Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I
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Einzelrezensionen THEORIE UND METHODEN DER auch einen Sohn testamentarisch mit zu beden- GESCHICHTSWISSENSCHAFT ken hatte. Im folgenden Beitrag nimmt Andreas Hansert das Patriziat der Reichsstadt Frankfurt am Main Verwandtschaften an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit in den Fokus. Auf der Grundlage aus- Fertig, Christine/Lanzinger, Margareth (Hrsg.) : führlicher genealogischer Vorerhebungen gelingt Beziehungen – Vernetzungen – Konflikte. Per- es dem Autor zu zeigen, wie sich das Patriziat, spektiven Historischer Verwandtschaftsfor- insbesondere durch zunehmende Restriktionen schung, 286 S., Böhlau, Köln u. a. 2016. bei der Gattenwahl, als exklusiver Geburtsstand zu formieren begann. Sébastian Schicks Beitrag 2010 und 2011 fanden in Halle und Münster handelt bereits im 18. Jahrhundert – und zwar im zwei Konferenzen über Dimensionen von in der Beziehungsgeflecht der englisch-hannoverischen Vergangenheit praktizierten Formen von Ver- Personalunion, in dem die beiden Brüder Gerlach wandtschaft, verwandtschaftlichen und alternati- Adolph und Philipp Adolph Münchhausen als ven Netzwerken statt. Ihnen ist der vorliegende hohe Staatsdiener – der eine in London, der an- Band im Wesentlichen entwachsen. Die elf Bei- dere in Hannover – für den König und Kurfürsten träge sowie der Einleitungstext wurden von acht eine zentrale Vertrauensachse darstellten. deutschen und vier österreichischen Historikerin- Der Beitrag Sandro Guzzi-Heebs bleibt im nen und Historikern verfasst, beziehen sich auf 18. Jahrhundert und analysiert verwandtschaft- den deutschen Sprachraum zwischen Straßburg liche Netzwerke in Walliser Gemeinden und (erster Beitrag) und Graz (letzter Beitrag) so- vermisst die konkrete soziale Wirkung von Ver- wie auf den langen Zeitraum vom 14. bis zum wandtschaftssolidaritäten über politisch, sozial 20. Jahrhundert. „Ziel“ – so die beiden Heraus- und sexuell ‚abweichende‘ Netzwerke und die geberinnen in der Einleitung – „war es, Verwandt- konkrete soziale Nutzung verschiedener Katego- schaft in einer milieu- und epocheübergreifenden rien von Verwandten. Jürgen Schlumbohms Bei- Perspektive zu adressieren und neue Richtungen trag fokussiert auf die Stadt Göttingen und ihre aufzuzeigen“ (S. 7). Die meisten der Beiträge unmittelbare Umgebung, auf ihre ledigen Mütter stellen daher schnappschusshafte Mikrostudien sowie auf die Akten ihres Entbindungshospitals dar und weisen eine zeitlich wie örtlich begrenz- im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Er te Aussagekraft auf. Lediglich der Beitrag der kommt zu dem Schluss, dass in der Praxis in ei- Mitherausgeberin Margareth Lanzinger weicht ner überwiegenden Zahl der Fälle die Obsorge von diesem Schema ab. Er handelt über die der Kinder der Mutter beziehungsweise ihrer Ver- Dispenspraxis von Verwandtenheiraten im aris- wandtschaftsgruppe zufiel. tokratischen Milieu Ende des 18. Jahrhunderts Christine Fertig, die zweite Mitherausge- und hat so etwas wie ein kulturvergleichendes berin, untersucht anhand zweier westfälischer Potenzial in sich. Kirchspiele das Ineinandergreifen von Verwandt- Der Reigen der packend gestaltenden Mi- schaft und Patenschaft im selben Zeitraum. krostudien setzt mit einer Studie über ein ver- Sie beobachtet in beiden Fällen, wenngleich in brecherisches, auf Verwandtschaftsbeziehungen unterschiedlichen Ausformungen, dass die stra- beruhendes Syndikat in den höchsten Verwal- tegische Auswahl der Paten nicht auf die Er- tungskreisen der Stadt Straßburg am Ende des weiterung des Solidaritätsnetzwerks, sondern 14. Jahrhunderts ein. Die Autorin, Sabine von auf die Intensivierung des verwandtschaftlichen Heusinger, präsentiert dabei auch die Vorzüge Netzwerks abzielte. Elisabeth Timm wendet sich der von ihr angewandten Netzwerkforschung his- einem völlig anderen Aspekt von Verwandtschaft torischer Ereignisse. Der folgende Beitrag, von zu, nämlich der populären Genealogie seit dem Charlotte Zweynert verfasst, beschäftigt sich mit 19. Jahrhundert. Sie fragt sich, weshalb und zu dem Testament des im Jahr 1444 zweitgebore- welchem Zweck Verwandte aus Genealogien nen Sohn des Markgrafen von Mantua, Ludovico entfernt und Nichtverwandte in solche künstlich Gonzaga, Kardinal Francesco Gonzaga aus des- eingefügt werden. Sie kommt zu dem Schluss, sen Todesjahr 1483. Dieses Testament dient der dass heutzutage ein neuer genealogischer Uni- Autorin als probates Hilfsmittel zur Erschließung versalismus herrsche, in dem jede und jeder mit und Bewertung der verwandtschaftlichen Bezie- allen anderen Menschen potenziell gleich gültig hungen des Kardinals, der in seinen Verfügungen verbunden sei. Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 97 Die abschließenden Beiträge befassen sich mit Phantomgrenze? Sinke verglich Kindheitser- Frauen und ihren sozialen Netzwerken. Brigitte innerungen an strenge Kontrollen bei gren- Rath und Barbara Heller-Schuh stellen die Frau- züberschreitenden Wochenendausflügen von en- und Friedensaktivistin der österreichischen Michigan nach Kanada, aber auch frühere Rei- Zwischenkriegszeit Olga Misarˇ (1876–1950) in seerlebnisse an der österreichisch-deutschen das Zentrum ihrer Betrachtungen. Als Grundla- Grenze mit etwas, das sie nun tief beeindruck- ge dient unter anderem eine Netzwerkanalyse te: der neuen Unsichtbarkeit der Grenzen im der Vereine und ausgewählter Mitglieder in ihrem Schengen-Raum. „From Salzburg you can eas- Umfeld. Ute Sonnleitner schließlich wendet sich ily see Germany, even walk across the largely der Biografie der Grazer Antifaschistin, Psycho- invisible border. The shift towards greater free- analytikerin und Ethnopsychoanalytikerin Goldy dom of movement here contrasts the increasing Parin-Matthèy (1911–1997) zu. Sie untersucht limitations on that freedom surrounding the ihren engeren Freundeskreis („Brüdergemeinde“) United States“ (https://takeonthepast.word- in der Zwischenkriegszeit und schließt, dass für press.com/2013/06/13/bordering-change/; die Konstituierung dieser Gruppe sowohl gemein- Zugriff: 02.08.2016). Zwei Jahre später – im same Überzeugungen als auch verwandtschaftli- Jahr des Erscheinens des vorliegenden Sam- che Beziehungen eine wichtige Rolle spielten. melbandes – zeigt sich, wie wenig Zeit den na- Für alle der in diesem Band versammelten tionalstaatlichen Grenzen Europas gegönnt war, Beiträge gilt, dass sie qualitative Forschungsme- um zu Phantomgrenzen zu mutieren, und wie thoden bevorzugen, wenngleich quantifizieren- schnell und radikal obsolet geglaubte Grenzen de Ansätze nicht ausgeschlossen werden. Sie ihre Sichtbarkeit wiedererlangen können. zeigen sehr plastisch die Vorteile und Grenzen Die Kategorien „Grenze“ und „Region“ be- qualitativer Verwandtschaftsforschung auf. Einer ziehungsweise Regionalität in ihrer historischen der Vorteile liegt eindeutig darin, dass diese es Dynamik stehen im Fokus des hier zu bespre- ermöglicht, Verwandtschaftsstrategien im Unter- chenden Bandes. Beide Kategorien ähneln ein- schied zu -strukturen in den Vordergrund treten ander in ihrer Neigung zu semantischer Diffusion zu lassen, oder anders formuliert: Akteursbezo- und ihrem prekären begriffs- und wissenschafts- gene Forschungsstrategien können einen im- geschichtlichen Erbe. Beispiele wären viele zu mensen Reichtum an verwandtschaftsbezogenen nennen; die „tidal-Europe“-Diskussion oder die Entscheidungen freilegen, die in einem histo- raumessenzialistischen Untoten „Kulturraum“ risch-demografischen Ansatz verloren gehen. und „natürliche Grenze“ sollen hier Pars pro Toto Auf der anderen Seite sind Mikrostudien wenig stehen. In Rückkoppelung mit der jüngeren So- hilfreich, wenn es um die Erforschung welt- oder zial- und Kulturgeografie, wie sie etwa Benno europaweiter Verbreitung von Verwandtschafts- Werlen oder Annsi Paasi vertreten, ist die Ge- formierungsmustern geht. Die Schlussfolgerung, schichtswissenschaft dabei, sich perspektivisch die auch der vorliegende Band suggeriert, wird neu aufzustellen. Winfried Speitkamp hat jüngst daher nur lauten können, dass wir für die Wei- folgende Kriterien einer zeitgemäßen histori- terentwicklung der Verwandtschaftsforschung schen Regionalwissenschaft formuliert: Sie sei beides benötigen: die Strukturen wie auch die pragmatisch interdisziplinär ausgerichtet, sie Akteurinnen und Akteure. arbeite bestenfalls transdisziplinär und – jenseits des bloßen Vergleichs – transnational, sie frage Graz Karl Kaser nicht primär nach Strukturen und Statik, sondern nach Prozessen und Dynamik. Das Anliegen Béatrice von Hirschhausens und ihrer Co-Autor_ innen fügt sich gut in dieses Arbeitsprogramm. Grenzen als Phantome? Ausgehend von der Beobachtung, dass regi- onale Differenzen oft deckungsgleich mit längst Hirschhausen, Béatrice von u. a. : Phantom- abgeschafften Grenzverläufen sind – oder zu grenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu sein scheinen, wollen die Autorinnen und Auto- denken, 224 S., Wallstein, Göttingen 2015. ren Grenzen als potenzielle „Phantome“ hinter- fragen und versuchen zu erklären, warum trotz Beschrieb die US-Historikerin Susan Sin- nationalstaatlicher Raumpolitik und personel- ke 2013 in einem BLOG-Eintrag während ler und örtlicher Vernetzung alte Grenzverläufe ihres Fulbright-Aufenthalts in Salzburg eine prägend bleiben, welche Elemente obsoleter 98 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen Grenzen und Gebietskörperschaften in welcher oder die Mobilisierung „restaurativer Nostalgien“ Form überdauern, und welche Akteure wie an (S. 147) im Kroatien der Tud -man-Ära (Beitrag der (Re-)Produktion und Aktualisierung von Hannes Grandits). Ohnehin haben