Titel der Dissertation

Ruhi Su (1912 – 1985): Ein politischer Künstler in der Republik Türkei

Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie in der Fakultät für Philologie der RUHR-UNIVERSITÄT-BOCHUM

vorgelegt von Behcet Sovuksu

(Matrikel Nummer: 108000230854)

Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum

Referent: Prof. Dr. Stefan Reichmuth

Korreferent: Prof. Dr. Hans Hinrich Biesterfeldt

Tag der mündlichen Prüfung: 6. 12. 2012

II

Widmung Meine Arbeit widme ich vor allem der 1990 in Frankfurt im Exil verstorbenen und von dem Dichter Ali Yüce als „Tochter der Stimme Ruhi Sus“ bezeichneten Sümeyra Çakır und allen früheren und heutigen Mitglieder des Chors der Freunde (Dostlar Korosu), die Ruhi Su in ihren Liedern weiterleben lassen. Die Widmung drückt nur einen Bruchteil dessen aus, was ich meinem Lehrer Ruhi Su verdanke.

III Danksagung Es ist mir ein Bedürfnis, allen denen zu danken, die mir Gelegenheit gegeben haben, diese Dissertation zu schreiben und die mich während des Schreibens so freundlich wie tatkräftig unterstützt haben. Insbesondere danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Stefan Reichmuth, dass er mein vorgeschlagenes Thema angenommen und mich sorgfältig betreut hat. Er hat mir mit fachlichem Rat beigestanden und mich bei zu bewältigenden Schwierigkeiten geduldig beraten. Prof. Dr. Hans Hinrich Biesterfeldt hat mir dankenswerter Weise geholfen, in dem er das Korreferat übernahm. Weiterhin bin ich Herrn Prof. Dr. Reinhold Schiffer zu Dank verpflichtet, dass er sich der sprachlichen Form wie auch der argumentativen Struktur der Studie angenommen hat. Hilfreiche Unterstützung bei der Übersetzung der Prosatexte und Gedichte habe ich erhalten von meinen Kollegen Hakan Taner. Meine Kollegen Stefan Geyr und Brigitte Seeberg halfen bei meinen inhaltlichen Überlegungen. Meinen Dank auch an sie. Die Unterstützung in der Türkei war nicht weniger wertvoll. An erster Stelle nenne ich Frau Sıdıka Su und ihren Sohn Ilgın Su, die mit großer Herzlichkeit mir die Tür zu Ruhi Sus Leben und Werk geöffnet haben. Auf diesem Wege waren mir auch die Gesprächspartner und die alten Freunde des Künstlers Dr. Balkar Yekebaş, Bertan Onaran und Hüseyin Erdem eine große Hilfe. Çiler Belen und Karabey Aydoğan gebührt ein besonderer Dank, weil sie sämtliche Dokumente über Ruhi Su nach seinem Tod gesammelt haben und mir zur Verfügung stellten. In meinen Dank schließe ich ein İrfan Ertel, Mehmet Çapan, Göksun Yener, Canan Bilge, İbrahim Yüksel, Abdullah Özkucur und Talip Apaydın. Endlich, jedoch nicht an letzter Stelle, danke ich meiner Frau Hülya und meinem Sohn İsmail-Ruhi für die langen Jahre der Geduld und Nachsicht mit einem nicht mehr allzu jungen Promovenden.

Behcet Sovuksu

Oberhausen, den 12. 7. 2013

IV 1. Einleitung………………………………………………………………………….1 1.1 Vorbemerkung zum methodischen Vorgehen ...... 1 1.2 Ruhi Sus Stellung in der Politik und Kultur der Türkei ...... 3 1.3 Die Bedeutung Ruhi Sus für andere Musikkünstler ...... 8 1.4 Die türkische Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts als Thema bei Ruhi Su ...... 10

2. Die Biographie Ruhi Sus ………………………………………………………..12 2.1 Ruhi Sus erste Jahre ...... 12 2.2 Die Aufnahme in die Musiklehrerschule ...... 19 2.3 Die Heirat mit Münire Sevim, die ersten Stadien der Musikausbildung und die Annahme des Nachnamens Su ...... 22 2.4 Die Mitgliedschaft im Staatsorchester Riyaset-i Cumhur und das Studium am Konservatorium in ...... 24 2.5 Die Tätigkeit an der Staatsoper und die umstrittenen Sendungen im staatlichen Rundfunk in Ankara ...... 26 2.5.1 Die alevitische Musik und Ruhi Sus Festhalten an ihr trotz der Rückschläge in seiner Karriere ...... 31 2.6 Die Zeit der Haft Ruhi Sus ...... 38 2.6.1 Der historische Hintergrund der Verhaftungswelle der Kommunistischen Partei der Türkei im Jahre 1951 ...... 38 2.6.2 Die Linken in der Türkei und Ruhi Su ...... 40 2.7 Ruhi Su in Sansaryan Han und im Militärgefängnis von Harbiye, beide in ...... 53 2.8 Ruhi Su und Sıdıka Umut: Die Heirat im Gefängnis ...... 56 2.9 Polizeiaufsicht und Bewährungszeit ...... 58 2.10 Die Tage in Ankara mit seiner Frau Sıdıka Su...... 59 2.11 Die helfende Hand eines Freundes und die Geschichte des Films: „Die große Liebe des Karacaoğlan“ von Atıf Yılmaz ...... 60 2.12 Ruhi Sus Auftritte im Kasino Taksim und in den Clubs von İstanbul und seine Arbeit in der Bau- und Kredit-Bank ...... 63 2.13 Die ersten Schallplattenaufnahmen ...... 67 2.14 Die Sicht der putschenden Militärs auf Ruhi Su und wie Ruhi Su sie sah ...... 69 2.15 Ruhi Su im Ausland ...... 71

V 2.16 Ruhi Sus letztes Konzert im Februar 1983 ...... 72 2.17 Ruhi Sus Krankheit ...... 74 2.18 Ruhi Sus Beerdigung am 20. September 1985 in İstanbul ...... 76

3. Gedenken an Ruhi Su …..…………………………………………………78 3.1 Die Ruhi Su-Kultur- und Kunststiftung in İstanbul ...... 78 3.2 Der Förderverein der „Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung“ e.V. in Oberhausen ..79

4. Ruhi Su und die Kulturpolitik Mustafa Kemals ..……………………………81 4.1 Mustafa Kemals Reform der Bildungsinstitutionen ...... 81 4.2 Atatürks Musikpolitik ...... 82 4.3 Die Sicht Ruhi Sus auf Atatürk und seine Musikreform...... 85 4.4 Ruhi Su als Schüler deutscher Emigranten ...... 90 4.5 Die Dorfinstitute ...... 92 4.5.1 Ruhi Su als Lehrer im Dorfinstitut ...... 99 4.5.2 Die geistige Verwandtschaft von Ruhi Su und İsmail Hakkı Tonguç...... 101

5. Die Musiktraditionen der Türkei ……………………………………………103 5.1 Die traditionelle Kunstmusik...... 103 5.2 Die Volksmusik ...... 105 5.2.1 Das Türkü und das Kunstlied ...... 108 5.3 Die moderne mehrstimmige Musik ...... 113 5.4 Türkische Musik und westliche Musik ...... 116

6. Ruhi Su und das Türkü..…………….………………………………………...118 6.1 Das Sammeln und Neuschaffen ...... 119 6.1.1 „Ratschläge” (Öğütler) ...... 122 6.2 Die Türküs der Mitgefangenen ...... 123 6.2.1 „Die Gazellen” (Cerenler) ...... 124 6.3 Die Auswahl der Türküs ...... 125 6.4 Die Arbeit an der Stimme ...... 126 6.5 Ruhi Su in seinen Konzerten ...... 127 6.6 Ruhi Sus Leistung, aus der Türküs eine Kunst zu machen ...... 129

VI 6.7 Ruhi Sus Bearbeitung von Texten und ihr neuer Sinn ...... 134 6.7.1 „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü) ...... 135 6.7.2 „Wie schön ist die Alm, die dort gegenüber zu sehen ist“ (Karşıda Görünen Yayla Ne Güzel Yayla)...... 138 6.7.3, „Der Jugendmarsch-Der Gipfel ist Nebel umschlungen“ (Gençlik Marşı-Dağ Başını Duman Almış) ...... 142 6.7.4 „Meine Mutter hat mich aufgezogen“ (Annem Beni Yetiştirdi) ...... 145 6.7.5 „Einheit” (Tevhit) ...... 147 6.7.6 „Fürbitte” (Gülbenk) ...... 149

7. Ruhi Sus Lieder und ihre Entstehungsgeschichte .…………………………..150 7.1 Der autobiographische Bezug von Ruhi Sus Texten ...... 150 7.1.1 Die Geschichte des Liedes von dem „Berg Hasan“ (Hasan Dağı) ...... 151 7.1.2 Die Geschichte des Liedes „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal): Für Sıdıka Su ...... 153 7.1.3 „Drei Mädchen auf dem Şisli-Platz“ (Şişli Meydanı'nda Üç Kız) ...... 155

8. Politischer Protest und Trauer in den Liedern Ruhi Sus …………………..157 8.1 „Das Klagelied Karadeniz“ (Karadeniz Ağıdı) ...... 157 8.2 Ruhi Su und Nâzım Hikmet ...... 161 8.2.1 „Eine schwarze Nachricht“ (Karalı Bir Haber): Klagelied für Nâzım Hikmet ...163 8.3 Nâzım Hikmets Begegnung mit türkischen Spartakisten ...... 166 8.3.1 Der Spartakus und Ruhi Sus kommunistische Hoffnung ...... 168

9. Ruhi Sus Interpretationen auf Schallplatten ………………………………169 9.1 Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf / Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı (1970) ………………………170 9.1.1 „Das Klagelied Çanakkale“ (Çanakkale Ağıdı) ..………………………………171 9.1.2 „Sarıkamış“ (Sarıkamış) ……………………………………………………….172 9.1.3 „Unsere Frauen“ (Kadınlarımız) ………………………………………………..174 9.1.4 „Die schwarze Schlange“ (Karayılan) ………………………………………….179 9.1.5 „Die Große Offensive“ (Büyük Taarruz) ……………………………………….181

VII 9.2 (1971) .…………………………………………………………..184 9.2.1 Ruhi Sus Verständnis von Yunus Emre ………………………………………..184 9.2.2 „Die Flüsse dieses Paradieses“ (Şol Cennetin Irmakları) ………………………187 9.2.3 „Deine Liebe nahm mich von mir“ (Aşkın Aldı Benden Beni) …………………187 9.2.4 „Das Wesen eines Derwischs ist im Kopf“ (Dervişlik Baştadır) ………………188 9.2.5 „Ich bin der Anfang und das Ende“ (Evvel Benem Ahir Benem) ……………….189 9.2.6 „Ach göttlicher Herr wenn du mich fragst“ (Ya İlâhi Ger Sual Etsen Bana) …..190 9.2.7 „Warum seufzt du, Wasserrad?“ (Dolap Niçin İnilersin) ..……………………..192

9.3 Karacaoğlan (1972) ……………………………………………………………194 9.3.1 „Elif“ (Elif) ……………………………………………………………………198 9.3.2 „Meine Liebe ist auf drei Hübsche gefallen“ (Ben Meylimi Üç Güzele Düşürdüm) …………………………………………...200 9.3.3 „Ich drang in den Garten ein“ (Atladım Girdim Bağa) …………………………203

9.4 (1973) ……………………………………………………….204 9.4.1 „Fliesse wie der Kızılırmak, durchbreche den Deich“ (Kızılırmak Gibi Bendinden Boşan) ...…………………………………………..205 9.4.2 „Ich bin Moses, du bist Pharao“ (Ben Musa’yım Sen Firavun) .……………...... 205 9.4.3 „Klagelied-In meinem Traum gestern Nacht“ (Ağıt- Dün Gece Seyrim İçinde) ...... 206 9.4.4 „Die Taten des blutrünstigen Bösen“ (Şu Kanlı Zalimin Ettiği İşler) …………..208 9.4.5 „Dem Richter dieser Welt bin ich keine Rechenschaft schuldig“ (Dünya Kadısına Ben Sorulmazam) ..………………………………………….. 209

9.5 Gedichte und Türküs / Şiirler, Türküler (1974) ..……………………………210 9.5.1 Ausgewählte Gedichte aus A.Kadirs Übersetzungswerk Mevlânâ in heutiger Sprache (Bugünün Diliyle Mevlânâ) ………………………………..211 9.5.1.1„Der Feind spricht unsinnige Worte“ (Düşman Saçmasapan Laflar Eder) ….211 9.5.1.2„Klagelied-Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte“ (Ağıt-Zaloğlu Bu Zulmü Görseydi) …………………………………………..213 9.5.1.3 „Sie stecken in Dornen“ (Diken İçindeler) …………………………………….214 9.5.1.4„Wie schön ist es, jeden Tag umzusiedeln“ (Her Gün Bir Yerden Göçmek Ne İyi) ………………………………………...215

VIII 9.5.2 „Der Schöpfer schuf uns als Menschen“ (Yaratan Bizleri İnsan Yarattı)...... 216 9.5.3 „Wiegenlied-Merhaba Baby Dursun (Ninni-Merhaba Dursun Bebek) ……...218 9.5.4 „Drei Mädchen und eine Mutter“ (Üç Kız Bir Ana) ……………………………220 9.5.5 „Die drei Zypressen“ (Üç Selvi) ………………………………………………..222 9.5.6 Aus dem „Epos Scheich Bedreddin“: „Es nieselt“ (Şeyh Bedreddin Destanı’ndan: Yağmur Çiseliyor)..…………………………...224 9.5.7 „Ein Türkü von Kul Hüseyin” (Kul Hüseyin’den Bir Türkü) …………………..228

9.6 Köroğlu (1975) …………………………………………………………………233 9.6.1 „Prolog“ (Prolog) ………………………………………………………………235 9.6.2 „Höre meine Worte, verehrter Sohn Ayvaz“ (Dinle Sözlerimi Han Oğlum Ayvaz) ……………………………………………238 9.6.3 „Der Tapfere hält durch, der Feige flüchtet“ (Mert Dayanır Namert Kaçar) ….240

9.7 Die fremden Tore / El Kapıları (1976) ……………………………………….242 9.7.1 „Der Sewastopolmarsch” (Sivastopol Marşı) .………………………………….244 9.7.2 „Klagelied - Oh weh, wenn meine Mutter nach meiner Rückkehr schaut” (Ağıt –Aman, Anam Benim de Ulu Yola Durursa).…...………………………...246 9.7.3 „Das Kaman-Klagelied” (Kaman Ağıdı) ………………………………………246 9.7.4 „Das Jemen-Lied I” (Yemen Türküsü I) ……………………………………..247 9.7.5 „Das Jemen-Lied II” (Yemen Türküsü II) …………………………………….250 9.7.6 „Das Jemen-Lied III” (Yemen Türküsü III) ……………………………………252 9.7.7 „Der Berg Ala“ (Aladağ)……………………………………………………….253 9.7.8 „Oh weh, ich weine“ (O Vay Beni Ağlarım) ………………………………….254 9.7.9 „Deutschland, bittere Heimat“ (Almanya Acı Vatan) ………………………….255 9.7.10 „Unsere Müllmänner in Deutschland“ (Almanya’da Çöpçülerimiz) …………256 9.7.11 „Die fremden Tore“ (El Kapıları) ………………………………………………259 9.7.12 „Sie“ (Onlar ki) …………………………………………………………………261

9.8 Der Morgen hat einen Besitzer / Sabahın Sahibi Var (1977) ………………263 9.8.1 „Merhaba“ (Merhaba) ………………………………………………………….263 9.8.2 „Das Sprichwort“ (Atasözü) ...... 264 9.8.3 „Demirc’oğlu“ (Demirc’oğlu) ………………………………………………….266 9.8.4 „Transparente in ihren Händen“ (Ellerinde Pankartlar)………………………..268

IX 9.8.5 „Lass den Kopf nicht hängen“ (Başın Öne Eğilmesin) …………………………269 9.8.6 „Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen“ (Boşa Didinmek Fayda Vermez) ..………271

9.9 Die Samahs / Semahlar (1978) ………………………………………………274 9.9.1 „Dein Bild ist immer in meinem Sinn“ (Daima Fikrimde Zikrin) ..…………….277 9.9.2 „Der Ruf des heiligen Şah“ (Hazreti Şah’ın Avazı) .……………………………277 9.9.3 „Samah Ali Nur“ (Ali Nur Semahı) …………………………………………….278 9.9.4 „Der errichtete Pfahl ist auf dieser Welt” (Dünyanın Üzerinde Kurulu Direk) ...279 9.9.5 „Frauen aus Mürselek” (Mürselekli Kadınlar) …………………………………280

9.10 Kinder, Migrationen, Fische / Çocuklar, Göçler, Balıklar (1979) ………….282 9.10.1 „Eingangsformel” (Tekerleme) …………………………………………………283 9.10.2 „Das Märchen aller Märchen” (Masalların Masalı) ..…………………………285 9.10.3 „Hätte ich doch bloß nur einen Sohn” (Bir Oğlum Olsa) ……………………290 9.10.4 „Dummes Lied” (Aptal Şarkı) ………………………………………………….292 9.10.5 „Das kleine Mädchen“ (Kız Çocuğu) …………………………………………..293 9.10.6 „Glasauge” (Camgöz) ………………………………………………………….295 9.10.7 „Fischsprache” (Balık Ağzı) ……………………………………………………297 9.10.8 „Säugling“ (Wiegenlied) „Bebek” (Ninni) ..……………………………………300

9.11 Die Zeybeks / Zeybekler (1980) ………………………………………………302 9.11.1 „Prolog” (Öndeyiş) ……………………………………………………………..303 9.11.2 „Yürük Ali Efe” (Yürük Ali Efe) ………………………………………………304 9.11.3 „Mehmet, mein Falke” (İnce Mehmet) .………………………………………..306

9.12 Die postumen Langschallplatten, die CDs und die Musikkassetten ……….308

10. Ruhi Sus Gedichte …………………………………………………………….309 10.1 Themen in den Gedichten Ruhi Sus …………………………………………….309 10.1.1 „Die Mobilmachung“ / Seferberlik ……………………………………………..311 10.1.2 „Das Wiegenlied“ / Ninni ………………………………………………………314 10.1.3 „Das Grenzlied“ / Serhat Türküsü ………………………………………………315 10.1.4 „Wir sind gekommen“ / Geldik …………………………………………………317 10.1.5 „Das Sichtbare” / Görünen ……………………………………………………..318

X 10.1.6 „Der Fluss” / Irmak ……………………………………………………………..321 10.1.7 „Es soll anfangen” / Başlasın …………………………………………………...323 10.1.8 „Singendes Herz“ / Ezgili Yürek ……………………………………………….324 10.1.9 „Die Zyste“ / Kist ……………………………………………………………….326 10.1.10„Mensch und Lohn der Mühe” / İnsan ve Emek ...... ………………………….329 10.1.11Die poetische Machart von Ruhi Sus Gedichten ………………………………331

11. Gedichte über Ruhi Su ………………………………………………………..333 11.1 „Das Lob an Türküs, die mit einer intellektuellen Stimme gesungen werden“ / Aydınlanmış Bir Sesin Söylediği Türkülere Övgü (Arif Damar)….. ……………334 11.2 „Zum Türkü werden mit Ruhi Su“ / Ruhi Su’da Türkülenmek (Tahsin Saraç) ...336 11.3 „Ruhi Su singt in der Nacht“ / Ruhi Su Söylüyor Gecede (Hasan Hüseyin) …...339 11.4 „Ein Koran der Saiten“ / Telli Kuran (Ali Yüce) ……………………………….342 11.5 „Während man Ruhi Su zuhört“ / Ruhi Su’yu Dinlerken (Mehmet Karabulut) ...344

12. Die pädagogische Bemühung Ruhi Sus um den Chorgesang, sowie „Der Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) ……………………………347

13. Persönliche Erinnerungen an Ruhi Su ……………………………………….353

14. Schluss …………………………………………………………………………358

15. Die Liste der Gesprächspartner …………………………………………..…..361

16. Bibliographie und Quellen im Internet ………………………………………362

XI 1. Einleitung 1.1 Vorbemerkung zum methodischen Vorgehen Die Aufgabe dieser Studie besteht darin, Lebensweg und Wirken Ruhi Sus zu beschreiben, seine Lieder und seine Gedichte innerhalb der zeitgenössischen Musikkultur und politischen Situation der Türkei zu positionieren und seine besondere Bedeutumg innerhalb der Musikgeschichte zu erklären. Auch seine pädagogische Wirkungskraft und seine Stellung in der politischen Situation sollen Beachtung finden. Die Bekanntschaft des Verfassers mit Ruhi Su, die von Wertschätzung seiner menschlichen Aufrichtigkeit, Integrität und Liebenswürdigkeit geprägt ist, hat sicher an manchen Stellen seine Sichtweise positiv beeinflusst, wie auch seine politische Überzeugung hin und wieder ein entsprechendes Licht auf die Ereignisse geworfen hat. So seine Sichtweise beruht vor allem auf der glücklichen Mitarbeit über vier Jahre in Ruhi Sus „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu). Sein Vorgehen benötigt, wenn auch noch so knapp, eine methodische Begründung. Zwei Fragen drängen sich besonders auf. (1) Wie geht man vor, wenn man das Leben eines Individuums erzählen möchte? (2) Wie geht man vor, wenn man die politischen und moralischen Anschauungen dieses Individuums richtig und angemessen findet und anderseits eine angemessene wissenschaftliche Objektivität nicht aufgeben darf?1 Die erzählende Geschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten erneut an Prestige gewonnen. Dennoch bleibt die Frage offen, welchen Raum soll die Erzählung eines Lebens und welchen die Analyse und Wertung des gesellschaftlichen und politischen Umfelds einnehmen? Die Hauptstoßrichtung der Studie geht nicht auf die politische Analyse aus, sie liegt eher in der biographischen Richtung und in dem Aufzeigen des kulturellen Einflusses Ruhi Sus auf das Musikleben der Türkei. Objektivität in der Darstellung eines geschichtlichen Sachverhalts ist leichter gefordert als erreicht. Es gibt zwar eine relative, möglichst weitgehende Objektivität. Wie aber verhält sich Objektivität zu einem moralischen Urteil über Personen, Parteien,

1 Anweisungen der verschiedensten und gelegentlich polarisierten, theoretischen wie praktischen Art bietet der Sammelband Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (Theorie der Geschichte Bd. 1) herausgegeben von Reinhart Kosellek, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen. (1977). Die von der Studiengruppe Theorie der Geschichte herausgegebenen Bände setzen bis heute methodologische Maßstäbe. Hilfreich waren dem Verfasser insbesondere die Ausführungen von Christian Meyer, Von der Schwierigkeit ein Leben zu erzählen. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie und Geschichte, Bd. 3). herausgegeben von Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey. (1979): 231. 1 politische Handlungen? Die Mehrzahl der Historiker wird der Objektivität den Vorrang einräumen, dennoch gilt es auch auf diesem umstrittenen Gebiet Skepsis zu bewahren.2 Ein moralisch begründeter Standpunkt muss erlaubt und darf nicht von Anfang an verbannt sein. Entscheidend ist wohl die Radikalität der Parteinahme; unzulässig ist sicherlich eine Radikalität, welche jede andere als die eigene Beurteilung ausschließt. Ein Beispiel mag das deutlich machen: die Darstellung eines Genozids kann um möglichste Sachlichkeit und die Abwesenheit von Parteinahme bemüht sein. Es muss aber auch eine Parteilichkeit für die Opfer, gestattet sein. Parteilichkeit kann ebensoweit definiert werden wie Objektivität. Diese Studie bedient sich eines eingefassten Begriffs der Parteilichkeit.3 Die Freiheit besteht, Taten unmoralisch oder moralisch nennen zu dürfen, unabhängig davon, dass der Erzähler existentiell von solchen Handlungen betroffen worden ist oder nicht.4

2 Vgl. RUMPLER, Helmut: Beust im Schatten Bismarcks. Grenzen und Bedingungen einer Persönlichkeitsbeurteilung. In: Reinhart Kosellek, Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen (Hrsg.): Objektivität und Parteilichkeit (1977): 226-227. Sehen wir auf ein der Geschichtsschreibung benachbartes Feld, die Kunstgeschichtsschreibung, und auf das nämliche Problem. Wilhelm Pinder nimmt 1932 eindeutig Stellung: „Wir wollen der Wissenschaft den Charakter neutraler Neugier nehmen und schließlich lieber moralisch irren als in Objektivität erfrieren.“ Die Jahre nach 1932 geben manchen Anlaß, in Deutschland den Mangel von Wissenschaftlern an „neutraler Neugier“ zu dokumentieren. Werner Hofmann weist 1971 die Forderung Pinders zurück: „Die Alternative ist falsch gestellt. Wissenschaftliche Objektivität und weltanschauliches Engagement können nicht zur Wahl stehen, da sie keine unvereinbaren Gegensätze darstellen. Beide Positionen schließen den Irrtum so lange nicht aus, als sie sich des Anspruchs dogmatischer Unfehlbarkeit enthalten. Das unterscheidet sie von den geschlossenen Systemen, die ihre Wahrheit absolut setzen. Das geschlossene, einsinnige Denksystem ist das Gefängnis, in dem die Wissenschaft dem Freiraum ihrer Urteile freiwillig entsagt.“ Werner Hofmann, Kunst jenseits der geschlossenen Systeme. In: Gegenstimmen. Aufsätze zur Kunst des 20. Jahrhunderts (1980): 301. 3 Vgl. BAUMGARTNER, Hans Michael, Die subjektiven Voraussetzungen der Historie und der Sinn von Parteilichkeit. Ebd. 426. 4 Vgl. BAUMGARTNER, Hans Michael Die subjektiven Voraussetzungen der Historie und der Sinn von Parteilichkeit. Ebd. 437.

2 1.2 Ruhi Sus Stellung in der Politik und Kultur der Türkei Die Entwicklung des Menschen Ruhi Su und seines künstlerischen Schaffens versteht man besser, wenn man ihn als Kind der Republik Türkei betrachtet. Wie Ruhi Su selbst sagte, wuchs er in den 30er und 40er Jahren auf, also in einer Zeit, in der die offizielle Kulturpolitik die Volksmusik in der Vordergrund stellte.5 Ruhi Su lebte unter einem Populismus, der auf der Grundlage des neuen Volksstaates das Osmanische Reich und seine Kultur ablehnte und sich einer Volkskultur, eines Volksgedichtes und einer Volksmusik zu bedienen suchte.6 Teil dieser zeitweilig volksnahen Politik waren auch die Eröffnung von vierzehn Volkshäusern in verschiedenen Städten im Februar 1932 und die Gründung von Dorfinstituten im Jahr 1940. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die allein regierende Partei, die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), einen Stellungswechsel vor. Die Aufnahme von Beziehungen zu den USA ließ Bildungspolitik als gefährlich erscheinen, denn den Großgrundbesitzern, die in den Regierungen das Sagen hatten, konnte an einer Aufklärung der einfachen Landbewohner nicht gelegen sein.7 Solange das Klima populistisch war, konnte Ruhi Su mit seiner Stimme und mit seinem Instrument, der Saz (Langhalslaute), öffentlich arbeiten. Zwischen 1943 und 1945 gastierte er in Gesangssendungen im staatlichen Radio Ankara. Schon damals konnte er großes Interesse wecken. Er hatte sich bereits vorher von dem offiziellen Kulturprogramm entfernt, mit der Folge, dass die Verantwortlichen für das

5 Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit ERDEN, Sadika Dikna: Yöresellikten Ulusallığa, Ulusallıktan Evrenselliğe, Bilim ve Sanat 96 (Dez. 1983). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 166. 6 Bereits früher, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte es ein Interesse an der türkischen Folklore gegeben, das lediglich kurz dauerte. Ahmet Vefik Paşa, Şinasi und Ebuzziya Tevfik Bey erforschten Sprichwörter und Redewendungen. Später veröffentlichten Ahmet Rasim „Feierlichkeiten zum Schulanfang“ (Mektebe Başlama Merasimi), Peyam (1336 / 1920) und Rauf Yekta „Musikethnographien“ (Musiki Etnografyası), Şehbal Dergisi; „Hochzeitsbräuche in Makedonien“ (Rumeli’nin Makedonya Kısmında Düğün Adetleri), Büyük Mecmua; „Lokales Leben in Bursa“ (Bursa’da Mahalli Hayat); „Vorzeigen der Aussteuer“ (Cihaz Teşhiri); „Polterabend“ (Kına Gecesi), Yeni Mecmua 9-75 (1923). Obwohl in der Zeit der Konstitution (1908-1920) Veröffentlichungen von Fuat Köprülü, İkdam (24. Januar 1913), Glossen des Philosophen Rıza Tevfik, Peyam-i Edebi (20. Feb. 1913) und das Buch „Die Grundlagen des Türkentums“ (Türkçülüğün Esasları) von Ziya Gökalp über Folklore und Kultur erschienen, war es unmöglich, eine wirkliche Folklorebewegung in Gang zu setzen. Folkloreforschung auf wissenschaftlicher Basis wurde erst in der Zeit der Republik realisiert. Diese Angaben folgen ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 5-12. 7 ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 5-12.

3 Radioprogramm ihn, trotz seiner hohen Anerkennung im Volk, ziemlich schnell beiseite schoben.8 Ich habe die Lieder (Türküs) genommen, die mit ihrenTexten und Melodien das Volk am besten verkörpern. Eben deswegen trafen mich die ersten Blitze im Radio. Beim Vortragen dieser Türküs habe ich von der Vortragsweise des Volkes Gebrauch gemacht, jedoch habe ich zu vermeiden gesucht, den Volksmund nachzuahmen.9

Ruhi Sus sowohl besonnene wie kritische Worte zeigen, dass er in einem echten Sinne volksnahe sein wollte und nicht eine Pseudoposition wie die Regierenden vertrat. So spricht er davon, die praktische Arbeit müsse einerseits die Sehnsucht des Volkes verwirklichen und andererseits sie weiterführen.10 In den Dienst des Volkes zu treten, war für ihn nicht nur eine musikalische, sondern auch eine eminent politische Aufgabe. Man muss daher den Sänger der Türküs stets zusammensehen mit dem idealistischen Kommunisten. Sein Kommunismus, dem er mit seinem ganzen Herzen anhing, brachte ihn in Konflikt mit dem Staat, der ihm fünf Jahre Gefängnis von 1952 bis 1957 und anschließend zwanzig Monate Polizeiaufsicht auferlegte und ihm so Jahre der vollen Schaffenskraft stahl. In den 60er Jahren erleichterten sich seine Lebensverhältnisse mit der Legalität von linken Gedankengut und der verhältnismäßig liberalen Verfassung von 1961. Gerade die Generation von 1968 konnte sich eine Kundgebung ohne Ruhi Sus Mitwirkung kaum vorstellen. Der Militärputsch vom 12. März 1971 brachte erneut eine Verschlechterung der politischen Lage: Rechte wie Meinungsfreiheit wurden zurückgenommen sowie die Gründung von Gewerkschaften und Parteien; linke Vorkämpfer fanden sich im Gefängnis wieder. Jedoch dort wie auch an den Universitäten verstummten Ruhi Sus Lieder nicht; im Gegenteil sie spendeten Mut und Zuversicht.11 Ruhi Su wurde ständigen Befragungen nach seinem Kommunismus unterworfen. Seine künstlerische Arbeit setzte er jedoch fort, in dem er Schallplatten zu Texten von Yunus Emre, Karacaoğlan, Köroğlu, Pir Sultan Abdal herausbrachte. Der Militärputsch vom 12. September 1980 brachte schließlich ein Verbot in der Türkei für Ruhi Su, das bis zu seinem Tode im Jahr 1985 bestand, mit der

8 Nach AKSOY, Bülent: Kültürel Değişimin Ortasında Bir Sanatçı: Ruhi Su, Yeni Gündem (18.Okt.- 1.Nov. 1985). In: MEKİN Dinçer (Hrsg.) Ruhi Su’ya Saygı (1986): 227. 9 SU, Ruhi in einem Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat, (1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):183. 10 Ebd. 183. 11 Vgl. SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009):13-14. 4 einen Ausnahme des letzten, vorher nicht bekannt gegebenen Konzerts im Februar 1983.12 Trotz aller künstlerischen Bekanntheit, vor allem unter Intellektuellen und Studenten, blieb Ruhi Su seit 1952 die Anerkennung des Staates bis auf eine weitere Ausnahme versagt. Der fortlebenden Anerkennung Ruhi Sus als eines künstlerischen Vorbilds steht die grundlegende Missachtung entgegen, die sich im nach wie vor gültigen Verbot seiner Musik durch den staatlichen Apparat der Türkei niederschlägt. Ruhi Su musste aus eigener Kraft und Anstrengung sowie mit der Hilfe seiner Freunde überleben. Unter dem Intendanten der staatlichen Radio- und Fernsehanstalt (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu, TRT), İsmail Cem İpekçi, hatte Ruhi Su 1975 zum ersten Mal die Möglichkeit, im staatlichen Fernsehen aufzutreten. Dies war auch sein letzter Auftritt. Er trat mit großer Freude auf. Die Zuschauer, die zum ersten Mal Ruhi Su im Fernsehen sahen, waren begeistert. Die Stimmen, die sich anfänglich gegen ihn erhoben hatten, gingen im Meer des Beifalls unter13. Der Staat hat dennoch nicht verziehen, dass ein Mensch sich gegen seine Institutionen wandte, die ihn aufgenommen, erzogen und ausgebildet hatten. Ruhi Su wurde von staatlicher Seite stets behandelt, als sei er ein Niemand. Man warf ihm vor, als Kommunist gegen das Land zu arbeiten. Der Vorwurf der Undankbarkeit machte die Folter in den Zellen des berüchtigten Sansaryan Han umso bitterer.14 Spätere Rechtfertigungsversuche seitens Vertreter der Regierung kann man nur mit Misstrauen betrachten.15

12 Im Ausland gab Ruhi Su Konzerte am 16. Juni 1980 in der Stadthalle Köln und 1981 in Sydney. 13 Vgl. İPEKÇİ, Cem İsmail: Ruhi Su ve Bir Anı, Milliyet (22. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 159. Vorausgegangen war eine Diskussion im TRT-Vorstand, ob man eine Sendung mit Ruhi Su ausstrahlen solle oder nicht. Den Bedenken einiger Mitglieder, dass er als ehemaliger politischer Häftling dem Ansehen des Senders schaden würde, stellte sich İpekçi entgegen. Ob links oder rechts, es entspreche nicht einer zeitgenössischen und demokratischen Vorstellung, einen Künstler nach seiner politischen Gesinnung zu beurteilen. İpekçi setzte seine Meinung durch, und die Sendung wurde ausgestrahlt. Diese Sendung mit Ruhi Su zeigt, dass eine einzige Person im gesellschaftlichen Leben trotz gegenteiliger gesetzlicher Vorgaben oder ungeschriebener Gesetze etwas bewegen kann. Man sollte die Leistung İsmail Cem İpekçis, des späteren Außenministers der Türkei unter der Regierung Ecevit in den Jahren 1998-2002, anerkennen. Sein Demokratieverständnis basierte auf der Maxime, Andersdenkende zu ihrem Recht kommen zu lassen, wobei İpekçi mögliche Schwierigkeiten in Kauf nahm. Hinzu zufügen ist, dass İsmail Cems Vater Ruhi Su Türküs in einigen Produktionen seiner Filmfirma İpek Film singen ließ. Ruhi Su erlebte einen seltenen Augenblick der Freude und Anerkennung. Während der Amtszeit des Staatspräsidenten Fahri Korutürk (1973 - 1980), erhielten bekannte Personen aus Kunst und Kultur eine Einladung zu einem Essen. Unter ihnen war auch Ruhi Su. Die Einladung lag eher an der ganz persönlichen Liebe zur Kunst und Kultur, die das Ehepaar Korutürk veranlasste, diesen Abend zu veranstalten. 14 Aus dem Interview mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai. 2006 in Köln. 15 Am 20. Sept. 2009 nahm der Kulturminister Ertuğrul Günay von der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), an der jährlich wiederkehrenden Gedenkfeier am Grab Ruhi Sus teil und führte aus, dass auch er wie viele andere mit den Liedern Ruhi Sus groß geworden sei. Er beteuerte, dass wer mit den Türküs Ruhi Sus groß geworden sei, die Suche nach Demokratie nicht 5 Ruhi Sus Ideen von der Musik entsprachen zwar eine Zeit lang mit den Vorstellungen Mustafa Kemal Atatürks von einer westlich inspirierten Musik, doch ihre politischen Vorstellungen gingen bald auseinander.16 Spätere Regierungen sahen in Ruhi Su eine ständige Gefahr. Was die Führung der Linken angeht, so hat sie seine künstlerische Größe kaum verstanden. Für sie war Ruhi Su ein Sänger, dem man von oben herab Anordnungen zur Agitation zukommen lassen wollte.17 Im Gegensatz dazu wurde Ruhi Su vom Volk geliebt. Er gewann geradezu den Rang eines Symbols für den humanitären Fortschritt. Diese tiefe Liebe des Volkes zeigte sich in bewegender Weise bei seinem Besuch Australiens im Jahre 1981, als türkische Arbeiter ihn am Flughafen auf die Schultern hoben,18 und bei seinem Begräbnis 1985, als zum ersten Mal nach dem Putsch von 1980 trotz des Verbotes von Massenansammlungen Tausende von Menschen sich an den Grabfeierlichkeiten beteiligten. Ruhi Su selbst hat jede Ideologisierung abgelehnt. Im Mittelpunkt seiner Weltanschauung standen die Freiheit des Individuums und die Bewahrung seiner Würde. In der positiven Sicht auf die Menschen zeigt sich die soziale Einstellung Ruhi Sus. Das Besondere ist weiterhin, dass Ruhi Su eine Brücke zwischen Volk und Intellektuellen geschlagen hat. In diesem Zusammenhang ist die Erklärung der Sängerin und Schriftstellerin Erendiz Atasü sehr bedeutsam: Ruhi Su war ein wichtiger Künstler für die Entwicklung der türkischen Intellektuellen. Seit der Tanzimatzeit (1839-1876) war das Schicksal der Intellektuellen durch ein „halbes Fremdsein“ im eigenen Land aus seinem Herzen entfernen könne. Er könne nicht mit Toleranz und Liebe auf die Gegner der Demokratie und die Befürworter der Putschisten schauen. (http://www.tumgazeteler.com/?a=2253922.) Abgerufen am 12. März. 2010. Man wird den Worten des Ministers nicht allzuviel Glauben schenken, denn Ruhi Sus Lieder dürfen in den staatlichen Medien bis heute nicht gespielt werden. Indirekt stilisierte der Minister sich so zu einer Art Ruhi Su. Diese Stilisierung traf auf Widerspruch. Ali Sirmen, ein Kolumnist bei Cumhuriyet, wendet ein, dass es die Gegner einer demokratischen Aufklärung waren, die Ruhi Su angeklagt hätten. Das Volk habe Ruhi Su nicht nur wegen seiner Kunst, seiner Stimme und seiner Art des Singens in sein Herz geschlossen, sondern auch wegen seiner unerschütterlichen Persönlichkeit. Vgl. SİRMEN, Ali: Ertuğrul Günay biraz ayıp etmiş, Cumhuriyet (27. Sept. 2009). Ein weiteres Beispiel für die Doppelzüngigkeit der heutigen AKP- Regierung ist die Rede des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç. Im Jahre 2005, bei der 90. Jahresfeier der Dardanellenschlacht, klagte er in einer Anwandlung von scheinheiligem Populismus: “Ach, wenn doch Ruhi Su jetzt hier wäre und uns das Klagelied ‚Çanakkale‘ singen würde!” Im Munde Ruhi Sus wäre die Wirkung des Liedes noch stärker gewesen. Man hätte Ruhi Su als Gast ins Parlament geladen, wo er mit der Saz in der Hand und mit seiner Baritonstimme dieses Lied gesungen hätte. Der Minister dürfte nicht an seine eigenen Worte geglaubt haben. Türkiye Büyük Millet Meclisi Basın Açıklamaları, TBMM Başkanı Bülent Arınç: Çanakkale Bir Destan, Hepimiz Bu Destanın Çocuklarıyız (22 Feb. 2005). Aus: http://www.tbmm.gov.tr. develop/owa/haber_portal.aciklama?p1=17964. Abgerufen am 5. Apr. 2009. Folgende Frage stellt sich ganz offensichtlich. Warum haben er und der Kulturminister nicht veranlasst, dass damals das Lied Çanakkale von Ruhi Su in den Medien ertönen durfte? 16 Siehe unten Kap. 4.2. 17 Siehe unten Kap. 2.6.2. 18 Siehe Television Program: The Musik of Ruhi Su, Cinetel Productions Sydney (28. - 29. Mai 1981).

6 bestimmt. Ein Intellektueller, der sich von seinem Volk und seiner Heimat getrennt hatte, nahm übermäßige Anstrengungen auf sich, um wieder an seine Wurzeln anzuknüpfen. Ruhi Su bereitete den Gedanken einer Vereinigung mit dem Volk mit vor. Er zeigte ihnen, dass sie die Kinder und ein Stück des historischen Erbes dieses Landes sind; er lehrte sie das wahre Nationalbewusstsein frei von Chauvinismus und Militarismus.19 Die Legitimation der Linken durch die neue Verfassung von 1961 änderte die Einstellung der Intellektuellen gegenüber der Volkskultur. Ruhi Su spielte eine wichtige Rolle bei diesem Wandel. Er machte die als feudales Kulturerbe mißachteten anonymen Lieder und Lieder von Yunus Emre, Köroğlu, Pir Sultan Abdal, Karacaoğlan und Dadaloğlu, zu einem Element im Kampf für Demokratie und Freiheit. Erst durch ihn, begann man diese Volksdichter in einem neuen Licht zu sehen. Wenn man Ruhi Sus Perspektive genauer betrachtet, stellt man fest, dass bei ihm das Weltliche in der Volkskultur einen eher noch prägenderen Ort besitzt als das Mystische,20 Für Ruhi Su war eine Vereinigung mit dem Volke nicht denkbar und praktizierbar ohne das Konzept des İmece. Dieses Konzept beinhaltet gegenseitige Hilfe in der Dorfgemeinschaft, jeder unterstützt nach seinen Fähigkeiten den Nachbarn, der diese nicht hat oder nicht anwenden kann. Man erntete gemeinsam die Felder ab oder baute gemeinsam einen Brunnen.21 Es ist eine alte Tradition, welche durch die Gründung von Dorfinstituten neues Leben gewann, indem der Staat zwar die Gründung anregte, das Dorf jedoch beim Bau Hand anlegte. Ruhi Su hätte ohne İmece seitens seiner Freunde kaum arbeiten können. Diese legten Geld zusammen, damit er die ersten kleinen Schallplatten produzieren konnte. So wurde es zu einer charakteristischen lebenslangen Geste der Dankbarkeit, dass Ruhi Su allen seinen Schallplatten die Bezeichnung İmece gab. Außerdem praktizierte er İmece auf vielerlei Weise: dadurch dass er an Dorfinstituten lehrte, Chöre bildete, musikalische Talente unterstützte und Auftritte für sie organisierte.

19 Nach ATASÜ, Erendiz: Ruhi Su için, Bilim ve Sanat (Nov.1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 244. 20 Vgl. ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 11-12. Für diese Perspektive Ruhi Sus siehe auch unten Kap. 2.5.1, 6.7.5 und 6.7.6. 21 Zum Prinzip des İmece zwischen Dorfbewohnern und Dorfinstituten siehe unten Kap.4.5. 7 1.3 Die Bedeutung Ruhi Sus für andere Musikkünstler Als Musikkünstler hatte und hat Ruhi Su noch heute eine prägende Kraft. In den 60er Jahren entwickelte er sich zu einem Vorbild für viele Künstler, weit über sein unmittelbares Umfeld und seine Zeit hinaus. Man kann in der Tat von einer Schule Ruhi Sus sprechen. Bis in die 80er Jahre ist diese in vielen Gruppen, speziell in den der linken Szene nahestehenden, zu erkennen. Fortschrittlich denkende Liedersänger achteten seinen Vortrag und seine Vertonung der Texte.22 Für Sümeyra, Rahmi Saltuk, Zülfü Livaneli, Sadık Gürbüz, Tülay German und Esin Afşar war das Werk Ruhi Sus eine wichtige Orientierung. Rahmi Saltuk berichtet, dass er als junger Mann Türküs gesungen habe, ohne die eigene künstlerische Linie gefunden zu haben. Eines Tages sah er einen Film, in dem ein Häftling Saz spielte und dazu Türküs sang. Dieser bewegte ihn sehr und brachte ihn zu der Überzeugung, dass Türküs genau so gesungen werden müssten. Später erfuhr er, dass dieser Häftling Ruhi Su war. Seine Bekanntschaft mit Ruhi Su habe viel zu seinem künstlerischen Können beigetragen.23 Esin Afşar ist eine Künstlerin, die sich zunächst der westlichen Musik verschrieben hatte. Sie sang ausschließlich englische, französische und italienische Chansons. Auf Anraten Ruhi Sus, sie solle ihr Repertoire durch Türküs erweitern, setzte sie sich mit Türküs auseinander und sang sie gelegentlich. Sie entwickelte mehr und mehr Begeisterung, bis sie schließlich nur noch Türküs auf ihre eigene Art sang.24 Der Verfasser von vielen Türküs, Märschen und Klageliedern, Mehmet Koç, betont, dass ihm die Bekanntschaft mit Ruhi Su als Sprungbrett seiner musikalischen Karriere diente.25 Es gibt heute noch Opernsänger, die Türküs singen, eine Tradition, welche Ruhi Su begann. Solche Sänger nahmen auch an den Konzerten der Ruhi Su-Kultur- und Kunststiftung in İstanbul26 und anderen Städten teil. Zu nennen sind Tuncer Tezcan, Ömer Yılmaz und Ufuk Karakoç. Auch Hasan Yükselir, Mehmet Çapan und Karabey Aydoğan, die keine Opernausbildung haben, singen Türküs auf die gleiche Art wie Ruhi Su. Unter den vielen Künstlern war Sümeyra Çakır Ruhi Su allein kongenial. Sie vermochte es, seine Vortragskunst fortzuführen. Ihren Kritikern, die sie der Nachahmung beschuldigten, entgegnete sie, es sei für sie eine große Ehre, wie Ruhi Su zu singen,

22 Nach GÜNDOĞAR, Sinan: Muhalif Müzik (2005): 109. 23 Vgl. SALTUK, Rahmi: Cumhuriyet (23 Nov.1982). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı: 101. 24 Vgl. AFŞAR, Esin: Ruhi Su Ölmedi, Hey (26. Sept.1985). Ebd. 183. 25 Vgl. KIVANÇ Hüseyin: Interview mit Mehmet Koç (Juli 2003) Acılarını türküleriyle yoğuran ozan: Mehmet Koç. In: http://my.opera.com/Kalender/blog/show.dml/4305593. Abgerufen am 28. März 2010. 26 Siehe unten Kap. 3.1. 8 seinen Interpretationen zu folgen und seine Ideen weiterzutragen.27 Ein wichtiger Grund der Kongenialität lag sicherlich darin, dass Sümeyra im Gegensatz zu anderen Liedersängern eine westliche Ausbildung in Praxis und Theorie erhalten hatte. Später bat sie Ruhi Su um Unterricht.28 Im „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) war sie die einzige Solistin und außerdem hatte sie nach Ruhi Su die zweite Lehrerstelle.29 Ruhi Su sagte von ihr, es gebe nur eine Person, die seine Schule fortführe: Sümeyra. Andere hätten ihn gemocht und nachgeahmt, auch heute noch.30 Sänger ohne musikalische Ausbildung waren für Ruhi Su lediglich Nachahmer ohne Können und Originalität. Er setzte sich sehr dezidiert von ihnen durch vier Forderungen ab. (1) Der Sänger des Türkü braucht eine Stimmausbildung und muss die Regeln der Musik kennen. (2) Das Volk, in dem man lebt, soll man kennen und lieben. (3) Die Umstände, unter denen Türküs entstanden sind und ihre Entstehungsweise sollen ebenfalls dem Sänger bekannt sein. (4) Die Sprache der Türküs muss schließlich dem Sänger bestens vertraut sein. Wenn diese Forderungen nicht erfüllt sind, wird einen zwar niemand vom Singen abhalten, aber das Singen führt nicht weiter zu einem Fortschritt der Kultur, sondern bleibt der Tradition verhaftet.31 Ruhi Su nimmt eine Sonderstellung unter den Intellektuellen und Künstlern in der Türkei ein.32 Er wurde geschätzt, weil er seine Türküs, die im Volk entstanden waren, in die städtische Kultur der Intellektuellen getragen hat. Er legte Wert auf die Nähe zum einfachen Volk ohne sich ihm anzubiedern, sondern er war bestrebt, wie erwähnt, die ursprüngliche Musikkultur zu suchen und weiterzuentwickeln. Auf keinen Fall beabsichtigte er eine Geringschätzung der Volkssänger.33 Seine demokratische Gesinnung, aus der seine Lieder flossen, zeigte sich darin, dass er sich nicht vor die Menschen stellte, um ihnen ihre Verhaltensweisen und ihr Tun vorzuschreiben.

27 Vgl. ÇAKIR, Sümeyra im Gespräch mit CANPOLAT, Mehmet: Milliyet Sanat (Jan. 1988). 28 Hüseyin Erdem, der Schriftsteller und freier Redakteur beim WDR Köln ist, machte in İstanbul in den 60er Jahren Sümeyra mit Ruhi Su bekannt. 29 Sümeyra Çakır musste nach dem Militärputsch 1980 in Deutschland Zuflucht suchen, woraufhin sie ausgebürgert wurde. Sie starb 1990 im Exil. 30 WDR 4, Vom Bosporus bis Gibraltar : Ruhi Su singt und erzählt (l. Juli 1985). Redakteur: Hüseyin Erdem. 31SU, Ruhi im Gespräch: Ruhi Su ile Söyleşi, Robert College, The Bosphoros Chronicle XXIII, 5. (Apr.- Mai 1978). In: Ezgili Yürek (1985): 124. 32 Diese Sonderstellung Ruhi Sus betont auch Ali Haydar Timisi in seiner im Internet, http://www.timisi. com/ruhisu.asp, veröffentlichten Abschlussarbeit „Ruhi Su, Hayatı-Eserleri-Sanatçı Kişiliği”, İstanbul Teknik Üniversitesi Türk Musikisi Devlet Konservatuvarı, Temel Bilimler Bölümü, Türk Halk Müziği Ana Sanat Dalı, Bitirme Çalışması, İstanbul (2003). 33 SU, Ruhi im Gespräch mit SÜMER, Seçkin: Ruhi Su ile Söyleşi, Politika (4. Nov. 1976). In: Ezgili Yürek (1985): 118. 9 1.4 Die türkische Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts als Thema bei Ruhi Su Zunächst geht es um die letzten Jahre des Osmanischen Reiches und den Befreiungskampf, freilich nur insofern sie Themen von Ruhi Sus eigenen Liedern, Volksliedern und von ihm vertonten Gedichten Nâzım Hikmets sind. Der Jemen war seit Jahrhunderten ein Symbol dafür, dass Soldaten in Kriege zogen und nicht wieder kamen. Dies hatte zu tun mit der osmanischen Politik der Expansion und Ausbeutung in dieser Region, welche immer wieder zu Erhebungen der einheimischen Bevölkerung führte, die mit militärischer Gewalt niedergeschlagen wurden.34 Ruhi Su hat die volkstümlichen Klagelieder über den Jemen (Yemen Türküleri I-II-III) bearbeitet. 35 Am Ende des Ersten Balkankrieges (1912), den Serbien, Bulgarien und Griechenland den Osmanen erklärt hatten, musste das Osmanische Reich wichtige Metropolen wie Thessaloniki und Edirne aufgeben. Das Reich ging zu geschwächt aus den Balkankriegen hervor, als dass es weitere Kriege führen konnte. Dennoch trat 1914 das Osmanische Reich an der Seite des Deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg ein. Bei Sarıkamış gingen die Soldaten unter der rücksichtlosen Führung Enver Paşas in eine logistische Katastrophe. Das Volk klagte Enver Paşa in dem Lied Sarıkamış (Sarıkamış) an, und Ruhi Su thematisierte und teilte diese Anklage.36 Unter den militärischen Befehlshabern gilt Mustafa Kemal als ein anfänglich entschiedener Kriegsgegner. Es war jedoch die Schlacht an der strategisch wichtigen Meerenge der Dardanellen (1915), welche Mustafa Kemal militärischen Ruhm bringen sollte. Er führte seine Truppen zu einem ebenso blutigen wie siegreichen Kampf gegen eine englisch- französische Invasionsarmee.37 Dieses Ereignis bewegte Ruhi Su dazu, dem äußerst populär gewordenen „Klagelied Çanakkale“ (Çanakkale Ağıdı)38 einen neuen und tieferen Sinn des Soldatentodes und eine angemessen ernste Vortragsweise zu geben. Drei große Katastrophen führten zum Zerfall des osmanischen Reiches: Die erste war der Krieg gegen die Russen im Jahre 1877. Nach der Niederlage verlor das Osmanische Reich von Plevne (Bulgarien) bis zur Donau den Großteil der Gebiete in

34 Vgl. SIRMA, İhsan Süreyya im Gespräch mit Aynur ERDOĞAN über die Geschichte des Jemens. In: http://www.nurcenneti.com/forum/roportajlar/prof-dr-ihsan-sureyya-sirma-ile-yemen-tarihi-t2225.html. Abgerufen 3.2.2012 sowie OTYAM, Fikret: Adı Yemendir (1981). 35 Vgl. unten Kap. 9.7.4; 9.7.5 und 9.7.6. 36 Vgl. unten Kap. 9.1.2. 37 STEINBACH, Udo: Geschichte der Türkei (2000): 23. 38 Vgl. unten Kap. 9.1.1.

10 Thrakien. Millionen flohen vom Balkan und Kaukasus hungrig und ohne jede Habe nach İstanbul und Umgebung. Die zweite Katastrophe war der Balkan-Krieg von 1912, in der das Reich nunmehr alle Gebiete in Balkan verlor und die Menschen erneut flüchten mussten. Die dritte und schwerste war der Erste Weltkrieg,39 in dem weite Teile des osmanischen Territoriums von den Siegermächten besetzt wurden. Es folgte der Befreiungskampf von 1919 bis 1922 gegen Griechenland. Ihren poetischen Niederschlag fand die Befreiuung in mehreren bedeutenden Gedichten Nâzım Hikmets, die Ruhi Su vertonte, und die an anderer Stelle dieser Studie ausführlicher behandelt werden. Dem Titel nach seien angeführt: „Unsere Frauen” (Kadınlarımız),40 „Die schwarze Schlange” (Karayılan),41 „Die große Offensive” (Büyük Taarruz),42 „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü).43 Das Gedicht Ruhi Sus „Die Mobilmachung” (Seferberlik)44 gehört ebenfalls in diesen thematischen Kontext.

39 Vgl. KURAT, Akdes Nimet: Türkiye ve Rusya (1990): 576-577. In: AKYOL,Taha: Ama Hangi Atatürk (2008): 13. 40 Vgl. unten Kap. 9.1.3. 41 Vgl. unten Kap. 9.1.4. 42 Vgl. unten Kap. 9.1.5. 43 Vgl. unten Kap. 6.7.1. 44 Vgl. unten Kap. 10.1.1 11 2. Die Biographie Ruhi Sus 2.1 Ruhi Sus erste Jahre Verhältnismäßig selten sprach Ruhi Su in Interviews über sein Leben.45 Einzelheiten jedoch konnte man zum ersten Mal aus dem Gespräch erfahren, das Zeynep 46 Oral am 1. Mai 1984 mit Ruhi Su ein Jahr vor dessen Tod führte. Nach offizielle Registrierung wurde Ruhi Su im Jahre 1912, zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, geboren.47 Drei Jahre später, 1915, wurde er in der südanatolischen Stadt auf der Straße aufgelesen. In allen Quellen gilt die Provinz Van als Geburtsort Ruhi Sus. Die schwierige und bedrückende Kindheit Ruhi Sus war von dem Chaos des Ersten Weltkrieges gekennzeichnet. 1915 begannen die Osmanen die Armenier aus ihrem Stammland in Richtung Syrien zu deportieren. Man kann nicht sicher behaupten, dass Ruhi Su geborener Türke war. In einer Zeit, in der in Van neben Türken auch zahlreiche Armenier und Kurden lebten, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass er zu einer dieser beiden Volksgruppen gehörte. Sein Sohn Ilgın Su sagte, dass man seinen Vater im Heim und in der Schule entweder als “Armenierbrut” oder als “Kurdensohn” angesprochen habe.48 Er sprach davon, dass sein Vater höchstwahrscheinlich Armenier gewesen ist. Dies begründete er damit, dass bis heute kein einziger Mensch aufgetreten ist und behauptet hat, er sei ein Verwandter von Ruhi Su. Mit einer wenig überzeugenden Hypothese behauptet Yalçın Küçük, dass die Türken keine Musikstimmen haben und wenn jemand eine Stimme mit Musikqualität habe, bezweifle er, dass dieser ein Türke sei. Deshalb könne Ruhi Su auf keinen Fall Türke sein.49 Eine gewisse Glaubwürdigkeit hat die Tatsache, dass für alle Menschen, die islamisiert wurden, Abdullah als Name des Vaters von den Behörden eingetragen wurde. Eben dies war bei Ruhi Su der Fall.50 Demnach ist es nicht ausgeschlossen, dass Ruhi Su

45 Siehe für Interviews mit Ruhi Su: SÜMER, Seçkin: Ruhi Su ile Söyleşi, Politika (4.Nov. 1976); KUTLAR, Onat: Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır, Gösteri (16. März 1982). In: SU, Ruhi, Ezgili Yürek (1985): 117-120 und 158-164. 46 SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1 Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985):13-28. Vgl. auch ORAL, Zeynep: Sözden Söze (1990): 237-249. 47 Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 27, 29 und 59. 48 Aus dem Gespräch mit SU, Ilgın, dem Sohn aus der zweiten Ehe Ruhi Sus, am 28. Juli 2007 in İstanbul. 49 Vgl. KÜÇÜK, Yalçın: Türkiye Üzerine Tezler 5 (2007): 289. 50 Vgl. KÜÇÜK, Yalçın: Tekelistan (2000): 82. 12 Armenier war.51 Letztlich ist die Entscheidung von geringer Bedeutung, denn er war durch seine Sozialisation, Bildung und Arbeit ein Türke52. Ruhi Su hat vor 1970 seine Erinnerungen an die Zeit und Umstände der Flucht aus Van Hüseyin Erdem erzählt. Dieser berichtet von den ältesten Spuren der Kindheit des Musikers. Die Menschen hatten offenbar in der Provinz Van ihren Heimatort verlassen müssen, denn Soldaten befanden sich in der Umgebung. Vor allem erinnerte er sich daran, dass er eine Hand festhielt. Es muss die Hand seiner Mutter gewesen sein, denn nur die Hand einer Mutter konnte so festhalten. Die Flüchtlinge waren müde, hungrig und froren sehr. Sie überwanden Berge und Gewässer und kamen schließlich nach einer Wanderung voller Strapazen in Adana an. Sie dachten, sie könnten sich in Adana erholen; jedoch vergeblich, die Flucht ging weiter. In diesem Moment verlor Ruhi Su die Hand der Mutter. Er fand sich an einer Mauer wieder; die einzige Verbindung zum Leben hatte er verloren. Er schaute den Menschen so lange weinend nach, bis sie am Horizont verschwanden. Die Kraft zum Weinen hatte er verloren. Ein Mann nahm ihn mit nach Hause. In diesem Haus blieb er und wuchs als Kind dieser Bewohner auf. Mehmet, wie er damals genannt wurde, sorgte für die Ziegen, Kühe und Hühner und begann, als Schäfer zu arbeiten. Er liebte die Tiere und hütete sie bis zur Dämmerung auf den Weiden. Er pflückte Obst von den Bäumen und versorgte sich somit mit täglicher Nahrung. Ruhi Su fügte hinzu, dass er sich nur ganz schwach an eine andere Sprache erinnern könne. Auch Kurdisch verstand er damals nicht, Türkisch schon gar nicht. Er konnte weder mit Ja noch Nein auf die Frage nach dem Armenischen antworten. Spuren spüre er wohl, aber sie seien unklar. Nach der Flucht wurde natürlich Türkisch zu seiner Muttersprache. 53 Das Wichtigste aber war, dass bereits Mehmet Türküs sang;54 eine Liedform, der er sein Leben widmete. An dieser ersten Stelle ist eine kurze Charakterisierung dieser Liedform unerlässlich, deren Verständnis für diese Studie eminent wichtig ist. Das Türkü gilt als das ursprüngliche Volkslied der Türkei. Sein Aufbau ist meist strophisch mit einem Kehrreim und die Melodie bleibt innerhalb eines Türküs gleich. Seine Zeilen werden häufig wiederholt. Ein Türkü besteht aus drei bis sechs Strophen mit je vier bis fünf Zeilen. Die Anzahl der Silben pro Zeile beläuft sich auf sieben, acht oder elf Silben. Manche Türküs sind in der ganzen Türkei bekannt. Darüber hinaus gibt es regionale und lokale Türküs. Als literarische Gattung enthält das Türkü Berichte über lustige oder

51 Murat Belge spricht auch von Ruhi Su als Armenier. Siehe BELGE, Murat: Linç Kültürünün Tarihsel Kökeni: Milliyetçilik (2006): 80. 52 So auch Bertan Onaran im Gespräch vom 25. Juli 2007 in İstanbul. 53 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 54 Nach AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 9. 13 traurige Ereignisse, Heldentaten, Kämpfe, Kriege, Liebe, Sehnsucht, Kummer und Schönheit. Das Türkü bringt die individuellen und gesellschaftlichen Gefühle des Volkes zum Ausdruck. Deswegen kann man die gesamte Lebensweise des Volkes an den Türküs erkennen. Wer die Lieder eines Volkes macht, so ein griechischer Philosoph, ist stärker als derjenige, der die Gesetze macht.55 Die Dichter der Türküs sind meist anonym. Es ist jedoch Brauch, dass sich einige Dichter in der letzten Strophe mit Namen nennen. Unter dem Begriff Türkü existieren weitere Dichtungsformen wie Koşma, Destan, Mani, Ağıt.56 Das Volkslied (Halk Türküsü) ist in der Türkei immer noch eine lebendige Tradition, insofern auf dem Lande neue Lieder entstehen. Man kann das Singen als unmittelbarsten Ausdruck des türkischen Volkes ansehen; schon das Wort Türkü ist verwandt mit dem Wort Türkisch (ursprünglich türki), das heißt mit allem, was die Türken singen. Das vorangestellte Wort halk (Volk) bedeutet heute, dass es sich nicht um eine zufällig überlieferte Einzelaufzeichnung, sondern um ein volkstümlich gewordenes Lied handelt.57 Das Türkü ist ein für die Saz geschriebenes Gedicht; es ist gleichzeitig eine lyrische Erzählform und die Übertragung einer gelebten Erfahrung in die Musik.58 Die Saz ist eng verbunden zu sehen mit dem Schatz an Weisheit, den das anatolische Volk über die Jahrhunderte zusammengetragen hat. Sie symbolisiert ihn geradezu.59 Ruhi Su brachte aus seiner Kindheit Kenntnisse über Pflanzen und Vegetation mit. Er hat, sagt Sıdıka Su, mit einer gottgegebenen Stimme Türküs gesungen, obwohl er noch jung war. Wenn er vom Schafshüten zurückkam, ließen ihn die Nachbarsfrauen schon vor der Haustür singen. Bei seiner Pflegemutter fand er jedoch keinen Beifall. So wird verständlich, dass er sein Leben möglichst außerhalb des Hauses verbrachte und sich selbst zu helfen lernte.60 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Gebiete des besiegten Osmanischen Reiches von den Alliierten aufgeteilt. Nach den Vereinbarungen von Mudros im Oktober 1918 besetzten die Franzosen Adana. Die Besetzung wichtiger strategischer Punkte erschien legitim, wenn sich die Alliierten bedroht fühlten.61 Viele Menschen aus Adana retteten sich in das Taurusgebirge. Auch Mehmet, der zu dieser Zeit ungefähr acht Jahre

55 KARAALİOĞLU, Seyit Kemal: Ansiklopedik Edebiyat Sözlüğü (1983): 827. Zitiert ohne Namensangabe. 56 Vgl. http://www.opp.udk-berlin.de/opp/index.php?title=T%C3%BCrkische_Volksmusik. Abgerufen am 11. 08. 2011. 57 Siehe ÖZTÜRK, Ali Osman: Das türkische Volkslied als sprachliches Kunstwerk (1994): 13. 58 EYÜBOGLU, İsmet Zeki: Soyut (Dez. 1972). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 65. 59 Vgl. KURDAKUL, Şükran: Ruhi Su İçin. In: Şairce Düşünmek (1990): 63. 60 Aus dem Gespräch mit Ruhi Sus Frau Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 61 Vgl. http://www.bilgiportal.com/v1/idx/54/1913/Tarih/makale/Mondros-Atekes-Antlamas.html. Abgerufen am 15.8.2011. 14 alt war, flüchtete mit seiner Tante und seinem Onkel. Es waren die Tage der Flucht (Kaç Kaç Günleri).62 Es waren Zeiten, in denen man die bedrückenden Auswirkungen der allgegenwärtigen Mobilmachung deutlich spürte. „Die Mobilmachung“ ist ein Gedicht, in dem Ruhi Sus Kinderjahre mit der letzten schweren Zeit des Osmanischen Reiches, verknüpft werden.63

„Die Mobilmachung“ Es war das Voranschreiten mit der Waffe in der Hand, Ach, das unglückliche Los der Landwehr.

Unter den Instrumenten gibt es wie bei den Menschen einige, Die einen störenden Klang haben, Einige, die nur lallen. Ich wurde wach von der Trommelstimme, Von der fanatischen Stimme der Trommel und der Trompete. Der Freudenbotschaft des gespannten Trommelfells Konnte man nicht widerstehen, Weil es die Mobilmachung war. …

Ich erinnere mich, als ob es jetzt wäre, Die Brote sahen aus wie neugeborene Zwillinge, Gebacken auf brennendem Heidekraut. Dieses Kraut duftete nach Honig, Uns sättigt seit eh und je das Brot, Und ich erinnere mich nun an meine Kindheit.

Ist nur die Armut von Kriegen übrig geblieben? „Mobilmachung“, sagte man, und ich war mittendrin. Eichenbrotbaum, Johannesbrot war Sirup und Honigbaum für uns, Kinder gab es entweder wenige oder sie weinten wenig, Oder sie hatten wenig Zeit zu weinen.

62 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 174. 63 Vgl. GİRİTLİ, Osman: Şair ve Yazar Ruhi Su, Gösteri (Okt. 1985). In: Mekin Dinçer (Hrsg.), Ruhi Su’ya Saygı (1986): 214. Für das vollständige Gedicht siehe unten Kap. 10.1.1.

15 Die Krankheit war Fleckfieber, Das Medikament war Chinarinde. Meine Kindheit soll verschwinden und nicht zurückkommen; Ich erinnere mich an meine Kindheit. (Ruhi Su)

„Seferberlik“ Eli silah tutanların gidişiydi bu, Rediflerin, vay anam kur’asının.

Çalgıların da insanlar gibi Zort zort edeni var, Zom zom gideni var. Uyandım davulun bağnazlığına, Davulun, trampetin, Gerilmiş derilerin muştusuna. Seferberlikti bu karşı durulmaz. … Şimdilerdeki gibi anımsarım, İkiz bebeklere benzerdi ekmekler, Püren çalısında pişer, Püren balı gibi kokardı. Biz oldum olası ekmekle doyarız da Çocukluğum geldi aklıma.

Hep savaşlardan mı kaldı bu yoksulluk? Seferberlik derlerdi, ben de bulundum içinde. Pelit, ekmek ağacı, Harnup, pekmez ağacı, bal ağacıydı bizim Güney‘de. Çocuklar ya çok azdı, ya çok ağlamazdı Ya da ağlamaya vakit kalmazdı. Hastalık lekeli humma, İlaç kınakınaydı. Gitsin, gitsin de gelmesin; Çocukluğum geliyor aklıma.64 (Ruhi Su)

64 Markar Etrüsyan, ein Journalist der Zeitung Agos, hielt am 20. 9. 2010 eine Rede anlässlich des 25. Todestages von Ruhi Su. Er ging besonders auf die letzten zwei Zeilen des obigen Gedichts ein. Er führte aus, dass diese Zeit eine schreckliche Erfahrung für ein Kind gewesen sein muss, dass es derart die eigene Kindheit verstosse und wünschte sich zukünftigen Kindern keine solche Ablehnung. 16 „Die Mobilmachung“ (Seferberlik) ist eines seiner wenigen selbstverfassten Gedichte. Ruhi Su legte jedoch niemals den Hauptwert aus sein Dichtertum. Jedoch gab und gibt es renommierte Schriftsteller und Literaturwissenschaftler wie Osman Giritli, Cevat Çapan, Oktay Akbal und Doğan Hızlan, die ihn als Dichter würdigen.65 Das Kind Mehmet arbeitete in den Kaç Kaç Günleri sehr schwer, erledigte die ihm gegebenen Arbeiten und konnte trotzdem seine Tante nicht zufrieden stellen. Die Familie kam schließlich an einer Bleibe an und blieb dort vorübergehend. Eines Tages wurde von ihm verlangt, Wasser zu holen. Er nahm den Krug und ging los. Als er zurückkam, fand er niemanden mehr vor und blieb mit dem Krug Wasser in der Hand allein auf dem Berg. Er wusste später nicht, wie viele Tage er damals allein blieb. Schließlich fand er die Kolonne wieder. Als der Onkel ihn sah, umarmte er ihn und fing an zu weinen. Die Tante blieb regungslos und kühl. Daran merkte Mehmet, dass er absichtlich allein gelassen worden war. Ihm wurde klar, dass sie nicht die eigentlichen Eltern waren.66 Inzwischen lernte er weitere Türküs und sang sie. Die Zuhörerschaft bestand hauptsächlich aus Frauen, da die Männer im Krieg waren. Diese Türküs, die er als Kind lernte, wurden sein erstes Türkü Repertoire. Im Jahre 1952 wird Ruhi Su dem Schriftsteller Orhan Kemal Folgendes sagen:

Ich war seit jeher neugierig auf die Türküs. Während der Kaç Kaç Günleri hatte ich Türküs gelernt von den Menschen der İndereci und Mansurlu Dörfer in den Taurus-Gebirgen. Ich sang sie ständig mit viel kindlicher Freude vor mich hin.67

Als die Franzosen abzogen, kehrten die Menschen nach einiger Zeit nach Adana zurück. Mehmet war nun wieder mit der Tante und dem Onkel zusammen. Die Tante begann eines Tages, ihn wegen einer Kleinigkeit zu verprügeln. Sie fesselte ihn an einen Baum, um ihn auszupeitschen.68 Er wurde mit Hilfe einer alten Nachbarin ohne Wissen der Tante und des Onkels in ein Waisenhaus (Dār ül Eytām) gebracht. Die alte Frau hatte, so glaubte Ruhi Su sich zu erinnern, zwei Enkel. Sie hatte Angst um ihre Enkel und

65 Vgl. GİRİTLİ, Osman, Şair ve Yazar Ruhi Su, Gösteri (Okt. 1985); AKBAL, Oktay: Ruhi Su Yaşayacak, Cumhuriyet (22. Sep. 1985); HIZLAN, Doğan: Bir Ruhi Su Vardı, Hürriyet (25. Sep. 1985). In: MEKİN, Dinçer (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı. 214, 151 und 145 sowie AKBAL, Oktay: Şairlere Ölüm Yok (1994):105-113. Damit ist die Mobilmachung für den Befreiungskrieg (1919-1922) gemeint. Für Gedichte Ruhi Sus siehe unten Kap.10. 66 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. Frau Su vermutet, dass die Tante eifersüchtig auf ihn war. Alle Andern liebten ihn, die Nachbarn, der Onkel, aber sie hielt Abstand. 67 SU, Ruhi in einem Gespräch mit KEMAL, Orhan: Ruhi Su ile Bir Konuşma, Forum 336 (1. Apr.1968). In: Ruhi Su: Ezgili Yürek (1985): 89. 68 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 17 sorgte sich darum, was mit ihnen wohl geschehen würde, wenn sie stürbe. Die Kinder waren nämlich Waisen. Sobald sie von einem Waisenhaus hörte, brachte sie die Kinder dorthin. Als sie den leidenden Mehmet sah, fragte sie ihn, ob sie ihn auch zu ihren Enkeln ins Waisenhaus bringen dürfe. Er antwortete mit Ja. Im Waisenhaus wurde sie von den Verantwortlichen gerügt, sie dürfe nicht alle auf der Straße aufgelesenen Kindern bringen. Man habe keinen Platz mehr. Sie flehte die Leiter an und machte sogar den Vorschlag, einen ihrer Enkel zurückzunehmen, denn die Leiden Mehmets waren unerträglich. Endlich wurde er aufgenommen. Dies bedeutete die Wende in seinem Leben.69 Ruhi Su sagte später, dass er im Heim zum ersten Mal so etwas wie Spiele kennen gelernt habe. Er sei sehr aufgeregt vor Freude gewesen und verdutzt zugleich. Für den zehnjährigen Mehmet begann jetzt erst seine Kindheit. In der Schule übersprang er die ersten beiden Klassen. Dort wurde man zuerst auf seine Stimme aufmerksam. Die Lehrer ließen ihn an der Spitze von Gruppen gehen und Märsche und Lieder singen. Seine Mitschüler und Nachbarn forderten ihn auf zu singen. Nach einem Jahr ließ der Musiklehrer Mehmet Tahir für das Waisenhaus eine Geige kaufen. Mehmet begann mit Unterstützung dieses Mannes Geige zu spielen.70 Im Jahr 1924 wurde in Ankara die Musiklehrerschule (Musiki Muallim Mektebi), die heute wie die Gazi Universität das Fundament des Staatskonservatoriums bildet, mit dem Ziel eröffnet, Musiklehrer auszubilden. An alle Waisenhäuser in der Türkei wurde folgende Nachricht versandt: „Schickt uns alle Kinder, die für die Musik ein besonderes 71 Interesse und Talent haben.“

69 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 70 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 10. 71 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 15. 18 2.2 Die Aufnahme in die Musiklehrerschule Aus dem Waisenhaus in Adana nahmen Mehmet aus der vierten Klasse und Şaban aus der fünften Klasse an der Aufnahmeprüfung für die Musiklehrerschule teil. Mehmet bestand die Prüfung, jedoch Şaban nicht. Die Schulpflicht dauerte nur fünf Jahre. Der Schuldirektor erklärte Mehmet, er habe die Möglichkeit, noch ein Jahr im Waisenhaus und in der Schule zu bleiben, weil er erst in der vierten Klasse sei. Diese Chance bestand aber für Şaban nicht. Deshalb wollte der Direktor die Erklärung: Şaban hat die Prüfung bestanden, nicht aber Mehmet. Mehmet willigte ein. Was er fühlte, hat Ruhi Su detailliert beschrieben: In diesem Augenblick war es für mich selbstverständlich Şaban den Vortritt zu lassen. Nein, ich hatte keinen Knoten im Hals. Der Direktor hatte Recht. Dadurch kam auch Şaban nicht auf die Straße. Ich war mir sicher, dass ich die Prüfung im nächsten Jahr wieder bestehen würde. Ich war überhaupt nicht traurig.72

Die Großzügigkeit Ruhi Sus entstammte nicht einer einzelnen Situation, sondern war eine besondere Eigenschaft seines Charakters.73 Nach einem Jahr nahmen Mehmet und Suphi, ein anderer Schüler, an der Prüfung teil und beide bestanden. Ihre Unterlagen gingen für das Einschreibeverfahren nach Ankara. Gleichzeitig kam aus Ankara an alle Waisenhäuser ein Rundschreiben, nach dem alle Kinder, die die Grundschule beendet hatten, auf Militärschulen zu schicken waren. Mehmet klagte nicht, dass er ein Jahr zuvor Şaban seinen Platz gegeben hatte:

Als dieses Rundschreiben kam, war die Prüfung vergeblich. Suphi und ich waren sehr traurig. Es nützte nichts; wir wurden nach İstanbul auf das Halıcıoğlu Militärgymnasium geschickt.74

Die Militärärzte, welche die Kinder vor ihrer Abreise von Adana untersuchten, lachten, als sie ihre Namen Ökkeş, Cumali, Ali Merdan, Durmuş hörten. Sie rieten ihnen, zu ihren Namen noch einen modernen Namen hinzu zu nehmen, um in İstanbul nicht verspottet zu werden. So wurde aus Cumali Ali Ulvi und aus Mehmet wurde Mehmet Ruhi. Mit ihren neuen adretten Namen machten sie sich auf den Weg zum Militärgymnasium von İstanbul. Ruhi Su wollte aber um jeden Preis nach Ankara auf die Musiklehrerschule.

72 Ebd. 16. 73 Hüseyin Erdem betonte ebenfalls die außerordentliche Großzügigkeit des Sängers in einem Gespräch mit dem Verfasser am 31. Aug. 2011 in Köln. 74 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 16. 19 Als seine neuen Freunde das Talent Mehmet Ruhis bemerkten, machten sie ihn mit dem Musiklehrer Ahmet Muhtar bekannt. Dieser riet ihm, auf die Musiklehrer- schule in Ankara, wo er unterrichtete, zu gehen. Als er eines Abends für seine Freunde in der Kantine auf der Geige spielte, kam der Kommandant der Schule angerannt, schrie sie alle an, ergriff die Geige und schleuderte sie weg. Die Geige ging zu Bruch. Das Verhalten des Kommandanten traf Mehmet schwer. Er setzte es sich immer stärker in den Sinn, aus dem Militärgymnasium nach Ankara zu fliehen, obwohl der Kommandant ihm anbot, die Geige zu bezahlen. Das Problem war, die Fahrt nach Ankara zu organisieren. Da sich sein Ausweis in den Händen der Militärschulleitung befand, nahm er den Ausweis eines Freundes. Die Freunde sammelten gemeinsam Geld für seine Fahrkarte. Eines Tages schaffte er es, mit einem Koffer in der Hand und einem falschen Ausweis zu fliehen. In den Zügen gab es strenge Kontrollen. Kurz vor Ankara geriet er in Polatlı in eine Polizeikontrolle. Ihm wurden immer die gleichen Fragen gestellt: Wo kommst du her? Wo gehst du hin? Wo bist du untergebracht? Seine Antworten erschienen unglaubwürdig; man nahm ihm den Ausweis ab und beschied ihn, er könne den Ausweis am nächsten Tag auf der Polizeiwache in Ankara abholen. Er stieg am Hauptbahnhof aus und fragte sich über Ulus nach Cebeci bis zu der Musiklehrerschule durch. Hier machte er Ahmet Muhtar ausfindig. Als er gestand, dass er geflohen sei, erschrak Muhtar und schickte ihn umgehend zur Zentralstelle der Militärgymnasien in Ankara. Er sollte dort sein Zeugnis und seinen Ausweis abholen. Ohne seinen Koffer abzulegen, eilte er dorthin. Dem ersten Zuständigen, den er antraf, teilte er sein Problem mit. Als seine Leidensgeschichte seit Adana erzählte kamen ihm die Tränen. Der vorsitzende Oberst blieb jedoch hart, denn Mehmet Ruhi sollte kein schlechtes Beispiel bieten. Andererseits riet er ihm, er möge von İstanbul aus einen seinem Wunsch entsprechenden Antrag stellen. Mehmet Ruhi wurde in Begleitung von zwei Militärpolizisten nach İstanbul zurückgeschickt. Bevor er seine Freunde überhaupt sehen konnte, wurde er arrestiert. In den beiden Tagen seiner Haft verstärkte sich sein Wunsch, auf die Musiklehrerschule zu gehen. Er war sich sicher, eines Tages sein Ziel zu erreichen.75 In diesen Jahren wurden die Militärschulen mit Aufnahmeanträgen überhäuft. Kinder, die ursprünglich aus Waisenhäusern kamen, mussten vor der Aufnahme in die Militärschule medizinisch untersucht werden. Untaugliche wurden an andere Schulen geschickt. Mehmet Ruhi sah in diesem Verfahren eine Chance für sich, der Militärschule zu entkommen und bat daher den Schulkommandanten, auch ihn zu dieser medizinischen

75 Vgl. Ebd. 16-18. 20 Untersuchung zu schicken. Der Kommandant lehnte dies zunächst ab, weil er ja offensichtlich gesund sei, gab aber den zähen Bitten schließlich nach. Beim Augentest las Mehmet alle Buchstaben bewusst falsch.Die Ärzte bescheinigten Mehmet Ruhi dennoch die volle Gesundheit, ein Verfahren, dass zu Gunsten der finanziellen Sicherheit der Waisenkinder üblich war. Beim Hörtest jedoch erzählte Ruhi Su dem zuständigen Arzt von seinem Wunsch, Musiklehrer zu werden. Angetan von seiner Lebensgeschichte, bescheinigte dieser ihm die Untauglichkeit. Mehmet Ruhi war sehr glücklich über seine vorgebliche Untauglichkeit und stellte sofort den Antrag, auf die Musiklehrerschule in Ankara aufgenommen zu werden. Als er in dem Gefühl der Sicherheit lebte, an die Institution seines Wunsches zu kommen, erreichte ihn die Nachricht, dass dort alle Plätze besetzt seien. Der für untauglich erklärte Mehmet Ruhi musste das Halıcıoğlu Militärgymnasium verlassen und wurde zurück nach Adana geschickt. Jeder andere hätte an seiner Stelle dieses Unglück verflucht und dagegen rebelliert, Mehmet Su tat das nicht.76 In Adana ging er auf das Lehrergymnasium. Dort übte er das Geigenspiel, denn er war fest davon überzeugt, dass er sehr bald schon an der Musiklehrerschule in Ankara angenommen werde. Die Begegnung mit der westlichen Musik ereignete sich in dieser Zeit. Es gab in Adana ein Orchester, das in Stummfilmkinos die Begleitmusik zu den 77 Filmen spielte. Der Violinist dieses Orchesters, ein Österreicher namens Erwin Bey , war gleichzeitig der Violinlehrer des Lehrergymnasiums. Durch ihn lernte Mehmet Ruhi die Stücke der klassischen westlichen Musik kennen. In den Sommerferien gingen alle Schüler nach Hause, und wer, wie Mehmet, kein Zuhause hatte, wurde ins Internat nach Konya geschickt. Dort kam Mehmet Ruhi in Kontakt mit den Schülern der Musiklehrerschule von Ankara.78

76 Vgl. Ebd. 19. 77 Den Nachnamen konnte der Verfasser leider nicht in Erfahrung bringen. 78 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 179. 21 2.3 Die Heirat mit Münire Sevim, die ersten Stadien der Musikausbildung und die Annahme des Nachnamens Su Die Sehnsucht nach einer warmen Suppe und einer kleinen geborgenen Familie war groß.79 Er heiratete 1934 überstürzt die Krankenschwester Münire Sevim. Ruhi Su gibt an, er sei damals 22 Jahre alt gewesen.80 Er zog zu den Schwiegereltern, und sie bekamen ein Kind, das sie Güngör81 (Der, der glückliche Tage erleben möge) nannten. Als er in die Musiklehrerschule nach Ankara kam, wurde seine Frau an das dortige Numune Hospital versetzt. Jedoch trennten sie sich nach einiger Zeit.82 Nach den Sommerferien wurden erneut Aufnahmeprüfungen an der Musiklehrerschule in Ankara abgehalten. In der Prüfung fragte man ihn, welches Stück er spielen wolle. „Morceaus“, antwortete er. Er war sehr überrascht, als er ein Concerto spielen sollte. Diesen Terminus hörte er zum ersten Mal, auch Noten und Harmonielehre kannte er nicht. Einer der Lehrer schlug ihm für die Prüfung das Violinkonzert G-Dur von Vivaldi vor. Mehmet Ruhi lieh sich eine Violine von einem Freund und übte Tag und Nacht in seinem Hotelzimmer und bestand die Prüfung mit Erfolg. Dem Vorschlag von Ulvi Cemal Erkin,83 ihn in die Vorbereitungsklasse zu setzen, damit er keine Schwierigkeiten in der Abschlussklasse bekäme, stimmten alle anderen Lehrer zu.84 So gelang es Mehmet Ruhi endlich, in die Musiklehrerschule aufgenommen zu werden. Als externer Student absolvierte er die erste Klasse mit Bravour und errang das Recht, intern an der Schule zu bleiben. 1934 wurde das Gesetz über Nachnamen verabschiedet. Jeder war verpflichtet, sich einen Nachnamen auszusuchen, der verständlich und leicht auszusprechen war. Also

79 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. August 2011 in Köln. 80 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):180. 81 Güngör Su zu kontaktieren ist trotz zweier Versuche nicht gelungen. Die Beziehung zu seinem Vater kann man aus dem Gespräch des Verfassers mit Bertan Onaran vom 23. September 2010 in İstanbul nur erschließen: Güngör Su war am Kontakt mit seiner Familie gelegen. Vgl. das Foto in: AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 30. So gab er dem Halbbruder Ilgın Su Arbeit. Eine familiäre Verpflichtung wird auch bestanden haben, sonst hätte er den Film über die Beerdigung von Ruhi Su, wie Ilgın Su mitteilte, nicht drehen lassen. Güngör Su hat vielleicht auf diese Art und Weise seinen Vater in die Arme genommen und ihm die letzte Ehre erwiesen. Vgl. das Foto in: AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 30. 82 Weitere biographische Information über die erste Ehe ist nicht erhältlich. 83 Ulvi Cemal Erkin (1906-1972) war seit 1930 Professor am Staatskonservatorium in Ankara (Ankara Devlet Konservatuvarı), das er 1949 bis 1951 leitete. Später war er auch Dirigent der Staatsoper. Er gehörte zu den Türkischen Fünf, der Gruppe der ersten professionellen Komponisten der Türkei, zu der außer ihm noch Cemal Reşit Rey (1904-1985), Hasan Ferid Alnar (1906-1978), Ahmet Adnan Saygun (1907-1991) und Necil Kazım Akses (1908-1999) zählen. Siehe AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003). 84 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 13. 22 nahm er den Nachnamen Su (Wasser) an. Nun hieß er offiziell Mehmet Ruhi Su, in seiner künstlerischen Laufbahn verkürzte er den Namen fortan auf Ruhi Su. Halim Spatar geht ein auf die Namensgleichheit von Ruhi Su und Yahya Su. Als 1952 Ruhi Su nach den Kommunistenverhaftungen von 1951 im Militärgefängnis von Harbiye einsaß, fragte sein Mitgefangener Spatar ihn, ob er Yahya Su, seinen Lehrer am İnönü Gymnasium in İzmir, kenne. Daraufhin erzählte Ruhi Su von ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Sie wurden in ihrer Kindheit im gleichen Waisenhaus aufgezogen. Yahya und Ruhi Su teilten ein Hochbett. Beide liebten die Musik sehr. Ruhi wollte Geige spielen, Yahya wollte singen. Später wurde Ruhi ein bekannter Bassbariton in der Türkei. Yahya wurde Sportlehrer. Nach dem Gesetz über Nachnahmen nahmen beide den Namen Su an, um ihre innige Freundschaft zu verdeutlichen.85 Es schmerzte Ruhi Su sehr, wenn er auf die Frage, von welcher Familie er abstamme und wer seine Verwandten seien, nicht antworten konnte. Den Wert der Selbsterziehung hatten seine traditionellen Frager noch nicht erkannt:

Dass ich Waise bin, konnte ich vielen nicht sagen. In unserer Gesellschaft herrscht immer noch der Glaube an die Stammeszugehörigkeit. „Zu welcher Familie gehörst du?“ wird man zuerst gefragt.86

85 Vgl. SPATAR, M. Halim: Müzik Yazılarım (2007): 188-192. 86 SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1 Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):184. 23 2.4 Die Mitgliedschaft im Staatsorchester Riyaset-i Cumhur und das Studium am Konservatorium in Ankara Im Jahre 1826, unter dem osmanischen Sultan Mahmut II., wurde anstelle der Janitscharen-Kapelle (Mehterhane)87 in İstanbul eine nach europäischer Art eingerichtete Kapelle mit dem Namen Hofkapelle (MÙsīkā-yi Hümāyūn), gegründet. Diese bildete die Grundlage für das Sinfonieorchester des heutigen Staatspräsidenten (Cumhurbaşkanlığı 88 89 Senfoni Orkestrası). Ihr bekanntester Leiter war Giuseppe Donizetti. Die Hofkapelle zog auf Wunsch Mustafa Kemals 192490 nach Ankara und nahm 1934 den Namen Philharmonie des Staatspräsidenten (Riyaset-i Cumhur Filarmoni Orkestrası) an. Dr. Ernst Prätorius, der sein Amt als Generalmusikdirektor in aus Protest gegen die politische Entwicklung in Deutschland niedergelegt hatte und als erster Musiker auf die Empfehlung Hindemiths in die Türkei kam, traf im Oktober 1935 in Ankara ein und begann als Dirigent des Staatsorchesters zu arbeiten.91 1935-36 wurde in Ankara das renommierte Staatsorchester neu besetzt. Dazu wurden aus der Musiklehrerschule Schüler ausgesucht, unter ihnen auch Ruhi Su. Er war sich zwar sicher, Lehrer werden zu wollen, nahm aber dennoch an den Proben teil. Nach der Gründung des Staatskonservatoriums wollte niemand das Fach Oper studieren, weil Opern den Türken nahezu unbekannt waren. Die Leiter des Konservatoriums schlugen den Studenten vor, sowohl ihre Ausbildung als Musiklehrer fortzuführen als auch gleichzeitig den Opernstudiengang zu besuchen. Für Carl Ebert und Paul Hindemith, die beide inzwischen Deutschland verlassen hatten und am Staatskonservatorium in Ankara lehrten, war die ablehnende Haltung der Studenten gegenüber der Oper unverständlich. Sie fragten sich, wie man die Oper ablehnen könne, zumal sie Lohn und Brot, also Wohlstand, bieten würde. Schließlich erkannten auch

87 Die Militärkapelle bestand in der Zeit von Osman Gazi bis zu Mahmut II. (1284-1826). Siehe SÖZER, Vural: Müzik ve Müzisyenler Ansiklopedisi M-Z (1986): 484. 88 Vgl. MERKT, Irmgard: Europäische Musik in der Türkei, Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland (1983): 73-74. Bei Gründung der Republik existierten zwei Institute für Musik. Das erste war das Orchester des Palastes (MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn), das zweite hieß Haus der Melodien (DÁr-ül ElḥÁn) und entsprach einer Musikhochschule. DÁr-ül ElḥÁn erhielt 1926 den Namen Städtisches Konservatorium İstanbul (İstanbul Belediye Konservatuvarı). Siehe SÖZER, Vural: Müzik ve Müzisyenler Ansiklopedisi A-L (1986):180. 1986 wurde es zum Staatskonservatorium der İstanbuler Universität (İstanbul Üniversitesi Devlet Konservatuvarı) umfunktioniert. 89 Siehe unten Kap. 5.4. 90 Im gleichen Jahr wurde dort eine Ausbildungsstätte für Musiklehrer nach westlichem Stil (Musiki Muallim Mektebi) gegründet. Diese war die Schule, in die Ruhi Su nach den bereits geschilderten Mühen aufgenommen wurde. 91 WIDMANN, Horst: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933 (1973): 42. 24 Mesude Çağlayan, Rabia Erler, Süleyman Güler und Ruhi Su ihre Chance und gingen an die Oper. Da Ruhi Su nicht wusste, was man später mit einer Opernausbildung machen konnte, nahm er das Opernstudium nur unter der Bedingung auf, gleichzeitig als Lehrer arbeiten zu dürfen. Von 1936 bis 1942 studierte Ruhi Su das Fach Oper an dem Staatlichen Konservatorium in Ankara. Der Gesangslehrer Prof. Hay riet ihm, wenn er nicht wolle, dass einige Töne seiner Stimme schwach blieben, müsse er weniger Geige üben. Ruhi Su beschloss daraufhin, mit dem Geigenspiel ganz aufzuhören. Nach seinem Studium erhielt er eine Stelle an der Staatlichen Oper und arbeitete parallel als Musiklehrer an der Mittelschule İkinci Ortaokul. Er musste wegen des Operngesetzes, das eine Doppeltätigkeit verbot, die Lehrerstelle aufgeben und arbeitete als einer der ersten Absolventen der Opernabteilung bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1952 an der 92 Staatlichen Oper.

92 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984) In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 22- 23. 25 2.5 Die Tätigkeit an der Staatsoper und die umstrittenen Sendungen im staatlichen Rundfunk in Ankara Ruhi Su spielte bis zum Jahr 1952 viele Rollen, zum Beispiel in Bastien und Bastienne, Madame Butterfly, La Boheme, Die verkaufte Braut, Fidelio, Ein Maskenball, Die Fledermaus, Figaros Hochzeit, Rigoletto und Der Liebestrank.93 Als junger Schauspieler erhielt er schon positive Kritiken, so als der Heiratsvermittler des Dorfes in Die verkaufte Braut und als Kerkermeister Rocco in der Oper Fidelio. Ruhi Su, der seit der Oper Bastien und Bastienne in allen Rollen eine außergewöhnliche Reife zeigte, hatte die Kritiker auf seine kommenden Erfolge aufmerksam gemacht.94 Seine letzte Rolle spielte er in der Oper Konsulat, nach deren Probe er festgenommen wurde. Damit endete auch seine Opernkarriere. Dass Ruhi Su sich wegen des Endes seiner Opernlaufbahn den Türküs zugewandt hat, ist eine nicht haltbare Behauptung, denn seit seiner Kindheit hatte er sich ständig mit ihnen beschäftigt. Auch wenn er den Gesang in der Oper genoss und liebte, hat er die Türküs nie vernachlässigt. Kurz vor seinem Tod betonte Ruhi Su selbst, dass er sich umso stärker mit den Türküs verbunden fühlte, je mehr sein Wissen über diese Musik wuchs und seine Einstellung sich vertiefte:

Ich bin glücklich darüber, dass ich auch in den Mauern der Oper meinen Schweiß vergossen habe. Ich war von 1941 bis 1952 in kleineren sowie größeren Rollen nicht erfolglos. Dennoch erlangte ich meine Künstlerpersönlichkeit durch die Türküs. Der Grund liegt darin, denke ich, dass ich in der Sprache des Volkes spreche und seine Sehnsüchte in einer universalen Erzählweise ausdrücke.95

Er sang in den Jahren 1943 bis 1945 Türküs auch im staatlichen Radio Ankara. Seine Auftritte im Radio, glaubt er, waren ihm sehr hilfreich und seine Stimme und seine Art fand viel Anklang96. Sein Lehrer Markowitz bewunderte den Vortrag der Türküs und daraufhin kam es zu einem regelmäßigen Konzert im Radio.

Ich genoss die Oper sehr. Ich konnte es aber auch nicht lassen, Türküs zu singen. Als mein österreichischer Lehrer Markowitz mich einmal in der Oper Türküs singen hörte, sagte dieser, er würde zum ersten Mal erkennen, wie schön die türkische Musik sei und er erzählte dem damaligen Radiodirektor Vedat Nedim Tör von mir. Daraufhin bot man mir an, täglich eine Stunde im

93 Vgl. Ebd. 23. 94 ALTAR, Cevat Memduh: Ülkü (16. Apr. 1943). In: AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 74. 95 SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ile Türküler Üzerine, Günümüzde Kitaplar (15. März 1985). In: Ezgili Yürek (1985): 186. 96 Ebd. 186. 26 Radio Türküs zu singen. Ich nahm zwar das Angebot an, aber nicht in dem gewünschten Umfang. Ich wollte nur alle fünfzehn Tage singen.97

Sein Programm begann jeden zweiten Sonntag um 10.00 Uhr mit der Ankündigung „Bassbariton Ruhi Su singt Türküs.“ Er suchte die Lieder selbst aus und bot sie den Zuhörern in einer neuen Interpretation. Die Volkslieder, die er im Radio Ankara sang, machten ihn in der ganzen Türkei berühmt. Der Künstler gab am 14. Juli 1944 im Volkshaus (Halkevi) in Ankara sein erstes Salonkonzert. Eine sehr wichtige Feststellung ist hier bezeichnend: Er selbst verstand ein Salonkonzert als Türkürezital (Türkü Resitali) und wollte damit ausdrücken, dass er einerseits mit dem Wort Türkü auf die türkische Tradition der Volksmusik zurückgriff und andererseits den Charakter des Konzertes, wie es der europäischen Musikkultur vertraut ist, mit dem Begriff Rezital verstärken wollte.98 In der Zeit beim Radiosender in Ankara sang Ruhi Su auch alevitische Lieder. Er war der erste, der mit Mut die Lieder der alevitischen Tradition der breiten Öffentlichkeit bekannt machte. Er sah in diesen Liedern den Ausdruck eines jahrhundertelangen rebellischen Kampfes des Volkes gegen die Obrigkeit. Obwohl er selbst kein Alevit war, fand er in diesen Liedern seine eigene Weltanschauung bestätigt. Er stand mit seinen Liedern auf der Seite der Unterdrückten und gefährdete sich damit selbst sehr. So sang er Titel wie „Kommt Freunde, lasst uns eins werden“ (Gelin Canlar Bir Olalım) von Pir Sultan Abdal; „Lasst uns einen Gott erkennen“ (Bir Allah’ı Tanıyalım) von Ali İzzet und „Frommer, verwünsche uns nicht“ (Zahit Bizi Tan Eyleme) von Muhyi. Er wurde unter dem Vorwurf, er habe mit der alevitischen Musik Propaganda für die Linke gemacht, von der Radioanstalt entfernt.99 Drei der bekanntesten Lieder der alevitischen Tradition folgen, in denen er seiner Anschauung von Freiheit und Menschenrechten einen starken Ausdruck gegeben hat:

97 SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984). In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 23. 98 Nach SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme. In: Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 13-14. 99 SU, Sıdıka: Beiheft zur CD Sultan Suyu (1990). 27 „Kommt Freunde, lasst uns eins werden“ „Gelin Canlar Bir Olalım“ 100 Kommt Freunde, lasst uns eins werden, Gelin canlar bir olalım, Den Leugner mit dem Schwert bekämpfen, Münkire kılıç çalalım, Hüseyins101Blut rächen, Hüseyn'in kanın alalım, Mit der Geborgenheit, im Vertrauen auf Allah Tevekkeltü taalallah.

Lasst uns verbinden, was zusammen gehört, Özü öze bağlayalım, Lasst uns stürzen wie der Wasserfall, Sular gibi çağlayalım, Lasst uns gemeinsam marschieren. Bir yürüyüş eyleyelim, Mit der Geborgenheit, im Vertrauen auf Allah. Tevekkeltü taalallah.

Mein Pir Sultan ist voller Aufregung, Pir Sultan'ım geldi cuşa, Die Leugner sind von Sinnen, Münkirlerin aklı şaşa, Was geschrieben steht, geschieht, Takdir olan gelir başa, Mit der Geborgenheit, im Vertrauen auf Allah. Tevekkeltü taalallah. Pir Sultan Abdal 102

„Lasst uns einen Gott erkennen!“ „Bir Allah'ı Tanıyalım“103 Lasst uns einen Gott erkennen! Bir Allah'ı tanıyalım! Was soll das Trennen der Religionen? Ayrı gayrı bu din nedir? Was soll der Streit um den Besitz? Senlik, benliği nidelim? Was soll dieser Streit, dieser Hass? Bu kavga, dövüş, kin nedir?

Er füllte die stille Welt, Issız dünyayı doldurdu, Offenbarte sich seinen Untertanen. Kendini kula bildirdi. Kain brachte Abel um. Kabil Hâbil'i öldürdü, Was soll das Blut dort auf dem Boden? Orta yerde bu kan nedir?

100 Aus der Schallplatte „Pir Sultan Abdal“ (1973) 101 Hüseyin ist der Prophetenenkel, der in der Schlacht von KarbalÁ im Oktober 680 von Truppen Yazīds, des Sohns des Muʿāwiya, niedergemetzelt wurde. Für die Aleviten steht sein Name symbolisch für den Guten und Unterdrückten, der beim Kampf gegen die Bösen und die Unterdrücker ermordet wurde. Vgl. ÇALIŞLAR, Oral: Hz. Ali-Muaviye Çatışması (Ohne Erscheinungsjahr):147-154. 102 Pir Sultan Abdal (16. Jahrhundert) war ein von den Aleviten als Heiliger angesehener Dichter. Er nahm an einem alevitischen Aufstand gegen die osmanische Zentralmacht teil und wurde von Hızır Paşa gefangengenommen, in Ketten gelegt und in Sivas erhängt. Siehe unten Fußnote 120 und Kap. 9.4. 103 Aus der postumen CD „Sie weckten uns, während wir schliefen” (Uyur İken Uyardılar). 28 „Einzig die Thora hat Recht“, sagte Moses, Musa „Tevrat'a hak“ dedi, „Nichts dergleichen“, sagte der Pharao, Firavun „aslı yok“ dedi, „Schau in die Bibel“, sagte Jesus İsa „İncil'e bak“ dedi, Was soll der späte Koran? Sonra gelen Kur'an nedir?

Ali İzzet ist für die mystische Lehre, Ali izzet batın ilmine, Soll man Gabriel vertrauen? Nedir Cebrail Emin’e? Glaube an den Erschaffer des Universums! İnan Rabbülalemin’e! Was soll dieses Gerede vom Gottlosen, diesem Moslem? Bu gâvur, müslüman nedir? Ali İzzet 104 :

„Frommer, verwünsche uns nicht“ „Zahit Bizi Tan Eyleme“105 Frommer, verwünsche uns nicht, Zahit bizi tan eyleme, Gottes Name lesen unsere Zungen, Hak ismin okur dilimiz, Erzähl uns keine Sagen, Sakın efsane söyleme, Unser Weg führt zu ihm. Hazrete varır yolumuz.

Mit einer Hand sind wir nicht zu zählen, Sayılmayız parmağ ile, Mit Morden sind wir nicht auszulöschen. Tükenmeyiz kırmağ ile, Wer uns von außen her befragt, Taşramızdan sormağ ile, Wird uns niemals verstehen. Kimse bilmez ahvalimiz.

Die Weisen haben viele Wege, Erenlerin çoktur yolu, Wir sagten „Ja“ zu allen, Cümlesine dedik beli, „Verrückte“, denken, die uns sehen, Gören bizi sanır deli, Unsere Verrückten sind besser als die Vernünftigen. Usludan yeğdir delimiz.

Muhyi, die Gunst, die dir begegnet, Muhyi sana ola himmet, Soll deinem Leib helfen, wenn du Aşık bist. Aşık ise cana minnet, Der ganzen Welt schenkt Vergebung Cümle alemlere rahmet, Diese unsere arme Hand. Saçar şu yoksul elimiz. Muhyi 106

104 Ali İzzet Özkan (1902-1981): Der Volkssänger war ein bedeutender alevitischer Sänger, der viele seiner nachkommenden Volkssänger beeinflusste. Siehe ÖZMEN, İsmail: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 5 (1994): 309-313. 105 Aus der postumen CD „Ich war Saat und wurde gedroschen” (Ekin İdim Oldum Harman). 106 Muhyiddin Abdal war ein im 16. Jahrhundert lebender Mystiker, der sich der Bektaschi-Lehre verschrieben hatte. Siehe ÖZMEN, İsmail: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 87-116) 29 Die Radioleitung, die in diesen Liedern eine kommunistische Propaganda sah, aber ihre Meinung ihm nicht direkt sagen wollte, kündigte ihm nach gezielten Andeutungen im Jahr 1945. Der damalige Intendant Mesut Cemil sprach Ruhi Su an wegen der Gerüchte, die über ihn in Umlauf waren. Er schlug vor, das Programm für eine Weile auszusetzen, da man über ihn schlecht rede. Ruhi Su antwortete: „Ich bin bereit, meinen Weg fortzusetzen, selbst wenn ich zugrunde gehe.“ Daraufhin wurde die Arbeit Ruhi Sus an der Radioanstalt beendet,107 denn den offiziellen Rahmen des staatlich verordneten Populismus hatte er schon vorher gesprengt.108 Die oppositionelle Tendenz der Lieder und die Art seines Vortrags passten den politisch Führenden nicht.109 Später im Jahre 1975 trat er, unter dem damaligen Leiter der staatlichen Radio- und Fernsehanstalt, İsmail Cem İpekçi110, im Fernsehen auf. Diese Aufnahme ist eine der wenigen Aufzeichnungen von Ruhi Su. Sie muss in den Archiven der Staatlichen Radio- und Fernsehanstalt (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu, TRT) zu finden sein.

107 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 14. 108 Vgl. AKSOY Bülent: Kültürel Değişimin Ortasında Bir Sanatçı: Ruhi Su, Yeni Gündem (18.Okt.-1. Nov.1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi SU’ya Saygı (1986): 227-229. 109 Vgl. ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi SU’ya Saygı (1986):189. 110 İpekçi diente als Außenminister vom 30. Juni 1997 bis zum 10. Juli 2002. Zu dem Fernsehauftritt siehe oben Kap.1.2, Fußnote 13. 30 2.5.1 Die alevitische Musik und Ruhi Sus Festhalten an ihr trotz der Rückschläge in seiner Karriere Die Zahl der Aleviten in der Türkei beläuft sich nach Schätzungen der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu) auf mehr als 20 Millionen. Diese Zahl umfasst Türken, Kurden sowie Araber.111 Die Geschichte der Aleviten unter den Osmanen ist eine der Unterdrückung und des Leidens. Das änderte sich mit der Errichtung der modernen laizistischen Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk. Die anfängliche Sympathie Atatürks war begründet in der Unterstützung der Aleviten und ihres geistlichen Oberhaupts Cemalettin Çelebi im Befreiungskrieg.112 Hinzu kam, dass Atatürk eine Gedankenverwandschaft mit der laizistischen Einstellung der Aleviten zu erkennen glaubte, welche der größeren religiösen Freiheit in der laizistischen modernen Türkei nahe kam. Die Aleviten begrüßten die Republik mit großer Euphorie. Mustafa Kemal erlangte bei den Aleviten nahezu den Status eines Messias; sie nahmen mit Respekt die Trennung von Staat und Religion auf. Allerdings wurden im Zuge der Modernisierungen alle Derwischklöster geschlossen und damit den traditionellen Bildungsanstalten der Aleviten der Boden entzogen. Mit der Gründung der Republik konnten die Aleviten zwar endlich frei atmen, doch ihre Gebetsübungen wurden im Namen der Säkularisierung streng überwacht. Wie im osmanischen Reich konnten die Aleviten auch in der Republik ihren Gottesdienst (Cem) bis ungefähr zum Jahr 2000 nur heimlich ausüben.113 Linke Parteien suchten und suchen die Stimmen der Aleviten auf sich zu ziehen. Der Grund dafür ist deren traditionelle Opposition, ihr verhältnismäßiger Säkularismus

111 Vgl. KAPLAN, İsmail: Das Alevitentum (2004): 22. Kaplan stützt sich dabei auf die von Alford Andrews: “Ethnic Groups in the Republic of ,Wiesbaden, gemachten Angaben. 112 Vgl. ULUSOY, Veliyettin in Interview mit Oral Çalışlar: Radikal (11. Nov. 2008); KALELİ, Lütfi: Demokrat Hacı Bektaş ve Mustafa Kemal. In: KALELİ, Lütfi: Alevi-Sünni İnancında Mevlâna-Yunus ve Hacı Bektaş Gerçeği (1994): 117-123 sowie ŞENER, Cemal: Alevilik Olayı (1989): 135-140. 113 ZELYUT, Rıza: Cumhuriyeti Selamlama. In: İslami İlimler Araştırma Vakfı (Hrsg.) Türkiye’de Aleviler. Bektaşiler, Nusayriler (1999): 92-93. Die Armee unterdrückte 1938 die alevitische Identität durch ein blutiges Massaker in Dersim, dem heutigen Tunceli. Historische Sicherheit darüber ist nicht leicht zu erlangen, da die Behörden dieVeröffentlichung von Quellendokumenten bis auf den heutigen Tag verhindern. Gleichwohl wurde und wird das Massaker von einer informierten Öffentlichkeit auf Grund von Zeugenaussagen heftig diskutiert. Vgl. KAYA, Cemşid: İleriye Doğru Açılımın ilk Adımı Olarak Geriye Açılım: Dersim Katliamı. In: DERSİMİ, Ali (Hrsg.): Dersim-Koçgiri Direnişleri, Alişer Efendi ve Zarife Xatun (2010): 9-86; sowie BAYRAK, Mehmet: Dersim –Koçgiri (2010). Für weiterführende Literaturangaben zu dem Massaker in Dersim siehe auch http://www.bianet.org/bianet/bianet/134312- dersim-ayrintili-bilgi-icin-bkz . Eine Mutter klagt in der dritten Strophe “des Soldatenlieds”, deren Sohn 1938 im Einsatz gegen Kurden in Dersim gefallen ist, wie Ruhi Su in diesem Volkslieds andeutet. Siehe unten Kap. 2.6.1. Zu erwähnen sind auch noch die Massaker an Aleviten in Kahramanmaraş (1978) und in Sivas (1993).

31 und ihre Offenheit für einen politischen Wandel. Es gibt viele Aussagen von Şeyh Bedreddin bis zu Pir Sultan, die dem sozialistischen Gedankengut sehr nahe stehen.114 Man kann geradezu von einer Entdeckung der Aleviten durch die politische Linke in den 60er Jahren sprechen. Ruhi Su sang aber bereits im Rundfunk schon in den 40er Jahren alevitische Lieder.115 Bei ihm war es die Sympathie mit den Armen und Unterdrückten, die ihn zur Parteinahme für die Aleviten und zur einen oppositionellen Haltung gegenüber dem Staat führte. Die weltanschauliche Hinwendung zur alevitischen Musik gab Ruhi Sus Schaffen eine elementare Bedeutung. Er erkannte nämlich, dass die alevitische Musik neben religiösen auch weltliche Strömungen enthielt und dadurch das ganze Leben umfaßte.116 Er sah in ihr eine moralische Kraft, welche die Gefühle der Menschen besonders prägnant zum Ausdruck brachte. Vor allem war das Thema des Widerstands gegen alles Falsche, Ungerechte und Böse in diesen Liedern für ihn ausschlaggebend. Der Aufstand gegen die Obrigkeit, der Mut, den diese Menschen zeigten, inspirierten seine nicht immer kritiklose Arbeit. Seine positive Einschätzung der alevitischen Kultur wirkt im allgemeinen Kontext durchaus einleuchtend. Ruhi Su hat für sich den Alevitismus gefunden, aber er fasste ihn mit einer Art von Bewunderung auf. Besonders schätzte er Pir Sultan, seinen Vorrang des Widerstands, der Aufsässigkeit und Opposition.117 Wegen der Bedeutung der alevitischen Kultur für Ruhi Su ist es notwendig, auf ihre Musik einzugehen.118 In dem Leben der Aleviten spielt sie eine wichtige Rolle. Die Musik ist ein Bestandteil ihrer Gottesdienst. Die Saz hat dabei eine herausragende Bedeutung, so dass die Aleviten dieses Instruments wie einen „Koran mit Saiten“ (Telli Kuran) verehren. Das Instrument und die Aleviten sind untrennbar. Die bekannte

114 Aus dem Gespräch mit İrfan Ertel, einem Mitglied des „Chors der Freunde“, am 27. Sept. 2010 in İstanbul. Zu Şeyh Bedreddin und Pir Sultan Abdal siehe unten Kap. 9.4 und 9.5.6. 115 Siehe oben Kap. 2.5. 116 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Semahlar üzerine Ruhi Su ile bir konuşma, Cumhuriyet (25. Nov. 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 130-132. 117 Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan, einem Mitglied des „Chors der Freunde“, am 27. Sept. 2010 in İstanbul. Aydoğan berichtet weiter, dass Ruhi Su auf die Frage eines Zuhörers „Wie können Sie so herzlich alevitische Lieder singen, sind Sie Alevit? antwortete: „Ein Mensch kann als Alevit geboren und doch kein Verständnis dieser Lieder haben. Ich bin vom Herzen Alevit und kann deshalb so aus dem Herzen singen.“ 118 Zu alevitischen Ritualen vgl. KEHL-BODROGI, Krisztina: „Was du auch suchst, such es in dir selbst“, (2002): 16-18; KORKMAZ, Esat: Alevilikte Cem ve Oniki Hizmet, (2002); STOKES, Martin: Ritual, Identity and the State: An Alevi (Shi’a) Cem Ceremony. In: Nationalism and minorities and diasporas (1996), Stokes, ebd. 193, faßt zusammen: „ Ritual practice is focused in gatherings called cem, which take place in private houses and not mosques, and which involve the resolution of disputes within the community, prayers, gently ecstatic dancing in which men and women participate, and singing to the accompaniment of the long- necked lute, the saz. They are famously secretive.“ ; KAPLAN, İsmail: Das Alevitentum (2004); ÖZKIRIMLI, Atilla: Toplumsal Bir Başkaldırının İdeolojisi, Alevilik-Bektaşilik (1990); KAPLAN, İsmail: Alevice-İnancımız ve Direncimiz (2009): 82-100 sowie ÖZKIRIMLI, Atilla: Alevilik-Bektaşilik ve Edebiyatı (1985). 32 alevitische Sängerin Sabahat Akkiraz erzählt von der Heiligkeit der Saz und der auf ihr gespielten Musik. Der letzte Wunsch ihres Großvaters an ihren Bruder sei gewesen, dass er jedes Jahr am Todestag an sein Grab komme und Saz spiele. Eigentlich war das eine seltsame Situation, aber ihr Bruder trat an das Grab und begann zu spielen. War es möglich, dass der Großvater zuhörte? Wenn in Malatya eine Beerdigung stattfindet, wird heute noch Saz gespielt. Für Aleviten ist der Gesang des Âşık ein Hinweis auf der Göttlichkeit (dalīl al-ḥaqq) und das Wort Gottes (kalām Allāh).119 „Die Sieben Heiligen Dichter“ (Yedi Ulu Ozan) haben der alevitischen Lehre ihre besondere Prägung gegeben.120 Wesentlich ist die Siebenzahl, die Namen der Dichter scheinen austauschbar gewesen zu sein. Im Folgenden wird der Umfang dokumentiert, in dem Ruhi Su sich mit ihnen befasst hat. Er arbeitete mit einer Schallplatte über Pir Sultan Abdal, welche diesen Dichter in seiner Ganzheit vorstellt, und mit weiteren neunzehn

119 AKKİRAZ, Sabahat: İnsanlığın geldiği son nokta: Alevilik, In: www.sonsayfa.com/Haberler/ Roportaj/insanligin-geldigi-son-nokta-Alevilik.htm. Abgerufen am 21. Aug. 2010. Am Grabe Ruhi Sus hat sich das Sazspielen und Singen an seinem Todestag zu einer Tradition entwickelt. So haben am 20 September 2010 seine ehemaligen Schüler, die Künstler der neuen Generation, die seine Kunst weiterführen und die Vertreter der oppositionellen Musik wie die Grup Yorum, an seinem Grabe in Zincirlikuyu Saz gespielt und gesungen. Vgl. ÇELİK, Emir: Ruhi Su, Şarkılarıyla Anıldı, Bianet Bağımsız İletişim Ağı (20. Sept. 2010). In: http://bianet.org/bianet/siyaset/124913. Abgerufen 12. Dez. 2010. 120 In chronologischer Abfolge werden die „Sieben Heiligen Dichter“ hier genannt: Nesimi (1369-1417), der Hallacı Mansurs Gedanken von der Göttlichkeit des Menschen weiter führte. Er vertrat die Ansichten Fazlullah Hurufis, welche die „Hurufi-Lehre“, will sagen: den geheimen Sinn der Buchstaben im Koran, vertrat. Er wurde in Aleppo enthäutet. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Seyyid Nesimi. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 1 (1998): 249-396. Şah Hatayi (1487-1524), geboren im iranischen Aserbaidschan und auch bekannt als Şah İsmail, ist der meistbesungene Dichter in den anatolischen Cem-Ritualen. 1502 gründete er als Sultan die alevitische Dynastie der Safawiden. Im Jahre 1514 wurde er durch den osmanischen Sultan Selim in der Schlacht bei Çaldran besiegt. Şah Hatayi starb 1524 im Alter von 37 Jahren. Seine Grabstätte befindet sich in Erdebil. Seine Gedichte werden bis heute als die schönsten Gedichte der alevitischen Bektaşi Literatur angesehen. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Hatayi. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 117-194. Fuzuli (1504-1556), in Kirkuk, im heutigen Irak geboren, schrieb seine Gedichte auf Türkisch, Arabisch und Persisch. Er hat seinen Platz in der Weltliteratur gefunden. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er in KarbalÁ und Bagdat. In KarbalÁ betreute er eine Zeit lang die Grabstätte Hüseyin, des Enkels Mohammeds. Sein bedeutendstes Werk ist „Der Garten der Glücklichen“ (ḥadiqat-ü Su‘ada). Er ist der einzige alevitische Dichter der osmanischen Hofdichtung. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Fuzuli. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 357-419. Yemini (15./16. Jahrhundert), der an der Donau lebte, glaubte, wie Nesimi, an die Kraft der Buchstaben im Koran (Hurufilik). Vgl. ÖZMEN, İsmail: Yemini. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 33-81. Virâni (16. Jahrhundert), der ein Bektaşi Volksdichter war, gehörte ebenfalls der Hurufiyesekte an. Er war der Überzeugung, dass alles, was im Kosmos zu sehen ist, eine Erscheinung Alis sei. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Virâni. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 429-467. Pir Sultan Abdal (16. Jahrhundert), in Sivas geboren, war der wohl bekannteste und bedeutendste Volkssänger der Aleviten. Er führte ein sagenumworbenes Leben. Aus seinen Gedichten geht hervor, dass Pir Sultan in der Zeit des Şah Tahmasb, eines Sohns des Şah İsmails, gelebt hat. Er kämpfte gegen die osmanische Macht in Anatolien, welche die Aleviten unterdrückte, und wurde von ihr gehängt. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Serezli Pir Sultan Abdal. In: Alevi-Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 195-288. Kul Himmet (Zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts), geboren in Tokat, folgte dem Weg Pir Sultan Abdals. Eine Cem-Zeremonie ohne seine Gedichte ist undenkbar. Vgl. ÖZMEN, İsmail: Kul Himmet. In: Alevi- Bektaşi Şiirleri Antolojisi 2 (1998): 289-322. 33 seiner Texte.121 Pir Sultan erhält im Werk Ruhi Sus eine Sonderstellung. Şah Hatayi folgt mit drei Liedern, sodann Virani mit einem Lied und der heilige Nesimi ebenfalls mit einem (wenn denn diese Person und nicht eine zeitgenössische mit gleichem Namen gemeint ist). Die Aleviten preisen die Sieben Volksdichter über alles. Sie begreifen die Sprache Gottes mit ihrer Hilfe. Die Lieder der „Sieben Heiligen“ werden von Generation zu Generation weitergetragen, weil sie ihre moralischen Regeln, die Liebe zu Gott, den Menschen und das Wissen zum Erreichen der Vollkommenheit (sır al-ḥaqīqah / al-insān al-kāmil) zum Ausdruck bringen.122 Das Volk konnte in den Türküs sagen, was es im wahren Leben nicht sagen durfte. Es geht jedoch nicht nur um oppositionellen Charakter dieser Musik, denn sie hat seit je her eine zentrale Bedeutung für das soziale Gefüge der Aleviten. Sie umfasst nicht nur religiöse Themen, sondern alle Probleme des Alltags. Die Musik baut die Aleviten moralisch auf, entwickelt sie philosophisch weiter, trägt zur persönlichen Entfaltung bei und fördert ihre gesellschaftliche Organisation. Hatayi und Pir Sultan Abdal, zwei der „Sieben Heiligen Dichter“, kommen bei Ruhi Su zu Wort:

„Die Weggefährten, die mich bedrängten, während ich schlief“ Die Weggefährten, die mich bedrängten, während ich schlief, sagten, „Gedankenloser, öffne die Augen und stehe auf, Bleibe kein Verirrter auf dieser Welt, Geh’ auf eine Wahrheit zu, lieber Freund“! sagten sie.

Ich bin aufgewacht und machte die Augen auf, Hörte zu, sah sie und drehte mein Gesicht zu ihnen. Mein schwarzes Schicksal wurde erhellt. „Lauf’ jetzt, hab’ keine Angst, lieber Freund“! sagten sie. Hatayi / Pir Sultan

121 Siehe unten Kap. 9.4 und AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000). 122 ATA, Kelime: Osmanlı’nın şeytanı, Cumhuriyet döneminin gericilik simgesi, Saz. Siehe .www.uzumbaba.com/alevi/kelime ata.htm, abgerufen am 21.08.2010. 34 „Uyurken Üstüme Gelen Yoldaşlar“ Uyurken üstüme gelen yoldaşlar, „Gafil, aç gözünü, uyan“ dediler. „Serseri kalma bu cihan içinde, Yürü bir gerçeğe ey can” dediler. Uyandım uykudan, açtım gözümü, Kulak verdim, gördüm, döndüm yüzümü, Bir aydınlık aldı kara yazımı, „Yürü şimdi, korkma ey can“ dediler. Hatayi / Pir Sultan

Selbstverständlich wird auch zeitgenössischen Volkssängern große Bedeutung zugemessen, so den vier Aşıks Veysel (1894-1973), Ali İzzet (1902-1981), Kul Hasan (1933-2010), und Mahzuni (1940-2002), welche eine besondere Rolle bei den Aleviten spielten. Die alevitische Musik ist nicht lediglich eine Musik für das Ohr, sondern auch für die Seele. Aşık bedeutet „Der vorbehaltlos Liebende“ und ist eine Bezeichnung, die die Beziehung des Musikers zu Gott zum Ausdruck bringt. Die Worte des Aşıks werden als zum Wesen des Korans gehörig betrachtet.123 Ruhi Sus Hinwendung zu dieser Musik lässt dennoch eine Spannung bestehen: Für die Aleviten galt ihre Musik als ein theologisches Ausdrucksform, während Ruhi Su, als weltlich denkender Musiker, dieser theologischen Prägung nicht folgte, obwohl er eine große Achtung vor dieser Religionsgemeinschaft hatte.124 Er wollte mit den alevitischen Aşıks das Leid, das sie durch die Staatsmacht erleiden mussten oder müssen, teilen. Er strebte nach Frieden, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. In der Widerstandsmusik der ganzen Welt fand er diese Forderungen, in der Türkei jedoch in der alevitischen Musik.125 Ruhi Su spielte bei den Aleviten eine wichtige Rolle. Künstler alevitischen Glaubens traten als Solisten oder mit ihm auf. Sie akzeptierten ihn als einen der ihren, schätzten ihn und sahen ihn fast wie einen Heiligen an. Ein Alevit besuchte ihn auf seinem Krankenbett und verabschiedete sich von ihm mit den Worten „ Möge Pir Sultan

123 Vgl. ÖZDEMİR, Ulaş: Aşık’ın Sözü, Kur’an’ın Özü, Le verbe de l'aşık est l'essence du Coran. Les chants d'Orphée. Musique & poésie. La pensée de midi. 28. Actes Sud. (2009). 124 Siehe unten Kap. 6.7.5 und 6.7.6. 125 Aus dem Gespräch mit Bertan Onaran am 23. September 2010 in İstanbul. 35 dein Helfer sein,“ statt des unter Muslimen üblichen „Möge Allah dein Helfer sein.“126 Als Ruhi Su vor seiner Beerdigung vom Imam gewaschen wurde, wollten einige Menschen seine Füße küssen. Der Imam bekannte später, er habe so etwas noch nie erlebt.127 Nicht von ungefähr wendet sich deshalb Ruhi Su dieser Musik zu. Er selbst bekräftigt sein überaus enges Verhältnis zur Saz und zum Volk:

Ich habe meine künstlerische Identität und die Verbundenheit mit dem Volk in den von der Saz begleiteten Türküs gefunden.128

Dennoch sieht Ruhi Su sich nicht in der Tradition der Saz-Meister Anatoliens, welche die Saz im Gleichschritt mit der Melodie benutzen. Er selbst hat, nach eigenen Worten, die Saz als ergänzendes Element genommen, das ihm die Mehrstimmigkeit ermöglichte. Die eigentliche Arbeit macht er mit seiner Stimme; die Saz begleitet ihn. Sie ist bei ihm ein Instrument, welches die Melodie manchmal hören lässt, manchmal weniger zu hören ist und manchmal auch nur einige Akkorde anklingen lässt. Sein eigentliches Ziel ist nicht, die Saz schön zu spielen. Es gibt viele Virtuosen, die besser Saz spielten als er. Er will hauptsächlich mit seiner Stimme Türküs singen, welche Technik ausschließt, ein Instrument wie die Klarinette zu spielen. Ruhi Su betont mehrfach, dass die dreisaitige Saz beim Vortrag der Türküs gegenüber anderen Instrumenten die reifere Fähigkeit der Begleitung hat.129 Es gibt Künstler, die ihre Geschicklichkeit unter Beweis stellen möchten, indem sie die Saz virtuos spielen. Ruhi Su wollte die Saz nie so spielen. Hüseyin Erdem zitiert ihn wie folgt: „Die Saz ist der Weggefährte meiner Stimme und steht nicht im Wettstreit mit ihr.“130 So wie Ruhi Su mit seiner Stimme die Höhe der Klarheit und Schlichtheit erreichte, so erreichte er auch beim Sazspielen genügend Geschicklichkeit, um mit der Saz seine Stimme am besten zu begleiten. Es ist richtig, dass mit Beginn der neuen türkischen Republik und der „Volkstümlichkeit“ (Halkçılık) als einem Grundpfeiler des kemalistischen Denkens die alevitische Volksdichtung und Volksmusik neues Leben erhielt. Dies geschah ohne dass die offiziellen Medien erwähnten, es handele sich um alevitische Musik. Ruhi Su war jder

126 Nach einer e- mail von İbrahim Yüksel an den Verfasser vom 28. Okt. 2010. 127 EKMEKÇİ, Mustafa: Bir Düş Gibi, Cumhuriyet (25. Sept. 1985). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 172-173. 128SU, Ruhi im Gespräch mit HIZLAN, Doğan: Çoksesliliğe Götüren Her Çabayı Saygı ile Karşılıyorum. Cumhuriyet (28. Apr. 1979) In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 139. 129 SU, Ruhi: Ezgili Yürek 89-91, 147, 198. Die Wichtigkeit seine Argumente zeigt er auch daran, dass er sie wiederholt vorbringt. 130 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 36 erste, der, freilich nur in den 40er Jahren, in den offiziellen Medien die alevitische Musik, welche über Jahrhunderte mündlich tradiert worden war, an die Öffentlichkeit brachte.131 Obwohl er deswegen aus dem Radio entlassen wurde, konnte man ihn nicht hindern, alevitische Lieder zu singen. Er widmete zwei von seinen elf Schallplatten, Pir Sultan Abdal und Samahs (Semahlar), ganz alevitischen Liedern.

131 Vgl. SU, Sıdıka, Beiheft zur CD Sultan Suyu, İstanbul 1990. 37 2.6 Die Zeit der Haft Ruhi Sus 2.6.1 Der historische Hintergrund der Verhaftungswelle der Kommunistischen Partei der Türkei im Jahre 1951 Das Mehrparteiensystem begann in der türkischen Republik im Jahre 1946.132 Am 21. Juni 1946 fanden die Wahlen für das Parlament statt. Nach dem Mehrheitssystem und einer zwar offenen Stimmenabgabe, aber dennoch geheimen Auszählung der Stimmen gewann die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) die Wahlen. Innenpolitisch bedeutete ihr Sieg eine Abwendung von einem volksnahen Programm. Symptomatisch dafür war die beginnende Schließung der Dorfinstitute. Die Demokratische Partei (Demokrat Partisi, DP) gewann die Wahlen vom 14. Mai 1950, nach einem geänderten Modus: dem Mehrheitssystem, geheimer Wahl und offener Auszählung. Das Land wandte sich weiterhin nach rechts. Am 25. Juni 1950 brach der Koreakrieg aus, nachdem Nordkorea mit Unterstützung der Sowjetunion Südkorea angegriffen hatte. Der Weltsicherheitsrat entschied sich in einer Versammlung, welcher die Sowjetunion fern blieb, unter dem Druck der USA für den Krieg gegen Nordkorea und rief alle Mitglieder zur Unterstützung auf. Die Regierung Menderes beteiligte die Türkei als erstes Land nach den USA an diesem Krieg. Unter der Führung der USA schickte die UNO Soldaten nach Südkorea, die Türkei entsandte 4500 Soldaten.133 Die Organisation Der Verein der Friedensliebenden (Barışseverler Cemiyeti) protestierte vehement. Dieser Verein, zu dessen Gründern Intellektuelle wie Behice Boran,134 Adnan Cemgil, Vahdettin Barut, Osman Fuat Toprakoğlu, Reşat Sevinçsoy, Nevzat Kemal Özmeriç und Muvakkar Güran gehörten, wies die Abgeordneten des Parlaments darauf

132 Vgl. SHAW, Stanford J: History of the and Modern Turkey, Bd. II ( 1978): 402-403; ZÜRCHER, Erik J.: Turkey A Modern History (1997): 215-228 sowie ADANIR, Fikret: Geschichte der Republik Türkei (1995): 77-80. 133 Vgl. GEVGİLİLİ, Ali: Yükseliş ve Düşüş (1987): 80-86. 134 Behice Boran (1910-1987) war eine bekannte und kämpferische Politikerin und Soziologin. Sie war die letzte Vorsitzende der türkischen Arbeiterpartei (TİP). Nach ihrer Promotion an der Universität Michigan kehrte sie 1939 in die Türkei zurück und wurde Dozentin für Soziologie an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie an der Universität Ankara. Gleichzeitig arbeitete sie mit an den Zeitschriften Yurt ve Dünya und Adımlar. Sie wurde, wie oben erwähnt, unter der Beschuldigung kommunistischer Gesinnung im Jahre 1948 aus dem Amt entlassen. Als Der Verein der Friedensliebenden (Barışseverler Cemiyeti), dessen Vorsitzende sie war, 1950 eine Kritik an der Entsendung türkischer Soldaten nach Korea veröffentlichte, wurde sie zu 15 Monaten Haft verurteilt. Sie wurde im Jahre 1962 Mitglied der türkischen Arbeiterpartei (TİP) und bei der Wahl von 1965 Abgeordnete von Urfa. Sie vertrat die Türkei im Europäischen Parlament. Während des Militärputsches vom 12. März 1971 wurde sie verhaftet und ihre Partei verboten. Nach dem 12. September 1980 ging sie ins Exil nach Belgien, wo sie auch 1987 starb. Vgl. MUMCU, Uğur: Bir Uzun Yürüyüş (1988): 131-134; URGAN, Mina: Bir Dinozorun Anıları (1998): 215- 220; BAYINDIR, Güzella: Akıntıya Karşı-Behice Boran (2010) sowie KOÇ, Emel: Behice (2010) 38 hin, dass die Regierung ohne ihren Beschluss handele. Dieses Vorgehen der Regierung Menderes sei nicht legitim. Der Verein informierte mit einem Flugblatt die Öffentlichkeit in İstanbul und protestierte nochmals.135 Darauf nahm die Polizei Behice Boran, den Vorstand des Vereins und sogar den Besitzer der Druckerei, der das Flugblatt gedruckt hatte, fest. Die Anklage lautete: Kritik an dem Beschluss der Regierung, Schwächung des nationalen Durchhaltevermögens und Veröffentlichung eines Flugblatts, um das Militär zur Revolte anzutreiben. Der Vorstand wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Nach einer Revision wurde die Strafe auf insgesamt fünfzehn Monate reduziert.136 Im Jahre 1951 begann in der Türkei, ausgehend von den Großstädten İstanbul, Ankara und İzmir, eine Reihe von Verhaftungen, die in die türkische Geschichte als 51er- Verhaftungen von Mitgliedern der Türkischen Kommunistischen Partei (Türkiye Komünist Partisi 51 Tevkifatı) eingingen. Obwohl es nur einige hundert Kommunisten in der Türkei gab, spielte die Regierung die angebliche kommunistische Gefahr hoch, um die Gunst des Westens zu gewinnen. Im Zuge des Kalten Krieges wollte die türkische Regierung wegen der Aufnahme in die NATO ihren Antikommunismus und ihre Annäherung an die USA demonstrieren.137 1952 gehörte auch Ruhi Su zu den 184 als Kommunisten festgenommenen Personen.138

135 Für die Zusammenfassung des Antrags an das türkische Parlament und für den vollständigen Text des Flugblatts an die Öffentlichkeit siehe GÖRSEV, G.Doğan: Türkiye’de Barış Savaşımı’nın Küçük Seyir Defteri: (1986): 7-9. 136 Vgl. Turnusol vom 25. Juli 2010, 60. Yılında Barışseverler Bildirisi. In: http://www.turnusol.biz ; MUMCU, Uğur: Bir Uzun Yürüyüş (1988): 34-45; ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 485 sowie ÖYMEN, Altan: Değişim Yılları (2004): 535-557. 137 Vgl. ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 41-42. 138 In dem Dokument, „Esbabı Mucibeli Hüküm“ (Ankara Garnizon Komutanlığı 2 nolu Askeri Mahkemesi 1954/33 sayılı karar), das den Gerichtsbeschluß begründet, ist die Rede von 184 Menschen. Andere Quellen nennen andere Zahlen. 39 2.6.2 Die Linken in der Türkei und Ruhi Su Von der ersten türkischen Linkspartei, der Osmanischen Sozialistischen Partei, (Osmanlı Sosyalist Fırkası, OSF) von 1910 bis zu der von 13 Gewerkschaftsführern 1961 gegründeten Arbeiterpartei der Türkei (Türkiye İşçi Partisi, TİP) waren alle Linksparteien, so auch die Kommunistische Partei der Türkei (Türkiye Komünist Partisi,TKP), gegründet 1920, Parteien der Intellektuellen. Die Intellektuellen standen im Vordergrund, die Parteien hatten eigentlich den Charakter einer Ideenbörse.139 Eine Arbeiterklasse war noch nicht entwickelt und mit den Bauern gab es noch keinen handfesten Kontakt.140 Das Land hatte im Vergleich zu den europäischen Staaten keine entwickelte Industrie. Die Parteien führten ihre Arbeiten teils legal und teils illegal durch, je nachdem wie der Staat zur betreffenden Zeit politisch orientiert war. Ihre Aktivitäten gingen oft nicht über das illegale Drucken und Verteilen von Flugblättern und Zeitschriften hinaus. Gleichwohl blieben die Linken nicht frei von schweren Repressalien. Die politische Ausrichtung des Landes wechselte stets zwischen der Annäherung an die Sowjetunion und der Annäherung an den Westen. So kam es, dass die Intellektuellen ihrer Arbeit zeitweise nachgehen konnten und dennoch den Großteil der Zeit eingesperrt wurden. Dieser Zustand ist treffend so beschrieben worden, dass nämlich die Geschichte der Linken in der Türkei vor der TİP die Geschichte von Verhaftungen 141 sei. Die Geschichte der Linken in der Türkei von 1920 bis in die 60er-Jahre ist die Geschichte der TKP. Von der TKP, die als älteste Partei und als einzige Vertreter der linken Bewegung von 1920 bis 1950 in der Türkei galt, hörte man 1960 kaum etwas. Nach den 1951er-Verhaftungen spaltete sich die Partei auf drei Gruppen: Die erste Gruppe bildet sich um Reşat Fuat Baraner (1900-1968) - Mihri Belli (1916-2011); die zweite Gruppe um Zeki Baştımar (1905-1973) und die dritte Gruppe um Dr. Hikmet

139 Vgl. ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 43-45. 140 Vgl. TİMUR, Taner: Türk Devrimi ve Sonrası 1919-1946 (1971): 139. In ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 45.“ 141 Vgl. ÜNSAL, Artun: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 43-55. Der Politikwissenschaftler Sadun Aren stimmt Ünsal zu, dass die Partei nicht übermäßig aktiv geworden sei. Er hebt jedoch hervor, dass individuelle Mitglieder schweren Verfolgungen bis zur Folter ausgesetzt waren. Aus historische Sicht ist anzumerken, dass die Regierung zu ihrer Rechtfertigung das Schreckgespenst einer übermächtigen Partei aufbaute, welche eine tödliche Gefahr für den Staat darstelle. Vgl. AREN, Sadun: Puslu Camın Arkasında (2006): 61. Zur Position der linken Intellektuellen in der Türkei vgl. KARPAT, Kemal: The Turkish Left, Journal of contemporary history, 1, 2 (1966): 171-175. Er betont, dass für Nâzım Hikmet und seine Freunde das Gefängnis eine prägende Kraft war. Er zitiert den Schriftsteller Kemal Tahir, dass die meisten seiner Vorbilder Männer waren, die er im Gefängnis traf. 40 Kıvılcımlı (1902-1971). Diese Gruppen konnten am Anfang der 60er Jahren nur unter dem Dach der TİP ihre Aktivitäten weiterführen. Auch die Bekanntschaft mit sozialistischen Ideen und die Teilnahme an dem organisierten sozialistischen Kampf der später als 68er bezeichneten Jugend findet man in dieser Phase. Die TİP und die Federation des Clubs der Anschauung (Fikir Kulüpleri Federasyonu, FKF) dienten in dieser Jahren als Anlaufstelle für viele linke Studenten. Bekannte Studentenführer wie Deniz Gezmiş, Sinan Cemgil, Mahir Çayan, Doğu Perinçek oder İbrahim Kaypakkaya waren Mitglieder dieser Organisationen. Die Entwicklungen in der Welt im Jahre 1968 beeinflusste auch die fortschrittliche-revolutionäre Jugend in der Türkei. Nationale Befreiungsbewegungen und Theorien über Partisanenkampf gewannen unter der Jugend große Sympathie.142 Die Verfassung von 1961 war diejenige, welche die meisten relativen Freiheiten gewährleistete.143 Die Arbeiterpartei der Türkei (TİP) wurde, wie erwähnt, am 13. Februar 1961 als Reaktion auf diese Verfassung von Gewerkschaftlern gegründet. Sie entstand in der relativ demokratischen Zeit dieser Verfassung sowie in der Phase des Kalten Krieges, als das Eis zwischen den USA und der Sowjetunion zu schmelzen begann. In der Zeit während die in die Passivität getribene und nationalistisch, pro- sowjetisch oder sozialistisch denkende Intellektuellen die Gründung einer neuen Partei forderten, trat die TİP in das politische Leben der Türkei ein. Am Anfang swankte sie. Sie verstand in kurze Zeit, dass sie die Unterstützung der Intellektuellen brauchte. So öffnete TİP ihre Tore für Intellektuelle und junge Menschen. Mehmet Ali Aybar (1908- 1995) wurde im Februar 1962 ihr erster Vorsitzender. Die TİP wurde lebendig und kräftig durch Mehmet Ali Aybar. Mit ihm traten weitere Intellektuelle wie Behice Boran (1919-1987), Sadun Aren (1922-2008), Nihat Sargın (1929-2010) in die Partei ein.144

142 Vgl. SİNAN, Mehmet: Marksizm ve Türk Solunun İdeolijik Geleneği. In: www.marksist.com/ mehmet_sinan/marksizm_ve turk_solonun_ideolojik_gelenegi.htm. Abgerufen am 17. Aug. 2010. Ein Teil des Kap. 2.6.2 „Linken in der Türkei“ basiert hauptsächlich auf diesem Artikel. 1965 waren die Studenten in den mit dem Staat kooperierenden offiziellen Vereinigungen, wie der „Nationalen türkischen Studentenvereinigung“ (Milli Türk Talebe Birliği, MTTB), der „Türkischen nationalen Studentenfederation“ (Türk Milli Talebe Federasyonu, TMTF) und der „Türkischen nationalen Jugendorganisation“ (Türk Mili Gençlik Teşkilatı, TMGT) organisiert. Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142. Zu der Linken in der Türkei vgl. auch SAMİM, Ahmet: The Tragedy of the Turkish Left, New Left Review (1981): 82, „The great majority of thinkers, writers and artists are leftists, and a considerable number of them claim to be Marxists… at the same time there is a definite distance between socialist intellectuals and socialist political movements.“ 143 Zu der Verfassung 1961 vgl. KARPAT, Kemal: The Turkish Left, Journal of contemporary history, 1, 2 (1966): 183-184. Er führt aus, dass diese Verfassung die Türkei definiere: “as a national, secular, and social state.” 144 Zitiert nach ARTUN Ünsal: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002):1-3. 41 In den Wahlen von 1965 erlangte TİP 15 Sitze im Parlament. Zwei Hauptrichtungen kristallisierten sich. Die eine folgte der von Mehmet Ali Aybar unterstützten Idee, mit Hilfe von Demokratie und Wahlen an die Macht zu kommen. 145 Die andere unterstützte die von Doğan Avcıoğlu vertretene Vorstellung, einen nationalistischen und kemalistischen Machtkampf zu beginnen. Seine Ideen stammten aus den 30er Jahren, in denen im Umkreis der „Kadro Zeitschrift“ ein revolutionär- nationalistischer Impuls gegen den Kapitalismus und den Kommunismus entwickelt wurde.146 Das Lager um Avcıoğlu hoffte, mit Unterstützung des Militärs an sein Ziel zu kommen. Doğan Avcıoğlu plädierte instrumentalistisch, indem er für einen schnellen ökonomischen Aufschwung einen durchgeplanten Etatismus vorsah.147 Als Medium setzte er die von ihm gegründete Zeitschrift „Yön“ ein.148 Viele Intellektuelle wie Turan Güneş, Abdi İpekçi, Sabahattin Eyuboğlu, İdris Küçükömer, Mümtaz Soysal und Cemal

145 Mehmet Ali Aybar stand in einem engen Freundschaftsverhältnis mit Sabahattin Eyüboğlu. Eyuboğlu prägte den Begriff “Freundlicher Sozialismus” (Güleryüzlü Sosyalizm) und Aybar führte ihn in die türkische linke Literatur ein. Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. Aug. 2008 in Köln. 146 Zur Kadro-Bewegung wird zitiert AKSOY, Nazan: Vom Osmanischen Reich zu Republik: Yakup Kadri Karaosmanoğlu. In: DURZAK, Manfred-KURUYAZICI, Nilüfer (Hrsg.): Interkulturelle Begegnungen- Festschrift für Şara Sayın (2004): 193-204. „Die drei Jahre lang monatlich erscheinende Kadro-Zeitschrift hatte sich zum Ziel gesetzt, die türkische Reformideologie zu systematisieren. Ihre Gründer und Publizierer, zu denen Yakup Kadri Karaosmanoğlu, Şevket Süreyya Aydemir, Vedat Nedim Tör, Burhan Asaf Belge und İsmail Hüsrev Tökin, gehörten, bemühten sich, der türkischen Gesellschaft die Reformen bzw. das Modernisierungsprojekt unter der Führung eines ausgewählten „Kaders” von oben herab verständlich zu machen. Die Kadro-Bewegung war eine Vereinigung von Gebildeten der Oberschicht. Sie ging davon aus, dass der Staat unter Führung eines bewussten, intelligenten „Kaders” die Bildung einer modernen, nationalen und klassenlosen Gesellschaft verwirklichen könnte. Zu der kemalistischen Ideologie, die Türkei besitze eine klassenlose Gesellschaft und zu einer scharfen Kritik an dieser Position vgl. GÖKMEN Özgür: The State of Labour in Turkey, 1919-1938, Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 33 (2005): 129-130. Zur angeblich klassenlosen Gesellschaft vgl. auch AHMAD, Feroz: The Development of Working-Class Consciousness in Turkey. In: Workers and Working Classes in the Middle East (1994): 140. Er zitiert Şefik Hüsnü, „there is no feeling of class, no understandig of class, and no class friendships“. Nach Ahmad, ebd. 136, soll selbst Mustafa Kemal gesagt haben, „ We have no working class. As for the peasant, he carries very little weight.“ Zu Kadro siehe auch TEKELİ, İlhan –İLKİN, Selim: Bir Cumhuriyet öyküsü: Kadrocuları ve Kadro'yu anlamak (2003); YANARDAĞ, Merdan: Kadro Hareketi (2012): NAS, Alpaslan: Kadro ve Kadrocular: Marksizmden Kemalizme, Birikim (21. Juli 2008). In: www.birikimdergisi.com /birikim/makale.aspx?mid=444. Abgerufen am 10. Mai. 2013 sowie AYDEMİR, Şevket Süreyya: İnkılâp ve Kadro (1990). 147 ALKAN, Mehmet Ö.; BORA, Tanıl; KORALTÜRK, Murat: Mete Tunçay’a Armağan, (2007): 40. Zu der nationalistischen und kemalistischen Ideologie vgl. TAŞKIN, Yüksel: From left populismus to conservative republicanism: Left Kemalists’ regression from modernist optimism, New Perspectives on Turkey 37 (2007): 177-201. Er charakterisiert, ebd. 180 den Kemalismus “ as an essentially rightist ideology, due to its authoritarianism containing elitist and atavistic elements and its nationalism with ethnicist- culturalist connotations.” Vgl weiterhin ebd. 182 zur Grundlegung eines solchen konservativen Republikanismus und ebd. 184-185 zu der Emphase auf die Einzigartigkeit der türkischen politischen Erfahrung, wie sie die Anhänger Atatürks propagieren. 148 AKŞİN, Sina: Sol Akımlar: Sosyalizm. In: Yakınçağ Türkiye Tarihi 2, (2003): 287-289. Zu Yön vgl. ARTUN Ünsal: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002): 2. 42 Reşit Eyuboğlu unterstützten das Programm.149 „Yön“ wurde auch bekannt, weil sie das Verbot der Veröffentlichung der Gedichte Nâzım Hikmets missachtete.150 Bis zum Jahr 1965 gab es keinerlei politischen Kampf zwischen der „Yön“ und der TİP. Durch ihr Präsens im Parlament stand TİP im Fokus aller linken Organisationen. Ihr Vorsitzender Mehmet Ali Aybar begann von Sozialismus und der sozialistischen Machtübernahme durch Wahlen zu sprechen. Über die Begriffe Führung und Macht setzte nunmehr eine große Diskussion mit „Yön“ ein. TİP sah sich selbst dabei als einzige sozialistische politische Kraft. Und, so ihre Haltung, die Arbeiterklasse sei die erste Kraft im antiimperialistischen Kampf. „Yön“ widersprach; sie wollte eine Bürokratie aufbauen mit dem Militär als Fundament. Dass die Arbeiter im Kampf gegen den Imperialismus in der Wertung vor dem Militär stehen sollten, war für sie undenkbar. Die Yön-Vertreter standen mit ihren nationalkemalistischen Ansichten nicht alleine. Dem Herausgeber dieser Zeitschrift, Doğan Avcıoğlu, kam, wenn auch nicht mit absoluter Übereinstimmung, Mihri Belli zur Unterstützung. Mihri Belli und Doğan Avcıoğlu begannen nun, TİP zu attackieren. Sie behaupteten, TİP würde sich den Grundsätzen der kemalistischen Bewegung widersetzen. 151 Wer von beiden sollte die Macht erhalten? TİP, die sich als Sprachrohr der Bauern, Arbeiter, Jugend und Intellektuellen sah, oder „Yön“, die ihre Kraft mit der des Militärs bündeln wollte? Alle Streitfragen hingen davon ab, in welcher politisch-sozialen Lage und in welcher Phase der Revolution sich das Land befand. Welche sozial-ökonomischen Gegebenheiten herrschten vor? Besaß die Türkei ein Feudalsystem, ein halbfeudales System oder einen Kapitalismus? Falls die Türkei an die imperialistischen Mächte gebunden war, in ihr ein Feudalsystem vorherrschte und sie somit eine halbe Kolonie war, dann musste der Kampf antiimperialistisch, antifeudal und national demokratisch werden. Deshalb muss in ihren Augen die bevorstehende Revolution „Nationale Demokratische Revolution“ (Milli Demokratik Devrim, MDD) heißen. Die Gruppe um Mihri Belli vertrat diese Gedanken, welche kaum andere als diejenigen der „Yön“ waren.

149 Vgl. GEVGİLİLİ, Ali: Yükseliş ve Düşüş (1987): 320. 150 Das seit 1938 geltende Verbot der Gedichte Nâzım Hikmets, wurde erst 1965 durch die Yön- Veröffentlichung durchbrochen. Vgl. ÇİÇEK, Hikmet: Yön Dergisi 50 Yaşında, Aydınlık (19. Dez. 2011). In:http://www.aydinlikgazete.com/yazarlar/hkmet-ccek/6633-hkmet-ccek-yoen-dergs-50-yainda.html. Abgerufen am 10. Mai 2013. Vgl. weiter KARAVELİ, Orhan: Tanıdığım Nâzım Hikmet (2002): 33-37. 151 Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142. Der Streit, der zwischen der Gruppe Zeki Baştımars und der Gruppe Mihri Bellis von der Zentralkomitee im Jahre 1951 im Gefängnis begann, ging in den 60er Jahren in der TİP weiter. TİP sah man als gleich mit der TKP an. Gegen die Gruppe von Behice Boran- Sadun Aren-Nihat Sargın zu sein, galt gegen Zeki Baştımar, den Generalsekretär der TKP zu sein. Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142.

43 Für TİP war das Land weder feudal noch eine Halbkolonie. Für sie war der Kapitalismus der Motor der Produktion, nicht der Feudalismus. Weiterhin behauptete sie, die herrschende Klasse sei die lokale Bourgeoisie. Die ausländischen Geldgeber hätten das Land nicht überfallen, sie seien auf Wunsch der einheimischen Bourgeoisie in das Land gekommen und hätten ihre Produktionen aufgebaut. Damit gebe es, entgegen der Ansicht von „Yön“ und Mihri Belli, auch keine nationale denkende Bourgeoisie, sondern nur eine kooperierende. Eben deswegen ist die bevorstehende Revolution nicht MDD, sondern die „Sozialistische Revolution (Sosyalist Devrim, SD) zu nennen. Diese These wurde in der TİP besonders von der Gruppe Behice Boran- Sadun Aren-Nihat Sargın vertreten. Nach dem im 1966 stattgefundenen Zweiten Kongress der TİP wurde die als „Demokratischen Revolutionäre“ bekannte Gruppe um Reşat Fuat Baraner und Mihri Belli von der Partei ausgeschlossen. Inzwischen stellte auch die Zeitschrift „YÖN“ ihre Veröffentlichung ein. Deswegen brachten 1967 die „Demokratischen Revolutionäre“ die Zeitschrift „Türk Solu“ heraus, um außerhalb der TİP eine Plattform zu haben. Am Anfang wurde „Türk Solu“ auch von der dritten Gruppe um Dr. Hikmet Kıvılcımlı unterstützt. Diese stand aufgrund ihrer theoretischen Begründung der MDD nahe und nannte sich „Demokratische Volksrevolution“ (Demokratik Halk Devrimi, DHD). Avcıoğlu gab später, im Jahr 1969, die Wochenzeitschrift „Devrim“ heraus. Er hielt an der Idee fest, mit den kemalistischen Intellektuellen sowie der Generation der jungen Offiziere die MDD zu erreichen. „Devrim“ musste nach dem Militärputsch vom 12. März 1971 eingestellt werden.152 Auch die TİP wurde in diesem Jahr durch ein mehr politisches als juristisches Urteil des Verfassungsgerichts verboten.153 Der Einmarsch der sowjetischen Armee im Jahre 1968 in die Tschechoslowakei ließ die Diskussion in der linken Bewegung auch in der Türkei entflammen. Nur Aybar kritisierte die Besetzung der Tschechoslowakei. Weder die Gruppe um Mihri Belli noch die Gruppe um Behice Boran-Sadun Aren protestierten. Die Gruppe um Boran-Aren trennte sich nach diesem Ereignis von Mehmet Ali Aybar, mit dem sie bis 1968 gegen die Gruppe um MDD gekämpft hatte.154 Die ideologische und theoretische Basis der linken politischen Organisationen, die 1960 gelegt wurde und bis zu dem Untergang des Kommunismus im Jahre 1990 bestand,

152 Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142. 153 ARTUN Ünsal: Umuttan Yalnızlığa, Türkiye İşçi Partisi 1961-1971 (2002):1. Die Anerkennung der Kurden als Volk durch TİP war der Grund dieses Verbots. 154 Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142.

44 festigte sich durch Diskussionen in den Jahren von 1961 bis 1971. In dieser Zeit hatte TİP als die einzige legale linke Partei alle Sozialisten, Demokraten, Reformisten, Radikalen und Kemalisten in sich gesammelt. Sie war die Front der Linken.155 Wie nun reagierte Ruhi Su in diesem politischen Wirrwarr? Im Grunde blieb er besonnen und bedacht und so gelang es ihm, sich den Streitereien zu entziehen. Er hielt es für richtig, mit allen gemeinsam zu arbeiten und nahm jede Einladung an, gleich aus welchem Lager sie kam. Die Worte İrfan Ertels aus dem „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) sind sehr aufschlussreich. Er habe in politischer Hinsicht über alles ohne Angst mit Ruhi Su reden können. Niemals habe er über irgendjemanden Negatives gehört, zumal sie in einer Zeit gelebt hätten, in der jeder über jeden schlecht redete, jeder jeden hinterging. Ruhi Su ging bei seiner Kritik nicht indirekt vor; er war in dieser Hinsicht sehr offen. Er sei ein Mann gewesen, der die Schlechtigkeiten nicht mitmachte, da er großen Respekt vor Menschen hatte. So nahm Ruhi Su die Einladung für einen Auftritt bei einer damals als Maoisten bezeichneten Gruppe an. Ertel wunderte sich, da Ruhi Su als prosowjetisches Mitglied der TKP galt. Ruhi Su antwortete:

Wir Künstler haben den Zusammenhalt als Aufgabe. Wir müssen darauf bedacht sein, nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden und wir dürfen nicht an die zehn bis fünfzehn Verknöcherten denken, sondern an die anderen. 156

Er verlor niemals seine Kunst aus dem Auge und machte sich nicht zum Sprachrohr der Partei und auch nicht vieler Splittergruppen. Dabei litt er offensichtlich darunter, dass selbst unter seinen Weggefährten seine Kunst eine geringe Wertschätzung erfuhr. Eine Anekdote Sadun Arens, eines ehemaligen Abgeordneten der TİP, zeigt ihr Unverständnis. Im Jahr 1964 wurde ein Konzert organisiert, das die Kassen der TİP füllen sollte. Auf dem Plakat wurde Esin Afşar, eine ehemalige Schülerin Ruhi Sus, an erster Stelle und Ruhi Su an zweiter Stelle genannt. Dies verletzte ihn so sehr, dass er nicht auftreten wollte. Sein Freund Sadun Aren sollte ihn besänftigen. Aren verteidigte die Parteileitung; sie hoffe, mit der populären und jungen Sängerin Esin Afşar mehr Eintrittskarten zu verkaufen. Ruhi Su möge die Zurückstellung doch entschuldigen, zumal man einen großen Konzertsaal gemietet habe. Ruhi Su war noch tiefer enttäuscht: Er sei es gewohnt, an Orten aufzutreten, an denen es um den Profit gehe. Aber hier

155Vgl. oben gleiche Quelle wie in Fußnote 142. 156 Aus dem Gespräch mit İrfan Ertel vom 27. Sept. 2010 in İstanbul. 45 handele es sich um seine eigene Partei.157 Wenn auch diese nur an ihren Profit denke, wann werde dann endlich die Kunst als Kunst angesehen? 158 Ruhi Su war ein Mann, der seiner eigenen Linie treu blieb. Grundsätzlicher und allgemeiner formuliert: er verhielt sich aufgrund dieser Linie jedem gegenüber gleich. Er glaubte mit der Ruhe und Kraft eines Derwischs,159 dass sich die Ängste und Ungereimtheiten der Linken mit der Zeit legen würden. Nach intensiven Gesprächen mit seinem Sohn Ilgın Su, seinen damaligen Freunden und den ehemaligen Chormitgliedern ist dennoch nicht genau zu sagen, wie und wann Ruhi Su zur kommunistischen Partei kam. Nach Yekebaş haben ihn Freunde wie Aclan Sayılgan und Ulvi Uraz von der Oper zum Eintritt gebracht.160 Von Sıdıka Su hatte Karabey Aydoğan gehört, Nail Çakırhan habe Ruhi Su überzeugte.161 Ilgın Su hingegen gab dem Verfasser die Information, sein Vater sei gemeinsam mit dem Lehrer und Opernsänger Hamdi Konur 1934 Mitglied der TKP geworden. Eine weitere Quelle führt an, Ruhi Su sei in den 40er Jahren der TKP beigetreten, als Şefik Hüsnü Değmer Parteisekretär war.162 Mit dem Gedankengut von Unterdrückung und Ausnutzung des Volkes hat Ruhi Su, wie er Ilgın selbst mitteilte, schon früh der Hausmeister des Waisenhauses von Adana bekannt gemacht.163 Die Lehrer des Waisenhauses, indem Ruhi Su aufgewachsen war, arbeiteten in den kommunistischen Parteizellen. Sie vermittelten ihn die ersten entsprechenden Ideen.164 Die Verurteilung der TKP, und damit auch Ruhi Sus, im Gerichtsbeschluss von 1954 in İstanbul spricht eine sehr undeutliche Sprache. Danach soll seine Arbeit für die Partei begonnen haben, als Zeki Baştımar, der

157 TKP und TİP sahen sich als Geschwisterparteien. 158 Vgl. AREN, Sadun: Puslu Camın Arkasından (2006): 235-236. Aren berichtet außerdem, dass damals viele männliche wie weibliche Sänger Lieder wie Aşık İhsani sangen. Seine Art, politische Schlagworte hervorzuheben, versetzte die Zuhörer in Euphorie. Ruhi Su schloß sich dieser Vortragsweise nicht an. Er nahm seine Art zu singen immer sehr ernst und hatte selbst Respekt vor seiner eigenen Kunst. Eines Tages sprach Behice Boran, die Vorsitzende der TİP, an und verlangte von ihm Lieder mit Schlagworten zu singen. Obwohl sie selbst Türkü sang und Respekt für Ruhi Sus Schaffen empfand, hatte die Partei bei ihr Vorrang. Aren wusste natürlich nicht, was Ruhi Su in dem Moment Behice Boran antwortete, aber kam er mit Wut direkt zu Aren und ließ seinen Ärger an der Frage erkennen: „Wie kann sie von mir so was verlangen?“ Vgl. gleiche Quelle wie in Fußnote 158. Auch Erdem hörte die Bitterkeit in Ruhi Sus Worten: “Glaube mir, wenn eines Tages der Kommunismus in dieses Land käme, würde man mich genauso behandeln wie jetzt und an meiner Stelle Zeki Müren unterstützen.” Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 159 Mehmed Kemal bezeichnet Ruhi Su in MEKİN, Dinçer (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 93, als einen der letzten Derwische Anatoliens. 160 Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25 Mai 2006 in Köln. 161 Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan vom 27. Sept. 2010 in İstanbul. 162 SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 13. 163 Aus dem Gespräch mit Ilgın Su vom 28. Juli. 2007 in İstanbul. 164 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 46 Generalsekretär der Partei, dem Parteisekretär von Ankara, Ömer Lütfi Tunçay, vorschlug, mit Ruhi Su zusammenzuarbeiten.165 Erdems Ausführungen haben großes Gewicht. Der erste Kontakt mit den kommunistischen Ideen gehe schon auf Ruhi Sus Kindheit zurück. Die kommunistische Bewegung war sehr stark in Adana, weil die Industrialisierung, Landflucht und Saisonarbeit großes Elend über die Bevölkerung brachte. Gerade die Ausbeutung der Arbeiter in der Landwirtschaft war ein zentrales Thema für die Kommunisten. Adana hatte zu Ende des Ersten Weltkrieges viele Gräueltaten und Flüchtlinge gesehen. Insbesondere alteingesessene, linksorientierte Familien befassten sich mit der Lage der Armen. So hat Ruhi Sus Musiklehrer aus dem Waisenhaus, Mehmet Tahir, sich des Knaben angenommen. Er war ein gebildeter Mensch, der die Augen der Waisen öffnete und ihnen eine Lebenshilfe sein wollte. Ruhi Su nahm eine linksorientierte Einstellung an, die aus der sozialen Krise zu erklären war, und hat sie später weiterentwickelt. Die Zusammenarbeit mit der Linken wurde ein fester Bestandteil seines Lebens. Seine politische Orientierung wurde auch von den deutschsprachigen Immigranten beeinflusst, die in den 30er Jahren vor dem nationalsozialistischen Terror in die Türkei flohen. Es waren kritische Jahre, in denen die junge türkische Republik anfänglich mit dem sowjetischen Regime Kontakt aufnahm. Auch Nâzım Hikmets Freundschaft mit der Sowjetunion hat zu der Linksorientierung Ruhi Sus beigetragen. Ruhi Sus Besuche Behice Borans in ihrer Wohnung im Jahr 1937 in Ankara waren die ersten bewussten Aktivitäten im Rahmen linker Politik. Frau Boran war die künftige Vorsitzende der Arbeiterpartei der Türkei (TİP). Unter den damaligen Besuchern Borans befanden sich Linke wie Hamdi Konur, der ebenfalls am Konservatorium studierte, Azra Erhat und Vedat Günyol, die 1937 der TKP nahe standen. Ruhi Su war ohnehin eher ein idealistischer und moralischer Linker als ein linientreues Parteimitglied. Bei ihm standen der humanistische Gedanke im Vordergrund, der Einsatz für den Frieden und der Kampf gegen jede Art der Ausbeutung. Diese Tugenden fand er in den anatolischen Türküs. Er sprach von einer gerechteren Welt und nicht von einer gerechten Welt. Auf diesem Unterschied bestand er.166 Seinen Gegnern und anderen Linken war Ruhi Sus Kunstproduktion fremd, weil sie nicht eine platte Widerspiegelung der ungerechten Verhältnisse beinhaltete. So lehnten ihn mehrere Fronten ab bzw. unterschätzten seine Arbeit. Der Staat warf Ruhi Su

165 Vgl. Esbabı Mucibeli Hüküm: T.C. Ankara Garnizon Komutanlığı 2 No’lu Askeri Mahkemesi, Esas 1953 /17, Karar 1954/33: 408. 166 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 31. Aug. 2011 in Köln. 47 die linke Einstellung vor, während Mitglieder der linken Führung Ruhi Su weder als Künstler noch als Denker anerkennen wollten. Zudem warf eine dritte Gruppe von Intellektuellen Ruhi Su vor, Türküs wie Opernarien zu singen; sein Ausdruck verfälsche die einfache Singweise des Volkes.167 Ruhi Su hatte ein differenziertes Vertändnis dessen, was unter Volk zu verstehen war. Das Volk bestand für ihn nicht allein aus Türken, sondern auch aus Mitgliedern anderer Ethnien, wie der Kurden und Armenier. Daher lehrte er in seinem Chor neben den türkischen auch kurdische und armenische Lieder. Unter den Chormitgliedern befanden sich armenische und kurdische Freunde und Sympatisanten fast aller linken Fraktionen. Unter allen herschte ein gutes Einvernehmen, denn Ruhi Su war die große Integrationsfigur. Im Jahre 2012 kann man über die Kurden offen sprechen. In den 70er Jahren jedoch, als Ruhi Su kurdische Lieder lehrte, ging er ein beträchtliches Risiko ein. Ruhi Su glaubte, dass der Frieden nur über das gemeinsame Miteinander funktionieren könne. Mit seinen Worten und Taten gab er ein Beispiel für friedliches Zusammenleben. Der Vorwurf, er habe keine kurdischen Lieder gesungen, ist zu entkräften: Im Jahr 1968 sprach er in einem Konzert im Klub Karten in İstanbul einen kurdischen Freund an und sang für ihn ein Tanzlied (Govend) in kurdischer Sprache.168 Er trug im Juli 1969 auf einem Open Air Konzert, veranstaltet von der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), das Lied “Die Schwarze Schlange” (Karayılan)169 vor, welches von einem Helden des Befreiungskriegs von 1919 bis 1922 handelt. Er sang die frühe Fassung, welche die Kurden aus Antep mit ihren eigenen Namen anspricht und sie aufruft, gemeinsam mit den ebenfalls angesprochenen Türken aus Antep gegen die Besatzungsmächte zu kämpfen. Die deutsche Fassung gibt nur die Anreden an die Kurden kursiv wieder.

167 Vgl. POLAT, Ömer: Vorwort zu BAKSI, Mahmut: Şıvan’ın Sevdası (1984): 11; Vgl. auch BENK, Adnan: Dünya (12. Jan. 1962): 2. In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 38-40 und ÖZKÖK, Ertuğrul: İadeli Taahhütlü Bir Yazı, Hürriyet (21. Sept. 2008). Für die Forderung an Ruhi Su, er solle “wie das Volk singen”, und seine Gegendarstellung siehe unten Kapitel 6.6. 168 Aus dem Interview mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. Der kurdische Freund war Ahmet Aras, welcher die Geschichte Hüseyin Erdem erzählte. 169 Siehe unten Kap.9.1.4. 48 „Die schwarze Schlange“ Steigt aufs Pferd, die Zügel in der Hand, An seiner Front kennt er keine Niederlage, Innerhalb des Freischärler eine wilde schwarze Schlange. Schlagt zu Kurdenburschen,170 heute ist der Tag der Ehre Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre!

Ich ziehe und ziehe die Zügel, das Zugpferd läuft nicht, Die französischen Kugeln erreichen den Helden nicht, Grüßt meine wehmütige Mutter von mir. Die Mütter haben solche Kinder in die Welt gesetzt.

Schwarze Schlange sagt, lasset uns in den Kampf ziehen, Lasset uns aus Kilis‘ Straßen Köpfe holen, Lasset uns töten, wo es Feinde gibt. Schlagt zu Türkenburschen, heute ist der Tag der Ehre Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre! (Volkslied)

„Karayılan“ Atına binmiş de elinde dizgin, Vardığı cephede hiç olmaz bozgun, Çeteler içinde Yılan’ım azgın. Vurun Kürt uşağı namus günüdür Vurun Antepliler namus günüdür!

Sürerim sürerim gitmez kadana, Fransız kurşunu değmez adama, Benden selam söylen nazlı anama. Analar da böyle yavru doğurmuş.

170 In der späteren Schallplattenaufnahme jedoch ersetzte er diesen Namen durch den Namen der Stadt Antep. Jedem türkischen Zuhörer war deutlich, dass Antep gleichbedeutend war mit Kurdenstadt.

49 Karayılan der ki harbe oturak, Kilis yollarından kelle getirek, Nerde düşman varsa orda bitirek, Vurun Türk uşağı namus günüdür Vurun Antepliler namus günüdür! Halk Türküsü

Im gleichen Konzert sang Ruhi Su das Klagelied einer Mutter, deren Sohn 1938 im Einsatz gegen Kurden in Dersim war, die namentlich in der dritten Strophe genannt werden, und der nicht wieder zurück kam. In dem Lied spricht die Mutter aus der Perspektive des Sohnes.

„Das Soldatenlied” Der Zug nahm ohne Rast seinen Weg, Mein Kummer ist so groß, ich verheimliche ihn, Meine Munition ist aufgebraucht, es kommt kein Nachschub. Mich erschossen sie, bevor ich entlassen wurde, Mich ließen sie voller Heimweh.

Der Berg Aziz Abdal ist Hauptquartier, Die wöchentliche Ration ist nicht zu essen, trocken, Wir sehnen uns nach dem berühmten Kayseri. Mich erschossen sie, bevor ich entlassen wurde, Mich ließen sie voller Heimweh.

Schwere Artillerie steht fest am Hügel, Feuert in den Wald, Kurden sind nicht zu sehen, Die Parolen kommen mir nicht in das Gedächtnis. Vor meinen Augen haben sie mich erschossen, Mich ließen sie voller Heimweh.

50 Den Befehl gaben sie, diese seien Banditen, Sie töteten sie, obwohl sie unsere Brüder waren, Fünf Mann waren wir, man schoß uns in der Stellung nieder. Mich erschossen sie, bevor ich entlassen wurde, Mich ließen sie voller Heimweh. Volkslied

„Bir Asker Türküsü” Yürüdü tern de yolda eylenmez, Derdim çoktur memlekete söylenmez, Tükendi cephanem geriden gelmez. Teskeremden evvel vurdular beni, Sılama hasret koydular beni.

Aziz Abdal Dağı ordugâh yeri, Bir haftalık tayın yenmiyor kuru, Hasretli kaldık koca Kayseri. Teskeremden evvel vurdular beni, Sılama hasret koydular beni.

Ağır makinalı tepeden inmez, Tarıyor ormanı Kürtler görünmez, Verilen parolalar aklıma gelmez. Gözüm göre göre vurdular beni, Sılama hasret koydular beni.

Bunlar haydut deyi emir verdiler, Kavim kardeş demediler kırdılar, Beş kişiydik bir mevzide vurdular. Teskeremden evvel vurdular beni, Sılama hasret koydular beni. Halk Türküsü

51 Als Ruhi Su diese beiden Lieder in einem Konzert in Club Karten in İstanbul 1970 sang, war sein Freund İsmet Zeki Eyüboğlu im Publikum in der Gesellschaft von mehreren höheren Offiziere. Die Offiziere konnten jedoch nicht ertragen, von Kurden zu hören, verließen den Saal und verprügelten den ebenfalls vor die Tür herausgegangenen Freund, als er sie um Verständnis bat; ein Zeichen ihres überspannten und daher gefährlichen Nationalbewußtseins. Die Folge war, dass bei späteren Aufnahmen dieser beiden Lieder die Anspielungen auf die Kurden ausgelassen wurden.171

171 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 52 2.7 Ruhi Su in Sansaryan Han und im Militärgefängnis von Harbiye, beide in İstanbul 1951 begann die Operation gegen die TKP. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Ruhi Su verhaftet wurde. Zunächst wurde die Gruppe İstanbul festgenommen und ein Jahr danach die Gruppe Ankara. Ruhi Su gehörte wie auch seine zukünftige Frau, Sıdıka Umut, zur Gruppe Ankara. Sıdıka Umut wurde am 12. November 1952 verhaftet und nur zwei Tage später Ruhi Su, beide mit der Beschuldigung, Mitglied der TKP zu sein.172 Kurz vor seiner Verhaftung flog er nach İstanbul, um sich das Geld für seine Filmmusik von der Produktionsfirma İpek Film zu holen. Dann flog er umgehend zurück nach Ankara.173 Rasih Nuri İleri, damals ein Mitglied der TKP, erzählte Jahre später in einer Dokumentation über Ruhi Su, dass die Partei vorhatte, Ruhi Su über Antakya nach Syrien zu schaffen, um einer Verhaftung zu entgehen. Zuvor wurde er jedoch verhaftet.174 Da er nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 aus dem Ausland in die Türkei zurückkam, kann man annehmen, dass er lieber verhaftet worden wäre, als ins Ausland zu flüchten. Dies hatte mit seinem Sammeln von Türküs zu tun, einer Arbeit, die er nicht im Ausland, sondern nur in der Türkei durchführen konnte. Als überaus wichtige Motivation ist auch sein Patriotismus anzuführen, der ihn bei diesem Tun antrieb.175 Wie alle anderen TKP-Mitglieder wurde Ruhi Su zunächst in die Istanbuler Zentralwache gebracht, die unter dem Namen Sansaryan Han bekannt war. Dort wurde er fünf Monate lang in einem der dunkelsten Verließe gefoltert und verhört. Als ein Polizeireporter ihn in der Haft besuchte,176 war Ruhi Su in einem sehr schlechten

172 Vgl. UÇAR, Ahmet: Sanatının Zirvesinden Sürgüne: Ruhi Su, Atlas Tarih 9 (Okt. Nov. 2011): 116-123. Zu diesem Thema vgl. auch TEVETOĞLU, Fethi: Türkiye’de Sosyalist ve Komünist Faaliyetler 1910-1960 (1967); SAYILGAN, Aclan: Türkiye’de Sol Hareketler 1-2 (2009); SUDA, Orhan: Bir Ömrün Kıyılarında (2004): BELLİ Sevim: Boşuna mı Çiğnedik (2006) und BELLİ, Mihri: İnsanlar Tanıdım (2002). 173 Aus demGespräch mit Ilgın Su am 28. Juli 2007 in İstanbul 174 Vgl. ETİKAN, Hilmi: Ruhi Su Belgeseli (2004). Nach Frau Sus Aussage wurde Ruhi Su durch den Verrat eines seiner Freunde nach einer Probe in der Oper verhaftet. 175 1979 nahm Ruhi Su in politisch angespannter Zeit am Alen Mak, einem politischen Liederfestival in Bulgarien teil. In der Türkei zurückgekehrt, brachte er in einem Artikel in der Zeitschrift Sanat Emeği seine Zufriedenheit über diese Einladung zum Ausdruck. Er schrieb, dass er das Festival sehr erzieherisch und unvergesslich fand. Er fühlte sich mit dem Essen, den Blumen, den Pappeln und den fließenden Bächen wie in der Heimat. Er war sehr glücklich, aber er hätte nicht bleiben können, auch wenn man ihn darum gebeten hätte. Er kehrte in seine tiefsten Ängste zurück. Vgl. SU, Ruhi: Bulgaristan Ale Mak Politik Şarkılar Şenliğinin Düşündürdükleri, Sanat Emeği 18, Aug. 1978. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 84-85. Fast alle der Angehörigen der TKP dachten keine Minute an eine Flucht, weil sie solche als einen Verrat am Vaterland ansahen. Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25 Mai 2006, Köln. Siehe hierzu auch ERSÖZ, Cezmi: Romantik Komünist: Patriyot Hayati. In: ERSÖZ, Cezmi: Son Yüzler (1996): 103-110. 176 Vgl. ARPAD, Burhan: Ruhi Su Gerçeği II, Cumhuriyet (1. Okt. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 192-194. Weil Burhan Arpad ein Polizeireporter war, ließ man ihn zu Ruhi Su. Besuchen konnte man einen Untersuchungshäftling oder Gefangenen nur, wenn man denselben Nachnamen hatte. Bei dieser Erlaubnis hatte die Polizei auch die Absicht, Ruhi Su mit Hilfe Arpads zum Reden zu 53 körperlichen und seelischen Zustand. Die Misshandlungen standen ihm ins Gesicht geschrieben. Das Fehlen einer Familie, die sich hätte nach ihm erkundigen können, machte sich bei Ruhi Su besonders schmerzlich deutlich, erinnert sich Sıdıka Su.177 Ruhi Su erzählt von dem Kerker in İstanbul und seinen Leiden in dem von ihm selbst geschriebenen und vertonten Lied „Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern?“ (Bu Nasıl İstanbul Zindan İçinde) Dennoch endet das Lied auf eine starke Note der Hoffnung.

„Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern?“178 „Bu Nasıl İstanbul Zından İçinde?” 179 Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern? Bu nasıl İstanbul zından içinde? Verschwunden sind meine Tage und Nächte, Kayboluverdi gecem gündüzüm, Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern? Bu nasıl İstanbul zından içinde?

O Vater, o Vater… Bavo bave...

In unseren Zellen werden Rosen blühen. Yattığımız yerde güller bitecek. „Habe Geduld, der Tag wird aufbrechen, er ist unser.“ „Gün ışıyıp gelir sabret, bu bizim” In unseren Zellen werden Rosen blühen. Yattığımız yerde güller bitecek. O Vater, o Vater… Bavo bave... Ruhi Su

Er schrieb und komponierte später ein Lied mit der Überschrift „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal).180Auch hier betont Ruhi Su seine Hoffnung auf die kommenden glücklichen Tage. Zu wissen, dass in den Nebenzellen seine Genossen und unter ihnen auch seine zukünftige Frau Sıdıka Umut waren, gab ihm Stärke und Durchhaltevermögen in der sogenannten Sargzelle. Unter ihnen waren Nicht-Muslime wie Armenier und Migranten aus dem Balkan. Man hat sie alle gefoltert, jedoch hat man die Nicht-Muslime und Migranten aus dem Balkan am schlimmsten behandelt, zumal man ihnen deutlich machte, das Land zu retten sei nicht ihre Aufgabe. Als im Sansaryan Han die Aufnahmekapazität überschritten war, entschied die Leitung, dass es keinen Sinn mehr mache, die Gefangenen zu behalten, da sie schon verhört worden seien. Da auch keine bringen. Die Absicht scheiterte. Der Artikel anlässlich des Todes von Ruhi Su ist ein verlässliches Dokument, wenn man Ruhi Sus Leiden in diesen Monaten der Haft verstehen will. Ruhi Su erinnerte sich später an die Begegnung mit Arpad und bedankte sich für die Mühe und Nähe Arpads auf der Rückseite einer seiner Schallplatten. Diese Aufnahme widmete er Arpad. 177 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 178 Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer nicht genannt werden. 179 Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls unten in Kapitel 7.1 behandelt. 180 Siehe unten Kap. 7.1.2. 54 Notwendigkeit bestand, die Gefangenen voneinander zu trennen, wurde das Militärgefängnis von Harbiye für die Häftlinge der sogenannten 51er-Verhaftungen geleert.181 Nach einer fünfmonatigen Untersuchungshaft in Sansaryan wurde auch Ruhi Su in das Gefängnis von Harbiye überführt. Nunmehr war er unter ihm bekannten Menschen. Zusammen mit den in İstanbul, Ankara, İzmir und Adana verhafteten 184 Personen wartete er hier dreieinhalb Jahre auf die Verhandlung vor einem Richter. Während dieser Zeit blieb er nicht tatenlos. Man erlaubte es Ruhi Su nicht, seine Saz mit ins Gefängnis zu nehmen. Daraufhin baute ihm der Musikinstrumentenbauer Faik Şekeroğlu, der unter derselben Anklage einsaß, aus dem Stiel eines Besens und einigen Holzstücken eine Saz. Ruhi Su freute sich sehr und arbeitete zwei Jahre lang mit diesem Instrument. Als nach zwei Jahren das Verbot aufgehoben wurde, ließ er sich seine Saz aus Ankara zuschicken. Mit seinen Zellengenossen gründete er einen Chor. Er sammelte ihre Lieder und veranstaltete Konzerte für sie im Gefängnis.182 Ruhi Su machte jeden Tag Stimmübungen. Er suchte eine passende Zeit und stille Ecken, in denen er keinen störte. Er hat manche Nächte in der Gemeinschaftszelle Konzerte gegeben, und man hat ihm zugehört, als ob man in einem Konzertsaal war. Die Zuhörer sprachen während des Vortrags weder miteinander noch applaudierten sie. Sein Auftreten und seine Aura verschafften ihm großen Respekt. Schon seine äußere Erscheinung beeindruckte die Menschen, wie auch seine ausstrahlende Ruhe, seine philosophische und nachdenkliche Art, wenn er im Innenhof des Gefängnisses auf und ab ging. Am Tag nach dem Konzert sangen sie mit Freude eines seiner Lieder:183

Sie ist klein und klein, Kendisi ufacık ufacık Ihre Hand fein und fein. Elleri topacık topacık

Volkslied Halk Türküsü

181 Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25 Mai 2006 in Köln. 182 Akatlı, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti, (2001): 11. 183 Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln. Für den vollständigen Text des Liedes siehe AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000): 114. 55 2.8 Ruhi Su und Sıdıka Umut: Die Heirat im Gefängnis Die Eheschließung mit Sıdıka Umut ist nicht ohne Rückblick auf die Zeit in Ankara zu verstehen. Während seiner Tätigkeit an der Oper gründete und leitete Ruhi Su einen Chor an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie (Dil, Tarih ve Coğrafya Fakültesi, DTCF).184 Seine spätere Frau Sıdıka Umut studierte Philosophie und auch Soziologie bei Behice Boran an der DTCF und war auch Mitglied des oben erwähnten Chores. Sie kannte Ruhi Su seit längerem, da er der Freund ihres Bruders war. Er ging bei ihr ein und aus. Sie hatte ebenfalls eine Vorliebe für Türküs. Durch die Liebe zu Türküs und die gemeinsame Weltanschauung fanden sie zueinander. Sie spricht darüber, wie und wann diese im Gefängnis vereinte Liebe ihren Anfang nahm. Sie wohnte damals in Ankara, da ihr Bruder von Bursa nach Ankara versetzt wurde. Ruhi Su kam des Öfteren zu ihnen. Ihre Mutter mochte ihn sehr. Wenn sie an seine schwere Vergangenheit dachte, wollte sie ihn umsorgen und kochte ihm sein Lieblingsessen. Sie schenkte ihm viel Liebe, weil er ohne Eltern aufgewachsen war. Obwohl er ein Mann mittleren Alters war, blieb er für ihre Mutter der kleine, verwaiste Junge. Er suchte und fand die Wärme, die er brauchte. Ihre Mutter liebte seine Lieder sehr. Wenn er im Radio sang, kam sie herbeigeeilt, legte ihre Schürze ab und hörte ihm aufmerksam zu. Wenn er einem Bekannten ein Lied vortragen wollte, kam er zu ihnen, denn er hatte nur eine Ein-Zimmer-Wohnung. An einem Abend erzählte Sıdıka Umut von Aşık Veysels Türküs. Er war sehr verwundert, dass sie etwas über diese Türküs wusste. So sangen die beiden abwechselnd Türküs. Ihre Mutter gab ihr Ratschläge, welche Türküs sie noch singen konnte. Ihr Bruder sang ebenfalls und ihre Mutter liebte es, wenn sie sangen. Am Ende des Abends bemerkte er mit Verwunderung, dass Sıdıka Umut fast dasselbe Repertoire an Türküs hatte wie er selbst. Der Funken war übergesprungen. Schließlich verabschiedete er sich widerwillig. Ihre Mutter schaute ihm vom Fenster nach und murmelte: „Das eine Bein geht, das andere steht.“ Am nächsten Morgen verabredete er sich mit Sıdıka Umut. So nahm die Liebe ihren Lauf. Später erfuhren sie, dass sie in derselben Politzelle der verbotenen TKP aktiv waren. Danach arbeiteten sie gemeinsam, teils unter ihrer Leitung, teils unter seiner.185 Ruhi Su und Sıdıka Umut blieben in den Jahren 1952 bis 1957 inhaftiert. Sie verbrachten dreieinhalb Jahre im Militärgefängnis von Harbiye. Dort schrieben sich Ruhi

184 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 14. 185 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 56 Su und Sıdıka Umut heimlich Briefe. Die weiblichen Insassen wurden vormittags in Begleitung der Gendarmen an die frische Luft auf den Hof gebracht. Auf dem Hof kommunizierten Ruhi Su und Sıdıka mit Lichtzeichen und Körpersprache.186 Die Zeit voller Entbehrungen und Trennung festigte ihre Liebe umso mehr.187 Um sich für zehn Minuten in der Woche sehen zu können, verlobten sich die beiden. Die beiden heirateten dann im Jahr 1954 im Beisein der Trauzeugen Behice Boran und ihrem Ehemann Nevzat Hatko.188 Zu den Haftbedingungen gehörte, dass zweimal in der Woche drei Tische vor die Gemeinschaftszelle aufgestellt wurden. Dort durften die drei verheirateten Paare, Sıdıka und Ruhi Su, Selçuk und Ulvi Uraz sowie Sevim und Mihri Belli sich unterhalten. 189 Ruhi Su insbesondere achtete auf sein Äußeres und kam entsprechend gekleidet. Manchmal gelang es ihm sogar, mit einer Blume zu kommen.190 Nach einer dreieinhalbjährigen Haftszeit wurde für die 51er Verhafteten im Gefängnis von Harbiye ein Sondergericht eingerichtet. Sıdıka und Ruhi Su wurden zu je fünf Jahren Haft verurteilt. Ruhi Su wurde mit allen männlichen Gefangenen nach Adana, Sıdıka Su mit Sevim Belli in das Gefängnis von Sultanahmet nach İstanbul gebracht. Die Türküs „Berg Hasan” (Hasan Dağı) und „Gazellen” (Cerenler) entstanden in dieser Zeit.191

186 Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln. 187 Vgl. SPATAR, M. Halim: Müzik Yazılarım (2007): 169. Der Mithäftling Spatar schreibt, dass er Ruhi Su immer beobachtete, wie er SSS (Sıdıka, Seni Seviyorum) „Sıdıka, ich liebe dich!“ in das Fenster schrieb. 188 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 189 Vgl. BELLİ, Sevim: Boşuna mı Çiğnedik (2006): 389. Frau Belli erzählt in ihren Memoiren, dass eine Wächterin namens Dürriye zwischen Ruhi Su und Sıdıka Umut Nachrichten vermittelte: „Sıdıka war eine gute Freundin von Ruhi. Aber sie durften sich nicht sehen. Es war verboten, zu den Gemeinschaftszellen der Männer Kontakt aufzunehmen. Unsere Anträge, das Verbot aufzuheben, scheiterten immer wieder. Im Nachhinein hat man die Verlobung akzeptiert und dem Wunsch nach Kontakten stattgegeben.“ 190. Ebd. 411 191 Zu der Entstehungsgeschichte dieser Lieder siehe unten Kap. 7.1.1 und 6.2.1. 57 2.9 Polizeiaufsicht und Bewährungszeit Das Ehepaar Su wurde im Juni 1957 mit einer Bewährungsauflage von zwanzig Monaten entlassen. Sıdıka Su schickte man nach Ankara zurück, da das Justizgesetz vorsah, dass Frauen an den Ort ihrer Verhaftung zurückgebracht werden mussten. Ruhi Su wurde nach Çumra in der Provinz Konya gebracht. Er quartierte sich in einem billigen Hotel ein. Die Nachrichten und Musikprogramme im Radio versäumte er nie. Die Menschen in Çumra munterten ihn auf: Alles werde bald ein gutes Ende finden; er solle nicht so traurig sein. Einerseits suchte er Arbeit und andererseits versuchte er, die Genehmigung zum Umzug nach Ankara zu seiner Frau zu erhalten. Auf all seine Anträge erhielt er Absagen. Der Generaldirektor für öffentliche Sicherheit Kemal Aygün192 war gegen seine Versetzung. Dennoch versuchten der örtliche Staatsanwalt, Muharrem İlkeş, und der örtliche Richter, İlhan Somer, seinen Umzug nach Ankara zu betreiben. Der Staatsanwalt verstand sich gut mit Ruhi Su, denn er war ein großer Liebhaber der Türküs. Er besuchte ihn sogar fast jeden Tag im Hotel, um Unterrichtsstunden auf der Cura193 zu erhalten und ließ Ruhi Su ein Konzert, vermutlich Ende 1957, im Gefängnis von Çumra geben. Eigentlich war Ruhi Sus Umzug nach Ankara mit dem Ziel der Familienzusammenführung juristisch erlaubt. Trotz der Einwände Kemal Aygüns erreichte der Staatsanwalt eine Überführung nach Ankara. Ruhi Su gab zu Ehren des Staatsanwaltes und der Bevölkerung im Bahnhof von Çumra ein rauschendes Konzert. Der Saal platzte aus allen Nähten. Am nächsten Morgen verabschiedete man ihn, der im Bewusstsein des einfachen Volkes wie auch der Intellektuellen einen ehrenvollen Platz einnahm, nach Ankara.194

192 Von 1952-1954 war Kemal Aygün Generaldirektor für öffentliche Sicherheit in Ankara. Später wurde er Gouverneur von Ankara und schließlich Oberbürgermeister von İstanbul von 1958-1960. Vgl. http://tr.wikipedia.org/wiki/Kemal_Ayg%C3%BCn. 193 Kleine zwei- oder dreisaitige Langhalslaute. 194 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 17. 58 2.10 Die Tage in Ankara mit seiner Frau Sıdıka Su Endlich waren Ruhi Su und seine Frau beisammen. Um den Start in seiner zugleich alten und neuen Umgebung so leicht wie möglich zu machen, kamen ihm alle Freunde zu Hilfe. Einer, Celal Cündoğlu, besorgte den Sus eine Bleibe in einem Arbeiterviertel, ungefähr zwei Kilometer entfernt von dem Stadtteil Etimesgut.195 Die Familie wohnte in einem kleinen Lehmhäuschen mit drei Zimmern, welches mitten auf einem Feld stand und weder Strom noch Wasser hatte. Sie richtete das Haus mit einem Gasofen, einem Läufer und ein wenig Geschirr ein. Endlich hatte sie eine Unterkunft nur für sich. Hier fühlten sie sich so sicher und unabhängig wie möglich. Nur mussten sie jeden Tag nach Etimesgut gehen, um bei der Polizei ihre Unterschrift zu leisten. Ruhi Su gab seinen Besuchern und Freunden kleine Konzerte. Der Schriftsteller Mehmet Kemal hingegen wollte Ruhi Su mit einem Medienball helfen, auf dem dieser auftreten sollte. Kemal Aygün verbot die Veranstaltung mit der Frage, „Wollt ihr ihm sein Ansehen wieder verschaffen?“196 Derselbe Mann erfuhr im Zusammenhang mit dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 selbst Repressalien, als er Bürgermeister von İstanbul war.197

195 Cündoğlu hatte im Stadtteil Ulus eine Buchhandlung und im Schaufenster die Schallplatte Salkımsöğüt von Nâzım Hikmet. Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln. 196 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 18. 197 Vgl. KILIÇ, Altemur: Kılıç’tan Kılıç’a (2005): 228.

59 2.11 Die helfende Hand eines Freundes und die Geschichte des Films: „Die große Liebe des Karacaoğlan“ von Atıf Yılmaz Ruhi Su musste so schnell wie möglich Arbeit finden, auch weil seine Frau schwanger war. Freunde aus dem Gefängnis, die gemeinsam eine Speditionsfirma gegründet hatten, machten ihn mit einer kleinen finanziellen Beteiligung zum Partner, doch hatte er keinen großen Erfolg. Durch den Transport von Gegenständen auf seinem Rücken konnte er Geld nach Hause bringen. Die Bewährungsstrafe der Sus neigte sich dem Ende zu.198 Der Filmregisseur Atıf Yılmaz streckte ihm die helfende Hand hin. Er wollte den Zeitungsfotoroman von Yaşar Kemal „Die große Liebe des Karacaoğlan“ (Karacaoğlan’ın Kara Sevdası) in Adana verfilmen. Den Liedern im Film sollte Ruhi Su seine Stimme leihen. Yılmaz kam von İstanbul nach Ankara und unterbreitete Ruhi Su ein Angebot. Eigentlich war das kein rein kommerzielles Angebot, sondern die Hilfe eines Freundes in einer finanziellen Notsituation. Ruhi Su nahm das Angebot mit Freude an. Der Film wurde in der Çukurova um Adana gedreht. Es war neben der Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen, auch eine Chance, die Lieder der Einheimischen zu sammeln und die Heimatstadt Karacaoğlans199 sowie den Ort seiner Kindheit zu besuchen. Der Staat saß ihm immer im Nacken; daher konnte er nie frei und ungezwungen Lieder sammeln. Die Reise nach Adana war eine willkommene Gelegenheit, aus dieser Umklammerung auszubrechen und frei zu arbeiten. Yılmaz erinnert sich nicht mehr, ob Yaşar Kemal oder er selbst die Idee hatte, Ruhi Su die Türküs singen zu lassen, doch der Name Ruhi Su wurde genannt; nach seiner Erinnerung sei auch der Produzent Hürrem Erman mit Ruhi Su einverstanden gewesen. Eigentlich bildete die Zusammenarbeit mit einem schon verurteilten Kommunisten ein erhebliches Risiko. Die Gefahr auf die Schwarze Liste zu kommen oder ein Verbot des Filmes durch die Zensur war sehr groß. All diese Gefahren zum Trotz fuhren sie nach Ankara zu Ruhi Su, um mit ihm zu sprechen und ihn dann mit dem Produzenten Hürrem Erman bekannt zu machen. Sie trafen sich in der Lobby eines Hotels. Ruhi Su akzeptierte ihr Angebot ruhig und ernsthaft. Er sah die Möglichkeit im Taurus Gebirge, der Heimat Karacaoğlans, dessen Türküs zu sammeln. Yılmaz spürte den Wunsch Ruhi Sus, mit der Reise aus Ankara zu entfliehen. Er sah das Funkeln und die Aufregung in den Augen Ruhi Sus,

198 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 199 Siehe unten Kapitel 9.3. 60 denn dieser erfuhr zum ersten Mal wieder eine Wertschätzung seiner Arbeit als Künstler.200 Nachdem die Filmtruppe zusammengestellt war, fuhr sie nach Adana und mietete sich in ein Hotel in Kadirli ein. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass mit dem Filmteam ein Aşık namens Ruhi Su gekommen war. Daraufhin versammelten sich fast alle Aşıks der Çukurova im Hotel und belagerten ihn wie einen der ihren. Ruhi Su war sehr aufgeregt, weil er endlich machen konnte, was er immer wollte, nämlich Türküs sammeln. Er sprach mit großer Geduld mit jedem einzelnen dieser Aşıks, hörte ihnen aufmerksam zu und nahm alle ihre Lieder auf. Von Berg zu Berg hallende Lieder ertönten aus dem Hotel.201 Während der Vorbereitungen zu den Filmaufnahmen zeigten sich die Einheimischen nach ihrer Tradition sehr gastfreundlich. Unter ihnen befanden sich die reichen und angesehenen Bürger des Ortes und Stammesfürsten wie der ehemalige Räuber Bebek Ağa, der namentlich in den Romanen von Yaşar Kemal vorkommt, der intellektuelle Ağa Safa Veyisoğlu und Ağa Hasan Hüseyin Çığşar. Hasan Hüseyin Çığşar gab zu Ehren Bebek Ağas ein Essen und lud Atıf Yılmaz und Ruhi Su ein.

Atıf Yılmaz stellt zwei markante Persönlichkeitsmerkmale Ruhi Sus sehr deutlich heraus. Das eine war, dass er nie Alkohol trank. Jedoch konnte er sich der trinkenden Gesellschaft so anpassen, dass auch er trunken und angeheitert wirkte. Das zweite Merkmal war der große Respekt vor der eigenen Arbeit. Diesen Respekt erwartete er auch von seinen Zuhörern. Als an einem Abend die Köpfe zunehmend benebelt wurden und man von ihm verlangte, für alle zu singen, sah Yılmaz ziemlich unruhig auf Ruhi Su. Dieser streckte, ohne etwas übel zu nehmen, die Hand nach seiner Saz aus und begann, von Pir Sultan und Karacaoğlan zu singen. Alle Gäste waren schon während des ersten Türküs von Ruhi Sus Vortrag überwältigt. Sie wachten auf, sammelten sich ehrfürchtig, hörten auf zu trinken und zu essen und verschränkten ihre Hände respektvoll.202

Atıf Yılmaz übt eine höchst bemerkenswerte Kritik an den Intellektuellen, die sich abwertend über die Art des Vortrags von Ruhi Su äußerten: Ruhi Su werde öfters mit dem Vorurteil konfrontiert, seine Türküs wie eine Opernmelodie zu singen. Als Yılmaz in Kadirli alle Aşıks anhörte, wurde ihm deutlich, dass die Kritik der Intellektuellen auf Unwissenheit beruhte, denn ihre Ohren hatten sich an die von Radio, Fernsehen,

200YILMAZ, Atıf: Hayallerim, Aşkım ve Ben (1991): 26. 201 Ebd. 146-147. 202 Ebd. 152-153. 61 Schallplatten und in Casinos dargebotenen, verwilderten und kommerzialisierten Türküs gewöhnt. Ruhi Su hingegen nutzte eine reine Quelle als ein bewusster Theoretiker. Yılmaz betont, die unzähligen Aşıks, die im Hotel sangen, sangen nicht wie die heute „berühmten“ Sänger, sondern wie Ruhi Su.203

Nach den Filmaufnahmen kehrte das Team nach İstanbul zurück, und die Arbeit im Musikstudio begann. Die Baritonstimme Ruhi Sus, die aus dem gesammelten Tonmaterial erklang, fesselte alle:

Der Wind weht vom hohen Berg, Yüce dağdan bir yel eser, Verweht und sagt, „Elif, Elif.“ Eser „Elif Elif“ deyi. Mein verrücktes Herz Deli gönül abdal olmuş, läuft umher und sagt‚ „Elif, Elif.“ Gezer „Elif Elif“ deyi204 Karacaoğlan

Die Probe der Uraufführung des Films fand in Balıkesir statt. Den Zuschauern sollen die Stimme und die Türküs Ruhi Sus sehr befremdlich vorgekommen sein. Der Produzent geriet in Panik. Der Film war vielleicht der teuerste seiner Zeit. Um das investierte Geld zu retten, beschloss Hürrem Erman, Ruhi Sus Fassung der Türküs aus dem Film zu schneiden und sie durch einen anderen Opernsänger, Aydın Gün, singen zu lassen: Yılmaz kommentierte später, er habe verstehen können, wenn der Produzent Ruhi Su durch einen populären Sänger ersetzt hätte, aber dieser entschied sich erneut für einen Opernsänger. Einer der schwärzesten Tage seiner Kinotätigkeit sei gewesen, als Aydın Gün in das Studio kam. Seit dem Tag habe er eine gewisse Empörung gegen Aydın Gün verspürt, weil Gün, obwohl er Ruhi Su kannte, diesen Auftrag annahm. Das Musikband des Filmes wurde vernichtet, und Aydın Güns schrille Tenorstimme wurde zu Yılmaz Alptraum. Der Film, den er mit seinen Freunden in einer enormen Anstrengung gedreht hatte, wurde zu einem ihm verhassten Objekt. Das Bitterste war, dass keine Kopie des Originals des Films mit der Stimme Ruhi Sus mehr existiert.205

203 Ebd. 153. 204 Einer Legende nach liebte Karacaoğlan ein Mädchen, und als es mit jemand anderem verheiratet wurde, ging er in die weite Fremde und wurde von einem Nomadenstamm aufgenommen. Als einer, der überall ein zu liebendes Mädchen findet, verliebte er sich in die Tochter des Nomadenführers. Er hielt um ihre Hand an. Da er aber mittellos war, bekam er das Mädchen zunächst nicht. Die Mitglieder des Stammes sprachen sich jedoch für ihn aus, er erhielt schließlich das Mädchen und sie heirateten. Für die vollständige Geschichte siehe unten Kap. 9.3.1. 205YILMAZ, Atıf: Hayallerim, Aşkım ve Ben (1991): 156-157.

62 2.12 Ruhi Sus Auftritte im Kasino Taksim und in den Clubs von İstanbul und seine Arbeit in der Bau- und Kredit- Bank Nach den Filmaufnahmen zog Ruhi Su nach İstanbul und trat im Städtischen Kasino Taksim auf. Er mietete eine Wohnung und holte am 2. März 1960 seine Familie nach.206 Er begann, Türküs in Clubs zu singen. Was er die Revolution207 vom 27. Mai 1960 nannte, öffnete den einheimischen Künstlern und Musikgruppen Tür und Tor. 208 lehnte Ruhi Sus Auftritte im Kasino Taksim ab und äußerte seine Traurigkeit. Ruhi Su kam mit seiner Saz in der Hand und setzte sich vor das Mikrofon. Er spielte und sang mit einer heldenhaften Stimme. Das war keine Stimme, die dorthin gehörte. Es war, als ob es nicht Ruhi Su gewesen wäre. Aus seinem Munde kam die Stimme eines ganzen Landes. Vor Nesins verschlossenen Augen kamen und gingen die Barfüßigen der Steppe, die Reisenden der endlosen Wege und die, die Sehnsucht nach der Heimat haben. Er sah einen Film; Böden ohne Bäume und Wasser ohne Erde, die Sehnsucht des Bodens nach dem Menschen, die tanzenden Bräute, Wege ohne Wiederkehr, unüberwindbare Berge, Ebenen ohne Pflanzen. Ruhi Sus traurige und laute Stimme, die ein ganzes Land trug, passte nicht in diesen verzierten Saal. Ruhi Su war allein, schwebte aber über uns allen.209 In einem Gespräch mit Aziz Nesin ließ Ruhi Su mit gewohnter Eleganz und Höflichkeit spüren, dass er die Meinung Aziz Nesins nicht teile. Wer seit Jahren die Gunst der Zuhörer suche, dürfe nicht wählerisch sein.210 Die Zeitung Akşam ließ am 24. Januar 1960 ihre Leser wissen, dass der Bassbariton der Staatsoper, Ruhi Su, im städtischen Kasino Taksim auftrete. Als Ruhi Su an das Mikrofon trat, schauten ihn die Zuschauer verwundert an, weil er Volksmusik ankündigte. Zunächst zeigten sie Unmut, doch als die Stimme des Künstlers ertönte, verstummten alle und hörten gespannt zu. Am Ende des Konzerts, stellten Zuhörer, die von Ruhi Sus Haft nicht wußten, die Frage, warum er nicht in der Oper singe.211

206 AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 18. 207 Die türkische Linke sah damals dieses Ereignis nicht als Putsch, sondern als eine Revolution. Es beinhaltete eine tiefgreifende Freiheit für die Linken. Deshalb wurde der Begriff der Revolution bevorzugt, auch von Ruhi Su, der seine Türküs nunmehr frei und ungezwungen singen konnte. 208 ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat Dergisi (1. Mai 1984). In: Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 25. 209 NESİN, Aziz:: Akşam (18. Jan. 1960). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 34. 210 NESİN, Aziz: Ruhi Su Türküleri, Bilim ve Sanat (Apr. 1986). In: Ebd.: 291-298. 211 Akşam (24 Jan. 1960): 3. In: Ebd.: 127. 63 Ruhi Su arbeitete in dieser Zeit auch in privaten Nachtclubs wie As, Reis 212 Merhaba, Kent, Karten und Kafkas um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Leider werden in den Äußerungen zu der Biographie Ruhi Sus seine Auftritte in den Nachtclubs nur kurz angesprochen. Bei Auftritten Ruhi Sus verloren die Nachtclubs ihren gewohnten leichten Unterhaltungscharakter, auch blieben die Gäste nicht die gewohnte Klientel, denn dieser Künstler zog viele Intellektuelle an.213 Auch Frau Müzehher Vâ-Nû bedauerte die notwendige Arbeit in den Clubs. Eines Abends gingen sie, Semih Balcıoğlu, İlhan Selçuk, Ferruh Doğan und Hıfzı Topuz zusammen in dem Kasino Taksim, um Ruhi Su zu hören. Sie erinnerte sich an eine Atmosphäre voller Geschirrlärm und Zigarettendunst. Natürlich übertönte die Stimme Ruhi Su alles andere, aber wo war die respektvolle Stille, die rauchfreie Luft, die ihm sonst in Versammlungen verschafft wurde? Sie verließ diesen Ort mit Bitterkeit.214 Sie konnte Ruhi Su nicht vergessen, wie er vor Jahren in den Wohnungen der Freunde gesungen hatte. Ruhi Su hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, der für das Spielen der Saz geeignet war. Die Freunde ließen ihre Teller und Gläser beiseite und hörten ihm still und mit Bewunderung zu.215 Der Schriftsteller Vedat Günyol erklärte den allmählichen Rückzug Ruhi Sus aus den Nachtsclubs, er habe dem heimtückischen Druck der sogenannten „heimatrettenden Löwen“ entgehen wollen.216 Der Militärputsch am 12. März 1971 brachte Ruhi Su das Auftrittsverbot. Ruhi Su traf sich mit Freunden in ihren Wohnungen und sang Türküs, montags bei Sabahattin Eyuboğlu, donnerstags bei Azra Erhat und manchmal bei Bertan Onaran.217 Von dem Gründer der Bau- und Kreditbank, Kâzım Taşkent, erhielt Ruhi Su das interessante Angebot, selbst einen Club zu eröffnen. Geschäfte aber waren nicht seine Welt. Er schlug die Offerte der Bank höflich ab. Doch wenn es die Bank wünsche, könne er die Musik der Gruppen, die jedes Jahr an dem von der Bank organisierten Volkstanzfestival teilnähmen, aufnehmen, in Notenschrift aufzeichnen und archivieren. Die Bank akzeptierte dieses Angebot, und für Ruhi Su begann eine fünfjahrige

212 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 5. Aug. 2008. 213 Vgl. ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi SU’ya Saygı (1986): 189. 214 Vgl. VÂ-NÛ, Müzehher: Bir Dönemin Tanıklığı, (Ort und Datum ohne Angabe): 139-140. 215 Ebd. 137. 216 GÜNYOL, Vedat: Ruhi Su bir söylencedir artık, Kitaplar (Nov. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 246.. 217 Aus dem Gespräch mit Ilgın Su vom 28. Juli 2007. 64 Archivierungszeit218. Gleichzeitig sang er auch weiterhin Türküs. Im Film “Der endlose Weg” (Bitmeyen Yol) 219 sang er ein Türkü von Serdari.220 Es endet mit der Frage,

Serdari, was soll aus uns werden? Serdari, halimiz böyle n’olacak? Der kurze Stock wird sich vom langen sein Recht holen. Kısa çöp, uzundan hakkın alacak.

Der Kolumnist Bedi Faik221 schrieb über Ruhi Su, er habe eine Stimme, die wie eine Kugel in die Ohren fliege und fragte die Unternehmer, wie sie jemanden unterstützen könnten, der gegen sie sei.222 Der Bankier Kazım Taşkent forderte Ruhi Su auf, alle Arbeitsmaterialien in der Bank einzusammeln und zu Hause zu arbeiten. Ruhi Su ließ aber seine Arbeitsmaterialien in der Bank und verließ sie. Später tauchte im Buchhandel ein Band von Sadi Yaver Ataman auf mit dem Titel 100 Türkische Volkstänze (100 Türk Halk Oyunu). Die Yapı Kredi Bank hatte ihn veröffentlicht. Er enthielt in Wirklichkeit die Arbeit Ruhi Sus. Ruhi Su verklagte die Bank. Ataman gab vor Gericht zu, dass der wahre Verfasser Ruhi Su war. Ruhi Su gewann den Prozess, verlangte aber keine Entschädigung. Er stellte jedoch die Bedingung, in der zweiten Auflage müsse der Titel unter seinem Namen erscheinen. Die Yapı Kredi Bank veröffentlichte jedoch das Buch kein zweites Mal. Erst 1988, drei Jahre nach Ruhi Sus Tod, wurde es mit Hilfe des damaligen Kulturministers, İstemihan Talay223, unter dem wahren Namen veröffentlicht.224 Seine Tätigkeit im städtischen Kasino Taksim sowie die Arbeit in der Kulturabteilung der Yapı Kredi Bank brachte vielleicht eine gewisse Erleichterung, jedoch dauerte diese nur einige Jahre. Er war nämlich eine gefährliche Person, weil er

218 Bertan Onaran klärte auf, mit wessen Hilfe Ruhi Su bei der Yapı Kredi Bank eine Arbeit fand. Osman Necmi Karaca, der ehemalige Kolumnist der Milliyet, bat Kazım Taşkent, Ruhi Su eine Anstellung im Bereich der Musik zu geben. Da er den Leidensweg Ruhi Sus kannte, verschaffte er ihm einen weiteren Job in dem noblen Nachtclub „As Kulüp“, dessen Betreiber Erdem Buri war, der Freund der Sängerin Tülay Germans, die sich mit Ruhi Sus Ermunterung der Volksmusik zugewand hatte. 219 Regie führte Duygu Sağıroğlu und in den Hauptrollen spielten Fikret Hakan und Selma Güneri. Darin wird der Überlebenskampf von sechs Freunden aus der Provinz in den 1960er Jahren der Türkei erzählt. 220 Serdari (1834-1918) war ein Volksdichter aus Şarkışla-Sivas. 221 Bedi Faik war der Hauptkolumnist der Dünya. Er wurde in den 50er Jahren durch seinen harten oppositionellen Kampf gegen die Demokratische Partei bekannt und verfolgte nach der Wahl Süleyman Demirels 1965 die Linie der Partei der Gerechtigkeit (Adalet Partisi). Vgl. http://tr.wikipedia.org/viki/Bedii_Faik_ Akın. 222 In den Wahlen vom 1965 erlangte die Partei AP mit Süleyman Demirel an ihrer Spitze 52%, in den Wahlen vom 1969 48% und wurde somit zur allein regierenden Partei. 223 Sıdıka Su, gefragt, wie es sein könnte, dass ein Kulturminister den Druck eines Buches von Ruhi Su unterstütze, antwortete, dass der Onkel İstemihan Talays ein Dorfinstitutler und begeisterter Hörer Ruhi Sus war. Ansonsten habe sich weder die Haltung der Regierung, noch die des Staates gegenüber Ruhi Su geändert. Das gezeigte Interesse sei rein persönlicher Natur gewesen. 224 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 18-19. 65 Türküs auf ungewöhnliche Art und mit nicht willkommenen Inhalten vortrug und gewisse Leute damit beunruhigte.225

225 ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi SU’ya Saygı (1986): 188-189. 66 2.13 Die ersten Schallplattenaufnahmen Im Jahr 1964 stellte Sabahattin Eyuboğlu Ruhi Su den Gedanken vor, Schallplatten aufzunehmen. Er sammelte in den Montagstreffen, die in seiner Wohnung stattfanden, von allem Geld ein und sorgte dafür, dass Ruhi Su seine ersten 45er Schallplatten veröffentlichen konnte. Insgesamt entstanden unter dem Label İmece Plak226 sechzehn im Viererpack zusammengestellte 45er Platten.227 Die nicht mit Verfasser gekennzeichneten Lieder sind anonyme Volkslieder. Die Türküs, die Ruhi Su auf diesen Platten singt, sind:

1A – „Der Avşar-Stamm machte sich auf den Weg“ (Kalktı Göç Eyledi Avşar Elleri), Dadaloğlu 1B – „Die jungen Pflanzen von Niksar“ (Niksar’ın Fidanları) 2A – „Heyamol“ (Heyamol) 2B – „Die Brücke Drama“ (Drama Köprüsü) 3A- „Die Heldensage von Köroğlu“ (Köroğlu Yiğitlemesi) 3B – „Kocabey“ (Kocabey) 4A – „Die Schwäne“ (Akkuğular), Karacaoğlan 4B – „Die Geliebte kommt“ (O Yâr Gelir), ein Tanzlied (Bir Halay) 5A – „Säugling“ (Bebek) 5B – „Urfani“ (Urfani) 6A – „Sie weckten uns, während wir schliefen“ (Uyuriken Uyardılar), Pir Sultan Abdal 6B – „Wieder geriet ich in ein sonderbares Gefühl“ (Yine Bir Gariplik Düştü Serime), Kul Halil 7A – “Elif” (Elif), Karacaoğlan 7B - „Mantıvar“ (Mantıvar) 8A – „Myrte vor ihrer Haustür“ (Evlerinin Önü Mersin) 8B – „Das lila Schaf“ (Mor Koyun) 9A – „Meine gelbe Saz“ (Sarı Tamburam), Pir Sultan Abdal 9B – „Alevitisches Lied“ (Nefes), Muhyi 10A– „Die Türkü von der Ansiedlung“ (İskân Türküsü), Dedemoğlu

226 İmece bedeutet im engsten Sinne das “Miteinander und Füreinander”. Auch Sabahattin Eyuboğlu glaubt, dass diese alte Tradition in Anatolien seit den Hethitern besteht. Imece ist nach ihm ein Zusammenschluß der Arbeiter, die durch das Singen einer Türkü ihre Arbeit mit Freude machen. Vgl. BAŞARAN, Mehmet: Sabahatin Eyuboğlu ve Köy Enstitüleri (1990): 108. 227 Aus dem Interwiev mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 67 10B– „Hier dieses Land“ (Ha Bu Diyar) 11A– „Das Märchen aller Märchen“ (Masalların Masalı), Nâzım Hikmet 11B – „Aus dem Befreiungskriegsepos“ (Kurtuluş Savaşı Destanı’ndan), Nâzım Hikmet 12A– „Stern am Himmel“ (Gökte Yıldız) 12B– „Ein Tanzlied“ (Bir Oyun Havası) 13A– „Die Berge von Erzurum“ (Erzurum Dağları) 13B– „Das Gedicht von einem Floh“ (Pireli Şiir), Orhan Veli 14A– „Heute das Licht des Mondes“ (Bugün Ayın Işığı) 14B– „Aus der Tanne tropft Harz wie Mastix“ (Çamdan Sakız Akıyor) 15A– „Der junge Osman“ (Genç Osman) 15B– „Hätte ich doch bloß nur einen Sohn“ (Bir Oğlum Olsa) 16A– „Unsere Müllmänner in Deutschland“ (Almanya’da Çöpçülerimiz), Fazıl Hüsnü Dağlarca 16B– „Eingangsformel“ (Tekerleme), Levni

Zu den ersten beiden Schallplattenausgaben brachte er eine Broschüre heraus. In ihr wurden alle Türküs ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt und mit ihrer Geschichte abgedruckt, sodass sich die Leser und Zuhörer einen Eindruck von den Türküs machen konnten.228 Im Jahre 1961 veranstalteten unter der Leitung von Sabahattin Eyuboğlu Yıldız Kenter, Müşfik Kenter, Genco Erkal, Kamuran Yüce, Çiğdem Selışık, Sadri Alışık, Çolpan İlhan und Şükran Güngör einen Vortragsabend mit dem Titel „İmece. Ein Liederabend voller Sterne” (Yıldızlı Bir Türküler Gecesi) Das Ziel war, Ruhi Su mit seinen Zuhörern zusammenzubringen und für seine zu veröffentlichenden Lieder eine finanzielle Hilfe zu erlangen. Es war das erste Mal nach langen Haftjahren, dass er wieder vor ein Publikum trat.229 Bei dieser Gelegenheit hat Ruhi Su die anatolischen Volksklassiker wie Karacaoğlan, Yunus Emre, Pir Sultan und Köroğlu, die heute aus dem kulturellen Leben nicht mehr wegzudenken sind, unter seinem Firmennamen İmece neu aufgenommen und interpretiert. Viele Schallplatten konnten nur entstehen, weil seine Freunde aus Solidarität Geld zur Verfügung stellten.

228 Siehe SU, Ruhi: Türküler İmecesi, Beiheft zu İmece Plakları I und II (1967). 229 Vgl. YEZDANİ: İpek: Interview mit Sıdıka Su, Cumhuriyet Hafta (11. Feb. 2000) und EYUBOĞLU, Sabahattin: Yıldızlı Bir Türküler Gecesi, İmece 3, (Mai 1961): 452-462. In: ERHAT, Azra (Hrsg.): Sabahattin Eyuboğlu - Bütün Yazıları I (1981): 321-324. 68 2.14 Die Sicht der putschenden Militärs auf Ruhi Su und wie Ruhi Su sie sah Am 27. Mai 1960 ergriffen junge Offiziere die Macht ohne Anordnung der vorgesetzten Generäle. Diese Bewegung brachte der türkischen Gesellschaft eine Öffnung zur Demokratie und auch zu Linken.230 Der Putsch unterschied sich von den Putschen vom 12. März 1971 und 12. September 1980: Er entsprang einer Verbindung von Militärs, Intellektuellen und Studenten gegen die Regierung, wogegen die anderen Putsche im Sinne der Regierungen agierten.231 Ruhi Su fand Raum für seine künstlerische und politische Arbeit, als im Jahre 1961 eine neue Verfassung eingeführt wurde und Ansätze zur demokratischen Ordnung entstanden, so die Einrichtung von Arbeiterrechten und die Gründung von Gewerkschaften und linken Parteien.232 Diese Freiheit war jedoch nicht von langer Dauer, denn die Linken, zu denen auch Ruhi Su gehörte, gerieten durch die beiden Putsche von 1971 und 1980 in große Bedrängnis. Wie viele andere Intellektuelle, unter ihnen Aziz Nesin, Yılmaz Güney, Melih Cevdet Anday, Fazıl Hüsnü Dağlarca, Nevzat Üstün, Hasan Ali Ediz, Nevzat Hatko, Rıza Nur und Turhan Selçuk wurde auch Ruhi Su 1971 unter Polizeigewahrsam genommen,233 verhört und verlor die Grundlage seine Auftritte. Als linker Künstler galt er ständig als verdächtig und Unruhestifter. Das Jahr 1980 brachte ihm dann erneut einen solchen Verlust. Wie das Militär Ruhi Su betrachtete, wird aus einem Artikel deutlich, der in der Zeitung Cumhuriyet vom 12. September 2000 erschien. Am 12. September 1980 wurde die staatliche Radio- und Fernsehanstalt (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu, TRT) von einem General mit seinen Soldaten besetzt. Heldenlieder und Märsche von Hasan Mutlucan wurden gesendet. Vom Generalstab kam ein Anruf, wer denn Ruhi Su singen lasse. Der General Servet Bilgi holte seine Waffe heraus und richtete sie auf die angeblich Schuldigen der Sendung. Er hatte sich freilich verhört. Nicht Ruhi Su war

230 BELLİ, Sevim: Boşuna mı Çiğnedik? (2006): 451. 231Vgl. AREN, Sadun: Puslu Camın Arkasından (2006): 93. Weiterführend siehe CEM, İsmail: Türkiye’de Geri Kalmışlığın Tarihi (1979): 369-374; AKŞİN, Sina: Kısa Türkiye Tarihi (2011): 265-273; KONGAR, Emre: Tarihimizle Yüzleşmek (2006): 196-203; GEVGİLİLİ, Ali: Yükseliş ve Düşüş (1987): 155-177. ÖYMEN, Örsan: Bir İhtilal Daha Var (1986): 261-284; ORTAYLI, İlber: Türkiye’nin Yakın Tarihi (2010):111-120 sowie AYDEMİR, Şevket Süreyya: Menderes!in Dramı (1969). 232Siehe oben Kap. 2.6.2. 233 Vgl. URGAN, Mina: Bir Dinozorun Anıları (1998): 298 sowie ALKAN, Türker: Aydınlarını hapseden toplum barbardır, Radikal vom 25. Aug.1998. In: http://www.radikal.com.tr/1998/08/25/yazarlar/turalk.html. Abgerufen am 4. Apr. 2001 69 gespielt worden, sondern Hasan Mutlucan, ein im Grunde unverzichtbarer Sänger patriotischer Lieder.234 Umgekehrt wird Ruhi Sus Sicht auf das Militär aus einer Episode deutlich. Auf die Einladung der Türkischen Lehrervereinigung (Türkiye Öğretmenler Birliği, TÖB- DER) fuhr er am 17. April 1978, dem 38. Jahrestag der Gründung der Dorfinstitute, nach Adapazarı zu einem Konzert. Nach diesem setzte er sich mit dem Vorstand der Lehrervereinigung zusammen. Ein Mann kam in den Raum, stellte sich als Offizier vor und fragte, ob die Bastarde in der Regierung bald verschwinden würden.235 Ruhi Su entgegnete mit distanzierter Stimme, dass er es nicht wissen könne. Als der Offizier den Raum verließ, steckte er Ruhi Su einen Zettel in die Brusttasche. Ruhi Su zerriss den Zettel und erklärte,

Ihr seid noch jung. Glaubt bloß nicht, das Militär sei revolutionär. Wenn wir jetzt hinausgehen und bei einer Militärkontrolle dieser Zettel in meiner Tasche gefunden wird, wird man mich eines Komplotts beschuldigen und einfach verhaften.236

Ruhi Su wusste sehr genau, dass Nâzım Hikmet mit einem ähnlichen Trick verhaftet worden war.237

234 Vgl. TÜRKER, Şule: Darbecilerın Ruhi Su Allerjisi. In: http://arsiv.sabah.com.tr/2001/05/02/g12.htm. Abgerufen am 5. Apr. 2011. 235 Gemeint ist hier die damals regierende Nationale Front (Milliyetçi Cephe) unter Ministerpräsident Demirel. In den Jahren 1975 und 1977 bildeten die rechtsorientierten Parteien Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi, AP), Nationale Heilspartei (Milli Selamet Partisi, MSP) und Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) eine Regierung, um die linksorientierte Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) zu hindern, erneut an die Macht zu kommen. 236 Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan vom 27. Sep. 2010 in İstanbul. 237 Über die Haft von 15 Jahren Nâzım Hikmets vgl. AYDEMİR, Aydın: Nâzım (1986): 212-225 und A. Kadir: 1938 Harp Okulu Olayı ve Nâzım Hikmet (1993). 70 2.15 Ruhi Su im Ausland In seinem gesamten Leben erhielt Ruhi Su nur im Jahr 1977 einen Reisepass. Diesen bekam er mit Hilfe von Ahmet İsvans, des damaligen Bürgermeisters der Stadt İstanbul und Mustafa Necdet Uğurs, des damaligen Innenministers.238 Wie jeder andere Künstler wollte auch er, dass seine Stimme im Ausland bekannt würde. Deutschland, Holland, Großbritannien, Schweden und Frankreich waren die ersten Stationen, an denen er mit Begeisterung empfangen wurde und wo er seine Stimme bekannt machte. 239 Im März des Jahres 1981 flog er auf eine Einladung des türkischen Arbeitervereins für ein Konzert nach Sydney. Das australische Fernsehen erarbeitete vom ersten Tag an an eine Dokumentation über sein Leben, Schaffen und Stellung im Volk. Am Flughafen hatte man ihn bereits mit einer unvorstellbaren Liebe und Zuneigung empfangen. Die Menschenmenge aus einfachen Männern, Frauen und Kindern, Jungen und Alten trug ihn auf Schultern. In der halbstündigen Dokumentation wird deutlich, wie diszipliniert und genau er arbeitete und wie viel Respekt er der Arbeit zollte. Umgekehrt waren der ihm entgegengebrachte Respekt und die Zuneigung von größter Bedeutung für ihn.240

238 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 20. 239 Vgl. HIZLAN, Doğan im Gespräch mit Ruhi Su: Çoksesliliğe Götüren Her Çabayı Saygı ile Karşılıyorum, Cumhuriyet (28. Apr.1979). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985) 138. 240 Siehe Television Program: The Musik of Ruhi Su, Cinetel Productions Sydney (28. - 29. Mai 1981).

71 2.16 Ruhi Sus letztes Konzert im Februar 1983 Ruhi Sus letztes Konzert fand zu Ehren der Apdi-İpekçi241-Friedens-und- Freundschaftswoche für die türkisch-griechische Freundschaft am 6. Februar 1983 im „Istanbuler Şan Theater” (Şan Tiyatrosu) statt. Er durfte seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 in der Türkei nicht auftreten, deswegen hatten er und seine Zuhörer große Sehnsucht nach dem Konzert. Ob er überhaupt würde auftreten können, war bis zum letzten Augenblick unsicher. Unter den Zuhörern brach großer Applaus aus, noch bevor der Moderator ansagen konnte, dass Ruhi Su auftreten werde. Es gibt einen anrührenden Bericht von diesem Konzert. Auf der riesigen Bühne des Şan Theaters stand Ruhi Su, seine Saz in der Hand. Der Applaus wollte nicht enden. Dabei hatte er weder ein Wort gesagt noch die Saiten seiner Saz berührt. Er stand da, schaute auf die klatschenden Hände, in die Gesichter, verbeugte sich und wartete. Aber es war, als wolle der Applaus nie enden. Schließlich sah er, dass die begeisterten Menschen so schnell nicht aufgeben würden. Dann griff er zu seinem Instrument. In diesem Augenblick hielten Tausende Menschen den Atem an. Die Menschen im Saal gaben ihrer Sehnsucht, Begeisterung und Entbehrung sowohl mit der Intensität des Applauses als auch der eintretenden Stille Ausdruck. Die starke Stimme, die

Dies ist unser Land, Bu memleket bizim, Dies ist unseres, Herzensfreunde. Bizim dostlar. sang, wurde zu ihrer Stimme.242 Ruhi Su, der sein erstes Konzert am 14. Juli 1944 im Volkshaus Ankara unter dem Titel “Türkü Resitali” gegeben hatte, konnte nach dem Konzert am 6. Februar 1983 wegen seiner Krankheit nie wieder vor Zuschauern spielen. Nur eine schwere Krankheit konnte ihn abhalten zu singen. Diese Einstellung hatte er schon 1981 deutlich gemacht, als er in einem Interview mit einem Fernsehsender bekannte:

241 Abdi İpekçi (1929-1979) war der Chefredakteur der Milliyet. Er wurde am 1. Februar 1979 von dem Rechtsextremisten Mehmet Ali Ağca erschossen. Ağca hat zwei Jahre später im Jahre 1981 auf dem Petersplatz in Rom auf den Papst geschossen. İpekçi warb in seinen Artikeln für Demokratie und Menschenrechte. Besonders trat er für die Aussöhnung von Griechen und Türken ein. Auf eine griechische Initiative hin wurde kurz nach İpekçis Tod der Abdi-İpekçi-Preis initiiert, der Personen und Nichtregierungsorganisationen ehrt, die sich für den Frieden und die Völkerverständigung zwischen der Türkei und Griechenland einsetzen. 242 ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1.Mai 1984). In: DİNÇER, Mekin (Hrg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 203. 72 Ich bin immer sehr zufrieden, wenn ich Türküs singe. Ich fühle mich erst dann lebendig, wenn ich singe. Also, Türküs nicht singen zu können, kommt mir vor, als ob ich am Ende sei.243

243 Siehe Television Program: The Musik of Ruhi Su, Cinetel Productions Sydney (28. - 29. Mai 1981). 73 2.17 Ruhi Sus Krankheit Im Mai 1984 sprach Ruhi Su davon, er sei seit einigen Monaten schwerfälliger geworden und könne auch beim Sazspielen seinen Fingern die gewünschte Rhythmik und Beweglichkeit nicht mehr geben. Er habe das Gefühl des Altwerdens.244 Eine medizinische Untersuchung ergab zunächst den Befund, er habe Parkinson. Eine erneute Untersuchung wollte Gicht im Nacken festgestellt haben. Erst nach einer Biopsie stand die Diagnose endgültig fest: Er hatte Prostatakrebs im fortgeschrittenen Stadium.245 In diesem Jahr verschlechterte sich seine gesundheitliche Situation zusehens. Er wurde schnell müde. Vielleicht hoffte er deshalb so sehnsüchtig, dass sein Buch “Singendes Herz” (Ezgili Yürek) so schnell wie möglich erschien. Das Buch war jetzt sein Leben; es war eine Form seiner Kunst; eine andere Form des Türküsingens. Er zeigte sein Manuskript seinen Freunden, ebenso, wie er seinen Freunden die Türküs vorgetragen hatte und ihre Meinung eingeholt hatte, bevor er eine Schallplatte herausbrachte.246 Schließlich erschien noch zu seinen Lebzeiten das lang ersehnte Buch, das seine Gedichte, Liedertexte, Schriften über die Musik, ein Resümee über sein Leben und Wirken sowie Gesprächsaufzeichnungen zum Inhalt hat. Neben seinem musikalischen Schaffens ist dies die einzige Quelle, die in Buchform erschienen ist. Prof. Dr. Klaus Liebe- Harkort (Universität Bremen) reiste in die Türkei und besuchte den Freund Ruhi Su. Als er zurück kam, organisierte er über den befreundeten Dr. Lotze eine medizinische Betreuung in für Ruhi Su. Dr. Lotze, ein Psychiater in Berlin, war ein Bewunderer Ruhi Sus. Als er von dessen Krankheit hörte, schrieb er ihm einen Brief, in dem er anbot, ihn in Berlin zu behandeln zu lassen. Die türkischen Behörden stellten Ruhi Su Hindernisse in den Weg; sie behaupteten, Ruhi Su habe keinen Antrag auf einen neuen Reisepass gestellt und daher sei ihm die Ausreise nicht gestattet. In den Medien machten türkische Intellektuelle wie Atilla Özkırımlı, Mustafa Ekmekçi, Uğur Mumcu und Şükran Ketenci auf dieses Fehlverhalten aufmerksam. Auch im Ausland fand Ruhi Su Unterstützung. So startete Hüseyin Erdem eine Unterschriftenaktion für eine Einreise Ruhi Sus nach Deutschland. Auf der Liste finden sich die Unterschriften von Günther Grass, Heinrich Böll, Ingeborg Drewitz, Siegfried

244 ORAL. Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1.Mai 1984). In: SU, Ruhi, Ezgili Yürek (1985): 183-184. 245 Aus dem Interview mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 246 Vgl. ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su, Cumhuriyet Siyaset 85 (29. Sept. 1985). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 186. 74 Lenz, Wolf Biermann und Günther Wallraff. Ruhi Su bedankte sich bei den Unterzeichnern in einem Brief vom 8.4.1984:

Ich kenne keinen anderen Zustand, der stolzer macht, als die Einsicht, dass man auf dieser Welt nicht allein ist.247

Die Liste wurde an das Türkische Kulturministerium gesandt mit der Bitte, Ruhi Su so schnell wie möglich die Ausreise zu erlauben. Eine Kopie des Schreibens erhielt auch Ruhi Su. Die Behörden blieben ablehnend, ob er nun todkrank war oder nicht. In einem Gespräch über die Probleme bei der Ein- und Ausreise in die Türkei erklärte Ruhi Su ihre hinhaltende Taktik gegenüber den Linken, insbesondere denen von 1951: “Sie vergessen alle, nur uns nicht.”248 Schließlich wurde ihm ein neuer Reisepass mit einer einmaligen Ausreisegenehmigung ausgestellt. Aber es war zu spät. Er starb am 20. September 1985 in İstanbul. Diese einem alten Künstler zugefügte Schande haftet, wie İsmail Cem 249 ausführt, bis heute auf dem Gewissen der türkischen Gesellschaft.

247 Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 58. 248 Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006 in Köln. 249 CEM, İsmail: Ruhi Su ve Bir Anı, Güneş (22. Sept. 1985). İn: DİNÇER, Mekin (Hrg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 160. 75 2.18 Ruhi Sus Beerdigung am 20. September 1985 in İstanbul Nach dem Trauergottesdienst in der Şişli Moschee wurde der Sarg mit dem Leichnam von der Trauergemeinde in einem langen Trauerzug zum Zincirlikuyu Friedhof getragen. Der Andrang in die Moschee war groß. Viele Freunde waren anwesend, wie auch sehr zahlreiche Menschen aus der Umgebung. Seit dem Militärputsch von 1980 war es die größte Menschenansammlung im Land, obwohl die Regierung kurz nach dem Putsch Versammlungen größerer Art verboten hatte. Es herrschte eine hohe Polizeipräsenz. Je zahlreicher die Ansammlung wurde, desto strikter wurden die Anweisungen der Polizei, die schließlich in vielen Verhaftungen endeten. Das Verhalten der Polizei provozierte die Menschen so sehr, dass die Trauerfeier sich zu einem Protest gegen die Staatsmacht wandelte. Einige Stimmen seien zitiert: „Bei der Beerdigung von Ruhi Su kamen nach einer langen Zeit wieder zum ersten Mal Trauer, Freude, Versammlung und Demonstration zusammen.“250 „Es war, als ob in dieser Trauerfeier Freude und Leid ineinander übergingen. Jeder sprach vom Glanz dieser Feier.“ 251 Der Satiriker Aziz Nesin sagte in seiner Grabesrede über Ruhi Su und seinen Tod: „Wir haben einen wertvollen Menschen verloren: Eine schöne Stimme, ein schönes Werk, ein menschliches Herz. Wir erbten von ihm Unvergängliches, Werte, die überdauern werden. Wie einst der Dichter Şeyh Galip zu seinem Zeitgenossen Nefi sagte: ‚Schade, dass du durch ein unfruchtbares Tal gerannt bist’, ist Ruhi Su auch in der Wüste der unfähigen Regierungen verloren gegangen.“252 „In der Trauergemeinde waren alle Freunde beisammen, aus allen Generationen, aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Es war eine Ansammlung, die sich durch Liebe und Respekt auszeichnete.“253 Die Zeitungen sprachen in ihren Schlagzeilen davon, dass man ihn auch in seiner letzten Stunde nicht in Ruhe gelassen habe. Das Fernsehen meldete seinen Tod nur knapp und schwieg anschließend. Anscheinend war jemand wegen der Nachricht zu Rechenschaft gezogen worden. Weder wurden eines oder zwei seiner Lieder noch Abschnitte aus seinen Konzerten gespielt.254

250 KÜÇÜK, Yalçın: Yüzünde Hep Sazının Tellerinin Titreşimlerini Gördüm, Aydın Üzerine Tezler 4. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 289. 251 EKMEKÇİ, Mustafa: Bir Düş Gibi, Cumhuriyet (25.Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 173. 252 NESİN, Aziz: Die Abschiedsrede am Grab von Ruhi Su. In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.): Blüte in Volksliedern (1985): 32. 253 HEKİMOĞLU, Müşerref: İyi ki Geldin ve Gitmedin, Cumhuriyet (26. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 181. 254 KEMAL, Mehmed: Ruhi Su için, Cumhuriyet (26. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 178. 76 Seine Gegner, die Zeit seines Lebens ihm keine Ruhe gaben, versuchten nach seinem Tod sogar sein Grab zu schänden. Auf Ruhi Sus Grabstätte in Zincirlikuyu war 1988 ein Denkmal gesetzt worden. Ein schlimmer Angriff erfolgte am 10. Juli 2009, über den die Tageszeitung Milliyet berichtet. Als die Attentäter das 40cm große und aus Glas bestehende Denkmal nicht hatten zerstören können, verwüsteten sie es mit einem Schuss.255

255 EZBER, Elvan: Ruhi Su ve eşinin mezarına saldırı, Milliyet (10. Juli 2009): 1, 4. 77 3. Gedenken an Ruhi Su 3.1 Die Ruhi Su-Kultur- und Kunststiftung in İstanbul Um das Andenken an Ruhi Sus Person und seine Stimme nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und um seine Ideen weiterzuentwickeln und an die jüngere Generation zu vermitteln, gründeten Sıdıka Su und Ilgın Su 1997 in İstanbul „Die Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung”. (Ruhi Su Kültür ve Sanat Vakfı).256 Die Stiftung versuchte bis zum Tod von Frau Su im Jahre 2006 seine Person durch verschiedene Aktivitäten wie Chorauftritte, Vorträge und Lesungen sowie der Produktion von CDs und Büchern in der Öffentlichkeit lebendig zu halten. Die Stiftung war in ihrer Arbeit sehr engagiert. Jedoch wurde sie am 26. Februar 2010 wegen bürokratischer Hindernisse und mangelnder Finanzierung geschlossen.257 Die Stiftung publizierte zwei Bände, zunächst „Ruhi Sus Lieder“ (Ruhi Su Türküleri) wo man alle veröffentlichten Liedertexte findet, herausgegeben 2000 von Karabey Aydoğan. Dann „Auch Ruhi Su durch die Welt gegangen“ (Bir de Ruhi Su Geçti). Dieser Band herausgegeben von Füsun Akatlı, 2001, enthält Bilder, den Lebenslauf und eine von der Herausgeberin veranstaltete Auswahl von Artikeln über Ruhi Su. Einige Veranstaltungen der Stiftung sollen erwähnt werden: Konzert am 4. Juni 1999 mit Cem Karaca, Uğur Dikmen, Perihan Solak und Karabey Aydoğan in Harbiye / İstanbul. Bilderausstellung, 9. - 25. 2000 im Atatürk Kulturzentrum / İstanbul. Ruhi Su Konzertabend, „Türküler İmecesi“, 27. November 2000 mit Özgür Ürem Can, Devrim Can, Ufuk Karakoç, Tuncer Tarcan, Ömer Yılmaz und Hasan Yükselir im Atatürk Kulturzentrum / İstanbul. Ruhi Su Konzertabend, 26. November 2001 mit der Gruppe „Üç Deniz“ und Sabahat Akkiraz im Atatürk Kulturzentrum / İstanbul. In allen Veranstaltungen der Stiftung nahm “Der Ruhi Su Chor der Freunde” (Ruhi Su Dostlar Korosu) mit Ruhi Sus Liedern teil. 258

256 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 257 Vgl. http://www.odatv.com/n.php?n=ruhi-su-vakfi-neden-kapandi-1305101200. Abgerufen am 21. Feb. 2010. 258 Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 112-115. 78 3.2 Der Förderverein der „Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung e.V.“ in Oberhausen Im Jahre 2000 kamen in Oberhausen Arbeiter, Lehrer und Studenten aus der Türkei zusammen und gründeten den „Förderverein der Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung e.V.“, um die Ideen Ruhi Sus weiterzutragen, die Stiftung in İstanbul finanziell zu unterstützen und die Kultur der in Deutschland lebenden Landsleute zu fördern.259 Diese Menschen sollen Ruhi Su als eine wichtige Persönlichkeit ihrer Kultur kennenlernen und seine Ideen weitertragen. Der Verein will ein engeres Zusammenrücken der Türken in Deutschland ermöglichen, damit sie ihre Kultur und Geschichte besser kennenlernen. Durch einen Chor, Konzerte und Ausstellungen soll das soziale Miteinander gestärkt werden. Die folgende Auswahl gibt einen Überblick über Veranstaltungen des Fördervereins:

04.02.2000 Eröffnungsfeier 27.02.2000 Gedenkfeier zu Ehren der Künstlerin Sümeyra 09.04.2000 Diskussionsveranstaltung zum Thema „Ruhi Su und die Volkslieder“ 19.11.2000 Eine Hommage an Ruhi Su 29.04.2001 Freundschafts- und Solidaritätsabend 09.07.2002 Gedenkfeier zu Ehren Nâzım Hikmets 20.04 - 02.07.2002 Gemäldeausstellung türkischer Künstler in Deutschland 14.11.2004 Erinnerungen an Ruhi Su und Sümeyra 04.11. – 09.12.2007 Gemäldeausstellung Gönül Şen-Menzel 26.04.2009 Eine Hommage an Ruhi Su. 25.04.2010 und 11.03.2011 Konzerte

Die Künstler stellten der Gemäldeausstellungen einen Teil ihres Honorars der Stiftung in İstanbul zur Verfügung. Mit der Auflösung der Stiftung verlor der Förderverein in Deutschland einen Teil seiner ursprünglichen Aufgaben und konzentrierte sich, wie oben angedeutet, auf kulturelle Ziele in Deutschland. Die neue Zielrichtung spiegelt sich in der Namensänderung zu einem „Verein zur Förderung des Lebenswerks Ruhi Su e.V.“.

259 Siehe Evrensel Avrupa vom 22. Jan. 2000 und vom 10. Feb. 2000 und Hürriyet Avrupa vom 18. Feb. 2000. 79 Durch die Zusammenarbeit mit dem Verein „Alevitische Gemeinde Alt- Oberhausen und Umgebung e.V.“ wurde im Jahr 2008 ein Chor gegründet, welcher „ Chor der Freundschaft“ (Dostluk Korosu) benannt wurde. Es wird verstärkt mit Ruhi Sus Türküs gearbeitet. Es ist von Bedeutung, dass die in Oberhausen und Umgebung lebenden jungen Menschen Ruhi Su, seine Kunst und Vortragsart kennenlernen. Seine Musik wird offensichtlich über die Jahrzehnte noch geliebt; daran ändert auch nichts, dass seine Stimme in den staatlichen Medien nicht mehr erklingt: für viele Menschen bleibt sie dennoch hörbar auf seinen Schallplatten und in den Konzerten im-In- und Ausland wie den „Hommagen an Ruhi Su“, welche von einer großen Ehrerbietung geprägt waren.

80 4. Ruhi Su und die Kulturpolitik Mustafa Kemals 4.1 Mustafa Kemals Reform der Bildungsinstitutionen Am 24. Juli 1923 wurde im Vertrag von Lausanne die Regierung in Ankara von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Mustafa Kemal rief am 29. Oktober 1923 die Türkische Republik aus. Am 24. November 1934 wurde ihm von der Großen Nationalversammlung der Nachname Atatürk verliehen. Folgerichtig wird hier von seiner Politik vor diesem Tag als derjenigen Mustafa Kemals gesprochen und von den späteren Politik als derjenigen Atatürks. Er vollbrachte in kürzester Zeit Reformen, die das Land in politischer sowie sozialer Hinsicht radikal verändern sollten:260 Er begann nur wenige Monate nach der Republikgründung mit der Abschaffung des Kalifats (3. März 1924). Auch die Bildungsreform gehörte zu den zentralen Bereichen der Neuordnung. Er brachte folgende Reformen zügig auf den Weg:

- Die Vereinheitlichung des Erziehungssystems (3. März 1924) - Die Einführung der lateinischen Schrift (1. November 1928) - Die Gründung des Institutes für türkische Sprache und Geschichte (1931 - 1932) - Die Regelung der Universitätsausbildung (31. Mai 1933)

Hinzu kamen für unser Thema ausschlaggebende Neuerungen auf dem Gebiet der Schönen Künste und Musik, welche, wie unten ausgeführt, den Idealvorstellungen Atatürks entsprechen sollten.261

260 Vgl. KOÇAK, Cemil: Siyasal Tarih 1923-1950. In: AKŞİN, Sina (Hrsg): Türkiye Tarihi 4, Çağdaş Türkiye 1908-1980 (1989): 111-113. Die Nationalversammlung verabschiedete am 3. März 1924, am gleichen Tag, an dem das Kalifat abgeschafft wurde, das Gesetz zur Vereinheitlichung des Erziehungssystems (Tevhid-i Tedrisat Kanunu). Demnach wurden alle Schulen an das Ministerium für Bildung und Erziehung gebunden. Die Nationalversammlung beschloss am 30. November 1925 die Schließung der Derwischklöster. Am 17. Februar 1926 wurde das Zivilrecht nach Schweizer Vorbild und am 1. März das Strafrecht nach italienischem Recht verabschiedet. Der 2. große Parteitag der CHF(Cumhuriyet Halk Fırkası) beschloss, die Staatsangelegenheiten von der Religion zu trennen. Zum ersten Mal wurde der Begriff „Laizismus“ eingeführt. Der in der Verfassung von 1924 enthaltene Artikel, der Islam sei die Staatsreligion, wurde 1928 durch einen Gesetzeserlass aufgehoben. Im selben Jahr wurden die lateinische Schrift eingeführt, und die arabischen Schriftzeichen abgeschafft. Am 3. April 1930 wurde den Frauen das aktive und passive Wahlrecht bei lokalen Wahlen zugesprochen. Am 5. Dezember 1934 wurde das Gesetz verabschiedet, das den Frauen das Recht gab, sich zu Abgeordneten wählen zu lassen. In den Generalwahlen von 1938 wurden 18 Frauen zu Abgeordneten gewählt. Vgl. ADANIR, Fikret: Geschichte der Republik Türkei (1995): 36-38. 261 Das Verhältnis Atatürks zur Musik wurde von Falih Rıfkı Atay in einem Satz zusammengefasst: „Die Musik, die er liebte, war Alaturka, aber er glaubte an die westliche Klassik.“ Nach KREISER, Klaus: Atatürk. Eine Biografie (2008): 200. 81 4.2 Atatürks Musikpolitik Bei ihrer Gründung sah die Republik sich mit einem schwierigen Problem konfrontiert: Die neue Staatsform erforderte eine neue Identität. Der Bruch mit der osmanischen Identität, welche neben anderem auch die kulturellen Äußerungen umfasste, war unumgänglich und schloss den Bruch mit der osmanischen Musik ein. Ziya Gökalp plädierte für eine Synthese der alten anatolischen Volksmusik mit einer neuen, modernen, die auf ihre Vorbilder im Westen sah. Da die türkische Volksmusik der türkischen Kultur und die westliche Musik zu der neuen, angestrebten Zivilisation gehörten, würden beide musikalische Strömungen für die Türken gleich annehmbar. Deshalb würde die türkische nationale Musik durch die Integration (Verbindung) der türkischen Volksmusik und westlichen Musik entstehen.262 Der Maler und Karikaturist Zahir Güvemli (1913 - 2004) äußert sich über die Übereinstimmung zwischen Ziya Gökalp und Ruhi Su: „Die durchaus richtige Vorstellung Ziya Gökalps darüber, dass man die traditionelle Volksmusik mit der westlichen Technik wiedergeben sollte, fiel bei Ruhi Su auf fruchtbarem Boden.263 In den Augen des Gründers der Republik widersprach die höfische Musik einer modernen westlichen Orientierung. Er hielt sie für eintönig; außerdem diente sie nicht als Träger der türkischen Kultur. Die Volksmusik hingegen gibt die eigentliche Kultur der Bevölkerung wieder. Aber auch sie ist qualitativ unzureichend. Man soll dem Volk daher etwas Neues bieten. Die Volksmusik muss mit der hoch entwickelten westlichen Musik verbunden werden.264 Der Wille Mustafa Kemals zur Erneuerung äußerte sich bei einem Konzert. Er ging vom 9. auf den 10. August 1928 in den Gülhane Park (Sarayburnu), um nach der Ankündigung der Schriftreform das angebotene Konzertprogramm zu hören. Zuerst trat ein europäisches Orchester auf, dann eine ägyptische Sängerin und zum Schluss eine türkische Kammermusikgruppe (incesaz) aus Instrumentalisten und Chorsängern. Mustafa Kemal gefiel eine Arie aus „“, darauf bat er die Ägypterin MÙnÐra al MahdÐyya um ein arabisches Lied, das er seit seiner Stationierung in Syrien gut kannte.

262 GÖKALP, Ziya: Türkçülüğün Esasları (1987): 127-128. Gökalp kennzeichnete die Kultur als national und die Zivilisation als international. Nach Atatürk hingegen gab es nur eine Kultur. Sie war ein gemeinsames Produkt der Menschheit und zeigte sich zur damaligen Zeit im West-Europa. Diese Ansicht Atatürks war auch ein Grund, aus dem er eine westliche Gesellschaft schaffen wollte. Vgl. KONGAR, Emre: Atatürk Üzerine (1983): 69-76. 263 Vgl. GÜVEMLİ, Zahir: Tercüman (31. Juli 1962). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 45. 264 Vgl. SOLMAZ, Metin: Türkiye’de Pop Müzik (1996): 21-22. 82 Von ihrem Programmbeitrag war Mustafa Kemal wenig begeistert. Er soll sich um zwei Uhr morgens verärgert über die amateurhafte Darbietung in seine Sommerresidenz zurückgezogen haben.265 Er kommentierte nach dem Konzert, dass die orientalische Musik in keiner Weise den wissbegierigen türkischen Geist und seine Gefühle erfüllt. Erst als die Musik der zivilisierten westlichen Welt gespielt wurde, ist das Volk erwacht. Alle haben getanzt und sind fröhlich gewesen, wie es ihrer Natur entspricht. Wenn diese Eigenschaft des Volkes bis heute nicht entdeckt worden ist, ist es nicht dessen Schuld.266 Für ihn war der künstlerische Gehalt nicht ausschlaggebend. Er maß der Stimmung einen höheren Stellenwert zu. Eine lethargische und traurige Stimmung war für ihn ein Symptom der osmanischen Musik und daher für seine Republik unbrauchbar. Zur westlichen Musik dagegen tanzten Frauen und Männer gleichzeitig. Diese Zurschaustellung der Gleichberechtigung von Frau und Mann hielt Mustafa Kemal für entscheidend.267 Seine Auffassung von Musik wollte er der türkischen Nation nahe bringen. Deshalb schickte er viele junge und talentierte Studenten nach Europa, welche die westliche Musik lernen und später in der Türkei ausüben und lehren sollten.268 Er ersetzte den Begriff der „Orientalischen Musik“ durch „Byzantinische Musik“, wie er dem deutschen Journalisten Emil Ludwig darlegte: „Dies alles sind Überbleibsel der Byzantiner. Unsere wirkliche Musik hören Sie aus dem Mund der anatolischen Bevölkerung. Unter „Byzantinischer Musik“ verstand er die Musik des osmanischen Hofs. 269 Seine ablehnende Haltung gegenüber der Traditionellen Kunstmusik wurde 1934 vom damaligen Innenminister Şükrü Kaya unreflektiert übernommen und führte zu einer vollständigen Verbannung der Kunstmusik im Radio zwischen 1934 und 1936. Dieses Verbot wurde erst durch eine Anordnung Atatürks aufgehoben.“270

265 Nach KREISER, Klaus: Atatürk-Eine Biographie (2008): 202. 266 Nach SAYGUN, Ahmet Adnan: Atatürk ve Musiki (1981): 6. 267 Ebd. 7-8. 268 Siehe unten Kap. 5.3. 269 Vgl. Demeç ve Söylevler: Vossische Zeitung muhabirine demeç, Cilt 3, (21-24 / 3 / 1930): 89. In: SAYGUN, Adnan: Atatürk ve Musiki (1981): 9-10.. 270 Vgl. KREISER, Klaus: Atatürk-Eine Biographie (2008): 202. Es bestand freilich ein deutlicher Widerspruch: Atatürk liebte für seine Person und im privaten Kreis die traditionelle Kunstmusik sehr, lehnte sie aber für das türkische Volk ab. An einem solchen Musikabend warf ein Freund ihm vor „Du belehrst das Volk, tust aber das Gegenteil.“ Atatürk entgegnete: „Muss die Regierung überall im Land Kneipen eröffnen, nur weil wir hier Rakı trinken? Vgl. ATAMAN, Sadi Yaver: Atatürk ve Türk Musikisi (1991). In: SOLMAZ, Metin: Türkiye’de Pop Müzik (1996): 23-24. Das Verhältnis Atatürks zur Musik wurde von Falih Rıfkı Atay in einem Satz zusammengefasst: „Die Musik, die er liebte, war Alaturka, aber er glaubte an die westliche Klassik.“ Nach KREISER, Klaus: Atatürk. Eine Biografie (2008): 200. 83 Es ging ihm darum, dass man eine türkische Musik schaffe, welche die türkischen Melodien mit westlichem Wissen, westlicher Technik, Orchestern und Instrumenten vereint. Er wollte, wie die Russen es mit ihrer eigenen Musik getan hatten, die türkische Musik international machen.271 Atatürk forderte die Errichtung eines staatlichen Musikkonservatoriums (Devlet Musiki Konservatuvarı). Man entschloss sich, ausländische Fachleute heranzuziehen. Im Frühjahr 1935 fand man einen geeigneten Experten, den deutschen Musiker und Komponisten Paul Hindemith. Dieser kam zuerst 1935 nach Ankara, danach (bis 1937) noch dreimal, jeweils nur für kürzere Zeit. Während Hindemith die Musikabteilung des geplanten Konservatoriums einrichtete, baute Carl Ebert die Theaterabteilung (Schauspiel und Oper) auf.272 Diese beiden Namen charakterisieren auch das musische Klima, welches Ruhi Su vorfand. Atatürk erstrebte im Grunde eine modernistisch technokratische Erneuerung nach westlichem Muster. Die Ideologie des Kemalismus blieb freilich weitgehend auf die neu geschaffenen Eliten des Landes beschränkt. Dies führte zu einer Sonderentwicklung, weil die traditionalistischen Gruppierungen nicht einbezogen wurden. Die Regierung verfolgte eine typische Kulturpolitik des „Von oben herab.“

Ein früher reformatorischer Schritt durch den Beschluß des Bildungsministerium war die Schließung des Faches Traditionelle Kunstmusik im Jahre 1926 an der Hochschule DÁr-ül ElḥÁn, welches viel später 1943 in den städtischen Konservatorium neu eingerichtet wurde. Erst in der Mitte der 70er Jahren wurde das Fach richtig gefördert. Vgl. PAÇACI, Tunçay Gönül: Müzikte Yasak Olur mu? In: ALKAN, Mehmet Ö.; BORA, Tanıl; KORALTÜRK, Murat (Hrsg.): Mete Tunçay’a Armağan, (2007): 651-661. 271 Vgl. ZOBU, Vasfi Rıza: Yanlış Anladılar, Görüşler ve Hatıralarla Atatürk, İstanbul Üniversitesi Tıp Fakültesi Talebe Cemiyeti Yayınları, İstanbul (1962): 41. Vgl. In: Boğaziçi Üniversitesi (Hrsg.): Atatürk Devrimleri İdeolojisinin Türk Müzik Kültürüne Doğrudan ve Dolaylı Etkileri (2007): 44-45. 272 WIDMANN, Horst: WIDMANN, Horst: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach (1933 (1973): 135. 84 4.3 Die Sicht Ruhi Sus auf Atatürk und seine Musikreform Ruhi Su bezeichnet sich selbst als einen Künstler, der in die Hinwendung der türkischen Gesellschaft zu einer neuen und fortschrittlichen Kultur geboren wurde.273 Wie beurteilt er demnach die Musikpolitik der Republik, die ihm eine künstlerische Ausbildung ermöglicht hatte? Verschiedene Interviews zu diesem Thema zeigen deutlich seine Vorstellungen. Ruhi Su führte im März 1982 (sinngemäß wiedergegeben) aus, dass in der kemalistischen Zeit sowie in der Phase des Einparteiensystems eine richtige Musikpolitik verfolgt wurde, dass diese jedoch in der Übergangszeit zum Mehrparteiensystem ihre Konsequenz aufgegeben habe. In der Musik, wie auch in anderen Bereichen, war nunmehr jeder mit sich selbst beschäftigt, und er beklagte, dass einige Schlauköpfe eine ausschließlich dem Profit dienende Musikindustrie gegründet hatten. Das Volk wurde manipuliert, es gab kein ernsthaftes staatliches Bemühen um eine bessere Musik und deshalb wandte sich das Volk einer Musik zu, die es und seine Alltagsprobleme am leichtesten, wenn auch nur oberflächlich, ansprach.274 Ruhi Su gab somit Anhaltspunkte, warum sich die Arabesk- Musik275 ausbreiten konnte und benannte die Gründe, weshalb die westliche Musik in der Türkei nicht gut verstanden wurde:

In den westlichen Ländern sehen die Konservatorien das Lehren und die Weiterentwicklung der eigenen Musik als ihre Aufgabe an. Bei uns jedoch blieb es bis in die letzten Jahre nur beim Erlernen der westlichen Musik und ihrer Darbietung. Diese Praxis kritisiere ich nicht. Sicherlich ist es förderlich, eine fortschrittliche Musik zu erlernen. Andererseits hätten wir nicht vergessen dürfen, dass wir bedeutende Komponisten haben, die unsere Musik voranbringen wollen. Aber wir haben weder die Voraussetzungen geschaffen, um diese Komponisten unserem Volk nahe zu bringen, noch haben wir uns Gedanken gemacht, wie unsere Musik weiterzuentwickeln sei.276

Er unterstrich weiterhin, dass die Weiterentwicklung der Musik eines Landes nicht nur von den Komponisten abhängt, sondern dass die Entwicklung der vortragenden Künstler eine ebenso wichtige Stellung einnimmt. Außerdem hat sich die westliche Musik nicht plötzlich entwickelt, sondern ist mit der westlichen

273 SU, Ruhi im Gespräch mit SÜMER, Seçkin: Ruhi Su ile Söyleşi, Politika (4. Nov.1976). In: Ezgili Yürek (1985): 118. 274 SU, Ruhi im Gespräch mit KUTLAR, Onat: „Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır“, Gösteri 16 (März 1982). In: Ezgili Yürek (1985): 158-164. 275 Siehe unten Kap. 5.3. 276 Ebd. 161. 85 wisschenschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung einhergegangen. Die Entwicklung der Wissenschaft, der Kunst und der Technik bringt eine gleichzeitige Hebung des Kulturniveaus eines Volkes mit sich. Im Kulturniveau unseres Volkes liegt unsere Schwierigkeit. Wenn man solche Entwicklungen beiseite lässt, reicht der bloße Wunsch nach Veränderung nicht aus.277 Wenn es um das alte Problem geht, die Musik von der Einstimmigkeit in die Mehrstimmigkeit zu überführen, nimmt Ruhi Su einen festen Standpunkt ein. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass die Musik neue Dimensionen durch die Mehrstimmigkeit gewinnen wird. Mehrstimmigkeit entwickelt sich nicht von selbst, sondern durch neu erlangte Erkenntnisse der Gesellschaft. Die mehrstimmige Musik ist eine Sache der Kultur. Sie kann nur verstanden und zum Leben gebracht werden, wenn ein bestimmtes kulturelles Niveau erreicht wird. Der Gedanke ist irrig, mit einer altbekannten Melodie oder mit dem Harmonisieren der Türküs einen leichten Übergang zur Mehrstimmigkeit zu schaffen. Die harmonisierten Türküs wirkten jedoch sehr befremdlich. Nach Aziz Nesin (den er nicht namentlich nennt) sehen sie aus wie übereinander gelegte Bilder. Der Bruch mit dem Altbewährten ist deutlich schwieriger als die Gewöhnung an etwas Neues. Das Volk ist noch nicht fähig, mehrstimmige Musik zu akzeptieren und zu lieben. 278 Mehrstimmigkeit ist nur zu erlangen, wenn man solche Musik ständig hört und sich an sie gewöhnt.279 Aus diesem Grund machte er mit dem “Chor der Freunde” (Dostlar Korosu) den Versuch, vorsichtig zwei Stimmen einzusetzen, eine etwas höher gelegte Frauenstimme und eine etwas tiefer gelegte Männerstimme. Ruhi Su beklagt zudem die unzureichend wissenschaftliche Methode Türküs zu sammeln, die dazu noch nicht sachgerecht archiviert werden. Der Zugang zu ihnen ist im allgemeinen unmöglich:

Unter Sammeln der Türküs wird nichts anderes verstanden, als sie aufzustapeln und zu deponieren. Schlimmer noch, man ist vorgegangen, als würden verbotene Bücher eingesammelt und hat sie irgendwo aufbewahrt. Keiner, außer gewissen Personen, weiß, welche Türküs jetzt wo sind. Angeblich sollte der Degeneration der Lieder entgegen gewirkt werden. Als ob es nicht in der Natur der Türküs liegt, sich mit der Zeit zu verändern und neu zu entstehen. Sie sind kein Tabu. Gehen Sie einmal an der Berliner Universität am Institut

277 Ebd. 160. 278 SU Ruhi im Gespräch mit DURA, Süheyla: Ruhi Su ile Bir Görüşme, Süreç 2, 6, (April-Juni1981). In: Ezgili Yürek (1985): 149-150. Hierzu vgl. DOĞRUEL, Fulya: Çok Sesli Müziğe Giriş ve Türk Halk Müziği, Halk Bilimi 3 (1997): 15-24. 279 SU, Ruhi im Gespräch mit BALKIR, Kerim: “Devrimci Müzik, Müziğimizin Çoksesliliğe Gitmesi Sorunudur”, Tavır (April 1980): In: Ezgli Yürek (1985): 147. 86 für Folklore vorbei. Sie können Kopien der Türküs aus jeder möglichen Region der Türkei erhalten. Jeder darf dort recherchieren.280

Ruhi Su faßt die unübersehbaren Mängel der staatlichen Kulturpolitik zusammen: Man ist nach einem reformatorischen Anfang einer falschen Einstellung gefolgt und hat sowohl in der Volksmusik als auch in der traditionellen Kunstmusik eine konservative Haltung eingenommen. Diese Haltung reicht für die Modernisierung nicht aus, denn man hat die Tradition nur weiter geführt, statt sie zu entwickeln, 281 nicht zuletzt aus Furcht vor den Folgen der anfänglichen Neuerungen. 282 Ruhi Su, so wird deutlich, hatte den autoritären kulturreformatorischen Atatürk von dem nationalen Befreier Mustafa Kemal zu unterscheiden gelernt. Ruhi Su unterstützte von Beginn an den Befreiungskampf Mustafa Kemals und er war sich mit dem Dichter Nâzım Hikmet einig in der Verehrung Mustafa Kemals als eines Antiimperialisten. Die politische Linie der TKP war gleich. Beide Künstler sahen den Befreiungskampf und Mustafa Kemal wie die Partei. Sehr eindrucksvoll und Zeichen von Ruhi Sus Begeisterung ist seine Vertonung von Hikmets Gedicht über den Befreiungskrieg von 1919 „Die große Offensive” (Büyük Taarruz)283, aus dem das entscheidende und symbolische Bild Mustafa Kemals zitiert wird:

… Er sah aus wie ein blonder Wolf Und seine blauen Augen funkelten und funkelten, Er lief bis an den Abgrund, Beugte sich vor und blieb stehen. Wenn man ihn ließe, Würde er mit seinen schlanken Beinen federnd, Und wie eine nächtliche Sternschnuppe fliegend, Von Kocatepe in die Ebene von Afyon springen.284

280 Ebd. 150. 281 SU, Ruhi im Gespräch mit BERKMAN, Bülent: Halk Müziğinde Şimdiye Değin Geleneği Geliştirici Çalışmalar Yerine, Geleneği Sürdürücü Çalışmalar Yeğlendi, Milliyet Sanat 40 (Jan. 1982). In: Ezgili Yürek (1985): 153. 282 SU, Ruhi im Gespräch mit KUTLAR, Onat: „Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır“, Gösteri 16 (März 1982). In: Ebd. 162. 283 Für das vollständige Gedicht siehe unten Kap. 9.1.5. Vgl. auch den II. Kongress der Komintern im Jahre 1920. Er thematisierte die nationale Befreiungskriege und das Problem der Nationen. Seine Beschlüsse lauteten, dass die Kolonien und Halbkolonien beim Kampf gegen die imperialistischen westlichen Industrieländer nicht allein gelassen werden dürften und mit Waffen und Geld unterstützt werden sollten. 284 Vgl. KRAFT, Gisela: Nâzım Hikmet, Bleib dran, Löwe! (1984): 109. 87 An anderer Stelle, in dem Ankaramarsch,285 wird Mustafa Kemal als Gazi286 Kemal aufgefordert aufzuwachen und der Nation den rechten Weg zur Freiheit zu zeigen.

Erwache, erwache, Gazi Kemal, Uyan da bak, Gazi Kemal, Schau dir unser Schicksal an. Başımıza gelen işe...... Du hast uns gezeigt, mein Paşa, Sen gösterdin, Paşam bize, Den rechten Weg. an solchen Tagen Böyle günde doğru yolu.287

Ruhi Su hat dieses Gedicht und die schon vorhandene Melodie zu Lebzeiten öffentlich vorgetragen.288 So trug er mit viel Leidenschaft diesen Marsch 1977 in einem Konzert im Kadıköy Theater in İstanbul vor,289 der nicht länger ein Preislied auf Atatürk war, sondern unter geänderten politischen Verhältnissen als eine an den frühen Helden des Befreiungskampfs Gazi Kemal gerichtete Klage zu verstehen war. Zuvor sprach er über ihn und forderte die Zuschauer auf mitzusingen:

Türküs, wisst ihr ja, leben wie Lebewesen weiter, indem sie sich den neuen Zeiten und ihren Realitäten anpassen. Lasst uns das Türkü, „Siehe den Stein von Ankara” (Ankara’nın Taşına Bak) wie eine alte Erinnerung singen.290

285 Boratav bezeichnet diesen Marsch als den ersten Nationalmarsch des anatolischen Befreiungskampfes. Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Kurtuluş Savaşı Yıllarının Bir Anısı İçinde Nâzım Hikmet, Sosyal Adalet 12, (März 1965). In: BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat1 (1982): 406-410. 286 Unter dem Begriff „Gazi“ verstehen die linken Patrioten die Person Atatürks vor der Anerkennung des türkischen Staates im Jahre 1923 in Lausanne, als er noch als volkstümlich, antiimperialistisch und sogar als Freund der Sowjetunion galt. Für den Schriftsteller Atilla Ilhan (1925-2005) bedeutet „Gazi” ein tapferer Führer unterdrückter Nationen. Vgl. AKYOL, Taha: Ama Hangi Atatürk (2008): 549. 287 Es ist ein während des Befreiungskrieges entstandenes anonymes Lied. In der Originalfassung ist das Land von der Alliierten besetzt und es setzt Hoffnung auf Mustafa Kemal als den Befreier. Das Lied erzählt am Ende von dem Sieg über die Feinde und deren Vertreibung. In der Version Ruhi Sus findet sich das Land nach Jahren erneut in einer schlechten, diesmal wirtschaftlichen und politischen, Lage. Es sehnt sich nach Mustafa Kemal als den Retter. Dieses Lied mit der Originalstimme Ruhi Sus wurde auch nach seinem Tode gespielt aus Protest gegen die damalige Regierung und in Solidarität mit den Reformen Atatürks, insbesondere mit dem Laizismus, in den Kundgebungen in Ankara vom 14. April 2007, in İstanbul vom 29. April 2007 und in İzmir vom 13. Mai 2007, sowie auch in vielen anderen Städten. Das Besondere an diesen Protestmärschen war, dass sie hauptsächlich von Frauen organisiert wurden und so im Gegensatz zum Frauenbild der regierenden AKP standen. Anlass war die Bekanntgabe der AKP, Außenminister Abdullah Gül werde für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren. 288 Vgl. Sıdıka Sus Information auf der Musikkassette “Sieh den Stein von Ankara” (Ankara’nın Taşına Bak). 289 Aus dem Gespräch mit Bertan Onaran vom 23. September 2010 in İstanbul. 290 Vgl. Die CD “Sieh den Stein von Ankara” (Ankara’nın Taşına Bak), die am 20. September 1992 anlässlich des 7. Todestags von Ruhi Su herausgebracht wurde. Die Volkslieder in der Türkei haben einen wichtigen Stellenwert in dem Kampf, eine gerechtere Welt zu schaffen. Ruhi Sus Anteil ist sehr groß. Ein von ihm gesungenes einfaches Liebeslied gilt sogar als geschützt vor dem Gebrauch durch die Rechten. Kein Reaktionärer wagte es, dieses Lied zu instrumentalisieren. Diese Tatsache war Ruhi Su, dem 88 Mit “einer alten Erinnerung” meint Ruhi Su den von Gazi Mustafa Kemal geführten Befreiungskampf. Der Name Gazi Kemal steht für den Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit, also für Zustände, die sich Ruhi Su zurück wünschte. Der Zwist zwischen Linken und Rechten sowie die Abhängigkeit vom Ausland machten das Leben im Land sehr schwer und ließen jegliches Selbstwertgefühl der Menschen schwinden, ein Selbstwertgefühl, das Gazi Kemal dem Land nach jahrhundertelanger osmanischer Herrschaft vermittelt hatte. Deshalb wurde er von der TKP verehrt und seine antiimperialistische Seite hervorgehoben. Ruhi Su bildete keine Ausnahme.

aufrichtigen Intellektuellen, bewußt. Auch von ihm gesungene Märsche erhielten einen anderen Wert und galten als tabuisiert für die rechten Kräfte. Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 31. Aug. 2011 in Köln.

89 4.4 Ruhi Su als Schüler deutscher Emigranten Die junge türkische Republik begann die Universitätsreform mit der Kritik an der alten Universität Dar-ül fünun in İstanbul.291 Eine zentrale Rolle sowohl in İstanbul als auch in Ankara spielte dabei die Umgestaltung nach westlichem Muster, welche durch die Mitarbeit vieler Emigranten entscheidend geprägt wurde. Musiker und Wissenschaftler mussten unter schwierigen Umständen aus Deutschland in die Türkei emigrieren und leisteten einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung der türkischen Reformbewegungen in den Jahren nach 1933. Ruhi Su, der mit drei Freunden292 zum Fach Oper zugelassen wurde, drückt seine Genugtuung über diese glückliche Fügung folgendermaßen aus:

Uns haben weltberühmte Künstler wie Paul Hindemith und Carl Ebert, pädagogische Liedersänger wie Paul Lohmann, Stimmlehrer wie (Hans) Hey, (Max) Klein, (Friedel ) Silberknopf-Böhm, Aranci Lombardi und Korrepetitoren wie (Georg) Markowitz ausgebildet. Ich kann behaupten, dass die Zeit zwischen 1937-1945 eine Glanzzeit der Oper war. 1942 waren wir die ersten Absolventen.293

Während Hindemith in den Jahren 1935 und 1937 die Musikabteilung des geplanten Konservatoriums einrichtete, baute Carl Ebert im Jahre 1939 das Schauspiel und die Oper auf.294 Hindemith wurde der entscheidende Einfluss auf Ruhi Su. Hindemith betont, dass der Wert eines Volksliedes nicht nur in dem musikalischen Eindruck liegt, sondern in den Empfindungen, die durch volkliche, landschaftliche und zeitliche Beziehungen im Sänger erweckt werden. Diese können den türkischen Schülern nicht mit fremden Volksliedern übermittelt werden. Das Liedgut für den Schulunterricht ist daher den herrlichen Schätzen der alten kräftigen türkischen Volksmusik zu entnehmen.295 Ruhi Su führte die Forderungen Hindemiths fort, auch er griff die Kritik an der Reformfähigkeit der bisherigen Musikausbildung auf und sah die Notwendigkeit einer

291 Vgl. Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933 (1972): 42. 292 Es handelt sich um Mesude Çağlayan, Rabia Erler und Süleyman Güler. 293 SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ile Türküler Üzerine, Günümüzde Kitaplar 15 (März 1985). In: Ezgili Yürek (1985): 186. Ruhi Su zitiert nur die hier angegebenen Nachnamen. Für die Vornamen vgl. Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933 (1972): 260. 294 Vgl. Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe, Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933 (1972): 136. 295 Zu Hindemiths Vorschlägen vgl. ZIMMERMANN-KALYONCU, Cornelia: Deutsche Musiker in der Türkei im 20. Jahrhundert (1985): 34-35. 90 Veränderung der Musik und der Bearbeitung nach neuen musikalischen Regeln. Ganz im Sinn seines Lehrers sammelte Ruhi Su musikalisches Volksgut und bearbeitete es entsprechend. Aus der Synthese von westlicher Gesangstechnik und traditionellem türkischen Musikgut entwickelte er eine neuartige Musikrichtung, die hier als Volkskunstmusik definiert wird, und überwand die bis dahin als unüberbrückenbar geltende Kluft zwischen der hohen und der niederen Musik. Für die intellektuellen Musikkreise galt die Volksmusik nämlich als rückständig. Sie zogen osmanische traditionelle, als hochstehend empfundene Musik vor. Ruhi Su gelang es aber durch seine Volkskunstmusik, dieser modernen Variante der Volksmusik Anerkennung insbesondere in intellektuellen Kreisen zu verschaffen.296 Ruhi Su war es um die Stärkung und Verfeinerung der nationalen (beileibe nicht nationalistischen) türkischen Musik zu tun.

296 Vgl. SELÇUK, İlhan: Cumhuriyet (18. Jan. 1968). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 50-51 und SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 13-14. 91 4.5 Die Dorfinstitute Wenn die Dorfinstitute heute noch ein großes Echo haben, ist das ein Zeichen dafür, dass diese Einrichtung einen eminent politischen, wenn auch umstrittenen Charakter hatte. Sie verschwand nie aus den Köpfen vieler Intellektueller und gilt heute noch als ein Modell für fortschrittliche demokratische Bildung.297 Die parallelen kulturpolitischen Ziele des Gründers der Dorfinstitute, des Pädagogen İsmail Hakkı Tonguç (1897-1960) und des Künstlers Ruhi Su werden später eingehend dargestellt.298 Zunächst soll die kurze Geschichte der Institute beleuchtet werden. Die Dorfinstitute wurden am 17. April 1940 offiziell in der Türkei als umfassende Bildungs- und Erziehungseinrichtung für die Landbevölkerung eingeführt. İsmail Hakkı Tonguç arbeitete von 1936 bis 1946 als Generaldirektor für die Grundschulausbildung im Erziehungsministerium und entwickelte gemeinsam mit seinem Förderer, dem damaligen Erziehungsminister Hasan Ali Yücel, Alternativen zur traditionellen Volks- schulerziehung.299 Diese war sehr eingeschränkt, denn für die Kinder der Dorfbewohner, die 80% der Gesamtbevölkerung ausmachten, gab es keine Möglichkeit der Schulbildung. Ziel der Dorfinstitute war es, die breite Masse der Landbevölkerung aus ihrer Unwissenheit herauszuführen, sie zu aktivieren und am politischen Geschehen der jungen Republik zu beteiligen; das heißt, ihre Alphabetisierung voranzutreiben, gezielt landwirtschaftliche und handwerkliche Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, geeignete Dorflehrer300 auszubilden und mehr Demokratieverständnis sowie politisches

297 In Ankara wurde „Die Stiftung Dorfinstitute und Zeitgenössische Bildung“ (Köy Enstitüleri ve Çağdaş Eğitim Vakfı) gegründet und in İzmir eine Parallele mit der Bezeichnung „Verein der Dorfinstitutler der Neuen Generation“ (Yeni Kuşak Köy EnstitülülerDerneği). 298 Siehe unten Kap. 4.5.2. 299 Nach GROSCH, Harald: Die Dorfinstitute in der Türkei (1985): 64. Aus der reichen Literatur zu Dorfinstitute siehe TONGUÇ, İsmail Hakkı: İş ve Meslek Eğitimi (1974); BAŞARAN, Mehmet: Özgürleşme Eylemi: Köy Enstitüleri (1990); SAKAOĞLU, Necdet: Cumhuriyet Dönemi Eğitim Tarihi (1993); ESENDAL, Fethi: Yalnız Kalanlar (1983); APAYDIN, Talip: Köy Enstitüsü Yıları (1983); ARMAN, Hürrem: Piramidin Tabanı (1969); TONGUÇ, İsmail Hakkı: Köyde Eğitim (1997); ÖZKUCUR, Abdullah: Köy Enstitüleri Destanı (1985); YALMAN, Ahmet Emin: Yarını Türkiyesine Seyahat (1998); TONGUÇ, İsmail Hakkı: Eğitim Yoluyla CAnlandırılacak Köy (1998); BAŞARAN, Mehmet: Tonguç Yolu (1974); AYDOĞAN, Mustafa: Köy Eğitim Sistemi Köy Enstitüleri (2006); ÖZKUCUR, Abdullah: Hasanoğlan Yüksek Köy Enstitüsü (1990); TONGUÇ, İsmail Hakkı: Mektuplarla Köy Enstitüsü Yılları (1990); KEPENEK, Mehmet (Hrsg.): Basında Köy Enstitüleri I und II (2001) sowie Yeni Toplum: Kuruluşunun 36. Yılında Köy Enstitüleri Özel Sayısı (Apr. 1976). 300Das Leben der Lehrer in abgelegenen Dörfern war nicht einfach. Vor dieser Reform stammten die Dorflehrer aus der städtischen Bevölkerung und kamen mit den neuen Umständen sehr schlecht zurecht, was dazu führte, dass sie schnell ihren Posten aufgaben. Die Lehrer in den Dorfinstituten wurden jedoch aus den Dörfern selbst rekrutiert, sodass sie mit den schlechten Lebensbedingungen vertraut waren. 92 Bewusstsein in die Dörfer zu tragen. Mit diesen Maßnahmen sollten die bis dahin kaum veränderten Eigentums- und Produktionsverhältnisse radikal verändert werden.301 Die Einrichtung der Institute stand vor ungeheuren Schwierigkeiten, denn von 40.000 Dörfern hatten 35.000 keine Schulen. Lediglich 8% der Männer und 4 % der Frauen waren keine Analphabeten in der 1928 eingeführten Lateinschrift. In der Ost- und Südost-Türkei lagen die Zahlen bei 1-2%. In manchen Gebieten sogar bei 0 Prozent302 Dieser Notstand war für die Republik Anlass Maßnahmen zu ergreifen. Der vorherige Erziehungsminister Saffet Arıkan ernannte İsmail Hakkı Tonguç, der zu jener Zeit an der Pädagogischen Hochschule in Ankara als Dozent im Fach Kunst arbeitete, 1935 zum Generaldirektor der Primarpädagogik. Das Dorferzieher-Projekt begann im Jahr 1936. Viele, die ihren Wehrdienst als Gefreiter oder Unteroffizier beendeten, wurden in Zusammenarbeit von Landwirtschaftsministerium und Erziehungsministerium zu Dorferziehern ausgebildet. Sie lernten in Mahmudiye/Eskişehir auf einem staatlichen Bauernhof mit den technischen Möglichkeiten der Landwirtschaft umzugehen. Durch die selbstständige Produktion vor Ort wurde die finanzielle Belastung für den Staat gering gehalten. Dieses Projekt, welches den eigentlichen Dorfinstituten vorausging, wurde sehr erfolgreich, so dass in den Jahren 1937 bis 1938 ein nahtloser Übergang zu der Gründung der Dorfinstitute gelang. Am 17. April 1940 wurde das Gesetz303 zur Einrichtung der Dorfinstitute verabschiedet. Insgesamt 21 Dorfinstitute wurden in der ganzen Türkei eingerichtet, die sich alle zu kleinen Musterdörfern entwickelten. Die Schülerzahl stieg von rund 1500 im Jahr 1940 auf über 15.000 im Jahr 1945.304 Die Dorfinstitute waren nicht nur eine Mobilmachung gegen den Analphabetismus, sondern auch soziale Chancengleichheit wurde zum ersten Mal in den Dorfinstituten ermöglicht. Die Ausbildung war kostenlos. Es herrschte kein rezitierendes Lernen, sondern das Lernen war an der Produktion orientiert, am Prinzip der Selbsttätigkeit und an der Arbeit mit Hand und Kopf. Die Ausbildung in den Dorfinstituten schloss an die fünfjährige Volksschule an und dauerte ebenfalls fünf Jahre. Die Schüler hatten 44 Wochenstunden Unterricht, zur Hälfte in allgemeinbildenden und zu jeweils einem Viertel in landwirtschaftlichen und technischen Fächern. Jedes

301 Nach KESKİN, Hakkı: Die Türkei, vom Osmanischen Reich zum Nationalstadt (Keine Angabe zum Erscheinungsjahr): 103. 302 KANALICI, Zeliha: 21. Yüzyılın Eğitim Sistemi Köy Enstitüleri Uygulaması Olacaktır. In: Heft des Vereins der Gedanken Atatürks in Belgien (Belçika Atatürkçü Düşünce Derneği - BADD) Bülteni (2002): 22-23. 303 Das Dorfinstitutsgesetz Nummer 3803. 304 GEDİKOĞLU, Şevket: In: GROSCH, Harald: Die Dorfinstitute in der Türkei (1985): 64. 93 Dorfinstitut besaß eigene Werkstätten, Felder, Gärten, Vieh und Geflügel; es versorgte und finanzierte sich selbst. So gab das Dorfinstitut Impulse für die dörfliche Entwicklung.305 Die Schüler zwischen dreizehn und achtzehn Jahren bauten die Gebäude der Dorfinstitute und der Wohnheime selbst. Hilfe erhielten sie für bestimmte Zeit von den Erwachsenen des Dorfes. Das Prinzip des İmece, der wechselseitigen Hilfe, war ohnehin der Dorfgemeinschaft vertraut. Nachbarn halfen Nachbarn bei der Ernte, unterstützten Frauen, deren Männer beim Militär dienten, oder Witwen, die den Ernährer der Familie verloren hatten. Aus eigener Kraft baute die Dorfgemeinschaft einen Brunnen oder sogar eine Moschee. An den Wochenendversammlungen trafen sich alle Beteiligten, vom Schulleiter über die Lehrer, die Meisterhandwerker, die Köche bis hin zu den Schülern, um ein Resümee der Wochenarbeit zu ziehen. Hier hatten alle die Möglichkeit Kritik und Selbstkritik zu üben. Es gab keine Prügelstrafe. Gewalt wurde bestraft. Ausgebildete Schüler, die den Lehrerberuf ergriffen, verpflichteten sich für zwanzig Jahre.306 Die Dorfinstitute waren auch die kulturellen und künstlerischen Zentren ihrer Region. Jeder Schüler lernte ein Musikinstrument zu spielen. Die Mandoline war das beliebteste Instrument. Geige, Akkordeon oder Saz zählten auch zu den bevorzugten Instrumenten. Volkstänze waren ebenfalls ein fester Bestandteil der kulturellen Ausbildung. Darüber hinaus inszenierten die Schüler Theaterstücke und führten diese auf, unter anderem Stücke von Moliere und Shakespeare.307 Hinzu kam der glückliche Einfluss der in den Instituten zusammengestellten Bibliotheken. Viele, heute berühmte Schriftsteller waren Schüler aus Dorfinstituten. Persönlichkeiten wie Fakir Baykurt, Talip Apaydın, Mahmut Makal, Mehmet Başaran, Abdullah Özkucur, Dursun Akçam, Behzat Ay, Yusuf Ziya Bahadınlı, Adnan Binyazar, Kemal Burkay, Ümit Kaftancıoğlu, Hasan Kıyafet, Osman Şahin, Şevket Yücel, Mevlüt Koca, Ali Yüce und andere gehören zu dieser Gruppe. Die ins Türkische übersetzten Klassiker der Weltliteratur haben in ihnen die Begeisterung für das Lesen geweckt. Das Dorfinstitut hat sie Schriftsteller werden lassen. Durch sie wurde das türkische Dorf und seine Bewohner ein zentrales Thema der Literatur. Auf die Initiative des damaligen Erziehungsministers Hasan Ali Yücel hin entstand ein staatliches Übersetzungsbüro, das 1940 mit der Arbeit begann. Es wurden selbst lateinische und altgriechische Werke ins Türkische übersetzt.

305Aus dem Gespräch mit Abdullah Özkucur am 20. Juli 2005 in Ankara. 306Aus dem Gespräch mit Abdullah Özkucur am 6. Aug. 2009 in Ankara. 307 Vgl. MAKAL, Mahmut: Köy Enstitülerinde Tiyatro Çalışmaları, Halk Bilimi 3 (1997): 46-49. 94 Neben Sabahattin Eyüboğlu, Nurullah Ataç, Sabahattin Ali haben auch Azra Erhat, Orhan Veli, Melih Cevdet Anday, Oktay Rifat, Vedat Günyol, Necati Cumalı, Suut Kemal Yetkin, Bedreddin Tuncel, Yaşar Nabi Nayır, Lütfi Ay, Cahit Sıtkı Tarancı und Erol Güney dort gearbeitet. Das Übersetzungsbüro führte seine Arbeit bis 1966 fort. In dieser Zeit wurden mehr als eintausend Werke übersetzt und vom Erziehungsministerium veröffentlicht. Diese ins Türkische übersetzten Bücher der Weltliteratur waren auch den Dorfinstitutlern sehr nützlich. In den Bibliotheken der Institute standen viele dieser Werke. Der Verdienst dieser Bibliotheken war es, viele Leser herangezogen zu haben. Es war zu dieser Zeit in den Dorfinstituten Pflicht, im Jahr zweiundzwanzig Bücher zu lesen.308 Ein solcher Absolvent bekennt, er habe durch die Lektüre der Klassiker die Welt, sei es Vögel, Blumen, der Kosmos, oder auch die arbeitenden Menschen, mit neuen Augen zu sehen gelernt.309 Das Prinzip, durch Praxis zu lernen, stieß auch auf feindliche Kritik. Einige urbane Linke, darunter der Schriftsteller Kemal Tahir, beschuldigten den Staat, arme kleine Kinder ohne Vergütung für den Staat arbeiten zu lassen. Dies sei eine Form der Sklaverei und müsse unterbunden werden.310 Der Politikwissenschaftler Yalçın Küçük gab ein polemisches Urteil ab: Aus einem Dörfler könne kein Intellektueller werden, der Dörfler und der Intellekt verhielten sich wie Schnee zur Wärme.311 In dem viel beachteten Buch „Unser Dorf“ (Bizim Köy, 1950) 312 von Mahmut Makal, einem Absolventen des Dorfinstitutes İvriz / Konya, veranschaulicht der Autor das harte und armselige Leben auf dem Land und versucht den Leser darüber aufzuklären, dass das unter der städtischen Intelligenz verbreitete Klischee vom „glücklichen, naturverbundenen bäuerlichen Dasein“313 nicht dem Bild der Realität entsprach. Das veranlasste İsmail Hakkı Tonguç zu dem Kommentar, die Lehrer hätten das durch die Arbeit in den Dorfinstituten neu erworbenes Bewusstsein verinnerlicht, sozusagen mit Pfeilern im Boden des Bewusstseins fest verankert. Als Tonguç 1943 das Dorfinstitut von İvriz/Konya besuchte, stellte er einem Schüler eine Frage über die Beziehung zwischen Staat und Volk. Dieser war nicht fähig

308 Aus dem Gespräch mit Abdullah Özkucur am 20. Juli 2005 in Ankara. 309 ÖZDEMIR, Emin: Köy Enstitüleri ve Edebiyat (2011): 21. 310 Vgl. TAHİR, Kemal: Bozkırdaki Çekirdek (1976). Engin Tonguç, in Devrim Açısından Köy Enstitüleri ve Tonguç (1970): 532- 558, widerspricht Kemal Tahir: eine pädagogische wissenschaftliche Institution wie die Dorfinstitute könne nicht durch einen Roman, sondern nur durch eine wissenschaftliche Studie ausgewertet werden. Er beschuldigt Tahir der Abhängigkeit, des Mangels an Ernsthaftigkeit und Objektivität. 311 Vgl. EKMEKÇİ, Mustafa: Köylü Gerçekçidir, Öksüz Yamalığı Köy Enstitüleri (2009): 344. 312 MAKAL, Mahmut: Unser Dorf in Anatolien (1981). 313 Siehe Petra KAPPERTS Kommentar über das Buch „Unser Dorf“ in der FAZ vom 9.1.1982. In: MAKAL,Mahmut: Unser Dorf in Anatolien (1981): 234. 95 ihm zu antworten. Tonguç erklärte dem Lehrer, dass die Menschen auf dem Land über 600 Jahre schweigen mussten. Er habe als Lehrer nunmehr die Aufgabe, einfache Menschen zum Sprechen zu bringen, damit sie sich ihre eigenen Gedanken machen und frei zum Ausdruck bringen könnten. 314 Auf Makals Anregung begann die Dorfjugend zu sprechen, ja sogar zu schreiben. Schüler wurden vielfach Lehrer und Schriftsteller und nahmen eine kritische Position gegenüber der Gesellschaft und den wechselnden Regierungen ein. Die Absolventen der Dorfinstitute schrieben auf, was sie in den Dörfern tatsächlich gesehen haben. Diese Sicht passte nicht in das vom Staat hochgehaltene Idealbild, der die anhaltende bittere Armut und das Leid der Bauern nicht sehen wollte. Der Staat bezeichnete die Dörfer zwar als dem eigenen Land zugehörig, kümmerte sich jedoch nicht um die humanitäre Versorgung und das Wohlergehen der ländlichen Bevölkerung. Das folgende Schullied spiegelt diese Haltung wieder:

Dort in der Ferne gibt es ein Dorf, Orda bir köy var uzakta, Dieses Dorf ist unser Dorf. O köy bizim köyümüzdür. Auch wenn wir nicht dort hingehen Gezmesek de tozmasak da Dieses Dorf bleibt unser Dorf. O köy bizim köyümüzdür. Ahmet Kutsi Tecer Melodie:Münir Ceyhan

Selbst die Landschaft wurde offiziell auf eine Weise beschönigt, die für kritische Geister schwer zu ertragen war.

Wie schön fändest du Sen ne güzel bulursun Wenn du durch Anatolien reist Gezsen Anadolu’yu Befreist du dich von den Sorgen Dertlerden kurtulursun Wenn du durch Anatolien reist Gezsen Anadolu’yu

Es gibt klare Flüsse Billur ırmakları var Es gibt eisige Quellen Buzdan kaynakları var Wie schöne Erde gibt es Ne hoş toprakları var Wenn du durch Anatolien reist Gezsen Anadolu’yu M. Faruk Gürtunca Melodie: unbekannt

314 Vgl. EKMEKÇİ, Mustafa: Tonguç: „Kazığı Sağlam Çakmışız“ , Öksüz Yamalığı Köy Enstitüleri (2009): 382-383. 96 Mahmut Makal hat diese beschönigende Sichtweise durch seine nüchterne Schilderung der Verhältnisse auf dem Lande gründlich entlarvt. 1946 wurde mit der Demontierung der Dorfinstitute begonnen. Als die Demokratische Partei (DP) in diesem Jahr an den Wahlen teilnahm, wuchs der Druck auf die Dorfinstitute, denn sie waren Produkte der CHP und somit Objekte des Angriffs für die DP. Der Angriff bedeutete eine grundsätzliche Ablehnung der von der CHP betriebenen Politik der Volksnähe. Die DP beschuldigte in einer beispiellosen Propagandaaktion die Dorfinstitute, dass sie Nester des Kommunismus wären und dass ihre gemischten Klassen zu Unzucht führen würden. Die Großgrundbesitzer innerhalb der CHP machten ebenfalls Druck, so dass der Kulturminister Hasan Ali Yücel und der Generaldirektor für die Grundschulen İsmail Hakkı Tonguç von ihren Ämtern enthoben wurden. Die CHP fürchtete um ihren Ruf und um den Verlust der Mehrheit der Wählerstimmen und ließ die Dorfinstitute kurzerhand schließen. Der Wahlsieg der Demokratischen Partei (DP) im Jahre 14. Mai 1950 bedeutete das Ende der Dorfinstitute. Sie wurden zu normalen Lehrerschulen umgewandelt und am 27. 1. 1954 per Gesetz endgültig aufgelöst.315 Eine grundlegende Ursache für das Scheitern des Projekts ist sicher des Ausbleiben einer tiefgreifenden Landreform. So waren die Dorfinstitute den Kräften der Restauration völlig ausgeliefert. Eine fort dauernde Existenz der Dorfinstitute hätte mit einiger Wahrscheinlichkeit die Probleme der dörflichen Erziehung, darunter auch das der Geschlechtertrennung, gemildert. So aber sah sich am 30. April 2005 die Tageszeitung Milliyet veranlasst, eine neue Kampagne unter dem Motto „Papa, schick mich zur Schule!“ (Baba Beni Okula Gönder!) zu starten. Sie suchte, mit der Unterstützung einer zivilen Organisation, des „Fördervereins des zeitgenössischen Lebens“ (Çağdaş Yaşamı Destekleme Derneği), Mädchen in den entlegenen Regionen der Ost-Türkei einen Schulbesuch zu ermöglichen. Falls man sich die Frage stellt, wer eigentlich der Erfinder der Dorfinstitute war, dann sind die Ausführungen Tonguçs beachtenswert. Er spricht von dem Ergebnis einer gemeinschaftlichen Erfahrung und hält es für falsch, diese auf eine einzige Person zu reduzieren. Vom Schüler bis zum Generaldirektor habe jeder Arbeit hineingesteckt und Erfahrungen, wie auch die anderen Mitarbeiter, gesammelt.316 In Wahrheit war das türkische Modell allein Tonguçs Verdienst.317

315 GROSCH, Harald: Die Dorfinstitute in der Türkei (1985): 64. 316 Vgl. EKMEKÇİ, Mustafa: İlginç Öneriler, Öksüz Yamalığı Köy Enstitüleri (2009): 376. 317 Vgl. Ebd. 377. Vgl. auch KIRBY, Fay: Türkiye’de Köy Enstitüleri (2010): 118. 97 Tonguç wurde 1894 in der Dobrudscha geboren, im heutigen Bulgarien. Zwischen 1918 und 1919 hatte er an einem Programm für türkische Studenten der Lehrerschule in Karlsruhe/Ettlingen teilgenommen. An der Akademie der Schönen Künste in Karlsruhe beendete er sein Studium, kehrte 1924 in die Türkei zurück und gründete an der Lehrerschule in Ankara das Fach Kunst. Als er 1925 erneut nach Deutschland reiste, lernte er den Pädagogen Kerschensteiner kennen, der ihn nachhaltig prägte.318 Kerschensteiner betont das unterrichtliche Prinzip der Selbsttätigkeit, der Spontaneität und des manuellen Tuns. Pädagogische Arbeit muss manuell, praktisch und geistig zugleich geprägt sein. Bildung war für ihn zugleich Charakterbildung und Erziehung zum Staatsbürger, sein Augenmerk lag vor allem auf der Berufserziehung.319 Die Pädagogik der Dorfinstitute wollte ebenso konkret an das Leben der Menschen in den Dörfern anknüpfen. Auch dort war der Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe vorherrschend. Für viele war das Scheitern des pädagogischen Experiments der Dorfinstitute nicht leicht zu ertragen, auch nicht für den Pädagogen İsmail Hakkı Tonguç. Nachdem er seinen hohen Posten verloren hatte, arbeitete er bis zu seiner Pensionierung als Kunstlehrer an einem Gymnasium in Ankara. Nach seiner Pensionierung reiste er im Sommer 1956 mit seinem Sohn Engin Tonguç in die Schweiz, nach Birr im Kanton Aargau, an das Grab Heinrich Pestalozzis, vor dem der alte Pädagoge schweigend nachdachte.320

318 Tonguç übersetzte neben vielen pädagogischen Artikeln Kerschensteiners dessen Buch „Die Seele des Erziehers und das Problem der Lehrerbildung“ (1921) ins Türkische: (Mürebbinin Ruhu ve Öğretmen Yetiştirme Sorunu). 319 Nach DOLCH, Josef ( Hrsg.): KERSCHENSTEINER, Marie: Georg Kerschensteiner - Der Lebensweg eines Schulreformers (1954). Vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Kerschensteiner.Abgerufen am 1.04.2012. 320 Vgl. TONGUÇ, Engin: Umut Yolu (1984): 208. 98 4.5.1 Ruhi Su als Lehrer im Dorfinstitut Ruhi Su stand den Dorfinstituten sehr nahe. Er unterstützte sie, indem er als Meister der Musik (Usta Öğretici) lehrte. Als der Musiklehrer des Dorfinstitutes in Çifteler / Eskişehir zum Militär eingezogen wurde, wollte der Gründer der Dorfinstitute İsmail Hakkı Tonguç Ruhi Su für diese freie Stelle für eine gewisse Zeit einsetzten. Ruhi Su willigte ohne zu zögern ein.321 Mit dem Ziel, neue Dimensionen des Volklieds aufzuzeigen, arbeiteten Aşık Veysel (1894-1973), der Volkssänger und Meisterlehrer der Türküs, und Ruhi Su, der Absolvent des Staatlichen Konservatoriums, Schulter an Schulter.322 Ruhi Su hat den Geist der Dorfinstitute nicht nur in sich aufgenommen, sondern diese in der Gründungszeit mit seiner Arbeit als Meisterlehrer im Fachbereich Musik unterstützt. Als Lehrer entdeckte und förderte Ruhi Su begabte Schüler, eine Praxis, welcher er sein Leben lang treu blieb. Ein ehemaliger Schüler des Dorfinstitutes, Talip Apaydın, berichtet, wie Ruhi Su seine schulische Entwicklung beeinflusst hat, indem er sein musikalisches Talent entdeckte. Ruhi Su riet ihm, das Höhere Dorfinstitut Hasanoğlan zu besuchen, um später als Musiklehrer in das Dorfinstitut in Çifteler zurückzukehren. Talip Apaydın stimmte zunächst nicht zu, weil er vorhatte, als Grundschullehrer mit festem Gehalt seine Eltern finanziell zu unterstützen. Ruhi Su wies ihn darauf hin, dass er gerade wegen seiner Armut das Höhere Dorfinstitut Hasanoğlan besuchen müsse, um sich und seiner Familie eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Apaydın entschied sich schließlich nach Hasanoğlan zu gehen und wurde am Ende Musiklehrer.323 Wie sehr Ruhi Su die Schüler der Dorfinstitute beeinflusst hat, sieht man an folgender Erzählung. Varlık Özmenek ging eines Tages, als er noch kleiner Junge war,

321 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su vom 21. Apr. 2002 in Herne. 322 BAŞARAN Mehmet: Ruhi Su Hep Söyleyecek, Kitaplar (Nov. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (2006): 251-252. 323 Aus dem Gespräch mit Talip Apaydın vom 15. Juli 2005 in Ören. Talip Apaydın schreibt, dass er später in Ören / Balıkesir Ruhi Sus Nachbar wurde. Zwischen beiden entwickelte sich eine zwanzigjährige innige Freundschaft. Er schrieb nach Ruhi Sus Tod seine Erinnerungen an ihn nieder. Er war jemandem begegnet, der sowohl als Mensch wie auch als Künstler eine bedeutende Persönlichkeit darstellte. Je mehr er erfuhr, aus welcher Not Ruhi Su kam, was er erlebt hatte, wie er seinen Lebensweg fand und welches Kunstverständnis er besaß, desto größer wurde seine Ehrfurcht vor ihm. Hätte man Ruhi Su die Möglichkeit eines weiteren Wirkungskreises gegeben, dann hätte er noch mehr geschaffen. Er hätte mit einer Unterstützung des Staates ein staatliches Orchester gründen und leiten können. Er blieb eine farbige und duftende Blume, die in einer wasserlosen Wüste aus eigener Kraft blühte. Ruhi Su wollte gegen Ende seines Lebens, auch als er nicht mehr zu singen fähig war, ein Buch veröffentlichen, welches seine Gedichte sowie seine Gedanken und Gespräche über Musik enthielt. Er gab Apaydın das Manuskript zur Lektüre, doch die Publikation hat er nicht mehr erlebt. Nach APAYDIN, Talip: Koca Ruhi Su Gitti Gider, Cumhuriyet (21. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 147-148. 99 mit seinem Vater, einem Schüler von Ruhi Su, durch die Steppe von Konya. Der Vater erzählte, er habe als Lehrer einen elf Kilometer langen Fußmarsch zu der Schule gehabt. Auf die Frage des Jungen, ob er im Winter nicht gefroren habe, antwortete der Vater: „Ich habe ein Lied Ruhi Sus gesungen, das mich auf dem Weg gewärmt hat."324 Aus dem Lied „Kocabey“ stammen folgende Zeilen, die davon sprechen, dass der Sprecher im Lied Kocabey und seiner Tapferkeit folgen will:

Wenn ich mich vor der Knechtschaft verbeugen soll, Eğer ki kulluğa verirsem destur, Glaube mir, ich werde mich weigern, wie du. İnan üçten, beşten, senden geride kalan değilem. Broyyy...! Broyyy...!

Am 17. April des Jahres 1967 ließ Sabahattin Eyuboğlu325 am Jahrestag der Dorfinstitute in einem Schreiben Mevlânâ,326 Yunus, Bâki,327 Karacaoğlan, Şeyh Gâlip,328 Muhyi, Orhan Veli329 und Başaran mit Tanz und Gesang aufführen, wobei er Ruhi Su die Rolle des Chorleiters gab.330

324 ÖZMENEK, Varlık: Broyyy, Bilim ve Sanat, (Nov. 1985): 4-5. In: Türkülerle Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 53-57. Diese Thematik des pädagogischen Einflusses Ruhi Sus wird auch sehr deutlich in der Aussage Mevlüt Kocas: „Bei allen Absolventen der Dorfinstitute wird das Herz hüpfen, wenn ich nur den Titel eines Türküs, nämlich ‚Kocabey’, nenne.“ Müzehher Vâ-Nû schreibt in ihren Memoiren „Bir Dönemin Tanıklığı” (keine Angabe zum Erscheinungsjahr): 137, Ruhi Sus Türküs seien auch Intellektuellen in die Seele gegangen. Sie schrieben sie ab und lernten sie auswendig. Dieser lebensbejahende Einfluß wird von Ali Sirmen bestätigt: Er besuchte die Konzerte und kaufte die Schallplatten des Künstlers. Ali Sirmen erzählt in der Cumhuriyet vom 27. Sept. 2007, er werde nie vergessen, wie er in einer kalten, dunklen und hoffnungslosen Winternacht Ruhi Sus Stimme hörte und sich vor ihm plötzlich ein erhellender Weg, geradezu eine Erleuchtung seines Inneren, auftat. 325 Sabahattin Eyuboğlu hat sich in der Türkei um die Verbreitung der aufklärerischen Ideen verdient gemacht. Mehr als fünfzig Werke aus der französischen, englischen, russischen, griechischen und lateinischen Literatur hat er ins Türkische übersetzt, insbesondere wurde er mit Übersetzungen von Montaigne, Shakespeare und Moliere bekannt. Eyuboğlu, der sich zusammen mit İsmail Hakkı Tonguç aktiv für die Gründung der Dorfinstitute einsetzte, übernahm mit filmischen Dokumentationen über die alten anatolischen Zivilisationen eine Vorreiterrolle im türkischen Dokumentationskino. 326 Siehe unten Kap. 9.5.1. 327 Şeyh Galip gilt als einer der bedeutendsten Diwan- Dichter (1526-1600). 328 Muhyi war Bektaschi - Dichter (16. Jahrhundert). Siehe oben Fußnote 106. 329 Orhan Veli war Erneuerer der türkischen Poesie (1914-1950). 330 Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Köy Enstitülerini Anarken (1967). In: Köy Enstitüleri Üzerine (1979): 123. 100 4.5.2 Die geistige Verwandtschaft von Ruhi Su und İsmail Hakkı Tonguç Definitorisch formuliert, beruht die geistige Verwandtschaft von Ruhi Su und İsmail Hakkı Tonguç auf einer lebenslangen pädagogischen Kraftanstrengung: Beide wollten, jeder auf seinem Gebiet und mit seinen Mitteln, die türkische Kultur auf den Weg der Bildung bringen. Ruhi Su gab dem Türkü ein neues Gesicht und bewirkte, dass die Intellektuellen, die bis dahin die Türkü missachtet hatten, sie nunmehr anhörten und zu lieben lernten. Durch ihn wurden Türküs Kunstwerke und Teil des Lebens der städtischen Intellektuellen, wie sie es auch des einfachen Volkes gewesen waren.331 Nicht zuletzt liegt seine gesellschaftliche Bedeutung in dem Versuch, mit seiner künstlerischen Integration den Graben zwischen diesen beiden Gesellschaftsschichten einzuebnen332 Wie sich Ruhi Su in seiner Arbeit verwirklichte, so tat es auch İsmail Hakkı Tonguç. Wenn Ruhi Su sich dem dörflichen Musikgut widmete, dann wandte sich Tonguç an das Potential der ländlichen Kinder und Jugendlichen. Er wurde für die praktische Ausbildung und Bildung der Dorfbevölkerung in den 40er Jahren eine sehr wichtige Gestalt. Er war es, der die Idee der Dorfinstitute entwickelte und somit einen Beitrag für die soziale und kulturelle Weiterentwicklung der anatolischen Bauern leistete. Wie Ruhi Su vereinte er eine fundamentale Theorie mit einem praktischen Programm, Ruhi Su auf dem Gebiet der Musik, Tonguç auf dem Gebiet der Bildung der Land- bevölkerung. Ihm war es wichtig, das Selbstbewusstsein der ländlichen Bevölkerung zu stärken und sie für ihre sozial-politischen Belange zu interessieren. Die bis dahin jahrhundertelang vernachlässigte Dorfbevölkerung sollte eine neue Identität gewinnen. Zwischen dem, was Tonguç mit seinen Dorfinstituten aufbauen wollte, und dem, was Ruhi Su mit den Türküs vorhatte, besteht eine Parallelität. Der eine wollte den Menschen vom Lande ihre Würde zurückgeben, der andere wollte den Türküs Anerkennung verschaffen. Ruhi Su und İsmail Hakkı Tonguç haben zur Entwicklung des kritischen Geistes in der Türkei beigetragen, der eine durch die Türküs, der andere durch die Dorfinstitute.

331 Vgl. SELÇUK İlhan: Cumhuriyet (3. Feb. 1984). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 104: Er betont ebenfalls, Ruhi Su habe das Volk mit den Intellektuellen, mit seinen Gefühlen, seiner Saz, seiner Gesangsart und seinen Taten zusammengebracht. Zeynep Oral schreibt: Wenn Intellektuelle die Türküs aus Ruhi Sus Mund hörten, konnten sie kaum glauben, dass das einfache Volk diese wundervollen Stücke geschaffen habe. Vgl. ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat, (1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 181. 332 Vgl. YAVUZ Hilmi: Yeni Ortam (21. Dez. 1972). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 66. 101 Beide waren den Grundgedanken der Reformen nahe und setzten ihre Hoffnung auf das Volk. Beide haben sich der Volkskultur gewidmet; Ruhi Su durch die Volkslieder und Tonguç über die Volksbildung.333 Ruhi Su und İsmail H. Tonguç, die beide in der gleichen Zeit lebten und von der westlichen Ausbildung profitierten, strebten eine Weiterentwicklung der eigenen Kultur und des Soziallebens auf dem Dorfe an. Es ist kein Zufall, dass beide ihren Hauptarbeitsgebieten doppelte Namen gaben, welche eine genuin türkische und eine westlich abgeleitete Komponente hatten. Schon sein allererstes öffentliches Konzert im Volkshaus in Ankara am 14. Juli 1944 nennt Ruhi Su „Türkü Resitali“, während Tonguç stets von „Köy Enstitüsü“ spricht.334 Sie hatten, um es kurz zu sagen, ein anatolisches Herz und einen europäischen Kopf. Beide waren Pioniere in ihren Arbeitsbereichen. Zwischen dem Kampf Ruhi Sus gegen die Ausbeutung auf dem Land durch die Neugestaltung der Türküs und der von Tonguç verwirklichten basisnahen Ausbildung der Schüler in den Dorfinstituten besteht eine deutliche Ähnlichkeit. Sowohl Tonguç als auch Ruhi Su waren Kinder der jungen Republik. Durch ihre Tätigkeiten und Konzepte überschritten beide die sozialen und kulturellen Grenzen. Als die Dorfinstitute den offiziellen politischen Rahmen sprengten und aus der Landbevölkerung mündige Staatsbürger zu machen suchten, wurden sie zum ungeliebten Objekt staatlicher Bildungspolitik. Das gleiche Vorgehen wird bei Ruhi Su sichtbar, den man anfangs in seiner Radioarbeit förderte und dann herauswarf. Das Gefängnis und ein Berufsverbot folgten 1952. Nicht zu übersehen ist auch eine biographische Parallele: Tonguç wurde aus seinem Amt als Generaldirektor der Primärbildung entfernt und musste in einer Mittelschule als Kunstlehrer arbeiten. Ruhi Su musste sein Leben lang gegen Widerstände und Verbote ankämpfen und erhielt nach seiner Entlassung aus der Haft keine offizielle Anerkennung mehr.

333 Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan am 27. Sept. 2010 in İstanbul. 334 .Sabahattin Eyuboğlu erklärt, weshalb Tonguç den türkischen Begriff „Dorf“, mit dem deutschen Begriff „Institut“ zusammenfügte. Nach Eyuboğlu war Tonguç ein westlich orientierter Mensch und ein geborener Türke. Das Gebäude, das er in seinem Kopf zu bauen plante, war westlich, jedoch die Erde und Steine für dieses Gebäude kamen aus der Heimat. Seine Vorbilder in der Pädagogik kamen aus dem Westen, jedoch die Intellektuellen, nach denen er sich sehnte, sollten aus der Heimat stammen. Das ist der Grund, weshalb Tonguç den Begriff „Dorf“, mit dem Begriff „Institut“ zusammenfügte. Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Köy Enstitülerini Anarken (1967). In EYUBOĞLU, Sabahattin: Köy Enstitüleri Üzerine (1979):121. Ahmet Say machte uns auf den Grund aufmerksam, aus dem Ruhi Su für sein erstes Konzert den türkischen Begriff „Türkü“ mit dem westlichen Begriff „Rezital“ vereinte. Vgl. SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sep. 2009): 13-14.

102 5. Die Musiktraditionen der Türkei 5.1 Die Traditionelle Kunstmusik335 Am osmanischen Hof und in seinem Umfeld herrschte eine Musik, die sowohl Klassische Kunstmusik als auch Diwanmusik (Hofmusik) oder Traditionelle Kunstmusik genannt wird. Sie ist eine Synthese der osmanischen, arabischen, persischen, armenischen und byzantinischen Musik und kann bis zur Gründung des Osmanischen Reiches zurückverfolgt werden. Ihre Instrumente sind hauptsächlich die Laute (ud), die Rohrflöte (ney), das sechssaitige Zupfinstrument mit sehr langem Hals (tambur), ein zitherartiges Musikinstrument (kanun) und eine kleine, metallgefaßte Trommel (kudüm). Werke des wohl berühmtesten türkischen Komponisten, ÝAbd al-Qādir Marāġī (15. Jahrhundert), haben bis in die heutige Zeit überlebt ebenso wie diejenigen des Buhurizade Mustafa Itris (18. Jahrhundert). Komponist zu sein war eine anerkannte Tätigkeit; selbst osmanische Herrscher wie z.B. Selim III. (1762-1807) oder Mahmud II. (1785-1839) übten sie aus. Ebenso sind Komponisten griechischer, armenischer und jüdischer Abstammung wie Zaharya Efendi (ges. 1740?) Dimitri Kantemiroğlu (1673-1727) und Nikoğos Ağa (1836-1885) zu erwähnen. Außerhalb des osmanischen Hofes waren die Klöster der Derwische (Tekkes)336 wichtig für die Ausübung, die Pflege und das Überleben der Traditionellen Kunstmusik bis in unsere Gegenwart. Sie waren die Musikschulen ihrer Zeit. Ihre Musik bildete in wichtigen Zentren des Osmanischen Reiches einen wesentlichen Bestandteil der Kultur der Oberschicht.337 Die Werke der Traditionellen Kunstmusik hatten religiöse wie auch weltliche Themen. In der Musik der Moschee gibt es keine Instrumente. Im Gegensatz dazu hat die als Sufimusik bekannte Musik der Bektaschis und Mevlevis begleitende Instrumente. Die weltliche Musik ist unterteilt in die Bereiche der Instrumentalmusik (taksim, peşrev, çiftetelli, zeybek, sirto) und Textmusik (kâr, beste, şarkı). Der melodische Verlauf eines vertonten und improvisierten Stückes hält sich an die Regeln der Tonreihe, die MaqÁm

335 Weiterführende Literatur zur traditionellen Kunstmusik: REINHARD Kurt. und Ursula: Musik der Türkei, Bd. I (1984); JÄGER, Ralf Martin: Klaus Hortschansky (Hrsg.): Türkische Kunstmusik und ihre handschriftlichen Quellen aus dem 19. Jahrhundert (1996); ÖZKAN, İsmail Hakkı: Türk Musikisi Nazariyatı ve Usulleri (1990); MERKT, Irmgard: Türkische Kunstmusik-Traditionelle klassische Musik, Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland (1983): 45-57. 336 Eine Tekke ist ein Zentrum einer Sufi-Bruderschaft (Derwisch-Orden, bzw. –Tariqa) und bedeutet so viel wie „Rückzugsort“, „Schutz“ und „Asyl“. 337 Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. Für die oben genannten Musiker siehe weiterführend SÖZER, Vural: Müzik ve Müzisyenler Ansiklopedisi A-L und M-Z (1986).

103 genannt wird. Eine weitere Charakteristik dieser Musik ist der usul genannte rhythmische Aufbau. 338

338 AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 16. 104 5.2 Die Volksmusik Ein Gattungsname der traditionellen Kunstmusik lautet şarkı. Schon die Etymologie „şark“ deutet auf den Orient, den Aufgang der Sonne; şarkı heißt daher „ das Lied des Ostens“. Auch ein Gattungsname der türkischen Volksmusik, nämlich Türkü lässt eine etymologische Erklärung zu, Türkü heißt eben „Lied eines Türken“. Als die Türken aus ihrem Ursprungsgebiet der heutigen Mongolei nach Anatolien aufbrachen, brachten sie Musik mit, die sie begleitet durch die ursprüngliche Art der Saz (kopuz) sangen.339 Der melodische Aufbau der Volksmusik basiert auch auf dem MaqÁm. Die Volkslieder weisen hinsichtlich der Melodienfolge und des Rhythmus zwei Grundformen auf: Die erste Grundform uzun hava ist in Takt und Rhythmus frei, hat aber innerhalb der Melodienfolge eine feste Struktur. Diese Grundform wird in verschiedenen geographischen Gebieten bozlak, maya, hoyrat, divan, kesik, aydos, yüksek hava, eğin, türkmeni genannt. Die zweite Form ist in Rhythmus und Melodie gleichmäßig. Diese wird als kırık hava bezeichnet. Die Instrumente der Volksmusik sind die mit drei Doppelseiten bespannte Langhalslaute (saz oder bağlama) die Trommel (davul), die Oboe (zurna), die Flöte, eine speziell in Ostanatolien verwendete kleinere Oboenart (mey), das Mundstück der Oboe (sipsi), die Kürbisgeige (kabak kemane), der Dudelsack (tulum) und eine Vielzahl von Schlaginstrumenten. Von Landschaft zu Landschaft zeigt diese Musik Unterschiede in Form, Inhalt und Klang.340 Im Jahre 1936 wurde der bedeutende ungarische Musikforscher und Komponist Béla Bartók in die Türkei eingeladen und hielt in Ankara drei Vorträge über “Die Methodik des Sammelns, Untersuchens und Herausgebens von Volksmelodien”341 Die Regierung hatte inzwischen den Wert des Volkstümlichen für die zeitgenössische türkische Kultur endeckt und wollte ihn stärken. Nach den Vorträgen reiste Bartók zusammen mit Ahmet Adnan Saygun, einem bedeutenden Komponisten und Folkloristen, in die südtürkische Ebene um Adana (Çukurova), um dort Türküs der Nomaden in Adana, Osmaniye und Toprakkale zu hören und sie auf Schallplatten aufzunehmen. Die Ergebnisse übergab er in einem Bericht dem Kulturministerium. Er regte an, ein Institut

339 Vgl. oben Kap. 2.1, Fußnote 57. 340 Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. Vgl. auch İNCİRCİ, Tahsin: Musik der Türkei (ohne Erscheinungsjahr ): 36-60; MERKT, Irmgard: Türkische Volksmusik, Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland (1983): 87- 89; ÖZGÜL, Vatan: Türk Halk Müziğinin Kapsamı, Halk Bilimi 3 (1997): 10-14. 341 Siehe BARTóK, Béla: Küçük Asya’dan Türk Halk Musikisi (1991): 268-289. 105 für Folklore zu gründen, welches ein wissenschaftliches Arbeiten ermöglichen könne. Das verwirklichte Projekt würde nicht nur für die türkische Musik eine bedeutende Rolle spielen, sondern auch für die Musik der Welt.342 Auf seinen Vorschlag hin leisteten Volkshäuser, Rundfunkanstalten und Dorfinstitute gute Archivarbeit in mehreren Landesteilen. Die Gründung eines Institutes für Folklore erfolgte damals nicht.343 Am Anfang der wissenschaftlichen und musikalischen Arbeit mit Türküs steht Cemal Reşit Rey, der sein Musikstudium in Klavier und Komposition in Genf und in Paris abgeschlossen hat. Dieser Musikwissenschaftler und Komponist sammelte zwölf anatolische Volkslieder (12 Anadolu Türküsü), vertonte sie mehrstimmig und publizierte sie 1927. 344Als nächster ist Ahmet Adnan Saygun345 zu nennen, der eine wichtige Rolle im Leben Ruhi Sus spielte. Er war wie Cemal Reşit Rey einer der Türkischen Fünf (Türk Beşleri), will sagen: der führenden Komponisten ihrer Zeit. Saygun war an der Musiklehrerschule der Lehrer Sus und, nachdem dieser mit seinen Mitschülern einen Chor (Ses ve Tel Birliği) gegründet hatte, übernahm er sogar auf die Bitte Ruhi Sus die Rolle des Chordirigenten.346 Dichter und Sänger sind ein wichtiger Teil der türkischen Volksmusik. In dem sie ihre Verse selbst auf der Saz begleitet vortrugen, haben sie als Denker, als Führer religiöser Gruppen und als Kämpfer gegen die Unterdrückung durch den Machtapparat eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Leben gespielt. Zu nennen sind Dede Korkut im 12. Jahrhundert; Yunus Emre im 13., Pir Sultan Abdal im 16., Karacaoğlan und Köroğlu im 17., sowie Dadaloğlu im 19. Jahrhundert. Ruhi Su bejahte die politische Aussage der Volksmusik; genauer gesagt, er verstand sich im Kontext der türkischen Linken, ohne einem Dogmatismus zu huldigen. Zu betonen ist, dass er als erster diese Aufgabe der Volksmusik propagierte und in der neuen oppositionellen Musik eine führende Rolle einnahm, ohne sie gleich zu ideologisieren.347 Er sprach davon, dass die Türküs an Aussagekraft gewännen, wenn die Not und das Leid des Volkes sehr groß würden.348

342 Vgl. ALİ, Filiz: Müzik ve Müziğimizin Sorunları (1987): 75. 343 Ebd. 68. 344 Vgl. http://tr.wikipedia.org/wiki/Cemal_Re%C5%9Fit_Rey. 345 Saygun komponierte 1946 das Yunus Emre Oratorium (Yunus Emre Oratoryosu), welches 1947 aufgeführt wurde. 346 Vgl. AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 19. 347 Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. Reiche Literaturverweise auf die türkische Volksdichtung bieten REINHARD, Ursula und de OLIVEIRA PINTO, Tiago: Sänger und Poeten mit der Laute. Türkische Aşık und Ozan (1989): 256-258. 348 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit KORKMAZGİL, Hasan Hüseyin: „Bir Yerde Türküler Ne Kadar Gelişmişse, Anlatım Gücü Ne Kadar Artmışsa, Oradaki Koşullar O Oranda Ağır Demektir“, Forum 1, 336 . (Apr. 1968). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 98. 106 Die Türküs früherer Dichter interpretierte Ruhi Su neu und gab ihnen ein neues Leben, indem er die Volksmusik mit der westlichen Musik verband. Mit seiner ausgebildeten Stimme und seiner Technik repräsentierte er einen völlig neuen Typus in der mehrere Jahrhunderte alten Volksdichtertradition. Innerhalb der linken Musiktradition gibt es kaum einen Künstler, der nicht von ihm beeinflusst wurde. In den folgenden Jahren nahmen Künstler wie Zülfü Livaneli, Rahmi Saltuk, Sadık Gürbüz, Sümeyra Çakır, Hasan Yükselir und viele andere Ruhi Su zum Vorbild der politischen Musik. Der Volkssänger Aşık İhsani, der um 1960 von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt wanderte, rüttelte das Volk auf: “Wach endlich auf, dein Kampf hat begonnen.349 Eigentlich ist der Kampf des Volkes gegen den ständigen Krieg ein altes Thema. Es war der Opfer müde, weil es immer wieder Soldaten stellen sollte, wie folgende Zeilen zeigen:

Oh mein Sultan, erlaube uns zu gehen, Ansonst wirf uns ins Meer. 350

Das Volk verhielt sich in den Klageliedern nicht nur passiv, sondern leistete aktiv gegen den Sultan Widerstand, wie der im 19. Jahrhundert lebende Volksdichter Dadaoloğlu sagt: “Das Urteil gehört dem Sultan, uns gehören die Berge.”351 Ruhi Su selbst gibt Auskunft über die verschiedene Qualität, Notwendigkeit und Öffnungsmöglichkeit von Volksmusik und Kunstmusik innerhalb der zwei kulturellen Komponenten der türkischen Gesellschaft, der osmanischen Kultur und der Kultur des Volkes: Die Musik ist die zweite Muttersprache des Volkes. Sofern der Mensch sich selbst und der eigenen Kultur nicht entfremdet ist, wird er sich weder von der eigenen Sprache trennen noch von seiner Musik. Deshalb umschließt die Kunstmusik, wenn sie sich folgerichtig entwickelt, auch die Volksmusik. Unsere klassische Kunstmusik ist die Musik der osmanischen Kultur. Sie ist abgekapselt vom Volk, gibt das gesamte Leben in keiner Weise wieder und bildet eine abstrakte Musik. Ein solcher Zustand behindert die Entwicklung dieser Musik und markiert einen sehr deutlichen Trennschnitt von der Volksmusik. Seit ihrem Bestehen ist andererseits die Volksmusik eine Musik, welche die Sehnsucht des Volkes zum Ausdruck bringt: sein gesamtes Leben vom Brot bis zur Liebe. Sie ist offen für jede Entwicklung. Wenn wir eine derartige Kunstmusik gehabt hätten, wäre eine Volksmusik nicht notwendig gewesen. Da dies aber nicht der Fall ist, haben wir nunmehr eine Klassische Kunstmusik und eine Volksmusik.352

349 Siehe BACI, Aşık Sinem: Dünden Bugüne Aşık İhsani (1976). 350 Vgl. İNCİRCİ, Tahsin: Musik der Türkei, (ohne Erscheinungsjahr): 114-115. Für den vollständigen Text des Liedes siehe unten Kap. 9.7.1. 351 Vgl. İNCİRCİ, Tahsin: Musik der Türkei, (ohne Erscheinungsjahr): 61. 352 SU, Ruhi im Gespräch mit DURA, Süheyla: Ruhi Su ile bir Görüşme, Süreç 2, 6 (April.-Juni1981). In: Ezgili Yürek (1985): 149. 107 5.2.1 Das Türkü und das Kunstlied Bei der Erörterung des von Ruhi Su angenommenen Verhältnisses zwischen Lied und Türkü stellen sich zwei Fragen, die erste nach Ruhi Sus eigener Praxis und Theorie, die zweite nach dem Urteil seiner Freunde und Kritiker über Ruhi Sus Position, nachdem er ein anerkannter Künstler geworden war. Obwohl Ruhi Su seit seiner Kindheit mit Türküs aufgewachsen war, näherte er sich bewusst dieser Liedform erst, als er das deutsche Lied kennen lernte. Mit diesem wurde er als junger Mann während der Opernausbildung durch seine Lehrer Paul Hindemith und Carl Ebert intensiv bekannt gemacht. Carl Ebert gibt einen Hinweis von großer Wichtigkeit. Er erwähnt, dass Ruhi Su manchmal Schubertlieder sang. Die türkische Musik kennt den Terminus „Lied“ nicht. Erst mit Hilfe der deutschen Musiklehrer wird dieser Terminus aus dem Deutschen in das Türkische überführt und, dies ist zu betonen, behält dabei seine ursprüngliche Bedeutung. So wird Ruhi Sus Hinwendung zum Kunstlied Schuberts verständlich. Was ihn faszinierte war, wie Carl Ebert erklärt, dass die Schönheit der Liedform der Schönheit der türkischen Sprache begegnete. Eine zu dieser Begegnung fähige Stimme wie die Ruhi Sus, kommt alle fünfzig Jahre auf die Welt oder gar nicht.353 Ruhi Su skizziert sein Verhältnis zu Kunstlied und Türkü wie folgt:

Die Ausbildung, die ich genossen habe, hat meine Stimme und meine Einstellung entwickelt. Ich erkannte die Struktur der Musik, insbesondere der Musik mit Text. Ich spielte in Opern und sang Lieder. Ich erfuhr, dass jedes Gefühl mit Musik ausgedrückt werden kann. Ich lernte, wie die Töne dem Thema folgen mussten und wie der Text interpretiert wird. Die Türküs, die ich aus meiner Kindheit kannte, wurden dabei zu einer Quelle, die sich mir aufgrund meiner neuen Kenntnisse mit Leichtigkeit erschloss. Die Türküs waren eine Art der Musik, die mit ihren unterschiedlichen Themen geeignet war, nachzudenken und zu interpretieren.354

Ruhi Su nähert sich dem romantischen Kunstlied in der Art Schuberts auf zwei Weisen. Er nimmt volkstümliche, sehr oft anonyme Stoffe und gibt ihnen seine individuelle melodische Interpretation. Um Ruhi Su in diesem entscheidenden Punkt, der den Unterschied zu europäischen Liederkomponisten offen darlegt, nochmal sprechen zu lassen:

353 Vgl. ARZIK. Nimet: 7 Gün (17. Jan. 1973). In: Ruhi Suya Saygı (1986): 66. 354 SU, Ruhi im Gespräch mit ERDEN, Dikna Sadika: „Yöresellikten Ulusallığa, Ulusallıktan Evrenselliğe“, Bilim ve Sanat 96 (Dez. 1983). In: Ezgili Yürek (1985): 166. 108 Ich bin kein Komponist, jedoch habe ich die Türküs wie ein Komponist behandelt und sang Türküs, als ob ich sie selbst komponiert hätte. Ich glaube, diese Türküs waren, die „Lieder“ (welche in diese Arbeit als „Kunstlieder“ verstanden werden) der angestrebten mehrstimmigen Musik.355

Wie die Komponisten des romantischen Lieds erweitert auch Ruhi Su die Thematik. In der Traditionellen Kunstmusik herrscht immer das Thema der Liebe. In der volkstümlichen Musik der Türküs drückt das Volk jedoch auch seine Angst und Freude, sein inneres Feuer, Kummer wie die Auflehnung gegen die Unterdrücker, sowie Alltägliches aus, kurz gesagt alles, was es nach außen mitteilen möchte. 356 Durch seine Ausbildung bei deutschen Lehrern, beschäftigte Ruhi Su sich mit den Türküs anders als andere Musiker. Bis dahin bestand die Ausbildung eines Türkü-Sängers darin, ohne jegliche theoretische Ausbildung einfach nur zu singen. Lautformen, Wissen über Modulation der Stimme, Rhythmik und Gesangsstil gab es bei diesen Sängern nicht.357 Ruhi Su jedoch hatte den Einsatz der Stimme und die Art des Vortrags in der Opernausbildung gelernt und wandte dieses Wissen auf die Türküs an. Sein Interesse an anatolischen Volksliedern wuchs, und er reiste in Anatolien umher, um gesungene Lieder zu sammeln. Er profitierte von der Art und Weise des Singens dieser Menschen, kopierte sie aber nicht. Er sah eine Verbindung zwischen dem Türkü und dem Lied und versuchte bei der Interpretation, die wesentlichen Eigenschaften der Türküs nicht zu verfälschen. Wie, schließlich, lautete das Echo der Freunde und Kritiker auf die gerade skizzierte Theorie und Praxis des Künstlers? Erstaunlich ist, dass Ruhi Su bereits als Student am Konservatorium Aufsehen erregte und zwar als Sänger von Volksliedern, obwohl er in der Fachschaft Oper eingeschrieben war. Sein österreichischer Lehrer Markowitz war begeistert, als er in den Pausen der Oper den jungen Mann Türküs mit großer Schönheit der Stimme singen hörte, „Ich habe zum ersten Mal erkannt, wie schön die türkische Musik ist.“358 Der bekannte Volkstumswissenschaftler Pertev Naili Boratav spricht seinerseits von der außerordentlichen Ausdruckskraft des Sängers, welche menschliche Gefühle trotz fehlender Harmonisierung der Türküs hervorhebt. Ruhi Su stelle sich so im Gegensatz zu Adnan Saygun, der einige Volkslieder bearbeitete und sie

355 Ebd. 166. 356 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit DURA, Süheyla: Ruhi Su ile Bir görüşme, Süreç 2, 6 (Apr.-Juni 1981). In: Ezgili Yürek (1985): 149. Siehe zu Thema und Struktur, ÖZTÜRK, Ali Osman: Das türkische Volkslied als sprachliches Kunstwerk (1994): 113-117 und 222-253. 357 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ORAL, Zeynep: „Van’dan Yarınlara, Engebeli Bir Yolda“ , Milliyet Sanat (1. Mai 1984). In: Ezgili Yürek (1985): 181. 358Siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 13. 109 vom Chor des Konservatoriums singen ließ, und zu vielen früheren Alaturka-Sängern, die der Gewohnheit nach mit einer sozusagen mechanischen Stimme vorgetragen haben. Sein Lob gipfelt in dem Satz: „Die neue Strömung unsere Volkslieder zeigt sich als Fortschritt in der Weiterentwicklung unserer neuen Musik.“359 Boratav interpretiert Ruhi Sus Lieder wie die Volkslieder der europäischen Romantik. So verweist er auf Gottfried Herder, der in den Liedern der Welt die Stimmen der Völker zu hören glaubte. Boratav glaubt an das Volkslied als die Stimme der Menschheit.360 Dieser ausgedehnte Vergleich erlaubt ihm, historische Parallelen zu ziehen. Er vergleicht die mittelalterlichen Minnesänger mit den türkischen Volkssängern, den Aşıks. Beide Sänger waren mit ihren Instrumenten unterwegs und trugen selbstkomponierte Lieder und Gedichte vor.361 Ruhi Su, als Sammler dörflicher Lieder, war erfolgreich bemüht, diese Musik angeblich schlichter Bauern vom Land in die Stadt und zu den Intellektuellen zu bringen. Dies ist ihm in einem Maße gelungen, dass seine städtischen Kritiker von seinen Türküs beeindruckt waren. Die durchgehende Komposition thematischer wie melodischer Art lässt an europäische Vorbilder wie Schuberts „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“ denken. Sie geht weit über die einfache Liederreihung der Aşıks hinaus, sie ließ Kritiker an eine Oper und sogar an eine Sinfonie denken.362 Der Vorschlag liegt nahe, für diese von Ruhi Su aus der Tradition entwickelte Musik den bereits erwähnten Begriff „Volkskunstmusik“ einzuführen. In jedem Fall ist er der Initiator dieser „Volkskunstmusik“ gewesen. Im Einzelnen: Schubert wurde am Konservatorium auch zur Zeit Ruhi Sus gelehrt und gesungen. Doch mit der reichen türkischen Musik, wie etwa dem Heldentürkü von Köroğlu, kamen die Staatskünstler nicht zurecht.363 Erst Ruhi Su gelang es, durch den Vortrag der Volkslieder in der Art der westlichen Musik der türkischen Musik eine feste Struktur und damit eine klassische Qualität zu verleihen. Azra Erhat spricht von ihm als einer „Brücke zwischen der Volkstradition und der zeitgenössischen Kunst.“364 Auch

359 Nach BORATAV, Pertev: (Ohne Titel), Yurt ve Dünya 3, 21, (Nov. 1942): 315. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 16. Zu den Vorgängern Ruhi Sus auf dem Feld der Erneuerung der Volksmusik gehört Cemal Reşit Rey, der in Paris studierte und dessen Arbeiten in seinem Buch Anadolu Halk Türküleri (1926) zu finden sind. 360 Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Türkülerde İnsanlarin Sesi, Ulus (16. Dez. 1941). In: BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 2 (1982): 340-343. 361 Ebd. 479-487. 362 ERHAT, Azra: Yeni Ufuklar 19, 226 (März 1971). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 60-61. 363 TÖR, Vedat Nedim: Vatan (25. Aug. 1944). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg):Ruhi Su’ya Saygı (1986): 20. 364 Vgl. ERHAT, Azra: Yeni Ufuklar 19, 226 (März 1971). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 60-61. 110 Ruhi Su war sich sehr wohl bewusst, dass er sowohl der traditionellen türkischen Gesellschaft als auch der modernen verpflichtet war:

Ich singe nicht nur Türküs. Gleichzeitig singe ich die „Lieder“ der modernen türkischen Gesellschaft. 365

Der Musikwissenschaftler Ahmet Say denkt über Ruhi Sus Praxis und Theorie durchaus ähnlich. Seiner Meinung nach sang Ruhi Su die Türküs nicht wie eine Opernarie; er sang sie wie der Interpret eines deutschen Kunstliedes, welches in der Volksmusik verwurzelt ist. In den 1960er Jahren sprach Say mit Su, dem der Vergleich mit einem Liedinterpreten gefiel. Ruhi Su bekannte, er gehöre, auch wenn er es wolle, nicht zu den Künstlern einer jahrhundertelangen Tradition, da er nicht aus dieser komme. Die Zeit sei jedoch gekommen, dass die Türküs einen Sprung nach vorne machen müssten. Man kann das Schaffen Ruhi Sus so verstehen: Sich der Mittel der Tradition bedienend, wollte er einen zeitgemäßen Volksmusikstil schaffen.366 Ruhi Su war der erste, der die türkische Volksmusik mit einer wissenschaftlichen Methode anging. Die praktischen Schritte waren, dass er das Material aufsuchte, sammelte, auswertete und öffentlich machte. Er untersuchte die Varianten einer Türkü, um die ursprüngliche Fassung zu rekonstruieren mit der Absicht, die sinnvollste und künstlerisch beste Interpretation zu gewinnen. Zu diesem Ziel gehörte eine von ihm entwickelte Methode der Betonung im Gesang. So machte er schlichte folkloristische Türküs zu Kunstwerken. Für spätere Generationen von Musikkünstlern bildet sein Werk eine große Orientierung.367 Durch die Integration von westlichen Musikstrukturen in die türkische Musik überwand Ruhi Su den Graben zwischen der Tradition Anatoliens und der Moderne Europas. „Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen"368 Diese Aussage Robert Schumanns verdeutlicht auch die Haltung Ruhi Sus zu der eigenen Volksmusik. Das europäische Volkslied weist durchaus Parallelen zum Türkü auf. Seine fruchtbarste Zeit war das 15. und 16. Jahrhundert. Das europäische Lied folgte weder kirchlichen noch höfischen Lebensformen. Es spricht allen verständlich von Liebe und

365 SU, Ruhi: Auf der Innenseite des Covers von der Schallplatte „Gedichte und Türküs“ (Şiirler, Türküler, 1974). 366 Vgl. SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009):13-14. 367Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. 368 www.deutscheslied.com. Abgerufen am 27. Jan. 2010. 111 Leid, Gott, dem irdischen mühevollen Arbeitsleben überhaupt. 369 Solche Aussagen lassen sich vergleichen mit denjenigen Ruhi Sus:

Die Türküs sind die einzigen Mittel, um die Sorgen unseres Volkes unbefangen und frei zu äußern. Die Türküs sind nicht vom Leben abgekapselt und haben auch niemals die wichtigen Geschehnisse im Leben des Volkes ausgelassen und erhöhen dadurch unser Vertrauen an das Leben sowie unsere Lebenskraft.370

369 Vgl. DUIS, Ernst: Volkslieder (1948): 3. 370 SU, Ruhi im Gespräch mit AKYILDIZ, Erhan: Ruhi Su Aşık Veysel’i Anlatıyor, Milliyet Sanat (26.-30. März 1973). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek(1985): 109. 112 5.3 Die moderne mehrstimmige Musik Die erste Tendenz zur Mehrstimmigkeit in der türkischen Musik beobachtet man Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Erneuerungsbewegung in der osmanischen Verwaltung des Reiches um die Mitte des 19. Jahrhunderts spiegelte sich in der Literatur, Musik und dem sozialen Leben als Europäisierung.371 Die Entwicklung des europäischen Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert hatte ihre Parallele gefunden in der Entwicklung nationaler Schulen in der Musik, als wichtige sind zu erwähnen die ungarische und die russische Schule.372 Mit der Gründung der Türkischen Republik, genauer gesagt mit den Reformen Atatürks, entwickelte sich auch in diesem Land neben dem nationalen Bewußtsein eine nationale Bewegung der Musik. Das wichtigste kulturelle Ziel war der Anschluss an die zeitgenössische und moderne Zivilisation. So betonte auch Atatürk, das Maß der Veränderung einer Nation hänge davon ab, wie fähig sie sei, Veränderungen in der Musik aufzunehmen. Man muss, führt er aus, die Lieder, die von nationalen Gefühlen und Gedanken erzählen, sammeln und sie nach modernen musikalischen Regeln bearbeiten. Nur auf diesem Weg kann sich die nationale türkische Musik entwickeln und ihren Platz in der internationalen Musikwelt einnehmen. Dies ist eine revolutionäre Bewegung.373 Seine Worte zeigen, wie sehr die Hinwendung zur Volksmusik der offiziellen Kulturpolitik entsprach und auch dort, wo die Volksmusik oppositionelle Züge annahm, sich in der Kontinuität solcher Politik wusste. Es ist zu betonen, dass Ruhi Su die gleichen kulturellen Ziele im Sinn hatte, die Entwicklung einer nationalen Musik und die Hoffnung, dass diese ihren Platz in der internationalen Musikwelt einnehmen wird. Gefragt, welche Bedeutung mehrstimmige Musik im türkischen Musikleben besitze, antwortete er differenziert. In westlichen, mit der Mehrstimmigkeit seit langem vertrauten Ländern besitzt diese keine revolutionäre Kraft mehr. In der Türkei ist dies anders: mehrstimmige Musik ist gleichbedeutend mit revolutionärer Musik, weil sie einen kulturellen Fortschritt der Gesellschaft darstellt.374 In seiner eigenen praktischen Arbeit sah Ruhi Su die Mehrstimmigkeit für einen Chor vor, in dem die Stimmen der Frauen und Männer getrennt und in anderen Stimmlagen geführt wurden. Als Einzelsänger ließ er Mehrstimmigkeit neben der eigenen Stimme nur

371 Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. 372 OKYAY Erdoğan: C.M.Altar‘a Armağan (1989): 26. In: AYDIN Yılmaz: Türk Beşleri(2003): 23. 373 Ebd. 20. 374 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit BALKIR, Kerim: Devrimci Müzik, Müziğimizin Çoksesliliğe Gitmesi Sorunudur, Tavır (Apr.1980). In: SU, Ruhi, Ezgili Yürek (1985):140-141. 113 auf seinem Instrument anklingen. Er betrachtete sich nicht als Komponist, sondern als Interpret.375 Die Regierung schickte junge talentierte Musiker in das Ausland, damit sie eine weitergehende musikalische Erziehung genießen konnten. Unter diesen Studenten, von denen viele sich in den Unterricht des bedeutenden österreichischen Komponisten und Musikpädagogen Joseph Marx nach Wien begaben, waren auch fünf türkische Komponisten: Cemal Reşit Rey, Ulvi Cemal Erkin, Ahmet Adnan Saygun, Necil Kazım Akses und Hasan Ferit Alnar. Rey vertonte, wie erwähnt, bereits in den 20er Jahren Anadolu Türküleri als Orchesterstücke.376 Die Türkische Schule begann mit den soeben genannten „Die Türkischen Fünf” (Türk Beşleri) . Sie bildeten die erste moderne Komponistengeneration der Türkischen Republik. Der Name “Türkische Fünf” wurde geprägt in Anlehnung an die damaligen „Russischen Fünf”.377 Jeder von ihnen hatte ein Kompositionsstudium an den Hochschulen europäischer Metropolen (Paris, Wien, Prag) absolviert. Die „Türkischen Fünf” haben in ihren Werken aus Elementen der türkischen Volks- und Kunstmusik zum ersten Mal einen türkischen Stil als moderne mehrstimmige türkische Musik kreiert.378 Zwei weitere Musikformen sind knapp zu erwähnen, die zwar nicht zu der oben charakterisierten Musikarten gehören, aber wegen ihrer sehr großen Popularität nicht zu überhören sind: Arabesk und Aranjman. Nach manche Kennern entstand die Arabeskmusik durch die Migration der Landbevölkerung in die Stadt. Andere Experten glauben hingegen, sie sei eine entartete Form der türkischen Kunstmusik und habe mit Migrationn nichts zu tun. Die Zuwanderer in der Stadt würden lediglich Zuhörer dieser Musik.379 Für Ruhi ist Arabesk ein erfundener Begriff. Diese Musik sei weder neu noch habe sie eine fortschrittliche Aussagekraft. Er bezeichnet sie als “depressive Musik”. Sie sei eine Mischung von arabischer, indischer und türkischer Musik. Arabesk stehe insgesamt für eine melodramatische Nachlässigkeit. Bei ihrer weiten Verbreitung gehe es in dieser schwammigen Form stets um die selben Themen: Liebe und Kummer im Leben.380

375 Ebd. 147. In diesem Zusammenhang gehört auch die gemeinsame Arbeit mit Sümeyra Çakır. 376 Siehe oben Fußnote 359. 377 Siehe oben Kap. 4.2, Fußnote 271. 378Vgl. AKDEMİR, Hüseyin: Die neue türkische Musik (1991): 54. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 23. 379 Vgl. GÜNGÖR, Nazife: Arabesk (1990):17. 380 Vgl. Nokta: ’dan Halk Türkülerine : Ruhi Su sesini ancak yabancı radyolardan duyuruyor (20. - 26. Feb. 1984): 52. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):171-172. 114 Weiterhin existiert unter der Bezeichnung “Aranjman” eine Form der Popmusik, die hier nur kurz angerissen wird. Diese Musik wurde unter den Bürgern und Intellektuellen der großen Städte als Folge der westlichen Lebensform beliebt. Die neuesten Tänze zählten auf Bällen fast als erste Stufe der Modernisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen mit amerikanischer Hilfe auch amerikanische und westliche Popmusik in die Türkei. Auch diese Musik wurde zur Mode. Die anfänglich in der Originalsprache gesungenen Lieder wurden allmählich ins Türkische übertragen, und so begann das Aranjman.381

381 Vgl. die Aufzeichnungen von ÇAKIR, Sümeyra. 115 5.4 Türkische Musik und westliche Musik Die frühe Beliebtheit der türkischen Musik bei den Europäern ging soweit, dass europäische Komponisten den Stil der osmanischen Musik aufnahmen und in der eigenen Produktion fruchtbar machten. Die Übernahme der Instrumente der Janitscharen brachte ganz neue Töne in die Musik der Militärkapellen. Insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert, der expandierenden Periode des Osmanischen Reiches, war der Einfluss der türkischen Musik groß. Es ist bekannt, dass die Europäer bei der zweiten Belagerung von Wien, 1683, die Mehtermusik kennenlernten. Da zu dieser Zeit keine anderen türkischen Musikstile in Europa bekannt waren, nahm man die Janitscharenmusik als die türkische Musik überhaupt wahr.382 Nach dem Sieg über die Türken im Jahr 1699 erbat sich Kaiser Leopold I. von der Hohen Pforte eine komplette Janitscharenkapelle, die er auch als Geschenk erhielt.383 Die Mehtergruppen wurden durch ihre Instrumente wie Zurna, Boru, Davul, Nakkare, Zil, Çelik Üçgen und Çevgan in Europa bekannt.384 Berühmte Komponisten wie Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven übernahmen die Rhythmik dieser Musik und Instrumente wie die große Trommel, kleine Trommel, das Becken und die Triangel für ihre eigenen Kompositionen.385 Der letzte Abschnitt von Mozarts Pianosonate ‘La Majeur Rondo alla Turca’ und die Oper ‘Die Entführung aus dem Serail’ sind bekannte Beispiele.386 Der Einzug der westlichen Musik in die türkische Kultur geht mit der Auflösung der Janitscharen-Bewegung im Jahre1826 einher.387 Sultan Mahmut II., der Komponist und Interpret zugleich war, löste das Janitscharenkorps und sein Musikinstitut (Mehterhane) auf und gründete das Militärorchester „MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn“. Der Bruder des berühmten italienischen Opernkomponisten Gaetano Donizetti, Giuseppe Donizetti (1788-1856) wurde nach İstanbul eingeladen und Chef des Orchesters.388 Donizetti spielte eine wichtige Rolle in der Einführung der europäischen Musik in die osmanische

382 Vgl. GAZİMİHAL, Mahmut Ragıp:Türk Askeri Mızıkaları Tarihi (1955): 33. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 17. 383 JÄGER, Ralf Martin: Janitscharenmusik. In: Finscher Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik 4 (1996): 1316-1329. 384 Vgl. GAZİMİHAL, Mahmut Ragıp:Türk Askeri Mızıkaları Tarihi (1955): 33. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 33. 385 OKYAY, Erdoğan: Die Schulmusikerziehung in der Türkei-Ihre geschichtliche Entwicklung und ihr heutiger Zustand. In: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Musik des Orients 12 (1973-1974): 8. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 9. 386 OKYAY, Erdoğan: Mozart im Lichte osmanisch-österreichischer Beziehungen (1989): 55. In AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003) 18. 387 Siehe oben Kap. 2.4. 388 Vgl. MERKT, Irmgard: Europäische Musik in der Türkei, Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland (1983): 73-74. 116 Militärmusik. Mit Hilfe talentierter Musiker der Janitscharenkapelle und durch Instrumente, die er aus Europa mitbrachte, machte er aus der Kapelle eine Institution nach europäischem Vorbild. Er unterrichtete die Schüler statt in den Hamparsum- Noten389 in dem modernen Notensystem. Er selbst lernte die Hamparsum-Notenschrift, um sich besser mit dem alten Musiksystem vertraut machen zu können. Er lehrte Querflöte, Piano und mehrstimmige Musik. Er hatte viele Schüler und machte das MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn zu einem Konservatorium, welches die traditionellen und zeitgenössischen Sparten umfasste, wie Kapelle, Orchester, Oper, Operette, Theater, religiöse Musik, klassisches Theater und Puppentheater (Karagözspiel).390 Er komponierte die Lobeshymnen für Sultan Mahmud II. (Mahmudiye) und Sultan Abdülmecid (Mecidiye), gewann Popularität und durch die Gunst des Sultans wurde er zum Paşa ernannt.391 Solisten wie Franz Liszt wurden nach İstanbul eingeladen und seine Konzerte am Hof und in der österreichischen Botschaft erhielten viel Applaus. Die Wichtigkeit des MÙsÐkÁ–yi HÙmÁyÙn in der türkischen Musikgeschichte liegt darin, dass sie die erste mehrstimmige Musikausbildung erteilte und auch die erste Institution war, die später in der Republik Türkei die ersten Musikausbilder hervorbrachte.392 Nachdem der österreichische Musikpädagoge Joseph Marx (1882-1964) im Auftrag Atatürks in den Jahren 1932-1933 als erster westlicher Musikexperte Empfehlungen für den Aufbau eines türkischen Konzertwesens und eines Konservatoriums nach westlichem Vorbild vorgelegt hatte, wurde 1936 das Staatskonservatorium in Ankara gegründet und das dortige Staatspräsidentenorchester neu strukturiert. An der „Pädagogischen Hochschule Gazi“ (Gazi Eğitim Enstitüsü) erlernten die zukünftigen Musiklehrer europäische Musikgeschichte und als Hauptinstrumente Klavier, Geige, Violine und Kontrabass, während sie im Stimmunterricht deutsche und französische Lieder einübten.393

389Limonciyan Hamparsums (1768-1839) Bedeutung für die heutige türkische klassische Musik beruht weniger auf der Komposition als vielmehr auf der Tatsache, eine eigene Notenschrift entwickelt zu haben. Dank dieser Notenschrift konnten viele Werke bis heute erhalten bleiben. Geboren in Beyoğlu-İstanbul studierte er neben armenischer Kirchenmusik im Mevlevi-Haus zu Beşiktaş-İstanbul bei dem berühmten İsmail Dede Efendi (1778-1845) religiöse und weltliche Musik. Ebenso betätigte er sich als Komponist und Musikforscher. Er spielte Geige und ein wenig Tanbur. Vgl. SÖZER, Vural: Müzik ve Müzisyenler Ansiklopedisi A-L (1986): 443. 390 Vgl. GAZİMİHAL, Mahmut Ragıp:Türk Askeri Mızıkaları Tarihi (1955): 98. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri (2003): 17. 391 ÇALGAN, Koral: Duyuşlar, Ulvi Cemal Erkin (1991): 24. 392 Ebd. 25. 393 Vgl. REINHARD, Kurt und Ursula: Musik der Türkei 2 (1984): 132. In: AYDIN, Yılmaz: Türk Beşleri, (2003): 21. Als Schüler von Lehrern, die diese Schulen absolviert hatten, stellte der Verfasser später auf deutschen Weihnachtsmärkten mit Verwunderung und Freude fest, dass die Lieder, die er von seinen Lehrern gelernt hatte, deutsche Volkslieder waren. Als er die türkischen Fassungen dieser Lieder seinen 117 6. Ruhi Su und das Türkü Wie steht es um die Natur und die Geschichte der Türküs? Ob Türküs unter die Kunstwerke zu zählen sind, hängt von der Enge oder Breite des Begriffs „Kunstwerk“ ab. Hier wird von einem breiten Begriff ausgegangen, das heißt, dass Volkslieder, kategorisch gesehen, ganz selbstverständlich zu den Kunstwerken gehören. Eine weitere Frage ist, ob ihr Kunstcharakter nicht durch Bearbeitung und Entwicklung gesteigert werden kann. Ruhi Su hat diese Frage in Theorie und Praxis bejaht. Zu dem Kunstcharakter gehört, dass die Türküs sich in dem Leben des Volkes entwickelt und ihre heutigen überaus einfachen Formen gefunden haben. Mit ihren Melodien, Rythmen und Worten geben sie seit Jahrhunderten die Gefühle des Volkes wieder. Ruhi Sus Argumentation geht einen Schritt weiter: Nicht die Türküs brauchen entwickelt zu werden, sondern die Türküs brauchen entwickelte Künstler. Seine Position darf nicht so verstanden werden, als gehörten die Türküs nicht dem Volke. Sie gehören dem Volk und die Frage ob große Dichter dem Volk angehören oder nicht, stellt sich nur einem naiven Theoriebewußtsein. Ruhi Su glaubt fest daran, dass die Künstler sich zwar von einem unreflektierten Geschmack der einfachen Leute fernhalten müssen, dass sie jedoch mit ihrer Geburt, ihrem Tod, ihrer Sprache, ihrem Geschmack und ihrem Kummer so mit dem Volk vermischt und verbunden sind, dass man sie als Volk oder vom Volk ansehen muss.394 Ein wesentlicher Gedanke, kommt hinzu, dass die Arbeit des Künstlers die Qualität des Volkslieds zu entwickeln vermag. Ruhi Su selbst gibt dem Volkslied die zentrale Stellung in seiner künstlerischen Arbeit:

Türkü zu singen ist für mich eine Ekstase. Meine schönsten Liebesgeschichten habe ich erlebt, während ich sang. Weder betrogen sie mich, noch ich sie. Solange ich Türkü singe, blühe ich auf.395

Schülern beizubringen suchte, kam eine ähnliche Reaktion, diesmal von seinen eigenen Schülern. Denn sie hatten auf Deutsch die gleichen Lieder im Kindergarten oder in der Grundschule gelernt: „Fuchs du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her“ (Tilki Kazı Nerden Çaldın, Onu Bana Ver) oder „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ (Daha Dün Annemizin Kollarında Yaşarken). Für die ausführliche Geschichte der Musikabteilung der Pädagogischen Hochschule Gazi siehe ALTUNYA, Niyazi: Gazi Eğitim Enstitüsü (2006): 605-677. 394 SU, Ruhi: Türkülerimiz, Yağmur ve Toprak I, 5,6,8. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 48-49. 395 Vgl. Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg.), Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 9. 118 6.1 Das Sammeln und Neuschaffen Ruhi Su war ein Mensch, der einen großen Teil seines Lebens den Aşıks und ihren Türküs widmete. Er verfolgte die Spuren der Lieder und zog von Dorf zu Dorf. Einen verlorenen Vers fand er hier und einen anderen dort, eine Melodie stellt er in diesem Gebiet sicher und das Auf und Ab in der Saz irgendwo anders. Er war ein Türküsammler mit der Eigenart, dass er nicht wie ein Musikwissenschaftler handelte, sondern wie ein türküverliebter Aşık.396

Schaufle das Wasser von unten, Suyum alçaktan çekerim, Drehe das Rad und bringe es nach oben. Döner yukarı dökerim Yunus Emre

Ruhi Su hat sich die Verse Yunus Emres über das traurige Mühlrad zu eigen gemacht, und sich selbst als das Mühlrad der anatolischen Türküs gesehen, als einen, der solche Lieder jahrelang aus ihrer Niedrigkeit durch seine Bearbeitung zu Kunstwerken erhoben hat. Er hörte die Dorfbewohner und Volkssänger mit Respekt an. Im Taurusgebirge folgte er den Spuren Karacaoğlans und Dadaloğlus. Er übertrug die Worte der Lieder in die Schrift und ihre Melodien in Noten. Er wollte Türküs sammeln. Er wollte die Stimme Anatoliens mit einer neuen Interpretation erklingen lassen, in die Städte bringen und von dort der Welt kundtun.397 Fakir Baykurt erinnert sich deutlich, wie die als unwürdig und niedrig angesehene Volkslieder zu Kunstwerken wurden. Er erwähnt in seinem Band Dost Yüzleri, er habe Ruhi Su mit Nimetullah Hafız398 bekannt gemacht. Ruhi Su fragte Hafız nach den in Jugoslawien gesungenen Klageliedern, insbesondere nach den Jemen-Klageliedern. Hafız kannte einige und bot an, sie beim nächsten Mal zu singen. Daraufhin besuchten Ruhi Su und Fakir Baykurt ihn mit einem Aufnahmegerät. Summend wie die Bienen begann Nimetullah Hafız „Jemen, Jemen, glorreicher Jemen, blutüberströmter Jemen.“ Ruhi Su fragte: „Wollen Sie diese Stelle so oder so singen?“ Er ließ ihn erneut singen und fand den Gesang wunderschön. „Was war an diesem abscheulichen Lied sehr schön?“, urteilte

396 DİNO, Abidin: Rückseite der Schallplattenhülle “Gedichte und Lieder” (Şiirler, Türküler, 1974). 397 Vgl. BAYKURT, Fakir: Ruhi Su-Türkiye’nin Sesi, Dost Yüzleri (2002): 209. Auch die Verse Yunus Emres werden von dieser Seite zitiert. 398 Nimetullah Hafiz, ein Reisender aus dem damaligen Jugoslawien, besuchte regelmäßig in Ören/Balıkesir Fakir Baykurt. Neben Ruhi Su verbrachten in den 70er Jahren in Ören viele Schriftsteller und Intellektuelle ihre Ferien, so Aziz Nesin, Uğur Mumcu, İlhami Soysal, Bahri Savcı, Asım Bezirci, Talip Apaydın, Halit Çelenk. 119 Fakir Baykurt. Das Jemen-Lied III sollte eine besondere Stelle auf der Schallplatte „Die fremden Tore“ (El Kapıları) 399 erhalten. Tage später bat Ruhi Su Fakir Baykurt, sich dieses Lied nochmals anzuhören. Baykurt antwortete: „Wir haben es uns bereits bei Hafız angehört, oder?“ Ruhi Su sang zunächst das Kaman-Klagelied, in dem eine Schwiegermutter seufzt:

Ich kann nicht schlafen, weder am Tage noch in der Nacht Yatamıyom gece gündüz Wegen der klagenden Stimmen der Bräute Gelinlerin zarıyınan400

Nach noch zwei Klageliedern über Jemen ging Ruhi Su in das Lied über, das er von Nimetullah Hafız aufgenommen hatte:

Jemen, Jemen, glorreicher Jemen, Yemen Yemen şanlı Yemen Blutüberströmter Jemen. Toprakları kanlı Yemen401

Baykurt geriet in Begeisterung, als ob sein Körper durch und durch elektrisiert worden wäre. Ruhi Su hatte nur die Melodie und eine einzige Strophe dieses ehemals abscheulichen Liedes genommen und sie bearbeitet, zudem dem Lied eine neue Strophe angefügt.402 Ruhi Su bemerkte mehrfach, dass nicht alle Türküs schön seien. Er wählte Lieder, die mit ihren Texten und Melodien die Gefühle des Volkes am treuesten wiedergaben. Vieles, was das Volk in Jahrhunderten gesungen hatte, war beschädigt oder verschwunden. Was Ruhi Su vornahm, war keine Restauration, sondern eine Interpretation. Mit Blick auf das ästhetische Ganze gestaltete er Lieder neu in Rhythmus, Melodie und Text.403 Das Sammeln von Liedern brachte ihn in große Schwierigkeiten. Sein Ziel war es nie, die Dorfbewohner zum Widerstand zu organisieren, wie die Polizei vermutete. Er wurde aus den Dörfern, die er für seine Arbeit besuchte, oft als Agent der Sowjets vertrieben. Fast an jedem Ort wurde er in einer Polizeiwache oder in einem heruntergekommenen Zimmer geprügelt und festgehalten.404

399 Siehe unten Kap. 9.7. 400 Siehe unten Kap. 9.7.3. 401 Siehe unten Kap. 9.7.6. 402 Vgl. Baykurt, Fakir: Ruhi Su-Türkiye’nin Sesi, Dost Yüzleri (2002): 208. 403 Ebd. 208-209. 404 Ebd. 210. 120 Als in den 60er Jahren die Landflucht begann, wurde es für ihn deutlich leichter zu sammeln, da nun die Dorfbewohner in der Stadt lebten und er ohne polizeiliche Bewachung, durch die Vermittlung von Freunden Zugang zu türkischen Liedern fand. Damals trug er den größten Teil seiner Sammlung zusammen, die er später veröffentlichte.405 Seine Arbeit verdeutlicht, wie er sich von der Volkskultur inspirieren ließ. Ruhi Su nahm mit einer großen Fertigkeit Worte, Wortgruppen und Sprichworte jeglicher Art auf und veränderte sie. So hat er zum Beispiel einen Satz aus einer Bektaschi-Anekdote aufgenommen und diesen in einem Türkü umgeformt. In einem alevitischen Dorf war ein Mann, namens Munzur, gestorben. Es gab jedoch niemanden, der das Totengebet halten sollte. Endlich erklärte sich der Schwager des Toten bereit, die Feier abzuhalten. Er redete den Toten an: „Hörst du mich Bruder Munzur? Ja ja, du hörst mich schon. Schau und hör mir gut zu. Falls Du gegeben hast, erhältst Du, falls Du erhalten hast, wirst Du geben. Falls Du das nicht glaubst: nun Du gehst ja schon und wirst sehen.“ Danach ordnete er an, den Toten zu bestatten.406 Die Worte des Schwagers tauchen bei Ruhi Su in einem scheinbar ähnlichen, aber sinngemäß anderen Kontext auf. Der Sänger wendet sich an seine alevitischen Freunde und Brüder und schlüpft gleichsam in die Rolle eines religiösen Oberhaupts, der nach einer Feier seiner Gemeinde Trost zuspricht. Ruhi Su lässt es auf Grund seiner politischen Haltung allerdings nicht bei religiösem Trost bewenden. Auch Aleviten sollen so schnell wie möglich aus ihrer Lethargie aufwachen und die Lösung ihrer Probleme nicht in Gottes Hand suchen. Probleme sowie Lösungen liegen in ihren eigenen Händen; es ist ihnen aufgegeben, weltlich zu denken und weltlich zu handeln. Der Text, den Ruhi Su selbst verfasst und an die Anekdote angefügt hat, besagt, dass zwar das Leid von Allah kommt, aber die Hilfe im Leid von den Menschen selbst kommen muss. Ruhi Su appelliert an das Wachsein seiner Geschwister, ihren Gebrauch der Glieder und Organe; an das selbstständige Denken und die intuitive Sicherheit des Individuums: „Die Hand weiß, wo sie am Körper zu kratzen hat“ (El, gövdede kaşınan yeri bilir). Ruhi Su versteht sich und seine Zuhörer als handelnde Menschen, nicht als abwartende.

405 Ebd. 211. 406 Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan am 27. Sep. 2010 in İstanbul. Für die Bearbeitung von Texten und die neue Sinngebung durch Ruhi Su siehe unten Kap. 6.7. 121 6.1.1 „Ratschläge”407 Freunde, Geschwister, meine Liebsten, Erhebt eure Köpfe! Eure Gesichter schauen nach unten wie die von Schuldigen. Unser Ich ist in der Enge. Erhebt eure Köpfe, Man gab uns Augen, um zu beobachten, Zungen, um zu sprechen, Ohren, um zu hören. Die Hand weiß, wo sie am Körper zu kratzen hat. Die Sorge tragen wir, aber auch die Heilung ist in unseren Händen. Wenn du suchst, wirst du finden, Wenn du gibst, wirst du erhalten, Wenn du nicht glaubst, wirst du es schon sehen. Ruhi Su

„Öğütler” Dostlarım, kardeşlerim, canlarım, Kaldırın başlarınızı ! Suçlular gibi yüzümüz yerde, Özümüz darda durup dururuz. Bize göz verildi, gözleyin diye, Dil verildi, söyleyin diye, Kulak verildi, dinleyin diye El, gövdede kaşınan yeri bilir. Dert bizde, derman ellerimizdedir. Ararsan bulursun, Verirsen, alırsın, İnanmazsan, gelir görürsün. Ruhi Su

407 Aus der Schallplatte „Die Samahs”, (Semahlar, 1978).

122 6.2 Die Türküs der Mitgefangenen Wo immer Ruhi Su sich befand, selbst in einer für einen Liedersänger höchst ungewöhnlichen Lage, ging er einer seiner Lebensaufgaben, dem Sammeln von Türküs, nach.408 Als er im Gefängnis von Adana mit gleichgesinnten politischen Häftlingen einsaß, erhielt er viele Türküs von Unpolitischen. Ruhi Su zog eines Tages Raşit, einen Dorfjungen, der wegen Mordes einsaß, beiseite und ließ ihn ein Türkü singen. Der Junge sang ein Lied, in dem das Wort „Gazelle“ vorkam. Weder die Stimme noch das Lied waren bedeutend. Ruhi Su arbeitete tagelang mit Raşit. Ohne Überdruss ließ er alles wiederholen und schrieb es auf. Es waren Gazellen-Lieder (Ceren Türküleri), die er festhielt. Nach ein paar Wochen sang er sie den Häftlingen vor. Der Erzähler dieser Geschichte fügt hinzu, welch wundervolle Lieder Ruhi Su doch aus den schlecht gesungenen Melodien Raşits gemacht habe. Vorher hätte man glauben können, die Menschen seien aus Lehm geschaffen worden. Erst die Künstler hätten wirkliche Menschen erschaffen.409

408 Sadık Gürbüz, ein Sänger in der Tradition Ruhi Sus, erzählt in dem Dokumentarfilm „Keşke Olmasaydı“, Regie Okan Başara, wie Ruhi Su an das Lied „Komm und sei ein Helfer gegen meinen Kummer“ (Gel Benim Derdime Bir Derman Eyle) kam. In Tunceli nahm er dieses Lied Pir Sultans bei einem Mann auf, obwohl dieser unter den Leuten als Verrückter galt. Er brachte es später auf seiner Schallplatte „Pir Sultan Abdal, 1973“ heraus. Der Film wurde am 17. Jan. 2012 von dem türkischen Privatsender Kanal 24 gesendet. Möglicherweise war es der gleiche Text, den Hüseyin Erdem in einem alevitischen Dorf aufzeichnete und Ruhi Su gab. 409 Vgl. TÜRKALİ, Vedat: Ruhi Su için, Tüm Yazıları, Konuşmaları (2002): 193. 123 6.2.1 „Die Gazellen“ Man sollte die Wasserplätze der Gazellen umwandern, Sollte einen Stift nehmen und ihre Augen und Brauen beschreiben, Turkmenische Mädchen mit Nasenringen.

Zu meinem Glück kam diese Gazelle aus dem Morgengrauen heraus, Ich habe mich verliebt in diese Gazelle. Volkslied

„Cerenler” Şu cerenin sulakların gezmeli, Kalem alıp kaşın gözün yazmalı. Burnu hızmalı Türkmen kızları.

Seherden uğruma çıktı bu ceren, Başımı sevdaya saldı bu ceren.410 Halk Türküsü

Das Gazellenlied deutet die Spannweite von Ruhi Sus Repertoire an: Neben politischenTexten steht zarte, volkstümliche Liebeslyrik.

410 Aus der Schallplatte „Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı, 1970). Für den vollständigen Text des Liedes siehe AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000): 11. 124 6.3 Die Auswahl der Türküs Ruhi Su konnte nur wenige Hundert seiner Tausenden von gesammelten Türküs veröffentlichen. Bei der Auswahl der Türküs waren die Wahrnehmung und die Interpretation der Welt für ihn wegweisend. Diese repräsentative und ungewohnte Qualität brachte ihm freilich, wie er selbst feststellte, die ersten Rückschläge im Radio ein. 411 Auf die Frage, wo er sein künstlerisches Ich gefunden habe, in der Oper oder in den Türküs, ist seine Feststellung bezeichnend, dass er in der Oper zwar kein erfolgloser Künstler gewesen war, jedoch in den Türküs seine wahre Berufung und sein wahres künstlerisches Ich fand. Die Türküs seien seine eigene musikalische Sprache. Er beabsichtige, in Zukunft die authentische Linie der Türküs nicht zu zerstören und mit ihrer Sprache den eigenen Platz in der universalen Musik zu finden. Deswegen suche er mit großer künstlerischer Sorgfalt nur ganz bestimmte Türküs aus. Sowohl mit ihren melodischen Strukturen als auch mit ihren Texten seien es Türküs, die das Volk am besten widerspiegelten. Nicht alle Türküs seien schön. Mit der Zeit könnten sie ihre ursprüngliche Intention verlieren. Ein Klagelied zum Beispiel könnte nach ungefähr 50 Jahren zu einem fröhlichen Tanzlied werden. Genau hier beginne seine Arbeit. Er überlege sich, mit welcher Absicht, unter welchen Umständen und aus welchem Grund das Lied geboren wurde. Bei der anschließenden Kategorisierung der Türküs nach ihren Melodien und Texten achte er sehr genau darauf, dass die Zusammenstellung eine Einheit bilde. Diese Einheiten fügten sich unter ästhetischen Gesichtspunkten zu Ganzheiten. Sie dürften keine Monotonie oder eine gleichbleibende Linie aufweisen, sondern ihr Auf und Ab bringe Leben und Bewegung in die Türküs. Man müsse sie sehen wie ein architektonisches Ganzes. Wie die Kuppel und das Minarett einer Moschee nicht auf einer Ebene lägen, so habe auch er die Türküs zusammengestellt.412

411 SU, Ruhi in einem Gespräch mit ORAL, Zeynep, Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat (1. Mai 1984): 183. 412 Vgl. ERDEM, Hüseyin: Ruhi Su: Yattığımız Yerde Güller Bitecek, Türkiye Postası (4. Okt.1985). 125 6.4 Die Arbeit an der Stimme Einer der bedeutendsten Satiriker der türkischen Literatur, Aziz Nesin, sprach in seiner Eröffnungsrede zu „Die Nacht der Ruhi Su Lieder“ am 6. Februar 1986 über das akribische und aufopferungsvolle Kunstverständnis Ruhi Sus. Er habe agiert, als ob er nur für seine Stimme lebte, um Türküs zu singen. Er lebte abstinent, wie ein Mönch oder Derwisch, damit seiner Stimme nichts zustoßen konnte. Dies mag auch der Grund sein, dass seine Stimme, als er schon weit über 70 Jahre alt war, immer noch allumfassend und raumfüllend war. Er trank weder Rakı, Wein, Bier, Kaffee, noch kaltes Wasser. Ab und an genoss er lauwarm den so genannten Paşatee oder einen Lindenblütentee. So wie er nicht rauchte, mied er auch Orte, in denen geraucht wurde. Aziz Nesin verstand vollkommen, welche Bedeutung Ruhi Su seiner Kunst gab. Jeder Sänger macht Stimmübungen und muss sie sogar machen. Ruhi Su schloss sich fünf bis sechs Stunden am Tag ein und spielte mit seiner Stimme wie einem von seinem Körper losgelösten konkreten Gegenstand, ebenso wie ein Bildhauer oder mit Ton arbeitender Keramiker. Sie war wie ein intensives Stück Teig. Ruhi Su brachte diesen intensiven Teig in viele verschiedene Formen, in dem er ihn knetete, langzog oder teilte. Die Arbeit begann in den frühen Morgenstunden und dauerte bis spät in die Nacht.413

Dass die Stimme sein wichtigstes Gut und sein Kapital ist, war Ruhi Su stets bewusst. Als er an einem kalten Wintertag mit seiner damaligen Freundin Sıdıka Umut spazieren ging, wunderte sie sich darüber, dass er so wenig sprach. Er entschuldigte sich mit der Begründung, er müsse seine Stimme bei kaltem Wetter schonen.414

413 NESİN, Aziz: Ruhi Su Türküleri, Bilim ve Sanat (Apr. 1986). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 296. 414 Aus dem Gespräch mit Sıdıka Su am 21. Apr. 2002 in Herne. 126 6.5 Ruhi Su in seinen Konzerten Die Konzerte und sogar die Proben liefen nach strikten Regeln ab. Konzertcharakter hatten für ihn alle musikalischen Veranstaltungen. Ein Zeremoniell des andächtigen und disziplinierten Zuhörens war die Folge seiner beeindruckenden Erscheinung. In seinen Konzerten sorgte er (falls notwendig) selbst für ein ruhiges und konzentriertes Zuhören, welches ihm sehr wichtig war. Auf diese Art belehrte und formte er sein Publikum. Es existiert ein Bericht von einem Konzert Ruhi Sus an der Hacettepe Universität in Ankara in den 1968er Jahren. Als Ruhi Su die Bühne betrat, standen die Studenten auf und applaudierten. Er bat sie still zu bleiben. Er sei kein Künstler der Bourgeoisie. Diese Künstler würden vor Beginn ihrer Vorstellung Applaus fordern. Er aber habe noch nicht gesungen; deswegen sei auch kein Applaus angebracht. Er werde sein Konzert beenden, und wenn es ihnen gefallen habe, könnten sie ihm applaudieren. Er investiere Zeit und Mühe, und die Belohnung sei dann der Beifall. Nach diesen Worten herrschte im Saal absolute Ruhe. Er beendete sein Konzert und erhielt stehende Ovationen. Mit der Hand auf dem Herzen als Geste des Dankes lächelte er seinen Zuhörern zu und verließ die Bühne.415 Ruhi Sus Kollege Timur Selçuk verdeutlicht, was der Sänger von seinen Zuhörern erwartete: Er bat Selçuk zuerst aufzutreten und die Zuschauer mit seiner lauten Musik zu ermüden, damit sie Energie verlören und ihm danach ruhig und konzentriert zuhörten416. Su übte Kritik an dem Benehmen der Türken in Konzerten. Die Türken neigen dazu, mit Kind und Kegel in ein Konzert zu gehen, als ob sie auf eine Hochzeit gingen. Das Konzert wie auch die Hochzeit bietet die Gelegenheit, Freunde und Bekannte zu treffen und mit ihnen zu plaudern. Diesem Benehmen widersetzte sich Ruhi Su jederzeit. Er forderte von den Zuschauern ständige Aufmerksamkeit. Wenn diese fehlte, kam es nicht selten vor, dass er den Konzertsaal verließ. Den Respekt, den er seiner eigenen Kunst zollte, verlangte er auch von den Zuschauern. Man konnte mit Ruhi Su in einer dunklen Straße in Beyoğlu, in einer der schmutzigen Passagen, in einem engen Hof in Sıraselviler, in einem niedrigen

415 KOCABAŞ, Ayfer: Yaşanmış Bir Masal Ülkesi ve Bu Masalın Tanıkları: Köy Enstitüleri, Yeniden İmece. (Nov. 2005): 68. Diese kleinen Angewohnheiten sind auch dem Komponisten und Interpreten Timur Selçuk aufgefallen:Die morgendlichen Stimmübungen, das Ausruhen nach dem Mittagessen, die Einübung des Konzertrepertoires abends mit einer sanften, ruhigen Stimme, die Unterhaltungen mit möglichst leiser Stimme, das Vermeiden von Plapperei und das Präsentieren seiner Kunst auf der Bühne sind Gewohnheiten, die einen Konzerttag von Ruhi Su füllten. Vgl. SELÇUK, Timur: İşte Ruhi Su, Hürgün (23. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.) Ruhi Su’ya Saygı (1986): 165-166. 416 Ebd. 166. 127 Dachgeschoss in Osmanbey, da und dort in İstanbul, in allen Gegenden Anatoliens, in einem offenen Theater unter dem Sternenhimmel, in einem verrauchten Kinosalon, auf einem lauten und sonnigen Platz Tage und Nächte verbringen. Ruhi Su war überall derselbe Ruhi Su. Während er spielte und sang, weckte er die Freude der Zuhörer, sorgte aber für Respekt, und alle verhielten sich sehr still.417 Die Aufmerksamkeit seines Publikums war daran zu erkennen, dass es sich sammelte und jeder seinen Stuhl zurecht rückte. Manch einer hockte sich neben ihn, und durch die Faszination der Musik wurden Saz und Text, Zuhörer und Sänger zu einem Ganzen.418 Nach einem gelungenen Auftritt legte sich seine Erregung sehr schnell. Oft lud er Freunde nach einem Konzert zu sich nach Hause ein. Dort wurden der Erfolg und das Beisammensein gefeiert. Es war sozusagen ein Ritual, ihn nach den Konzerten zu begleiten zu dürfen. Das war der Moment, in dem alle zur Ruhe kamen. Selbst für Musikveranstaltungen im Gefängnis galten die Regeln und Forderungen eines Konzerts. Trotz der dortigen beengten und schwierigen Lage gab Ruhi Su niemals auf. Er komponierte, machte Stimmübungen, sang und versammelte seine Mithäftlinge um sich, um ihnen mit seinen Liedern und Vorträgen Mut und Zuversicht zu geben. Von einer solchen Musikveranstaltung gewinnt man ein deutliches Bild. Die Häftlinge trafen sich in einer Gemeinschaftszelle. Viele saßen auf Hochbetten und auf dem Boden. Wenn er anfing zu singen, herrschte absolute Ruhe. Ihm wurde mit einer Disziplin und Demut zugehört, die man nicht in jedem Konzertsaal antraf. An Mitsingen und Applaudieren war nicht zu denken. Man hörte ihm bis zum Ende diszipliniert zu. Dies war ein natürlicher Prozess, der keiner vorigen Hörerziehung bedurfte. Zwischen den Jahren 1961 und 1971 galt Ruhi Su als ein Sinnbild der erwachenden Türkei, ihrer Schwermut und Freude. Demonstrationen und Versammlungen ohne Ruhi Su konnte man sich gar nicht vorstellen.419

417 Vgl. SELÇUK, İlhan: Ruhi Su, Cumhuriyet (22. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 150. Ebd. 289 teilt KÜÇÜK, Yalçın (Yüzünde Hep Sazının Tellerinin Titreşimlerini Gördüm, Aydın Üzerine Tezler 4) mit, dass die Konzerte von Ruhi Su sehr diszipliniert abliefen. Undisziplinierte wurden mit einem Blick, wenn nötig auch mit höflichen Worten, ermahnt. 418 Ebd. 99 vgl. ALTAN, Çetin: Milliyet (16.Apr. 1981). 419 Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai 2006. 128 6.6 Ruhi Sus Leistung, aus der Türküs eine Kunst zu machen Ruhi Su gab den überkommenen Türküs eine neue Aussagekraft, indem er die musikalische Gestaltung ganz in den Dienst der Aussage stellte. Er formte sprachlich und musikalisch kunstvolle Lieder, die überwiegend politische Forderungen enthielten, wie etwa ein Ende der Leiden des Volkes und die Unterstützung seines Kampfes für die Demokratie. Er verfasste keine plakativen Aufrufe, sondern zwang die Zuhörer zu einem Denkprozess, der sie die Machtverhältnisse erkennen ließ und knüpfte in dieser Art an die Tradition politisch denkender Volkssänger wie Pir Sultan, Köroğlu und Dadaloğlu an. Die Melodie seiner Lieder ist nicht eingängig, sondern oft sperrig, brüchig und enthält überraschende Wendungen. Ein Vortragsabend hatte einen kunstvollen Aufbau in der Abfolge der Lieder, so dass man fast davon reden konnte, eine Symphonie aus Liedern werde gestaltet. Dieses Prinzip wird auch sehr deutlich auf den elf Langspielplatten, die Ruhi Su aufgenommen hat. Es wird eine hohe Konzentration von den Zuhörern erwartet, die sich über die Abfolge der Lieder ihre eigenen Gedanken machen sollen. Ruhi Su wurde von Intellektuellen der Vorwurf gemacht, er singe nicht wie das Volk, obwohl er Volklieder singe. Sie waren gegen die angebliche Verwestlichung, als welche sie die Modernisierung zu Unrecht empfanden.420 Es gab jedoch auch sehr späte Zustimmung zu Ruhi Sus Kunst. An Ruhi Sus 23.Todestag bekannte der Verfasser einer Kolumne in Hürriyet, er habe früher Ruhi Su für eine „rückständige Saz und eine brüllende Stimme gehalten“ und sie als „revolutionäre Folter“ bezeichnet. Nunmehr habe er erkannt, dass seine Türküs wundervoll in der Art des deutschen „Liedes“ seien und er schäme sich der früheren Kritik.421 Ruhi Su hatte schon zu Lebzeiten eine sehr aufschlussreiche Erklärung seiner künstlerischen Leistung gegeben:

Es ist nicht angebracht, den Ausdruck „wie das Volk singen“ zu benutzen, denn es gibt weder eine bestimmte Person, die „das Volk“ heißt, noch eine Ausdrucksweise, die das ganze Volk repräsentiert. Es gibt Volkssänger wie Veysel oder Hasan, Ahmet und Mehmet; kurz gesagt: Wir sind das Volk. Wir sind die Einheit eines Volkes. Jeder von uns singt mit seiner Stimme nach seinen Möglichkeiten und denen unserer Kultur. So geben wir den Volksliedern Unterschiede. Wenn wir einige künstlerische Möglichkeiten auf Grund unserer Kultur erworben haben, sollten wir dann unbedingt Menschen nachahmen, die diese Möglichkeiten nicht hatten? Ist so etwas vertretbar? Wo hat man es erlebt,

420 Siehe oben Fußnote 167. 421 Vgl. ÖZKÖK, Ertuğrul: İadeli Taahhütlü Bir Yazı, Hürriyet (21. Sept. 2008). 129 dass jemand, der fortgeschritten ist, einen Zurückgebliebenen nachahmt? Empfindet ein solcher Künstler so nicht eine falsche Liebe zum Volk und nimmt er nicht eine traditionelle Haltung ein? Die einzige Eigenschaft des Türküs ist, dass es wie ein lebendiges Wesen sich dauernd verändert und neugeboren wird. Jeder von uns hat seinen Anteil an dieser Veränderung. Ein solcher Einfluss kann gut oder schlecht sein. Zum Beispiel hat die Forderung der Redakteure beim staatlichen Rundfunk, man müsse wie das Volk singen oder dieses singen lassen, sowohl dem Volkslied als auch dem Volk seit 25 Jahren sehr geschadet. Aus der vorgeschlagenen Art, Volklieder zu singen und Saz zu spielen, wurde ein Klischee, das wir als Alaturka bezeichnen. Volkslieder hingegen sind eine kollektive Kunst. Das heißt aber nicht, dass man stellvertretend für die Gemeinschaft singen muss. Die Kultur, in der wir uns befinden, wird unvermeidlich individuelle Interpretationen hervorbringen. Wichtig ist zu wissen, welche Interpretationen unseren Geschmack verfeinern.422

An anderer Stelle lässt Ruhi Su sich nochmals über die Art Türküs zu singen aus:

Das Volk weiß, dass jeder Volkssänger seinen eigenen Stil hat. Das Volk weiß auch, wie mein Stil ist. Der Kernpunkt meiner Arbeit ist die Entscheidung, die Urheber der Liedertexte zu akzeptieren. Das Volk hat mich nie mit Befremden betrachtet. Noch entscheidender ist, dass auch die berühmtesten Volkssänger mich nicht ablehnen. Ein Beispiel ist Aşık Ali İzzet. Er hat ein Lied, das mit der Zeile „Lasst uns einen Gott kennen“ (Bir Allah’ı Tanıyalım) beginnt. Dieses Lied habe ich gesungen, wie ich die Saz zu spielen vermochte und wie ich die Musik verstand. Ali İzzet hat selber zugehört; Aber er hat mir niemals gesagt, „Du hast es wie eine Opernarie gesungen.“ Im Gegenteil, er bat mich „Ruhi Bey, bring mir das auch bei.“ Dieser Wunsch Aşık Ali İzzets ist ein Zeichen, dass die Musik auch technische Erneuerung braucht.423

Im gleichen Kontext erklärt Ruhi Su die Zusammenarbeit von Stimme und Instrument. Eine gute Interpretation erfolge, wenn man die Fähigkeit zum guten Spiel eines Instruments besitze. Die menschliche Stimme sei natürlich auch ein Instrument. Man dürfe nicht annehmen, der Komponist sei auch sein bester eigener Interpret, wenn er ein Werk für Geige oder Klavier oder menschliche Stimme komponiere. Nur wer sein Instrument beherrsche, könne die beste Interpretation auf jenem Instrument bieten. Komposition und Aufführung seien zwei verschiedene Tätigkeiten. Diese Regel gelte auch für das Volk; es sei gewöhnlich der Komponist, damit aber keinesfalls der beste Interpret, der sei ein Künstler.424 Ruhi Sus Arbeit war stets von einem theoretischen Bewusstsein geprägt. Ihm war der Ausdruck eines Gedankens in seiner Musik das zentrale Ziel. Er war für die junge

422 Vgl. SU Ruhi: Türküleri Nasıl Söylemeli, Folklore 1964, İstanbul American Collegs (März 1964): 25- 26. In: Türkiye Öğretmenler Derneği Köln (Hrsg), Türkülerde Çiçeklenen Ruhi Su (1985): 94. 423 SU, Ruhi im Gespräch mit KEMAL, Orhan: Ruhi Su ile Bir Konuşma. In: Ebd. 111-112. 424 Vgl. SU, Ruhi: Türküleri Nasıl Söylemeli, Folklore 1964, İstanbul American Collegs (März 1964): 25- 26. In: Ebd. 93-94.

130 Republik ein idealer Künstler, der die traditionelle Volkstümlichkeit mit westlicher kultureller Modernität verband. Er adaptierte musikalische Kunstformen an das türkische Liedgut und arbeitete ganz im Sinne der Modernisierungsabsichten der türkischen Republik, stand aber auf Grund seiner sozialistischen Weltanschauung auf der Seite der Protestbewegung gegen die Herrschenden, welche ohnehin später die Unterstützung der Volkskultur aufgaben, für welche Aufgabe die Schließung der Dorfinstitute ein Beispiel ist. In Anlehnung an das westliche Lied gestaltete Ruhi Su die Türküs völlig neu. Er schuf eine Art zu singen, die man zum ersten Mal hörte und die unverkennbar mit seiner Persönlichkeit verbunden war. Er verdankte zwar seine gründliche Musikausbildung der damaligen Regierung, die sich an der westlichen Ausrichtung Atatürks orientierte, setzte jedoch eine Bewegung in der türkischen Musikwelt in Gang, die das nationale Gut der Türküs sammelte und neu interpretierte. Er erarbeitete sich seinen eigenen Stil, indem er die Türküs nicht wortwörtlich und nicht Ton für Ton übernahm, sondern so umformte, dass Sinn und Ausdruck deutlicher wurden. Was anderen als Abweichung erschien, verstand er als eigenständige Intensivierung des ursprünglichen Gehaltes. Alles, was er 425 singe, so betonte er, sei sein Eigentum. Das könne er mit seiner Unterschrift bezeugen. Ruhi Sus Anspruch ist nicht, die Lieder des Volkes von seiner Sehnsucht, seiner Wut, seiner Armut einfach wiederzugeben und sie lebendig zu halten. Er will über Ursachen und Zusammenhänge ungerechter Verteilung und der Armut nachdenken und Sprachrohr der Armen sein, indem er die Herrschaftsverhältnisse offenlegt. Von diesem Anspruch zeugt das von ihm angezogene Sprichwort von einem, der Brot isst, während ein anderer zuschauen muss und darüber die Welt untergeht. (Biri Yer Biri Bakar / Kıyamet Ondan Kopar).426 In gleichem Zusammenhang steht Ruhi Sus Verwendung auffallender Bilder. So entlehnt er Nâzım Hikmets Bild von den Frauen, die schwere Arbeit mit den Ochsen leisten und erst nach den Ochsen an den Esstisch dürfen. (Soframızdaki yeri / öküzümüzden sonra gelen). 427 Ruhi Su ordnet die türkischen Sänger nach zwei Kategorien: die Alaturka-Sänger und die Sänger mit einer westlichen Ausbildung. Letztere Ausbildung impliziere vor allem eine bestimmte Gesangstechnik und Modulation des Tons, sie vernachlässige jedoch im Allgemeinen die Bindung an das Volk. Beide Typen von Sängern seien urban

425 SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ile Semahlar Üzerine Bir Söyleşi, Cumhuriyet (25. Nov. 1978). In: SU, Ruhi, Ezgili Yürek (1985): 132. 426 Siehe unten Kap. 9.8.2. 427 Aus dem Gedicht „Unsere Frauen“ (Kadınlarımız) von Nâzım Hikmet. Siehe unten Kap. 9.1.3. 131 geprägt und sängen die Türküs nicht so, wie er selbst sie vorgetragen hätte, sondern wie sie es erlernt hätten, ohne dass ihnen Zweifel an der Art und Weise ihres Vortrags kämen. Auch sehr gute Alaturka-Sänger könnten bei ihrer Türkü-Interpretation inkompetent wirken. Sie sängen dann die reinsten und mutigsten Texte mit der gewohnt aalglatten Stimmfigur und Stimmvibration. Anderseits sähen die Liedersänger mit westlicher Ausbildung es oftmals als eine Notwendigkeit an, die Türküs in der Stimm- und Vibrationstechnik der westlichen Musik zu singen. Man stelle sich das Gelächter vor, wenn die berühmte Tenorarie in der Oper Tosca in der Alaturka-Version gebracht würde. Eine Oper von Schubert oder Mozart müsse in einer bestimmten Form gesungen werden. Warum solle das nicht auch für Türküs gelten? Die Gesangstechnik des Westens sei für einige türkische Künstler eine Idealform. Wenn schon die Vorzüge des Westens in allen Lebensbereichen genutzt würden, warum solle man nicht auch die Liedertechnik übernehmen, sofern die Besonderheit der Türküs nicht verfälscht würde? Es sei nicht notwendig, die Türküs Alafranga zu singen, das heißt mit einer so energischen und steifen Stimme, als ob man den Zuhörer beschimpfen möchte. Die Türküs wollten in einem lyrischen und pastoralen Ton gesungen werden.428 Ruhi Su betrachtete eine gute, womöglich westliche Musikausbildung als eine Voraussetzung, wenngleich keine hinreichende, für eine gelungene Vortragsweise der Türküs. Für ihn stand neben einer guten Musikausbildung die humanistische Weltanschauung das heißt: nicht auf das Volk herabzusehen, sondern mit ihm zu leben und es zu verstehen. Er glaubte an das Volk und an eine bessere und schöne Zukunft. Sein Fazit für einen guten Sänger, das nicht ohne Spannung ist, lautet:

Man darf die Volkslieder nicht mit der jaulenden und undisziplinierten Stimme eines Volkssängers singen, aber auch nicht in der Art und Weise eines städtischen Sängers. Unsere Volkslieder müssen wir im Rahmen der westlichen Gesangstechnik singen, einerseits mit der Stimme des Volkes, andererseits jedoch in einem gewissen Abstand vom Volk.429

Ruhi Su schließt damit den Populismus aus. In einem Artikel von 1963 setzt Ruhi Su sich erneut mit den Qualitäten auseinander, welche ein Sänger von Türküs besitzen muss. Seine Hauptthesen sind folgende: Die Kunst des Gesanges ist, wie andere Künste, keine Amateursache. Ein Sänger muss neben der Gesangstechnik ein Wissen von der Folklore haben, welches ihm erst ermöglicht, Türküs und Volksbräuche zu verbinden.

428 Nach SU, Ruhi: Halk Şarkılarının Söylenişi, Varlık 157, X (1. Jan. 1940): 337-338. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek ( 1985): 46-47. 429 Ebd. 47. 132 Türküs sind recht vielartig: manche gleichen einem Lied andere haben den Charakter einer Arie oder eines Rezitativs. Türküs sind keine gefrorene Musik; sie ändern sich mit Sänger und Text; ihre Kunst wird ständig verworfen und neu geboren. Der richtige Weg ist, sie nach ihrem Inhalt, welcher das Volk weiterbringen soll, zu interpretieren. Zudem weiß ein sein Volk liebender Mensch, dass es eine Bildung des Volkes gibt.430 Ruhi Su kommt auf der Schallplatte „Kinder, Migrationen und Fische“ (Çocuklar, Göçler, Balıklar) von 1979 auf den Charakter seiner Arbeit zu sprechen. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt Tausende Türküs gesammelt und von ihnen einige hundert gesungen. Er bezeichnet seine Arbeit weder als folklorische noch als ethnomusikalische, sondern als künstlerische Auswahl. Er kennt sehr wohl die Spannungen, welche darin bestehen, dass er einerseits oft die Gesangsart des Volkes aufnimmt, andererseits der Nachahmung und dem Kopieren auszuweichen versucht; dass er einerseits ein Städter mit musischer Ausbildung ist und andererseits sich fragt, wie er machen soll, was das Volk macht. Gleichzeitig geht es ihm darum, Türküs mit der Richtigkeit und Schönheit der türkischen Sprache zu singen. Im Dienste des höheren Anliegens, dass nämlich der Gesang eine nationale Einheit erschaffen solle, dürften die lokalen Sprachvarianten und ethnischen Gegebenheiten nicht weitergeführt werden. Wenn eine solche Kunst nichts erbringe und mit Blick auf die Zukunft nichts verändere, dann lebe sie nicht. Die Arbeit der Türküsänger müsse sowohl die Sehnsucht des Volkes stillen als auch lebendig halten.431

430 Vgl. SU, Ruhi: Halk Türkülerinin Söylenişi, Yeditepe 45 (16-31 Aug. 1964): 9-10. In: Ezgili Yürek, SU, Ruhi (1985): 54-55. 431 SU, Ruhi: Rückseite der Schallplatte „Kinder, Migrationen, Fische“ (Çocuklar, Göçler, Balıklar, 1979). 133 6.7 Ruhi Sus Bearbeitung von Texten und ihr neuer Sinn432 Der neue Sinn konstituiert sich dadurch, dass Ruhi Su anonymen Texten neue Formulierungen unterlegte, welche die Historizität der alten Texte zugunsten eines Bezugs zur Gegenwart aufgeben. Es konnte auch geschehen dass er seine eigenen Texte mit anonymen Melodien ausstattete. Mit diesem Vorgehen reihte er sich bewußt in die Tradition der Volksliedsänger ein.433 Gleichzeitig war ihm der Einsatz von Wiederholungen und Refrains sehr wesentlich, weil er glaubte, dass solche Formelemente den Charakter eines Textes als Türkü noch deutlicher herausstellten. Ein Beispiel sind die Wiederholungen am Strophenende im Lied des Reiters.

432 Die unter 6.7.1 bis 6.7.6 aufgeführten Texte entstammen dem Kapitel 9 und werden dort nicht erneut behandelt. 433 Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit einem namentlich nicht genannten Partner: Robert College, The Bosphoros Chronicle XXIII, 5 (Apr.-Mai 1978). In: Ezgili Yürek (1985): 128. 134 6.7.1 „Das Lied des Reiters”434 Das Land, das dem Kopf einer Stute gleicht, Die im Galopp aus dem fernen Asien kam, Um ins Mittelmeer einzutauchen, Dies ist unser Land. Dies ist unseres, Herzensfreunde.

Blutige Handgelenke, zusammengepresste Zähne, nackte Füße Und ein Land wie ein Teppich aus Seide, Dies ist unsere Hölle, dies ist unser Himmel. Diese sind unsere, Herzensfreunde.

Schließen sollen sich die Tore der Fremden, mögen sie sich nie wieder auftun. Vernichtet die Verknechtung des Menschen durch den Menschen, Dies ist unsere Forderung. Diese ist unsere, Herzensfreunde.

Zu leben, allein und frei wie ein Baum, Und brüderlich wie ein Wald, Dies ist unsere Sehnsucht. Diese ist unsere, Herzensfreunde. Nâzım Hikmet

Dieses Gedicht richtet sich gegen eine Vereinnahmung des Stolzes auf das eigene Land durch rechte nationalistische Kräfte. Der Hinweis auf Freiheit und Brüderlichkeit legt die Diskrepanz offen zwischen einem real existierenden Sozialismus und der Utopie der Linken von einem freien Leben in einer Bürgergemeinschaft.

434 Aus der Schallplatte „Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı, 1970). Die Wiederholungen sind in der deutschen Übersetzung mit kursiv gekennzeichnet. Da der Originaltext insgesamt kursiv ist, bietet sich das gegensätzliche Verfahren an, Ruhi Sus Zusätze nicht kursiv zu schreiben. Dieses Vorgehen kann auf alle Gedichttexte unter Kapitel 6 übertragen werden, steht jedoch an dieser Stelle nur beispielhaft.

135 Der Text in der Fassung Nâzım Hikmets verfolgt zwei für ihn charakteristische Themen. Das Land ist von großer Schönheit wie ein Seidenteppich und frei und brüderlich wie ein alleinstehender Baum oder ein Wald von Bäumen. Die Menschen des Landes quälen sich immer noch ab; sie sind aber aufgerufen, die Freiheit der Bäume zu gewinnen. Wer dem Gedicht sorgfältig zuhört, erkennt die sozialistische Grundtendenz. Um so erstaunlicher ist es, dass der Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi), den sogenannten Grauen Wölfe, das Gedicht zu Eröffnung ihres Kongresses vom 9. Oktober 1994 von ihrem Vorsitzenden, Alpaslan Türkeş, vorgetragen wurde.435 Einem Mißbrauch hatte freilich schon früher Ruhi Su einen Riegel vorgeschoben, indem er in die letzte Zeile jeder Strophe Herzensbrüder (Dostlar) einsetzte und so den Text auf eine sozialistische Deutung festlegte. Das Wort “Dost” war für Ruhi Su sehr wichtig, denn es entsprach sowohl den Begriff “Herzensfreund” als auch dem Wort “Genosse.”436

437 „Süvarinin Türküsü” Dörtnala gelip uzak Asya’dan, Akdeniz’e bir kısrak başı gibi uzanan, bu memleket bizim. Bizim dostlar.

Bilekler kan içinde, dişler kenetli, ayaklar çıplak. Ve ipek bir halıya benzeyen toprak, bu cehennem, bu cennet bizim. Bizim dostlar.

Kapansın el kapıları, bir daha açılmasın, Yok edin insanın insana kulluğunu, bu davet bizim. Bizim dostlar.

435 Vgl. PULUR, Hasan: Alpaslan Türkeş, Nâzım Hikmet'in şiirini niçin okudu?, Milliyet (28. Dez. 2006). 436 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. Aug. 2008 in Köln. 437 Bei der Übersetzung dieses Gedichtes hat der Verfasser die Übersetzungen von Feridun Korkmaz und von Annemarie Bostroem herangezogen. Beide Übersetzungen enthalten jedoch Überschneidungen oder Ungereimtheiten. Die Überschrift bei einer Übersetzung heißt “Die Einladung” und in der anderen “Das ist unser Land.” Das gleiche Gedicht betitelt Ruhi Su als “Das Türkü des Reiters”. Für Korkmaz vgl. Türkeizentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 219 und für Bostroem vgl. HİKMET, Nâzım: Ich liebe mein Land (ohne Erscheinungsjahr): 96. 136 Yaşamak bir ağaç gibi tek ve hür, Ve bir orman gibi kardeşçesine, bu hasret bizim. Bizim dostlar.

Nâzım Hikmet

137 6.7.2 „Wie schön ist die Alm, die dort gegenüber zu sehen ist“ 438 / Wie schön ist die Alm, die dort gegenüber zu sehen ist. Ich gehe ohne dass mein Leben gereift ist. Hilf mir, mein Meister mit gelbbraunen Augen, Dann gehe ich über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund)

Falls ich erblühe und zum Garten werde Und zur Sage des Volkes werde, Schwarze Erde, wenn ich erhabener als du bin, Dann gehe ich über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund)

Falls sie mich waschen, obwohl ich schon gewaschen bin, Falls sie meine Gebete beten, obwohl sie schon gebetet sind, Falls sie den umbringen, der „Schah“ sagt, Dann gehe ich über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund)

Die Welt lässt sich nicht aufhalten, ich, Pir Sultan Abdal, Das vergangene Leben lässt sich nicht zurückholen, Meine Augen verlassen den Weg des Schahs nicht, Dann gehe über diese Alm zum Schah. (zum Herzensfreund) Pir Sultan Abdal

„Karşıda Görünen Yayla Ne Güzel Yayla“ Karşıda görünen yayla ne güzel yayla. Bir dem süremedim giderim böyle. Ela gözlü pirim sen himmet eyle, Ben de bu yayladan Şah’a (Dost’a) giderim.

438 Quelle: Süleyman Topgül. Die Sängerin Zühre Varışlı sang dieses Lied 1963 auf einer Schallplatte. Ruhi Su erhielt das Lied von Hüseyin Erdem. Dieses Lied wurde im Chor geübt, auf Konzerten gesungen, jedoch nicht auf Schallplatte aufgezeichnet. 138 Eğer göğerüben bostan olursam, Şu halkın diline destan olursam, Kara toprak senden üstün olursam, Ben de bu yayladan Şah‘a (Dost’a) giderim.

Alınmış abdestim aldırırlarsa, Kılınmış namazım kıldırırlarsa, Sizde Şah diyeni öldürürlerse, Ben de bu yayladan Şah‘a (Dost’a) giderim.

Pir Sultan Abdal'ım dünya durulmaz, Gitti giden ömür geri dönülmez, Gözlerim yolundan Şah’ın ayrılmaz, Ben de bu yayladan Şah’a (Dost’a) giderim. Pir Sultan Abdal

Im 16. Jahrhundert versprach der osmanische Hızır Paşa Pir Sultan Abdal das Leben statt des Todes am Galgen, wenn er ein Gedicht schriebe, ohne das Wort „Şah“ zu nennen, das als auf den Feind der Osmanen, Şah İsmail, bezogen, verstanden wurde. Pir Sultan Abdal sollte dem Şah und seinem Glauben abschwören. Er verwandte jedoch mehrfach das Wort „Şah“. Damit widersetzte er sich dem Angebot und wurde gehängt. Historisch gesehen wurden die Aleviten von den sunnitischen Osmanen unterdrückt. Ihr Gebrauch des Wortes „Şah“ wurde ihnen ausgelegt als eine Verbrüderung mit dem safawidischen Şah İsmail. Folglich war es ihnen untersagt, dieses Wort zu verwenden. 439 Wie in dem Gedicht „Das Lied des Reiters“ (Süvarinin Türküsü) gibt Ruhi Su durch den Gebrauch des Wortes „Herzensfreund“ (Dost) diesem Text einen sozialistischen Ton, der umso emphatischer klingt, weil dieser politische Begriff an

439 Nach Ali Haydar Avcı ist der Name „Şah“ bei den Aleviten mit einer rettenden Kraft gleichzusetzen, die Ungerechtigkeit, Armut und Tyrranei bekämpft. Siehe AVCI, Ali Haydar: Kalender Çelebi Ayaklanması, AAA Yayınları (1998):108. Auch Irene Melikoff schreibt, dass Pir Sultan hier nicht den persischen Schah, sondern den „Şah-ı Merdan“, also Ali lobt. Sie sagt aber weiter, dass Pir Sultan bei manchen seiner Gedichte -sie gibt dazu ein Beispiel- mit dem Wort Şah, den damaligen persischen Schach Tahmasb meint. Vgl. MELİKOFF, İrene: Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 12- 13. 139 herausgehobener Stelle, nämlich jeweils in der letzten Zeile eingesetzt wird.440 Der Text spricht mit einer autobiographischen Stimme. Pir Sultan schreibt ihn Augenblicke vor seiner Hinrichtung, beschreibt aber auch, was nach seinem Tode mit ihm geschieht. Auf poetische Weise kehrt er die Abfolge des Geschehens um: schon bald wird er Teil der Natur, Garten, Blume und schwarzer Grabhügel sein. Als solcher Teil lebt er schon im Gedächtnis des Volkes weiter. Dann erst folgen die rituelle Waschung, die Gebete und der Grund für die Hinrichtung. Jede Strophe enthält den Hinweis auf einen Weg durch eine schöne Berglandschaft hin zur seinem Meister Şah. Er begibt sich getreu auf diese Wanderung, welche gewiss eine spirituelle ist, denn der Weitergang der Welt ist ohnehin nicht aufzuhalten. Ruhi Su weist darauf hin, dass im laizistischen Staat der Türkei das Wort „Şah“ aus den Liedern der Aleviten verschwunden sei. Die Aleviten hätten, nach dem Ende der sunnitischen Herrschaft im osmanischen Reich, nicht mehr den historischen politischen Kontext im Auge gehabt, das heißt, ein Bündnis mit dem Feinde der Osmanen, welcher gleichzeitig ihr eigener Glaubensbruder gewesen sei. Vielmehr sei es den Aleviten um Gleichheit und Glaubensfreiheit gegangen.441 Glaubensfreiheit beinhaltete für die Aleviten eine Art Laizismus im Staat, wie sie ihn in ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft bereits hätten. Ruhi Su zeigt an dem Beispiel eines Gedichtes von dem Volksdichter Kul Hasan aus Maraş / Afşin, welche große Bedeutung das alevitische Volk dem Laizismus des Gazi Kemal beimaß:

Trennt euch nicht, türkische Jugend, Vom Laizismus, von der Brüderlichkeit. Wer sich trennt vom Laizismus, von der Brüderlichkeit, Ist ungebildet und ein Verirrter.

440 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem 5. Aug. 2008 in Köln. 441Vgl. SU, Ruhi: Günümüzde Türküler, Köken 3 (Mai 1974): 39-41. In: Ezgili Yürek (1985): 77. Pertev Naili Boratav weist mit Nachdruck auf die Freude der Aleviten hin, als ihr Glaubenskonflikt mit den Sunniten durch die Reformen Atatürks ein Ende zu finden schien.Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Kemalist Kültür Devrimi. Le Monde Diplomatique, Beilage Türkiye (Okt. 1973) und Yeni Ortam (29. Okt. 1973). In: Folklor ve Edebiyat I (1982): 183-186. Obwohl die Aufhebung aller religiösen Versammlungsorte auch die Aleviten schwer traf, hielten sie an ihre Hochachtung für Atatürk fest, weil er ihnen einen historischen Moment des Aufatmens gewährt hatte. Vor der Gründung der Türkei hatte Atatürk nämlich Unterstützung und Hilfe bei Aleviten und Kurden gesucht und erhalten im Sinne einer Revolution des gesamten, brüderlich zusammenlebenden Volkes. Nach der Staatsgründung aber verwarf er den Gedanken der Gleichstellung der verschiedenen Volksgruppen. Sein Ziel war ein homogener Nationalstaat von Türken, welche gleichzeitig Muslime (Sunniten) waren. Die Aleviten wurden nicht mehr als eigene Religionsgemeischaft akzeptiert und die Kurden zu “Bergtürken” ohne eigene Rechte degradiert. 140 Gazi Kemal442 kam in die Welt und ging auf, Trieb den Feind aus der Heimat. „Trennt euch nicht,“ sagte er, „Vom Laizismus, von der Brüderlichkeit“

Ich bin Kul Hasan, in der Hand die Saz. Brüderlich sind der Frühling und Sommer, Wer Mensch ist, trennt sich nicht Vom Laizismus, von der Brüderlichkeit.443 Kul Hasan

Ayrılmayın Türk gençleri, Laiklikten, kardeşlikten. Ayrılan cahil serseri, Laiklikten, kardeşlikten.

Gazi Kemal geldi doğdu, Düşmanı vatandan kovdu. Atamız „ayrılman“ dedi, Laiklikten, kardeşlikten.

Kul Hasan’ım elimde saz, Kardeşlik bahar ile yaz. İnsan olan ayrılmaz, Laiklikten, kardeşlikten. Kul Hasan

442 Auch hier wird Gazi Kemal vom Volksdichter Kul Hasan als Befreiungskämpfer beschrieben. Vgl. oben Kap. 4.3 und Fußnote 286. Für die Gesamtgedichte Kul Hasans siehe KOÇAK Ahmet (Hrsg.): Yirminci Yüzyılın İnsanlarıyız (ohne Ercheinungsjahr). 443 SU, Ruhi: Bir Halk Türküsü, Yeni Ufuklar 139 (Dez. 1963). In: Su, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 59-60. 141 6.7.3 „Der Jugend-Marsch-Der Gipfel ist Nebel umschlungen“ Dieser Marsch hat eine interessante Geschichte. Der bekannte Sportpädagoge Selim Sırrı Tarcan (1874-1957) brachte von einer Bildungsreise im Jahre 1911 nach Schweden Materialien für den Unterricht mit, darunter auch Lieder. Eines dieser Lieder war dieser Marsch, welcher vom schwedischen Komponisten Felix Körling mit dem Titel “Tre Trallande Jantor” als Försterlied verfasst wurde. Um dieses auch heute noch häufig gespielte Lied pädagogisch einzusetzen, formte Selim Sırrı Tarcan es zu einem Marsch um und bat den Türkischlehrer Ali Ulvi Elöve, einen Text zu verfassen. Ali Ulvi Elöve ging auf die Bitte ein, und schrieb einen Text, der Mut machen sollte und einen kleinen Lichtblick in eine schwere und düstere Zeit warf., in der das Osmanische Reich aus dem Ersten Weltkrieges mit einer Niederlage hervorging, von Tagen voller Trauer, Schmerz und Hoffnungslosigkeit444

Der Gipfel ist Nebel umschlungen, Der Silberfluss ruht nicht, fließt ununterbrochen, Die Sonne geht jetzt am Horizont auf, Freunde, lasst uns marschieren.

Erde, Himmel und Wasser sollen unsere Stimme hören, Alles soll erzittern unter schweren Schritten.

Wo gibt es dieses Meer, diesen Himmel? Wo gibt es solche Berge und Steine? Diese Bäume, diese schönen Vögel? Freunde, lasst uns marschieren.

Erde, Himmel und Wasser sollen unsere Stimme hören, Alles soll erzittern unter schweren Schritten. Ali Ulvi Elöve

444Nach http://tr.wikipedia.org/wiki/Selim_S%C4%B1rr%C4%B1_Tarcan. Abgerufen am 28.8.2011. 142 Es folgt Ruhi Sus dreizeiliger Einschub in kursiver Schrift:

Die Berge, Steine und schönen Vögel, Und diese Menschen, diese Menschen? Eines Tages geht die Sonne am Horizont auf. Freunde, lasst uns marschieren.

Erde, Himmel und Wasser sollen unsere Stimme hören, Alles soll erzittern unter schweren Schritten.

„Gençlik Marşı-Dağ Başını Duman Almış “ 445 Dağ başını duman almış, Gümüş dere durmaz akar. Güneş ufuktan şimdi doğar, Yürüyelim arkadaşlar.

Sesimizi yer, gök, su dinlesin, Sert adımlarla her yer inlesin.

Bu gök, deniz nerede var? Nerede bu dağlar taşlar? Bu ağaçlar güzel kuşlar? Yürüyelim arkadaşlar.

Sesimizi yeri gök, su dinlesin, Sert adımlarla her yer inlesin.

Ali Ulvi Elöve

445 Aus der Schallplatte „Der Morgen hat einen Besitzer" (Sabahın Sahibi Var, 1977). 143 Im Türkischen wird Ruhi Sus Einschub nicht kursiv gekennzeichnet:

Dağlar, taşlar, güzel kuşlar, Ya bu insanlar, insanlar? Güneş ufuktan bir gün doğar, Yürüyelim arkadaşlar.

Sesimizi yer, gök, su dinlesin Sert adımlarla her yer inlesin

Durch die Einfügung einer abschließenden Strophe, welche die Frage nach der unglücklichen Lage der Menschen stellt, gibt Ruhi Su dem gesamten Text einen veränderten Sinn. Die frühere Fassung ist von einem Überschwang des Heimatstolzes erfüllt. Sie schildert einen Sonnenaufgang, bei dem der Sprecher zum kraftvollen Marsch aufruft, der sozusagen Himmel und Erde erzittern lässt. In einer Reihe von rhetorischen Fragen preist er die einzigartige Schönheit der türkischen Landschaft. Ruhi Sus zusätzlicher Text verleiht dem Marsch eine tiefere Dimension, indem er die Frage nach den Menschen aufwirft. Wo bleibt, fragt er, bei solch gefühlsbetontem Stolz auf die Heimat, das kritische Denken? Er wandelt den naiven Nationalstolz auf die Natur der Erstfassung um in ein politisches linkes Bewusstsein. In seinem Text geht die Sonne nicht auf, sie wird erst eines Tages aufgehen. Ruhi Su stellt uns eine utopische bessere Welt vor Augen und zweifelt nicht daran, dass wir sie erleben werden, wenn wir kraftvoll auf sie zu gehen. Ruhi Su übt eine indirekte, doch deutliche Kritik an der Republik. Sie habe noch nicht alle Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesellschaft ausgeschöpft.

144 6.7.4 „Meine Mutter hat mich aufgezogen“446 „Annem Beni Yetiştirdi“ Meine Mutter hat mich aufgezogen. Annem beni yetiştirdi. „Wecke das Volk auf,“ sagte sie, „Halkı uyandır“ dedi. „Ohne das Volk gibt es gar nichts, „Halk olmadan bir şey olmaz, „Wecke das Volk auf,“ sagte sie. Halkı uyandır“ dedi

„Dieser Kampf ist der Kampf des Volkes, „Bu kavga halkın kavgası, Wecke das Volk auf,“ sagte sie, Halkı uyandır“ dedi. „Das arme Volk, den Arbeiter, „Yoksul halkı, emekçiyi, Musst du wecken und erleuchten.“ Kaldır uyandır“ dedi

„Wecke ihn, damit er dem Verräter „Uyandır ki uymasın o Nicht in die Falle geht. Hainin iğvasına. Er soll sich seiner eigenen Person annehmen, Sahip olsun hem kendine Seines eigenen Vorhabens.“ Hem kendi davasına“

„Dieser Kampf ist der Kampf des Volkes, „Bu kavga halkın kavgası, Wecke das Volk auf,“ sagte sie, Halkı uyandır“ dedi „Das arme Volk, den Arbeiter, „Yoksul halkı, emekçiyi Musst du wecken und erleuchten.“ Kaldır uyandır” dedi Ruhi Su

Das ursprüngliche Lied, das schon seit langem von Soldaten gesungen wurde, lautet wie folgt:

Meine Mutter hat mich aufgezogen, Annem beni yetiştirdi, Sie schickte mich zum Dienst dieser Heimat, Bu vatana yolladı, Übergab mir die rote Fahne, Al sancağı teslim etti, Übergab mich Allah. Allaha ısmarladı.

446 Aus der Schallplatte „Der Morgen hat einen Besitzer" (Sabahın Sahibi Var, 1977).

145 „Sei nicht untätig, arbeite,“ hat sie gesagt, „Boş durma çalış“ dedi, „Diene deiner Heimat. „Hizmet eyle vatana. Meine Muttermilch verlange ich zurück, Sütüm sana helal olmaz, Wenn Du den Feind nicht angreifst.“ Saldırmazsan düşmana.“

Unbekannter Verfasser Melodie: Rıfat Bey

Ruhi Su hat diesen Text grundlegend verändert und auf der Schallplatte „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var, 1977) vom Chor der Freunde (Dostlar Korosu) singen lassen. Ursprünglich war dies Lied ein Soldatenlied, das traditionelle türkische Topoi einsetzt, dass es die Mutter ist, welche den Sohn zur Verteidigung des Vaterlandes in die Armee schickt, und dass sie bei seiner Verweigerung ihre Muttermilch zurück verlangt. In Ruhi Sus Fassung geht es nicht um eine militärische, sondern um eine politische Bewährungsprobe des Sohnes. Im Mittelpunkt steht die Forderung der Mutter, dass der Sohn das arme Volk und die Arbeiter aufklären soll. Das Ziel des Kampfes ist nicht näher benannt, aber gemeint ist wohl die sozialistische Revolution als Akt der Befreiung. Zwar besteht die Mutter auf der Erkenntnis, dass es um einen Kampf des Volkes geht, sie glaubt jedoch ebenso fest, dass erst die Stimme eines Mannes, der den Feind kennt, das Volk aufrütteln und zu Taten bringen kann. So wird aus einem traditionellen Soldatenlied ein sozialistisches Kampflied.

146 6.7.5 „Einheit” „Tevhit” 447 Meine Kaaba ist der Mensch Benim Kâbem insandır, Und auch der Koran, auch der Retter, Kuran da, kurtaran da,448 Das Menschenkind des Menschen. İnsanoğlu insandır.

Meine Kaaba ist die Liebe Benim Kâbem sevidir, Und auch der Koran, auch der Retter, Kuran da, kurtaran da, Die liebenden Menschen. Sevili insanlardır.

Meine Kaaba ist die Arbeitskraft Benim Kâbem emektir, Und auch der Koran, auch der Retter, Kuran da, kurtaran da, Die arbeitenden Menschen. Emekçi insanlardır.

Meine Kaaba ist die Welt Benim Kâbem dünyadır, Und auch der Koran, auch der Retter, Kuran da, kurtaran da, Die weltrettenden Menschen. Dünyayı insanlardır. Ruhi Su

In diesem Gedicht, welches Ruhi Su in seiner traditionellen Form zweifellos inspiriert hat, kommt seine eigene Vorstellung zum Ausdruck, dass der Mensch selbst für seinen Zustand verantwortlich ist. Er ist der Liebende und der Retter der Mitmenschen; die Welt, das Humane, sozialistische Ideen, nicht das größte Heiligtum des Islam, die Kaaba, und der Koran, verheissen das größte Heil. Der Mensch steht im Mittelpunkt und alles kommt auf ihn zu. Die Menschen sind es selbst, die lieben können, arbeiten wollen und somit die Welt zu einem besseren und schöneren Ort machen.

447 Aus der Schallplatte „Die Samahs“ (Semahlar, 1978). Auch dieser Text zeigt, so deutlich wie selten, den neuen weltlichen und sozialistischen Sinn, welchen Ruhi Su durch seine Substitution der zentralen Begriffe einem alevitischen Text gibt. Die Annahme Cemal Şeners, Alevilik Olayı (1981): 181, es handle sich um traditionelles Gedankengut des Hacı Bektaşi Velis (1209-1271), des großen Heiligen der Aleviten, ist nicht haltbar. Der Verweis auf Cemal Şener verdankt sich Karabey Aydoğan. 448 In diesem Vers liegt ein Wortspiel. Das Wort „Kuran“ steht im Türkischen zum einen für das Heilige Buch und zum anderen für denjenigen, der aufbaut. Es besitzt eine Doppeldeutigkeit, die sich Ruhi Su zu eigen macht. 147 Die traditionalle Version lautet:

Meine Kaaba ist Ali, Benim Kâbem Ali‘dir, Es gibt keinen anderen Gott als Allah. La ilahe illallah. Er ist Ali, Sohn des Ali, Ali oğlu Ali’dir, Es gibt keinen anderen Gott als Allah. La ilahe illallah.

Meine Kaaba ist Hasan, Benim Kâbem Hasan’dır, Es gibt keinen anderen Gott als Allah. La ilahe illallah. Er ist Hasan, Sohn des Ali. Ali oğlu Hasan’dır, Es gibt keinen anderen Gott als Allah. La ilahe illallah.

Meine Kaaba ist Hüseyin, Benim Kâbem Hüseyin, Es gibt keinen anderen Gott als Allah. La ilahe illallah. Er ist Hüseyin, Sohn des Ali, Ali oğlu Hüseyin, Es gibt keinen anderen Gott als Allah, La ilahe illallah.449

449 Text nach mündlicher Mitteilung von Karabey Aydoğan vom 14. Nov. 2011. 148 6.7.6 „Fürbitte” „Gülbenk” 450 Allah Allah, Allah Allah, Allah Allah! Allah Allah, Allah Allah, Allah Allah! Respekt gegenüber der Drei und der Fünf, Üçlerin, beşlerin, Gerçek erlerin ve şehitlerin, Den wahren Menschen und Märtyrern. Yüzü suyu hürmetine. Gesegnet möge der Abend sein, Akşamlar hayrola, Die Bösen mögen verschwinden, Şerler defola, Die Helden mögen sich aufstellen, Yiğitler safola, Unser Helfer möge das Volk sein. Yardımcımız halk ola . Auf unser Sein, Varlığımıza, Auf unsere Einheit, Birliğimize, Auf unsere Einigkeit, Bir olmamıza, Merhaba! Merhaba! Ruhi Su

Am Ende der Samah, des rituellen Tanzes der Aleviten, folgt immer das Gebet. In diesem Gebet werden Wünsche und Träume mit Blick auf die Gemeinschaft ausgesprochen. Neben religiösen Begriffen wie „Allah“, „Märtyrer“ oder „gesegneter Abend“ ist das Wort „Volk“ aussagekräftig. Im Türkischen bedeutet das Wort „hak“ Gott und das Wort „halk“ Volk. Ruhi Su will mit diesem Wortspiel, welches das alevitische Wort „Gott“ durch das Wort „Volk“ ersetzt, die Aleviten vor einfältiger Religiosität warnen. Somit ist für Ruhi Su der Retter des Volkes das Volk selbst, in einem weiteren Sinne, und nicht nur in dem der Aleviten. Er bestärkt die Aleviten, Hilfe nicht bei Gott, sondern bei den Mitmenschen zu suchen. Den Kern der Selbsthilfe sieht er in der Einigkeit der Menschen. Er setzt weltliche Begriffe, nämlich „Helden“ (yiğitler), „Die wahren Menschen und Märtyrer (gerçek erler ve şehitler) und den Gruß „Merhaba“ an die Stelle des alevitischen Anrufs Gottes (Hu!).

450 Aus der Schallplatte ‚Die Samahs’ (Semahlar, 1978). 149 7. Ruhi Sus Lieder und ihre Entstehungsgeschichte 7.1 Der autobiographische Bezug von Ruhi Sus Texten Wenn man sich näher mit Ruhi Sus Liedern und Prosatexten beschäftigt, sieht man deutlich den Bezug zu biographischen Details und zu seinen politischen Vorstellungen. Neben seinen Gedichten und Türkütexten hat Ruhi Su auch seine Gedanken über Musik niedergeschrieben. Der Literaturkritiker Cevat Çapan bemerkt, wenn man die Gedichte und Türküs lese, erkenne man die Quelle dieser mit seiner hervorragenden Stimme gesungenen Melodien. Wenn man seine Texte lese, erfahre man recht gut, wie er sein hohes kreatives Niveau sowie seine exzellente Bildung, Arbeitsweise und Wissen über Kultur erreicht habe.451

451 ÇAPAN, Cevat: Vorwort. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 7. 150 7.1.1 Die Geschichte des Liedes von dem „Berg Hasan“ (Hasan Dağı) In seinen Liedern entwickelte Ruhi Su aus zunächst unbedeutend scheinenden Episoden seines Lebens Gedanken über den Zustand des leidenden Volkes oder den Zustand der Welt überhaupt. Er verknüpfte beklagenswerte politische Ereignisse mit seiner persönlichen Reaktion und Befindlichkeit. In den vielen Liedern, die er über Kämpfe und Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte schrieb, stellte er einen persönlichen Bezug her. Solche Bezüge werden nun näher beleuchtet. Nach langer Haft in İstanbul wurde Ruhi Su in das Gefängnis von Adana verlegt, um dort die restliche Haftzeit abzusitzen. Der Weg führte am Fuße eines Berges entlang, des Berges Hasan, eines erloschenen Vulkans. Einer der Mitgefangenen war Ahmet Baba, der sich noch gut an diesen Tag erinnert. Die Wärter hatten die Gefangenen in einem Bus gezwängt, der nachts durch das Niğdetal fuhr. Als die Häftlinge ausstiegen, um Wasser zu lassen, musste jeder sich hinknien, wenn der Partner sich hinkniete, da beide aneinander geketten waren. Die anatolische Steppe war nachts zauberhaft schön. Im Mondlicht schimmerte der Berg Hasan. Sie streichelten die Weite und die Berge mit den Augen. Ruhi Su war wie in Ekstase. Sie glaubten, der Berg Hasan werde das seit Millionen von Jahren in seinem Bauch verborgene Feuer ausspeien.452 Jahre später beschrieb Ruhi Su diese Nacht in einem Gedicht, welches er vertonte.453

„Der Berg Hasan“ „Hasan Dağı“ Der Berg Hasan, der Berg Hasan! Hasan Dağı, Hasan Dağı ! Beuge dich und schau hin, Eğil eğil, eğil bir bak, Die Kette drückt auf die Gelenke, Sıkıyor zincir bileği, Keine Gnade des Gendarmen. Jandarmada din iman yok.

Unsere Wanderer stehen auf und bewegen sich fort. Gidiyor kalktı göçümüz. Unser Inneres lacht und weint nicht, Gülmez, ağlamaz içimiz, Unsere Schuld war es, Mensch zu sein, İnsan olmaktı suçumuz, Berg Hasan, Mensch zu sein. Hasan Dağı, insan olmak. Ruhi Su

452 Vgl. KEMAL, Mehmed: Ruhi Su’yu Dinlerken, Acılı Kuşak (1996): 254-257. Unter den Häftlingen befanden sich neben Ahmet Baba und Ruhi Su Enver Gökçe, Orhan Suda, Abdülkadir Demirkan, Sabahattin Dikmen und Zeki Baştımar. 453Aus „Gedichte und Lieder“ (Şiirler, Türküler, 1974). Die fünfte Schallplatte von insgesamt elf im Eigenverlag veröffentlichten Platten. 151 Hier wird deutlich, dass Ruhi Su die Unmenschlichkeit und Erbarmungslosigkeit anprangert. Er lebte unter Verhältnissen, die die Gefangenen entwürdigten. Er wandte sich an den Berg Hasan mit seiner Klage, fügte aber auch hinzu, dass er innerlich über diesen unwürdigen Bedingungen stehe. Bei Ruhi Su finden wir oft eine emphatische Verwendung des Begriffes „Mensch“ (insan). Damit ist die Verletzlichkeit des Menschen gemeint, zugleich aber auch seine moralische Urteilsfähigkeit und Würde.

152 7.1.2 Die Geschichte des Liedes „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal): Für Sıdıka Su Dieses im Gefängnis von Harbiye entstandene Lied zeigt Ruhi Sus Durchhaltevermögen und seinen Kampfeswillen. Durchdrungen vom Glauben an eine bessere Zukunft richtete er das Lied an die Mitgefangenen und auch an seine zukünftige Frau Sıdıka Umut, die ebenfalls im Kerker von Sansaryan in İstanbul eingesessen hatte, unter derselben Anschuldigung, Mitglied der kommunistischen Partei der Türkei (TKP) zu sein. Dass er im Gefängnis das Lied insbesondere an sie richtete, war daran zu erkennen, dass er es immer wieder in die Richtung ihrer Haftzelle sang und sie so aufzumuntern versuchte. Bestätigt wird dies von einem Mitgefangenen.454 Auch Sıdıka Su betont, sie könne sich sehr gut an die von weitem kommende und überwältigende Stimme erinnern, als sie im Frauentrakt des Militärgefängnisses von Harbiye einsaß.455

„Ein besonderer Ort“456 Ein besonderer Ort ist der Kerker, in dem ich festsitze, Sitze ein, was ist schon dabei, es sind Genossen nebenan, Ihre beiden Hände sind rot von Blut. Ich sterbe, ich sterbe, doch meine Gedanken sind bei Dir.

Wir werden mehr und nicht weniger in den Kerkern. Es ist nicht einfach, die Spitze des Leidens sitzt tief, Im Fluss Kumhan und in Karaburun. Ich werde sie aber finden, denn meine Wut sitzt auf der Schwertscheide.

Du meine liebliche Harmonie, meine Kraft, Meine linke Hälfte, mein Glaube, Mein weißes Mehl, meine weiße Taube! Ich weiß ganz sicher, alles wird gut werden in den kommenden Tagen. Ruhi Su

454 Aus dem Gespräch mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai. 2006. 455 AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (2000): 147. 456 Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer nicht genannt werden.

153 „Mahsus Mahal“ Mahsus mahal derler, kaldım zindanda, Kalırım kalırım, dostlar yandadır, İki elleri kızıl kandadır, kanda. Ölürüm ölürüm kardeş, aklım sendedir.

Artar eksilmeyiz, zindanlarında, Kolay değil, derdin ucu derinde, Kumhan Irmak’ında, Karaburun’da. Bulurum bulurum kardeş, öfkem kındadır.

Dirliğim, düzenim, dermanım canım, Solum, sol tarafım, imanım dinim, Benim beyaz unum, ak güvercinim. Bilirim bilirim kardeş, gelen gündedir. Ruhi Su

Ein besonderer Ort war der Kerker wahrlich nicht gewesen. Als Ruhi Su mit vielen Mitgefangenen endlich, nach der Haft in Sansaryan und Harbiye vor Gericht gebracht wurde, berichtete ein Häftling von ihrer elenden Untersuchungshaft in Zellen, die den Namen Sarg verdient hatten. Darauf bemerkte der vorsitzende Richter, der Ort, von dem der Häftling spreche, werde „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal) genannt. Ruhi Su gab dem Gedicht diesen Namen, um die menschenverachtende Ironie des Richters festzuhalten. Die Zusammenfügung von Kumhan und Karaburun hat sicher damit zu tun, dass Ruhi Su Mitleid mit allen Ausgebeuteten und Gefallenen empfand. So hatte Börklüce Mustafa, ein Schüler des Şeyhs Bedreddin (1358 - 1420),457 in Karaburun einen Aufstand gegen die Herrschaft der Osmanen angezettelt und wurde daraufhin gehängt. Kumhan gelangte in das Gedicht, weil türkische Soldaten in einem Natoeinsatz im Jahre 1952 in Korea in den Tod geschickt wurden. Die Frauengestalt des letzten Teils des Gedichtes wird mit Lobpreisungen überschüttet. Sie gibt dem lyrischen Ich Kraft: sie ist geradezu die Körperhälfte, in der das Herz sitzt; sie ist ein kostbares Brot und ein friedenbringender Vogel.

457 Siehe unten Kap. 9.5.6. 154 7.1.3 „Drei Mädchen auf dem Şişli-Platz“ 458 „Şişli Meydanı'nda Üç Kız“ Drei Mädchen auf dem Şişli-Platz, Şişli Meydanı'nda üç kız, Eine Çiğdem, die andere Nergis. Biri Çiğdem, biri Nergis,

Sie wurden erschossen am hellichten Tag. Vuruldular güpegündüz. Eines Tages wird man Rechenschaft verlangen. Sorarlar bir gün, sorarlar.

Der Morgen hat einen Besitzer. Sabahın bir sahibi var. Eines Tages wird man Rechenschaft verlangen. Sorarlar bir gün, sorarlar. Enden werden dieser Kummer, diese Schmerzen, Biter bu dertler, acılar, Eines Tages erhalten sie Heilung. Sararlar bir gün, sararlar.

Neunzehnhundertsiebenundsiebzig, Bin dokuz yüz yetmiş yedi, Der Name des unvergesslichen Jahres. Unutulmaz yılın adı. Es war der Maifeiertag, Bir Mayıs bayramı idi, Eines Tages erhalten sie Genugtuung. Sorarlar bir gün, sorarlar.

Refrain Nakarat

Wir waren fünfhunderttausend Werktätige, Beş yüz bin emekçi vardık, Wir marschierten auf den Taksim-Platz Taksim Meydanı'na girdik, Und sahen so ein geeintes İstanbul. Öyle bir İstanbul gördük, Eines Tages wird man Rechenschaft verlangen. Sorarlar bir gün, sorarlar.

Refrain Nakarat

Hier, meine Augen, schaut hin. Al, gözlerim, seyir eyle. Singt einer nach dem andern. Birin bırak, birin söyle. Diese Erde sah zum ersten Mal Bu yeryüzü, ilk kez böyle Ein derartiges İstanbul, Bir İstanbul görüyordu, Umarmte und umschloss sie. Kucaklayıp sarıyordu. Ruhi Su

458 Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls in Kapitel 8 „Politischer Protest und Trauer in Liedern Ruhi Sus“ behandelt.

155 Der 1. Mai 1977 war ein Tag der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Krise in der Türkei. Die Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften (Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu, DİSK) organisierte die Maikundgebung. Der Taksimplatz war so übervoll, dass die Massen in die umliegenden Stadtteile strömten. In Beşiktaş hatten sich Hunderttausende versammelt. Als der DİSK-Vorsitzende Kemal Türkler gerade an das Ende seiner Rede kam, war das Geräusch von Schüssen zu hören. Nach einem Moment der Totenstille brach ein Chaos aus. Die Menschenmenge rannte in Panik auseinander. Bis heute noch nicht aufgespürte Personen, die im damaligen Intercontinental Hotel (dem heutigen the Marmara) und im Gebäude der Wasserbehörde auf der Lauer lagen, schossen mit automatischen Waffen in die Menge. Dann traten gepanzerte Fahrzeuge in Aktion und verwandelten das Gelände in ein Schlachtfeld. Immer größere Panik breitete sich aus. Tausende Menschen lagen am Boden, viele wurden in Ecken zusammengedrängt und von den gepanzerten Fahrzeugen überfahren. Am Ende dieses Tages hatten 34 Menschen ihr Leben verloren. 459 Der Erste Mai wurde nach einer langen Verbotszeit erst 2009 als Tag der Arbeit wieder in einer Großveranstaltung auf dem Taksimplatz gefeiert. Zwei politische Ereignisse hat Ruhi Su in einem Text selbst beschrieben und vertont. Das erste waren die Schüsse am hellichten Tag auf drei Studentinnen auf dem Şişliplatz am 24. April 1977. Die dabei getötete Çiğdem steht für die vielen Opfer, die in dieser Zeit tagtäglich durch die Rechten mit Unterstützung der Staatsgewalt umgebracht wurden. Einer der drei Namen, nämlich Çiğdem, ist authentisch,460 der zweite, Nergis ist es nicht; beide haben die Symbolik von Blumennamen, Krokussafran und Narzisse, eine zarte Symbolik, an der Ruhi Su lag. Der dritte Name wird nicht genannt, obwohl man ihn mitdenkt. Ruhi Su drückt die Hoffnung aus, dass die Mörder eines Tages zur Verantwortung gezogen werden. Diese Hoffnung hat sich immer noch nicht erfüllt. Das zweite Ereignis war das Massaker vom 1. Mai wenige Tage später. Ruhi Su urteilt auch über diese Mordtat mit dem Blick auf eine bessere Zukunft in dem Gedicht „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var).461 In diesem hat die Stadt İstanbul am Tage dieser unvergesslichenVersammlung bereits eine neue, bessere Qualität gewonnen, welche die Erde aus einem tiefen Glücksgefühl, dazu bringt, sie zu umarmen.

459 Vgl. KORKMAZ, Esat: 1 Mayıs: Zulüm ve Kan. In: KORKMAZ, Esat: Kafa Tutan Günler (2004): 186. 460 Çiğdem war tatsächlich der Name der bekannten Studentenführerin Çiğdem Yıldır. 461 Diese Zeile gibt auch der gesamten Schallplatte den Titel. 156 8. Politischer Protest und Trauer in den Liedern Ruhi Sus 8.1 „Das Klagelied Karadeniz“462 „Das Klagelied Karadeniz“ (Karadeniz Ağıdı) schrieb Ruhi Su nach einer anonymen Melodie zu Ehren Mustafa Suphis (1883-1921), des Gründers und ersten Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Türkei (Türkiye Komünist Partisi, TKP). Eine knappe Darstellung der Entwicklung der TKP und insbesondere die Ermordung Mustafa Suphis463 und seiner Weggefährten ist geeignet, Licht auf das Klagelied zu werfen, welches sich mit diesen Geschehnissen beschäftigt. Das sowjetische Russland spielte mit seiner finanziellen Hilfe und Waffenlieferungen an Mustafa Kemal eine bedeutende Rolle in dem Befreiungskampf. Die Besetzung Anatoliens durch die Alliierten hätte eine große Bedrohung für die Sowjetunion dargestellt. Die Hilfe der Sowjetunion erweiterte den Handlungsspielraum der Kemalisten. Die offizielle Gründung der Kommunistischen Partei der Türkei (TKF) am 18. Oktober 1920 in Ankara mit Zustimmung Mustafa Kemals sollte die türkisch- sowjetischen Beziehungen verbessern. Die Existenz der TKF dauerte lediglich drei Monate. Nach der Niederschlagung des Aufstands von Çerkez Ethem und der Unterdrückung der Linken verschwand diese Partei von alleine.464 Am 10. September 1920 wurde in Baku die geheime Kommunistische Partei der Türkei (TKP) gegründet und Mustafa Suphi zum Vorsitzenden gewählt. Die Partei hatte das Ziel, zunächst gegen die Besatzung durch die Allierten im Land zu kämpfen und dann eine Sowjetische Republik auf türkischem Boden zu gründen.465 Auf die Einladung Mustafa Kemals hin, im Nationalen Widerstandskampf mitzuarbeiten, machte sich eine Delegation mit Mustafa Suphi in den letzten Tagen des Jahres 1920 auf den Weg von Baku nach Ankara. In der Nacht zum 29. Januar 1921 wurden jedoch Mustafa Suphi und seine vierzehn

462 Klagelied für Mustafa Suphi, den Gründer und ersten Vorsitzenden der TKP und den Generalsekretär Ethem Nejat. Für Mustafa Suphis und Ethem Nejats Biographien siehe TUNÇAY, Mete: Türkiye’de Sol Akımlar (1967): 100-123 und ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005):176-182. Ruhi Su hat dieses Lied während seiner Tätigkeit an der Oper in Ankara 1950 geschrieben und komponiert, wie man beim Verhör in Sansaryan Han und der Androhungen von Folter bestätigt haben wollte. Vgl. GÜRÇAY, Ercüment: „Karadeniz Ağıdı“ Ruhi Su / Mustafa Suphi ve Arkadaşlarının Anısına: In: http://www.youtube.com. 463 Vgl. ASLAN, Yavuz: Türkiye Komünist Fırkası‘nın Kuruluşu ve Mustafa Suphi (1997). 464 Vgl. TUNÇAY, Mete: Türkiye’de Sol Akımlar (1967): 83-89. Unter den Parteimitgliedern befanden sich die Parlamentarier Tevfik Rüştü Aras, Mahmut Esat Bozkurt,Yunus Nadi, Kılıç Ali, Hakkı Behiç, Refik Koraltan, Eyüp Sabri ve Süreyya Yiğit. 465 Akgül, Hikmet: Nâzım Hikmet, Siyasi Biyografi (2002): 66-67. 157 Freunde466 in Trabzon auf einem Boot, das sie angeblich zurück in die Sowjetunion bringen sollte, von Männern des Bootsverwalters Yahya umgebracht.467 Wer den Auftrag zum Mord gegeben hat, ist bis heute nicht aufgeklärt. Die Kommunisten beschuldigen die damalige kemalistische Regierung in Ankara wichtige Genossen hinterrücks ermordet zu haben. Es geht um die Tötung von Mustafa Suphi und seiner Freunde durch einen Mann namens Osman der Lahme (Topal Osman), der angeblich von Atatürk den Befehl erhalten haben soll, die Kommunisten im Schwarzen Meer zu versenken.468

„Das Klagelied Schwarzes Meer“ Sein Bild ist eine Erinnerung in meinem Herzen, Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer, Mit fünfzehn Vorkämpfern ertrunken, Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.

Traurig singen die Seevögel, Im Wasser sind ihr Schlaf und ihre Träume. Eine Braut vergießt blutige Tränen. Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.

Gemeinsame Kerkerhaft mit Nâzım Tag für Tag Macht den Stummen sprechen und den Blinden weinen. Eine Seite von mir fault, die andere lebt, Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.

Meine Wunden bluten im Salz. Die Müdigkeit ist gekommen und goldbraune Augen erlöschen. An einer meiner Seiten stirbt Suphi, Nejat, Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer.

466 Von der Gruppe sind neben Mustafa Suphi nur noch Ethem Nejat, İsmail Hakkı, Kazım Ali, Şefik und Topçu Hakkı namentlich bekannt. Der Mörder Yahya behielt Suphis russische Frau sowie alle Wertsachen für sich. (1920 Moskova’sında Türk Komünistleri-2, Tarih Dünyası 2 (Jan. 1965): 151. In: TUNÇAY, Mete: Türkiye’de Sol Akımlar (1967): 121. 467 Ebd. 120. Vgl. auch ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 181. 468 So nach ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 176. 158 Es werden Tage kommen und meine Wunden heilen. So kann es nicht weiter gehen, man wird Rechenschaft fordern. Eine meiner Seiten sieht man vom Iran, von China aus, Eine meiner Seiten schlägt jetzt Wellen im Meer. Ruhi Su

„Karadeniz Ağıdı“ Hayâli gönlümde yadigâr kalan, Bir yanım deryada çalkanır şimdi. On beş mürşid ile boğulup ölen, Bir yanım deryada çalkanır şimdi.

Garip garip öter derya kuşları, Su içinde uykuları, düşleri, Bir gelin, döker kanlı yaşları, Bir yanım deryada çalkanır şimdi.

Nâzım ile zindanda gün be gün biri, Söyletir dilsizi, ağlatır körü, Bir yanım çürüyor, bir yanım diri, Bir yanım deryada çalkanır şimdi.

Yaralarım tuz içinde kanıyor, Uyku gelmiş elâ gözler sönüyor, Bir yanımda Suphi, Nejat ölüyor, Bir yanım deryada çalkanır şimdi.

Gelir günler gelir, yaram sarılır, Böyle gitmez bir gün hesap sorulur, Bir yanım Acem'den, Çin'den görünür, Bir yanım deryada çalkanır şimdi. Ruhi Su

159 Als Nâzım Hikmet 1950 aus der Haft entlassen wurde, versammelten sich seine Freunde, darunter berühmte Dichter, Schriftsteller und Wissenschaftler wie Melih Cevdet Anday und seine Ehefrau Yaşar Anday, Behice Boran und Vâlâ Nurettin, zu seinen Ehren in der Wohnung Abidin Dinos. Ruhi Su war auch anwesend. Nâzım Hikmet wurde aufgefordert, endlich zuzugeben, dass „Das Klagelied Schwarzes Meer“ (Karadeniz Ağıdı) ihm gehöre. Er verneinte es wiederholt und fragte, welchen Anlass zur Verneinung er haben könne. Wenn es ihm gehörte, würde er es doch zugeben. Ruhi Su hörte schweigend zu. Das Gedicht war in Wahrheit sein eigenes. Jahre später fragte man ihn, warum er sich damals nicht zur Autorenschaft bekannt habe. Der weltberühmte Nâzım Hikmet habe davon geschwärmt, wie gut der anonyme Autor die Geschehnisse, uns, unser Volk und unsere Welt erzähle.469 Der schweigende Ruhi Su war eben ein zurückhaltender Mensch. Er war niemals darauf aus, im Mittelpunkt zu stehen. Ruhi Su sang die ganze Nacht Türküs. Nâzım Hikmet konnte seine Tränen bei dem Gesang kaum zurückhalten. Es waren Tränen eines sehr komplexen Gefühls. Sie drückten weder Glück, noch Trauer aus, sondern die Euphorie einer außergewöhn- lichen Situation, nämlich der Vereinigung von Freunden.470 Bei der Analyse des Gedichtes „Klagelied Schwarzes Meer“ (Karadeniz Ağıdı) wird deutlich, dass das lyrische Ich mit der Stimme des Volkes spricht, Der Mord an den kommunistischen Vorkämpfern hat es schwer verwundet. Nur eine Hälfte des Körpers lebt noch, die andere führt eine symbolische Existenz im Meer. Das Meer und seine Bewohner, die Seevögel, tragen so schwer an der Trauer wie die Braut, welche blutige Träne vergießt. Die Struktur des Liedes mit seinen vielen Wiederholungen gibt eine Annäherung an eine dreifache Korrespondenz wieder in dem Sinne, dass die Opfer ebenso Teil des Meeres geworden sind wie das lyrische Ich und das beide die gleichen Formen der Trauer zeigen. Für die Gedankenführung Ruhi Sus ist dennoch charakteristisch, dass der Text nicht in Verzweiflung endet, sondern der Ausblick auf Heilung der Wunden und späte Gerechtigkeit erhalten bleibt.

469 Vgl. BARAN, Ümran: Bir yanım çürüyor, bir yanım diri, Yorum (7. Okt. 1985). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 221. 470 DİNO, Güzin: Gel Zaman Git Zaman (1991): 137. Müzehher Vâ-Nû erzählt in gleicher Art von der Wirkung des Gesangs von Ruhi Su auf Nâzım Hikmet. Vgl. Vâ-Nû Müzehher: Bir Dönemin Tanıklığı (Keine Angabe zum Erscheinungsjahr): 137. 160 8.2 Ruhi Su und Nâzım Hikmet Einige Freunde Ruhi Sus waren der Ansicht, er bewirke in der Musik, was Nâzım Hikmet in der Lyrik bewirkt habe, ja, eigentlich noch mehr, denn im Gedicht gebe es die jahrhundertealte Tradition des Volkes. Es sei für Nâzım Hikmet einfach gewesen, seine Gedichte auf dieser Tradition aufzubauen. Ruhi Su habe jedoch im wahrsten Sinne des Wortes für eine neue Ära gesorgt.471 Er war in der Tat schulgründend. Ruhi Su ist der erste Künstler, der die Gedichte Nâzım Hikmets vertont hat. Unter dem Titel „Lieder der Mobilmachung und Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı)472 brachte er 1971 eine Schallplatte heraus, auf der sich aus Nâzım Hikmets Gedichtband Epos vom Befreiungskrieg (Kurtuluş Savaşı Destanı), die Texte „Unsere Frauen” (Kadınlarımız), 473 „Die große Offensive” (Büyük Taarruz) 474 und „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü) 475 befinden. Auf die Nachricht vom Tode Nâzım Hikmets aus Moskau im Jahre 1963 schrieb er das Klagelied „Eine schlechte Nachricht” (Karalı Bir Haber) 476 und vertonte es nach einer anonymen Melodie. Ruhi Su vertonte zudem Hikmets „Es nieselt“ (Yağmur Çiseliyor) 477 aus dem „Epos Scheich Bedreddin” sowie „Die drei Zypressen“ (Üç Selvi),478 „Sie” (Onlar ki) 479, „Märchen aller Märchen” (Masalların Masalı) 480 und „Das kleine Mädchen“ (Kız Çocuğu). 481 Ruhi Su hat immer wieder betont, dass er kein Komponist sei. Er beklagte es, dass viele Musiker, die talentierter als er waren, die Gedichte Nâzım Hikmets nicht vertonten. Er unterstrich auch, dass die Vertonung der Gedichte eines intellektuellen Dichters wie Nâzım Hikmet keine einfache Aufgabe sei. Das Gedicht könne in einer falschen musikalischen Gestaltung unerwünschte und sogar verfälschende Deutungen annehmen. Die Musik könne die in den Worten liegenden Gefühle übertreiben, bringe sie aber auch hervor. Eine übertreibende Interpretation sei sehr einfach zu bemerken,

471 Aus dem Gespräch mit Bertan Onaran vom 23. Sep. 2010 in İstanbul. Onaran bezieht sich auf ein Gespräch mit dem bekannten Musikwissenschaftler Ahmet Say. 472 Siehe unten Kap. 9.1. 473 Siehe unten Kap. 9.1.3. 474 Siehe unten Kap. 9.1.5. 475 Siehe oben Kap. 6.7.1 476 Siehe unten Kap. 8.2.1 477 Siehe unten Kap. 9.5.6. 478 Siehe unten Kap. 9.5.5. 479 Siehe unten Kap. 9.7.12. 480 Siehe unten Kap. 9.10.2. 481 Siehe unten Kap. 9.10.5. 161 weil das Gleichgewicht innerhalb des Gedichtes gestört werde. Wenn die Musik aber das Gleichgewicht erhalte, werde die Wirkung des Gedichts verstärkt. Dann sei eine Vertonung nützlich. Weil er unpassende Melodien befürchte, trage er Gedichtzeilen manchmal als Rezitativ vor.482

482 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı: El Kapıları, Cumhuriyet (18.Dez. 1976). In SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 110-111. Doğan Hızlan urteilt in gleicher Richtung wie Ruhi Su: einige Liedermacher nähmen die Musik zur Hilfe , wenn sie das Gedicht nicht vortragen könnten. Ruhi Su jedoch bringe die Aussage des Gedichtes nicht durch eine zweifelhafte Vertonung, sondern durch den rezitativen Vortrag des Gedichts zur Sprache. Vgl. HIZLAN, Doğan: Hürgün (18 Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986):110. Vgl. auch ERDEM, Hüseyin: Nâzım Hikmet Uyarlamaları ve Sorumluluk, Yeni Ufuklar (Mai. 1976): 52-55.

162 8.2.1

„Eine schwarze Nachricht“ (Karalı Bir Haber): Klagelied für Nâzım Hikmet Als die Nachricht vom Tod Nâzım Hikmets in Moskau in der Türkei ankam, schrieb und vertonte Ruhi Su ein Klagelied für ihn:

„Eine schwarze Nachricht”

Eine schwarze Nachricht ist im Anmarsch In den Kupferantennen, Bruder, und Silberdrähten Ruft weder der Muezzin noch läuten die Kirchenglocken. In der Morgendämmerung, Bruder, ist er auf dem Weg, In der Morgendämmerung ist Bruder Nâzım , auf dem Weg.

Er ist ganz in meinen Gedanken, verlässt sie nicht. Wenn meine linke Seite ihn vergisst, Bruder, so nicht die rechte. Solch eine Seele beendet der Tod nicht, Fortwährend kommt sie, Bruder, an die Äste, Fortwährend kommt Bruder Nâzım , an die Äste.

Ich sagte in der Steppe einem gelben Kraut “Dein Feuer, Bruder, möge nicht erlöschen, dein Rauch möge bleiben”, Wenn eines Morgens der Hahn kräht. Dies ist unser Türkü, Bruder, in aller Munde, Dies ist unser Türkü, Bruder Nâzım, in aller Munde. Ruhi Su

163 „Karalı Bir Haber“ Karalı bir haber, düşmüş geliyor, Bakır antenlere kardeş, gümüş tellere, Ne bir ezan sesi, ne çan çalıyor. Sabahın seheri kardeş, çıkmış yollara, Sabahın seheri Nâzım Kardeş, çıkmış yollara.

Her hali aklımda, aklımdan gitmez, Sol yanım unutsa kardeş, sağım unutmaz, Böylesi bir cana, ölüm kâr etmez. Sürer tazelenir kardeş, gelir dallara, Sürer tazelenir Nâzım Kardeş, gelir dallara.

Dedim ki bozkırda, bir sarı ota, “Ateşin sönmeye kardeş, dumanın tüte” Ola ki bir sabah, bir horoz öte, Bu bizim türkümüz kardeş, düşer dillere, Bu bizim türkümüz Nâzım Kardeş, düşer dillere. Ruhi Su

In diesem Gedicht drückt Ruhi Su seine Verbundenheit mit Nâzım Hikmet aus, indem er ihn mit Bruder anredet. Damit will er zeigen, dass er, obwohl Nâzım Hikmet weit weg in Moskau verstarb, nahe bei ihm ist und er ihn nie vergessen wird. Die Trauer über den Tod Nâzım Hikmets hat ihn zu der Erkenntnis gebracht, dass Nâzım Hikmet nunmehr gegenwärtiger ist als zu Lebzeiten. Im letzten Abschnitt des Gedichts drückt er zudem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus. Seine Werke werden Ruhi Su und vielen anderen in Zukunft als Licht dienen, um den Weg für ein besseres Leben und Miteinander zu finden. Zu der Struktur des Gedichtes ist anzumerken, dass es eine Verbindung zwischen dem Sprecher, Nâzım Hikmet und einem namenlosen Hörer dadurch aufbaut, dass der Sprecher die beiden andern mit einem stets wiederholten Bruder anspricht. Ruhi Su bedient sich der modernen Nachrichtentechnologie, die er poetisiert als Silberdrähte und in Baumäste verwandelte Antennenmasten. Obwohl das Gedicht von einer Todesnachricht und dem Weggehen der Seele Hikmets spricht, hat es keinen religiösen

164 Unterton, denn der Weg der Seele bleibt ungenannt. Sicher ist nur, dass eine Seele von solcher Größe vom Tode nicht bezwungen werden kann. Nâzım Hikmets Weiterleben wird auch dadurch gesichert, dass er geradezu ein Teil des Körpers des Sprechers wird und in aller Munde bleibt. Selbst in Bildern der Natur besteht Nâzım Hikmet weiter: der Rauch des brennenden Heidekrauts wird nicht verwehen, und der Hahnenschrei im frühen Morgen deutet auf einen neuen, hellen Tag.

165 8.3. Nâzım Hikmets Begegnung mit türkischen Spartakisten Nâzım Hikmets Tod im Exil in Moskau am 3. Juni 1963 und seine Zuwendung zum russischen Kommunismus erfordern einen kurzen historischen wie auch biographischen Hinweis. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden Teile des Osmanischen Reichs von den Allierten besetzt. Als Mustafa Kemal vom Sultan nach Anatolien gesandt wurde, um einen türkischen Aufstand gegen die Allierten niederzuschlagen, wurde er selbst zum Aufständischen. Auf den Kongressen in Erzurum (23. Juli – 7. Aug. 1919) und Sivas (4. – 11. Sep. 1919) organisierte er das Volk gegen die Besatzungsmächte und den Sultan. Die Kongresse endeten beide mit der Parole „Freiheit oder Tod”. Am 23. April 1920 berief Mustafa Kemal die erste Nationalversammlung nach Ankara und erklärte die osmanische Regierung in İstanbul für ungültig. Als junger Poet wollte Nâzım Hikmet aus dem besetzten İstanbul nach Anatolien gehen, um sich dem Nationalen Befreiungskampf anzuschließen. Zusammen mit drei weiteren Dichterfreunden, Vâlâ Nurettin, Yusuf Ziya Ortaç und Faruk Nafiz Çamlıbel, machte er sich am 1. Januar 1921 mit dem Schiff “Neue Welt” auf den Weg nach Anatolien. Die Regierung in Ankara verweigerte jedoch Faruk Nafiz Çamlıbel und Yusuf Ziya Ortaç die Einreise von İnebolu nach Ankara. Nâzım Hikmet war erstaunt über das anatolische Leben, İnebolu war das erste anatolische Städtchen, welches er kennenlernte. Anatolische Bäuerinnen erblickte er dort zum ersten Mal auf einem Markt, wie sie an einer Mauer hockten mit Holz auf ihren Rücken.483 Gleichzeitig war İnebolu für Hikmet auf eine andere Art wichtig. Er machte die Bekanntschaft mit einer türkischen Gruppe, die ebenfalls auf die Erlaubnis wartete, nach Ankara einreisen zu dürfen. Sie kam aus İstanbul und wollte dem Befreiungskampf beitreten. Ihre Verhaltensweise stellte ihm ein Rätsel dar. Sie verwandten Bezeichnungen wie Kommunisten, Sozialisten, Bolschewisten und Spartakisten, die ihm bis dahin unbekannt waren. Es waren Schüler und Studenten; sie kamen ursprünglich aus Deutschland und waren von den Spartakisten dort beeinflusst worden. Sie nannten sich selbst Spartakisten und sprachen in hohen Tönen über das sowjetische Russland, welches als erstes Land die neue türkische Regierung in Ankara anerkannt hatte. Auf diese Weise machte Hikmet Bekanntschaft mit spartakistischen

483 Vgl. AKGÜL, Hikmet: Nâzım Hikmet- Siyasi Biyografi (2002): 54.

166 Ideen.484 Diese Jugendlichen waren in der frühen Weimarer Republik in deutschen Fabriken ausgebildet worden, und ein Teil von ihnen, welcher dem Spartakusbund Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gefolgt war, gründete nach seiner Rückkehr nach İstanbul in den Werften am Goldenen Horn die ersten kommunistischen Zellen der Türkei.485 Nâzım Hikmet ging auf Grund des Interesses, das diese Spartakisten in ihm geweckt hatten, 1921 mit 19 Jahren nach Russland, um den sozialistischen Aufbau aus eigener Anschauung zu erleben.

484 Vgl. ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 164 sowie BENLİSOY, Stefo: Türkiyeli Spartakistler ve Kurtuluş Dergisi. In: ALKAN, Mehmet Ö.; BORA, Tanıl; KORALTÜRK, Murat: Mete Tunçay’a Armağan (2007): 462-466. 485 Vgl. ZAPTÇIOĞLU, Dilek: Türken und Deutsche (2005): 7 sowie EMRE, Gültekin (Hrsg.): 300 Jahre Türken an der Spree (1983): 22. Für die Beschreibung dieser Zeit siehe auch KARAVELİ, Orhan: Tanıdığım Nâzım Hikmet (2002): 83- 115.

167 8.3.1 Der Spartakus und Ruhi Sus kommunistische Hoffnung Auch bei Ruhi Su ist ein Interesse an den Spartakisten nicht zu verkennen. Der historische Spartakus war ein römischer Sklave und Gladiator und wurde der Anführer eines Sklavenaufstandes im Römischen Reich im Jahre 73 v. Chr. Eines seiner Ziele war die Befreiung von Tausenden Sklaven aus ihrem menschenunwürdigen Leben. Wenn Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts den Namen Spartakus für ihre Gruppierungen in Anspruch nahmen, so in den modernen Sinn, dass es ihnen um die Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrem wirtschaftlichen Elend ging. Das große Experiment im kommunistischen Russland schien ein erfolgversprechender Weg zu sein. Die Hoffnung, Russland ermögliche eine menschenwürdigere Welt, wurde von Nâzım Hikmet und Ruhi Su geteilt. Ruhi Su kann daher nur in einem sehr weiten Sinne, nämlich mit seiner Arbeit für, und Hoffnung auf, eine humanere türkische Gesellschaft in die Nähe des Spartakus oder der oben charakterisierten Spartakisten gestellt werden. Die Charaktere des historischen Spartakus und Ruhi Sus sind möglicherweise vergleichbar im Hinblick auf ihre biographischen Erfahrungen und auf ihren Widerstand gegen Formen der politischen Herrschaft.486 Verständlich wird freilich, dass Ruhi Su in dem 1977 erschienenen Gedicht „Das Sichtbare“ (Görünen)487 sehr viel später noch Sympathie für die Spartakisten zeigt.

486 Mehmet Kemal vergleicht in seiner Kolumne in der Cumhuriyet (8. Okt. 1985) „Spartaküs’ten Bu Yana“ die Charaktere des historischen Spartakus und Ruhi Sus im Hinblick auf ihre Rebellion gegen „ihre Herren.“ 487 Das Gedicht wurde in der Cumhuriyet (17. Dez. 1977) veröffentlicht. Siehe unten Kapitel 10.1.5.

168 9. Ruhi Sus Interpretationen auf den Schallplatten Das Ziel dieses Kapitels ist, Ruhi Sus Lieder und Gedichte in ihrem gesellschaftlichen Kontext darzustellen und seine Gestaltungskraft herauszuarbeiten. Auf seinen elf Schallplatten kombiniert Ruhi Su eigene Lieder mit denen eines bekannten oder eines anonymenVolksdichters, die er selber singt und manchmal im Text leicht verändert.488 Er stellt diese Kompositionen unter einen thematischen Gesichtspunkt. So kombiniert er auf der Schallplatte mit dem Titel „Die fremden Tore“ (El Kapıları) das Leiden der Zurückgebliebenen während des Jemenkriegs mit den Leidenserfahrungen derer, die unter den Folgen des Exodus der Gastarbeiter nach Deutschland litten. Das Gewebe aus Kritik an den Herrschaftsverhältnissen und der existenziellen Erfahrung der Verlassenheit erweist sich als ein die Jahrhunderte überdauerndes Phänomen, dem sich Volksdichter gewidmet haben.

488 Nicht alle die auf den elf Schallplatten befindlichen Lieder werden hier unter Kapitel 9 behandelt, sondern der Verfasser wählt Lieder aus jeder Schallplatte, die hier am angegebenen Ort besprochen werden. Auf nicht behandelte Lieder wird im jeweiligen Kapitel verwiesen. Die Texte aller Lieder Ruhi Sus sind zu finden in: AYDOĞAN, Karabey : Ruhi Su Türküleri (2000).

169 9.1 Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf / Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı (1970) Die Lieder auf der Vorderseite der Schallplatte „Lieder der Mobilmachung und das Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı) 489 handeln von der Mobilmachung des Ersten Weltkriegs und dem Befreiungskampf unter Mustafa Kemal. Ruhi Su wollte derart zeigen, dass das Volk, welches einen Teil dieser Lieder schuf, auch selbst für die Sache des Befreiungskampfes gestritten hat. Die Rückseite enthält Volkslieder, die immer wieder von liebenden und leidenden Menschen sprechen.490

489 Die Gedichte in diesem Kapitel stammen vom Verfasser mit Hilfe der Übertragungen von S. Pleyl, A. Triebeneck und H. Erdem auf dem Beiheft der in Deutschland herausgebrachten Schallplatte „Volklieder über den Krieg - Epos auf den Befreiungskampf“ (Seferberlik Türküleri ve Kuvayi Milliye Destanı), Pläne, 1986. Auf dieser Schallplatte befinden sich, außer den hier behandelten Liedern, noch „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü, siehe oben Kap. 6.7.1); „Kiziroğlu” (Kiziroğlu); „Gespräch” (Söyleşi); „Gazellen” (Cerenler, siehe oben Kap. 6.2.1) und „Ein Türkü aus Çamşıhı” (Bir Çamşıhı Türküsü). 490 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 170 9.1.1 „Das Klagelied Çanakkale“ „Çanakkale Ağıdı“ Als die Mobilmachung ausgerufen wurde, İpti seferberlik ilân olanda, Fiel ein Feuer, jeder und die Welt weinte. Bir od düştü, cümle cihan ağladı.

In Çanakkale ein Basar mit Spiegeln. Çanakkale içinde aynalı çarşı. Mutter, ich gehe gegen den Feind. Anne ben gidiyorum düşmana karşı. Oh weh, meine Jugend! Of, gençliğim eyvah!

In Çanakkale eine hohe Zypresse, Çanakkale içinde bir uzun selvi. Einige von uns sind verlobt, einige verheiratet. Kimimiz nişanlı, kimimiz evli. Oh weh, meine Jugend! Of, gençliğim eyvah!

In Çanakkale wurde ich angeschossen, Çanakkale içinde vurdular beni. Sie begruben mich, bevor ich starb. Ölmeden mezara koydular beni. Oh weh, meine Jugend! Of, gençliğim eyvah! Volkslied Halk Türküsü

In diesem Lied interpretiert Ruhi Su die Klagen eines einfachen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Es ist ein bekanntes Volkslied, dem Ruhi Su durch seine Darstellung einen besonderen Ausdruck verleiht. Es bezieht sich auf die Konfrontation der Deutschen und Türken mit den Allierten. Ruhi Su wertet das Leiden des einfachen Soldaten in einem fremdbestimmten Krieg zwischen Staaten anders als das Leiden im Befreiungskampf. Dieser Soldat ist verbittert darüber, wie kurz wahrscheinlich seine Jugend sein wird. Der Tod droht aber nicht nur den Jungen, sondern auch den schon Verlobten und Verheirateten. Wie grässlich er sein kann, zeigt die Strophe, in welcher der Soldat als ein Lebender aus dem Grabe heraus spricht, obwohl er inzwischen gestorben ist. In Anatolien singen die Klagenden ihre Klagelieder mit dem Munde der Toten.

171 9.1.2 „Sarıkamış“ Der Feldzug nach Sarıkamış in Ostanatolien vom 22. Dezember 1914 bis zum 5. Januar 1915 entwickelte sich für das Osmanische Heer zu einer Tragödie. Diese in der Geschichte beispiellose Niederlage für die 150.000 Mann starke Dritte Osmanische Armee auf den 3150 m hohen Allahu-Ekber-Bergen (Allahuekber Dağları) wurde zu einem weißen Grab, ohne dass sie einen einzigen Schuss abfeuerte.491 Die Berichterstattung über die Geschehnisse bei Sarıkamış ist ein deutliches Beispiel für die damalige Verschleierung. Die Verantwortlichen für die 90.000 erfrorenen Soldaten wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Jedoch hatte sich schon früh im Volk die Wahrheit durchgesetzt. Enver Paşa, der Hauptverantwortliche, der trotz der gewaltigen Gebietsverluste des Osmanischen Reiches erneut ein Großtürkisches Reich schaffen wollte, sah sich durch die Unterstützung des Deutschen Reiches ermutigt, die Russen im Kaukasus anzugreifen, um die osmanischen Gebiete nach Zentralasien hinein zu erweitern. Diese Strategie veranlasste die russische Armee, Soldaten von der Westfront abzuziehen, was den Deutschen zugute kam. Die Tragödie vom Tod Tausender junger Soldaten wurde vom Volk in Klageliedern besungen. In der Sammlung der Türküs über die Mobilmachung von Ruhi Su hat das Klagelied von „Sarıkamış“ ebenfalls seinen Platz bekommen. Ruhi Su will die Aufmerksamkeit auf die Katastrophe von Sarıkamış richten, von der es lediglich russische Aufzeichnungen gibt. Er bringt damit das Verbrechen auch an die politische Öffentlichkeit, denn in den Köpfen des einfachen Volkes war das Verbrechen von Sarıkamış immer gegenwärtig.

491 Vgl. ALTAN, Mehmet: Doksan bin Türk’ten özre de karşı mısınız?, Star (23. Dez. 2008); BARDAKÇI, Murat: Sarıkamış Şehitlerinin Gizli Kalmış Günlüğü,Hürriyet (26. Dez. 2004). In: http://www.hurriyetim.com.tr/yazarlar/yazar/0,,authorid~28@sid~9@tarih~2004-12-26- t@nvid~515548,00.asp. Abgerufen am 10. Mai 2013; KARAVELİ, Orhan: Tanıdığım Nâzım Hikmet (2002): 21; BENAZUS, Hanri: Sarıkamış Faciası (2006) sowie BİLGİN, İsmail: Sarıkamış-Beyaz Hüzün (2006). 172 „Sarıkamış“ „Sarıkamış“ Von Oltu gingen wir nach Sarıkamış. Oltu'dan girdik de Sarıkamış'a, Unbegreiflich die dort liegenden Leichen, Akıl ermez orda yatan üleşe, Die Soldaten hat Enver Paşa verdorben, Askeri kırdıran Enveri Paşa, Die Türen waren verschlossen, der Ort weinte. Kitlendi kapılar, mekân ağladı.

Hauptmänner, Hauptmänner, Yüzbaşılar yüzbaşılar, Bataillon steht gegen Bataillon, Tabur tabura karşılar, Nach dem Regen wechselt der Tag, Yağmur yağıp gün değişir, Die ruhenden Veteranen leuchten. Yatan şehitler ışılar.

Der Kokon meiner Seidenfäden, İbrişimin kozaları, Verloren waren die Avşar-Gebiete, Battın Avşar kazaları, In Sarıkamış waren zerstört Sarıkamış'ta kırıldı Die frischen Rosenknospen. Gonca gülün tazeleri. Volkslied Halk Türküsü

Ruhi Su übernahm den Text des Volksliedes und bearbeitete seine Melodie auf seine Art. Das Lied spricht von Menschen, die auf das Schlachtfeld kommen und von Entsetzen über die Leichenberge gepackt werden. Das Entsetzen schlägt um in die bitterste Beschuldigung des Soldatenverderbers Enver Paşa. Das Leben hatte sich zurückgezogen. Die Türen waren geschlossen, der Ort weinte in seiner Auswegslosigkeit. In den Augen des Volkes haben die Leichen der Veteranen einen himmlischen Glanz angenommen. Neben den Verlust heimatlicher Gebiete tritt der Verlust des Schönsten, was das Volk sich vorstellen kann, der blühenden Jugend. Das Gedicht drückt dieses Gefühl in dem hochpoetischen Bild von den frischen Rosenknospen aus.

173 9.1.3 „Unsere Frauen“ Das Gedicht „Unsere Frauen” (Kadınlarımız) spricht von der aktiven Teilnahme der Frauen am Befreiungskrieg von 1919 bis 1922. Es zeichnet die ungewöhnliche Sichtweise eines Mannes auf die Frauen nach, der genau und mit lyrischer Intensität ihre Wanderung und ihr Schicksal schildert.

Es fuhren Ochsenkarren unter dem Mond, Ochsenkarren fuhren über Akşehir in Richtung Afyon. Der Weg war so unendlich, Die Berge so weit, Als würden die, die unterwegs waren, Niemals irgendein Ziel erreichen. Die Ochsenkarren liefen mit ihren Rädern aus Eichenholz, Und sie waren Die ersten Räder, die sich unter dem Mond drehten. Unter dem Mond waren die Ochsen So winzig und kurz, Als kämen sie von einer anderen und sehr kleinen Welt, Und es lag Glanz auf ihren kranken, gebrochenen Hörnern, Und was unter ihren Füßen floss, war Erde Erde Und Erde. Die Nacht war hell und warm, Und auf den Holzbetten der Ochsenkarren lagen die dunkelblauen Granaten Vollkommen nackt. Und die Frauen, Sich voreinander verbergend, Sahen unter dem Mond Auf die Ochsen- und Räderleichen, Die von vorhergegangenen Zügen übrig geblieben waren. Und die Frauen, Unsere Frauen: Mit ihren Angst verbreitenden und gesegneten Händen,

174 Mit ihren zierlichen, kleinen Kinnen, Ihren großen Augen, Unsere Mütter, unsere Weiber, unsere Geliebten, Frauen, die sterben, ohne dass sie gelebt hätten, Und deren Platz am Esstisch erst nach unseren Ochsen kommt, Und die wir auf die Berge entführen, Derentwegen wir im Gefängnis sitzen, Und die beim Getreide, beim Tabak, beim Holz und auf dem Markt sind, Und die vor den Holzpflug gespannt werden, Und die in den Koppeln Im Licht der in die Erde gestoßenen Messer Mit ihren geschmeidigen, schweren Hüften Und ihrem Zierrat unser werden, Unsere Frauen. Jetzt unter dem Mond, Hinter den Ochsenkarren und Kartuschen Waren sie, Als zögen sie Halme mit Ähren aus Bernstein auf den Dreschplatz, In derselben Unbeschwertheit des Herzens, In derselben müden Vertrautheit. Und auf dem Stahl des 15-cm- Schrapnells Schliefen Kinder mit dünnen Hälsen. Und unter dem Mond Liefen die Ochsenkarren über Akşehir in Richtung Afyon.492

Nâzım Hikmet / Übersetzer Feridun Korkmaz

Die Frauen werden im Alltag der türkischen Gesellschaft nicht sonderlich beachtet. Die Männer betrachten sie gegensätzlich, manchmal als sexuelle Objekte, die sie entführen und deren wegen sie ins Gefängnis gelangen, und manchmal als Arbeitsvieh; welches noch hinter dem Rindvieh rangiert. Hier aber rücken die Frauen in ein ganz anderes Licht. Ohne ihre alltäglichen Pflichten zu vernachlässigen, nehmen

492Türkenzentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 232. Der Text wurde vom Verfasser leicht bearbeitet und folgt in Groß-und Kleinschreibung sowie im Zeilenumbruch der türkischen Vorlage.

175 sie während des Türkischen Befreiungskrieges eine bedeutende Rolle ein. Trotz ihrer Schwäche und Müdigkeit sind sie die verlässlichen Helferinnen der Kämpfer, die hinter der Front eine logistische Meisterleistung erbringen und dennoch ihre Kinder nicht vergessen. Nâzım Hikmet prangerte Zeit seines Lebens die beklagenswerte patriarchalische Denkweise an und hob immer wieder die Bedeutung der Frauen in der türkischen Gesellschaft hervor. Das Gedicht „Unsere Frauen” (Kadınlarımız) schildert eine Nachtszene. Sie wird geprägt durch mehrere Gegensätze. Der Zug geht zur Front bei Afyon; gleichzeitig erscheint er aber unendlich lang und wie ohne Ziel. Im Zuge stehen sich uralte bäuerische Vehikel, die Ochsenkarren, mit ihren aus einem Baumstamm gesägten Rädern, und die moderne Kriegstechnologie der Geschützgranaten gegenüber. Selbst die Frauen sind von Gegensätzen erfüllt. Einerseits gehen sie mit den Granaten wie mit nackten kleinen Kindern um, andererseits schlafen ihre Kinder mit den dünnen Hälsen, als seien sie Teil der Granatenladung. Die Frauen selbst geben den Männern Rätsel auf. Ihre Hände erregen sowohl Furcht als dass sie auch Segen spenden. Sie sind Geschöpfe der Erde und arbeiten mit ihr. Gleichzeitig bieten sie den Männern erotische Anziehung und Erfüllung. Die Ambivalenz der sozialen Stellung der Frauen bleibt bis zum Ende des Textes erhalten. Sie sind unentbehrliche Helferinnen im Krieg der Männer und ebenso, in einem sehr schroffen Bild, erniedrigte Kreaturen, denn sie sterben ohne wirklich gelebt zu haben. Nâzım Hikmet hat die Kraft, solche Oppositionen nicht gefällig aufzulösen. Es ist kein Zufall, dass Ruhi Su aus den Tausenden von Gedichten Nâzım Hikmets gerade auch dieses ausgewählt hat, um es zu vertonen. Ruhi Su vermeidet bewusst das übliche pathetische Lob des Krieges und des männlichen Heldentums. Ihm geht es um Anderes und Wahrhaftigeres: die Melancholie der jungen Soldaten, die nicht mit der Rückkehr aus dem Krieg rechnen können, den schweigenden und dennoch kraftvollen militärischen Einsatz der Frauen und schließlich ihre Ergebenheit in das Schicksal, in einer von Männern beherrschten Gesellschaft einen niedrigen Platz zu haben.

176 „Kadınlarımız” Ayın altında kağnılar gidiyordu. Kağnılar gidiyordu Akşehir üstünden Afyon’a doğru. Toprak öyle bitip tükenmez, dağlar öyle uzakta, sanki gidenler, hiçbir zaman, hiçbir menzile erişmeyecekti. Kağnılar yürüyordu yekpare meşeden tekerlekleriyle. Ve onlar ayın altında dönen ilk tekerlekti. Ayın altında öküzler, başka ve çok küçük bir dünyadan gelmişler gibi ufacık, kısacıktılar, ve pırıltılar vardı hasta kırık boynuzlarında, ve ayakları altında akan toprak toprak ve topraktı. Gece aydınlık ve sıcak ve kağnılarda tahta yataklarında, koyu mavi humbaralar çırılçıplaktı. Ve kadınlar, birbirlerinden gizleyerek bakıyorlardı ayın altında, geçmiş kafilelerden kalan öküz ve tekerlek ölülerine. Ve kadınlar bizim kadınlarımız: korkunç ve mübarek elleri, ince küçük çeneleri, kocaman gözleriyle anamız, avradımız, yârimiz, ve sanki hiç yaşamamış gibi ölen ve soframızdaki yeri

177 öküzümüzden sonra gelen, ve dağlara kaçırıp uğrunda hapis yattığımız ve ekinde, tütünde, odunda ve pazardaki ve karasabana koşulan ve ağıllarda, ışıltısında yere saplı bıçakların, oynak, ağır kalçaları ve zilleriyle bizim olan kadınlar, bizim kadınlarımız. Şimdi ayın altında, kağnıların ve hartuçların peşinde, harman yerine kehribar başaklı sap çeker gibi, aynı yürek ferahlığı, aynı yorgun alışkanlık içindeydiler. Ve on beşlik şarapnelin çeliğinde, ince boyunlu çocuklar uyuyordu. Ve ayın altında kağnılar yürüyordu, Akşehir üstünden Afyon’a doğru.

Nâzım Hikmet

178 9.1.4 „Die schwarze Schlange“ (Karayılan) Steigt aufs Pferd, die Zügel in der Hand, An seiner Front kennt er keine Niederlage, Innerhalb des Freischärler eine wilde schwarze Schlange. Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre!

Ich ziehe und ziehe die Zügel, das Zugpferd läuft nicht, Die französischen Kugeln erreichen den Helden nicht, Grüßt meine wehmütige Mutter von mir. Die Mütter haben solche Kinder in die Welt gesetzt!

Schwarze Schlange sagt, lasset uns in den Kampf ziehen, Lasset uns aus Kilis‘ Straßen Köpfe holen, Lasset uns töten, wo es Feinde gibt. Schlagt zu, Männer von Antep, heute ist der Tag der Ehre! Volkslied

179 „Karayılan” Atına binmiş de elinde dizgin, Vardığı cephede hiç olmaz bozgun, Çeteler içinde Yılan’ım azgın. Vurun Antepliler, namus günüdür!

Sürerim sürerim, gitmez kadana, Fransız kurşunu değmez adama, Benden selam söylen nazlı anama, Analar da böyle yavru doğurmuş!

Karayılan der ki harbe oturak, Kilis yollarından kelle getirek, Nerde düşman varsa orda bitirek, Vurun Antepliler namus günüdür! Halk Türküsü

„Die schwarze Schlange“ (Karayılan) war einer der Helden des türkischen Befreiungskrieges, der aus den Reihen des einfachen Volkes, möglicherweise der Kurden, 493 kam. Er schloss sich nacheinander mehreren Guerillagruppen an, die gegen die Besatzungsmächte kämpften. Seine Heldentaten wurden in einem anonymen Volkslied besungen, welches Nâzım Hikmet in sein Buch aufnahm.494 Traditionell vollbringen solche Volkshelden, die oft sehr einfacher Herkunft sind und den Mut erst beim Kämpfen erwerben, große Taten, zu welchen sie auch ihre Kampfgenossen anfeuern. Traditionell ist auch ihre Unverwundbarkeit.

493 Vgl. oben Kap. 2.6.2 . 494 HİKMET, Nâzım: Kuvay-i Milliye Destanı (1986): 13-20. 180 9.1.5 „Die Große Offensive“ Eine der entscheidenden militärischen Operationen des Befreiungskrieges nimmt Nâzım Hikmet zum Stoff eines bedeutenden Gedichtes, das auch wie kein anderes die Person Mustafa Kemals feiert, der geradezu in die Gestalt eines mythischen Totemtieres der Türken verwandelt wird, indem er ihn als blonden Wolf mit funkelnden blauen Augen und überirdischer Sprungkraft zeichnet. Der militärische Hintergrund ist wie folgt: Im August 1922 kam der Vormarsch der Griechen zum Stillstand und die türkische Armee ging unter dem Oberbefehl von Mustafa Kemal in die Offensive. Ende August gewannen die Türken Afyon zurück. Vernichtend geschlagen flohen die Griechen an die Küste. Zu den Liedern über den Befreiungskampf zählen „Unsere Frauen“ (Kadınlarımız), „Das Lied des Reiters” (Süvarinin Türküsü) und „Die Große Offensive“ (Büyük Taarruz). Ruhi Su hat mit der Vertonung der „Großen Offensive“ versucht, Nâzım Hikmet vom Ruf des Vaterlandsverräters zu befreien, den ihm die rechten Kräfte und der Staat anzuhängen versuchten. Wie konnte ein Mensch Verräter sein, der sich über den Befreiungskampf derart begeistert äußert, sein Land mit einem wertvollen Teppich vergleicht und Mustafa Kemal glorifiziert? Wer so zu seinem Land und zu seiner heroischen Geschichte steht, liebt die Türkei. Ruhi Su will offenbar den Ruhm des Befreiungskampfes dem patriotischen Volk und nicht den nationalistischen Rechten überlassen.

181 „Die Große Offensive“ In den Bergen brannten vereinzelt Feuer, Und die Sterne waren derart überhell, derart fröhlich, Dass der Mann mit dem Wollkalpak An die schönen und ruhigen Tage glaubte, Ohne zu wissen, wie und wann sie kommen würden Und er stand mit seinem lachenden Schnurbart neben seinem Mausergewehr. Plötzlich sah er ihn fünf Schritte weiter rechts, Die Generäle standen hinter ihm, Er fragte nach der Zeit, Die Generäle sagten „Drei Uhr.“ Er sah aus wie ein blonder Wolf Und seine blauen Augen funkelten und funkelten, Er lief bis an den Abgrund, Beugte sich vor und blieb stehen. Wenn man ihn ließe, Würde er mit seinen schlanken Beinen federnd, Und wie eine nächtliche Sternschnuppe fliegend, Von Kocatepe in die Ebene von Afyon springen. Nâzım Hikmet

182 „Büyük Taarruz” Dağlarda tek tek ateşler yanıyordu. Ve yıldızlar öyle ışıltılı, öyle ferahtılar ki şayak kalpaklı adam, nasıl ve ne zaman geleceğini bilmeden, güzel, rahat günlere inanıyordu ve gülen bıyıklarıyla duruyordu ki mavzerinin yanında, birdenbire beş adım sağında onu gördü. Paşalar onun arkasındaydılar. O saati sordu. Paşalar: “Üç”, dediler. Sarışın bir kurda benziyordu, mavi gözleri çakmak çakmaktı. Yürüdü uçurumun başına kadar, eğildi, durdu. Bıraksalar, ince, uzun bacakları üstünde yaylanarak ve karanlıkta akan bir yıldız gibi kayarak Kocatepe’den Afyon ovasına atlayacaktı.

Nâzım Hikmet

183 9.2 Yunus Emre (1971) 9.2.1 Ruhi Sus Verständnis von Yunus Emre Yunus Emre war der bedeutendste Dichter des mystischen Sufismus im Anatolien des frühen 13. Jahrhunderts. Zur Wiederentdeckung Yunus Emres trug maßgeblich Fuad Köprülü mit seiner Studie Türk Edebiyatında İlk Mutasavvıflar (1919) bei, der eben den Anteil des Dichters am Sufismus herausarbeitete.495 Ruhi Su kannte diese Studie und schätzte sie ebenso wie Aziz Nesins Untersuchung über Nasreddin Hoca, in welcher dieser die Mystiker in zwei Kategorien unterteilt: nach außen gewandte wie Nasreddin Hoca und nach innen gewandte wie Mevlânâ. Yunus Emre ist nicht so ironisch wie Nasreddin Hoca, doch auch nicht so volksfern wie Mevlânâ. Ruhi Su zitiert Nesin und empfindet Emres Volkstümlichkeit so stark, dass er behauptet, Yunus Emre würde immer noch nach Volk riechen, selbst wenn man ihn vierzig Tage in Wasser koche. Vielleicht sei Yunus Emre nur gegenüber Gott niemals rebellisch gewesen, aber er sei stets ein Gegner von Herren und Tyrannen geblieben.496 Su zitiert die Verse Yunus Emres:

Verschwunden war der Anstand der Herren, Gitti Beyler mürveti Sie saßen auf Pferden. Binmişler birer atı. Sie aßen das Fleisch des Armen, Yediği yoksul eti, So sei Blut ihr Getränk! İçtiği kan olusalar! Yunus Emre

Widerstand gegenüber den Herren und Tyrannen und Liebe zum Volk habe immer schon als Straftat gegolten. Es habe Mollas gegeben, welche die Gedichte Yunus Emres zerrissen wegen ihrer angeblichen Feindschaft gegenüber der Scharia, und auch

495 Nach Sabahattin Eyuboğlu ist Burhan Toprak der erste türkische Intellektuelle, der Yunus Emre ernst nahm und ihn aus einer westlichen Perspektive der Lyrik gewürdigt hat. Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Yunus Emre (1981):9. Aus der reichen Literatur zu Yunus Emre siehe KÖPRÜLÜ, Fuad: Türk Edebiyatında İlk Mutasavvıflar (1966); TOPRAK, Burhan: Yunus Emre Divanı (1933); GÖLPINARLI, Abdülbaki: Yunus Emre Divanı (1943-1948): ÇİÇEKLİ, Ali: Yunus Emre (1971); EYUBOĞLU, Sabahattin: Yunus Emre (1972); YAĞCI, Öner: Yunus Emre, Yaşamı ve Şiirleri (2006); ÖZTELLI, Cahit: Yunus Emre, Özgür Yayınları (2009): KRAFT, Gisela: Yunus Emre – Pir Sultan, Mit Bergen Mit Steinen (1981); SCHIMMEL, Annemarie: Yunus Emre (1991); ŞENOCAK, Zafer: Yunus Emre-Das Kummerrad (Ohne Jahresangabe); FUAT, Memet: Yunus Emre (2001) sowie KUDRET, Cevdet: Halk Şiirinde Üç Büyükler 1, Yunus Emre (2003). Die Übersetzungen der Gedichte Yunus Emres stammen vom Verfasser mit Hilfe der hier genannten Bände von Gisela Kraft, Annemarie Schimmel und Zafer Şenocak. 496 Vgl. SU Ruhi: Plaktaki Yunus Emre, Auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Yunus Emre“ (1971). 184 Personen, wie den obersten religiösen Führer der Muslime, Ebu Suud Efendi, welche eine Todesfatwa erlassen hätten für die Sänger von Yunus Emres Liedern (ilâhi). Es sei nicht verwunderlich, dass ein beim Volk derart beliebter Dichter Ärger bekommen habe. Obwohl sein Name Aşık Yunus gewesen sei, der auf seine Volkstümlichkeit hingewiesen habe, habe man von ihm behauptet, er sei kein Volkssänger gewesen und in der Kultur der Medressen aufgewachsen; dies bedeute, dass die Größe und das Gewicht Yunus Emres bloß aus seiner Bildung resultierten. Von den islamischen Gelehrten habe keiner überdauert, doch Yunus lebe in den Herzen und in der Sprache der Menschen bis heute weiter. Falls es wirklich einen vom Volk nicht verstandenen Yunus gegeben habe, so habe dieser dennoch überdauert, weil es eine Anzahl von „Yunusen“, gegeben habe, die vom Volk verstanden wurden. Sein Fortleben würden wir auch den unbekannten Künstlern verdanken, die seine İlahis sangen. Es sei eines, den Sufismus mit seinen Begriffen, Beschreibungen und Symbolen zu begreifen und ein anderes, den großen Künstler und Dichter Yunus Emre zu verstehen.497 Ruhi Su steht in seiner praktischen Lebenshaltung in der Tradition Yunus Emres. Yunus trug jahrelang Holz in das Kloster, in dem er vierzig Jahre diente, und achtete darauf, dass jedes Holz grade war. Schiefes Holz in das Derwischkloster zu tragen, kam für ihn nicht in Frage. Ruhi Su führte ein ähnlich monastisches Leben, mit dem bedeutenden Unterschied, dass er es keiner Gottheit, sondern seiner Kunst widmete. Er trank weder einen Tropfen Alkohol, noch nahm er jemals eine Zigarette in den Mund. Er vergaß seine Pflichten nicht, gleich wo er war. Mit seiner ganzen Identität und Kraft diente er seiner Kunst. In seinen Augen war das Spielen der Saz und das Singen der Türküs eine Art Gottesdienst. Die Türkü war für ihn ein Tempel und er war ein treuer Diener. 498 Nicht nur in der Lebensweise, sondern auch in der Art, wie Türküs vorgetragen wurden, ist eine Parallelität zwischen Ruhi Su und Yunus Emre unverkennbar. Ein Zitat soll dies verdeutlichen: „Ruhi Su hat Yunus Emre aus der Luft, dem Wasser, dem Boden, dem Feuer, den Sprachen und Herzen gesiebt, ihn ausgesucht und ausgelesen, ihn gewaschen und gereinigt und ihn wie ein Stimmdenkmal aufgestellt. Man kann kaum glauben, dass die Stimme eines Menschen so warm, so packend, beeindruckend und treffend sein kann. In ‚Yunus Emre‘ ist nicht nur die Stimme Ruhi Sus kräftig und vielseitig, sondern auch seine Saz. Ruhi Su, Yunus Emre oder Yunus Su, Ruhi Emre. Wie

497 Vgl. Ebd. 498 Vgl. ERHAT, Azra: Yeni Ufuklar 226 (März 1971): 7-12. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 59. 185 Yunus sagte: „Ich wickelte mich in Fleisch und Knochen / Zeigte mich als Yunus.“ (Ete, kemiğe büründüm / Yunus diye göründüm) Der Satz kann auch so lauten: „Ich wickelte mich in Saz und Stimme / Zeigte mich als Ruhi Su.“ (Saz’a, söze büründüm / Ruhi Su diye göründüm)499 Ruhi Su erklärt seine Auswahl der İlahis von Yunus Emre damit, dass er solche nahm, die auf Türkisch verfasst waren und die vom Volk in der Art von Türküs gesungen wurden.500 Ruhi Su wusste sehr genau, dass bei Yunus Emre die Liebe und Schöpfungskraft in einzigartiger Weise erkennbar sind. Beide werden in einer Ganzheit von Denken und Glauben gesehen und in dem Thema „Mensch“ vereinigt. Die Auffassung, dass Yunus Emre ausschließlich Vorkämpfer des Sufismus gewesen sei, mag man bestreiten. Dennoch lässt sich behaupten, dass er vielmehr die Idee einer humanen aufgeklärten Gesellschaft vertrat. Yunus Emre erinnert die Menschen an die Freundschaft und an die Endlichkeit ihrer Welt :

Lasst uns Freunde werden Gelin tanış olalım Lasst uns die Arbeit leichter machen İşi kolay kılalım Lasst uns lieben und geliebt werden Sevelim sevilelim Diese Welt bleibt niemandem Bu dünya kimseye kalmaz Yunus Emre

Er betrachtet den Hass als Feind und glaubt an die Brüderlichkeit und Gleichheit aller Menschen:

Gegenüber niemandem hegen wir Groll Biz kimseye kin tutmayız, jeder Mensch ist gleich für uns. Kamu alem birdir bize. 501 Yunus Emre

Er hält die Liebe und die Menschheit hoch und vergöttlicht sie. Gott holt er in das Herz der Bescheidenen, der Menschheit und zu der Liebe herunter:502

499 KORKMAZGİL, Hasan Hüseyin: Toplum (8. Nov. 1972). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 64. 500 SU, Ruhi: SU, Ruhi: Plaktaki Yunus Emre, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Yunus Emre“ (1971). 501 EYUBOĞLU, Sabahattin:Yunus Emre (1972): 29. Für das vollständige Gedicht siehe ebd. 102. 502 Vgl. Ebd.: 5. 186 Suchst du Gott, dann such ihn in deinem Herzen, Ararsan Mevlâ’yı kendinde ara, Er ist nicht in Jerusalem, Mekka oder der Hadsch. Kudüs’te Mekke’de, Hac’da değildir.503 Yunus Emre

Ruhi Su bevorzugte jenen Yunus Emre, der in der Sprache des Volkes lebte, der Türkisch sprach und dessen Gedichte wie Türküs gesungen wurden. Er bewunderte ihn als einen, der die Welt liebte und das Glück auf der Welt suchte, der die Brüderlichkeit und Einheit innerhalb des Volkes sowie die „Gleichheit der 72 Nationen“ anstrebte.504 Yunus Emre war für ihn ein kulturelles Erbe, das auf gar keinen Fall in die Hand der Rechten fallen durfte. Ruhi Su beginnt mit einem İlahi (Gebetshymne) Yunus Emres, das früher auch an Schulfesten gesungen wurde:505

9.2.2 „Die Flüsse dieses Paradieses“ „Şol Cennetin Irmakları“ Die Flüsse dieses Paradises Şol cennetin ırmakları Fließen und sagen stets „Allah.“ Akar „Allah“ deyu deyu. Die Nachtigall des Islam Çıkmış İslam bülbülleri Singt und sagt stets „Allah.“ Öter „Allah“ deyu deyu. Yunus Emre 9.2.3 „Deine Liebe nahm mich von mir“ „Aşkın Aldı Benden Beni“ Deine Liebe nahm mich von mir, Aşkın aldı benden beni, Dich brauche ich, dich. Bana seni, gerek seni. Ich brenne, gestern und heute, Ben yanarım dünü, günü, Dich brauche ich, dich. Bana seni, gerek seni.

Ich bin nicht froh über den Reichtum, Ne varlığa sevinirim Bin nicht traurig über die Armut, Ne yokluğa yerinirim, Finde Trost in deiner Liebe, Aşkın ile avunurum Dich brauche ich, dich. Bana seni, gerek seni.

503 Siehe unten Kap. 9.2.4. 504 Vgl. SU, Ruhi: Plaktaki Yunus Emre, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Yunus Emre“ (1971). 505 Vgl. Ebd. 187 Yunus ist mein Name, Yunus’durur benim adım Von Tag zu Tag vermehrt sich mein Feuer, Gün geçtikçe artar odum, Ich suche dich in zwei Welten, İki cihanda maksudum, Dich brauche ich, dich. Bana seni, gerek seni. Yunus Emre

Yunus Emre klagt, dass die Liebe Gottes die Einheit seines eigenen Menschseins geteilt hat und dass er Gottes Hilfe braucht, um diese Einheit zurück zu gewinnen. Weder Reichtum noch Armut kümmern ihn; die Sehnsucht nach Gott erfüllt ihn mit Feuer und seine Suche treibt ihn durch Diesseits und Jenseits.

9.2.4 „Das Wesen eines Derwischs ist im Kopf“ Das Wesen eines Derwischs ist im Kopf und nicht in der Krone, Feuer gibt die Wärme, nicht das Backblech. Falls du das Herz eines Frommen brichst, Werden deine Gebete nicht erhört.

Suchst du Gott, dann suche ihn in deinem Herzen, Er ist nicht in Betlehem, Mekka oder der Hadsch. Nimm die weisen Worte Yunus an, Du wirst es rasch verstehen, es wird nicht zu spät sein. Yunus Emre

„Dervişlik Baştadır“ Dervişlik baştadır, taçta değildir, Isılık oddadır, sacda değildir. Eğer bir müminin kalbin yıkarsan, Hakka eylediğin secde değildir.

Ararsan Mevlâ’yı, kendinde ara, Kudüs’te, Mekke’de, Hac’da değildir. Kabul et Yunus’un ergen sözünü, Tezcek gelir başa, geç de değildir. (Yunus Emre)

188

Yunus Emre warnt ein menschliches Gegenüber vor der Überschätzung des Äußeren. Wesentlich sind die inneren oder auch unsichtbaren Dinge: das Derwischtum im Kopf, das Feuer unter dem Backblech, die Frömmigkeit im Herzen. Gott selbst soll er nicht an traditionellen Pilgerstätten suchen, sondern in sich selbst. Solche Abkehr von der äußeren Welt ist eine essentielle Haltung der Sufis.

9.2.5 „Ich bin der Anfang und das Ende“ „Evvel Benem Ahir Benem“ Ich bin der Anfang und das Ende, Evvel benem, ahir benem, Ich bin das Leben der Lebenden, Canlara can olan benem, Für alle Sünder auf dem Weg Azıp yolda kalmışlara, Bin ich die schnelle Hilfe. Hızır medet eren benem.

Ich gab vielen Befehle, Bir niceye verdim emir, Verbrachte mein Leben an der Macht. Devlet ile sürdüm ömür Die brennende Kohle, das glühende Eisen Yanan kömür, kızan demir Bin ich, der den Hammer auf den Amboss schlägt. Örse çekiç salan benem.

Es ist nicht Yunus, der dies sagt, Yunus değil bunu diyen, Das Wort ist es, das es sagt. Kendiliğidir söyleyen, Wer nicht glaubt, ist bestimmt ein Ketzer. Mutlak kâfir inanmayan, Ich bin der Anfang und das Ende. Evvel ahir heman benem. Yunus Emre

Das Lied spricht von einer Macht, welche Anfang und Ende umfasst, also ohne Grenzen ist. Gleichzeitig ist diese Macht der Mittelpunkt der Menschen; sie gibt ihnen Leben, sie rettet die Sünder. Die Macht übte Herrschaft und Kraft aus, wie das Bild von der Schmiede andeutet. Man kann fragen, wer solche Aussagen macht. Yunus verleugnet aus Bescheidenheit seine Autorenschaft und verweist auf das Wort selbst als Sprecher. Rational ist das Wort als Sprecher nicht zu verstehen, sondern als mystische Sprechweise.

189 9.2.6 „Ach göttlicher Herr, wenn du mich fragst” In dem Lied „Ach göttlicher Herr, wenn du mich fragst” (Ya İlâhi ger sual et sen bana) klagt Yunus Emre Gott in der Figur des Padişah an: Yunus Emre fügt Gott kein Leid zu, denn dessen Macht übertrifft die menschliche in allen irdischen Bereichen. Der Dichter lehnt sich gegen Gott auf und fordert von ihm eine Art Rechenschaft für was ihm widerfahren ist. In einem weltlichen Sinne fühlt und denkt Ruhi Su durchaus ähnlich: Auch er kann sich mit dem Unrecht auf dieser Welt nicht zufrieden geben, sondern bis in die von ihm komponierte Melodie und bis in eine rebellische Stimmführung hält er am Protest fest.

Ach göttlicher Herr, wenn du mich fragst, Dann sag’ich dir meine Antwort sofort.

Ich sündigte, tat mir selbst Grausames an, Was aber tat ich dir Padişah?

Fehlt dir denn etwas an deiner Habe? War meine Macht etwa größer als deine?

Aß ich dein täglich’Brot, ließ dich hungern? Aß ich die Mahlzeit dein, ließ sie dir nicht?

Gar nichts kann Yunus dir antun, Du erkennst das Verborgene klar.

Soviel Geschrei um ein bißchen Erde (die von uns bleibt)! Wozu, ach wozu, ist das gut, großer Gott? 506 Yunus Emre

506 Übersetzung: REINHARD, Ursula und PINTO, Tiego de Oliveira: Sänger und Poeten mit der Laute, Türkische Aşık und Ozan (1989): 15. Interpunktion des Verfasser.

190 „Ya İlâhi, Ger Sual Etsen Bana” Ya İlâhi, ger sual etsen bana, Cevabım işbu durur anda sana.

Ben bana zulmeyledim, ettim günah. Neyledim nettim sana ey Padişah?

Nesne eksildi mi mülkünden senin? Geçti mi hükmüm ya hükmünden senin?

Rızkını yeyip seni aç mı kodum? Ya yeyip öynümü muhtaç mı kodum?

Hiç Yunus’tan değdi mi sana ziyan? Sen bilirsin âşikâre vu nihân.

Bir avuç toprağa bunca kıyl-ü kaal! Neye gerek, ey kerim ü zül-celâl? Yunus Emre

191 9.2.7 „Warum seufzt du, Wasserrad?“ „Dolap Niçin İnilersin?“ Warum seufzst du, Wasserrad? Dolap niçin inilersin? Weil ich leide, muss ich seufzen. Derdim vardır inilerim. Ich habe mich in Gott verliebt, Ben Mevlâ’ya aşık oldum, Darum muss ich seufzen. Anın için inilerim.

Mein Name ist Rad des Schmerzens, Benim adım dertli dolap, Strahlend rinnt mein Wasser, Suyum akar yalap yalap, So befohlen hat es Gott. Böyle emreylemiş Çalap. Weil ich leide, muss ich seufzen. Derdim vardır inilerim.

Man fand mich auf einem Berg, Beni bir dağda buldular, Schnitt mir die Arme und Flügel ab, Kolum kanadım yoldular, Ich sei geeignet für ein Wasserrad. Dolaba layık gördüler Weil ich leide, muss ich seufzen. Derdim vardır inilerim.

Man stutzte mir die Äste, Dağdan kestiler hezenim, Verdarb meine vielfältige Gestalt, Bozuldu türlü düzenim, Ich bin ein nimmermüder Dichter. Ben bir usanmaz ozanım. Weil ich leide, muss ich seufzen. Derdim vardır inilerim.

Ich schaufle das Wasser von unten, Suyum alçaktan çekerim, Drehe und bringe es nach oben, Dönüp yükseğe dökerim, Schaut, was ich alles trage. Görün ben neler çekerim. Weil ich leide, muss ich seufzen. Derdim vardır inilerim. Yunus Emre

Auch in diesem Text bringt Yunus Emre zum Ausdruck, dass die Liebe zu Gott viel Leid mit sich bringt, dass den Dichter aus ganzem Herzen seufzen lässt. Metaphorisch kleidet er diese seelische Verfassung in das Bild eines hölzernen Wasserrades, ein Bild, dass für dieses Gedicht konstitutiv ist. Er sieht sich als Dichter, der wie ein Wasserrad eine große, aber auch stets erneuerte Last ans Licht bringt. Wie das

192 hölzerne Wasserrad hatte auch er eine frühere Existenz. Er war ein Baum, dessen Gestalt 507 für den neuen Dienst verstümmelt wurde, in dem er jetzt leidet und seufzt.

507 Dieses mehrdeutige Gedicht lässt viele Interprätationsmöglichkeiten zu, von denen der Verfasser eine vorgestellt hat. Andere Ansätze finden sich bei KRAFT, Gisela: Yunus Emre / Pir Sultan Abdal, Dağlar ile Taşlar ile / Mit Bergen mit Steinen (1981) und bei BAYKURT, Fakir: Dost Yüzleri (2002): 209. Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Von Gott geschickter Trank” (Haktan Gelen Şerbeti); „Komm zu einem Şah” (Gel Bir Şah’a); „Wem das Derwischtum geschenkt wird” (Her Kime Kim Dervişlik Bağışlana); „Hey Du Bruder” (Be Hey Kardeş); „Du Aşık, ich habe dir ein Wort zu sagen” (Aşık Sana Bir Sözum Var); „Unter der Erde der gelbe Ochse”(Yeraltında Sarı Öküz) und „Die auf die trügerische Welt Kommenden und sie Verlassenden” (Yalancı Dünyaya Konup Göçenler).

193 9.3 Karacaoğlan (1972) Ruhi Su wollte die Lieder Karacaoğlans möglichst vollständig sammeln. Auf seiner Suche reiste er in den Südosten der Türkei, in die Gegenden von Antalya bis Gaziantep, in den Taurus und vornehmlich nach Orten wie Kadirli, Osmaniye, Haruniye, Feke und Saimbeyli.508 Er spricht über seinen Umgang mit den aufgenommenen Liedern wie folgt: Niemals wollte ich, was Artikulation und Vortragsweise angeht, das Volk nachahmen. Nachahmung verdirbt das Ursprüngliche. Genaue Nachahmung bringt nichts ein und sie ist ohnehin nicht möglich. Das Volk verfährt auch so; jeder fügt seinen Anteil hinzu. Ich füge auch meinen Anteil hinzu, er ist keine neue Erfindung, er steht mir zu, denn ich bin auch Teil des Volkes.509

An dieser Stelle bezieht Ruhi Su sich auf Yaşar Kemal, der auch ein Sammler der Gedichte Karacaoğlans war. Kemal betrachtet Karacaoğlan als einen der großen Meister der türkischen Lyrik wie Yunus Emre und Pir Sultan Abdal. Vermutlich lebte er im 17. Jahrhundert. Die Wurzeln Karacaoğlans gehen, nach Yaşar Kemal, noch weiter zurück, nämlich in das 15. Jahrhundert, der Zeit der Entstehung des Epos „Dede Korkut.“ In Yaşar Kemals Jugend habe es in der Çukurova vier junge Männer gegeben, die unter dem Namen „Karacaoğlan“ Gedichte vortrugen und sangen. Das Volk habe alle von ihm geliebten Gedichte Karacaoğlan zugeschrieben. Auch wenn wir heute die Gedichte Karacaoğlans läsen, würden wir die Haltung des Volkes aus der Çukurova zu der Welt erkennen. Wir würden alle Einstellungen zum Tod, der Grausamkeit, der Liebe, dem Leid, der Freundschaft, der Trennung, der Armut, der Sehnsucht und der Fremde finden. Große Persönlichkeiten, die mit dem Volk lebten, seien zum Sprachrohr des Volkes geworden. Das Volk habe diese Dichter in sich aufgenommen. Auch in der Stimme Ruhi Sus fände man alle menschlichen Gefühle, den Tod, die Trennung, die Liebe, die Grausamkeit und die Naturschönheiten als neu erschaffene wieder.510 Yaşar Kemal verdeutlicht, dass Ruhi Su, der ebenso wie Karacaoğlan aus der Çukurova stammte, den Gedichten Karacaoğlans einen ganz neuen Charakter gab.

508 SU, Ruhi im Gespräch mit MUTLUAY, Rauf: Ruhi Su’dan Karacaoğlan, Cumhuriyet (12. Dez. 1972). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 105-106. 509 Ebd.: 105. 510 Siehe KEMAL, Yaşar: Auf der inneren Seite der Hülle der Schallplatte „Karacaoğlan” (1972). Siehe auch BAŞGÖZ, İlhan: Karacaoğlan: (1984) ; ÖZTELLİ, Cahit: Karacaoğlan (2012); KUDRET, Cevdet: Halk Şiirinde Üç Büyükler 3, Karacaoğlan (2003); YAĞCI, Öner: Karacaoğlan, Yaşamı ve Şiirleri (2006) sowie BORATAV, Pertev Naili: Güney Şairleri. Ankara Üniversitesi Haftası, Hatay (1944). In BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 2 (1982): 19-39.

194 Ob er nun Liebeslieder Karacaoğlans oder Liedern dieser Art aus einer anderen Region vortrug, immer konnte man ein schelmisches Lächeln Ruhi Sus sehen, das vielleicht bedeutete, er habe sich selbst gern in der Rolle des Liebhabers gesehen. Diese Art der Zuneigung zu Frauen reizte ihn, wie sie wohl auch Karacaoğlan gereizt hatte, weil darin eine kleine Frechheit, aber auch eine Prise Humor lag. Hüseyin Erdem zeichnet ein persönliches und freundschaftliches Bild des Sängers. Wenn Ruhi Su begann, Türküs zu singen, hörten alle ehrfurchtvoll zu. Insbesondere vergaßen die Frauen ihre anwesenden Männer; sie setzten sich sozusagen auf die Flügel seiner Stimme und ließen sich davontragen. Dies war eine platonische Liebe. Ruhi Su aber flüchtete vor den Frauen, weil er Zeit für seine Kunst brauchte. Er liebte das Schöne und hatte Respekt vor ihm. Die Liebe in den Türküs genügte ihm. Wenn in einem Türkü Schönes über eine Frau gesagt wurde, und eine Frau anwesend war, dann schaute er in ihre Augen, während er sang.511 Er war ein Charmeur, das war nicht zu übersehen. Ebenso wenig war zu übersehen, dass Ruhi Su in seinen Türküs indirekt auf Themen anspielte, die zu den tatsächlichen Gegebenheiten des Lebens in der Türkei gehörten, zu nennen sind etwa die Frühehe und die Zwangsheirat. Das Ansprechen dieser Tabuthemen wurde freilich im Allgemeinen von den Verantwortlichen des Staatsapparates als sittenwidrig betrachtet und daher, so weit wie möglich, unterbunden. Im Gegensatz zu diesem prüden Konservatismus glaubte Ruhi Su an menschliche Grundbedürfnisse, wie Zuneigung vor der Ehe, die man nicht einschränken dürfe, der Preis werde ein umso größerer Drang zur Freiheit und einer gewissen Keckheit sein. Man müsse sich nur einen jungen Menschen vorstellen, der seine Liebste verloren hat, weil sie gezwungen war, einen anderen zu heiraten. Für Ruhi Su überwindet die Kraft der Liebe alle Schranken und Zwänge. Dies war eine Wahrheit, die man nicht verstecken durfte.512 Wenn soeben von der Neigung Ruhi Sus zu Freiheit im Umgang der Geschlechter und einem gewissen Mut zum offenen Wort die Rede war, so findet man eine ähnliche Haltung in Liebesliedern, welche anonym in der Weise Karacaoğlans oder von dem frühen Dichter selbst verfasst wurden. Texte, die hier nur in Zitaten erscheinen, bezeugen solche Ähnlichkeit: Im ersten Text liegt die Frechheit darin, dass die frisch verheiratete Frau nicht ihren ihr ausgesuchten Ehemann im Kopf hat, sondern einen andern und ihn grüßen lässt. Im zweiten Text verlangt ein Mann nach einem Gespräch mit einer Braut kurz vor der Heirat, das seine Gedanken beruhigen soll. Die folgenden drei Texte werden

511 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 5. Aug. 2008 in Köln. 512 Ebd. 195 im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt, weil sie nicht von Karacaoğlan selbst stammen, sondern in seiner Manier verfasst sind. a) „Das kalte Wasser der Alm“ Das kalte Wasser der Alm durchbohrt meine Brust, Ich bekam einen Gruß von der frisch verheirateten Frau. Volkslied „Yaylanın Soğuk Suyu“ 513 Yaylanın soğuk suyu deldi bağrımı deldi, Üç günlük gelin iken bana selamı geldi. Halk Türküsü b) „Die Braut, die Haselnüsse pflückt“ Die Braut, die Haselnüsse pflückt, Die Haselnuss darf nicht am Ast bleiben. Komm, lass uns ein wenig reden, Damit meine Gedanken nicht immer bei dir sind. Volkslied „Fındık Toplayan Gelin” Fındık toplayan gelin, Fındık dalda kalmasın. Gel biraz konuşalım, Aklım sende kalmasın. (Halk Türküsü)

513 Es gibt von dem Lied „Das kalte Wasser der Alm“ (Yaylanın Soğuk Suyu) keine Aufzeichnung. Das Lied „Die Braut pflückt Haselnüsse“ (Fındık Toplayan Gelin) ist auf der CD mit dem Titel “Sie haben meine Rose weggeworfen” (Gülüm Dermişler) zu finden, während das Lied „Das bestickte Leinenhemd“ (Keten Göynek Filfilli Nineler) auf einer anderen CD mit dem Titel “Aman Of” (Aman Of), die beide nach Ruhi Sus Tod von Frau Sıdıka Su veröffentlicht wurden, vorhanden ist. Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Ihr Herren, ich sah eine Hübsche” (Ağalar Ben Bir Güzel Gördüm); „Am Strand ging ich zu einer Hübschen“ (Sahilde Uğradım Ben Bir Güzele); „Heute bekam ich von der Geliebten eine Nachricht“ (Bugün Yardan Haber Geldi); „Hört zu, ihr Herren“ (Dinleyin Ağalar); Die Reizende, deren gelb-braunen Augen ich liebe (Elâ Gözlerini Sevdiğim Dilber); Die, ihre weißen Hände beim Laufen Schaukelnde (Ak Ellerini Sala Sala Yürüyen); „Hallo Veteranen, Hallo Weggefährten (Be Gaziler Be Yoldaşlar) und „Hallo Herren, Hallo Gebildete“ (Bre Ağalar Bre Beyler).

196 Wenn Ruhi Su die beiden vorigen und das folgende Lied mit seinem Chor einstudierte, waren die Chormitglieder sehr überrascht: Der sonst so ernsthafte Künstler wollte mit lebensbejahenden Texten und fröhlichen Melodien sagen, dass auch in politisch schlimmen Zeiten die Lebensfreude und sogar die Erotik ihren Platz behalten, zumal für junge Menschen. Der Film über sein Konzert in Australien im Jahre 1981 zeigt sehr schön, wie er nach dem Konzert seine Zuhörer in einem privaten Kreis dazu brachte, Fröhlichkeit mit ihm zu teilen und dieses gemeinsame Singen als Höhepunkt zu empfinden. c) „Das bestickte Leinenhemd“ „Keten Göynek Filfilli Nineler“ Verziertes Leinenhemd Keten göynek filfilli nineler Woher hast du diese Mundart? Nerden aldın bu dili, nineler? Diese Sprache ist nicht die hiesige Sprache, Bu dil, buranın del, Diese Sprache ist die Sprache İstanbuls. Bu dil, İstanbul dili nineler.

Busen sind verschieden getönt, Elvan elvan memeler, Die Knöpfe lassen sich nicht zuknöpfen, Gavşamıyor düğmeler, Heute ist der Tag Dienstag, Bugün günlerden Sali, Meine Liebste ist eine Basilikumblüte Yarim ireyhan dali. Sagt “Maşallah” Brüder, „Maşallah“ deyin ihvanlar, Digi digi dav dav digi dav dav. Digi digi dav dav digi dav dav. Volkslied Halk Türküsü

197 9.3.1 „Elif“ Aus dem Leben Karacaoğlans wird erzählt, dass er ein sehr gefühlvoller Dichter war, ein Meister der Saz, mit der er sogar die stumpfesten Menschen begeistern konnte. Als man ein Mädchen aus seinem Stamm, das er liebte, mit jemand anderem verheiratete, ging er in die Fremde. Unterwegs traf er auf einen anderen Stamm, der ihn wegen seiner meisterlichen Kunst aufnahm. Er verliebte sich in Elif, die Tochter des Stammesältesten. Das Mädchen verliebte sich ebenfalls in ihn. Als der Älteste sich gegen diese Liebe stellte, kamen die Stammesmitglieder den Liebenden zur Hilfe, weil sie Karacaoğlan sehr in ihr Herz geschlossen hatten. Karacaoğlan wurde mit der hübschen Elif verheiratet. Schon vor der Heirat hatte der Dichter den Stamm mit vielen Liebestürküs überschüttet.514 Die folgenden zwei Türküs sind Beispiele dafür.

„Elif“ „Elif“ Der Wind weht vom hohen Berg, Yüce dağdan bir yel eser, Weht und sagt „Elif, Elif.“ Eser „Elif Elif“ deyi. Das wilde Herz hat sich verliebt, Deli gönül abdal olmuş, Es läuft umher und sagt „Elif, Elif.“ Gezer „Elif Elif“ deyi.

Elifs Gewand ist gestrickt, Elif’in uğru nakışlı, Ihre Blicke sind wie die einer jungen Rohrdommel, Yavru balaban bakışlı, Ihr Duft ist wie der einer Almblume, Yayla çiçeği kokuşlu, Sie duftet und sagt „Elif, Elif.“ Kokar „Elif Elif“ deyi.

Elif runzelt die Stirn, Elif kaşlarını çatar, Ihre Grübchen verletzen mein Herz, Gamzesi sineme batar, Ihre weißen Hände halten einen Stift, Ak elleri kalem tutar, Er schreibt und sagt „Elif, Elif.“ Yazar „Elif Elif“ deyi.

Die Vorlieben Karacaoğlans, Karacaoğlan eğmeleri, Das Herz liebt nicht das Gewöhnliche, Gönül sevmez değmeleri, Sie hat ihr Kleid zugeknöpft, İliklemiş düğmeleri, Er öffnet es und sagt „Elif, Elif.“ Çözer „Elif Elif“deyi. Karacaoğlan

514 FUAT, Memet: Karacaoğlan (1977): 24. 198 In dem Lied über Elif sieht der junge Liebhaber Elif in Bildern der Natur, als schön klingender junger Vogel, duftende Bergblume wie auch in ihren Utensilien, dem Stift und ihrer Kleidung. Alle Bilder sprechen mit einer Stimme und immer wieder ihren geliebten Namen Elif.

199 9.3.2 „Meine Liebe ist auf drei Hübsche gefallen“ Meine Liebe ist auf drei Hübsche gefallen, Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif. Die Liebe zu ihnen hat mich meiner Sinne beraubt, Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.

Die Liebe zu ihnen hat mich meiner Sinne beraubt. Welche von ihnen soll ich jedoch meiden?

Das Haus der einen steht an dem Fels, Das Haus der anderen steht außerhalb des Hofes, Eine ist soeben fünfzehn Jahre alt, Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.

Der Finger der einen ist vollbesetzt mit Ringen, Der Arm der anderen ist voller Glasringe, Liebe ich die Ältere, ist es schade um die Jüngere, Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif.

Der Kranich kommt über die Berge geflogen, Die Ente kommt über Wiesen und Seen, Es sitzen drei Hübsche und winken mir zu, Eine ist Şemsi, eine Kamer, aber die schönste ist Elif. Karacaoğlan

200 „Ben Meylimi Üç Güzele Düşürdüm“ Ben meylimi üç güzele düşürdüm, Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif. Onların aşkıyle aklım şaşırdım, Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.

Onların aşkıyle aklım şaşırdım, Hangisinden yâd eyleyim gönlümü.

Birinin evleri kaya başında, Birinin evleri avlun duşunda, Biri yeni değmiş on beş yaşında, Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.

Birinin parmağı dopdolu yüzük , Birinin kolunda sırça bilezik, Büyüğünü sevsem küçüğe yazık, Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.

Turna gelir, yüce dağı yol eder, Ördek gelir, çayır çimen göl eder, Üç güzel oturmuş bana el eder, Biri Şemsi, biri Kamer, ill’Elif.515 Karacaoğlan

Die Liebe des Dichters bleibt einerseits in einem merkwürdigen Schwebezustand, der ihm die Sinne nimmt. Der Dichter findet Liebenswertes an den Mädchen Şemsi und Kamer, Jugend, Schmuck und Besitz. Andererseits gehört seine wirkliche Liebe der Schönsten, nämlich Elif, die, wenn man die Namen ihrer Rivalinnen wörtlich nimmt, noch schöner ist als die Naturschönheiten der Sonne und des Monds.

515 Ruhi Su dieses Liebeslied derart bearbeitet, dass er zwar den ganzen Originaltext abdruckte, jedoch wie bei auch sonst auf Schallplatten aufgenommenen Liedern aus Raumgründen eine verkürzte Fassung sang, in diesem Falle eine um die letzte Strophe gekürzte. Ruhi Su setzt sich aus diesem eher technischen Grund von den Volkssängern ab, die ihre Lieder vollständig sangen, denn, wie auch das Volk selbst glaubte, ein gekürztes Lied sei so unzulässig wie ein gekürzter Koranvers. Siehe SU, Ruhi: Bir Açıklama, auf der inneren Seite der Hülle der Schallplatte „Pir Sultan Abdal“ (1973). 201 Nach der Heirat ging es im wirklichen Leben, wie uns die Geschichte erzählt, so weiter: Elif und Karacaoğlan liebten sich sehr. Eines Tages warf der Neffe des Stammesältesten ein Auge auf Elif. Elif war empört und fühlte sich belästigt. Sie hatte Angst vor ihm und sah ihre Ehe in Gefahr. Deshalb zog sie sich in ihr Zelt zurück, in dem sie sich sicher fühlte. Eines Tages wurde Karacaoğlan zu einer Hochzeit geladen, auf der er singen und Saz spielen sollte. Elif nutzte die Gunst der Stunde und ging zu dem Neffen mit der Bitte, sie in Ruhe zu lassen. Dieser willigte unter einer Voraussetzung ein: Er wollte eine Nacht in ihrem Zelt neben ihr im Bett verbringen, ohne sie jedoch anzurühren. Dies versprach er ihr mit dem Schwur auf den Koran. Elif willigte ein, und sie schliefen nebeneinander ein. Zur gleichen Zeit überfiel Karacaoğlan ein beunruhigendes Gefühl. Obendrein riss eine Saite seiner Saz. Dies verstand er als schlimmes Omen. Rasch machte er sich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, sah er einen Mann neben seiner Elif schlafen. Er war abgrundtief enttäuscht und verletzt. Er zog sein Gewand aus und überdeckte damit beide. Dann machte er sich auf den Weg in die Berge. Als am Morgen Elif aufwachte, merkte sie, dass Karacaoğlan da gewesen war. Sie lief ihm hinterher, rief nach ihm, aber es war erfolglos. Der ganze Stamm suchte überall nach Karacaoğlan, auch ohne Erfolg. Währenddessen kam Karacaoğlan nach einem langen Marsch an einer Höhle an. Er setzte sich auf einen Stein und schüttete ihm sein Herz aus. Er ging in die Höhle hinein und kam nie wieder heraus. Man sagt, dass nur diejenigen, die ein reines Herz haben, heute, wenn sie an den Eingang der Höhle kommen und hinein lauschen, die Türküs von Karacaoğlan hören.516 Auffällig in der Erzählung vom geheimnisvollen Verschwinden Karacaoğlans ist die strikte Gewaltlosigkeit des Dichters, der sich zweimal für die verlorene Liebe nicht mit Gewalt rächt, sondern sich einfach zurückzieht. Ebenso fällt auf, dass Karacaoğlan nicht nimmt, was er ersehnt hat, sondern als ein Gebender erscheint und die Menschen mit Liebesliedern beschenkt. Ruhi Su teilt mit Karacaoğlan eine Vorliebe für das folgende Hochzeitslied.

516 FUAT, Memet: Karacaoğlan (1977): 25. 202 9.3.3 „Ich drang in den Garten ein“ „Atladım Girdim Bağa“ Ich drang in den Garten ein, Atladım girdim bağa, Meine Stirn berührte das Blatt. Alnım değdi yaprağa. Wenn sie mir meine Geliebte geben, Sevdiğimi verseler, Gehe ich nicht in die schwarze Erde. Girmem kara toprağa.

Können denn Felsen gespaltet werden? Kayalar kertilir mi? Können denn Leinenschuhe zerreißen? Ağ terlik yırtılır mı? Das reifende Mädchen, der unwissende Bursche, Ergen kız, cahil oğlan, Können sie denn der Verstellung entkommen? İnkârdan kurtulur mu?

Ich stieg auf das Dach, um es fest zu walzen, Çıktım dam loğlamaya, Ich stieg hinab, um die Geliebte zu verabschieden. İndim yâr yollamaya, Ist die Geliebte aus den Augen, Yâr gedikten aşarken Beginne ich zu weinen. Başladım ağlamaya.

Hey ihr Bräute, hey ihr Mädchen! Ey gelinler, ey kızlar! Schlagt und bringt mich um, Babalım (vebalim) boynunuza. Oder nehmt mich in euer Gemach, Vurun vurun öldürün, Sonst übernehmt meine Sünden. Ya alın koynunuza. Karacaoğlan

Die Freizügigkeit der letzten Strophe, die Aufforderung des Dichters an die Bräute, ihn zum Beischlaf einzuladen, ist erstaunlich, ebenso wie die Konsequenzen, falls die Mädchen sich weigern. Die Themen in Ruhi Sus Türküs haben ein ähnlich weites Spektrum: ihre Form ist zwar einfach, aber was sie über menschliche Grundbefindlich- keiten wie erfüllte oder unerfüllte Liebe aussagen, ist ähnlich radikal. Je mehr Menschen eingeschränkt werden, desto stärker wird der Drang zu Frechheit und Freiheit..517

517 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. Aug. 2008 in Köln. 203 9.4 Pir Sultan Abdal (1973) Pir Sultan Abdal gehört zu den „Sieben Heiligen Dichtern“ (Yedi Ulu Ozan) der Aleviten.518 Der wahre Name von Pir Sultan Abdal war Haydar. Er lebte nahe dem mittelanatolischen Sivas, in dem Dorf Banaz. Seine Geburts- und Todesdaten sind nicht bekannt, aber man nimmt an, dass er im 16. Jahrhundert gelebt hat. Für Pir Sultan haben die Namen und Gestalten Ali und Hüseyin symbolischen Charakter, weil ihnen in ihrer Zeit Unrecht widerfuhr und sie durch Mächtige umgebracht wurden. Pir Sultan hat das Volk zu einem gerechten Krieg aufgerufen, in dem die Kleinen sich gegen die Tyrannen erheben. Er sprach zum Volk durch die Person Alis: 519 Die Liebe zu Pir Sultan trägt immer die Ehrung des in KarbalÁ getöteten Hüseyin mit. Ihr Märtyrertum wurde gleichgesetzt. Beide wurden Symbole für alle Menschen, denen Unrecht getan wurde.520

518 Zu dem Lebenslauf der „ Sieben Heiligen Dichter“ siehe oben Fußnote 120. Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel behandelte Lieder: „Ich ging hoch und betrachtete“ (Çıktım Yücesine Seyran Eyledim); „Der Kummer deinetwegen, meine Schwarzlocke“ (Gam Elinden Benim Zülfü Siyahım); „Komm und sei das Heilmittel für meinen Kummer“(Gel Benim Derdime Bir Derman Eyle); „Kommt Freunde, lasst uns eins werden“ (Gelin Canlar Bir Olalım, siehe oben Kap. 2.5) und „Ich fragte die gelbe Blume“ (Sordum Sarı Çiçeğe). Zu Pir Sultan Abdal siehe GÖLPINARLI, Abdülbaki-BORATAV, Pertev Naili: Pir Sultan Abdal (2010); ÖZTELLİ, Cahit: Pir Sultan Abdal (2012); KRAFT, Gisela: Yunus Emre. Pir Sultan Abdal. Mit Bergen Mit Steinen (1981); FUAT, Memet: Pir Sultan Abdal (2012). EYUBOĞLU, Sabahatin: Pir Sultan Abdal (1990); KUDRET, Cevdet: Halk Şiirinde Üç Büyükler 2, Pir Sultan Abdal (2003); BEZİRCİ, Asım: Pir Sultan (1986); AVCI: Ali Haydar: Bize de Banaz’da Pir Sultan Derler (2004); YAĞCI, Öner: Pir Sultan, Yaşamı ve Şiirleri (2006); MELİKOFF, İrene: Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 9-17; BAŞGÖZ, İlhan: Pir Sultan Abdal ve Pir Sultan Abdal Geleneği. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998):19-65; BİRDOĞAN, Nejat: Pir Sultan Abdal Üzerine, In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan (1998): 67-95; BOZKURT, Fuat: Bir Söylencenin İzinde. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 97-114; KORKMAZ, Esat: Pir Sultan’ın Kavgasına Katılmak. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998):115-140 sowie YILDIRIM, Ali: Yaşayan Pir Sultan Abdal. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 141-194. 519 Nach ERDEM, Hüseyin: Yaşayan Pir Sultan, Yeni Ufuklar 21, 243 (Dez. 1973): 41-44. 520 Vgl. MELİKOFF, İrene: Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 17.

204 9.4.1 „Fließe wie der Kızılırmak, durchbreche den Deich“ Fließe wie der Kızılırmak, durchbreche den Deich, Von Hama und Mardin komme nach Sivas, Dein Pferd Düldül wurde aufgesattelt, nimm dein Schwert Zülfikâr, Warum zögerst du, mein Ali? Deine Tage sind gekommen! Pir Sultan Abdal

„Kızılırmak Gibi Bendinden Boşan” Kızılırmak gibi bendinden boşan, Hama’dan, Mardin’den Sivas’a döşen, Düldül eğerlendi, Zülfikâr kuşan. Alim ne yatarsın günlerin geldi. Pir Sultan Abdal

Pir Sultan wurde zu einem Epos, sein Aufstand und seine Hinrichtung wurden je nach gesellschaftlichen Lage immer wieder neu gesehen. Er wurde zum Volksheld und seine Rebellion wird als eine Volksbewegung für die Verteidigung der Volksrechte und für die Kämpfe gegen die Unterdrückung betrachtet.521 Sabahattin Eyuboğlu beschreibt Pir Sultan als eine rote Rose, die im Herzen der anatolischen Bevölkerung erblühte. Er war mit seinem Charakter und seinen Worten so sehr mit der anatolischen Bevölkerung verwoben, dass man kaum festmachen kann, ob das Gesagte ihm gehört oder dem Volk.522 Ein Beispiel soll dies zeigen:

9.4.2 „Ich bin Moses, du bist Pharao“ „Ben Musa’yım Sen Firavun” Ich bin Moses, du bist Pharao, Ben Musa’yım sen Firavun, Verdammter, ungeständiger Teufel, İkrarsız şeytan-ı lain, Es ist mein dritter Tod, du Heimtückischer, Üçüncü ölmem bu hain, Pir Sultan stirbt und lebt wieder auf. Pir Sultan ölür dirilir.523 Pir Sultan Abdal

521 Vgl. MELİKOFF, İrene: Pir Sultan Abdal Üzerine. In: YILDIRIM, Ali (Hrsg.): Anadolu Aleviliği ve Pir Sultan Abdal (1998): 13. 522 Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Pir Sultan’a Selam, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte “Pir Sultan Abdal” (1973). 523 Aus dem Lied “Verschwinde Hızır Paşa!” (Yürü Bre Hızır Paşa!). 205 Es ist offensichtlich, dass Pir Sultan auf dem Weg zum Galgen diese Worte nicht gesagt haben kann. Die Zeilen zeigen, wie das Volk sich zu ihm hingezogen fühlte und diese Worte nach seinem Tode prägte. Ganz gleich, ob er sie aussprach oder nicht, diese Verse kann man unter die seinen einreihen, sie sprechen nämlich von seiner Persönlichkeit, seinen Gedanken und seiner Art zu singen.524 In einem andern Lied lässt der Dichter seine Tochter sprechen und den Tod des Vaters beklagen. So vorzugehen ist in der türkischen Totenklage nicht ungewöhnlich. Es gehört bis heute zur Tradition dieser Klagen (ağıt), Zwiegespräche zwischen dem Toten und trauernden Personen wiederzugeben und auch den Toten sein Leid ausdrücken zu lassen, als würde er noch leben:

9.4.3 „Klagelied - In meinem Traum gestern Nacht” 525 In meinem Traum gestern Nacht Weint mein Traum und sagt: “Pir Sultan” In meiner Phantasie am Tag und nachts im Traum Weinen meine Träume und sagen: “Pir Sultan”.

Ach mein Dede war groß und wohlgebaut, Seine Alm ist Yıldız, sein Dorf ist Banaz. Im Sommer und im Frühling trüben sich die Wasser, Die Wasser weinen und sagen:“Pir Sultan”.

Ich war die Tochter Pir Sultans, ich war auch in Banaz, Ich weinte Blut im Frühling und im Herbst, Mein starker Vater wurde gehängt im blutigen Sivas. Die Galgen weinen und sagen: “Pir Sultan”. Pir Sultan Abdal

524 Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Pir Sultan’a Selam, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte “Pir Sultan Abdal” (1973). 525 Vgl. REINHARD, Ursula und PINTO, Tiego de Oliveira: Sänger und Poeten mit der Laute, Türkische Aşık und Ozan (1989): 19. Die Übersetzung wurde vom Verfasser leicht bearbeitet und interpungiert. Die Stadt Sivas spielt in der alevitischen Kultur eine traurige Rolle. Nicht nur, dass Pir Sultan dort hingerichtet wurde, im Jahre 1993 veranstalteten die Aleviten ein Festival zu Ehren Pir Sultans, auf dem eine aufgehetzte Menge das Hotel, in dem die eingeladenen Künstler untergebracht waren, in Brand steckte. Es gab 35 Todesopfer. Siehe dazu YILDIRIM, Ali: Ateşte Semaha Durmak (1996). 206 „Ağıt - Dün Gece Seyrim İçinde” Dün gece (Dost) seyrim içinde. Seyrim ağlar, (Dost hey Dost), “Pir Sultan” deyi Gündüz hayalimde, gece düşümde, Düşler ağlar, (Hey Dost), “Pir Sultan” deyi

Uzundu, usuldu Dede’min boyu, Yıldız’dır yaylası, Banaz’dır köyü. Yaz bahar ayında bulanır suyu, Sular da ağlaşır “Pir Sultan” deyi

Pir Sultan kızıydım, ben de Banaz’da, Kanlı yaş akıttım, baharda, güzde, Koç babam astılar, kanlı Sivas’ta, Darağacı ağlar “Pir Sultan” deyi. Pir Sultan Abdal

Die im Türkischen in Klammern gesetzten Textteile sind Zusätze Ruhi Sus, die den Charakter des gesamten Gedichts als Türkü begründen, dazu gehört eine Abschwächung des religiösen Elements und die Einführung des gesellschaftlichen Elements. So ist der Begriff “Dost” mit “Herzensfreund” zu übersetzen.526 Ruhi Su fühlte sich zu Pir Sultan hingezogen, weil dieser einen rebellischen Charakter hatte. Beide übten gehörige Kritik an Staat und Gesellschaft. Beide waren sich auch ähnlich in ihrem Wagemut und ihrer Kompromisslosigkeit gegenüber den Herrschenden. In einer Zeit, in der das Bekenntnis zum Alevitentum fast strafbar war, sang Ruhi Su Lieder alevitischer Volksdichter. Solche Lieder enthielten für die alevitische Jugend eine Hoffnung, sich zu ihrem Glauben bekennen zu können, Recht zu finden und der Unterdrückung zu entgehen.527 Das nächste Gedicht spricht von einem ablehnenden Staat und ablehnenden Weggefährten, denen Pir Sultan und Ruhi Su zu ihren Lebzeiten ausgesetzt waren:

526 Siehe oben Kap. 6.7.1 und 6.7.2. 527 Siehe oben Kap. 2.5 und 2.5.1. 207 9.4.4 „Die Taten des blutrünstigen Bösen“ Die Taten des blutrünstigen Bösen Lassen mich weinen wie eine einsame Nachtigall, Steine regnen auf mich hernieder, Die leichte Berührung eines Freundes verletzt mich.

Am schlechten Tag erkannte ich Freund und Feind, Nun habe ich fünfzigfaches Leid statt zehnfachem. Das Todesurteil umschlingt mich, Gleich ob ich hängen oder erschlagen werde.

Ich bin Pir Sultan Abdal und die Seele passt nicht in den Himmel, Ohne die Worte Gottes gäbe es keinen Segen, Die Hände dieser Steine berühren mich nicht, Nur die Rose des Freundes verletzt mich. Pir Sultan Abdal

„Şu Kanlı Zalimin Ettiği İşler“ Şu kanlı zalimin ettiği işler, Garip bülbül gibi zareler beni. Yağmur gibi yağar başıma taşlar, Dostun bir fiskesi pareler beni.

Dar günümde dost düşmanım belloldu, On derdim var ise şimdi ell’oldu. Ecel fermanı boynuma takıldı, Gerek asa, gerek vuralar beni.

Pir Sultan Abdal’ım, can göğe sığmaz, Hak’tan emrolmazsa ırahmet yağmaz, Şu illerin taşı hiç bana değmez, İlle dostun gülü yareler beni. Pir Sultan Abdal

208 Als Pir Sultan Abdal öffentlich gehängt werden sollte, wurde allen Anwesenden befohlen, ihn zu steinigen. In der Menge war auch ein guter Freund. Er jedoch entschied sich für eine Rose und warf sie auf Pir Sultan. Dieser war dem Werfenden nicht dankbar, sondern empfand über die Rose mehr Schmerz als über die Steine. Er war gekränkt, weil sich der Freund dem Befehl der Obrigkeit nicht offen widersetzte, sondern gefügig tat, was man ihm befahl. Pir Sultan Abdal wurde vor seinem Galgentod die Möglichkeit gegeben, ein Gedicht zu schreiben, in dem er das Wort „Şah“ nicht in den Mund nehmen durfte, weil zum einen dieser Titel einer Anzahl von bedeutenden Religionsführern, wie Ali und Hüseyin, zukommt, und weil die Osmanen im engeren Sinne dem safawidischen Şah İsmail feindlich gesinnt waren. Auf diese Weise sollte er dem Şah und somit seinem Glauben abschwören. Im Gegenzug würde er dann begnadigt werden. Pir Sultan Abdal schrieb aber ein Gedicht, indem er mehrfach den Titel „Şah“ verwandte und widersetzte sich damit deutlich der Aufforderung der Obrigkeit.528 Parallelen zwischen Ruhi Su und Pir Sultan Abdal sind durchaus zu ziehen. Wie Pir Sultan bis heute als Kämpfer für eine große Sache und Vorbild einer tapferen und unbeugsamen Denkweise weiterlebt, so ist auch Ruhi Su ein kontinuierlicher Ruhm sicher. Hinzuweisen ist hier auf Pir Sultans Absage an die Obrigkeit:

9.4.5 „Dem Richter dieser Welt bin ich keine Rechenschaft schuldig“ Dem Richter dieser Welt bin ich keine Rechenschaft schuldig, Sie soll meine Sache bleiben, sie soll zurückbleiben für Gott. Pir Sultan Abdal

„Dünya Kadısına Ben Sorulmazam“ 529 Dünya kadısına ben sorulmazam, Kalsın benim davam divana kalsın. Pir Sultan Abdal

Durch eine Anpassung an staatliche Forderungen hätte sich auch Ruhi Su das Leben eines gefeierten Musiktalents mit allen materiellen Privilegien verschaffen können.

528 Siehe oben Kap. 6.7.2. 529 Nach ERDEM, Hüseyin: Yaşayan Pir Sultan, Yeni Ufuklar 21, 243 (Dez. 1973): 41-44. Aus dem Lied „Ich kam auf diese Welt in Ruhe“ (Ben de Şu Dünyaya Geldim Sakinim).

209 9.5 Gedichte und Türküs / Şiirler, Türküler (1974) Ruhi Su hat auf dieser Schallplatte neben eigenen Gedichten, Gedichte von Mevlânâ, Nâzım Hikmet und Melih Cevdet Anday vertont. Daneben wurden auch anonyme Gedichte aufgenommen. 530 Ruhi Su schien es notwendig, alle Schallplatten mit Erläuterungen zu versehen, um seinen Hörern seine Arbeit begreiflich zu machen. Denn, so sagt er, „ein Künstler muss seine Arbeit wie ein Bauer oder ein Schmied erklären können. Mit seiner Sprache und seiner Fertigkeit muss er in seiner eigenen Gesellschaft sein Brot verdienen können. Wie bei meinen vorigen Schallplatten habe ich den Weg der Volkssänger eingeschlagen, in dem ich manche Texte mit ihren originalen Melodien sang. Manchmal gab ich Texten anonyme Melodien oder habe für Texte, wie solche von Mevlânâ, Nâzım, Melih Cevdet und das Lied „Hasan Berg“ (Hasan Dağı), neue Melodien komponiert.“531 Darüber hinaus sind die Liedertexte auch hilfreich, um Aufschluss über Ruhi Sus Verhältnis zu seinen Vorbildern zu erhalten. Der Text des Liedes „Der Feind spricht unsinnige Worte“ (Düşman Saçma Sapan Laflar Eder) stammt von Mevlânâ, der seinen Kritikern, die ihm Zagheit gegenüber Gegnern vorwerfen, entgegenhält, es sei seine Art, menschlich und sanft zu bleiben und Attacken nicht mit gleicher Härte zu begegnen. Indem Ruhi Su bewusst diese Worte zur Vertonung wählt, stellt er sich geistig neben Mevlâna, der ein bedeutender Vertreter des humanistisch-sufistischen Denkens im 532 Mittelalter war.

530 Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel behandelte Lieder: „Ein Soldatenlied” (Bir Asker Türküsü, siehe oben Kap. 2.6.2); „Mein roter Kranich“ (Allı Turnam); „Der Berg Hasan“ (Hasan Dağı, siehe oben Kap. 7.1.1) und „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal, siehe oben Kap. 7.1.2). Die Übersetzung der Gedichte in diesem Kapitel stammen vom Verfasser mit Hilfe der Übertragungen von S. Pleyl, A. Triebeneck und H. Erdem auf dem Beiheft der in Deutschland herausgebrachten Schallplatte „Liebe dem Menschen, dem Leben Liebe“ (Şiirler Türküler), Pläne, 1986. 531 SU, Ruhi: Auf der Innenseite der Hülle der Schallplatte „Gedichte und Türküs“ (Şiirler, Türküler,1974). 532 Die Ansicht der linken Intellektuellen über Mevlâna läßt sich an einer Aussage Aziz Nesins ablesen: Mevlâna ist volksfern und er wendet sich mehr nach innen als nach außen. (Siehe oben Kap. 9.2.1). Sabahattin Eyuboğlu dagegen sagt, dass was Mevlâna vom Volk trennte, war seine Sprache. Obwohl er in Persisch schrieb, in dem er aufwuchs, sprach er doch das Volk an und stand auf seiner Seite. Wäre Mevlâna gegen das Volk gewesen, hätte sein Sohn Sultan Veled nicht versucht, die Auffasung seines Vaters in Türkisch auszudrücken. Burhan Toprak Ausführungen ziehen einen Vergleich zwischen Yunus Emre und Mevlâna. Mevlâna spricht so über Yunus Emre: „An welchen geistigen Häusern ich auch angekommen bin, sah ich bereits die Spuren eines Türkmenen. Ich konnte ihn nicht überholen.“ (Mânevi konakların hangisine vardıysam bir Türkmen kocasının izini önümde buldum, onu geçemedim) Yunus Emre spricht über Mevlâna, als die beiden sich treffen: „Du hast die Mesnevi sehr ausführlich verfasst. Wäre ich an deiner Stelle, hätte ich alles in wenigen Zeilen gesagt: Ich wickelte mich in Fleisch und Knochen / Zeigte mich als Yunus Emre (S.185) (Ete kemiğe büründüm / Yunus diye göründüm). Die Gedichte Yunus Emres jedoch verehren Mevlâna: „Seitdem Mevlâna uns gesegnet hat, / ist sein himmlischer Segen Spiegel unseres Herzens geworden.“ (Mevlâna Hudâvendigâr bize nazar kılalı / Onun görklü nazarı gönlümüz aynasıdır). Vgl. EYUBOĞLU, Sabahattin: Yunus Emre (1981):17-19. 210 9.5.1. Ausgewählte Gedichte aus A.Kadirs Übersetzungswerk Mevlâna in heutiger Sprache / Bugünün Diliyle Mevlâna 9.5.1.1 „Der Feind spricht unsinnige Worte“ Der Feind spricht unsinnige Worte, Das hören meine lieben Ohren. Er denkt Schlechtes über mich, Das sehen meine lieben Augen. Er hetzt seinen Hund auf mich, Der Hund beißt mich ins Bein. Ich erleide große Schmerzen, Ich bin kein Hund, kann ihn nicht beißen,

Beiße mir in die Lippe,

Ich bin eingeweiht in die Geheimnisse großer Menschen, Ich kann trotzdem nicht sehr prahlen, Ich habe alle Schandtaten getan, aber Es muss irgendetwas getan werden, Um die Herzensfreunde zu erreichen, Denn das Zurückbleiben kann ich nicht ertragen. Mevlâna

Weiterführende Literatur zu Mevlâna GÖLPINARLI, Abdülbaki (Hrsg.): Mevlâna (1973); ÖNDER, Mehmet (Hrsg.): Mevlâna (1971); UZUNCA, Suphi (Hrsg. und Übersetzer): Mevlâna -Verse der Liebe (2000); ARAZ, Nezihe: Aşk Peygamberi (2004). 211 533 „Düşman Saçmasapan Lâflar Eder“ Düşman saçmasapan lâflar eder, duyar can kulağım. Hakkımda kötü şeyler düşünür, görür can gözüm. Üzerime köpeğini salar, ısırır köpek ayağımı, çok acılar çekerim, çok acılar. Köpek değilim, onu ısıramam, ısırırım dudağımı.

Büyük kişilerin sırlarına ortağım, gene de nâh şu kadar övünemem. Bütün ayıplar bende ama, ne yapıp yapmalı, ulaşmalı dostlara, geride kalmayı kendime yediremem. Mevlâna

533 MERİÇBOYU, A. Kadir: Bugünün diliyle Mevlâna (1966): 62. 212 9.5.1.2 „Klagelied-Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte“ Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte, Wenn das Schicksal den Aufschrei doch gehört hätte, Wenn der Henker doch Mitleid gehabt hätte, Hätte Zaloğlu um den Krieg und die Tapferkeit geweint, Hätte das Schicksal sich selbst angeschaut und um sich geweint, Hätte der Henker, der Unbarmherzige, geweint. Mevlâna

534 „Ağıt - Zaloğlu Bu Zulmü Görseydi“ Zaloğlu bu zulmü görseydi, ecel bu feryadı duysaydı, celladın yüreği olsaydı; Zaloğlu savaşa, yiğitliğe ağlardı, ecel bakardı kendine ağlardı, cellat, yüreği olsa ağlardı. 535 Mevlâna

Zaloğlu (Rüstem), ein persischer legendärer Kriegsheld, erscheint in diesem Text als ein Mann, der von Trauer um die Tugend der Tapferkeit erfüllt gewesen wäre, wenn über die Grausamkeit in der Welt Tränen geflossen wären. Diese Menschlichkeit hat sich jedoch nicht gefunden. Ruhi Su sieht in dem Geschehen mit großer Wahrscheinlichkeit eine Parallele zu einem unmenschlichen Geschehen seiner Tage, nämlich der Hinrichtung dreier Studenten am 6. Mai 1972, bei welcher der Henker ebenfalls keine Tränen fand.

534 Ebd. 53. 535Siehe dazu Hüseyin Erdems Kommentar unten in Kap. 9.5.7.

213 9.5.1.3 „Sie stecken in Dornen“ „Diken İçindeler“ 536 Sie stecken in Dornen, Diken içindeler, Sind jedoch wie Rosen. ama gül gibiler. Sie sind im Gefängnis, Hapisteler, Sind jedoch wie Wein. ama şarap gibiler. Sie sind im Schlamm, Balçık içindeler, Sind jedoch wie Seelen. ama gönül gibiler. Sie sind in der Nacht, Gece içindeler,

Sind jedoch wie der Morgen. ama sabah gibiler. Mevlâna

Mit einer geradezu erschreckenden Genauigkeit beschreibt Mevlânâ den Kampf der Bösen gegen die Guten, einen Kampf seiner Zeit, der jedoch bis in die Einzelheiten den Kampf der Mächtigen gegen die Unschuldigen der Jahre Ruhi Sus gleicht. Das Verfahren ist kontrastiv: die Unterdrückten leiden, sind jedoch rein, kostbar und an der Zukunft ausgerichtet.

536 MERİÇBOYU, A. Kadir: Bugünün Diliyle Mevlâna (1966): 85-86.

214 9.5.1.4 „Wie schön ist es, jeden Tag umzusiedeln“ Wie schön ist es, jeden Tag umzusiedeln, Wie schön ist es, jeden Tag irgendwo anzukommen, Wie schön zu fließen, ohne Trübung und ohne Eis zu werden. Mir sind mit dem Gestern, mein Lieber, Alle Worte des gestrigen Tages ausgegangen, Man muss jetzt von neuen Dingen erzählen. Mevlâna

„Her Gün Bir Yerden Göçmek Ne İyi“ 537 Her gün bir yerden göçmek ne iyi. Her gün bir yere konmak ne güzel. Bulanmadan, donmadan akmak ne hoş. Dünle beraber gitti cancağzım; ne kadar söz varsa düne ait. Şimdi yeni şeyler söylemek lazım. Mevlâna

Schmerz, Leid, Greuel, Folter, Hinrichtungen, Widerstand und Gefängnis sind Dinge, die Ruhi Su und seine Freunde über sich haben ergehen lassen müssen. Wie Mevlânâ lässt Ruhi Su sich nicht von Rachegefühlen für vergangene Verbrechen beherrschen, sondern glaubt an neue und reinere Verhältnisse. Ihm sind der geduldige und bescheidene Mevlânâ ebenso wie dessen Texte seelenverwandt. Wenn man nicht wüsste, dass es sich um Texte Mevlânâs handelt, würde man sie für solche von Ruhi Su halten.

537 Ebd. 105. 215 9.5.2 538 „Der Schöpfer schuf uns als Menschen“ „Yaratan Bizleri İnsan Yarattı“ Das von Ruhi Su selbst geschriebene und vertonte Gedicht, „Der Schöpfer schuf uns als Menschen“ (Yaratan Bizleri İnsan Yarattı), das zum ersten Mal am 5. 3. 1977 in der Tageszeitung Cumhuriyet veröffentlicht wurde, ist ein gutes Beispiel für den Gedanken, dass die Liebe zu anderen Menschen den Menschen ausmacht. Genauer gesagt, er fordert eine spirituelle Liebe, welche auf die Seele des Gegenübers ausgeht; körperliche Eigenheiten, wie Hautfarbe, spielen keine Rolle.

Der Schöpfer schuf uns als Menschen. Yaratan bizleri insan yarattı, Liebe den Menschen, liebe seine Seele, Muhabbet insana, cana muhabbet. Schätzte ihn über alle Lebewesen, Cümle mahlukatın üstünde tuttu, Liebe den Menschen, liebe seine Seele. Muhabbet insana, cana muhabbet.

Welch ein Glück, Mensch geworden zu sein. Ne mutlu ki bize insan olmuşuz, Menschenliebe sehen wir als wahre Liebe, İnsan sevgisini gerçek bilmişiz, Am Aste des Menschen blühen und lachen wir, İnsanın dalında açıp gülmüşüz, Liebe den Menschen, den, der Mensch ist. Muhabbet insana, insan olana.

Wer Mensch ist, soll kommen. İnsan olan insan gelsin beriye, Manche sind schwarz, manche gelb, Kimi kara, kimi çalar sarıya, Das Leben zählt, nicht die Hautfarbe, Aslolan hayattır bakma deriye, Liebe den Menschen, liebe seine Seele. Muhabbet insana, cana muhabbet.

Welch ein Glück, Mensch geworden zu sein. Ne mutlu ki bize insan olmuşuz, Menschenliebe sehen wir als wahre Liebe, İnsan sevgisini gerçek bilmişiz, Am Aste des Menschen blühen und lachen wir, İnsanın dalında açıp gülmüşüz , Liebe den Menschen, den, der Mensch ist. Muhabbet insana, insan olana. Ruhi Su

538 Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer nicht genannt werden.

216 Ruhi Sus universalistische Menschenliebe erinnert, wenn auch entfernt, an Zeilen aus Schillers „An die Freude“:

Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium! Wir betreten feuertrunken, Himmlische, Dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt. …

Sen ey Tanrılar alevi, ey Eliziyum kızı, Biz mabedine gireriz, mest olmuş halde senin. Adetin ayırdığı şeyler, hep sihrinde birleşir, Daima kardeş olur insanlar, gölgende senin. …

So weit entfernt ist Ruhi Su doch nicht von Schiller, denn er ließ seinen Chor diese Ode in türkischer Sprache und in der Vertonung Beethovens oft singen.

217 9.5.3 „Wiegenlied - Merhaba Baby Dursun” „Ninni - Merhaba Dursun Bebek” Merhaba, Baby Dursun, Merhaba, Dursun Bebek, Merhaba! Merhaba! Hier ist das Wasser, İşte su, Hier ist das Licht, İşte ışık, Hier ist die Luft. İşte hava. Das ist unsere Welt, Baby Dursun. İşte Dursun Bebek, bizim dünya. Dandini dandini dastana. Dandini dandini dastana. Schlaf, Baby Dursun, schlaf! Dursun Bebek uyusun, Es soll schlafen und schnell groß werden, Uyusun da aman çabuk büyüsün, Das Vieh schlich in den Obstgarten, Danalar girmiş bostana. Noch gibt es vieles, noch vieles mehr. Daha neler var, neler var daha, Hier ist die Falle, İşte kundak, Hier ist der Kerker, İşte hapis, Hier ist der Kampf, İşte kavga, Hier ist unsere Welt, Baby Dursun. İşte Dursun Bebek bizim dünya. Dandini dandini dastana, Dandini dandini dastana, Baby Dursun soll schlafen, Dursun Bebek uyusun, Es soll schlafen und schnell groß werden, Uyusun da aman çabuk büyüsün, Das Vieh schlich in den Obstgarten. Danalar girmiş bostana. Melih Cevdet Anday

Das hier besungene Baby Dursun ist der Sohn von Behice Boran, die es im Gefängnis zur Welt bringen musste. Sie war eine fortschrittlich denkende Frau. Auf Grund ihrer linksgerichteten Weltanschauung wurde sie im Jahre 1948 von ihrem Posten als Dozentin der Soziologie enthoben. Als 1950 der Verein der Friedensliebenden (Barışseverler Cemiyeti), dessen Mitbegründerin und Vorsitzende sie war, eine Erklärung veröffentlichte, die die Entsendung von Soldaten in den Koreakrieg durch die Regierung Menderes verurteilte, wurde sie zu fünfzehn Monaten Haft verurteilt.539 Der Dichter Melih Cevdet Anday hat als Freund Borans das Gedicht „Wiegenlied” (Ninni) geschrieben. Ruhi Su, der Weggefährte Behice Borans, vertonte es und nahm es in sein Repertoire auf. Das Gedicht stellt die Güte der Elemente Wasser, Licht, Luft heraus, die

539 Siehe dazu oben Kap. 2.6.1 und 2.8. 218 dem Kind wie ein Erbe geschenkt sind. Dem gegenüber stehen von Menschen produzierte Dinge wie Falle und Gefängnis, denen ein ständiger Kampf angesagt ist. So schrecken die Regierenden nicht davor zurück, Kinder an menschenunwürdigen Orten wie Gefängnissen zur Welt kommen und groß werden zu lassen. Beide Qualitäten, gute wie schlechte, kommen in dieser Welt vor, das Baby Dursun muss mit beiden fertig werden, doch seine Zeit ist knapp, – das Vieh hat sich schon in den Obstgarten geschlichen und ihn verwüstet. Dursun soll schnell wachsen.

219 9.5.4 „Drei Mädchen und eine Mutter“ „Üç Kız Bir Ana“ Sie sind von ihrer Alm hinab, Yaylasından inmişler, Drei Mädchen und eine Mutter. Üç kız bir ana. Sie sind hinab, ach, sie weinen, İnmişler aman, Drei Mädchen und eine Mutter. Ağlarlar yana yana.

Sie haben sich schwarz gekleidet, Karaları giymişler, Drei Mädchen und eine Mutter. Üç kız bir ana. Sie haben sich so gekleidet, ach, Giymişler aman, Drei Mädchen und eine Mutter. Ağlarlar yana yana.

Ich habe mich ihnen vorsichtig genähert, Sokuldum yanlarına, Drei Mädchen und eine Mutter. Üç kız bir ana. Sie sagen mir nichts, sie weinen, Demezler bana, Drei Mädchen und eine Mutter. Ağlarlar yana yana. Volkslied Halk Türküsü

Hier geht es um eine Mutter und drei Töchter, die nach der Tradition den Sommer auf der Alm verbrachten, während der Vater krank im Dorf verblieb. Noch vor dem Abstieg von der Alm erfahren sie vom Tod des Vaters.540 Inhaltlich hat dieses Klagelied mit dem folgenden, von Ruhi Su vertonten, Gedicht Nâzım Hikmets „Die drei Zypressen“ (Üç Selvi) zu tun. Durch die Zusammenstellung dieser beiden Gedichte wird das Motiv der in Trauer schwarz gekleideten Gestalten betont, das auf einen gemeinsamen Sinnzusammenhang verweist. Man erkennt in besonderer Weise die künstlerische Arbeitsweise Ruhi Sus. Seine politische Kritik äußert er nicht plakativ, sondern er gibt in seinen Liedern durch Verweise politische Urteile ab. Er erklärt zudem seine indirekte Methode, Gefühle durch Türküs zu zeigen:

Die Dinge, über die ich mich freue, ärgere, die ich mag und hasse sowie über die ich traurig bin, teile ich mit Hilfe der Türküs mit.541

540 http://www.turkudostlari.net/hikaye.asp?turku=992. Abgerufen am 13. Juli 2009. 541 SU, Ruhi im Gespräch mit KORKMAZGİL, Hasan Hüseyin: Bir Yerde Türküler Ne Kadar Gelişmişse, Anlatım Gücü Ne Kadar Artmışsa, Oradaki Koşullar O Oranda Ağır Demektir, Forum 336 (1. Apr. 1968). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 97. 220 Im folgenden Gedicht wird diese Indirektheit in den letzten Zeilen: „In einem Marmorofen liegen sie zerstückelt und brennen / Drei Zypressen“ (Kanlı bir baltayı aydınlatıyor / Üç selvi) sehr deutlich: Das Feuer, das aus der Verbrennung der Zypressen im Kamin entsteht, wirft ein erhellendes Licht auf die blutige Axt. Eine weitere Verbindung der Gedichte entsteht durch die gemeinsame Form des Klagelieds. So wird durch Verknüpfung der Dreizahl, von Bildern und Motiven eine gesellschaftskritische Bedeutungsebene geschaffen, welche indirekt von den drei hingerichteten Studenten spricht.542

542 Siehe dazu Hüseyin Erdems Kommentar unten in Kap. 9.5.7. 221 9.5.5 „Die drei Zypressen“ Vor meiner Türen standen drei Zypressen, drei Zypressen. Sie wiegten sich im Wind, drei Zypressen. Ihre Wurzeln waren im Boden, ihre Köpfe in den Sternen, drei Zypressen. Im Wind wiegten sich die Zypressen, drei Zypressen. Eines Nachts überfiel der Feind das Haus, drei Zypressen. Ich wurde getötet in meinem Bett, drei Zypressen. Abgeschnitten wurden den Zypressen ihre Wurzeln, drei Zypressen. Nun sind weder ihre Wurzeln im Boden, noch ihre Köpfe in den Sternen, drei Zypressen. Die Zypressen wiegen sich nicht mehr im Wind, drei Zypressen. In einem Marmorofen liegen sie zerstückelt und brennen, drei Zypressen. Sie erhellen ein blutiges Beil, drei Zypressen. Nâzım Hikmet

222 „Üç Selvi“ Kapımın önünde üç selvi vardı, üç selvi. Selviler rüzgârda sallanırlardı, üç selvi. Kökleri yerde, başları yıldızlarda, üç selvi. Selviler sallanırlardı rüzgârda, üç selvi. Bir gece düşman bastı evi, üç selvi. Yatağımda öldürüldüm ben, üç selvi. Kesildi selviler köklerinden, üç selvi. Artık ne kökleri yerde, başları yıldızlarda, üç selvi. Selviler sallanmıyorlar rüzgârda, üç selvi. Mermer bir ocakta parçalanmış yatıyor, üç selvi. Kanlı bir baltayı aydınlatıyor, üç selvi. Nâzım Hikmet

223 9.5.6 „Aus dem „Epos Scheich Bedreddin“543 „Şeyh Bedreddin Destanı“ndan” Es nieselt, Yağmur çiseliyor, Im Handwerkerviertel von Serez. Serez’in esnaf çarşısında, Es nieselt, yağmur çiseliyor, Ängstlich, korkak, Mit leiser Stimme, yavaş sesle, Wie ein verräterisches Gespräch, bir ihanet konuşması gibi. Es nieselt. Yağmur çiseliyor, Wie die weißen und nackten abtrünnigen Füße, beyaz ve çıplak mürtet ayaklarının, Auf der nassen und dunklen Erde ıslak ve karanlık toprağın üstünde Laufen . koşması gibi. Es nieselt Yağmur çiseliyor, Im Handwerkerviertel von Serez. Serez‘in esnaf çarsında, Gegenüber einem Kupferhandwerker bir bakırcı dükkânının karşısında, Hängt mein Bedreddin am Baum. Bedreddin‘im bir ağaca asılı. Es nieselt, Yağmur çiseliyor. Es ist die Zeit der späten und sternenlosen Nacht. Gecenin geç ve yıldızsız bir saatidir. Und es ist das nackte Fleisch meines Şeyhs, Ve yağmurda ıslanan, Welches im Regen nass wird yapraksız bir dalda sallanan, Und am laublosen Ast baumelt. Şeyhim‘in çırılçıplak etidir. Es nieselt, Yağmur çiseliyor. Sprachlos das Handwerkerviertel von Serez, Serez çarşısı dilsiz, Blind das Handwerkerviertel von Serez. Serez çarşısı kör. In der Luft die Traurigkeit Havada konuşmamanın, görmemenin Der Sprachlosigkeit und Blindheit. kahrolası hüznü. Und das Handwerkerviertel von Serez Ve Serez çarşısı kapatmış elleriyle Verdeckt sein Gesicht mit der Hand. yüzünü. Es nieselt. Yağmur çiseliyor. Nâzım Hikmet

543 Siehe ferner die Übersetzung von KRAFT, Gisela in: Bleib dran, Löwe (1984) und in: ihren letzten Band über HİKMET, Nâzım, Die Namen der Sehnsucht (2008): 61-135 sowie die Übersetzung von PAZARKAYA, Yüksel in: Das Epos von Scheich Bedreddin, Sohn des Kadis von Simavne (1982). 224 Şeyh Bedreddin, ein Mitglied der Einheit des Seins (Vaḥdet-i Vücūd),544 und ein Islamgelehrter ist knapp historisch einzuordnen. Şeyh Bedreddin wurde vermutlich um das Jahr 1358 in der Nähe von Edirne, in Simavna geboren. Ursprünglich stammte er väterlicherseits von seldschukischen Herrschern ab. Wegen des väterlichen Berufs wurde er auch als Richtersohn von Simavna (Simavna Kadısı Oğlu) bezeichnet. Er wurde von vielen Wissenschaftlern und Religionslehrern in verschiedenen Teilen des Landes und in großen Kulturzentren wie Damaskus, Jerusalem, Kairo und Mekka unterrichtet. Seine Erziehung beendete er dann in Kairo bei Şeyh Hüseyin Ahlati und übernahm nach dessen Tod das Amt des Şeyhs. Als er später nach Anatolien übersiedelte, lernte er Börklüce Mustafa und Torlak Kemal kennen. Als Yıldırım Bayezit gegen Timurlang die Schlacht von Ankara, 1402 verlor, fiel der osmanische Staat in eine Krise, die sogenannte Fetret- Zeit (Fetret Devri, 1402-1413). Unter den Söhnen Bayezits begann ein Kampf um den Thron. Musa Çelebi nahm Edirne ein, worauf er Şeyh Bedreddin als Heeresrichter (Kazasker) einsetzte und damit in das politische Leben eingegliederte. Als später Musa Çelebis Bruder Mehmed Çelebi die Macht in Edirne übernahm, wurde 1413 Şeyh Bedreddin nach İznik verbannt. In der Zwischenzeit zettelten seine beiden Schüler Börklüce Mustafa und Torlak Kemal in Aydın und Manisa einen Aufstand an. Dieser wurde jedoch blutig niedergeschlagen, worauf Börklüce Mustafa in Karaburun und Torlak Kemal in Manisa hingerichtet wurden. Sultan Mehmet ließ Şeyh Bedreddin, den er als Spitze dieser Aufstände ansah, verhaften, bevor dieser nach Edirne gelangte. Er richtete ihn in Serez hin, wo 1420 der Şeyh nackt aufgehängt wurde. Die Kenntnis seines Lebens basiert auf der Schrift „Menakıbname“ seines Enkels Hafız Halil. Sein Gedankengut wurde in den Büchern Vâridat und Teshil gesammelt.545 In einer Zeit, in der die Nachfahren der Sultane das Land unter sich aufteilten und die landlosen Bauern als Leibeigene auf den Feldern ausnutzten, gingen Şeyh Bedreddin und seine Schüler unter das Volk und predigten, dass die Felder denen gehörten, die sie bewirtschaften, und dass die Menschen, gleich welcher Religion, Brüder seien. So versammelte er um sich ein buntes Gemisch aus Türken, Griechen, Armeniern, Moslems,

544 Diese Lehre wird auf Muḥyī ad-Dīn b. ʿArabī (1165-1240) zurückgeführt. Hierzu siehe İslam Ansiklopedisi 8 (2001): 533-555. Weiterführende Literatur: KALELİ, Lütfi: Vahdet-i Vücut Nedir? In: KALELİ, Lütfi: Alevi-Sünni İnancında Mevlâna-Yunus ve Hacı Bektaş Gerçeği (1994):71-72; ERTUĞRUL, İsmail Fenni: Vahdet-i Vücud ve Ibn Arabi(1997); KONEVİ, Sadreddin: Vahdet-i Vücud ve Esasları (2008); HANÇERLİOĞLU, Orhan: İslam İnançları Sözlüğü (1994): 688-690 sowie DÜNDAR, Ali (Hrsg.): Muhyiddin-i Arabi’den Altın Öğütler (2005). 545 Vgl. BABINGER, Franz,: Schejch Bedr Ed-Din, der Sohn des Richters von Simaw (1921): 19-26; GÖLPINARLI, Abdülbaki - SUNGURBEY, İsmet: Sımavna Kadısıoğlu Şeyh Bedreddin Manakıbı (1967) und GÜZEL, Süha Halil: Şeyh Bedreddin İsyanı, Halk Bilimi 3 (1997): 25-33. 225 Juden und Christen und erhielt ihre Unterstützung. Das Volk sah Şeyh Bedreddin als einen Hoffnungsträger an. Şeyh Bedreddins Leben und Ziele besaßen eine große Bedeutung für Nâzım Hikmet wie auch für Ruhi Su. Nâzım Hikmet begegnete dem Namen Şeyh Bedreddin zum ersten Mal im Gefängnis von Bursa (1936), als er die Abhandlung “Simavne Kadısı Oğlu Bedreddin”, des Professors der theologischen Fakultät der Darülfünün, Mehemmed Şerefeddin, las. Dort berichtet der Genuese Dukas von einem einfachen Bauern, der die Ansicht vertritt, dass alles auf der Welt, ausgenommen die Frauen, ein Gesamtbesitz der Menschheit sei.546 Diese Schlüsselpassage brachte Nâzım Hikmet dazu das Epos von Bedreddin in vierzehn Kapiteln während seiner Zeit im Gefängnis zu schreiben. Ruhi Su seinerseits vertonte das letzte Kapitel.547 Er wählte aus dem überlangen Şeyh Bedreddin Epos den letzten Teil aus, weil dort die revolutionären Ansichten des Şeyhs geschildert werden, aufgrund derer er gehängt wurde. Nâzım Hikmets Verse, in denen er von einer kommunistischen Gemeinsamkeit in allen Lebensformen und von einer utopischen Zukunft spricht, entsprechen völlig den Anschauungen Ruhi Sus. Die stummen und feigen Menschen zeigen im Epos nach der Erhängung des Şeyhs ein Schamgefühl und eine Trauer, da sie sich für seinen Tod mitverantwortlich fühlen. Diese Scham ist jedoch, wenn man auf die moderne Parallele blickt, bei den Verantwortlichen für die Morde an den drei Studentenführern, Deniz Gezmiş, Yusuf Aslan und Hüseyin İnan, nicht zu erkennen. Es folgt ein Text von Nâzım Hikmet, der die Gedanken des Şeyh Bedreddin verdeutlicht, den Ruhi Su alledings nicht gesungen hat. … Gemeinsam wie mit einem Mund Türküs singen, Hep bir ağızdan türkü söyleyip Gemeinsam das Netz aus dem Wasser ziehen, hep beraber sulardan çekmek ağı, Gemeinsam das Eisen hauchdünn schlagen, demiri oya gibi işleyip hep beraber, Gemeinsam den Boden pflügen, hep beraber sürebilmek toprağı, Gemeinsam die honigsüßen Feigen essen, ballı incirleri yiyebilmek hep beraber. Gemeinsam ist aber nicht die Wange der Geliebten. Yârin yanağından gayri her şeyde, Um an allen Orten her yerde, “Gemeinsam” hep beraber Sagen zu können, diyebilmek için, Opferten Zehntausend ihre Achttausend. on binler verdi sekiz binini.548 Nâzım Hikmet

546 HIKMET, Nâzım: Simavne Kadısı Oğlu Şeyh Bedreddin Destanı (1977): 7. 547 Ebd. 51-52. Siehe auch oben 9.5.6. 548 Vgl. HİKMET, Nâzım: Simavne Kadısı Oğlu Şeyh Bedreddin Destanı (1977): 58. 226 Bei aller pathetischen Gemeinsamkeit und Brüderlichkeit kommt die humoristische Note gerade recht, dass die Wange der Geliebten für die Brüder Tabu bleibt. Die letzte Zeile erklärt, dass in dem Aufstand des Şeyh Bedreddin von Zehntausend Kämpfern Achttausend ihr Leben freiwillig opferten.

227 9.5.7 „Ein Türkü von Kul Hüseyin” Heutzutage darf einem bloß nichts zustoßen, Ein wahrhaft vertrauter Gefährte ist nicht geblieben. Den verräterischen Gefährten nenne ich nicht Freund, Gott bewahre! Was soll’s, dem Verräter fehlt die Fürsorge.

Ich wünsche mir zutiefst eine Geliebte, Sie soll mir geben, was immer sie kann. Sie soll mich beschützen vor Feinden und Fremden, Eine Geliebte, die jeden anlächelt, ist mir gleichgültig.

Hüseyin, höre auf, unnötig zu weinen. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Dies wird Welt genannt, alles geht vorbei, Welchen Tag hast du gesehen, der nicht zum Abend wurde? Kul Hüseyin

Hier sind vor allem die Bezüge zu Ruhi Sus Leben wichtig. Der Wunsch nach wahren Freunden und der Zorn auf sogenannte Freunde sind ganz deutlich zu erkennen. Als Ruhi Su aus dem Gefängnis entlassen wurde, mieden ihn die Freunde seiner eigenen Generation aus politischen Gründen (diese Tür schloß sich),549 während die jüngere Generation ein herzliches Verhältnis zu ihm aufbaute (jene Tür öffnete sich), indem sie seine Lieder sangen und sich an Ehrungen für ihn beteiligten.

549 Nachdem Ruhi SU aus dem Gefängnis entlassen wurde, blieben ihm die Türen des Staates verschlossen. Nach fünf Jahren ging er zum erstenmal ins Theater. Das Spiel hieß „Der Tod eines Handlungsreisenden“ (Satıcının Ölümü) “ von Arthur Miller. Am Ende der Vorführung war Ruhi Su sehr aufgeregt. Er wollte den Schauspielern gratulieren und ging in die Kulisse. Aber er war enttäuscht, denn er sah wie sein ehemaliger Kollege Cüneyt Gökçer sich von ihm abwandte. Vgl. AKA TLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001)17-18. 228 „Kul Hüseyin’den Bir Türkü” Zamanede bir hal, gelmesin başa, Ahdı bütün bir sadık yâr kalmamış. Kalleş yâr olana, dost demem haşa! N’olacak muhannet, meydan görmemiş.

Ben bir yâr isterem, derûn-u dilden, Sarfede varını, geldikçe elden, Beni setreyleye, âdudan elden, Her yüze gülen yâr, olmuş olmamış.

Hüseyin beyhude ah etme, nâçar, Bir kapın örterse, birin açar, Buna dünya derler, hepisi geçer, Hangi günü gördün, akşam olmamış. Kul Hüseyin

Nach diesen Türkü singt er auf der Schallplatte zwei weitere, das eine ist “Das Soldatenlied” (Bir Asker Türküsü) 550 und das andere “Mein roter Kranich “(Allı Turnam)”. Das zweite ist ein sehr bekanntes Türkü. In dem Lied geht es um Heimweh. Es folgen zwei selbst geschriebene und vertonte Lieder mit den Namen “Der Berg Hasan” (Hasan Dağı) 551 und “Ein besonderer Ort” (Mahsus Mahal), 552 in denen er seine Bedrückung wie seine Hoffnung offenbart. In “Ein besonderer Ort” spricht er vom Glauben an eine bessere Zukunft. Eine derartige innere Haltung trieb ihn immer wieder an, seine Arbeit zu vollenden und zu vervollkommnen. Ruhi Su setzt Hoffnung bewußt ein als den Schlußstein von “Gedichten und Türküs” (Şiirler-Türküler). Zum Verständnis der Türküs, mit denen Ruhi Su arbeitete, ist es förderlich, wenn eine verwandte, doch auch in wesentlichen Punkten andere Sichtweise angeführt wird. Hüseyin Erdem gibt eher sein Gesamtbild als Einzelinterpretationen. Er ist dazu in besonderem Maße befähigt und berechtigt, weil er zu einem engem Freund geworden war, dem Ruhi Su alles erzählen und anvertrauen konnte.

550 Siehe oben Kap. 2.6.2. 551 Siehe oben Kap. 7.1.1. 552 Siehe oben Kap. 7.1.2. 229 Über die Schallplatte „Gedichte und Türküs” (Şiirler, Türküler) äußert sich Erdem wie folgt. Ruhi Su beabsichtige, das Leiden und den Schmerz der 68er Generation mit kämpferischen Augen zu sehen und diese Generation in einem humanistischen Licht zu zeigen, sodass ein gesellschaftlicher und philosophischer Vorblick und Rückblick möglich werde. Diese Schallplatte habe eine zentrale Stellung. Die Zahl Drei erreiche hier ihren symbolischen Höhepunkt, wie bei dem Gedicht „Die drei Zypressen“(Üç Selvi). Damit seien die drei hingerichteten Studentenführer, Deniz Gezmiş, Yusuf Aslan und Hüseyin İnan gemeint. Indem die drei Zypressen Licht auf ein blutiges Beil würfen, zeigten sie, dass der Mensch dem Menschen selbst alle Untaten zufüge, wie die Axt aus Holz dem Holzstamm der Zypresse Leid zukommen ließe. Ruhi Su sei jemand gewesen, der eine Sache nicht einfach erzählt habe. Er habe die feine und sensible Art der Vermittlung vorgezogen und so die Menschen die Sache selbst erkennen lassen. Die Schallplatte enthalte das Volksklagelied „Drei Mädchen und eine Mutter“ (Üç Kız Bir Ana). Im ursprünglichen Kontext erhalten eine Mutter und ihre drei Töchter die Nachricht vom Tode des Vaters, worauf sie von der Alm in das Dorf trauernd herabsteigen. Die Sinngebung änderte Ruhi Su dahingehend, dass, wie Hüseyin Erdem ausführt, die Mutter Nazife Cemgil darstelle, die Mutter von Sinan Cemgil, einem der ermordeten Führer der 68er Generation.553 Der Grund, warum Ruhi Su dieses Lied aufgenommen habe, sei gewesen, dass er mit den drei Mädchen die Geliebten der ermordeten Studentenführer Sinan Cemgil, Kadir Manga und Alpaslan Özdoğan symbolisieren wollte, weshalb sie auch wie die Mädchen des Volkslieds trauern. Diese Menschen seien in Freundschaft mit Ruhi Su aufgewachsen, da er bereits mit ihren Eltern befreundet gewesen sei.554 In seinen Mevlânâ Gedichten ginge Ruhi Su fünfhundert Jahre zurück. Die Worte Mevlânâs „Mir sind mit dem Gestern, mein Lieber / Alle Worte des gestrigen Tages ausgegangen / Man muss jetzt von neuen Dinge erzählen“ (Dünle beraber gitti, cancağızım / ne kadar söz varsa düne ait / Şimdi yeni şeyler söylemek lazım),555 bedeuteten, dass man die drei jungen Menschen nicht habe hängen dürfen, es gehe nicht

553 Sinan Cemgil wurde am 31. Mai 1971 vom Militär ermordet, als er versuchte, mit zwei weiteren Studentenführern die ansässigen Dörfler zu einem Aufstand zu bewegen. Vgl. http://tr.wikipedia.org/wiki/Sinan_Cemgil. Abgerufen am 3. März 2012. Als seine Mutter sein Leichnahm abholen wollte, verlangte sie auch die anderen beiden Leichen, da sie nunmehr auch ihre Söhne seien, nach Hüseyin Erdem im Gespräch mit dem Verfasser am 31. Aug. 2011 in Köln. 554 Vgl. das Foto von Ruhi Su und Sinan Cemgil in AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 50. Sinan Cemgil war der Sohn von Ruhi Sus Freund Adnan Cemgil, der zusammen mit Behice Boran den „Verein der Friedensliebenden“ (Barışseverler Cemiyeti) gegründet hatte. Siehe oben Kap. 2.6.1. 555 Siehe oben Kap. 9.5.1.4. 230 an, sie sozusagen als Rache für die Hinrichtung Adnan Menderes556 und zweier seiner Minister zu töten: dies sei ein Fehler damals wie jetzt. Bei der Analyse der Geschichte ist Ruhi Su, der sein Leben lang unterdrückt wurde, sehr sensibel vorgegangen. Er und seine Freunde leisteten gegen Ungerechtigkeiten Widerstand. Sie bissen auf ihre Lippen und wandten sich jeden Tag dem Neuen zu, ohne sich von der Vergangenheit zu trennen.

Wenn Zaloğlu diese Grausamkeit doch gesehen hätte, Wenn das Schicksal den Aufschrei doch gehört hätte, Wenn der Henker doch Mitleid gehabt hätte, Hätte Zaloğlu um den Krieg und um die Tapferkeit geweint, Hätte das Schicksal sich angeschaut und um sich geweint, Hätte der Henker, der Unbarmherzige, geweint.557

Diese Worte zeigten sehr deutlich die Tyrannei der Militärjunta von 1971. Auf diese Willkür gebe Ruhi Su eine Antwort: „Der Schöpfer schuf uns als Menschen“ (Yaratan Bizleri İnsan Yarattı)558 Er hinterfragt zwischenmenschliche Probleme. So bei der Geschichte Behice Borans, die sich in dem Lied ‚Wiegenlied-Merhaba Baby Dursun“ (Ninni-Merhaba Dursun Bebek)559 wiederfindet. Hier wird kritisiert, dass man Boran ins Gefängnis gesteckt hat und sie ihr Kind dort auf die Welt bringen musste. Erdem betont, diese Schallplatte sei ein sehr aktuelles Werk gewesen, das einen Rückblick auf die Vergangenheit schaffe, aber auch Licht auf den Weg in die Zukunft werfe. Es würden Geschichten über die Menschen erzählt. Schmerzen und Leid hätten die Jugendlichen der 68er Generation und ihre Familien ertragen. Doch auch in der Vergangenheit habe es ähnliche Schicksale gegeben, wie diejenigen des Şeyhs Bedreddin oder Nâzım Hikmets. In dem Lied von Kul Hüseyin hieße es, auch wenn man endlos Schmerzen erleide, gäbe es immer noch einen Ausweg. Man dürfe nicht aufgeben, eine Lösung sei immer zu finden. Durchlebte Schmerzen würden hier auf ein historisch- gesellschaftliches Fundament gestellt.560

556 Menderes war der erste aus freien Wahlen hervorgegangene Ministerpräsident der Türkei. Er regierte von 1950-1960 und wurde am 27. Mai 1960 durch das Militär gestürzt und am 17. September 1961 zusammen mit zwei seiner Minister hingerichtet. Siehe wikipedia: Adnan Menderes. 557 Siehe auch oben Kap 9.5.1.2. 558 Siehe oben Kap. 9.5.2. 559 Siehe oben Kap. 9.5.3. 560 Aus dem Interview mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. Erdem merkt an, dass Ruhi Su das Material der Schallplatte mit ihm diskutiert habe, bevor er sie herausgab. 231 Erdems Ausführungen entkräften entscheidend den Vorwurf, Ruhi Su habe die Generation von 1968 nicht thematisiert.

232 9.6 Köroğlu (1975) Über Köroğlu gibt es eine weitverbreitete Sage. Sie erzählt die Taten eines Mannes, der Räuber und Held zugleich ist, einer Art von anatolischem Robin Hood. Er nimmt den Reichen und gibt den Armen. Tapferkeit, Mut, Ehre und Stolz sind seine Tugenden. Der historische Köroğlu des 16. Jahrhunderts gehörte der Celali Bewegung an, das heißt, er kämpfte gegen die Ausbeutung durch die osmanischen Autoritäten. Sein Leben und Wirken haben im Volksgedächtnis tiefe Spuren hinterlassen und wurden das Thema des Köroğlu Epos. Unter Yavuz Sultan Selim (1512-1520) wurde 1519 der Aufstand des Yozgatlı Celal und seiner Tausenden von Anhängern zu einem großen Problem. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, doch man bezeichnet alle folgenden Aufstände als Celali Aufstände (Celali İsyanları).561 Von einem möglichen anderen Köroğlu berichtet der Reisende Evliya Çelebi im dem 17. Jahrhundert. Er nennt Köroğlu auch einen Volksdichter. Seine Gedichte sind insbesondere als Aufruf zum Kampf gegen die Feinde der Osmanen zu verstehen, als Yeniçeri schreibt er von Kriegen und Kämpfen. Köroğlu zieht in den Krieg gegen den Iran und besingt die Heldentaten des osmanischen Paşas Osman (Özdemiroğlu).562 In der Volksdichtung existieren mehr Versionen über Köroğlu als in den Liedern. Er wurde sogar zum Helden eines Epos. Unter vielen türkischen Stämmen von Sibirien bis Thrakien, selbst bei Armeniern und Georgiern, die mit Türken kulturellen Kontakt hatten, rankten sich um seine Persönlichkeit Epen und Geschichten.563 Eine dieser Geschichten lautet: Als Ruşen Ali ein kleiner Junge war, wird sein Vater, ein Pferdezüchter, von seinem Landesherrn bestraft, weil zwei von ihm ausgesuchte Fohlen vom Herrn als mit Fehlern behaftet beurteilt werden. Zur Strafe werden dem Vater beide Augen ausgestochen, daher kommt der Name Köroğlu, der Sohn des Blinden. Ali wird erwachsen und zieht beide Fohlen, die seinem Vater zum Verhängnis wurden, groß. Aus einem dieser Fohlen wird schließlich der berühmte Schimmel Kırat. Ali sattelt dieses einzigartige Pferd und zieht in die Berge, um seinen Vater zu rächen. Er lässt sich in Çamlıbel, dem heutigen Bolu, nieder. Durch seinen

561 Vgl. SHAW, Stanford J.: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey I (1976): 185-186. Weiterführend siehe BORATAV, Pertev Naili: Köroğlu Destanı (1984); AVCI, A. Haydar: Köroğlu Ayalanması (1994); YAĞCI, Öner: Köroğlu, Yaşamı ve Şiirleri (2006); BORATAV, Pertev Naili: Köroğlu Kimdir. Yurt ve Dünya 20, (20. Aug. 1942). In: BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 2 (1982):236-240. 562 Evliya Çelebi Seyahatnamesi. In: ÖZTELLİ, Cahit: Köroğlu ve Dadaloğlu (1977): 3. 563 Vgl. BORATAV, Pertev Naili: Köroğlu Hakkında, Oluş (16. Apr. 1939). In: BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 2 (1982): 229-235. 233 Wagemut und seine Heldentaten wird er rasch berühmt. Mit den Männern, die sich um ihn teils freiwillig, teils unfreiwillig scharen, wird er zu einer Macht, welche die Paşas und Herren in Angst und Schrecken versetzt. Alle, die vor den Grausamkeiten und Verfolgungen der Obrigkeit flüchten, finden bei ihm Schutz. Er ist nicht nur ein Bandit, sondern Beschützer der Schwachen und Richter der Gerechtigkeit. Seine Herrschaft in Çamlıbel, sagt der Volksmund, dauert bis zur Erfindung des Gewehrs. Als er die Eisenstange mit dem durchlaufenden Loch zum ersten Mal sieht und erkennt, dass dieses Gerät töten kann, verschwindet er von der Erde und wird zu einem Rätsel:

Das Gewehr wurde geboren, die Tapferkeit ist gestorben, Das krumme Schwert muss nun im Schaft rosten. Köroğlu Tüfek icad oldu, mertlik bozuldu, Eğri kılıç kında paslanmalıdır.564 Köroğlu

Die Frage stellt sich, weshalb Ruhi Su sich für Köroğlu als Thema entschied. Er selbst sagt, dass ihn Ruşen Ali, der Sohn eines Pferdezüchters, als Individuum nicht interessiere. Er nähere sich Köroğlu nicht wie Historiker, die ihn als Banditen, Dichter oder Celali ansähen, sondern er sähe ihn als Symbol des Kampfes für Gerechtigkeit in seiner Zeit, als einen epischen Helden. Er habe alles, was Köroğlu hinterlassen habe und was heute noch bestehe vom Volk und dessen Dichtern gelernt. Köroğlu ist für Ruhi Su ein tapferer Mann, der sich gegen die Despoten richtet, die Schwachen schützt, den gierigen Reichen schlaflose Nächte bereitet und den Leidenden Rat gibt. Ruhi Su erkannte, dass das Volk Mut fasste, als es die Lieder und Geschichten über Köroğlu hörte. Das Volk fühlte sich so sicher als wenn es einen Retter gefunden hätte. Auf Hochzeiten wurden Lieder über Köroğlu um die Wette gesungen. Daraus übernahmen sie die Funktion von Heldenliedern. So sei es auch gekommen, dass er, Ruhi Su, in dem Charakter Köroğlus die gesellschaftliche Funktion des Helden im Dienste der Armen gesehen habe. Diese Funktion sei für ihn die eigentliche Realität Köroğlus. Er gebe Köroğlu mit seinen eigenen Sehnsüchten, Empfindungen und Erlebnissen wieder, wie das Volk und seine Dichter. Dabei denke er stets an den tapferen, einfühlsamen und menschlichen Köroğlu.565

564 Ebd. 229-230. 565 SU, Ruhi: Köroğlu’nun Kimliği, auf der Rückseite der Hülle der Schallplatte „Köroğlu“ (1975). 234 Ruhi Su beginnt sein Köroğlu Album mit einem kurzen Prolog, in dem er auf die Missstände in der Gesellschaft und die ungerechte Verteilung des Besitzes aufmerksam macht:

9.6.1 „Prolog“ Wenn sich eine Nomadensippe auf den Weg machte, Fingen die Glocken der Tiere an zu sprechen. Die Glocke des vorderen Kamels läutete: „Mein Herr ist reich, mein Herr ist reich.“ Die Glocke des mittleren Kamels läutete: „Weshalb, weshalb, weshalb, weshalb?“ Und die Glocke des hinteren Kamels läutete: „Von ihm, von dem, von ihm, von dem.“

Diese unsere Dichtersprache, unsere wahrhaftig klingende Saz, spricht die Wahrheit aus, seit den Gebeten des Schamanen, die den Leidenden Kraft verleihen. So nahm der Schamanenlehrer, der Prediger der Berge und Flüsse seine Saz in die Hand, und schauen wir mal, was er sagt:

„Allah! Bismillah! Oh, Allmächtiger, hilf mir, wenn ich mich irren sollte! Oh, meine Saz, sieh und sage das Richtige!. Meine aus der Wurzel eines Baumes geschnitzte Saz, meine Saz, deren Bundstäbe ich aus dem Rotbusch arbeitete, meine Saz, deren Saiten ich aus dem Schwanz des Nomadenpferdes spannte, sieh und sage das Richtige! Falls nicht, ziehe ich an deinen Ohren und zwirbele sie oder werfe dich zu Boden! Dies ist der Augenblick, in dem ich spiele und singe. Ich nahm meine Saz in die Hand, schlich umher wie eine Wasserschlange.“ Dann brach er ab.

235 Die Beine eines Pferdes sind schnell, die Zunge eines Dichters ist spitz, sagt man. Lasst uns von Dedem Korkut, dem Sohn Kara Hocas, sprechen. Danach gehen wir über zum Helden Köroğlu. Einer der vierzig Mutigen aus Çamlıbel, Yusufs Sohn Köroğlu, nahm seine Saz in die Hand und schauen wir mal, was er sagt und welchen Rat er gab: Ruhi Su

„Prolog“ Bir oba kalkıp da yola koyuldumu, hayvanların çanları başlarmış konuşmaya! Önde giden devenin çanı: -Benim Ağam zengindir, benim Ağam zengindir! Diye ötermiş. Ortada giden devenin çanı: -Neden, neden, neden, neden? Diye ötermiş. Arkadan gelen devenin çanı da: -Ondan bundan, ondan bundan, ondan bundan! Diye ötermiş.

Bizim bu ozan dilimiz, doğru gören, doğru söyleyen sazımız, dertlilere derman arayan Şaman dualarından beri böyle yargılayıp geliyor. Aldı alaca dağın, kara dağın ve akan suların âyincisi, hem âyincisi hem de oyuncusu olan Şaman kocası, bakalım ne dedi:

„Allah! Bismillah! Ey Tanrım! Yanıldığımda bana yardım et! Ey kopuzum! Doğru gör, doğru söyle! Üyengi ağacının kökünden oyarak aldığım kopuzum!Kızıl çalı tobulgadan perdelerini yaptığım kopuzum! Yürük atın kuyruğundan tel yaptığım kopuzum! Doğru gör, doğru söyle! Söylenene uymazsan kulaklarını burarım! Seni yere çalarım! Oynayıp durduğum andır bu an! Çam kopuzumu elime aldım, su yılanı gibi dolandım döndüm…“ Deyip kesti.

236 At ayağı çabuk, ozan dili çevik olur derler. Biz gelelim Kara Hoca’nın oğlu Dedem Korkut’a. Dedem Korkut’tan bir yiğit damar sürüp getirelim Köroğlu’na. Aldı çardaklı Çamlıbel’in kırk delisinden biri, Yusuf’un oğlu, Koç Köroğlu. Bakalım o da nasıl bir öğüt verdi, ne söyledi: Ruhi Su

Der Prolog hat märchenhafte Züge: die Glocken der Kamele üben Sozialkritik, die ebenso wahr ist wie die Sprache des Dichters, welche mit den Gebeten des Schamanen verwandt ist. Es geht überhaupt um Wahrheit und Rat in sozialen Nöten, wie sie anfangs die Nomaden erleiden. Der Dichter spricht von einem Prediger der großen Naturformen, welcher Allah anfleht, ihn vor Irrtum zu bewahren. Das gleiche Flehen richtet er an sein Musikinstrument, das er mit handwerklicher Zuneigung selbst gebaut hatte. Im Augenblick des Singens spricht er einerseits von sich selbst in der Ichform, andererseits von Dichtertum überhaupt und schließt mit der Aufforderung Köroğlu, der stets Rat wusste, die Ehre zu erweisen. Der Rat folgt im nächsten Gedicht:

237 9.6.2 „Höre meine Worte, verehrter Sohn Ayvaz“ Höre meine Worte, verehrter Sohn Ayvaz, Beladet die Karawane und bündelt alles fest . Wenn du den Kampfplatz betrittst, Gürtet eure Schwerter um und kämpft gegen die Jüngeren.

Ich ritt auf den Feind zu Und bin ohne Rückkehr; der Tod ist nah. Verletzt die Armen und Schwachen nicht, Achtet auf die Habgierigen, die Reichen.

Köroğlu wählt immer den Kampfplatz. Ich weiß, was Gut und Böse ist, Vergebt dem, der euch um Erbarmen bittet, Kümmert euch um den Kummer der Leidenden. Köroğlu

„Dinle Sözlerimi Han Oğlum Ayvaz“ Dinle sözlerimi Han oğlum Ayvaz! Yükletin kervanı dengine bakın. Erlik meydanına girdiğin zaman, Kuşanın kılıncı gencine bakın.

Düşmanın üstüne eyledim akın, Dönüşüm yok zamanım yakın. Fakir fukarayı incitmen sakın, Mal yemez tamahkâr zengine bakın.

Köroğlu her zaman kurdu meydanı, Ben bilirim yahşi ile yamanı. Aman dileyenden kesme amanı, Dertli olanların derdine bakın. Köroğlu

238 Ayvaz ist der Sohn des Metzgers des Herren von Bolu. Man sagt, dass Köroğlu von seiner Schönheit hörte, ihn entführte und an Sohnes statt annahm. Auffällig ist der Wechsel der Ansprechpartner des lyrischen Ichs. Die Worte Köroğlus gelten nicht nur seinem Sohn Ayvaz, sondern allen, die ihm zuhören. Er will, dass alle gemeinsam handeln und gegen das Schlechte kämpfen. Für Ruhi Su ist das Besondere an den Worten Köroğlus, dass dieser ein sozialer Kämpfer war, der nie gegen die Schwachen, Alten und Armen kämpfte, sondern stets gegen die Starken, Jüngeren und Reichen. Auch Ruhi Su kämpfte Zeit seines Lebens mit seinen Liedern gegen das Unrecht in der Gesellschaft. Als moderner Dichter fühlte er sich mit Yunus Emre, Karacaoğlan, Pir Sultan, Dadaloğlu und Köroğlu brüderlich verbunden. Auch er erhob, wo immer er konnte, seine Stimme und nannte die Dinge beim Namen. Er wollte seine Zuhörer nicht nur künstlerisch unterhalten, sondern sie zum Nachdenken bewegen. Das folgende Gedicht passt zu diesen Leitgedanken.

239 9.6.3 „Der Tapfere hält durch, der Feige flüchtet“ Der Tapfere hält durch, der Feige flüchtet, Es donnert auf dem Kampfplatz, Der Herrscher aller Herrscher ruft den Rat zusammen, Der Rat donnert gewaltig.

Wenn sich der Mutige selbst preist, Wenn der Morgenstern den Schutzschild trifft, Wenn die Pfeile auf ihre Ziele schlagen, Donnert der Schutzschild gewaltig.

Der Pfeil wird aus der Burg geschossen, Gott bewahre vor seinem Unheil. Von Köroğlus lauten Rufen Donnert es überall gewaltig. Köroğlu

„Mert Dayanır Namert Kaçar“ Mert dayanır namert kaçar, Meydan gümbür gümbürlenir. Şahlar Şahı divan açar, Divan gümbür gümbürlenir.

Yiğit kendini öğende, Şeşber kalkana değende, Oklar menzili döğende, Kalkan gümbür gümbürlenir.

Ok atılır kal'asından, Hak saklasın belâsından, Köroğlu'nun nârâsından, Her yan gümbür gümbürlenir. Köroğlu

240 In sein „Köroğlu“ Album nimmt Ruhi Su ebenfalls das Gedicht mit dem Titel „Ein Klagelied über Hoylus Tod“ (Hoylu’nun Ölümü Üzerine Ağıt) auf, worin die Geschichte eines jungen Kämpfers aus Köroğlus Truppe erzählt wird, der in den Krieg nach Bagdad zieht und nicht wieder zurückkehrt. Dieses Gedicht nimmt die Form eines Gesprächs zwischen Köroğlu und seiner Frau Döne an, in dem er seine Sehnsucht nach Hoylu zum Ausdruck bringt. Gepriesen wird in weiteren Gedichten nicht nur der Kämpfer, sondern auch sein geliebter Schimmel Kırat, der mit ihm in jeden Krieg zieht. Schließlich wird in den letzten Gedichten des Albums von seinem Lebensabend als gebrechlicher alter Mann gesprochen. Ruhi Su nimmt am Schluss der Schallplatte Gedanken des Prologs auf und spricht davon, dass von den Schamanengebeten über Dedem Korkut, Köroğlu, Yunus Emre, Pir Sultan Abdal, Karacaoğlan, Dadaloğlu hin und zu den großen Dichtern seiner Zeit, diese schöne Sprache der Poesie, der Koran sozusagen mit Saiten,566 immer das Richtige gesehen und ausgesprochen habe. Die Dichter hätten die Menschen nicht nur dazu gebracht, die Welt zu lieben. Sie hätten voraus gesagt, dass eine glücklichere und gerechtere Welt kommen werde. Sie sangen jedoch so, als ob sie diese Welt schon erlebt hätten.567 Ruhi Su stand den Volksdichtern nicht nach. Er glaubte auch an eine bessere und glücklichere Zukunft.

566 Hier ist die Saz gemeint. Ruhi Su waren solche Gedanken zutiefst vertraut. Auch er erblickte in dem Instrument der Saz den wichtigsten Begleiter seiner Gesänge. 567 Vgl. SU. Ruhi: In AYDOĞAN, Karabey (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri ( 2000): 46. Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Kocabey“ (Kocabey); „Klagelied über den Tod Hoylums“ (Hoylu’nun Ölümü Üzerine Ağıt); „Hinter den mit Schnee bedeckten Bergen“ (Karlı Dağların Ardından); „Geliebter Grauschimmel, meine Seelenschimmel“ (Aman Kırat Canım Kırat); „Wenn man sich auf den Grauschimmel setzt“ (Kırata Binince) und „Ich sah ein Pferd“ (Bir At Gördüm).

241 9.7 Die fremden Tore / El Kapıları (1976)568 In den vorhergegangenen sechs Langschallplatten war Ruhi Su ohne Chor aufgetreten. Nun mehr, in der siebten, stellt er sich einer neuen Herausforderung, nämlich mit seinem Chor zu singen. An dieser Praxis hielt er auch auf den beiden nächsten Schallplatten „Der Morgen hat einen Besitzer" (Sabahın Sahibi Var) und „Die Samahs" (Semahlar) fest.569 Ruhi Sus Album „Die fremden Tore“ (El Kapıları) schildert zwei Epochen und ihre sozioökonomischen Gegebenheiten. Zwei Märsche stehen für diese Epochen. „Der Sewastopol-Marsch“ (Sivastopol Marşı) lässt an die Zeit des Niedergangs des Osmanischen Reiches denken. Die Melodie des „Marsches zum 10. Jahrestag der Republik“ (Onuncu Yıl Marşı) verweist auf die Zeit der Republik. Eine Gemeinsamkeit beider Epochen besteht darin, dass sich aus Anatolien Menschenmassen in Bewegung gesetzt haben, zum einen in Richtung auf die jemenitische Wüste und zum anderen, später, nach Deutschland. Eine weitere Gemeinsamkeit bilden die damit verbundenen negativen persönliche Ereignisse und Gefühle wie Trennung und Schmerz. Ruhi Su betont, dass die Geschehnisse um den Jemenfeldzug vom Volk und nicht so sehr von intellektuellen Künstlern rezipiert wurden, während die Migration nach Deutschland intellektuelle Künstler viel stärker zu Liedern, Büchern und Filmen anregte. Er wollte in einem Album beide Sichtweisen vereinen.570 Auf der ersten Seite dieser Schallplatte stellt Ruhi Su das Drama der Soldaten vor, die in einen endlosen und dadurch zum Symbol für Weg ohne Rückkehr überhaupt gewordenen Jemenkrieg geschickt wurden. In dieser Zeit befand sich das Land voller verwaister Kinder und verwitweter Frauen. Hier ist von den Klagen der Frauen die Rede, deren Männer im Ersten Weltkrieg zum Schutz der heiligen Städte des Islam in den Jemen geschickt wurden und nicht mehr zurückkamen. Die zweite Seite der Platte

568 Die Übersetzung der Gedichte in diesem Kapitel stammen vom Verfasser mit Hilfe der Übertragungen von S. Pleyl, A. Triebeneck und H. Erdem auf dem Beiheft der in Deutschland herausgebrachten Schallplatte „Fremde Türen“ (El Kapıları), Pläne, 1986. 569 Hüseyin Erdem führt in dem Gespräch vom 31.Aug. 2011 mit dem Verfasser in Köln aus: „Die Chortätigkeit entsprach jedoch dem damaligen politischen Zeitgeist. Das gemeinsame Singen und das gemeinsame Arbeiten standen im Vordergrund. Sabahattin Eyuboğlu nannte ihn „Chorleiter“. Der klassische Ruhi Su veränderte sich im Chor. Nach den 16 kleinen Schallplatten war er nunmehr nicht mehr der türkische Schaljapin, sondern wurde zur eigentlichen Stimme Anatoliens.“ Ruhi Su spricht im Gespräch mit Atilla Özkırımlı 1978 allerdings von seiner Sehnsucht, in Zukunft auch wieder als Solist zu arbeiten, welche zu den zwei Schallplatten „Kinder, Migrationen, Fische" (Çocuklar, Göçler, Balıklar, 1979) und „Die Zeybeks" (Zeybekler, 1980) führte. 570 SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı:“ El Kapıları“. In: Su, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 110. 242 beschäftigt sich mit Ereignissen innerhalb der türkischen Republik. Die Probleme der türkischen Migranten in Westeuropa fasst das ursprünglich aus Trabzon stammende Lied „Deutschland, bittere Heimat“ (Almanya Acı Vatan) zusammen. Die Darstellung konzentriert sich auf die Arbeiter, die auf dem Weg sind von einer rückständigen Agrargesellschaft zu einer entwickelten Industriegesellschaft. Auf der ersten Seite ist von der „gesetzlichen Zwangsrekrutierung“ der Soldaten die Rede. Die zweite Seite spricht von denen, die in den 60er Jahren, in deren Verlauf der Gastarbeiterexodus stattfand, trotz ihrer politischen Freiheit aus wirtschaftlichen Gründen emigrieren mussten, da man für ihre Probleme in der Türkei keine Lösungen fand. Es sind in beiden Fällen die Auswirkungen von Zuständen, die die Herrschenden zu verantworten haben.571 Soziologisch sind die gerade genannten Zustände so zu fassen, dass beim Vergleich dieser beiden Ereignisse Ruhi Su nicht nur die Rolle eines Beschreibenden und Darstellenden übernommen hat, sondern gleichzeitig die des Vergleichenden, Wertenden und Kritikers.572

571 Ebd. 110-111. 572 Vgl. TÜTENGİL, Cavit Orhan: Ruhi Su ve El Kapıları. In: AYDOĞAN, Karabey: Ruhi Su Türküleri, (2000): 49. Tütengil wurde in den Wirren der 70er-Jahre auf offener Straße umgebracht. 243 9.7.1 „Der Sewastopolmarsch” Die vor Sewastopol liegenden Schiffe Schießen ihre fürchterlich donnernden Kanonen ab, Die Sieben und die Vierzig573 stehen uns zur Seite.

Oh mein Sultan, erlaube uns zu gehen, Ansonst wirf uns ins Meer.

Vor Sewastopol ein eingestürztes Minarett, Der Feind hat kein Mitleid, Die Heiligen eilen herbei in unserer Not.

Oh mein Sultan, erlaube uns zu gehen, Ansonst wirf uns ins Meer. Mehtermarsch

„Sivastopol Marşı” Sivastopol önünde yatan gemiler, Atar da nizam topunu, yer gök iniler, Yardımcıdır bize kırklar yediler.

Aman da Padişahım izin ver bize, İzin de vermez isen dök bizi denize.

Sivastopol önünde yıkık minare, Düşman dedikleri gelmez imane, Erenler geliyor bize imdade.

Aman da Padişahım izin ver bize, İzin de vermez isen dök bizi denize. Mehter Marşı

573 Das sind die „Vierziger” und die „Sieben Heiligen Dichter“ im alevitischen Glauben, die in Notzeiten den Menschen zur Hilfe eilen. Siehe unten Kap. 9.9 und oben Fußnote 120. 244 Der Sewastopol-Marsch schildert die Verzweiflung der osmanischen Matrosen, die der Kämpfe überdrüssig sind. Der Sultan jedoch verweigert ihnen die Entlassung. Selbst die Hilfe der Heiligen lindert die Not nicht, welche so groß ist, das die Matrosen ihrem Herrscher freiwillig ihr Leben anbieten. Nach dem Sewastopol-Marsch geht Ruhi Su über zu einem Klagelied eines gefallenen Soldaten. Er möchte nicht, dass die Trauer seiner Mutter fortdauert, es ist ihm geradezu lieber, dass sie von seinem Tod erfährt, und die Trauer ein Ende nimmt.

245 9.7.2 „Klagelied - Oh weh, wenn meine Mutter nach meiner Rückkehr schaut” Oh weh, wenn meine Mutter nach meiner Rückkehr ausschaut Und Bündel ihrer Haare ausreißt, Wenn sie fragt, „Wo bleibt mein Junge?” Verheimlicht es ihr nicht und sagt, dass er tot ist. Volkslied

„Ağıt - Aman, Anam Benim de Ulu Yola Durursa” Aman, anam benim de ulu yola durursa, Ak saçıını da kelep kelep yolarsa, „Hani benim oğlum” diye sorarsa, Saklaman, gizlemen, „öldü” den varın. Halk Türküsü

Nachdem fast alle jungen Männer, selbst die Reservisten in den Krieg gezogen waren, klagt eine Frau über die laute Trauer der einsamen Bräute, welche ihr fortwährend die Ruhe nimmt. Die Frau beklagt sich im Grunde nicht über sich selbst, sondern sie zeigt tiefes Mitgefühl mit den Bräuten.

9.7.3 „Das Kaman-Klagelied” „Kaman Ağıdı” In Kaman blieben keine Jungen mehr, Kaman’da uşak kalmadı, Viele Reservisten gingen fort . Redif gitti sürüyünen. Ich kann nicht schlafen, weder am Tage noch in der Nacht, Yatamıyom gece gündüz, Wegen der klagenden Stimmen der Bräute. Gelinlerin zarıyınan.

Volkslied Halk Türküsü

246 9.7.4 „Das Jemenlied I” Keine Wolken am Himmel, woher kommt dieser Rauch? Keine Toten im Viertel, woher kommt diese Klage? Diese Jemen-Gebiete, wie schrecklich sie sind.

Mutter! Es ist Jemen, Seine Rose ist scharfer Brei, Niemand kehrt heim. Warum ist das so? Hier ist Muş574 Seine Wege sind abschüssig. Niemand kehrt heim. Warum ist das so?

Vor der Kaserne lärmen die Reservisten, Schaut nach, was der Soldat in seinem Tornister hat, Er hat ein paar Schuhe und seinen Fes.

Mutter! Es ist Jemen, Seine Rose ist scharfer Brei, Niemand kehrt heim. Warum ist das so? Hier ist Muş Seine Wege sind abschüssig. Niemand kehrt heim. Warum ist das so? Volkslied

574 Als der Sultan aufrief, man solle gegen reichliche Entlohnung freiwillig in den jemenitischen Krieg ziehen, meldete sich ein armes anatolisches Dorf, das zur Provinz Muş gehörte. Der Sultan rechnete offensichtlich mit der bedingungslosen Hilfsbereitschaft der Soldatet, weil sie zum allergrößten Teil miteinander verwandt und verschwägert waren. Vgl. ARSLAN, Osman: Muş Türküsünün Hikayesi. In: http://osmanalarslan.blogcu.com/mus-turkusunun-hikayesi/995342. Abgerufen am 15. März 2012. 247 „Yemen Türküsü I“ Havada bulut yok, bu ne dumandır? Mahlede ölen yok, bu ne figandır? Şu Yemen elleri ne de yamandır.

Ano Yemen’dir, Gülü çemendir, Giden gelmiyor, Acep nedendir? Burası Muş’tur, Yolu yokuştur, Giden gelmiyor, Acep ne iştir?

Kışlanın önünde redif sesi var, Bakın çantasında acep nesi var, Bir çift kundurayla bir de fesi var.

Ano Yemen’dir, Gülü çemendir, Giden gelmiyor, Acep nedendir? Burası Muş’tur, Yolu yokuştur, Giden gelmiyor, Acep ne iştir? Halk Türküsü

In dem „Jemenlied I“ hören wir mehrere Stimmen. Die Anzeichen des Krieges bleiben am Anfang rätselhaft, bis die Stimme der Trauenden mit dem Wort „Mutter“ die verzweifelte Lage kundtut und den Jemen nennt. Gleichwohl gehen die wiederholten Fragen nach dem Sinn des Einsatzes und dem Grund, aus dem niemand von der Front zurückkehrt, nach Muş zurück, wo die Kaserne ein armseliges Bild der Reservisten und eines Soldaten bietet.

248 Das Jemenlied I wird in der Türkei häufig gesungen in dem schleppenden, traurigen Ton der Wehklage. Durch Betonung der Fragen gab Ruhi Su dem Lied den Charakter der provozierenden Anklage. Die letzten zwei Zeilen des Teils „Niemand kert heim / Warum ist das so?“ (Giden gelmiyor / Acep ne iştir ?) ließ Ruhi Su vom Chor, getrennt nach den tiefen Männer- und hohen Frauenstimmen, singen, während die nächsten Zeilen von der Solistin Sümeyra Çakır vorgetragen wurden. Die Schlusszeile „ Meine Gebieter, deinen Tod fasse ich nicht“ (Ağam, öldüğüne inanamiram) gewinnt dadurch ihre besondere Wucht, dass sie von allen Sängern zweistimmig gesungen wird. Diese Doppelung der Stimmführung sollte das Publikum an eine vorsichtige Mehrstimmigkeit gewöhnen.

Die Kapelle spielt, dachtest du an eine Hochzeit? Eine rotgrüne Fahne, dachtest du an eine Braut? Jemand geht nach Jemen, dachtest du an seine Wiederkehr? Komm wieder zurück, mein Gebieter, ich ertrage es nicht länger. Mich überkommt Schläfrigkeit, ich erwache nicht mehr, Mein Gebieter, deinen Tod fasse ich nicht. Volkslied

Mızıka çalınır, düğün mü sandın? Al yeşil bayrağı, gelin mi sandın? Yemen’e gideni, gelir mi sandın? Dön gel Ağam, dön gel, dayanamiram, Uyku gaflet basmış, uyanamiram, Ağam, öldüğüne inanamiram! Halk Türküsü

Der Text dieses Liedes ist zweiteilig. Die ersten drei Fragen richten sich wohl an eine Braut, welche sich die Umstände ihrer Hochzeit vorstellt und an der möglichen Rückkehr ihres Geliebten festhält. Im Gegensatz dazu spricht wohl auch diese Frau anschließend mit großer Bitterkeit, wobei sie trotz der angedeuteten Todesnachricht die Rückkehr ersehnt. Die letzte Zeile dieses Liedes gestaltete Ruhi Su in einem aggressiven Ton; auch hier wird seine kritische Absicht deutlich.

249 9.7.5 „Das Jemenlied II” Die unbarmherzigen Sultane Lassen die Soldaten in Hicaz zehn Jahre warten. Als ich jung war, verlor ich meinen Mann und wurde alt. Verdammter Jemen, er nahm all unsere Tapferen.

Ach, wie wäre es, schneebedeckte Berge, ach, wie wäre es, Wenn mein liebster Soldat käme, dann würden meine Wunden heilen.

Sagt jetzt dem Sultan, er solle meinen Liebsten zu mir schicken, Er soll dieses Gesetz, diese Anordnung ändern, Diese zehn Jahre auf eines herabsetzen. Hat er denn gar kein Erbarmen, der Sultan Aziz?575

Ach, wie wäre es, schneebedeckte Berge, ach, wie wäre es, Wenn mein liebster Soldat käme, dann würden meine Wunden heilen.

Meine Brautzeit ist vorüber, ich verderbe, Grau wurden meine Haare, die ich kämme, Ich warte seit zehn Jahren auf die Rückkehr des Soldaten. Grau wurden meine Haare und das Augenlicht schwächer.

Ach, wie wäre es, schneebedeckte Berge, ach, wie wäre es, Wenn mein liebster Soldat käme, dann würden meine Wunden heilen. Volkslied

575 Abdülaziz (1830-1876) war der 32. Sultan der Osmanen. 250 „Yemen Türküsü II” Merhametsiz padişahlar, askeri On sene bekletiyorlar Hicaz‘da. Genç iken kocadım, yitirdim yâri. Soyka Yemen, yiğit koymadı bizde.

Ne olur karlı dağlar, ne olur, Asker yârim gelse yaralarım ey‘olur.

Padişaha söylen yâri göndersin, Bu kanunu bu zakonu döndersin, On seneyi bir seneye indirsin, Hiç mi merhamet yok Sultan Aziz’de.

Ne olur karlı dağlar, ne olur, Asker yârim gelse yaralarım ey‘olur,

Gelin ömrüm geçti, ben mozuluyom, Kara saçıma ağ’ördürdüm düzlüyom, On senedir asker yolu gözlüyom, Saçım ağardı, fer kalmadı gözde.

Ne olur karlı dağlar, ne olur. Asker yârim gelse yaralarım ey‘olur Halk Türküsü

Im zweiten Jemenlied geht es wieder um den Verlust des Ehemannes, weil der Sultan kein Einsehen zeigt und seine Soldaten in einem zehnjährigen Krieg sozusagen verheizt. An der klagenden Frau ist ihre Jugend vorüber gegangen, und die Zeichen des Alters sind an ihr zu sehen. Dennoch ist ihre Leidenschaft für ihren „liebsten Soldaten“ so jung wie je. Das Alleinsein bedrückt sie so sehr, dass sie die Bergwelt Anatoliens zur ihren Zuhörern macht. Ihr Wünschen findet kein Ende.

251 9.7.6 „Das Jemen-Lied III” „Yemen Türküsü III” Jemen, Jemen, glorreicher Jemen, Yemen Yemen, şanlı Yemen, Blutüberströmter Jemen, Toprakları kanlı Yemen. Ich ertrage den Jemen nicht, Ben Yemen’e dayanamam, Ich ertrage die Trennung von meiner Liebsten nicht . Nazlı yârdan ayrılamam.

Geh’ nicht zum Jemen, dem Jemen, Gitme Yemen’e Yemen’e, Der Jemen ist so heiß, du erträgst es nicht. Yemen sıcak dayanaman. Wenn der Morgenappell ertönt, Tan borusu çalınınca, Bist noch klein, kannst nicht aufstehn. Sen küçüksün uyanaman.

Volkslied von Nimetullah Hafız überliefert.

Im dritten Jemenlied erhebt ein Soldat Anklage gegen dieses Land, das ihn von seiner Liebsten fernhält. Wenn der Jemen gleichzeitig als „glorreich“ und „blutüberströmt“ angesprochen wird, so verrät das zweite Adjektiv die bittere Ironie des ersten. Die Mutter spricht in der zweiten Strophe eine Warnung vor der Wüste aus und suggeriert eine verständliche Regression des Soldaten in das Kindesalter.

252 9.7.7 „Der Berg Ala“ „Aladağ“ Am Fuße des Aladağ Aladağ’ın eteği, Schlugen die Herren ihre Zelte auf. Beyler kurmuş otağı. Das Schicksal ist auf ihrer Seite, Felek onlardan yana, Uns schlägt immer das Schicksal. Bize atar köteği.

Die ziehende Karawane wird stets müde, Giden kervan yorulur, Das schmutzige Wasser wird stets sauber, Bulanan su durulur, Die Mühle des Lebens läuft so nicht weiter, Bu devran böyle gitmez, Einst kommt der Tag der Abrechnung. Bir gün hesap sorulur.

Volkslied aus Ömer Polats Theaterstück „ Mıho aus Aladağ“ (Aladağlı Mıho).

In diesem Gedicht sprechen die Unterdrückten über die anscheinende Ungerechtigkeit des Schicksals, welches die Hochstehenden bevorzugt. Dennoch sprechen sie auch mit Hoffnung, weil sich die Dinge in der Natur und im Menschenleben immer zum Besseren korrigieren und eines Tages die Abrechnung mit den Herren kommen wird. Ruhi Su thematisiert große historische Ereignisse, die die Gesellschaft beeinflussten und somit den Weg in die Volkslieder und in die Kunst der Intellektuellen fanden. In den Klageliedern erfahren wir von den Tränen der Frauen, deren Männer in den Jemen zogen und nicht zurückkamen. Das zweite historische Ereignis ist die Migration der Männer nach Deutschland in den 60er und 70er Jahren. Die Männer ziehen nicht in den Krieg, sondern nach Deutschland, um ein besseres Leben zu führen. Jedoch sind die Folgen für die Frauen ebenso schlimm wie in einem Krieg, denn ihre Männer kehren der Heimat für Jahre den Rücken zu und kommen zum Teil nicht mehr zurück. So erklärt sich auch Ruhi Sus Feststellung, dass die einfachen Menschen unglücklich sind und deshalb die Lieder klagend und bitter.576

576 SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı: „El Kapıları“. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 110. 253 9.7.8 „Oh weh, ich weine“ „O Vay Beni Ağlarım“ Oh weh, ich weine, O vay beni ağlarım, Ich weine bitterlich, Ağlarım yana yana. Ich schütte mein Herz aus Derdimi diyeceğim, Dem, der keine Sorgen hat. Hiç derdi olmayana.

Oh, du, Schwarzes Meer, Hey gidi Karadeniz, Wie dunkel ist dein Gewässer! Suların ne karadır. Ist dein Herz auch gebrochen, Senin de benim gibi, Wie mein Herz? Yüreğin mi yaradır?

Nähern sich die Schiffe nicht? Gemiler yanaşmaz mı? Fahren die Boote nicht umher? Sandallar dolaşmaz mı? Wisch deine Tränen ab, Sil gözünün yaşını, Kommen Getrennte denn nicht wieder zusammen? Ayrılan kavuşmaz mı?

Die Schiffe nach Deutschland! Almanya gemileri, Eines fährt und es kommt wieder. Bir ileri bir geri. Verflucht soll es sein, das Deutschland, Kör olsun Alamanya, Es hat die Bräute zum Weinen gebracht. Ağlattı gelinleri. Volklied Halk Türküsü

Auch dieses Lied nimmt das Thema auf von einer Frau, deren Herz über der Trennung von ihrem Mann gebrochen ist. Freilich ist der große Rahmen der Natur, den sie mit ihrer Klage füllt, ein anderer als in dem Jemenlied II. Wurden dort die schneebedeckten Berge Teilhaber ihres Kummers, so ist es jetzt das Schwarze Meer. Auch die geographische Pointierung der Jemenlieder im allgemeinen findet ihre Entsprechung in der Zeile “Verflucht soll es sein, das Deutschland” (Kör olsun Alamanya), es wird also dort wie hier ein Land als Ursache des Leides verdammt und verflucht.

254 9.7.9 „Deutschland, bittere Heimat“ „Almanya Acı Vatan“ Deutschland, bittere Heimat! Almanya acı vatan, Es lacht einen niemals an, Adama hiç gülmeyi. Ich weiß nicht warum, Nedendir bilemedim, Einige kehren nicht zurück. Bazıları gelmeyi.

Drei Mädchen und zwei Jungen, Üçü kız, iki oğlan, Wem hast du sie hinterlassen? Kime bırakıp gittin. So ein schönes Nest Böyle güzel yuvayı, Hast du dem Feuer übergeben. Ateşe yakıp gittin.

Du bist nach Deutschland gegangen, Almanya’ya gitmişsin, Hast, wie man sagt, dort geheiratet. Orada evlenmişsin. Ganze sieben Jahre sind es geworden, Tam yedi sene oldu, Seit denen du nicht nach Hause kamst. Evine gelmemişsin.

Du schickst mehr oder weniger Geld, Az çok para yollarsın, Wozu nützt dieses Geld? Bu para neye yarar, Deine fünf Kinder und deine Ehefrau Beş çocukla ailen, Halten stets Ausschau nach dir. Hepisi seni arar.

Volkslied von Haydar Gedikoğlu aus Akçaabat / Trabzon überliefert.

Die Frage ist, wer für diese Trennung die Schuld trägt, der Ehemann oder die neuen, fremden und sicherlich auch anreizenden Beziehungen in der deutschen Gesellschaft. Die Kritik an dem Ehemann verschweigt nicht, dass er Frau und Kinder vernachlässigt, obwohl es ihm mit seiner Familie und in seinem Heim gut ging. Das wenige überwiesene Geld ist der Ehefrau nicht wichtig. Der Zusammenbruch der Familie, an dem doch auch die neue deutsche Heimat ihren Anteil hat, bleibt ihr unverständlich. Der Zusammenbruch ist ein nicht seltenes Phänomen und macht sie bitter. Dieses Lied wird oft so unbedacht gesungen, dass man manchmal dazu tanzt. Ruhi Su nimmt den ursprünglichen Sinn des Liedes beim Wort und gibt dem ihm den anklagenden Charakter zurück.

255 9.7.10 „Unsere Müllmänner in Deutschland“ Wie bist du nur durch die graue, trübe Flut gekommen? Hast du meine Nachricht vom wehenden Wind bekommen? Kamst du als Erinnerung aus unserer Heimat? Du hast wie die Basilikumblüte geduftet, mein Freund, Du hast wie die Basilikumblüte geduftet, mein Freund,

Sobald der Tag hell wird, blinkt die Schrift des Schicksals auf unserer Stirn auf. Es ist keine Stirnschrift, sondern eine Handschrift, verdammt nochmal. Wir können sie nicht lesen, Wir haben nicht einmal das Licht der Grundschule gesehen, Wir, die glücklosen Leute der schmutzigen Regierenden. Wir fegen die Straßen der Fremde, schmutzige Hand, schmutziges Herz! Obwohl ich große Vorfahren habe, Bin ich gefallen, bin ich gefallen vor den Toren der Fremde.

Noch vor dreihundert Jahren trugen wir auf unseren Schultern die großen Fahnen, Verbeugten sich die Fahnen dieser Länder vor unserer Zivilisation, Jetzt gibt es drei Kinder dort in Bünyan, ihre Münder so groß vor Hunger, Jetzt gibt es vier Kinder dort in Ereğli, ihre Augen so groß vor Hunger, Sie nehmen den schweren Bissen, den ich ihnen aus der Dunkelheit zuschicke. Obwohl ich große Vorfahren habe, Bin ich gefallen, bin ich gefallen vor denToren der Fremde.

Mein Bruder, warum stehen wir herum? Monatlich tausend grüne Mark! Gehen und verstreuen wir uns vom Adler Anatolien in die Welt! Die Herren wachen aus ihren goldenen Träumen auf. Los, lasst uns ihre Wege säubern, Ohne uns vor der roten Sonne zu schämen, schmutzige Hand, schmutziges Herz! Obwohl ich große Vorfahren habe, Bin ich gefallen, bin ich gefallen vor den Toren der Fremde.

Fazıl Hüsnü Dağlarca

256 „Almanya’da Çöpçülerimiz“ Nasıl geçtin de boz bulanık sellerden? Haberin mi aldın esen yellerden? Yadigar mı da geldin bizim ellerden? Gül-ü reyhan gibi koktun birader, Gül-ü reyhan misali koktun birader.

Gün ışır ışımaz, alın yazımız parlar. Ne alın yazısı, el yazısı be! Sökemeyiz ki biz ilkokul aydınlığı bile gösterilmeyenler, Biz, pis yöneticilerin mutsuz kişileri. Süpürürüz yaban ellerin sokaklarını, pis el, pis yürek! Sığmazken atalarım güne, yarına, Düşmüşüm vay, düşmüşüm ben el kapılarına.

Daha üç yüzyıl evvel, omuzlarımızda gök yarısı bayraklar, Eğilirdi bu ülkelerin burçları uygarlığımıza. Şimdi ta Bünyan’daki üç çocuk, ağızları açlıkla büyümüş, Şimdi ta Ereğli’deki dört çocuk, gözleri açlıkla iri iri. Alır karanlıklar karanlıklar ardından gönderdiğim kara lokmasını. Sığmazken atalarım güne, yarına, Düşmüşüm vay, düşmüşüm ben el kapılarına.

Ne duruyoruz be kardeş, aylık bin yeşil mark! Varalım dağılalım, Kartal Anadolu’dan yeryüzüne. Beyler altın uykularından uyanmak üzere, haydi yollarını temizleyelim, Al güneşten bile utanmadan, pis el, pis yürek! Sığmazken atalarım güne, yarına, Düşmüşüm vay, düşmüşüm ben, el kapılarına. Fazıl Hüsnü Dağlarca

Ruhi Su hat neben Nâzım Hikmet auch andere Lyriker, darunter Fazıl Hüsnü Dağlarca, vertont. Dem obigen Gedicht Dağlarcas hat Ruhi Su eine Melodie gegeben ohne sich von dem doch recht patriotischen Inhalt abhalten zu lassen. Die Berufung auf

257 die glanzvolle Vergangenheit in osmanischer Zeit entspricht eigentlich nicht den politischen Vorstellungen Ruhi Sus, dem falsche Heroisierungen und ein Lob der Ehre fremd waren. Es ging ihm um eine anklagende Beschreibung der sozialen Not im Ausland. Er übt Kritik an den Regierenden, die türkische Emigranten in solch eine schmähliche Situation gebracht haben. Wäre das Land besser regiert worden, hätte es diese Schmach nicht gegeben. Die Bitterkeit der türkischen Männer in Deutschland ist die gleiche wie in den früher zitierten Gedichten, „Deutschland, bittere Heimat“ (Almanya Acı Vatan) und „Oh weh, ich weine“ (O Vay Beni Ağlarım). Der Fall der Männer ist nicht nur der in einen gesellschaftlich wenig angesehenen Beruf, sondern auch in die Position eines Außenseiters, eines Menschen, der „vor den Toren der Fremde“ existiert.

258 9.7.11 „Die fremden Tore“ „El Kapıları“ Der Mond geht auf, voll und voller, Ay doğar bedir bedir, Der Wind weht langsam, sehr langsam, Yel eser ılgıt ılgıt, Die fremden Tore grinsen Reihe um Reihe unverschämt, Sırıtır sıram sıram, el kapıları. Die fremden Tore sind Tore der Sklaverei. El kapıları da kölelik kapıları. Versklavt wird der Tapfere, Kul olur yiğit, Versklavt wird der Mutige. Kul olur yiğit.

Der Mond geht auf, mehr und mehr Halbmond, Ay doğar hilâl hilâl, Der Tag erwacht, neu und revolutionär, Gün doğar devrim devrim, Die fremden Tore stürzen Reihe um Reihe um, Yıkılır sıram sıram el kapıları, Die fremden Tore sind Tore der Sklaverei. El kapıları da kölelik kapıları. Gerettet wird der Tapfere, Kurtulur yiğit, Gerettet wird der Mutige. Kurtulur yiğit.

Hasan Hüseyin Korkmazgil Melodie: Tahsin İncirci

Dieses Gedicht, von Hasan Hüseyin geschrieben und von Tahsin İncirci vertont, hat Ruhi Su vom „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) singen lassen. Es geht um den Auszug der türkischen Arbeiter nach Deutschland, wo sie als Arbeitssklaven leben. Die Bildlichkeit von monströsenToren und Mond macht die Bedrohung der Menschen durch die unwürdigen Arbeitsverhältnisse sehr eindringlich. Zum Ausdruck kommt aber auch ein großes Vertrauen auf die Kraft zur Überwindung der Sklaverei, auf Sieg und Rettung der Mutigen. Dass „Die fremden Tore“ (El Kapıları) umfallen werden, heißt, dass die Menschen in der Zukunft nicht mehr in Massen fortziehen müssen. Die alten Systeme brachten dem Volk langwierige Probleme wie Kriege und Armut. Was nottut ist eine zeitgenössische Theorie, welche solche Probleme beseitigt. Wann diese glücklichere Zeit kommt und wie sie kommt und wie die Lösung solcher Probleme aussieht, lässt sich an dem folgenden Gedicht Nâzım Hikmets ablesen, dass er in sein Album aufgenommen und vertont hat.577 Die Deutung der

577 SU, Ruhi im Gespräch mit ÖZKIRIMLI, Atilla: Ruhi Su ve Yeni Plağı: „El Kapıları“. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 111.

259 „Sklaverei“ als den Auszug der türkischen Arbeiter nach Deutschland erscheint zunächst nicht offensichtlich. Sie ist aber zwingend, wenn man bedenkt, dass alle Gedichte und Lieder auf einer Schallpattenseite sich mit der Gastarbeiterproblematik und der Migration überhaupt beschäftigen.

260 9.7.12 „Sie“ „Onlar ki“ Sie, die zahlreich sind Onlar ki Wie Ameisen auf der Erde, toprakta karınca, Fische im Wasser, suda balık, Vögel in der Luft, havada kuş kadar çokturlar;

Die feige, korkak, Tapfer, cesur, Unwissend, cahil, Entscheidend hakim, Und kindlich sind. ve çocukturlar.

Vernichtende Kahreden Und Erschaffende sind sie. ve yaratan ki onlardır, Nur ihre Abenteuer stehen in unserem Epos. destanımızda yalnız onların maceraları vardır.

Sie, die ihre Fahnen aus der Hand fallen lassen, Onlar ki uyup hainin iğvasına, Bestochen durch die List des Verräters, sancaklarını elden yere düşürürler Und, den Feind auf dem Feld hinter sich, ve düşmanı meydanda koyup In ihre Häuser fliehen. kaçarlar evlerine Sie zücken gegen so manchen Renegaten das Messer, ve bir nice mürtede hançer üşürürler Die wie ein grüner Baum lachen ve yeşil bir ağaç gibi gülen Und ohne Feierlichkeit weinen ve merasimsiz ağlayan Und fluchen wie ein Heide. ve ana avrat küfreden ki onlardır, Nur ihre Abenteuer stehen in unserem Epos. destanımızda yalnız onların maceraları vardır. Das Eisen, Demir Die Kohle kömür Und der Zucker ve şeker Und das rote Kupfer ve kırmızı bakır Und die Webereien ve mensucat Und die Liebe und die Grausamkeit und das Leben ve sevda ve zulüm ve hayat Und sämtliche Industriezweige ve bilcümle sanayi kollarının Und der Himmel ve gökyüzü Und die Wüste ve sahra

261 Und der blaue Ozean ve mavi okyanus Und die traurigen Flussbetten ve kederli nehir yollarının, Und das Schicksal des bebauten Ackers und der Städte sürülmüş tarlaların ve şehirlerin bahtı, Werden in einem Morgengrauen sich ändern bir şafak vakti değişmiş olur, Und in einem Morgengrauen , am Rande des Dunkels, bir şafak vakti karanlığın kenarından, Ihre schweren Hände auf die Erde drücken, onlar ağır ellerini toprağa basıp Um sich aufzurichten. doğruldukları zaman.

Sie sind es, En bilgin aynalara, Die auf die wissenden Spiegel en renkli şekilleri die farbigsten Formen werfen. aksettiren onlardır.

Sie siegten und wurden besiegt in diesem Jahrhundert, Asırda onlar yendi, onlar yenildi. und man sagte von ihnen: Çok sözler edildi onlara dair ve onlar için: „Sie haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ „Zincirlerinden başka kaybedecek şeyleri yoktur!“ denildi.578

Nâzım Hikmet / Übersetzer Feridun Korkmaz

Nâzım Hikmet zieht einen sehr weiten Themenkreis. Er schildert die Arbeiter mit ihren Stärken und ihren entgegengesetzten Schwächen. Er geht aber auch auf die Kräfte der Natur: Himmel, Wüste, Ozean und der Industrie ein: die Kohle, den Zucker, die Webereien. Zu Beginn scheint es, dass diese Menschen so wenig Bewußtsein haben wie Ameisen, Fische und Vögel: sie scheinen nur Masse zu sein. Die fortschreitende Industrialisierung lässt sie ein Bewußtsein entwickeln. Aus einer Masse wird die Arbeiterklasse. Dass sie siegen wird, ist unbezweifelbar: sie wird sich aufrichten am Rande eines Morgens. Wie stark das Gedicht von kommunistisch-utopischen Ideen geprägt ist, zeigt das abschließende Marxzitat: „Sie haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ (Zincirlerinden başka kaybedecek şeyleri yoktur ). Ruhi Sus Wahl gerade dieses Gedichtes war ein sehr bewusster Schritt auf Nâzım Hikmet zu und die von ihm vertretene universale Ideologie.

578 Türkenzentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 6. Der Text wurde vom Verfasser leicht bearbeitet und folgt in Groß-und Kleinschreibung sowie im Zeilenumbruch der türkischen Vorlage.

262 9.8 Der Morgen hat einen Besitzer / Sabahın Sahibi Var (1977) 9.8.1 „Merhaba“ „Merhaba“ Ihr, die ich nicht einmal im Jahr sehe, Senede bir görmediğim Ihr Lieben, Merhaba Merhaba! Canlar, merhaba merhaba! Meine nicht zu bündelnden Rosen, Deste deste dermediğim Ihr Rosen, Merhaba Merhaba! Güller, merhaba merhaba!

Meine Hoffnungen wurden zur Lüge , Umutlarım oldu yalan, Diese Liebste richtete mich zugrunde. O yâr beni, etti talan, Die ihr euren Kopf von Stein zu Stein schlagt, Başın taştan taşa çalan Ihr Fluten, Merhaba, Merhaba! Seller, merhaba merhaba!

Ich bin Yetimi, welches mich kränkt, Yetimi’yim belim büken, Geblieben sind weder eine Rose noch ein Dorn. Ne gül kaldı, ne bir diken, Die ihr die Nachtigall schweigend ertragt, Bülbülü sineye çeken Ihr Äste, Merhaba Merhaba!. Dallar, merhaba merhaba! Yetimi

Ruhi Su begann fast alle seine Konzerte mit diesem Lied. Es war eine Begrüßung des Publikums, die auf der Schallplatte fortgesetzt wird.579 Das Gedicht wird getragen von einem leichten Ton der Enttäuschung. Ohnehin sieht er seinen Freundeskreis zu selten, nicht einmal jedes Jahr. Sein Wunsch ist es zwar, die Freunde, angesprochen in der traditionell weiblichen Gestalt der Rosen, zusammen zu bringen, aber es gelingt ihm nicht. Was daraus resultiert, ist die Erschöpfung und die Aufgabe der Hoffnung. Ruhi Su wäre nicht Ruhi Su, wenn er gegen Schluss nicht doch eine bescheidene Hoffnung äußern würde. Als Dichter im Verhältnis zum Publikum sieht er sich in der traditionellen Figur der klagenden Nachtigall, welche ertragen wird, wenn auch schweigend.

579Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel behandelte Lieder: „Der Jugend-Marsch-Der Gipfel ist Nebel umschlungen “ (Gençlik Marşı- Dağ başını duman almış, siehe oben Kap. 6.7.3); „Meine Mutter hat mich aufgezogen“ (Annem beni yetiştirdi, siehe oben Kap. 6.7.4); „Drei Mädchen auf dem Şişliplatz“ (Şişli Meydanında Üç Kız, siehe oben Kap.7.1.3); „Was für ein İstanbul ist das in den Kerkern ?“ (Bu Nasıl İstanbul Zindan İçinde, siehe oben Kap. 2.7); „Ein besonderer Ort“ (Mahsus Mahal, siehe oben Kap. 7.1.2) und „Hat euch euer Weg zu uns geführt?“ (Bizim ele uğradı mı yolunuz?).

263 8.2 „Das Sprichwort“580 „Atasözü“ In diesem von ihm selbst geschriebenen und vertonten Lied „Das Sprichwort“ (Atasözü) drückt Ruhi Su seine Überzeugung von einer besseren Welt aus. Er macht auf die große Kluft zwischen Reichen und Armen aufmerksam. Gleichwohl sei die Welt für alle da, und es gäbe auch genügend Brot. Der Text ist in politischer Hinsicht mehrdeutig. Zum einen spricht er von einem sozialen Gegensatz, aus dem der Weltuntergang erwachsen wird, das heißt, soziale Gegensätze haben eine politische Sprengkraft. Noch schärfer formuliert: Er vertritt einen revolutionären, vielleicht sogar klassen- kämpferischen Standpunkt. Dieser Lesart steht zum andern das deutlich ausgleichende Ende des Textes entgegen:

Hört zu Freunde, Dinleyin arkadaşlar, Wir haben ein Sprichwort: Bir atasözümüz var: Wenn jemand isst, während der andere zuschaut, Biri yer biri bakar, Tritt dadurch der Weltuntergang ein. Kıyamet ondan kopar,

Der angesprochene Weltuntergang Kıyamet dedikleri, Wird bald eintreten. Ha koptu ha kopacak. Eine neue Welt wird errichtet werden Yoksuldan, halktan yana, Zu Gunsten der Armen und des Volkes. Bir dünya kurulacak.

Unsere Vorfahren haben Görmüşler ileriyi, Die Zukunft vorausgesehen. Atalarımız demek. Für jeden reicht die Welt, Herkese yeter dünya, Für jeden reicht das Brot. Herkese yeter ekmek. Ruhi Su

1976 hat „Der Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) diesen Marsch mit seiner Sehnsucht nach einer besseren Zukunft zusammen mit den Zuhörern euphorisch vorgetragen. Ruhi Sus Intention, eine bessere Menschheit zu schaffen, und seine Praxis diese Hoffnung auf ein Sprichwort zu gründen, fand eine enthusiastische Aufnahme bei

580 Die Übersetzung dieses Textes stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer nicht genannt werden. 264 den Demonstranten. So wurde dieser Marsch auch auf der Maidemonstration von 1977 in İstanbul gesungen. Fast fünfhunderttausend Menschen nahmen Teil. Der Chor marschierte von Beşiktaş nach Taksim. Allen voran ging Ruhi Su als Chorleiter. Während des Demonstrationszuges wurde der Marsch ständig wiederholt.

265 9.8.3 „Demirc’oğlu“ „Demirc’oğlu“ 581 In einen Morgenschlaf Bir sabah uykusunda Ließen sie die Polizei stürmen. Polisi saldırdılar. Demirc’oğlu Vedat Demircioğlu Vedat‘ı Brachten sie mit Knüppeln um; Coplarla öldürdüler. Mit Knüppeln und Fäusten Coplarla, yumruklarla Schlugen und mordeten sie. Vurdular, öldürdüler.

Sie waren blutjunge Burschen, Gencecik çocuklardı, Vielleicht haben Sie es auch gesehen, Belki siz de gördünüz. Mit Transparenten in ihren Händen Ellerinde pankartlar Gingen sie auf der Straße, Yolda gidiyorlardı, Sie wollten Freiheit, Özgürlük istiyorlar, Sprachen von Freiheit , „Özgürlük“ diyorlardı, Mit Transparenten in ihren Händen, Ellerinde pankartlar, Sprachen von Freiheit . „Özgürlük“ diyorlardı.

Man nennt sie die 6. Flotte. Altıncı Filo derler Vielleicht haben Sie es auch gesehen, Belki siz de gördünüz Auf Zypern stand sie vor uns, Kıbrıs’ta karşımıza Stoppte uns, Çıktılar, durdurdular Am Bosporus stand sie vor uns, Boğaz’da karşımıza Mordete uns Çıktılar, öldürdüler

Im Befreiungskampf. Kurtuluş savaşında Vielleicht haben Sie es auch gesehen. Belki siz de gördünüz Demircioğlu ist nicht nur einer, Demircioğlu bir değil Er ist wie unser Volk die große Menge. Halkımız gibi çoğul Es kommt rauschend, Geliyor çağıl çağıl Kommt rauschend. Geliyor çağıl çağıl (Ruhi Su)

581 Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls in Kapitel 8 „Politischer Protest und Trauer in Liedern Ruhi Sus“ behandelt.

266 Vedat Demircioğlu war das erste Opfer der türkischen 68er-Studentenbewegung. Als am 15. Juli 1968 die 6. Kriegsflotte der USA in İstanbul anlegte, protestierten viele Studenten. Zwei Tage später stürmte die Polizei das Studentenwohnheim der Technischen Universität (İstanbul Teknik Üniversitesi) und nahm Studenten fest. Bei dieser Aktion wurden viele Studenten verletzt und der junge Vedat Demircioğlu aus dem Fenster gestoßen, der dann einige Tage später an den Folgen des Sturzes starb. Der Name Vedat Demircioğlu wurde zu einem Symbol des Kampfes gegen die amerikanische Präsenz in der Türkei und gegen die imperialistische Ideologie. Ihm zu Ehren schrieb Ruhi Su später das oben zitierte Gedicht. Dieses Lied ist ein Beweis dafür, dass Ruhi Su sich für die 68er-Bewegung eingesetzt hat. Dennoch verstummten die Anschuldigungen der sogenannten radikalen Revolutionäre nicht. Für sie war Ruhi Su nicht radikal und agitatorisch genug. Ihm waren aber platte Agitationssprüche zuwider, weil er in seiner Arbeit die Ästhetik des Ausdrucks niemals aus den Augen verlor. Das Lied „Demirc’oğlu“ ist ein Mittelding zwischen einem Marsch und einem Klagelied. Es steht in der Tradition des Protestes vom türkischen Befreiungskrieg bis hin zum heutigen Zypernkonflikt. Am Sonntag, den 16. Februar 1969, wollten mehr als 30.000 Arbeiter und Studenten am Taksim-Platz gegen die 6. Kriegsflotte der USA protestieren. Viele rechtsgerichtete Studenten organisierten eine Gegendemonstration mit dem Ziel, der linken Bewegung im Land entgegen zu treten. In der Demonstration ein Jahr zuvor starb, wie bereits erwähnt, der Student Vedat Demircioğlu. Dieses Mal gab es einen Kampf zwischen den rechten und linken Demonstranten, bei dem zwei Menschen starben. Dieser Tag ging in Anlehnung an die vorrevolutionären Unruhen in Russland im Jahr 1905 als „Blutiger Sonntag“ in die Geschichte der türkischen Linken ein582 Im nun folgenden Lied, dessen Text und Musik Ruhi Sus verfasst hat, thematisiert er diesen Tag. Er bringt darin seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die politisierten Jugendlichen vom Lande und aus den Städten sich solidarisieren und die Herrschaftsverhältnisse umstürzen werden.

582 Vgl. den Petersburger Blutsonntag von 1905 und den nach ihm benannten 16. Februar 1969 in İstanbul: http://de.wikipedia.org/wiki/Petersburger_Blutsonntag sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Blutiger_Sonntag_(T%C3%BCrkei). Beide abgerufen am 6. 3. 2012.

267 9.8.4 „Transparente in ihren Händen“ „Ellerinde Pankartlar“ 583 Transparente in ihren Händen, Ellerinde pankartlar, Marschieren diese Jugendlichen. Gidiyor bu çocuklar. Stehet auf, stehet auf! Kalkın ayağa, kalkın, Marschieren diese Jugendlichen. Gidiyor bu çocuklar.

Dieser Sonntag, ist ein blutiger Sonntag, Bu pazar, kanlı pazar, Er schreibt Leid, schreibt Heilung. Dert yazar, derman yazar. Stehet auf, stehet auf! Kalkın ayağa, kalkın, Marschieren diese Jugendlichen. Gidiyor bu çocuklar.

Dieser Platz ist ein blutiger Platz, Bu meydan, kanlı meydan, Alle Pfeile sind verschossen, Ok fırladı, çıktı yaydan, Stehet auf, stehet auf! Kalkın ayağa, kalkın, Wir aus den Städten, ihr vom Lande. Biz şehirden, siz köyden. Ruhi Su

583 Die hier dargestellte Thematik wird ebenfalls in Kapitel 8 „Politischer Protest und Trauer in Liedern Ruhi Sus“ behandelt.

268 9.8.5 „Lass den Kopf nicht hängen“ „Başın Öne Eğilmesin“ Lass den Kopf nicht hängen, Başın öne eğilmesin, Bewahre die Fassung, mein Herz! Aldırma gönül, aldırma! Dein Weinen soll nicht gehört werden, Ağladığın duyulmasın, Bewahre die Fassung, mein Herz! Aldırma gönül, aldırma!

Draußen die wütenden Wellen Dışarda azgın dalgalar, Kommen und streichen um die Wand. Gelir duvarları yalar, Dich trösten ihre Klänge, Seni bu sesler oyalar, Bewahre die Fassung, mein Herz! Aldırma gönül, aldırma!

Wenn Deine Leiden wachsen, Dertlerin kalkınca şaha, Schicke eine Klage zu Allah, Bir sitem yolla Allah'a, Es gibt noch Tage zu erleben, Görecek günler var daha, Bewahre die Fassung, mein Herz! Aldırma gönül, aldırma!

Wenn Du das Meer sehen willst, Görmek istersen denizi, Hebe dein Gesicht empor, Yukarıya çevir yüzü, Der Himmel ist wie das Meer, Deniz gibidir gökyüzü, Bewahre die Fassung, mein Herz! Aldırma gönül, aldırma!

Die Kugeln gehen ans durch Schüsse, Kurşun, ata ata biter, Die Wege enden durch Gehen, Yollar, gide gide biter, Die Strafe endet durch Absitzen, Ceza, yata yata biter, Bewahre die Fassung, mein Herz! Aldırma gönül, aldırma!

Sabahattin Ali / Musik: Kerem Güney

Weder der Text noch die Musik des oben zitierten Liedes gehören Ruhi Su. Geschrieben hat das Gedicht ein bekannter und wichtiger Schriftsteller der türkischen Literatur, Sabahattin Ali.584 Die Melodie dazu schrieb Kerem Güney. Das Lied war nicht

584 Sabahattin Ali setzte sich stets kritisch mit den Gegebenheiten in Politik und Gesellschaft auseinander. Er wurde 1948 ermordet. Der Mord wurde nie ganz aufgeklärt. Der (angebliche) Mörder wurde zwar 269 wegzudenkender Bestandteil linker Veranstaltungen. Es verkörperte das Lebensgefühl und die Vorstellungen der Sozialisten in den 70er Jahren. An der Vortragsweise dieses äußerst populären Liedes lässt sich Ruhi Sus besondere Art des Ausdrucks erkennen. Es wurde durch populäre Sänger oft mit einer sehr fröhlichen Grundstimmung vorgetragen, welche dem Inhalt deutlich widerspricht. Ruhi Su aber gebrauchte eine regelrecht scharfe Artikulation und hob und senkte seine Stimme merklich. So konnte der Zuhörer Gefängnis, Verfolgung und Leid nachvollziehen, aber eben auch Widerstandgeist entwickeln. Der Dichter trumpft auf mit einer Hoffnung auf die Zukunft, die eine bessere Welt bringen soll. Auf der Schallplatte singt er das Lied begleitet durch den „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu).

gefasst, aber die Umstände nicht näher erläutert. Vgl. TOPUZ, Hıfzı: Başın Öne Eğilmesin (2006) und derselbe Eski Dostlar (2000): 11-48 sowie BEZİRCİ, Asım: Sabahattin Ali (1974). 270 9.8.6 „Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen“ „Boşa Didinmek Fayda Vermez“ Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen, Boşa didinmek fayda vermez, Jeder vergangene Tag ist schlimmer als gestern. Her geçen gün daha beter dünden. So war es, aber so kann es nicht weitergehen, Böyle gelmiş, böyle gitmez, Ausbeute, Grausamkeit können nicht andauern. Sömürü zulüm devam etmez. Solange wir unsere Häupter nicht erheben, Kaldırmadıkça başlarımızı, Findet unser Elend kein Ende. Sefaletimiz bitmez.

Der leere Topf in deinen Händen, Elindeki bu boş tencere, Würde er sich von selbst füllen, Dolar mı kendi kendine? Wenn Du einverstanden bist mit Eğer razı olursan sen Deinem schlechten Schicksal? Kendi kötü kaderine? Solange wir unsere Häupter nicht erheben, Kaldırmadıkça başlarımızı, Findet unser Elend kein Ende. Sefaletimiz bitmez.

Bertolt Brecht585, Musik: Sarper Özsan Aus dem Theaterstück „Mutter“ (Ana) nach Gorki

Ruhi Su hat nicht nur zeitgenössische türkische Dichtung gesungen. Das Album „Der Morgen hat seinen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var) setzt einen wichtigen Schlusspunkt mit der türkischen Fassung „Ana“ aus Bertolt Brechts Theaterstück „Mutter“, welches auf Maxim Gorkis Roman „Mutter“ fußt. Brecht war für Ruhi Su und die türkische linke Bewegung überhaupt ein ideologischer Mitstreiter und Mitdenker. Er fasst die Position des politischen Lyrikers so zusammen:

Wir müssen nicht nur Spiegel sein, welche die Wahrheit außer uns reflektieren. Wenn wir den Gegenstand in uns aufgenommen haben, muss etwas von uns dazu kommen, bevor er wieder aus uns herausgeht, nämlich Kritik, gute und schlechte, welche der Gegenstand vom Standpunkt der Gesellschaft aus erfahren muss. So dass was aus uns herausgeht durchaus Persönliches enthält, freilich von der zwiespältigen Art, die dadurch entsteht, dass wir uns auf den Standpunkt der Gesellschaft stellten. (50er Jahre)586

585 Der deutsche Text ist aus dem türkischen von dem Verfasser übersetzt worden. Der Originaltext findet sich nicht in BRECHT, Bertolt, Die Mutter, Mundus, Basel (1946). Es ist anzunehmen, dass der türkische Text eine freie Bearbeitung ist. 586 BRECHT, Bertolt: Über Lyrik (1971): 73. 271 In seinem Gedicht „Vergebliche Mühe ist ohne Nutzen“ (Boşa Didinmek Fayda Vermez) ist von Aufbruch und Widerstand die Rede, das einfache Volk soll gegen die Obrigkeit aufstehen, um ein besseres und gerechteres Leben führen zu können. Gleichzeitig steckt in ihm eine Kritik an denjenigen, die nicht gegen die Ungerechtigkeit und Ausbeutung kämpfen, sondern sie klagend hinnehmen. Denn ohne Kampfeswillen und Widerstand wird sich der „leere Topf“ nicht füllen, und die Lebensumstände werden sich nicht bessern. Dieses Gedicht ist das letzte Stück auf der Schallplatte „Der Morgen hat seinen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var) und wurde in den Konzerten als letztes Stück gesungen. Ruhi Su sah sich in seiner Rolle als intellektueller Künstler als Erzieher, der den Menschen ganz unten mit seinen Texten Lebensmut und Kampfeswillen für den Alltag geben wollte. In der Türkei machte Yılmaz Onay den Begriff „Episches Theater“ und Bertolt Brecht bekannt. 587 Viele von Brechts Gedichten und Theaterstücken wurden unter sozialistisch Denkenden sehr beliebt. Brechts episches Theater kommt in den Werken der türkischen Autoren erst in den 60er Jahren zur Geltung. Die Begegnung der türkischen Rezipienten mit den Werken von Brecht begann in der gleichen Zeit. Seine Werke wie „Die Gewehre der Frau Carrar“(Carrar Ananın Silahları) wurde zum ersten Mal 1960 durch eine Amateur- Theatergruppe aufgeführt. Es folgen weitere von Amateuren aufgeführten Stücke wie „Die Ausnahme und die Regel“ (Kural ve Kuraldışı), „Die Kleinbürgerhochzeit“ (Küçük Burjuva Düğünü)’’. Im Jahre 1962 fand Brecht zum ersten Mal durch die Inszenierung des Stücks „ Der gute Mensch von Sezuan“ (Sezuan’ın İyi İnsanı) im Stadttheater von İstanbul seinen Platz in der türkischen Theaterwelt.588

587 Onays Übersetzungen umfassen: „Die Bibel“ (İncil); Baal (Baal); Trommeln in der Nacht (Gecede Trampet Sesleri); Die Hochzeit (Düğün); Der Bettler oder der tote Hund (Dilenci veya Ölü Köpek); Er treibt einen Teufel aus (Şeytan Kovma); Lux in Tenebris (Karanlıkta Işık); Der Fischzug (Balık Avı); Die Prärie (Ova); Im Dickicht (Vahşi Ormanda); Im Dickicht der Städte (Kentlerin Vahşi Ormanında); Mann ist Mann 1926 (Adam Adamdır 1926); Mann ist Mann 1938 (Adam Adamdır 1938); Die heilige Johanna der Schlachthöfe (Mezbahaların Kutsal Johanna'sı); Die sieben Todsünden der Kleinbürger (Küçük Burjuvanın Yedi Ölümcül Günahı); Die Horatier und die Kroatier (Horasyalılar Kuriasyalılar); Die Gewehre der Frau Carrar (Carrar Ananın Silahları); Furcht und Elend des Dritten Reiches (III.Reich'ın Korku ve Sefaleti); Herr Puntila und sein Knecht Matti (Puntila Ağa ile Uşağı Matti); Der kaukasische Kreidekreis (Kafkas Tebeşir Dairesi) und Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (Sivri Kafalılar ve Yuvarlak Kafalılar / Yuvarlak Kafalılar ve Sivri Kafalılar) Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Y%C4%B1lmaz_Onay. Abgerufen am 31. Mai 2013 588 Zitiert nach İPŞİROĞLU, Zehra: Tiyatroda Yeni Arayışlar, Düzlem Yayınları, İstanbul (1992):20. In: Doğan,Âbide: International Periodikal (!)For the Languages, Literature and History of Turkish and Turkic Volume 4 / 1-1 Winter 2009, Türk Tiyatrosunda Brecht ve Etkisi (2009): 413-414. In: http://turkoloji.cu.edu.tr/YENI%20TURK%20EDEBIYATI/abide_dogan_turk_tiyatrosunda_brecht_etkisi. pdf. Abgerufen am 28.5.2013. 272 Vor allem die Autoren, wie Haldun Taner, Vasıf Öngören und Sermet Çağan, haben das epische Theater Brechts mit dem türkischen traditionellen Theater zusammengeführt und sie machten ein eigenständiges neues Theater daraus. Die Theaterstücke wie „Das Epos von Ali aus Keşan“ (Keşanlı Ali Destanı), „Ich schließe meine Augen und tue meine Pflicht“ (Gözlerimi Kaparım Vazifemi Yaparım), „Die schlaue Frau des dummen Mannes“ (Sersem Kocanın Kurnaz Karısı), „Der Schatten des Esels“ (Eşeğin Gölgesi), „Die juchzende Zarife“ (Zilli Zarife) und „Tumult unter dem Mondlicht“ (Ayışığında Şamata) von Haldun Taner; „Wie rettet man Asiye“ (Asiye Nasıl Kurtulur), „Das Heft Deutschlands“ (Almanya Defteri) von Vasıf Öngören; „Die Fabrik der Füße und Beine“ (Ayak-Bacak Fabrikası) von Sermet Çağan; und „Die nutzlose Welt“ (Nafile Dünya) von Oktay Arayıcı zählt man als erfolgreiche Aufführungen dieser Art. Später werden Stücke wie „Das kaukasische Kreidekreis“ (Kafkas Tebeşir Dairesi) , „Die siebenTodsünden“ (Yedi Ölüm Günahı), „Schweyk im zweiten Weltkrieg“ (Şvayk, İkinci Dünya Savaşında), „Leben des Galilei“ (Galilei’nin Yaşamı), „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ (Bay Puntila ve Uşağı) und „Dreigroschenoper“ (Üç Kuruşluk Opera) in der Türkei hauptsächlich von „Dostlar-Theater“ (Dostlar Tiyatrosu) aufgeführt.589

589 Zitiert nach ŞENER, Sevda: Cumhuriyet Dönemi Tiyatro Yazarlığı- Oyundan Düşünceye, Gündoğan Yayınları, Ankara (1993):126. In: Doğan, Âbide: International Periodikal For the Languages, Literature and History of Turkish and Turkic Volume 4 / 1-1 Winter 2009, Türk Tiyatrosunda Brecht ve Etkisi (2009): 413-414. In:http://turkoloji.cu.edu.tr/YENI%20TURK%20EDEBIYATI/abide_dogan_turk_tiyatrosunda_brecht_etki si.pdf. Abgerufen am 28. Mai 2013. 273 9.9 Die Samahs / Semahlar590 (1978) Der Samah ist ein wichtiger Bestandteil des Cem, des alevitischen Gottesdienstes. Der rituelle Tanz wird zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ein Zeichen des geistlichen Dede zur Begleitung von Sazmusik ausgeführt. Er stellt eine religiöse Zeremonie dar, in der Frauen und Männer gleichberechtigt in einem Versammlungshaus (Cemevi) zur Rezitation von Gedichten, dem Singen von Liedern und zum Tanz zusammenkommen.591 Ruhi Su stellt fest: Der Samah ist eine der zwölf Pflichten innerhalb des Cem. Die im Samah zu volkstümlichen Liedern tanzenden und sich drehenden Männer und Frauen geraten in eine Offenheit zum Leben, in der die Liebe zu Gott, dem Kosmos und den Mitmenschen zu einem Höhepunkt kommt. Die Begleitmusik stammt von der Saz. Bei den Mevlevis gerät dieser Höhepunkt zu einer verinnerlichten mystischen Trance, außerdem tanzen die Männer schweigend, die Musik stammt aus der Traditionellen Kunstmusik und wird von einem Orchester gespielt. Der Samah wird bei den Tanzenden Derwischen von Konya als “Semâ” bezeichnet. Darin ist nur der Tanz von Bedeutung. Es gibt keinen Text im Sinne der Türkü, sondern nur eine kleine Stelle (Naat), an der eine Anspielung auf die Taten Mohammed erfolgt. Die Taten Mohammeds werden damit gepriesen.592 Ruhi Su war, wie schon erwähnt, der erste Künstler in der Türkei, der der alevitischen Musik das Tor zur Öffentlichkeit geöffnet hat. Er hat den Mut bewiesen, Lieder alevitischer Volksdichter wie Pir Sultan Abdal oder Ali İzzet zu singen in einer Zeit, in der schon das Wort “Alevit” nicht in den Mund genommen werden durfte. Er hat nicht nur ihre Musik neu interpretiert, sondern hat auch ihre Inhalte an die Öffentlichkeit gebracht, um für ein besseres Verständnis unter Andersgläubigen zu sorgen. Der Überlieferung nach liegt der Ursprung der Samah in der Zusammenkunft des Propheten Mohammed mit dem Rat der Vierziger. Als Mohammed von seiner Himmelsfahrt zurückkommt, klopft er an eine Tür. Zunächst öffnet man ihm nicht und

590 Zu diesem Kapitel gehören noch folgende nicht behandelte und an den jeweils angegebenen Kapitel behandelte Lieder: „Steh auf, mein Herz, lass uns ins Vergnügen stürzen“ (Kalk Gönül Çıkalım Seyrana Doğru); „Unsere Herren weinen über die vielfarbige Rose“ (Beylerimiz Elvan Gülün Üstüne ağlar); „Wäre ich zu seiner Quelle hinaufgestiegen“ (Çıka idim Pınarının Başına); „Klagelied“(Ağıt); „Einheit 1“ (Tevhit 1); „Ratschläge” (Öğütler,siehe oben 6.1.1); „Einheit 2“ (Tevhit 2, siehe oben Kap. 6.7.5); „Die Weggefährten, die mich bedrängten, während ich schlief“ (Uyurken Üstüme Gelen Yoldaşlar, siehe oben Kap. 2.5.1) und „Fürbitte“ (Gülbenk, siehe oben Kap. 6.7.6). 591 Literatur zu Samah siehe ONATÇA, Neşe Ayışıt: Alevi Bektaşi Kültüründe Kırklar Semahı (2007); ERSEVEN, İlhan Cem: Alevilerde Semah (1996); BOZKURT, Fuat: Semahlar (2000) sowie TANSES, Hamdi: Ozanların Dili, Notalarıyla Deyişler, Nefesler, Semahlar (2000). 592 Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit Atilla Özkırımlı: Ruhi Su ile „Semahlar” Üzerine Söyleşi, Cumhuriyet (25. Nov. 1978). In : SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 130-132. 274 weist ihn ab, weil er sich als Propheten ausgibt. Er klopft erneut und gibt sich nun als einen einfachen Menschen zu erkennen. Daraufhin wird ihm die Tür geöffnet, weil er sich nunmehr zu seinesgleichen bekennt. Die Menschen im Raum stellen sich als Rat der Vierziger vor. Dieser besteht aus siebzehn Frauen und zweiundzwanzig Männern. Mohammed sieht jedoch, dass eine Person fehlt und fragt, wo denn die vierzigste Person sei. Daraufhin wird ihm geantwortet, dass Salmān, der Perser (Salmān al-Fārisī), zwar unterwegs sei, aber allzeit bereit sei, zurückzukommen. Mohammed möchte einen Beweis sehen. Ali, der Schwiegersohn Mohammeds, streckt seinen Arm aus, und eine Person schneidet ihm in den Arm. Als er zu bluten beginnt, blutet ebenfalls allen anderen Mitgliedern der Arm, auch Salmān al-Fārisī, dessen Blut durch das Fenster in die Mitte des Raumes tropft. Schließlich wird der Arm Alis verbunden. Gleichzeitig hört die Blutung bei allen anderen auf, selbst bei Salmān al-Fārisī, der in dem Moment durch die Tür hereinkommt. Nun erfolgt die Prüfung von der anderen Seite. Mohammed, der sich als Diener der Armen (ËÁdimÙl FÙqÁra), ausgibt, soll eine einzige Weintraube, die von Salmān mitgebracht wurde, unter die vierzig Mitglieder des Rates aufteilen. Gott eilt ihm zur Hilfe. Mohammed presst die Weintraube aus und teilt ihren Saft unter dem Rat auf. Diese trinken und werden trunken vor Freude. Sie erheben sich und tanzen den Samah.593 Der alevitische Kulturverein in Bochum beruft sich auf weitere Quellen und schreibt auf seiner Homepage der Samah sei „ein Relikt aus voralevitischen, schamanistischen Religionen, die von den Aleviten in den Frühislam eingebettet wurden“594 Wo immer der Ursprung des Samahs auch liegen mag, er war für Ruhi Su von großer Bedeutung. Er wollte sich mit den Aleviten solidarisieren und Verfolgung und Erniedrigung mit ihnen teilen. Darüber hinaus interessierte er sich für den Samah, weil dieser tanzend und vor allem singend vollzogen wurde. Wie Ruhi Su selbst sagte, waren für ihn die Samah-Lieder ein wichtiger Bestandteil in seinem Lebenswerk der

593 Vgl. ZELYUT, Rıza: Aleviler ne yapmalı? (1993): 194-198 sowie KALELİ, Lütfi: Alevilik Aklidir, Ahlâki ve İnsanidir (2004): 21-24. Eine knappe Kommentierung erscheint notwendig. Erstens, die Zahl der siebzehn Frauen im Rat der Vierziger ist bedeutsam groß und in einer islamischen Gesellschaft nicht ohne weiteres zu erwarten. Zweitens, die Gestalt Muhammeds muss erst ihres Prophetentums entkleidet werden, bevor er aufgenommen wird. Nur als Helfer der Armen ist er willkommen. Die Vierziger (Kırklar) kommen auch bei Sabahattin Eyuboğlu vor. Dort erscheinen sie als Derwische. Siehe EYUBOĞLU, Sabahattin: Yunus Emre (1981): 45-46. 594 Siehe Der Semah. In: http://www.alevi- bochum.de/index.php?option=com_content&view=article&id=55&Itemid=87. Abgerufen am 10.07.2009. Weiterführend siehe ERSEVEN, İlhan Cem: Alevilerde Semah (1996): 19-20 sowie EROĞLU, Musa : Halk Müziği ve Halk Kültürü Üzerine . In: AYDIN, Ayhan: Alevilik Bektaşilik Söyleşileri (1997): 291- 292. 275 “Volksklassiker”. Er erkannte, dass der Samah eine Struktur und einen in sich geschlossenen und vollkommenen Aufbau hat und widmete ihm ein Album mit gleichem Titel. Der Samah folgt nämlich bestimmten Regeln und einer stringenten Regelmäßigkeit. Mit den Türküs innerhalb des Samahs gibt man Anleitungen für das Leben und ruft zur Einigkeit auf. Am Ende wird immer zum Gebet aufgefordert, in dem man für die Zukunft Glück und Frieden wünscht. Darüber hinaus erkannte und schätzte Ruhi Su auch die laizistischen Komponenten der alevitischen Musik.595 Neben der spirituellen Kraft des Samah ist seine Bedeutung im gesellschaftlichen Miteinander sehr groß. Die alevitische Gesellschaft musste jahrhundertelang gegen Unterdrückung und Diskriminierung ankämpfen, sodass ihr Zusammenhalt ungewöhnlich stark ist. Der Samah ist für sie eine Möglichkeit negative Gefühle wie Wut und Trauer zu artikulieren als auch Wünsche und Vorstellungen von einer besseren und gerechteren Zukunft. Ruhi Su gibt durch eine eigene Anordnung den Texten seinen eigenen Sinn. So eröffnet das Gebet „Dein Bild ist immer in meinem Sinn“ (Daima Fikrimde Zikrin) das Album, und damit sozusagen den Samah.

595 Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit Atilla Özkırımlı: Ruhi Su ile „Semahlar” Üzerine Söyleşi, Cumhuriyet (25. Nov. 1978). In : SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 131. 276 9.9.1 „Dein Bild ist immer in meinem Sinn“ „Daima Fikrimde Zikrin“ Dein Bild ist immer in meinem Sinn, Daima fikrimde zikrin, O Mohammed, O Ali! Ya Muhammed, ya Ali! Dein Lobpreis ist in meinem Herz, Gönlümün evinde şükrün, O Mohammed, O Ali! Ya Muhammed, ya Ali! Man kennt sich selbst nicht, Tanıyamaz kendi özün, Wenn man dir nicht nahe steht. Seni yakın bilmeyen. Du bist der Spiegel des Kosmos, Alemin ayinesisin, O Mohammed, O Ali! Ya Muhammed , ya Ali Hatayi

9.9.2 „Der Ruf des heiligen Şah“ „Hazreti Şah’ın Avazı“ Der Schrei des heiligen Şah Hazreti Şah’ın avazı Steckt in einem Vogel namens Kranich, Turna derler bir kuştadır. Sein Stab steckt im Nil, Asası Nil deryasında, Sein Gewand trägt ein Derwisch. Hırkası bir derviştedir.

Wo ist mein Pir Sultan wo? Nerde Pir Sultan’ım nerde? Unser Selbst hängt am Galgen. Özümüz asılı darda. Dort weit weg hintern Jemen Yemen’den öte bir yerde Ist Düldül immer noch im Kampf. Daha Düldül savaştadır. Pir Sultan Abdal

Für die Aleviten nimmt Ali, den Pir Sultan Abdal hier den heiligen Şah nennt, verschiedene Gestalten an. Er verkörpert ebenso den Vogel „Sehnsucht“, den Kranich, wie auch den Propheten Moses, der aus dem Nil geborgen wurde. Tod und Kampf geht für sie weiter: Alis Pferd „Düldül“ streitet immer noch.

277 9.9.3 „Samah Ali Nur“ „Ali Nur Semahı“ Ali ist ein Licht, Ali ist Licht, Ali nurdur, Ali nur, Mohammed ist Licht, Ali Licht. Muhammed nur, Ali nur.

Seit so vielen Jahren, so vielen Jahren, Bunca yıldır, bunca yıl, ist Mohammed Licht, ist Ali Licht, Muhammed nur, Ali nur.

Wird unser Volk erwachen? Uyanır mı halkımız? Es ist so, es bleibt so! Böyle dur ha, böyle dur!

Hey Schwestern, Schwestern; Ey bacılar, bacılar, Sind die Schmerzen nicht genug? Yetmez mi bu acılar?

Wer Kummer bereitet, gibt das Heilmittel nicht. Derdi veren derman vermez. Hofft es nicht Schwestern! Beklemeyin bacılar. Ruhi Su

Ruhi Sus Gedicht geht die Frage an, von wem ein Ende des Leids kommt. Natürlich haben die großen Gestalten der Aleviten seit fast unzählbaren Jahren Licht, das heißt hier: Erleuchtung, gespendet. Radikal geändert hat sich nichts. Sehr bezeichnend ist, dass Ruhi Su die Frauen, und nicht die Männer, zum eigenständigen Tun aufruft; auf Hilfe von außen dürften sie nicht hoffen.

278 9.9.4 „Der errichtete Pfahl ist auf dieser Welt” Der errichtete Pfahl ist auf dieser Welt. Schmerzt das Herz, wenn die Lebenskraft abhanden kommt? Liebster Ali, liebster Ali, schmerzt das Herz? Wer hat dieses System aufgebaut, lass es uns wissen. Sprich, Liebster, sprich, die Freunde sollen es hören. Pir Sultan Abdal

„Dünyanın Üzerinde Kurulu Direk” Dünyanın üzerinde kurulu direk. Emek zay'olmadan sızlar mı yürek? Ali yâr, Ali yâr, sızlar mı yürek? Bu düzeni kim kurmuş, bizler de bilek. Söyle canım söyle, dinlesin canlar. Pir Sultan Abdal

Ruhi Su hat von einigen der sieben Dichter, die für die Aleviten heilig sind, Texte und Musik aufgenommen und sie für diese Platte neu interpretiert. Lieder von Hatayi, Pir Sultan und Virani wurden teilweise neu formuliert. So ist der Hinweis auf das Gesellschaftssystem sicherlich modern und stammt von Ruhi Su. Er wollte mit solchen Verknüpfungen den eigenen Texten die Eigenschaft des Samahs geben. Dies geschah dadurch, dass er vorhandene aber anonyme Samahmelodien mit den eigenen Texten verband. So begab er sich selbst in die Rolle des Dede, der als gleicher seinesgleichen Ratschläge gibt.596

596 Auf diesen Text „Ratschläge” (Öğütler) wird oben im Kap. 6.1.1 ausführlich eingegangen.

279 9.9.5 „Frauen aus Mürselek” „Mürselekli Kadınlar” Ruhi Su hat neben den Texten der für die Aleviten heiligen Dichter auch die der zeitgenössischen Dichter verwendet. Das Gedicht des Dorfinstitutlers Ali Yüce ist ein Beispiel dafür, dass Ruhi Su anonyme Samahmelodien einsetzte:

Wir aus Mürselek, Biz Mürselekli kadınlar, Wir Frauen aus Mürselek, Mürselekli kadınlar, Reihen nachts Hep geceleri Immer Tabak aneinander, Tütün dizerik, Reihen unsere Schmerzen an die Leine. Acılarımızı dizerik ipe. Bah, unsere Schmerzen Acılarımızı abovv ! Reihen die Dunkelheit, Karanlığı dizerik, Bah die Dunkelheit. Karanlığı abovv!

Wir reißen die Wurzel aus, die Wurzel, Kök sökerik, kök, In unserem Tageslicht, Gündüzlerimizde, In den Nächten die Kohle Geceleri kömür, Wir verbrennen die Kohle, Kömür yakarık, Wir verbrennen die Dunkelheit, Karanlığı yakarık, Bah, die Dunkelheit. Karanlığı abovv! Unsere Bäume bekommen Angst, Ağaçlarımız ürker, Angst vor der Nacht. Ürker geceden, Bah, wir haben keine Angst . Biz ürkmezik abovv!

Wir aus Mürselek, Biz Mürselekli, Wir Frauen aus Mürselek, Mürselekli kadınlar, Wir hacken mit der Hacke, Kazma kazarık, Wir pflügen auch, Çüt de sürerik, Wir pflanzen die Müdigkeit, Yorgunluk ekerik, Die Müdigkeit in den Boden. Yorgunluk toprağa. Mit tosendem Lärm Gürültüye bata çıka Fliegt über uns ein Flugzeug, Bir uçak geçer, Fliegt über uns, Geçer üstümüzden,

280 Es kann uns nicht hören, Duyamaz bizi o, Bah, es kann uns nicht hören. Duyamaz abovv!

Wir aus Mürselek, Biz Mürselekli, Wir Frauen aus Mürselek, Mürselekli kadınlar, Auch wir leben, Biz de yaşarık, Bah, leben auch. Yaşarık abovv! Wir werden zur Braut und Gelin olur gider Bauen ein neues Heim auf, Evler döşerik, Bah, wir bauen auf. Döşerik abovv!

Mein Ali Yüce brennt Yanar Ali Yüce’m, Brennt und erleuchtet, Yanar ışıtır, Bah, erleuchtet. Işıtır abovv! Ali Yüce

Ruhi Su hat nie die zeitgenössischen Probleme der Menschen aus den Augen verloren, vor allem nicht die der Frauen. Im obigen Gedicht beschreibt er die Arbeit der anatolischen Frauen, die den Großteil der familiären Last tragen müssen. Neben der Arbeit im Haus und der Erziehung der Kinder leisten sie für den Lebensunterhalt auch schwere Feldarbeit. Die Frauen beklagen ihr Los, jedoch die Klage bringt ihnen nicht viel. Ruhi Su kritisiert indirekt die Männner. Seine Nähe zum Volk zeigt seine starke Sensibilität für die Probleme und Missstände auf dem Lande. Es ist ein wichtiger Bestandteil der Schallplatte, dass er sie mit einer “Fürbitte” (Gülbenk) 597 beendet, wie sie für den Samah charakteristisch ist. Sehr menschlich ist auch, dass er seinem Freund Ali Yüce in den letzten drei Zeilen ein geradezu mystisches Lob zollt.

597 Siehe oben Kap. 6.7.6. 281 9.10 Kinder, Migrationen, Fische / Çocuklar, Göçler, Balıklar (1979)598 In diesem Album singt Ruhi Su von den in dem Titel angesprochenen drei Themenkreisen. Von Kindern und Fischen handelt die folgende Auswahl; Texte über die Migration werden ausgespart, beziehungsweise nur kurz erwähnt. So erzählt das Gedicht von Dedemoğlu mit dem Titel „Migration” (Göç) von der Immigration der Türken aus Horasan, dem heutigen Iran, nach Anatolien: „Die Silberkanne” (Gümüş İbrik) von Aşık Garip beklagt das Leid der Menschen, die nach der Immigration in die Hände eines Ungerechten gefallen sind. Das Gedicht „Ansiedlung” (İskân) von Dadaloğlu erzählt von der Zwangsansiedlung eines türkischen Stammes durch die Osmanen und dem heroischen Widerstand dieses Stammes. Am Ende des Albums geht Ruhi Su nochmals auf die anfängliche Thematik der Lieder über Kinder ein. Ruhi Su beginnt das Album mit dem Lied „Eingangsformel” (Tekerleme) eines anonymen Verfasser, dass aus dem Privatarchiv Oğuz Tansels stammt. Er will auf den folgenden Text von Nâzım Hikmet mit dem Titel „Märchen aller Märchen” (Masalların Masalı) vorbereiten:

598 Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder: „Sie steckten uns hinter Gitter (Şebekeye Uğrattılar Yolumuz); „Wiegenlied-Merhaba Baby Dursun (Ninni-Merhaba Dursun Bebek), welches Ruhi Su auch auf der Schallplatte „Gedichte Lieder“ (Şiirler Türküler) sang.

282 9.10.1 „Eingangsformel” „Tekerleme” Wo kommst du her? Nerden gelirsin? Aus der Zick-Zack-Burg. Zikzak kalesinden. Warum gehst du umher? Ne gezersin? Wegen der Hungerplage. Açlık belasından. Wo schliefst du? Nerde yattın? Im Hofe des Herren. Beyin konağında. Was legte man dir als Unterlage? Altına ne serdiler? Ein Laken. Perde. Also auf dem harten Boden. Desene kupkuru yerde. Warum ist an deinem Schnurrbart Fett? Bıyıkların neden yağ oldu? Habe Wachtelfleisch gegessen. Bıldırcın eti yedim. War die Wachtel fett? Bıldırcın yağlı mıydı? Habe sie beim Fliegen gesehen. Gökte uçarken gördüm. Warum sind deine Haare grau geworden? Saçların neden ağardı? Kam von der Mühle. Değirmenden geldim. Dreht sich die Mühle? Değirmen dönüyor mu? Habe ihr Knarren gehört. Zımbırtısını duydum. Wie sind deine Füße nass geworden? Ayakların neden ıslandı? Ich bin durch den Bach gelaufen. Çaydan geçtim. War der Bach tief? Çay derin miydi? Ich bin über die Brücke gegangen. Köprüyü dolaştım. Und so kam und erreichte ich dich. İşte geldim sana ulaştım.

Aus dem Privatarchiv Oğuz Tansels

„Eingangsformel” (Tekerleme) soll eigentlich der Aufheiterung des Zuhörers oder Lesers dienen. Jedoch waren Eingangsformeln für Ruhi Su auch eine Möglichkeit, auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Oben ist von Hunger und Leid die Rede, indem jemand nach seiner Vorgeschichte von jemand anderem gefragt wird. Die Antworten sind so strukturiert, dass jede positive Aussage von einer folgenden untergraben wird. In Wirklichkeit muss er überall gegen Probleme und Hindernisse kämpfen. Obwohl er vor der Hungersnot flüchtet, ereilt ihn diese immer dort, wo er zur

283 Zeit verweilt. Er will auf zweifache Art sowohl komisch als auch ernsthaft wirken. Obwohl er vorgibt, auf einem Laken im Hofe des Herren geschlafen zu haben und obwohl das köstliche Fett der Wachteln noch in seinem Schnurrbart klebt, sind diese Behauptungen nichts als pure Ironie: es ist nie so gewesen. Dieser Misere entkommt er erst am Ende mit Hilfe der Brücke.

284 9.10.2 „Das Märchen aller Märchen”599 Wir stehen vor dem Wasser, Die Platane und ich. Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten, Die der Platane und meine. Das Glitzern des Wassers trifft uns, Die Platane und mich.

Wir stehen vor dem Wasser, die Platane, ich und die Katze. Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten, Die der Platane, meine und die der Katze. Das Glitzern des Wassers trifft uns, Die Platane, mich und die Katze.

Wir stehen vor dem Wasser, Die Platane, ich, die Katze und die Sonne. Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten, Die der Platane, meine, die der Katze und die der Sonne. Das Glitzern des Wassers trifft uns, Die Platane, mich, die Katze und die Sonne.

Wir stehen vor dem Wasser, Die Platane, ich, die Katze und die Sonne Und unser Leben. Im Wasser spiegeln sich unsere Silhouetten, Die der Platane, meine, die der Katze, die der Sonne Und die unseres Lebens. Das Glitzern des Wassers trifft uns, Die Platane, mich, die Katze, die Sonne Und unser Leben.

599 Vgl. ferner die Übersetzung von Annemarie Bostroem. In: HİKMET, Nâzım: Ich liebe mein Land, (ohne Erscheinungsjahr): 174-175. 285 Wir stehen vor dem Wasser, Erst wird die Katze gehen, Und ihre Silhouette im Wasser verschwinden. Danach werde ich gehen, Und meine Silhouette im Wasser verschwinden. Danach wird die Platane gehen, Und ihre Silhouette im Wasser verschwinden. Danach wird das Wasser gehen, Die Sonne wird bleiben, Danach geht sie auch.

Wir stehen vor dem Wasser. Das Wasser ist kühl, Die Platane ist riesengroß, Ich schreibe ein Gedicht, Die Katze schlummert, Die Sonne ist heiß, Gott sei Dank, wir leben. Das Glitzern des Wassers trifft uns, Die Platane, mich, die Katze, die Sonne Und unser Leben. Nâzım Hikmet

286 „Masalların Masalı” Su başında durmuşuz, çınarla ben. Suda suretimiz çıkıyor, çınarla benim. Suyun şavkı vuruyor bize, çınarla bana.

Su başında durmuşuz, çınarla ben, bir de kedi. Suda suretimiz çıkıyor, çınarla benim, bir de kedinin. Suyun şavkı vuruyor bize, çınara, bana, bir de kediye.

Su başında durmuşuz, çınar, ben, kedi, bir de güneş. Suda suretimiz çıkıyor, çınarın, benim, kedinin, bir de güneşin. Suyun şavkı vuruyor bize, çınara, bana, kediye, bir de güneşe.

Su başında durmuşuz, çınar, ben, kedi, güneş, bir de ömrümüz. Suda suretimiz çıkıyor, çınarın, benim, kedinin, güneşin, bir de ömrümüzün. Suyun şavkı vuruyor bize, çınara, bana, kediye, güneşe, bir de ömrümüze.

287 Su başında durmuşuz. Önce kedi gidecek, kaybolacak suda sureti. Sonra ben gideceğim, kaybolacak suda suretim. Sonra çınar gidecek, kaybolacak suda sureti. Sonra su gidecek, güneş kalacak, sonra o da gidecek.

Su başında durmuşuz. Su serin, çınar ulu. Ben şiir yazıyorum, kedi uyukluyor, güneş sıcak, çok şükür yaşıyoruz. Suyun şavkı vuruyor bize, çınara, bana, kediye, güneşe bir de ömrümüze. Nâzım Hikmet

Nâzım Hikmet philosophiert in diesem Gedicht über die schönen und zugleich einfachen Dinge des Lebens, welche Glück bedeuten können. Das Gedicht handelt von belebten und unbelebten Schöpfungen der Natur wie Wasser, Bäume, Tier und Mensch. In dem Gedicht haben alle diese ein Leben und sind einander ebenbürtig. Bäume, Tiere, Mensch und Sonne stehen einem Spiegel, dem Wasser gegenüber. Sie betrachten das Wasser schweigend und es scheint sich zu nähern und ihnen Glanz zu verleihen. Es scheint sogar, dass wie in einem Märchen die Betrachter sich wiedererkennen. Das „Märchen aller Märchen” (Masalların Masalı) zeigt eine stille und geradezu bewegungslose Natur. Die Teilnehmer, mit Ausnahme des Wassers, kommen nicht heran, sie stehen einfach da. Was das Märchen vor der Deutung als eines übergroßen Stilllebens bewahrt, ist, dass ab der vierten Strophe Leben in es eintritt, Tätigkeiten ermöglicht und

288 so große Bedeutung gewinnt, dass der Lyriker den Ausruf tut: „Gott sei Dank, wir leben!” Formal weitet sich das Gedicht zunächst aus, indem die Glieder sich vermehren, und dann wieder schwinden. Die letzte Strophe spiegelt eine große und allgemeine Ruhe, welche auch alles Lebendige, Bäume, Tiere und Menschen, umfaßt. Es bleibt ein Gefühl der gottverdankten Freude.

289 9.10.3 „Hätte ich doch bloß nur einen Sohn” Hätte ich doch bloß nur einen Sohn, der zum Lehrer geht Und übend das Schreiben und Lesen erlernt. Kämen doch nur Boten zu uns nach Hause.

Was soll ich mit meinen Armen, was soll ich mit ihnen? Was soll ich mit einer Zunge, die keine Wiegenlieder singt?

Käme doch nur ein Siebmacher, damit ich mir ein Sieb kaufe, Damit ich schüttelnd und rüttelnd Erde siebe, Und sie in Baumwolle, Stoffe und Laken wickle.

Was soll ich mit meinen Armen, was soll ich mit ihnen? Was soll ich mit einer Zunge, die keine Wiegenlieder singt?

Die Mutterziege kommt und verlangt nach ihrem Zicklein, Allmächtiger Gott, gib uns auch einen Sprössling! Seht es uns nach, Freunde, wenn wir ohne einen Sprössling von dannen gehen.

Was soll ich mit meinen Armen, was soll ich mit ihnen? Was soll ich mit einer Zunge, die keine Wiegenlieder singt? Volkslied

290 „Bir Oğlum Olsa” Bir oğlum olsa da gitse Hoca’ya, Okuya okuya çıksa da heceye. Muştucular gelse bizim bacıya.

Neyleyim neyleyim, kolları neyleyim? Nenni demedik dilleri neyleyim?

Bir elekçi gelse de bir elek alsam, Sallana hulana toprak da elesem, Kutnuya kumaşa beze belesem.

Neyleyim neyleyim, kolları neyleyim? Nenni demedik dilleri neyleyim?

Gök keçi de gelmiş oğlağın ister, Kadir Mevlâm bize de bir evlât göster. Evlatsız göçersek kınaman dostlar.

Neyleyim neyleyim, kolları neyleyim? Nenni demedik dilleri neyleyim? Halk Türküsü

Hier ist auf einfachste und reinste Weise das grenzenlose Leid einer Frau geschildert, die kein Kind bekommt. Sie sieht in einem Leben ohne Kind, schlimmer noch: ohne Sohn, keine Bedeutung. Das Problem dieser Frau spiegelt zugleich die Tatsache, dass eine Frau Wertschätzung in der anatolischen Gesellschaft nur durch einen eigenen Sohn erringen kann. Die Frau hat als menschliches Wesen wenig eigenen Wert und auch nur schwer Zugang zu Bildung und Nachbarn. Selbst die Ziege lebt erfüllter. Für Ruhi Su steht hier aber sicher das Leid der Frau im Vordergrund.

291 9.10.4 „Dummes Lied” „Aptal Şarkı” Mutter, Mutter, Ana ana, Ich möchte Silber werden. gümüş olmak istiyorum. Sohn, Sohn, Oğul oğul, Dann wirst Du frieren. çok üşürsün sonra.

Mutter, Mutter, Ana ana, Ich möchte Wasser werden. Su olmak istiyorum. Sohn, Sohn, Oğul oğul, Dann wirst Du frieren. çok üşürsün sonra.

Mutter, Mutter, Ana ana, Sticke mich in Dein Kissen. yastığına işle beni. Sohn, Sohn, Oğul oğul, Gut, sofort jetzt. olur hemen şimdi.

Federico Garcia Lorca Übersetzung ins Türkische: Said Maden

Hier ist von der übertriebenen Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn die Rede, die ihm fürsorgliche und hingebungsvolle Ratschläge gibt. Weil sie den Sohn für sich behalten will, sind diese Ratschläge zugleich eine Behinderung des Sohnes in der Auseinandersetzung mit der rauhen Wirklichkeit. Die Wünsche des Sohnes sind märchenhaft. Was will er denn: Zu Silber werden, zu Wasser, zu einen bestickten Kissen. Dies alles ist in der realen Welt nicht möglich, doch die letzte Strophe offenbart eine übermässige Beflissenheit der Mutter. Das Gedicht deutet sowohl die Sehnsucht des Sohnes nach Mutterliebe und zugleich Kritik am Egoismus der Frau an.

292 9.10.5 „Das kleine tote Mädchen“ 600 „Kız Çocuğu“ Ich klopfe an die Türen an, Kapıları çalan benim, An allen Türen nacheinander. – kapıları birer birer. Doch kann mich keiner sehen; Gözünüze görünemem, denn die Toten sind unsichtbar. göze görünmez ölüler.

Seitdem ich in Hiroshima starb, Hiroşima’da öleli, Ist es zehn Jahre her. oluyur bir on yıl kadar. Ich bin ein Mädchen von sieben Jahren, Yedi yaşında bir kızım, Tote Kinder wachsen nicht mehr. büyümez ölü çocuklar.

Zuerst fing mein Haar Feuer, Saçlarım tutuştu önce, Dann sind mir die Augen verbrannt, gözlerim yandı kavruldu. Ich bin zu einer Handvoll Asche geworden, Bir avuç kül oluverdim, Die in die Luft gestiegen ist. külüm havaya savruldu.

Ich möchte nichts von euch, Benim sizden kendim için, Nichts, gar nichts, möchte ich. hiçbir şey istediğim yok. Selbst Bonbons ißt es nicht mehr, Şeker bile yiyemez ki, Das wie Papier brennende Kind. kâât gibi yanan çocuk

Ich klopfe an eure Türen, Çalıyorum kapınızı, Tante, Onkel gebt mir eure Unterschrift teyze, amca bir imza ver. Dass nie mehr Kinder getötet werden, Çocuklar öldürülmesin, Und dass sie Bonbons essen können. şeker de yiyebilsinler . Nâzım Hikmet / Übersetzer nicht angegeben

In dem Gedicht spricht die Leiche eines jungen Mädchen, das nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima von ihrem unvollendeten Leben berichtet. Selbst ihre kindlichen Freuden hat sie nicht auskosten können. Die Schrecklichkeit wächst von

600 Türkenzentrum Berlin (Hrsg.): Nâzım Hikmet (1982): 241. Der Text wurde vom Verfasser leicht bearbeitet und folgt in Groß-und Kleinschreibung sowie im Zeilenumbruch der türkischen Vorlage.

293 Strophe zu Strophe. Die Intention Hikmets ist jedoch, dass solcher Schrecken einer explodierenden Atombombe nie mehr wiederkehrt. Er lässt daher die Seele des Kindes einen moralischen Aufruf an die Erwachsenen machen, indem sie sich eine Unterschriftenliste anschließen. Gespenstig bleibt dennoch, dass niemand die kleine Bittstellerin sehen kann.

294 9.10.6 „Glasauge” Ruhi Su hat, wie er selbst angibt, das Gedicht „Glasauge” (Camgöz) aus Aziz Nesins Buch “Märchen für Erwachsene” entnommen.601 Zunächst hat das Gedicht einen humoristischen Ton, der jedoch einen ernsthaften Sinn nicht verbirgt. Es geht um die Gefahr, welche der erfundene Räuber Glasaugenfisch für die Sardinen darstellt. Wenn diese zusammenhalten, sind sie, auch bei einem Opfer der Schuppen, sicher, und der Räuber wird selbst zur Beute der Fischer. Es ist von Einheit die Rede, durch die man fast unschlagbar wird. Auch gegen einen vermeintlich starken und übermächtigen Gegner gibt es ein Mittel, nämlich den Zusammenhalt.

Kommen wir nun zu der Geschichte der Fische. Kennt ihr den Glasaugenfisch? Ein kleines Seeungeheuer, etwas kleiner als der weiße Hai. Sardinen soll er lieben. Die Sardinen merken das Nähern des Glasauges, sei es Durch seinen Geruch, sei es durch die Bewegung des Wassers. Sie kommen sofort zusammen und Bilden nebeneinander und Rücken an Rücken eine Wand. Wenn das Glasauge schleichend näher und näher kommt, Schütteln die Sardinen plötzlich ihre Schuppen ab Und schwimmen davon. Wenn dann die Schuppen auf der Wasseroberfläche schimmern, “Hier gibt es ein Glasauge,” sagen die Fischer und werfen ihreNetze aus.

Aziz Nesin

601 SU, Ruhi: Auf der inneren Seite der Hülle der Schallplatte “Kinder, Migrationen, Fische” (Çocuklar, Göçler, Balıklar, 1979). 295 „Camgöz” Gelelim balıkların öyküsüne, Camgöz balığını bilir misiniz? Köpek balığından biraz küçük bir deniz canavarı. Sardalya balıklarına bayılırmış. Sardalya balıkları, camgözün yaklaşmakta olduğunu Kokusundan mı, denizin kıpırtısından mı nasılsa anlarlar, Hemen bir araya gelir, birleşir,yanyana, sırtsırta bir duvar oluştururlarmış. Camgöz gelir gelir gelir, iyice sokuldumu, Sardalya balıkları birden Pullarını silkeleyip kaçarlarmış. Sonra bu pullar denizin üzerinde pırıldamaya başladımı Balıkçılar, „burada camgöz var” deyip, Ağlarını atar, kazıklarını çakarlarmış. Aziz Nesin

296 9.10.7 „Fischsprache” Dies ist die Geschichte eines Schwertfisches. Sie hätte nicht unbedingt niedergeschrieben werden müssen. Der Strom ist versiegt, der uns in neue Gewässer bringen sollte. Wir gingen auf Makrelenjagd. Ich war auch in dem Schwarm, Auf meinem Rücken war die Wunde einer Harpune. Ich war eigentlich glücklich, Ich weiß nicht warum, Die Rufe “Vorsicht, Netze” gingen mir nicht aus den Ohren.

Die Meerjungfrau bleibt in meinem Sinn, Ich werde einfach nicht vernünftig. Nur der Thunfisch kann Herr der Fangnetze werden. Wenn das Fangnetz enger wird, gebe ich schnell auf, Selbst ein Kind könnte mich in das Boot ziehen, Wäre ich nicht so schwer. Lebensfreude macht mich so beweglich, Entlang den Kanal, zur einen Seite und dann wieder zur anderen. Oh ihr lieblichen Meereslämmchen! Ich durchschnitt mit meinem Schwert die Dunkelheit der Tiefe, Das Meeresleuchten, das ich aufscheinen ließ,

Oh, alles, was geschieht, geschieht in mondlosen Nächten. Auf meinem Rücken ist die Wunde einer Harpune, Werft mich in ein violettes Boot und bringt mich fort, Kummer liegt in meinen großen Augen, Schwermut in meinem Schwert. Verkauft mich, verkauft mich! Trinkt Raki! Halim Şefik Güzelson

297 „Balık Ağzı” Bu bir kılıçbalığının öyküsü. Yazılmasa da olurdu. Ama bizi yeni sulara götürecek akıntı durdu. Uskumrunun arkasından gidiyorduk. Sürünün içinde ben de vardım, Sırtımda bir zıpkın yarası. Mutlu olmasına mutluydum, Nedense gitmiyordu Kulağımdan, bir türlü o "ağ var" sesleri

Deniz kızı girmiş düşünceme, Ben iflâh olmam. Dalyanları birbirine katmak orkinosların harcı. Dolanınca ağa, çok geçmeden küserim. Bir çocuk bile çeker sandala beni, Bu kadar ağır olmasam. Beni böyle koşturan yaşama sevinci. Kanal boyunca, bir o yana bir bu yana. Siz yok musunuz siz, derya kuzuları! Kestim kılıcımla karanlığını dibin, Yakamoz içinde bıraktım suları.

Ah aysız gecelerde olur ne olursa. Sırtımda bir zıpkın yarası, Atın beni mor kuşaklı bir takaya götürün. İri gözlerimde keder, Kılıcımda hüzün. Satın beni, satın beni! Rakı için! Halim Şefik Güzelson

298 Die sowohl märchenhafte wie mythologische Metaphorik dieses Gedichtes spielt auf ein Lebensgefühl an. Der Schwertfisch genießt sein Element, das Wasser, er ist aber auch ständig von Stärkeren bedroht und trägt eine schwere Wunde, wie er auch der Anziehungskraft der Sirene ausgeliefert ist. Der Ton des Gedichtes wird immer dunkler und todeserfüllter und endet in einer gewissen Schicksalsergebenheit, der nur noch die letzte Aufforderung “Trinkt Raki!” entgegen steht.

299 9.10.8 „Säugling” (Wiegenlied) „Bebek” (Ninni) Ich habe Kamel an Kamel gebunden, Deveyi deveye çattım, Nenni nenni nenni nenni oy, Nenni nenni nenni nenni oy, Ich warf ihnen ein Halfterseil um den Hals, Çılbırın boynuna attım, Nenni de nenni de nenni de nenni. Nenni de nenni de nenni de nenni. Ich schäme mich vor meinem Schwiegervater, Kaynatamdan hicap ettim, Nenni nenni nenni nenni oy, Nenni nenni nenni nenni oy, Nenni mein Kleinstes, Nenni benim küçücüğüm, Nenni de nenni de nenni de nenni. Nenni de nenni de nenni de nenni.

Steh auf mein schwarzes Kamel, steh auf, Yekin kara devem yekin, Zieh deine Glocken und Schellen an, Çanını zilini takın, Schütze mein Baby vor den Ästen, Bebeğimi daldan sakın, Nenni mein Kleinstes, Nenni benim küçücüğüm.

Die Hunde heulen in den Bergen, Köpekler dağda uluşur, Meine Schwägerin lächelt im Zelt, Eltim çadırda gülüşür, Die schwarzen Raben teilen sich das Baby, Kuzgunlar bebek üleşir, Nenni mein Kleinstes, Nenni benim küçücüğüm.

Die Felsen von Harmancık, Harmancık’ın kayaları, Die Glocken der Kühe läuten, Çan çalıyor mayaları, Taten sie denn sehr weh, oh mein Baby, Pek mi değdi a bebeğim Die Krallen des schwarzen Vogels? Karakuşun sayaları? Volkslied Halk Türküsü

Das Thema stammt aus einer Volkserzählung. Der Sohn eines Stammesführers bekommt erst acht Jahre nach seiner Hochzeit ein Kind, was seiner Frau den Spott der Schwägerin einbringt. Als das Kind ungefähr sechs Monate alt ist, zieht die Familie auf die Alm. Unterwegs bleibt die Wiege, die auf einem Kamel festgebunden ist, an einem Tannenast hängen. Niemand außer der Mutter sieht, dass die Wiege am Ast hängengeblieben ist. Sie kann aber den vor ihr gehenden Schwiegervater nicht warnen, weil sie mit ihm der Sitte nach nicht reden darf. In Anatolien gibt es nämlich einen

300 Brauch für die Schwiegertochter . Sie darf mit dem Schwiegervater, der Schwiegermutter und den Verwandten ihres Mannes nicht sprechen. Auf ihre Fragen kann sie lediglich mit dem Kopf nicken oder ihn schütteln. Man versteht das Reden der Schwiegertochter mit ihren Schwiegereltern als eine Respektlosigkeit. Sie spricht aber in aller Eile mit ihrem vorweg wandernden Mann darüber. Als beide zurückeilen, sehen sie, dass die wilden Vögel die Augen des Babys ausgekratzt haben. Daraufhin klagt die Frau über das Unglück 602. Ruhi Su will mit der Wahl dieses hochdramatischen Themas darauf hinweisen, dass nicht jeder Volksbrauch ehrwürdig und zu befolgend ist, sondern auch zur Unmenschlichkeit und Tragödie führen kann.

602 SU, Ruhi: Beiheft zu İmece Plakları II (1967): 3. 301 9.11 Die Zeybeks / Zeybekler (1980)603 „Zeybeks” (Zeybekler) ist der Titel der letzten Schallplatte, die Ruhi Su zu Lebzeiten herausgebracht hat. Der Begriff „Zeybek“ wird im Türkischen erstens für einen Tanz benutzt und zum zweiten für ein Lied. Drittens ist er der Name eines ägäischen 604 Jungens. Ruhi Su gibt, wie auf allen anderen Platten, eine Einführung. Er stellt fest, dass die Geschichte der Zeybeks mehr oder weniger unbekannt ist. Sagen und Erzählungen über sie reichen zurück bis zum Gott Dionysos, über die Ahi605 bis hin zu Jägerritualen. Die Zeybeks bezeichnen sich als eine Gemeinschaft, die ihre eigene Tradition, Kleidung und Rangordnung sowie ihren eigenen Tanz haben. Sie ist zumeist eine illegale Organisation gewesen, anfänglich vielleicht eine Zunft. Mit der Zeit ist der Zusammenschluss degeneriert. Ein Teil ist zu Banditen geworden und ein anderer, dem auch Yürük Ali Efe und Demirci Efe angehören, hat sich am Nationalen Befreiungskrieg beteiligt, der die Zeybeks legal machte. Heute dient der Zusammenschluss der Zeybeks lediglich einem folkloristischen Zweck. Dies ist im großen und ganzen alles, was einheitlich in den Quellen über ihre Vergangenheit berichtet wird. Entgegen der allgemeinen Meinung ist die Zeybektradition nicht nur an der Ägais verbreitet. Sie reicht über Eskişehir und Ankara bis nach Konya.606 Soweit Ruhi Sus Information.

603 Auf dieser Schallplatte befinden sich noch folgende nicht behandelte Lieder „Kerimoğlu“ (Kerimoğlu); „Ich fühle mich wieder fremd“ (Yine Bir Gariplik Düştü Serime); „Es regnet“ (Yağmur Yağar); „Menteschaner“ (Menteşeli); „Zeybek aus Isparta“ (Isparta Zeybeği); „Çakıcı“ (Çakıcı); „Zeybek Tanzende“ (Serenler) und „Zeybek und Yürük“ (Zeybek ile Yürük). 604 Vgl. AYVERDİ, İlhan: Misalli Büyük Türkçe Sözlük ( 2010):1386. 605 Die Ahi waren eine anatolische mittelalterliche Gemeinschaft, die sich aus Handwerkern, Gewerbetreibenden und Bauern zusammensetzte und kollektive wirtschaftliche und kulturelle Ziele verfolgte. Vgl. http// www. Kultur. gov.tr. Abgerufen am 17.Juli. 2009. 606 Vgl. SU, Ruhi : Zeybekler. In: Akdeniz Kitabevi (Hrsg.): Ruhi Su Türküleri (1997): 80. Weiterführend siehe AVCI, Ali Haydar: Zeybeklik ve Zeybekler Tarihi (2012); ÖZTÜRK, Okan Murat: Zeybek Kültürü ve Müziği (2006).

302 9.11.1 „Prolog” „Öndeyiş” Im ersten Teil der Schallplatte lässt Ruhi Su die Zeybeks selbst in einem Zwiegespräch über ihr Dasein sprechen, bevor er mit ihren Liedern beginnt. Er führt aus, dass manche über die Zeybeks sagen, sie seien die Überreste eines alten Volkes; andere, sie verdankten ihre Gründung den Seldschuken; andere wiederum, sie seien Banditen gewesen. Die Zeybeks sprechen von ihren Traditionen. Sie sind die Herren der Berge, haben Mut und Gelassenheit gegenüber dem Tod. Sie glauben an Satan als ihren Helfer und verraten damit, dass sie keine orthodoxen Muslime sein wollen. Ruhi Su urteilt im Grunde positiv über die Zeybeks: Sie haben Schrecken verbreitet, jedoch auch nachahmenswerte Spuren hinterlassen.607 Daraufhin beginnt er mit dem Prolog. Auf Fragen an die Zeybeks antwortet Ruhi Su an ihrer Stelle:

Wer ist der Herr dieser Berge? Bu dağların sahibi kim? Der Onkel. Emmi. Wer wird tapfer genannt? Yiğit kime derler? Der sein Wort hält. Sözünde durana. Wozu kommt der Mensch auf dieseWelt? İnsan bu dünyaya niçin gelir? Um zu sterben. Ölmek için. Glaubst Du an den Teufel? Şeytana inanır mısın? Er ist unser Helfer. Yardımcımızdır. Ruhi Su

607 Vgl. SU, Ruhi: Zeybekler: In: AYDOĞAN, Karabey (Hrsg): Ruhi Su Türküleri (2000): 77. 303 9.11.2 Hier werden lediglich zwei Lieder besprochen, die sich mit den Zeybeks beschäftigen. Das eine Lied handelt von Yürük Ali, einem Zeybek, der sich im Nationalen Befreiungskrieg einen Namen gemacht hatte:

608 „Yürük Ali Efe” „Yürük Ali Efe” Bist du durch Dalama gegangen, Şu Dalama’dan geçtin mi, Hast du kaltes Wasser getrunken, Soğuk sular içtin mi, Unter den jungen Kerlen, Efelerin içinde Hast du Yürük Ali erkannt? Yürük Ali’yi seçtin mi?

Hey, der junge Kerl aller Kerle, Hey gidinin efesi, Der junge Kerl aller Kerle! Efelerin efesi!

Dieser Brunnen von Dalama, Şu Dalama’nın çeşmesi, Wie schön ist es aus ihm zu trinken. Ne hoş olur içmesi. Falls du nach Yürük Ali fragst, Yürük Ali’yi sorarsan, Er ist der Auserwählte der jungen Kerle. Efelerin seçmesi.

Hey, der junge Kerl aller Kerle, Hey gidinin efesi, Der junge Kerl aller Kerle! Efelerin efesi!

Die Ärmel seiner Jacke Cepkeninin kolları, Glänzen vor Pailletten. Parıldıyor pulları. Yürük Ali kommt, Yürük de Ali geliyor, Öffnet die Wege von Aydın. Açıl Aydın yolları.

Hey, der junge Kerl aller Kerle, Hey gidinin efesi, Der junge Kerl aller Kerle! Efelerin efesi!

Man hat die Berge von Aydın durchbohrt Aydın Dağı’n oydular, Und in den Busch das Gewehr gelegt. Çalıya da martin koydular. Den Namen von Yürük Ali Yürük Ali’nin adını, In heiligen Ali umbenannt. Hazreti Ali koydular.

608 Die Zeybek wurden, wie bereits erwähnt, auch mit dem Namen „Efe“, junger Kerle aus Westanatolien, bezeichnet. 304 Hey, der junge Kerl aller Kerle, Hey gidinin efesi, Der junge Kerl aller Kerle! Efelerin efesi! Volkslied Halk Türküsü

Offensichtlich ist das Lied ein Loblied auf die Heldenrolle des Yürük Ali im Befreiungskrieg, dem sich alle Wege öffnen, als er nach Aydın kommt. Sein Gewehr wird ihm als Gabe gewidmet. Yürük Ali ist die Personifikation der Efe, der “junge Kerl” schlechthin. Auffällig ist der Teil, in dem Yürük Ali mit Ali, dem Schwiegersohn und Neffen Mohammeds, gleichgesetzt wird. Er ist für seine Anhänger so wichtig, dass sie seine Taten mit denen Alis gleichsetzen. Der im Namen Gottes kämpfende Ali ist für seine Anhänger der Löwe Gottes. Yürük Ali ist wahrscheinlich der Löwe des Volkes. Ruhi Su nimmt ein traditionelles Volkslied und verleiht ihm durch die letzte Zeile Heiliger Ali eine alevitische Note.

305 9.11.3 Der zweite Text beschäftigt sich mit İnce Mehmet, der durch den Roman „Memed, mein Falke” (İnce Memed) von Yaşar Kemal berühmt wurde. Jedoch ist der Mehmet in diesem Lied nicht der große Held, der Wagemut und Kampfeswillen zeigt, wie in Yaşar Kemals Werk. Er ist vielmehr ein hinterhältiger und verräterischer Kerl.609 Für Ruhi Su ist der Verrat der Freundschaft auch im eigenen Leben eine der bösesten Taten.610 Ruhi Su erklärt im Vorspann zu diesem Lied: In den ersten Jahren der Republik lebte, so sagt das Volk, der Räuber Koca Mustafa zwischen Kütahya und Denizli. İnce Mehmet war sein bester Freund. Dieser Koca Mustafa gerät durch Verrat Mehmets in einen Hinterhalt und wird erschossen. Das Türkü macht Mehmet durch den Mund Koca Mustafas Vorwürfe.611

612 „Mehmet, mein Falke” Was habe ich dir getan, İnce Mehmet? Ich habe dich zweimal mit dem Geld meiner Tasche verheiratet. Hätte man dich an meiner Stelle erschossen, Hätte ich aus Kummer bis zum Tode keinen Schlaf.

Die Männer mit dem Weihrauch613 kamen Schar um Schar, Oh weh, sie durchlöcherten meine Brust, Sie machten vor dem Rathaus ein Bild von mir. Lernt mich auf dem weißen Papier erkennen.

Diese Weidenbäume von Dinar, Ihre Blätter wuchsen, als wir vorbeigingen, Die Männer mit dem Weihrauch waren klein und wuchsen. Oh weh, Ince Mehmet ließ mich erschießen! (Volkslied)

609 Nach der Vermutung Boratavs hat Yaşar Kemal seinen Roman „İnce Memed“ genannt, inspiriert durch Ruhi Sus gleichnahmiges Lied, das während des Zweiten Weltkriegs durch ihn populär wurde. Siehe BORATAV, Pertev Naili: Yaşar Kemal’in Yörük Kilimindeki Nakışlar, Bilim ve Sanat (1982). In: BORATAV, Pertev Naili: Folklor ve Edebiyat 1(1982):411- 423. 610 SU, Ruhi im Gespräch mit KUTLAR, Onat: Klasik Müziğimizin En Yaygın Türü Şarkılardır , Gösteri (16. März 1982). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 164. 611 SU, Ruhi. In: AYDOĞAN, Karabey: Ruhi Su Türküleri (2000): 79. 612Diese Überschrift gehört zu Horst Wilfried Brands Übersetzung, der das Werk “İnce Memed” Yaşar Kemals ins Deutsche übersetzt hat. 613 Ruhi Su spielt mit dem Terminus Buhurcular auf ein berufssprachliches Wort der Zeybeks an, das wohl mit Leichenzeremonien zu tun haben soll. Auch in großen Wörterbüchern findet es sich nicht. 306 „İnce Mehmet” İnce Mehmet ne yaptıydım ben sana? İki kere everdiydim kesemden. Eğer yerlerime sen vurulaydın, Ölesiye yatamazdım tasamdan.

Buhurcular bölük bölük geldiler, Ak göğsümü delik delik deldiler, Konağın önünde resmim aldılar. Ak kâğıt üstünde tanıyın beni.

Şu Dinar’ın sıra sıra söğüdü, Biz geçerken yapracığı göğüdü, Buhurcular küçük idi büyüdü. İnce Mehmet eyvah vurdurdu beni. Halk Türküsü

307 9.12 Die postumen Langspielplatten, die CDs und die Musikkassetten Die oben genannten 11 Langspielplatten sowie weitere 16 45er Spielplatten machen Ruhi Sus künstlerische Leistung aus614 Sein Lebenswerk bleibt allerdings unvollendet, denn in der großen Sammlung “Album der Volksklassiker” (Halk Klasikleri Albümü) hat er den letzten Band über Dadaloğlu nicht mehr bearbeiten können. Wenn man ihn und seine Kunst kennenlernen möchte, sollte man sich jene Schallplatten anhören, die unter seiner Leitung aufgenommen wurden. Nach seinem Tod sah seine Frau Sıdıka Su die Archivierung seiner Werke als ihre Lebensaufgabe an. Für sie war es wichtig, dass sein gesamtes Lebenswerk für die nächsten Generationen bereitstehen sollte. Dennoch erntete die von ihr initiierte Aufnahme neuer CDs mit mehr oder weniger zufällig entstandenen und akustisch schlechten Aufnahmen von Liedervorträgen unter Freunden wegen der oft dilettantischen Ausführung von vielen Seiten Kritik. Auch wenn die erneute Herausgabe als Dokumentation vorbereitet wurde, wäre es besser gewesen, sie in einen thematischen Rahmen zu stellen.615 Ruhi Su war der Gedanke vollkommen fremd, die Lieder einzeln, ohne jegliche Verbindung zueinander, zu singen. Frau Sus Verdienst ist aber sicherlich, viele Lieder Ruhi Sus für die Nachwelt gerettet zu haben, deren Rohaufnahmen sonst verloren gegangen wären. Die folgenden Schallplatten, mit Ausnahme der beiden Erstgenannten, sind von Ruhi Su nicht autorisiert worden: „Singendes Herz” (Ezgili Yürek); „Von Pir Sultan bis Levni” (Pir Sultan’dan Levni’ye); „Ich war Saat und wurde gedroschen” (Ekin İdim Oldum Harman); „Das Konzert im Theater-Kadıköy I und II” (Kadıköy Tiyatrosu Konseri I ve II); „Der Gipfel des Berges Bey” (Beydağı’nın Başı); „Dadaloğlu und sein Umfeld” (Dadaloğlu ve Çevresi); „Der Phönix und die Satire” (Huma Kuşu ve Taşlamalar); „Der Fluss Sultan” (Sultan Suyu); „Konzert im Theater Dostlar” (Dostlar Tiyatrosu Konseri); „Sieh den Stein von Ankara” (Ankara’nın Taşına Bak); „Sie weckten uns, während wir schliefen” (Uyur İken Uyardılar); „Beieinander” (Barabar); „Aman Of” (Aman Of); „Ausgewählte Türküs und Türküs aus dem Gefängnis” (Seçmeler ve Hapishane Türküleri); „Sie haben meine Rose weggeworfen” (Gülüm Dermişler).616

614 Im Gespräch mit Hüseyin Erdem am 5. August 2008 in Köln erzählte dieser dem Verfasser, dass Ruhi Su nur die elf Langspielplatten als sein Werk ansieht. Die sechzehn 45er, die er zuvor herausgebracht hatte, beinhalteten Lieder, die er nachher in die Langspielplatten aufgenommen hatte. 615 Vgl. GÜNDOĞAR, Sinan: Muhalif Müzik (2005): 81. 616 Für die Texte auf dieser Schallplatten siehe AYDOĞAN, Karabey: Ruhi Su Türküleri (2000). 308 10. Ruhi Sus Gedichte617 10.1 Themen in den Gedichten Ruhi Sus Ruhi Su war ein vielseitiger Künstler, nicht nur ein Sänger, der lediglich singen wollte, sondern auch ein guter Zeichner618 und vorzüglicher Lehrer. Natürlich stand die Musik im Mittelpunkt seines Lebens. Er schrieb und komponierte Märsche und Türküs, doch verfasste er auch Gedichte, denen er keine Melodie unterlegte. Von letzteren Texten ist hier erstmals systematisierend die Rede, denn die Kritiker haben sich bisher hauptsächlich seinem musikalischen Schaffen zugewandt. Özkırımlı fragte sich immer, ob das Hören und Erleben der Schönheit seiner Türküs nicht mit seinem dichterischen Charakter zusammen hänge? Ob ein Türkü, das durch seine Saz und seine Stimme eine neue Seele bekomme, nicht mit seiner dichterischen Schöpfungskraft zu tun habe? Wie könne man sonst seine Aussage erklären, dass ein Türkü zu singen für ihn eine Ekstase sei. Er habe wenige Gedichte geschrieben. Dennoch sei es ihm gelungen, in diesen wenigen Gedichten sein ganzes Leben, seine Lebens -und Weltanschauung, seine Liebe zum Volk, seine Wertschätzung der Menschen und seine Achtung für das arbeitende Volk zum Ausdruck zu bringen. Aus diesem Grund sei es nicht falsch zu behaupten, um Ruhi Su kennenzulernen, müsse man seine Gedichte kennen.619 Was zunächst auf eine eher abstrakte Weise zu beschreiben ist, ist die thematische Eigenart der Gedichte. Der Akzent liegt daher nicht auf den Einzelanalysen, welche unten folgen, sondern auf den Komplexen, die sich mehr oder weniger deutlich durch Ruhi Sus Lyrik ziehen. Abkürzend gesagt: Es geht um seine individuelle Sinnfigur, die sich in fünf Komplexe gliedert, und denen die autobiographische Komponente fast überall sichtbar wird. Zu benennen sind diese Komplexe, die natürlich zu mehreren in einem Text auftreten können, wie folgt: (1) Krieg und Kindheit; (2) Liebe zwischen Mann und Frau sowie in der Familie zu Kindern; (3) Das türkische Land und seine Natur; (4) Politik und soziale Gerechtigkeit, bestehende Ungerechtigkeit und utopische

617 Die Übersetzung der Gedichte in diesem Kapitel stammt vom Verfasser mit Hilfe des Bandes „Ruhi Su blühte in Volksliedern“, Köln 1985, veröffentlicht vom dortigen türkischen Lehrerverein, in dem die Übersetzer nicht genannt werden. 618 Für Zeichnungen Ruhi Sus siehe AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 36-41. 619 ÖZKIRIMLI, Atilla: Ezgili Yürek ve Ruhi Su, Cumhuriyet (1. Mai. 1986). In: Ruhi Su’ya Saygı (1986): 299. 309 Aufklärung; (5) Rolle und Wert der Kunst, insbesondere der von Ruhi Su vertretenen Liedkunst. Die Gedichte folgen nach ihrem thematischen Schwerpunkt. Zu Komplex (1) ist „Die Mobilmachung“ (Seferberlik) zu zählen.

310 10.1.1 „Die Mobilmachung“ Es war das Voranschreiten mit der Waffe in der Hand, Ach, das unglückliche Los der Landwehr.

Unter den Instrumenten gibt es wie bei den Menschen einige, Die einen störenden Klang haben, Einige, die nur lallen. . Ich wurde wach von der Trommelstimme, Von der fanatischen Stimme der Trommel und der Trompete, Der Freudenbotschaft des gespannten Trommelfells. Konnte man nicht widerstehen, Weil es die Mobilmachung war.

Ich hatte nur eine Stimme. Was wäre denn, wenn ich tausend Stimmen hätte? Mit der Stimme der Kinder erschießt man niemand. Wer brachte diesen Krieg in das Weiß des Brotes?

Ich erinnere mich, als ob es jetzt wäre, Die Brote sahen aus wie neugeborene Zwillinge, Gebacken auf brennendem Heidekraut. Dieses Kraut duftete nach Honig, Uns sättigt seit eh und je das Brot, Und ich erinnere mich nun an meine Kindheit.

Ist nur die Armut von Kriegen übrig geblieben? „Mobilmachung“, sagte man, und ich war mittendrin. Eichenbrotbaum, Johannesbrot war Sirup und Honigbaum für uns, Kinder gab es entweder wenige, oder sie weinten wenig, Oder sie hatten wenig Zeit zu weinen. Die Krankheit war Fleckfieber, Das Medikament war Chinarinde. Meine Kindheit soll verschwinden und nicht zurückkommen; Ich erinnere mich an meine Kindheit.

311 „Seferberlik“620 Eli silah tutanların gidişiydi bu, Rediflerin, vay anam kur’asının.

Çalgıların da insanlar gibi Zort zort edeni var, Zom zom gideni var. Uyandım davulun bağnazlığına, Davulun, trampetin, Gerilmiş derilerin muştusuna. Seferberlikti bu, karşı durulmaz.

Bir sesim vardı benim. Bin sesim olsa n’olacak? Çocukların sesiyle adam vurulmaz. Kim getirdi bu savaşı ekmeğin beyazlığına?

Şimdilerdeki gibi anımsarım, İkiz bebeklere benzerdi ekmekler. Püren çalısında pişer, Püren balı gibi kokardı. Biz oldum olası ekmekle doyarız da Çocukluğum geldi aklıma.

Hep savaşlardan mı kaldı bu yoksulluk? Seferberlik derlerdi, ben de bulundum içinde. Pelit, ekmek ağacı, Harnup, pekmez ağacı, bal ağacıydı bizim Güney‘de. Çocuklar ya çok azdı, ya çok ağlamazdı. Ya da ağlamaya vakit kalmazdı. Hastalık lekeli humma, İlaç kınakınaydı. Gitsin, gitsin de gelmesin; Çocukluğum geliyor aklıma.

620 Ersterscheinung Cumhuriyet (5. Feb. 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 13.

312 Zu Anfang der Studie ist das Gedicht von der Mobilmachung in einen biographischen Kontext gestellt worden.621 Hier soll es nun erneut behandelt werden mit Hinblick auf seine poetische Machart. Als Erwachsener erinnert er sich an die Nöte seiner Kindheit während des Ersten Weltkriegs, welche so drückend waren, dass ihm diese Erinnerung höchst schmerzhaft ist. Die Kriegsmusik der Instrumente, wenn man denn von Musik reden kann, war übermächtig fanatisch und rief junge Soldaten in den Tod. Der Dichter hatte nur seine schwache Kinderstimme dem Kriegslärm entgegen zu setzen, doch selbst tausend Kinderstimmen hätten wenig ausgemacht. Wenig und armselig war auch seine Nahrung. Das früher gegessene kostbare weiße Brot setzt er in einen Kontrast zum Johannesbrot. Schließlich kontrastiert er eine glückliche Kindheit, die nie Wirklichkeit wurde, mit den allgemeinen, tränenreichen Jahren seiner kindlichen Generation. Nochmals: Die Erinnerung bleibt bitter, so sehr, dass er nicht mehr an eine Kindheit, die geprägt war vom Schrecken, erinnert werden möchte.

621 Siehe oben Kap. 2.1. 313 Zu Komplex (2) wird „Das Wiegenlied“ (Ninni) gestellt. 10.1.2 „Das Wiegenlied” „Ninni”622 Deins ist in mir verschlossen, Seninki bende kilitli, Meins ist in dir verschlossen, Benimki sende kilitli, Werfen wir die Schlüssel ins Wasser! Anahtarlarını atalım suya!

Mag eine goldene Kuh das Wasser trinken, İster bir altın inek içsin, Mag es durch die Städte fließen, İster şehirlerden geçsin su, Während die Schlösser einschlafen. Kilitler varınca uykuya.

Der Sommer soll kommen, um es aufzulösen, Yaz gelsin, çözsün, Der Winter soll kommen, um es zu umarmen, Kış gelsin, sarsın, Der Wind soll alle vergangenen Tage wegfegen, Rüzgâr, geçen günleri koparsın, Und einen Kalender hängen wir an die Tür. Bir de takvim asalım kapıya.

Das Gedicht „Das Wiegenlied“ (Ninni) spricht von der innigen Liebe zwischen zwei Menschen. Es geht um die Liebe zwischen Mutter und Kind und den Wunsch der Mutter, mit der Kraft der Jahreszeiten sich von der Vergangenheit zu befreien. Das Motiv von den verschlossenen und dann weggeworfenen Schlüsseln ist nicht nur in der türkischen Lyrik traditionell. Dem mittelalterlichen deutschen Minnesänger Walther von der Vogelweide werden diese Zeilen zugeschrieben, die von einem Liebespaar von Mann und Frau sprechen: du bist min ich bin din des solt du gewis sin. du bist beslozzen in minem Herzen verlorn ist daz Slüzzelin du muost immer drinne sin623

Dieses märchenhafte Motiv geht bei Ruhi Su, der sich auf seiner Art den Minnesängern des türkischen Volkslieds nähert, in den Bereich der Natur, nämlich der

622 Ersterscheinung Varlık (15. Juni 1940). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 11. 623 In: AVENARIUS, (Ferdinand): Hausbuch deutscher Lyrik (ohne Jahreszahl): 115. 314 Jahreszeiten, über. So löst sich der Schlüssel zum Kästchen, in dem die Liebe zwischen Mutter und Kind verborgen ist, wie selbstverständlich in der Natur auf.

Zu Komplex (3) gehört „Das Grenzlied” (Serhat Türküsü). 10.1.3 „Das Grenzlied” Weder unrein gestorben, Noch Muslim geworden, Ohne Schwert, ohne Schild, Deckten sie eine Tafel. Die Olive brachte die Olive, Die Feige die Feige, Die Traube den Saft. Jeder brachte etwas mit, Manche ihre Früchte, Manche ihre Schatten.

Wir schulden es weder den vierhundert Löwen, Noch Şehmuz, dem Löwen, Wir verdanken diese Erde Tamarisken und Schilfen Und der Wermutpflanze.

315 „Serhat Türküsü”624 Ne murdar öldüler, Ne müslüman oldular, Kılıçsız, kalkansız, Bir sofra kurdular.

Zeytin, zeytini getirdi, İncir, inciri getirdi, Şerbeti, üzüm getirdi. Her biri bir şey getirdi, Kimi, meyvesini canım, Kimi, gölgesini getirdi.

Ne dörtyüz arslana borçluyuz, Ne Şehmuz Aslan`a. Ilgınlara, sazlara borçluyuz Biz bu toprakları. Bir de yavşana.

Das Gedicht lässt sich als eine Absage an eine heroisierte türkische Geschichte verstehen. Die traditionellen Helden, die vierhundert Löwen und der angebliche Überlöwe Şehmuz, haben dem türkischen Land nichts gegeben. Auch seine Religionen haben keine Grenzen. Es ist im Gegenteil die Friedfertigkeit der Pflanzen, welche die Heimat beschenkt, wenn auch nur mit geringen Gaben. Ein Gastmahl, das keine Waffen kennt, ist es selbst dann geworden, wenn Gäste mit leeren Händen kamen und nur ihre Schatten mitbrachten. Ruhi Su zeichnet so mit sehr einfachen Worten eine heitere bukolische Welt.

624 Ersterscheinung Cumhuriyet (1975). Keine genauere Angabe. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 12. 316 Zu Komplex (4) sind vier Gedichte zu stellen: „Wir sind gekommen” (Geldik), „Das Sichtbare” (Görünen), „Der Fluss” (Irmak) und “Es soll anfangen” (Başlasın).

10.1.4 625 „Wir sind gekommen“ „Geldik“ Wir waren alle an verschiedenen Orten Hepimiz bir yerlerdeydik Und kamen dann an einen anderen Ort. Başka bir yere geldik. Im Lauf der sich verändernden Welt Değişen dünyanın sürecinde Kamen wir aus tiefen Gewässern. Karanlık bir sudan geldik.

Die Rose ist jetzt weder die alte Rose, Ne gül eski güldür şimdi, Noch ist das Pferd das alte Pferd. Ne beygir eski beygir. Ohne zu verletzen und zu kränken, Kırmadan, incitmeden, Wurden wir vom Affen zum Menschen. Maymundan insana geldik.

Schaut nicht hin auf diesen selbstsüchtigen, Bakmayın siz bu bencil, Diesen tierischen Streit. Bu hayvansal kavgaya. Im Lauf der sich verändernden Welt Değişen dünyanın içinde Sind wir gerade erst zum Menschen geworden. İnsana biz yeni geldik.

Die Schwierigkeit der Deutung von Ruhi Sus Gedichten zeigt sich besonders in dem Text “Wir sind gekommen” (Geldik). In einer für Ruhi Su charakteristischen Art geht es um die Schnittstelle von Beschreibung und einen letzlich moralischen Appell an seine Zeitgenossen. Die Rede ist von Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich verändert an einem neuen Ort treffen. Diese Aussagen lassen sich auf die Evolutionsgeschichte beziehen, welche das menschliche Wesen aus dem Meer geführt hat. Im Gedicht ist dieser Prozeß der Menschwerdung von Millionen Jahren gerade erst zu Ende gegangen. Es spricht aber auch von dem Traum eines neuen verständigen Wesens, das nicht Feind der Natur ist. Das Risiko, vor dem es warnt, besteht allerdings, dass die Menschen auf der Stufe des tierischen Kampfes stehen bleiben.

625 Ersterscheinung Cumhuriyet (5. März 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 14.

317 10.1.5 „Das Sichtbare” In Deutschland ist die Erde dieselbe wie bei uns. Die Bäume sind ungebildet, Sie kennen weder Beethoven noch Spartakisten. Wo sind die Platanen, die bei uns wachsen solange die Welt besteht?

In Frankfurt sah ich einen Mann unter dem Christbaum stehen, Seine Mütze am Boden vor sich anschauend, Im Gesicht die Scham der Armut genau wie bei uns.

Die Arbeiter umarmten uns wie ein geliebtes Land. Einer weinte heimlich an meine Schulter gelehnt, Von Müdigkeit gezeichnet war sein Gesicht, Sein Schnurrbart war derselbe wie unserer.

Hände und Füße wie meine fand ich, Nichts hat mich überrascht. Warum lässt mich der Gedanke nicht los an unsere Kinder in Deutschland? Nur die Namen waren übrig geblieben, die wie bei uns gerufen werden.

318 „Görünen”626 Almanya'da topraklar Aynı bizimki gibi. Ağaçları görgüsüz, cahil. Ne Beethoven'i bilen var, ne Spartakistler'i. Nerde dünya durdukça duran Çınarlar bizimki gibi?

Bir adam gördüm Frankfurt'ta, Noel ağacının dibinde. Kasketini açmıştı, gözleri yerde. Yoksulluğun utancı aynı bizimki gibi.

Memleketim diye kucakladı işçilerimiz bizi. Biri ağladı usul usul, boynumda durdu. Uykuda kaymış da sanki yüzleri, Bıyıkları aynı bizimki gibi.

Ellerim ayaklarım gibi buldum. Hiçbir şeye şaşmadım da Neden takılıp kaldı aklım Bizim bebelere Almanya’da? Adları kalmış ancak, Söylenen bizimki gibi.

Der Anlass für dieses Gedicht war Ruhi Sus Besuch in Deutschland ebenfalls im Jahre 1977, auf dem er Konzerte gab. Die Erkenntnisse, die er damals gewann, prägen die Bilder seines Gedichtes. Der Grundgedanke ist, dass es Türken in Deutschland und der Türkei gleich schlecht geht; mehr noch: dass sie sich eher in Deutschland in noch größerer seelischen Not befinden, weil ihnen die Heimat fehlt, die türkische Identität schwindet und allenfalls die türkischen Namen ihrer Kinder an die Heimat erinnern. Ihn berührt tief, dass an der Erde, den Bäumen, der kulturellen

626 Ersterscheinung Cumhuriyet (17. Dez. 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 17.

319 Unwissenheit und den Körpern der türkischen Arbeiter die Spuren der Heimat noch sichtbar sind. Sprachlich betont er diese Empfindung durch die wiederholte Phrase “Wie bei uns” (Bizdeki gibi). Gleichzeitig dehnt er die Parallelen auf Deutschland aus. Auch in diesem Land kennen die symbolischen Bäume weder Beethoven noch Spartakisten; auch dort findet er die “Scham der Armut” unter dem christlichen Symbol des Weihnachtsbaumes.

320 10.1.6 „Der Fluss” Der Baum sagte zur Axt, Du hättest mich eigentlich nicht abholzen können. Was soll ich tun, denn dein Stiel stammt aus mir. Schau dir das Bewußtsein des Baumes an! Ich bin der Sterbende, aus mir kommt der Mörder.

So viele Mütter stehen da und weinen, Der Fluß fließt hin zwischen den Windröschen. Ob dieser blind oder taub ist? Ich bin der Sterbende, aus mir kommt der Mörder

An allen Orten war es so gewesen, Sprechen ließ das Volk zuerst den Berg, den Stein, den Baum. Am Ende, irgendwo in der Morgenzeit, Erwachte der Fluss und erhob sich. Ich bin der Sterbende, aus mir kommt der Mörder.

321 „Irmak”627 Ağaç demiş ki baltaya, Sen beni kesemezdin ama, Ne yapayım ki sapın benden. Bak şu ağacın bilincine sen! Ölen ben, öldüren benden.

Bunca analar ağlayıp durur da, Akıp gider gelinciklerden. Kör müdür sağır mıdır bu ırmak? Ölen ben, öldüren benden.

Her yerde böyle olmuş bu, Önce dağa, taşa, ağaca söyletmiş halk. Sonunda sabahın bir yerinden, Uyanıp kalkmış ayağa ırmak. Ölen ben, öldüren benden.

Ein sehr kunstvolles, wenngleich nicht leicht verständliches Gedicht trägt den Titel “Der Fluss” (Irmak). Ein Baum beklagt sich, dass die Axt, deren Stiel doch eigentlich aus dem Holze des Baumes geschnitten ist, ihn töten will. Erstaunt und hilflos stellt er die Axt zur Rede. Als ebenso ohnmächtig erscheinen die Mütter, die den Tod ihrer Kinder so beweinen, dass ein Fluss entsteht. Die Mütter gehören zu den Unterdrückten; sie leben gemeinsam, teilen das gleiche Leid und sollten in Wahrheit sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern sich solidarisieren. Auch der Baum zeigt Empörung darüber, dass er von denen getötet wird, die aus seinem Holze sind, das heißt, es besteht keine Solidarität zwischen ihm und der Axt, dem Opfer und dem Mörder. Im übertragenen Sinn kann man seine Worte so verstehen, dass die einfachen Menschen aufgehetzt wurden, ihresgleichen, sofern sie zu den Linken gehörten, zu töten. In der letzten Strophe drückt sich die Prophezeiung aus, dass der Fluss einmal gewalttätig werden wird, wenn die kollektiven Leiden des Volkes im Umgang mit den Naturkräften überhand nehmen.

627 Ersterscheinung Sanat Emeği (1978). Keine genauere Angabe. In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 18.

322 10.1.7 „Es soll anfangen” „Başlasın”628 Komm auf die Welt, Dünyaya gel, Der Mensch soll beginnen. İnsan başlasın. Finde Gott, Tanrıyı bul, Die Angst soll beginnen, Korku başlasın. Die Stände, die Herrschaft, Ağalık, beylik, Sollen nach und nach beginnen. Bir bir başlasın.

Tausend Jahre, zehntausend Jahre, Bin yıl, on bin yıl, So viel Mühe, so viele Jahre, Bunca emek bunca yıl. Krösus soll es beenden, Karun bitirsin, Salomon soll es beginnen. Süleyman başlasın.

Wenn du die Welt zum Paradies machst, Sen ki dünyayı cennete çevirdin, Soll Deine Weltherrschaft beginnen. Dünyaya hükmün başlasın.

Das Gedicht “Es soll anfangen” (Başlasın) enthält eine utopische Aufforderung. Es beginnt mit der Feststellung dass der Mensch auf die Welt kommt, einen Gott sucht, aber jahrhundertelang Angst findet. Schwierig ist zu erkennen, an wen die Aufforderung geht, am ehesten noch an eine selbstbestimmte Menschheit, von der freilich individualisierend im Singular gesprochen wird. Die beiden Namen von Mächtigen heißen Krösus und Süleyman. Auf welchen Süleyman, der in der deutschen Übersetzung mit Salomon biblisch platziert wird, ist der türkischen Fassung nicht leicht zu entnehmen. Neben Süleyman dem Prächtigen (1494-1566) mag Ruhi Su auch den damaligen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel im Sinn gehabt haben, unter dem die Linken sehr gelitten haben. In jedem Fall muss die Menschheit Jahrtausende gesellschaftlicher Hierarchien durchleben, bevor ein Paradies, das heißt, ein Land ohne gesellschaftliche Zwänge und Grenzen, machbar ist.

628 Ersterscheinung Sanat Emeği (April 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 19.

323 Zu Komplex (5) sind hier die Gedichte „Singendes Herz” (Ezgili Yürek), „Die Zyste” (Kist) und „Mensch und Lohn der Mühe” (İnsan ve Emek) versammelt:

10.1.8 „Singendes Herz” „Ezgili Yürek“629 Welchen Stein ich auch aufhebe, Hangi taşı kaldırsam, Meine Mutter und mein Vater, Anamla babam. Nach welchem Ast ich mich auch strecke, Hangi dala uzansam, Meine Familie und meine Verwandte, Hısım akrabam. Was für eine schöne Welt ist dies! Ne güzel bir dünya bu! Gut, dass ich gekommen bin İyi ki geldim! Mit einem Beutel voller Milch. Süt dolu bir torbayla Ich bin so hoch gekommen. Şöylece çıkageldim. Wem ich auch meine Hand reichte, Kime elimi verdimse, Zu wem auch ich mich drehte und ihn ansah, Döndürüp yüzümü baktımsa, Dann klopfte das Glück an die Tür, Kısmet kapıyı çaldı, Die trockene Quelle füllte sich mit Wasser. Kör pınara su geldi. Wenn ich singend da stehe, Ben şakıyıp durdukça öyle, Dann kam der Duft der Rose. Gülün kokusu geldi. Dem Kinderlosen, Bebesi olmayana, Dem verbittert dort Stehenden, Bunalıp da kalmışa, Dem schmerzbeladenen, Acılarla yüklü Und dem schmollenden Herzen Dargın yüreklere, Bin ich zu Hilfe geeilt. Yetiştim geldim. Gut, dass ich gekommen bin. İyi ki geldim!

Der Dichter bringt aus einem glücklichen Herzen der Welt ein Loblied dar. Die Bestandteile dieser Welt sind jedoch die einfachen Dinge, Steine, Äste, ein wenig Milch. Sein Glück offenbart er seiner Familie, Vater, Mutter, Verwandten. Dann aber erweitert er den Kreis des Glücks auf viele Menschen, die Natur in Gestalt von Quelle und Rose und schließlich auf die Hilfe, die er den Glücklosen mit seiner Kunst zu spenden vermag. Es wäre falsch, die letzte Zeile “Gut, dass ich gekommen bin” ironisch oder als Eigenlob

629 Ersterscheinung Cumhuriyet (23. Juli 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 15. 324 zu verstehen. Stolz auf sich selber, ist er schlicht überzeugt von seiner Fähigkeit seiner Lieder, andere tatsächlich glücklich zu machen.

325 10.1.9 „Die Zyste” Du hoffst und hoffst, aber Keiner kommt hervor und sagt Dies ist ein Junge, für ihn ist das nicht gut.

Genau so ist es, Mütterchen.

Die Zyste kam auf Seilbahnen, Und setzte sich auf meinen rechten Hoden, Warf ihre haarfeinen Äderchen aus, Blaue, orangene, violette. Schlangen umschlangen den Lebensspender, Eile herbei, Doktor, mein Falke, Rette meine Türküs!

Genau so ist es geschehen.

Auf einem Hügel in Samatya Tauchte Ziya mit seinen weißen Engeln In mein Samenhaus, Trennte es ab und entnahm das Erzböse, Und warf es zu Boden.

Ich wachte auf und sah Meine Blumen in voller Freude. Ich lief hinaus zu den Stränden, Gelangte nach Kumbükü, Das Meer ist voller Türküs.

Ich nahm sie auf, Einmal sang ich, Einmal sang das Meer, Einmal sang ich, Einmal sang das Meer. Die Bitterorange ist voller Schweiß und Blut.

326 „Kist”630 Umarsın umarsın da hani Biri çıkıp demez ki „Oğlan çocuğudur bu, iyi olmaz.”

Hemi de öyle anacığım.

Fünikiler kist geldi, Sağ yumurtamın üstüne oturdu. Attı kılcal damarlarını, Mavi, turuncu, eflatun, Yılanlar sardı canlar evini. Yetiş şahinim doktor yetiş, Kurtar türkülerimi.

Hemi de öyle oldu.

Samatya'da bir tepede, Beyaz melekleriyle Ziya Daldı döl evime. Söktü çıkardı ifriti, Attı yere.

Uyandım baktım ki Çiçeklerim sevinç içinde. Koştum, gittim kıyılara, Kumbükü'ne vardım. Deniz türküler içinde

Aldım Bir ben söyledim, Bir deniz söyledi, Bir ben söyledim, Bir deniz söyledi, Turunç kan ter içinde.

630 Ersterscheinung Cumhuriyet (8. Okt. 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 16. 327 Das Gedicht „Die Zyste“(Kist) zeigt einmal mehr die für Ruhi Su charakteristische Mischung von Autobiographie und Darstellung seiner Kunst. Autobiographisch ist die böse, heimtückische Erkrankung seiner Hoden, die sein Leben bedroht. Die Rettung durch den Chirurgen nimmt geradezu heroischen Charakter. Der Arzt wird herbeigerufen mit dem Ehrennamen „Mein Falke“; Er kämpft mit seinen weißgekleideten Mitarbeitern, die als Engel erscheinen, gegen die Krankheit, die nicht als ein medizinisches Phänomen erscheint, sondern als ein moralisches: Das Erzböse schlechthin. Gleichzeitig ist es ebenso schön wie von der eigenen Subjektivität absehend, dass der Arzt nicht Ruhi Sus Leben, sondern seine Türküs retten soll. Dieser Gedanke wird am Ende zu einem Preislied der Türküs verstärkt. Der Dichter singt im Duett mit dem Meer, welches ebenfalls ein Meer der Lieder ist. So endet das Gedicht mit einem Hochgesang auf die Türküs.

328 10.1.10 „Mensch und Lohn der Mühe” „İnsan ve Emek” 631 Der Frühling kam mit einer Bilderschau, Bir sergiyle geldi bahar. Weder gibt es Frost, noch gibt es Früchte, Ne don vurur, ne meyve verir, Eine Art Blumentraum, Öylece bir çiçek düşlemesi. Welch schönes Spiel, mein Herz, Ne güzel bir oyundur canım, Das Auge, das in Steinen die Blumen erblickt. Taşlara bakan gözün çiçeği görmesi.

In meiner Heimat kostet heute Benim memleketimde bugün, Der Quadratmeter eines Bildes Kırk elli bin liradır, Etwa vierzig- bis fünfzigtausend Lira. Resmin metrekaresi. Jeder spricht darüber, mein Herz, Ve dillere destandır canım, Das Blau von Bodrum und das Weiß Turan Erols. Turan Erol beyazıyle Bodrum’un mavisi.

In einem Nachtclub heute Bir gece kulübünde bugün Kostet ein Konzert Zeki Mürens Kırk bin, elli bin liradır Etwa vierzig- bis fünfzigtausend Lira. Bir Zeki Müren dinletisi. Und natürlich ist er schön, mein Herz, Ve elbette güzeldir canım, Der Lohn der Mühe. Emeğin değerlendirilmesi.

Doch in meiner Heimat heute Ama benim memleketimde bugün Ist das Blut des Menschen billiger als Wasser. İnsan kanı sudan ucuz. Aber der schönste Lohn der Mühe ist der Mensch selbst.Oysa en güzel emek, insanın kendisi. Ist es denn leicht aus Alpträumen zu erwachen Kolay mı kan uykularda kalkıp Und Wiegenlieder zu singen? Ninniler söylemesi?

Vielleicht aus diesem Grunde, schade, Belki bu nedenle, yazık, Hängen sie wie hingerichtet, Asılmış gibi durur, Hingerichtet wegen ihrer Trauer, Asılmış gibi kederinden, Die Bilder an meinen Wänden, Duvarlarımda resim, Die Musik in meinen Instrumenten. Çalgılarımda müzik.

Das Gedicht stellt eine Meditation über den Lohn der Mühe dar und gleitet von einem natürlichen, unpolitischen Phänomen, nämlich den spielerischen Bildern des Frühlings immer tiefer in zunächst kulturelle, dann politische und schließlich autobiographische Bereiche, wobei gleichzeitig die Stimmung mehr und mehr von Trauer

631 Ersterscheinung Sanat Emeği (Mai 1978). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 20. 329 geprägt wird. Natürlich, gibt der Dichter zu, sind Bilderausstellungen und Konzerte schöne Dinge, wenn auch überaus teure. Stellt man sie jedoch vor einen politischen Hintergrund des allgemeinen Blutvergießens, werden sie fragwürdig. Die Ambivalenz von scheinbarer kultureller Wohlhabenheit und der offenen politischen Unterdrückung in der Türkei wird sichtbar. An dieser Stelle kehrt Ruhi Su zu seinem unverrückbaren Glauben an den Wert des Menschen und des einfachen Lebens zurück. Erfüllt wird dieser Glaube zur Zeit nicht, was ihn und die ihn umgebenden Kunstwerke mit Trauer erfüllt, einer Trauer, welche die Bilder von Hinrichtungen aufnimmt und welche so eine Kritik ausspricht an jenen Kritikern, die ihm eine ständige Bitterkeit vorwerfen.

330 10.1.11 Die poetische Machart von Ruhi Sus Gedichten Nach der thematischen Gesamt- und Einzelanalyse wird nun versucht, die poetische Machart seiner Gedichte zu verdeutlichen. Ruhi Su verwendet in den vertonten Texten die sogenannte Liedstrophe, also eine Strophe mit vier Zeilen gleicher Länge. Sie erinnert auch in ihrem Reflexionsgehalt an traditionelle deutsche Kunst- und Volkslieder. Seine nicht vertonten Gedichte verzichten auf die von anderen türkischen Lyrikern benutzten Reime. Gleichwohl weisen sie eine Fülle von Stilmitteln auf: sprachliche Korrespondenzen, Alliterationen und Parallelismen, die einen sehr dichten Verweisungszusammenhang bilden, der aber auch harte Kontraste und Überraschungsmomente enthält. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind im Türkischen andere als im Deutschen. Die häufige Verwendung sprachlicher Bilder verleiht den Gedichten mehrere Bedeutungsebenen, setzt aber zumeist voraus, dass die Zuhörer die ursprünglichen Kontexte der Bilder, Anspielungen und Verweise kennen oder die Bedeutung entschlüsseln können. Es ist für Ruhi Su eigentümlich, dass die Bilder manchmal eine symbolische Bedeutung annehmen, die allerdings konventionell nur schwer erklärbar ist. Ein Beispiel sind die vierhundert Löwen und der Löwe Şehmuz in „Das Grenzlied“ (Serhat Türküsü). Gleichwohl wurde den Zuhörern der Vorträge Ruhi Sus ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl bewusst. Die syntaktische Eigenart der häufigen Appelle und Hortative hängt zusammen mit seinem weitgehend gesellschaftspolitischen Impetus, der plakative Aussagen vermeidet. Ruhi Sus Lyrik hat eine starke surrealistische Komponente. Die Überspielung des normalen Satzbaus, Eigenwilligkeit der Satzkonstruktionen, häufig auch Ellipsen und lakonische Sätze, Parallelismen, Wortspielereien und besondere sprachliche Fügungen zwingen den Zuhörer ständig zum Mit- und Nachdenken. Seine Bilder stammen aus den verschiedensten Traditionen. Augenscheinlich ist zunächst seine Vertrautheit mit den Volksliedern seines Landes, hinzu kommen Märchenmotive und, in der Nähe zu Nâzım Hikmets Bildersprache, modernistische Prägungen, welch letztere den Sinn gelegentlich nicht einfach zu entschlüsseln machen. Die Schwierigkeit der Deutung von Ruhi Sus Bildern zeigt auch sich in dem Text „Wir sind gekommen” (Geldik) . Die Bilder handeln von Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich verändert an einem neuen Ort treffen. Sie lassen sich auf die Evolutionsgeschichte beziehen, aber auch auf den Traum von einer Entwicklung des Menschen zu einem neuen verständigen Wesen, das nicht Feind der

331 Natur ist. Sehr kunstvolle, wenn auch ambivalente Bilder finden sich in dem Gedicht „Der Fluss” (Irmak). Ein Baum beklagt sich, dass die Axt, deren Stiel doch eigentlich aus dem Holze des Baumes geschnitten ist, ihn töten will. Erstaunt und hilflos stellt er die Axt zur Rede. Das Problem ist, dass eine ursprüngliche Einheit der Natur durch die Entzweiung in Naturding (Baum) und von Menschen geschaffenen Ding (Axt) zerstört und in eine beiden unverständliche tödliche Feindschaft umgewandelt wird. Als ebenso ohnmächtig erscheinen die Mütter, die den Tod ihrer Kinder so beweinen und so einen Fluss vom Tränen entstehen lassen. Die Bildersprache wechselt zwischen der menschlichen und der rein natürlichen Sphäre hin und her, verläßt jedoch auch hier eine gewisse Dunkelheit der Oppositionen nicht. In einigen Gedichten verweist die Begrifflichkeit auf existenzielle Fragen nach Gott und der Sinnhaftigkeit der Welt. So versucht er in dem Gedicht „Es soll anfangen“ (Başlasın) mit den Begriffen, Angst, Gott, Welt und Mensch sich der Frage der Verantwortlichkeit von Gott und Mensch zu nähern. Wie bei den meisten seiner Gedichte steht die Pointe, der Appell oder die Schlussfolgerung auch hier am Ende des Gedichtes: „Du hast die Welt zum Paradies gemacht / dein Weltreich soll anfangen“ (Sen ki dünyayı cennete çevirdin/ Dünyaya hükmün başlasın) In den Gedichten geht es oft um das Lob des einfachen Lebens. So bringt er in dem Gedicht „Das Grenzlied” (Serhat Türküsü) zum Ausdruck, dass die Menschen nicht den Mächtigen etwas schulden, sondern den unscheinbaren Pflanzen ihrer Heimat. Die Verbundenheit mit der Pflanzenwelt korrespondiert mit der Wertschätzung des einfachen Menschen vom Lande. Wichtig ist das einfache ländliche Leben, wenn die Früchte des Feldes und der Arbeit geteilt werden und jeder tatkräftig mitarbeitet. In dem Gedicht „Das Wiegenlied“ (Ninni) geht der menschliche Bereich unmerklich in den Bereich der Natur über, so dass beide als von gleicher Art erscheinen. Überhaupt geht es Ruhi Su um die Auflösung von Grenzen, seien sie zwischen Religionen oder zwischen Kriegslustigen und Friedfertigen.

332 11.

Gedichte über Ruhi Su Von den verschiedenen Lyrikern, die Gedichte über Ruhi Su geschrieben haben, werden hier Arif Damar, Tahsin Saraç, Hasan Hüseyin Korkmazgil, Ali Yüce und Mehmet Karabulut in einer Auswahl vorgestellt. Sie alle haben eine hohe Meinung von seiner politischen Aufklärung, seiner künstlerischen Art und seiner großen Menschlichkeit. Ihre Gedichte spiegeln die ausdruckskräftige und bildhafte Sprache Ruhi Sus. Sie nehmen seine Motive auf (angeführt seien nur die Çukurova, die Gazelle und das Wasser) und verdichten sie zu einem Netzwerk von Anspielungen auf Dichter verschiedener Generationen wie Yunus Emre, Karacaoğlan, Pir Sultan und Dadaloğlu. Ihre Annäherung sowohl an die Kunst früherer Generationen als auch an Ruhi Su geht so weit, dass sie nicht selten ihre Identität als Dichter auf diese beiden Quellen beziehen. Sie stellen sich, wie er, in die kämpferische oder poetische Tradition türkischer Dichter.

333 11.1 „Das Lob an Türküs, die mit einer „Aydınlanmış Bir Sesin Söylediği 632 intellektuellen Stimme gesungen werden” Türkülere Övgü” Wir hörten Türküs Türküler dinlerdik In seiner Stimme. Sesinden. Wir wurden zu hohen Bergen, Dağ olurduk yücesinden, Wurden zu Steppen und Wüsten, Ova olurduk, çöl olurduk. Flossen gemeinsam in die Meere, Denizlere akardık birlikte, Wurden zu Gewässern.633 Sular olur.

Wir hörten Türküs Türküler dinlerdik In seiner Stimme. Sesinden. Mauern fielen von selbst um, Duvarlar yıkılırdı kendiliğinden. Einige von uns schlossen sich Köroğlu an, Kimimiz Köroğlu’na katılırdık, Einige an Dadaloğlu, Kimimiz Dadaloğlu’na. Einige von uns blieben in Jemen. Yemen’de kalanımız olurdu.

Wir hörten Türküs Türküler dinlerdik In seiner Stimme. Sesinden. Drei von uns wurden, hey, Üçümüz oy, Zu Karacaoğlan, Karacaoğlan, Fünf von uns zu Pir Sultan Abdal, Beşimiz Pir Sultan Abdal, Hey! Hey! Arif Damar

Der Lyriker Arif Damar, der Mitgefangener Ruhi Sus im Militärgefängnis von Harbiye war, stellt in dem Gedicht „Ein Lob über die Türküs einer intellektuellen Stimme“ (Aydınlanmış Bir Sesin Söylediği Türkülere Övgü) Ruhi Su in die Tradition der großen türkischen Volksdichter Karacaoğlan, Pir Sultan oder Dadaloğlu. Diese suchten, die Sorgen und Nöte des Volkes in Gedichten, Liedern und Taten zu lindern. Viele einfache Menschen ließen sich inspirieren und bekamen neuen Lebensmut.

632 Ersterscheinung Yön (10. Juni 1966). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 31. 633 Die Zeile „Sular olur“ enthält ein Wortspiel. „Wasser“ bedeutet im Türkischen „su“ und die Mehrzahl „sular“, also Gewässer. „Wir wurden zu Gewässern“ heißt dann hier, zu seinen Söhnen geworden sein, die seinen Nachnamen (im Plural, versteht sich) tragen. 334 Eine nicht mindere Rolle spielt Ruhi Su in der Gegenwart. Zwei charakteristische Beispiele sind einmal sein lindernder und mutbringender Einfluss auf die Mithäftlinge während seiner Gefängniszeit. Arif Damar wird in seinem Gedicht nicht müde darauf zu insistieren, dass Ruhi Sus Liederwelt sie aus dem elenden Gefängnis forttrug in eine grandiose Natur der Türkei und in eine grandiose dichterische Tradition, und dass die Lieder dies mit solcher Intensität taten, dass ihnen, den Gefangenen, die Identifikation und die Findung eines neuen Selbst wunderbar leicht fiel.634 Zum andern war in den 60er und 70er Jahren der neue Mut linker Studenten unverkennbar, der sie nach einem Konzert Ruhi Sus erfüllte. Zu solchen Zeitzeugen darf sich der Verfasser auch selbst zählen.

634 Ein weiterer Mitgefangener Ruhi Sus, Balkar Yekebaş, kommt zu den gleichen Aussagen. 335 11.2 „Zum Türkü werden mit Ruhi Su“ Wenn die Çukurova sich dem Frühling zuwendet, Wickeln die Fremdarbeiter früh ihren Schlaf in die Decken, Sie machen sich überall auf den Weg, Geduckt und hungrig Nach alter Tradition gingen die Gazellen zum Wasser. Eine schmerzhafte Türkü aus dem trockenen Bach zu machen, Den Schmerz zur Türkü zu machen, an einem abgelegenen Ort.

Der Raubvogel kreist umher, Wenn sich die Erde mit Müdigkeit mischt, Ein Hauch von Liebe in den Nasenflügeln. Weil er sich dem Volk zugewandt hat, Heult die dunkle Kraft nach Blut, Ruhi Su steht unter Arrest. Die Nacht zur Türkü machen und dem Schlaf Handschellen anlegen.

Das kosmische Auge einer weisen Quelle, Er zieht sich in die Länge, Yunus‘ göttlicher Atem, Eine besondere Elif-Schönheit ist Karacaoğlan im Süden. Massaker, Schlachten, Mobilmachung: eine Vielzahl verlorener Seelen Und graue, trübe Schmerzen. Eine Wolke ballt sich zusammen, als Lohn der Mühe, Pir Sultan aus Sivas. Eine Hoffnung zur Türkü machen, welche die Zeit der Einsamkeit umstürzt.

Die weiße Rose zu der roten Liebe stellen, Den schweren Kampf für immer fortsetzen, Mit der Stimme den Tod töten, Zum Türkü werden mit Ruhi Su. Tahsin Saraç

336 „Ruhi Su’da Türkülenmek“635 Çukurova bahara yüz dönende, Uykularını yorganlarına dürüp erkenden, Gurbetçiler sökün eder dört bir yöreden, İki büklüm bir açlık, eski töreden. Cerenler suya inende, Bir sızılı uzunhava susuz dereden, Acıyı bir sapsağır kuytuda türkülenmek.

Alıcıkuş dönenip durur, Bulanırken toprak bir yorgunluğu, Bir ıtır sevgi burun kanadında. Halkına yönelmiştir ya, Kara güç kan uluşur. Ruhi Su dam altında. Geceyi bir kelepçe uykuda türkülemek.

Evren gözü bakan bir bilge pınar, Uzar Tanrıcak bir soluk Yunus’tan, En Elif güzelliktir güneyde Karacaoğlan. Kırım, kıyım, seferberlik, yiten sayısız can. Ve boz bulanık acılar. Bir bulut kaynar emekten, Sivas’taki Pir Sultan. Yalnızlığı çağdeviren bir umudu türkülemek.

Al sevgiye ak gül durmak, Ve kavgayı bin dağ sürmek, Sesle ölümleri vurmak, Ruhi Su’da türkülenmek. Tahsin Saraç

Tahsin Saraçs Gedicht sollte man von dem Titel und der letzten Zeile her zu verstehen suchen, weil dort von der vollständigen Identifikation eines linken

635 Ersterscheinung Köken (Dez. 1974). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 36.

337 Intellektuellen mit dem Türkü Ruhi Sus gesprochen wird. Die Identifikation umschließt sowohl den Volkston „Die weiße Rose zu der roten Liebe stellen“ (Al sevgiye ak gül durmak) wie auch die bekannten lyrischen Vorbilder (Karacaoğlan, Yunus Emre und Pir Sultan Abdal) und, selbstverständlich, den politischen Kampf (Den schweren Kampf für immer fortsetzen) des Meisters.

338 11.3 „Ruhi Su singt in der Nacht“ „Sie erschossen mich vor meiner Entlassung,“ „Von nun an wurde das Leben sehr schwer“, „Dachtest du, dass Töten ein Spiel ist?“ „Hauptmänner, Hauptmänner,“ „Lasset meinen Prozess allein, lasset ihn für das jüngste Gericht.“ …. Ruhi Su singt in der Nacht, Tische, Stühle singen, Wände, Gemälde an den Wänden, Farben in den Gemälden, Inhalte und Formen, Blumen, Kronleuchter, Ornamente singen. Ruhi Su singt in der Nacht, In der Luft singen die geflügelten Hände, Im Osten singt ein illegales Mausergewehr, Im Westen singt ein Olivenast, Bei Yunus singt der Hammer auf dem Amboss, Bei Pir Sultan die Seide und die Rose. Ruhi Su singt in der Nacht, Es schweigt das Dunkel der alten Einsamkeit, Die roten, die violetten Töne singen festlich. Es reicht, hey, Ruhi Su, Dies ist kein Taschentuch, sondern ein Herz. Es erträgt so viel Erregung nicht, Faust zu Faust geballt, Es ging auf die Straße, Singt wie die Wälder. Hasan Hüseyin Korkmazgil

339 „Ruhi Su Söylüyor Gecede“636 „tezkeremden evvel vurdular beni“ „şimden sonra yaşaması güç oldu“ „adam öldürmeyi oyun mu sandın“ „yüzbaşılar yüzbaşılar“ „kalsın benim davam divana kalsın“ …. ruhi su söylüyor gecede masalar, sandalyeler söylüyor duvarlar, duvarlarda tablolar tablolarda renkler, özler, biçimler çiçekler, avizeler, süsler söylüyor ruhi su söylüyor gecede havada kanat kanat eller söylüyor doğuda bir kaçak mavzer batıda bir zeytin dalı söylüyor yunus’ta örse çekiç pir sultan’da ipek ve gül söylüyor ruhi su söylüyor gecede susuyor karası da ihtiyar yalnızlığın allar morlar bayram bayram söylüyor yeter artık hey ruhi su mendil değil bu, yürek bu götürmez bunca coşkuyu sıkılmış yumruk yumruk düşmüş caddeye orman orman söylüyor Hasan Hüseyin Korkmazgil637

Wie Tahsin Saraç basiert auch Hasan Hüseyin Korkmazgil sein Preislied auf Ruhi Su auf dessen eigenen Zeilen, schon so zu Beginn (Z. 1-5) und auf dessen Vorbildern

636 Ersterscheinung Koçero Vatan (Mai 1976). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 37. 637 Ruhi Su hatte eine enge Freundschaft mit Hasan Hüseyin Korkmazgil. Er vertonte neben anderen dessen Gedicht „Die fremden Tore“ (El Kapıları), welchen Titel er auch einer seiner Schallplatten gab. 340 (Yunus Emre und Pir Sultan). Der Ton ist jedoch weniger politisch als vielmehr emotional „ein Herz / Es erträgt so viel Erregung nicht“ (yürek bu / Götürmez bunca coşkuyu), denn im Mittelpunkt steht ein nächtliches Konzert, welches alles (Tische, Stühle … Wände, Gemälde) und jeden um den Sänger herum zum ekstatischen Mitsingen bringt und mit Mut erfüllt (Faust zu Faust geballt).

341 11.4 „Ein Koran der Saiten“ „Telli Kur’an“638 Wir sind ein Koran der Saiten, Biz ki telli Kur’anız, Wir gaben euch Finger, Parmak verdik size, Gaben dir das Plektron, hey, Dichter, Mızrap verdik, ey ozan, Auf jeder Fingerkuppe Her parmağın ucunda, Gaben wir tausende Augen und Ohren. Binlerce gözkulak verdik. Wir stammen vom Volk ab, Biz ki halk soyundanız, Wir sind die Republik der Türküs, Türküler cumhuriyetiyiz. Gaben den Melodien einen Mund, Ezgilere ağız verdik, Gaben den Worten eine Zunge. Dil verdik sözcüklere.

Sünde wurde ihr Tun genannt, Günah kılınmıştır onlara Das der Armeen, Kanonenkugeln, Gewehre, Ordular, toplar, tüfekler, Töten wurde ihre Schande. Öldürmek ayıp kılınmıştır. Weil sie keine Türküs kannten, Onlar ki türkü bilmezler, Wurden ihre Herzen steinern. Yürekleri taş kılınmıştır. Unsere Hände sind weit entfernt von ihren Händen, Ellerimiz uzak ellerinden. Wir sind der Koran der Saiten, Biz ki telli Kur’anız, Wir werden mit dem Finger gelesen. Parmakla okunanız.

Sie wissen nicht, Bilmezler mi ki Dass wir jedem, der kommt, geben. Biz her gelene vereniz, Wir nehmen nichts von den Vorübergehenden, Alan değiliz her geçenden. Gaben Brot, als ihr hungrig wart, Açsanız ekmek verdik. Gaben Tuch, als ihr nackt wart, Kumaş verdik çıplaksanız, Gaben dem Vogel Flügel, dem Baum Blätter, Kuşa kanat, ağaca yaprak verdik. Sage ihnen ganz offen, Apaçık de ki onlara, Wir stammen von der Erde ab, Biz toprak soyundanız, Wir werden mit der Arbeitskraft gelesen. Emekle okunanız.

Sage ihnen, hey, Ruhi, De ki onlara, ey Ruhi Wir haben niemandem den Hass beigebracht, Nefreti öğretmedik kimseye, Wir sind Liebende für immer, Hiç usanmadan sevenleriz. Wir sind der Koran der Saiten, Biz ki telli Kur!anız,

638 Ersterscheinung Türk Dili (Jan. 1977). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 38-39.

342 Wir sind das Wahrste vom Wahren, Doğruların doğrusuyuz. Unsere Saiten sind unberührt von Lüge. Yalan değmedi tellerimize. Berichte ihnen ganz offen, Apaçık bildir ki onlara, Wir sind die Republik des Menschen, Biz insan cumhuriyetiyiz, Wir sind Stickerei, Türkü, Volk, Nakışız, türküyüz, halkız, Wir sind das universale „Merhaba“. Evrensel merhabayız. Ali Yüce639

Das Gedicht „Ein Koran der Saiten“ (Telli Kur’an) gibt der Saz und den auf ihr gespielten Türküs eine geradezu theologische Bedeutung. Durch die Identifikation des Instruments und der Musik mit dem Koran wird der Künstler Ruhi Su zu einer Art von Propheten Gottes, der göttliche Botschaften verkündet. Eine dieser Botschaften heißt: die Türküs sind Eigentum des Volkes, doch darüber hinaus eine menschliche Republik und sogar ein universaler Gruß. Ihre Liebe ist rein und wahr; sie kennt weder Hass noch Lüge; sie hat den Menschen in Not Brot und Tuch geschenkt; ihre Stärke kommt von der Erde und der Arbeit. Bei aller Ernsthaftigkeit der Gedanken zeichnet sich dieses Gedicht doch auch durch feine, witzige Formulierungen aus.

639 Ali Yüce ist ein bekannter Dichter und Absolvent des Dorfinstitutes Düziçi in Adana. Ali Yüce und Ruhi Su fanden sich später zu einer Freundschaft zusammen. Ruhi Su hat eine Melodie zu einem Gedicht Ali Yüces kreiert „Frauen aus Mürselek“ (Mürselekli Kadınlar). Siehe oben Kap. 9.9.5. Andererseits hat Ali Yüce für Ruhi Su Gedichte wie das obige geschrieben.

343 11.5 „Während man Ruhi Su zuhört“ In einer silbrigen Perlmutternnacht Wurde die Zeit zu Staub, Die Wege verbanden sich, Auf einem Weg kam der große Yunus, Auf einem Weg kam Pir Sultan. Sie kamen und setzten sich, Lebendiger als fünfhundertmal Frühling, Wärmer als fünfhundertmal Sommer. Die Spuren des Seils an ihren Hälsen Bleiben für immer sichtbar.

Ich blickte zum Mond, er stieg herab, Wurde zur Augenbraue, dem Mädchen Elif, Zwei Rosen auf der Brust, Die Arme weit ausgebreitet. Du, Elif, bist zu einem Vogel mit Flügeln geworden, Doch Karacaoğlan geht zu Fuß. Wenn es einen Ast gäbe, auf dessen Spitze Du dich in den Sommermonaten setztest, Würden sich die Äste nicht biegen?

Die Nomaden machten sich nachts auf den Weg, Was ist das, hey, Dadaloğlu? Die Freundschaft der Berge reichte nicht aus, Wenn Freunde sterben, dann gehen sie, jedoch das Volk lebt. Ist das vollkommen richtig?

Aus einem turkmenischen Kilim kommt an die Sonne, Ein Heulen des Waldes, Ein verlorenes Weinen. Und Ruhi Su ist eine unendliche Liebe, Mit jedem Atemzug Schaufelt er Feuer in die Adern. „Gehe und finde selbst das Wahre“, sagt er. Mehmet Karabulut

344 „Ruhi Su‘yu Dinlerken“640 Sedef, gümüş gecede Toz oldu zaman, Cem oldu yollar. Bir yoldan koca Yunus, Bir yoldan Pir Sultan, Geldiler, oturdular. Beş yüz bahardan daha canlı, Beş yüz yazdan daha sıcak. Boyunlarında ip izleri Besbelli hep kalacak.

Aya baktım yere inmiş, Kaş olmuş Elif kıza. Ak gerdan üstünde iki gül, Kollar bir uzaktan bir uzağa. Sen kanatlı kuş olmuşsun Elif, Karacaoğlan yaya. Varsa dibine yaz aylarında Konduğun dallar eğilmez mi?

Gece yarısı yola düştü obalar, Bre bu ne iştir Dadaloğlu? Yetmedi dağların dostluğu, Giderse gitsin canlar, halk yaşar, Bu tastamam doğru mu?

Türkmen kiliminden çıkmış güneşe Bir orman uğultusu, Bir yitik ağlama. Ve bitmez tükenmez bir sevidir Ruhi Su. Her solukta, Bir kürek ateş atar damara, „Var git, kendin bul“ der „doğruyu“ Mehmet Karabulut

640 Ersterscheinung Yeni Ufuklar (Apr. 1973). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 34.

345 Das Gedicht „Während man Ruhi Su zuhört“ (Ruhi Su‘yu Dinlerken) zeigt ähnliche Motive wie die vorigen: den Verweis auf traditionelle Vorgänger und ihr Schicksal und die Anspielung auf von Ruhi Su bearbeitete Lieder. Es betont am Ende, stärker als die anderen, den Helfer Ruhi Su, der seine Freunde voller Liebe auf den richtigen Weg weist, ohne fertige Denkmuster vorzugeben, und so Hilfe zur Selbsthilfe gibt.

346 12. Die pädagogische Bemühung Ruhi Sus um den Chorgesang, sowie "Der Chor der Freunde" (Dostlar Korosu) Ruhi Su konnte seinen Traum, Musiklehrer zu werden, nach erheblichen Mühen verwirklichen. Ihm war es von großer Bedeutung, sein Wissen und Können mit Erfolg weiterzugeben. Was er erlernt hatte, teilte er in Ankara seinen Schülern der Zweiten Mittelschule (İkinci Ortaokul) und der Dorfinstitute bis zu seinem Inhaftierung von 1952 mit. Sein Ziel war auch, gemeinsam in einem Chor Türküs zu singen. In der Musiklehrerschule gründete er 1936 mit seinen Mitschülern den Chor der Musiklehrerschule. Seinen zweiten Chor gründete er in den Jahren 1944 -1947 an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie (Dil Tarih ve Coğrafya Fakültesi) der Universität Ankara. Auch im Gefängnis scharte er für eine kurze Zeit einen Chor um sich. Außerdem bildete Ruhi Su nach 1960 spontan Chöre mit jenen Intellektuellen, die sich zu der Zeit in den Wohnungen der Freunde trafen. An bestimmten Tagen in der Woche sang Ruhi Su in bestimmten Wohnungen in İstanbul mit diesen Intellektuellen Türküs, so in der Wohnung von Sabahattin Eyuboğlu in Maçka, in Gayrettepe bei Bertan Onaran, in Azra Erhats Wohnung in Teşvikiye, in Kalamış bei Vedat Günyol, in Büyükada bei Azra İnal, in Göztepe bei Ferit Celal Güven, in der Praxis von Türkan Saylan in Şişli..641 Er gründete ebenfalls einen Chor am Robert College in İstanbul. Der bedeutendste und wichtigste ist der „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu), der innerhalb der Gruppe „Theater der Freunde” (Dostlar Tiyatrosu) gegründet wurde. Im Jahre 1961 sollte Ruhi Su mit den Schauspielern des Kent–Theaters einen Lieder- und Gedichtabend organisieren. Gedichte sollten von den Schauspielern vorgetragen und die Lieder von ihm gesungen werden. Genco Erkal arbeitete damals auch am Kent-Theater. Er lernte Ruhi Su durch diese Veranstaltung kennen. Ruhi Su übte mit ihnen, wie Gedichte vorgetragen werden sollten. Er verzauberte sie mit seiner Hochachtung für seine Arbeit, seiner Leidenschaft, seiner Genauigkeit und seiner Vorstellung von der Interpretation der Volkslyrik. Erkal war zum ersten Mal Zuhörer seiner wunderbaren Stimme. Später in den 70er Jahren organisierten Ruhi Su und Genco Erkal gemeinsam ein Konzert am „Theater der Freunde“ (Dostlar Tiyatrosu) mit Liedern von Pir Sultan. Sie übten einen Monat lang das Konzert wie ein Theaterstück ein. Die Schauspieler trugen die Gedichte vor und begleiteten Ruhi Su als Chor. Sümeyra war in diesem Konzert zum ersten Mal auf der Bühne. Der Gedanke, einen Chor zu gründen, entstand

641 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 5. Aug. 2008 in Köln. 347 nach dem Erfolg dieser Konzerte. Das „Theater der Freunde“ suchte nach Chormitgliedern. Es kamen viele. Nach einem Auswahlverfahren gründete man im Dezember 1975 den „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu).642 Türküliebhaber, Lehrer, Krankenschwestern, Anwälte und Studenten, also Menschen aus allen Schichten und Berufen, die mit Ruhi Su Türküs singen wollten, begannen mit der Chorarbeit unter seiner Leitung. Der Chor, der zunächst die Bühne des „Theater der Freunde” (Dostlar Tiyatrosu) benutzte, setzte später seine Arbeit fort in einer Wohnung in Osmanbey, darauf im städtischen Konservatorium und dann in einem Gebäude des Rathauses von Beşiktaş und in der Architektenkammer. Ein Chormitglied redet davon, ihr Lehrer habe ihnen beigebracht, dass sie die Türküs ohne Übertreibung, zu dem Inhalt passend und richtig sängen. Außerdem habe er Wert darauf gelegt, dass sie mehrstimmig sängen. Deshalb gab er ihnen zunächst Beispiele von zweistimmigen Türküs. Die Jemen-Lieder sind ein gutes Beispiel für die unterste Stufe der Mehrstimmigkeit.643 Warum die Mehrstimmigkeit für Ruhi Su so wichtig war und welche Bedeutung sie für sein Musikverständnis hatte, zeigen folgende Ausführungen. Er sagte einmal, dass es in der türkischen Kultur eigentlich keine Polyphonie gebe:

In unserer Gesellschaft, die die Polyphonie gar nicht kennt, hat sie zweierlei Nutzen für die Ausbildung des Volkes und der Musikkünstler. Einerseits wird es viel interessanter für das Volk, in das Reich der polyphonischen Musik durch seine eigenen Volkslieder zu gelangen, andererseits lehrt sie den Musikkünstler im Rahmen ihrer Regeln in seiner eigenen Sprache zu denken.644

Im Jahre 1976 antwortet er auf die Frage, was für ihn revolutionäre Musik sei:

Unter dem Begriff Revolution verstehe ich das Bemühen um Freiheit, Kultur und Menschlichkeit. Kunst muss die gleichen Ziele haben. Ich verbinde für unser Land revolutionäre Musik mit der mehrstimmigen Musik.645

Schließlich trug die aufopferungsvolle und disziplinierte Arbeit mit dem “Chor der Freunde” ihre ersten Früchte: Die Langspielplatte “Die fremden Tore” (El Kapıları) kam 1976 heraus. Es war die erste Langspielplatte, die Ruhi Su mit der Solistin Sümeyra

642 Vgl. GÜRÇAY, Ercüment: Ruhi Su Dostlar Korosu 37. yılında yeni koristler arıyor, Demokrat Haber (29. Jan. 2012). In: http://www.demokrathaber.net/kultur-sanat/ruhi-su-dostlar-korosu-37-yilinda-yeni- koristler-ariyor-h6580.html. Abgerufen am 2. Apr. 2012. 643 Aus dem Gespräch mit Çiler Belen vom 25. Sept. 2010 in İstanbul. 644 Vgl. SU, Ruhi: Çokseslilik Üzerine, Orkestra 3, 26 (Mai 1965): 12-13. In: Türkischer Lehrerverein in Köln (Hrsg.): Türkülerde Çiceklenen Ruhi Su (1985): 95-96. 645 Vgl. SU, Ruhi im Gespräch mit ŞUBEN, Reyhan: Devrimci Müzik Üzerine. Ebd. 119-121. 348 Çakır und dem „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu) aufnahm. In den nächsten Jahren folgten „Der Morgen hat einen Besitzer” (Sabahın Sahibi Var), 1977 und „Die Samahs” (Semahlar), 1978. Die Schallplatten und die Konzerte in İstanbul und in den anderen Städten fanden große Zustimmung Das erste Konzert gab der Chor im „Theater der Freunde” (Dostlar Tiyatrosu). Die Musikkritikerin Filiz Ali, die Tochter des oppositionellen Schriftstellers Sabahattin Ali (dessen Ermordung bis heute nicht aufgeklärt ist) schrieb am 29. Januar 1977 in der Zeitung Politika eine Rezension dieses Konzertes, deren Hauptgedanken hier folgen. Sie sei am 2. Januar 1977 Zeuge eines Musikereignisses geworden, das die Menschen begeisterte. Ruhi Su habe mit einer völlig neuen Initiative den „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu) gegründet, welcher zum größten Teil aus Amateuren bestehe. Auch wenn einige dieser Personen Berufsmusiker seien, seien es nur wenige. Sie hätten seit einem Jahr mit Ruhi Su gearbeitet. Es sei offensichtlich, dass es eine disziplinierte, genaue und detallierte Arbeit war. Die Farben der Frauen- und Männerstimmen seien verfeinert worden und nun weich und aktiv. Niemand schreie, aber auch die mit einer leisen Stimme gesungenen Türküs seien klangvoll, im ganzen Saal hörbar, entschieden und kräftig. Der Text sei gut verständlich, denn der Ausdruck werde gut eingeübt, auf die Betonungen werde Wert gelegt. Während des gesamten Konzertes habe sich die Stimme des Chors vielleicht zwei bis drei Mal gehoben und so die bedeutsamen Gefühle und die Melodie betont. Einen wichtigen Punkt wolle sie noch ansprechen. Es könne sein, dass Ruhi Su alles mit Weitsicht, mit seiner persönlichen Begabung und mit jahrelanger Erfahrung verwirklicht habe, jedoch gäbe es eine noch wichtigere Eigenschaft Ruhi Sus. Er sei ein Meister seiner Technik. Wie komme die Stimme aus der Kehle des Menschen, was seien die Aufgaben der Stimmbänder, wie werde die Farbe der Stimme weich gemacht, von wo bis wo erstrecke sich die ungezwungen hervorgebrachte Stimme des Menschen? Die Antworten gäbe Ruhi Su in ausgezeichneter Weise aufgrund seiner professionellen musikalischen Ausbildung. Außerdem überlasse er nichts dem Zufall und stelle Rhythmus, Betonung, Ausdruck und musikalische Balance perfekt ein.646 Dieses Zeugnis einer Musikwissenschaftlerin ist ein zentraler Beleg für die disziplinierte Arbeit Ruhi Sus. An vielen Orten wurden Konzerte gegeben. Der Chor trat in İstanbul, Ankara und Bursa bei den Veranstaltungen der linken Parteien und Gewerkschaften auf.

646 Vgl. ALİ, Filiz: Müzik ve Müziğimizin Sorunları (1987): 201-202. 349 Die Mitglieder des Chors waren, wie bereits erwähnt, fast alle Amateure, die keine Noten lesen konnten; ihnen mussten Grundbegriffe der Musik erst beigebracht werden. Diese Arbeit übernahm Sümeyra Çakır; sie übernahm den theoretischen Teil der Chortätigkeit und Ruhi Su den Hauptteil, die Praxis. Ein anderes Chormitglied, Hüseyin Başaran, erinnert sich. Der Schwerpunkt habe Ruhi Su auf der Stimmausbildung gelegen. Bei jeder Übung habe er den Chor 15-20 Minuten Stimm- und Atemübungen durchführen lassen. Danach sei er zu Türküs mit einfachen Melodien übergegangen. Er habe ihre Noten an die Tafel geschrieben und vorgelesen. Auch habe er den Chor mit großer Geduld und Begeisterung Zeile für Zeile des Textes auswendig lernen lassen. Mit ihm zu arbeiten sei schön gewesen, aber auch schwer, denn er habe unerbittlich Disziplin und Aufopferung verlangt.647 Talentierten Chormitgliedern gab er unentgeltlich in seinem winzigen Arbeitszimmer in Nişantaşı / İstanbul Einzelunterricht. Ruhi Su hatte eine Eigenschaft, die vielen Künstler fehlte: In seiner Kunst kannte er keine Eifersucht. Für seine Arbeit jemanden zu gewinnen, war für ihn eine Freude.648 Heutige Sänger, und es gibt kaum jemanden, der seiner Wirkung nichts verdankt, sind in der glücklichen Lage, von Ruhi Su ein fertiges Repertoire übernehmen zu können; leider sind manche nicht fähig, ihren Dank an den Lehrer und seinen Namen über die Lippen zu bringen. Man kann der Ansicht sein, dieses Totschweigen sei eine noch schlimmere Zensur als die staatliche. Ruhi Su respektierte seine eigene Arbeit. Respekt erwartete er auch von seinen Zuhörern. Die Veranstaltungen und Abende der Linken waren durch die lauten Zurufe und Slogans der Fraktionen geprägt. Dieses Durcheinander fand jedoch immer ein Ende, wenn Ruhi Su auftrat. Man kann sagen, dass er der türkischen Linken nicht nur die Liebe zu Türküs beibrachte, sondern auch das Zuhören. Er war in jeder Körperhaltung ein Erzieher, ob er nun saß, stand oder seine Saz festhielt. Die Worte des Musikers Refik Saydams sind bezeichnend für das Lehrer- Schüler-Verhältnis: “Ich hätte es nur allzu gern gewollt, sein Schüler zu sein. Auch außerhalb eines Unterrichtsraumes, war er für uns mit seiner Stimme, seiner Saz, seiner Interpretation und seinen Vorstellung von der Musik ein Lehrer.649 Seine pädagogische

647 BAŞARAN, Hüseyin: Sesi hep Kulağımızda: „Merhaba Canlar”. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 255. 648 ARZIK, Nimet: 7 Gün (17. Jan. 1973). In: AKATLI, Füsun: Bir de Ruhi Su Geçti (2001): 88. 649 SAYDAM, Refik: Ruhi Su Gür Sesiyle Kulağımızda ve Dilimizde Hep Yaşayacak, Öğretmen Dünyası (Nov. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 259. 350 Vorstellung erscheint geprägt von den Erfahrung mit seinen deutschen Lehrern, die außerordentlichen Wert auf Diziplin, Leistung und Selbstbeherrschung legten. Ruhi Su machte die Chormitglieder intensiv mit den Inhalten der Türküs vertraut. Er lehrte sie, die gesungenen Türküs zu verinnerlichen. Er bezog den Text auf die Wirklichkeit und sorgte dadurch für ein besseres Verständnis der in seinen Lieder darstellten Realität. Er betonte immer wieder, dass neben der praktischen auch eine theoretische musikalische Ausbildung unumgänglich sei, um als Sänger professionell zu werden. Er gab den Mitgliedern des Chors ganz einfache, praktische Ratschläge für ein erfolgreiches Musikerleben, von denen folgende erzählt werden:

Leute, versucht früh ins Bett zu gehen. Schaut keine spannenden Filme. Haltet euch von scharfem und stark gewürztem Speisen fern. Ihr dürft kein Nachtleben haben. Macht jeden Tag Stimmübungen. Wiederholt die Türküs mit leiser Stimme. Während des Konzerts sollten eure Blicke auf mich gerichtet sein. Lächelt, wenn ihr die Türküs singt. Seid an Konzerttagen vollzählig650.

Der Chor der Freunde (Dostlar Korosu) unterbrach infolge des Putsches am 12. September 1980 seine Arbeit. Nach dem Tod Ruhi Sus 1985 übernahmen nacheinander Künstler wie Timur Selçuk, Sarper Özsan, Cenan Akın, Öcal Öcalan, Cengiz Ünal, İbrahim Güler, Ahter Destan, Ortaç Aydınoğlu, Hürdağ Aydın, Berktay Akyıldız sowie ehemalige Mitglieder des Chors wie Refik Köksal und Hüseyin Tutkun die Leitung, so dass der Chor seine Existenz bis heute bewahren konnte. Er trat regelmäßig an allen Gedenkveranstaltungen zum Tod Ruhi Sus auf: Das erste Konzert nach dem Tode Ruhi Sus fand unter der Leitung von Timur Selçuk 1986 im Kino Kızılırmak /Ankara statt, ebenso im gleichen Jahr unter dem gleichen Dirigenten im Kino Şan / İstanbul. Ein weiteres Konzert fand 1987 im Kino Konak / İstanbul statt. Es wurde inszeniert von Genco Erkal und den Dirigenten Sarper Özsan und Timur Selçuk. Neben den Gedenkveranstaltungen gab es OpenAir-Konzerte in Harbiye / İstanbul und im Konzertsaal Cemal Reşit Rey in İstanbul. Auch an Gedenkveranstaltungen in Köln und Frankfurt im Jahre 1991 nahm der Chor teil. Außerdem trat er bei den Veranstaltungen der türkischen Architektenkammer und des türkischen Karikaturistenvereins in İstanbul auf.651 Außerdem sind folgende Aufführungen zu nennen:

650 Nach BAŞARAN, Hüseyin: Sesi hep Kulağımızda: „Merhaba Canlar”. In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 256-257. 651 Nach einem Gespräch mit Çiler Belen vom 25. Sept. 2010 in İstanbul. 351 25. September 1993: „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var) Inszeniert von Rüştü Asyalı und dem Dirigenten Cengiz Ünal. Ort: Büyük Tiyatro, Ankara. 26. August 1995 „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var) Inszeniert von Gülsen Tuncer und dem Dirigenten Öcal Öcalan; Ort: Efes Odeon, İzmir. 7. Oktober 1995 „Der Morgen hat einen Besitzer“ (Sabahın Sahibi Var) Inszeniert von Nevzat Şenol, Gülsen Tuncer und dem Dirigenten Öcal Öcalan; Ort: Harbiye Açıkhava Tiyatrosu, İstanbul. 8. Juni 1996: Konzert mit dem „Ruhi Su-Chor der Freunde”. Dirigent Refik Köksal; Ort: İstanbul Teknik Üniversitesi Maçka Salonu, İstanbul. 22. März 1997 Gründungskonzert der „Ruhi Su Kultur - und Kunststiftung“. Dirigenten Refik Köksal und Timur Selçuk; Ort: İstanbul Teknik Üniversitesi Maçka Salonu, İstanbul. 652 Obwohl die „Ruhi Su Kultur- und Kunststiftung“ (Ruhi Su Kültür ve Sanat Vakfı) nicht mehr existiert, besteht der „Ruhi Su-Chor der Freunde“ (Ruhi Su Dostlar Korosu) weiter.653 An jedem Todestag Ruhi Sus und bei Anlässen wie dem 1. Mai gibt der Chor Konzerte. Das Organisationskomitee der Feierlichkeiten zum 1. Mai 2011 gab bekannt, dass die Maidemonstration am Taksim-Platz mit dem „Ruhi Su-Chor der Freunde“ und weiteren Künstlern eröffnet werde. Zwei Tage zuvor teilte man mit, das Motto der Demonstrationen laute „Der Morgen hat einen Besitzer“. Diesen Satz aus dem Lied „Drei Mädchen auf dem Şişli-Platz“ (Şişli Meydanında Üç Kız) 654 von Ruhi Su zeigt, welche Wertschätzung er immer noch unter den Werktätigen genießt. Das Lied spielt sowohl an auf die jungen Studentinnen, die am hellichten Tage am 24. April 1977 auf dem Şişli-Platz erschossen wurden als auch auf das Massaker am 1. Mai 1977, das auf dem Taksim-Platz stattfand. Anlass zu dem Massaker war die Feier zum 1. Mai, an der auch Ruhi Su mit seinem Chor teilnahm. Es ist bemerkenswert, dass am 1. Mai 2011, 34 Jahre nach diesem Mord, seine Schüler auf dem Taksim-Platz, der heute im Kopf des Volkes „1.Mai Platz“ genannt wird, dieses Lied gesungen haben.

652 Verfasser verdankt diese Information Çiler Belen, welche bis heute, 2012, dem Chor der Freunde angehört. 653 Zu Lebzeiten Ruhi Su hieß dieser Chor nur „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu). Nach seinem Tod erhielt er den Beinamen „Ruhi Su“. 654 Siehe oben Kap. 7.1.3. 352 13. Persönliche Erinnerungen an Ruhi Su Die Strenge und Disziplin, die er stets bei der Arbeit hatte, konnte man in seinem privaten Leben nicht erkennen. Er war immer gut gelaunt und legte es darauf an, die Menschen um sich herum zum Lachen zu bringen. Er erzählte sehr gut Witze und Anekdoten. Wie ein Schauspieler ahmte er auf lustige Weise Menschen nach. Er konnte zwanglos mit einfachen Menschen reden. Er erzählte gern von sich selbst eine Anekdote: In seinem Militärdienst war er der einzige, der die schwierig zu singende türkische Nationalhymne richtig sang. Dies war auch dem kommandierenden Offizier aufgefallen. Dieser lobte ihn und fragte: „Mein Junge, wie machst du das, dass du so schön singen kannst?“ Er antwortete: „Ich bin ein Bassbariton.“ Daraufhin drehte sich der Kommandant zur Gruppe und rief: „Alle müssen jetzt Bassbariton singen“655. Der Verfasser bat einige Freunde aus der Zeit des „Chors der Freunde“ (Dostlar Korosu) in İstanbul, ihm auf folgende Frage eine Antwort zu geben: „Welche Bedeutung hat Ruhi Su für dich und welchen Einfluss hat er auf dich gehabt?“ Göksun Yener, Mehmet Çapan, İrfan Ertel, Karabey Aydoğan, Canan Bilge, Çiler Belen und Hüseyin Erdem schrieben oder sprachen mit ihm. Göksun Yener antwortete mit einem einzigen Satz: „Disziplin, lachende Augen und Hoffnung in einer hoffnungslosen Zeit“.656 Mehmet Çapan schrieb einen langen Brief, aus dem folgendes Zitat stammt:

Es war das Jahr 1974. Ich war Lehrer in der Provinz Tunceli. Eines Tages besuchte ich einen Kollegen in einem anderen Dorf. Er legte eine Kassette in den Kassettenspieler. Mir wurde sehr heiß im Gesicht. „Wer ist das, mein Freund?“ fragte ich. „Es singt Ruhi Su“, antwortete er. Ich singe seit meiner Kindheit Türküs mit Leidenschaft. Ich imitiere Volksdichter wie Aşık Veysel oder Davut Sulari. Die Stimme, die ich jetzt hörte, klang aber nicht so. Wie ruhig und bestimmt er sang! Er war für mich eine Erleuchtung. Seit diesem Tag nahm ich mir vor, Ruhi Su kennen zu lernen. Ich ließ mich nach İstanbul versetzen. Nach seinem Konzert in der Irenenkirche ging ich zu ihm hin. Ich sagte ihm, dass ich in seinen Chor wolle. Nach einigen Fragen nach meiner Herkunft, meinen Beruf und meine Musikkenntnis willigte er ein. Ich war überglücklich. Seit diesem Tag weisten mir das von ihm Erlernte den Weg.657

Mehmet Çapan führt heute Ruhi Sus Gesangstradition in öffentlichen Veranstaltungen in der Türkei und in Deutschland fort.

655 Aus dem Gespräch mit Talip Apaydın vom 15. Juli 2005 in Ören. 656 Göksun Yeners e-mail an den Verfasser vom 16. Jan. 2009. 657 Aus dem Brief Mehmet Çapans an den Verfasser vom 1. Nov. 2009. 353 İrfan Ertel lernte Ruhi Su kennen, als er Student im Fach Malerei an der Akademie für Schöne Künste in İstanbul war. Ertel fühlte sich mehr durch Ruhi Su gefördert als durch die Akademie: „Seine Vorschläge und Kritiken, was meine Malerei anging, wurden für mich Anleitung und Wegfindung.“ İrfan Ertel, der die Hülle der Langspielplatte „Zeybeks“ (Zeybekler) entwarf, erzählt:

Eines Tages rief Ruhi Su mich und ließ mich das vorläufige Konzept der Langspielplatte „Zeybeks“ hören. Er sagte „Ich bereite das Album vor und du wirst das Cover entwerfen!“ Unter denen, die zuvor diese Aufgabe übernommen hatten, waren Meister wie Abidin Dino und Avni Arbaş. Ich war jedoch noch ein Student. Wie sollte das gehen? „Konnte ich das schaffen?“ „Selbstverständlich, du wirst es sehr gut machen, ich bin davon überzeugt; du musst lernen, dir selbst zu vertrauen.“ Es verging etwa ein Monat, nach dem ich Ruhi Su den Entwurf gegeben hatte. An der Tür des Grafikbüros in Cağaloğlu, in dem ich arbeitete, klopfte es. Ich machte auf. Mein Meister stand vor mir! Er hatte eine leichte Grippe, stieg die Treppen vier Stockwerke hoch und schwitzte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich bat ihn herein. Er zeigt auf das Paket in seiner Hand und sagte „Ich habe von der Druckerei unser Cover abgeholt. Es hat mir sehr gefallen und ich wollte, dass du es als erster siehst.658

Bei dem Interview sprach Ertel davon, wie sehr ihn Ruhi Su als Mensch geprägt habe:

Wir hatten uns eines Tages darauf geeinigt, am nächsten Tag mit meiner ganzen Familie nach Yalova zu fahren. Als ich am nächsten Morgen an der Anlegestelle der Fähre ankam, wartete er bereits auf uns. Auf die Frage, warum er schon so früh hier sei, antwortete er, dass er nicht mitkommen könne, weil sein Sohn spät abends vom Militärdienst zurückgekommen sei. Ich sagte, es sei doch nicht nötig gewesen, wegen der Entschuldigung hierher zu kommen, bei der großen Entfernung zu seiner Wohnung. Ich hätte ihn so oder so angerufen, falls er nicht erschienen wäre. Er jedoch beteuerte: „Nein nein, man muss immer Bescheid geben.659

İrfan Ertel erklärte, dass er mit Ruhi Su über politische Themen sehr offen reden konnte. Er habe ihn noch nie über jemand anderem schlecht reden hören. Dies sei bezeichnend für seine sozialistische Anschauung:

Als ich ihm von Dingen erzählte, die mich störten, antwortete er bloß, dass sie sich schon von selbst erledigen würden. Er war ein Mensch, der nie persönlich wurde und nie ins bloße Schwatzen fiel. Er war ein äußerst respektvoller Mann und brachte einem bei, wie man sich zu verhalten habe; gerade weil wir aus einer Zeit kamen, in der jeder abfällig über andere sprach und viel Gerede gemacht wurde.660

658 Aus dem Gespräch mit İrfan Ertel vom 27. Sept. 2010 in İstanbul. 659 Ebd. 660 Ebd. 354 Als Ertel studierte, organisierte er eine Ausstellung seiner Bilder im Foyer des Vasıf-Öngören-Theaters, bei der er selbst auftrat. Er erinnerte sich, wie Ruhi Su die Einladung für die Vernissage annahm und mit ihm gemeinsam dorthin ging:

Er nahm mich an die Hand und sagte „Na dann mal los“. Ich kann nicht vergessen, was er damals über meine Ausstellung sagte. Er war so ermunternd und motivierend. Er brachte viele gute Interpretationen ein und wies auf das hin, worauf ich während des Malens nicht geachtet hatte. Eine besondere Gabe Ruhi Sus war, dass er einen stolz und mutig machen konnte. Er war ein wahrer Lehrer. Man stelle sich das mal vor: Die Kritik und das Lob, die ich eigentlich an der Akademie erhalten sollte, erhielt ich von ihm. Sein Wort „Die Stille hat einen Wert“ vergesse ich nie. Daraus habe ich gelernt, dass sogar eine leere Oberfläche ihren Wert hat. Eines Tages sagte ich ihm, dass ich eine bis dahin noch nie gehörte Türkü auswendig gelernt hätte. Er hörte sich mein Singen an und sagte, dass die Türkü mit meiner Stimme eine Harmonie bilde. Hier wird wieder seine ermunternde und aufbauende Zuwendung deutlich.661

Karabey Aydoğan erzählte eine weitere Anekdote, die erkennen ließ, dass Ruhi Su Späße selbst in politischen Notsituationen machte:

Während eines Ausnahmezustandes in den 70er-Jahren trafen wir uns zu Chorarbeiten. Dabei begrüßten wir uns recht herzlich und gaben uns auch rechts und links Küsse. Er sagte dabei „Küsst euch ruhig“ das allein ist noch nicht verboten.662

Karabey Aydoğan vergaß nie eine nur oberflächlich komische Gelegenheit, von der ihm Ruhi Su erzählte:

Eines Tages ging ein Zuhörer auf Ruhi Su zu und sagte, der Sozialismus solle doch endlich kommen, damit alle mal die Frauen tauschen könnten. Ruhi Su lachte zwar, aber er wusste auch, dass ein Funke Wahrheit in der Forderung steckte. Viele Männer verstanden den Sozialismus in der Tat als eine solche Lizenz.663

Aydoğan betonte, Ruhi Su sei ein Erzieher gewesen. In erster Linie habe er versucht, seine Zuhörer zu erziehen. Seine Zuhörer hätten ihm achtsam zugehört, um am Ende wie euphorisiert zu applaudieren. Karabey erklärte, warum er selbst bei den damaligen Demonstrationen so stimmgewaltig gewesen sei:

Samstags brachte Ruhi Su zunächst mit Stimmübungen Feuer in unsere Lungen. Überdies sangen wir noch zwei Stunden Türküs. Dann ging ich zu den

661 Ebd. 662 Aus dem Gespräch mit Karabey Aydoğan vom 27. Sept. 2010 in İstanbul. 663 Ebd. 355 Demonstrationen und schrie bis in den Abend. Während die Stimmen der anderen schlapp machten, schrie ich weiter. Erst da merkte ich, wie wichtig die Stimmübungen waren.664

Canan Bilge, ein weiteres Chormitglied jener Tage, kam heimlich zu den Chorübungen, weil ihre Eltern wegen der politischen Einstellung Ruhi Sus sich Sorgen um sie machten. Als das Chor eines Tages ein Konzert außerhalb von İstanbul hatte, konnte sie daran wegen ihrer Eltern nicht teilnehmen. Sie schilderte Ruhi Su die Situation, worauf er sagte: „Mach dir keine Sorgen. Streite dich nicht wegen uns mit deiner Familie. Wir werden dein Fehlen beim Konzert irgendwie schon kompensieren. Hauptsache, du verlässt uns nicht.” In der Korrespondenz mit dem Verfasser bemerkte sie: Die Atmosphäre, die Ruhi Su mit seiner Chortätigkeit Ende 1975 schuf, war für uns junge Menschen eine Oase, in der wir uns während der politischen Spannungen des Landes sicher fühlten. Wir warteten ungeduldig auf die Chorübungen. Während auf den Straßen politische Anhänger sich mit Waffen bekämpften, brachte er uns mit seiner entschiedenen, ruhigen und toleranten Art alle im Chor zusammen, auch wenn wir, obwohl wir dieselbe Grundeinstellung hatten, im Einzelnen uneinig waren. Und damit hat er uns die Türen in andere Welten geöffnet. In den fünf Jahren mit ihm lernten wir die Türküs dieses Landes kennen und singen. Wir liebten unseren Lehrer und er liebte uns. Er gab uns wichtige Ratschläge, wie man denkend und sehend auf das Leben schaut, wie man zu einem mündigen Bürger wird. Wir wurden bei ihm erwachsen. Ohne uns direkten Rat zu geben, ohne unsere Gedanken durcheinander zu bringen, gab er uns viel Respekt und Liebe. Er ließ uns unsere Träume und Jugend ausleben.665

Çiler Belen erinnerte sich an eine Chorübung, in der sie zusammen mit Canan Bilge die ganze Zeit unentwegt kicherten. Ruhi Su bemerkte es und ließ sie zunächst gewähren. Nach der Übung ging er auf beide zu, umarmte sie und sagte: „Ihr habt viel gelacht. Lachen ist etwas sehr Schönes, macht weiter.” Çiler Belen kommentierte: „Im ersten Moment hatten wir Angst, dass er mit uns schimpfen würde. Aber das Gegenteil passierte. Dies war eigentlich eine indirekte Kritik unseres Verhaltens. Er stellte uns damit vor den anderen nicht bloß und brachte uns somit zum Nachdenken. Seine liebenswerte Persönlichkeit spiegelte sich immer wieder in seiner Kritik.“666

664 Ebd. 665 Aus dem Gespräch mit Canan Bilge vom 25. Sept. .2010. 666 Aus dem Gespräch mit Çiler Belen vom 25. Sept. 2010.

356 Hüseyin Erdem erzählt:

Ruhi Su wurde manchmal zu großen Festessen eingeladen. Es wurde immer vergessen, dass er bei diesen opulenten Festmahlen Türküs stets mit leerem Magen singen wollte. Es ärgerte ihn sehr, wenn man ihn beharrlich zu Tisch bat oder wenn er wenigstens mit seinen schönen Gesprächsbeiträgen denen Gesellschaft leisten sollte, die mit großem Appetit aßen. In dieser Hinsicht verstanden ihn außer „dem Kreis der blauen Reise“667 nicht einmal seine kultiviertesten Freunde. Gleich, wer ihn einlud, unter dem Lärm des Geschirrs und dem Schmatzen der Esser sang er niemals Türküs. Er sagte zu den Gästen „Esst ihr ruhig, Ich bereite für euch die neuesten Stücke zusammen mit Hüseyin vor“. An solchen Veranstaltungen nahmen natürlich auch Kinder teil, die vorher gespeist und in ein separates Zimmer gebracht worden waren. Hierbei aß ich ebenfalls nichts. Wir gingen in das Zimmer der Kinder, Ruhi Su präsentierte ihnen seine neuesten Türküs und wollte ihre Meinung hören. Die Kinder waren wirklich unglaubliche Kritiker. Bei diesem Gedankenaustausch legte sich seine Wut. Wir stellten eine Reihenfolge der Stücke zusammen. Oder wir unterhielten uns amüsiert über das Festessen. Am Ende sang er für die vom Essen müde Gewordenen und vom Alkohol Gezeichneten Türküs und trug ihnen Gedichte vor. Danach aßen wir entweder das für uns aufgehobene Essen oder flohen mit der Begründung „Wir müssen ganz schnell irgendwo hin“, und aßen Kleinigkeiten an einem Ort, der uns gefiel.668

667 Die "Blaue Reise" (Mavi Yolculuk) wurde unter der Initiative von Cevat Şakir Kabaağaç, der den Spitznamen "Fischer aus Halikarnassos" trug, 1945 begonnen. Sie hatte den Zweck, die Zivilisationen des Mittelmeers kennenzulernen. Schriftsteller und Künstler wie Sabahattin Eyüboğlu, Azra Erhat, Erol Güney, Necati Cumalı, Bedri Rahmi Eyüboğlu, Sabahattin Ali, Fuat Ömer Keskinoğlu schlossen sich an.. 668 Aus dem Gespräch mit Hüseyin Erdem vom 31. Aug. 2011 in Köln. 357 14. Schluss Der Schluss dieser Studie kehrt zu ihrem Anfang und ihren Zielen zurück. Aufzuweisen waren: Erstens, was war die Bedeutung des Sängers und Musiktheoretikers für die türkische Volksmusik? Zweitens, was bedeutet die Erneuerung solcher Musik durch Ruhi Sus innovative Methode ihrer Verbindung mit westlicher Musik? Drittens, wie vollzog sich das pädagogische Wirken Ruhi Sus und damit verbunden in der Volksbildung? Viertens, Welche Bedeutung hatte der politische Mensch Ruhi Su für rechte wie linke Parteien und für das einfache Volk? Darstellbar waren diese vier Fragestellungen, unter denen sich die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung versammeln lassen, am ehesten, indem der Verfasser die von Schicksalschlägen geprägte Existenz Ruhi Sus in einer an politischen Risiken nicht armen Türkei ebenso wie sein stetiges Kunstwollen und Kunstschaffen nachzeichnete. Geholfen hat ihm bei dieser Positionierung der Zugriff auf ein umfangreiches biographisches Material, welches er der Familie, den Freunden und den Kritikern Ruhi Sus verdankt. Zum Ersten: Der Zustand, in dem Ruhi Su die Volksmusik vorfand, war nach seinem Konzept ein erbarmungswürdiger, gekennzeichnet durch gedankenloses Trällern. Was Ruhi Su von den Radiosängern unterschied, war die Qualität seiner Musik. Diese Sänger gaben lediglich weiter, was sie in der Tradition fanden. Ruhi Su aber hat eine völlig neue Volksmusik zum Vorschein gebracht, die auch in den Städten Anklang fand. Seine Kritik fußte auf der allgemeinen Theorie, dass die Volksmusik, die am reinsten in den Türküs verkörpert wird, gleichzeitig einen Schatz an Weisheit darstellt, den das anatolische Volk über die Jahrhunderte zusammengetragen hat. Im Besonderen, will sagen, in den Anforderungen an den Sänger der Türküs bestand er auf musiktechnischen wie auf kulturanthropologischen Kenntnissen: Stimmausbildung und Beherrschung der Musikregeln, Liebe zum Volk, Kenntnis der historischen und geographischen Genese der Türküs, Vertrautheit mit der Sprache dieser Lieder. Dass er selbst vorbildlich vorging, erwies seine unermüdliche Sammeltätigkeit, Vertonung und neue Sinngebung von Türküs. Hinzuweisen war auch auf Ruhi Su als Essayisten und den Verfasser von

358 bedeutender Lyrik. Den Zeugnissen von Kennern und fortschrittlich denkenden Liedermachern war daher allgemeine Zustimmung zu entnehmen. Zum Zweiten: Innovation der türkischen Volksmusik war für Ruhi Su gleichbedeutend mit ihrer Verknüpfung mit dem europäischen Liedgut in der Art Schuberts. Seine musikalische Ausbildung, gerade auch unter westlichen Lehrern, und seine Tätigkeit als Opernsänger waren ein Ansporn zu solcher Überlegung. Zudem betrachtete er die Mehrstimmigkeit als ein, wenn auch schwierig zu handhabendes, Werkzeug des Fortschritts der türkischen Gesellschaft. Andererseits sah er in der den einzelnen Sänger begleitenden Saz ein Instrument, das seit Jahrhunderten Denker und Kämpfer gegen Machtapparate wie, Pir Sultan Abdal, Köroğlu und Dadaloğlu benutzt hatten. Wie sehr er in dieser Tradition einer gesellschaftlichen Erneuerung stand, zeigten die vielen Texte seiner Vorgänger, welche er in sein Repertoire aufnahm und gelegentlich modulierte. Ruhi Su interpretierte die Türküs mit großer Sensibilität und mit der Kenntnis eines akademisch ausgebildeten Sängers ohne dabei die authentische Stimme der Tradition aus dem Ohr zu verlieren.

Zum Dritten: Natürlich war auf seine Lehrtätigkeit, genauer gesagt, auf seinen pädagogischen Eros einzugehen. Doch dies waren nur, wenn auch wichtige, Stationen auf seinem Weg zumal sie in der offiziellen Welt nicht von Dauer waren und von Berufsverboten abgelöst wurden. Die aufschlussreiche Fragestellung war dies jedoch nicht. Sie, und ihre Antwort, lagen anderswo. Ruhi Su sah sich stets der alten ländlichen Tradition des verpflichtet. Gemeint ist mit diesem Konzept eine gegenseitige Hilfe der Dorfgemeinschaft, sei es bei der Ernte, bei Häuserbau, schließlich beim Bau der Dorfinstitute. Ruhi Su übernahm die Vorstellung des İmece von Sabahattin Eyuboğlu, der als Vater diese Vorstellung in moderne Zeit wieder belebt hatte. Praktiziert hat Ruhi Su İmece auf vor allem zwei Weisen. Einmal, indem er selbst an Dorfinstituten lehrte, gewiss aus einer Sympathie mit der Armen und unterdrückten Landbevölkerung, die nicht zuletzt aus seinen eigenen ärmlichen Ursprüngen ihre Kraft zog. Ebenso gewiss stärkte es seine Energie, dass er mit dem für die Dorfinstitute verantwortlichen İsmail Hakkı Tonguç zusammenarbeitete, der seinerseits das pädagogische Ideal Georg Kerschensteiners von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu verwirklichen suchte. Beide hatten, schlagwortartig formuliert, ein anatolisches Herz und einen europäischen Kopf. Dann übte er eine Art von musikalischer İmece aus. Er sang selbst in Gefängnissen, um seine Mithäftlinge aufzurichten, er bildete Chöre und entdeckte und unterstützte Talente im Land. Die Wichtigkeit des İmece für ihn wurde daraus ersichtlich,

359 dass er seinem Verlag, in dem er alle seine Schallplatten herausbrachte, auch diesen Namen gab. Zum Vierten: Ruhi Sus Sympathie für die Armen und Unterdrückten zeigte sich in der Opposition zu einem rechtsgerichteten Staat. Seine in den Türküs enthaltene Kritik war stets unerwünscht, und Unerwünschtheit übertrugen die Regierenden vom Lied auf den Sänger. Zu ihren Grundideologemen gehörte, im Land war alles bestens, Kritik grenzte an Beschmutzung der Nation; die angemessene Reaktion war ihrer Sicht nach Berufsverbot und Haft, mit denen sie Ruhi Su denn auch belegten. Anfang der 40er Jahre war Ruhi Sus Position noch völlig anders, denn er ermöglichte der urbanen nationalistischen Elite eine Identifikation mit dem Volk und seine Kultur und gewann weite Anerkennung. Das kemalistische Prinzip der Volkstümlichkeit (Halkçılık) wurde von ihm in idealer Weise vertreten. Auf dem politischen Feld, das durch eine entschiedene Wendung nach rechts gekennzeichnet ist, wurde später seine Position immer schwächer. Seine Parteinahme für die Aleviten, an deren Musik er die moralische Kraft, den Widerstand gegen Falschheit und Ungerechtigkeit schätzte, wurde ebenfalls suspekt. Gleichwohl war zu differenzieren: Den Aleviten galt ihre Musik als theologisches Phänomen, Ruhi Su hielt seiner säkularen Prägung fest. Sein Werk war daher zu bezeichnen als einerseits ein Dokument des sozialen und politischen Widerstands gegen rechte, konservative Ideologien. Anderseits konnte die Linke ihn ebenfalls nicht für Parteipolitik vereinnahmen. Bei der parteipolitischen Führung traf Ruhi Su auf ein ständiges Missverstehen. Als Sprachrohr sozialistischer Parolen war er nützlich; seine künstlerische Leistung konnten sie schlechthin nicht wahrnehmen. Als Integrationsfigur unter der zerstrittenen Linken war er dennoch kaum wegzudenken. Die Würde des Menschen stand ihm über Parteipolitik. Seinem „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) brachte er kurdische, alevitische und armenische Lieder bei. Diese Tatsache zeigte das differenzierte Verständnis seines Gründers für die Kultur in der Türkei. Das einfache Volk liebte ihn, wie seine Reise nach Australien, die dortigen Konzerte und seine Beerdigung zeigten. Seine Position wurde am ehesten als die eines idealistischen, eines menschlichen Kommunisten charakterisiert. Zusammengefasst: Ruhi Su ganzheitlich darzustellen hieß, ihn als künstlerische und zugleich als moralische Autorität zu begreifen.

360 15. Die Liste der Gesprächspartner Sıdıka Su, in Herne, 21. April 2002 Talip Apaydın, in Ören, 15. Juli 2005 Abdullah Özkucur, in Ankara, 20. Juli 2005 und 6. Aug. 2009 Dr. med. Balkar Yekebaş, in Köln, 25 Mai 2006 Bertan Onaran, in İstanbul, 25. Juli 2007 und 23. Sep. 2010 Ilgın Su, in İstanbul, 28. Juli 2007 Hüseyin Erdem, in Köln, 5. Aug. 2008 und 31. Aug. 2011 Göksun Yener, e-mail aus Bursa, 16. Jan. 2009 Mehmet Çapan, Brief aus Reutlingen, 1. Nov. 2009 Canan Bilge, in İstanbul, 25. Sept. 2010 Çiler Belen, in İstanbul, 25. Sept. 2010 İfan Ertel, in İstanbul, 27. Sept. 2010 Karabey Aydoğan, in İstanbul, 27. Sept. 2010 İbrahim Yüksel, e-mail aus İstanbul, 28. Okt. 2010

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380 Behcet Sovuksu wurde 1950 in Samandağ-Türkei geboren. Nach der Ausbildung für das Lehramt an Grundschulen in Hatay und an Mittelschulen und Gymnasien an der Pädagogischen Hochschule in Diyarbakır im Fach Türkisch, war er von 1971 bis 1980 als Lehrer tätig. 1980 siedelte er nach Deutschland über und erwarb an der Universität Freiburg 1981 das Zertifikat „Deutsch als Fremdsprache“. Von 1981-1984 arbeitete er in Mülheim/Ruhr in einer „Maßnahme zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung junger Ausländer.“ Seinen philologischen Beruf setzte er, ab 1983 nebenamtlich und 1984 hauptamtlich am Heisenberg-Gymnasium Gladbeck fort. Gleichzeitig studierte er in den Fächern Islamwissenschaft, Orientalische Philologie und Pädagogik an der Ruhr- Universität Bochum mit Magister-Abschluss im Jahre 2008. Seit 2010 befindet er sich im Vorruhestand.

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