Braunschweigisches Land in der Weimarer Republik 1918 – 1933

August Merges Dr.

Otto Antrick Gerhard Marquordt Werner Küchenthal

Braunschweigisches Land in der Weimarer Republik 1918 – 1933 Impressum Projektleitung: Wir danken: Harald Schraepler Volksbank Börßum-Hornburg eG AG der Heimatpfleger der Volksbank eG Wolfsburg Braunschweigischen Landschaft Volksbank Hankensbüttel-Wahrenholz eG Volksbank Helmstedt eG Redaktion und Layout der Ausstellungstafeln: Volksbank Peine eG Rudolf Zehfuß Volksbank Vechelde-Wendeburg eG Volksbank Wittingen-Klötze eG Layout, Konzeption und Gesamtherstellung: Volksbank Wolfenbüttel- eG Beyrich DigitalService, Braunschweig

Gefördert durch:

Braunschweigisches Land in der Weimarer Republik 1918 – 1933

Herausgegeben von der Braunschweigischen Landschaft e. V. Inhaltsverzeichnis Vorwort Harald Schraepler...... 4 Grußwort Hermann Isensee...... 5 Vorsitzende des Staatsministeriums im Freistaat Braunschweig 1919 – 1933...... 6 Dr. Heinrich Jasper...... 8 General Maerckers Landjäger in Helmstedt...... 10 Wahlen und Wählerverhalten im Amtsbezirk Vorsfelde...... 12 Wahlen – Wahlplakate...... 14 Die Anfänge der NSDAP im Gebiet der heutigen Stadt Salzgitter...... 16 Das Wilhelmstift in Bevern...... 18 Inflation und Notgeld der Ilseder Hütte...... 20 1926: Das Ende der Salzerzeugung in Salzgitter...... 22 Die Seesener Blechwarenindustrie...... 24 Kritisch beäugt: Der Aufstieg des Automobils...... 26 Der Gutsbetrieb des Grafen von der Schulenburg in Wolfsburg...... 28 Der Seilbahnberg in Lengede...... 30 Die Braunschweiger Landeskirche...... 32 Weltliche Schulen in Braunschweig...... 34 Mädchenpensionate in Blankenburg...... 36 Die Ingenieurschule in Wolfenbüttel...... 38 Wolfenbüttel – Stadt der Schulen...... 40 Fachschule für Tischler in Blankenburg...... 42 Wilhelm-Raabe-Schule in Eschershausen...... 44 Neue Bauwerke und Siedlungen in Braunschweig-Bebelhof...... 46 Neue Bauwerke und Siedlungen in Braunschweig-Siegfriedviertel...... 48 Der Peiner Architekt Anton van Norden...... 50 Das Wasserwerk in Lobmachtersen...... 52 Café Winuwuk, Bad Harzburg...... 54 Der Mittellandkanal – Bauzeit 1906 – 1938...... 56 Gefallenenehrung in Barum...... 58 Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten in Wolfenbüttel...... 60 Der Reit- und Fahrverein Vorsfelde und Umgebung e.V...... 62 Die Mode in den Goldenen 1920er Jahren im Freistaat Braunschweig...... 64 Vergnügungslokale in Braunschweig...... 66 Tonfilm in Helmstedt...... 68 Braunschweiger Originale...... 70

2 3 Vorwort Harald Schraepler

In der über 800-jährigen Geschichte des der Braunschweigischen Landschaft zusam- han, Werner Strauß, Peter Stübig, Hart- Braunschweigischen Landes ist die Zeit von men. Sie hat sich als kulturstiftende Gruppe mut Wegner, Reinhard Wetterau, Dr. Ursula 1918 bis Anfang 1933 nur ein sehr kurzer Themen aus der Geschichte angenommen Wolff und Rudolf Zehfuß, dem ich auch Zeitabschnitt, jedoch brachte er den nicht und sie in Ausstellungen präsentiert wie: recht herzlich für die Redaktion und das Lay- einfachen Übergang von der Monarchie in „Spurensuche“ und „Braunschweigisches out danke. Hilfreich zur Seite stand bei der die Demokratie und am Ende den zur Dik- Land in der Kaiserzeit 1871 – 1918“. Konzeption und der Umsetzung die Firma tatur des Nationalsozialismus. Insofern war Beyrich DigitalService. Dafür ein herzliches er für die Geschichte in unserem Raum von Nunmehr hat sie die Ausstellung „Braun- Dankeschön. Ein besonderer Dank gebührt Bedeutung. schweigisches Land in der Zeit Weimarer den Volksbanken in der Region Braun- Republik 1918 bis Anfang 1933“ erarbeitet, schweig/Wolfsburg, namentlich Herrn Bank- Die Braunschweigische Landschaft hat sich um diese Zeit den Bürgerinnen und Bürgern direktor Hermann Isensee, und der Stiftung seit ihrer Gründung im Jahr 1990 das Ziel näherzubringen. Sie soll in allen Gebieten Braunschweigischer Kulturbesitz, namentlich gesetzt, sich mit der Geschichte des alten des alten Landes Braunschweig vorgestellt Herrn Direktor Tobias Henkel, für die finan- Landes Braunschweig zu beschäftigen und werden. zielle Unterstützung der Ausstellung und zugleich die kulturelle Entwicklung in der des Kataloges. Ohne diese Unterstützung, Region zu begleiten und zu fördern. Auf 33 Tafeln werden vielfältige und un- die auf einer mehrjährigen vertrauensvollen terschiedliche Themen aus den Bereichen Zusammenarbeit beruht, hätte dieses Projekt Zu ihr gehören die kreisfreien Städte Braun- Politik, Wirtschaft, Architektur, Infrastruktur nicht verwirklicht werden können. schweig, Salzgitter und Wolfsburg sowie die und Gesellschaft behandelt. Sie beziehen Landkreise Helmstedt, Peine und Wolfenbüt- sich auf alle Gebiete des Freistaates Braun- Möge die Ausstellung und der Katalog dazu tel und 195 Vereine, Verbände und Gemein- schweig von 1918 bis 1933. beitragen, dass das Wir-Gefühl und die re- den, die im Beirat zusammengefasst sind. gionale Identität gestärkt werden. Dies ist Sie bringen ihre Aktivitäten in 10 Arbeits- Die Braunschweigische Landschaft dankt gerade im Zeitalter der Globalisierung sehr gruppen ein, die Foren zum Wissens- und allen, die Beiträge für die 33 Tafeln erstellt wichtig, damit die Menschen in der Braun- Erfahrungsaustausch, zur Gestaltung unter- haben. Es sind: Rolf Ahlers, Elmar Arnold, schweigischen Region nicht die Beziehungen schiedlicher Projekte und deren verantwort- Dr. Claudia Böhler, Werner Cleve, Dr. Sandra zu ihren Wurzeln verlieren. licher Durchführung sind. Donner, Reinhard Försterling, Christiane Geides, Markus Gröchtemeier, Manfred Gru- Eine davon ist die AG Heimatpfleger. Sie ner, Birgit Hoffmann, Klaus Hoffmann, Dr. besteht aus den Stadt- und Kreisheimatpfle- Ralf Holländer, Karl-Heinz Löffelsend, Jür- Harald Schraepler gern der drei kreisfreien Städte und der drei gen Kackstein, Elke Keese, Friedrich Orend, Sprecher der Arbeitsgruppe Heimatpfleger Landkreise und arbeitet erfolgreich mit den Rolf Owcarzki, Dr. Andreas Reuschel, Dr. und Beiratsvorsitzender der Braunschwei- ca. 350 Ortsheimatpflegern aus dem Gebiet Mathias Seeliger, Rolf Siebert, Peter Steck- gischen Landschaft e.V. Grußwort Hermann Isensee

In Gesprächen und Diskussionen über ak- Die Volksbanken in der Region Braun- ist überwiegend deckungsgleich mit dem tuelle Probleme und Schwierigkeiten wird schweig/Wolfsburg sind ein aktives Mitglied Geschäftsgebiet der in unserer Arbeitsge- häufig angeführt, dass es in früheren Zeiten dieser Region und fühlen sich allein schon meinschaft zusammengeschlossenen acht einfach besser gewesen ist. Wenn aber die aufgrund Ihrer genossenschaftlichen Unter- Volksbanken. Insofern war es für uns eine Geschichtsbücher einmal aufgeschlagen nehmensform ganz besonders mit den hier Verpflichtung, wenn nicht sogar eine Selbst- werden, dann bleibt oftmals nicht viel von lebenden Menschen verbunden. Seit rund verständlichkeit, dieses interessante Projekt der „guten alten Zeit“ übrig. So auch von 150 Jahren verbinden Volksbanken und auch gemeinschaftlich zu fördern. der Weimarer Republik in den Jahren von Raiffeisenbanken wirtschaftlichen Erfolg mit 1918 bis 1933. Die Menschen haben in gesellschaftlich verantwortlichem Handeln. Die Volksbanken in der Region Braun- diesen schwierigen Zeiten nach dem ersten Genossenschaften wurden gegründet, um schweig/Wolfsburg haben das Projekt Weltkrieg viel erlebt und ertragen müssen. durch freiwillige Zusammenschlüsse mehr zu „Braunschweigisches Land in der Weimarer Von der ausufernden Inflation im Jahre erreichen und damit die Unabhängigkeit des Republik“ gern gefördert und wünschen 1923, der anschließenden Währungsum- Einzelnen zu stärken. Selbsthilfe, Selbstver- den Initiatoren der Ausstellung viel Erfolg stellung, von Bankschließungen, Geldflucht antwortung und Selbstverwaltung sind nicht und den Lesern dieser kompakten Broschüre und schließlich der Weltwirtschaftskrise nur die Grundprinzipien der genossenschaft- viele interessante Einblicke in diese Zeit. ergeben sich viele Anknüpfungspunkte zu lichen Unternehmensform, sondern nach den heutigen aktuellen Problemen. Insofern unserem Verständnis zugleich Grundlagen begrüßen wir die Initiative der Heimatpfle- der Bürgergesellschaft. Auch Unternehmen ger in der Braunschweigischen Landschaft, sind ein Teil dieser Bürgergesellschaft und Hermann Isensee die Weimarer Republik von 1918 bis 1933 tragen damit Verantwortung für die Gestal- Sprecher der Bankenarbeitsgemeinschaft in einer besonderen Ausstellung der breiten tung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Volksbanken in der Region Braunschweig/ Öffentlichkeit vorzustellen. Gebiet der Braunschweigischen Landschaft Wolfsburg

4 5 Sepp Oerter Foto: Stadtarchiv Braunschweig Foto: Stadtarchiv Braunschweig

Dr. Heinrich Jasper Otto Antrick Foto: Stadtarchiv Braunschweig Foto: Stadtarchiv Braunschweig Vorsitzende des Staatsministeriums im Freistaat Braunschweig 1919 – 1933

Gerhard Marquordt Werner Küchenthal Foto: Dr. Henning Prellberg Foto: Stadtarchiv Braunschweig

In der Verfassung des Freistaates Braun- Aus der Verfassung geht nicht hervor, ob schweig vom 6. Januar 1922 wurden die der „leitende“ Minister Ministerpräsident Regierungsgeschäfte wie folgt geregelt: oder Präsident genannt wird. August Unter „Abschnitt V. Das Staatsministeri- Merges trägt den Titel „Präsident des Rates um” lesen wir: „Das Staatsministerium führt der Volksbeauftragten“. Den Vorsitzenden die Gesetze und Beschlüsse des Landtages oder Leiter des Staatsministeriums kann man aus... Artikel 33. Die Mitglieder des Staats- also eher als primus inter pares ansehen. ministeriums werden vom Landtag gewählt ... Artikel 34. Das Staatsministerium regelt die Zuständigkeit der einzelnen Minister und gibt sich eine Geschäftsordnung.“

6 7 Kohlezeichnung von H. Waltmann Foto: Braunschweigisches Landesmuseum 98/2 Dr. Heinrich Jasper

Dr. Heinrich Jasper war der bedeutendste Politiker der Weimarer Zeit im Freistaat Braunschweig. Er stammte aus (fast) groß- bürgerlichem Hause (geb. 1875), machte 1894 am Wilhelmgymnasium in Braun- schweig Abitur, studierte Jura und absol- vierte seine Referendarzeit bis 1901. Im glei- chen Jahr wurde er zum Dr. jur. promoviert. 1902 trat er nach einem langen Prozess der Hinwendung in die SPD ein, nachdem er schon als Jugendlicher mit sozialdemo- kratischem Gedankengut in Berührung ge- kommen war und dieses dann im Studium vertiefte.

Er erlangte schnell hohe politische Ämter: Stadtverordneter (1903 – 28), Landtagsabge- ordneter (1909, 1918 – 33), Faktionsvorsit- zender der SPD im Landtag, Landtagspräsi- dent (1919), Minister und Ministerpräsident (1919/20, 1922 – 24 und 1927 – 30). Ge- prägt durch Ideale und Humanität setzte er sich mit großem Engagement vor dem 1. Weltkrieg gegen das Dreiklassenwahl- recht und für die Verbesserung der Lebens- bedingungen der Arbeiter ein. Nach dem Krieg galten seine Ziele darüber hinaus der Jasper-Denkmal Portrait Heinrich Jasper Trennung von Staat und Kirche und dem Foto: Sigrid Zehfuß Foto: Stadtarchiv Braunschweig Widerstand gegen die revolutionären Akti- vitäten der extremen Linken. Immer wieder Errichtet: 23. Dezember 1951 setzte er sich für die parlamentarische De- Anlass: Ehrung Heinrich Jaspers mokratie ein und war offen für Koalitionen Entwurf: Jakob Hofmann mit den gemäßigten bürgerlichen Parteien. Ausführung: Jakob Hofmann Material: Stein (Elmkalk) 1931 trat (NSDAP) seine Aufstellungsort: zunächst auf der Ostseite des Schreckensherrschaft an. Für Heinrich Jasper Gebäudes der Bezirksregierung (Bohlweg), war es eine unvorstellbare Leidenszeit mit seit 1998 auf der Westseite (Ruhfäutchen- mehrfacher Folter, Gefängnis- und KZ-Inhaf- platz). tierungen. Den Strapazen war er nicht ge- wachsen. Er starb am 19. Februar 1945 im KZ Bergen-Belsen.

8 9 Im September 1918 erkennt die Oberste Heeresleitung des Deutschen Kaiserreiches die Aussichtslosigkeit einer weiteren Kriegs- führung. Im Oktober bietet die Reichsre- gierung unter Kanzler Prinz Max von Baden den Waffenstillstand auf der Basis des vom US-Präsidenten Wilson vorgeschlagenen 14-Punkte-Programms an. Die Verhand- lungen ziehen sich hin. Da kommt es in Kiel am 3. November zum Aufstand der Matro- sen auf den Einheiten der Kriegsmarine, er wird Auslöser von Aufständen in anderen deutschen Städten, am 9. November in . Der Kaiser dankt ab, die Regierungs- geschäfte werden auf den Vorsitzenden der SPD, , übertragen.

Überall im Reich bilden sich Arbeiter- und Soldaten-Räte. Sie fordern die Einrichtung einer Räte-Republik nach sowjetischem Vor- bild. Der neu gebildeten Reichsregierung stehen keine Machtmittel zur Verfügung, die Einheiten des Heeres hatten sich aufge- löst. So bietet es sich an, die sog. , zu denen sich entlassene Soldaten zusam- menschlossen, zur Aufrechterhaltung der Landjäger vor Helmstedt Ordnung in der jungen Republik einzuset- Foto: Stadtarchiv Helmstedt zen. General Maerckers Landjäger in Helmstedt

In Braunschweig wurde am 9. April 1919 ein mann wurde abgesetzt, vom Rathaus wehte Im Schutze eines Panzerautos erstürmten Generalstreik ausgerufen. Auf dem Schloss- die Rote Fahne. Die Masse der Landjäger Landjäger den Holzberg, dort befand sich im platz verlas August Merges die Forderungen wurde am Morgen des 14. April in Güter- Hotel „Stadt “ das Hauptquartier der Streikleitung: Alle Macht den Räten; zügen von aus bis Marienborn der Roten. Über den inzwischen eroberten Beseitigung der „Mörderregierung“ Ebert- transportiert. Bahnhof rückte Verstärkung an. Noske; Auflösung der Parlamente; Bewaff- nung der Arbeiterschaft; Anschluss an die Auf den Straßen rückten gepanzerte Fahr- Auch Rathaus und Marktplatz wurden russische Räterepublik. zeuge Richtung Helmstedt an, die Stadt besetzt. Das war das Ende des Kampfes in wurde umfahren und die Straßen nach Helmstedt. Im Hotel Pätzold richtete Major Eine Volkswehr besetzte die wichtigsten Braunschweig gesperrt. Die Fußtruppen Meyn, der Kommandeur der Kampfeinheit, Bahnhöfe im ehemaligen Herzogtum. In drangen durch den Lappwald fächerförmig sein Hauptquartier ein. Hier übergab der Braunschweig drohte ein Bürgerkrieg. Die in die Stadt ein. Major den aus Braunschweig angereisten Reichsregierung verhängte über das Land Volksbeauftragten das Ultimatum: Die Volks- Braunschweig den Belagerungszustand und Von der Stadtmauer her und auf dem wehr entwaffnen; die Waffen abgeben, die General Maercker wurde von Magdeburg Postberg wurden die Truppen beschossen. Stadt Braunschweig kampflos an General aus mit zehntausend Mann seines Land- Hauptmann Koch fiel beim Angriff auf eine Maercker übergeben. So geschah es! Nach jägerkorps in Marsch gesetzt. Gruppe mit Maschinengewehr, ein Bürger der Bildung einer neuen Regierung unter Dr. wurde tödlich verwundet. Eine Schwester Heinrich Jasper rückten die Maerckerschen Truppen der Braunschweiger Volkswehr von St. Marienberg wurde Opfer ihrer Neu- Truppen dann aus Braunschweig ab. und einer Volksmarine-Division hatten in gier. Auf dem Turm der Kirche wurde sie Helmstedt neben dem Bahnhof die Post und durch Geschosse der Maerckerschen das Rathaus besetzt. Bürgermeister Schöne- Truppen getötet.

Landjäger auf dem Holzberg Landjägernachschub vom Bahnhof Helmstedt Foto: Stadtarchiv Helmstedt Foto: Stadtarchiv Helmstedt

10 11 Karte der Amtsbezirke um 1900. Das Amt Calvörde liegt außerhalb des dargestellten Bereichs. Entnommen: Pohlendt, Heinz u.a., Der Landkreis Helmstedt. -Horn 1957 Wahlen und Wählerverhalten im Amtsbezirk Vorsfelde

Der Amtsbezirk Vorsfelde war sehr stark Wahlkämpfe aus. Das Reichstagswahlergeb- von der Landwirtschaft geprägt, mit vielen nis vom 14.9.1930 zeigte den Stimmenzu- kleinen Dörfern dünn besiedelt und verfügte wachs der NSDAP im Amtsbezirk Vorsfelde über eine protestantisch dominierte Bevölke- mit dem Endergebnis von 42,9 %. Weitere rung. Das ländlich-konservative Milieu spie- Ergebnisse: SPD 31,0 %, DVP 5,7 %, DNVP gelte sich auch in den Wahlergebnissen der 8,8 %. Andere Parteien hatten nur geringe Weimarer Republik wieder. In der Landtags- Stimmenanteile. Die Landbevölkerung nahm wahl am 22.12.1918 verfügten die bürger- vermehrt Abstand von den bürgerlichen lich-konservativen Parteien im Amtsbezirk Parteien. Den absoluten Durchbruch der Vorsfelde (LWV, DDP) mit mehr als 70 % der NSDAP im Landkreis Helmstedt brachte die Stimmen über eine klare Mehrheit gegen- Reichstagswahl am 31.7.1932. Während die über den Sozialisten (USPD, MSPD). NSDAP im Kreisdurchschnitt 48,9 % erhielt, gewann sie im Amtsbezirk Vorsfelde mit Bei der Reichstagswahl am 6.6.1920 erzielte 64,7 % fast zwei Drittel der Stimmen. Ne- die DVP als Erbin der Nationalliberalen mit ben der SPD mit 23,4 % sind nur noch die 48,0 % im Bezirk Vorsfelde ein besonders DNVP mit 6,1 % und die KPD mit 3,0 % der gutes Ergebnis. Vor allem Kleinbürgertum Stimmen zu nennen. Bei der Reichstagswahl und Bauernschaft fühlten sich von ihr an- am 05.03.1933 wurde der NSDAP ihre be- gesprochen. Die erstarkte USPD gewann herrschende Mehrheit sowohl im Landkreis 23,0 % und die MSPD 11,5 %. Weitere als auch im Amtsbezirk Vorsfelde bestätigt. Resultate: DDP 6,0 %, DNVP 8,3 %. Zwi- schen der Landtagswahl 1922 und der Reichstagswahl 1924 vollzog sich die Eini- Zeitungsanzeige der SPD. gung zwischen USPD und MSPD. Im Lande „Der Bote“ vom 15.11.1927 Braunschweig war die SPD äußerst links- orientiert und verhielt sich gegenüber den bürgerlichen Parteien sehr kritisch. Bei der Reichstagswahl am 4.5.1924 erzielten DNVP und DVP in den Amtsbezirken Vorsfelde und Calvörde ihre besten Ergebnisse. Anläss- lich der Landtagswahl am 27.11.1927 hatte sich die Parteienlandschaft zum Teil gravie- rend geändert. Neben dem Aufkommen der NSDAP mit 5,8 % im Amtsbezirk Vorsfelde errang u.a. die SPD ein Drittel der Stimmen. Die national-konservativen und bürgerlichen Kräfte hatten noch die Mehrheit der Stim- men. In den folgenden Wahlen setzte die NSDAP im Amtsbezirk Vorsfelde ihren Auf- wärtstrend fort. Eine Wirtschaftskrise ab der zweiten Hälfte des Jahres 1928 löste heftige

12 13 Alle Plakate: Stadtarchiv Braunschweig Wahlen – Wahlplakate

Nach der Niederlage im ersten Weltkrieg Vielmehr erfolgte eine drastische Verbildli- wurde am 9. November 1918 die Republik chung von Inhalten. Bei der Verunglimpfung ausgerufen. Kaiser Wilhelm II. und die Mo- der politischen Gegner war keine der damals narchen der deutschen Staaten mussten ab- agierenden Parteien zimperlich. Während danken, so auch Herzog Ernst August von der Weltwirtschaftskrise nach 1929 erfolgte Braunschweig. Die junge Republik wurde eine deutliche Radikalisierung. Die von Ge- von revolutionären Unruhen geschüttelt. Im walt gekennzeichneten Darstellungen der Land Braunschweig wurde eine sozialistische Plakate entsprachen den Wahlkämpfen, die Republik installiert. 1919 musste Deutsch- zum Ende der Weimarer Republik mit blu- land den Versailler Friedensvertrag unter- tigen Auseinandersetzungen ausgetragen zeichnen. Seine Bestimmungen waren eine wurden. große Bürde für die junge Demokratie.

Anfang 1922 erhielt der Freistaat Braun- schweig eine Verfassung. Mit dem Ende der Inflation von 1923 stabilisierten sich die Verhältnisse. Nach den Landtagswahlen 1924 etablierte sich erstmals eine bürgerli- che Koalition (der DVP, DNVP u.a.), während in Folge der Wahl von 1927 ein SPD-Kabi- nett gebildet wurde. Die Reichstags- und Landtagswahlen vom 14. September 1930 standen bereits unter dem Einfluss der gros- sen Weltwirtschaftskrise. Die konservativen Parteien gingen ein Bündnis mit den Natio- nalsozialisten ein. Von nun an führte der Weg direkt in die Hitlerdiktatur von 1933 bis 1945. Bezeichnend für die politische Land- schaft im Freistaat war der scharfe Gegen- satz zwischen dem bürgerlich-konservativen und dem linken Lager sowie eine Tendenz zur Radikalisierung.

Die Zeit der Weimarer Republik brachte den Durchbruch der Parteienwerbung mit Plakaten. Am Anfang standen zumeist ein- fach gestaltete Blätter mit Texten. Im Laufe der 1920er Jahre fanden immer häufiger grafische Darstellungen Eingang in die politische Propaganda. Selten wurden die Konterfeis führender Politiker abgebildet.

14 15 Auch bei Familienfeiern wurde, wie bei dieser Hochzeit 1931 in der Gaststätte zum Lindenhof in Thiede, mit Hakenkreuzfahnen geschmückt. Foto: Hartmut Alder Die Anfänge der NSDAP im Gebiet der heutigen Stadt Salzgitter

Die im gegenrevolutionären Klima nach der Übertraf das Ergebnis für diese Partei im Niederwerfung der Münchner Räterepublik Kreis Wolfenbüttel mit 15,4 Prozent das entstandene Nationalsozialistische Deut- Reichsergebnis von 6,5 Prozent schon um sche Arbeiterpartei (NSDAP) wurde durch mehr als das Doppelte, so ließen die im Amt Hitler bald über die Grenzen Bayerns hin- Salder erzielten 25,3 Prozent schon erahnen, aus bekannt. Im November 1922 wurde in dass sich hier in den Folgejahren ein Stütz- Wolfenbüttel die erste NSDAP-Ortsgruppe punkt der Nationalsozialisten bilden würde. im Freistaat Braunschweig gegründet. Ihre Zwischen 1930 und 1932 entwickelte sich Mitglieder erkannten die Notwendigkeit, die NSDAP dann zur stärksten politischen „die Bewegung aufs Land zu tragen“, so Kraft im Salzgittergebiet. Dies zeigte sich auch in die ehemaligen Gemeinden der heu- auch bei der Reichstagswahl im Juli 1932, tigen Stadt Salzgitter. Hier lebten die Men- bei der die Nationalsozialisten in den ehe- schen überwiegend von der Landwirtschaft, mals braunschweigischen Gemeinden 61,3 die sehr krisenanfällig geworden war, und Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten im Inflationsjahr 1923 wurden in Lesse und und in den ehemals preußischen Gemein- in Osterlinde erste Ortsgruppen der NSDAP den 43,8 Prozent, während der Reichs- im Salzgittergebiet gegründet. Weitere Er- durchschnitt bei 37,4 Prozent lag. Nach der folge erreichten die Nationalsozialisten bei Neuorganisation der NSDAP-Ortsgruppen im der Reichstagswahl im Mai 1924, an der sie Herbst 1932, die eine Mindeststärke von 50 nach dem gescheiterten Hitlerputsch vom Mitgliedern je Ortsgruppe vorsahen, gab es 9. November 1923 in München und dem im Salzgittergebiet zehn Ortsgruppen, die, Verbot der NSDAP als „Völkisch-Sozialer- bis auf Lesse, Mitglieder aus mehreren Orten Block“ teilnahmen. umfassten.

oben: Bericht des Landjägermeisters Bröker über eine öffentliche Versammlung der NSDAP in Lobmachtersen am 16. Juni 1929, an der etwa 900 Personen teilnahmen. Foto: StA Wf 127 Neu, Nr. 2632

unten: Vor einem SA-Aufmarsch durch Salzgitter(-Bad), 1932. Foto: HStA H, Hann310, A86

16 17 Flugblatt aus Bevern zum Volksentscheid über das Volksbegehren der KPD zwecks Auflösung des Laandtags am 15. November 1931 mit Bezug auf die Entlassungen in der Federzeichnung von Gotthard Eberlein Landeserziehungsanstalt Foto: STAWO 12 Neu 7 II Nr. 96-1 Foto: Staatsarchiv Wolfenbüttel: 141 N Nr. 35

NS-Personalpolitik in der einer Sekretärin gegenüber anhängig. Dies Landeserziehungsanstalt Bevern diente als Anknüpfungspunkt, Eberleins Zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen Entlassung herbeizuführen. Sein Nachfolger, ist eine Regierung auf die Mitwirkung der Direktor Milzer, gehörte zur DNVP und ver- Verwaltungen angewiesen. Als nach der folgte das ihm „vorgezeichnete Ziel“, in Landtagswahl am 14. September 1930 eine Bevern „Ordnung, Sauberkeit in sittlicher Koalition aus DNVP und NSDAP im Freistaat Beziehung und Ruhe“ zu gewährleisten. Braunschweig regierte, waren republikanisch Dies geschah u. a. durch bevorzugte Ein- gesinnte Beamte unerwünscht. Dies galt für stellung nationalsozialistischer Mitarbeiter. Sozialdemokraten ebenso wie für Mitglieder der DDP. Innen- und Kultusminister Franzen Sie verbreiteten ihr Gedankengut nicht nur (NSDAP) revidierte möglichst viele Stellen- in der Anstalt, sondern betätigten sich auch besetzungen der vergangenen Jahre. intensiv als Propagandisten für den National- sozialismus im Kreis Holzminden. So Bruno In der Landeserziehungsanstalt Bevern war Friedrich, ein „alter Kämpfer“ (Mitglieds- gegen den „linken“ Direktor der Anstalt, nummer 13.210, Ortsgruppe München): Gotthard Eberlein, bereits ein Dienststrafver- Seit 1923 war er glühender Verehrer Adolf fahren wegen „eigenartige[n] Benehmen[s]“ Hitlers, wurde nach mehreren Vorfällen aus Das Wilhelmstift in Bevern

dem preußischen Schuldienst entfernt und erhielt im Braunschweigischen eine Stelle an der Landeserziehungsanstalt. „Kaum war er drei Tage in Bevern, da hatte er nichts Eiligeres zu tun, als dort eine nationalsozi- alistische Versammlung aufzuziehen“, so berichtete die sozialdemokratische Tages- zeitung. 1932 war er „Gauredner“ und trat in dieser Funktion überregional als Wahl- kämpfer auf.

Erziehungsinspektor Heinz Wiegand kam etwa zeitgleich mit Direktor Milzer nach Bevern. Auch er verfolgte das erklärte Ziel, „die ‚Roten‘ auszurotten“. 1932 fungierte er als Ortsgruppenleiter in Bevern. Die SPD kritisierte, „Wiegand sei mehr auf dem Par- teibüro“ als bei seiner eigentlichen Arbeit. Durch Denunziationen politischer Gegner zeichnete sich „Erziehungspraktikant“ Paul Timmermann aus. Er brachte kritische An- sichten von Mitarbeitern zur Meldung, wo- bei er entsprechende Äußerungen teilweise offenbar gezielt provozierte. In mehreren Fällen lieferte er den Anstoß, missliebigen Angestellten ihren Arbeitsplatz zu nehmen.

Bruno Friedrich; Passbild, ca. 1931 Foto: Staatsarchiv Wolfenbüttel: 12 Neu 6 Nr. 282

18 19 Bekanntmachung der Ilseder Hütte Foto: Stadtarchiv Salzgitter Inflation und Notgeld der Ilseder Hütte

Unvorstellbare 78 Millionen Mark koste- das Maß voll“, titelte das Salzgittersche Am 16. Oktober 1923, die Fahrt von Salzgit- te am 24. September 1923 die Bahnfahrt Kreisblatt am 10. Oktober 1923 nach einem ter nach Braunschweig kostete inzwischen in der zweiten Klasse von Salzgitter nach Einbruch in ein Schuhgeschäft und rief die über zwei Milliarden Mark, beschloss das Braunschweig. Ursache für den galoppie- Einwohner dazu auf, einen „nächtlichen Kabinett die Ausgabe eines neuen Zahlungs- renden Währungsverfall war die ständige Selbstschutz“ zu gründen. Zwei Tage spä- mittels. Doch allein der Beschluss führte Erhöhung der Geldmenge seit Beginn des ter kam es auf dem Bohlweg in Salzgitter noch zu keiner Verbesserung der Lage. Ende Ersten Weltkrieges. Am 4. August 1914 hat- zu ersten Ausschreitungen. Eine empörte Oktober 1923 gab die Ilseder Hütte „durch te die Regierung die gesetzliche Notenein- Menschenmenge verschaffte sich Zutritt zu die Zahlungsmittelnot gezwungen“ erneut lösungspflicht der Reichsbank in Metallgeld einem Lagerraum der Lebensmittelgroß- Notgeld heraus. Erst die Einführung der Ren- bzw. Gold aufgehoben, gleichzeitig wurden handlung Hammer & Böttcher und entwen- tenmark am 15. November 1923 sorgte für die staatlichen Möglichkeiten zur Schulden- dete Lebensmittel in großem Stil. eine allmähliche Stabilisierung der Währung, aufnahme und der Vermehrung der Geld- einen Aufschwung der Wirtschaft und eine menge erweitert. Die Finanzhilfe für die zum Normalisierung des Alltags. passiven Widerstand („Ruhrkampf“) gegen die Besetzung durch französische und bel- gische Truppen aufgerufene Bevölkerung des Ruhrgebietes war 1923 schließlich der Auslöser zur Hyperinflation, während der die Nachfrage nach Banknoten nicht mehr be- friedigt werden konnte. Das Drucken von Notgeld war für Städte, Banken und Be- triebe zur staatlich geduldeten Alternative geworden.

Am 11. August 1923 gab die Direktion der Ilseder Hütte per Annonce im Salzgitter- schen Kreisblatt bekannt, dass „zu Lohn- zwecken für unsere Grube Hannoversche Treue 500.000- und 100.000-Markscheine“ in Umlauf gegeben werden. In einer wei- teren Bekanntmachung am 31. August 1923 bat die Direktion darum, auch noch im September 1923 das Notgeld als Zahlungs- mittel zu akzeptieren.

Während es in den ländlichen Gebieten im Vergleich zu den Ballungsräumen zunächst noch relativ ruhig geblieben war, mehrten sich im Herbst 1923 auch hier Proteste und linke und rechte Seite: Geldscheine Einbrüche, was zu einer weiteren Verunsi- und Geldstücke aus den Jahren 1922/23 cherung der Bevölkerung beitrug. „Jetzt ist Fotos: Deutsche Bundesbank

20 21 Die Entstehung und Entwicklung Salzgit- ter-Bads wurde bis in das 19. Jahrhundert in erster Linie durch das Salz bestimmt. Archäologische Grabungen bestätigen eine Salzgewinnung schon vor mehr als 1000 Jahren, im Jahre 1125 wurde die Saline erst- mals urkundlich erwähnt. Die Solequellen lagen am Schnittpunkt der Gemarkungen der Dörfer Gitter, Kniestedt und Vepstedt, deren Bewohner schon seit dem Frühmittel- alter am Warnesumpf die Salzgewinnung betrieben. Im 12./13. Jahrhundert errichte- ten sie in der Nähe der Salzbrunnen eine befestigte Siedlung – das spätere Salzgitter.

Nach mehr als 1000 Jahren wechselvoller Geschichte wurde 1926 in Salzgitter die Salzerzeugung in der Saline Liebenhalle endgültig eingestellt. Schon 1913 waren der alte Salinenbohrturm, ein Wahrzeichen des Ortes, und jahrhundertealte Anlagen in der Saline einem Brand zum Opfer gefallen. Es wurden jedoch in kurzer Zeit neue Gebäude errichtet und die Saline 1915 wieder in Be- trieb genommen. Doch schon nach wenigen Jahren wurde die Saline an eine Gesellschaft verkauft, 1926 kam es nach einem Konkurs zur Schließung und zur Versteigerung.

oben: Der Salinenbezirk im Herzen der Stadt Foto: Medienzentrum Stadt Salzgitter unten: Werbung für das Solbad Foto: Medienzentrum Stadt Salzgitter 1926: Das Ende der Salzerzeugung in Salzgitter

Schon 1825 wurde die Sole auch zu Heil- zwecken verwendet, ab 1879 etablierte sich neben der Salzgewinnung der Kurbetrieb. Nach der Schließung der Saline gelang es dem Flecken, das 1911 neu errichtete Bade- haus zu erwerben, einige Jahre später den Gesamtkomplex. Der früher sichtbar abge- grenzte Salinenbezirk öffnete sich allmäh- lich, der Gutsbezirk Liebenhalle wurde nach Salzgitter eingemeindet.

Die Zahl der Badenden und der Kurgäste stieg merklich an. „Bad Salzgitter am Harz“ erlebte zu Beginn der 1930er Jahre eine Blütezeit, die wohl nicht zuletzt auf um- fangreiche Werbemaßnahmen der Stadt zu- rückzuführen war. Es wurde eine städtische Badeverwaltung eingerichtet, ein Bade- und Verkehrsausschuss tagte, eine „Kur- und Badezeitung“ informierte die Gäste und es wurden überregionale Werbeanzeigen veröffentlicht. Die Stadt investierte und verbesserte die bade- und heiztechnischen Anlagen im Kurhaus. Mit dem Beginn des Aufbaus der Reichswerke im Salzgitterge- biet ging jedoch der Kurbetrieb zurück und ruhte während des Zweiten Weltkrieges ganz. Schon 1946 konnte in Salzgitter wie- der gekurt werden. Heute ist Salzgitter-Bad ein staatlich anerkannter Ort mit Solekurbe- trieb, noch immer wird die Sole im früheren Salinenbezirk, dem heutigen Rosengarten, gefördert und zum Thermalsolbad am Greif hinaufgeführt.

22 23 Blechwarenfabrik Fritz Züchner Seesener Blechwarenfabrik Foto: Museum Seesen Foto: Museum Seesen

Heinrich Züchner und sein Sohn Rudolf Überkapazitäten, fehlendes Kapital und die arbeiteten als „Konservierende Klempner“. einsetzende Inflation führten im Mai 1926 Sie leisteten in Deutschland Pionierarbeit auf zur Umwandlung der Firma in die „Seesener dem Gebiet der Konservenfertigung. Der ei- Blechwarenfabrik AG“. Im Juni übernahm gentliche Aufschwung der Seesener Blechwa- dann Schmalbach das neugegründete Un- renindustrie begann 1907 mit der Gründung ternehmen. Bereits am 1. Juli gründete Fritz der „Seesener Blechwarenfabrik Fritz Züch- Züchner, „der Jüngere“, zusammen mit seiner ner“ durch Rudolfs Sohn Fritz Züchner, „der Ehefrau Irma die „Blechwarenfabrik Fritz Züch- Ältere“. Die Firma entwickelte sich rasch und ner“, die sich zum bedeutendsten Familien- war vielfältig aktiv. Der Erste Weltkrieg führte unternehmen in der Verpackungsindustrie zu erheblichen Geschäftsvergrößerungen. entwickeln sollte. Die Seesener Blechwarenindustrie

Eine Quadriga in Seesen Die Seesener Figurengruppe war die dritte Version einer von Ernst Rietschel (1804– 1861) für das Braunschweiger Schloss ent- worfenen Quadriga. Sie entstand 1893 für die Chicagoer Weltausstellung. Fritz Züchner der Ältere kaufte sie später, um damit nach dem Ersten Weltkrieg einen Triumphbogen für das siegreiche deutsche Heer zu schmücken.

Aber, es kam ja anders. Nun hatte er vor, die Quadriga auf das neue Haus seines Sohnes Fritz und dessen Frau Irma zu setzen. Das Paar konnte die Aktion zunächst verhindern. Doch als die jungen Züchners auf Reisen waren, ließ Fritz der Ältere die Quadriga auf das Dach des Hauses heben. Erbost verlangte das Ehepaar die Entfernung der Quadriga. Doch die De- montage wäre zu aufwändig gewesen und so steht sie noch heute auf der Züchnervilla. Die Seesener Quadriga ist die letzte existie- rende Ausführung nach Rietschels Entwurf. Nach ihrem Vorbild ist die heutige Quadriga auf dem Braunschweiger Schloss entstanden und auch für den Wiederaufbau der Quad- Quadriga auf Züchners Haus riga auf dem Brandenburger Tor in Berlin Foto: Museum Seesen stand sie Modell.

24 25 Ein Wolfenbütteler Fabrikant in seinem Cabriolet mit Chauffeur Foto: Wolfgang Lange

Der überwiegende Teil der Wolfenbütteler Beweis für den Anbruch eines neuen Zeital- stieg in die „Straßeneisenbahn“, um von ters in Sachen Mobilität war das Jahr 1924, der Herzogstadt ins benachbarte Braun- in dem sich die Zahl der Pkw um 40 Prozent schweig zu reisen. In der Hauptverkehrszeit erhöhte. Für viele Wolfenbütteler jedoch fuhr das Schienenfahrzeug alle 20 Minuten war die neue, kostspielige Technik ein Dorn vom Bahnhof Wolfenbüttel über Herzog- im Auge, vergleichbar mit der Einführung tor, Sternhaus, Klein Stöckheim, Melverode, der Eisenbahn rund 100 Jahre zuvor. Der Braunschweig-Augusttor bis zum Hagen- Wolfenbütteler Stadtverordnete der Deut- markt. 1928 zählte man knapp eine Million schen Volkspartei Studienrat Lampe klagte Fahrgäste, die die Straßenbahn (so titulierte 1927: „Ich bin kein Freund der Automobile, man diese später) in nur sechs Monaten die fahren uns unsere schönen Straßen benutzten. Jahrhundertelang waren Pferde- entzwei und wir können sie wieder zurecht kutschen das Fortbewegungsmittel Nummer machen“. eins gewesen. Nach dem ersten Weltkrieg eroberte nach und nach das Automobil die Offensichtlich hatten unsere Vorfahren Straßen der Lessingstadt und des Land- große Probleme bei der Beherrschung der kreises Wolfenbüttel. neuen Technik. In nur fünf Monaten zählte die Wolfenbütteler Polizei 30 Verkehrsun- Zwar weist die Statistik des Jahres 1921 im fälle, darunter 15 Sach-, drei Personenschä- gesamten Kreis Wolfenbüttel lediglich 77 den und sogar ein Todesopfer. Die Wolfen- Personenkraftwagen auf. Doch der beste bütteler Zeitung stürzte sich geradezu auf Kritisch beäugt: Der Aufstieg des Automobils

das Thema Auto. Auch die Produktion der damals nur wenige PS-starken Wagen am Fließband wurde kritisch beäugt. Ford setze Autos „wie Kaninchen in die Welt“, kritisier- te die WZ im September 1926. Die Presse erweckte den Eindruck, dass sich an fast jedem zweiten Tag ein Horror-Crash auf Wolfenbüttels Straßen ereigne. Minutiös wurde der Unfallhergang in der Berichter- stattung geschildert. Und: Immer häufiger kam es zu Geschwindigkeitskontrollen im Kreis Wolfenbüttel. Dabei war innerorts Ein Automobil der Marke Hanomag gerade einmal eine Geschwindigkeit von der Brüder Hagemann 25 Kilometer pro Stunde erlaubt. Foto: Wolfgang Lange

Die 20er Jahre waren jedoch nicht nur die Zeit des Autos: 669 Krafträder zählte man im Sommer 1928 in der Herzogstadt. Im sel- ben Jahr gründete sich ein Motorsportklub. Der Aufbruch in die Moderne eröffnete zudem neue Möglichkeiten des Geldverdie- nens. Der Wolfenbütteler Feilenfabrikant Karl Schmidt richtete eine private Autobus- linie ein, mit der die weit auseinanderlie- genden Stadtteile verbunden wurden. Über einen Antrag auf Errichtung einer ersten öffentlichen Tankstelle in der Lessingstadt diskutierten die Stadtverordneten 1930.

Die Zahl der Personenkraftwagen hatte sich von Sommer 1927 bis Sommer 1928 in Wolfenbüttel von 60 auf 496 erhöht. Und ein neues Phänomen trat auf: Der Verkehrs- stau. Zu Pfingsten 1929 kam es zu einem Stau am Herzogtor. Wochenend-Ausflügler verstopften Ende 1928 die steile Landstraße zwischen Bad Harzburg und Torfhaus. Ge- zählt wurden innerhalb von nur zwei Stun- den 268 Kraftfahrzeuge, 178 Motorräder und 580 Fahrräder, die sich den Berg herauf quälten, doch nur noch 34 Fuhrwerke.

26 27 Der erste Ökonomiehof. Der Gutsinspektor mit seinen auf den Feldern und in den Stallungen tätigen Arbeitern (1928).

Der Gutsbetrieb der Grafen von der flügels der Wolfsburg (heute: Städtische triebe. Bestandteil des westlich des Schlosses Schulenburg als größter Arbeitgeber Galerie). befindlichen Stall- und Wirtschaftsflügels der Region Wolfsburg (heute: Städtisches Museum) war das Wohn- Zu Mitte des 18. Jahrhunderts (1742/56) Zentrum der Gutsverwaltung war das haus der Familie des Kutschers, dem die übernahmen die Grafen von der Schulen- Rentamt, das sich über lange Zeit in der gräflichen Reit- und Kutschpferde ein- burg die Herrschaft Wolfsburg. In der Wei- alten Gerichtslaube (heute: Hochzeitsstu- schließlich der Geschirrkammer anvertraut marer Republik war zunächst Graf Werner be) befand und dann in ein neu errichtetes waren und der u. a. die in der Remise unter- (1895 – 1924) und dann sein ältester Sohn Backsteingebäude bei der Allerbrücke in gestellten Wagen zu Inspektionsfahrten vor- Graf Günther (1924 – 1941) Gutsherr. Ihr der Gutssiedlung vor dem Schloss verlegt bereitete. Arbeitszimmer, in dem Absprachen mit den wurde. Von hier aus führte der Rentmeister, höhergestellten Gutsverwaltern getroffen unterstützt von ungefähr 10 Mitarbeitern, Begab man sich über die Allerbrücke in die wurden, lag in der zweiten Etage des Süd- die Oberaufsicht über die gesamten Gutsbe- Gutssiedlung Alt-Wolfsburg, so sah man Der Gutsbetrieb der Grafen von der Schulenburg in Wolfsburg

linker Hand der Straße den als Bauhof be- Graf Gebhard Werner (*1722; †1788) hatte zeichneten Betriebshof. Ein Bauhofleiter bei seinen Besuchen in England die Zucht hatte die Aufsicht über zahlreiche Gewerke von Merinoschafen kennengelernt, die zu- (u. a. Maurer, Zimmermann, Maler, Dach- nächst weniger des Fleisches als ihrer feinen decker, Dreher, Schmied, Fass- und Kiepen- Wolle wegen gehalten wurden. Sie hatten macher sowie seit 1916 auch Elektriker = ihre Stallungen in der Vorburg, am nörd- 18 Pers.). Gab es an den Gutsgebäuden Re- lichen Rand des Dorfes Hesslingen, wo der paraturen, wurde etwas verändert oder gar Oberschafmeister mit seinen Mitarbeitern neu gebaut, dann kamen diese Handwerker (ca. 7 Pers.) wohnte. Südlich von Hesslingen zum Einsatz. Mit einem Büssing-LKW trans- lag die wasserbetriebene Schillermühle. portierte man schwere Lasten. Diese, kurz vor 1600 als Mahlmühle errich- tet, war bis 1862 verpachtet. Ab 1863 wur- In der benachbarten Oberförsterei wurden de sie um eine mit Dampfkraft betriebene alle jagd- und waldwirtschaftlichen Entschei- Sägemühle erweitert und der alte Mühlen- dungen getroffen. Revierförster in den Forst- betrieb modernisiert. Neben der Lohnmül- Im Schlosshof der Wolfsburg – das Haus- und und Jagdhäusern (u.a. Bistorf/Hehlingen, lerei für die Bauern der Umgebung wurde Küchenpersonal sowie die gräflichen Forstbe- Rothehof, Klieversberg/Ehrarer Holz, Bock- jetzt auch Handelsmüllerei in Eigenregie amten (1928). ling, Brome, Kaiserwinkel/Heidau, Neumühle) betrieben. Unter einem Mühleninspektor hatten diese Bestimmungen umzusetzen (17 arbeiteten ein Sägewerksleiter und ein Pers.). Der von einem Gutsinspektor geführte Müllermeister mit etwa einem Dutzend Mit- erste Ökonomiehof, der aus dem noch erhal- arbeitern. Unter Leitung eines Fischmeisters tenen Ackerpferdestall und Kuhställen sowie stand der gutsherrliche Fischereibetrieb Futter- und Getreidespeichern bestand, war (10 Pers.). der Zentralhof der Landwirtschaft (86 Pers). Pflüge und Erntewagen wurden hier bereit- Zählt man die Schlossgärtnerei, geführt gestellt. Dort waren auch die Familie des von einem Obergärtner, und auch noch das „Schweizers“ und seine Stallknechte sowie Haus- und Küchenpersonal des Schlosses Hirten (9 Pers.) tätig. Dieser Melkmeister inklusive des Schlossdieners dazu (über 10 betrieb nach alter eidgenössischer Traditi- Pers.), so arbeiteten für die Grafen in der on die Molkerei einschließlich der Käseher- Weimarer Zeit rund 200 Personen in den stellung. Die Hirtenjungen wurden auch zur Gutsbetrieben Wolfsburgs. Da auch noch Hütung von Schweinen eingesetzt, die auf die Rittergüter Bistorf (bei Königslutter) und dem „Schweinehof“ (zweiten Ökonomiehof) Brome sowie in der Altmark befindlicher Der Bauhof – Betriebshof der für die Guts- untergebracht waren. Streubesitz zur Herrschaft Wolfsburg ge- wirtschaft benötigten Gewerke (1928). hörte, standen damals bei den Grafen von In der Schmiede, der Feuergefahr wegen an der Schulenburg-Wolfsburg insgesamt um das nördliche Ende des Gutsbezirkes gelegt, die 300 Personen in Lohn und Brot. war der Schmiedemeister für Hufbeschlag, Pflug- und Wagenbau sowie Reparatur land- Fotos: Gräflich von der Schulenburgisches wirtschaftlicher Maschinen und Geräte ver- Schlossarchiv Wolfsburg, Rittergut Nord- antwortlich (8 Pers.). steimke

28 29 Bei einem Unwetter 1926 umgestürztes Seilbahngerüst Foto: Archiv Lengede

Daten des Berges: Höhe 156,6 m ü.N.N. 65 m über Umgebung ca. 375 m in N-S ca. 240 m in W-O

Christusdarstellung in der Apsis. (Foto: Dr. Norbert Funke) Der Seilbahnberg in Lengede

Wenn man Lengede nach Osten in Rich- be Sophienglück-Mathilde) und danach bis nach unten, nachdem sie oben durch eine tung Vallstedt verlässt, kommt man in einer 1977 zusätzlich im Tiefbau. Im Tagebaube- Vorrichtung gekippt worden sind. Immer sonst ebenen Landschaft plötzlich an einem trieb lag naturgemäß Abraumerde über den höher wurde die Abraumhalde durch die Berg vorbei. Es ist der Seilbahnberg, auch Erzschichten, die erst weggeschafft werden aufgeschüttete Erde. Wie ein Kegel mit einer allgemein Lengeder Berg genannt. In Bo- musste, um das Erz fördern zu können. Den langen Seite ragte der Berg aus der ebenen denstedt wird er aber als Bodenstedter Berg Abraum hat man an tiefer gelegenen feuch- Landschaft hervor und galt bald als Wahrzei- bezeichnet, weil er bei seiner Entstehung ten Stellen in der Lengeder Feldmark und an chen von Lengede, weil er von weit her zu (1917 –1927) als Abraumhalde in der Feld- ausgeerzten Stellen im Tagebau verschüt- erkennen war. Im März 1926 wurde durch mark von Bodenstedt aufgeschüttet wurde. tet. 1917 waren diese Möglichkeiten der einen orkanartigen Sturm die gesamte Seil- Lengeder Erde (Landkreis Peine) wurde dort Abraumbeseitigung ausgeschöpft. Es wurde bahn mit dem dazugehörigen Gerüst umge- im Landkreis Braunschweig aufgehaldet. eine Drahtseilbahn gebaut, die den Abraum weht und wieder aufgebaut. Das Bild links Im Ortswappen von Bodenstedt ist der Seil- zu einem Berg aufschüttete. Das Abwurfge- zeigt die umgewehte Seilbahn mit Gerüst bahnberg sogar dargestellt. Bei der Bildung rüst sollte einen Schüttkegel von 90 Meter am Berg. Etwa im Mai 1927 wurde die Ab- der Einheitsgemeinde Lengede 1972 wurde Höhe ermöglichen. lagerung der Abraumerde eingestellt, weil das Gebiet des Berges Lengede zugeschla- wieder in den Tagebauen genügend ausge- gen und damit der Berg die höchste Erhe- Von dieser „Seilbahn“ hat der Berg seinen erzte Flächen zur Verfüllung vorhanden wa- bung im Landkreis Peine. Namen erhalten. Die Kipploren der Seilbahn ren. Die Drahtseilbahn wurde abgebaut und wurden im Tagebau Mathilde (Lengede) zur Verfestigung der Berghänge im unteren Der Seilbahnberg ist ein gutes Beispiel dafür, gefüllt, zum Tagebaurand und zur Antriebs- Bereich wurden auf allen Seiten und um wie der Mensch die Landschaft verändert station gezogen und dann ging es über den den Berg Bepflanzung vorgenommen, eine hat. 1872 hat die Ilseder Hütte die Eisenerz- Vallstedter Weg hinweg in die Höhe. Die bunte Mischung von Büschen und Bäumen. felder von Bodenstedt und Lengede gekauft Antriebsstation der Seilbahn war gegenüber Kinder nutzten Berg und Park auch gern als und damit begonnen, Eisenerz zu fördern, dem Berg auf der Südseite des Vallstedter Spielplatz. Bei klarem Wetter hat man von das im Hochofenwerk Ilsede verhüttet wur- Weges. Auf der einen Seite gingen die mit der Kuppe des Berges eine herrliche Aus- de. Bis zum 1. Weltkrieg wurde das Eisenerz Abraumerde gefüllten Kipploren nach oben, sicht bis zum Brocken und in alle Himmels- ausschließlich in Tagebauen gewonnen (Gru- auf der anderen Seite kamen sie wieder leer richtungen.

links: Gerüst für Seilbahn mit Kipploren zur Auf- schüttung einer Abraumhalde Anfang 1917 Foto: Archiv Lengede

rechts: Kinder spielen im Park am Abraumberg, um 1930 Foto: Irmgard Stache

30 31 Aufruf zu Protestversammlung wegen Kindergottesdienst 1918 rechte Seite: Evangelischer Landesverband Erhalt des Buß- und Bettages, Blankenburg (Braunschweig St. Martini) für die weibliche Jugend Braunschweigs, (um 1921) Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 6560 Freizeit in Bad Harzburg 1921 Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, Pfarrarchiv Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 6952 Blankenburg St. Bartholomäus 48 Landesbischof Alexander Bernewitz Brautpaar Else Kramme und Walter Horney, (1863 – 1935) Lehrer in Abbenrode, 25.06.1924 Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 3038 Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 7308 Die Braunschweiger Landeskirche

Mit der Abdankung des Herzogs verlor die sowie einen schulischen Religionsunterricht. mus öffnete. Einen Anknüpfungspunkt bot Landeskirche ihr Oberhaupt, am 21. Novem- Der braunschweigische Staat griff in Letz- für Landesbischof Alexander Bernewitz, seit ber 1918 entzog der Arbeiter- und Soldaten- teren dennoch ein und schaffte Ende 1921 1923 erster leitender Geistlicher der Landes- rat ihr mit der Volksschulaufsicht den letzten den Buß- und Bettag vorübergehend ab. kirche, vor allem die Abwehr atheistischer Einfluss auf den Erziehungssektor. linker Kräfte. Neben der Einführung eines Gegen den Entzug staatlicher Zahlungen Kirchenoberhauptes erforderte die landes- Die bislang privilegierte Staatskirche sah für ihre Bauten und ihr Personal hatte die kirchliche Eigenständigkeit den Entwurf nun ihrer Loslösung vom Staat entgegen; Landeskirche unter den wechselnden Regie- einer Kirchenverfassung. eine unsichere Situation, die Vertreter einer rungen bis 1930 erheblich zu kämpfen. In volkskirchlich orientierten Zukunft zugleich ihrer Not suchte sie vielfach die gerichtliche 1922 verabschiedet, ordnete sie die künf- als Chance begriffen. Klärung, verschärfte damit aber den Ge- tigen demokratisch-synodalen Verwaltungs- gensatz zur parlamentarisch-demokratisch strukturen der Landeskirche. Diese blieb, Die Weimarer Verfassung vom 14. August verfassten Staatsmacht. Bleibende Konflikt- wenn auch die Einführung einer Landeskir- 1919 verfügte die Trennung von Kirche und felder und die nur mühsame Integration chensteuer eine zunehmende Kirchenferne Staat und die Religionsfreiheit der Bürger. der Kirche, welche sich schwertat, die neue verstärkte, durch ihre diakonischen Ange- Sie garantierte den Kirchen Selbstverwal- weltanschauliche Wahlfreiheit zu akzep- bote, ihre volkskirchlich und gruppenbezo- tung, Besteuerung ihrer Mitglieder und Er- tieren, trugen gegen Ende der Weimarer gen ausgerichtete Gemeindearbeit und ihre satz für bisherige staatliche Leistungen und Republik dazu bei, dass sich ein beachtlicher Amtshandlungen in der Weimarer Zeit ein bestätigte den Sonn- und Feiertagsschutz Teil der Pfarrerschaft dem Nationalsozialis- bedeutender gesellschaftlicher Faktor.

32 33 Grafik Schulsystem Karl-Heinz Löffelsend

Der Weimarer Schulkompromiss 1919 beschloss man den „Weimarer Schulkompromiss“, der die Abschaffung der kirchlichen Schulaufsicht und die Ein- richtung einer vierjährigen Grundschule für alle Kinder vorsah. Die weitere Gestaltung des Schulwesens bestimmten Landesschul- Beide Zeichnungen: gesetze. Bildungsplankritik Quelle: Braunschweiger Schulpolitik im Lande Braunschweig Landeszeitung 1930 In Braunschweig wurde die Kirchliche Schul- Adolf O. Koeppen aufsicht bereits am 22.11.1918 abgeschafft. Rechtlich waren die Volksschulen des Landes evangelische Bekenntnisschulen, jedoch ohne Religion als Pflichtfach. Vermehrt setzten sich Eltern (u.a. im Weltlichen Eltern- bund) für die Einrichtung von sog. Sammel- klassen ein, in denen statt Religion lebens- kundlicher Unterricht erteilt wurde.

Einrichtung von Sammelklassen und Weltlichen Schulen Zu Ostern 1926 nahmen drei weltliche Schulen (Maschstraße, Ottmerstraße, Weltliche Schulen in Braunschweig

Ottmerschule 1958, 1959 abgerissen Schule Bültenwega Schule Bürgerstraße Foto: städtische Bildstelle Foto: Karl-Heinz Löffelsend Foto: Karl-Heinz Löffelsend

Bürgerstraße) den Betrieb auf, vier weitere die wesentliche Impulse aus der Arbeiter- Klassen waren an die Schule Comenius- bewegung umsetzten und Reformansätze straße ausgelagert, 1927 kam als vierte die von Adolf Reichwein, Georg Kerschensteiner Schule Bültenweg hinzu. Die Schülerzahlen oder Hugo Gaudig übernahmen. an den weltlichen Schulen stiegen von 2053 (1926) auf 2945 (1930). Gleichzeitig sank Abbau der Sammelklassen und die Schülerzahl an den evangelischen der weltlichen Schulen Schulen von 8247 auf 7977. Nach 1931 baute die bürgerlich-nationalso- zialistische Koalition die weltlichen Schulen Die weltlichen Schulen waren ab. Als Begründung gab man an, dass die Reformschulen in den weltlichen Schulen betriebene „Pä- Die weltlichen Schulen waren eine Gemein- dagogik vom Kinde aus“ dazu führe, dass schaft von Lehrern, Kindern und Eltern. Die dadurch die Kulturtechniken vernachlässigt Kinder sollten zu freien, zuverlässigen, nicht würden und es zu einem katastrophalen autoritätsgläubigen und gerecht denkenden Bildungsstand käme. Persönlichkeiten heranreifen. Das drückte Schule Comeniusstraße sich in der praktischen Schularbeit u.a. so Foto: Karl-Heinz Löffelsend aus: Gruppenarbeit, praktisch keine Prügel- strafe, demokratische und schülerbezogene Unterrichtsmethoden, audiovisuelle Lehrmit- tel, musische Erziehung und Arbeitsunter- richt und intensive Mitarbeit der Eltern im Schulleben. Weltliche Schulen waren dem- nach Gemeinschafts- und Reformschulen,

34 35 Töchterheim Bergemann Blankenburg Foto: Heimatsammlung der Stadt Blankenburg

rechte Seite: Reform-Erziehungsheim Kiepert in der Rübeländere Str. 3 Foto: Heimatsammlung der Stadt Blankenburg Mädchenpensionate in Blankenburg

Im Jahre 1875 begründete in Blankenburg und Frauenbildung. Bereits 1888/89 exis- der Einrichtungen verfügten über eigene im Harz die 25-jährige Volksschullehrerin tierten vier Töchterpensionate in der Stadt Bildungsangebote, die über Hauswirtschaft, Elisabeth Kühne eine „Lehr- und Erziehungs- Blankenburg, deren Schulen seit Anfang sportliche und kulturelle Lehrgänge hinaus- anstalt für Töchter höherer Stände“. Schon des Jahrhunderts einen guten pädagogi- reichten. Eines der größten Pensionate war nach drei Jahren konnte am schönsten, schen Ruf besaßen. In Blankenburg gab es das Heim von Meta Kiepert. höchstgelegenen Ort der Stadt ein eigenes schon früh mehrere Musikschulen und ein zweckmäßig ausgestattetes Haus errichtet Lyzeum. Beworben wurde es als Reformanstalt auf werden. Auf Jahre hinaus waren stets alle hygienischer Grundlage für Töchter gebil- Plätze für Töchter der angesehensten Fami- Der Besuch des Gymnasiums der Stadt durch deter Stände. Es bot Heim und Unterricht lien vorbelegt. Die Zahl von 25 Schülerinnen Mädchen war bereits vor dem I. Weltkrieg für Schulpflichtige. 6 Lehrkräfte, 2 Villen, wurde grundsätzlich nicht überschritten. möglich. Die Zahl der Töchterpensionate, eine Turnhalle und Liegeterrasse gehörten Die Aufnahme erfolgte vom 12. und nur die eine traditionelle Ausbildung mit dem zu der Ausstattung des Pensionats. ausnahmsweise vom 10. Lebensjahr an. Ziel der Heranbildung guter Hausfrauen und Der Unterricht fand im Töchterheim statt. Mütter anboten, stieg in den zwanziger Jah- Zusätzlich wurden hauswirtschaftliche, ren weiter an. wissenschaftliche und künstlerische Kurse Einen besonderen Schwerpunkt im Lehrplan für Erwachsene angeboten. Die Nutzung des bildeten hier z.B. Fremdsprachen. Zum Teil waren es nun auch Witwen aus bestehenden Lyzeums für die Ausbildung begüterten Schichten, die angesichts der der Mädchen aus den Pensionaten war aber Die Leiterin des Heimes engagierte sich spä- wirtschaftlichen Lage ihre ererbten Villen auch möglich. ter aktiv in der Bewegung für Frauenrechte in Heime umwandelten. Aber nur wenige 1928 gab es in Blankenburg 15 solcher „Heime für Töchter gebildeter Stände“. In den Einrichtungen wurden Töchter zah- lungskräftiger Eltern erzogen und ausgebil- det. In seinem autobiografischen Roman „Frührot“ erwähnte der in den 20er Jahren bekannte Schriftsteller August Winnig seine Erfahrungen mit den „Pensionsmädeln“. Er schrieb: „Es wurde manche heimliche, süße, verbotene Stunde geschenkt, bei der ein artiger Kuss ein seltenes Festtags- geschenk war.“

Die Erziehung erfolgte mit aus heutiger Sicht fast klösterlicher Strenge. Die Mädchen aus den Pensionaten, die regelmäßig zum Ein- kauf in die Stadt kamen, prägten das Bild mit, welches die Geschäfte in der Innenstadt boten und damit auch die Erinnerung vieler Blankenburger an jene Jahre.

36 37 Technikum Wolfenbüttel am Rosenwall Foto: Museum Schloss Wolfenbüttel

Bau der Ingenieurschule an der Salzdahlumer Straße Foto: Museum Schloss Wolfenbüttel Die Ingenieurschule in Wolfenbüttel

Ingenieurschule Salzdahlumer Straße Foto: Museum Schloss Wolfenbüttel

In der Stadt, in der Julius Elster und Hans 14, das Laborgebäude lag in der Stobenstra- und der Übergang in die Trägerschaft des Geitel schon im Kaiserreich bahnbrechende ße 15. Auf rund 400 m² lernten und arbei- Landes Niedersachsen im Jahr 1949. Aus der Forschungen zur Radioaktivität und Atom- teten 1930 schon 125 Studenten und im Ingenieurschule wurde später die Ingenieur- energie gemacht hatten, öffnete mit Beginn gleichen Jahr wurden die ersten Ingenieure akademie, dann Teil der Fachhochschule und des Sommersemesters 1928 das „Technikum entlassen. Hier wurde privat studiert, aber schließlich die „Ostfalia – Hochschule für Wolfenbüttel, Höhere Technische Lehranstalt staatlich anerkannt geprüft. angewandte Wissenschaften“. Die Entwick- HTL für Maschinenbau und Elektrotechnik“ lung der Wissenschaftsinstitution Ostfalia ist seine Türen. Dipl.-Ing. Bernhard Harder war Die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre allerdings eine Erfolgsgeschichte, die ältere der Gründer des Technikums, er und sein drohte allerdings diese vielversprechende Wurzeln hat als in Wolfenbüttel. Schon seit Studienfreund Dr.-Ing. Fritz Massig waren Entwicklung zu beenden. 1936 beantragte 1853 wird in Suderburg und seit 1905 in die ersten Dozenten. Sie bestritten zunächst Bernhard Harder beim Braunschweigischen Braunschweig gebildet und ausgebildet, alle Lehrveranstaltungen für 30 Studenten Ministerium für Volksbildung daher die Ver- erst 23 Jahre später entstand der Studienort des Maschinenbaus und 20 Studenten im staatlichung des Privatunternehmens, die Wolfenbüttel. Heute hat die Ostfalia mehr Vorsemester. Das Studium dauerte fünf allerdings erst sechs Jahre später vollzogen als 10.000 Studenten, die in 70 Studiengän- Semester, die Semestergebühr betrug 195 wurde. Seit Mai 1942 existierte nun die gen an den vier Standorten Salzgitter, Suder- Reichsmark, hinzu kamen noch Laboratori- „Staatliche Ingenieurschule Wolfenbüttel”. burg, Wolfenbüttel und Wolfsburg lernen ums-, Einschreib-, Vor- und Hauptprüfungs- und arbeiten. gebühren. Das Hauptgebäude der privaten Der Schließung der Schule nach Kriegsende Bildungseinrichtung war das Haus Rosenwall folgte die Wiedereröffnung im Jahr 1946

38 39 Wolfenbüttels Ruf als Stadt der Schulen wurde schon weit vor dem 20. Jahrhundert begründet. Schon im Jahr 1543 wird die er- Van Deyk-Torte und Butter- ste Lateinschule für Knaben im Zusammen- creme-Dessert-Streifen hang mit der Christlichen Kirchenordnung Foto: Schule Lambrecht, für das Land Braunschweig-Wolfenbüttel Festschrift erwähnt. Die Schulordnung, die 1651 von Herzog August erlassen wurde, ist ebenfalls ein Beweis für die lange Bildungstradition.

Wolfenbüttel kann im Bereich Weiter- bildung, Ausbildung und akademischer Bildung auf eine große Vergangenheit zu- rückblicken. So gab es seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein Schulmeisterseminar, später Lehrerseminar, nach 1836 auch ein Predigerseminar zur Weiterbildung jun- ger Theologen. Und mit der Gründung der Schlossanstalt und dem Breymannschen In- stitut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts existierten sogar zwei Institute, in de- nen junge Frauen auf eine Erwerbstätigkeit im Erziehungswesen vorbereitet wurden. Berufsfördernd wirkten außerdem Fortbil- dungsschulen für Handwerkslehrlinge, junge Kaufleute und Landwirte.

Lehrerseminar (heute Schule Harztorwall) Foto: Museum Schloss Wolfenbüttel Wolfenbüttel – Stadt der Schulen

Das Jahr 1928 war mehr als ereignisreich für Erfolg, der auch nach dem Zweiten Welt- Bis zum Jahr 2004 wurde in der „Bundes- die Schulstadt Wolfenbüttel, zwei traditions- krieg fortgesetzt werden konnte. „Zentrum fachschule für das Konditorenhandwerk“ reiche Lehranstalten verschwanden aus der einer ästhetisch-geschmacklichen Revolu- das süße Handwerk gelehrt, dann musste Bildungslandschaft und zwei wegweisende, tion“, so wurde die international bekannte die Schule geschlossen werden. private Bildungseinrichtungen begannen Konditorenschule bezeichnet. Im Jahr 1948 ihre Arbeit. Nach 175 Jahren wurde das wurde sie als Ausbildungsstätte vom Deut- Wolfenbütteler Lehrerseminar geschlos- schen Konditorenbund übernommen. sen, die zunehmende Hochschulausbildung für Lehrer hatte endgültig diesen seminari- stischen Ausbildungsweg verdrängt. Auch die Samsonschule, jüdische Schule und In- ternat, hatte keine Zukunft mehr, nach 142 Konditorenschule am Neuen Weg, heute Schuljahren schloss sie ihre Pforten. Wirt- Konferenzzentrum des Klinikums Wolfenbüttel schaftliche Gründe waren ausschlaggebend Foto: Harry Hofmann, Museum Schloss für diese Entscheidung, das Stiftungskapital Wolfenbüttel war durch die Inflation entwertet und auch der Rückgang der Schülerzahlen machte die finanziellen Schwierigkeiten unüberwindbar.

Zunächst in der Lessingstraße, dann am Neuen Weg etablierte sich 1928 in Wolfen- büttel ein Bildungsinstitut der besonderen Art, die „Erste Privatschule für neue Kon- ditoreikunst“. Orientiert an den Ideen des Bauhauses wurde hier eine neue Formen- sprache aus Funktionalismus und Sachlich- keit im Bereich Backen gelehrt.

Ob Karamellblumen, Marzipanrosen oder Zuckerhutmeißelung, alle neuen Entwick- lungen in diesem süßen Fachgebiet fanden Aufnahme in den Wolfenbütteler Stunden- plan Bernhard Lambrechts, dem Gründer der Schule. Schnell verbreitete sich der gute Ruf dieser neuen Einrichtung. Kondi- toren aus dem In- und Ausland kamen nach Wolfenbüttel und absolvierten hier ihre Meisterlehrgänge. Bald betrug der Anteil der ausländischen Schüler um 10 %. Die „Moh- renkopffabrik” – so der Wolfenbütteler Name für diese Institution – war ein großer

40 41 Schüler der Tischlereifachschule in Blankenburg 1928 (Postkarte) Foto: Heimatsammlung der Stadt Blankenburg Fachschule für Tischler in Blankenburg

Ein Glücksfall für die Stadt Blankenburg im Die Studierenden konnten hier u.a. die 1935 äußerte das niedersächsische Tischler- Harz war es, dass Louis Friedrich Ferdinand Abschlüsse als Werkmeister, Zeichner oder handwerk den Wunsch der Verlegung der Reineking (1862 – 1945) seine 1887 in Det- Möbelgestalter und Innenarchitekt erwer- Einrichtung nach . Diesem wurde mold gegründete private Tischlereifachschu- ben. Auch zukünftige Bildhauer und Litho- entsprochen. So erfolgte am 1.4.1936 die le 1909 hierher verlegte. In eigenen großen graphen besuchten wegen des zeichne- Übernahme der Fachschule durch den Reichs- Schulgebäuden mit Werkstätten konnte er rischen Schwerpunktes in der Ausbildung innungsverband und die Stadt Hildesheim. hier mit 130 Schülern den Unterricht auf- die Anstalt. Die Aus- und Fortbildungslehr- Der Gründer und langjährige Direktor der nehmen. gänge dauerten sechs, zwölf oder vierund- Fachschule verstarb 1946 in Blankenburg. zwanzig Monate, je nach Ausbildungsziel. Bedingt durch den ersten Weltkrieg musste dieser aber schon kurze Zeit später für meh- Im Jahre 1929 hatte die Fachschule etwa rere Jahre eingestellt werden. 250 Schüler. 1934 erhielt sie den amtlichen Lehrauftrag als Reichsfachschule des deut- Nach dem Krieg erlebte die Schule in der schen Tischlergewerbes. zweiten Hälfte der 20er Jahre eine Blütezeit. Tischlereifachschule Nach Verfügung des Ministeriums für Volks- in Blankenburg (Postkarte) bildung in Braunschweig wurde sie nun ab Foto: Heimatsammlung der Stadt 1924 als „Staatlich anerkannte Fachschule Blankenburg für Tischlerei und Innenarchitektur, Tisch- lereifachschule Reineking“ bezeichnet. Als einziger Leiter einer privaten Berufs- fachschule im Land Braunschweig durfte Reineking in dieser Zeit den amtlichen Titel „Direktor“ führen.

Durch die solide Ausbildung und Veröffent- lichungen, die in der Fachwelt beachtet wur- den, erlangte die Bildungseinrichtung einen guten internationalen Ruf als zentrale Fach- schule des Tischlerhandwerks für Deutsch- land und die Schweiz. Ihre Studenten kamen aber auch aus Schweden, Dänemark, Öster- reich, der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Finnland, Frankreich, Brasilien und weiteren Ländern.

Zur Pflege der Kameradschaft unter den Schülern gründete man sogenannte „tech- nische Verbindungen“ wie zuerst die „Har- zianer“, die „T.V.T. Cimbria“(1925) und die Vereinigung „Borussia“ (1927).

42 43 Da das alte Schulgebäude von 1864 in Eschershausen nicht mehr den Anforde- rungen genügte, wurde ein Neubau ge- plant. Bedingt durch Geldmangel und Welt- wirtschaftskrise erfolgte erst 1930/31 dieser Bau eines neuen Schulgebäudes in Back- stein. Die Besonderheit dieses Gebäudes ist der Pavillonbau, verbunden mit einem repräsentativen multifunktionalen Hauptge- bäude. Im östlichen Pavillonbereich waren die Klassenzimmer der Mittelschule und im westlichen diejenigen der Volksschule. Ge- meinsame Nutzung war im Hauptgebäude bei der kombinierten Aula mit Turnhalle und den Fachräumen.

Nach dem Vorbild der Wilhelm-Raabe-Schu- le in Eschershausen wird auch in Delligsen ein Schulgebäude geplant und 1933 ein- geweiht.

Nach dem Baubeginn im August 1930 er- folgt am 20. September 1931 in Eschershau- Klassenraum sen die Einweihung der neuen städtischen Foto: Stadtarchiv Eschershausen Bürgerschule. Der Kostenvoranschlag von Luftaufnahme der Gesamtanlage 368000 RM wird an keiner Stelle überschrit- Foto: Stadtarchiv Eschershausen ten. Der Erbauer der Schule ist der Braun- schweiger Architekt Dipl.-Ing. J. M. Kerlé.

Wegen der hohen Kosten erfolgt der Schul- bau nicht als „Schulhochbau“ sondern als „Schulblockbau“, d.h. die Klassenzimmer sind ebenerdig. Es gibt keine Treppenhäuser und Schulkorridore bei den Klassenzimmer- blocks.

„Der Hauptbau soll auch Stätte der sozialen Fürsorge, der turnerischen und sportlichen Betätigung der Erwachsenen, sowie Sitz der Pausenhof allgemeinen Volksbildung sein.“ Foto: Stadtarchiv Eschershausen Wilhelm-Raabe-Schule in Eschershausen

Der Vierklassenblockbau erlaubt eine leichte Fundamentierung ohne Keller. Die Größe eines Klassenzimmers beträgt 6 x 9 Meter und davor ist ein Ankleideraum mit 6 x 3 Metern. Vor jeder Klasse ist eine Veranda, diese grenzt an den Innenhof. „Der große Gedanke der naturverbundenen Körper- und Geistesschule kann sich verwirklichen.“ – „Alle Räume atmen Sonne und Farben- freude …“

Am 8. September 1931 wird vor der neu erbauten Schule ein Denkmal für Wilhelm Raabe eingeweiht, nach dem die Schule ihren Namen erhält. Im zentralen Gebäu- de der Schule befindet sich die Turnhalle (zugleich Aula), die Zentralheizungsanlage, die Kochküche, die Hausmeisterwohnung, Räume für die Lehrer, den Arzt und Rektor sowie Fachräume für Zeichnen, Gesang, Nadelarbeit und einen öffentlichen Bade- raum.

Einweihung Raabedenkmal 8. Sept. 1931 Foto: Stadtarchiv Eschershausen

Der Grundriss zeigt das Hauptgebäude mit den beiden Klassenblöcken mit je vier Klassen, dem großen Innenhof mit sich anschließendem Schulgarten. Der Bauplatz kostete 70000 RM. Foto: Stadtarchiv Eschershausen

44 45 Eisenbahnplanungen Nach dem Bau der Bahnstrecke Braunschweig- Helmstedt wurde 1871 der sog. Ostbahnhof als Güterbahnhof eingerichtet. Der hier bereits 1870 vorgesehene Personen- und Durch- gangsbahnhof wurde erst am 1.10.1960 ein- geweiht. 1924 war mit dem Bau eines neuen Reichsbahnausbesserungswerkes am Lämm- chenteich begonnen worden. Das Werk wurde am 10. Mai 1927 eingeweiht.

Siedlung Lämmchenteich Bebelhof, Luftaufnahme von 1929 In den Jahren 1926 bis 1928 wurden 274 Foto: Städtischer Bilderdienst Wohnungen östlich der Borsigstraße errichtet. In der Eisenbahner-Siedlung Lämmchenteich bestand ein angebotener Wohnungstyp aus drei Wohnräumen, Küche, Speisekammer, Toilette, Bodenkammer und Keller. Der Miet- preis für die etwa 70 Quadratmeter Wohn- fläche betrug 25 Reichsmark im Monat ohne Nebenabgaben.

Luftaufnahme von 1932: Lämmerteich Aus- besserungswerk und Teile des Bebelhofs Foto: Stadtarchiv Braunschweig Neue Bauwerke und Siedlungen in Braunschweig-Bebelhof

Bebelhof, Luftaufnahme von 1978 Foto: Städtischer Bilderdienst

Der August-Bebel-Hof Ebenfalls südlich der Bahnanlagen entstand an der Salzdahlumer Straße zwischen 1929 und 1930 der August-Bebel-Hof. Nach der Landtagswahl 1927 stellte die Landesregie- rung unter Heinrich Jasper Geld für eines der größten Wohnungsbauvorhaben zur Verfügung. Die geplanten 658 Wohnungen (48 und 66 m2 Wohnfläche, Mietpreis 60 – 82 Reichsmark) sollten Bad und Toilette in der Wohnung, fließend Warmwasser und Entwicklung von 1930 bis heute Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach Zentralheizung erhalten. Die Siedlung Bebelhof stand von Beginn 1933 war der Bebelhof, der 1935 in Limbe- an in der Kritik der rechtsgerichteten Politi- ker Hof umbenannt wurde, ein begehrtes Der Architekt Friedrich R. Ostermeyer aus ker. Zeitungen berichteten ausführlich über Mietobjekt geworden. Während des II. Welt- Hamburg plante den Bebelhof mit Flachdä- bautechnische und ökonomische Schwie- krieges litten die in unmittelbarer Nähe chern und großzügigen Freiflächen, um eine rigkeiten. Die eigentlich avisierte Zielgruppe der Bahnanlagen befindlichen Wohnsied- optimale Sonnenbescheinung und Durchlüf- der in katastrophalen Wohnverhältnissen lungen unter den häufigen Luftangriffen. tung zu gewährleisten. der Innenstadt hausenden Arbeiterfami- Am Ende des Krieges waren mehr als 200 lien konnte sich die modernen, aber teuren Wohnungen zerstört. Der Wiederaufbau Seine an den Bauhausstil angelehnte Archi- Wohnungen nicht leisten. Daher zogen vor- ging nur langsam voran. Noch 1952 beklag- tektur sah auch eine Hebung des Wohnstan- wiegend besser verdienende Handwerker, ten die Mieter den trostlosen Zustand des dards vor. Das zentrale Waschhaus war mit Angestellte und Beamte ein. Im August Bebelhofes. modernen Wasch- und Trockenmaschinen, 1930 standen 260 Wohnungen leer, 1932 mit Heißmangel und Bügelapparaten sowie waren es noch 30 bis 80. Die hohen Miet- 1954 kaufte die städtische Nibelungen einem Kinderraum ausgestattet. Eine Laden- ausfälle und hohe Baukosten führten dazu, Wohnbaugesellschaft den Komplex, 1956 zeile mit Einzelhandelsgeschäften versorgte dass der Bauträger Ende 1931 zahlungs- begannen umfangreiche Sanierungsarbeiten. die Mieter mit dem täglichen Bedarf, ein unfähig war. Der braunschweigische Staat Die Häuser erhielten ein 4. Stockwerk und Kindertagesheim eröffnete 1930. Aus Ko- übernahm die Wohnsiedlung. Satteldächer. Die Bezeichnung Bebelhof gilt stengründen wurden schließlich nur 450 inzwischen ebenso für die ehemalige Eisen- Wohnungen gebaut. bahner-Siedlung Lämmchenteich.

46 47 Mit dem Wohnungsbau kann noch nicht in der ersten Hälfte der 1920er Jahre begon- nen werden, es müssen erst die politischen und finanziellen turbulenten Jahre überwun- den werden. 1926 gründen die Stadt Braun- schweig und der Freistaat Braunschweig die Nibelungen-Wohnbaugesellschaft (Niwobau) mit dem Ziel, mehrgeschossige Häuser für Wohnungen zu günstigen Mietpreisen zu bauen. Das Siegfriedviertel entsteht auf dem Ärkeröder Feld. Es werden zwei- bis vierge- schossige Wohnblöcke gebaut, die überwie- gend mit einem Satteldach versehen sind.

Übersichtsplan 1927 Das Gestaltungskonzept basiert auf den Quelle: Braunschweig Entwürfen für die Braunschweiger „Garten- – Dari Verlag 1935 stadt“ von 1919 durch den Prof. Hermann Flesche, der sich überwiegend an dem Stadt- erweiterungskonzept Theodor Goeckes von 1917 orientiert. Diese gehen auf die Gedan- ken des englischen Gartenstadtplaners Ray- mond Unwin zurück.

Der erste Teil des Siegfriedviertels um den Burgundenplatz wird völlig symmetrisch in

Luftbild aus den 30er Jahren Foto: Stadtarchiv Braunschweig Neue Bauwerke und Siedlungen in Braunschweig-Siegfriedviertel

den Jahren 1926 bis 1931 angelegt. Halb- kreisförmig umschließt der Walkürenring den größten Teil der Siedlung. Sie ist so kon- zipiert, dass sie in alle Himmelsrichtungen erweitert werden kann, was später auch geschieht.

Siegmundstraße und Sieglindstraße führen radial auf den Burgundenplatz zu. Ein Denk- mal mit der Figur des Siegfried weiht man 1930 im südlichen Teil des Platzes ein. Das Denkmal wird 1942/43 abgebaut und einge- schmolzen, 1988 nachgegossen und wieder aufgestellt. Blick in die Siegfried- Der zweite Teil des Siegfriedviertels entsteht straße mit Pferde- durch Erweiterung nach Norden, Süden und fuhrwerk, 30er Jahre Westen in den Jahren 1933 bis 1941. Über- Foto: Stadtarchiv all befinden sich Grünanlagen zwischen den Braunschweig Häusern und den Straßen, ebenfalls auf der Rückseite der Gebäude. Die Siegfriedstraße ist mit den breitesten Freiflächen ausgestat- tet. Die Anbindung an die Innenstadt erfolgt über die Hamburger Straße bzw. über den Mittelweg und den Bienroder Weg. Von An- fang an ist die Siedlung über eine Straßen- bahnlinie gut zu erreichen, später kommt eine Buslinie auf dem Bienroder Weg hinzu. Die Geschäfte sind ursprünglich überwie- gend an der Siegfriedstraße, dem Burgun- denplatz und später am Nibelungenplatz angesiedelt. Die Kirche St. Georg entsteht erst im zweiten Bauabschnitt des Siegfried- viertels in der Mitte der Donnerburgsiedlung Blick in die während der NS-Zeit 1935. Siegfriedstraße mit Straßenbahn 1938 erfolgt die Eröffnung einer Volksschule Foto: Braunschweig – am nördlichen Rande des Siegfriedviertels. Dari Verlag 1935 Erst 1957 entsteht eine weitere Volksschule in der Isoldestraße am südwestlichen Rande.

48 49 Architekt Anton van Norden (1879 – 1955) Foto: Stadtarchiv Peine

Anton van Norden trat 1909 eine Stellung am städtischen Hochbauamt in Peine an. Zuvor hatte er nach einer Lehrzeit als Zim- mermann und Maurer ein Studium an der Königlichen Baugewerkeschule in Köln ab- solviert und erste Erfahrungen als Architekt und Bauleiter gesammelt.

1910 übernahm er kommissarisch das Amt des Stadtbaurats, doch bereits ein Jahr spä- ter beschloss er, sich „in hiesiger Stadt als Privat-Architekt niederzulassen.“ Sein Büro entwickelte sich rasant, sodass die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg als die erfolgreichste Phase der beruflichen Tätigkeit van Nordens bezeichnet werden kann. Viele der zu dieser Zeit errichteten Bauten bilden auch heute noch markante Fixpunkte im Stadtbild.

Wohn- und Geschäftshaus Fels, 1913 (Seitenansicht) Foto: Manfred Zimmermann, Euromediahouse Hannover Der Peiner Architekt Anton van Norden

In der ersten Schaffensphase errichtete er überwiegend reich ornamentierte Putzbau- ten, so 1913 für den jüdischen Kaufmann Louis Fels ein Wohn- und Geschäftshaus in direkter Nachbarschaft der Jakobikirche an der Breiten Straße. Es folgten in den 20er Jahren Siedlungsbauprojekte, der Neubau Härke-Brauerei, Toreinfahrt (1930). der Festsäle sowie eine Reihe von Wohn- Die Bedeutung der Portalanlage als Visiten- und Geschäftshäusern in Peine und Um- karte des Unternehmens wird betont durch gebung mit den für ihn charakteristischen, die aufwändige Wandgestaltung mit groß- grünverfugten, roten Backsteinfassaden. formatigen Keramikplatten und figürlicher Bauplastik aus der Werkstatt der Kieler Das größte Projekt aber stellen die von 1927 Kunstkeramik AG. Links Frauengestalt mit bis 1935 errichteten Gebäude der Härke- Ähren, rechts: Küfer. Brauerei dar, deren Hausarchitekt van Nor- Foto: Ralf Holländer den war. Nach der Umgestaltung zu einer architektonischen Einheit bildet die Anlage mit ihren roten Klinkerfassade bis heute eine städtebauliche Dominante.

Trotz seiner unbestrittenen Verdienste um die Baukultur in Peine darf nicht vergessen werden, dass van Norden öffentlich eine po- litisch stark nationale Überzeugung vertrat. So lieferte er als Mitglied des antidemokra- tischen und antisemitischen Jungdeutschen Haus Runge, sogenanntes „Elefantenhaus“ Ordens 1925 den architektonischen Entwurf (1927). Der Name dieses markant gebogenen für den Feldstein-Obelisken des Schlageter- Eckgebäudes mit Staffelgiebel, Balkonen und Denkmals auf dem Luhberg. Arkaden leitet sich von den blauen Keramik- Elefanten ab, die die Schlusssteine der Bögen Anton van Norden, bis heute Peines bedeu- im Erdgeschoss zieren. tendster Architekt, starb am 16. Juli 1955 Foto: Ralf Holländer im Alter von 78 Jahren. Seine Grabstätte liegt auf dem evangelischen Friedhof an der Gunzelinstraße.

Zwei Beispiele für Bauplastiken an Gebäuden von Anton van Norden Foto: Ralf Holländer

50 51 Wasserturm mit Holzgerüst eingerüstet, 1928 Foto: Archiv Peter Stübig

Verlegung der Hauptwasserleitung an der Straßenecke Deiweg und Am Spring 1928 Foto: Archiv Peter Stübig Das Wasserwerk in Lobmachtersen

Die Quellen des Springbaches mitten im im Obergeschoss 5,80 m. Im Kellergeschoss (WEVG) zuständig. Für die steigenden Ein- Ort und dessen gute Trinkwasserqualität wurden zwei Saug-Druck-Pumpen mit einer wohnerzahl und den Anstieg der Abnahme- waren Voraussetzung für die Errichtung max. Leistung von 24 cbm Wasser/Stunde stellen in Lobmachtersen nach 1945 waren eines Wasserwerkes im 655 Einwohner zäh- aufgestellt, die wöchentlich abwechselnd das Leitungsnetz und der Wasserdruck nicht lenden Lobmachtersen. Laut Bauplan sollte liefen. Sie waren angetrieben von einem mehr ausgelegt. Daher reiften schon in den der Wasserturm neben der Springquelle Elektromotor, der über einen Schwimmer im 1950er Jahren Überlegungen für einen An- mit Brunnen und einem Ringleitungsnetz Wasserbehälter geschaltet wurde. Zur Absi- schluss an das Fernwassernetz der Salzgitter im Ort errichtet werden. Im Frühjahr 1928 cherung bei einem Stromausfall wurde ein AG, der am 4.8.1982 gleichzeitig mit der begannen die Bauarbeiten. Die Staatsbank Notstromaggregat mit Benzinmotor aufge- Stilllegung des Wasserturms erfolgte. gewährte der Gemeinde einen Kredit über stellt. Der tägliche Wasserverbrauch wurde 35000 RM, später einen zusätzlichen Kredit 1928 auf 76 cbm Wasser taxiert. über 15000 RM. Vom Kreis Wolfenbüttel und dem Freistaat Braunschweig kamen je- Der stählerne Wasserbehälter besaß ein weils 8000 RM und vom Landesarbeitsamt Füllvermögen von 100 cbm, der Leitungs- 3700 RM für die Beschäftigung von Arbeits- druck im Ort betrug ca. 2,6 bar. Die Haupt- losen hinzu. wasserleitung mit 125 mm Rohrdurchmesser ging vom Wasserturm in Richtung Westen Zum Generalunternehmer für den Bau des durch den Deiweg bis zur Landwehrstraße Wasserwerks wurde die Brunnenbaufirma und verzweigte sich dort zu einer Ring- Warnecke aus Salder ausgewählt. Die Ar- leitung mit 93 Hausanschlüssen und 24 beiten am gemauerten Wasserturm führte Überflurhydranten. Nach Problemen mit der die Baufirma Heuer aus Gebhardshagen aus. geschätzten Verbrauchserfassung wurden Nach Abschluss der Bauarbeiten Ende 1928 1932 Wasserzähleruhren eingebaut. In den betrugen die Gesamtkosten für das Wasser- 1930er Jahren wurden außerdem moderne werk 68423,17 RM. Kreiselpumpen eingebaut. Nach 1945 wur- de eine Trinkwasserchlorung installiert. Die Höhe des Wasserturmes beträgt von der Kellerbodenoberkante bis zur Oberkante des Für das Wasserwerk war seit 1928 die Ge- Wasserbehälters 24,50 m, mit Dach insge- meinde Lobmachtersen, nach der Stadt- samt 29,50 m. Der Außendurchmesser des gründung 1942 die Stadt mit der eigenen Turmes beträgt im Erdgeschoss 6,50 m und Wasser- und Energieversorgungsgesellschaft

Wasserturm Lobmachtersen Foto: Medienzentrum Stadt Salzgitter

52 53 Viele Restaurants und Cafés sind über die Grenzen von Bad Harzburg bekannt, dazu gehört das Café Winuwuk am westlichen Rande der Stadt. Die Gebäude, das sind das Café Winuwuk und der etwas separat liegende Sonnenhof mit Ausstellungs- und Verkaufsräumen für Kunst und Kunstge- werbe, entstanden 1922 und 1923.

Das Künstlerehepaar Walter und Dore Degener ließen sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Bad Harzburg nieder und widmeten sich der Kunst. Es entstand der Wunsch, ein Gebäude für Kunstausstel- lungen zu schaffen. Sie kauften ein Gelände am Waldrand oberhalb von Bad Harzburg- Bündheim. Von hier hat man einen weiten Café Winuwuk, Bad Harzburg

Den Namen „WINUWUK“ leitete Hoetger aus den Anfangsbuchstaben des Satzes ab: Weg im Norden und Wunder und Kunst. Das Künstlerehepaar Degener deutet den Namen anders: Wille ist neu und der Weg unserer Kunst. Fotos: Angela Potthast

Blick nach Norden in die Landschaft in Rich- neben Türen und Geländern auch alle Ein- dienten die Gebäude der englischen Besat- tung Vienenburg-Harly. Da in der Umge- richtungsgegenstände an. Sie beschnitzen zungsmacht als Offizierskasino. Ab 1953 bung keine Restaurants vorhanden waren, und bemalten sie. konnte Familie Degener die Bewirtschaftung plante man für die Gäste der Kunstausstel- wieder aufnehmen. Vieles wurde wieder in lungen ein Café. Hoetger selbst schuf mehrere Reliefs. Er den alten Zustand versetzt. Ab 1978 führt pflegte „nordisches“ Gedankengut, wollte Familie Kühn das Gesamtkunstwerk des Ex- Als Architekten wählten sie Bernhard Hoet- den Urformen der germanischen Vorfahren pressionismus. ger, der zur Künstlerkolonie in Worpswe- nacheifern. Als Mittelpunkt schuf er im Café de gehörte. Hoetger war in Deutschland einen offenen Kamin, im Sonnenhof einen bekannt als Künstler der Böttcherstraße in Brunnen. Bremen, er stammte aus Darmstadt. Hoet- ger entwarf Winuwuk und den Sonnenhof Zur Zeit des Nationalsozialismus geriet das nach plastischen Modellen. Für die tragen- „Café Winuwuk“ den Machthabern ins Vi- den Hölzer suchte er möglichst krumme sier. Nach einem Ortstermin im Jahre 1939 Stäbe aus, die von Bildhauern aus Worpswe- wurden etliche Einrichtungsgegenstände als de ihrem natürlichen Wuchs entsprechend „entartet“ eingestuft und übermalt oder gestaltet wurden. Diese Bildhauer fertigten abgebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg

54 55 Denkmal in Abbesbüttel Foto: Rolf Ahlers

Schemazeichnung Die Bundeswasserstraße Mittellandkanal Sogleich empfing dort die Ilseder Hütte der Eisenbahnbrücke bei Thune verbindet die schiffbaren Flüsse Rhein, benötigte Rohstoffe (Kohle usw.) und ver- Foto: Wasser- und Schiffahrtsamt Weser, Leine und Elbe, dadurch ist die hohe sandte das Peiner Walzwerk viele Produkte Bedeutung für den Güterverkehr zwischen (Stahlträger usw.). Die östlich anschlie- West- und Osteuropa gegeben. Der Kanal, ßende Kanalstrecke war bereits im Bau und Baubeginn am Dortmund-Ems-Kanal, wur- so konnte bei Thune vorgefundener Ton de abschnittsweise in Betrieb genommen, als Dichtungsmasse für Schwemmsandab- 1916 war Hannover erreicht. Auch als eine schnitte bei Wendeburg verwendet werden. Art von Notstandsarbeiten für heimgekehrte Nach streckenweiser Flutung fuhren Fracht- Weltkriegssoldaten – als „Kanalmonarchen“ schiffe mit Baumaterialien bis Sophiental bezeichnet – begann der Weiterbau. Es wur- (29.3.1931) und Watenbüttel (18.4.1932). de viel geschaufelt, der Aushub mit Loren- bahnen befördert und vielfach„auf Kippe“ Die technische Inbetriebnahme des Braun- gelegt. 1928 wurde die Schleuse Anderten schweiger Hafens geschah am 18.10.1933. eingeweiht, 1929 ging der Hafen Peine in Das erste ankommende Schiff beförderte Betrieb. Ruhrkohle, das am nächsten Tag erste ab- gehende Schiff hatte Mehl der Rüninger Der Mittellandkanal – Bauzeit 1906 – 1938

Brückenbau bei Sophiental Löffelbagger bei Sophiental Eisenbahnbrücke bei Thune Foto: Archiv Wilhelm Bruer Foto: Archiv Wilhelm Bruer Foto: Wasser- und Schiffahrtsamt und der Lehndorfer Mühle als Ladung. Die Mit Brücken unterschiedlicher Bauart blie- Einweihung des Braunschweiger Hafens ben bestehende Verkehrsverbindungen erfolgte am 13.5.1934. Dann, 1938, mit (Straßen und Eisenbahnlinien) erhalten. Eine Fertigstellung der Schleuse Sülfeld und der beeindruckend große Stahlfachwerkbrücke anschließenden Strecke bis Magdeburg, führt seit dem 24.1.1932 die Eisenbahnlinie Hebewerk Rothensee, war die Elbe erreicht. Braunschweig-Gifhorn über den Kanal. Erst seit dem 10.10.2003, mit der Einwei- hung der Trogbrücke über die Elbe und der Die Wasserfläche des Kanals, 65 m über Schleuse Hohenwarthe, ist der Mittelland- NN, erstreckt sich von Anderten bis Sülfeld kanal (325 km) vollendet. Größere Düker (62,7 km), hinzu kommen die Strecken nach führen die Wassermengen der Fuhse, der Bolzum (0,6 km, Stichkanal Hildesheim), Aue, der Oker (damals der größte Düker Wedtlenstedt (4,6 km, Stichkanal Salzgit- Europas) und der Schunter unter dem Kanal ter, 1940) und im Elbeseitenkanal bis Uelzen hindurch. (60,6 km, 1976). Der heutige Ausbauquer- schnitt des Kanals ist unterschiedlich, Min- destmaße sind: 42 m Breite, 4 m Tiefe und 5,25 m Durchfahrhöhe unter Brücken.

56 57 Fast 10 Millionen Todesopfer und 20 Milli- onen Verwundete unter den Soldaten hat der Erste Weltkrieg gefordert. Rund 7 Mil- lionen zivile Opfer kamen hinzu. Auch im Braunschweigischen hatte jede Gemeinde Tote zu beklagen. In (Salzgitter-)Barum hatte der Standesbeamte schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn die traurige Pflicht, den in Barum geborenen Walther Koch in das dortige Sterberegister einzutragen, der am 1. September 1914 in Frankreich gefallen war („Den Heldentod fürs Vaterland“). Viele Einträge sollten folgen, doch diese Formulie- rung wählte der Standesbeamte nur dieses eine Mal.

Den Toten des Ersten Weltkrieges, deren Zahl die der vorangegangenen Kriege bei Weitem übertraf, wurde nach Kriegsende vielfältiges Gedenken zuteil. Die häufigste Form, vor allem in den Dörfern, wurde das „Ehrenmal“, auf dem die Namen der Toten in Stein gemeißelt wurden. In der Regel wa- ren Gemeinden und Kirche die Initiatoren, die Denkmale wurden meist in unmittelbarer Nähe zur Kirche errichtet. In Barum wurde ein Ehrenmal für die Gefallenen am 3. Au- gust 1924 im Anschluss an einen Gottes- dienst feierlich eingeweiht, im Beisein der ganzen Gemeinde. Vorausgegangen war eine nur kurze Planungs- und Bauzeit.

Die künstlerische Gestaltung des Sandstein- denkmals, auch den Gedenktext, hatte die Gemeinde dem Architekten Rudolf Curdt aus Braunschweig überlassen, dem Direktor der städtischen Handwerker- und Kunst- gewerbeschule. Er hatte folgende Inschrift vorgeschlagen: Gefallenenehrung in Barum

Den Kampf und Tod bereiten Zur Ehr‘ für ewge Zeiten. Nicht zu erobern, sondern zu schützen nicht zu zerstören, sondern zu nützen zog diese Schar von einunddreißig aus, verließ die Heimatflur, Kind, Weib und Vaterhaus. Als heilig Opfer in den Tod gegeben, dass wir in ihrem Geiste weiterleben. Als das da wisse Kind und Kindeskind, dass nimmer sie umsonst gestorben sind.

Ausgeführt wurde die Arbeit von Steinmetz- meister Albert Fricke aus Königslutter, einem Spezialisten für „Architekturen, Grabdenk- mäler und Kriegerehrungen“. Die Kosten waren hoch, insgesamt 2277 Mark muss- ten aufgebracht werden. Ein großer Teil der Summe kam in einer Sammlung in der Ge- meinde zusammen, ein Zuschuss war nur in Höhe von 729 Mark nötig. Die Gemeinde- mitglieder trugen nach ihren Möglichkeiten bei, einige gaben sehr hohe Beträge.

Doch waren die Gefallenen Helden oder Opfer? Der Erste Weltkrieg endete nicht mit einem nationalen Sieg, es fiel schwer, dem millionenfachen Tod einen Sinn zu geben. So stand das Totengedenken im Mittelpunkt der meisten frühen Denkmale. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand trat die Trauer- Fotos: Stadtarchiv Salzgitter symbolik zurück. Die Ehrenmäler begannen ab Mitte der 1920er Jahre zum Spiegel ide- ologischer und politischer Strömungen der Weimarer Republik zu werden.

58 59 Die Mitglieder des Stahlhelms anlässlich der Fahnenweihe in Salzdahlum im Jahr 1923 Fotonachweis: privat Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten in Wolfenbüttel

Die Wolfenbütteler Ortsgruppe Stahlhelm, gruppen. Außer der radikalen Ablehnung Bund der Frontsoldaten, gründete sich am der Vertreter der „Weimarer Republik“, des 31. August 1921 im Restaurant „Bayrischer „Parlamentarismus“ und besonders des Hof“ (Stadtmarkt 17). Der Stahlhelm war „Vertrages von Versailles“ hielt der Antise- eine Vereinigung der Kriegsteilnehmer des mitismus auch Einzug in die Wolfenbütte- Ersten Weltkrieges (1914 – 1918) und ver- ler Ortsgruppe. So wurde Ende März 1924 körperte einen restaurativ-monarchistischen auf der Stahlhelm-Generalversammlung im Nationalismus mit einem sichtbaren Be- Wolfenbütteler Kaffeehaus per Satzungs- kenntnis zu den Farben des untergegan- änderung der „Ausschluss und die Nicht- genen Kaiserreiches Schwarz-Weiß-Rot. Die aufnahme von Juden“ mit der Begründung Mitglieder des zeitweise größten Wehrver- beschlossen, dass jüdische Mitglieder dem bandes der Weimarer Republik standen den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) politischen Zielen der Deutschnationalen beitreten könnten. Volkspartei (DNVP) nahe. Der Wolfenbütteler Werner Schrader wurde Die Stahlhelm-Führungspersönlichkeiten 1925 zum Ortsgruppenführer des Stahl- der ersten Stunde waren Offiziere des helms gewählt. Ein Jahr später löste der Kaiserreiches. 190 Mitglieder, darunter Oberlehrer Wilhelm Uhlenhaut Schrader als Wolfenbütteler Bauunternehmer, Hotel- Landesführer des Freistaates Braunschweig besitzer, Fabrikanten, Handwerker, Kauf- ab. Bekanntheit erlangte Schrader durch leute, Arbeiter, Angestellte, Landwirte und Beteiligung am Attentat auf . Er Künstler – mithin das gesamte Spektrum der bewahrte einen von mehreren Sprengstoff- Weltkriegsteilnehmer – zählte die Ortsgrup- vorräten auf. pe Wolfenbüttel ein Dreivierteljahr nach der Gründung. Bis 1923 hatte sich ihre Zahl auf Doch ihren Zenit hatte die Wolfenbütteler 300 erhöht. In den Folgejahren konstituier- Stahlhelm-Organisation schon bald über- ten sich im Kreisgebiet weitere Ortsgruppen, schritten. Nur 21 Mitglieder kamen im Juni u.a. in Neindorf, Dorstadt, Groß Stöckheim 1930 zur Versammlung. Kurz nach dem und Timmern. Der Stahlhelm veranstaltete Jahreswechsel 1933 agierten Stahlhelmer „Frontsoldaten-Tage“ und stellte bei diesen und Nationalsozialistische Deutsche Arbei- Aufmärschen die monarchistisch-militari- terpartei (NSDAP) sowie deren Organisati- stische Einstellung zur Schau. onen vielfach noch gemeinsam gegen die Linksparteien. Doch kam es bereits in der Die Stahlhelmer pflegten bei ihren Zusam- ersten Hälfte des Jahres 1933 im Zuge der menkünften die Kameradschaft, indem sie NS-Herrschaftseroberung in Kreis und Stadt ihre traumatischen Fronterlebnisse in Gestalt zu brutalen Übergriffen auf die Stahlhelmer von heroischen Geschichten schilderten. Be- durch SA und SS. Wie im gesamten Reichs- sonders während des Inflationsjahres 1923 gebiet wurde der Wolfenbütteler Stahlhelm verteilte der Stahlhelm Lebensmittel an die 1935 durch die NS-Machthaber endgültig Familien seiner Mitglieder. Organisiert wur- aufgelöst. den diese Kampagnen über ländliche Orts-

60 61 Der Reit- und Fahrverein Vorsfelde und Um- felde und 8 Dörfern dem Verein bei. Ebenso gebung e.V. (früher Umgegend) wurde am Günther von der Schulenburg und sein Ge- 17. Juli im „Deutschen Haus“ in Vorsfelde neraldirektor Steinhoff vom benachbarten gegründet, am 30. September 1921 eine Rittergut Wolfsburg. In seiner Ansprache Satzung beschlossen und diese am 31. Au- zum zehnjährigen Stiftungsfest und Jubi- gust 1928 unter der Nr. 7 in das Vereinsre- läumsturnier erwähnte der Vorsitzende die gister des Amtsgerichtes Vorsfelde, Freistaat Anzahl von 130 Vereinsmitgliedern. Braunschweig, eingetragen. Das erste Reit- und Fahrturnier fand schon Anlässlich der Gründungsversammlung ein Jahr nach der Gründung des Vereins am traten spontan 33 Personen, Bauern, Bürger, 16. Juli 1922 auf dem Bürgerplatz in Vors- Handwerker und Geschäftsleute aus Vors- felde statt. Diese Turniere etablierten sich

Standarte Foto: Archiv Reit- und Fahrverein Vorsfelde

Siegerurkunde von 1928 Vorn auf dem Foto Wilhelm Bammel, 1922 Foto: Archiv Reit- und Fahrverein Vorsfelde Foto: Archiv Familie Bammel Der Reit- und Fahrverein Vorsfelde und Umgebung e.V.

zu Top-Veranstaltungen in der weiten Um- Diese erfolgreiche Ära des Vereins ging zu- gegend und fanden bis 1933 fast jährlich nächst im Jahre 1933 mit dem Eintritt der statt. Reiter in den SA Reitersturm zu Ende.

Durch die Verpflichtung namhafter Ausbil- Heute hat der Verein 320 Mitglieder und der, vornehmlich Gestütswärter vom braun- zählt zu den tragenden Säulen des Vereins- schweigischen Landesgestüt, erreichten lebens im Stadtteil von Vorsfelde. Er hat eine die hiesigen Reiter mit ihren noch auf den eigene große Sportanlage, führt ein reges Höfen im Einsatz befindlichen Pferden einen Vereinleben und erfreut sich großer Beliebt- sehr hohen Leistungsstand und konnten heit. sowohl einzeln als auch in der Abteilung als Mannschaft erhebliche Erfolge aufweisen. Sie wurden zu Teilnahmen an Turnieren auf Gau- und Reichsebene, u.a. nach Braun- schweig, Hannover, Berlin und Dortmund eingeladen. Hindenburg zu Besuch bei Graf Schulenburg, Wolfsburg 1926 Der Vorsfelder Reiterverein gehörte nach Foto: Archiv Reit- und Fahrverein Vorsfelde kurzer Zeit zu den gesellschaftlich tragenden Vereinen der Stadt. Was Rang und Namen hatte, nahm an den jährlichen Reiterbällen im Winter und den Bällen anlässlich einer Turnierveranstaltung teil. Durch Reitjagden im Herbst, sowie Ausritte und Sternfahrten mit Kutschen im Sommer, Beteiligung an Umzügen der Vereine, wurden die Mit- glieder und Bürger ständig an den Verein gebunden.

Wilhelm Bammel aus Brackstedt, 1924 Foto: Archiv Familie Bammel

62 63 links: Kinderbekleidung in „Deutsche Frauenkleidung und Frauenkultur“, 1927 Foto: Landesmuseum Braunschweig

rechts: Familie Froböse aus Calbecht, 1928 aus: „Ortschaft West“ in alten Ansichten, Salzgitter 2003, S. 78

Postbote und Einwohner von Engelnstedt, 1928 aus: „Ortschaft Nord“ in alten Ansichten, Salzgitter 1994, S. 87 Die Mode in den Goldenen 1920er Jahren im Freistaat Braunschweig

In der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts veränderte sich auch die Mode als Folge der gesellschaftlichen Umbrüche während und nach dem Ersten Weltkrieg radikal. Kniekurze Röcke, tief sitzende Taillen und Topfhüte lösten die opulente Vorkriegsmode ab. Es etablierte sich eine schlanke, gerade abfallende Linie, die ohne Figurbetonung auskam. Die Hochburg der „neuen Frau“, die Bubikopf und manchmal sogar Hosen trug, war in den 1920er Jahren die Haupt- stadt Berlin. Doch dank Illustrierter und Zeitschriften wie „Elegante Welt“ und „Die Dame“ hatten auch die Frauen im Freistaat Braunschweig die Möglichkeit, sich über die aktuellsten Trends zu informieren und diese mithilfe der teilweise beiliegenden Schnitt- muster anzufertigen.

Auch die Kinderkleidung orientierte sich an den Vorbildern der Großen. Hängekleidchen mit tiefen Gürtellinien bzw. in gürtelloser Form waren en vogue.

Während die neue Mode zumindest in der Stadt Braunschweig ihre Anhängerinnen fand, prägten in den ländlichen Gegenden langes Haar und im Alltag weiterhin prak- tische Arbeitskleidung das Bild. Die festliche Kleidung für Sonn- und Feiertage auf dem Lande zeichnete sich durch eine gemäßigte Interpretation der neuesten Mode aus, bei der die Taille leicht betont war.

Titelblatt der „Illustrierten Wäsche- und Handarbeitszeitung“ 1927 Foto: Landesmuseum Braunschweig

64 65 Heinrichshafen in den 30er Jahren Foto: Archiv Klaus Hoffmann

Heinrichshafen Mitte der 20er Jahre Foto: Archiv Klaus Hoffmann

Ausflugslokal Heinrichshafen und den Verkehr vom Bahnhof zum Hein- festlich geschmückt mit bunten Wimpeln Beim Müller Oehlmann konnten die Spazier- richshafen aufnahm. Am 16. Mai des Jahres zum beliebten Ausflugziel nach Heinrichs- gänger in dem an der Oker gelegenen klei- 1873 eröffnete Gerecke mit dem Rufnamen hafen. Heinrichshafen war, rechnet man die nen schattigen Mühlengarten in Eisenbüttel „Heinrich“ sein neues Ausflugslokal an der Mühlenschänke mit, eine der ältesten Gast- Getränke und Kaffee trinken. Müller Oehl- Oker. In der Braunschweigischen Tageszei- stätten Braunschweigs. Im Zweiten Welt- mann gab seinen Wirtschaftsbetrieb im Jahr tung vom 16. Mai 1873 stand zu lesen: krieg wurde das Gebäude durch Bomben 1870 auf. Dieses nutzte Heinrich Gerecke, beschädigt und nicht wieder in seinem alten ließ die Mühleneinrichtung ausbauen und „Heinrichshafen zu Eisenbüttel Zustand errichtet. Letzte Erwähnung fand richtete das Gebäude als Gastwirtschaft ein; Mit hoher Genehmigung habe ich unter das Lokal im Adressbuch 1970 als (Provi- Gerecke hatte keine Kosten gescheut, das obiger Firma eine Restauration nebst sorium) Bootskaffee Heinrichshafen. Heute Haus so bequem als möglich einzurichten, Kaffeegarten, verbunden mit Oker Dampf- befindet sich dort auf dem Grundstück ein um bald darauf ein groß angelegtes Restau- schifffahrt, eröffnet, und erlaube mir, einem Schuppen der Schleuse Eisenbüttel. rant zu eröffnen. Ein großes Ereignis für die Hochgeehrten Publikum obiges Etablisse- damalige Zeit war es, als ein von Gerecke ment ganz ergebenes zu empfehlen”. aus Hamburg bezogenes Dampfboot zum Es verkehrte noch lange Jahre nach dem ersten Mal die Wellen der Oker durchschnitt Ersten Weltkrieg das Motorboot „Brunonia“ Vergnügungslokale in Braunschweig

Ausflugslokal Weißes Ross Am 15. Oktober 1944 wurde das „Weiße Schon im Jahre 1330 tauchte der Name Ross“ durch Bombenangriff vollkommen Weißes Ross in Chroniken auf. Allerdings zerstört. Nach der Währungsreform 1948 stand dieses alte Gasthaus im Mittelalter wurde es in mehreren Bauabschnitten wie- noch am Rennelberg, etwa dort, wo sich der aufgebaut.1968 wurde das Gebäude heute die Untersuchungshaftanstalt befin- abgerissen, und auf dem Gelände errichtete det. Früher wurden dort die Pferdemärkte die Norddeutsche Landesbank eine Bankfili- abgehalten, daher der Name. In den Jahren ale. Wo seit 1719 die Wirte hinter der Theke 1717 bis 1719 wurde die Stadt neu be- standen, standen nun Bankkaufleute hinter festigt. Im Zusammenhang damit bestimmte dem Tresen. Anfang des Jahres 2008 wurde der Herzog Anton Ulrich, dass das Wirts- die kleine Gastwirtschaft Weißes Ross (am haus in diesem Gebiet abgerissen werden Ring) die noch an die traditionsreiche Gast- musste. Der damalige Wirt errichtete im Jahr stätte erinnerte, abgerissen, um unter ande- 1717/18 auf dem Gelände vor der Stadt das rem einem Einkaufsmarkt Platz zu machen. an der Celler Heerstraße liegende neue Wei- Bei den Ausschachtungsarbeiten fand man ße Ross. Es war, so hieß es, eine der ältes- noch viele alte Geschirrreste in einer Grube. ten Gaststätten Norddeutschlands. Oberkell- Es waren die letzten Relikte, die an die einst- ner Louis Ahrenholz aus Bettmar übernahm mals beliebte Gaststätte an der Celler Straße als 30-Jähriger 1851 die Gaststätte zweiter erinnerten. Klasse „Weißes Ross“ vor dem Petritor und musste das gesamte Wirtschafts-Inventar von seinem Vorgänger übernehmen. Eine alte Porzellanscherbe Foto: Archiv Weißes Ross um 1933 Klaus Hoffmann Foto: Archiv Klaus Hoffmann

Weißes Ross nach dem 2. Weltkrieg (links) und großer Saal in den 30er Jahren Fotos: Archiv Klaus Hoffmann

66 67 Filmvorführungen in der Stummfilmzeit wurden durchaus nicht ohne Ton angebo- ten. Filmerklärer erläuterten den Fortgang der Handlung, wenn der Sprung von Szene zu Szene nicht anders zu vermitteln war. Am Klavier, dem Akkordeon oder gar einer speziellen Kinoorgel wurden die Abläufe auf der Leinwand dramatisch oder einfach be- gleitend untermalt. In Großstädten wirkten ganze Orchester bei der Interpretation der Filme mit.

Seit 1918 arbeiteten drei deutsche Techni- ker an der Entwicklung eines Verfahrens zur Verbindung von Bild und Ton, in Kurzfilmen erprobte man unterschiedliche Verfahren.

Der erste Spielfilm mit Ton wurde am 6. Ok- tober 1927 in New York aufgeführt, es wur- de viel gesungen, die Schauspieler mussten erst lernen weniger zu gestikulieren – und nicht jeder oder jede hatten angemessene Stimmen. Erst 1929 wurde The Jazz Singer in Berlin aufgeführt.

Von einem Siegeszug des Tonfilms konnte man keineswegs sprechen, der Stummfilm war erfolgreich, und die Tonbild-Projektoren waren teuer. Außerdem benötigte man Fachleute, die die riesigen Apparate bedie- nen konnten.

Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm hatte künstlerische und wirtschaftliche Kon- sequenzen. Filmschauspieler, die in Stumm- filmzeiten Karriere gemacht hatten, erwie- sen sich für die neuen Anforderungen des Plakat Tonfilms als nicht geeignet. Gefordert wur- „The Jazz Singer“ den jetzt „Temperament, schillernde Viel- Foto: Stadtarchiv seitigkeit der Persönlichkeiten und vor allem Helmstedt Stimmen, die einen Ausdruck für alle Ge- Tonfilm in Helmstedt

Kinopalast/Theater Filmprojektor Foto: Stadtarchiv Helmstedt Foto: Stadtarchiv Helmstedt mütslagen bereithalten“. Der erste Ufa-Ton- ertränkt sich im Fluss. Furore machte Willy zur Unterhaltung der Helmstedter einiges spielfilm „Melody des Herzens“ kam 1929 Fritsch mit „Die Drei von der Tankstelle“, beitragen. Seine Nebenbeschäftigung – oder in die Filmtheater. Er erzählt die Geschichte 1930 in den Filmtheatern, und der neue Star die seines Nachfolgers – wurde einige Zeit des Bauernmädchens Julia Balog (Dita Par- am Filmhimmel, Marlene Dietrich mit „Der benötigt, denn immerhin dauerte es über lo), das in Budapest eine Stellung als Dienst- blaue Engel“, ebenfalls 1930 zu sehen. zwanzig Jahre, bis die Helmstedter echte magd gefunden hat. Sie verliebt sich in den Tonfilme zu sehen bekamen. Deren Sieges- Honved-Husaren János Garas (Willy Fritsch), Am Sonnabend, dem 13. November 1909, zug führte dazu, dass in der kleinen Stadt der auf ein Pferd spart, um damit später ein hatte in Helmstedt das „Filmzeitalter“ be- nach und nach vier Kinos entstanden, das Transportgeschäft zu gründen. Als Julia ihre gonnen. Auf der Kornstraße, im Zentrum letzte per Umgestaltung der großen Halle Stellung verliert, gerät sie in die Fänge der der Stadt, entstand das erste Kino, das einer Autowerkstatt. Im Tonbild-Theater, Zimmervermittlerin Czibulka, die Julia eine Tonbild-Theater. Der Name täuscht, denn dem ersten Haus am Platze, ließen sich be- „Stellung“ in einem Bordell verschafft. Als natürlich waren es Stummfilme, die dort ge- tuchte Liebhaber des Tonfilms sogar Dau- János, angestachelt von seinen Kameraden, zeigt wurden. Ein Pianist schuf allerdings die erplätze reservieren. Der Tonfilm war ein das Freudenhaus besucht und Julia erblickt, passenden Töne zu den Geschehnissen auf gesellschaftliches Ereignis geworden. Nicht nimmt die Tragödie ihren Lauf. Von ihrem der Leinwand. Der war eigentlich Tabakwa- nur in Helmstedt. gesamten Geld kauft Julia ein Pferd und ren-Händler, konnte aber als Hobby-Musiker

68 69 Der Deutsche Hermann, mit bürger- lichem Namen Julius Skasa, wurde am 21. April 1852 in Koblenz geboren und verstarb am 16. Februar 1927 in Braunschweig. Er war eines von mehreren Stadtoriginalen im Braunschweig des ausgehenden 19. und be- ginnenden 20. Jahrhunderts. Sein „Marken- zeichen“ war ein mit Orden, Ehrenzeichen und Bändern übervoll behängter Uniform- rock, den er in der Öffentlichkeit trug. Nach- dem er 1875 nach Braunschweig gekom- men war, ließ er sich in der Stadt nieder und heiratete eine Polin. Den Lebensunterhalt der Familie bestritt er als Scherenschleifer und Schirmmacher.

In späteren Jahren begann der als „höflich“ und „liebenswert“ beschriebene Zivilist Ska- sa, offenbar weil er den ruhmlosen Abschied aus der Armee nicht verkraftet hatte, seinen Rock mit zahlreichen Orden und Medaillen zu schmücken; dazu trug er langschäftige Militärstiefel.

v. l. n. r.: Harfen-Agnes, Der Deutsche Hermann, Rechen-August Fotos: Stadtarchiv Braunschweig Braunschweiger Originale

Als Rechen-August war bis 1928 August Harfen-Agnes wurde am 24. Januar 1866 Der Tee-Onkel wurde am 30. März 1872 Louis Martin Ernst Tischer (*8. 8.1882 als Agnes Adolphine Agathe Schosnoski, un- als Alfred Richard Oscar Friedrich Kühner, †13. 6.1928) unter den Braunschweiger eheliche Tochter von Henriette Schosnoski, Sohn des Zigarettenfabrikanten Wilhelm Originalen stadtbekannt. Schon in der Schu- geboren und in St. Magni getauft. Schon Kühner, am Nickelkulk 12 geboren. Am le Sophienstraße fiel Tischer dadurch auf, früh verlor sie ihre Mutter und verbrachte 1. Juli 1896 eröffnete er, der Drogist gelernt dass er acht- bis zehnstellige Zahlen mühe- ihre Kindheit weitgehend in der Kinderpfle- hatte, eine Drogerie. Aufgrund finanzieller los und äußerst schnell im Kopf dividieren geabteilung des Erziehungsheimes in Be- Schwierigkeiten musste er 1911 Konkurs an- und multiplizieren konnte und war deshalb vern, die sie jedoch im Alter von 14 Jahren melden. Danach zog er, immer den gleichen in Braunschweig bald als „Wunderkind“ verlassen musste. In Braunschweig zog sie Anzug tragend, von Haustür zu Haustür, um bekannt. durch Straßen und Kneipen, um sich mit seine Waren zu verkaufen. Er machte einen ihren Liedern den Lebensunterhalt zu verdie- erbärmlichen Eindruck, wenn er mit zier- Aufgrund seines phänomenalen Zahlenge- nen. Aufgrund ihrer äußeren Erscheinung, lichen, vorsichtigen Schritten durch die Gas- dächtnisses und seiner Rechenkünste trat er breitkrempiger, mit Blumen und Bändern sen schlurfte. Er war stets höflich und sein ab 1910 als „Rechen-August“ in Varietés in geschmückter Hut, Pelerine, rosa Strümpfe, Benehmen verriet eine gute Kinderstube. ganz Deutschland auf. Seine Markenzeichen war Harfen-Agnes eine auffällige und weit- Sein Zimmer in der Reichsstraße glich einem waren schwarzer Gehrock, weißer Binder, hin bekannte Erscheinung im Braunschwei- Warenlager, da er alles sammelte und horte- verbeulter Zylinder und eine weiße Chry- ger Stadtbild. te – ein Messie. santheme im Knopfloch. Ihre Lieder waren beim Publikum beliebt. Ihr In Braunschweig zog er von Lokal zu Lokal bekanntestes Lied wurde das Couplet mit und für Geld löste er von den Gästen ge- dem Refrain „Mensch saa hellä, un wenn´s stellte Rechenaufgaben. aoch duster is“. Allerdings musste die Sän- gerin vielfach Demütigungen ertragen, wur- Mit Ausbruch und Fortdauer des 1. Welt- de verhöhnt, verlacht und verunglimpft. Und krieges verschlechterte sich nicht nur Ti- plötzlich zu Beginn der 1930er Jahre fehlte schers Lebenssituation, sondern auch sein Harfen-Agnes im Straßenbild Braunschweigs Gesundheitszustand. Schließlich starb er am und damit ein lebendiges Stück des alten 13. Juni 1928 im Städtischen Krankenhaus Braunschweig. 1935 wurde sie zwangswei- an „Lungenschwindsucht“ und wurde auf se in die Heil- und Pflegeanstalt des Landes dem Braunschweiger Hauptfriedhof bei- Braunschweig in Königslutter eingeliefert, gesetzt. wo sie am 2. September 1935 als Opfer ei- ner Euthanasieaktion der Nationalsozialisten starb.

Tee-Onkel Foto: Stadtarchiv Braunschweig

70 71 Autoren Rudolf Zehfuß 6/7 Rolf Siebert 8/9 Rolf Owczarski 10/11, 68/69 Werner Strauss 12/13 Elmar Arnhold 14/15 Reinhard Försterling 16/17 Dr. Matthias Seeliger 18/19 Claudia Böhler 20/21, 64/65 Ursula Wolff 22/23, 58/59 Friedrich Orend 24/25 Markus Gröchtemeier 26/27, 60/61 Peter Steckhan M.A. 28/29 Werner Cleve 30/31 Birgit Hoffmann 32/33 Karl-Heinz Löffelsend 34/35, 46/47 Hartmut Wegner 36/37, 42/43 Dr. Sandra Donner 38/39, 40/41 Dr. Andreas Reuschel 44/45 Manfred Gruner 48/49, 54/55 Dr. Ralf Holländer 50/51 Elke Keese und Peter Stübig (entnommen aus 80 Jahre Wasserturm Lobmachtersen, Salzgitter 2008) 52/53 Rolf Ahlers 56/57 Jürgen Kackstein 62/63 Klaus Hoffmann 66/67 Reinhard Wetterau 70/71

Quellen Texte Seite 7: http://www.verfassungen.de/de/nds/braunschweig, Braunschweigisches Biographisches Lexikon Hannover 1996, http://de.wikipedia.org/wiki/Freistaat_Braunschweig

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