von Krems nur in 1934 1938 Vertrieben 1. 11. 1938 einigen wenigen Fällen Personen direkt in ein Kon­ Gänserndorf 334 120 zentrationslager gebracht. Die Juden mußten Krems Hollabrunn 334 rund 134 rund 200 verlassen und nach Wien übersiedeln, von wo sie Horn 134 rund 40 dann deportiert wurden, sofern ihnen nicht die Aus­ Mistelbach 308 138 Waidholen 202 reise, beziehungsweise Flucht geglückt ist. Verhaf­ Amstetten 200 30 rund 170 tungen wie noch im Jahre 1942 in Wiener Neustadt Tulln 300 49 251 "wegen aufreizenden Verhaltens gegenüber der ari­ Neunkirchen 141 89 52 Stockerau 61 schen Bevölkerung", wie dies im Fall der vier Fami­ Krems 116 51 65 lienmitglieder der Familie lgnaz Seckl für Wiener Wiener Neustadt 646 231 415 Neustadt belegt ist, gibt es in Krems nicht. Somit muß, auf der Grundlage der bislang zu­ gänglichen Materialien, eine differenzierte Bewer­ Juden in Niederösterreich im März 1940 tung der Judenverfolgung in Krems angestellt wer­ den. in Krems erreichte der brutale, handgreifliche Baden ...... 43 Amstetten und Umgebung ...... 53 Antisemitismus vom März bis zum November 1938 Korneuburg ...... 6 ein derartiges Ausmaß, daß mehr als 40 Prozent der Kmms ...... 16 Juden die Stadt verließen, nach dem Pogrom im No­ Stockerau ...... 4 St. Pölten mit eingemeindeten Gemeinden ...... 38 vember dürfte den verbliebenen Juden kein großes St. Pölten Umgebung ...... 58 Augenmerk mehr geschenkt worden sein. Ob diese Wiener Neustadt und Umgebung ...... 21 Zahlen bereits Rückschlüsse auf die Politik der loka­ Tulln und Umgebung ...... 23 len NSDAP-Führer und der Stadtverwaltung erlau­ ben, kann nicht gesagt werden, da für diese Zurück• haltung, die mangelnde Freude über die Vertrei­ Werden nun die Zahlen der Statistik der Kultusge­ bung, wie sie im Artikel in der "Donauwacht" ange­ meinde Wien über die im März 1940 noch in Nieder­ sprochen wurde, sonst keinerlei Hinweise gefunden österreich lebenden Juden in Vergleich gesetzt zum wurden, auch die Interviews in dieser Richtung keine Wochenbericht der Kultusgemeinde vom 1. Novem­ Aufschlüsse erlauben. Eine Variante, die auch noch ber 1938, so kommt man zum Schluß, daß von den in Betracht gezogen werden müßte, ist die Tatsa­ beim "Anschluß" in Wiener Neustadt lebenden Ju­ che, daß es sich bei den verbleibenden Kremser Ju­ den nur mehr 3,2% noch in der Stadt und in der Um­ den um Personen handelte, deren Durchschnittsal­ gebung anzutreffen waren, während es in Krems im­ ter bei über 60 Jahren lag, wobei 85% Frauen merhin noch 10% der Juden waren. waren, die in der Stadt nicht so bekannt waren wie Noch eklatanter wird der Unterschied, wenn man die vertriebenen Geschäftsleute. Ob hier Nachläs• von den Anfang November in der Stadt lebenden Ju­ sigkeit oder VergeBlichkeit am Werk war, bleibt da­ den ausgeht. Von den 65 Juden in Krems lebten im hingestellt, jedenfalls wurden alle Kremser Juden März 1940 immerhin noch 24,6% in der Stadt, wäh• nach der verordneten Erfassung durch die Kultusge­ rend es vergleichsweise in Wiener Neustadt nur 5% meinde aus Krems deportiert, während in Wiener waren. Neustadt noch im Jahr 1942 Juden anzutreffen wa­ Ist die Gauhauptstadt Krems, das Zentrum der ren. illegalen Bewegung, besser als ihr Ruf? Einen Beleg Während bislang nur die Vertreibung der Juden für diese Nachlässigkeit, was das Streben der Gau­ nach dem "Anschluß" untersucht wurde, darf jedoch hauptstadt, judenfreie Stadt zu werden, betrifft, kann nicht vergessen werden, daß der Antisemitismus auch in der Land-Zeitung gefunden werden, wenn kein Importprodukt aus Deutschland war, sondern zum Beispiel der Stadtarchivar Dr. Plöckinger in ei- zu einem Markenartikel Österreichs zählte. Für

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Krems kann in diesem Zusammenhang festgestellt ANMERKUNGEN werden, daß mehr Juden die Stadt vor dem Ein­ marsch der Deutschen verließen als im Zeitraum von 1. Landzeitung 7. September 1938 März bis November 1938, denn seit 1930 waren 55 2. Donauwacht 22. September 1943 S. 5 Juden ausgewandert oder vorwiegend nach Wien 3. Ebd. übersiedelt, während die Terrorpolitik der National­ 4. Hannelore Hruschka: Die Geschichte der Juden von sozialisten "nur" 51 Juden aus der Stadt vertreiben Krems von den Anfängen bis 1938. Wien Diss. 1978 S.247 konnte. Aufgeschlüsselt nach Jahren ergibt sich fol­ 5. Donauwacht 19. 6. 1944 S. 4 gende Verteilung des Exodus der Juden von Krems 6. DÖW6014 vor 1938, wobei die Prozentzahlen immer den Anteil 7. Donauwacht9. 7.1941 S. 6 der Juden angeben, die der Stadt Krems den Rük• 8. Landzeitung 22. 2. 1939 S. 13 ken kehrten, kehren mußten. 9. Landzeitung 12. 4. 1939 S. 9 10. Donau-Post 131. 9. 1938 S. 14 Flucht der Juden aus Krems 1930-1937 11. Völkischer Beobachter 25. 6. 1939 12. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstan- des Akt Nr. 8588 1930 3,6% 1934 ...... 0 20,0%

1931 5,4% 1935 ...... 0 9,0% 13. DÖW 9582

1932 14,5% 1936 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 12,7% 14. DÖW9609

1933 21,8% 1937 ...... 0 12,7% 15. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstan­ des (DÖW) 11559 So verließen im Jahr 1930 3,6 Prozent der in der 16. Kremser Nachrichten vom 23. Mai 1946 S. 1/Neues Stadt lebenden Juden ihre Heimat. Im Vergleich mit Österreich 17. Mai 1946/Österreichische Volksstimme den Jahren vor dem Einmarsch der deutschen Trup­ 17. Mai 1946. pen in Österreich stechen besonders die Jahre 1932- 17. Diese Angaben beziehen sich auf den "Wochenbericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien betreffend 1934 ins Auge. ln diesen Jahren emigrierten vor allem Kultusgemeinden in Niederösterreich am 1. November jene Familien nach Palästina, wie die Interviews zeig­ 1938." ten, die durch ihre im Geiste der zionistischen Ju­ 18. Donauwacht 11. 11. 1939. gendbewegung erzogenen Kinder motiviert waren. 19. Donauwacht 6. 1. 1939.

WOLFGANG QUATEMBER NSDAP UND NSDAP-MITGLIEDSCHAFT IN EBENSEE Anmerkungen zu einer Lokalgeschichte 1923-1945

Während sich die traditionelle Heimatsgeschichts­ abgeschlossenen Regionen mit ausgeprägten Tradi­ beschreibung, deren Träger Lehrer, Pfarrer u. a. wa­ tionen- wie im Salzkammergut-dieTendenz zu be­ ren, groBteils unreflektiert in der Wiedergabe markan­ obachten, daß gewohntes Verhalten nicht abrupt ver­ ter lokaler Ereignisse erschöpfte, versucht eine wis­ ändert wird. Auch auf die Gefahr hin mit restriktiven senschaftlich fundierte Regionalgeschichte auch das Maßnahmen rechnen zu müssen, bleiben gewohnte Verhältnis zwischen globalen historischen Prozessen Handlungsmuster und Sozialbeziehungen zum Teil und regionaler Historie zu hinterfragen. So ist etwa offen oder in sogenannten "herrschaftsfreien Räu• die Beobachtung zu machen, daß die gewachsenen, men" (G.Botz) aufrecht. Die Arbeit an einem regiona­ "traditionalen", Strukturen regionalen Denkens und len Bildungszentrum, welches sich schwerpunktmä• Handeins auch unter veränderten politischen Verhält• ßig auf die Themenbereiche Faschismus und Wider­ nissen zu weiten Teilen ihre Bedeutung im Alltagsle­ stand konzentriert, darf sich nicht nur mit der ben behalten. Wenn etwa auch das Jahr 1938 ge­ "Hardware" (d. h. mit dem Sammeln und Archivieren samtstaatlich grundlegende gesellschaftliche Verän• von Dokumenten, Fotos, Fakten, Daten und Gegen­ derungen bewirkte, so ist in topographisch relativ ständen ... ) beschäftigen, sondern muß einerseits

47 IWK-Mitteilungen versuchen die Region "zu verstehen", d. h. ihre Tradi­ hang zwischen dem traditionellen Protestverhalten tionen, Protest- und Modernisierungspotentiale in Be­ der Bevölkerung und dem Widerstand gegen Austro­ ziehung zueinander und zum realen Handeln der faschismus und Nationalsozialismus entbehrt somit Menschen zu setzen, andererseits aber auch versu­ nicht der Grundlagen. Die Gemeinde Ebensee liegt chen die heutige Rezeption des Nationalsozialismus am Südufer des Traunsees und wurde verkehrspoli­ zu hinterfragen. Da beim Aufbau eines "Widerstands­ tisch 1875/78 durch Bahn- und Straßenbau erschlos­ museums" die Absicht besteht, Bildung zu vermitteln, sen. Die Industriestadt (Saline, Sudhäuser, Sodafa­ muß auch nach der heutigen Sicht der Ereignisse brik Solvay, Weberei und Spinnerei, Uhrfabrik) hat 1938 bis 1945 gefragt werden. Welche Rolle mißt ca. 9.000 Einwohner. 1868 wurde hier ein Konsum­ sich der/die Österreicher/in zu, wie "ehrlich" ist man verein gegründet, 1918 kam es zu einem Streik der dabei? Wenn auch Österreichs "Opferrolle" in den Salinenarbeiter wegen Brotrationierungen. Die Wahl­ Jahren 1938-1945 zunehmend in Frage gestellt wird, ergebnisse der 1. Republik zeigen eine starke sozial­ so muß auch nach den Motivationen, nach den Be­ demokratische Mehrheit, welche in zahlreichen Ar­ weggründen gefragt werden, die zu einer hohen Ak­ beitervereinen organisiert war. Als Industriestandort zeptanz des Nationalsozialismus führten. Die folgen­ war Ebensee von der Wirtschaftskrise besonders den Ausführungen werden, von einer kursorischen stark betroffen: 1934 waren im Ort ca. 1.000 Arbeits­ Beschreibung der Region und der Gemeinde Eben­ lose, darunter viele die seit Jahren "ausgesteuert" see ausgehend, kurz und deskriptiv den Aufstieg der waren. Die politische Situation in der 1. Republik war NSDAP bis 1938 behandeln, um anschließend auf durch zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen die integrative Funktion des Nationalsozialismus den militanten Verbänden der Rechten (Heimwehr) nach 1938 und auf die individuellen (nachträglich und Linken (Schutzbund) gekennzeichnet. Der Fe­ gefertigten) Begründungen von Ebenseern für einen bruaraufstand der Sozialdemokratie 1934 wurde hier Beitritt zur NSDAP einzugehen. von einem Generalstreik der Industriearbeiter und durch eine Besetzung zentraler Stellen durch den so­ I. zialdemokratischen Schutzbund begleitet. Erst ein massives Militär- und Heimwehraufgebot konnte den Im Salzkammergut ist ein spezifisches, regionales Aufstand am 16. Februar unblutig niederschlagen. Sonderbewußtsein feststellbar. Dieses hat wirt­ Zahlreiche Verhaftungen, Enteignungen der Arbeiter­ schaftlich-politische Hintergründe: Das Salzkammer­ vereine etc. waren die Folge. gut war seit dem hohen Mittelalter mit seinen Berg­ bau- und Bergbauzulieferungsbetrieben ein weitge­ II. hend autonomes Wirtschaftsgebiet ln der Bevölke• rung dominierte die Salzarbeiterschaft Diese genoß Im Dezember 1922 wurde in Ebensee, 1923 in Bad Privilegien, die zu einem ausgeprägten Standesbe­ Goisern durch den versetzten Ebenseer Förster wußtsein führten. Ihre soziale Situation war geprägt Schaschnig, eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet. von freier Lohnarbeit, geregelter und günstiger Ar­ Die NSDAP in Ebensee hatte im Jänner 1923 30, im beitszeit, festgelegter Löhne mit Natural- und Sozial­ Juli des gleichen Jahres 52 Mitglieder. Die erste öf• leistungen (Befreiung v. Militär etc.). Sie war ge­ fentliche Versammlung der NSDAP fand im Mai 1923 kennzeichnet durch eine hohe Seßhaftigkeit und statt. Bei den Gemeinderatswahlen 1924 bekam die durch Selbstrekrutierung aus dem eigenen Nach­ kleine Partei bereits 197 Stimmen. Bei den Landtags­ wuchs, wodurch ein stabiles Netz von Familien- und wahlen 1925 konnte sie weitere Stimmen hinzuge­ Verwandtschaftsbeziehungen entstand. Genossen­ winnen. Innerparteiliche Rivalitäten hemmten jedoch schaftliche Selbsthilfeeinrichtungen (bereits 1868 die weitere politische Tätigkeit. ln einem Rückblick wurden Arbeiterbildungs- und Konsumvereine ge­ des Jahres 1938 heißt es: "Der schwere politische gründet) hatten eine lange Tradition und fanden in Kampf gegen die sozialdemokratische Mehrheit, ge­ der politischen Organisierung ihre Fortsetzung. Das gen einen festen Block Christlichsozialer wie gegen Salzkammergut (ab Ebensee) ist dadurch bis heute großdeutsches Bürgertum einerseits, Haft des Füh• eine sozialdemokratisch dominierte Region. ln zahl­ rers und Aufspaltung in verschiedenen Richtungen reichen Gemeinden hatten die Sozialdemokraten in andererseits, hemmen den Aufstieg der Ortsgruppe." den dreißiger Jahren Mehrheiten von 70%-80%. Die Spaltung der Österreichischen NSDAP in eine Das ausgeprägte Standesbewußtsein und der ho­ "Hitlerbewegung" und eine Gruppierung unter Karl he Organisationsgrad der Salzarbeiterschaft einer­ Schulz bedeutete somit auch für die Ebenseer Partei seits und die zahlreichen Konflikte mit der Obrigkeit das vorläufige Ende. Erst ab Oktober 1928 wurden (Reglementierungen im Salzwesen, Servitute, Lohn­ wieder Mitgliedsbeiträge eingehoben. konflikte) andererseits schrieben das ausgeprägte Protestverhalten der Bevölkerung fort, welches be­ WAHLEN NS-STIMMEN MÄNNER FRAUEN reits für die Zeit der Reformation nachweisbar ist: Nach der gewaltsamen Gegenreformation der Habs­ GRW 1924 197 100 97 LTW 1925 243 145 98 burger zog sich ein Großteil der Bevölkerung in den GRW 1925 173 97 76 Kryptaprotestantismus zurück. Noch heute gibt es in GRW 1929 210 108 102 einigen Gemeinden hohe Protestantenanteile. Ein in NRW 1930 230 127 103 zahlreichen Publikationen hergestellter Zusammen- LTW 1931 236 132 104

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JAHR NSDAP SA ss HJ BDM FRAUEN das Obere Salzkammergut in Auflagen bis zu 20.000 Stück, die von Pg.Rudolf Heißl verfaßt und in einem 1928 11 Eiskeller vervielfältigt wurden." Auch die Frauen der 1930 14 7 Ebenseer Nazis halfen im "illegalen Kampf". Sie 1932 45-50 4 7 sammelten Unterstützungsbeiträge, Lebensmittel, 1933 60 13 1934 35 Kleider und Wäsche für die inhaftierten Aktivisten 1936 120 und ihre Angehörigen. Regelmäßige Weihnachts­ 1038 186 31 23 17 189 sammlungen unter den Mitgliedern wurden von den Frauen organisiert, die auch die Terroristen im Ge­ Die "Hitlerbewegung", die sich nun innerparteilich fängnis betreuten. durchzusetzen begann hatte in Ebensee 1928 11, Obwohl es während des nationalsozialistischen 1930 14 und 1933 bereits 60 Mitglieder. Die SA re­ Putschversuches vom 25. Juli 1934 in Ebensee zu krutierte sich aus Mitgliedern des Deutschen Turner­ keinen größeren Auseinandersetzungen kam, dürfte bundes. Sie übernahm den Saalschutz bei Ver­ im Verlauf der folgenden Verhaftungen und behördli• sammlungen und betrieb die Wahlpropaganda. Im chen Einvernahmen der 18jährige Nationalsozialist Juli 1923 nahm eine Fahrradabteilung an einer "Füh• Matthias Nöhmer derart mißhandelt worden sein, rerbesprechung" in Salzburg teil. 1932 hatte die SA daß er an den Folgen dieser Verletzungen etwa ein 45 bis 50 Mitglieder mit einem eigenen sogenannten Jahr später starb. Für ihn sowie andere sogenannte "Motorsturm", d. h. Männer, die mit Motorrädern aus­ "Märtyrer der Bewegung" wurden während der NS­ gerüstet waren. 1938 gab es in Ebensee 186 Mann Herrschaft alljährlich Heldenehrungen durchgeführt. SA in 3 "Stürmen". Die "" (SS) wurde im Die Täter wurden übrigens nach der NS-Machtüber• Herbst 1932 mit 4 Mann in Ebensee gegründet und nahme ausgeforscht und zu mehrjährigen Gefäng• hatte 1938 31 Mitglieder. Anfangs der dreißiger Jah­ nisstrafen verurteilt. re (1931) entstanden in den Solvay-Werken und in Für Ebensee sind wirtschaftliche und politische der Saline die ersten nationalsozialistischen Be­ Ursachen für die Unterstützung der NSDAP vor und triebszellen (NSBO). Die "Hitler-Jugend" wurde zu nach 1938 durch Teile der Arbeiterklasse anzufüh• Weihnachten 1929 gegründet und war vorerst an ren: den Standort Bad Goisern angeschlossen. Im Febru­ 1. Ebensee war als Industriezentrum von der ar 1932 entstand in Ebensee eine eigene Gruppe mit wirtschaftlichen Krise der dreißiger Jahre besonders sieben Jungen, die rasch Zulauf erhielt, sodaß die betroffen. Die Arbeitslosigkeit war hoch. Der Austra­ (illegale) HJ 1934 35 Mitglieder zählte. Parallel zur taschismus konnte die wirtschaftliche und soziale HJ gelang der Partei 1933 eine Mädchengruppe zu Lage nicht entspannen. Die (rüstungskonjunkturell bilden. Im Frühjahr 1938 waren 17 Mädchen im bedingte und mit der Auflösung der organisierten Ar­ Ebenseer "Bund deutscher Mädchen". beiterschaft verbundene) Beseitigung der Arbeitslo­ Nach dem Parteiverbot der NSDAP 1933 reorga­ sigkeit in Deutschland 1933-1935 wirkte propagan­ nisierte sich die Partei rasch und versuchte durch distisch so auch über die Grenzen und unterstützte Terroraktionen auf sich aufmerksam zu machen. Ins­ die Argumentation der illegalen Nationalsozialisten. besonders auf Parteiheime und Versammlungssäle 2. Für die sozialdemokratische und kommunisti­ der Arbeiterorganisationen hatten es die Nazis abge­ sche Arbeiterbewegung war nach der Etablierung sehen: Die Objekte wurden mit Hakenkreuze bemalt. des Austrataschismus (1933/34) die Österreichische Sprengstoffanschläge wurden auf das Haus des Diktatur und ihre lokalen Vertreter Feind Nr. 1. Der Führers der Vaterländischen Front und im Pfarrhof Kampf gegen den deutschen Faschismus geriet so­ verübt. Meist wurden Arbeitslose für diese Anschlä• mit nach der blutigen Niederschlagung des Februar­ ge "gekauft": Für einige "Halbe Bier" mußten sie für aufstandes 1934 in den Hintergrund. Insbesonders die Nationalsozialisten die "Schmutzarbeit" machen. in Ebensee wurden 1934 von den Austrofaschisten, Die terroristische Propaganda verunsicherte die Be­ völkerung, brachte der illegalen Partei weitere Mit­ glieder und half den inneren Zusammenhalt in der Organisation zu festigen. Der Gendarmerie gelang es fallweise die Drahtzieher der Terroranschläge und Propagandaaktionen aus der illegalen Partei auszuforschen. Diese wurden zu hohen Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt. Eine NS-Chronik aus dem Jahre 1938 berichtete heroisierend den "illegalen Kampf": "Der illegale Kampf in Ebensee war schwer und opferreich. Er wurde mit allen geeigneten Mitteln geführt und zog vielen Parteigenossen Arrest, Konzentrationslager, Entziehung von Geschäftskonzessionen, Außer• dienststellung, wie Brotlosmachung, zu. Als geheime Ortszeitung erschien in Ebensee alle zwei Wochen der "Nazibeobachter", außerdem Flugschriften für

49 IWK-Mitteilungen abgesehen von der Verfolgung von Funktionären Die Anzahl der Eheschließungen kann als Indika­ und der Auflösung von Arbeitervereinen, Handlun­ tor für die Akzeptanz und Zustimmung der Bevölke• gen gesetzt, die symbolhaften Charakter annahmen rung gegenüber dem Nationalsozialismus gewertet und von den Sozialisten nicht zu Gunsten eines ge­ werden. Eine steigende Anzahl von Eheschließun• meinsamen Kampfes gegen die Nazis vergessen gen kann als Gefühl von existentieller Sicherheit in werden konnten: Das Arbeiterheim wurde verwüstet, der Bevölkerung gewertet werden: Gegenüber 1937 Bücher wurden versenkt etc. stieg die Zahl der Eheschließungen 1938 um 55% 3. Sozialdemokraten, Kommunisten und Natio­ und 1939 um 26%. Ab 1940 ist jedoch ein Absinken nalsozialisten kämpften illegal gegen die Österreichi• der Zahl der Eheschließungen unter jene des Jahres sche Regierung: Der gemeinsame Gegner ließ unter 1937 zu beobachten: Teile der männlichen Bevölke• mancherlei Verlockungen und Versprechungen von rung waren zur Wehrmacht einberufen, die wirt­ NSDAP-Funktionären (die vom Halben Bier über die schaftliche Lage begann sich zu verschlechtern, Unterstützung von armen Familienangehörigen bis durch den Krieg machte man sich - trotz aller Jubel­ zur Arbeitsvermittlung reichten) nach 1934 manche propaganda- Sorgen um die Zukunft. Linke ins rechte Lager wechseln.

IV. 111. Warum traten die Ebenseer der NSDAP bei, was er­ Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme warteten sie von der Partei, warum unterstützten sie wurden mindestens 30 bekannte Ebenseer in mit dem Parteibeitritt das verbrecherische Regime? "Schutzhaft" genommen, sechs kamen in Konzentra­ Bei Durchsicht der 1945 angelegten Registrierungs­ tionslagern ums Leben. Die fünf jüdischen Familien akten und der Entregistrierungsansuchen, aus wel­ in der Gemeinde wurden registriert, ihr Vermögen chen in der Folge zitiert wird, lassen sich - bei aller enteignet, verhaftet, letztlich zur Ausreise gezwun­ quellenkritischer Vorsicht- je nach Inhalt ihrer Argu­ gen. mentation, ihrer Verteidigung, folgenden "Typen" Mit 1. Jänner 1939 waren 8,4% der Ebenseer Be­ von Parteimitgliedern unterscheiden: völkerung als Mitglieder der NSDAP eingetragen. Weiters war eine große Anzahl von Gemeindemit­ gliedern in die Arbeit der Parteiorganisationen inte­ 1. DIE IDEOLOGEN griert, ohne ein Mitgliedsbuch zu besitzen. Was war die Ursache für die Akzeptanz des Nationalsozialis­ " ... wenn ich an einen Sieg glaubte, so war das nur mus in Ebensee? darauf zurückzuführen, weil ich es nicht wahr haben 1. Der wirtschaftliche Aufschwung nach der NS­ wollte, daß unser Österreich vom Bolschewismus Machtübernahme veränderte auch die triste Situa­ überrannt werden sollte." Angebliche Angst vor dem tion in Ebensee. Kommunismus, die von den Nationalsozialisten ge­ 2. Der Mythos der "Volksgemeinschaft" verfehlte schürt wurde, war eine Argumentation, ein anderer auch in Ebensee nicht seine Wirkung. Die Nazis de­ gab 1945 an: "Die Gründe, die mich damals zum monstrierten nach außen hin Gleichheit, obwohl sich Beitritt veranlaßten, waren keineswegs materieller, an den Klassengegensätzen de facto nichts geän• sondern ideeller Art, wobei mich der Glaube an eine dert hat. Bürgerliche Titel wurden abgeschafft, alle Verbesserung unserer nationalen Existenz und an Lebensbereiche vereinheitlicht. So etwa stand sogar eine günstigere wirtschaftliche und damit soziale die Feuerwehr unter der Leitung des NS-Ortsgrup­ Entwicklung im allgemeinen nach den vielen schwe­ penleiters, die Gesangsvereine wurden vom Kultur­ reren Jahren der Not erfüllte, ein Gedanke, der zu referenten in der NS-Ortsgruppe geleitet. Für dieser Zeit viele Tausende beherrschte und in ihnen "Pflichterfüllung" gab es Ehrungen und Auszeichnun­ den Wunsch aufkommen ließ, durch Schaffung ei­ gen. Arbeitsjubiläen wurden festlich begangen, die nes größeren Lebensraumes und den Anschluß an Jubilare als "Helden der Arbeit" geehrt. Das "Mutter­ das größere stammverwandte Nachbarvolk einen kreuz" wurde den Frauen unter Anwesenheit des Aufstieg der eigenen Heimat zu ermöglichen." Diese Bürgermeisters und verliehen. Ansicht kalkuliert die Akzeptanz der Tatsache mit Privates wurde zum "Dienst am Volk". Feiern wurden ein, daß der Deutsche auf Kosten "minderwertiger zu Festen des Systems. Die Selbststilisierung wurde Völker" seinen "Lebensraum" erweitert und dadurch mit Pomp begangen und mit detailreicher Regie ab­ seine Entwicklung fördert. Der Sozialismus schien geführt. Zu den Sonnwend- und Julifeiern war die bei anderen ein Beitrittsgrund gewesen zu sein: "Ich ganze Bevölkerung "eingeladen", das Fernbleiben war als Arbeiter von jeher Sozialist und habe mich wurde registriert. auch während meiner Parteizugehörigkeit als sol­ 3. Der Nationalsozialismus bot vielfältige ldentifi­ cher gefühlt und benommen." Das Ideal der "deut­ kationsangebote. Alle Lebensbereiche wurden orga­ schen Volksgemeinschaft" schwebte einem anderen nisatorisch erfaßt, Aufgaben wurden verteilt, der Ein­ vor: "Ich trat der Partei im guten Glauben bei, da­ zelne fühlte sich als wichtiges Mitglied und war durch meinem Ideal einer einig zusammenstehen­ bemüht seine "Aufgaben" für die "Volksgemein­ den Volksgemeinschaft am besten dienen zu kön• schaft'' optimal zu erfüllen. nen."

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2. DIE PFLICHTERFÜLLER sichtig. Bei vielen bewirkte diese persönlich-unmit• telbare Konfrontation mit den vom NS-System bis "Ich erachtete als meine Pflicht, der NSDAP beizu­ zur physischen Vernichtung ausgebeuteten Men­ treten, umso mehr als ich durch den Beamteneid auf schen scheinbar einen GesinnungswandeL Zu die­ Hitler persönlich verpflichtet war", gab ein ehemali­ sen gehörten auch jene überzeugten Nationalsoziali­ ger Beamter als Entlastungsgrund nach 1945 an. ln sten, wie die Ortsgruppenleitung von Ebensee, die einem anderen Entregistrierungsansuchen steht: bisher bei jeder Gelegenheit für die Erreichung des "Ich kannte nichts, als treueste Pflichterfüllung." "Endsieges" eingetreten waren. Nun, auch ange­ Welche Bedeutung diese "Pflichterfüllung" im natio­ sichts der Aussichtslosigkeit der Lage im Frühjahr nalsozialistischen Staat hatte, wird deutlich, wenn 1945, gehen sie dazu über, Verteidigungsmaßnah• man sieht, wie andere ohne Skrupel bestätigten, daß men zu verhindern. sie laut Gesetz verpflichtet gewesen wären, zu de­ nunzieren. Daß Recht im nationalsozialistischen 5. DIE OPPORTUNISTEN Staat Unrecht war, daß Gesetz Unrechts-Gesetz war, wurde vielen nie bewußt. Die Rechtfertigung, Die gewollte und geplante Erreichung persönlicher "ich habe niemals gegen bestehende Gesetze ver­ Vorteile durch eine NSDAP-Mitgliedschaft wird von stoßen", wird so zur Farce. vielen 1945 als Entlastungsgrund angegeben. Eini­ ge Beispiele: Ein kränklicher Hilfsarbeiter trat der SA 3. DIE BELEIDIGTEN bei, weil er sich von der SA Unterstützung erwartete. Viele erlangten Arbeit nur nach einer nachgewiese­ Einige bestätigten 1945 ihren freiwilligen Eintritt in nen NSDAP-/SA-/SS-Mitgliedschaft: Nach der Ent­ die NSDAP, führten aber ihren angeblich bald einge­ lassung aller "politisch Untragbaren" 1938 in den Be­ treten Gesinnungswandel als Entlastungsgrund ins trieben setzte sich der Bürgermeister Ebensees für Treffen. Abgesehen vom allgemeinen Stimmungsab­ die Aufnahme von "Parteigenossen" ein, für je 40 fall zwei Jahre nach Kriegsbeginn liegen die auslö• Mann in der Betriebsbelegschaft mußte ein SA- oder senden Momente für ihre Abkehr von der NS-Politik SS-Mitglied aufgenommen werden. Die SA bot ihren nicht (wie vielleicht zu erwarten wäre) in moralisch­ Mitgliedern die Möglichkeit, sich in der SA-Berufs­ ethischen Bedenken, sondern in persönlichen Nach­ schule weiterzubilden, wovon offenbar einige Eben­ teilen, die sie glaubten, erlitten zu haben: Ihre seer Gebrauch machten - und dies dann 1945 als NSDAP-Mitgliedschaft brachte - nach ihrer Ein­ Entlastungsgrund angaben. Auch die Erreichung ei­ schätzung - nur Nachteile, etwa in der Wehrmacht, nes Gewerbescheines war durch die Parteimitglied­ durch Kriegsereignisse, durch unerfüllte Erwartungs­ schaft zumindest erleichtert. Der befürchteten Nach­ haltungen. So etwa trat bei einigen keine Verbesse­ teile gab es tatsächlich so viele, daß man 1945 wohl rung der Situation am Arbeitsplatz ein, die erwartete nicht sehr lange nachdenken mußte, um einen Ent­ soziale Besserstellung bleibt aus. Durch Kriegsbe­ lastungsgrund zu finden: Ein Student befürchtete ginn werden manche Restriktionen unterworfen mit Nachteile im Studium und trat der Partei angeblich welchen sie in ihrer ersten Begeisterung 1938 oder genau deshalb bei; eine Lehrerin, weil sie als Nicht­ früher nicht gerechnet hatten: Ausdehnung der Ar­ mitglied eine Festrede nicht halten durfte; ein Den­ beitszeit und des Arbeitsanfalles mit Kriegsbeginn, tist, weil er sonst keine Patienten bekam; ein Arbei­ Einführung der Lebensmittelkarten u. v. m. Eine mit ter, der um seinen beruflichen Fortgang fürchtete .... der Parteimitgliedschaft angestrebte Bevorzugung "Um Unannehmlichkeiten zu entgehen ... " traten sie trat nicht ein, etwa wenn sich ein Gendarmeriebeam­ der NSDAP bei und hatten nun 1945/46 dummerwei­ ter trotz NS-Mitgliedschaft nicht gegen SA und SS se genau mit diesem, vielfach überlegten Schritt, durchsetzen konnte, wenn das freie Zimmer in der wiederum .. Unannehmlichkeiten". Wohnung trotz guter Beziehungen zur Partei an "Reichsdeutsche" vergeben wurde, wenn zusätzli• che unbedankte Arbeit geleistet werden mußte.

4. DIE SPÄTEN MORALISTEN

Moralisch bedingte negative Einstellungen gegen­ über dem Nationalsozialismus resultierten in Eben­ see meist aus der Tatsache, daß hier im November 1944 ein KZ-Nebenlager errichtet wurde (vgl. dazu unbedingt die umfangreiche Studie von Florian Freund: Arbeitslager Zement. Das Konzentrationsla­ ger Ebensee und die Raketenrüstung. Wien, Verlag für Gesellschaftskritik, 1989. 486 Seiten). Erst mit der Errichtung des Konzentrationslagers wurde den Ebenseern die Bestialität des NS-Regimes vor Au­ gen geführt. Erstmals werden Teile der Bevölkerung der grausamen Behandlung von KZ-Häftlingen an-

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6. DIE GETRIEBENEN 7. DIE "IRREGELEITETEN" UND "UNPOLITISCHEN" Druck von Seiten der Ortseliten oder von Arbeitge­ bern wurde 1945 als weiterer Entlastungsgrund an­ Darüberhinaus gibt es noch eine große Gruppe je­ gegeben. Der Parteieintritt wurde somit als Zwang ner, die sich 1945 als Geblendete und Getäuschte, bezeichnet. Insbesonders in der Beamtenschaft wur­ als Ausgenützte und Irregeleitete, bezeichnen und de oft mit diesen Argumenten hantiert: "Mein Beitritt behaupteten, sich niemals politisch in irgendeiner zur NSDAP im Jahre 1938 erfolgte unter dem Druck Weise betätigt zu haben: des damaligen Ackerbauministers lng.Reinthaller, in­ Sie gaben "politische Unmündigkeit" an und dem er sagte, er erwarte von jedem Beamten und An­ der Propaganda "Brot für alle" erlegen gewesen zu gestellten seines Ressorts, daß er der NSDAP ange­ sein: "Die Nazi haben meine trostlose Lage ausge­ höre." Ein anderer behauptet, daß er ohne Vorinfor­ nützt und mich an ihre Seite gerissen". Oder: "Ich mation zusammen mit anderen in den Gemeindesaal führte damals eine Spielschar in Ebensee, die ei­ geladen wurde, wo der Bürgermeister mitteilte, er gentlich keine politische Betätigung darstellte. Unse­ hätte die Funktion eines Blockleiters zu übernehmen. re Heimabende wurden ausschließlich mit Singen, Die Direktoren der Weberei und Molkerei gaben etwa Volkstanz und Tanzmusik ausgefüllt." Warum war er an, daß ihnen der NSDAP-Beitritt nahegelegt wurde. dann bei der NSDAP? Wenn ohnehin alles so "harm­ ln einer Polizeidienststelle verlangte ein SS-Ober­ los" war, schien wohl auch ein Beitritt nicht notwen­ scharführer von einem seiner Beamten ultimativ unter dig. Androhung der Entlassung den Beitritt zur SS. ln ei­ Alle diese hier kurz charakterisierten Verhaltens­ ner Staatsgewerbeschule wurde von der Schulleitung typen halfen auf ihre Weise das System zu stabili­ die Mitgliedschaft der Schüler in einer Parteiforma­ sieren, sei es - wollte man ihrer Verteidigung und tion verlangt. Eine Hausgehilfin eines Ebenseer Entschuldigung 1945 glauben - freiwillig oder un­ Fleischhauers bemerkte, ihr Chef hätte es "gerne ge­ ter Druck, aus Bequemlichkeit oder aus Angst, aus sehen", wenn sie der NSDAP angehörte. Der Orts­ eigennützigen Motiven oder aus tiefer Überzeu• gruppenleiter wiederum drohte angeblich mit der Ein­ gung. berufung zur Wehrmacht, wenn die Person nicht in Eine Vermittlung des Nationalsozialismus darf der Partei mitarbeite. Ein Frau bestätigte: "Man gab hier nicht aufhören. Sie muß sich die Frage stellen: allgemein bereitwillig dem Druck nach ". ln der Tat, ,,Wie hätte man handeln sollen"? Die "Ethik des viele dieser Personen dürften ihre Mitarbeit in der Handelns", die unaufhörliche Frage nach dem "Wie NSDAP, die vielleicht ursprünglich wirklich aufgrund handelt man am Besten?", sollte uns auch bei ge­ existentieller Ängste und nicht aus Überzeugung er­ genwärtigen Entscheidungen und beeinflußbaren folgte, nachträglich mit Begeisterung und "Pflichter­ Weichenstellungen bewußt sein. füllung" ausgefüllt haben.

DOKUMENTATIONS- UND FORSCHUNGSSTELLE "ÖSTERREICHISCHE WISSENSCHAFTSEMIGRATION"

Als Ergebnis des Projektes "Österreichische wissenschaftliche Emigration" liegt nun eine erste quantitative Bestandsaufnahme der verlust- und folgenreichen Vertreibung öster• reichischer Intellektueller in der Epoche des Faschismus vor. Im Rahmen des IWK wurde eine EDV-Datenbank mit über 1700 kurzen Biographien österreichischer Wissenschaftlerinnen errichtet, die mit Hilfe eines benutzerfreundlichen Abfrageprogrammes nach 20 kombinierbaren Merkmalen ausgewertet werden kann. Ergänzend zu dieser biographischen Bestandsaufnahme ermöglicht eine EDV-Spezial­ bibliographie mit bisher über 3400 Titel und entsprechendem Suchprogramm eine gezielte Forschungsarbeit zu dieser Problematik, die lange Zeit tabuisiert und vernach­ lässigt wurde. Diese Literaturdatenbank wird durch eine ständig wachsende Präsenz• bibliothek zur Österreichischen Wissenschaftsemigration bereichert. Mit dieser biobibliographischen Dokumentation existiert eine institutionalisierte Plattform für eine fächerübergreifende Exil- und Emigrationsforschung, die als Servicestelle der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. IWK: 1090 WIEN, MUSEUMSTRASSE 5/2/19, TEL. 93 13 82

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LITERATUR ZUM THEMA

ROBERT STREIBEL ben aus der Stadt bereits vor 1938, "freiwillig", fast genauso viele Juden haben die Stadt vor 1938 ver­ HEIMATMUSEUM IM KOPF* lassen wie nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1938. "Freiwillig" - aber doch Kennen Sie Schachtelhalm? Jenes Gewächs, das "Heute der letzte Tag in Krems ist doch schmerzlich an die Vorzeiten erinnert, in denen die Menschen ... " steht auf einer Postkarte. Die Heimatmuseen noch nicht die Erde bevölkerten. Von Bedeutung wa­ sind geschlossen. Besser nicht daran rühren, denn ren/sind Schachtelhalme nur für die ältere Genera­ die Häuser hatten eben auch Bewohner und manche tion und wenn es hochkommt für Pfadfinder, als haben es nicht geschafft. Das Visum kam nicht, die Scheuermittel für Kochgeschirr, wenn nichts ande­ Fahrkarte zu spät, die Razzia zu früh. "Abgemeldet res zur Verfügung steht. Ohne Schachtelhalme kann ins Ostgouvernement" heißt es dann, 59 Namen auf man leben, zweifellos. Ein nutzloses Kraut. Kann der Kremser Totenliste. man aber Schachtelhalme vermissen? Für meine Arbeit wurden erstmals einige der ge­ Seit dem Sommer 1990 weiß ich, daß dies mög• nannten Heimatmuseen geöffnet, vorsichtig, zaghaft, lich ist. Ein Rundgang in Krems mit Robert und Hilde viele Räume werden sicherlich nie zugänglich sein. Kohn, ihr erster Besuch in Krems seit fast 60 Jah­ "Ich habe mein ganzes Leben gebraucht um damit ren. Geburtshaus des Vaters, Wohnhäuser von Ver­ fertigzuwerden, meine Eitern sindermor-det worden, wandten und Bekannten, das Geschäft der Eitern in und jetzt will ich mich nicht mehr erinnern ... " Das der Unteren Landstraße, Besuche bei Personen, die Aufregendste bei meiner Arbeit war es, mit einigen an Robert Kohn noch eine vage Erinnerung knüpfen, Kremsern in diesem, ihrem Inventar zu stöbern, nicht Straßenecken mit Erinnerungswert. Am Anfang des im Kibuzz Givat Haim, nicht in Herzlia, nicht in Dar­ Tages ein Wunsch: "Ich möchte mit keinem Kremser set, in Großbritannien, sondern bei einem Spazier­ sprechen -man weiß ja nie, ob er nicht, oder seine gang durch die Stadt, die Krapfen vom Millöcker, die Familie, dabei war ... " gerupften Federn auf dem Tempelhof. Es ist nicht bei diesem Wunsch geblieben. Häuser Für manche Kremser Juden ist ein derartiges Un­ haben eben auch Bewohner. Am Ende des Tages ei­ terfangen, ein Besuch in der Heimatstadt unver­ ne Bitte: "Ich möchte etwas Wald riechen." Ein kleiner ständlich, pietätlos, in ihrem Inventar finden sich ne­ Spaziergang rund um den Göttweiger und dann der ben den Cremeschnitten vom Weiß auch die Satz: "Seit wir damals nach Palästina gegangen sind, Nazilieder der zwanziger Jahre, gesungen in der habe ich keine Schachtelhalme gesehen?" Landstraße "Wenn das Judenblut vom Messer Schachtelhalme kann man eben doch vermissen. spritzt". "Nicht einmal nach Europa möchte ich fah­ Schachtelhalme als Synonym für etwas "Unwieder­ ren". Paul Pisker in Naharia, im Schuppen noch das bringliches": Der Geruch eines Gulasch im "Golde­ Werkzeug des Vaters, umgelernter Schuhmacher, in nen Hirschen", oder war es in der "Goldenen Sonne" Krems Kaufmann in der Sparkassegasse 2, im Inter­ -fast ist man geneigt zu glauben, es wären goldene nierungslager der Engländer gehörten seine Mause­ Zeiten gewesen, bevor die Gasthäuser zum "Dritten fallen zu den besten, an der Wand ein Thermometer: Reich" geheißen haben, der Geschmack der Butter­ Optiker Schleifelder, der Quecksilberfaden ist geris­ milch im alten Strandbad, die ersten Berührungen in sen, das Heimatmuseum aber geöffnet. der Tanzschule Lantschick, Streifzüge durch die Au, Oder Alfred Silbermann, heute Miami, USA. die unendliche Weite des Schulwegs. Die Heimat Selbstvergewisserung in Form von Skizzen, gekrit­ hat viele Gesichter und Erscheinungen, eben nicht zelt in Briefen, Schulwege, Elternhaus, Brauhaus, nur Schachtelhalme. Geschäfte. "Die Enkel haben sich vor dem Haus Dieses Erinnerungsinventar wechselt, jede/jeder meiner Eitern fotografieren lassen - ist das nicht ei­ kennt seine Heimat, die er mit sich herumträgt. Sie ne Zumutung, sowas tut man nicht." kennen ihr Inventar ihres Heimatmuseums, den Ge­ Wenn ich mit Schachtelhalmen begonnen habe ruch des feuchten Ganges in ihrem Wohnhaus viel­ und bei den Heimatmuseen im Kopf angelangt bin, leicht, einen stehenden Satz, nach der Art "Schau dann auch deshalb, weil es ja heute auch wieder den Fredl sei Kirchen", den Vorfall bevor das Fami­ Menschen gibt, die ihre Heimat nur im Kopf haben, lienbild geknipst wurde ... die Hatz stärker wird, blauäugig getarnt oder derb, Für jene Kremser Juden, die aus der Stadt vertrie­ oder mit dem aber versehen. Wie es vor Jahrzehn­ ben wurden, sind diese Erinnerungen ihre einzige ten: "Ein guter Fußballer aber ein Jud". Verbindung zu ihrer Heimatstadt geblieben. Geöff• Kennen Sie die Geschichte der Stadt? Sie werden net waren diese Heimatmuseen über Krems in Tel sicherlich auf Lücken gestoßen sein, weiße Flecken Aviv, in Herzlia, in Natania, in Naharia, in Nizza, gibt es eben auch bei uns, um diese zu konstatieren, London, Paris, in Miami und ... nur selten. Vertrie- brauchen wir nicht belehrend gegen Osten fahren.

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Krems 1939-1945. Am 2. 4. 1945 bombardiert. letzten Kremser endgültig geschlossen werden, über Selbst 1977 wird bloß der Zweite Weltkrieg und da­ bleiben vielleicht ein altes Thermometer, eine kleine bei nur das Ende erwähnt. Und 1988 sollte ja auch­ Buddhastatue, eine Zuckerdose, alte Familienalben, wenn man den Zeitungen Glauben schenken darf - mit Fotos auf dem den Nachkommen nicht zu allen diese Zeit von ihrem Ende aufgezäumt werden. 1945 Personen Geschichten einfallen, vielleicht Briefe, waren wir doch Opfer. Die Umkehrung der Perspek­ vielleicht Erinnerungen der Enkel. Aber wird es in tive erfolgte kurzfristig und halbherzig. Krems ist Krems jemals ein richtiges Heimatmuseum geben, in ein guter Boden für Kontinuitäten. Da bedarf es kei­ dem mit Heimat sowohl Schachtelhalme, gerupfte ner Nestbeschmutzer - wer sehen will und hören Federn im Tempelhof, aber auch Nazilieder, gemeint kann ... sind. Lassen wir das ... Krems ist ein guter Boden für Kontinuitäten, mit Als ich vor Jahren begonnen habe, in den heimi­ der Tradition völlig zu brechen, das würde heißen, schen Erinnerungen zu stöbern, es wird wohl 1983 eine andere Stadt zu erdenken, mit anderen Bewoh­ gewesen sein, als ich die ersten Interviews begon­ nern, einer anderen Geschichte, ein Interviewpart­ nen habe, hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ner hat mir einmal gesagt, Krems ist wie das Burg­ ein Produkt dieser Arbeit vom Bürgermeister der theater, ein schönes Haus mit einer schlechten Stadt präsentiert werden würde. Wo es sich doch Besetzung. Von seiner Sicht stimmt dies, Besetzun­ gehört Namen zu nennen, wo doch vielleicht etwas gen können sich ändern und haben sich geändert, dezenter, und muß denn das sein ... Bei diesen und ich hoffe, daß Sie sich, Herr Brügermeister Ratschlägen hielt und halte ich es lieber mit Hannah Grabner, und Sie sich, Herr Vizebürgermeister Sa­ Arendt: "Wie man es aber aushält, dort (in diesem cher, weiterhin auch um die Pflege anderer Kontinui­ Fall Deutschland) als Jude zu leben, in einer Um­ täten bemühen, und vielleicht gehört es einmal zur welt, die über ,unser Problem' und das sind ja heute Tradition, daß am 9. November, dem Tag der soge­ unsere Toten, nicht einmal zu sprechen geruht, weiß nannten "Reichskristallnacht", oder vielleicht am 21. ich auch nicht." September, als die Kremser das Bethaus räumen Oder der Satz: "Ihren Brief erhalten. Punkt" 1987, ließen, ebenso der Opfer, Grausamkeiten und Un­ als ich versuchte vom damaligen Bürgermeister eine menschlichkeiten, gedacht wird, wie es zur Routine Grußadresse für die in Israel lebenden Kremser Ju­ gehört, vor Denkmälern für Generäle der Hitler­ den zu bekommen. Als Vertreter der Stadt erklärten Wehrmacht Kränze niederzulegen. sich die Vizebürgermeister Ewald Sacher und Erich Grabner bereit zu diesem Schritt. Vielleicht gibt es in * Rede anläßtich der Präsentation des Buches "Ro­ Krems auch andere, vorsichtig wachsende Kontinui­ bert Streibel, Plötzlich waren sie alle weg. Die Ju­ täten? den, der, Gauhauptstadt Krems' und ihre Mitbürger." Heute, immerhin ... (Picus Verlag, Wien 1991) Wie notwendig dies ist, steht heute an den Wän• den. "Judensau". Österreich ist vielleicht nicht immer auf der Höhe der Zeit, manchmal hat dies jedoch auch Vorteile, den heute sehen wir in Deutschland und Frankreich was uns bevorstehen kann, wenn die Gewalt in den Köpfen ein Gegenüber findet brennen nicht nur Häu• ser. Die Grundmuster im Denken sind auch hier vor­ handen, noch immer, schon wieder - wie die neue­ sten Untersuchungen zeigen- und Vorreiter, die das Hassen salonfähig machen gibt es auch, wir kennen sie. Noble Gesten sind gegen diesen Strom der Zeit zuwenig, aber ein Anfang. Angesichts dieser Ereignisse mag es nicht mehr sonderbar klingen, daß ich mit meiner Geschichte nicht am Ende bin, denn es gibt immer noch Archive, die für Historiker so unberührt scheinen wie der Amazonas - der Briefwechsel um eine Einsicht in den Bestand der Reichsvermögensverkehrsstelle Niederdonau, wo die Unterlagen zu den sogenann­ ten ,Arisierungen" zu finden sind, zieht sich seit 1987, und daß es im Kremser Stadtarchiv tatsäch• lich nichts zu finden gibt, wie mir immer bescheinigt wurde, will ich bis heute nicht glauben. Die Heimatmuseen über Krems und Tel Aviv, in Herzlia, in Natania, in Naharia, in Nizza, London, Pa­ ris, in Miami und ... werden im Falle des Todes der

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KLAUS-DIETER MULLEY waren) einen Schwerpunkt auf das au Benpolitischen Beziehungsgeflecht der späten dreißiger Jahre setz­ "ANSCHLUSS VON AUSSEN­ te. Die Veranstaltung war politikgeschichtlich orien­ tiert, sozial- und kultur-, regional- und alltags­ "ANSCHLUSS VON INNEN: .. geschichtliche Aspekte blieben ausgeklammert. Anmerkungen zu einigen Letzteres kann allerdings nicht als Manko gesehen Neuerscheinungen 1988-1991 werden, da zum einen mit dem von Emmerich Talos, Ernst Hanisch und Wolfgang Neugebauer herausge­ gebenen Band über die "NS-Herrschaft in Öster• Die Österreichische Geschichtsforschung ist - was reich 1938-1945" (Wien, Verlag für Gesell­ die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, schaftskritik, 1988) ohnehin ein Standardwerk wie auch die lnitiierung von Projekten betrifft- in ei­ vorlag, zum anderen die Zielsetzung des Sympo­ nem hohen Maße "jubiläumsorientiert". Das hängt siums auf internationale und gesamtösterreichische mit den Verwertungsmechanismen historischer For­ Aspekte der Annexion wohl sonst nicht erreicht wor­ schung zusammen: Durch das den Anlaß betreffen­ den wäre. de (ver)öffentlichte Interesse an Geschichte sehen nicht nur die Verlage Absatzchancen für Publikatio­ Insofern kann der "Akademieband" (Gerald nen, auch die "öffentliche Hand" ist in der Subven­ Stourzh/Brigitte Zaar (Hg.): Österreich, Deutsch­ tionierung von Forschungsprojekten, Ausstellungen land und die Mächte. Internationale und Österrei• und Symposien zum aktuellen Thema entsprechend chische Aspekte des "Anschlusses" vom März freigiebig. Die Durchführung des "Be-/Gedenkjahres 1938. Wien, Verlag der Österreichischen Akade­ 1938/88", deren "Feier" im Kontext mit einer schon mie der Wissenschaften 1990. 564 Seiten) als un­ in den vorangegangenen Jahren sich abzeichnen­ verzichtbare Ergänzung zum obgenannten Werk gel­ den "Neubewertung" der (Ver)öffentlichten Meinung ten, wenn auch z. T. Positionen (etwa von zum Nationalsozialismus einerseits und der Kontro­ Kari-Dietrich Bracher und Gottfried Kindermann über verse um die Kriegsvergangenheit des Kandidaten das austrofaschistische Regime) vertreten wurden, für den Bundespräsidenten Kurt Waldheim ver­ die unter Mißachtung einschlägiger österreichischer schärft wurde, ist ein Beispiel dafür, wie scheinbar Forschungen formuliert und in der Diskussion (etwa Unmögliches möglich wurde und Verschüttetes und von Gerhard Botz und Gerhard Jagschitz) mit Recht Verdrängtes in den Mittelpunkt des Interesses rück• kritisiert wurden. Auch die von Gerhard L.Weinberg te. Wie immer bei diversen Anlässen, versuchten (der als ausgewiesener Kenner der Materie einen möglichst viele Publizisten, Wissenschaftler, Institu­ sonst ausgezeichneten Beitrag zur deutschen Au­ tionen, Vereine und Verlage am sich plötzlich öff• ßenpolitik gegenüber Österreich 1937/38 vorlegte) nenden Subventionsnapf zu naschen. Die Folge: vorgetragene Ansicht, der nationalsozialistische "Ju­ Eine Fülle von Veranstaltungen, (Kiein-)Ausstellun­ liputsch" 1934 und die Ermordung Dollfuß' sei auf gen und Publikationen, die generell einen nicht zu Befehl Hitlers durchgeführt, bzw. in Berlin beschlos­ unterschätzenden Wert für die Erforschung des sen worden, mußte den Einspruch von Gerhard Jag­ Nationalsozialismus in Österreich darstellen, es schitz herausfordern, welcher dem Referenten vor­ aber selbst dem am Thema Interessierten schwer warf die Situation innerhalb der Österreichischen machen, "alten Spreu von frischen Weizen zu tren­ NSDAP zu wenig beachtet zu haben. Gottfried-Karl nen". Dies auch deshalb, da abgesehen von der Kindermann wiederum heroisierte den "Abwehr­ Präsentation sogenannter "alter Hüte", zahlreiche kampf" des sogenannten "Ständestaates" gegen­ neue Fakten im alten Gewand und umgekehrt neue über dem Nationalsozialismus ohne eine demokrati­ Einsichten und Ansätze mit längst bekannten Tat­ sche Alternative auch nur in Betracht zu ziehen und sachen vorgetragen, gezeigt und geschrieben wur­ den Deutschnationalismus führender Chistlichsozia­ den. ler (Dollfu ß u. a.) zu thematisieren, wobei des Refe­ Im Unterschied zum Gedenkjahr 1938/78, in wel­ renten überpointierte Ausdrucksweise zusätzlich chem die "Opferrolle" Österreichs 1938 nicht zuletzt zum Widerspruch reizt. durch die Veröffentlichung von Norbert Schausber­ ln diesem Zusammenhang kam es wiederum zu gers "Griff nach Österreich" im Mittelpunkt des Inter­ einer Diskussion über die Haltung der SDAP und der esses stand, richtete sich 1988 das Interesse auf die Sozialisten zu "Anschluß", Nationalsozialismus und Mittäterschaft Österreichs und der Österreicher an Austrofaschismus. Kindermann sah (wie er in einem der Annexion und der NS-Herrschaft im Lande. Der Diskussionsbeitrag meinte), einen "sehr wichtigen "Anschluß von außen", d. h. die Annexionspolitik Grund für das Nichtzustandekommen einer versuch­ Deutschlands und die internationalen Beziehungen ten gesamtösterreichischen Abwehrfront gegen den wurden - zumindest in der Öffentlichkeit - weitge­ Nationalsozialismus in einer innerstaatlichen Ab­ hend in den Hintergrund gedrängt. Es war deshalb grenzungs- und Konfrontationspolitik der Austromar­ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften xisten". Zum Deutschnationalismus der Arbeiterbe­ zu danken, ein international hervorragend besetztes wegung meinte darauf Botz: "Ich kann nur sagen, Symposium veranstaltet zu haben, welches, neben Sozialdemokraten sind halt Sozialdemokraten und innen- und wirtschaftspolitischen Aspekten (die dann haben daher bestimmte Einstellungen und Wert­ auch Inhalte einer kontroversiell geführte Diskussion strukturen, sind daher nicht monarchistisch und

55 IWK·Mitteil ungen nicht besonders kirchlich-klerikal und sind auch auf Bundesregierung, die Resistenz gegen immer weiter Grund der bestimmten Entwicklung des Marxismus reichende Satellisierung signalisierten, gar nicht so deutschnational." Leider wurden die Unterschiede in selbstverständlich". Die diplomatiegeschichtlichen der sozialdemokratischen Haltung zu einem An­ Beiträge machen insgesamt deutlich, daß die Be­ schluß an ein demokratisches oder faschistisches richte ausländischer Diplomaten an ihre Regierun­ Deutschland in den Referaten nicht behandelt und in gen in Zukunft auch bei der Forschung über innen­ den Diskussionen nur gestreift. Sicherlich kann es politische Problemlagen mehr Beachtung geschenkt als der historische Fehler der Österreichischen So­ werden sollte. zialisten angesehen werden, nicht schon am Beginn Mit Recht nicht unwidersprochen (E. Hanisch, H.­ der dreißiger Jahre angesichts des Aufstiegs des U. Thamer, H. Mommsen), aber nicht ausführlich deutschen Faschismus Kooperationsbereitschaft ge­ diskutiert, blieben die vom Inhalt her längst bekann­ genüber den bürgerlichen Parteien gezeigt zu ha­ ten (und durch oftmalige Wiederholung nicht fundier­ ben, andererseits war aber die innenpolitische, von ter werdenden) Ausführungen von Norbert Schaus­ zwei sich konkurrierenden Faschismen bedrohte und berger, der nach wie vor die Dominanz der aufgeheizte, Lage dazu wahrlich nicht angetan. ln deutschen wirtschaftspolitisch-motivierten Anschluß• diesem Zusammenhang müßte übrigens (was die bestrebungen betonte und in Überschätzung des Herausgeber zu Unrecht unterlassen haben) auf die wirtschaftlichen Potentials Österreichs 1938 wieder­ einschlägigen Forschungen von Karl Haas und um den gewaltigen wirtschaftlichen Vorteil der Anne­ Anton Staudinger verwiesen werden. Mit der Errich­ xion für das "Deutsche Reich" (Bodenschätze, Natio­ tung und Etablierung der austrofaschistischen Dik­ nalbank, Arbeitskräfte, lndustrieressourcen) hervor­ tatur sahen die Sozialisten verständlicherweise den hob. Leider hat es die Akademie verabsäumt, pro­ Feind in Gestalt der austrofaschistischen Diktatoren funde Kenner der Materie als Koreferenten zu die­ Dollfuß und Schuschnigg und übersahen die das sem Thema einzuladen: Schausbergers einseitige ganze Land bedrohende Gefahr des Nationalso­ Meinung kann heute so nicht mehr aufrechterhalten zialismus. Letztere war für sie nur das zweite Übel, bleiben. Industriepolitische und wehrwirtschaftliche wie etwa bei Durchsicht der Brünner Ausgabe der Wünsche, Pläne und Überlegungen traten bei der "Arbeiter-Zeitung" leicht nachzulesen wäre. Übri• Durchführung der Annexion gegenüber rassisti­ gens: Brachers systemtheoretische Einschätzung schen, machtpolitischen Zielen in den Hintergrund. des Österreichischen "Konkurrenzfaschismus" (Th. Die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile der Annexion Veiter) als "autoritäres Notstandsregime" relativiert für Deutschland spielten bei der politischen Ent­ sich bei Betrachtung der unterschiedlichen Verfol­ scheidungstindung in Berlin insgesamt keine sehr gungspraxis politisch Andersdenkender. Der deut­ große Rolle. Es blieb Hans Mommsen vorbehalten sche Professor dürfte die umfangreiche Literatur zu auf die Pionierarbeit von Alfred Kube (Pour le merite diesem Thema einfach nicht zur Kenntnis genom­ und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich. men haben, was den Wert seiner Ausführungen München, Oldenburg, 1986) hinzuweisen. Die zu schmälert. diesem Problemkreis differenzierte Ansicht des re­ Die instruktiven Beiträge über die Beziehungen nommierten deutschen Wirtschaftshistorikers Diet­ europäischer Staaten zu Österreich und das An­ mar Petzina (vgl. seinen Beitrag in dem Band "Tirol schlußproblem (etwa Francis L. Carsten über Groß• und der Anschluß") wurde nicht einmal in den An­ britannien, Angelo Ara über die italienische Politik, merkungen erwähnt. Felix Butscheks unvollständige Maria Ormos über den Donaupakt, Georges Casteil i­ Ausführungen über die kurzfristigen Auswirkungen an über die Korrespondenz des französischen Militä• der Annexion 1938/39 gereichen so der Akademie rattaches, Georges Kreis über die Schweiz, Alfred genausowenig zur Ehre, wie die Auswahl der Refe­ Low über die Politik der "Supermächte") zeigen, daß renten und die Diskussion zu diesem Themenkom­ man sich nahezu überall bereits ab Mitte der dreißi• plex insgesamt. ger Jahre aus durchaus verschiedenen Interessenla­ Gerhard Jagschitz gibt einen ausgezeichneten gen mit einer Einverleibung Österreichs durch Überblick über die Geschichte der NSDAP in Öster• Deutschland abgefunden hatte, wobei neben Fragen reich, Erwin A. Schmidl berichtet über die militäri• der Mächtekonstellation in Europa auch die durch schen Aspekte des "Anschlusses" und Herbert Ro­ den Austrofaschismus vielfach ungebrochene "bür• senkranz steuert einen brillianten, materialreichen gerliche" Anschlußbewegung, welche durch die ille­ Aufsatz über die Entrechtung, Verfolgung und gale Tätigkeit der Österreichischen NSDAP unter­ Selbsthilfe der Österreichischen Juden 1938 bei. Die stützt wurde, im Ausland registriert wurde. Gerald Ausführungen von Gerhard Botz über die Haltung Stourzh dokumentiert die Schwierigkeiten der Öster• der Österreichischen Bevölkerung, sein Versuch reichischen Au Benpolitik angesichts der deutschen "quantifizierend" über die Analyse der "Volksabstim­ Bedrohung, die vor dem Hintergrund der Interessen­ mung" vom 10. April 1938 die Zustimmung bzw. Ab­ lage der europäischen Staaten und den diplomati­ lehnung der Bevölkerung soziologisch zu schichten schen Weichenstellungen in Mitteleuropa vor 1933 und regional zu bewerten, rief nicht ganz unberech­ gesehen werden sollte. Angesichts der in vielen tigte, wenn auch aus prinzipiellen Vorbehalten ge­ Staaten als moribund angesehenen Österreichischen genüber der sozialwissenschaftliehen Methodik mo­ Unabhängigkeit seien - so Stourzh - "manche tivierte, Kritik hervor. So meinte Klemens Klemperer, Handlungen und Reaktionen der Österreichischen der "Anschluß" sei als "Massenpsychose" zu werten

56 IWK-Mitteilungen

~--~-~~~~~~~~~~~~~~~~- ··------~~~~--~~~~~~~~~~- und entzöge sich einer "mit Mitteln einer rationalen, alle Beiträge auf umfangreiche, Jahre zurückliegen• auf Sozialanalyse beruhenden Prozentualrechnung". de, Veröffentlichungen der Referenten beruhten, so­ ln der Tat ist- wie Ulrich Kluge in der FAZ (25. 2. mit kaum "Novitäten" präsentiert wurden), sollte sich 1992) anmerkt, die Botz'sche Datenbasis, wie er die Akademie wohl fragen, ob sie sich nicht in Zu­ aber auch selbst anmerkt, sehr gering, um gesicher­ kunft als Mittler nicht nur zwischen österreichischer te Ergebnisse vorlegen zu können. Als relevante Hy­ und internationaler, sondern auch zwischen univer­ pothesen, die der Forschung neue Impulse etwa bei sitärer und der nahezu unbemerkt an Breite gewon­ Betrachtung bestimmter regionaler "sozialer Milieus" nenen außeruniversitären Forschung durch die Kon­ in ihrer Zu- oder Abneigung zum Nationalsozialis­ frontation alter und neuerer Ansätze und Betrach­ mus geben können, reichen die Ausführungen alle­ tungsweisen, etablierter und jüngerer Forscher mal. Insofern ist auch die Anmerkung der Herausge­ zu umstrittenen Themen und Theorien verstehen ber über die Anzahl der von der "Volksabstimmung" will. ausgeschlossenen Personen nicht ganz verständ• Ernst Hanisch, wohl etabliert, dennoch zur jün• lich, zumal auch hier die Forschung wohl noch im geren, vor allem aber innovativen, Historikergenera­ Gange ist, und es wohl nichts bringt mit wenigen Er­ tion zählend, wies in seinen "fragmentarischen klärungen neue Zahlen zu präsentieren. Warum wur­ Bemerkungen zur Konzeptualisierung der NS-Herr­ den nur zur Diskussion des Beitrags von G.Botz An­ schaft in Österreich" auf die Errichtung und Etablie­ merkungen von den Herausgebern gemacht, wo rung der Reichsgaue und den damit verbundenen diese (oder zumindest weiterführende Literaturhin­ Abriß der Quellenüberlieferung für das gesamte weise) zu anderen Beiträgen (wie hier auch erwähnt) Staatsgebiet hin und meinte: "Die Österreichische notwendiger gewesen wären? Geschichte der Jahre 1940-1945 ist so wesentlich Wenig ertragreich sind die Referate von Radomir Regionalgeschichte". Tatsächlich kann heute noch Luza und Hans-Uirich Thamer über die Strukturen keine Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 ge­ der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, schrieben werden, da für einige Bundesländer um­ da sie über eine Betrachtung der ohnehin ausrei­ fangreiche publizierte Forschungen fehlen. Auf eini­ chend dokumentierten "Polykratie der Eingliede­ ge der im Rahmen des Be-/Gedenkjahres 1938/88 rungsinstanzen" nicht hinausgehen und die Herr­ erschienenen regionalen und lokalen Forschungs­ schaftspraxis in den "Reichsgauen" nicht in ihre berichte soll im folgenden kursorisch eingegangen Überlegungen mit einbeziehen. Dieter Rebentitsch werden. Vorausgeschickt werden darf: Bedingt hätte hier wohl besser Auskunft geben können. nicht nur durch eine unterschiedliche Themenstel­ Ernst Hanisch weist mit Recht darauf hin, "daß mit lung (Region, Wirtschaft, Kultur, Antisemitismus der Errichtung der Reichsgaue ein starkes monokra­ etc.), sondern auch durch eine vielleicht zu gerin­ tisches Element in das tendenziell polykratische ge Dialogbereitschaft unter den Österreichischen Herrschaftssystem eingefügt wurde", da, wie sich Historikern, insbesonders aber auch durch eine wohl in allen Österreichischen "Gauen" zeigen ließe eklatante Armut in der Erprobung und Verwendung (und der Rezensent für "Niederdonau" auch in Kürze sozialwissenschaftlicher Theorien und quantifi­ nachweisen wird können), der "multifunktionelle zierender Methoden, ist eine vergleichende Betrach­ Gauleiter und ( ... ) als Chef der tungsweise der folgenden Monografien und Sam­ Partei und der Verwaltung über eine solche Fülle melbände nicht möglich. Jedenfalls spiegeln die von Kompetenzen und Machträumen (verfügte), daß Kurzvorstellungen einiger Regional- und Lokal­ alle anderen Herrschaftsträger in ihre Schranken geschichten doch ein Forschungsinteresse wider, verwiesen wurden". das noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen Bemerkungen zum Österreichischen Widerstand wäre. von Erika Weinzierl und Gerald Stourzh schließen einen Band ab, der - unter Bedachtnahme auf die Bert Olbrich und Selin Özer gaben 1988 eine noch hier vorgebrachten Anmerkungen -von Brigitta Zaar stark vom alten faschismustheoretischen Ansatz hervorragend redigiert und betreut wurde. Leider Kühneis beeinflußte Ereignisgeschichte der Stadt spiegelt er, deutlich in den Diskussionsbeiträgen zu Linz im Nationalsozialismus heraus. (Bert 01- verfolgen, eine Historiographie und einen Diskus­ brich/Selin Özer: Linz 1938. Linz (Studien zur Ge­ sionsstand in der Österreichischen Zeitgeschichte schichte und Politik in Oberösterreich. Bd. 1.; wider, welcher der Breite der Forschung, der For­ Hg. v. IWK Oberösterreich, Weißenwolfstr. 4, schungsansätze, der Betrachtungsweisen und der 4020 Linz. 1988. 210 S.). Das Büchlein beginnt mit Materialaufarbeitung in Österreich wohl nicht mehr der Machtübernahme des Nationalsozialismus in entspricht. ln den ehrwürdigen Hallen der Akade­ Deutschland 1933, skizziert den Aufstieg der mie dominiert allerdings noch immer eine Politik­ NSDAP, die austrofaschistische Herrschaft und den geschichte, z. T. garniert mit pointiert erzählten Widerstand gegen den "grünen" und "braunen" Fa­ Histörchen und Erlebnisberichten (vgl. etwa die schismus in Linz, um anschließend in zwei etwa Diskussionsbeiträge von Adam Wandruska, Fritz gleich langen Kapiteln über die Situation 1938 ("Ein­ Wolfram u. a.). Wenn auch der vorliegende Band marsch und Annexion") und die Jahre der NS-Herr­ insgesamt durchaus respektable Ergebnisse - ins­ schaft ("Folgen der Annexion") zu erzählen. Die Dar­ besonders was die Geschichte der internationa­ stellung ist im Stil eines Geschichtslehrbuches len Beziehungen betrifft - brachte (wenn auch fast geschrieben, wobei sowohl auf die (ober-) österrei-

57 IWK-Mitteilungen chische, wie auch auf die Entwicklung des Faschis­ Beitrag von Gernot Fournier über die Quellenlage, mus in Deutschland und Italien Bezug genommen einem interessanten Bericht von Gerald Schöpfer wird. Die Lokalgeschichte Linz tritt somit (zumindest über den Aufbau von "Oral-history-Archiven" und im Einleitungskapitell in den Hintergrund. Unver­ über Augenzeugenberichte, vereinigt das Buch Dar­ öffentlichte Quellen wurden für die Darstellung offen­ stellungen über den "Anschluß", die Wirtschaft und bar nicht herangezogen. Sogar die in Linz in der die Kultur in und um Graz. Eduard Staudinger kann Zwischenkriegszeit erscheinende NS-Zeitung in seinem Beitrag über die Entwicklungsgeschichte "Volksstimme", welche für die Erforschung der der NSDAP in Graz nachweisen, daß für die DNSAP NSDAP in OÖ/Linz unverzichtbar ist, scheint den (1919) die Steiermark und Graz im Vergleich zu Autoren unbekannt. Zahlreiche unklare Formulierun­ Salzburg keine Zentren darstellten, wenn sie auch gen ziehen sich bereits durch die ersten Seiten: So in einigen Industriegemeinden Gemeinderäte stel­ etwa wird zwischen "Völkisch-deutschnationaler" len konnten. Erst durch die Gemeinderatswahlen Ideologie und einem gegen die Eigenstaatlichkeit vom 25. Mai 1924 zogen zwei Mandatare der Österreichs gerichteten Begriff des Deutschnationa­ NSDAP in den Grazer Gemeinderat ein: Sie erreich­ lismus nur unklar unterschieden, die NSDAP bis ten einen im Vergleich zu Linz (7 ,9%) geringen Stim­ 1933 in Unkenntnis der Frühgeschichte als "impor­ menanteil von 3,8% (S.46). Durch die folgende Spal­ tierte" Partei bezeichnet und die Widerstandskon­ tung der Partei und die damit verbundene zeptionen der Sozialisten und Kommunisten 1933/34 Konsolidierungsphase, die obendrein durch den bis 1938 nicht herausgearbeitet. Es ist nicht ganz Zustrom von Nationalsozialisten zum deutschnatio­ richtig, wenn etwa mit Bezug auf die Expansionsplä• nalen Heimatschutz begleitet war, erreichte die ne des deutschen Finanz- und Industriekapitals defi­ "Hitlerbewegung" bei den Gemeinderatswahlen des nitiv festgestellt wurde: "Es stellte sich also heraus, Jahres 1929 nur 1.695 Stimmen und nur nach daß der Anschluß, die Annexion, nicht etwa aus na­ Einspruch bei der Wahlbehörde ein Reststimmen­ tionalistischen Motiven heraus stattfand ... " (S.1 05). mandat. Wie auch in den übrigen Regionen Öster• Im Gegenteil: Es kann als erwiesen gelten, daß die reichs setzte der Aufschwung der deutsch-faschisti­ nationalsozialistische Führungsclique nicht nur schen Partei erst 1931/32 ein. Immerhin konnte "Agenten des Kapitals" waren. Genau dies wird aber die NSDAP bei den Gemeinderatswahlen 1932 in offenbar unterstellt. Der Alltag der Menschen, ihr der gesamten Steiermark über 300 Mandate errei­ Fühlen in einer vom sogenannten "Führer" bevorzug­ chen. ten Stadt zu leben, die politischen, sozialen und kul­ Die Reorganisation der SA durch den späteren turellen Strategien der Linzer Nationalsozialisten Gauleiter Dr.Siegfried Uiberreither und die große Ak­ werden nicht oder nur am Rande, beiläufig, erwähnt. zeptanz des "Nationalsozialistischen Soldatenrin­ Als positiv ist die im gegebenen Rahmen ausführli• ges" bei Bundesheerangehörigen in Graz und in der che Behandlung der Frauen in Austrataschismus Steiermark ermöglichten im Frühjahr 1938 jene und NS-Herrschaft zu bemerken. Mag das Bänd• Großdemonstrationen, die den Austrataschismus lo­ chen auch als Erstinformation genügen, weitere wer­ kal an die Wand zu drängen schien und Graz durch den notwendig sein. die Berichte des englischen Journalisten G. E. R. Gedye als "Hochburg der Nazis" in aller Weit be­ Demgegenüber gewinnt der von Helfried Vatenti­ kannt machten. Die Radikalität der Grazer National­ nitsch und Friedrich Bauvier in der Reihe des Histori­ sozialisten gipfelte am 12. März 1938, wie Maximili­ schen Jahrbuchs der Stadt Graz herausgegebene an Liebmann ausführlich dokumentiert, in einer Band über Graz im Jahre 1938 allein schon durch lnhaftnahme des Bischofs Pawlikowski. Mit Eintref­ gut recherchierte Beiträge kompetenter Historiker fen eines "reichsdeutschen" Gestapochefs wurde der Universität Graz Qualität (H. Vatentinitsch/ Pawlikowski sofort aus der Haft entlassen, da dies F. Souvier (Hg.): Graz 1938. Graz (Hist. Jb. d. den kirchenpolitischen Intentionen des "Deutschen Stadt Graz Bd. 18/19, 1988. 439 S.). Helmut Konrad Reiches" zuwider lief. Siegtried Beer, Dieter A. Bin­ formuliert hier treffend die Problematik der lokaler der und Gerald Gänser behandeln in ihren Beiträgen Zeitgeschichte, wenn er einleitend meint: "Im Klein­ über Stadt- und Landesverwaltung den Personal­ raum wirkt vieles harmonisch oder zumindest ver­ wechsel auf Beamtenebene: Einer sofortigen Ablöse ständlich. in St. Achatz fand keine Reichskristall­ von Spitzenfunktionären folgte die Entfernung "poli­ nacht statt, stand kein Konzentrationslager. tisch nicht einwandfreier Beamte" auf allen Ebenen Politische Konflikte werden hier leicht in persönliche und die Wieder- und Neueinsetzung nationalsoziali­ aufgelöst, die Erkenntnisse der Geschichtswissen­ stischer Parteigänger (S.122). in einem ausgezeich­ schaft wirken aus dieser Sicht übertrieben, werden neten Beitrag über die Juden in Graz stellt Dieter A. in die Kategorie einer "Siegergeschichtsschreibung" Binder bereits für die Zwischenkriegszeit eine schar­ gerückt." (S.13) Der vorliegende Band über die fe antisemitische Agitation fest: "Die reiche Palette sogenannte "Stadt der Volkserhebung" orientiert übelster antisemitischer Publikationen des Grazer sich allerdings nicht an den Postulaten einer "AII­ Stocker Verlages sind ebenso ein Signal für die Si­ tagsgeschichte", sondern versucht deskriptiv und tuation in Graz, wie der ökonomisch geprägte Anti­ materialreich die politischen, wirtschaftlichen und semitismus der steirischen Chistlichsozialen, wie kulturellen Ereignisse und Entwicklungen aufzu­ das Jonglieren mit antisemitischen Ressentiments in arbeiten. Abgesehen von einem nichtssagenden der sozialdemokratischen Lokalzeitung, dem "Arbei-

58 IWK-M ittei Iu ngen terwillen", wie der Antisemitismus im Volksbildungs­ man in Betracht zieht, daß das südliche Bundesland bereich oder im schulischen Milieu." (S.213f.) - nicht erst seit den Erfolgen der Freiheitlichen Par­ Die Demonstrationen der Grazer Nazis 1938 waren tei - im Osten Österreichs gemeinhin als der denn auch "von grellen antisemitischen Tönen "deutschnationale Hort" des Staates gesehen wird. begleitet" (S.216). Nichtjuden rechneten offenbar im ln der Einleitung zu einer von Wilhem Wadi und Al­ Jänner und Februar 1938 mit einer baldigen "NS­ fred Orgris herausgegebenen repräsentativen Veröf• Machtergreifung" und einer Judenverfolgung, denn fentlichung des Kärntner Landesarchivs (Wilhem sie weigerten sich bereits zu diesem Zeitpunkt all­ Wadi- Alfred Ogris (Hg.): Das Jahr 1938 in Kärn• fällige Schulden an Juden zu bezahlen. Der Terror ten und seine Vorgeschichte. Ereignisse- Doku­ im März und April 1938 war mit Wien vergleich­ mente - Bilder. , Verlag des Kärntner bar: Abgesehen von den zentralen antisemitischen Landesarchivs, 1988, Das Kärntner Landesarchiv Anordnungen, von zahlreichen Verhaftungen und 15, 404 Seiten) spürt Ogris der Anschlußdiskussion Dachau-Transporten wurden die Grazer Juden in im südlichen Bundesland nach. Der Autor sieht für der Woche um den 15. April halbnackt aus den Kärnten "drei Anschlußideen" gegeben, wovon zwei Wohnungen in die Straßen getrieben und muß• (der in unterschiedlicher Intensität vertretene staats­ ten schreien: ,,Wir sind Saujuden" und "Heil den rechtliche Anschluß Österreichs an Deutschland und Nazis, die Österreich von dem Judenjoch befreit ein von Ogris auf Grund eines Plakates des Jahres haben" (S.217). Einschränkungen im Alltagsle­ 1930 genannter "Anschluß eines von den Kommuni­ ben, erzwungene Auswanderung, Beschlagnah­ sten erhofften Sowjetösterreich an ein erhofftes So­ mungen von Vermögenswerten und sogenannte wjetdeutschland") gesamtstaatlich und eine - näm• "Arisierungen" kennzeichneten die folgenden Mo­ lich die Anschlußdiskussion an den SHS-Staat 1918 nate. bis 1920 - partikularistisch zu beurteilen sei Innerhalb eines Jahres hatte die Grazer Kultusge­ (S.14/15). Abgesehen davon, daß der KP-Anschluß• meinde 75% ihrer Mitglieder verloren. Auch in der wunsch zu jener Zeit als marxistische Variante des Steiermark wurde der Novemberpogrom 1938 von allgemeinen, nur von den Legitimisten vehement be­ der SA getragen. Verhaftete Juden wurden nach ent­ kämpften, Anschlußdenkens zu interpretieren ist würdigenden "Prozessionen" per Bahn ins KZ ge­ und seine Herausstellung hier - gerade in Anbe­ bracht. 1939/40 endete die Grazer Kultusgemeinde tracht der einer Inexistenz gleichkommenden nume­ durch Deportationen und Auswanderung. Stefan rischen Schwäche der Kommunistischen Partei Karner behandelt in seinem Beitrag über die Grazer Österreichs bis 1933/34 - wohl weitgehend irrele­ Industrie die Organisation der gewerblichen Wirt­ vant ist, relativiert Ogris in seinen Ausführungen ei­ schaft, die Struktur und die Standortverschiebungen ne Sonderrolle Kärntens in der Anschlußdiskussion sowie die Bedeutung der Grazer Betriebe für die der Zwanziger und Dreißiger Jahre. Abgesehen von Kriegswirtschaft Er meint, daß die Industrie 1938 der Bezugnahme auf die Volksabstimmung 1920 "rein betriebswirtschaftlich" die ihr gebotene "Chan­ und den damit zusammenhängenden ethnischen ce" genützt und somit an den Auftragsvergaben und politischen Fragen verlief in Kärnten die An­ partizipieren konnte, wodurch die Arbeitslosigkeit schlu ßdiskussion nicht viel anders als im übrigen beseitigt werden konnte. Die Struktur der Grazer In­ Österreich. dustrie wurde durch die Eingliederung in den deut­ Dieses Urteil erscheint dem Rezensenten m. E. schen Wirtschaftsraum und in die Kriegswirtschaft angesichts des Kärntner "hypertrophen Deutsch­ verändert, die Betriebe machten als Finalproduzen­ nationalismus als wichtigste ideologische Brücke ten und Zulieferanten für die Rüstungswirtschaft zum Nationalsozialismus" (Rumpler) doch von nicht unerhebliche Gewinne. Gerald Schöpfer gibt Wunschdenken getragen, zumindest aber noch zu einen kurzen Einblick in die wirtschaftliche Situation früh: Denn noch fehlen vergleichende Untersuchun­ in Handel und Gewerbe in den dreißiger Jahren, wel­ gen und Forschungsergebnisse zum Deutschna­ cher durch Überlegungen zur Bevölkerungsentwick• tionalismus innerhalb der politischen Parteien und lung, Sozialstruktur und Arbeitslosigkeit von Stefan Interessensvertretungen in ihrer regional verschie­ Karner ergänzt wird. Beiträge zur Stadtplanung denen Ausprägung. So ist zu vermuten, daß die (Gerhard Marauschek und Karl Albrecht Kubinsky), Kärntner Funktionäre des Bauernbundes, der Han­ sowie zu Presse, Theater, Rundfunk und Kino von dels- oder Arbeiterkammer, die Kärntner Politi­ Joseph F. Desput und Kurzbiografien maßgeblicher ker der Christlichsozialen oder Sozialdemokrati­ Persönlichkeiten in und um Graz runden den ins­ schen Partei, insgesamt somit "die Kärntner politi­ gesamt gelungenen Band ab. Wenn auch Studien sche und wirtschaftliche Elite" in ihren Parteien, über die NSDAP, Jugend, Frauen und über das Gruppierungen, Vereinigungen, Kammern und lnter­ "AIItagsleben" fehlen, die Beiträge noch zu stark um essensvertretungen, die Forderung nach einem das Schicksalsjahr 1938 gruppiert sind, so scheint Anschluß an Deutschland und die Zugehörigkeit mit dem vorliegenden Band doch ein erster Schritt der Österreicher zum "deutschen Volk" viel stärker zur Aufarbeitung der Grazer NS-Geschichte ge­ und öfters betonten, als ihre Kollegen aus Nieder-, macht. Oberösterreich und Wien. Mag hier auch, wie Rumpier (in einem weiter unten zu besprechenden Einen besonderen Stellenwert zur "Anschlußfrage" Sammelband) mit Recht in Anlehnung an Ernst gewinnen die Veröffentlichungen aus Kärnten, wenn Hanisch meint, "der Aufstand der Provinz gegen die

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Metropole" eine große Rolle spielen, mag auch im zialistischen "Bewegung" an, "die höchste Dichte Osten durch die Nähe zu den Wiener Zentralbehör• an illegalen Parteimitgliedern von allen Österrei• den die Verantwortung für den Gesamtstaat stärker chischen Bundesländern; die Intensität und die ausgeprägt sein als in der Provinz, in welcher die Dauer der Julikämpfe 1934; die verhältnismäßig unmittelbar sichtbaren insbesonders wirtschaftlichen starke Präsenz der Kärntner Nationalsozialisten "Sorgen vor Ort" eine ungleich höhere Rolle im politi­ in den Gremien der gesamtösterreichischen Partei­ schen Handeln spielen, so sollte doch genau dies si­ führung" (S.1 0). ln einem weiteren Beitrag betrach­ ne ira et studio Gegenstand regionaler Untersuchun­ tet Rumpier die politische und miserable wirtschaft­ gen sein. liche Situation des Landes seit dem Juliabkom­ ln einem weiteren Einleitungsaufsatz gibt Wilhem men und meint abschließend, daß wohl die wirt­ Wadi einen gelungenen und informativen Überblick schaftlichen Argumente stark zu Mobilisierung über den "Anschluß" in Kärnten bis zur Volksabstim­ der Massen für den "Anschluß" beitrugen, aber letzt­ mung am 10. April 1938, wobei auf den Ablauf der lich der tief verwurzelte Deutschnationalismus ent­ Ereignisse in Wien Bezug genommen, aber leider scheidend für die Zustimmung der Kärntner war - auf vergleichende Überlegungen zu den Anschlußer• in fataler Übereinstimmung mit Hitler, der unzwei­ eignissen in anderen Bundesländern verzichtet wird. deutig erklärt hatte: "Auch wenn diese Vereinigung Der Hauptteil des Buches besteht aus der Präsenta• wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst tion von Zeitungsausschnitten, Fotos, Flugschriften, wenn sie schädlich wäre, sie müßte doch stattfin­ Plakaten, Dokumenten und Erinnerungsberichten für den. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames die Zeit 1932/33 bis 1945. Schmerzlich fällt auf, daß Reich." (S.31) Dieser deutsche Rassismus, der 1938 Dokumente aus dem Landesarchiv nur vereinzelt ge­ auch von der Zeitung "Freie Stimmen" vertreten zeigt werden. Aller Ausstellungstradition und Bild­ wurde, wie Armin A. Walles nachweist, baut auf In­ präsentation widersprechen die fehlenden bzw. tegration der Innengruppe (Volksgemeinschaft), mangelhaften (S. 403f.) Quellenangaben, welche Aggression gegen Au Bengruppen (hier Slowe­ insbesonders bei den zahlreichen Zeitungsaus­ nen), Volkstumskampf und nationales Selbstbewußt• schnitten vom interessierten Leser vermißt werden. sein (S.68). Klaus Amman behandelt in einem So kann auf Grund der Quellenangaben zwar die vorzüglichen Aufsatz den ,,Wort-Führer Kärntens", Zeitung, aber nicht das Erscheinungsdatum rekon­ den "ersten Dichter des Landes" und politischen struiert werden. Verwirrend sind die bei den in Faksi­ Funktionär Josef Friedrich Perkonig, der den Natio­ milie abgedruckten Dokumenten und Zeitungsarti­ nalsozialismus vorerst huldigte, zumindest bis keln vorgenommenen Anonymisierungen. Dies 1942/43 auch publizistisch unterstützte, aber am insbesonders dann, wenn es (wie bei Abb.71) keine 15. Mai 1945 selbstverständlich das "Ende dieser Betroffenen gibt (die Anonymisierung betrifft den Na­ elenden Dilettanten ja unausweichlich kommen sah" men einer Ortschaft im Amtsgebiet der BH Villach, in und wohl deshalb auch im November 1945 "nur ein der 1936 eine Neukonstituierung eines deutschen gutes Gewissen" hatte, was ihm 1965 - zu Unrecht Turnvereines stattfand), Zeitungsartikeln, die jeder­ wie Amman mit zahlreichen Quellenbelegen nach­ mann in der Bibliothek einsehen kann, mit einem weisen kann- von seinem Biografen Erich Nu ßbau• "schwarzen Balken" versehen wurden (Abb.245) mer auch bestätigt wurde. oder die Namen in "unverfänglichen" Dokumente Ulfried Burz berichtet über die Machtergreifung (Meldungskarte, Abb.88; Winterhilfserklärung 1935, der NSDAP in Kärnten am 11. März 1938, scheint Abb.95; Ahnenpaß, Abb.187) unlesbar präsentiert sich aber nicht sicher zu sein, ob die NSDAP tat­ werden. Dennoch: Die einzelnen Zeitabschnitte und sächlich schon um ca. 17 Uhr die Macht in den Hän• Themen werden kurz und sehr informativ eingeleitet. den hatte. Arnold Suppan behandelt die Haltung Ju­ Leider wurden Hinweise auf die Parteigeschichte der goslawiens zum "Anschluß" und gibt die NSDAP in Kärnten vor 1933 nicht aufgenommen. Diskussionen in der jugoslawischen Öffentlichkeit Verdienstvoll aber sind die Ausführungen und wieder. Der Aufsatz, der auch gut in den oben be­ Schaubilder über die lokale Verteilung der NS-Stim­ sprochenen Akademie-Band gepaßt hätte, spürt men bei den letzten demokratischen Wahlen der auch den Ursachen für die Akzeptanz des "An­ Ersten Republik, die Farbtafeln und die im Anhang schlusses" durch die jugoslawische Außenpolitik abgedruckten Augenzeugenprotokolle und Erinne­ nach, welcher bei ähnlichen wirtschaftlichen Interes­ rungsberichte. sen, wohl in einer Schutzfunktion Deutschlands gegenüber italienischen und ungarischen Revisions­ Die Ausführungen im besprochenen Band des Kärnt• absichten und in der Ablehnung einer Habsburgerre­ ner Landesarchivs werden ergänzt und kritisch stauration lagen. Interessantes Aktenmaterial zu hinterfragt durch ein 1989 von Helmut Rumpier den Verhandlungen um einen Modus vivendi zwi­ herausgegebenes Sammelwerk über den "März schen Reichskommissar und Katholischer Kirche 1988 in Kärnten" (Helmut Rumpier (Hg.): März präsentiert Peter G. Tropper aus dem Archiv der 1938 in Kärnten. Fallstudien und Dokumente Diözese Gurk in Klagenfurt ln weiteren Beiträgen zum Weg in den "Anschluß". Klagenfurt, Kärnt• behandelt August Walzl den Antisemitismus und die ner Druck- und Verlagsanstalt, 1989. 344 Seiten). Judenverfolgung und Werner Drobesch widmet sich Bereits in der Einleitung führt der Herausgeber In­ der- in vielen Studien vernachlässigten - "NS-Ver­ dizien für die Relevanz Kärntens in der national so- einspolitik", welche die Auflösung aller nicht kontrol-

60 IWK-Mitteilungen lierbaren bzw. die aller Vereine zum Er konstruiert eine durchaus anregende und im Ziel hatte und dieses auch konsequent durchsetzte. Detail wohl noch zu erforschende "Provinzkonstella­ Die Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten, die tion", die zwar eine "relativ lange und tragfähige "Säuberungen" im öffentlichen Dienst und im Schul­ Entscheidungssituation auf demokratischer Basis wesen, behandelt Rudolf Freisitzer ohne allerdings, vorweisen konnte", aber auch in die "gesamtösterrei• was in bei diesem Thema vielleicht möglich gewesen chischen (ldentitäts)probleme" und gesamtgesell­ wäre, Vergleiche zu Wien oder anderen Regionen zu schaftlichen Entwicklungen eingebettet war. Hans ziehen. Ein Dokumenten- und Tabellenanhang be­ Chmelar gibt einen Überblick über die Presse des schließt diesen ebenfalls nur auf die Ereignisse Burgenlandes 1938 und Norbert Frank analysiert die 1936 bis 1938 beschränkten Band, in dem man ei­ Situation der christlichen Religionsgemeinschaften. nen Aufsatz über den slowenischen Bevölkerungs• Von Felix Tobler stammt eine ausgezeichneter orga­ teil vermi ßt. nisationsgeschichtlicher Einblick in die Frühge• schichte der burgenländischen NSDAP 1923 bis Bereits in der Zwischenkriegszeit war die NSDAP im 1933. Am 11. Juli 1923 wurde im Gasthof Gruber in Burgenland zeitweise den "Gauleitungen" Nieder­ Bruckneudorf die erste Ortsgruppe der DNSP ge­ österreichs und der Steiermark unterstellt. 1938 soll­ gründet, die am Ende des Jahres ca. 40 Mitglieder te das Bundesland wieder als selbständiger Herr­ zählte. 1924 kam es in Sauerbrunn und 1925 in Mat­ schaftsbereich von der Landkarte verschwinden. tersburg zu Gründungsversammlungen, denen wei­ Trotz der Interventionen des "Gauleiters" Tobias tere folgten. Die Nationalsozialisten stützten sich be­ Portschy, der mit allen Mitteln, so auch mit der von sonders auf Studenten und Akademiker, Beamte ihm in Auftrag gegebenen berüchtigten "Zigeuner­ und Lehrer, sowie auf Bauer in den protestantischen denkschrift", versuchte, Bürckel in Wien und die Gemeinden. Bei den Nationalrats- und Landtags­ Machthaber in Berlin und München von der Notwen­ wahlen 1930 erreichte die Partei nur bescheidene digkeit seines "Grenzgaues" zu überzeugen. Ein 893 Stimmen, dennoch wurde dieses Jahr später 1988 abgehaltenes Symposium, deren Referate nun von Tobias Portschy als der Wendepunkt in der Ge­ gedruckt vorliegen, gibt Einblick in die neueren bur­ schichte der burgenländischen NS-Bewegung ange­ genländischen Forschungen: Hans Chmelar (Hg.): sehen. Tatsächlich konnte die Partei bei den folgen­ Burgenland 1938. Vorträge des Symposiums den Gemeinderatswahlen Erfolge erzielen, die "Die Auflösung des Burgenlandes vor 50 Jah­ regional ausgebaut und bei verstärkter Aktivität bis ren". Eisenstadt, Burgenländische Forschungen zum Verbot der Partei 1933 anhielten. Bei einer Heft 73, 1989. 142 Seiten. Die wirtschaftliche Bilanz Großveranstaltung in Eisenstadt am 3. Juli 1932 des jüngsten Österreichischen Bundeslandes in der kam es zu schweren Zusammenstößen mit dem so­ Ersten Republik war, wie Johann Seedoch einleitend zialdemokratischen Schutzbund. Der stellvertreten­ ausführt, bescheiden: Wohl fand ein Umschichtungs­ de Landeshauptmann Ludwig Leser wurde von SA­ prozeß zugunsten der gewerblichen Wirtschaft statt, Aktivisten blutig geschlagen. Tobler resümiert einen doch wegen des Fehlens größerer Ballungsräume im Vergleich zu den anderen Bundesländern verspä• wurden nur wenig Wachstumsvorausetzungen vor­ teten Aufstieg der NSDAP, "wobei die Organisa­ gefunden, außerdem widmete der Bund dem Struk­ tionsdichte der Partei zur Zeit des Parteiverbotes turproblem Burgenland nicht jenes Augenmerk, wel­ weit unter dem gesamtösterreichischen Durchschnitt ches nötig gewesen wäre das Land auch lag" (S. 95). wirtschaftlich voll zu integrieren. Horst Haseisteiner skizziert die ungarische Haltung zum "Anschluß" und Gerald Schlag berichtet detailreich über die Vorge­ betont unter anderem die deutschfreundliche Ein­ schichte und Ereignisse des 12. März 1938. Am 27. stellung des ungarischen Offizierskorps. Reichs­ Februar kam es -wohl in Nachahmung der NS-De­ verweser Admiral Horthy gab 1936 Hitler zu ver­ monstrationen in den Landeshauptstädten - in stehen, daß es zu einem "Anschluß" Österreichs Oberwart zu einer Großveranstaltung der National­ an Deutschland kommen müsse mit der interessan­ sozialisten, an der immerhin 8.000 Menschen teil­ ten Begründung, daß die Jugend in Österreich nahmen. Landeshauptmann Sylvester bot Portschy "fast ausnahmslos" für die Angliederung an Deutsch­ - einer Wiener Weisung folgend - zwei Sitze in der land sei. Nach dem "Anschluß" hatte man allerdings Landesregierung an, die dieser aber ablehnte. Am in Ungarn Angst ob einer weiteren Expansion 11. März 1938 wurden überall von Portschy befohle­ der Deutschen nach Osten, die in Regierungskrei­ ne Demonstrationen abgehalten, in den späten se dadurch genährt wurde, daß Deutschland vor­ Nachmittagsstunden das Landhaus besetzt und die derhand keine offzielle Grenzgarantie abgab. Aller­ dort anwesenden Politiker festgenommen. ln den dings wurden auch von ungarischer Seite, wenn Morgenstunden des 12. März 1938 wurde Portschy auch "eher offiziöse" diplomatische Sondierungen vom nationalsozialistischen Bundeskanzler Seyß-ln• für eine eventuelle Grenzrevision gemacht, die al­ quart zum Landeshauptmann ernannt, worauf auch lerdings abgeschmettert wurden. Roland Widder bald die Verfolgung der burgenländischen Juden versucht eine gesellschaftsgeschichtlich motivierte, einsetzte, welche - wie Herbert Steiner kurz skiz­ zahlreiche Theorieansätze inkludierende "sozialpsy­ ziert - besonders grausam durchgeführt wurde. Au­ chologische Annäherung" an das Burgenland vor gust Ernst berichtet abschließend über die "Auflö• 1938. sung und Aufteilung des Burgenlandes im Jahre

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1938". Ein Thema, welches dieser Autor schon in und expandierten in die metallverarbeitende Indu­ einigen Publikationen - angereichert mit immer neu­ strie. Durch ihre wirtschaftspolitische Position und en Details - behandelt hat und welches er immer ihren Beziehungen zu den regionalen Machthabern wieder interessant zu erzählen vermag. (etwa zu Gauleiter Hafer in lnnsbruck) gelang es Mit der Arbeit von Harald Walserliegt nun- abge­ ihnen auch Verlagerungen zu verhindern, die kurzfri­ sehen von einer früheren und nicht mehr erhältlichen stig Probleme auf dem ohnehin angespannten Studie von Stefan Karner - die erste umfassende Arbeitsmarkt gebracht hätten und langfristig indu­ Monographie über die Wirtschaft und Wirtschaftspo­ strielle Konkurrenz bedeutet hätten. Dennoch verla­ litik in einem Österreichischen Bundesland für die gerten viele "reichsdeutsche" Betriebe wegen des Jahre 1938 bis 1945 vor: Harald Walser: Bomben­ niedrigen Lohnniveaus und (langfristig gedacht) we­ geschäfte. Vorarlbergs Wirtschaft in der NS-Zeit. gen der abzusehenden Aufrechterhaltung ihrer Un­ Bregenz, Vorarlberger Autoren Gesellschaft, ternehmungen in der Nachkriegszeit ab 1943 nach 1989. 376 Seiten. Der Autor skizziert die wirtschaftli­ Vorarlberg. Insgesamt 37 Produktionsstätten wur­ che Ausgangslage in Vorarlberg, welche günstiger den nach Vorarlberg verlagert. Insgesamt bewirkte als in anderen Regionen war. Er beschreibt die die Rüstungskonjunktur einen Rationalisierungs­ "Arbeitsmarktpolitik" der Jahre 1938/39 und den druck, der sich in der Modernisierung des Maschi­ "Arbeitseinsatz" während des Krieges und zeigt den nenparks und der Fertigungstechniken niederschlug. Wandel in der Bevölkerungsentwicklung und Berufs­ Walser: "Es kam zu einer Art Neuindustrialisierung struktur auf. Einer Darstellung der Entwicklung der Vorarlbergs" (S.274). Das vorliegende Werk kann wichtigsten Wirtschaftszweige, Elektrizitätswirt• als Beispiel für ähnliche Studien gelten und bietet schaft, Textil-, Bau- und Landwirtschaft folgt eine de­ durch zahlreiche Tabellen auch quantifizierende tailreiche Behandlung der Kriegswirtschaft, wobei Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Regionen. Die der Rüstungsindustrie besonderes Augenmerk zuge­ umfassende Behandlung der Wirtschaft unter Ein­ wandt wird. Eine Analyse der "Lage der Arbeiter­ schluß der sozialen Lage der Arbeitnehmer und der schaft'' schließt den Band ab, in dessen Anhang die Zwangsarbeit, zusammen mit einer profunden Lite­ größten Vorarlberger Industrieunternehmen sowie raturkenntnis des Autors, und einer kritisch-differen­ jene in das Land verlagerte Betriebe in Kurzkapitel zierten, ausgewogenen Darstellung lassen dem vorgestellt und ihr Einsatz von Zwangsarbeitern auf­ Oeuvre über den Vorarlberger Raum hinaus innova­ gezeigt werden. tive Relevanz zusprechen. Walserstellt für die Wirtschaftsstruktur insgesamt, die einzelnen Wirtschaftszweige und die Wirtschafts­ Die Geschichte der jüdischen Gemeinden geriet leistung des Landes eine "Modernisierung" fest: ln nicht zuletzt auch durch latenten Antisemitismus der Landwirtschaft wurde mechanisiert, der Einsatz in der Zweiten Republik in Vergessenheit. Kaum von Düngemitteln zur Ertragssteigerung forciert und jemand kümmerte sich um die wenigen Juden, sogar die Milchleistung der Kühe erhöht. Der Aus­ die das NS-Regime überlebt hatten und sich trauten bau der Elektrizitätswirtschaft sollte für Vorarlberg in die Heimat zurückzukehren. Im Gegenteil: Ihre besonders wichtig sein, die Vorarlberger Kraftwerke berechtigten Ansprüche auf ,,Wiedergutmachung", sollten nach dem Willen der deutschen Machthaber auf Refundierung ihrer "arisierten" Vermögenswerte, das Ruhrgebiet mit Strom versorgen. Die Millionen­ erzeugten in einer, vielfach noch in nationalsoziali­ investitionen überstiegen das ehemalige Landes­ stischen Denkmustern befindlichen Gesellschaft, budget um das Zwanzigfache. Für viele Klein- und unberechtigt erneut Haß und Neid gegenüber Mittelbetriebe war die rüstungskonjunkturelle Expan­ den Opfern. Es gehört zu den vordringlichsten Auf­ sion unter der NS-Herrschaft eine Basis für den wirt­ gaben einer sich demokratisch bezeichnenden schaftlichen Aufschwung in der Nachkriegszeit. Wal­ Gesellschaft das Schicksal jener aufzuarbeiten, ser spricht in diesem Zusammenhang von einem die sie selbst ausgestoßen und der Vernichtung "geplanten Kapitalismus": "Sowohl die Vergabe von übergeben hatte. Ein ambitioniertes Autorenteam Aufträgen, die Preise, die Beschaffung der Rohstoffe begab sich 1988 auf die Spuren der Israelitischen und das zu produzierende Produkt als auch die Kultusgemeinde in Mödling: Roland Burger/Franz Zuweisung von Arbeitskräften und die Festsetzung M. Riemer/Franz R. Strobl (Hg.): Ausgeschlöscht. ihrer Löhne wurden mit Kriegsverlauf zunehmend Vom Leben der Juden in Mödling. Mödling-Wien, von den Zentralstellen bestimmt. Eine wirkliche Ka­ edition umbruch, 1988. 206 Seiten. Das Buch pitalverwertung nach den Gesetzen des "freien beschreibt die Geschichte der Juden von der Marktes" konnte angesichts dieser weitgehenden Ansiedlung im 14. Jahrhundert über die Pogrome bis Reglements nicht stattfinden. Ziel der meisten Fir­ zur Aussiedlung und Deportation unter dem NS­ men war daher schlicht das Überleben" (S.273). Die­ Regime, wobei die Beschreibung des Lebens der jü• ses "Überleben" war z. T. allerdings mit (freiwilliger) dischen Gemeinde ergänzt wird durch baugeschicht­ politischer Unterwerfung und wirtschaftlicher Expan­ liche und kunsthistorischen Anmerkungen über die sion verbunden: So etwa machten die Eigentümer von Juden errichteten Bauwerke. Schon zur Zeit der Textilindustrien Rhomberg und Hämmerle von der Markterhebung im 14. Jahrhundert gab es in den ihnen nun gebotenen Möglichkeiten ohne Skru­ Mödling eine große jüdische Kolonie. Im Rahmen pel Gebrauch, "arisierten" das Wiener Kaufhaus der Hussitenverfolgung kam es zu ersten Pogromen, Herzmansky, betätigten sich als "Wirtschaftsführer" da den Juden die finanzielle Unterstützung der

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"Ketzer" vorgeworfen wurde: "ln den Gemeinden nendenkmals bilden den dritten Teil des Bandes. Tulln, Mödling und ( ... ) Perchtoldsdorf wüteten die Aus dem "Tagebuch einer Flucht" wird im abschlie­ Verfolger mit der größten Grausamkeit." Die Mödlin• ßenden Kapitel berichtet. Dem Autor gelingt es vor ger Juden wurden ermordet und vertrieben. Erst allem im ersten Teil methodisch gekonnt "Oral histo­ 1833 zogen jüdische Bürger nach Mödling, wo sich ry" mit schriftlichen Quellen zu verbinden und einen 1892 eine "Israelitische Cultus-Gemeinde" konstitu­ gesellschaftsgeschichtlichen Einblick in die Jahre ierte. 1914 wurde eine Synagoge in Mödling feierlich der NS-Herrschaft zu geben. Ein Schwerpunkt liegt eröffnet. Nach dem ersten Weltkrieg erlangte auch hierbei in der Darstellung der "Arisierungen", wo es der Antisemitismus, für den es- wie die Autoren zei­ dem Autor gelingt nicht nur die Interessenslagen von gen - schon im 19. Jahrhundert zahlreiche Belege Beteiligten, Opfern und Tätern festzustellen, son­ gibt, eine starke Basis, die insbesonders von den dern auch das sozialpsychologische Umfeld des "Mödlinger Nachrichten" und letztlich von den Natio­ Vermögensraubes zu beschreiben. Damit gewinnt nalsozialisten und antisemitischen Verbänden ge­ der Band weit über Krems hinaus Bedeutung für die stützt wurde. Forschung. Die Ausschaltung der Juden nach der NS-Macht­ Die Forschung zum "Anschluß" und zur NS-Herr­ übernahme vollzog sich unter diskriminierenden be­ schaft in Österreich hat durch die Diskussionen um hördlichen Anordnungen und unter Mithilfe der Möd• das "Be/Gedenkjahr" 1988 zweifellos wichtige Impul­ linger Bevölkerung. Angesichts des NS-Terrors se erhalten. Allein die hier besprochenen Werke zei­ erklärten sich fast alle Mödlinger Juden zur Ausreise gen, daß die Aufarbeitung der nationalsozialisti­ bereit, waren aber vorderhand noch unschlüssig schen Vergangenheit an Breite und Tiefe gewonnen über ihr Exilland. Bereits im Mai 1938 devastieren hat. Wenn es auch vorderhand vielerorts um eine er­ Mitglieder eines SA-Trupps die Synagoge. Im Juni ste "Spurensicherung" ging, faßbare Ereignisse im wird es dann offiziell: "Auch Mödling will die Juden Mittelpunkt der Studien standen, von gesellschafts­ nicht ", schreiben die "Mödlinger Nachrichten". Nach geschichtlichen Konzeptionen insgesamt noch recht der Eingemeindung Mödlings in "Groß-Wien" wird wenig gesprochen werden kann, so ist doch eine er­ auch die Mödlinger Gemeinde der Wiener Israeliti­ freuliche Abkehr von der "alten Heimatkunde" fest­ schen Kultusgemeinde angeschlossen. Nach 46 zustellen. ln den Lokal- und Regionalgeschichten Jahren ihres Bestehen findet die Mödlinger Gemein­ stand natürlich der "Anschluß von Innen" im Mittel­ de ein erzwungenes Ende. Sie sollte nicht wieder punkt des Interesses, erfreulicherweise jedoch auch gegründet werden, denn von ihren 530 Mitgliedern die lang verdrängte Darstellung des Schicksals (1938) kehrten nach 1945 "vielleicht vier oder fünf der Juden. Das Symposium der Österreichischen Personen" nach Mödling zurück. Die materialreiche Akademie der Wissenschaften machte jedoch auch Studie, welche auch das Schicksal von jüdischen deutlich, daß bei aller innerösterreichischen Spuren­ Familien, aber auch von in Mödling wirkenden Anti­ suche und Selbstbespiegelung, das diplomatische semiten, wie Lanz von Liebenfels, beschreibt, Ver­ Beziehungsgeflecht der europäischen Staaten sunkenes, Vergessenes und Verdrängtes hervorholt, nicht aus dem Blickwinkel zu verlieren ist. Der "An­ kann als gelungenes Beispiel einer Lokalgeschichte schluß von außen", die Annexion Österreich durch angesehen werden. Hitler-Deutschland, wurde durch die europäische Staatenweit akzeptiert, ohne sich der Konsequenzen Anders ist das Buch von Robert Streibel angelegt, bewußt zu werden. Die Folgen dieser fatalen Fehl­ welches die Geschichte der Juden in seiner Heimat­ einschätzung hatten schließlich alle zu tragen. stadt Krems während der NS-Zeit beschreibt: Ro­ Insgesamt, und das legen alle hier besproche­ bert Streibel: Plötzlich waren sie alle weg. Die Ju­ nen Studien nahe, kann wahrscheinlich nur Humani­ den der "Gauhauptstadt Krems" und ihre tät und kritische Toleranz in den Beziehungen Mitbürger. Wien, picus, 1991. 291 Seiten. Der Au­ von Menschen, weltanschaulichen Gruppierungen, tor spürt vor allem dem Alltagsleben der Juden, ihrer Institutionen, Parteien und zwischen den Staats­ Lebenssituation in einer von Antisemitismus durch­ gebilden die Weit vor weiteren selbstgestrickten setzten Umwelt, nach. Das Beziehungsgeflecht zwi­ Katastrophen schützen. Es bleibt eine Bildungs­ schen Juden und Nichtjuden wird nicht nur an Hand aufgabe der Historiker, den Menschen in der "Me­ von Zeitungsberichten, sondern vor allem aufgrund diengesellschaft" Einsichten in die lnteressensgelei­ zahlreicher Interviews erforscht und dargestellt. Das tetheit menschlichen Tuns und somit in die Notwen­ Buch gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil be­ digkeit kritischen Denkens zu vermitteln. Nur dann schreibt Streibel den Alltag der Kremser Juden bis werden jene, die heute ungestraft von "ordentlicher zur Vertreibung durch die Nationalsozialisten. Im Beschäftigungspolitik im Dritten Reich", "Umvol­ zweiten Teil folgt er den Spuren von einzelnen jüdi• kung" sprechen dürfen, genauso Ächtung erfahren, schen Familien und notiert ihre Schicksale. Fallstu­ wie die Agitatoren faschistischer, nationalistischer dien über den Kremser Friedhof, über die Kremser und totalitärer Bewegungen. Dies bewußtbar zu ma­ Juden in Wien, über einen Spaziergang mit ehemals chen ist auch Aufgabe einer regionalen Zeitge­ Verfolgten und über die Errichtung eines Vertriebe- schichte.

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KÜNSTLERELITEN aber jener "realpolitische" Ansatz, der wider jeder Quellenkritik, biografischer Methodik und Ergebnis­ IM DRITTEN REICH sen bisheriger NS-Forschung nahezu willkürlich Be­ urteilungen von subalternen Parteifunktionären mit Der Klappentext des Bandes verspricht Spannen­ Einschätzungen durch "NS-Größen" (Rathkolb zitiert des: Nämlich ein "Buch, das seine Leser nicht vor aus den unlängst erschienenen Goebbels-Tagebü• unangenehmen Entdeckungen schützen kann". Zu chern ausführlich und viel), Aussagen in Entnazifi­ "entdecken" gilt, daß viele der im sogenannten "Drit­ zierungsakten und Meinungsäußerungen unter­ ten Reich" zu Publikumslieblingen avisierten und zur schiedlicher Provenienz zu vermischen erlaubt. künstlerischen Elite der Zweiten Republik zählenden Rathkolb zeigt zwar durch eine Fülle von Zitaten aus Schauspielerlnnen, Sängerinnen und Dirigenten Personalakten Widersprüche im Handeln der Künst• nicht nur Dienst für die künstlerische Reputation des lerinnen auf: Anschlußbegeisterung, (Propaganda-) Unrechtsregimes geleistet und somit ihre Karriere Filmmitarbeit, antisemitische Äußerungen und zum Teil aus der Anbiederung an das NS-Regime NSDAP-Beitritt kontrastieren mit dem (nicht unge­ aufgebaut hatten. Zu erinnern gilt auch wie die "Gott­ fährlichen) Einsatz für Regimeverfolgte. Allein der begnadeten" ihre Anbiederung an den Nationalso­ Autor kommentiert sie kaum, enthält sich oft der Be­ zialismus nach 1945 erfolgreich zu verschleiern urteilung, meint - allerdings wohl nicht ganz zu Un­ wußten, ja ins Gegenteil verkehrten. recht- die Quellen sprächen für sich. Eine knappe Einleitung skizziert den auf Zwangs­ Dennoch: Allein die Tatsache, daß durch dieses­ mitgliedschaft und Führerprinzip aufgebauten Propa­ leider viel zu spät erschienene - Buch endlich den ganda- und Kulturapparat des NS-Staates. Die allseits "Gottbegnadeten" ihre Verantwortung gegen­ Zwangsmitgliedschaft ermöglichte eine Personal­ über ihrem Publikum, also gegenüber der Gesell­ auslese: Juden wurden ihres Berufes beraubt und schaft, bewußt gemacht, daß ein kritisches Bewußt• exiliert. ,Schwarze Listen' von ungenehmen Kultur­ sein unter den Kultur-Rezipienten gefördert wird, schaffenden, die nach Anweisung der NS-"Kulturma­ rechtfertigt den Kauf und das sor.gfältige Studium nager" nicht beschäftigt werden durften, ergänzten dieser Arbeit. Auf "unangenehme Uberraschungen" die personelle Durchdringung des Kulturbetriebes. sollte frau/man jedoch tatsächlich gefaßt sein: Gar Individuelle Sondergenehmigungen (wie etwa für leicht kann sich das bislang gefeierte Idol als Nazi­ den unlängst gefeierten Heinz Rühmann) gehörten denunziantln entpuppen ... ebenso zur nationalsozialistischen "Un-Kultur-Poli­ tik" (Rathkolb), wie kurzfristig ausgesprochene Auf­ Oliver Rathkolb: Führertreu und gottbegnadet. tritts- und Veröffentlichungsverbote und andere Re­ Künstlereliten im Dritten Reich. Wien (Österreichi• pressionsmaßnahmen (Kriegsdienst etc.). Die scher Bundesverlag) 1991. 301 Seiten. Kulturschaffenden - und das zeigt der Autor sehr -kdm- deutlich - lernten sich in dem "System von Zucker­ brot und Peitsche" zurechtzufinden, wollten sie ihrer Karriere und dem NS-Regime "dienen". Zuviele - Rathkolb nennt eine Fülle von Prominenten, noch DER NATIONALSOZIALISMUS­ heute Gefeierten -wurden zu Bütteln des Verbrech­ KEINE EXOTISCHE ERSCHEINUNG erregimes. Marionetten gleich ließen sie sich (groß• teils) vom allgegenwärtigen Joseph Goebbels leiten ZWEI BÜCHER ÜBER ,SOZIALE und führen. Wie kein anderer wußte der Propagan­ ARBEIT' UND NATIONALSOZIALISMUS daminister als braune Eminenz der "Un-Kultur" mit der Karrieregeilheit der Kulturschaffenden umzuge­ Hans Uwe Otto und Heinz Sünker verstehen den von hen. Trocken zitiert Rathkolb aus den unlängst ver­ ihnen herausgegebenen Sammelband "Soziale Ar­ öffentlichten Tagebüchern des Ministers. Oft zeigt beit und Faschismus" als Beitrag für eine praxisorien­ sich wie politisch die angeblich unpolitischen Künst• tierte Faschismusdiskussion, die der Frage nach­ ler argumentierten, wenn es nur um ihre Reputation geht, wodurch der Faschismus im Alltagsleben der ging. Die aus Personalakten und Zeitungsartikeln Menschen vor 1933 eine größere Faszination haben mit Akribie zusammengetragenen biographischen konnte als bürgerliche und sozialistisch geprägte Le­ Notizen über Künsterinnen (etwa von Karl Böhm, benszusammenhänge. Sie versuchen dies für den Herbert von Karajan, über Heinz Hilpert, Leni Rie­ Bereich der sozialen Arbeit, jenen Maßnahmen, Or­ fenstahl bis Ewald Baiser, Paula Wessely und Mari­ ganisationen und Vorkehrungen, die der Nationalso­ ka Rökk) fördern zum Teil Erschreckendes zu Tage. zialismus im Begriff der "Volksgemeinschaftsideolo­ Die Auszüge aus NS-Personalakten, Registrierungs­ gie" zusammenfaßte und die als Kombination von angaben nach 1945 und Recherchen der US-Behör• Fürsorge und Unterdrückung zu bezeichnen ist. den zeigen ein anderes Bild der Österreichischen ln den einzelnen Beiträgen, die unter den Kapiteln Künstlerelite, als es gemeinhin in den Kultur- und "Fürsorgepolitik und soziale Arbeit", "Frauen und Fa­ Tratschseiten der Presse präsentiert wurde und milienpolitik im Nationalsozialismus", "Soziale Arbeit wird. im Kontext der Politik von Ausgrenzung von ,Ausmer­ Problematisch erscheint dem Rezensenten bei ze"' und "Pädagogisches Denken und politische Kul­ den zahlreichen biografischen Kurzdarstellungen tur" gegliedert sind, stehen durchgängig unter dem

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Motto, die nationalsozialistische Praxis nicht als Pro­ wirklich scheinenden Vergangenheit zu befreien und dukt atavistischer Ideenkonglomerate zu exotisieren, in eine "in vielem sehr nahe und vertraut wirkende sondern in der Wechselbeziehung mit der Durchset­ Lebensweit des Betrachters" zu verwandeln, kom­ zung des Wohlfahrtsstaates verstanden zu wissen men die beiden Beiträge über das Schicksal der ita­ (Michael Prinz, S. 59), um somit auch den Blick auf lienischen Militärinternierten (C. U. Schminck-Gusta­ Kontinuitäten freizugeben. Um diese Kontinuitäten im vus), die in der Hierachie der Kriegsgefangenen Detail überprüfen zu können, formulieren die beiden ganz unten, knapp vor den sowjetischen kamen, und Herausgeber als Arbeitsprogramm in der Zukunft die die Auswertung von Zeugnissen polnischer Zwangs­ Notwendigkeit, "die generelle Hypothese, das nach verpflichteter und Gefangener (Jochen August) 1945 im Prinzip mit den gleichen Leitvorstellungen ei­ nach. Gerade im Fall der Berichte polnischer ner verwaltungsmäßig organisierten Sozialarbeit und Zwangsarbeiter ist die Tatsache interessant zu er­ unveränderten beruflichen Standards lediglich pro­ wähnen, daß die Quelle persönlicher Erinnerungen klamatorisch oder zufällig neu angefangen worden in der polnischen Wissenschaft bereits seit 1913 Be­ ist, institutionsspezifisch, professions-theoretisch achtung fand und die biographische Forschung und in Regionaluntersuchungen zu operationalisie­ durch Preisausschreiben nach 1945 fortgesetzt, ren." (S. 25) Wie wichtig die Beachtung des Bereichs während "Oral history" in unseren Breiten erst in den der sozialen Arbeit ist, zeigt sich zum Beispiel bei der siebziger Jahren "entdeckt" wurde. Untersuchung der eminent wichtigen Funktion, die der organisierten Freizeit zugemessen wurde, die Hans-Uwe Otto, Heinz Sünker (Hg.) Soziale Ar­ sich in Form von Aktion wie "Kraft durch Freude" bis beit und Faschismus. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1939 als "legitimationsbildend" auswirkten und für die Taschenbuch 762, 1989. 345 Seiten. Adaption der nationalsozialistischen Ideologie instru­ Herrenmenschen und Arbeitsvölker. Ausländische mentalisiert wurden und nach 1939 als "Kompensa­ Arbeiter und Deutsche 1939-1945. Berlin Rotbuch tion der realen Situation, zur Ablenkung und Zerstreu­ Verlag. 2. Auflage 1989. (Beiträge zur Nationalsozia­ ung" diente (Friedhelm Vahsen S. 71 ). Die Mischung listischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 3) 189 der Freizeiterziehung im Nationalsozialsmus bewegt Seiten. sich zwischen den Polen Repression, Assistenz und -str- Freiwilligkeit (S.76). Mit der Situation jener Millionen Menschen, die ge­ zwungen wurden durch ihre Arbeitsleistung die natio­ nalsozialistische Wirtschaft auch noch im "totalen WIDER DIE PROVOKATION Krieg" aufrecht zu erhalten, setzt sich der Band 3 der SAMMELBAND "NATIONALSOZIALIS­ "Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits­ und Sozialpolitik" auseinander. Im Sammelband MUS UND MODERNISIERUNG" "Herrenmenschen und Arbeitsvölker. Ausländische Arbeiter und Deutsche 1939-1945" findet sich ein Seit Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum Mitte Überblicksartikel über "Fremdarbeiter und Kriegsge­ der sechziger Jahre mit ihrer Analyse der "braunen fangene in Deutschland" von Ulrich Herbert. Gerade Revolution" die Diskussion über den Modernisie­ dieses Kapitel der nationalsozialistischen Herrschaft rungsschub des Nationalsozialsmus legten, ist die blieb lange ungeschrieben, obwohl und weil mehr als Auseinandersetzung über diese "Provokation" nicht sieben Millionen Menschen davon betroffen waren. abgeflaut. Michael Prinz und Rainer Zitelmann wol­ Die Praxis zwischen 1939 und 1945 stellte den len in ihrem Sammelband eine "Zwischenbilanz" Beweis dar, daß "ein nach rassistischen Kriterien über das Verhältnis von Nationalsozialismus und hierachisiertes Modell einer nationalsozia- Iistischen Moderne liefern. Als "roter Faden" durch die 13 Bei­ Gesellschaft funktionieren konnte" (Uirich Herbert träge zieht sich die Klärung der Fragen, inwieweit S. 46). Die "meisten Deutschen zeigten am Schicksal "die Praxis das Nationalsozialismus, gesellschaftli­ der Ausländer wenig Interesse" (Ebd. S. 47) und die che Entwicklung in dieser Zeit als modern oder mo­ Firmen, die mit billigen "fremdvölkischen Arbeitskräf• dernisierend verstanden werden" müssen und wie ten" arbeiteten, hatten kein Interesse, daß dieser Ein­ das Verhältnis zwischen "gesellschaftlicher Praxis satz thematisiert und dadurch vielleicht Regressan­ und ideologischem Motiv" (bis zu welchem Grad war sprüche geltend gemacht werden würden. Die Rolle der der nach 1933 ausgelöste Wandel tatsächlich der deutschen Bevölkerung in deren Alltag die aus­ beabsichtigt?) bestimmt werden kann. ländischen Arbeitskräfte "hineindeportiert" worden Thematisiert werden die Fragen, ob die NSDAP waren beschreibt Herbertals "durchaus nicht passiv", die erste deutsche Volkspartei war, ob es sich bei wobei er auf das Phänomen hinweist, daß in der Pha­ der NS-Wirtschaftideologie um ein Modernisierungs­ se der Blitzkriegseuphorie die Initiativen zur Schlech­ programm oder eine reaktionäre Utopie gehandelt terstellung der Ausländer häufig von unten kamen hat. ln Fallbeispielen wird die Gültigkeit der Thesen und nach dem Sieg über Frankreich die Zustimmung im lokalen Rahmen oder für einzelne gesellschaftli­ zum Regime insgesamt und auch zu seiner Auslän• che Bereiche ausgelotet (Modernisierung am Bei­ derpolitik anstieg. spiel Württemberg, Einführung der Gemeinschafts­ Die Forderung Herberts, die soziale Wirklichkeit schule in Bayern, Architektur und Stadtplanung, Nazideutschlands aus einer weit entfernt und un- Reformpsychiatrie und Massenmord, strukturelle

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Veränderungen in der militärischen Gesellschaft). zeichnet wird, aber eines möchte ich schon sagen, Ein informativer Sammelband. der B., das war wirklich ein ,Saujude', der hat uns das Haus teuer verkauft, ein richtiger ,Saujude' ." Die Michael Prinz und Rainer Zitelmann (Hg.) Natio­ hier geschildete Szene ereignete sich tatsächlich, in nalsozialsmus und Modernisierung. Darmstadt Wis­ Krems 1992, der Ort ist ohne Belang, die Person senschaftliche Buchgesellschaft 1991. 33 7 Seiten. austauschbar, denn Vorurteile, Vorurteilsstrukturen - str- haben sich tief ins Alltagsbewußtsein eingefressen und werden auch von der ehrlichen Erschütterung über das Schicksal ehemaliger Nachbarn nicht tan­ giert. EINE AUFREGENDE STUDIE Das Forschungsteam aus Linguisten, Historikern ANSÄTZE FÜR EINE THEORIE und Psychologen rund um Ruth Wodak hat in ihren "diskurshistorischen Studien zum Nachkriegsantise­ DER SOZIALISTEN IM mitismus" diesem Phänomen mit einem breitange­ NATIONALSOZIALSMUS legten wissenschaftlichen Instrumentarium nachge­ spürt und hat ein Handbuch vorgelegt, mit dessen Josef Schäfer lebte ein Durchschnittsleben, wurde Hilfe Denkmuster klassifiziert werden können, die 1924 geboren, beendete die Volksschule in einem noch immer zum Österreichischen Alltag gehören. saarländischen Arbeiterbauerndorf 1938, begann Da wären zu nennen der "ludeuas ex machina"-Me­ seine Lehrzeit bei der Deutschen Reichsbahn, spiel­ chanismus, der ein automatisiertes Zuschreiben bö• te Fußball, ministrierte in der Dorfkirche, war Mit­ ser Züge und Handlungen an Juden erlaubt, der glied der HJ und wurde zum begeisterten Panzersol­ Rechtfertigungsdiskurs, als Verharmlosung ausge­ daten, der 1944 in der Normandie fiel. prägt in Form von Rationalisierung, als Aufrechnung, Durch die beiden Wissenschafter Berhard Hau­ als Abschieben, Personalisierung oder Anonymisie­ pert und Franz Josef Schäfer wurde Josef Schäfer rung. nun nachträglich zu einem Musterfall einer Soziali­ Die Basis für die Untersuchung bieten die "Kam­ sierung im Nationalsozialsmus. ln ihrem Buch "Ju­ pagne", sprich die Waldheim-Affäre in Zeitungen, gend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Biographi­ Rundfunk und Fernsehen, die Diskussionen im Rah­ sche Rekonstruktion als Alltagsgeschichte des men der Mahnwache auf dem Stephansplatz, eine Faschismus" zeichnen sie mit unterschiedlichen Me­ Analyse der Kreisky-Wiesenthal Affäre, Analysen thoden (Oral History, soziologische Biographiefor­ von Interviews mit Politikern sowie eine Club 2 Dis­ schung und der objektiven Hermeneutik) jene Mi­ kussion. schung, aus nationalen Ideen, persönlichen Entscheidend für eine Bewertung der vorgefalle­ Wünschen und Träumen mit ideologischen Gehal­ nen und künftiger Äußerungen ist jedoch die Ein­ ten, die für die Entwicklung abertausender Jugendli­ schätzung, daß man mit Sprache auch handeln che prägend war. Als Endprodukt ihrer Biographie kann, durch den Akt des Sprechens der Sprecher ei­ stehen Ansätze einer Theorie der Sozialisation im ne Handlung vollzieht. Nationalsozialismus. Die Feststellung von Prof. Manfred Messerschmidt im Vorwort, daß mit dieser "Wir sind alle unschuldige Täter." Diskurshistori­ Studie eines der seltenen Beispiele dafür geliefert sche Studien zum Nachkriegsantisemitismus. Ruth wurde, "daß eine wissenschaftliche Studie eine auf­ Wodak u. a., Frankfurt am Main, Suhrkamp Ta­ regende Geschichte sein kann", ist somit mehr als schenbuch 881, 1990, 401 Seiten. nur eine bloße Werbebotschaft des Klappentextes. - str-

Bernhard Haupert, Franz Josef Schäfer: "Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Biographische Re­ konstruktion als Alltagsgeschichte des Faschismus" Frankfurt am Main, Suhrkamp Taschenbuch 952. EINE BILANZ MIT AUSBLICKEN 1991. 352 Seiten. WAS IST GESELLSCHAFTS­ - str- GESCHICHTE?

Das Vorhaben, historische Abschnitte als Gesell­ DEM NACHKRIEGS­ schaftsgeschichte zu betrachten ist seit den sechzi­ ANTISEMITISMUS AUF DER SPUR ger Jahren zu einem Schlüsselbegriff der modernen Geschichtswissenschaft geworden, an dem sich die EIN HANDBUCH FÜR DIE Geister scheiden. Der Sozial- und Wirtschaftsge­ NIEDERUNGEN DES ALLTAGS schichte, den sozialökonomischen Strukturen und Prozessen sollte damit die "gebührende Aufmerk­ "Das Schicksal der Juden hat mich tief berührt, als samkeit" geschenkt werden, Geschichte in der Zu­ ich das Buch über Krems gelesen habe, es ist wich­ sammenschau von Politik, Wirtschaft und Kultur ge­ tig, daß diese Geschichte geschrieben und aufge- schrieben werden und die Geschichtswissenschaft

66 IWK·Mitteilungen aus "ihrer traditionellen Einbindung in die Geistes­ Wissenschaft zukommt ("Aufklärung oder Sinnstif­ wissenschaft" gelöst werden, um als "Historische tung?") Sozialwissenschaft" begriffen zu werden. Für die ei­ nen handelt es sich bei diesem Versuch um einen Frank Niess (Hg.): Interesse an der Geschichte. Irrweg der theoretischen Illusionen, während die an­ Frankfurt, New York, Campus 1989. 144 Seiten. deren darin ein revolutionäres Modell der Ge­ -str- schichtsbetrachtung sehen. ln dem von Manntred Hettling, Claudia Huerkamp, Paul Nolte und Walter Schmuhl, die wissenschaftliche Mitarbeiter an der Fakultät für Geschichtswissenschaft an der Univer­ Kurz vor Redaktionsschluß dieser "iwk-Mitteilungen" sität Bielefeld sind, herausgegebenen Band "Was ist erreichte uns die Dissertation eines unseres Vortra­ Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, An­ genden: alysen" ziehen mehr als 30 Historiker Bilanz. Neben Mag. Josef Moser: "Die Vereinigten Staaten von theoretischen Positionsbestimmungen finden sich Oberdonau". Zum Wandel der Wirtschafts- und Aufsätze, die in den Kapiteln ,,Wirtschaft und soziale Beschäftigungsstruktur einer Region während Struktur", "Soziale Bewegung", "Politik" und "Kultur, der nationalsozialistischen Herrschaft am Bei­ Ideen, Mentalitäten" gegliedert sind. spiel Oberösterreichs. Linz (Sowi. Diss.) 1991. 458 Seiten. Manntred Hettling, Claudia Huerkamp, Pau/ No/te und Walter Schmuhl (Hg.) "Was ist Gesel/schaftsge­ Maser beschreibt, ausgehend von den Vorbereitun­ schichte? Positionen, Themen, Analysen", Mün• gen für einen wirtschaftlichen "Anschluß" Öster• chen, Verlag C. H. Beck, 1991. 342 Seiten. reichs, die Einbindung des Österreichischen Wirt­ - str- schaftspotentials in die deutsche Aufrüstung. Der Lage der Oberösterreichischen Wirtschaft 1938 und den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen widmet er weitere, mit Tabellen ergänzte, Kapiteln. 1938 wur­ GESCHICHTE WOHIN MAN BLICKT den alle Österreichischen Betriebe einer Wirtschaft­ lichkeitsprüfung durch die deutschen Okkupanten BUCH ÜBER DAS INTERESSE unterzogen. Auf Grund dieses Materials beschreibt AN DER GESCHICHTE der Autor detailliert die Lage der Industrie, ihren Grad der Rückständigkeit gegenüber der deutschen Das Interesse an der Geschichte ist heute so lebhaft Produktionsmethoden und stellt Überlegungen über wie lange nicht. Geschiehtsausstellungen ziehen Erfolg und Mißerfolg der Modernisierungsbestrebun­ Tausende von Besuchern an, politische Biographien gen unter nationalsozialistischer Herrschaft an. Die werden als Bestseller gehandelt. ln "Geschichts­ Einbindung "Oberdonaus" in die Kriegswirtschaft werkstätten" bemühen sich Laien die Geschichte ih­ des "Dritten Reiches" bedeutete eine Umorganisa­ res Dorfes, ihrer Stadt oder ihrer Region zu erfor­ tion der gesamten "Gauwirtschaft". Maser unter­ schen. Die Pläne für Geschichtsmuseen werden in sucht die industriepolitischen und sozialen lmplika­ der deutschen Öffentlichkeit heftig diskutiert und der tionen der NS-Wirtschaftspolitik: Die damit "Historikerstreit" über eine angebliche "Neubewer­ verbundenen Veränderungen in der Bevölkerungs• tung" des Nationalsozialismus wird zu einem Dis­ entwicklung und Beschäftigtenstruktur werden eben­ kussionsgegenstand in Zeitungen und Fachpublika­ so behandelt wie zunehmende Ausländerinnenbe• tionen. schäftigung und der Einsatz von KZ-Häftlingen Der Band "Interesse an der Geschichte" handelt während des Krieges. Die Folgen der nationalsozia­ diese historische Neugier und ihre Hintergründe an listischen (Kriegs-)Wirtschaftspolitik für Oberöster• Hand von einigen Schwerpunktthemen ab. ln dem reich resümiert der Autor in einem SchlußkapiteL von Frank Niess herausgegebenen Band finden sich Die Arbeit gehört zu den besten Untersuchungen unter anderem informative Beiträge über Frauen­ über Nationalsozialismus und Wirtschaft, die in den geschichte, die Probleme mit der jüdischen letzten Jahren verfaßt wurden. Es bleibt zu hoffen, Geschichte, Alltagsgeschichte, Geschichte als Aus­ daß diese vorzügliche Arbeit bald einen Verleger fin­ stellungsgegenstand ebenso wie theoretische Zu­ det, damit sie einem breiteren Leserkreis zugänglich gänge zu diesem Thema im Bereich der Geschichts­ wird. philosophie und der Aufgabe die der Geschichts- -kdm-

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KURZBIOGRAPHIEN DER AUTORIN UND AUTOREN

ERNST LANGTHALER: Hauptschullehrer, geb. 1965 in Frankenfels/NÖ, Arbeitsgebiet: Theorie und Praxis der Lokalgeschichte. dzt. Arbeit an einem "Heimatbuch" Frankenfels.

KLAUS-DIETER MULLEY, Dr. phil.: Historiker und Dokumentar, geb. 1953 in Scheibbs/NÖ, Studium der Geschichte, seit 1985 Mitarbeiter der So­ zialwissenschaftlichen Dokumentation der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien, Mitarbeit an zahlrei­ chen Großausstellungen, Veröffentlichungen zur Österreichischen Zeitgeschichte, insbesonders zu den The­ men Nationalsozialismus, Entnazifizierung, Fünfziger Jahre, Arbeiterbewegung, Regionalgeschichte. Dzt. Arbeit an einer Darstellung Niederösterreichs 1938 bis 1945.

WOLFGANG QUATEMBER, Dr. phil.: geboren 1961, wohnhaft in Ebensee, Germanistikstudium, Schwerpunkt: Arbeiterliteratur, Autobiographien, Geschichte des Österreichischen Widerstands gegen Faschismus, Projektleiter des Projektes zur Errichtung ei­ nes antifaschistischen Bildungszentrums in Ebensee.

FRANZ STEINMASSL: geboren 1952, wohnhaft in Helbetschlag, Gemeinde Grünbach, Bezirk Freistadt, Mühlviertler Geschichtsarbei­ ter und Kleinverleger.

ROBERT STREIBEL, Dr. phil.: geboren 1959, wohnhaft in Wien, Studium der Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaft, Schwer­ punkt Geschichte des Nationalsozialismus in der Provinz (Lokalhistorische Studien über Krems), "Oral history", Österreicher in der Sowjetunion. Im Verband Wiener Volksbildung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit zustän• dig.

JACQUELINE VANSANT, Dr. phil.: geboren 1954, Dissertationsthema "Feminismus und Literatur von Frauen in der Zweiten Republik", Universi­ tätsassistentin an der University of Michigan-Dearborn. Arbeitet an einem Buch über die Aufarbeitung des Na­ tionalsozialismus durch Verfolgte. Veröffentlichungen zur Frauenforschung.

KORREKTUREN ZU HEFT 3/1992 "FEMINISTISCHE THEORIE UND FRAUENFORSCHUNG":

in Heft 3/1992 sind einige sinnstörende Fehler passiert, die wir nachstehend korrigiern möchten:

Seite 19, linke Spalte, 5.16. Zeile von unten: . .. Angleichung der Rechtsstellung der Frauen an die "der" Männer ... Seite 22, linke Spalte, 12. Zeile von unten: statt rechtsstaatlicher "rechtstatsächlicher" Seite 22, rechte Spalte, 20. Zeile von oben: 25 = Fußnote 25 Seite 24, linke Spalte, 15. Zeile von unten: statt Witwerpensionsrecht "Witwerpensionserkenntnis" Seite 24, rechte Spalte, 13. Zeile von oben: statt sozialversicherungstechnischen "sozialversicherungsrechtlichen" Seite 24, rechte Spalte, 1. Zeile von unten: "Verleihungsvoraussetzungen" Seite 25, linke Spalte, 23. Zeile von oben: "daß durch ein Gesetz" Seite 32, Titelzeile: Carol "Gilligan" Außerdem wurde beim Umbruch die Seite 3 mit der Seite 6 vertauscht.

68 Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne Entnazifizierung in Österreich 1945-1955

Symposion des Instituts für Wissenschaft und Kunst Wien, März 1985

Herausgegeben von Sebastian Meissl, Klaus-Dieter Mulley und Oliver Rathkolb

Verlag für Geschichte und Politik 1986

Wir müssen uns Energiefragen stellen Zu den Themen e Energie-, Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft • Energietechnik e Bauwesen • Umweltschutz e Informatik e Wirtschaft e Recht e Normen und Vorschriften • Statistik e Und Alternativenergien stellen wir Ihnen 7 000 Bücher, 400 Österreichische und internationale Fachzeitschriften und einen laufend aktualisierten energiewirtschaftliehen Literaturdienst zur Verfügung.

Dokumentationszentrum und Energiewirtschaftliche Fachbibliothek der Verbundgesellschaft 1010 Wien, Rudolfsplatz 13 a WIR LEBEN IM Öffnungszeiten: Mo- Do 9-12 Uhr und 14-16 Uhr Nur gegen telefonische Voranmeldung unter 53113/37 43 oder 37 56! VerDu~na ((Seit 7. Oktober 1991 Österreichs große Bank: Die BankAustria, die ideale Verbindung von Zentralsparkasse und Länderbank. Mit 380 Zweigstellen, 9.607 Mitarbeitern, 1.213.000 Kunden und 32 Repräsentanzen im Ausland. Und mit einer ganz klaren und kunden­ orientierten Devise: Jetzt wird vieles möglich.''

Banl~t;ht~);; \ustria Z-Länderbank Bank Austria AG