Rundbrief 2/2020 November 2020

Liebe Mitglieder des Arbeitskreises, liebe Freundinnen und Freunde,

"Wir haben vollbracht, was wir gern hätte ich Sie zusammen mit den Vorstandskolleg_innen und den dem Helden schuldig waren“. Mitarbeiter_innen des Arbeitskrei‑ ses persönlich bei unserer jährli‑ Das Schill‑Denkmal chen Mitgliederversammlung in der Gedenkstätte Schillstrasse begrüßt. „Empfange denn, du deutsche Erde, Dieses ist leider aufgrund der Ein‑ Teil 1: 1837‑1909 über welche ich einst in einer Stunde schränkungen der Corona‑Pande‑ der heiligsten Begeisterung den Se‑ (auf den er ein hohes Kopfgeld aus‑ mie nicht möglich. Wir werden gen der Religion ausgesprochen, gesetzt hatte) tot sei. diese Mitgliederversammlung so‑ empfange jetzt des braven Schill bald es geht einberufen. ruhmwürdiges Heldenhaupt. Der Na‑ Schills „Erhebung“ ist schon viel‑ me dieses tapferen Kriegers wird fach geschildert worden: Seit seiner Geschichtsarbeit, insbesondere als ewig im Tempel der Geschichte Verteidigung Colbergs gegen die na‑ Verein, der eine Gedenkstätte be‑ strahlen, ewig im liebenden Herzen poleonische Armee 1807 war Schill treut, muss in der heutigen Zeit ne‑ des dankbaren Volkes leben.“ ein populärer Major; als solcher ben der fachlichen und päda ‑ konnte oder wollte er sich 1809 gogischen Arbeit zunehmend poli ‑ nicht damit abinden, dass der tisch sein: es ist wichtig, eine klare preußische König untätig dabei zu‑ und entschiedene Haltung gegen Pastor Fink sparte nicht mit Pathos, sah, wie Napoleon seine Herrschaft rechte Tendenzen und für eine de‑ als er 1837 die Predigt zur Beiset‑ in Europa und vor allem auf dem mokratische und plurale Gesell‑ zung des Kopfes von Ferdinand von Gebiet ehemaliger deutscher Klein‑ schaft zu zeigen und Zeichen zu Schill im Braunschweiger Schill‑ staaten ausbreitete. Als Angriffs‑ setzen, aber immer auf friedliche Denkmal hielt. Tatsächlich war dem punkt wählte er das Königreich Weise. Daher habe ich mich sehr ge‑ Braunschweiger Schriftsteller und Westphalen, das Napoleons Bruder freut, dass die Gedenkstätte Schill‑ gewieften Strippenzieher Friedrich Jérôme unterstand, unter Aushe‑ strasse als Erinnerungs‑ und Pro ‑ von Vechelde zuvor ein Coup gelun‑ bungen für die Kriege Napoleons zu testort gegen Rechts in Braun ‑ gen: Ohne dass sich leiden hatte und darüber hinaus schweig präsent ist (siehe Seite 11). besonders für diese „Ehre“ qualii‑ noch chronisch pleite war, da Napo‑ ziert hätte – andere Orte hätten leon einen Großteil des Domänen‑ Auch in diesem Jahr haben Mitglie‑ weit näher gelegen, vor allem besitzes – eigentlich Haupt ein ‑ der und Mitarbeiter_innen sich für Stralsund, vielleicht sogar noch We‑ nahmequelle des Staates – als den Verein und für die Gedenkstätte sel –, gelangte der Kopf hierher. Pfründe für verdiente Militärs ver‑ engagiert und tolle Projekte durch‑ Grund hierfür war ein Zufall: Zu schenkte. Diesem 1807 von Napole‑ geführt und gestartet. Uber die vie‑ dieser Zeit arbeitete ein Ex‑Braun‑ on ins Leben gerufenen staatlichen len Aktivitäten können Sie auf den schweiger und Bekannter von Ve‑ Gebilde gehörten gänzlich unter‑ folgenden Seiten lesen. Euch und Ih‑ cheldes an der Universität Leyden, schiedliche Landesteile an, unter nen danke ich sehr herzlich für die‑ wo der Kopf zunächst ausgestellt anderem auch das ehemalige Her‑ se Mitarbeit und Unterstützung! wurde und später dann im Magazin zogtum Braunschweig‑Wolfenbüt‑ verschwand, nachdem er Schill tel. Der Regierungssitz war in Dieses Engagement wird auch 2021 nach seinem Tod in Stralsund 1809 Kassel. fortgeführt werden. So sind wir ge‑ ­ vom Rumpf abgetrennt worden war, ­ Fortsetzung nächste Seiterade in Uberlegungen und Abstim‑ um ihn König Jérôme als Beleg da‑ Schill ging davon aus, dass es ihm mungen mit der Stadt Braun für zukommen zu lassen, dass Schill wegen dieser Bedrückungen gelin 1 Rundbrief 2/2020

Boden, die Abschaffung von Privile‑ schen Talents und seines sozialen gien des Adels, die rechtliche Kapitals darauf, in Braunschweig Gleichstellung der Juden etc. eine Schill‑Erinnerungsstätte mit nationaler Bedeutung zu errichten. Mit wenigen Soldaten, mit denen Schill selber erlebte zu dieser Zeit Schill wie zu einem Manöver aus seine erste Renaissance; 1813 war ausgeritten war (es ist bis Napoleon geschlagen worden, die heute nicht klar, ob nicht zumindest deutschen Monarchen kehrten auf Königin Luise in den Plan einge‑ ihre Throne zurück. Schill eignete weiht war und diesen guthieß), sich in dieser Zeit gut dazu, als machte er sich auf den Weg gen Sinnbild für ein nationales Aube‑ Westen und beleißigte sich Gueril‑ gehren auf Grundlage kleinstaatli‑ lataktiken, womit er auch eine Zeit‑ cher Identitäten zu fungieren. Und lang recht erfolgreich war. Bald gerade deshalb waren Schill‑Memo‑ schon musste er nach den ersten rabilia in dieser Zeit heiß begehrt Scharmützeln in Dessau und Do‑ und es zeugt vom Geschick von dendorf bei nach Nor‑ Vecheldes, dass er nicht nur die be‑ Lithographie einer Zeichnung den abdrehen und schließlich kam rühmte rotlederne Aktentasche von Heinrich Brandes, 1837 ( Städt. es in Stralsund zur entscheidenden nach Braunschweig holen konnte, Museum Braunschweig) Schlacht, in der Schill den Tod fand. die Schill von Königin Luise erhal‑ Die überlebenden Soldaten und Of‑ ten hatte und in der viele den Be‑ iziere wurden gefangengenommen fehl zum Angriff vermuteten, gen würde, ausreichend Soldaten und nach Westen gebracht – mit sondern auch den bayrischen König davon überzeugen zu können, sich dem Ziel, sie bei den weiteren Krie‑ dazu brachte, eine Büste zu stiften – gegen Jérôme zu erheben – ein gen Napoleons auf Galeeren einzu‑ und den preußischen König (mit Plan, der nicht aufging. Zum einen setzen. Auf diesem Weg mach ten dem Generationswechsel hatte sich sicher, weil zu viele nicht darauf sie Station in Braunschweig, der auch das preußische Verhältnis zu vertrauen wollten, etwas gegen die Hauptstadt des westphälischen Schill etwas entspannt, zuvor galt durch Napoleon abgesicherte Herr‑ Okerdepartments. Hier wurden 14 er wegen seiner Insubordination schaft des Bruders unternehmen zu Soldaten ausgewählt – Staatsbürger als persona non grata) die Außen‑ können. Zum anderen aber auch Westphalens –, die vor den Toren anlagen zu inanzieren. Eine Kur‑ der Stadt erschossen wurden und deshalb, weil die Idee des Modell‑ fürstin von Hessen sowie Ernst die man in den Sandkuhlen des Do‑ staats, als den Napoleon das König‑ August von Hannover fanden sich mänenpächters Oppermann ver‑ reich Westphalen gedacht hatte, ebenfalls unter den Großspendern; scharrte. nicht nur eine Maskerade für die ei‑ das Schill‑Denkmal erschien so genen Herrschaftsgelüste blieb, auch wie die föderale Zusammenar‑ Mitten in ein Revival der Erinne‑ sondern tatsächlich auch Reformen beit der deutschen Herrscherhäu‑ rung an die sogenannten Freiheits‑ bedingte, die bei vielen nicht unbe‑ ser. Den Rest des benötigten oder Befreiungskriege in den liebt waren: die Einführung der ers‑ Kapitals – auch für die Invaliden‑ 1830er Jahren hinein traf die Nach‑ ten Verfassung auf deutschem stiftung, die es einem Invaliden der Fortsetzung von Seite 1 richt der zufälligen Wiederentde‑ Freiheitskriege ermöglichen sollte, ckung der sterblichen Uberreste unentgeltlich im geplanten Häus‑ der Erschossenen – und der schon schweig, wie wir den 27. Januar be‑ chen zu wohnen – sammelte von erwähnte Friedrich von Vechelde gehen werden. Wichtig ist uns, mit Vechelde ganz im Stile der Zeit über wurde aktiv. Er selber hatte seinen einer möglichst breiten und sicht‑ private Spenden ein. Diese lossen Vater in den Kämpfen des Schwar‑ baren gesellschaftlichen Beteiligung nicht allein aus Braunschweig, son‑ an die Opfer des Nationalsozialis‑ zen Herzogs, des Versuchs des braunschweigischen Fürsten Fried ‑ dern wiederum aus allen Teilen mus zu erinnern. Deutschlands und gar aus England. Ich wünsche uns allen frohe und rich Wilhelm kämpferisch auf sei‑ friedvolle Weihnachten, vor allem nen Thron zurückzukehren, ver ‑ loren und verwendete in den Der größte Erfolg gelang ihm aber Martina StaatsGesundheit! nach der eigentlichen Fertigstellung Eure / Ihre 1830er Jahren einen Gutteil seiner Arbeitszeit, seines schriftstelleri‑ des Denkmals; zwar hatte Wesel, 2 Rundbrief 2/2020

Darstellung von Schill‑Denkmal und Invalidenhaus. Lithographie 1839 (Städt. Museum Braunschweig)

wo elf Schill’sche Ofiziere hinge‑ Predigt des Pastors Fink oblag, die diese zu übernehmen haben. Vor al‑ richtet worden waren (auch hier Bedeutung Schills für die Erinne‑ lem nach dem Tod des „Helden“ ge‑ war sonst der Bezug zu Schill nicht rungskultur der 1830er Jahre zu he es darum, die nachfolgende vorhanden), den prominenteren Ar‑ bestimmen. Zum einen ging es ihm Generation auf das ver meintliche chitekten für sein Denkmal ver‑ darum, die enge Verbindung der lo‑ Programm des „Helden“ zu ver‑ plichten können (niemand gerin ‑ kalen Ereignisse (hier insbesondere plichten – das freilich die deinie‑ geres als Schinkel), in Sachen der Widerstand Friedrich Wilhelms ren, die am Heldengedenken auratischer „Kleinode“ (wie es zeit‑ „Braunschweigs Herzog, Deutsch‑ arbeiten. Die Predigt Finks nun genössisch hieß) konnte es aber lands Hoffnung“) mit dem nationa‑ kann geradezu als paradigmatische kein anderer Schill‑Gedenkort mit len Kontext (über „Held Schill, der Verwirklichung dieser theoreti‑ Braunschweig aufnehmen, nach‑ Mann des Volkes, deutschen Na‑ schen Vorgaben gelesen werden. So dem der Kopf nach Braunschweig mens ewige Zierde“) herauszustel‑ interpretierte er Schill als Vorkämp‑ gelangt war. len. Zum anderen ist bedeutsam, fer der nunmehr erreichten „Völ‑ Und man war sich hier dieser Be‑ dass Schill in der Predigt – expres‑ kerfreiheit“, wobei „Freiheit“ hier deutung auch durchaus bewusst, sis verbis – als „Held“ auftaucht. nur meinte, sich von der napoleoni‑ stellte den Kopf in den Abendstun‑ schen Herrschaft befreit zu haben den im Neustadtrathaus für Besu‑ Die die neuere geschichts‑ und kul‑ und nicht im Sinne bür gerlicher cher aus und inszenierte schließlich turwissenschaftliche Forschung zu Freiheiten zu verstehen war (diese die Beisetzung als großangelegtes Heldennarrativen hat sehr deutlich gewährte die westphälische Verfas‑ Fest, in dem es insbesondere der herausgearbeitet, welche Funktion sung – trotz all der Einschränkun‑ 3 Rundbrief 2/2020

gen durch die Eingriffe Napoleons – Das wandelte sich dann aber im schichtsbild: „Ohne 1809 keine Frei‑ in weit höheren Maße). Die Anwe‑ Kaiserreich; während die Berichte heitskriege, kein Schleswig‑Hol ‑ senden verplichtete Fink auf Dank‑ über das angeblich außerordentlich stein, kein 66 und 70/71“. barkeit gegenüber Schill, ein ausschweifende Holeben in Kassel Zumindest die Chiffre „66“ (für durchaus ambivalentes Gefühl, da unter Jérôme in Illustrierten, Roma‑ 1866) fällt in dieser Reihung auf, es politisch gewendet auch ein so‑ nen und auch in der historischen geht es doch um den preußisch‑ös‑ ziales Verhalten vorgeben sollte – Forschung immer detaillierter die terreichischen Krieg, der gemeinhin nämlich eines, das ermöglichte, sexuellen Eskapaden des jungen Kö‑ als letzter Baustein einer kleindeut‑ „was wir dem Helden schuldig wa‑ nigs schilderten und so ein vom schen Nationalstaatsgründung (also ren, welcher einst unser Retter wer‑ deutschen Bildungsbürgertum gern ohne Osterreich) verstanden wird. rezipiertes Bild des verderbten Dachte man bis zu diesem Zeitpunkt den wollte.“ Und noch mehr als das, „Hier bei seinem Franzosen vermittelten, erhielt die die zeitgleich stattindenden Auf‑ der Grabe „Held“ geloben verplichtete wir, das Vaterland auch zum so Erinnerung an Schill zuweilen auch stände Andreas Hofers und Schills persönlichen Opfer: treu zu lieben, wie er es geliebt, gelo‑ eine schärfer antifranzösisch Stoß‑ gerne zusammen, so zog sich ben wir, demselben unsre Kräfte zu richtung. Ernst Moritz Arndts inzwi‑ Bücking hier stattdessen auf ein weihen, ja, wenn es nöthig ist, freu‑ schen berühmt‑berüchtigtes „Lied preußisch‑deutsches Geschichtsbild dig selbst des Herzens Blut dafür zu von Schill“ von 1813 wurde nun im‑ zurück, ja machte Schill gar zu ei‑ opfern.“ mer häuiger zitiert – insbesondere nem Vorläufer der kleindeutschen die Schlussverse: „So rufet er im‑ Lösung. mer: ‚Herr Schill! Herr Schill!/Ich an Dass sich ausgerechnet ein Mann den Franzosen Euch rächen will.“ Unbestimmt – und gerade deshalb der Kirche einer derart nationalisti‑ sicher als Verplichtung aus der Ver‑ schen und martialischen Rhetorik Als Vergleichsmoment für die Feier‑ gangenheit für die Gegenwart zu hingab, passt in die Zeit. Die enge lichkeiten um 1837 bietet sich die verstehen – stellte Bücking trotz der Verbindung aus insbesondere pro‑ Festveranstaltung zum hundertsten erreichten Nationalstaatsgründung testantischer Kirche und dem jewei‑ Todestag Schills 1909 an. Dieser die rhetorische Frage: „Sind die Zei‑ ligen Herrscherhaus ist für das 19. wurde auch in Braunschweig groß ten der Unterdrückung und Unfrei‑ Jahrhundert bekannt. Interessant ist gefeiert, das Denkmal war ge ‑ heit für immer dahin?“, bevor er sich an der Predigt, die sich über weite schmückt, an den Ecken waren „Eh‑ darum bemühte, ausgehend von der Strecken wie ein politisches Pam‑ renjungfrauen“ postiert – mit Nähe ihrer Grabstätten (auch wenn phlet liest, noch, welche Rolle Napo‑ blau‑gelben und schwarz‑weiß‑ro‑ es bei Schill nur um den Kopf ging) leon in ihr spielte; dieser wurde als ten Schärpen, was sofort die Verbin‑ eine direkte Verbindung von Lessing „Herrscher des Jahrhunderts, des dung von braunschweigischer und zu Schill zu ziehen und so, davon Glückes schlachtenkundiger Sohn“ nationalstaatlicher Identität ver‑ kann man ausgehen, Deutschlands eingeführt. Aus der Warte der neue‑ deutlichte. Mehrere Hunderte gela‑ militärische mit seinen geistigen ren theoretischen Arbeiten zu Hel‑ dene Gäste versammelten sich am „Und diese ganze werte Stätte rings‑Leistungen in Beziehung zu setzen: dennarrativen ist dies ein klas ‑ 18. Juli 1909 im „Schillgarten“, dar‑ um sagt uns für Vergangenheit und sisches Bei spiel dafür, wie ein unter viel Militär, aber auch zivile Gegenwart von Freiheit, Vaterlands‑ übermächtiger Feind gezeichnet Würdenträger und ein Abgesandter liebe und Opferwilligkeit. Auf diesem wurde, dem der „Held“ nur unterlie‑ des Herrscherhauses. Organi siert selben Platz zwischen Schilldenkmal gen konnte – trotz all seiner positi‑ wurde die Feier von zwei Lehrern, und Lessings Grab, dort weiterhin ven Eigenschaften wie Mut, Kraft, die protestantische Kirche – dies‑ unter den Augen eines unserer deut‑ Entschlossenheit etc. Spannender mal in Person des bekannten Pas‑ schesten Dichter [gemeint ist sicher ist jedoch, dass Fink für sein diffus tors von St. Katharinen und Wilhelm Raabe, der unweit wohnte; bleibendes, zwischen kleinstaatli‑ Schriftstellers Martin Bücking – J.V.], begeht unsere deutsche Jugend cher Loyalität und kulturnationaler spielte wieder eine tragende Rolle. alljährlich den Tag von Sedan. Das Zugehörigkeit mäanderndes Ver‑ Bückings Predigt enthielt eine ver‑ gibt uns Zuversicht und Hoffnung ständnis des Nationalismus offen‑ knappte Darstellung der Ereignisse auch für kommende Zeiten.“ bar keines Feindbildes bedurfte, um von 1809 – wohlgemerkt, ohne seine Botschaft an den Mann zu einen Hinweis darauf, dass Schill bringen. Vielmehr erkannte er Na‑ ohne Befehl des Königs handelte. poleons militärische Leistungen an. Ausgehend davon entwickelte Bückings Rede blieb so – sicher Bücking ein teleologisches Ge‑ auch zeittypisch – ambivalent: Er 4 Rundbrief 2/2020

präsentierte sich zum einen als An‑ zeitig konnte er seine Begeisterung während der Weimarer Republik hänger eines vergleichsweise libe‑ für die unter Preußens Führung und dann vor allem im Nationalso‑ ralen Bildungsbürgertums und herbeigeführte deutsche Einigung zialismus war zumindest Bücking bekannte sich offensiv auch zu den nicht verhehlen, ja er wollte es auch damit noch weit entfernt. Er war al‑ Werten der Auklärung – so in sei‑ gar nicht. Schill wurde für ihn zum lerdings auch eine eher gemäßigte ner Lessing‑Verehrung, „des freies‑ zeitlosen Träger dieser nationalen Stimme im Schill‑Gedenken der ten Mannes seines Jahrhunderts: – Idee auf politischem, Lessing zu de‑ Zeit. ein Geisteskämpfer, dessen Name ren Repräsentanten auf kulturellem . hell durch die Welt klingt, während Gebiet. Gepaart war all dies mit ei‑ Die Fortsetzung folgt Jonathan Voges im kommen‑ die Engherzigkeit, die ihn hier da‑ ner gehörigen Portion Lokalstolz. den Rundbrief mals verfolgte, mit ihren Namen Von der noch schärferen Indienst‑ längst spurlos verweht ist.“ Gleich‑ nahme Schills im Ersten Weltkrieg, Den Blick erweitern: Zwangsarbeit in der Kriegsgesellschaft

Die Bevölkerung der Stadt Braun‑ den nationalsozialistischen Deut‑ Umgang mit den zur Zwangsarbeit schweig war seit Beginn der natio‑ schen als „minderwertig“. Ein Kon‑ eingesetzten Frauen und Männern nalsozialistischen Diktatur mit den takt zur deutschen Bevölkerung hatte. Neben dem Projekt zur Ge‑ Gewalttaten der neuen Machthaber sollte verhindert werden. schichte des Schilldenkmals legt es konfrontiert. Sie waren sichtbar und einen Grundstein der Konzeptions‑ bekannt, verbreiteten Schrecken Ausgehend vom Einsatz der Häftlin‑ entwicklung für die Gedenkstätte unter den Gegnern der Nationalso‑ ge aus dem KZ‑Außenlager in der KZ‑Außenlager Schillstraße. Das zialisten und fanden die Zustim‑ Schillstraße beim LKW‑Hersteller Projekt lotet aus, welche Quellenbe‑ mung ihrer Anhänger. Der Ras ‑ Büssing‑NAG geht das aktuell lau‑ stände für eine zukünftige Ausge‑ sismus der Nationalsozialisten wur ‑ fende Rechercheprojekt „KZ‑Häft‑ staltung der inhaltlichen Vermitt ‑ de rechtlich verankert und zeigte linge und Zwangsarbeiter in der lung und der pädagogischen Arbeit sich in immer weiterreichenden Kriegsgesellschaft“ der Frage nach, bisher unerschlossen geblieben Formen von Ausgrenzung und Ver‑ wie sich die Stadtgesellschaft in sind. Dabei rückt unter der Frage‑ folgung derjenigen Menschen, die Braunschweig während des Krieges stellung nach der Zwangsarbeit in nicht als Teil der sogenannten veränderte und welche Formen der der braunschweigischen Stadtge‑ „Volksgemeinschaft“ gesehen wur‑ den. .Mit dem Zweiten Weltkrieg nahm die Diskriminierung neue Dimen‑ sionen an. Zur Stützung der deut‑ schen Wirtschaft, zum Aubau und zur Aufrechterhaltung der deut‑ schen Rüstungsindustrie wurden Menschen aus den besetzten Gebie‑ ten in das Deutsche Reich gebracht. Auch in Braunschweig wurden sie als Arbeitskräfte in der Industrie und in der Landwirtschaft einge‑ setzt. In aller Deutlichkeit aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ und damit auch aus der städtischen Ge‑ sellschaft ausgeschlossen wurden dabei insbesondere die Menschen Stammwerk der Firma Büssing, Salzdahlumer Straße, ohne Datierung aus den östlichen Ländern Europas. (Städtischer Bilddienst) So galten polnische und in noch hö‑ herem Maße russische Menschen 5 Rundbrief 2/2020 Spendenaufruf sellschaft während des Zweiten Weltkrieges der LKW‑Hersteller Büssing weiter in den Fokus. Es Der Arbeitskreis Andere Geschichte bekannt oder nicht zugänglich wird der Frage nachgegangen, wel‑ inanziert seine Arbeit durch die waren. che weiteren Formen der Zwangsar‑ Beitragszahlungen der Mitglieder, beit im Rahmen der Gedenkstätte durch die städtische Kontinuitäts‑ Allerdings wurde Janniks Arbeit im‑ sinnig in eine Vermittlung mit ein‑ förderung und Projektförderungen mer wieder ausgebremst: Archive bezogen werden müssten. unterschiedlicher Institutionen. Der schlossen wegen der Pandemie, Zu‑ Unterhalt der Gedenkstätte Schill‑ gangstermine wurden erst Monate Hierzu wurde mit der Erfassung von straße, des Vereinsbüros in der später vergeben, Kopien konnten Quellenbeständen in regionalen, Schlossstraße und die Entlohnung nicht bestellt werden. Janniks Tätig‑ über regionalen und internationalen von derzeit vier (Teilzeit‑)Mitarbei‑ keit sollte eigentlich zum Archiven begonnen. Auf diesem ter*innen ist so möglich. In diesem 31.12.2020 beendet werden, aber Weg wird gezeigt, welche Bestände Jahr haben wir auch ganz erfolg‑ es ist absehbar, wichtige Archive zu einer thematischen Ausweitung reich Zuwendungen für Projekte sind noch nicht aufgesucht und zu‑ der Vermittlungsschwerpunkte der eingeworben – so für eine neue In‑ letzt erhobene Bestände für die Gedenkstätte vorhanden sind. Uber ternetseite der Gedenkstätte und ei‑ weitere Nutzung noch nicht aube‑ die bisher zentrale Geschichte des ne Ausstattung mit einem sicheren reitet. Wir haben deshalb bei der KZ‑Außenlagers hinaus ist denkbar, und leistungsfähigen Computer‑ (Landes‑) Stiftung Niedersächsische auch die Bedingungen der Zwangs‑ netzwerk. Gedenkstätten eine Verlängerung arbeit bei dem LKW‑Hersteller und der Förderung beantragt. Doch die‑ Rüstungsproduzenten Büssing‑NAG Die Corona‑Pandemie hat die Arbeit ses bedeutet, dass wir Eigenmittel detaillierter zu präsentieren. Zu‑ aber erheblich beeinlusst: So hat‑ von 4.500,‑‑ € einbringen müssen. gleich soll die Perspektive auf die ten wir zur Jahresmitte Jannik Sach‑ Diese sind kurzfristig nicht aus an‑ städtische Gesellschaft und ihre weh beauftragt, in örtlichen und derer Quelle zu bekommen. Wir Veränderung während des Zweiten überregionalen Archiven nach Quel‑ wären Ihnen insofern sehr dankbar, Weltkrieges geöffnet werden. Ein len über die Zwangsarbeit insbe‑ wenn Sie mit einer Spende helfen interessanter Fall ist die Ausgrün‑ sondere bei der Firma Büssing zu würden, diese Finanzlücke zu ver‑ ringern, so dass diese wichtige Ar‑ dung der Niedersächsischen Moto‑ suchen. Es zeigte sich, ein sehr sinn‑ volles Unterfangen, denn Jannik beit zu Ende geführt werden kann. renwerke (Niemo) durch Büssing ‑ Sachweh fand zahlreiche Dokumen‑ ‑NAG. Dieses neu aufgebaute Werk te, die vor fünfzehn Jahren noch un‑ Isolde Saalmann der Rüstungsindustrie in Braun‑ schweig‑Querum produzierte Flug‑ neuen Fragestellung unterzogen. nem Ehepaar aus den Niederlanden, zeugmotoren für die deutsche Luft ‑ Die Briefwechsel, die Karl Liedke das die Gedenkstätte besucht hatte, waffe und bietet die Möglichkeit Mitte der 1990er Jahre mit polni‑ ergab sich eine weitere Perspektive, eines Vergleichs mit dem Stamm‑ schen Zwangsarbeiterinnen und die bisher kaum beachtet wurde. werk, das LKW für die Wehrmacht Zwangsarbeitern führte, verspra‑ Die Suche nach dem Kriegseinsatz herstellte. Für den bisherigen For‑ chen zahlreiche Funde zur Situation des Vaters gab den Hinweis auf die schungsstand zu den Niemo lässt der Menschen bei Büssing‑NAG und größere Gruppe der „Merwedegij‑ sich feststellen, dass er, wie bei vie‑ den Niemo. Durch umfangreiche zelaars“, die im Stammwerk von len Unternehmen des Flugzeug ‑ Ubertragungen aus dem Polnischen Büssing eingesetzt wurden. Diese baus, stark auf das Produkt Flug ‑ konnten hier neue Perspektiven er‑ im Rahmen einer Vergeltungsrazzia zeug und seine technischen Details öffnet werden. So zeigte sich, dass verschleppten Niederländer waren fokussiert ist. mehrere Familien, die nach dem im Lager Mascherode interniert Warschauer Aufstand zur Zwangs‑ worden. Als Teil der Büssing‑Werks‑ Da bedingt durch die Corona‑Pan‑ arbeit verschleppt worden waren, feuerwehr wurden die Gefangenen demie die Arbeit in vielen Archiven dort eingesetzt wurden. Vor diesem nach Bombenangriffen zu gefährli‑ im bisherigen Projektzeitraum stark Einsatz waren sie in KZ inhaftiert chen Lösch‑ und Aufräumarbeiten eingeschränkt und teilweise sogar worden. Davon berichtet ein Brief herangezogen. Durch den herge‑ unmöglich war, wurde zunächst ein von Waldemar Dej, der als Kind im stellten Kontakt zu Anja van der Bestand des Arbeitskreises Andere Lager Mascherode arbeiten musste. Starre, einer niederländischen For‑ Geschichte einer Sichtung unter der Durch den zufälligen Kontakt zu ei‑ scherin, konnte der dortige For‑ 6 Rundbrief 2/2020

schungsstand erstmals erfasst wer‑ könnte ein vertieftes Verständnis tige Weiterführung der Recherchen den. Insgesamt hat sich gezeigt, für die unter schiedlichen Formen not wendig, für die bereits eine gute dass der gewählte Betrachtungs‑ der Zwangs arbeit und ihre Dimen‑ Grundlage gelegt werden konnte.Jannik Sachweh rahmen von Zwangsarbeit und sionen in der braunschweigischen Kriegsgesellschaft für eine zukünf‑ Stadtgesellschaft erreicht werden. tige Arbeit der Gedenkstätte sehr Die aktuell massiven Einschränkun‑ lohnenswert erscheint. Durch ihn gen der Arbeit machen eine zukünf‑ Zwangsarbeit in Braunschweig als Thema eines interdisziplinären Workshop‑Angebots

Eine Gruppe Schüler*innen der Ni‑ belungen Realschule sitzt an einem Donnerstagmorgen in einem Stuhl‑ kreis in der Gedenkstätte Schillstra‑ ße. Gespannt warten sie darauf, was nun passieren wird. Sie hatten von ihrer Lehrerin vorab nur erfahren, dass sie an einem zweitägigen Workshop teilnehmen werden und es inhaltlich um das Thema Zwangsarbeit während der NS‑Zeit in Braunschweig gehen soll. Gibt es erst einmal einen längeren Vortrag? Wird als Einstieg ein Film geschaut? In der Mitte des Raumes liegen vierzig historische Fotograien ver‑ Schüler*innen erstellen ein Skript für eine Audioaufnahme. (Foto: Sophia teilt. Was hat es damit auf sich? Hamann) Dann geht es los – nach der Begrü‑ ßung durch Gerald Hartwig und So‑ phia Hamann werden die Schüler*innen gleich selbst aktiv. 2020 mit 9. Klassen des Gymnasi‑ sich dabei durch einen stark aktiv‑ Sie sollen sich individuell aus dem ums Neue Oberschule, der Nibelun‑ kreativen Zugang mit dem Thema Fotobestand eine Aufnahme aussu‑ gen Realschule und der Haupt ‑ Zwangsarbeit während der NS‑Zeit chen, welche sie vom Motiv her in‑ schule Pestalozzistraße erstmalig in Braunschweig auseinanderset‑ teressant inden und über welche erprobt wurde. Die Stiftung nieder‑ zen. Wie in der obigen Darstellung sie mehr herausinden möchten. Je‑ sächsische Gedenkstätten förderte bereits deutlich wurde, sind histori‑ de*r Schüler*in stellt anschließend zwischen September 2019 und Fe‑ sche Fotograien aus dem Privatbe‑ das Foto kurz vor und begründet bruar 2020 das Projektvorhaben, in sitz ehemaliger polnischer Zwangs ‑ die Entscheidung. Die jeweils aus‑ dessen Rahmen Gerald Hartwig und arbeiter*innen, welche von Karl gewählte Fotograie wird die Schü‑ die Künstlerin Sophia Hamann ein Liedke in den 1990er Jahren für den ler*innen in der Folge des Konzept erarbeiten, geeignete Me‑ Verein erschlossen wurden, wesent‑ Workshops noch weiter begleiten. thoden auswählten, Materialien licher Ausgangspunkt der Ausein‑ aubereiteten, mögliche Abläufe andersetzung. Die ausgewählten Die beschriebene Situation bildet strukturierten und letztlich die Er‑ Aufnahmen, welche ausnahmslos den Einstieg in ein neues, interdis‑ probungen an jeweils 2‑3 Tagen Personen zeigen, sind sowohl als ziplinäres Workshop‑Format in der selbst durchführten. Der innovative historische Quellen als auch künst‑ Gedenkstätte Schillstraße, welches Ansatz des neuen Workshop‑Ange‑ lerisches Bildmaterial dafür sehr Gedenkstättenpädagogik mit Kunst‑ botes ist die Verknüpfung von Ge‑ gut geeignet. Der speziische Cha‑ vermittlung verknüpft und dessen denkstättenpädagogik mit Kunst rakter der Fotograien bietet eine Konzept im Januar und Februar (‑vermittlung). Jugendliche können gute Möglichkeit biogra iebezogen 7 Rundbrief 2/2020

zu arbeiten und die Schüler*innen der Empathie fördernde Prozess auf der beiden Schwestern, welches auf für einen kritischen Umgang mit dem Weg dorthin. der Fotograie vermittelt wird, da‑ historischen Quellen zu sensibilisie‑ bei gekonnt in die Gegenwart trans‑ ren. Die hier abgedruckte Collage veran‑ portieren. schaulicht exemplarisch verschie‑ Nach dem Einstieg sollte in den dene Schritte von der Fotoauswahl In der nachfolgenden Arbeitsphase nachfolgenden Ubungen das genaue bis zum Druck auf den Auslöser der wurden die Fotograien durch histo‑ Untersuchen der historischen Auf‑ Polaroid‑Kamera. Zunächst wählte rische Informationen und Quellen‑ nahmen vertieft werden, um den die Schülerin Merle (Gymnasium materialien kontextualisiert und Schüler*innen bewusst zu machen, Neue Oberschule) in der Einstiegs‑ kontrastiert. Zunächst wurde disku‑ dass hinter den abgebildeten Perso‑ runde die historische Fotograie mit tiert, in welchem Zusammenhang nen real existierende Menschen mit den Schwestern Krystyna und Irena die Menschen aus Polen nach eigenen Geschichten stehen. Zu‑ Gawrys aus, welche im Juni 1941 Deutschland kamen. Versuche, die nächst formulierten die Schüler*in‑ als Zwangsarbeiterinnen nach Menschen zunächst freiwillig nach nen Fragen an die Person(en) auf Braun schweig verschleppt wurden Deutschland zu locken, wurden an‑ ihren Fotograien und hielten diese und bei einem illegalen Auslug hand von historischen Anwerbungs‑ schriftlich fest. Diese waren vielfäl‑ nach Watenstedt‑Salzgitter im Fol‑ plakaten veranschaulicht. Auch hier tig und reichten von grundlegenden Fragen zu Lebensdaten über „Warum trägt die Person ein „P“‑Ab‑ zeichen?“ bis zu „Die Person sieht irgendwie traurig aus, was hat sie in der konkreten Situation gefühlt?“. In einem weiteren Schritt der Annäh‑ rung sollten die Jugendlichen für sie besonders auffällige Details in den Aufnahmen zeichnerisch festhalten. Den Höhepunkt dieser Arbeitsphase bildete eine anschließende Klein‑ gruppenarbeit, in deren Rahmen sich die Schüler*innen zunächst ge‑ meinsam auf eine ihrer Aufnahmen einigten, deren Szene sie gerne nachstellen würden. Der Fokus lag dabei auf der Körperhaltung, Gestik und Mimik der abgebildeten Men‑ Schüler*innen nähern sich einer historischen Aufnahme an ‑ performativ und schen. Die Gruppen konnten frei mit Detailzeichnung (Foto: Sophia Hamann) entscheiden, wie sie dieses umsetz‑ ten wollten und probierten ver‑ schiedene Möglichkeiten aus. Schüler*innen, die aufgrund der be‑ grenzten Anzahl an Personen nicht gejahr von sich eine Fotograie an‑ wurde vorrangig über die Bildspra‑ an der Szene teilnehmen konnten, fertigen ließen. Die Schülerin stellte che der Darstellungen mit den Ju‑ waren für Regieanweisungen zu‑ als Detail die innige Umarmung der gendlichen gearbeitet. Nach dem ständig und leiteten die Anderen beiden Frauen zeichnerisch heraus. Ubergang zu Zwangsverschleppun‑ z.B. beim Einnehmen der Körper‑ In der Diskussion entschieden sich gen und weiteren radikalen Maß‑ haltungen an. Um diese Inszenie‑ die Teilnehmer*innen aus ihrer nahmen waren die Pol*innen in rungen festzuhalten, wurden Gruppe gemeinsam für ihre Foto‑ Deutschland ab März 1940 mit den Polaroid‑Fotograien erstellt. Am graie und entschlossen sich zwei sogenannten „Polenerlassen“ um‑ Ende sollten nicht die vorliegenden männliche Schüler für die Inszenie‑ fassenden rassistischen Einschrän‑ Fotoprodukte das zentrale didakti‑ rungen einzusetzen. Diese konnten kungen bzw. Zwangserlassen unter ‑ sche Ziel sein, sondern vorrangig das vertraulich‑intime Verhältnis worfen. Auf leicht verständliche 8 Rundbrief 2/2020

Weise sollten die Schüler*innen sich diese während des Aufnahmepro‑ Am Ende erklärten sich die Schü‑ gegenseitig bestimmte Vorschriften zesses mit ein. ler*innen alle bereit ihre Aufnah‑ näherbringen. Zur Veranschauli‑ men im Plenum vorzuspielen. chung konnten sie mit Kreide auf Auch in dieser Arbeitsphase gab es Einzelne äußerten zunächst Unsi‑ dem Fußboden in der Gedenkstätte ein paar überraschende und ein‑ cherheiten, wie ihre Mitschüler*in‑ für ihre Präsentationen kleine Skiz‑ drückliche Situationen, insbesonde‑ nen auf ihre Aufnahmen reagieren zen, Diagramme, Erläuterungen und re mit den Schüler*innen der würden. Letztlich überwog aber bei ähnliche Darstel lungsformen au‑ Hauptschule Pestalozzistraße. In ei‑ allen drei Schulklassen eine Atmo‑ ner Gruppe waren Kamil und Jero‑ bringen. sphäre einer starken Wertschät‑ me, die sich zunächst schwer taten zung untereinander für die Ergeb ‑ eine geeignete Umsetzungsform für nisse. In einer letzten Arbeitsphase konn‑ eine Audioaufnahme zu inden. So‑ ten die Schüler*Innen mehr zu ih‑ phia Hamann kam mit ihnen ins Ge‑ ren zuvor ausgewählten Foto graien spräch und versuchte Möglichkei ten Ausschließlich mit den Schüler*in‑ und den damit in Zusammenhang mit ihnen zu erschließen. Kamil, nen der Hauptschule Pestalozzi‑ stehenden Personen erfahren. Zu je‑ dessen Eltern gebürtige Polen sind, straße, die einen Tag mehr Zeit hat‑ der Fotograie wurde eine „Recher‑ eröffnete im Austausch, dass einige ten als die anderen beiden Gruppen, chemappe“ ausgehändigt, in wel ‑ seiner Verwandte im Zweiten Welt‑ wurde zum Abschluss noch eine cher z.B. biograische Angaben, krieg getötet wurden und seine Ur‑ weitere kreative Aktivität erprobt. Erinnerungsberichte und personen‑ großmutter ebenfalls als Zwangs ‑ Die Schüler*innen konnten unter bezogene Dokumente zusammenge‑ arbeiterin in Deutschland einge ‑ den Eindrücken der vergangenen fasst waren. Auf Grundlage dieser setzt worden war. Gemeinsam Tage einen Ansteck‑Button mit ei‑ Informationen und den im bisheri‑ entschlossen sich die beiden Schü‑ nem Wort gestalten, welches ihre gen Workshop‑Verlauf behandelten ler, dass Jerome seinen Mitschüler persönlichen Wünsche für die Zu‑ Themen bestand nun die Aufgabe Kamil interviewen und dieser seine kunft im Zusammenleben mit ihren Familiengeschichte und das Ver‑ wiederum in einer Kleingruppenar‑ Mitmenschen verdeutlichten sollte. schweigen der Erlebnisse seiner beit ein Skript zu erarbeiten und auf „Kein Krieg mehr!“ und „Gleichbe‑ Großmutter in den Mittelpunkt stel‑ rechtigung“ sind nur zwei Bespiele, Grundlage dessen eine Audioauf‑ len wollte. Auch in einer anderen die sich auf Buttons von zwei Schü‑ nahme als künstlerische Ausdrucks‑ Kleingruppe gab es eine Situation, form zu erstellen. zu der es im Rahmen eines regulä‑ lerinnen an ihren Jacken bei der ren Vermittlungsformates mögli‑ Verabschiedung wiederfanden. Hinführend wurden mit den Schü‑ cherweise nicht ge kommen wäre: ler*innen besprochen, auf welche Der Schüler Akif kam als Gelüchte‑ Das neue Workshop‑Angebot ist in‑ Weisen mit Sound gearbeitet, wel‑ ter nach Deutschland und hatte zwischen für interessierte Schul‑ ches Format eine Aufnahme haben trotz seines inzwischen längeren klassen und Jugendgruppen buch ‑ und mit welchen vielfältigen Metho‑ Aufenthaltes große Hemmungen bar und soll nach Ende der den die eigene Stimme einbezogene Deutsch zu sprechen. Im bisherigen Einschränkungen durch die Corona‑ werden könnte. Bei der Erstellung Workshopverlauf hatte er sich an Situation als reguläres Angebot fest der Sound‑Skripte sollten die Schü‑ den Ubungen und Inszenierungen in der Gedenkstätte etabliert wer‑ ler*innen auch visuell deutlich ma‑ aufge schlossen beteiligt, brachte den. Gegenwärtig erarbeiten Gerald chen, wie sich diese strukturieren. sich allerdings nicht mit mündli‑ Hartwig und Sophia Hamann in ei‑ chen Beiträgen ein. In der vertrauli‑ Einbezogene Bild‑ und Textquellen nem Folgeprojekt, welches von Au‑ chen Atmosphäre mit zwei weite ren wurden an relevanten Stellen zwi‑ gust bis Dezember 2020 ebenfalls Mitschülern und aufgrund der sehr schen die einzusprechenden Text‑ großen Freiheit im Hinblick auf eine von der Stiftung niedersächsische zeilen eingefügt und anein ‑ Um setzung wollte er sich bei der Gedenkstätten voll gefördert wird, andergeklebt. Einige Schüler*innen Audioaufnahme beteiligen und äu‑ eine Projektdokumentation und i‑ entschieden sich bei der Umsetzung ßerte sich dahingehend, wie er sich nalisieren sie das erprobte Work‑ z.B. für eine Reportage oder ein In‑ in der Gegenwart ein Arbeitsumfeld shop‑Konzept sowie Gerald Hartwig die eingesetz ‑ terviewformat und stellten ausge‑ im Ge gensatz zu den damaligen ten Materialien. wählte Biograien in den Zwangs maßnahmen wünscht ‑ sein Mittelpunkt. Einige setzten nicht größter Wunsch wäre später Feuer‑ nur ihre Stimmen ein, sondern re‑ wehrmann zu werden und die Tä‑ cherchierten im Internet Sound‑ tigkeit mit Motivation und Freude oder Musiksequenzen und fügten ausführen zu können. 9 Rundbrief 2/2020 Neues aus dem Arbeitsbereich Sammlung und Recherche

Der folgende Bericht soll sowohl den Mitgliedern des Arbeitskreises Andere Geschichte e.V. als auch al‑ lenan den Aktivitäten des Vereins Interessierten einen Uberblick über die 2020 in den Tätigkeitsbereichen Sammlung und Recherche erzielten Arbeitsfortschritte geben.

Ermöglicht durch eingeworbene Fördermittel aus dem Niedersächsi‑ schen Investitionsprogramm für kleine Kultureinrichtungen des Mi‑ nisteriums für Wissenschaft und Kultur konnte der Arbeitskreis sei‑ ne technische Ausstattung und In‑ Der Anfang ist gemacht: Archivschränke warten darauf, gefüllt zu frastruktur wesentlich verbessern. werden (Lars Skowronski). Im Zentrum steht dabei die virtuelle Verbindung der beiden Standorte – des Büros in der Schlossstraße und (Laptop, Scanner usw.) angeschafft lagert, die wichtigsten Teile der der Gedenkstätte Schillstraße – mit‑ wurde. In dem Programm werden Sammlung – vor allem Originalun‑ tels eines gemeinsamen Netzwerks. in den kommenden Jahren die Bi‑ terlagen und Fotos – beinden sich Hierzu stellt ab November 2020 die bliotheks‑, Dokumenten‑, Foto‑ und nun in extra beschafften Akten‑ Braunschweiger IT‑Firma Mandala Videobestände des Arbeitskreises schränken, sodass zumindest vor‑ eine Serverumgebung zur Verfü‑ sukzessive verzeichnet. Nach ent‑ erst sichergestellt ist, dass diese gung, die nicht nur ein professionel‑ sprechender Einarbeitung in die keinen Schaden nehmen. les Maß an Sicherheit gewährleistet, Datenbank werden dort die Inhalte sondern darüber hinaus den Zugriff intern recherchierbar sein; zudem Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt auf alle Daten des Arbeitskreises bietet sie die Option Digitalisate bildete die Verzeichnung der Doku‑ und der Gedenkstätte von den bei‑ sämtlicher Medienformen zu hin‑ menten‑ und Fotobestände sowie den Braunschweiger Standorten terlegen, sodass nicht mehr zwin‑ die Digitalisierung ausgewählter und prinzipiell von jedem Ort welt‑ gend auf die Originale zurück ‑ Teile der Sammlung. Zu den bereits weit mit Internetzugang möglich gegriffen werden muss. Perspek ‑ erwähnten Dokumentenordnern macht. Zum einen ist dies Voraus‑ tivisch könnten die Inhalte dann – entsteht derzeit ein provisorisches setzung, um die internen Arbeitsab‑ bei Einsatz eines speziischen Zu‑ Findmittel in Form einer Excel‑Ta‑ läufe effektiver und sicherer zu satzmoduls des Programms – auch belle. In diese werden die Ordner‑ gestalten, zum anderen können auf externen Nutzer*innen zugänglich bezeichnungen und eine kurze dem Weg – insbesondere in Kombi‑ gemacht werden. Beschreibung ihres Inhaltes aufge‑ nation mit der gerade neu im Au‑ nommen, um einen Uberblick über bau beindlichen Webpräsenz der Am Standort Schlossstraße, wo der die darin enthaltenen Unterlagen zu Gedenkstätte Schillstraße – Schulen größte Teil der Foto‑ und Dokumen‑ erhalten. Zudem erhält jeder Ordner und der interessierten Offentlich‑ tensammlung des Arbeitskreises in eine fortlaufende Signaturnummer, keit verbesserte pädagogische An‑ einem Büro und in einem Abstell‑ die ihn im Gesamtbestand wieder gebote bzw. Möglichkeiten zur raum aubewahrt wird, bestand die aufindbar macht. Bleibt diese Form Teilhabe an den Vereinsaktivitäten größte Herausforderung darin, die der Erschließung aufgrund der unterbreitet werden. Wesentlicher unter konservatorischen Gesichts‑ Menge der Unterlagen noch ver‑ Baustein dafür ist die Datenbank‑ punkten schwierigen Lagerungsbe‑ gleichsweise an der Oberläche, und Archivierungssoftware Faust, dingungen zu verbessern. Zahlrei ‑ wird sie bezüglich bestimmter deren neueste Version neben ver‑ che Dokumentenordner wurden wichtiger Teilbestände der Samm‑ schiedenen technischen Geräten gereinigt und in neue Regale umge‑ lung bereits detaillierter vorgenom‑ 10 Rundbrief 2/2020

men. Insbesondere trifft das auf die Auch die pädagogische Arbeit der drängt wurde und nach Großbritan‑ sog. Sammlung Liedke zu. Das Kon‑ Gedenkstätte Schillstraße konnte in nien emigrierte. Hierzu konnten die volut, bestehend aus einem Dutzend einigen wichtigen Punkten unter‑ Schüler*innen auf einen Erinne‑ Ordnern, entstand als Ergebnis der stützt werden. Zu nennen ist dabei rungsbericht des Betroffenen eben‑ Arbeit des in diesem Jahr verstorbe‑ zuvorderst ein erstmals in der Form so zurückgreifen wie auf dessen nen Braunschweiger Historikers durchgeführtes Forschungs‑ und Personalakte und ein Dokumenten‑ Karl Liedke, der sich u.a. auf dem Rechercheprojekt mit der Integrier‑ konvolut, das nach dem Zweiten Gebiet der Forschungen zur Ge‑ ten Gesamtschule Franzsches Feld. Weltkrieg im Zuge eines Entschädi‑ schichte der NS‑Zwangsarbeit be‑ Ein Abiturkurs erhielt dort die Auf‑ gungsverfahrens entstanden war. Ei‑ deutende Verdienste erworben hat. gabe, Lebensläufe von Braun‑ ne Entschädigungsakte half einer In den Ordnern beinden sich hun‑ schweiger Jüd*innen zunächst zu anderen Gruppe des Kurses auch, derte Auskunftsbögen von polni‑ recherchieren und innerhalb des das Verfolgungsschicksal Samuel El‑ schen Zwangsarbeiter*innen, in Kurses zu präsentieren. Im zweiten perins zu rekonstruieren. Der jüdi‑ denen sie sich im Zuge einer Befra‑ Schritt sollten dann von den Schüle‑ sche Kaufmann, im russischen gungsaktion zu Einsatzorten, Le‑ r*innen aus den gesammelten Da‑ Zarenreich geboren, war im Zuge bensbedingungen und Repressio ‑ ten und Dokumenten pädagogische des Ersten Weltkriegs nach Braun‑ nen im Rahmen des Arbeits ‑ Materialien für Mädchen und Jun‑ schweig gekommen und hatte sich einsatzes für die deutsche gen einer niedrigeren Jahrgangsstu‑ dort eine Existenz aufgebaut. Nach‑ Kriegswirtschaft im Zweiten Welt‑ fe erarbeitet werden. Dieser Prozess dem er in verschiedenen Zuchthäu‑ krieg in Braunschweig äußerten. wurde unsererseits durch die Vor‑ sern und Lagern inhaftiert worden Diese Unterlagen sind nun vertieft recherche der Biograien, die Be‑ war, gelang ihm im Sommer 1941 erschlossen, sodass nach Namen schaffung der Unterlagen aus dem schließlich die Auswanderung in die der Betroffenen und den Firmen, in Niedersächsischen Landesarchiv USA. denen sie tätig waren, recherchiert und aus einer privaten Sammlung werden kann. sowie durch die Anleitung des Kur‑ Bedingt durch die Corona‑Pandemie ses unterstützt. Eingang in das Pro‑ konnte das Projekt im Frühjahr Aufgrund ihrer herausragenden Be‑ jekt fanden neben der seit langem nicht wie geplant abgeschlossen deutung steht die Sammlung Liedke in der Bildungsarbeit der Gedenk‑ werden. Nichtsdestotrotz hat das im nächsten Schritt auch zur Digita‑ stätte Schill straße präsenten Bio‑ Konzept in der Schule so überzeugt, lisierung an. Hierbei proitieren wir graie des Braunschweigers Semmy dass es im nun laufenden Schuljahr künftig nicht nur von der Ar‑ Frenkel auch bislang weniger be‑ mit einem neuen Kurs, der sich teils chivsoftware Faust, sondern ebenso achtete Lebensgeschichten. So be‑ wieder anderen Lebensläufen zu‑ von zwei im Rahmen der Fördermit‑ fasste sich eine Arbeitsgruppe mit wendet, fortgesetzt wird.Lars Skowronski teleinwerbung neu beschafften Do‑ dem Leben des Oberverwaltungsge‑ kumenten‑ und Fotoscannern. richtsrats Walter Gutkind, der von den Nazis aus dem Justizdienst ge‑

Abendlicher Protest gegen ein von neofaschistischen Gruppen angemeldetes "Heldenge‑ denken" am Schilldenkmal. Aufgrund städtischer Aulagen konnte die pro‑ vozierende Veranstaltung am 15. November 2020 dann nur auf dem Löwenwall stattinden. Statt Fackeln wurden Kerzen entzündet. Foto: Martina Staats

11 Rundbrief 2/2020

Jahrhunderts“, deren letzter Band in diesem Jahr veröffentlicht wurde.

Waren es bei gleichem Buchumfang im 2012 erschienen ersten Band der „Persönlichkeiten“ noch 68 Bio‑ graphien, die vorgestellt wurden, sind es im neuesten Band „nur“ noch 35: der Textumfang der Bio‑ graphien hat sich von vier Seiten auf sechs bis zehn Seiten pro Bio‑ graphie vergrößert, um der Entfal‑ tung der Lebensgeschichten mehr Raum zu geben. Vier Biographien des ersten Bandes (Martha Fuchs, Gustav Gassner, und August Herrmann) wurden erneut aufgenommen und wesentlich er‑ weitert.

Die bewährten Hilfsmittel aus den Vorgänger‑Bänden sind auch hier zu inden: insbesondere die zahlrei‑ chen Verweise helfen dabei, die un‑ terschiedlichen Biographien der zu Anfang genannten sechs Bände (plus die von Reinhard Bein ver‑ fassten Biographien in den „Lebens‑ geschichten von Braunschweiger Juden“) miteinander zu verknüpfen. Neu dazu gekommen ist eine Seite mit Hinweisen auf Gräber auf dem Hauptfriedhof.

Zum vierten Band der „Persönlich‑ keiten“ haben folgende Autoren bei‑ getragen: Reinhard Bein, Regina Blume, Gudrun Hirschmann, Lena Kreie, Dieter Miosge, Isabel Rohloff, Henning Steinführer, Manfred Ur‑ nau, Susanne Weihmann Gustav Partington und Mi‑ chael Wettern. Braunschweiger Persönlichkeiten ‑ Vierter Band erschienen Reinhard Bein (Hg.), Braun‑ schweiger Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts aus der Stadt Seit zehn Jahren verfassen Auto‑ des 18. bis 20. Jahrhunderts. Er‑ Braunschweig und den ehemali‑ r*innen – überwiegend Mitglieder schienen sind ein Band zu „Braun‑ gen braunschweigischen Land‑ des Arbeitskreises – unter der Lei‑ schweiger Frauen in ihrer Zeit“, ein kreisen, Band 4, Braunschweig tung von Herausgeber Reinhard Buch über „Hitlers Braunschweiger 2020, ISBN: 978‑3‑9807022‑1‑8 Bein Kurzbiographien zu Personen Personal“ sowie vier Bände „Braun‑ der braunschweigischen Geschichte schweiger Persönlichkeiten des 20. 12 Rundbrief 2/2020

160 Tage weht die rote Fahne.Buchbesprechung Hans‑Ulrich Ludewig über die Revolution 1918/1919

Der Schlossplatz mit den Reiter‑ wert war ihre Strategie für die Ab‑ Reichs regierung agierten. Voraus‑ standbildern der Herzöge Karl Wil‑ setzung des Herzogs Ernst August: gegangen waren Pläne zur Grün‑ helm Ferdinand und Friedrich Eine kleine, frisch gewählte Delega‑ dung einer nordwestdeutschen Wilhelm sowie den Bars und Re‑ tion aus Matrosen und Arbeitern Republik, die namentlich Sepp Oer‑ staurants ist ein beliebter Treff‑ überreichte dem Herzog eine Ab‑ ter (USPD) vorangetrieben hatte. punkt der Braunschweiger*innen – dan kungsurkunde, die dieser nach Damit wurde aus Sicht der Berliner hier beginnen sowohl viele Ein‑ kurzer Beratung mit seinen Minis‑ Reichsregierung endgültig die „rote kaufs‑ und Erkundungstouren als tern unterschrieb. Ernst August war . Linie“ überschritten. auch Demonstrationszüge. damit der erste deutsche Monarch, der abdankte Den Weg dorthin beschreibt der In der Vergangenheit war dieser Ort Verfasser in insgesamt 17 Unterka‑ zudem oft Schauplatz wichtiger Er‑ Der bekannte Historiker Hans‑Ul‑ piteln, die weitgehend chronolo‑ eignisse: So zeigte sich auf dem rich Ludewig, jahrzehntelang be‑ gisch angeordnet sind: Das erste Schlossplatz Anfang November liebter akademischer Lehrer von trägt daher die Uberschrift: „Der Umsturz“ (S. 13‑21); hier werden die verschiedenen Ereignisse bezo‑ gen auf die reichsweite und regio‑ nale Ebene geschildert.

Am 8. November 1918 bildete sich der Arbeiter‑ und Soldatenrat (S. 16 f.). Zwei Tage später tagte im Land‑ tag am Eiermarkt der Arbeiter‑ und Soldatenrat. schlug den Schneider als Präsi‑ denten der Provinz Braunschweig vor. Oerter selbst erhielt den Vorsitz im Rat der Volkskommissare (S. 21). Die Startphase der Revolution war damit beendet. Minna Faßhauer Hans‑Ulrich Ludewig bei einem Vortrag in der Gedenkstätte Schillstraße (mit wurde als erste Frau in der deut‑ Michael Wettern, Foto: Klaus Kohn) schen Geschichte zur Ministerin (für Volksbildung) ernannt. Die MSPD gehörte der Regierung nicht 1913 das frisch getraute Herzogs‑ zahlreichen Geschichtsstudieren‑ an, das war eine klare Abweichung paar der Bevölkerung. Nur fünf Jah‑ den an der TU Braunschweig, be‑ von deutschlandweiten Trends. re später, am 8. November 1918 lief schreibt in seinem neuesten Werk hier die Geburtsstunde der ersten fundiert und pointiert die 160‑tägi‑ Im zweiten Kapitel „Der Blick zu‑ braunschweigischen Demokratie ge Revolutionsphase in Braun‑ rück“ (S. 22‑32) werden die wirt‑ ab: Der Schlossplatz gehörte den schweig. Sie begann am 8. schaftlichen und gesellschaftlichen auf Reichsebene als erste revoltie‑ November 1918 und endete mit Besonderheiten Braunschweigs ge‑ renden Braunschweiger*innen, dar‑ dem Einmarsch der Maercker‑Trup‑ schildert: Mitte des 19. Jahrhun‑ unter zahlreiche Arbeiter und pen am 17. April 1919, die auf Be‑ derts gehörte es zu den wichtigen Soldaten. Geradezu bewunderns‑ fehl der sozialdemokratischen industriellen Regionen Deutsch‑ 13 Rundbrief 2/2020

lands. Nach der Jahrhundertwende blieb das bisherige Verwaltungs‑ modell“. Die Braunschweiger Dis‑ wuchs das Selbstbewusstsein der personal großenteils weiter im kussionen darüber wurden in Braunschweiger Arbeiterschaft zu‑ Dienst. Aufs Ganze betrachtet fehlte Berlin jedenfalls mit Sorge und Arg‑ sehends, es kam zu schweren Ar‑ dem Rätesystem das Fachwissen wohn verfolgt. beitskämpfen. Aufgrund des „ver ‑ und geeignetes Personal. schärften Dreiklassenwahlrechts“ Ein Grund dafür war vermutlich die in Braunschweig gab es bis Kriegs‑ Auf den Seiten 47 bis 103 werden Besonderheit der Braunschweiger ende keinen Sozialdemokraten im Themen wie die „Rückkehr der „Straßenpolitik“ (S. 88 f.), die natür‑ Landtag! Das war reichsweit einma‑ Frontsoldaten“, „Sozialisierungsver‑ lich auch stets den Charakter einer lig. Wie andernorts entwickelte die suche“ und „Machtkämpfe“ behan‑ „Drohkulisse“ aufwies. Die Revolu‑ Arbeiterschaft ein eigenes kulturel‑ delt. Letztlich sollte der Sozialismus tion von 1918 fand in Braunschweig les Umfeld. Politisch ging die Braun‑ den Kapitalismus ersetzen. Geplant selbstverständlich draußen statt, in schweiger Sozialdemokratie einen waren u. a. „genossenschaftliche Hannover dagegen „im Saale“. Zu‑ linkeren Weg als im übrigen Musterbetriebe“ (S. 55). Die Revo‑ sätzlich spielte die Presse in Braun‑ Deutschland. Infolgedessen war lution führte zu etlichen Umsetzun‑ schweig gesellschaftlich und hier die USPD am stärksten. Auf gen alter Forderungen, wie z. B. der politisch eine wichtige Rolle; sie dem Programm der Braunschwei‑ Anerkennung der Gewerkschaften, hatte eine starke polarisierende ger Revolutionäre . standen daher der Auhebung der Gesindeordnung Wirkung: Die Arbeiterschaft kaufte durchgreifende soziale und politi‑ oder der Einführung des Achtstun‑ den „Volksfreund“, während das sche Systembrüche dentages. Die Vergesellschaftung Bürgertum die "Landeszeitung" las der Produktionsmittel hielt man ge‑ oder die "Neuesten Nachrichten".. Im dritten Kapitel „Der Au‑ werkschaftsseitig allerdings nicht Doch damit nicht genug: Zwischen bruch“ (S. 33‑40) skizziert der Au‑ für vor dringlich (S. 55). Aus heuti‑ MSPD und USPD kam es wegen des tor die weitere Entwicklung ab dem ger Sicht skandalös, sollten Frauen, „Volksfreunds“ zu harten Konlik‑ 11. November. Der Arbeiter‑ und so die fast einhellige damalige Mei‑ ten. An Auseinandersetzungen und Soldatenrat übernahm die politi‑ nung, für die zurückkehrenden Sol‑ gesellschaftlichen Gräben unter‑ sche Macht. Um das Erreichte zu daten ihren Arbeitsplatz räumen (S. schiedlichster Form herrschte in schützen, formierte sich eine „Rote 57). Braunschweig wahrlich kein Man‑ Garde“ aus Arbeitern. Ganz wichtig gel! war Oerter die ausreichende Ernäh‑ Eine Bodenreform fand lediglich in rungslage der Bevölkerung und die kleinem Stil im Hinblick auf den Ne‑ Der Verfasser behandelt auf den Schaffung von Arbeitsplätzen. Hohe benerwerb statt: Im Juli 1919 wur‑ Seiten 104 bis 153 zunächst das Relevanz hatte aus Sicht der neuen de ein entsprechendes Gesetz ver ‑ Thema „Alltag – Angste – Gerüchte“. Machthaber außerdem die „enge abschiedet: Es diente der Land ‑ Thema ist hier u. a. die „Tanzwut“ Verzahnung von Altem und Neuen“, beschaffung für Industrie‑ und der Braunschweiger*innen. Ob da‑ was sich z. B. auf die Beibehaltung Landarbeiter. Reformierung der hinter überschäumende Lebens‑ von vielen Gesetzen der alten Re‑ Schulaufsicht, neue Schulbücher freude stand und/oder der „Tanz gierung bezog (S. 34). Insgesamt und die Einführung einer akademi‑ auf dem politischen Vulkan“, lässt gesehen ließen die Revolutionäre schen Lehrerausbildung waren wei‑ der Autor offen. Die schwierige Ver‑ bereits vorhandene Strukturen in tere bedeutende Maßnahmen. Im sorgungslage in allen Bereichen gab Stadt und Land bestehen. Staatsbe‑ Ganzen kam es auf dem Gebiet der es jedenfalls nach wie vor. Hinzu amte wie die Kreisdirektoren blie‑ Schulpolitik zu keiner Annäherung traten Zukunftsängste etwa im Hin‑ ben desgleichen nahezu vollständig zwischen Landeskirche und Arbei‑ blick auf den Arbeitsplatz oder eine in Amt und Würden. terbewegung. etwaige Konterrevolution.

Im vierten Kapitel „Von Räten und Hinter dem Stichwort „Macht‑ Am 1. Dezember 1918 fand die ers‑ Volkskommissaren“ (S. 41‑46) er‑ kampf“ stand vor allem die Frage, te Massenversammlung des Bürger‑ fährt die Leserschaft z. B., wie die für welches Regierungssystem sich tums in Braunschweig statt. Grund Soldatenräte 1918 gewählt wurden. die neuen Machthaber entscheiden war hauptsächlich die Angst vor Der Sitz des Arbeiter‑ und Soldaten‑ würden, zur Auswahl standen v. a. den sozialistischen Plänen der neu‑ rats war im Landtagsgebäude am ein Rätesystem oder alternativ ein en Machthaber. Gefordert wurde Eiermarkt. Auf dem lachen Land parlamentarisch orientiertes „Räte‑ zudem die Einberufung einer ver ‑ 14 Rundbrief 2/2020

fassungsgebenden Versammlung. agonisten der Braunschweiger Re‑ und Politiker. Er engagierte sich zu‑ Das aktive politische Handeln des volution und zum anderen mit den nächst in der SPD, die er aus Unzu‑ hiesigen Bürgertums ist auf Reichs‑ Speziika der hiesigen Revolutions‑ friedenheit wieder verließ. Als ebene einmalig, woanders reagierte geschichte. nächstes betätigte er sich als Anar‑ das Bürgertum eher passiv auf die chist. Nach einem längeren Gefäng‑ revolutionsbedingten Umstände. Beginnen wir mit den Akteuren der nisaufenthalt wandte er sich Unterdessen gab im November Revolution, und zwar mit August wiederum dem Anarchismus zu. 1918 die Berliner Regierung ein Merges, Sepp Oerter und Heinrich 1910 wurde er SPD‑Mitglied. Nach neues Wahlrecht bekannt, erstmals Jasper. Ihre Biographien sind sehr verschiedenen Tätigkeiten als Re‑ durften Frauen wählen und gewählt unterschiedlich, so steht der Sozial‑ dakteur kam Oerter zu Beginn der werden! In Konkurrenz dazu stand demokrat und Jurist Jasper für die Novemberrevolution nach Braun‑ nach wie vor das Rätesystem. parlamentarische Demokratie, schweig zurück. Er entwickelte sich dem gemäß gehörte er der National‑ zur dominierenden Persönlichkeit Ende Februar 1919 kam es zu einer versammlung an. 1919/1920, 1922 der USPD. Von 1920 bis 1921 war Radikalisierung, so gab es für einen bis 1924 und von 1927 bis 1930 er Ministerpräsident. Korruptions‑ Tag in Braunschweig eine Räterepu‑ war er Ministerpräsident und zu‑ vorwürfe zwangen ihn 1921 zum blik (S. 127 f.). Am 9. April 1919 wa‑ gleich Finanzminister. Jasper wurde Rücktritt. 1922 folgte der Aus‑ ren wieder zehntausende Braun ‑ von den Nationalsozialisten ver‑ schluss aus der USPD. 1924 wurde schweiger auf den Schlossplatz folgt, misshandelt und im KZ Ber‑ er NSDAP‑Mitglied. Von 1925 bis zu gekommen. Dort sprach August gen‑Belsen ermordet. seinem Tod 1928 war Sepp Oerter Merges zu ihnen und gab die Forde‑ nicht mehr parteipolitisch aktiv. rungen der Streikleitung bekannt, August Merges, ein gelernter wie z. B. alle Macht den Arbeiterrä‑ Schneider, war zunächst in Holz‑ August Merges, Sepp Oerter und ten und Anschluss an die russische minden parteipolitisch und gewerk‑ haben trotz unter‑ Räterepublik. Der Generalstreik schaftlich tätig. 1911 zog er nach schiedlicher Lebensläufe allerlei ge‑ wurde also bewusst als Druckmittel Braunschweig und schloss sich der meinsam: So beeinlussten sie eingesetzt. Die erwünschte Wirkung radikalen Sozialdemokratie an. Im jeweils auf ihre Weise die Politik im verpuffte allerdings zu einem Ersten Weltkrieg bildete er den Freistaat Braunschweig entschei‑ großen Teil: Ganz unerwartet für „Braunschweiger Revolutionsklub“, dend mit. Dafür zahlten sie zum Teil die Linke kam es zu einem Streik der eine gesellschaftliche Umwäl‑ einen hohen Preis: Merges und Jas‑ des Bürgertums, mit dabei waren u. zung zum Ziel hatte. Viele der per kostete ihr Engagement schlus‑ a. Beamte, Arzte, Lehrer, Apotheker Streiks während des Ersten Welt‑ sendlich das Leben, und Oerters und alle Eisenbahner. Ziel war die krieges wurden von August Merges Biographie würden die meisten Beendigung des „Terrors“ der revo‑ initiiert. Während der Novemberre‑ Menschen heutzutage sicherlich lutionären Arbeiterschaft (S. 131 f.). volution 1918 übernahm er eben‑ nicht als erstrebenswert einstufen. Am 17. April 1919 rückte General falls eine Schlüsselrolle. Schließlich Alle drei waren letztlich Akteure Maercker auf Befehl der sozialde‑ führte er die Delegation an, welche und Opfer zugleich inmitten einer mokratischen Reichsregierung in die Abdankung des Herzogs Ernst zerrissenen Gesellschaft. Braunschweig ein und wurde von August zivilisiert und gewaltfrei, ja einem Teil der Bevölkerung mit Ju‑ geradezu professionell bewirkte. Worin bestehen die Besonderheiten bel begrüßt (S. 139). Das Bürgertum Am 10. November erhielt er das der Braunschweiger Revolution? versammelte sich nun gleichfalls auf Amt eines Präsidenten der „Sozia‑ Als erstes fällt die harte Konfronta‑ dem Schlossplatz und wählte eine listischen Republik Braunschweig“. tion zwischen Bürgertum und Ar‑ eigene Streikleitung. Heinrich Jas‑ 1919 vertrat Merges radikalere Po‑ beiterschaft auf (S. 167). Eine per versuchte als wichtigster Ak‑ sitionen als Sepp Oerter (USPD) und Ursache dafür war vermutlich, dass teur zwischen Reichsregierung, wurde u. a. Mitglied der KPD. In der kein anderes Land im Reich so lan‑ Maercker und den Streikenden zu NS‑Zeit leistete August Merges Wi‑ ge von der SPD regiert wurde. Ein vermitteln. derstand. Aufgrund mehrfacher In‑ weiterer Grund bestand darin, dass haftierungen und Misshandlungen es im Freistaat an möglichen Ver‑ Hans‑Ulrich Ludewig befasst sich in verstarb er im März 1945. mittlern wie der DDP oder dem den beiden letzten Kapiteln (S. 154 Zentrum fehlte. Auch sonst grenz‑ bis 169) zum einen mit den Prot‑ Josef (Sepp) Oerter war Buchbinder ten sich Bürgertum und Arbeiter‑ 15 Rundbrief 2/2020

schaft kulturell und sozial voneinan‑ den Jahren diente der Schlossplatz anderen wird deutlich, dass es wich‑ der ab. weiterhin als Ort für Massenkund‑ tig ist, die gesellschaftlich benach‑ gebungen und Bücherverbrennun‑ teiligten Bevölkerungsgruppen zu Der eigentliche Proiteur dieser Un‑ gen. Die SS‑Junkerschule bezog unterstützen und ihnen die gebüh‑ einigkeit sollte dann die NSDAP 1935 das Schloss. Im vorletzten rende Wertschätzung entgegenzu‑ sein. Frei nach dem Motto „Wenn Kriegsjahr wurde es schwer beschä‑ bringen. zwei sich streiten, freut sich der digt. 1959 entschied sich die sozial‑ Dritte“: Die NSDAP avancierte ab demokratische Ratsmehrheit gegen Das ausführliche Quellen‑ und Lite‑ 1930 zur Regierungspartei und den Willen der bürgerlichen Partei‑ raturverzeichnis (S. 170‑175) lädt konnte ihre politischen Gegner nun‑ en für den Abriss der Schlossruine ‑ zu vertiefenden Recherchen und mehr noch gezielter bekämpfen. die alte Blocksituation erfuhr hier‑ Einsichten ein.Claudia Bei der Wieden Sehr schnell wurde der Schlossplatz mit eine Wiederbelebung. für nationalsozialistische Massen‑ veranstaltungen genutzt, so zogen Alles in allem illustriert die Ge‑ am 18. Oktober 1931 100.000 SA‑ schichte Braunschweigs in der Wei‑ Hans‑Ulrich Ludwig: 160 Tage Männer durch Braunschweig bis marer Republik zum einen weht die rote Fahne. Die Revolu‑ zum Schlossplatz, wo sie Hitler un‑ drastisch, wie negativ sich ein feh‑ tion in Braunschweig 1918/19. ter dem Denkmal des „Schwarzen lender gesellschaftlicher Minimal‑ Braunschweig: E. Appelhans Ver‑ Herzogs“ erwartete. In den folgen‑ konsens auswirken kann. Zum lag GmbH Co. 2020, 176 S., zahlr. Abb., 18.00 € "Mörderischer Strafvollzug ohne Mörder?"

Dr. Helmut Kramer, Richter am und Nebel“‑Gefangenen und der nicht starb, aber grundsätzlich war Oberlandesgericht i.R., langjähri‑ Name Werner Hülle, in der Zeit nach das Ziel hier nicht die systematische ger Streiter für eine kritische 1945 Oberlandesgerichts präsident in Vernichtung.‘ Zu demselben Ergebnis Justiz geschichte und Mitglied des Ol denburg (!), kommen in der neuen war der Wolfenbütteler Gymna ‑ Arbeitskreis Andere Geschichte, Ausstellung und in dem Aus ‑ siallehrer und mehrjährige Mitar ‑ hat zu meinem Artikel stellungskatalog nicht vor!“ […] beiter der Wolfenbütteler Gedenk ‑ „Wolfenbüttel als Ort eines stätte, Arnulf Heinemann, in einem Schreiben an den Kultusminister mörderischen Strafvoll zuges – „In unkritischer Anknüpfung an den Tonne im August 2018 gekommen. eine Katalogvor stellung“ im Katalog der neuen Ausstellung der Darin hatte er davor gewarnt, die Rundbrief 1/2020 eine umfang ‑ Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Meinung des Vorsitzenden der wird behauptet, die politische und reiche Stellungnahme zuge sandt, Internationalen Expertenkom mission rechtliche Umbruchsituation von die wir im Folgenden in Auszügen für die Gedenkstätte, Thomas Henne, 1933 ‚gerade in Wolfenbüttel‘ sei wiedergeben. zur Grundlage der neuen Ausstellung einschneidend gewesen (Katalog zu machen. Arnulf Heinemann Seite 255). Tatsächlich hat sich „Um es gleich zu sagen: In dem schrieb: ‚Wenn damals jemand hinter damals weder rechtlich noch in der Wolfenbütteler Strafgefängnis ist in Gittern saß, war das Gefängnis der Voll zugswirklichkeit etwas geändert. vergleichsweise sicherste Ort‘. Die der NS‑Zeit nicht gemordet worden. Jean‑Luc Bellanger, der promi ‑ Sicherheit endete nur und erst dann, Zwar sind in den Jahren 1942/43 in nenteste Häftling dieser Jahre, sagt wenn die unter Verletzung Wolfenbüttel 62 „Nacht‑ und Nebel“‑ in seinem Buch ‚Feindbegünstigung‘ der für den Strafvollzug weiter Gefangene umgebracht worden. Der auf Seite 127: ‚Als Haftanstalt eines geltenden gesetzlichen Regelungen Mörder, der Schreibtischtäter und gemäßigten Strafvollzugs hatte das einen Gefangenen aus dem Gefängnis Organisator der „Nacht‑ und Nebel“‑ Gefängnis von Wolfenbüttel nichts herausholte und in ein Konzen ‑ Aktion, Werner Hülle, war niemals in mit einem Konzentrationslager zu trationslager verschleppte.“ Wolfenbüttel tätig, sondern saß in tun und war auch kaum mit einem der Befehlszentrale der Wehr machts ‑ Zuchthaus zu vergleichen. (…) Ich bin justiz mit Amtssitz in Berlin. Aber weit davon entfernt, behaupten zu gerade der Mord an den 62 „Nacht‑ wollen, dass man in Wolfenbüttel Helmut Kramer bezieht sich auf Ernst Fraenkels Buch „Der Doppel ‑ 16 Rundbrief 2/2020

Ort von Verbrechen, als ‚Mordplatz‘ darzustellen – ein Versuch, der staat“, das er „zum unverzichtbaren Kramer sieht die Verantwortung für mangels dokumentarischen Mate ‑ Rüstzeug jedes Historikers“ zählt. die von ihm benannten Mängel von rials absolut misslungen ist.“ Fraenkel unterscheidet in diesem Katalog und Ausstellung bei der Werk zwischen dem Normenstaat Leitung und den Mitarbeitern der und dem Maßnahmenstaat. Kramer Stiftung niedersächsische Gedenk ‑ sieht den Strafvollzug als Teil des stätten, die nicht genügend Eine ausführliche Kritik an der „Warum Normenstaats. Er schreibt: der Bereich des Normen ‑ Expertise besäßen. Er kommt zu Ausstellung indet man auf der staats weiterhin weitgehend von „Die dem Ergebnis: Umwandlung der Ge ‑ Homepage von Helmut Kramer Willkürmaßnahmen frei blieb, lässt denkstätte zur nationalsozia lis ‑ Frank Ehrhardt(www.justizgeschichte‑aktuell.de). sich am Beispiel der Gefängnisse, tischen Justiz in eine KZ‑ auch des Strafgefängnisses Wolfen ‑ Gedenkstätte büttel, leicht erklären. Was in den Gefängnissen geschah, war dem Nach der gesamten Gründungsge ‑ Einblick der Bürger zugänglich. Die schichte der Wolfenbütteler Gedenk ‑ meisten zu Gefängnis Verurteilten stätte einschließlich der großen kamen eines Tages wieder frei und Tagung in Wolfenbüttel vom 13. bis erzählten von ihren Erfahrungen 15. Oktober 1992 mit 28 Experten (ein Schweigegebot, wie bei ent ‑ und Expertinnen aus allen Bereichen Impressum lassenen KZ‑Häftlingen, war ihnen der Bundesrepublik ist die Ge ‑ nicht auferlegt). Hätten sie von denkstätte in der JVA Wolfenbüttel Herausgeber: Arbeitskreis Andere schwerwiegenden Misshand lungen, eindeutig eine Gedenkstätte zu dem Geschichte e.V., Schloßstr. 8, 38100 gar von der Ermordung Mitge ‑ Spezialbereich nationalsozialistische Braunschweig fangener erzählt, hätte das zu einer Justiz. Schließlich war die Justiz eine Tel: 0531 18957 Email: den Machthabern uner wünschten der tragenden Säulen der NS‑ andere_geschichte_braunschweig@t­ Beunruhigung der Bevölkerung Herrschaft, wie die Justiz schon online.de geführt. immer eine wichtige Stütze von V.i.S.d.P.: Martina Staats Redaktion: autoritären Herrschaftssystemen Frank Ehrhardt Was aber in den Konzen ‑ war und ist. trationslagern passierte – und die Drohung mit der Einweisung in ein Wie lassen sich all diese Unge ‑ Mitarbeiter*innen des Rundbriefs: KZ durch die Gestapo war im reimtheiten erklären: Hinter dem Claudia Bei der Wieden, Regina Maßnahmenstaat das wichtigste Verzicht auf einen Experten zur NS‑ Blume, Sophie Hamann (Foto) , Machtinstrument der National ‑ Justiz steht offensichtlich die Gerald Hartwig, Christa Henke (Foto), sozialisten – blieb hinter dem Entscheidung des Kultusministers in Beate Hornack, Klaus Kohn (Foto), Stacheldraht der Konzentra tions ‑ Abstimmung mit einigen SPD‑ Dr. Gustav Partington, Isolde lager verborgen.“ […] Landtagsabgeordneten, die Ge ‑ Saalmann, Jannik Sachweh, Lars denkstätte zur NS‑Justiz in Wol ‑ Skrowonski, Dr. Jonathan Voges „Zurück zu der Behauptung, im fenbüttel zu einer Allzweck‑ Gedenk ‑ Strafgefängnis Wolfenbüttel seien stätte, also einer Art KZ‑Gedenk ‑ Druck: BS­Print DigitalRepro GmbH, „Morde“ begangen worden. Die stätte umzuwandeln. Auf diese Weise Wilhelmstraße 28, 38100 wirklichen Morde wurden nicht mit wollte man sich der lästigen und Braunschweig der Guillotine in Wolfenbüttel, nicht auch geistig an strengenden Aufar ‑ von dem von Frank Ehrhardt wegen beitung der NS‑Justiz entziehen. […] Bankverbindung und Spendenkonto des Aufmerksamkeitseffekts beson ‑ ders herausgestellten Henker und Was nach der Herausnahme der des Arbeitskreises: Postbank nicht von absolut befehlsabhängigen juristischen Schreibtischtäter zu ‑ Hannover IBAN DE 1525 0100 3003 Vollzugsbediensteten begangen, son ‑ rückblieb, war nur ein leeres 7120 3307, BIC PBNKDEFF dern an dem Schreibtisch eines Gehäuse. Das hat man mit der neuen Werner Hülle und in den anderen Ausstellung und dem Versuch gefüllt, Befehlszentralen des NS‑Regimes.“ das Strafgefängnis Wolfenbüttel als

17 Rundbrief 2/2020 Neue Ausstellung Polizeigewalt und Zwangsarbeit in Osnabrück

Gestapo und Zwangsarbeit

Es gab etwa 280 „Arbeitserzie‑ hungslager“ im Herrschaftsbereich Eine zentrale Quelle für die Darstel‑ des Dritten Reichs. Das „Lager 21“ In einem Flügel des Osnabrücker lung ist die in Osnabrück erhaltene bei (Salzgitter‑)Hallendorf war ei‑ Schlosses, einer umgebauten Reit‑ Kartei über beobachtete oder ver‑ nes der ersten. Etwa eine halbe Mil‑ halle, befand sich ab 1938 das folgte Menschen, die fast 50.000 lionen Menschen, zumeist auslän ‑ Haupt quartier der örtlichen Gesta‑ Vorgänge erfasste. Uber einen Bild‑ dische Zwangsarbeiter*innen, po, die für einen bis ins Emsland schirm sind die Karteikarten in ei‑ durch liefen diese Ein richtungen, reichenden Bereich zuständig war. ner „kuratierten“ Fassung zugäng ‑ die in der Regie der örtlichen Ge‑ Im Keller waren die Hafträume, von lich. Es gibt ergänzende Informa ‑ stapo‑Behörden standen. Sie waren denen drei in der Gedenkstätte zu‑ tionen zu den einzelnen Angaben ein zentrales Element der Gewalt‑ gänglich sind. Während eine Zelle und Sachverhalten dieser Kartei‑ herrschaft, um den Arbeitszwang weitgehend in ihrem ursprüngli‑ karten. So lernt der Betrachtende über die in das Reich verschleppten chen Charakter belassen ist, sind in die Kartei zu lesen. Eine statistische Menschen durch Straf maßnahmen den anderen Räumen neue Infor‑ Auswertung verdeutlicht, mit wel‑ durchzusetzen. In Niedersachsen ma tionsmöbel aufgestellt, die je‑ cher Aufgabe die Gestapo in den erinnern zwei Gedenkstätten an die weils einführende Erläuterungen Kriegsjahren wie mit keiner ande‑ heute wenig bekannten Lager. In ei‑ und eine Medieneinheit enthalten. ren befasst war: der Uberwachung ner, der Ge denkstätte „Augusta‑ Ausgehend von einem Gruppenbild und Bestrafung der ausländischen schacht“ bei Os na brück, ist nun der Gestapo‑Mitarbeiter lassen sich Zwangsarbeiter*innen, die sich oft eine neue Dauerausstellung eröff‑ über einen Touchscreen biograi‑ durch Flucht oder Verweigerung ih‑ net worden, die den Alltag des Ar‑ sche Informationen einzelner Ab‑ Das Arbeitserziehungslagerrem Los zu entziehen suchten. beitserziehungslagers „Ohrbeck“ gebildeter aufrufen. So erfährt man, ver anschaulicht. Sie wird durch ei‑ dass nur eine Minderheit der Ge‑ ne Präsentation in der Gedenkstät‑ stapo‑Beamten ausgebildete Poli‑ te „Gestapokeller“ im Zen trum der zisten waren ‑ die Mehr heit „Quer ‑ Der Ort der Polizeigewalt gegen die Stadt ergänzt. einsteiger“ aus Partei und SS. Inhaftierten lag einige Kilometer südlich vor Osnabrück auf dem Ge‑ lände des Augustaschachts. Das Ar‑ beitserziehungslager wurde hier 1944 eingerichtet. Die Anlage do‑ miniert das fünfgeschossige Schacht gebäude. In einer großen Halle gab es ursprünglich eine durch eine große Dampfmaschine betriebene Pumpe, die der Entwäs‑ serung eines Bergwerks diente. Diese Anlagen waren modernisiert worden, so dass in den 1920er Jah‑ ren Teile des Gebäudes umgebaut wurden. Ab 1940 wurden hier fran‑ zösische Kriegsgefangene unterge‑ bracht, dann Zwangsarbeiter aus Osteuropa. Das Gebäude lag nicht abgeschieden: Wohnhäuser waren Neue Ausstellungsmöbel vor den Haftzellen im Gestapokeller in der Nachbarschaft und weitere informieren über die Täter (Christa Henke, Gedenkstätten Osnabrück) Lagerareale, die ebenfalls mit den Klöckner Stahlwerken in Georgsma‑ rienhütte in Verbindung standen. 18 Rundbrief 2/2020Rundbrief 1/2020

Eine Werksbahn fuhr und fährt Iauch heute noch unmittelbar am Schachtgebäude vorbei.

Ein Parcours von Informationsein‑ heiten führt über das Gelände und durch das Haus. So erfahren die Be‑ suchenden, von welchen Arbeits ‑ einsatzorten die eingewie senen Männer ursprünglich kamen. Und in welche Arbeitsstätten sie vom Lager aus gebracht wurden. Wo der Appellplatz war und wo die Unter‑ kunftsräume. Man sieht die ausge‑ tretene Lagertreppe, an der die Wachmannschaften besonders will‑ kürlich ihre Knüppel gebrauchten. Und wo die Latrine war, in der sich ein Gefangener versteckt hatte. Der Lagerführer ahndete diesen Das Gebäude des Augustaschachts wurde ab 1944 als Arbeitser ‑ „Flucht versuch“ mit der Erschie‑ ziehungslager der Gestapo Osnabrück genutzt. Heute ist es Ausstel ‑ ßung. Und die Besuchenden erfah‑ lungshaus der Gedenkstätte (Foto Christa Henke, Gedenkstätten ren, wie die hierher Verschleppten Osnabrück). reagierten, an einem Ort, an dem Frank Ehrhardt sie die anderen Gefangenen aus vielen Nationen nicht kannten und der Dimension und dem Charakter www.gedenkstaetten‐ gegenseitige Unterstützung schwer des Lagers zu gewinnen. augustaschacht‐osnabrueck.de möglich war, bei ständiger Erschöp‑ fung, Hunger und fehlender Hygie‑ Nach jahrelangem Leerstand über‑ ne. nahm 2002 eine bürgerschaftliche Initiative das Gebäude des Augusta‑ Neben den schwarz‑grau‑gelb ge‑ schachts, 2008 konnte die Gedenk‑ haltenen Informationsmöbeln, die stätte für die Besucher re gelmäßig die knappen Informationstexte auf geöffnet werden. U.a. häuige Work‑ Deutsch, Englisch und ‑ wegen der camps mit internationaler Beteili‑ zahlreichen von dort stammenden gung halfen bei der Untersuchung Zwangsarbeitern ‑ auch auf Nieder‑ der Areale um das Gebäude. So gibt ländisch bereithalten, gibt es eine es aufgefundene Relikte des Lager‑ weitere Informationsebene über alltags, die heute eine Anschauung Tabletts, die die Besucher*innen er‑ vermitteln können. Nun ist eine zu‑ halten. Diese liefern je nach betre‑ rückhaltende, zeitgemäße Präsen‑ tener Räumlichkeit gezeichnete tation für die Besucher*innen Ansichten, die helfen, die Einrich‑ installiert, die je nach individuellen tung in dem leerstehenden Gebäu‑ Interessen über die Medien erheb‑ de zu rekonstruieren und zu denen lich vertieft werden kann. Dem Ge‑ ‑ so vorhanden – Abbildungen, Zeit‑ denkstätten‑Verein bleibt als Träger zeugenberichte und weitere vertie‑ nach diesem gewaltigen Moderni‑ fende Informationen hinzukom ‑ sierungsschritt mit der denkmal‑ men. Daher gelingt es trotz der plegerischen Konservierung und schwierigen Orientierung in dem dem Erhalt des Gebäudes eine durch Nachnutzungen veränderten nächste große Her ausforderung. Industriebau einen Eindruck von 19 Rundbrief 2/2020

Gotha und Thüringer Wald Herbstfahrt 2021

Unsere Herbstfahrt 2020 nach Un‑ kel konnte bedingt durch die Aus‑ wirkungen der Corona‑Pandemie nicht stattinden. Auch wenn die Entwicklung der Pandemie ein Un‑ sicherheitsfaktor bleibt, planen wir bereits für das kommende Jahr: Das Ziel der nächsten Studienfahrt 2021 heißt . Als Zeitpunkt ist das erste Wochenende (3.‑5.9.) im Sep‑ tember 2021 vorgesehen. : Die Programmplanung nach dem Freitag, den 3. Septemberbisherigen Stand Das Herzogliche Museum Gotha be‑ Ein Tag in der Residenzstadt Gotha: sitzt u. a. die größte Sammlung von Schwerpunkte sind das Perthes‑Fo‑ Skulpturen des Bildhauers Houdon rum (historische Landkarten und außerhalb von Paris. (Foto: Regina Atlanten), eine Stadtführung, das Blume) barocke Ekhof‑Theater im Schloss Friedenstein, das Herzogliche Mu‑ seum (Gemälde‑ und Skulpturen‑ Anmeldungen verbunden mit einer sammlung) und der Herzogliche Anzahlung von 50,00 € pro Person Sonnabend, den 4. SeptemberPark mit der Orangerie. auf das Konto des Arbeitskreises sind wie immer erst ab Januar 2021 möglich. Die Preise werden sich lei‑ Ein Tag im Thüringer Wald: Vorge‑ der erhöhen, weil die Veranstalter sehen sind Waltershausen (Ge‑ wegen der Corona‑Pandemie jetzt schichte der Thüringer Puppen ‑ schon die Preise heraufsetzen. Die industrie, Heim‑ und Fabrikarbeit), Buga 2021 in Erfurt treibt ebenfalls Bad Tabarz (Schauwerkstatt Mahl‑ die Preise für Hotels in die Höhe. schatz für Thüringer Schmuck), In‑ selsberg (begehbarer Fernsehturm Die Teilnehmerzahl ist auf maximal mit Geo‑Park‑ und Wintersportmu‑ 40 Personen begrenzt (14 Doppel‑ seum), Bad Tabarz (Marienglashöh‑. zimmer, 12 Einzelzimmer, ein‑ le: eine der schönsten und größten schließlich Markus Kirchner). Sonntag, den 5. SeptemberGipskristallgrotten Europas) Regina Blume und Reinhard Bein freuen sich auf zahlreiche Mitfah‑ rer*innen. Ein Tag in der Zeitgeschichte: Wei‑ mar (einziges NS‑Gauforum), Erfurt (Gedenkstätte Topf & Söhne: Her‑ steller der Verbrennungsöfen für die Vernichtungslager) und zum Ab‑ schluss Sangerhausen (Rosarium, weltgrößte Rosenschau). 20