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THEORIE UND METHODEN DER auch einen Sohn testamentarisch mit zu beden- GESCHICHTSWISSENSCHAFT ken hatte. Im folgenden Beitrag nimmt Andreas Hansert das Patriziat der Reichsstadt Frankfurt am Main Verwandtschaften an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit in den Fokus. Auf der Grundlage aus- Fertig, Christine/Lanzinger, Margareth (Hrsg.) : führlicher genealogischer Vorerhebungen gelingt Beziehungen – Vernetzungen – Konflikte. Per- es dem Autor zu zeigen, wie sich das Patriziat, spektiven Historischer Verwandtschaftsfor- insbesondere durch zunehmende Restriktionen schung, 286 S., Böhlau, Köln u. a. 2016. bei der Gattenwahl, als exklusiver Geburtsstand zu formieren begann. Sébastian Schicks Beitrag 2010 und 2011 fanden in Halle und Münster handelt bereits im 18. Jahrhundert – und zwar im zwei Konferenzen über Dimensionen von in der Beziehungsgeflecht der englisch-hannoverischen Vergangenheit praktizierten Formen von Ver- Personalunion, in dem die beiden Brüder Gerlach wandtschaft, verwandtschaftlichen und alternati- Adolph und Philipp Adolph Münchhausen als ven Netzwerken statt. Ihnen ist der vorliegende hohe Staatsdiener – der eine in London, der an- Band im Wesentlichen entwachsen. Die elf Bei- dere in Hannover – für den König und Kurfürsten träge sowie der Einleitungstext wurden von acht eine zentrale Vertrauensachse darstellten. deutschen und vier österreichischen Historikerin- Der Beitrag Sandro Guzzi-Heebs bleibt im nen und Historikern verfasst, beziehen sich auf 18. Jahrhundert und analysiert verwandtschaft- den deutschen Sprachraum zwischen Straßburg liche Netzwerke in Walliser Gemeinden und (erster Beitrag) und Graz (letzter Beitrag) so- vermisst die konkrete soziale Wirkung von Ver- wie auf den langen Zeitraum vom 14. bis zum wandtschaftssolidaritäten über politisch, sozial 20. Jahrhundert. „Ziel“ – so die beiden Heraus- und sexuell ‚abweichende‘ Netzwerke und die geberinnen in der Einleitung – „war es, Verwandt- konkrete soziale Nutzung verschiedener Katego- schaft in einer milieu- und epocheübergreifenden rien von Verwandten. Jürgen Schlumbohms Bei- Perspektive zu adressieren und neue Richtungen trag fokussiert auf die Stadt Göttingen und ihre aufzuzeigen“ (S. 7). Die meisten der Beiträge unmittelbare Umgebung, auf ihre ledigen Mütter stellen daher schnappschusshafte Mikrostudien sowie auf die Akten ihres Entbindungshospitals dar und weisen eine zeitlich wie örtlich begrenz- im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Er te Aussagekraft auf. Lediglich der Beitrag der kommt zu dem Schluss, dass in der Praxis in ei- Mitherausgeberin Margareth Lanzinger weicht ner überwiegenden Zahl der Fälle die Obsorge von diesem Schema ab. Er handelt über die der Kinder der Mutter beziehungsweise ihrer Ver- Dispenspraxis von Verwandtenheiraten im aris- wandtschaftsgruppe zufiel. tokratischen Milieu Ende des 18. Jahrhunderts Christine Fertig, die zweite Mitherausge- und hat so etwas wie ein kulturvergleichendes berin, untersucht anhand zweier westfälischer Potenzial in sich. Kirchspiele das Ineinandergreifen von Verwandt- Der Reigen der packend gestaltenden Mi- schaft und Patenschaft im selben Zeitraum. krostudien setzt mit einer Studie über ein ver- Sie beobachtet in beiden Fällen, wenngleich in brecherisches, auf Verwandtschaftsbeziehungen unterschiedlichen Ausformungen, dass die stra- beruhendes Syndikat in den höchsten Verwal- tegische Auswahl der Paten nicht auf die Er- tungskreisen der Stadt Straßburg am Ende des weiterung des Solidaritätsnetzwerks, sondern 14. Jahrhunderts ein. Die Autorin, Sabine von auf die Intensivierung des verwandtschaftlichen Heusinger, präsentiert dabei auch die Vorzüge Netzwerks abzielte. Elisabeth Timm wendet sich der von ihr angewandten Netzwerkforschung his- einem völlig anderen Aspekt von Verwandtschaft torischer Ereignisse. Der folgende Beitrag, von zu, nämlich der populären Genealogie seit dem Charlotte Zweynert verfasst, beschäftigt sich mit 19. Jahrhundert. Sie fragt sich, weshalb und zu dem Testament des im Jahr 1444 zweitgebore- welchem Zweck Verwandte aus Genealogien nen Sohn des Markgrafen von Mantua, Ludovico entfernt und Nichtverwandte in solche künstlich Gonzaga, Kardinal Francesco Gonzaga aus des- eingefügt werden. Sie kommt zu dem Schluss, sen Todesjahr 1483. Dieses Testament dient der dass heutzutage ein neuer genealogischer Uni- Autorin als probates Hilfsmittel zur Erschließung versalismus herrsche, in dem jede und jeder mit und Bewertung der verwandtschaftlichen Bezie- allen anderen Menschen potenziell gleich gültig hungen des Kardinals, der in seinen Verfügungen verbunden sei.

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 97 Die abschließenden Beiträge befassen sich mit Phantomgrenze? Sinke verglich Kindheitser- Frauen und ihren sozialen Netzwerken. Brigitte innerungen an strenge Kontrollen bei gren- Rath und Barbara Heller-Schuh stellen die Frau- züberschreitenden Wochenendausflügen von en- und Friedensaktivistin der österreichischen Michigan nach Kanada, aber auch frühere Rei- Zwischenkriegszeit Olga Misarˇ (1876–1950) in seerlebnisse an der österreichisch-deutschen das Zentrum ihrer Betrachtungen. Als Grundla- Grenze mit etwas, das sie nun tief beeindruck- ge dient unter anderem eine Netzwerkanalyse te: der neuen Unsichtbarkeit der Grenzen im der Vereine und ausgewählter Mitglieder in ihrem Schengen-Raum. „From Salzburg you can eas- Umfeld. Ute Sonnleitner schließlich wendet sich ily see Germany, even walk across the largely der Biografie der Grazer Antifaschistin, Psycho- invisible border. The shift towards greater free- analytikerin und Ethnopsychoanalytikerin Goldy dom of movement here contrasts the increasing Parin-Matthèy (1911–1997) zu. Sie untersucht limitations on that freedom surrounding the ihren engeren Freundeskreis („Brüdergemeinde“) United States“ (https://takeonthepast.word- in der Zwischenkriegszeit und schließt, dass für press.com/2013/06/13/bordering-change/; die Konstituierung dieser Gruppe sowohl gemein- Zugriff: 02.08.2016). Zwei Jahre später – im same Überzeugungen als auch verwandtschaftli- Jahr des Erscheinens des vorliegenden Sam- che Beziehungen eine wichtige Rolle spielten. melbandes – zeigt sich, wie wenig Zeit den na- Für alle der in diesem Band versammelten tionalstaatlichen Grenzen Europas gegönnt war, Beiträge gilt, dass sie qualitative Forschungsme- um zu Phantomgrenzen zu mutieren, und wie thoden bevorzugen, wenngleich quantifizieren- schnell und radikal obsolet geglaubte Grenzen de Ansätze nicht ausgeschlossen werden. Sie ihre Sichtbarkeit wiedererlangen können. zeigen sehr plastisch die Vorteile und Grenzen Die Kategorien „Grenze“ und „Region“ be- qualitativer Verwandtschaftsforschung auf. Einer ziehungsweise Regionalität in ihrer historischen der Vorteile liegt eindeutig darin, dass diese es Dynamik stehen im Fokus des hier zu bespre- ermöglicht, Verwandtschaftsstrategien im Unter- chenden Bandes. Beide Kategorien ähneln ein- schied zu -strukturen in den Vordergrund treten ander in ihrer Neigung zu semantischer Diffusion zu lassen, oder anders formuliert: Akteursbezo- und ihrem prekären begriffs- und wissenschafts- gene Forschungsstrategien können einen im- geschichtlichen Erbe. Beispiele wären viele zu mensen Reichtum an verwandtschaftsbezogenen nennen; die „tidal-Europe“-Diskussion oder die Entscheidungen freilegen, die in einem histo- raumessenzialistischen Untoten „Kulturraum“ risch-demografischen Ansatz verloren gehen. und „natürliche Grenze“ sollen hier Pars pro Toto Auf der anderen Seite sind Mikrostudien wenig stehen. In Rückkoppelung mit der jüngeren So- hilfreich, wenn es um die Erforschung welt- oder zial- und Kulturgeografie, wie sie etwa Benno europaweiter Verbreitung von Verwandtschafts- Werlen oder Annsi Paasi vertreten, ist die Ge- formierungsmustern geht. Die Schlussfolgerung, schichtswissenschaft dabei, sich perspektivisch die auch der vorliegende Band suggeriert, wird neu aufzustellen. Winfried Speitkamp hat jüngst daher nur lauten können, dass wir für die Wei- folgende Kriterien einer zeitgemäßen histori- terentwicklung der Verwandtschaftsforschung schen Regionalwissenschaft formuliert: Sie sei beides benötigen: die Strukturen wie auch die pragmatisch interdisziplinär ausgerichtet, sie Akteurinnen und Akteure. arbeite bestenfalls transdisziplinär und – jenseits des bloßen Vergleichs – transnational, sie frage Graz Karl Kaser nicht primär nach Strukturen und Statik, sondern nach Prozessen und Dynamik. Das Anliegen Béatrice von Hirschhausens und ihrer Co-Autor_ innen fügt sich gut in dieses Arbeitsprogramm. Grenzen als Phantome? Ausgehend von der Beobachtung, dass regi- onale Differenzen oft deckungsgleich mit längst Hirschhausen, Béatrice von u. a. : Phantom- abgeschafften Grenzverläufen sind – oder zu grenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu sein scheinen, wollen die Autorinnen und Auto- denken, 224 S., Wallstein, Göttingen 2015. ren Grenzen als potenzielle „Phantome“ hinter- fragen und versuchen zu erklären, warum trotz Beschrieb die US-Historikerin Susan Sin- nationalstaatlicher Raumpolitik und personel- ke 2013 in einem BLOG-Eintrag während ler und örtlicher Vernetzung alte Grenzverläufe ihres Fulbright-Aufenthalts in Salzburg eine prägend bleiben, welche Elemente obsoleter

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Grenzen und Gebietskörperschaften in welcher oder die Mobilisierung „restaurativer Nostalgien“ Form überdauern, und welche Akteure wie an (S. 147) im Kroatien der Tud -man-Ära (Beitrag der (Re-)Produktion und Aktualisierung von Hannes Grandits). Ohnehin haben breit rezipierte Regionalität mitwirken. Den Begriff der „Phan- Debatten um historische Regionalität, wie die um tomgrenze“ verstehen die Autoren als Arbeitsbe- das Konzept der Geschichtsregion oder die Kon- griff und heuristische Metapher. Sie definieren troverse zwischen Holm Sundhaussen und Maria Phantomgrenzen als „frühere, zumeist politische Todorova um Südosteuropa als mesoregionale Grenzen oder territoriale Gliederungen, die, Konzeption (diskutiert im Beitrag von Dietmar nachdem sie institutionell abgeschafft wurden, Müller) ihre Heimat in der Osteuropahistoriogra- den Raum weiterhin strukturieren“ (S. 18). Es fie. Auch die konzeptionellen Schnittmengen der geht dabei – so der Anspruch – um die Reflexion Osteuropaforschung mit Ansätzen der postcolo- regionaler Unterschiede jenseits der „klassischen nial studies werden im Band ausgelotet und im Narrative der Regionalgeschichte“ (S. 19). Dabei Ergebnis betont (Beitrag Claudia Kraft). wollen sich von Hirschhausen und ihre Co-Au- Der Band bietet, was er verspricht: einen ide- toren nicht dahingehend missverstanden wissen, enreichen Diskussionsanstoß für die kultur- und „imperiale Nostalgien durch Wissenschaft zu sozialwissenschaftliche Erforschung historischer rationalisieren oder gar irredentistische Ziele zu Regionalität. Mit ihrem Anspruch, die Schwä- rechtfertigen“ (ebd.). Auch könne es nicht darum chen strukturalistischer und dekonstruktivisti- gehen, „soziale oder historische Kausalitäten zu scher Ansätze gleichermaßen zu transzendieren, (re)konstruieren, um bestimmten mental maps stehen die Autorinnen und Autoren im Zeichen eine physische oder soziale ‚Realtität‘ zu schaf- poststrukturalistischer Debatten nicht alleine da. fen“ (ebd., Hervorhebung im Original). Das Po- Was dem Band fehlt, ist ein resümierender, gerne tenzial des „Phantomgrenzen“-Konzepts sehen auch kritisch kommentierender Beitrag, der als die Autorinnen und Autoren in der Überwindung Stimme von außen zur Tragfähigkeit und Reich- der Akteursblindheit deterministischer und struk- weite des Konzepts Stellung nimmt. turalistischer Ansätze einerseits und der dekon- struktivistischen „Selbstblockade“ (S. 21) in den Kultur- und Sozialwissenschaften andererseits. Salzburg Martin Knoll Der Band versteht sich als Debattenbeitrag und Skizze eines Arbeitsprogramms, weniger als Anthologie von Fallstudien. Die Beiträge bieten Historische Teleologien und moderne eine dichte, theoretisch informierte Erörterung, Welt die zwar exemplarisch an Fallstudien aus der Forschung der Beitragenden anknüpft, diese Trüper, Henning/Chakrabarty, Dipesh/Subrah- aber nicht in den Mittelpunkt rückt. Wichtiger manyam, Sanjay (Hrsg.) : Historical Teleologies ist die theoretische Positionierung des Phan- in the Modern World, 384 S., Bloomsbury, tomgrenzen-Konzepts zu verschiedenen Dis- London/New York 2015. kussionssträngen in Geografie, Geschichts- und Politikwissenschaft. Dass Ostmittel- und Süd- Teleologische Denk- und Erzählstrukturen ge- osteuropa den geografischen Fokus des Ban- hören zu jenen „intellektuellen Kategorien, die des bildet, ist der Spezialisierung der Autoren wir in unseren Zerebralwerkstätten schmieden“, geschuldet, erweist sich aber angesichts der von denen Lucien Febvre einmal geschrieben Vielfalt der Grenzverschiebungen, die diese hat, dass sie „ein weit zäheres Leben“ führen Großregion zwischen den Pariser Vorortverträgen würden als die oft beklagten „Maschinen aus und den 1990er Jahren erlebt hat, als plausibel Stahl“, die uns scheinbar „verknechten“ (Feb- und lohnend. Dies gilt für den von Béatrice von vre „Das Gewissen des Historikers“, 1990, Hirschhausen als empirischen Ausgangspunkt S. 211). Teleologische Deutungsmuster lassen gewählten, regional asymmetrischen Ausbau der sich in diesem Sinne als gleichzeitig ermächti- Wasserversorgungsinfrastruktur in altreichischen gende und sich unser bemächtigende kulturelle und ehemals habsburgischen Gebieten des länd- Sinnstiftungsverfahren verstehen. Sie sind mög- lichen Rumänien genauso wie für die von Thomas liche intellektuelle Bewältigungsstrategien, um Serrier diskutierte Reziprozität von territorialer Dy- mit der Kontingenz von Geschichte umzugehen namik und (trans-)nationaler Erinnerungskultur in und die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der nach-multikulturellen Räumen Ostmitteleuropas Zukunft in stabile und zielgerichtet abgesteckte

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 99 Erwartungshorizonte zu transformieren – meist die sich mit dem Erbe und der anhaltenden Wirk- um dann doch wieder die Erfahrung zu machen, macht der teleologischen Entwürfe des langen dass es anders zu kommen pflegt als erwartet, 19. Jahrhunderts im politischen Denken, in der was aber den Gewissheiten über den Richtungs- Gesellschaftstheorie sowie in den Geschichts- sinn und den Fortschritt des historischen Prozes- wissenschaften der europäischen Moderne be- ses oft dennoch keinen Abbruch tut. Die Beiträge schäftigen (Peter Wagner, Bo Stråth). Man fragt des hier anzuzeigenden Bandes machen sich sich freilich, ob dieser Strukturierung nicht selbst auf die Spur nach dieser Zählebigkeit und nach ein untergründig teleologisches Narrativ zugrun- den mannigfachen, kulturell variablen Varianten de liegt, wonach auf das Denkbare zielgerichtet teleologischen Denkens in der Moderne. Das und zweckbestimmt auch das Machbare folgt und Nachdenken über die diversen historischen Aus- die von den Herausgebern des Bandes zurecht prägungen teleologischer Zukunftsaneignung, so erwähnten „difficulties of making teleology dis- die Herausgeber in ihrer theoretisch anspruchs- appear“ (S. 18) auch dem eigenen Buchprojekt vollen Einleitung, führe notgedrungen zu einer auflauern. Aber wenn teleologische Denkmuster Selbstreflexion der Geschichtsschreibung über auch kaum aus der Welt zu schaffen sind – wenn zwei ihrer zentralen Grundkategorien: Zeitlichkeit das denn überhaupt zu wünschen wäre –, so ist und Historizität. es doch ein großes Verdienst dieses Buches, ihre Der Band versammelt insgesamt 16 Beiträge Historizität und Pluralität sichtbar zu machen und auf eng bedruckten Seiten, was es dem Rezen- in die geschichtswissenschaftliche Reflexion ein- senten unmöglich macht, auf alle der meist sehr zuholen. lesenswerten Aufsätze im Detail einzugehen. Im Mit zu dieser historiographischen Horizonter- Folgenden soll deshalb der Gesamteindruck des weiterung tragen insbesondere die geographi- Bandes im Vordergrund stehen. Die Beiträge sche Weitsicht und der methodische Pluralismus sind durch die Herausgeber in sechs thematische des Bandes bei. So rekonstruieren die Beiträge Abschnitte unterteilt worden, die die inhaltliche Stränge teleologischen Denkens in Latein- und Vielfalt der Einzelaufsätze sinnvoll zu bündeln ver- Nordamerika, in Indien und der muslimischen Welt mögen und dem Band zugleich Kohärenz und ei- sowie in Europa, oft vergleichend oder transfer- nen chronologischen, vom späten 18. zum frühen historisch perspektiviert. Dies schärft den Blick 20. Jahrhundert reichenden Subtext verleihen: dafür, dass sich teleologische Denkmuster auch Teleologische Diskurse wanderten, folgt man als wechselseitig wirkende „concepts nomades“ dieser Periodisierungsthese, von Philosophie und zwischen unterschiedlichen Entstehungs-, Ver- Wissenschaft langsam und in Überschneidungen mittlungs- und Rezeptionskontexten verstehen in politische Projekte, individuelle Aneignun- lassen. Auch die methodische Vielfalt des Bandes gen und empirische Realisierungsversuche. Die wirkt inspirierend. Die tendenziell dominierenden sechs Teile reichen denn auch von zwei genealo- begriffs- und ideenhistorischen Ansätze werden gischen Rekonstruktionen historischer Teleologie mit wissens- und kulturhistorischen sowie ikono- (dazu zählt die Einleitung der Herausgeber sowie graphischen Perspektiven ergänzt und erweitern der Beitrag von Sanjay Subrahmanyam zum Mes- so in bereichernder Weise das Repertoire mög- sianismus als globaler Verflechtungsgeschichte), licher Kontextualisierungsstrategien in der Re- über teleologisches Denken in der deutschen konstruktion teleologischer Deutungsmuster und Aufklärung, in der französischen und englischen Repräsentationen. Noch entscheidender zum Natur- und Erdgeschichte und in der deutschen reichen Lektüreertrag trägt aber die durch das philosophischen Anthropologie (Philip Ajouri, Thema des Bandes quasi aufgenötigte Selbstre- Marianne Sommer, Angus Nicholls), hin zur eu- flexion über die verwendeten Zeitkonzepte und ropäischen und indischen Geschichtsschreibung analytischen Begriffe bei. Gerade weil die Ent- des 19. Jahrhunderts (Henning Trüper, Siddarth wicklung des modernen Geschichtsdenkens seit Satpathy, Dipesh Chakrabarty), zu teleologischen dem späten 18. Jahrhundert unentwirrbar mit Sinnstiftungen in revolutionären Umbruchsituati- dem Aufstieg und der multipolaren Verbreitung onen oder im Zuge ihrer rechtlichen Einhegung teleologischer Erzählmuster verknüpft ist, lässt (Francisco A. Ortega, Martti Koskenniemi, Eti- sich die sachgeschichtliche Thematisierung die- enne Balibar) und zum Verhältnis von Eschato- ser Denkstrukturen vom Nachdenken über die ei- logie und individuellen Identitätskonstruktionen gene historiografische Praxis nicht ablösen. Das (Carola Dietze, Gabriel Piterberg, Faisal Devji). omnipräsente Lauern teleologischer Kategorien Der Band mündet schließlich in zwei Beiträgen, in unseren eigenen „Zerebralwerkstätten“, um

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Febvres Metapher noch einmal aufzunehmen, Unterfangen entgegensteht: Dass sich nämlich im nötigt zu einem differenzierten und selbstreflexi- Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre deutscher ven Gebrauch jener analytischen Begriffe, mit Zeitgeschichte auch aus der Perspektive der Ge- welchen die Temporalstrukturen der Geschichte nealogie von Selbstbezügen nicht wirklich neue jenseits ihrer teleologischen Überformungen frei- Narrative ergeben. Zum Beispiel in Bezug auf die gelegt werden können. Therapeutisierung der Gesellschaft (vgl. den Bei- trag von Elberfeld, S. 49–83): Während es in den 1960er und 1970er Jahre um die „Befreiung des Fribourg/Bern Juri Auderset Subjekts“ aus seiner Verstrickung in überkomme- nen Wert- und Normvorstellungen ging, so trat in den 1980er Jahren unter der neuen Leitidee des Subjektivierungspraktiken „Coaching“ ein Wandel in Richtung auf eine öko- nomisch-effiziente Gestaltung aller persönlichen Eitler, Pascal/Elberfeld, Jens (Hrsg.) : Zeitge- Lebensbereiche ein, das heißt gerade auch jener, schichte des Selbst. Therapeutisierung – Politi- die außerhalb des beruflichen Umfelds liegen. sierung – Emotionalisierung, 392 S., transcript, Auflehnung kippt um in ihr Gegenteil: in Techniken Bielefeld 2015. der Selbstgestaltung, die den Einzelnen passend machen für die Erfordernisse neoliberalen Wirt- Die Analyse von „Subjektivierungsweisen“, die schaftens. Das Nämliche mit dem Alterssex (vgl. Genealogie also von Gestaltungen und Techni- den Beitrag von Annika Wellmann, S. 327–342): ken, die der Hervorbringung je historisch spezi- Aus dem Recht auf Sexualität im Alter wird nur fischer Formen des Selbst zugrunde liegen, hat allzu rasch die Verpflichtung, sich flexibel, offen, in den letzten Jahren im Anschluss an die Ar- zuversichtlich, zufrieden, kurzum: sich fit zu hal- beiten von Michel Foucault auch im deutschen ten. Wer krank wird, ist eben selber schuld: Er Sprachraum einen Aufschwung genommen. Zu hat nicht gelebt, wie ein gesunder Mensch leben Recht weisen die beiden Herausgeber im Vorwort sollte. So ist jeder von vornherein schon verurteilt: zu ihrem Sammelband darauf hin, dass dieses verurteilt sich immerfort zu bewegen – und das Forschungsfeld bislang aber eher von der Philo- ein ganzes Leben lang. Die Mehrzahl der Beiträge sophie und den Sozial- als von den Geschichts- ließe sich so oder so ähnlich referieren: Man weiß wissenschaften geprägt worden ist (S. 9). Einen eigentlich schon von Beginn weg, wohin der Text Grund für die Randständigkeit der historischen einen führen wird. Forschung sehen Pascal Eitler und Jens Elber- Zwei Texte sind es vor allem, die den Re- feld vor allem auch darin, dass diese vom „Ab- zensenten – er selbst ist Psychologe, also kein straktionsgrad“ anderer sozialwissenschaftlicher Fach-Historiker – dann doch in den Bann ziehen. Disziplinen oft „überfordert“ werde. Was – kritisch Zunächst der programmatische Text zu Beginn gewendet – auch so zu lesen ist, dass profunde des Buches von Andreas Reckwitz: In aller nur historische Forschung in Zukunft dazu beitragen wünschenswerter Klarheit spannt der Autor – könnte, den bloß „programmatischen Ankün- auch er kein Historiker, sondern ein gelernter So- digungen“ und – was immer das sein mag – ziologe – im Anschluss an den Poststrukturalismus „steilen Thesen“ der bisherigen Forschung den den begrifflichen Rahmen für konkrete, das heißt Garaus zu machen: durch die Einforderung be- materiale empirische Untersuchungen im Kontext ziehungsweise gegebenenfalls Beibringung em- einer historischen beziehungsweise sozialwis- pirisch gesicherter Belege und – in theoretischer senschaftlichen Subjektanalyse auf. Wichtig ist Hinsicht – eben durch Re-Kontextualisierung der zunächst der Hinweis, dass letztlich alle sozialen Forschung in Bezug auf die Wissensbestände Praktiken unter dem Aspekt zu betrachten sind, der Gesellschaftsgeschichte (S. 9f.). welche Subjektformen sich in ihnen bilden. In me- Gemeinsames Thema der vorliegenden Ein- thodischer Hinsicht folgt daraus freilich, dass damit zeltexte ist der Bezug auf die Veränderung von vor allem nichtdiskursive Praktiken in den Fokus der Selbstverhältnissen und Subjektivierungspraktiken Forschung rücken. Hier ist einzuhaken: Der Sam- im Zuge und im Gefolge der 68er Jahre – Ver- melband zeigt, wie schwierig es für Geschichts- änderungen, die man entlang von Begriffen wie forscher ist, einen materialen Zugang zu solchen Politisierung, Therapeutisierung, Somatisierung, nichtdiskursiven Praktiken zu finden. Zum Beispiel Emotionalisierung et cetera zu erfassen sucht. Tobias Dietrichs Text über das Laufen: Aus den Man ahnt die Schwierigkeit, die einem solchen transantlantischen Selbstverständingungstexten

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 101 der Jogging-Pioniere spirituelle Ideenbruchstücke ausbilden, die schließlich die Lebensformen der herauszupräparieren, um dann mit vordergründi- Mehrheitsgesellschaft (zunächst natürlich der ge- gem Witz eine Umkehr zu versuchen: Nämlich die genkulturellen Teile dieser Mehrheitsgesellschaft) viel beschworene Somatisierung der Religion im zu affizieren beginnen. Wodurch dieser Text Zuge des New Age mit der Formel der „Spirituali- besticht, ist, dass er uns eine gut vertraute Ge- sierung des Somas“ (S. 149) zu ergänzen – all das schichte – Perinelli nennt sie das „liberale Einwan- mag irgendwie historisch relevant sein, zur psy- derungsnarrativ“, diese anklagende Geschichte chologischen Erklärung des Massenphänomens des „einschließenden Ausschlusses“ (S. 200) des Laufen, zur Erklärung des Umstands, dass zeitge- Fremden durch die Mehrheitsgesellschaft – an- nössische Freizeitsportler über den Sport sowohl ders erzählt, uns die Augen öffnet für eine völlig ihre Leistung als auch ihre körperliche Fitness neue Betrachtungsweise: für die progressive De- mit Akkuratesse und entsprechender Hard- und konstruktion bürgerlicher Subjektvierungsverhält- Softwareunterstützung – freiwillig, ohne äußeren nisse in der abwehrenden Begegnung mit dem Zwang – unter striktester Kontrolle halten, trägt Fremden. Wodurch dieser Text allerdings nicht zu solcher Art Forschung wenig bei (und damit auch bestechen vermag, ist durch die Beibringung ei- wenig zur Erklärung, dass der ob dieses seltsamen ner „belastbaren“ Datenbasis: „steile Thesen“ also Zwangs zu freiwilligem Quälen verwunderte Autor – und keine empirischen Belege! dieser Zeilen längst selbst schon sich diesem kol- Ist das also der Fluch, dem eine Zeitge- lektivem Wahn unterworfen hat). schichte des Selbst nicht und nicht zu entgehen Zurück zu Reckwitz’ Text: Das empirische Feld, vermag: Dass es ihr aufgrund historischer und das er der Analyse von Subjektivierungsformen er- empirischer Redlichkeit an Mut fehlt, mit den öffnet, liest sich wie eine Einführung in die Metho- überkommenen großen Erzählungen, in diesem den der neueren Kulturpsychologie. Vor allem die Fall mit den Mythen der 68er-Generation, zu bre- Ausführungen zum „Nexus zwischen Subjekt- und chen? Wir wollen es nicht hoffen – auch wenn Objektkulturen“ (S. 38ff.), dabei insbesondere die in einigen Beiträgen diese mitunter krampfhafte Betonung der Rolle von technischen Medien, und In-Beziehung-Setzung des bereits gut und nur dann – auch das von großer Bedeutung – die Be- allzu gut Gewussten zu philosophischer oder so- rücksichtigung des Raumes, die Berücksichtigung zialwissenschaftlicher Begriffsbildung geradezu von Architektur und Raumensembles; schließlich störend wirkt. die Ausbildung eines „emotionalen Habitus“, wo- bei gerade hier die psychologische Forschung in der Begriffsbildung doch offenbar schon ein gu- Wien Gerhard Benetka tes Stück weiter zu sein scheint als die soziologi- sche (vgl. z. B. Valsiner „An Invitation to Cultural Psychology“, 2014). Das sei hier mit Hinblick auf Die Redseligkeit der Texte und das Reckwitz ausdrücklich formuliert: Dass er das In- Schweigen der Bilder dividuelle nur als das Idiosynkratische zu verstehen mag, für das „sich in der Moderne“ nicht primär Westerkamp, Dirk : Ikonische Prägnanz, 187 S., die Wissenschaft, sondern „die persönlichen Be- Fink, München/Paderborn 2015. ziehungen und die Kunst“ interessieren würden (S. 45) – diese Gedankentrübung hätte sich der Was die bildenden Künste von anderen Kunst- sonst so klar denkende Autor ersparen können, formen wie Literatur oder Musik unterscheidet, wenn er die ständig anwachsende Zahl an qua- gehört zu den zentralen Themen der Ästhetik als litativ hochwertigen Publikationen zur Kulturpsy- Kunsttheorie. Mit seinen Grenzziehungsarbeiten chologie wenigstens nur am Rande zur Kenntnis in „Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey genommen hätte. und Poesie“ hat G. E. Lessing bereits 1766 das Der zweite Text, der den psychologisch in- Feld vorgezeichnet, auf dem sich diese Debatte teressierten Leser zu fesseln vermag, ist Mas- bis heute im Prinzip immer noch bewegt. Seine simo Perinellis großartiger Aufsatz darüber, Trennung der Kunst in die zeit- und zeichen- dass und wie im Gefolge der Anwerbung von basierten Künste Literatur und Musik sowie die Gastarbeitern in den 1970er Jahren „selbstor- körper- und präsenzbasierten bildenden Künste ganisierte, ökonomische, kulturelle und soziale Malerei und Skulptur wird im Laufe der Ästhe- Gegenorte unterhalb des ersten Arbeitsmarktes“ tikgeschichte mehrfach medientheoretisch oder (S. 211) entstehen, an denen Lebensweisen sich semiotisch reformuliert.

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In seinem Aufsatzband „Ikonische Prägnanz“ Goldgründe und Mandorlen der Ikonenmalerei versucht Dirk Westerkamp Lessings Konzepti- sowie die melancholisch geneigte Häupter und on der medialen Angemessenheit der bildlichen das überirdisch schimmernde Inkarnat, das Raf- Darstellung in eine „philosophische Ikonologie“ fael seinen Madonnen verliehen hat. Im Prinzip (S. 34) weiter zu entwickeln. Er treibt dafür über sieht Westerkamp mehr in seine Bilder hinein, als die sechs Aufsätze des Bandes beträchtlichen das er in ihnen spezifische Bildstrategien erkennt. begrifflichen Aufwand – welchen Mehrwert sein Im Aufsatz „Das tragische Bild. Patristische Versuch einer philosophischen Ikonologie für Äs- Anfänge und ikonische Prägnanz des Schmer- thetik, Kunstphilosophie oder Kunstwissenschaft zenskindes“ spricht er auf Seite 110 den Kern haben könnte, bleibt der Rezensentin unklar. seiner sich der Empirie der Kunstgeschichte nur Westerkamp scheint an einer Art Typologie punktuell nähernden Methode klar aus: „Geht des gelungen Bildes beziehungsweise der ge- man nicht kunstgeschichtlich von existierenden lungenen Bildfindung interessiert zu sein. Als Darstellungen aus, sondern konstruiert philo- gelungen gilt Westerkamp ein Bild dann, wenn sophisch das gesuchte Bild aus den Begriffen es das Wesenhafte der bildenden Kunst – Prä- der aristotelischen und der patristischen Be- senz, Gleichzeitigkeit, Momenthaftigkeit/Kairos – stimmung des Tragischen, so bietet sich an, die formal und inhaltlich adäquat umsetzt und damit ikonische Prägnanz in der folgenden Konstella- die eigene Bildhaftigkeit auch thematisch zum tion von Motiven zu suchen“ (Hervorhebung im Ausdruck bringt. Dass in dieser Konzeption des Original) – und natürlich findet Westerkamp dann gelungenen Bildes eigentlich weniger ästheti- auch das konstruierte Bild in der Realität. Es ist sche, ästhesiologische oder kunstphilosophische ein Elfenbeindyptichon, das als Einband des St. Problemstellungen bearbeitet werden als eine Lupicin-Evangeliars aus der Mitte des 6. Jahr- Theologie des Bildes, zeigt sich an den Bildbei- hunderts dient (vgl. S. 116). Interessanterweise spielen, die Westerkamp für seine philosophi- zieht Westerkamp bei diesem Kunstwerk seine sche Ikonologie einspannt: Es sind, mit wenigen materiale Spezifizität – als Relief ist es geschnitzt Ausnahmen, Bilder mit religiösen Inhalt – vom und nicht gemalt – in seine Argumentation mit spätantiken Sarkophag mit der Darstellung der ein, schreibt dieser aber wiederum eine symboli- Passionsgeschichte über Ikonen von Feofan sche Ebene zu, die mangels weiterer historischer Grek und Raffaels Madonnen bis hin zum be- Belege rein spekulativ bleiben muss. rühmt-berüchtigten Schwarzen Quadrat Kasimir Für Westerkamp ist das St. Lupicin-Evange- Malewitschs. Im Prinzip zeigen alle diese Werke liar die geschichtliche Vollendung der Verwand- etwas, was sich – nach Westerkamps Lessing- lung des antiken Tragik-Begriffs in das christliche lektüre – nicht zeigen lässt: Sie verbildlichen Heilsgeschehen in der Passion Christi, wie sie christliche Glaubensinhalte bis hin zum größten durch die Patristik erreicht wurde. Was als hohe aller Glaubensgeheimnisse, der Inkarnation und ästhetische Wertschätzung gemeint ist, enthüllt der Transfiguration Christi. Die angemessens- eine weitere Problematik der philosophischen te künstlerische Strategie, um dieses Paradox Ikonologie Westerkamps: Im Prinzip negiert sie bildnerisch aufzulösen, ist in Westerkamps Iko- Eigendynamik und Eigensinn der Kunst. Ikono- nologie der bildnerische Verweis auf die Undar- graphische und stilistische Entwicklungen tau- stellbarkeit des Darzustellenden, oder wie es chen bei ihm, wenn überhaupt, als Reaktion auf auf dem Rückumschlag des Bandes formuliert Veränderungen in der den Bildern offensichtlich wird: „Ikonische Prägnanz gründet sich in der immer als temporär und kausal vorausgehend zu Ökonomie des Entzugs. Ihre Kunst offenbart denkenden Theorie-Geschichte auf, Materialität, sich in dem, was sie nicht zeigt“. Was auf die- künstlerische Praxis und sich verändernde Re- sem Abstraktionsniveau formuliert zumindest zeptionsbedingungen spielen dagegen keinerlei eine gewisse sprachliche Evidenz hat, zeigt sich wesentliche Rolle. Für eine Kunsthistorikerin ist in den Niederungen der konkreten Bildbeschrei- diese Zurückstufung der einzelnen Kunstwerke bung weitgehend beliebig. In die „Ökonomie des auf eine illustrative Funktion für philosophische Entzuges“ gehört eine simple Zeigegeste wie in Konzepte umso befremdlicher, da die eigene Dis- Jacques-Louis Davids „Tod des Sokrates“, der ziplin wissenschaftstheoretisch und methodisch Westerkamp seine Interpretation des Bildes als hochreflektierte Zugänge zum Verhältnis von Davids hoch-komplexe Interpretation der letzten Kunst- und Ideengeschichte entwickelt hat, die Rede Sokrates in Platons „Phaidon“ aufbürdet über das konzeptionelle Niveau von Westerkamps (vgl. S. 66–70), ebenso wie beispielsweise die philosophischer Ikonologie weit hinausgehen,

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 103 – aktuell unter den Schlagwörtern iconic turn „Anschlussmöglichkeiten“ (S. 48) an eine Hand- und visual culture oder in den Arbeiten Georges lung als Feld der möglichen Fortschreitungen Didi-Hubermans prominent diskutiert. von einem gegebenen Punkt aus identifiziert und dann die Instanz beobachtet, „die in einer gege- benen Situation aus den objektiven Möglichkeiten Stuttgart Christina Dongowski eine auswählt und in Handeln umsetzt“ (S. 49). Tobias Kienlin und Patric-Alexander Kreuz ver- folgen exemplarisch ein Bronzegefäß von der Die Wirkmacht der Metaphern und Dinge Insel Euboia aus dem zehnten Jahrhundert vor Christus durch den Wandel sozial und material Boschung, Dietrich/Kreuz, Patric-Alexander/ determinierter Sinnstiftungen. Sie schlagen ei- Kienlin, Tobias (Hrsg.) : Biography of Objects. nen gemäßigten objektbiographischen Ansatz Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts, vor, der die Objekte nicht als Handlungsinstan- 192 S., Fink, München/Paderborn 2015. zen begreift. Kerstin P. Hofmann diskutiert die Funktion von Handlungsträgern archäologischer In den Notizen zum Schlangenritual-Vortrag in Erzählungen und wägt Nutzen und Nachteil der Kreuzlingen schrieb Aby Warburg: „[Warum gibt Objektbiographiemetapher sowie die mögliche es] alle diese Fragen und Rätsel der Einfühlung Entwicklung von history zu itstories ab. Anders der unbelebten Natur gegenüber? Weil es für als Hahn und Jung versteht sie den Begriff der den Menschen tatsächlich einen Zustand gibt, Biographie nicht im biologischen, sondern im der ihn mit etwas vereinigen kann – eben durch literarischen Sinn und leitet entsprechend den Hantierung oder Tragen – das ihm zugehört, Begriff des Akteurs aus dem Feld der Narration aber durch das sein Blut nicht kreist“ (War- her (S. 94). Jody Joy gibt einen Überblick über burg WIA III. 93. 4, vgl. „Werke in einem Band“ den Stand der Diskussion in der englischsprachi- 2010, S. 581). Knapp einhundert Jahre später gen Literatur, diskutiert die Itinerarmetapher so- hat das Fragen und Rätseln über diesen Zusam- wie den Begriff der relationalen Biographie und menhang immer noch kein Ende gefunden, im bringt den Ausdruck „thing“ ins Spiel, um den Gegenteil. Das hier besprochene Buch nähert Komplex aus Artefakt und zugeschriebenen Ei- sich dem Problemkomplex aus ethnologischer, genschaften zu fassen. Sie schlägt vor, Objekte archäologischer, soziologischer, ur- und frühge- als „things in process“ aufzufassen, wodurch es schichtlicher, literatur- und kunstgeschichtlicher möglich werde, „to see how objects and people Richtung mit Blick auf die Metapher der Objekt- can be mutually constitutive“ (S. 138). Susanne biographie. Wittekind verfolgt das Willibrord-Reliquiar im Hans Peter Hahn plädiert dafür, sich mit ihr Kirchenschatz von St. Martin in Emmerich vom kritisch und sorgfältig auseinanderzusetzen um 11. Jahrhundert an durch die Rollenwechsel, die eine „Austreibung des Geistes“ (S. 12f.) aus Religionskriege und die kunsthistorische Entde- dem Forschungsfeld der materiellen Kultur zu ckung bis in die Gegenwart hinein. Im Kontext vermeiden. Wichtig sei dabei, jene Eigenschaf- der vorliegenden Beiträge liefert ihr Text das ten materieller Objekte zu identifizieren, die vom beste Exemplum einer Objektbiographie. Micha- heuristischen Regime der Biographiemetapher el Niehaus schließlich diskutiert, wie Objekte als verschleiert werden würden. Matthias Jung Protagonisten in fiktionalen literarischen Texten nimmt den Terminus „Objektbiographie“ zum verwendet wurden und werden. Er macht deut- Ausgangspunkt einer allgemeineren Kritik an an- lich, dass die literarische Form geeignet ist, die thropomorphisierenden Ausdrucksweisen. Was Metapher der Objektbiographie kontrastreich „objektiv missverständlich“ sei, so Jung, „wird auszuleuchten. sich auch früher oder später in einem Missver- Beim Lesen der ersten vier Aufsätze des ständnis manifestieren“ (S. 39). Die Methapher Buches fällt die Eindringlichkeit der Warnung der Objektbiografie sei eine „Einladung zum Fa- vor der Macht der Biographiemetapher auf. So bulieren“, mittels dessen es möglich sei, „Lücken schreibt Jung von ihrer „Sogkraft“ (S. 47) und und Leerstellen narrativ zu kompensieren, das impliziert damit eine invertierte Anthropomorphi- heißt die vorgegebene Struktur auch dann mit sierung: Die Sogmetapher erhebt hier nicht tote Inhalten zu füllen, wenn für sie keine Evidenzen Materie in den Rang menschlicher Handlungs- vorliegen“ (S. 43). Hahn schlägt eine „Objekti- instanzen, sondern erniedrigt diese umgekehrt ve Hermeneutik“ materieller Kultur vor, die die zur Passivität nichtorganischer Materie. Mit der

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Analogie zu einem mechanisch-physikalischen Eliminierung dieses Phänomens sind hingegen Sachverhalt wird angedeutet, dass manche weitaus weniger hilfreich für seine differenzie- Menschen nicht über die kritischen Fähigkei- rende, Ross und Reiter benennende Erforschung ten verfügen, um sich der Anziehungskraft der und Entzauberung. Objektbiographiemetapher zu entziehen. Wenn aber Metaphern über eine solche Kraft verfü- Florenz Reinhard Wendler gen, wieso dann nicht auch Objekte? Hofmann formuliert, Metaphern könnten sich verselbstän- digen (S. 103), und lässt damit für diese gelten, was sie für Objekte nicht gelten lässt. So haben Medien im Konflikt zwar Worte, nicht aber die Dinge die Macht, Menschen in die Vorstellung zu treiben oder zu Becker, Jörg : Medien im Krieg – Krieg in den ziehen, Dinge hätten Macht und Einfluss auf sie. Medien, 404 S., Springer VS, Wiesbaden Solchen Stellen charakterisieren die Negation 2016. der Wirkungsmacht der Dinge mehr oder we- niger deutlich als eine normative Forderung, als Jörg Becker vertritt in seinem Buch „Medien eine konzeptuell initiierte Austreibung eines als im Krieg – Krieg in den Medien“ die bekann- Produkt menschlicher Schwäche verstandenen te zentrale These, Medien und Krieg seien auf Phänomens. Weil nirgends im Buch die offenbar vielfältige Art miteinander verwoben. Dies führt als faktisch verstandene Wirkmacht der Meta- er anhand zahlreicher Aspekte aus. So betont pher von der als fiktiv dargestellten Wirkmacht er, dass Medien Vorurteile, die in den von ih- der Objekte abgegrenzt wird, bleibt die vielleicht nen bedienten Gesellschaftskreisen existieren, wichtigste Frage des Buches unbeantwortet. aufgreifen und somit verstetigen oder gar ver- Die Beiträge im Buch wurden so angeord- stärken könnten. Im Falle deutscher Medien net, dass die stärker begrifflich-konzeptuell aus- führt er unter anderem die Serbien- (S. 65–68) gerichteten Beiträge am Anfang stehen, in der oder die China-Berichterstattung (S. 109f.) an. Mitte zunehmend fallstudienartige Beiträge fol- Auch beleuchtet er die zunehmende Präsenz gen und Niehaus’ Beitrag mit einer literarischen privatwirtschaftlicher PR-Agenturen innerhalb Selbstreflexion das Ende bildet. So ergibt sich der internationalen Medienlandschaft und deren eine Annäherungsbewegung an die Objektbio- Verflechtung mit Regierungskreisen einerseits, graphie, in der sie zunächst abstrakt und stark Medienunternehmen andererseits (z. B. S. 68– vereinfacht diskutiert, dann sowohl diskutiert als 74, 120–124, 129). Schließlich kommt er auf auch exemplarisch durchgeführt und schließlich Aktivitäten verschiedener Nichtregierungsor- in literarischen Anwendungen beobachtet wird. ganisationen zu sprechen, die er in mehreren Während sich so allmählich das Bild differenziert, Fällen als Agenten von Staaten oder PR-Firmen nimmt auch die Gelassenheit im Umgang mit identifiziert (z. B. S. 118f., 209–224, 282f.) der Metapher der Objektbiographie zu. Niehaus und deren Einflussnahme auf die massenmedi- schließt seinen Text und das Buch mit der Dis- ale Berichterstattung er als wesentlich versteht, kussion von Tim Krohns „Aus dem Leben einer da ihre Aktivitäten einen Nährboden bildeten, Matratze bester Machart“ (2014). Ein Blutfleck auf dem die ‚von oben‘ verbreiteten Erzählungen spielt dabei die zentrale Rolle, weil die Matratze gedeihen könnten (S. 117f.). Stets betont er, am Ende der Reise nur seinetwegen von ihrem dass derlei von der ‚eigentlichen Aufgabe‘ der ursprünglichen Besitzer wiedererkannt wird. „Was Medien ablenke – namentlich der Durchsetzung die Identität der Matratze verbürgt, ist – nahezu von Frieden und Völkerverständigung (S. 9f.). allegorisch – nicht ihr eigenes Blut, sondern das Bei all dem greift der Autor auf seine lang- menschliche Blut, das sie befleckt hat“ (S. 187). jährige Erfahrung als Friedensforscher zurück und Krohns fiktiver Text ist frei von der Angst vor Ka- präsentiert anhand einer großen Bandbreite von tegorienfehlern und kann sich daher bei wachen Beispielen die von ihm angesprochenen Aspekte Sinnen jenem hochkomplexen Zustand nähern, der Beziehungen zwischen Medien und Kriegen – der den Menschen „mit etwas vereinigen kann – oder, genauer gesagt, Konflikten aller Art – und eben durch Hantierung oder Tragen – das ihm deren Kehrseite, also die Bedeutung von Kon- zugehört, aber durch das sein Blut nicht kreist“ flikten für Medien. Die Beispiele erstrecken sich (Warburg WIA III. 93. 4, vgl. „Werke in einem über das 20. und 21. Jahrhundert und den ge- Band“ 2010, S. 581). Versuche zur begrifflichen samten Globus, wobei der Fokus zumeist auf der

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 105 westlichen Welt und insbesondere Deutschland wurden, ob Tibet als ‚Operationsgebiet‘ für die und den USA ruht. Das fehlende Register fällt bei genannten Organisationen ein Sonderfall war dieser Vielfalt schmerzlich auf. oder ob Akteure mit konkurrierenden Absichten Das von Becker verfolgte Ziel, im friedens- aktiv waren und abweichende Interpretationen politischen Sinne über die wechselseitigen existierten. Letztlich bleibt der diffuse Eindruck Beziehungen von Militär, Regierungen (samt einer weltweit manipulativ Fäden ziehenden Geheimdiensten) und Medien(-unternehmen) US-Elite (S. 277). aufzuklären, ist zweifelsohne zu begrüßen. Die Auch suggeriert Becker verschiedentlich, von ihm zusammengestellten Informationen, dass die von ihm untersuchten Zustände ‚früher‘ beispielsweise über die globalen Aktivitäten besser gewesen seien, wenn er beispielsweise von PR-Unternehmen im Auftrag unterschied- unter Verweis auf die französische postmoder- licher staatlicher Akteure (z. B. S. 18–24 ne Philosophie anführt, mediale Kriegskommu- oder 113–116) können sicherlich hilfreiche Aus- nikation sei vor den 1990er Jahren von Zensur gangspunkte für weitere Fragestellungen und geprägt gewesen, während seitdem eine freiwil- Forschungsansätze darstellen. lige Kooperation dominiere (S. 178–181) – ein Deshalb ist es umso bedauerlicher, dass schlichter Irrtum angesichts der weitgehenden es dem Autor nicht immer gelingt, die von ihm Kooperation zwischen Medien, Militär und Regie- angeführten Beispielfälle in ein schlüssiges ar- rungen schon vor dem Ersten Weltkrieg. gumentatives Ganzes zu überführen. Wenn er Schlussendlich wirkt die von Becker sug- beispielsweise in einem Abschnitt des Buches gerierte starke Medienwirkungstheorie pro- Kapitel zu Kriegsbildern aus dem Ersten Welt- blematisch. Zwar spricht er immer wieder von krieg, zum Umgang mit Folter in österreichischen agenda setting und framing und verweist auf Tageszeitungen im frühen 21. Jahrhundert unterschiedliche Trends der Medienwirkungs- und zu Wechselwirkungen zwischen Massen- forschung (S. 297–304), dennoch entsteht medien, Terrorismus und Informationskontrol- durch seine Argumentation der Eindruck, dass le zusammenführt, um zu demonstrieren, dass letztlich Massenmedien Denken und Handeln „Medien […] zu einer kriegerischen Entgren- ‚der Öffentlichkeit‘ lenken, während sie selbst zungsmaschine, die nicht länger Trennlinien zwi- an den Fäden von PR-Agenturen, dem Militär schen Gut und Böse, Frieden und Krieg kennt“, oder Regierungen hängen. So meint er mit „verkamen und verkommen“ (S. 140), dann Blick auf kriegskritische Äußerungen in den wirkt diese Zusammenstellung ein wenig willkür- deutschen Medien im Kontext des Golfkrie- lich und angesichts der weitreichenden Thesen ges 2003, hier hätte die Ablehnung einer deut- nicht wirklich belastbar. schen Beteiligung durch den Bundeskanzler Hinzu kommt, dass der Autor stellenweise oder, in seinen Worten, „der von oben verordne- mit eher vagen Andeutungen arbeitet. Dies zeigt te Regierungspazifismus erfolgreich als agen- sich etwa in dem bereits erwähnten Kapitel über da setting gewirkt“ (S. 106). Offen bleibt, wer die Olympischen Spiele in China und das Tibet- die Beeinflusser beeinflusst – oder sind diese bild der Massenmedien. Hier meint Becker: „In immun gegen Einflussnahme? Es entsteht der kaum einem anderen Fall von Pressemanipula- Eindruck, dass der Autor hier dem Propaganda- tion wie bei der des Tibetbilds lässt sich so gut syndrom unterliegt: Propaganda, die gemacht dokumentieren, dass die CIA eine bestimmte wird, wirkt auch, denn sonst würde sie nicht Darstellung in den westlichen Massenmedien gemacht. erfolgreich geprägt hat“ (S. 110). Es folgen zwar Literaturhinweise als Belege für illegale Aktivitäten der CIA in Tibet während des Kal- Braunschweig Christian Götter ten Krieges und das weltweite Engagement für Demokratie einer seit 1983 vom US-Kongress geförderten Stiftung, kritisch erläutert werden diese jedoch nicht. Der Autor folgert schlicht, Diskrepanzen in den Erinnerungen durch solches agenda setting und framing sei es 2008 schwierig für die Medien gewesen, Schoor, Kerstin/Schüler-Springorum, Stefanie positiv über die Olympischen Spiele in Peking (Hrsg.) : Gedächtnis und Gewalt. Nationale und zu berichten (S. 110f.). Es fehlen Ausführun- transnationale Erinnerungsräume im östlichen gen dazu, welche Maßnahmen konkret ergriffen Europa, 287 S., Wallstein, Göttingen 2016.

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„History ist written by the victors“, dieses Zitat bezog. Auch in diesem Tagungsband – wie in von Winston S. Churchill haben die beiden He- vielen anderen – lässt sich die Schwierigkeit er- rausgeberinnen Kerstin Schoor und Stefanie kennen, einen gemeinsamen roten Faden zu ent- Schüler-Springorum ihrem Tagungsband „Ge- wickeln; womit jedoch der Erkenntnisgewinn der dächtnis und Gewalt. Nationale und transnati- Artikel keinesfalls geschmälert werden soll. onale Erinnerungsräume im östlichen Europa“ So schildert Grzegorz Rossolin´ski-Liebe in vorangestellt, der auf eine Tagung in Frankfurt seinem Beitrag „Die antijüdische Massengewalt an der Oder im Juni 2013 zurückgeht. Denn der ukrainischer Nationalisten in der antikommu- Fokus der Tagung und der hier zu besprechenden nistischen, deutschen, jüdischen, polnischen, Publikation mit insgesamt 16 Beiträgen liegt auf ukrainischen und sowjetischen Historiografie“, den veränderten Blickrichtungen auf historische wie unterschiedlich in den jeweiligen nationalen Ereignisse nach gesellschaftlichen Umbrüchen. Geschichtswissenschaften auf dasselbe Ereig- Da es gerade der östliche Teil Europas ist, der in nis geblickt wird. Delphine Bechtel legt in ihrem den letzten Jahrzehnten nicht nur gesellschaftli- Beitrag „Gedenken und Gewalt im heutigen L’viv. che Transformationen, sondern auch kriegerische Selektive Erinnerung, Revisionismus, Alltagsfa- Auseinandersetzungen erlebt hat, liegt es nahe, schismus“ dar, wie die vielen Nationalitäten, die sich gerade auf diese Region zu beziehen. in dieser Stadt lebten, aus dem öffentlichen Ge- An dieser Stelle auch gleich eine erste kri- dächtnis ausgeblendet werden und versucht wird, tische Anmerkungen: Während der Kriege in eine ausschließlich ukrainische Vergangenheit zu Jugoslawien in den 1990er Jahren waren es konstruieren. Sogar der Zweite Weltkrieg mit den gerade die gegensätzlichen Interpretationen des einschneidenden Ereignissen wie den Besat- Zweiten Weltkrieges, die von den Kriegsparteien zungsregimen und dem Holocaust werden dabei für die eigenen Interessen und Ziele funktiona- neu interpretiert. Frauke Wetzels Aufsatz mit dem lisiert wurden. Die wissenschaftliche Auseinan- Titel „Kein Raum für Menschen zweier Kulturen. dersetzung mit diesem Phänomen hat zahlreiche Das Beispiel Ústí nad Labem nach 1945“ re- spannende Arbeiten zutage gefördert. Doch konstruiert, wie jüdisch-deutsche und deutsche sucht man einen Beitrag zu dieser Region in dem Einflüsse und ehemalige Nachbarn aus der Erin- vorliegenden Tagungsband leider vergeblich. nerung verdrängt wurden. Zwei Beiträge, der von Nach dieser kritischen Anmerkung möch- Marek Kucia „Die Symbolhaftigkeit von Ausch- te ich den einführenden Beitrag von Birgit witz in der polnischen Erinnerungskultur von Schwelling mit dem Titel „Identität – Differenz – 1945 bis heute“ sowie der von Walter Schmitz Ähnlichkeit. Überlegungen zu Konzepten der Ver- „Theresienstadt/Terezín. Die Barockstadt als Er- messung des europäischen Erinnerungsraums“ innerungsort des Holocaust“, befassen sich mit besonders positiv hervorheben. Sie plädiert da- zwei markanten Orten und deren Position im öf- für, in Europa sowie innerhalb der Staaten der fentlichen Gedächtnis der jeweiligen Staaten. Europäischen Union auch nach Ähnlichkeiten in Fünf Beiträge, der von Cristian Dietrich den kollektiven Erinnerungen zu suchen und den „Die Erfahrung in Stalingrad und das friedliche Fokus nicht vorrangig auf die Unterschiede zu le- Kriegsende. Das Narrativ von der Lehre aus der gen. Als Beispiel führt sie die Überlegungen des Vergangenheit in Rudolf Petershagens autobio- Germanisten Anil Bhatti an. Er ist der Meinung, grafischem Roman Gewissen in Aufruhr“, Irmela für die Analyse der postkolonialen Gesellschaft von der Lühes Aufsatz mit dem Titel „Die Gewalt Indiens eigne sich „das Bild des Palimpsests, mit der Zerstörung und die Poesie der Erinnerung. welchem sich Kulturen als historisches Resultat Józef Wittlins Mein Lemberg (1946)“, und der von vielen Schichtungen begreifen lassen. Eine von Andree Michaels „Aus dem Holocaust eine Urschicht existiert hier nicht und Mehrschichtig- europäische Kultur. Verfolgung, Exil und Ka- keit wird nicht als Defizit begriffen, sondern im tharsis bei Imre Kertész“ sowie der Aufsatz „Eine Gegenteil als Fülle und Reichtum interpretiert“ ‚sadistisch-pornografische Vision‘ oder eine (S. 27). Eine solche Sichtweise auf die europä- ‚bittere Komödie über Trauma‘? Zum Roman ische Geschichte und die Erinnerungen daran Noc Z ˙ydów von Igor Ostachowicz“, verfasst von könnte durchaus fruchtbar sein. Jerzy Kała˛z˙ny, nähern sich dem Tagungsthema Eingestimmt von diesen überzeugenden the- aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Der Bei- oretischen Überlegungen, war die Rezensentin trag von Svetlana Burmistr „Der ‚Große Vater- beim Lesen der folgenden Beiträge zunächst ländische Krieg‘ fernab vom Heldenmythos. Der irritiert, da sich keiner auf diese Ausführungen Krieg hat kein weibliches Gesicht von Swetlana

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 107 Alexijewitsch als Gegenposition zur sowjetischen sehr diese Texte in ihrer jeweiligen Schreibge- Erinnerungspolitik“ zeigt einmal mehr, wie groß genwart verhaftet sind und Teil der vor wenigen die Diskrepanz zwischen persönlichen und öffent- Jahren aktuellen Diskurse waren, wird bereits lichen Erinnerungen sein kann. wenige Jahre nach ihrem ersten Erscheinen sehr Den Abschluss bildet ein Beitrag von Wolf deutlich. Kaiser zu „Kooperation und Dissens. Gedenkstät- Vor allem lohnt dazu ein Blick in die beiden ten in Europa“. In diesem rekonstruiert er zum ei- Beiträge zum 23. August 1939 als „europäischer nen den unterschiedlichen gesellschaftlichen und lieu de mémoire “ beziehungsweise als „euroat- auch staatlichen Stellenwert von Gedenkstätten lantischer Gedenktag“ (S. 77–110). Troebst be- im östlichen wie auch im westlichen Teil Europas leuchtet hier die Erinnerung an den sogenannten sowie die gegensätzlichen Präsentationsformen ‚Hitler-Stalin-Pakt‘, der am 23. August 1939 in den Ausstellungen zum Zweiten Weltkrieg in unterzeichnet wurde, und dessen direkte Folge den jeweiligen Museen und Gedenkstätten. der deutsche Überfall auf Polen am 1. Septem- Wie unterschiedlich der Blick auf die Ereig- ber 1939 und mithin der Ausbruch des Zweiten nisse im und nach dem Zweiten Weltkrieg ist, Weltkrieges war. Wie unterschiedlich die Erinne- zeigen auch die stark von gegenseitigem Unver- rung an diesen völkerrechtswidrigen Vertrag ist, ständnis geprägten Debatten rund um den euro- zeigen allein die Begriffe mit denen seiner ge- päischen Gedenktag an die Opfer aller totalitärer dacht wird: Je nach europäischer Region kann und autoritärer Regime am 23. August. Alles in er sowohl deutsch-sowjetischer Nichtangriffs- allem liegt ein interessanter Tagungsband vor, vertrag, ‚Molotow-Ribbentrop-Abkommen‘ als der der interessierten Leserschaft wärmstens zur auch ‚Sowjet-Nazi-Pakt‘ heißen. Während die Lektüre empfohlen werden kann. Erinnerung an den 23. August 1939 etwa in den baltischen Republiken oder in Polen paradigma- ˇ ˇ tisch für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts Berlin Silvija Kavc ic und die Unterjochung durch zwei Diktaturen (NS-Deutschland und stalinistische Sowjetuni- on) steht, wird sie in anderen europäischen Län- Zur Bedeutung von Geschichtsregionen dern durch die je eigenen Erinnerungen an Krieg und Gewaltherrschaft überlagert. Stefan Troebst Troebst, Stefan : Erinnerungskultur – Kulturge- bringt Ordnung in diese komplexe und vielstimmi- schichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa ge Erinnerungslandschaft, indem er eine Eintei- in Europa, 440 S., Steiner, Stuttgart 2013. lung Europas in vier Regionen vornimmt. Diese Struktur übernimmt er weitgehend von dem pol- Der vorliegende Band, in dem der Leipziger (Süd-) nischen Historiker Oskar Halecki und seinem un- Osteuropahistoriker Stefan Troebst einige seiner garischen Kollegen Jeno˝ Szu˝cs. Es ist eines der Aufsätze der Jahre 2006 bis 2012 veröffentlicht zentralen Konzepte von Troebst, die sich unab- hat, beinhaltet drei Blöcke zu den titelgebenden hängig der Themenblöcke durch viele der Texte Themen: „Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – hindurchziehen und eine Art Leitgedanken dieses Geschichtsregionen“. Diese Themen scheinen Bandes ausmachen. auf den ersten Blick als eine beliebige Zusam- Troebst untersucht nun weiter für die jeweiligen menschau von Zugriffen, die in der Geschichts- Geschichtsregionen, wie die Erinnerung an den schreibung (vor allem zum östlichen Europa) in Zweiten Weltkrieg die jeweilige Lesart des 23. Au- den letzten zehn Jahren Konjunktur hatten. gust 1939 bedingt. In der östlichsten europäischen Zur Erinnerungskultur hat Troebst 13 Tex- Region, in der heutigen Russischen Föderation, te versammelt, die sich mit der Erinnerung an gilt der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt als Ereignisse, Orte oder vor allem Daten beschäf- rein diplomatiegeschichtliches Ereignis. Die Schre- tigen, wie etwa den „Sehnsuchtsort Saloniki“, cken des Weltkrieges beginnen aus dieser Pers- das Jahr 1945, Flucht und Vertreibung, oder die pektive erst mit dem deutschen Überfall auf die vermeintliche Rettung der Juden in Bulgarien vor Sowjetunion am 22. Juni 1941. In West- und in dem Holocaust. Viele dieser Texte sind von hoher Mitteleuropa wurde die Erinnerung an den 23. Au- geschichtspolitischer Brisanz und alleine deshalb gust als Konkurrenz zum Holocaustgedenken lesenswert. Sie sind zum Teil Beiträge zu Debat- begriffen und deshalb kritisiert. In diesem Datum, ten, zum Teil Dokumentationen derselben mit das 2009 schließlich nach langen Diskussionen, vereinzelt sehr ausführlichen Quellenzitaten. Wie die Troebst relativ ausführlich dokumentiert, zum

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„Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer finden sich in so vielen Beiträgen des Bandes, von Stalinismus und Nationalsozialismus“ erklärt dass sich die Überlegung aufdrängt, ob sich nicht wurde, kulminiert also die konkurrierende Erinne- dieser regionalgeschichtliche Ansatz viel eher als rung an den Zweiten Weltkrieg in Europa. Darü- Dach des gesamten Projektes aufgedrängt hätte. ber ergeben sich auch Anknüpfungspunkte zum Damit hätte die Unwucht der drei ungleichen und Thema „Diktaturvergleich“, das Troebst ebenfalls disparaten Teile vermieden werden können. Der ausführt. Hier eröffnet die Regionalisierung der Untertitel „Ostmitteleuropa in Europa“ regt eine Erinnerung ganz neue Einblicke. solche regionalistische Deutung bereits an. Gleichzeitig zeigt sich aber auch an der vor- Grundsätzlich lässt sich natürlich fragen, sichtig optimistischen Einschätzung einer schein- ob eine solche Versammlung zum Teil so un- bar auf europäische Verständigung ausgerichteten terschiedlicher Texte eines Autors, die fast alle russländischen Geschichtspolitik seit 2009 die schon einmal an anderer Stelle erschienen sind, Verhaftung der Texte in ihrer Schreibgegenwart, sinnvoll ist. Die übergroße Mehrheit der Texte dem Jahr 2011. Troebst beobachtete im Jah- ist durchaus prominent erschienen und deshalb re 2011 die Destalinisierung der Geschichtspolitik für Studierende und Kolleg_innen grundsätzlich genauso wie eine Verbesserung des russisch-pol- zugänglich. Andererseits lässt sich einwenden, nischen und des russisch-deutschen Verhältnis- dass ein solcher Band, der die Texte bündelt, ses als Voraussetzungen für eine gemeinsame erst die inneren Zusammenhänge, die durchaus europäische Erinnerungspolitik. Diesen Optimis- gegeben sind, offenlegt und die gemeinsame mus würde Troebst seit den kriegerischen Ereig- Rezeption verbessert. Diese inneren Zusam- nissen in der Ukraine sicher nicht mehr in seine menhänge liegen in der Natur der Sache, weil Texte einfließen lassen; er zeigt aber, wie stark der Autor sich diesen unterschiedlichen Themen Geschichtspolitik und gegenwärtige Politik einan- jeweils auf seine Art und mit seinen Zugriffen nä- der bedingen. hert – deshalb wäre eine solche Zusammenschau Der zweite Block zur „Kulturgeschich- scheinbar entlegener Texte vielen Autoren und ih- te“ vereinigt zehn Texte. Im engeren Sinne mit ren Lesern eigentlich zu wünschen. Hochkultur beschäftigen sich etwa der Text zum Zugleich ermöglicht es die (wenn auch noch Krakauer Schlachten- und Historienmaler Woj- geringe) zeitliche Distanz zum ursprünglichen ciech Kossack, für den das Pferd, so Troebst, Erscheinungstermin, die Vergänglichkeit der Ent- zum „Karrierekatalysator“ wurde, oder der geis- stehungskontexte in den Blick zu nehmen. So tesgeschichtlich orientierte Aufsatz zu Walter verdeutlicht dieser Sammelband auch, wie aus Markov und seinen Beiträgen zur sogenannten Geschichtsschreibung Historiographiegeschichte ‚Balkandiplomatie‘. wird. Einen breiteren Kulturbegriff legt der Au- tor zugrunde, wenn er etwa die Bedeutung der terroristischen Organisation IMRO (Innere Ma- Köln Anke Hilbrenner kedonische Revolutionäre Organisation) für den deutschen Revisionismus der Zwischenkriegszeit nachzeichnet. Dieser Aufsatz illustriert auf über- Dekonstruktion ohne Erzählungen zeugende Weise die kommunikative Wirkung terroristischer Gewalt und ihre Diskursmacht in Heyde, Jürgen u. a. (Hrsg.) : Dekonstruieren transnationaler Perspektive. und doch erzählen. Polnische und andere Ge- Der Block „Geschichtsregion“ besteht nur schichten, 359 S., Wallstein, Göttingen 2015. aus zwei Texten. Der erste beschäftigt sich ge- nerell mit „geschichtsregionalen Konzeptionen in Neugierig nimmt man den Band zur Hand: Ge- den Kulturwissenschaften“, der zweite themati- schichtswissenschaft und Geschichtsschreibung siert anhand der Schlagwörter „Le Monde mé- in oder nach der Postmoderne ist angekündigt; diterranéen“, „Südosteuropa“ oder der „Black „Dekonstruieren und doch erzählen“, das klingt Sea World“ einige Geschichtsregionen im Süden nach unaufgeregtem Ausprobieren von neuen Europas. Auf den ersten Blick wirken also die Zugängen, und das umso mehr, als der Unter- Geschichtsregionen etwas unterrepräsentiert in titel „Geschichten“ verspricht. Dass der geogra- diesem 437 Seiten starken Sammelband, aber phische Schwerpunkt vieler Beiträge in Polen, Überlegungen zur Bedeutung von Geschichtsregi- jedenfalls in Osteuropa, liegt, bezeichnen die onen oder auch regionalistische Strukturprinzipien fünf Herausgeberinnen und Herausgeber um die

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 109 Hallenser Osteuropa-Historikerin und Direktorin Boden“ von Per Leo. Beide reichern eine gründ- des Aleksander-Brückner-Zentrums für Polen- liche Faktenrecherche mit fiktionalen Elementen studien Yvonne Kleinmann als sekundär. Die zum Roman an, und wiederum beide wurden von Autoren des Bandes dokumentieren ein wissen- Historikern für dieses Vorgehen scharf kritisiert. schaftliches Netzwerk mit Verbindungen aus ihrer Reif nimmt die Literatur gegen ihre Kritiker aus Leipziger Zeit, wo sie bis 2013 eine Emmy No- der Geschichtswissenschaft in Schutz und be- ether-Gruppe leitete, dazu die Beziehungen, die zeichnet die Kritik als Rückzugsgefechte einer sie seither in Halle geknüpft hat. Disziplin, deren Deutungshoheit schwinde. Entsprechend der Zusammenstellung der Einen dekonstruierenden Blick auf die Meis- Autoren, die eher persönliche Verbindungen tererzählung vom „Prozess der europäischen spiegelt als eine systematische Auswahl, kommt Integration“ unternimmt René Leboutte. Der In- auch der Band inhaltlich ohne explizites Pro- haber des Jean Monnet Lehrstuhls für europä- gramm aus; also ohne Einleitung, die ein theore- ische Geschichte an der Universität Luxemburg tisches Konzept präsentieren oder den Beiträgen konstatiert, dass die Geschichte Europas und eine Marschrichtung vorgeben würde. Ein Prolog des europäischen Einigungsprozesses von „einer formuliert lediglich knapp das Vorhaben, auch nahezu an Naivität grenzenden teleologischen nach der Dekonstruktion von Meistererzählungen Betrachtung“ (S. 232) dominiert werde. Er be- „Ereignisse, Strukturen, Wahrnehmungen, Deu- obachtet eine Glaubwürdigkeitskrise der europäi- tungen und Handlungen“ in „nachvollziehbare schen Einigung, die er auf die Zeit 2008 bis 2014 Zusammenhänge“ zu stellen (S. 11). Gegliedert datiert. Das Brexit-Referendum Großbritanniens werden die 43 Beiträge in fünf als Aufforderung vom Sommer 2016 verleiht seinem Beitrag zu- formulierte Kapitel: „Erzählungen überdenken“, sätzlich Aktualität. Florentiner Graffiti nimmt er als „Erinnerungen historisieren“, „Wahrnehmungen Indiz für eine wachsende Skepsis der Bevölke- kontextualisieren“, „Räume und Zeiten vermes- rung am politischen Einigungsprozess, dem sich sen“, „Wissenschaft reflektieren“. die Geschichtswissenschaft bisher nicht ausrei- Diese Kapiteleinteilung bindet einen Strauß chend widme. Eine Erzählung nach der Dekonst- aus sehr unterschiedlichen Beiträgen zusam- ruktion ist das allerdings noch nicht. men. Jill Gossmann eröffnet den Band mit einer Auch Miroslav Hoch präsentiert keine Er- Dekonstruktion der Stalingrad-Mythen und stellt zählung in seinem Plädoyer für ein europäisches Überlegungen an, wie eine zeitgemäße Dar- Geschichtsbuch. Parallel zu weiterhin existieren- stellung dieser Schlacht aussehen könnte – auf den Nationalgeschichten solle ein solches euro- Menschen und soziale Gruppen bezogen, von ih- päisches Geschichtsbuch der Konstruktion einer ren Körpern, ihren Erlebnissen und Erfahrungen europäischen Identität verpflichtet sein, lautet ausgehend multiperspektivisch die „Veränderung seine Empfehlung. Hierfür müsste der Kontinent von Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern“ un- als Raum gemeinsamer historischer Prozesse ins tersuchen, etwa das Zusammenbrechen beste- Zentrum rücken. Mit seinem Plädoyer für eine hender Strukturen und sozialer Regeln. integrierte europäische Geschichte rennt er aller- Während Gossmann solcherart schreibend dings Türen ein, die inzwischen weit offen stehen. die Möglichkeiten für ein Forschungsprojekt Cornelius Torp kreist mit seinem Beitrag zur auslotet, das den theoretischen Prämissen der umkämpften Erinnerung an das Massaker von Postmoderne entspricht, formuliert Manfred Sand Creek 1864, das US-Truppen an zwei Indi- Hettling kritische Einwände gegen eine „einsei- anerstämmen verübten, räumlich auf der Außen- tige Subjektzentrierung“, der er vorwirft, Politik bahn dieses um Osteuropa zentrierten Bandes. und Gesellschaft, Strukturen und Prozesse in Konzeptionell passt sein Ansatz gut in den Band, den Hintergrund treten zu lassen. Durch diese wenn er Gedenken und Erinnerung als politisch Abkehr von den Kernthemen der Sozialgeschich- umkämpft schildert, und an diesen Auseinander- te gehe die „reflektive Distanz“ verloren, gewinne setzungen um Deutungshoheit Verwerfungen der das journalistisch-Anekdotische die Oberhand amerikanischen Geschichte aufzeigt. gegenüber analytischer Tiefe. Diese Beispiele zeigen die Unterschiedlich- Heinz Reif vermisst das Grenzgebiet zwi- keit der Beiträge: Überlegungen zu möglichen schen fiktionaler Literatur und empirisch legiti- Forschungsthemen und -fragen stehen neben mierter Geschichtswissenschaft anhand von zwei Lektürekommentaren; manche Beiträge geben Romanen, „Hammerstein oder der Eigensinn“ Einblick in die Forschungsgebiete der Auto- von Hans Magnus Enzensberger und „Flut und ren, ohne erkennbaren Bezug zum inhaltlichen

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Anliegen des Bandes. Diese Diversität ist bei der aber an vielen Stellen vom Leben Lili Elvenes Fülle der Autoren wohl unvermeidlich. Insgesamt abweicht, deutliche Spuren anderer Autor_innen bietet der Band einen bunten Strauß von Kon- trägt und deren dänische, deutsche und englische zepten und Vorhaben, Ideen und Überlegungen. Version sich deutlich voneinander unterscheiden. Auch die verschiedenen medizinischen Gutachten und andere Einlassungen von Ärzten, die Elvenes Frankfurt a. M. Barbara Wolbring untersuchten, sind unzuverlässige Quellen, da die Aussagen der Texte offensichtlich ihren jeweiligen Absichten angepasst wurden, etwa eine Operati- Selbst- oder Fremdverortung des on zu begründen oder eine staatliche Kommission Menschen im Dickicht der Diskurse von der Weiblichkeit der Beschriebenen zu über- über Geschlecht? zeugen und nicht zuletzt die eigene wissenschaft- liche Reputation zu wahren. Schließlich stehen Meyer, Sabine : „Wie Lili zu einem richtigen auch die Äußerungen aus Elvenes persönlichem Mädchen wurde“. Lili Elbe. Zur Konstruktion Umfeld überwiegend im Spannungsfeld von Lo- von Geschlecht und Identität zwischen Medi- yalität gegenüber der Verwandten oder Freundin alisierung, Regulierung und Subjektivierung, und gesellschaftspolitischen Erwägungen. 359 S., transcript, Bielefeld 2015. Sabine Meyer hat in ihrer transdisziplinären Studie einen Großteil dieser Quellen ausgewer- Die dänische Malerin Lili Elvenes (1882–1931), tet, die Forschungsliteratur vorgestellt sowie zum eher bekannt unter dem Namen ihres literari- Teil kritisch hinterfragt und so viel Licht in das schen Ichs Lili Elbe, geboren als Einar Wegener, Dunkel gebracht, wie ihr möglich war. Der mehr- war einer der ersten Menschen, die sogenannte fachen Quellenproblematik trägt Meyer auch da- geschlechtsangleichende Operationen an sich durch Rechnung, dass sie ihrer Veröffentlichung vornehmen ließen. Deswegen erfuhr Lili Elbe mit „Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde“ mehrfach breite mediale Aufmerksamkeit: An- den Titel gibt, den Lili Elvenes gern ihrer eigenen fang der 1930er Jahre, als die Operationen in Biographie gegeben hätte, die 1931 in Däne- Berlin und Dresden vorgenommen wurden, in mark aber unter dem Titel „Fra Mand til Kvinde“ den 1950er Jahren im Kontext von geschlechts- (Vom Mann zur Frau) erschien. angleichenden Operationen an einer US-Ame- Auf eine Intersexualität der literarischen Fi- rikanerin in Dänemark und jüngst durch den gur Lili Elbes lassen die Selbstbeschreibung Lili Spielfilm „The Danish Girl“ von 2015 (USA/GB). Elbes in „Frau Mand til Kvinde“, zwei Wesen Zu Beginn des 21. Jahrhunderts (mit Vorläu- lebten in einem Körper, sowie die Bezugnahme fern Anfang der 1990er Jahre) wurde Lili Elbe auf Hermphroditos und Platons Kugelmenschen im Zuge wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu aus der griechischen Mythologie ebenso schlie- einer Ikone der Transsexuellen-Bewegung und in ßen wie ein Brief vom Juli 1931, in dem es heißt, jüngster Zeit auch der Intersexuellen-Bewegung sie habe zeitweilig menstruiert, ohne zu wissen, in verschiedenen westlichen Ländern. Dabei woher das Blut komme. Ferner wird in der ver- gibt es auch einen Streit, wer sie in seine Ah- meintlichen Autobiographie dargelegt, bei einer nenreihe einordnen darf – wie sehr anschaulich der Operationen 1931 habe der Arzt, wie von sowohl der deutsche als auch der englische Wi- ihm vermutet, beim Öffnen ihrer Bauchdecke kipedia-Eintrag einschließlich deren Geschichte verkümmerte Ovarien gefunden. Sabine Meyer zeigen: Während der englische Artikel Lili Elbe Ausführungen zeigen, dass eine geschlechts- eine „transgender woman“ nennt, wird sie im angleichende Operation bei einem intersexuellen deutschen Artikel seit September 2015 als „in- Menschen eine höhere gesellschaftliche Akzep- tersexueller Mensch“ bezeichnet. Diese doppelte tanz gehabt habe als der Geschlechtswechsel Einordnung ist der besonderen Quellenlage um beziehungsweise die Genitalumwandlung eines Lili Elvenes Leben geschuldet: Lili Elvenes starb transsexuellen Menschen. Ungeachtet dessen kurz nach der letzten Operation und hat sich zu wird Lili Elbe von den 1930er Jahren bis heute vielen sich spätestens heute stellenden Fragen eher als transsexuell wahrgenommen, was nicht nicht öffentlich oder nicht eindeutig geäußert, zuletzt auch durch die Titel ihrer Lebensgeschich- sicherlich nicht zuletzt aus strategischen Grün- te „Fra mand til kvinde“ (DK 1931), „Ein Mensch den. Ferner gibt es zwar eine als Autobiographie wechselt sein Geschlecht“ (D 1932) und „Man rezipierte posthume Buchveröffentlichung, die into Woman“ (GB & USA 1933) zu begründen ist.

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 111 Sabine Meyer befasst sich intensiv mit der Globalgeschichte der Zeitmessung vielschichtigen Editionsgeschichte und dem Verhältnis von tatsächlicher Lebensgeschichte Ogle, Vanessa : The Global Transformation of und veröffentlichter Biographie, ohne hier aber Time, 1870–1950, 288 S., Harvard UP, Cam- angesichts der Quellenlage insgesamt zu kla- bridge, MA/London 2015. ren zusammenfassenden Aussagen kommen zu können. Einen weiteren Schwerpunkt bildet Es gehört zu den Binsenweisheiten der his- die Einordnung in zeitgenössische medizinische torischen Forschung, dass Eisenbahnen, Te- Diskurse. Kurz wird auch auf die rechtliche Si- legraphen und Dampfschiffe die Welt im 19. tuation eingegangen. Die Autorin beschreibt den Jahrhunderts enger zusammenrücken ließen. Die enggesteckten Rahmen, in dem sich sowohl Lili seit den 1870er Jahren vorangetriebene, inter- Elvenes als Betroffene als auch die Mediziner nationale Reform der Zeitmessung erscheint auf bewegen konnten: das Konzept der Zweige- den ersten Blick als eine zwangsläufige Folge schlechtlichkeit, moralische Bewertungen, feh- dieser Veränderungen. Vanessa Ogles nun vor- lende Rechtsgrundlagen und den wachsenden liegende Geschichte dieses Phänomens wider- Einfluss der Eugenik sowie die engen inhaltlichen spricht einer solchen Auffassung jedoch. Ihre und personalen Bezüge von Befürwortern der zentrale These lautet, dass die Standardisierung Möglichkeit des Geschlechtswechsels, Sexual- der Zeit ein außerordentlich langsamer und be- reformbewegung und Eugenik beziehungsweise grenzter Prozess war, der keine globale Homo- „Rassenhygiene“. Zentral für Meyer ist die Frage genisierung zur Folge hatte, sondern zahlreiche nach Elvenes’ agency im Sinne von Handlungs- neuartige, lokale und nationale Differenzierungen fähigkeit respektive Handlungsmächtigkeit: Lili nach sich zog. Elvenes’ agency gehe „weder mit einer absoluten Diese Auffassung entfaltet Ogle in sieben Ka- Ent- noch einer uneingeschränkten Ermächti- piteln. Anstelle der gut erforschten Technik- und gung einher. Trotz der Rahmenbedingungen, in Wissenschaftsgeschichte der Zeitmessung nimmt welche sie sich zu fügen hat, erkämpft sich El- sie dabei primär die „social, political and cultural venes Räume der Artikulation und Identitätsent- side to time reform“ (S. 15) in den Blick. Jedes faltung. Auch wenn sie diesen nicht dominiert, Kapitel umfasst einen bestimmten Aspekt des wird sie Teil des Diskurses um ihre Subjektivi- vielschichtigen Themas und betrachtet jeweils un- tät“ (S. 221). Für Meyer ist trotz aller Autor_in- terschiedliche, über den ganzen Globus verstreute nen-Problematik insbesondere die Figur der Lili Schauplätze. Kapitel 1 behandelt die Zeitstandar- Elbe ein Ausdruck der agency Lili Elvenes’: „In disierung in Deutschland und Frankreich zwischen Fra Mand til Kvinde avanciert Lili Elbe sogar zum 1880 und dem Ersten Weltkrieg. Es argumentiert, fordernden Subjekt, das sich mitunter dem hier- dass diese primär einen Aspekt des nation-build- archischen Gefüge zwischen der individuellen und ing und nicht des Internationalismus dargestellt der institutionellen Ebene widersetzt. So begehrt habe. Im zweiten Kapitel untersucht Ogle die sie gegen Ungerechtigkeiten des Rechtssystems britische Debatte über die Einführung der Som- auf und erbittet beim Arzt einen zusätzlichen ope- merzeit. An diesem Beispiel illustriert sie – in rativen Eingriff“ (ebd.). bewusster Abkehr von den einflussreichen The- Obwohl Meyer sehr darum bemüht ist, zwi- sen E. P. Thompsons – die überaus zählebige, schen der realen Person Lili Elvenes und der fik- bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreichende tiven Lili Elbe zu differenzieren, fällt es manchmal Koexistenz von „traditionellen“ und „modernen“ schwer, diese beiden auseinanderzuhalten. Ins- Zeitvorstellungen. Kapitel 3 betrachtet die globale gesamt wirkt die Studie über weite Strecken so, Ausdehnung des in den 1880er Jahren begründe- als wende sie sich an Leser_innen, die bereits ten, Greenwich-basierten Systems der Zeitzonen intensiv mit Lili Elbe vertraut sind. Eine stärkere und betont dessen geringe Verbreitung in kolonia- Leser_innenführung, etwa durch eine klassische len und nicht-westlichen Staaten. In Kapitel 4 wid- Inhaltsangabe der untersuchten Hauptquelle, met sich Ogle am Beispiel Britisch-Indiens einer wäre für den rezensierenden Historiker und Li- Fallstudie zu dieser Frage und arbeitet die enge teraturwissenschaftler ebenso wünschenswert Verknüpfung der einschlägigen Debatten mit der gewesen wie der Mut, häufiger allgemeine zu- Formierung nationaler Identitäten heraus. Kapi- sammenfassende Aussagen zu treffen. tel 5 weitet die Perspektive auf nicht-westliche, nicht-koloniale Gesellschaften aus und zeichnet Hamburg Stefan Micheler die Überlegungen von arabischen Intellektuellen

112 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen zur adäquaten Nutzung von Zeit nach. Kapitel 6 kommen die homogenisierenden Aspekte der bleibt in derselben Region, behandelt aber statt Zeitstandardisierung gegenüber den lokalen und der Uhrzeit die Kalenderzeit, das heißt vor allem nationalen Eigenlogiken insgesamt etwas zu die Auswirkungen neuer technischer Möglich- kurz. Warum sich zum Beispiel die Weltzeit Mitte keiten auf die Bestimmung religiöser Daten wie des 20. Jahrhunderts doch noch durchsetzte, beispielsweise des Fastenbrechens am Ende des interessiert Ogle nicht so recht. Die Frage wird Ramadan. Schließlich analysiert das siebte Ka- deshalb nur sehr knapp diskutiert (S. 96). Das pitel die in den 1920er und 1930er Jahren dis- könnte man anders machen. kutierte Frage einer globalen Kalenderreform. Es Vor dem Hintergrund der erbrachten Leis- identifiziert amerikanische Unternehmer als deren tung sind diese Kritikpunkte allerdings Petites- Hauptbefürworter und macht religiöse Interessen sen. Ogles Buch ist insgesamt außerordentlich dafür verantwortlich, dass die Debatte letztlich er- gelungen. Es hat einen genuin globalen Horizont, gebnislos verlief. es bietet eine bemerkenswerte, neue Perspekti- Die Vielzahl der behandelten Themen und ve auf die Geschichte der Zeitmessung, und es Schauplätze mag zunächst verwirrend sein. Tat- ist obendrein sehr gut lesbar. Was will man mehr? sächlich haftet ihrer Auswahl eine gewisse Be- liebigkeit an. Systematisch begründet wird sie Bielefeld Peter Kramper nicht, ebenso wie die unterschiedlichen Dimen- sionen des Zeitphänomens eher postuliert als theoretisch reflektiert werden. Aber dieser etwas impressionistische Charakter des Buches korre- EPOC HENÜBERGREIFENDE STUDIEN spondiert mit der übergreifenden Argumentati- on. Ogles Beispiele zielen eben darauf ab, das Miteinander und Nebeneinander von Standardi- Gender and the Disciplinisation of sierungsbestrebungen und lokalen Aneignungen History und Widerständen zu zeigen, und zwar über das ganze Spektrum des Zeitbegriffes und über er- Schnicke, Falko : Die männliche Disziplin. hebliche Teile des Globus. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Ge- Dieses Anliegen einzulösen, gelingt der Au- schichtswissenschaft 1780–1900, 636 pp., torin mit Bravour. Die Gesamtargumentation ist Wallstein, Göttingen 2015. schlüssig und beinhaltet wichtige Korrekturen des Forschungsstandes. Das gilt besonders für Provocative, meticulously researched, and com- den Befund, Industriekapitalismus und Zeitstan- pellingly argued, this work employs the category of dardisierung seien keineswegs aufeinander gender as a heuristic device (p. 48) to understand angewiesen. Zudem ist die Bandbreite der he- the professionalisation and institutionalisation of rangezogenen Beispiele sehr beeindruckend. the writing of history in Germany from the late Soweit der Rezensent das beurteilen kann, sind eighteenth to the twentieth century. Admitting that die Ausführungen zur arabisch-islamischen Welt his thesis is not completely original, having been dabei ebenso wohlfundiert wie diejenigen zu den a theme in feminist scholarship at least since the europäischen, amerikanischen oder (mit gering- 1970s, the author notes, however, that few em- fügigen Abstrichen) britisch-indischen Debat- pirical studies have sought to develop the insights ten. Das ist eine beachtliche Leistung. from this perspective that would demonstrate the Freilich ist das Buch nicht über alle Kritik method and extent of the masculinisation ( Ver- erhaben. An manchen Punkten wären tiefer- männlichung ) of the field (p. 16), a concept he gehende Recherchen und genauere Kontextu- notes that should be rendered in the plural as it alisierungen möglich gewesen. Das gilt unter often intersects with the dynamics of “class, reli- anderem, aber nicht nur im Hinblick auf die in gion, ‘race’, sexuality and body” (p. 20). Why race Kapitel 3 genannten Beispiele für die Verbrei- remains in quotation marks in this formulation, is tung der Zonenzeit. Zudem überschätzt Ogle die a question that could be posed, since the argu- Einzigartigkeit der Debatten über die Zeitmes- ment here implies that the power relations defining sung. Die Gesamtthese des Buches ließe sich these issues are produced within the same disci- problemlos auch auf andere Standardisierungs- plinary Habitus (pp. 35–39) in which a distinctly prozesse anwenden, etwa auf die Internationali- gendered approach to understanding the past was sierung des metrischen Systems. Und schließlich conceptualised and enacted.

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 113 Focusing on “knowledge, praxis, structures, beautiful princess and virgin ( Jungfer ) metaphors and individuals” (p. 21), the study identifies four for the archive are utilised, a theme that the author levels on which to examine the gendering of brilliantly traces back to the Grimm fairy tale tra- historical scholarship: the “anthropology of the dition. One can therefore see that the untouched historian”, the conception of historical research, princess waiting to be redeemed by her saviour historical methods, and institutional practices through marriage ( Erlösungsmärchen ) found her- of the discipline (pp. 31f.). The anthropological self in a similar position as the untouched virgin level determined “who had culture and therefore documents in the archives waiting to be redeemed history” (p. 63) and foundationally anchored the by the male historian (p. 403). This understanding process in which the other levels interacted and when seen in the context of Heinrich von Sybel’s co-determined the discipline, which defined itself insistence that a masculine maturity ( Männ lich[e] against unscholarly and anti-scholarly femininity Reife ) was required to undertake historical re- (unwissenschaftliche and anti-wissenschaftliche search (pp. 349–361), and with Droysen’s de- Weiblichkeit ) (p. 110). Attempting to emulate the scription of historical scholarship as an “act of paradigm of the natural sciences, the profession- conception” (p. 422) as well his critique of Ranke’s al historian was ideally to embody the “scientific method as eunuchoid ( eunuchisch ) (p. 428), illus- persona” (pp. 65–71) as well as a well-rounded trates clearly that whilst considered objective and man ( “der ganze Mann” ) who exemplified the neutral, historiographical methods implicitly and traits of rationality and emotionality in a harmo- explicitly thematised gender and sexuality (p. 348). nious union” (p. 115). In addition to employing The last level concerns the gendering of the textual archival sources, Schnicke utilizes images historical discipline, enacted at the institutional to illustrate the anthropology of the historian, to level of the university. Some historians gave seri- wit: portraits of the historians Leopold von Ranke, ous theoretical consideration to the rule-governed Theodor Mommsen and Johann Gustav Droysen, exclusion of women from university matriculation. all of which, despite differing emphases, commu- From 1847–1885 in six lectures before the gen- nicated the body politics ( Körperpolitiken ) of the eral public, Sybel argued that the intended role of discipline and how the male historian – depicted the university was precisely to create a masculine in private and public scenes – could be identified identity, one that correlated with a political role as a symbol of the bourgeois nation. in the wider society (pp. 459–460). And when The intimate relationship of scholarliness women began finally to trickle into the university, (Wissenschaftlichkeit ), masculinity, and the body Heinrich von Treitschke decried the invasion of that was reflected in the portraits implied a cor- women (“Invasion der Weiber” , p. 470). And yet, poreal dimension to the writing of history. Using the historical seminars they attended served both another visual representation, the frontispiece in to include them but also spatially to marginalise historical texts, Schnicke insightfully describes them. the way in which the metaphor of work enabled This study constitutes an important inter- an identification of Geschichtswissenschaft with vention in the historiography on the rise of the masculinised labour. Droysen’s abstract and os- research university and the disciplinisation of his- tensibly general formulation of historical scholar- tory, doing so, by offering a much-need original ship as human’s “self-creation of being” (p. 272), and sustained intersectional analysis. Perhaps, Ranke’s more concrete analogy of archival re- one could argue that too much focus remains on search as coal-mining, and the alternative view of well-known scholars, but their seminal roles may research as pleasurable labour, but one that must justify such emphasis. Schnicke’s argument also sometimes be protected from the pressures of adds a gendered dimension to our understand- time and family (p. 309), were all understandings ing of this moment of “great transformation” that presupposed the male body as the agent (Karl Polanyni) that has been identified with the through which historical knowledge would be industrial revolution, the rise of bourgeois nation- produced. alism, and a shift in orders of knowledge (Michel This presupposition emerged in the third of Foucault). This book could have been edited level of analysis, that of historical methods. In a more closely to avoid repetition, but such is mi- stimulating analysis, Schnicke demonstrates how nor, given the tremendous insights that reading the use of sources was conveyed in highly gen- it yields. dered and sexualised terms. The most arresting examples come from Ranke’s letters in which the Middletown, CT Demetrius L. Eudell

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Völkische Geschichtsideologie der weltgeschichtlichen Rolle des Judentums, die in diesem Fall und insbesondere bei Fritsch Köck, Julian : „Die Geschichte hat immer stark antisemitisch akzentuiert ist, und schließ- Recht“. Die Völkische Bewegung im Spie- lich das Wirken der Deutschen als einem vom gel ihrer Geschichtsbilder, 505 S., Campus, Weltgeist auserwählten Volk (S. 283f.). Auf Frankfurt a. M./New York 2015. ein „germanisches Altertum“ sei, wie auch in den klassischen Weltgeschichtskonzepten, nur In seiner 2014 von der Universität Bern ange- randständig eingegangen worden, was zunächst nommenen Dissertation fragt Julian Köck nach etwas verwundert, da der vorwiegend rassisch den Grundlagen völkischer Ideologie. Er kommt definierte Germanenbegriff der Völkischen das in seiner in vier Hauptkapitel gegliederten Studie klassische Geschichtsdenken doch auf den Kopf zu dem Ergebnis, verschiedene oder sogar kon- zu stellen trachtete. Auf die von völkischen Au- träre, auf rassentheoretischen, antisemitischen toren extensiv diskutierten Urheimatfragen und und religiös-weltanschaulichen Vorstellungen rassengeschichtlich begründeten Wanderungs- beruhende Geschichtsbilder seien zu einer in theorien geht Köck erstaunlicherweise nur bei- der Mitte der Gesellschaft wirkmächtigen „Ge- läufig, und zwar erst im dritten Hauptkapitel ein, schichtsideologie“ verdichtet worden. das durchaus prominente Themen und Methoden Köck sieht sich den wegweisenden Studi- völkischer Geschichtsschreibung nur kursorisch en seines Berliner Mitbetreuers Uwe Puschner abhandelt: Naturwissenschaftliche Ansätze in und dessen „Plädoyer für einen ‚engen‘ Begriff“ der völkischen Geschichtsschreibung, völkische (S. 11) des Völkischen verpflichtet. Vor diesem Positionen zur Milieu-Theorie, völkische Entwürfe Hintergrund sucht Köck bei seiner Quellenaus- zur deutschen Geschichte, völkische Periodika wahl Protagonisten in den Vordergrund zu stellen, sowie ariosophische Darstellungen stehen hier denen „innerhalb der Bewegung eine Führer- etwas zusammenhanglos nebeneinander. Köck schaft bzw. eine große Bedeutung zugemessen begründet diese augenscheinliche Heterogenität wurde“ (S. 16). Ziel ist es, den „Kanon der völki- der völkischen Ansätze zur Geschichtsschreibung schen Geschichtsideologie“ zu fassen, um an ihm mit der Heterogenität der völkischen Bewegung die „völkischen Geschichtsbilder und Ideologeme (S. 347). [zu] untersuchen“ (S. 22). Im vierten und letzten Kapitel wird das Ver- Im ersten Hauptkapitel kennzeichnet der hältnis der überwiegend dem Intellektuellenmilieu Autor zunächst den ausufernden Bezug auf die zuzurechnenden Völkischen zur universitären Ge- „Rasse“ in den Geschichtsdarstellungen der Völ- schichtswissenschaft beleuchtet, was Köck zu- kischen. Diese „integrierende Vokabel der völ- treffend als gespannt charakterisiert. Sahen sich kischen Rhetorik“ fungierte in der heterogenen die Völkischen selbst als Avantgarde, so blieb völkischen Bewegung gleichsam als integrieren- ihr Niederschlag etwa in prominenten Fachzeit- des „Erkennungssignal“ (S. 108). schriften marginal und ihre Etablierung und Wirk- Im zweiten und umfangreichsten Hauptkapi- samkeit in gelehrten Institutionen überschaubar. tel stellt Köck fest, dass die völkischen Entwürfe Köck verweist hiermit unausgesprochen auf den zur Geschichte in überwiegendem Maße nicht virulenten Gelehrtendünkel der Völkischen, der von einer nationalen Perspektive geprägt waren, ein typisches Kennzeichen der völkischen Lai- sondern unter Betonung der Rasse übergreifen- enforschung war und ist, und zur Milieubildung de weltgeschichtliche Entwicklungen in den Blick beitrug. nahmen. Aus der Überfülle potenzieller Textquel- Köck pflegt einen dichten analytischen und len widmet Köck den völkischen Autoren Theo- gut lesbaren Schreibstil, dessen Folgerichtigkeit dor Fritsch, Heinrich Wolf, Ludwig Schemann, man sich während der Lektüre kaum entziehen Max Wundt und Willibald Hentschel ausführliche kann. Mehrere Zusammenfassungen nach ein- Analysen. Diese Auswahl ist keineswegs zwin- zelnen Hauptkapiteln und am Schluss halten den gend, doch kann Köck sie mit Verweis auf ihre Leser an, dem von ihm eingeschlagenen Argu- Bekanntheit und Wirksamkeit in der völkischen mentationspfad zu folgen. Bewegung begründen. In ihren Weltgeschichts- Es gelingt Köck, das Geschichtsdenken konzepten erkennt Köck eine klassische Dra- prominenter völkischer Autoren darzustellen, maturgie, die im Grunde das Geschichtsdenken zu analysieren und vor dem Hintergrund der des 19. Jahrhunderts fortschreibt: eine deut- zeitgenössischen Debatten zu kontextualisie- liche Hervorhebung der Antike, eine Wertung ren. In ihnen spiegeln sich die konträren oder

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 115 ergänzenden Ansätze einer Fülle weiterer Ver- kommen und weitgehend dem Villigster For- treter des völkischen Spektrums, so dass Köck schungsforum angehören, in 17 interessanten den völkischen Geschichtsdiskurs in einer gro- und lesenswerten Beiträgen historische Erklä- ßen Breite abdeckt. rungsversuche der Judenfeindschaft. Dabei führt Das über 80 Seiten umfassendes Quellen- das Unterfangen, eine „Wissensgenealogie“ und Literaturverzeichnis spricht für ein überaus (S. 2) der Antisemitismusforschung zu liefern, die intensives Quellenstudium. Um seine gewinn- Beiträger_innen bis ins 18. Jahrhundert zurück, bringende Studie als Nachschlagewerk nutzen wobei der Schwerpunkt des Sammelbandes zu können, wäre allerdings ein Personenregister jedoch deutlich auf dem 19. und insbesondere sehr nützlich gewesen. Dass Julian Köck mit dem frühen 20. Jahrhundert liegt. Zusätzlich zu seiner Studie die „bisherige Forschungsmeinung dieser zeitlichen Spannweite ist „Beschreibungs- korrigiert“, wie der Klappentext verspricht, ist viel- versuche der Judenfeindschaft“ auch durch eine leicht etwas hoch gegriffen. Er bietet mit seinem immense Heterogenität der vorgestellten Erklä- instruktiven Ansatz einen weiteren und sicher rungsansätze charakterisiert. So reicht die Band- nicht den letzten Zugang zu einem in den vergan- breite der vorgestellten Erklärungsansätze von genen Jahren verstärkt untersuchten Großthema. nicht-jüdischen Aufklärern über liberale Juden sowie Anhänger der jüdischen Neo-Orthodoxie bis zu jüdischen Anhänger_innen linksradikaler Nürnberg Ingo Wiwjorra Utopien wie dem Anarchismus oder dem Kom- munismus. Um einen Einblick in diese Vielfalt an Analysen der Judenfeindschaft vor 1944 zu Frühe Beschreibungsversuche der gewähren, werde ich im Folgenden drei Beiträge Judenfeindschaft kursorisch vorstellen. In „Die Entstehung der Antisemitismustheorie Hahn, Hans-Joachim/Kistenmacher, Olaf (Hrsg.) : aus der Debatte über die Judenemanzipation“ un- Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. tersucht der Soziologe Jan Weyand die zeitgenös- Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor sischen Debatten um die bürgerliche Emanzipation 1944, 486 S., De Gruyter Oldenbourg, Berlin von Juden/Jüdinnen als Entstehungshintergrund u. a. 2014. für erste Auseinandersetzungen und Erklärungs- versuche der Judenfeindschaft. Dabei fokussiert Die Erfahrungen der antisemitischen Raserei Weyand auf die erstmals 1781 publizierte Schrift des nationalsozialistischen Deutschlands lösten „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ sowohl unter jüdischen als auch nicht-jüdischen von Christian Konrad Wilhelm von Dohm, die er Intellektuellen eine verstärkte Suche nach den als „Ausgangspunkt einer fast 100-jährigen Kont- Ursachen und Funktionsweisen des modernen roverse um die rechtliche Gleichstellung der Juden Antisemitismus aus. Mit „Dialektik der Aufklä- auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches“ rung“ von Theodor W. Adorno und Max Hork- (S. 50) versteht und die er im Kontext der gesell- heimer, „Überlegungen zur Judenfrage“ von schaftlichen Neuverhandlung des Verhältnisses Jean-Paul Satre sowie „Elemente und Ursprünge zwischen bürgerlichem Individuum und Staat ver- totaler Herrschaft“ von Hannah Arendt entstan- ortet. Um Juden/Jüdinnen in loyale Staatsbürger den in den Jahren nach der Shoah bedeutende umzuformen – Dohm zufolge führte ihre religiös Arbeiten, die auch heute noch eine große Wirk- motivierte Unterdrückung tatsächlich dazu, dass macht auf die Antisemitismusforschung ausüben Juden/Jüdinnen unmoralischer und verdorbener (Salzborn 2010). Mehr oder weniger in Verges- als andere Gruppen gewesen seien –, plädierte senheit sind hingegen die Erklärungsversuche Dohm für die Verleihung der vollen Staatsbür- geraten, die sich bereits vor 1944 der Untersu- gerrechte. Vor dem Hintergrund, dass Dohm die chung der Judenfeindschaft gewidmet haben. rechtliche Diskriminierung von Juden/Jüdinnen An diesem Punkt setzt der von Hans-Joachim als Resultat von Judenfeindschaft beschrieb, sieht Hahn und Olaf Kistenmacher herausgegebene Weyand in ihm einen der ersten, der die Ursachen Sammelband „Beschreibungsversuche der Ju- für Antisemitismus nicht etwa im Verhalten von denfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitis- Juden/Jüdinnen suchte, sondern stattdessen auf musforschung vor 1944“ an. In ihm beleuchten Seite der Judenfeinde verortete. Wissenschaftler_innen, die aus unterschiedlichen Als „ersten Historiker des modernen An- geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen tisemitismus und dessen Genese aus dem

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Antijudaismus“ identifiziert Sebastian Voigt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem Beitrag den 1865 in Nimes geborenen Judenhass dar. Ein Kritikpunkt bildet die starke Bernard Lazare. Lazare erlebte in jungen Jah- Konzentration des Sammelbandes auf Europa ren nicht nur die sich in Frankreich im Zuge der (lediglich der Beitrag von Elisabeth Gallas widmet 1870/1871 erlittenen militärischen Niederlage sich einem außereuropäischen Kontext). So hät- verschärfende Judenfeindschaft, sondern war te, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Thema- auch Zeitzeuge des Aufstieges des Rassenan- tisierung von Mark Twains Essay „Concerning the tisemitismus. In Reaktion auf Edouard Drumonts Jews“ oder Zebulon Baird Vances „The Scattered antisemitische Hetzschrift „La France Juive“ Nation“ eine sinnvolle Erweiterung des Unter- begann er sich ab den 1890er Jahren mit der suchungsgegenstandes bedeutet. Trotz dieses Geschichte des Antisemitismus auseinanderzu- kleinen Monitums ist „Beschreibungsversuche setzen und legte 1894 das Buch „L’antisémitis- der Judenfeindschaft“ ein absolut lesenswerter me, son histoire et ses causes“ vor. In diesem Sammelband, der sich eines bisher in der Antise- beschrieb er eine Transformation der Judenfeind- mitismusforschung weitgehend unberücksichtigt schaft: Soziale und ökonomische Ursachen hät- gebliebenen Themas annimmt und dem eine gro- ten die religiösen Motive als Triebkräfte abgelöst. ßer Leserschaft zu wünschen ist. Darüber hinaus identifizierte Lazare mit der im modernen Antisemitismus vorgenommenen Kon- Köln Kristoff Kerl struktion von Juden/Jüdinnen als „Rasse“ eine zweite wichtige Differenz zum Antijudaismus. Der Kritik am linken Antisemitismus widmet sich der Beitrag „Kritik aus eigenen Reihen“ von Politische Repräsentation in der Olaf Kistenmacher, der mit der Monographie „Ar- Moderne beit und ‚jüdisches Kapital‘“ bereits eine span- nende Untersuchung des Antisemitismus in der Witthaus, Jan-Henrik/Eser, Patrick (Hrsg.) : KPD der Weimarer Republik vorgelegt hat. Trotz Machthaber der Moderne. Zur Repräsentation des Selbstverständnisses der kommunistischen politischer Herrschaft und Körperlichkeit, 344 S., wie auch anarchistischen Bewegung als Kräfte, transcript, Bielefeld 2015. die für die Gleichheit der Menschen eintreten, waren antisemitische Sichtweisen in linken bezie- Die klassische Frage, wie Macht und Herrschaft hungsweise linksradikalen Bewegungen präsent. in der modernen Gesellschaft ausgeübt und legi- So nutzte etwa die KPD antisemitische Elemen- timiert werden, ist nach wie vor von großer Ak- te, um Anhänger_innen im völkischen Milieu zu tualität. Der vorliegende Sammelband, der aus gewinnen, während in der Sowjetunion unter einer Ringvorlesung an der Universität Kassel Stalin Antisemitismus dazu diente, politische Wi- hervorgegangen ist, befasst sich mit den Formen dersacher_innen zu diskreditieren. Dieser Antise- der Repräsentation politischer Herrschaft und mitismus stieß wiederum auf scharfe Kritik von Körperlichkeit seit dem 18. Jahrhundert aus der linken Theoretiker_innen und Aktivist_innen wie Perspektive unterschiedlicher Disziplinen. Auch Alexandra und Franz Pfemfert, Alexander Berk- wenn die Herausgeber, Jan-Hendrik Witthaus man, Emma Goldman und Leo Trotzki. Diese Kri- und Patrick Eser, in ihrer Einleitung keineswegs tik am Antisemitismus war dabei häufig in eine den Anspruch erheben, eine „geschlossene Ge- breitere Kritik der Entwicklung der kommunisti- schichte politischer Inszenierung im Zeitalter der schen beziehungsweise anarchistischen Bewe- Moderne“ vorzulegen, bietet der Band mit seinen gung eingebettet: Sei es, dass Antisemitismus zwölf Beiträgen gleichwohl relevante „Elemente als Konsequenz des Nationalismus der Arbeiter- zur Betrachtung moderner Herrschaftstechno- bewegung attackiert wurde (Franz Pfemfert) oder logien an der Schnittstelle von alter und neuer aber als Ausdruck des antisozialistischen Charak- Repräsentation“ und damit einen inspirierenden ters des Stalinismus (Leo Trozki). Überblick über die aktuellen und vielfältigen Zu- „Beschreibungsversuche der Judenfeind- gänge in den Literatur-, Medien- und Politikwis- schaft“ stellt, indem es bisher weitgehend un- senschaften sowie in der Historiographie (S. 16). berücksichtigt gebliebene historische Analysen Dabei wird besonderes Augenmerk auf Diktatu- und Auseinandersetzungen mit Judenfeind- ren und ‚Postdemokratien‘ mit ihrer „Dauermedi- schaft ins Blickfeld der heutigen Antisemitis- atisierung der politischen Arenen“ (S. 12) gelegt, musforschung rückt, eine wichtige Erweiterung denn hier sei die „Aufrichtung eines politischen

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 117 Theaters zu erwarten, dem Drama und Pathos, Inszenierung der Diktatur im Spanien Francos sou- zuweilen Herrlichkeit und Horror, aber auch All- verän nachzeichnet, geht Marco Kunz aus literatur- täglichkeit und Volksnähe“ (S. 10) nicht fern wissenschaftlicher Sicht auf die 1992 erschienene liege. Mit den Methoden der Kultur- und Sozi- Pseudo-Autobiographie General Francos aus der alwissenschaft gelte es, eine „Grammatik politi- Feder von Manuel Vázquez Montalbáns ein, der scher Gestik“ (S. 11) zu ermitteln, mit der tiefere mit seinem Werk die Persönlichkeit und Herr- Einsichten in politische Prozesse und ihre Grund- schaft des Diktators aus der Sicht eines Linksin- lagen gewonnen werden könnten. tellektuellen interpretierte. Von großem Interesse Der Band ist in drei Kapitel eingeteilt, die ist auch die Analyse des Mythos von Eva Perón, dem Leser eine systematische Annäherung an deren zentrale Rolle für die Legitimierung und poli- das Thema ermöglichen. In einem ersten Ab- tische Repräsentation des Peronismus in Argenti- schnitt widmen sich drei Autoren einer Auswahl nien von Ursula Prutsch dargestellt wird. Ebenfalls von Begriffen, Modellen und Theorien politischer überaus anregend ist der Aufsatz von Patrick Eser, Repräsentation, welche die Spannbreite mög- der sich mit der politischen Repräsentation und licher Ansätze im Feld der Kultur- und Sozial- dem Wandel der Inszenierungsstrategien des Prä- wissenschaften demonstriert. Friedrich Balke sidenten von Haiti, François Duvalier, beschäftigt. befasst sich mit den Modellen der Souveränität Während schließlich Jan-Hendrik Witthaus einen im Werk von Ernst H. Kantorowicz, Peter Rist- „Diktatorenroman“ von Mario Vargas Llosas ana- haus mit dem Bilderatlas Aby Warburgs und der lysiert, der die „Unnahbarkeit eines Mythos“ über- Unterzeichnung der Lateranverträge von 1929, winde, indem er gewissermaßen einen „Diktator Karin Priester erörtert schließlich in einem anre- zum Anfassen“ präsentiere (S. 316), geht Philip genden Aufsatz die Frage, wie sich der „Volks- Manow aus politologischer Sicht auf die Persona- begriff“ entwickelte und welche Rolle er für die lisierung der Politik im Italien Berlusconis ein, der politische Repräsentation spielt. sich immer wieder neu medial inszenierte, um sei- In einem zweiten Kapitel, das sich mit der nen Machtanspruch zu untermauern. Wandel der Repräsentationen im späten 18. und Insgesamt eröffnet der Band den Blick auf im 19. Jahrhundert befasst, geht Beate Möller zahlreiche Facetten der Repräsentation politischer auf die Inthronisationsfeierlichkeiten des spa- Herrschaft vom 18. bis zum Beginn des 21. Jahr- nischen Königs Karls IV. im Jahr 1789 ein, die hunderts. Dabei erweist es sich als großer Vorzug, sich unter dem Eindruck zunehmender Volksbe- dass sich der Band auf die ‚romanische‘ Welt in teiligung im Zeitalter der Französischen Revo- Europa, Lateinamerika und der Karibik konzen- lution und gewandelter Medien durch neuartige triert, denn dies zeigt deutlich, dass eine moderne Formen der Inszenierung auszeichneten. Die Geschichte politischer Repräsentation nur interna- bildliche Darstellung der „Revolutionskörper“ von tional vergleichend vorgehen kann. Ludwig XVI., Jean Paul Marat und Maximilien de Robespierre erschließt ein instruktiver Beitrag Jena Thomas Kroll von Manfred Schneider. Darüber hinaus themati- siert Birgit Aschmann mit Hilfe des Weber’schen Charisma-Begriffes die Krise der spanischen Monarchie am Beispiel von Isabella II., indem sie Imperiale Herrschaft im Zeichen von überzeugend nachweist, dass im Kontext der po- Kooperation und Partnerschaft litischen Legitimation der Monarchie gerade der politischen Inszenierung mittels bildlicher Darstel- Barth, Volker/Cvetkovski, Roland (Hrsg.) : Im- lungen (auch der Körperlichkeit der Königin) eine perial Co-Operation and Transfer, 1870–1930. besondere Bedeutung zukam. Empires and Encounters, 256 S., Bloomsbury, Das letzte Kapitel des Bandes behandelt das London/New York 2015. 20. Jahrhundert und befasst sich näher mit Dik- tatoren, Caudillos und Medienmogulen. Dabei In seinem empirisch reichen Beitrag über die erweist sich einmal mehr, dass der in der Gesamt- britisch-französische Zusammenarbeit bei der schau interdisziplinäre Zugriff des Bandes und Überwachung von anti-kolonialen Bewegungen nicht zuletzt die Behandlung auch außereuropäi- im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts bringt scher Beispiele neue Perspektiven auf die Frage Daniel Brückenhaus die Idee des vorliegenden der politischen Repräsentation eröffnen. Während Sammelbandes besonders gut auf den Punkt: der Historiker Walther L. Bernecker die politische Auf die trans-imperiale Kooperation zwischen

118 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen den seinerzeit stärksten europäischen Kolonial- transkontinentalen Kooperationen zusammen- mächten war selbst das ansonsten nahezu kon- schließen konnten, sollte diese Transferleistung kurrenzlose Britische Empire angewiesen, wenn nicht weniger für die Imperien möglich sein, ob es Informationen über die sich in Frankreich im britisch-französischen oder im britisch-ameri- aufhaltenden Anti-Kolonialisten und Gegner der kanischen Kontext. britischen Expansion benötigte. Mithin grenzten Derartige Überlegungen knüpfen unmittel- die Imperien sich zwar selbstverständlich vonei- bar an Forschungstendenzen an, die Antoinette nander ab, waren in Rivalitäten und Konflikten Burton („The Trouble with Empire“, 2015) un- bis hin zu Imperialkriegen in einem dichten Be- längst damit auf den Punkt gebracht hat, dass ziehungsgeflecht miteinander verwoben. Aber ihr zufolge die vielen Ambivalenzen imperialer die Potenziale eines gegenseitigen Austausches, Herrschaft, ihre unermessliche Stärke und ihre angefangen mit ersten Begegnungen etwa von dauerhafte Fragilität, nicht in einem inner-imperi- Soldaten, Missionaren, Administratoren und Wis- alen, sondern vorzugsweise in einem die Imperien senschaftlern in der kolonialen „Peripherie“, wa- vergleichenden Ansatz erfasst werden müssen. ren damit nicht verwirkt. Im Gegenteil, wie dieser Weder ist die Geschichte der Expansion in dem bemerkenswerte Band anschaulich und überzeu- Dreischritt „rise-fall-decline“, noch mit der Na- gend illustriert, setzten diese sich jederzeit fort belschau auf vermeintliche metropolitane „Zen- und waren Partnerschaften nicht nur denkbar tren“ und koloniale „Peripherien“ innerhalb eines und machbar, sondern zuweilen unverzichtbar. begrenzten imperialen Zusammenhangs zu ver- Während der Band nach einer substanziellen stehen. Das Plädoyer, auch diesem vorzüglichen und perspektivenreichen Einleitung durch seine Sammelband ablesbar, lautet demgegenüber, die Herausgeber in neun Aufsätzen Blicke auf das Imperien in ihren direkten Bezügen zueinander, koloniale Afrika und Asien, überdies auf Kanada gegenseitigen Wahrnehmungen voneinander bis und das russische Turkestan werfen lässt, be- hin zu tatsächlichen Überschneidungen unterei- rücksichtigt er – hier im Sinne der new imperial nander zu setzen und im Blick auf Transfer und history – durchaus die Rückwirkungen auf Euro- Verflechtung stets ihre Heterogenität, nicht die pa, beispielsweise also im genannten Konfliktfall Singularität der Machtbezüge hervorzuheben. zwischen den französischen Behörden und der Das ist kein geringer Anspruch, dem die Vor- Polizei einerseits, die eine Kooperation mit den aussetzung zugrunde liegt, dass Imperien in dem Briten begrüßten, und französischen anti-kolonia- behandelten Zeitraum 1870–1930 in globaler len, linksliberalen Intellektuellen andererseits, die Hinsicht die vorherrschende Form von Machtaus- völlig zu Recht antizipierten, dass sich koloniale, übung darstellten. restriktive Herrschaftsmethoden allzu leicht auf Aber so dominant und autoritär ihre Struktu- das metropolitane „Zentrum“ übertragen lassen ren aufgestellt waren, die damit die Verantwortung würden. Das Reizvolle an diesem Ansatz liegt auf für konstante Gewalt, politische Ungleichheit, Ar- der Hand. Indem Brückenhaus die koloniale und mut, Vertreibung, Krieg und vieles mehr trugen, die europäische Geschichte expliziter aufeinan- so durchlässig waren diese auch. Bei weitem wa- der bezieht, arbeitet er auch die methodischen ren Grenzen von Imperien nicht unveränderlich, Vorteile heraus, die sich aus dieser Perspektive und insbesondere die Erfahrung an frontiers und ergeben. Hier ließen sich Vergleiche mit einem in borderlands reflektierte einen nahezu dauer- gegenwärtigen Projekt von Seema Sohi (Boul- haften, auch von inter-imperialen Begegnungen der, USA, nicht in diesem Band vertreten) zie- angeregten Aushandlungsprozess. Hat man sich hen, das die Kooperation zwischen britischen, etwa in der anglo-amerikanischen Forschung kanadischen und US-amerikanischen Behörden längst von dem einen Interpretationsmuster beleuchtet. Inter-imperiale Sicherheitsmaßnah- verabschiedet, mit dem die Expansion, ihre An- men vor dem Hintergrund der Befürchtung, eine triebskräfte und ihre Ziele zu erklären seien, indische anti-koloniale Bewegung würde sich wird man ebenso hinter der Vielzahl kolonialer auf Nordamerika ausweiten, spiegelten sich bei- „Projekte“ die Verschiedenartigkeit ihrer Akteure spielsweise in verstärkten Grenzkontrollen wider. erkennen. Ihr Wissen, so argumentieren einige War der amerikanische Diskurs von einer gerade- Autoren des Bandes beispielsweise in den Fel- zu rassistisch motivierten Überzeugung gegen die dern von Recht und Militär, war darauf angelegt, Immigration bestimmt, so fürchtete das britische inter-imperial angeeignet und angewendet zu Colonial Office ein internationales Netzwerk sei- werden, wenn es auch dazu dienen sollte, Sta- ner Feinde. Wenn sie sich zu transnationalen und bilität und Sicherheit zu garantieren. Denn dies

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 119 war sicherlich nicht zuletzt eine Sache imperialer Vermeidung von Krieg abzielten, was so nicht Eliten, mithin einer Minderheit, in der Verwaltung, stattfinden konnte. Wissenschaft, Militär, Handel und Religion, die Die wichtigsten Gewährspersonen für Stråth es sich angelegen machte, diese sich bietenden sind Reinhart Koselleck, sein Völkerrechtskolle- imperialen Dynamiken vor der Folie globaler Ver- ge aus Helsinki, Martti Koskenniemi, sowie Carl bindungen aufzufangen. Wenn es gelingt, dieses Schmitt und Karl Polanyi, denen noch im Nach- Phänomen anhand von Problemen wie zum Bei- klapp Jürgen Osterhammel hinzugefügt wird, spiel Konzentrationslagern (Jonas Kreienbaum) dessen Nennung ebenso folgenlos bleibt wie zu analysieren, lässt sich die Erkenntnis bekräf- der Anspruch eines „provincializing Europe“, den tigen, dass Imperien grundsätzlich darauf ausge- bekanntlich Dipesh Chakrabarty erhoben hat. richtet waren, Sicherheitsmechanismen selbst Globalität findet wie herkömmlich eher am Rande unter dem Vorzeichen unermesslicher Gewalt für statt. Erklärlich ist das damit, dass Stråth an einem ihr Fortbestehen eingebaut zu bekommen – also mehrjährigen Forschungsprojekt des European auch mithilfe ihrer Konkurrenten. Research Council teilnahm, der über 100 Work- shops abhielt und zu dessen Leitern er selbst und unter anderem auch Koskenniemi und Chakra- Marburg Benedikt Stuchtey barty gehörten. Wir können also den Ertrag ei- nes umfassenden interdisziplinären Unterfangens erwarten. Doch dieser trotz aller Forschungen Aus Friedensschluss folgt Krieg? der letzten Jahrzehnte bis auf knappe Randbe- merkungen durchgehaltene Europazentrismus Stråth, Bo : Europe’s Utopias of Peace. 1815, ist verwunderlich. Ebenso bemerkenswert ist es, 1919, 1951, 552 S., Bloomsbury, London/ dass der langandauernde Ost-West-Konflikt, vul- New York 2016. go: Kalter Krieg, ebenso wenig stattfindet, als ob Europa nur das sich nach dem Zweiten Weltkrieg „Der Krieg hatte sich verausgabt. Man bastelte, immer weiter und gegebenenfalls auch tiefer in- Anlaß zu ferneren Kriegen gebend, Friedens- tegrierende Westeuropa gewesen sei. Das hat verträge“. Diese doch ein wenig pessimistische der Rezensent sonst noch in keiner europäischen oder sarkastische Einsicht stammt aus Günter Geschichte der letzten 200 Jahre so konsequent Grass’ „Die Blechtrommel“ (1959) und steht als behauptet gesehen. Motto dieser umfassenden Diskursgeschich- Koskenniemi liefert anders als Günter Grass te von Bo Stråth voraus. Doch der Academy die argumentative Steilvorlage für die narrative of Finland Distinguished Professor in Nordic, Zentrierung auf Friedensordnungen: Völker- European and World History an der Universität recht ziele einerseits auf Dauerhaftigkeit, eben Helsinki, der auch in der Landschaft deutscher die „Utopia“, oszilliere andererseits aber auch und europäischer Beiräte und Gremien hoch an- zur Apologie hin: zur nachträglichen Legitimation gesehen ist, will diese Aussage im Wesentlichen von politischen Entscheidungen. Insofern seien stark relativieren. Er stellt drei große vertragliche Friedensverträge, die auf Dauerhaftigkeit zielten, Friedensordnungen nach langen und umfassen- bereits in sich utopisch, denn sie würden auf eine den Kriegen in den Mittelpunkt und geht deren „de-politicization of interstate relations“ (S. 10) langsamen Verfall über mehrere Jahrzehnte abzielen. Das ist gewiss eine bemerkenswert nach; dass diese sogleich Anlass zu neuen Krie- kritische Umkehrung der alten Formel „Frieden gen gaben, mutmaßt der Verfasser nicht. Das durch Recht“; man muss dabei ja nicht unbedingt nennt er Utopien und meint damit die Regelun- an Carl Schmitt denken. gen um den Wiener Kongress 1814/15, den Das Argument geht im Großen so: Nach Versailler Vertrag 1919 (der aber doch nur den den napoleonischen Kriegen beruhte die Wiener Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich, si- Ordnung auf Stabilität durch europäisches Recht, cher nicht die Vereinbarungen der anderen „Vor- aber auch auf der balance of power von Mo- ortverträge“ umfasste) sowie – überraschend narchien, die sich gegen die neuen nationalen, und problematisch! – den ja nur westeuropäi- sozialen und revolutionären Prinzipien verbün- schen Vertrag zur Europäischen Gemeinschaft deten. Hinzu kam für ihn eine „backdrop utopia“ von Kohle und Stahl aus dem Jahr 1951. Sie der Erwartung immer währenden wirtschaftlichen waren für ihn Utopien, weil sie Zukunftser- Wachstums durch globalen Handel und Industrie, wartungen enthielten, die auf eine dauerhafte die er für die folgenden Jahrzehnte kenntnisreich

120 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen verfolgt. Dieses Versprechen der dauerhaften Lenin, Ernst Jünger und Max Weber bemüht. Das „welfare“ erodierte mit zunehmender Industriali- reicht in der kritischen Gegenwartsdiagnose bis sierung, sozialer Frage und anderen Gründen von zu Thomas Piketty, Peter Mair oder Colin Crouch. innen her, während der „warfare“ die Ordnung Von derartigen Utopien unterscheidet Stråth ge- von außen bedrohte: Nach dem Krimkrieg waren legentlich Mythen, also wohl doch eher falsche es vor allem die deutschen und italienischen Ei- Formen von Bewusstsein. Bei Analyse der Wie- nigungskriege, welche die alte Ordnung hinfällig ner Ordnung von 1815 erlaubt er sich den Spaß, werden ließen, unter Cavour und Bismarck noch die gleichzeitig geschriebenen Dissertationen von gezähmt, dann aber im imperialistischen Zeit- Henri Kissinger und Reinhart Koselleck, beide alter immer heftiger auseinanderdriftend. Ver- im Jahr der Fertigstellung 1954 31 Jahre alt, als sailles war in manchem das Gegenteil von Wien „Cold War Views“ in einem Exkurs erhellend ein- 100 Jahre zuvor: das Versprechen von Demokra- zubringen. tie und Selbstbestimmung gemäß Wilson’schen Stråth ist der festen Überzeugung, dass jede Ideen also. Version des wirtschaftlichen Liberalismus eine Stråth selbst ist ein ausgezeichneter Ideenhis- politische Philosophie benötige (S. 439) und so- toriker, ja in manchem ein politischer Philosoph, mit geht es ihm auch und gerade angesichts einer der in seinem weitgespannten Buch seinen Vor- historischen Beschleunigung der letzten Jahre gängern an Denkern und Philosophen eine be- immer wieder um angemessene Politökonomie. trächtliche historische agency zuerkennt – in der Wenn dies aber alles so ist, dann ist Stråth Sicht des Rezensenten zu viel. Diese bedeutends- meilenweit entfernt von seinem Leitfaden der dann ten Protagonisten, deren Konzepte gleichsam die doch nicht so stabilen Friedensordnungen nach Blaupausen für die Friedensordnungen darstellen, Kriegen, die auf lange Sicht eben doch wieder in sind Friedrich Gentz für die nachnapoleonische Krieg endeten. „In the two-hundred years search Zeit, Wilson nach dem Ersten Weltkrieg, dem for a politically stable economy in Europe, the so- Keynes wirtschaftliche Ideen gleichsam paral- cial issue emerging in the 1830s, in the 1870s lel standen, auf den Edward Hallett Carr folgte. shifting to the class issue was the key problem Nach 1945 war es sodann Jean Monnet, der of the political debate“ (S. 401). Oder anders: „neue Gentz“, der zunächst gegen de Gaulle Das letzte Kapitel ist überschrieben: „[T]he bicen- stand. Sodann ist es nach Keynes Friedrich von tenary European struggle with nationalism and Hayek, dessen Entwurf mit der Finanzkrise nach democracy, and the search for a global political 2008 seine Gültigkeit verlor. economy“ (S. 421). Und gerade hier wird Stråth Wenn dem so ist, dann sind es nicht mehr die für die Gegenwart höchst skeptisch. Er befürch- gleichsam in Stein (oder Völkerrecht) gemeißelten tet, dass die Modelle Putin, Orban und Erdogan Friedenverträge, sondern politische Denkschu- sich durchsetzen könnten, macht dafür aber unter len – Stråth spricht häufig von imagery , Bildern anderem nachdrücklich Merkel und Schäuble mit oder Symbolen –, welche die Epochen prägten. ihren Reaktionen auf die Finanzkrise seit 2008 bis Demgemäß wären es dann diese Rezeptionen von in die Gegenwart verantwortlich. Utopien, die wirkten, nicht diese selbst. Wenn die Rezension bis hierher das Schwer- Stråths Stärke liegt in der Entfaltung dieser gewicht auf die methodischen Vorgehensweisen vielfachen „Utopien“, die zumal für den 19. Jahr- gelegt hat, könnte man eine kenntnisreiche Ide- hundert, aber auch für das folgende Jahrhundert engeschichte vermuten. Das gibt Stråth in sei- bis in die Gegenwart hinein, mit einem Feuerwerk ner ungemein breiten Kenntnis so ziemlich aller von wohl hunderten Kurzvorstellungen anderer relevanten Debatten zwar auch. Aber über wei- Denker gespickt sind, die um Anerkennung und te Strecken liefert er darüber hinaus eine ganz Durchsetzung konkurrierten. Sie werden unter konventionelle Narration politischer Abläufe, Bio- anderem erschlossen durch 17 Seiten Regis- graphien seiner Protagonisten bis hin zu neben- ter. Das sind etwa Guiseppe Mazzini, Karl Marx, sächlichen Details der Rolle von Gattinnen und die Kathedersozialisten, auch Bismarck, das Töchtern auf einem Kongress. In dieser Sicht Aufkommen „der Völkerrechtler“, die sich inter- wäre ein weit knapperer Essay mit den Grund- national organisierten, hier wieder eine Vielzahl aussagen des Buches besser gewesen als diese wie etwa Gustave Moynier, Rolin-Jaecquemyns, dann doch gelegentlich ausufernde oder stark Johann-Caspar Bluntschli, Friedrich Martens verkürzende Gesamtdarstellung. et cetera. Nach dem Ersten Weltkrieg werden Komplexe politische, ökonomische oder kul- als Gegenprotagonisten zu Wilson unter anderem turelle Entwicklungen über Jahrzehnte werden

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 121 mit leichter Hand gekonnt zusammengefasst und beruhende war. Eine weitere, die historische Or- unterbrechen den politökonomischen Diskurs um thographie, die sich an den Forschungen Jacob Wohlfahrt und Krieg. Wir lernen von Stråth, dass Grimms zur Entwicklung der deutschen Sprache ein simples, hier für drei Epochen vorgeführtes orientierte, spielte um 1870 keine Rolle mehr. Fortschrittsnarrativ von Krieg, Nachkriegsutopie Nach gescheiterten Vereinheitlichungsver- von dauerhaftem Frieden und dann doch wieder suchen einzelner Bundesstaaten wurde mit der einem Krieg nicht tragbar ist (S. 1). Aber wer Reichseinigung das Problem wieder dringender: hat dies denn heutzutage noch? Man könnte ja Für Januar 1876 lud der preußische Kultusmi- auch mit Immanuel Kant sagen, dass der Frie- nister Falk zur sogenannten I. Orthographischen den immer wieder gestiftet werden musste und Konferenz ein, zu der der bekannteste Fach- muss – nur über die Art und Weise des Stiftens mann, Rudolf von Raumer, Vorlagen geliefert gingen die Meinungen auseinander. Stråth legt hatte. In der Mehrheit, unter anderem Konrad ein brillantes Buch vor, das in tausend Facetten Duden, der sich mehr oder weniger selber emp- leuchtet. Es ist gut, die verschlungenen, sehr fohlen hatte, nahmen Anhänger des phoneti- vielfältigen Wege aus den großen Kriegen vor- schen Prinzips teil. Nach Auffassung Strunks geführt zu bekommen, weniger die Wege, die in scheiterte die Konferenz an der Polemik, die die Kriege hineinführten. Die Kriege selbst sind ausgehend von dem Teilnehmer Wilhelm Scherer weitgehend ausgeklammert und erscheinen so nach außen getragen wurde und Falk dazu nötig- als eine gleichsam außerhistorische Kategorie, te, auf die Übernahme der Ergebnisse zu verzich- obwohl gerade die Art der Kriege zentral für die ten. Tatsächlich dürften aber die übertriebenen nachfolgenden Friedensutopien waren. Diesen und nicht akzeptierbaren Reformbeschlüsse die Leser lässt diese Geschichtsschreibung aus dem Ursache gewesen sein. Dies zeigt die Einführung Geist politökonomischer Bildproduktion ein wenig der verschiedenen Schulorthographien in den ratlos zurück. Jahren 1879/80 in Bayern, Preußen und ande- ren Bundesstaaten, die sich alle nach dem Usus richteten und nur kleinere Reformen berücksich- Köln Jost Dülffer tigten, was den Reichskanzler, der als Gegner von Veränderungen in der Rechtschreibung galt, nicht daran hinderte, sie für die ihm unterste- Einheit oder Reform in der deutschen henden Behörden zu verbieten. Daher gab der Orthographie preußische Kultusminister seine Weisungen an die Schulen in der alten Rechtschreibung her- Strunk, Hiltraud : Einheitliche und einfache aus, während die Lehrer die Schulorthographie deutsche Orthografie. Die Geschichte einer lehrten. Ein weiterer Hinweis gegen die These (über)nationalen Idee 1870 bis 1970, 322 S., Strunks ist die Einladung zur II. Orthographischen Olms, Hildesheim u. a. 2016. Konferenz von 1901: Außer drei Fachleuten wa- ren nur Ministerialbeamte anwesend. Dadurch Die Vereinheitlichungs- und Reformbestrebun- konnte eine Orthographie erreicht werden, die gen in der deutschen Orthographie waren und bis 1996 Bestand hatte, auf dem Usus basierte sind vielfältig. Hiltraud Strunk, die sich bisher mit und nur wenige kleinere Verbesserungen enthielt. der Entwicklung im 20. Jahrhundert auseinan- Im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts dergesetzt hat, versucht dem Leser einen Weg gab es immer wieder Bestrebungen, eine Reform durch die komplizierte Entwicklung zu bieten. nach dem phonetischen Prinzip durchzuführen. Im 19. Jahrhundert war die Orthographie in Aber alle verfehlten ihr Ziel, zum Teil wegen der einigen Bereichen noch nicht festgeschrieben, zu weit gehenden Forderung, zum Teil weil ihnen da das phonetische Prinzip – schreibe wie du die notwendige politische Unterstützung fehlte. sprichst – zugunsten des Lesers unter anderem Lediglich zwei hätten eine gewisse Chance auf durch die Dehnungszeichen e (nach i) und h Verwirklichung gehabt: Die der Reichsschulkon- durchbrochen war; einige verschwanden allmäh- ferenz von 1920 und die des Kultusministers lich, so das h hinter einem t am Anfang (Thal) Rust in der NS-Zeit. Beide scheiterten aber und am Ende der Wörter (Wirth). Gegen diesen letztlich am Desinteresse und letztere zusätzlich weitgehend von Adelung festgeschriebenen Usus an den Kompetenzstreitigkeiten der zuständigen wandten sich Reformbestrebungen, deren bedeu- Stellen. Nach 1945 kam als weiteres Problem tendste eine stärker auf dem phonetischen Prinzip die Teilung Deutschlands hinzu.

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Nach Auffassung der Autorin scheiterten Neben inhaltliche treten handwerkliche Feh- die Stuttgarter Empfehlungen (1954) an einem ler: Die Autorin verwendet zwei Anmerkungs- Journalisten, der frühzeitig und polemisch die systeme, Endnoten und im Text in Klammern Beratungsergebnisse dem Publikum vorstellte gesetzte Literaturhinweise, bei der Bibliographie und an einer Fernsehdiskussion, wobei sie offen- ist die alphabetische Reihenfolge durcheinan- sichtlich die Verbreitung von Fernsehgeräten vor dergeraten. Ihre These im Untertitel, die Reform 1958 überschätzt. Die Wiesbadener Empfehlun- sei eine (über-)national Idee gewesen, vermag gen (1958) führten zu keinem Erfolg, weil in der sie nicht zu beweisen. Denn eine vereinfachte zuständigen Kultusministerkonferenz sich ein- Rechtschreibung strebte nur die Minderheit der zelne Bundesländer gegen die Annahme wehr- Experten an. ten. Fraglich bleibt ihre Ansicht, die Ergebnisse von 1996 seien für die Reformer ein Happy End Kerpen-Buir Franz-Josef Kos gewesen, da dort keine ihrer zentralen Forderun- gen (gemäßigte Kleinschreibung, Beseitigung der Dehnungszeichen) verwirklicht worden war, sondern bestenfalls zweitrangige. „Lederhosen und Hummer“ Strunk beschreibt die Entwicklung über vier politische Regime; für die Kaiserzeit bedient Rosenbaum, Adam T. : Bavarian Tourism and sie sich alter Mythen und ist bei der Beschreibung the Modern World, 1800–1950, 290 S., Cam- einzelner Vorgänge sehr phantasiereich. So unter- bridge UP, Cambridge 2016. stellt sie Falk, er sei überrascht gewesen, als so viele Bundesstaaten einen eigenen Delegierten Dieses Begriffspaar steht paradigmatisch für die zu der I. Konferenz geschickt hatten. Allerdings von Adam T. Rosenbaum in seiner Dissertation, für kann sie dies anhand ihres Quellenmaterials nicht die er 2012 den vom DHI Washington verliehe- belegen. Vielmehr wäre das Gegenteil überra- nen Fritz-Stern-Preis bekommen hat, vertretene schend gewesen, da gerade die größeren darauf These. Rosenbaum zufolge lasse sich über diesen achteten, nicht von Preußen dominiert zu werden. gesamten Zeitraum hinweg bei Akteuren der Tou- Aus der älteren Forschung übernimmt sie rismusbranche eine Strategie beobachten, die auf die Behauptung, Otto von Bismarck habe mit die Schaffung einer „grounded modernity“ abzielte. der Einladung Scherers (Straßburg) versucht, die Durch die Darstellung einzelner Tourismusdestina- I. Orthographische Konferenz mit einem Bremser tionen in touristischen Medien als traditionsverbun- zu belasten. Aber woher hätte dieser wissen sol- den und zugleich als mit den Annehmlichkeiten der len, welche Haltung der Einzuladende zur Ortho- Moderne ausgestattet, hätten die für die Förde- graphiefrage einnahm? Auch die Autorin kennt rung des Tourismus Verantwortlichen darauf abge- dessen Standpunkt nicht. Denn sonst hätte sie zielt, den Touristen mit der Moderne auszusöhnen. mehr Verständnis für ihn gezeigt. Zwar hat sich Lederhosen standen also einerseits für etwas, dieser polemisch über die Konferenzergebnisse das dem aus der Stadt flüchtenden Touristen eine geäußert (orthographische Guillotine zur Beseiti- Auszeit von der Moderne und eine Rückkehr zur gung der Dehnungszeichen), aber sie beurteilt ihn Tradition versprach, während der in mondänen ebenso, da sie die Enttäuschung des gemäßigten Kurbädern angebotene Hummer als exquisite Reformers Scherer über die radikalphonetischen Speise dem Touristen andererseits suggerierte, Forderungen nicht wahrnimmt. Für Strunk haben von allen Errungenschaften der Moderne während an der I. Orthographischen Konferenz neun Ex- seiner Reise profitieren zu können. perten aus Preußen teilgenommen. Tatsächlich Rosenbaum geht es darum, zu zeigen, dass waren es nur sieben (von vierzehn). der Tourismus als Phänomen der Moderne die- Für die Autorin waren die Befürworter einer ser inhärent war und keinesfalls rein als eska- Orthographiereform Liberale und die Gegner pistische Strategie zur Flucht aus der Moderne Konservative, wobei es bei Rust Schwierigkei- interpretiert werden kann. Seine Analysen stüt- ten gibt. Ein Blick in die Reichstagsdebatte über zen sich auf Material, das vor allem lokale Vereine die Einführung der Schulorthographie 1880 hät- und Vereinigungen zur Förderung des Tourismus ten ihr die unterschiedlichen Haltungen zeigen produzierten. Es handelt sich somit um eine Ar- können: Beim Zentrum und den konservativen beit über die Bilder und Darstellungen, die Tou- Parteien gab es sowohl Befürworter als auch rismusdestinationen von sich entwarfen und von Gegner. Touristen rezipiert werden sollten.

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 123 In vier jeweils ungefähr gleich langen Fall- ein Beleg dafür, dass seine These der „grounded studien exemplifiziert Rosenbaum seine These modernity“ auch für die Zeit des Nationalsozialis- der „geerdeten Moderne“. Dabei beginnt er sei- mus Gültigkeit beanspruchen kann. München als ne Reise durch die Geschichte des Tourismus in sogenannte „Hauptstadt der Bewegung“ dient als Bayern in der Fränkischen Schweiz. Die im Ver- abschließendes Beispiel zur Illus trierung dieser lauf des 19. Jahrhunderts zunehmende Urbani- These. Insbesondere der durch die Nationalsozi- sierung in Deutschland habe dafür gesorgt, dass alisten am deutlichsten umgestaltete Königsplatz diese Landschaft ein solches Refugium vor den wurde zum Anziehungspunkt von Touristen, deren als negativ gedeuteten Auswirkungen der Moder- Zahl während der NS-Zeit in München bedeu- ne geblieben sei. Da aber die Ressource Land- tend anstieg. Doch sei München im Nationalso- schaft durch moderne Mittel wie die Eisenbahn zialismus eben nicht nur wegen der direkt für das erschlossen wurde und modernen Einrichtungen Regime zentralen Orte aufgesucht worden. Auch wie der Telegraph es Touristen ermöglichten, etwa das Oktoberfest wurde als traditionelles auch in der scheinbar unberührten Landschaft der Aushängeschild zu einer touristischen Ressource Fränkischen Schweiz von den „Segnungen“ der und stand damit für bayerische Fröhlich- und Ge- Moderne zu profitieren, sei die Moderne selbst an mütlichkeit. der Schaffung von Erholungsmöglichkeiten von Zweifellos bietet das Buch einige interessante ihren Auswirkungen beteiligt gewesen. Einblicke in die Art und Weise, wie sich Touristen- Ähnliches konstatiert Rosenbaum für den orte und Städte in Bayern im Verlauf des 19. und Kurort Bad Reichenhall, der in der Tourismus- der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbst werbung in erster Linie mit den drei Kategorien darstellten. Das Buch weist aber auch deutliche Natur, Modernität und Kosmopolitismus bewor- Schwächen auf. So wird erstens nicht begründet, ben wurde. Bad Reichenhall habe sich eben warum die These der „grounded modernity“ am gerade nicht als Gegenort zur modernen Welt Fallbeispiel Bayerns belegt werden soll, wenn, wie positioniert, sondern als Raum, in dem Moder- der Autor selbst einräumt, auch in anderen Tou- ne und Tradition, Heimat und kosmopolitisches rismusregionen ähnliche Konzepte in der Touris- Flair, Natur und Kultur harmonisch miteinander muswerbung anzutreffen sind. Zweitens bleibt die verbunden seien. Damit wurde Bad Reichenhall Untersuchung weitgehend kontextlos. Zwar streut nicht nur zu einem Kurort, an dem körperliche Rosenbaum, gestützt auf lokalhistorische Darstel- Gebrechen therapiert werden konnten, sondern lungen, immer auch die konkreten Rahmenbe- ein Sinnbild für ein harmonisches Verhältnis von dingungen für die Entwicklung des Tourismus in Stadt und Land. den untersuchten Orten ein. Doch eine Integrati- Die Gültigkeit seiner These will der Autor on des Tourismus in breitere gesellschaftliche und auch an zwei Beispielen des Stadttourismus il- politische Wandlungsprozesse bleibt weitgehend lustrieren. In einer weiteren Fallstudie beschäftigt aus. In dieser Hinsicht ist die Fallstudie zum Na- sich Rosenbaum deshalb mit der Förderung des tionalsozialismus noch am besten gelungen, weil Tourismus in der Stadt Augsburg zwischen 1891 hier der politische Kontext sehr deutlich in die und dem Ende der Weimarer Republik. Dabei Analyse miteinbezogen wird. Drittens bleibt der zeigt sich, dass Augsburg nicht nur seine histo- Untersuchungszeitraum weitgehend unbegrün- rische Altstadt als touristische Ressource nutzte, det. Angesichts der Relevanz, die der Tourismus sondern auch seine Eigenschaften als Stadt mit nach dem Zweiten Weltkrieg für Bayern erlangte, einer blühenden Industrie. Dies wertet Rosen- ist es geradezu bedauernswert, dass die Studie baum als Bestätigung seiner These der im Tou- mit dem Nationalsozialismus abbricht. Viertens ist rismus „geerdeten Moderne“. die These der „grounded modernity“ im Kern eine Die letzte Fallstudie beschäftigt sich mit Mün- metahistorische. Die ihr innewohnende Dialektik chen und Nürnberg als touristischen Städten im des Tourismus als Flucht aus der Moderne und Nationalsozialismus. Beide Städte hatten eine be- Therapie der Auswirkungen der Moderne, die sondere Bedeutung für die nationalsozialistische zugleich aber wiederum selbst auf die Moderne Herrschaft, die sie wiederum auch zu touristi- rekurrieren, erinnert stark an Hans Magnus En- schen Anziehungspunkten für in- und ausländi- zensbergers Tourismustheorie, ohne dass dies im sche Reisende machte. Nürnberg sei dabei aber Verlauf der Untersuchung wirklich explizit gemacht nicht nur die Stadt der Reichsparteitage gewesen, wird. Gegen diese These lässt sich empirisch ge- sondern auch ein Ort symbolischer Bedeutung sehen wenig einwenden. Zugleich verstellt sie mit Bezug zur Vergangenheit. Für Rosenbaum als Vorannahme aber den Blick auf historischen

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Wandel, da sie einen Bogen spannt von den frü- Gerade für Musikhistoriker sind Arbeiten für hen Romantikern bis zur Zeit des Nationalsozialis- Reproduktionsklavier wichtige Quellen. Kom- mus und damit eine Kontinuität suggeriert, ohne ponisten wie Igor Strawinsky schrieben Werke die sich ereignenden Wandlungsprozesse gegen hierfür. Im Fall anderer Komponisten wie Gustav diese Annahme abzuwägen. Mahler sind Einspielungen für Reproduktionskla- vier oftmals die einzigen akustischen Zeugnisse, die erhalten blieben. (Für viele weltberühmte Pi- Kempten (Allgäu) Moritz Glaser anisten gilt dasselbe.) Mahler etwa spielte einige seiner Sinfoniesätze und Lieder für das Welte- Mignon-Klavier ein. Dieses funktionierte über Zwischen Rezeption und Partizipation Notenrollen, die mit Lochstreifen arbeiteten. Hiermit wurde nicht nur das Spiel eines Pianis- Björkén-Nyberg, Cecilia : The Player Piano and ten, etwa Mahlers, dokumentiert. Man konnte the Edwardian Novel, 222 S., Ashgate, Farn- dieses hinterher durch entsprechende Technik ham 2015. auf letztlich dennoch konventionell mit Seitenan- schlag arbeitenden Abspielklavieren als Klavier- 1877 erfand Thomas Alva Edison die Tonaufnah- musik wieder hörbar machen. Andere Techniken me. 1911 folgte die erste Rundfunkübertragung nutzen Aufsätze, welche die Tasten eines Kla- aus der New Yorker Metropolitan Opera. 1927 viers anstelle eines Menschen drückten. So viel- schließlich erschien „The Jazz Singer“ als erster fältig waren die Lösungen, dass das Ringen um Tonfilm. Drei mediale Zäsuren, die noch heu- technische Standardisierungen ein Hauptmerk- te unseren Umgang mit Musik massiv prägen. mal der Technikgeschichte des Player Pianos Genau zwischen diesen Ereignissen von epo- war. chemachender Bedeutung erlebte eine vierte Die schwedische Anglistin Cecilia Björkén- musikalische Wiedergabetechnik ihre Blütezeit, Nyberg widmet sich nun diesem musikhistorisch die heute nur noch Spezialisten und Liebhabern gut erforschten Phänomen aus einem ande- von Kuriositätenkabinetten ein Begriff ist: Die ren, gleichfalls sehr produktiven Blickwinkel. Reproduktionsklaviere, auf Englisch Player Pia- Björkén-Nyberg interessiert sich für die Wir- nos oder Pianolas genannt. Letzteres der Name kung des Player Pianos’ als Kulturtechnik in einer führenden frühen Marke, der sich wie Tem- einer bestimmten Zeit und nutzt englischspra- po, Tesa oder Tipp-Ex zum Synonym für eine chige Literatur jener Ära als Rezeptions- und ganze Produktart verselbstständigte. Reflexionsraum, in welchem sie dieser Wirkung Die Reproduktionsklaviertechnologie entwi- nachspürt. ckelte sich schrittweise seit Mitte des 19. Jahr- Eine dezidiert interdisziplinäre Studie, die ihre hunderts. Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts verschiedenen disziplinären Gegenstände und erfreuten sich dergleichen Musikapparaturen Diskurse informiert zu balancieren weiß. Eine enormer Beliebtheit. Dann wurden sie ab Ende dichte, dabei nicht allzu umfangreiche Arbeit des 1920er Jahre im Zuge der Weltwirtschaftskri- mit einem Haupttext von 184 Seiten, sparsam se und der zeitgleichen raschen technischen Ver- an Abbildungen und Fußnoten, gegliedert in vier besserung von Tonträgern, Rundfunk und Tonfilm gleichstarke Kapitel („Storing Music in Edwardi- verdrängt. an Fiction“, „The Engineer“, „The Performer“ und Arthur Ord-Hume beschreibt in seinem Arti- „The Composer“) plus komprimierter Einleitung kel „Player Piano“ in der englischsprachigen Stan- (samt Methodendiskussion und Forschungs- dardmusikenzyklopädie „New Grove Dictionary of stand), kurzer Conclusio und umfänglicher Bib- Music and Musicians“ eindrücklich die Dimensi- liographie. on des Erfolgs: 2,5 Millionen dieser Instrumente Björkén-Nybergs Kernkorpus an literarischen wurden allein in den USA zwischen 1900 und Werken wird dabei bereits im vorangestellten Ab- 1930 verkauft. Das Verhältnis der international kürzungsverzeichnis benannt: „Christian Thal“ produzierten Klaviere gegenüber Player Pianos (1902, M. E. Francis), „Melomaniacs“ (1902, betrug 1900 171.000 zu 6.000 Stück. 1925 hat James Hunecker), „The Challoners“ (1904, sich das Verhältnis auf 136.000 zu 169.000 ge- E. F. Benson), „Maurice Guest“ (1908, Ethel wandelt. London alleine zählte 52 Hersteller von Richardson aka Henry Handel Richardson), Player Pianos. Diese waren zu einem festen Be- „A Room with a View“ (1908, E. M. Forster), standteil des musikalischen Alltags geworden. „Howards End“ (1910, E. M. Forster), „Zuleika

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 125 Dobson“ (1911, Max Beerbohm), „Maurice“ Grenze zwischen Reproduktion, Interpretation (1913–14, E. M. Forster), „Sinister Street“ und Komposition bei genauem Hinsehen schon (1913–14, Compton Mackenzie) und „Pointed vor hundert Jahren durchlässig. Björkén-Nyberg Roofs“ (1915, Dorothy Richardson). erläutert, dass es den Nutzern der Reprodukti- Der Korpus umfasst nicht nur britische (ein- onsklavier technisch möglich war, Geschwin- schließlich damals noch irische Unabhängigkeit digkeit und Lautstärke der Wiedergabe zu jenseits des Nordens 1921) Autorinnen und Au- beeinflussen – und damit in einer Weise in die toren, sondern auch australische (1907 Domini- Ästhetik des Hörbaren einzugreifen, die auch onstatus, 1931 auch außenpolitisch unabhängig) heute noch viele kreative Strategien der Nutzung und amerikanische. Allgemein bekannte Klassi- fremder Musik mittels sound sampling , etwa im ker wie Forsters „Howards End“ und „A Room Remix-Bereich, bestimmt. Und eben auch die with a View“ finden sich neben Werken, die eher Schriftstellerinnen und Schriftsteller jener Ära unter Kennern noch Bekanntheit genießen. Die- als Faszinosum für ihre fiktiven Charaktere in- se Disparatheit stellt eine Herausforderung für teressierte. den Leser da, am Ende aber kein hinderliches Der Wunsch, Instrumentalmusik ohne die Problem, da Björkén-Nyberg keine umfassende in jahrelanger Arbeit gewonnene Virtuosität Literaturkritik schreibt, sondern eine Kulturtech- professioneller Musiker, aber auf demselben nik verfolgt, wie sie in der Literatur ihrer Zeit akustischen Niveau und mit eigenem kreativem aufgegriffen wurde. Das erlaubt es ihr, sich dem Spielraum erzeugen zu können, ein Wunsch, der literarischen Korpus punktueller zu nähern, als es sich im Erfolg und der Faszination der Repro- sonst angezeigt wäre. Und gestattet dem Leser, duktionsklaviere widerspiegelt, ist also ein durch Gewinn an ihrem Buch zu haben, ohne alle litera- und durch aktuelles Phänomen. Der Siegeszug rischen Vorlagen gelesen zu haben. des sound sampling in den vergangenen 30 Jah- Zugleich ermöglicht der gewählte Zugriff ren in weiten Teilen der Popularmusik wird von auf das Thema über zeitgenössische literarische derselben Sehnsucht wesentlich mitgetragen, Rezeption eine Annäherung an die ästhetische die den Siegeszug des Reproduktionsklaviers und soziale Erfahrung (mit den Schwerpunkten mittrug. Spektakuläre Fälle wie das 2003 ver- Gender und soziale Klasse in Björkén-Nybergs öffentlichte „Grey Album“ von Brian Burton ali- Analyse), welche die Reproduktionsklaviere ge- as DJ Danger Mouse bezeugen, dass virtuose, statteten. Denn die Autorinnen und Autoren, die weithin als originell beurteilte Musik mittels die- Björkén-Nyberg zugrunde legt, basieren ihre Fik- ser technischen Hilfsmittels geschaffen wer- tionen auf etwas, dass in ihrer eigenen Lebens- den kann, ohne dass auch nur ein verarbeiteter welt omnipräsent, ja Alltagskultur und Teil ihres Ton selbst verfasst und aufgenommen wurde. eigenen Erfahrungsraums war – anders als für Den Gedanken einer „democratization of mu- Björkén-Nybergs Leser heute. sic“ (S. 2) durch Technik, den Björkén-Nyberg Nachdem das erste Kapitel sich eher me- von Beginn an aufgreift, findet man in diesem dientheoretischen Fragen widmet, nähern sich Zusammenhang auch heutzutage immer wie- die folgenden beiden Kapitel aus verschiede- der prominent ins Feld geführt. Verfechter des nen Richtungen den Irritationen an, die vor al- sound sampling greifen ihn auf im Widerstreit zu lem die technisch reproduzierbare, vermeintlich einem Urheberrecht, das in diesem Punkt bar ‚perfekte‘ pianistische Virtuosität nach sich zog, aller Verschiedenartigkeit der Normsysteme in insbesondere für den Status von Pianisten. Am allen westlichen Rechtsordnungen äußerst res- spannendsten ist jedoch das abschließende triktiv angelegt ist. Demokratisierung – gemeint vierte Kapitel. Dort zeigt sich, dass die Repro- ist der Abbau von Zugangshürden zu Musikpro- duktionsklaviertechnologien und ihre intensive duktion durch Technik – soll Freiheit für diese Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht digitale Kulturtechnik des Adaptierens rechtfer- nur Gegenstände von historischem, musikwis- tigen, so das umstrittene Argument. So macht senschaftlichem und literaturwissenschaftlichem Björkén-Nyberg Arbeit eine hohe Aktualität der Interesse sind, wie Björkén-Nybergs ebenso untergegangen Kultur der Reproduktionsklavie- kurzweiliges wie materialreiches Buch gleichfalls re deutlich – indem sie zeigt, dass diese Tech- deutlich macht. Die Reproduktionsklaviertech- nologien eben mehr als das Reproduzieren von nologie, so zeigt Björkén-Nyberg, war mehr als Musik erlaubten. ein frühes, rasch überholtes Speicher- und Wie- dergabeverfahren für Musik. Vielmehr war die Dortmund Frédéric Döhl

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Urbane Konsumlandschaften auch einen Beitrag zum ländlichen Konsum: Die Volkskundlerin Ira Spieker zeigt am Beispiel des Prinz, Michael (Hrsg.) : Die vielen Gesichter Ortes Atteln auf, welche Produkte in ländlichen des Konsums. Westfalen, Deutschland und die Räumen um 1900 verfügbar waren und welche USA 1850–2000, 295 S., Schöningh, Pader- Produktwelten die lokalen Konsumenten über born u. a. 2016. das Medium des Kataloges erreichten. Des Weiteren befasst sich der Band mit De- Der von Michael Prinz herausgegebene Sam- batten über die Periodisierung des Konsums in melband „Die vielen Gesichter des Konsums“ der deutschen Geschichte. Neuere Forschungen beleuchtet Facetten des Einkaufens und der siedeln den Beginn einer Konsumgesellschaft Innenstadtgestaltung über einen breiten his- bereits im Kaiserreich an. Deshalb sei es notwen- torischen Zeitraum (1850–2000), wobei sich dig, so Prinz in der Einleitung, nach anderen Re- der geographische Fokus von Westfalen über ferenzpunkten als den USA Ausschau zu halten. Deutschland bis in die USA erstreckt. Eines der Die Historikerin Heidrun Homburg wertet in ih- Hauptziele des Bandes ist es, die Rolle der USA rem Beitrag dazu die Beobachtungen deutscher als wichtigstes Modell für die Konsumgesell- Reisender aus Paris und London im 18. und schaft in Deutschland kritisch zu hinterfragen. 19. Jahrhundert aus, die fasziniert von der Praxis Die Beiträge zeigen, dass sich die Blicke aus des Shoppings und den vielfältigen Einkaufsan- Deutschland vor allem nach Skandinavien und in geboten berichteten. Dagegen blieb der Handel die europäischen Nachbarländer richteten, wie in den deutschen Staaten durch den Fortbestand zum Beispiel im Falle der Konsumgenossen- des Gewerberechts stärker reguliert und spielte schaften oder bei Modellen zur Regulierung des sich vor allem auf den Märkten ab. Frühe Initiati- Alkoholkonsums. Auch Jan Logemann weist in ven für Kaufhäuser schafften es nicht, genügend seinem Beitrag über urbane Einkaufsräume die Rückhalt und Investoren zu gewinnen. Trotzdem These einer Amerikanisierung der deutschen argumentiert Homburg, dass die Transformation Einkaufswelten zurück. Vielmehr habe es einen urbaner Räume im 19. Jahrhundert wichtige Vo- multidirektionalen Diskurs gegeben, wobei sich raussetzungen für die Ausweitung des Konsums der Beitrag fast ausschließlich auf Westdeutsch- schuf, wie zum Beispiel durch die Etablierung von land und die USA bezieht. Zwar sahen deutsche Promenaden. Allerdings beschränkte sich die Stadtplaner in den USA ein Vorbild, bewerteten Nutzung vermutlich auf ein kleines Segment der aber nach Studienreisen die US-amerikanischen damaligen Oberschichten, was die Autorin nicht Stadtzentren als ein abschreckendes Beispiel. thematisiert. Ähnlich argumentiert auch Lydia Langner in ihrem Schließlich beschäftigen sich mehrere Bei- Beitrag über den Wissenstransfer im deutschen träge mit der Entwicklung des Konsums in der Einzelhandel. Ein wichtiges Segment deutscher Weimarer Republik, wobei ein inhaltlicher Fokus Einzelhändler lehnte den US-amerikanischen auf den Debatten über den Alkoholkonsum liegt. Massenkonsum in den 1950er Jahren als Modell Thomas Welskopp vergleicht die Situation in den ab. Stattdessen sorgte ein Interaktionsprozess USA und im Deutschen Reich und regt dazu an zwischen europäischen Experten für die Integrati- verstärkt die Alkoholkonsumkultur in Kneipen in on von Elementen aus Schweden, Großbritannien die historische Analyse einzubeziehen. Claudius und der Schweiz. Der Aufstieg der Supermärkte Torp hingegen beleuchtet die Debatten über und Lebensmitteldiscounter erfolgte dagegen eine Begrenzung des Alkoholkonsums in den erst in den 1960er Jahren. Parallel dazu wan- Jahren der Weimarer Republik. Auch hier rich- delten sich auch die deutschen Innenstädte: teten sich die Blicke sowohl in die USA als auch Bis in die frühen 1970er Jahre entstanden in nach Skandinavien. Dagegen erweitert Karl Ditt Deutschland über 200 Fußgängerzonen, die bis die Perspektive auf den Konsum von Luxusgü- heute das Gesicht vieler Stadtzentren prägen, tern und Haushaltsgeräten in Deutschland und so auch im westfälischen Lippstadt. Obwohl die Großbritannien, wobei er besonders die unter- dortige Fußgängerzone zwar lange als ein Vorbild schiedliche Gas- und Elektrizitätsversorgung als galt, bewertet sie der Stadtplaner Bernd Neuhoff einen wichtigen Einflussfaktor sieht. Darüber in seinem Aufsatz kritisch, da der Fokus auf das hinaus sorgten Ratenzahlungsmodelle, die bes- Zentrum andere Teile der Stadt benachteiligt sere Wirtschaftslage und die Kampagnen von habe. Neben den vielfältigen Fallstudien über Frauenorganisationen für eine schnellere Tech- das urbane Einkaufen, enthält der Sammelband nisierung der britischen Haushalte. Schließlich

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 127 setzt sich Michael Prinz mit Konsumskepsis bei in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen einer Gruppe nicht-nationalsozialistischer Öko- ausgehen. nomen in den 1940er Jahren auseinander. De- Auffallend ist, dass die einzelnen Kapitel ei- ren Konzeptionen für die Nachkriegsgesellschaft nen sehr unterschiedlichen Umfang aufweisen. waren stark von den Krisenerfahrungen der Allein die ersten beiden Hauptkapitel zum Bo- 1920er und 1930er Jahre geprägt, im Zuge de- den und zum Kapital machen mehr als die Hälfte rer eine Debatte über Möglichkeiten zur Selbst- des Textteils aus. Aus Platzgründen können die versorgung und neue Stadt-Land Beziehungen Ergebnisse der Arbeit hier nicht näher referiert, entbrannte. wohl aber die Hauptpunkte der Arbeit vorgestellt Leserinnen und Leser, die sich für die Verän- werden. derung von Einkaufspraktiken und urbanen Kon- Das erste Hauptkapitel zum „Boden“ in- sumlandschaften interessieren, finden in dem formiert unter anderem über die heterogenen Band interessante Fallbeispiele aus den letzten Bodenqualitäten in Deutschland, verschiedene zwei Jahrhunderten. Allerdings fehlt einigen Maßnahmen zur Neulandgewinnung, die Betriebs- Beiträgen der Blick über den lokalen Tellerrand größenstruktur, Besitzrechte und Besitztransfer hinaus, so dass die Beispiele vereinzelt wirken. sowie Bodennutzung und Veränderungen im An- Weitergehende Schlussfolgerungen zur Rolle lo- baugefüge. Insgesamt war es im 20. Jahrhun- kaler Stadtentwicklung und daraus resultierenden dert nicht mehr möglich, die Bodenverluste durch Konsumpraktiken in Westfalen hätten den Band Siedlungstätigkeit mithilfe von Neulandgewinnung sicher bereichert. auszugleichen. Aktuelle Entwicklungen gehen da- hin, den Boden nicht nur für die Erzeugung von Nahrungsmitteln, sondern als Basis zur Energie- Bern Christiane Berth produktion zu nutzen. Das folgende, dem „Kapital“ gewidmete Ka- pitel ist am umfangreichsten ausgefallen. Es un- Moderne deutsche Agrargeschichte tersucht unter anderem die Bautätigkeit auf dem Land, die Mechanisierung, Elektrifizierung und Mahlerwein, Gunter : Grundzüge der Agrarge- Motorisierung der Landwirtschaft, die zahlen- und schichte, Bd. 3: Die Moderne (1880–2010), leistungsmäßige Entwicklung des Viehbestandes, 230 S., Böhlau, Köln u. a. 2016. Saatgutzüchtungen und Düngemittelverbrauch, den Ausbau des chemischen Pflanzenschutzes Das hier zu besprechende Buch ist der dritte Teil sowie die Entwicklung der landwirtschaftlichen der von Stefan Brakensiek, Rolf Kießling, Werner Einkommen. Troßbach und Clemens Zimmermann herausge- Das Kapitel zur „Arbeit“ geht auf die famili- gebenen dreibändigen „Grundzüge der Agrarge- eneigenen und familienfremden landwirtschaftli- schichte“. Der Autor Gunter Mahlerwein, Mitglied chen Arbeitskräfte und ihre Arbeitsbeziehungen im Vorstand der Gesellschaft für Agrargeschich- ein. Mittlerweile ist nur noch ein Bruchteil der er- te, behandelt den durch rasante Entwicklungen, werbstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft vielfältige Zäsuren und einen insgesamt erhebli- beschäftigt. Der Punkt „Wissen“ analysiert die chen Bedeutungsverlust des agrarischen Sektors Produktion und den Transfer von Wissen unter gekennzeichneten Zeitraum von 1880 bis 2010. anderem anhand der Institutionalisierung der Das Buch ist ausgesprochen originell gegliedert: Agrarforschung und des landwirtschaftlichen nicht, wie hätte erwartet werden können, chro- Schulwesens. Auch die Entwicklung einer öko- nologisch nach den Entwicklungsetappen der logisch orientierten Landwirtschaft hat hier ihren deutschen Landwirtschaft, sondern nach den Platz. Produktionsfaktoren Boden, Kapital, Arbeit und Die kontinuierliche Leistungssteigerung der Wissen. Innerhalb dieser Punkte geht der Autor Landwirtschaft im Untersuchungszeitraum wird dann chronologisch vor. Anschließend folgt ein auf drei Seiten an den „Ertragssteigerungen“ am kurzer Überblick über die Ertragssteigerungen. Beispiel der Hektarerträge von Roggen, Weizen Die letzten vier Kapitel nehmen den Agrarmarkt, und Kartoffeln sowie an der Milchleistung der die Agrarpolitik, globale Verflechtungen und de- Kühe und der Legeleistung der Hennen verdeut- mographische Entwicklungen in den Blick. Der licht. Wenn das Buch überhaupt Wünsche offen Autor möchte dabei in seinen Untersuchungen lässt, hätte man sich allenfalls hier weitere Bei- in besonderem Maße von der Perspektive der spiele gewünscht.

128 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen

Daran schließen sich Betrachtungen zum Untersuchungen zur modernen deutschen Ag- „Agrarmarkt“ an. Hier geht es dem Autor um rargeschichte. Veränderungen im Konsumverhalten der Bevöl- kerung ebenso wie um die Vermarktung der Ag- Rostock Mario Niemann rarprodukte auf dem deutschen Binnenmarkt und die Einbeziehung der deutschen Landwirtschaft in den Weltagrarhandel. Auch das verarbeitende Gewerbe und der Einzelhandel, der einen jahr- Außenpolitik und Globalisierung zehntelangen Konzentrationsprozess durchlaufen hat, kommen nicht zu kurz. Buzan, Barry/Lawson, George : The Global Das Kapitel zur „Agrarpolitik“ konzentriert Transformation. History, Modernity and the Mak- sich auf die verschiedenen im Laufe der Zeit un- ing of International Relations, 421 S., Cambridge ternommenen agrarpolitischen Maßnahmen, un- UP, Cambridge 2015. ter denen insbesondere Agrarsubventionen einen immer noch aktuellen Dauerbrenner darstellen, Was das Buch verspricht, ist nicht weniger als und auf den Einfluss agrarischer Interessensver- eine neue Perspektive auf die internationalen bände auf den politischen Entscheidungsprozess. Beziehungen der vergangenen 200 Jahre, die im „Globale Verflechtungen“ werden auf nur besten Sinne des Wortes global ist und gleich- zwei Seiten abgehandelt und hätten vielleicht zeitig fundamentale Umbrüche in Gesellschaft, auch in andere Kapitel eingearbeitet werden Wirtschaft und Politik einbezieht, um außenpoliti- können. Das letzte Kapitel zur „Demografie der sches Handeln in der Moderne zu erklären. Damit ländlichen Gesellschaft“ untersucht die Bevölke- legen die beiden Autoren, Barry Buzan, emeri- rungsentwicklung im ländlichen Raum, Wande- tierter Professor für internationale Beziehungen rungsprozesse zwischen Land und Stadt sowie an der London School of Economics, und sein die Veränderungen in der dörflichen Struktur, jüngerer Kollege George Lawson, sehr hohe etwa durch den Zustrom von Flüchtlingen und Maßstäbe an, denen sie – das sei schon vorweg Vertriebenen nach 1945, und neuere Tendenzen gesagt – mehr als gerecht werden. Mehr inso- der Suburbanisierung. fern, als sie, vom langen 19. Jahrhundert ausge- Gunter Mahlerwein hat ein ungemein fak- hend, nicht nur das 20. Jahrhundert analysieren, tenreiches Buch vorgelegt, das multipers- sondern in den letzten Kapiteln auch aktuelle Fra- pektivisch Strukturen und Entwicklungen des gen des internationalen Systems aufgreifen und ländlichen Raumes einfängt. An alles ist in die- in ihrem weit gesteckten Rahmen behandeln. sem gediegenen Überblickwerk gedacht, das für Vieles, was Buzan und Lawson in ihrem den Untersuchungszeitraum die Erkenntnisse Band schreiben, erscheint auf den ersten Blick früherer Arbeiten (etwa Alois Seidl, „Deutsche bekannt und selbstverständlich. Dass es in der Agrargeschichte“, 22014) gründlich erweitert zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Rüs- und vertieft: Nicht nur agrarwirtschaftliche und tungswettlauf der europäischen Mächte gab, agrargeschichtliche, sondern etwa auch wissen- dass sich Außenpolitik nur angemessen analysie- schaftliche, soziologische, geographische und ren lässt, wenn man ihre ökonomischen, sozialen demographische Entwicklungen im Kaiserreich, und politischen Grundlagen berücksichtigt, und in der Weimarer Republik, im Nationalsozialis- dass alles mit allem zusammenhängt, wussten mus, in der Bundesrepublik und der DDR so- wir irgendwie schon längst. Das Verdienst des wie in den Jahren seit 1990 werden aufgezeigt. Bandes ist es, diese komplexen Zusammenhän- Dabei macht der Autor immer wieder auch auf ge mit einer strengen Systematik zu erschließen die regionalen Unterschiede, etwa zwischen und verständlich zu machen. dem gutsbetrieblich strukturierten Nordosten Buzans und Lawsons Kernthesen seien und dem kleinbäuerlich dominierten Südwesten, hier nur knapp zusammengefasst. 1) Die In- aufmerksam. Es gibt keine größeren Lücken: dustrialisierung und die sie begleitenden Pro- Kaninchen, Kartoffeln, Klee und Kunstdünger zesse in Gesellschaft, Politik und Kultur lösten spielen ebenso eine Rolle wie Maisanbau, Melio- im 19. Jahrhundert eine fundamentale Neuord- rationen, Milchkühe und Motorpflüge. Das Buch, nung des internationalen Systems aus, deren für das dem Autor großer Dank abzustatten ist, Auswirkungen bis heute spürbar sind. Damit bietet damit eine Vielzahl an Anknüpfungsmög- wurden erstmals alle Weltregionen in einen glo- lichkeiten für weiterführende agrarhistorische balen Kommunikations- und Interaktionsraum

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 129 einbezogen und dessen Normen unterworfen. Auch wenn Buzan und Lawson sehr über- 2) Aufgrund des Entwicklungsvorsprungs der frü- zeugend argumentieren, dass die tiefgreifenden hen Industriestaaten in Europa und Nordamerika Umbrüche im 19. Jahrhundert von grundlegen- und der Nutzung militärischer Mittel zur Durch- der Bedeutung für das Verständnis der interna- setzung ihrer politischen und ökonomischen In- tionalen Beziehungen sind, ist ihre Darstellung teressen hatte die Globalisierung im Zeitalter doch von großer aktueller Relevanz, wenn man des Imperialismus eine wachsende Ungleichheit beispielsweise an das Aufkommen neuer Regi- zwischen den westlichen Staaten und allen an- onalmächte und die aufkommende Rivalität der deren Ländern zur Folge. Legitimiert wurde diese USA und der Volksrepublik China im Pazifik, die Differenz mit dem Anspruch auf zivilisatorische Rolle der EU nach dem Brexit oder die politischen und rassische Überlegenheit. 3) Während sich Konflikte um die zunehmenden internationalen in der neuen imperialistischen Weltordnung für Flüchtlingsströme denkt. Nicht jede Leserin oder die Mächte im Zentrum internationale Konventi- jeder Leser wird allen Ergebnissen und Progno- onen etablierten, die zum großen Teil über das sen zustimmen. Auf jeden Fall verdient es aber 20. Jahrhundert hinaus bis heute nachwirken, große Anerkennung, dass die beiden Autoren galten im Umgang mit der Peripherie einseitige konsequent historisch argumentieren und damit Spielregeln, die die ungehemmte Durchsetzung vorschnellen Analogien den Wind aus den Segeln von Macht- und Handelsinteressen garantierten. nehmen. Sie sprechen zwar vom Zeitalter der 4) Nachdem es an der Wende zum 20. Jahrhun- globalen Transformation, meinen damit aber ge- dert bereits Japan gelungen war, in den Kreis der rade eine Zeit rasanter Beschleunigung und fun- imperialen Großmächte aufzuschließen, began- damentalen Wandels auf allen Ebenen, durch die nen erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine umfas- sich die Bedingungen internationalen Agierens sende Entkolonialisierung und eine ökonomische immer wieder neu konstituierten. Aufholjagd einiger Staaten an der Peripherie. Trotz der beeindruckenden Fülle an interes- Diese Emanzipation war jedoch nur um den Preis santen Details ist Buzans und Lawsons Band zu haben, die von den Großmächten gesetzten keine Globalgeschichte der letzten 200 Jahre. Standards internationalen Zusammenlebens – Das wäre auf 333 Textseiten auch kaum mög- Marktwirtschaft, Freihandel, Anerkennung des lich gewesen. Indem sie aber ein außerordentlich Völkerrechts und der etablierten internationalen vielschichtiges Panorama der Globalisierung seit Organisationen – zu akzeptieren. 5) Erst mit dem den französischen Revolutionskriegen und dem Ende der Blockkonfrontation im Kalten Krieg Beginn der Industrialisierung an der Wende zum löste ein dezentrales und multipolares globales 19. Jahrhunderts zeichnen, entwerfen sie ein System das Zeitalter der Supermächte ab. Die- mehrdimensionales Koordinatensystem, das al- ses ist bestimmt von der wachsenden Bedeutung len zukünftigen globalgeschichtlichen Forschun- regionaler Zusammenschlüsse wie der EU, der gen eine ausgezeichnete Orientierung bietet, Ablösung des Szenarios eines totalen Krieges aber auch sehr hohe Ansprüche stellt. der Nuklearstaaten durch asymmetrische Kriege und terroristische Anschläge, der abnehmenden Potsdam Thomas Schaarschmidt Bedeutung ideologischer Gegensätze im Zuge einer globalen Durchsetzung des Kapitalismus. Diese geht aber weder mit einer Abnahme globa- ler sozialer Ungleichheit noch mit einem Sieg der 19. JAHRHUNDERT westlichen Demokratie einher, sondern lässt ganz verschiedene Spielarten politischer Systeme mit unterschiedlichen Wertordnungen zu. Während Große Personen im 19. Jahrhundert die etablierten internationalen Konfliktregulie- rungsmechanismen von allen beteiligten Mächten Gamper, Michael/Kleeberg, Ingrid (Hrsg.) : anerkannt werden, weil sie die Funktionstüch- Grösse. Zur Medien- und Konzeptgeschichte tigkeit des globalen Finanzkapitalismus garan- personaler Macht im langen 19. Jahrhundert, tieren, sorgen politisch oder religiös motivierte 349 S., Chronos, Zürich 2015. antiwestliche Ressentiments in der dezentralen globalen Staatenwelt dafür, dass – im westlichen Das ‚große Individuum‘ hat bis heute seinen Verständnis universelle – Prinzipien wie die Men- festen Platz auf den medialen Bühnen. Man schenrechte infrage gestellt werden. denke etwa an die Inszenierung des russischen

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Präsidenten als ‚starker Mann‘, der Tiger zu Aus der ersten Sektion sind insbesondere die bändigen vermag, oder an das US-amerikani- Beiträge Marian Füssels, Ingrid Kleebergs und sche Staatsoberhaupt, das lässig in Talkshows Michael Gampers hervorzuheben. Ersterer zeigt über den Washingtoner Alltag plaudert. Zu den am Beispiel Friedrich II. von Preußen, wie sich die ‚großen Individuen‘ gehören gegenwärtig auch mediale Konstruktion eines ‚großen Individuums‘ die ‚Superstars‘ aller möglichen Felder, seien es in der longue durée ausgestalten konnte. Die Musik, Film oder Sport. Wie die politisch Aktiven Wirkmacht des Mythos ‚Friedrich der Große‘, so verfügen sie meist über eigene PR-Abteilungen, Füssel, steigerte sich durch eine ausgeprägte In- denen die Produktion und Pflege eines bestimm- termedialität bereits bestehender Bild- und Text- ten Images obliegt. Diese Formen des ‚großen motive, die zugleich Kupferstiche und Postkarten Individuums‘ sind aufs Engste mit den derzeiti- einschloss. Ingrid Kleeberg befasst sich am Bei- gen Medienkonstellationen verknüpft. Für das spiel der Schriften Josias Ludwig Goschs mit dem Phänomen als solches gilt dies nicht: Auch in der Wandel des ‚großen Individuums‘ als Konzept, Vergangenheit gab es spezifische Konstruktionen das sich um 1800 deutlich erweiterte. Fortan in- des ‚großen Individuums‘. tegrierte es nicht nur Feldherren und Staatsmän- Michael Gamper und Ingrid Kleeberg widmen ner, sondern vor allem „Ideenproduzenten“, also sich diesem Gegenstand in dem vorliegenden Wissenschaftler und Künstler. Mehr noch, sie Sammelband. Sie fokussieren auf das ‚große Indi- bildeten nun die Fixpunkte für Größe und Wohl- viduum‘ im langen 19. Jahrhundert, wobei sie ins- stand eines Gemeinwesens. Kleeberg deutet hier besondere auf dessen „Formen der Inszenierung, das Konzept der Imaginärpolitik an, das Michael der Repräsentation und der medialen Übertra- Gamper in seinem Beitrag weiter entfaltet. Das gung“ (S. 7) abzielen. Das 19. Jahrhundert reicht ‚große Individuum‘ sei demnach ein Instrument, dabei von den 1760ern bis in die 1930er. Einen um soziale oder politische Einheiten zu formen: besonderen Schwerpunkt bildet die Zeit um 1800, „Imaginärpolitik bemächtigt sich des individuellen die die Herausgebenden als eine konjunkturelle Körpers der Vielen über die Einbildungskraft und Hochphase des Phänomens kennzeichnen. Der erzeugt damit phantasmatisch organisierte kol- knappen Einleitung folgen sechzehn Beiträge, lektive Körper“ (S. 68). In Anlehnung an Michel deren Verfasserinnen und Verfasser verschiede- Foucault ergänze sie damit, so Gamper, Bio- und nen Fachdisziplinen angehören. Vertreten sind die Symbolpolitik. Er erprobt das Konzept anhand Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaft; Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie. auf der Letzteren liegt dabei das Schwergewicht Diese bereits sehr anregenden Überlegungen innerhalb des Bandes. Daher verwundert auch bereichern eine ganze Reihe weiterer Aufsätze. nicht, dass die meisten Aufsätze ihr Material aus Deren Inhalt kann hier nur angedeutet werden: der deutschsprachigen Belletristik beziehen, um Tobias Schlechtriemen plädiert für eine Poetologie sich der zeitgenössischen Konstruktion des ‚gro- der Soziologie, nachdem er am Beispiel Auguste ßen Individuums‘ anzunähern oder einzelne Facet- Comte gezeigt hat, wie jener seine theoretischen ten dessen näher auszuleuchten. Bisweilen finden Konzeptionen permanent mit Selbstbeschrei- auch andere Medien Beachtung, darunter Filme, bungen verband, in denen er sich als ‚großes Bilder und sogar Tabakdosen. Individuum‘ konzeptualisierte. Robert Suter unter- Die Anordnung der Beiträge erfolgt thema- nimmt einen Perspektivwechsel und skizziert, wie tisch über drei Sektionen, die die einzelnen Auf- der ‚große Mann‘ zum erstrebenswerten Leitbild sätze aber nur lose zusammenbinden: Zunächst vieler ‚kleiner Männer‘ wurde. Lucas Marco Gisi liegt der Schwerpunkt auf die Darstellung und zeichnet anhand von Carl Peters nach, wie sich Repräsentation ‚großer Individuen‘ im Allgemei- um 1900 die Figur des ‚Kolonialhelden‘ medi- nen, danach geht es um eine Charakterisierung al konstituierte und welche Imaginationsräume besonderer ‚großer Individuen‘ und schließlich sie Zeitgenossen ermöglichte. Bemerkenswert darum, wie diese untergehen oder wiederkeh- sind auch die Ausführungen von Martina Süess ren. Es liegt in der Natur einer kurzen Rezension, und Eva Horn, die sich mit der Konzeptualisie- nicht alle Beiträge eines Sammelbandes gleich- rung ‚großer Frauen‘ auseinandersetzen: Beide gewichtig berücksichtigen zu können. Daher kommen zu dem Schluss, dass diese für den folgt hier eine Auswahl, die die Breite des Ban- Gesamtdiskurs essenziell war, weil nur hier be- des möglichst adäquat abbilden soll. (Sie folgt stimmte Aspekte von ‚Größe‘ verhandelt werden sicher auch den Interessen des Rezensenten, der konnten, sei es die vollkommene und damit se- Historiker ist.) xuelle Unterwerfung des Subjektes (Süess) oder

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 131 die Eigenschaften der Führerfigur als „Medium popular culture, most catch-phrases have lost sozialer Affekte und Dynamiken“ (Horn, S. 214). their meaning for a modern-day audience. The Insgesamt ist den Herausgebenden ein stim- inter-war comic, Sandy Powell’s periodic cries of mig komponierter Sammelband gelungen, der ‘can you hear me mother?’, divorced from their viele stimulierende Gedanken und Perspektiven original context in an early-twentieth century Brit- zum Gegenstand enthält. Besonders hervorzuhe- ish domestic environment, make little sense. The ben ist das spannende Konzept der Imaginärpoli- delivery by Dan Leno, late Victorian Britain’s most tik, dem ein rasches Aufgreifen in der Forschung popular music hall entertainer, of the line ‘here zu wünschen ist. Vermisst hat der Rezensent we are again’, convulsed the nineteenth-century indes ein stärkeres Einbinden des Gegenstan- audience in ways that remain impermeable to the des ‚personale Größe‘ in Forschungsfelder, die modern-day historian. Shouted out by the audi- zumindest in dem Dunstkreis des Sujets liegen ence at his arrival on stage, the popularity of this und derzeit (teilweise) auch Konjunktur haben. Zu catch-phrase is attested to by its frequent quo- nennen ist die Heldenforschung, die zwar in eini- tation in the satirical magazines and popular print gen Aufsätzen angedeutet wird (Gisi, Haas), aber culture of the period where it was placed in the keinen expliziten Bezug erhält. Der Forschungs- mouths of politicians and monarchs. Yet the pre- strang zum stardom findet keine, der große Be- cise meaning carried by this phrase and its role in reich der Erinnerungskultur erstaunlicherweise the negotiation between performer and audience kaum Erwähnung. Daran lassen sich bereits An- remains elusive. knüpfungspunkte für eine künftige Erforschung Given the omni-present nature of the catch- des Themas erkennen, die zudem unbedingt phrase, and its centrality to British popular cul- ländervergleichende Perspektiven einschließen ture, a study of the social and cultural context of sollte. Denn es kam beim Rezensenten die Fra- one of nineteenth-century Britain’s most famous ge auf, wie sich die Konstruktion des ‚großen catch-phrases, ‘I hope I don’t intrude’ is to be Individuums‘ außerhalb des deutschsprachigen welcomed. In a lively and authoritative study, Raumes ausgestaltete. Dieser Befund kann den David Vincent’s book restores the catch-phrase positiven Gesamteindruck jedoch nicht schmä- (and the today little-known theatrical character of lern, sondern – im Gegenteil – steigert die Vor- Paul Pry) to its social and cultural context. Vin- freude auf kommende Forschung zum Thema. cent is well qualified to undertake this task. A British cultural historian of many decades’ stand- ing, Vincent has written widely on the intersec- Göttingen Robert Bernsee tions between literacy, popular reading matter, performance and working-class autobiography. In this wide-ranging book, he applies his skills The Origins of the Catch-Phrase forensically to an examination of Paul Pry and his catch-phrase in a study that ranges widely Vincent, David : I Hope I Don’t Intrude. Privacy across theatre history and popular entertainment and Its Dilemmas in Nineteenth-Century Britain, culture in nineteenth-century Britain. This catch- 368 pp., Oxford UP, Oxford and others 2015. phrase, it turns out, opens the door on a com- plex interlocking world of contemporary themes, The ‘catch-phrase’ is integral to the idiom of identities and ideas that found their outlet in the British popular culture. With its origins in music very vocal and visual performances of Pry. Unu- hall, and the popular theatrical tradition of the sually, for figures in British popular culture, it is eighteenth and early nineteenth-centuries, the possible to date the origins of Paul Pry and his catch-phrase was a hardy perennial that survived catch-phrase precisely. Pry was the creation of into the golden age of variety, inter-war cinema the dramatist, John Poole, appearing for the first and the post-1945 entertainment culture of Brit- time at the Haymarket theatre, on 13 Septem- ish seaside resorts. Enjoying a final flowering ber 1823. A minor character who unashamedly amongst the comics who performed in the work- snooped on his fellows, usually with detrimental ing-men’s clubs of the 1950s and 1960s, and consequences for his own well-being, Pry was leaving a lasting footprint in the ‘Carry On’ films, an unlikely comic hit. Thereafter, this inquisitive the catch-phrase created a resilient and person- and vaguely annoying figure became a constant al bond between the audience and performers, in theatrical performances into the Edwardian pe- the comic and his foils. An ephemeral aspect of riod and beyond.

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At the height of his popularity, the figure of character’s retreat into obscurity as basic state Pry became a fixture, immortalised in popular functions became more accepted. In its analysis ceramics, in engravings, on buttons and snuff of popular theatre, print culture, and satire this boxes, on pub signs, and in the names of ships. is an impressive volume, reclaiming a forgotten Vincent also notes the export of Pry to the set- period in British popular culture, and demonstrat- tler colonies, where he bequeathed his name to ing the rich benefits to be gained from cultural a pub on Sussex Street, Sydney in 1839. His- perspectives on popular traditions and pastimes. torians of literary trends will recognise here an overlap with the literary crazes that surrounded Sheffield Antony Taylor Charles Dickens’ “Pickwick Papers” and Pierce Egan’s “Tom and Jerry”. Indeed, appropriately enough, Pry appeared both as a character and a participant observer in Egan’s “Book of Sports” 20. JAHRHUNDERT in 1832. In short, this was a fluid and endlessly adaptable character able to appeal to a number of different and unrelated milieu. Asking the ques- Militärische Diskurse tion why, Vincent’s book seeks to disentangle the appeal of this enigmatic figure and restore mean- Jaun, Rudolf u. a. (Hrsg.) : An der Front und ing to his presence. Probing the surviving texts hinter der Front/Au front et à l’arrière. Der from the myriad theatrical productions in which Erste Weltkrieg und seine Gefechtsfelder/La he appeared, Vincent depicts Pry as an emblem Première Guerre mondiale et ses champs de of the intrusive. His inappropriate interventions at bataille, 318 S., hier + jetzt, Baden 2015. a time when cultures of privacy were developing in Britain, made him an icon of the bumbling, the Die im Band vorgelegten Beiträge einer internati- inept, and the unwanted, to comic effect. For onalen Tagung der Schweizerischen Vereinigung Vincent, Pry stood at the interstices of the old- für Militärgeschichte und der Militärakademie an er popular entertainment culture of the Regency, der ETH Zürich gruppieren sich um die Frage and the mid-nineteenth century period that saw nach militärischen Wandlungsprozessen und Er- an increasing encroachment by the state into fahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Der the everyday lives of its citizenry. These were the von den Herausgebern Rudolf Jaun, Michael M. years that saw the introduction of the 1834 Poor Olsansky und Adrian Wettstein einleitend knapp Law Amendment Act, the new police, and the formulierte Ansatz, militärisches Denken und Ent- attempted regulation of the streets and the itin- wicklungstendenzen der Kriegführung epochal erant vendors that inhabited them, notably at the einzubetten (S. 11), erfolgt im europäischen Ver- time of the 1822 Vagrancy Act. As Vincent points gleich. Mit Ausnahme von Stig Försters Beitrag out, Pry was a figure that typified the emerging zu weltweiten Dimensionen und Wirkungen des tensions between public and private space, and global vernetzten militärischen Konflikts konzen- the new cultures of privacy and control. A hapless triert sich der prominent besetzte Band auf Ge- ingénue, as well as an inveterate nosey parker, fechtsfelder und militärische Diskurse in (West-) forever peeking through keyholes, Pry exempli- Europa. fied the illicit delights to be gained from seeking Knapp die Hälfte des Bandes widmet sich out private knowledge, and the sometimes un- dem Wandel von Streitkräften und Kampfführung fortunate consequences that resulted from the 1914–1918. Erfahrungen Schweizer Offiziere success of those efforts. At times of particular beim Besuch von Kriegsschauplätzen (Micha- resentment against state intrusion Pry was often el M. Olsansky) werden hier ebenso dargestellt held up as an example of interfering civil servants wie sozialstrukturelle Konstanten der britischen and politicians. In 1844, at the time of the con- Streitkräftestruktur (Ian F.W. Beckett) oder struk- troversy surrounding the opening of the private turelle Defizite militärischer Rekrutierung und correspondence of the émigré radical, Giuseppe Ausbildung in der k.u.k. Armee (Günther Kro- Mazzini, by the government, the Home Secretary, nenbitter). Den extremen Anpassungsdruck, dem Sir James Graham, was satirised in the popular militärische Doktrinen, operative Planung und press as a bumbling and interfering Paul Pry. Taktik ausgesetzt waren, betonen die Beiträge Vincent multiplies examples of Pry’s presence von Georges-Henri Soutou, Dimitry Queloz und throughout the nineteenth-century, charting the Gerhard P. Groß. Für die französische Armee

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 133 konstatiert Queloz eine aufgrund massiven Pro- Bandes. Der zweite liegt darin, den Blick auf blemdrucks bis 1918 radikale Transformation Kriegserfahrungen der Neutralen, besonders der (S. 93) und erfolgreiche operative wie taktische Schweiz zu lenken. Damit beginnt sich nicht nur Adaption, die auf beschleunigter Verarbeitung von eine Lücke in der Weltkriegsforschung zu schlie- Fronterfahrungen auf allen militärischen Ebenen ßen. Wie Béatrice Ziegler in ihrer Analyse zur Ge- basierte. Groß verweist dagegen in seiner Ana- schichtspolitik in der Schweiz nach 1918 betont, lyse des operativen Denkens aller deutschen fördert der Blick auf den europäisch vernetzen Heeresleitungen auf ein Festhalten an Grund- „Kleinstaat im totalen Krieg“ auch überraschen- prinzipien (Bewegung, Konzentration, Offensive, de Parallelen und neue Anregungen für trans- Entscheidung), das bis 1918 an den militärischen national orientierte Forschung zu Tage (Ziegler, Realitäten scheiterte (S. 111f.). Überzeugend ar- S. 274f.). Sie selbst exemplifiziert dies an der gumentiert hier eine ‚klassische‘ Militärgeschich- Schweizer Erinnerungskultur, die Praktiken der te, die den Blick immer wieder auf eine extreme Kriegführenden gleichsam imitierte, und vor allem militärische Dynamik, besonders auf die immen- am Schweizer Narrativ „geistiger Landesverteidi- sen Herausforderungen durch Masse und Tech- gung“, das Militärs und Konservative nach 1918 nik lenkt (Soutou, S. 29f.). ebenso erfolgreich wie nachhaltig durchsetzten Gleiches gilt für die Beiträge zur militärischen (S. 281–287). Hier, wie in den weiteren drei Bei- Verarbeitung von Kriegserfahrungen ab 1918. trägen zur Schweiz, wird historiographisch Neu- Thematisiert werden auch die realitätsverleug- land betreten. nenden Dolchstoßdiskurse deutscher (Michael Kritisch anzumerken bleibt dennoch die in Epkenhans) wie österreichischer Offiziere (Martin verschiedene Richtungen zerfasernde Konzep- Schmitz). Im Zentrum stehen allerdings „‚Kriegs- tion des Bandes. So verliert sich etwa Roger lehren‘ europäischer Armeen“ (S. 156–240). Chickerings Diskussion zu Totalisierungsprozes- Gleich fünf Beiträge spannen dabei einen wei- sen abseits der Schlachtfelder in der Reihe ge- ten Bogen, der von ‚Kriegslehren‘ in Deutsch- fechtsfeldorientierter Analysen zur Kriegszeit. land (Markus Pöhlmann) und Frankreich (Adrian Insgesamt disparat wirkt der letzte Themenblock Wettstein), über Kriegsbilder und -diskurse in der „Kriegserinnerung“. In nur einem Beitrag zu den Schweiz (Michael M. Olsansky) und den Nie- Denkmalskulturen in Frankreich und Deutschland derlanden (Wim Klinkert) bis zur Verarbeitung (Gerd Krumeich) ist das komplexe Feld gesell- von Weltkriegserfahrungen im britischen Nach- schaftlicher Kriegserinnerung eben nicht adäquat richtendienst (Sönke Neitzel) reicht. Worin sich abzubilden. Ebenso wenig kann Roman Ross- diese sehr unterschiedlichen Analysen zur Erstar- felds ebenfalls hier subsumierte innovative Dar- rung der französischen Militärdoktrin nach 1918 stellung Schweizer Kriegsmaterialtransporte die (Wettstein, insbesondere S. 217ff.), zum (auch Bedeutung kriegsökonomischer Entwicklungen durch Versailles) dynamisierten militärischen angemessen einbinden. Eine konsequente Be- Diskussionsprozess in Deutschland sowie zur schränkung auf Wandlungsprozesse und Diskurse ebenso unterschiedlichen wie kon troversen Ver- innerhalb militärischer Systeme und Gruppen wäre arbeitung von Kriegserfahrungen in zwei neut- angesichts der Fülle neuer Forschungssynthesen ralen Staaten dann doch berühren, ist vor allem zum Ersten Weltkrieg überzeugender gewesen. ein Punkt: der überall erkennbaren Unsicherheit, welche Schlüsse aus der traumatischen Erfah- rung eines technisierten und zugleich erstarr- Düsseldorf Uta Hinz ten Massenkriegs überhaupt zu ziehen seien. Sie durchzieht den deutschen Diskurs um ein technisch hochqualifiziertes, mobiles Massen- heer (Pöhlmann, S. 162–165) ebenso wie die Kibbo Kift Kriegsanalysen Schweizer Offiziere (Olsansky, S. 177) oder die tief gespaltene niederländische Ross, Cathy/Bennett, Oliver : Designing Utopia. Diskussion, wie Verteidigung in einem zukünf- John Hargrave and the Kibbo Kift, 192 S., Tau- tigen Krieg überhaupt noch zu organisieren sei ris, London/New York 2015. (Klinkert, S. 196–202). Die Schwierigkeiten militärischer Analy- Pollen, Annebella : The Kindred of the Kibbo se und Prognostik im Umfeld des Weltkrieges Kift. Intellectual Barbarians, 228 S., Donlon, transnational aufzuzeigen, ist ein Verdienst des London 2015.

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Die britische Jugendbewegung Kibbo Kift wurde wird: Beide Darstellungen werfen Licht auf die 1920 von John Hargrave (1894–1982) gegrün- Vorgeschichte der Ökologiebewegung und die det, der zuvor in der Pfadfinderbewegung aktiv Genealogie von Entwürfen einer „alternativen war. Wie die Pfadfinder sind auch die Kibbo Kift Gesellschaft“. Dabei tritt eine Form von politi- eine Bewegung, die sich durch Naturverbunden- scher Romantik hervor, bei der das Insistieren heit auszeichnet, jedoch gibt es auffällige Unter- auf persönliche Selbstbestimmung unversehens schiede im Habitus: Während die militärischen in die Forderung nach korporativer Geschlos- Ursprünge der Boy Scouts an den Uniformen senheit umschlägt. Die von Hargrave in zahl- erkennbar sind, gemahnt das Outfit der Kibbo reichen Schriften ausformulierte Vision ist von Kift an indianische, keltische oder angelsächsi- messianischen Anklängen nicht frei; das Pathos sche Stämme; ergänzt um Kutten, die an mittel- der charismatischen Führung verträgt keinen Wi- alterliche Mönche denken lassen. Die Bewegung derspruch. Es gibt hier nur die Alternative, sich wendet sich gegen den industriellen und urbanen entweder der Gefolgschaft zu verschreiben oder Alltag der Moderne, sie steht für pazifistische Ide- aber auszutreten. ale ein und zielt auf eine geistige Erneuerung des Diese Gefolgschaft ist in erster Linie als Gemeinwesens im Zeichen der Brüderlichkeit. Männerbund organisiert: Mädchen und Frauen Der Anknüpfung an heterogene Stammestradi- sind zwar willkommen, bleiben aber von Füh- tionen entspricht es, dass nationale Identität in rungsaufgaben weitgehend ausgeschlossen. erster Linie als eine Sache des Willens und des Hargrave verficht ein Rollenmodell, das in dem Bekenntnisses aufgefasst wird; die Verheißung Glauben an eine naturbedingte Arbeitsteilung lautet, dass die Menschheit sich harmonisch der Geschlechter verwurzelt ist. Indes sollen bei- in einer großen Völkerfamilie zusammenfinden de Geschlechter gegen die Verweichlichung der kann. Wer die Initiationsrituale der Kibbo Kift Zivilisation durch Askese und Sport ankämpfen. durchläuft, darf sich als Pionier dieser Völkerfa- Das Bogenschießen wird als eine Disziplin hoch- milie verstehen. gehalten, bei der es sowohl um körperliche als In den beiden Darstellungen von Pollen so- auch geistige Fitness geht. wie von Ross und Bennett wird die Entwicklung Beide Darstellungen nutzen einen reichhal- dieser Jugendbewegung in den 1920er und tigen Fundus an Textquellen, um das Selbstver- 1930er Jahren rekonstruiert. Beide Darstel- ständnis von Hargrave und seiner Gefolgschaft lungen rücken die Person des charismatischen herauszuarbeiten. Nicht minder wichtig sind indes Gründers der Bewegung an den Anfang, ge- zahlreiche Fotografien, die die Zeremonien und hen dann auf deren Organisationsprozess und Artefakte der Jugendbewegung veranschauli- die Rollenverteilung in der Gefolgschaft ein und chen: Zum einen wird hier die Versammlung un- widmen sich ausgiebig ihrer Symbolik und ihren ter freiem Himmel als soziales Schlüsselereignis Zeremonien. Stärker noch als Pollen behandeln deutlich; zum anderen der Anspruch, die kultu- Ross und Bennett den Wandel, der dazu führt, relle Erneuerung durch künstlerische Kreativität dass im Laufe der 1930er Jahre aus der Ju- voranzutreiben. Die Jugendbewegung versteht gendbewegung eine politische Partei wird: Die sich auch als ästhetische Bewegung, die einem Kibbo Kift werden zu Green Shirts und zur So- Schönheitsideal verpflichtet ist, das primitive Ur- cial Credit Party. Damit verschiebt sich der Fo- sprünge mit der Formensprache des Jugendstils kus nicht nur auf die Welt der Erwachsenen, es verbindet. Der Anspruch auf Ganzheitlichkeit kommt auch dazu, dass nun doch Uniformen und wird dadurch abgerundet, dass neben Sport und Aufmärsche mit militärischem Gepräge das Bild Kunst auch die Wissenschaft hochgehalten wird: beherrschen. Pollen greift im Titel ihres Buches das gespal- Die Green Shirts und die Social Credit Party tene Verhältnis zur Moderne durch die Selbst- bleiben ohne nennenswerten Einfluss und ver- kennzeichnung der Kibbo Kift als „intellectual schwinden im Kontext des Zweiten Weltkrieges barbarians“ auf. Der Bewegung ist ein Eklektizis- von der politischen Bildfläche. Auch die Kibbo mus eigen, der rationale und primitive Elemente Kift sind nie zu einer Massenbewegung gewor- so miteinander verschmelzen will, dass daraus den und halten weder beim Zulauf noch bei der ein neues Zeitalter entsteht. Der Eklektizismus Langlebigkeit den Vergleich zur Pfadfinderbe- setzt sich bei der Umgestaltung zu den Green wegung aus. Gleichwohl lohnt sich die Lektü- Shirts und der Social Credit Party fort: Einer- re der beiden Bücher, weil hier ein Kapitel der seits wird hier auf bäuerliche und handwerkliche Zivilisationskritik des 20. Jahrhunderts ergänzt Bodenständigkeit gesetzt, andererseits aber die

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 135 Abschaffung des Finanzkapitals durch ein Kre- von ihm untersuchte Kommunikation weder als ditsystem beschworen, das von einer Elite von politische Handlung noch als davon unabhängige Mathematikern zum Wohl des Volkes verwaltet Färbung politischer Strukturen betrachte. Viel- werden soll; hinter der antikapitalistischen Utopie mehr beschreibt Gerber die Suche nach einem kommt eine technokratische Ambition zum Vor- „weltanschaulichen Substrat“ (S. 31) in der Zen- schein. Es spricht für die Stärke der britischen trums-Partei, das sowohl notwendige Bedingung Demokratie, dass diese Ambition nur eine Rand- für politisches Handeln darstellt als auch Mobili- notiz der Geschichte geblieben ist. sierung ermöglicht. Beide Darstellungen betonen, dass die Seine Spurensuche im politischen Diskurs Kibbo Kift trotz ihrer Kurzlebigkeit einen wichti- der frühen 1920er Jahre gliedert Gerber in vier gen praktischen Kommentar zur Krise der mo- Hauptteile. Nach einer Einleitung, welche die dernen Gesellschaft abgegeben haben. Es zeigt Arbeit kontextualisiert, den eben skizzierten me- sich allerdings, dass dieser Kommentar selbst thodischen Rahmen absteckt und Forschungs- von den Widersprüchen der modernen Gesell- stand sowie Quellenlage beurteilt und dabei auf schaft durchsetzt ist – und dies gerade bei der eine beeindruckende Anzahl publizierter und Beschwörung, diese Gesellschaft durch einen auch nichtpublizierter Quellen verweisen kann, radikalen Neuanfang zu verlassen. folgen die drei Kernteile der Arbeit, die sich mit jeweils einem der eingangs vorgestellten Thesen zur Schwerpunktsetzung von Kommunikation im Windisch Carsten Quesel politischen Katholizismus beschäftigen. Es geht Gerber im Folgenden um „Pragmatismus als poli- tische Kultur: Die ‚Boden-Formel‘“ (S. 33–128), Reden über die Republik „Revolutionsereignis und Politikbegründung“ (S. 129–298) und „Politischer Pragmatismus als Gerber, Stefan : Pragmatismus und Kulturkritik. ‚katholische Weltanschauung‘“ (S. 299–340). Politikbegründung und politische Kommunika- Abgerundet werden die Ausführungen durch eine tion im Katholizismus der Weimarer Republik knappe, pointiert und gut formulierte Zusammen- (1918–1925), 418 S., Schöningh, Paderborn fassung sowie ein beeindruckendes Quellen- und u. a. 2016. Literaturverzeichnis, das auf über 50 Seiten von der akribischen Arbeit des Autors zeugt. Über die Rolle des politischen Katholizismus In Gerbers empirischem Teil nimmt er die in der Weimarer Republik wurde schon viel ge- Leser mit auf eine detaillierte Reise durch die schrieben und auch umgekehrt – über die Be- katholische Publizistik der frühen 1920er Jahre. deutung der Republik für den Katholizismus der Dabei verweist er immer wieder auf von ihm be- Zeit existieren bereits einige Studien. Nun wird sonders geschätzte Gewährsleute, wie etwa den das Untersuchungsfeld durch Stefan Gerbers Jesuitenpater Max Pribilla. Es gelingt ihm aber 2013 eingereichte und 2016 bei Schöningh auch weitere bekannte und unbekannte Autoren veröffentlichte Habilitationsschrift ergänzt und zum Belegen seiner Kernthesen anzuführen. So erweitert. Auf knapp 350 Textseiten gibt Gerber kann Gerber tatsächlich die immer wiederkehren- einen dicht gedrängten Überblick über Ideen und de Phraseologie vom „Boden der Tatsachen“ ein- Diskurse des politischen Katholizismus in den drücklich nachweisen. Zudem findet er zahlreiche ersten Jahren der Republik. Dabei fokussiert er Belege für Versuche, die eigentlich als Gegensatz auf zwei Elemente: Eine weltanschauliche Fun- zur „Ordnung“ stehende Revolutions-„Tat“ 1918 dierung der Debatte auf der Phrase vom „Boden als zwar verwerflich, die daraus hervorgehende der Tatsachen“ mithin des „Pragmatismus“ und Republik aber als legitimes Konstrukt zu bezeich- zweitens auf die Rolle und Erklärung der „Tat“ der nen. Der pragmatische Umgang mit dem Sta- Revolution und die Versuche einer Rechtfertigung tus quo und der damit einhergehende Versuch der aus diesem Bruch mit der bestehenden Ord- der Publizisten katholische Politik in den neuen nung hervorgegangenen Republik. Zusammenhang der Republik zu betten, wird so- Methodisch möchte er seine Studie als mit sowohl als Weltanschauung als auch tatsäch- „ideen- und diskursgeschichtliche Untersuchung“ licher Hintergrund politischen Handelns deutlich. (S. 12) verstanden wissen, die in Abgrenzung Pragmatismus- und Tat-Begriff gehen dabei eine zu Michel Foucault den „Sprechhandlungswillen interessante Symbiose ein, welche – so Ger- der Sprecher“ (S. 13) ernst nehme und damit die ber im Ausblick – ab Mitte der 1920er Jahre

136 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen konsequenterweise von einem Selbstbild der Roethler verteidigt in der Einführung zwei „schöpferischen Mitte“ abgelöst wird. Dies sei als sich ergänzende Hypothesen, die er in seiner Versuch zu verstehen, konservative und republi- Arbeit beweisen will: 1) Im Gegenteil zur vorherr- kanische Vorstellungen zu versöhnen (S. 335ff.) schenden Meinung in der Geschichtsschreibung Bei einem diskursgeschichtlichen Untersu- sei die „katholische Identität“ der deutschen Ka- chungsdesign scheint die Darstellung des Mate- tholiken während der Weimarer Republik – und rials in sehr ausufernden Paraphrasierungen und besonders die der Mitglieder der KSV – nicht Zitaten kaum zu verhindern. Dadurch lässt die „residual“ sondern „evolving, dynamic and immi- Studie bisweilen aber einen klaren kategorischen nent“ (S. 10). 2) Mit dieser „katholischen Identi- Fokus vermissen. Das Lesen des ansprechenden tät“ artikuliere sich ein Patriotismus, der weder und anregenden Buches wird durch nicht immer „to redeem their supposed national inferiority klare Gewichtung der einzelnen Publikationen und complex“ noch „to impress or appease German Autoren zueinander und fehlende Fokussierung nationalists, including, ultimately, the National auf zentrale Passagen erschwert. Doch erscheint Socialists“ ausgedrückt wurde (S. 11), sondern dies vielmehr eine immanente Problematik dis- „echt und ehrlich“ gewesen sei. Diese zwei Hy- kursgeschichtlicher Untersuchungen, weniger pothesen erklären laut Roethler sodann das er- eine spezifische Kritik an Gerbers Studie. Kritisch strangige Engagement der CDU-Politiker, die anzumerken ist allenfalls der etwas zu unkritische während der Weimarer Republik KSV-Mitglieder Schwerpunkt auf einer intellectual history , die waren, für den Wiederaufbau Deutschlands nach wenig bis keine Exkurse in Schriften des politi- 1945 – sowohl „physically“ als auch „psychically“ schen oder kirchlichen Alltags – etwa Memos von (ebd.). Ministern oder Predigten – beinhaltet, was eine Im ersten Kapitel konzentriert sich der Autor Bestätigung der These vom Pragmatismus als auf den Platz der KSV in der deutschen Studen- Weltanschauung noch schlüssiger hätte erschei- tenschaft und auf die Frage des akademischen nen lassen. Antikatholizismus am Anfang des 20. Jahrhun- Insgesamt kann Stefan Gerber einen wichti- derts. Das zweite Kapitel ist trotz seines Namens gen, akribisch recherchierten Beitrag zur öffentli- „Catholic Fraternities at War“ keine Erzählung der chen Kommunikation des politischen Katholizismus Kriegserlebnisse katholischer Studenten, son- und seiner Form in den frühen 1920er Jahren in dern eine „Analyse“ der Nekrologien der im Krieg die Forschungsdebatte einbringen, der insbeson- gestorbenen KSV-Mitglieder. Leider zeigt Roeth- dere durch seine eindrucksvoll belegte These vom ler keine kritische Distanz zu diesen Ehre- und Pragmatismus als Weltanschauung Erklärungspo- Frömmigkeits-„Zertifikaten“, was seine Auswer- tenzial für die politische Kultur der Weimarer Repu- tung schwächt. blik als Gesamtheit bereithält. Ab dem dritten Kapitel nimmt der Autor sein Thema wirklich in Angriff. Viele Fragen werden thematisiert, unter anderem: der Platz der KSV Darmstadt Volker Köhler innerhalb der Studentenschaft; die schwere finanzielle Lage und schwierigen Lebensbe- dingungen; Republik und Demokratie (die laut Katholische Studentenvereine Roethlers Einschätzung im dritten Kapitel besser von den katholischen als von den anderen Stu- Roethler, Jeremy Stephen : Germany’s Catholic denten akzeptiert wurden, was er später stark Fraternities and the Weimar Republic, 231 S., differenziert); politisches Engagement (auch in Lang, Frankfurt a. M. u. a. 2016. antirepublikanischen Gruppen) und Denken; die Stellung zum Zentrum (Kap. 3) und zum Natio- Das zu rezensierende Buch ist die Veröffent- nalsozialismus (Kap. 6) – in beiden Fällen wurde lichung der Dissertation des US-Historikers keine einheitliche Antwort gefunden. Zwischen- Jeremy S. Roethler. Wie bereits der Titel klar durch werden theologische Betrachtungen (v. a. erkennen lässt, thematisiert der Autor in seinem zu Thomas von Aquin) angeführt, ohne dass Werk die Geschichte der katholischen Studen- die Rezeption des Denkens Aquins eingehend tenvereine (KSV) während der Weimarer Repu- analysiert wird; auch nicht im fünften Kapitel, blik. Die Geschichtsschreibung der Studenten ist in dem Roethler das Selbstbewusstsein und die noch lückenhaft, sodass man kann diese Publi- Weltanschauung der katholischen Studenten kation nur begrüßen kann. behandelt.

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 137 Im letzten Kapitel studiert Roethler die NS- einführende Beschreibung des Funktionierens und Nachkriegszeit. Wenn die katholische Kirche der drei Verbände ist nicht unrichtig, aber unge- und manche KSV vor 1933 die Mitgliedschaft nau und Roethler erwähnt nie, dass diese Aspek- in der NSDAP verboten, wurde dieses Verbot te (Farbentragen, Rituale, Veröffentlichung einer schon ab März beziehungsweise April 1933 ab- Zeitschrift, usw.) allgemein das Leben vieler Stu- geschafft. Hier sind mehrere Texte zu Gunsten dentenorganisationen prägten. Das gilt auch für Hitlers zitiert, ohne dass man die allgemeine die durch das NS-Regime erzwungene Auflösung Position der katholischen Studenten versteht. der Katholischen Verbindungen: Alle Studenten- Beispiele von CDU-Politikern und katholischen organisationen mussten sich auflösen. Dennoch Geistlichen (u. a. J. Ratzinger/Benedikt XVI.), könnte man nach der Lektüre des Buchs denken, die Mitglieder einer KSV waren, sollen hingegen dass nur die katholischen vom NS-Regime ver- den „Revival“ (S. 166) letzterer und die Teilnahme folgt wurden (S. 8, 163ff.). ihrer Mitglieder am Wiederaufbau Deutschlands Auch finden sich einige sprachliche Missver- nach 1945 illustrieren. Hier macht der Historiker ständnisse beziehungsweise „Halbverständnis- einen Schritt heraus aus seiner Disziplin und ver- se“: „Leibbursch: a term of high endearment. Leib sucht ein positives Bild von der nach 1947 wie- literally means body. Bursch translates directly to dergegründeten KSV zu zeichnen. lad, but is here equivalent to fraternity brother“ Zusätzlich zu der bereits geäußerten Kritik (Anm. 6, S. 183). Diese Definition vergisst die ist es nötig einige fragliche Punkte eingehend zentrale Autoritätsdimension. Ein Leibbursch ist zu diskutieren, weil sie die Problematik des ge- der „Pate“ eines Fuchses, das heißt eines neuen samten Buches illustrieren. Im Vorwort möchte Mitglieds. Letzterer war seinem Leibbursch un- Roethler dem Leser erklären, dass er unter dem terstellt, bis er als ordentliches Mitglied (Bursch) englischen Begriff „fraternity“ mehrere Arten von anerkannt wurde. Studentenorganisationen sammelt – was lobens- Eine weitere Schwäche von Roethlers Buch wert ist. Er macht aber viele Ungenauigkeiten und ist die mangelnde Berücksichtigung der Litera- Fehler. So schreibt er beispielsweise: „The older tur. Zahlreiche wissenschaftliche Bücher zum Corps […] used the abbreviated appellation ‚SC‘ Thema Studenten während der Weimarer Repu- (Senioren-Convent) at the end of their names, as blik gibt es nicht, dennoch sind zum Beispiel die in, the ‚Kösener SC‘“ (S. XI). Jedes Corps hieß wichtigen Werke Anselm Fausts zum National- beziehungsweise heißt „Corps ‚X‘ zu ‚Name der sozialistischen Studentenbund (2 Bde., 1973), Stadt‘“ (z. B. Corps Borussia zu Bonn). Ein SC ist Michael Katers zur Studentenschaft und Rechts- die Vereinigung mehrerer Corps einer einzelnen radikalismus (1975) oder, um jüngere Arbeiten zu Universität (es gibt den Bonner SC, usw.) und zitieren, die Forschungen Sonja Levsens (v. a. ihr der Kösener SC ist der älteste Nationalverband Buch „Elite, Männlichkeit und Krieg“, 2006) nicht der Corps. Roethler erforscht grundsätzlich nicht angeführt. Die Arbeit von Christopher Dowes zu die lokalen Vereine, sondern die drei nationalen den katholischen Studierenden des Kaiserreichs Verbände der katholischen Verbindungen: Der (2006) wird ebenfalls nicht vom Autor erwähnt. CV, der KV und der Unitas. An sich ist das kein Roethler hat sich auf veröffentlichte Quellen Problem: Es wird jedoch nicht begründet und der beschränkt. Beschränken scheint das passende Unterschied zwischen Verbänden und lokalen Wort, da man nur eine geringe Anzahl von Bü- Verbindungen wird nicht erklärt. chern, Broschüren und Zeitschriftenaufsätze Der Autor ist allgemein in seinen Auffüh- (v. a. aus den „Akademischen Monatsblättern“ rungen ungenau. So findet man in der Einfüh- des KV und der „Academia“ des CV) in der vom rung Sätze wie: „First allowed to enter German Autor verwendeten primären Literatur zählt. Er universities at the beginning of the 20th cen- hat keinen Archivbestand (von Vereinen, der tury, Catholic women […]“ (S. 6). Ein Leser, Universitäten etc.) bearbeitet. Viele seiner Aus- der die Studentengeschichte des vorigen Jahr- führungen, die auf dem Boden allgemeiner Ideen hunderts nicht kennt, könnte damit verstehen, bleiben, hätten dank einer solchen Forschung dass es nur katholische Frauen waren, die am vermutlich konkreter werden können. Anfang des 20. Jahrhunderts an der Universi- Diese Kritik soll weder eine Gelehrtenpole- tät akzeptiert wurden, während es in Wirklich- mik noch eine Liste von „Besserwisser-Details“ keit doch alle Frauen sind, die sich ab 1900 (in sein. Die komplizierte Welt der deutschen Stu- Baden, später in den anderen Bundesstaaten) denten hat Roethler aber nicht genug erforscht, offiziell immatrikulieren durften. Die kurze und was seine Hypothesen und Behauptungen

138 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen zum Teil schwächt und dazu führt, dass sie nur Weimar democracy, exemplified the frictions on oberflächlich bleiben. Letztlich erklären die an- the political right. geführten Kritikpunkte, wieso Roethlers zwei Divided into ten chapters, the book starts einführende Hypothesen keine klare Bestäti- with an introduction of the two main protagonists gung finden. Hindenburg and Hitler (Chapter One). Chap- ter Two concentrates on the power bargaining that brought Brüning the chancellorship and on Paris/Heidelberg Antonin Dubois his difficulties of dealing with the economic sit- uation in 1930. Jones demonstrates how keen Hindenburg and his entourage were on shifting The Battle for Leadership the Brüning cabinet to the right. Chapter Three takes us deeper into national conservative power Jones, Larry Eugene : Hitler Versus Hindenburg. struggles. Even though the so-called Harzburg The 1932 Presidential Elections and the End Front was meant to demonstrate unity of the dif- of the Weimar Republic, 425 pp., Cambridge ferent currents within the political right, it hardly UP, Cambridge 2016. concealed the fractions between the moderate National Conservatives, the Nazis and right-wing The fact that Hindenburg and Hitler faced each grass root organisations like the ‘Stahlhelm’. other in the 1932-election campaign over the In fact, Jones outlines over the following three presidency has slipped out of the academic focus: chapters (Four, Five and Six) how the fragile unity This is probably due to the more dramatic events of Harzburg publicly evaporated. He also shows in early 1933. Larry Eugene Jones’ book shows that there was no consensus on the political right the importance of the presidential elections and regarding the future type of government of the illustrates how the two rounds fragmented na- country. In the end, Hindenburg, Hitler and the tional conservative right-wing politics in 1932. By leader of the ‘Stahlhem’ Theodor Duesterberg using the presidential elections as his focus point, were running for the first round of the election. Jones develops a tapestry of political bargaining This constellation allowed Hitler to present him- and intrigue, negotiating and decision-making self as standing for those who had been disap- that allows a deep insight into the state of the po- pointed by the Brüning government and did not litical right in the last year of the Weimar Republic. want to vote for Hindenburg because the dem- His study also does a great job in reminding us ocratic forces backed the Reich president’s bid of a key political strategy pursued by the Nation- for a second term. National conservatives who al Socialists: The Nazi leadership did not believe were uneasy voting for the Nazi leader and did that they could win the battle for the highest po- not want to support the same candidate as the litical office of the Weimar Republic but aimed at Social Democrats could opt for Duesterberg. presenting Adolf Hitler as political alternative on Chapters Seven, Eight and Nine focus on the two a nation-wide level. In so doing, they hoped to presidential elections including the campaigning, raise Hitler’s political profile for the future with the shifting support in the two election rounds their eyes firmly on the Länder elections, espe- and the messages conveyed. The tenth and final cially in Prussia, that followed the battle for the chapter looks beyond the presidential elections presidency. by examining the Länder elections that followed Larry Eugen Jones places the presidential shortly afterwards. The rise of the Nazi party at elections within efforts to widen the appeal of the expense of the bourgeois parties was exactly right-wing politics in order to include the forces the result the National Socialists had hoped to on the political extreme. The failure of reaching achieve after the presidential elections had al- this unity weakened the National Conservatives ready weakened the political right. and strengthened the National Socialists. Jones Jones’ meticulous archival research provides shows that this fragmentation, and eventual dis- a wealth of material for this study and his knowl- integration, of the political right began well before edge of the sources and the archives is impres- the 1932-elections and partly reflected the dis- sive. At points, the very precise re-constructions appointment of the political right with Hindenburg of committee meetings, letter correspondence since he had become president in 1925. The fact or private conversations become a bit tiring and that Hindenburg, however unwillingly, became cloud a more vivid image that could have been the consensus candidate for those supporting painted of those on the German Right involved

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 139 in the political bargaining in 1932. A greater ex- Stimme zu Wort, die in der Rezeption des Volks- ploration of what recent studies on the cultural gemeinschaftsbegriffes ebenfalls eine „histo- history of politics in Weimar Germany could of- riografische Gegenwartsmode“ sieht. Schygas fer, would have been beneficial to examine the Auseinandersetzung mit „Begriff und historischer political framework in which these individuals felt Wirklichkeit“ orientiert sich allerdings an älteren, they were acting and what they expected of the vor allem soziologischen und ideologiekritischen future. The choice between Hindenburg and Hit- Ansätzen, die in die „Tiefen der NS-Volksgemein- ler was also a choice between the past and the schaft“ (S. 11) einzudringen versuchten, jedoch future. Works with a focus on political culture, „versandeten“. Dazu zählt er neben den Studien future expectations, crisis concepts and nation- von Franz Neumann, die in der Tat nur sehr zö- al conservative grass root level would have fitted gerlich rezipiert wurden, die seines Mentors Ger- nicely here. Despite this criticism, the book offers hard Schäfer. a very knowledgeable and authoritative account Um dessen systemkritische Studien wieder of events leading up to the presidential elections, aus der Vergessenheit zu holen und zu einer ge- the election campaigns and its consequences for sellschaftstheoretischen Unterfütterung der aktu- the political landscape in Germany. It is an im- ellen, vorwiegend empirisch angelegten Studien portant study for those interested in the dramatic zur Wirkungsweise der NS-Volksgemeinschafts- final year of the Weimar Republic and, particular- verheißung zu nutzen, will er unter Berufung auf ly, for its examination of right-wing politics in this die Konzepte von Max Weber, Franz Neumann time period. und eben Gerhard Schäfer nach den „sozia- len Schubkräften“, das heißt den „materiellen und ideologischen Elementen“ fragen, die den Colchester Nadine Rossol „Vorstellungen und der Realität einer deutschen Volksgemeinschaft“ zugrunde liegen (S. 22). Im Mittelpunkt seiner Re-Interpretation sollen Zum Volksgemeinschaftskonzept darum die für die Analyse einer kapitalistischen Gesellschaft zentralen Begriffe von „Gewalt, Schyga, Peter : Über die Volksgemeinschaft Herrschaft, Arbeit, Ideologie und politische Re- der Deutschen. Begriff und historische Wirk- ligion“ (ebd.) stehen. Dazu werden in jedem Ab- lichkeit jenseits historiografischer Gegenwarts- schnitt ausführlich die einschlägigen Thesen der moden, 197 S., Nomos, Baden-Baden 2015. genannten Theoretiker referiert und mit eigenen Beobachtungen zur Regional- beziehungsweise Der Begriff der ‚Volksgemeinschaft‘ hat in der Lokalgeschichte der NS-Bewegung/NS-Herr- NS-Forschung seit mehr als einem Jahrzehnt die schaft in Braunschweig sowie der Harz-Regi- Rolle eines Leitbegriffes zur Entschlüsselung des on verbunden. Über die Verknüpfung mit den nationalsozialistischen Herrschafts- und Zustim- aktuellen Studien zur Wirkungsgeschichte der mungssystems erhalten. Mittlerweile haben sich NS-Volksgemeinschaftsverheißung wird dabei internationale wissenschaftliche Tagungen und wenig ausgesagt. regionale Forschungsprojekte der empirischen Als Fazit seiner Darstellung, die nach den Überprüfung der Mechanismen der NS-Diktatur genannten Kriterien gegliedert ist, stellt der Ver- aus der Perspektive des Volksgemeinschafts- fasser fest, dass sich die Parole von der ‚Volks- konzepts und der Frage nach dem tatsächlichen gemeinschaft‘ auf ihren ideologischen Kern Ausmaß, den Formen und Motiven der Zustim- reduzieren lasse, der in einer „gefühlten Rassen- mung von Teilen der deutschen Gesellschaft zur gemeinschaft“ bestehe und auf einer völkisch-im- NS-Diktatur sowie der analytischen Tragfähigkeit perialen Ideologietradition basiere (S. 125). Die des Volksgemeinschaftskonzepts angenommen. Deutschen verstanden sich damit in einer Geg- Das hat allerdings nur wenig an der fortdauern- nerschaft zu einer Gesellschaft, „wie sie in der den Kritik dieses Erklärungsansatzes geändert, Moderne als Zusammenschluss Gleicher zum dem vor allem die unkritische Übernahme eines Aufbau und der Pflege eines Gemeinwesens nationalsozialistischen Mythos oder Propaganda- in diskursiver Auseinandersetzung entwickelt“ begriffes vorgehalten wurde, der wenig mit der (ebd.) worden sei. Dass mit dieser Form eines sozialen Realität des NS-Regimes zu tun habe. Antimodernismus gerade die Gesellschaftsge- Mit der Studie des Politikwissenschaftlers schichte des NS-Regimes nicht ausreichend Peter Schyga meldet sich eine andere kritische beschrieben werden, steht schon seit längerer

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Zeit außer Frage; auch für diejenigen Autoren, doch eine solche Aussage übersieht unter an- die der zugespitzten und von Schyga vehement derem die Wirkung der Verlockungs- und Beloh- abgelehnten Charakterisierung der deutschen nungsaspekte der NS-Sozialpolitik und sie lässt Gesellschaft als einer „Leistungsgesellschaft“ den Entwicklungsfaktor der Politik des Regimes durch Hans-Ulrich Wehler nicht unbedingt folgen außer Acht. würden. Diese und andere Ungereimtheiten, die den Mit der Erfindung der Arbeit als einer „ger- Aussagewert einiger durchaus zustimmungsfähi- manoanthropologischen Kategorie“ (S. 125) ger Beobachtungen mindern, verweisen auf das hätten, so urteilt Schyga abschließend, die Grundproblem der Arbeit, die mehr den Charakter NS-Ideologen eine Gemeinschaft jenseits aller eines Essays hat: Der Verfasser entwickelt kei- Klassengegensätze versprochen. Welche Wir- ne stringente Fragestellung oder Gliederung und kungs- und Legitimationsmechanismen davon kommt durch Exkurse auch immer wieder vom ausgingen, wird jedoch nicht weiter behandelt. Thema ab. Dass die Studie dann völlig abrupt, Viele Thesen des Verfassers sind vor dem ohne eine Schlussbetrachtung endet, gehört zu Hintergrund einer langen Geschichte der ideo- diesen Ungereimtheiten. Einen weiterführenden logiegeschichtlich orientierten NS-Forschung Beitrag zu der wissenschaftlichen Debatte um die nicht neu und sicherlich auch nicht falsch. Aber Tragfähigkeit und Erkenntnisleistung des Volksge- sie greifen dennoch zu kurz. So wird das soziale meinschaftskonzeptes bietet die Studie jedenfalls Profil der NS-Bewegung in seiner Heterogenität nicht. nur unzureichend erfasst; es werden vielmehr ältere Erklärungen, wie der Hinweis auf „deklas- Münster Hans-Ulrich Thamer sierte Mittelschichten“ oder ein „Lumpenproleta- riat“ als soziale Basis zustimmend herangezogen, mit den sozialistische Autoren schon in der Zwi- schenkriegszeit das neuartige Phänomen der Justiz und Volksgemeinschaft NS-Massenbewegung zu erklären versuchten und dabei die für die Arbeiterbewegung durch- Schoenmakers, Christine : „Die Belange der aus bedrohlichen Mobilisierungsstrategien der Volksgemeinschaft erfordern…“. Rechtspraxis NSDAP verkannt hatten. Dass die SPD in der und Selbstverständnis von Bremer Juristen im Weimarer Republik ihrerseits durch die Verwen- „Dritten Reich“, 498 S., Schöningh, Paderborn dung des verführerischen, aber nach dem Urteil u. a. 2015. des Verfassers durch und durch kontaminierten Volksgemeinschaftsbegriffs ihrerseits zu der Ver- Über den Nutzen von „Volksgemeinschaft“ als wirrung der „Massen“ beigetragen hat, darf dann Analysemodell für ein besseres Verständnis auch als Argument nicht fehlen. Warum es aber der NS-Gesellschaft ist in den letzten Jahren ausführlich in einem längeren Exkurs dargestellt viel diskutiert worden. Gesellschaftliche In- und wird, bleibt ein Problem des Verfassers (und des Exklusionsprozesse wurden in der Folge aus Lektors). Die Rezeption neuerer sozialgeschicht- unterschiedlichen Perspektiven einer (neuen) licher Forschungen zur Resonanz volksgemein- Betrachtung unterzogen. Christine Schoenma- schaftlicher Verheißungen in unterschiedlichen kers fragt in ihrer geschichtswissenschaftlichen sozialen Milieus wäre sicherlich weiterführender Dissertation nun, inwieweit das von Michael Wildt gewesen. Schließlich soll durch den unreflek- und anderen geprägte Modell neue Erkenntnisse tierten Rückgriff auf das auch in der aktuellen zum Agieren der (Straf-)Justiz liefern kann. Unter Forschungsdiskussion als sehr problematisch dem Strich kommt sie zu einigen Erklärungsan- verstandene Konzept der „politischen Religion“, sätzen, die die recht gut aufgestellte Forschung das vor allem von Eric Voegelin in den späten zur NS-Justiz an manchen Punkten bereichern. 1930er Jahren entwickelt wurde, die Opfer- und Konkret geht es Schoenmakers darum, „die Glaubensbereitschaft der „kleinen PG’s“ erklärt Wirkung der nationalsozialistischen Volksgemein- werden. Sicherlich hatten auch die eschatolo- schafts-ideologie auf der Ebene sozialer Alltags- gischen Heilsversprechen, die die NS-Inszenie- praxis“ (S. 47) nachzuvollziehen. Ihr Fallbeispiel rungen prägten, vor allem in der Aufstiegs- und der Bremer Justiz betrachtet die Autorin hierfür ihren Machtsicherungsphase der NSDAP Anteil auf drei Feldern. an der Zustimmungsbereitschaft von Teilen einer In einem ersten Schritt gilt der Blick der in sozialer Angst lebender Massengesellschaft; Rechtsprechung. Die Gerichtssäle waren jene

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 141 Orte, an denen die Richter mit jedem Urteil die Restauration alter Gewissheiten und eine nati- Außengrenzen der „Volksgemeinschaft“ defi- onale Regeneration, während die jüngeren Ju- nierten. Offene Straftatbestände und weite Er- risten mit „Volksgemeinschaft“ Aufbruch und die messensspielräume versetzten sie in die Lage, Idee einer Jugendbewegung verbanden. Mit dem diese Grenzziehung flexibel und angepasst an vagen Begriff der „Volksgemeinschaft“ ließ sich den sich wandelnden NS-Gegner- und Volksge- so ideal eine Zielgruppenpolitik betreiben, da er meinschaftsbegriff zu handhaben. Die sorgfältig allen alles versprach, wobei er insbesondere bei recherchierten Befunde zur Bremer Rechtspre- den Juristen einen bestimmten „Nerv getroffen chung bestätigen hierbei einmal mehr die bereits zu haben“ (S. 183) schien. Deutlich wird zudem, bekannten Grundzüge der NS-Strafjustiz, die dass die Zustimmung zum Regime Dissens und sich durch eine stete Radikalisierung der Spruch- politische Konflikte im Alltag nicht ausschloss. praxis und eine zunehmende Entgrenzung der Da letztere sich jedoch primär auf die Durchset- justiziellen Verfolgung kennzeichnete. zung lokaler und individueller Interessen bezo- Neue Akzente setzt die Studie in diesem ers- gen, stellten sie die grundsätzliche Bejahung des ten Teil, indem sie nach der vom Regime inten- Regimes und den Glauben an seine Verheißun- dierten Erziehungsfunktion der Rechtsprechung gen nicht infrage. fragt. Anhand von prägnanten Beispielen – Den Karrierewegen und dem Fortwirken der etwa der Arbeit der Justizpressestellen – wird NS-Ideologie nach 1945 ist der abschließende vor Augen geführt, dass die Justiz neben der dritte Teil der Studie gewidmet. Die Darstellung Strafverfolgung auch immer das Ziel verfolgte, der Entnazifizierung und strafrechtlichen Ahnung im Gerichtssaal und darüber hinaus ein bestimm- von NS-Verbrechen bestätigen einmal mehr die tes Bild von „Volksgemeinschaft“ zu präsentieren bekannten Entwicklungen. Die erkennbare „Re- und die öffentliche Zustimmung zur Ausgren- stauration langlebiger personeller Strukturen“ zung von „Gemeinschaftsfremden“ zu steigern. (S. 347) kennzeichnen Bremen nicht als Son- Der Gerichtssaal fungierte somit auch als „The- derfall, sondern vielmehr als typisch. Eine fort- aterbühne“ zur öffentlichen „Manifestation einer währende Wirkmacht der Vorstellung einer ‚Volksgemeinschaft‘“ (S. 110) und die Verhand- „Volksgemeinschaft“ macht die Autorin vor allem lung als „politisches Lehrstück“ (S. 155). Die auf bei der Frage nach der individuellen Aufarbeitung der Hand liegende Frage nach der Reichweite der NS-Vergangenheit aus, wobei die Befunde dieses Erziehungsanspruchs bleibt jedoch weit- an dieser Stelle ein wenig gezwungen wirken. So gehend offen, was jedoch primär dem Mangel blieb die „Volksgemeinschaft“ nicht nur ein ver- an entsprechenden Quellen geschuldet ist – ein klärender Bezugspunkt in der Rückschau auf die Problem, das sich grundsätzlich bei der Frage NS-Zeit. Vielmehr beförderte die Volksgemein- nach der gesellschaftlichen Rezeption von Recht- schaftsideologie nach 1945 die Überzeugung, sprechung stellt. moralisch richtig gehandelt zu haben, da der Im zweiten Teil der Studie wendet sich die Ausschluss von „Gemeinschaftsfremden“ in ihrer Autorin den Akteuren der Bremer Strafjustiz zu, Logik nicht als barbarisch, sondern als nachvoll- den Richtern und in Abstrichen den Staats- und ziehbar und notwendig erschien. Rechtsanwälten. Leitend ist dabei die Frage Abschließend lässt sich sagen, dass die vor- nach den Gründen ihres im ersten Teil der Studie liegende Studie zur Bremer Justiz in den meisten konstatierten bereitwilligen Mitmachens. Die an- Punkten die bekannten Befunde zur NS-Jus- geführten biografischen Beispiele führen einmal tiz bestätigt. Der Mehrwert des Analysemodells mehr eine Gemengelage von Zwang und Druck „Volksgemeinschaft“ lässt sich weniger mit Blick auf der einen sowie Akzeptanz und Zustimmung auf die Rechtsprechung, sondern in erster Linie auf der anderen Seite vor Augen, wobei die Au- bei der Analyse von Motivlagen der handelnden torin letzteres als relevanter einstuft. Eine ihrer Akteure ausmachen – einem Feld, das sich er- schlüssig entfalteten Thesen ist es, dass vor al- fahrungsgemäß jedoch schwer empirisch fassen lem die propagierte Utopie einer „Volksgemein- lässt und Kreativität bei der Quellenrecherche schaft“ die Juristen generationenübergreifend voraussetzt. Dass es sich lohnt, sich dieser ansprach und somit Bindekraft entfaltete. In mühsamen Aufgabe zu stellen, hat Christine ihrer bewusst offen und vage gehaltenen Form Schoenmakers mit ihrer Studie beeindruckend bot sie Raum für ganz unterschiedliche Erwar- aufgezeigt. tungen, Wünsche oder Projektionen. So ver- hieß sie für die Frontkämpfergeneration eine Weimar Michael Löffelsender

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Gefangen im NS-Zuchthaus in München. Weitere Archivalien befinden sich Brandenburg im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, im Bundesarchiv Berlin (insbesondere: „Stiftung Ar- Ansorg, Leonore : Politische Häftlinge im natio- chiv der Parteien und Massenorganisationen der nalsozialistischen Strafvollzug. Das Zuchthaus DDR“) und weiteren Archiven. Brandenburg-Görde, 555 S., Metropol, Berlin Angesichts der hier kurz angedeuteten 2015. schwierigen Ausgangslage hat sich Ansorg „spe- ziell auf die Situation der politischen Häftlinge […] Das Zuchthaus Brandenburg-Görden ist ein in fokussiert“ (S. 16). Sie beschreibt ausführlich den letzten Jahren umfassend erforschtes Ge- die Haftbedingungen (Aufnahme, Unterkunft, fängnis. Nach Sylvia de Pasquales (Leiterin Ernährung, medizinische Versorgung, Arbeit, Ta- der Gedenkstätten Brandenburg an der Havel) gesablauf, Strafen, Umerziehung und die Rolle bereits 2013 veröffentlichter Dissertation „Zwi- der kriminellen Häftlinge). Die Historikerin er- schen Resozialisierung und ‚Ausmerze‘. Strafvoll- innert relativ detailliert an die „rassistische Aus- zug in Brandenburg an der Havel (1920–1945)“ grenzung jüdischer Gefangener“ (S. 152–165) hat nun Leonore Ansorg ihre Studie über „Po- und stellt dazu fest: „Insgesamt waren jüdische litische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Gefangene eher Diskriminierungen und verbalen Strafvollzugsanstalt Brandenburg“ um eine Publi- Attacken ausgesetzt als nichtjüdische deutsche kation zur NS-Zeit ergänzt. Bereits vor vier Jahr- Gefangene“ (S. 165). zehnten erfolgte in der DDR die Veröffentlichung Das Buch informiert dann weiter über die „Gesprengte Fesseln. Ein Bericht über den an- Lage der politischen Häftlinge vor und nach Be- tifaschistischen Widerstand und die Geschich- ginn des Zweiten Weltkrieges und das Zucht- te der illegalen Parteiorganisation der KPD im haus als Hinrichtungsstätte. Das Kapitel V Zuchthaus Brandenburg-Goerden von 1933 bis über die „Häftlingsgesellschaft der Politischen 1945“ von den ehemaligen Häftlingen Max Fren- in Brandenburg-Görden“ (S. 325–479) ist als zel, Wilhelm Thiele und Artur Mannbar (1975). das Kernstück der Studie anzusehen. Danach Als Korrektiv zu dieser einseitigen Darstellung ist hat es unterschiedliche Gruppen politischer das von Walter Uhlmann (ebenfalls ehemaliger Gefangener gegeben: Neben einer Majorität Gefangener) herausgegebene Buch „Sterben kommunistischer Häftlinge und einigen sozial- um zu leben. Politische Gefangene im Zuchthaus demokratischen Gefangenen ist der Anteil der Brandenburg-Görden 1933–1945“ (1983) er- Inhaftierten aus kleinen politischen Gruppen schienen. Angesichts dieser vorliegenden Schrif- bemerkenswert: Leninbund, Kommunistische ten erscheint es schwer, wesentlich neues über Arbeiterpartei Deutschlands, trotzkistische Grup- politische Gefangene in Brandenburg-Görden pierungen. „Zu der prozentualen Zusammenset- herauszufinden. zung der politischen Gefangenen gibt es jedoch In der Einleitung weist Ansorg auf die bereits keine statistischen Angaben“ (S. 328). Ansorg „nach der Befreiung“ (S. 9) gegründete „Arbeits- konstatiert – für den Rezensenten in der for- gemeinschaft der ehemaligen politischen Häft- mulierten Absolutheit wenig überzeugend – ein linge des Zuchthauses Brandenburg-Görden“ „Gemeinschaftsgefühl unter politischen Häftlin- hin, die zunehmend von SED-Mitgliedern do- gen des gegenseitigen Beistands“ (S. 368). miniert wurde. Hier erfolgte die Stilisierung des Begleitet wird das Kapitel von drei Ex- Zuchthauses zum „Symbol des kommunistischen kursen über die politischen Häftlinge Olav Widerstands“ (ebd.). Das Engagement des ehe- Brennhovd (evangelischer Pastor aus Norwe- maligen politischen Häftlings Walter Hammer und gen), Erich Honecker und Robert Havemann das von ihm konzipierte Forschungsinstitut Bran- sowie – anknüpfend an die Rolle der Funk- denburg beim Landesarchiv Potsdam konnten tionshäftlinge – Kurzbiografien von Gefan- dagegen wenig ausrichten, bis Hammer 1950 genen in Häftlingsfunktionen. Zum Thema „fluchtartig die DDR verließ“ (S. 13). „Das von „Illegaler Widerstand und die Rolle der KPD- ihm gesammelte umfangreiche Quellenmaterial Organisation“ (S. 428–451) fasst Ansorg – auch wurde auseinandergerissen und auf verschiede- nicht vollständig überzeugend – resümierend ne Archive verteilt, manches davon kam abhan- zusammen, „dass es im Zuchthaus einen brei- den“ (ebd.). Bis zu seinem Tod 1966 hat Hammer ten Widerstand von politischen Häftlingen ge- weiterhin geforscht. Das „Archiv Walter Hammer“ geben hat, die sich gegenseitig Halt gaben, befindet sich heute im Institut für Zeitgeschichte Informationen austauschten, mit Lebensmitteln

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 143 unterstützten und auf vielfältige Weise Solidarität Weder die Vernichtungsstrategien der Nazis noch übten“ (S. 451). Andererseits stellt sie durchaus die Erinnerungen der Opfer waren geschlechts- politische Differenzen fest: „Nach wie vor sah ein neutral. Trotzdem hat die Holocaustforschung die Teil der Kommunisten vor allem ihre Aufgabe da- analytische Kategorie gender bislang nur wenig rin, Sozialdemokraten und ihnen nahestehende genutzt. Margret Grafs Untersuchung von auto- Gesinnungsgenossen ihren Standpunkt zu okt- biografischen Texten von jüdischen Holocaust- royieren und nicht etwa in einem gemeinsamen überlebenden versucht diese Forschungslücke Lernprozess zu treten“ (S. 470). Über diese und zu schließen, indem sie der Frage nachgeht, wie andere aus den Erinnerungsberichten von Häft- weibliche und männliche Überlebende den natio- lingen heraus gefilterten und andere mögliche nalsozialistischen Terror, der auf die Vernichtung Interpretationen ließe sich sicherlich diskutieren, ihrer Identität abzielte, erlebten und erinnerten. so auch über die Relevanz des folgenden Sat- Der Studie gelingt es überzeugend, die zentrale zes: „Der Kommunist Walter Hochmuth führte Rolle des Geschlechts als Referenzrahmen für mit dem Sozialdemokraten Gustav Dahrendorf, das Erinnern herauszuarbeiten und liefert so den der im Herbst 1944 ins Zuchthaus Brandenburg Beleg, dass es keine Identität außerhalb von Ge- kam, Gespräche über die Verschmelzung zu einer schlechterkategorien gibt. Arbeiterpartei“ (S. 478). Basierend auf der Analyse von 100 auto- Abschließend stellt Ansorg die letzten Tage, biografische Texten von jüdischen Überlebenden die Befreiung und die Auflösung des Zuchthau- des KZ Auschwitz-Birkenau untersucht die Auto- ses dar und setzt sich mit der „Mythenbildung rin in drei Kapiteln, wie gender beziehungsweise über die Selbstbefreiung des Zuchthauses unter der Prozess des doing gender mit den Kategorien Führung der kommunistischen Parteiorganisa- Körper, Sexualität und Identität zusammenwirken. tion“ (S. 481) auseinander: „Selbstbefreiung im Das erste Kapitel, das sich dem Körper widmet, Sinne von Widerstandshandlungen fand nicht analysiert wie Überlebende rituelle Schlüsselmo- statt. Aber es ist das Verdienst der politischen mente des KZs, wie das Kahlscheren oder die Gefangenen und ihres Gefangenenausschusses, Tätowierung der Häftlingsnummer, erlebten und dass die Übergabe des Zuchthauses an die Rote erinnerten. Aufbauend auf Judith Butlers These, Armee gewaltfrei und ohne eigene Verluste er- dass die Geschlechtsidentität Produkt des Zu- folgte, worauf sie sich im Illegalen lange vorberei- sammenspiels beziehungsweise der „Zwangs- tet hatten“ (S. 521). ordnung“ von sex , gender, (hetereosexual) desire In dem Ausblick „Politische Gefangene im (S. 119) ist, zeigt die Autorin, was passiert, wenn Zuchthaus Brandenburg nach 1945“ (S. 523– einer dieser Aspekte gestört wird. Anders als 530) wird auf die Geschichte des Gefängnisses viele männliche Inhaftierte erlebten Frauen die in der Verantwortung des Ministeriums der Justiz Kahlrasur als traumatische Erfahrung: Der Verlust des Landes Brandenburg und des Innenministe- des weiblichen Haares – eines traditionell wich- riums der DDR bis zur Unterstellung unter das tigen Weiblichkeitssymbols – erschütterte die Ministerium der Justiz des neuen Bundeslandes (geschlechtliche) Identität der Frauen nachhaltig. Brandenburg hingewiesen. Das zweite Kapitel nimmt den Aspekt der Auch wenn die Arbeit nicht in Gänze Zustim- Sexualität in den Blick, den das nationalsozialis- mung findet, bietet die auf breiter Quellengrund- tische Lager-System mittels rigider Geschlech- lage basierende voluminöse Studie eine Fülle von tertrennung und systematischem Aushungern zu Diskussionsanreizen. unterdrücken suchte. Da die (hetero-)sexuelle Orientierung nach Butler ein Grundelement der geschlechtlichen Zwangsordnung und damit der Berlin/Potsdam Kurt Schilde geschlechtlichen Identität bildet(e), ist die Frage, wie sich die Inhaftieren unter den Bedingungen des Lagers ihrer Heterosexualität versicherten, von immenser Bedeutung. Graf beleuchtet die Identität und Geschlecht im Holocaust Frage der Akzeptanz der Homosexualität im Lager sowie das lange tabuisierte Thema des Graf, Margret : Erinnerung erschreiben. Gender- KZ-Bordells, dem sie unter dem Titel „Puppen- Differenz in Texten von Auschwitz-Überleben- häuser“ auch ein kurzes Schlusskapitel widmet. den, 287 S., Campus, Frankfurt a. M./New Ihre Analyse illustriert eindrücklich die perver- York 2015. se Logik des KZ-Systems, das einerseits die

144 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen sexuelle Identität der KZ-Insassen radikal zu zer- mehr als Männer oder Frauen zu erkennen waren stören suchte, andererseits einzelne Frauen zur und auf die Betrachter geschlechts- und damit Prostitution zwang. Allein auf den Körper redu- auch identitätslos wirkten. Grafs Analyse der Re- ziert, verlor dieser jedoch seine identitätsstiftende aktionen der Überlebenden auf die ‚Muselmän- Wirkung für die weiblichen Inhaftierten. ner‘ unterstreicht die Relevanz des Körpers für Das dritte Kapitel schließlich erörtert wie die geschlechtliche Identität. Wenn der Körper, KZ-Überlebende in ihren autobiografischen Tex- durch Kahlrasur oder Aushungern, nicht mehr ten auf die versuchte Demontage ihrer Identität geschlechtlich eindeutig lesbar ist, löst dies tiefe reagierten. Im Fokus steht die Eintätowierung Verunsicherung aus – sowohl bei der betroffenen der Nummer, mit dem die Nationalsozialisten die Person, deren geschlechtliche Identität unsicher Identität der Inhaftierten auszulöschen versuch- geworden ist, als auch bei den Betrachtern. ten – vergeblich, denn die Häftlinge behaupteten Als Leserin hätte ich mir von der Autorin sich gegen die Entindividualisierung auf vielfältige weniger Butler’sche Theorielast und größere Weise. Sorgfalt in der Verwendung historischer Begriffe Die Argumentation ist reflektiert und theo- (etwa die Differenzierung zwischen Konzentra- retisch gut fundiert. Allerdings hat die intensive tions- und Vernichtungslagern) gewünscht, vom Auseinandersetzung mit Judith Butlers radikal- Verlag ein gründlicheres Lektorat um sprachliche konstruktivistischen Geschlechtertheorien den und grammatische Unschönheiten auszubügeln. Nachteil, dass interessante Fallbeispiele in die Insgesamt aber ist der Autorin zu ihrer Arbeit zu Fußnoten verbannt und fruchtbare andere ge- gratulieren, denn sie erweitert Primo Levis’ Fra- schlechtertheoretische Ansätze vernachläs- ge „Ist das ein Mensch?“ um eine geschlechtliche sigt werden. Zwar erwähnt die Autorin Raewyn Dimension und leistet damit einen wichtigen Bei- Connells Konzept der männlichen Hegemonie, trag zur Holocaustforschung. lässt es aber ungenutzt, um die Funktion und Wirkungsweise männlicher Hierarchien für die Trondheim Maria Fritsche Konstruktion männlicher Identitäten zu beleuch- ten und ihre Anwendbarkeit auf Weiblichkeit zu überprüfen. Die Äußerungen Primo Levis zu den ‚Saloniki-Juden‘, die er als stark und unbeugsam Gehen und/oder Bleiben? und somit als ‚echte‘ Männer als ihm überlegen schildert, oder auch seine Überraschung ange- Jünger, David : Jahre der Ungewissheit. sichts nackter alter Männer, deren Anblick er als Emigrationspläne deutscher Juden 1933– bürgerlicher Mann nicht gewohnt war, können nur 1938, 440 S., Vandenhoeck & Ruprecht, Göt- verstanden werden, wenn Männlichkeit im Plural tingen 2016. gedacht und die Rolle von klassen- oder regio- nalspezifischen Vorstellungen von Männlichkeit in Gehen oder Bleiben? Das war eine der grund- den Blick genommen werden. Auch das Beispiel legenden Fragen, welche sich (nach nationalso- der SS-Mannschaften, welche völlig geschwäch- zialistischer Definition als solche kategorisierte) te französische Gefangenen zu einem Besuch im Juden nach der ‚Machtergreifung‘ stellten. Gab KZ-Bordell zwangen, um sich an ihrer Unfähig- es eine Zukunft in Deutschland? Oder sollte man keit den Geschlechtsakt zu vollziehen zu weiden, das Land so schnell wie möglich verlassen? Eine hätte von Connells Überlegungen zum Verhältnis aus heutiger Sicht leicht zu beantwortende Frage, von Macht und Männlichkeiten profitiert. welche auf ein äußerst komplexes Themenfeld Die starke Fokussierung auf Butlers Theo- verweist. Nicht selten wird hierbei (unterschwel- rien beeinträchtigt außerdem die Lesbarkeit des lig) ein wertendes und anachronistisches Urteil Buches und erschwert einem breiteren Publikum gesprochen: Wieso flohen die Verfolgten nicht den Zugang zu diesem interessanten Thema. Wo früher vor dem Holocaust? sich die Autorin von Butlers Einfluss freischwimmt Nicht so bei David Jünger, zur Zeit Wissen- und mehr auf die Überzeugungskraft ihrer eigenen schaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Jüdische Überlegungen vertraut, gewinnt der Text deutlich. Studien Berlin-Brandenburg und an der Freien Dies illustriert etwa die spannende Diskussion des Universität Berlin. In seinem Werk „Jahre der Un- Phänomens der ‚Muselmänner‘ – jener KZ-Insas- gewissheit“, einer überarbeiteten Version seiner sen, die sich in einem so elendigen körperlichen am Simon-Dubnow-Institut entstandenen Dis- Zustand befanden, dass sie rein äußerlich nicht sertationsschrift aus dem Jahre 2013, betrachtet

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 145 er das Thema Emigration aus NS-Deutschland der zunehmenden Radikalität der antijüdischen während der Jahre 1933 bis 1938 „aus der Per- Maßnahmen von einer individuellen Angele- spektive einer noch offenen Entwicklung, einer genheit hin zu einem mehr oder weniger koor- noch unbekannten Zukunft“ (S. 22). Sein Fokus dinierten, kollektiven Prozess. Divergierende liegt hierbei auf den „historischen Erfahrungen politische und ideologische Positionen sowie die der Zeitgenossen“ (S. 23). Jünger geht in seinem innerdeutsche und internationale politische Situ- Buch infolgedessen der Frage nach, „welche Be- ation waren die Gründe dafür, dass die schließ- deutung das Thema Emigration in den individu- lich sogar auf internationaler Ebene geführten ellen und kollektiven Zukunftsplanungen besaß“ Verhandlungen letzten Endes scheiterten. (S. 13) und auf welche Weise sich diese im Laufe Jüngers Werk ist sehr ansprechend konzi- der Zeit veränderten. Seine These ist, „dass sich piert und geschrieben. Gekonnt verbindet er die die Strategien und Diskussionen der deutsch-jü- Darstellung der Ereignisse und Diskussionsthe- dischen Politik […] aus den zeitgenössischen men auf den unterschiedlichen Ebenen: vom In- Erfahrungsbeständen speisten: zum einen aus dividuum, den unterschiedlichen Gruppierungen der jüdischen Geschichte […] und zum anderen hin zu nationalen und internationalen Institutio- aus den historischen Erfahrungen mit jüdischer nen. Besonders die differenzierte Betrachtung Migration, mit dem jüdischen Status in national- der deutschen Zionisten fällt positiv auf. Zahlrei- staatlichen Ordnungen und mit dem Verhältnis che Zitate und auch biographische Informationen der Diasporajudenheiten zueinander“ (S. 24). konkretisieren die Schilderungen der komplexen Jünger strukturiert seine Studie auf dreier- Prozesse. Passive Opfer macht er zu handeln- lei Weise: (1) Zum einen geht er chronologisch den Subjekten. Die Einbindung der politischen vor, stets die Prozesshaftigkeit der Ereignisse Geschichte rundet das Bild ab. Der Anhang ist betonend. In drei Hauptkapiteln schildert er in umfangreich, das Abkürzungsverzeichnis und das Zweijahresschritten (1933/34, 1935/36 und Personenregister erleichtern die Lektüre. Die 1937/38) den Wandel in der Emigrationsdiskus- Vielfältigkeit des analysierten Quellenfundus (un- sion. (2) Zweitens prüft Jünger seine Fragestel- ter anderem Lebenserinnerungen, Korrespon- lung auf vier Ebenen. Auf einer ersten analysiert denzen, Zeitungen, Akten deutscher Behörden er öffentliche Debatten zur Emigrationsthematik, und jüdischer Organisationen) überzeugt. Die As- auf einer zweiten die Planung der kollektiven pekte der Binnenmigration und der Kindertrans- Emigration innerhalb jüdischer Institutionen. Die porte finden hingegen nur am Rande Erwähnung. dritte Analyseebene umfasst die Emigrationsplä- Ebenso die Gruppe der sogenannten ‚Ostjuden‘ ne zur ‚Lösung der Judenfrage‘ als Grundlage und die Praxis der Emigration. Die Schilderung für Verhandlungen mit dem NS-Regime. Auf der der Jahre 1937/38 sowie das Fazit fallen relativ vierten Ebene untersucht der Verfasser indivi- knapp aus. duelle Entscheidungsprozesse. (3) Eine dritte Gehen und/oder Bleiben? Jünger resümiert Art der Strukturierung nimmt der Autor anhand gegen Ende seines Buches, „dass die dichoto- der Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen jüdi- me Frage von Gehen oder Bleiben nicht zu be- schen (politischen) Gruppierungen vor: den Libe- antworten, dass sie vermutlich als solche falsch ralen, den Zionisten, den Orthodoxen und den gestellt ist“ (S. 239). Die Geschichte der jüdi- Deutschnationalen. schen Auswanderung aus dem nationalsozialis- Ausführlich schildert der Autor die Entschei- tischen Deutschland ist äußerst vielschichtig, ist dungsprozesse zur individuellen und kollektiven eine der Emigration und des Verweilens zugleich, Emigration und die zahlreichen Faktoren, von des Wartens wie des Aushaltens, mitunter auch denen diese abhängig waren. So etwa vom eine der Remigration. Jünger bietet einen tiefen Selbstverständnis als Jude und/oder Deutscher Einblick in diese Thematik mit der Erkenntnis, oder von Fragen nach Selbstbesinnung und/ dass sich allgemeingültige Aussagen kaum ge- oder -behauptung. Jünger konstatiert in sei- ben lassen. Fest steht, dass die Bedingungen ner Studie einen Wandlungsprozess. Während zur Emigration im Laufe der Zeit immer schwie- man in den unmittelbar auf die ‚Machtergrei- riger und die Betroffenen von der immer stärker fung‘ folgenden Monaten eher von einer Flucht zunehmenden Dynamik der Ereignisse überwäl- (jüdisch-)politischer Gegner des Regimes ins tigt wurden. Das ‚Schicksalsjahr 1938‘ (Avra- Exil sprechen kann und weniger von jüdischer ham Barkai) wurde bekanntermaßen zur Zäsur. Emigration, wandelte sich die Fragestellung in Nach der ersten Fluchtwelle 1933 hatten bis den kommenden Jahren unter dem Eindruck zum Novemberpogrom jährlich etwa 20.000 bis

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25.000 Juden Deutschland verlassen, nach dem Die Untersuchung geht auf eine 2013 bei Pogrom flüchteten innerhalb eines Jahres circa Heiko Haumann an der Universität Basel abge- 100.000 Juden. 1941 wurde die Emigration vor schlossene Doktorarbeit zurück. Die Verfasserin dem Hintergrund der nationalsozialistischen Ver- hat eine Unmenge von Quellen in Polen, Israel nichtungspolitik schließlich verboten. Vielen ge- und Deutschland herangezogen, die einschlä- lang die Flucht nicht mehr. gige Archivüberlieferung analysiert und greift zudem auf Selbstzeugnisse und Befragungen zahlreicher Beteiligter zurück; mehrere Dutzend Darmstadt Anja Pinkowsky lebensgeschichtliche Interviews hat sie selber durchgeführt. Friedla setzt ein mit einer Schil- derung jüdischer Lebenswelten in den Jahren, Jüdische Lebenswelten in Breslau als die staatliche Diffamierung und antijüdische Gewalt eskalierten und in die Austreibung und Friedla, Katharina : Juden in Breslau/Wrocław Ermordung der jüdischen Breslauer mündeten. 1933–1949. Überlebensstrategien, Selbstbe- Dabei geht es zum einen um deren Handlungs- hauptung und Verfolgungserfahrungen, 552 S., spielräume und Reaktionen auf die sich radi- Böhlau, Köln u. a. 2015. kalisierende Verfolgung. Manche schufen sich Überlebensstrategien, um sich gegen die Widrig- Katharina Friedla widmet sich in ihrer Studie keiten zu behaupten. Dies wiederum ging einher über Juden in Breslau/Wrocław zwischen 1933 mit bestimmten Identitätskonstruktionen, denen und 1949 einem schwierigen Unterfangen. die Verfasserin nachgeht. Bis 1940 sollte noch Handelt sie doch von jüdischen Breslauerinnen nahezu die Hälfte der jüdischen Breslauer im und Breslauern, die ihr Leben in zwei Staaten Land verbleiben. Nach Deportationen in die schle- unter verschiedenen Regimen einrichten muss- sischen Durchgangslager Tormersdorf, Grüs- ten – zunächst in Hitlers ‚Drittem Reich‘, dann sau und Riebnig folgte im November 1941 ein im Volkspolen unter der „polnisch-sowjetischen Todestransport Breslauer Juden nach Kaunas – Doppelherrschaft“ (S. 347). unter ihnen die Chronisten Willy Cohn und Walter 1933 war Breslau die drittgrößte Jüdische Tausk (*1890), deren Tagebuchaufzeichnungen Gemeinde in der Weimarer Republik, wobei zu glücklicherweise erhalten blieben. Tausende wei- den mehr als 20.000 jüdischen Breslauern auch tere wurden bis 1944 nach Izbica, Theresienstadt über 2.000 Juden gehörten, die in Polen zur und Auschwitz in den Tod verschleppt. Bei Kriegs- Welt gekommen waren. Von dem reichen Erbe ende hielten sich in der Stadt, zumeist im Verbor- der jüdischen Deutschen aus Breslau hat auf- genen, nur noch einige jüdische Zwangsarbeiter grund des nationalsozialistischen Vernichtungs- und Ehepartner aus christlich-jüdischen Ehen auf. werks kaum etwas überdauert. Manche ihrer Mit dem Schicksal derjenigen, die solchen Verbin- Personen und Einrichtungen sind daher völlig in dungen entstammten, beschäftigt sich Friedla in Vergessenheit geraten. In der Bonner Republik einem eigenen Kapitel (S. 299–321). schafften es die Erfahrungen der vertriebenen Zum anderen ergibt sich aus dem gewähl- und ermordeten Juden – im Unterschied zu den ten Zeitabschnitt, der eigentlich bis 1968 reicht, Mitteilungen und Berichten der nichtjüdischen die Frage nach den Schnittstellen zwischen dem Vertriebenen aus Niederschlesien – nicht in die jüdischen Leben vor und nach dem Übergang sich formierende Kollektiverinnerung. Auch in der Stadt an Polen. Im Mittelpunkt steht somit den wissenschaftlichen Diskursen ist der Bruch zunächst die Lage der deutschen Juden in der der 1930er und 1940er Jahre weitgehend igno- kriegszerstörten Stadt. Für die wenigen zurück- riert worden. Das Tagebuch des Zeitzeugen Willy kehrenden Breslauer Juden, etwa anderthalb tau- Cohn (1888–1941), eines Historikers, wurde send, sollte ihre Heimatstadt sich vor ihren Augen erst mit jahrzehntelanger Verzögerung publiziert; weiterhin in eine fremde Stadt verwandeln, die sie wie konsequent das Deutsche aus der heutigen bald verließen. Den Schwerpunkt bildet allerdings deutsch-jüdischen Erinnerungskultur in Wrocław das Schicksal der aus der Sowjetunion und aus gelöscht ist, wird beispielsweise in der Info-Tafel Polen eintreffenden Holocaust-Überlebenden, für Cohn deutlich, welche an der Stelle seines die sich hier als Flüchtlinge ansiedelten. Kurzzei- Geburtshauses am Breslauer Ring aufgestellt tig beherbergte Breslau damals die zweitgrößte wurde: Sie informiert nur in polnischer und engli- jüdische Gemeinde Nachkriegspolens mit bis scher Sprache (Abbildung S. 440). zu 20.000 Angehörigen. Damit verbanden sich

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 147 große Hoffnungen auf einen Neuanfang in den Nach den Publikationen über die Verlage Metzler, Polen zugesprochenen Gebieten – der „Traum Springer, Bertelsmann, Reclam, Piper, Brock- von der ,jüdischen Autonomie‘“ (S. 363). Die Ju- haus, Oldenbourg und Beck über ihre Tätigkeit den in Niederschlesien waren aber – wie anders- in der NS-Zeit liegt nun auch eine materialreiche wo im Land – in drei große Gruppen gespalten: wie informative Untersuchung über den Verlag Neben der Bereitschaft, sich eine neue Existenz Walter de Gruyter vor. Den Auftrag hat die 2006 aufgrund einer gewissen gesellschaftlichen und gegründete gemeinnützige Walter de Gruyter kulturellen Selbstbestimmung aufzubauen, über- Stiftung der Historikerin Angelika Königseder wog eine die rasche Ausreise befürwortende 2011 erteilt und den Zugang zum Archiv eröffnet. zionistische Bewegung, und schließlich gab es Die Geschichte reicht über den Verlag Georg bei einer Minderheit die Überzeugung, dass die Reimer bis in das Jahr 1749 zurück. Der einsti- Beteiligung am Aufbau des sozialistischen Staa- ge Kohlegroßhändler und promovierte Germanist tes nur über die völlige Assimilierung zu erreichen Walter de Gruyter (1862–1923) hatte den „Ver- sei. Doch von 1948 an ging es mit der kulturellen lag der Romantik“ 1897 erworben, um Verleger und politischen Selbstbestimmung der Juden in zu werden. Durch systematische Zukäufe und Polen ständig bergab. Wiederholt Zielscheibe von Teilhaberschaften führte er die Verlagsbuchhand- Anfeindungen, kehrten die meisten Menschen lung Guttentag (1898), den Karl I. Trübner Verlag jüdischer Herkunft bis Ende der 1960er Jahre (1906), die G.I. Göschen’sche Verlagshandlung dem Land den Rücken. Sie distanzierten sich zu- (1912) und den Verlag Veit & Comp. (1912) in meist „von Identitätsmerkmalen wie Sprache und der boomenden Verlagshauptstadt Berlin zur Nationalität, die sie mit Polen verbanden“ und „Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Wal- begannen, „ihre Identität auf vielfältige Weise ter de Gruyter & Co“ zusammen. Diese boten neu zu definieren“, indem sie sich den jüdischen nicht nur literarische Klassiker und schöngeistige Traditionen zuwandten (S. 422). Nahezu einziger Literatur an, sondern auch und vor allem medi- Lichtblick nach diesem Verlust an ethnischer und zinische, natur-, rechts-, staats- und sprachwis- kultureller Vielfalt war Jahre später der Wieder- senschaftliche Werke. Nach der Übernahme von aufbau der zur Ruine verfallenen Synagoge „Zum 77 Prozent der Anteile wurde das Unternehmen Weißen Storch“, wo ein neues Gemeinde- und zum 1. Januar 1923 in „Verlag Walter de Gruy- Kulturzentrum entstand – das nun freilich vorwie- ter & Co“ umbenannt. Nunmehr an der Spitze der gend von Nichtjuden geschätzt und genutzt wird. deutschen Wissenschaftsverlage starb der Verle- Friedla verknüpft gekonnt die mittlerweile ger überraschend am 5. September 1923; seine von deutschen und polnischen Historiker_innen beiden Söhne waren im Krieg gefallen. vergleichsweise intensiv erforschte jeweilige Lo- Sein Schwiegersohn Herbert Cram (1890– kalgeschichte mit individuellen Erinnerungen und 1967), diplomierter Maschinenbau-Ingenieur, Erfahrungen jüdischer Breslauer. Es gelingt ihr wurde 1923 persönlich haftender Gesellschaf- dabei, verschiedene Ansätze dieses Forschungs- ter. Der junge Verleger konnte sich auf seine bereiches in einem kundigen Überblick zu verbin- fünf erfahrenen Prokuristen aus den Teilverlagen den, der das Ende einer beeindruckenden, auf stützen, setzte aber bald zielstrebig die Expan- dem Werk von mehreren Generationen fußenden sionspolitik seines Schwiegervaters fort: 1924 deutsch-jüdischen städtischen Lebenswelt im Os- übernahm er den Deutschen Kunstverlag, 1927 ten des Reiches vergegenwärtigt und zugleich die den auf Altertums-, aber auch auf Sexualwissen- Anfangs- und Hochzeit der Breslauer polnisch- schaften spezialisierten A. Marcus & E. Webers jüdischen Jahre miteinbezieht. Verlag, 1928 den Verlag L. Friederichsen & Co für Geographie, Kolonial-, Wirtschafts- und Han- delswissenschaften sowie zwei Berliner Spezial- Marburg Klaus-Peter Friedrich buchhandlungen. Crams Strategie war, alle wesentlichen Diszi- plinen in einem wissenschaftlichen Universalver- lag zu vereinen. Königseder arbeitet anschaulich Zur Anpassung durchaus bereit? diese rasante Entwicklung des Familienunter- nehmens heraus, die auch nach 1933 fortge- Königseder, Angelika : Walter de Gruyter. Ein setzt werden konnte: 1935 Kauf des Verlages Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus, Alfred Töpelmann, 1937 Technischer Verlag Mo- 321 S., Mohr Siebeck, Tübingen 2016. ritz Krayn sowie die Therapeutische Registratur

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Buchholtz & Co, 1938 Stilkes Rechtsbibliothek der im Oktober mitteilte, dass sich der Verlag „für sowie 1939 zu 50 Prozent den J. Schweitzer den Kurs der Anpassung an die Nationalsozialis- Verlag. Mit diesen Erwerbungen – einige aus der ten entschieden hatte, um den wirtschaftlichen Hand in Not geratener jüdischer Besitzer – stärkte Erfolg des Projektes nicht zu gefährden“ (S. 58). er vor allem das juristische und (kriegswichtige) Im Vergleich zu belletristischen Häusern hat- technische Programm. ten es Wissenschaftsverlage im NS-Staat un- Als Schwiegersohn und Treuhänder des Er- gleich leichter. Dennoch – so die Autorin – haben bes seiner Ehefrau Clara, geboren de Gruyter, Cram und seine Prokuristen die „ideologische und ihrer Familie sah Cram seine Aufgabe darin, Neuausrichtung von Staat und Gesellschaft ak- „die Firmenexistenz zu sichern und größtmögliche zeptiert“. Mit der Veröffentlichung von Gesetz- Gewinne zu erzielen“ (S. 300) – entsprechend estexten und Kommentaren sowie durch den seiner Devise: „Ich habe von meinem Schwieger- Ausschluss jüdischer oder anderweitig misslie- vater einen Verlag und eine Druckerei übernom- biger Autoren hat das Unternehmen „partizipiert men; wenn ich selbst einmal abtrete, soll nicht und erheblich profitiert“, „ohne die Option, sich weniger vorhanden sein“ (ebd.). aus politischen Gründen aus der einen oder an- Aus den Quellen – so die Autorin – geht deren Wissenschaftsdisziplin zurückzuziehen, hervor, dass Cram die Machtübernahme durch auch nur zu diskutieren“ – was etwa für den juris- die Nationalsozialisten nicht begrüßte und auch tischen Bereich des Springer Verlages nachweis- nicht Parteigenosse wurde. Als „national-patri- bar ist (S. 299). Bemerkenswert ist, dass Herbert otisch gesinnter Konservativer“ unterstützte er Cram den einstigen preußischen Kultusminister aber „mindestens in Teilen die außenpolitischen Adolf Grimme und den langjährigen Reichstags- Ziele der NSDAP“. Die „einfältigen Parolen präsidenten Paul Löbe (beide SPD und mit Be- der Partei und ihre feindselige Haltung gegen- rufsverbot belegt) als Korrektoren aufgenommen über den Kirchen waren ihm jedoch zuwider“ hat. Warum? Darüber schweigen die Quellen. (S. 35f.). Verwurzelt im evangelischen Milieu von Königseder macht mit Recht darauf aufmerk- Berlin-Lichterfelde stand er später der „Beken- sam, dass die „Aufrechterhaltung der wissen- nenden Kirche“ nahe. Einzig der in der Berliner schaftlichen Qualitätsansprüche bei gleichzeitiger Kulturverwaltung bestens vernetzte und 1939 in Berücksichtigung der staatlichen und parteiamt- die Geschäftsleitung berufene Ministerialdirek- lichen Erwartungen eine Gratwanderung war“ tor a. D. Dr. jur. Wolf Meinhard von Staa war Mit- (S. 300) – aber: Der Verlag erwies sich als wenig glied der NSDAP. Der einflussreiche Leiter der risikofreudig. „Letztlich“, so die Autorin, „ordnete Juristischen Abteilung, Dr. jur. Alexander Elster er das wissenschaftliche Niveau ohne Prüfung (Guttentag), war Förderndes Mitglied der SS. Er von zweifelsfrei vorhandenen Handlungsspiel- und Dr. Gerhard Lüdtke, Germanist und Leiter räumen der NS-Ideologie unter“ (ebd.). Umge- der Geisteswissenschaftlichen Abteilung (Trüb- kehrt nutzte der Verlag mit seinem Einsatz von ner), gaben dem Verlag jahrzehntelang Gesicht Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen die und Profil (S. 34). gegebenen Möglichkeiten, den kriegsbedingten Auch nach dem Machtwechsel setzten Ver- Arbeitskräftemangel bei steigenden Aufträgen leger und Abteilungsleiter das verlagsspezifische seitens der Wehrmacht auszugleichen. networking in Universitäten, Ministerien, Behör- Die Strategie ging auf. Seit der zweiten Hälf- den und Partei-„Dienststellen“ fort, um Autoren te der 1930er Jahre und während des Krieges und Herausgeber wissenschaftlicher Werke konnten Umsatz und Gewinn beträchtlich gestei- und Zeitschriften zu gewinnen und Aufträge zu gert werden; 1943 wurde der Allzeitrekord erzielt. akquirieren. Dabei wurde das Problem mit jüdi- Als Fazit stellt Königseder – nach dem Vorgetra- schen Autoren frühzeitig und entschlossen durch genen leider inkonsequent und ausweichend – Ausschluss „gelöst“. Königseder bringt ein- fest: „De Gruyter bemühte sich [!] in der Regel drucksvolle Beispiele, so etwa den „Fall Sperber“ [!], wissenschaftliche Standards aufrechtzuerhal- (S. 53ff.): Der Kölner Philologie-Professor Hans ten, aber zur Anpassung an die neuen Verhältnis- Sperber, eine „über jeden Zweifel erhabene wis- se war man auch im Hause de Gruyter durchaus senschaftliche Koryphäe“, sollte die „Oberleitung“ bereit“ (S. 302). „[D]urchaus“ bereit? Man war des geplanten Großprojektes „Trübners Deut- bereit, und zwar sehr! sches Wörterbuch“ übernehmen, verlor jedoch im Frühjahr 1933 nicht nur seinen Lehrstuhl, son- dern auch das Interesse seines Lektors Lüdtke, Innsbruck Walter H. Pehle

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 149 Transformationen eines Traumas einer Gesamthaftung des deutschen Volks (Ul- rich Borsdorf) und die selbstkritischen Reflexio- Berger, Stefan (Hrsg.) : Gewerkschaftsge- nen des Angestelltengewerkschafts-„Oligarchen“ schichte als Erinnerungsgeschichte. Der Hans Gottfurcht (dargestellt von Ursula Bitze- 2. Mai 1933 in der gewerkschaftlichen Erin- geio). Wie recht verschiedene Deutungen der nerung und Positionierung, 428 S., Klartext, NS-Erfahrung (verkürzt: faschismustheoretische Essen 2015. und totalitarismustheoretische) in der Neuord- nungs-Debatten aufeinander prallten und wie „Anbiederung“ – „feige“ – „schamloseste Kapi- Annäherung an liberal-pluralistische Ordnungs- tulation“: Die gewerkschaftliche Niederlage von konzepte aussehen konnte, zeigt Julia Angster 1933 evozierte viele starke Urteile. Das Trauma auf. Auch in SBZ und DDR war die „Einheits- der Zerschlagung durch das NS-Regime, oft fest- stimmung“ nicht nur eine von oben induzierte, gemacht am Datum des 2. Mai 1933, war lange so Christoph Kleßmann. Und so irritierend es nur untergründig präsent, und erst seit den spä- klingen mag: Die partielle Fortsetzung des Ar- ten 1970er Jahren zeigten sich systematische- beitsfront-Zentralismus unter neuen Vorzeichen re Versuche der ‚Aufarbeitung‘ (übrigens auch scheint ein gemeinsames Problem beider deut- in der DDR). Die dieser Vergangenheit(-sbe- schen Nachkriegswege gewesen zu sein. wältigung) gewidmete Bochumer Tagung des Nicht minder lesenswert sind die Studien zur Jahres 2013 und der aus ihr entstandene Sam- britischen Zone und dem Zusammenspiel von melband dokumentieren heutige Zugänge zu der Neuaufbau und Besatzungspolitik, zur Sonder- Frage, ob und wie die Lektionen dieses scham- entwicklung im Saarland, zu den Übergängen besetzten Vorgangs beherzigt sind. In fünf Ab- von kommunistischer Dominanz im FDGB zum schnitten werden zentrale Persönlichkeiten, der reibungslosen Funktionieren einer „Massenor- Neuaufbau nach 1945 in Ost und West sowie die ganisation“ und späten geschichtspolitischen gewerkschaftliche Erinnerungspolitik in Bundes- Öffnungen. Für eine Reihe biografischer Skizzen, republik, der DDR und international untersucht. zum Beispiel zu dem KPD- und KPO-‚Renegaten‘ Im Kontrast zu einem etwas schlichten Vorwort Kuno Bandel, über Viktor Agartz’ Umgang mit gehen die versammelten Analysen deutlich über den reformistischen „Teilerrungenschaften“ und frühere Anrufungen des Gelernten – die Einheits- seine Marginalisierung oder über die DGB-Spit- gewerkschaft und der Anti-Extremismus als ein- ze der 1970er Jahre gilt das Gleiche. Weitere fache Lehren – hinaus. Themen sind unter anderem der Umgang mit Der Herausgeber arbeitet zunächst her- NS-belasteten Funktionären, der gewerkschaft- aus, dass die Realgeschichte der dramatischen liche Wiederaufbau im Bergbau und die Relevanz Monate von 1933 inzwischen gut erforscht ist, des Gesamtthemas in der Bildungsarbeit. und legt den Akzent auf die dynamische Erin- Der Ertrag der Beiträge von Willy Buschak, nerungsgeschichte. Unter anderem gehören Dieter Nelles und Stephan Stracke – mit dem die Ausgrenzung kommunistischer und anderer Blick auf internationale Kontexte – muss hier ganz Minderheiten-Narrative, eine gewisse nationa- unzulässig gerafft werden: Die „deutsche Katas- le Zentrierung und die anhaltende Vorliebe für trophe“ und die „an Automatisierung grenzende korporatistische Gesellschaftsmodelle der Zwi- Disziplin“ (so der Schweizer Gewerkschafter schenkriegszeit zu den diskussionsbedürftigen Schifferstein) von außen zu kommentieren, war Fragen. Im Misstrauen gegen eine NS-anfällige für Sozialdemokraten und Kommunisten äußerst Mitgliederbasis und in einer spezifischen politi- schwierig. Große Diskretion hinsichtlich des eige- schen Prägung von Westemigranten stellen sich nen Widerstandes und der Mitverantwortung der übrigens überraschende Parallelen zu Entwick- eigenen Mitglieder-Basis blieb offenbar Karriere- lungen in der DDR heraus. Mythen und Dogmen voraussetzung in den Apparaten der 1950er und der Bewältigungsversuche der letzten Jahrzehnte 1960er Jahre. Weitere Stichworte: die Anpas- – wie beispielsweise die Übersetzung des „Ein- sungstendenzen sozialdemokratischer Organisa- heits“-Wunsches in „Zentralismus“ oder „Neutra- tionen in den besetzten Ländern, ungewöhnliche lität“ – kommen ebenfalls zur Sprache. ‚Koalitionen‘ zwischen der syndikalistischen In- Von den 23 Beiträgen des Bandes können ternationalen Transportarbeiter-Föderation, den hier nur einige stichwortartig aufgerufen werden: Linksabspaltungen der SPD und dem amerikani- zum Beispiel die pflichtbewusste „Fortsetzungs- schen Geheimdienst OSS, kurzlebige autonome arbeit“ Hans Böcklers, im klaren Bewusstsein Einheitsfrontversuche 1934/35 in Wuppertal,

150 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen das Thema „Verrat und Denunziation“ sowie die schreibt sie in anregender Weise fort. In seiner Prozesshaftigkeit der Zerschlagung gewerk- Untersuchung der Erinnerungskultur des Zweiten schaftlicher Milieus. Weltkrieges, die sich vor allem auf Monumente Das Resümee von Knud Andresen hat für den und Erinnerungszeichen in East Anglia (England) ganzen Band Gültigkeit: Der 2. Mai 1933 ist – und in der Normandie konzentriert, integriert er auch wegen des Abtretens einer Generation, in Akteure, Praktiken und Diskurse in einer transat- der sich Erleben mit diffusen Schuldgefühlen ver- lantischen Perspektive. Besonders im ersten Teil banden – kein Brennpunkt großer Kontroversen entsteht dabei eine mikrogeschichtliche Sicht auf mehr, sondern ‚nur‘ ein Brennglas, anhand des- die Geschichte des Kalten Krieges aus erinne- sen auf eine differenzierte Entwicklung geblickt rungsgeschichtlichem Blickwinkel – vor allem in wird. „Es wird nicht mehr über eine als unabge- den Abschnitten, die sich Frankreich widmen. schlossen empfundene Geschichte verhandelt, Der methodische Zugriff überzeugt durch sondern der 2. Mai ist heute vor allem Ausgangs- seine konsequente Rückbindung an konkrete punkt für die Verfolgungs- und Opfergeschichte Akteure beziehungsweise Akteursgruppen, wo- der Gewerkschaften geworden“ (S. 243). durch die Untersuchung die nötige Tiefenschärfe ‚Lektionen‘ identitätsstiftender Qualität gewinnt. Erinnerungskultur wird dabei als wi- sind somit aus den Erfahrungen rund um den dersprüchlicher, nicht selten von erfolgreichen 2. Mai 1933 nicht mehr abzuleiten, auch Leh- Initiativen lokaler Akteure geprägter Prozess des ren für Umfang und Art heutiger politischer Ge- ‚doing memory‘ sichtbar. Und Edwards benennt staltungsansprüche wohl nicht, wenngleich ein noch eine weitere wichtige erinnerungskultu- Beitrag von Walther Müller-Jentsch explizit einen relle Dynamik. Spezifische Erinnerungsformen solchen Brückenschlag versucht. Doch werden gewinnen auf kollektiver Ebene vor allem dann in diesen wider Erwarten fesselnden Studien und breite und dauerhaft prägende Akzeptanz, wenn Skizzen wichtige Differenzierungen einer Rezep- sie bereits im Umlauf befindliche Ideen inte- tionsgeschichte sichtbar, die für Mentalitäten und grieren und verdichten, wie er am Beispiel der Strategien lange prägend war. Und auch die Ab- D-Day-Gedenkansprache von Ronald Reagan sagen an weiterhin lebendige Vereinfachungen, am 6. Juni 1984 verdeutlicht (S. 194). wie beispielsweise die simple Dichotomie von im- In den beiden Hauptteilen der Untersuchung, mobiler Führung und vermeintlich aktionsbereiten die chronologisch durch einen Korridor von Mitte Massen, sind leider immer noch nicht überflüssig. bis Ende der 1960er Jahre unterteilt sind, ent- wickelt der Autor jeweils eine Hauptthese. Im ersten Zeitraum diente die Erinnerung der Be- Essen Norbert Reichling kräftigung und Rückversicherung transatlanti- scher Beziehungen in Zeiten des Kalten Krieges, in der die europäischen Beteiligten ihre nationa- Quo vadis, transatlantische Erinnerung? len Akzentuierungen zur Geltung brachten – die Diskursivierung der special relationship im eng- Edwards, Sam : Allies in Memory. World War II lischen, die Kontinuität brüderlicher Beziehungen and the Politics of Transatlantic Commemora- seit den revolutionären Zeiten im ausgehenden tion, c. 1941–2001, 308 S., Cambridge UP, 18. Jahrhundert im französischen Fall. Im zwei- Cambridge 2015. ten Zeitabschnitt sieht Edwards die erinnerungs- kulturelle Initiative eher einseitig auf die USA Der im nationalen Rahmen betriebenen und übergehend. In erinnerungspolitischer Absicht hauptsächlich auf diesen Rahmen Bezug neh- sollte seit den späten 1970er Jahren das Geden- menden Erinnerungsforschung ist bereits seit ken an den ‚Good War‘ die Folgeerscheinungen geraumer Zeit Übersättigung konstatiert worden. des Vietnamkrieges vergessen machen, während Dieser Befund hat zum einen eine Hinwendung die alternden Veteranen des Zweiten Weltkrieges zur Erforschung lokaler und regionaler Erinnerun- ihrer Erinnerung bleibenden Ausdruck verleihen gen ausgelöst, zum anderen hat – besonders in- wollten. Vor allem die letztere Ambition ging auch nerhalb Europas – die transnationale Betrachtung mit einer zunehmenden Kommerzialisierung des von Erinnerungen stark zugenommen. In diese Gedenkens einher. Trends fügt sich auch die Studie von Sam Ed- Positiv hervorzuheben ist, dass Edwards kei- wards, der an der Manchester Metropolitan Uni- ne starre Trennung zwischen den Geltungsberei- versity Amerikanische Geschichte lehrt, ein und chen seiner Befunde postuliert, sondern einzelne

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 151 Elemente auch im jeweils anderen Zeitraum kon- Beide Regionen könnten allerdings ins Zentrum statiert und überdies die Kommerzialisierung dieses Diskurses zurückkehren, wenn die zaghaf- von Erinnerung als durchlaufenden Grundtrend ten Ansätze von Gegenerinnerungen, die im Fall anspricht, der vereinzelt bereits in den späten der Normandie angesprochen werden (S. 244), 1940er Jahren zu beobachten ist. Das macht sich zu einem breiten Trend dialogischer kosmo- die generelle Schwierigkeit der Periodisierung politischer Erinnerung – wie vom Autor in seinem von Erinnerungskulturen deutlich. Neben der Schlussplädoyer gefordert – ausweiten sollten. politischen Funktionalität, der breiteren Diskur- Trotz der Einwände hat Sam Edwards mit sei- sivierung von Erinnerungen und der räumlichen nem Buch eindrucksvoll nachgewiesen, dass das Spezifik des konkreten Gedenkens vor Ort spielt Innovationspotenzial der Erinnerungsforschung dabei immer auch eine generationelle Dynamik noch längst nicht ausgereizt ist. mit hinein, die Edwards im zweiten Teil des Bu- ches stärker zur Geltung bringt. Innerhalb dieser Taipeh Christoph Thonfeld Koordinaten entscheiden sich die Konjunktur- verläufe von Erinnerungskulturen, die in Zukunft noch stärker vergleichend untersucht werden sollten. Österreich und die Diktaturen Und so ertragreich die transatlantische Ver- Westeuropas flechtungs- und Vergleichsperspektive der Studie auch ist, gerät dem Autor die europäische Sei- Müller, Stefan A./Schriffl, David/Skordos, Ada- te des Gedenkens stellenweise etwas aus dem mantios T. : Heimliche Freunde. Die Beziehun- Blick. So spielt es für die von Edwards konsta- gen Österreichs zu den Diktaturen Südeuropas tierte amerikanische Dominanz in der transatlanti- nach 1945: Spanien, Portugal, Griechenland, schen Erinnerungskultur seit den 1980er Jahren 330 S., Böhlau, Köln u. a. 2016. eine ebenso wichtige Rolle, dass sich Rang und Relevanz der Erinnerung an den Zweiten Welt- Die zeithistorische Forschung zu Demokratien krieg in Europa nachhaltig und einschlägig ver- und Diktaturen im Kalten Krieg hat sich lange schieden von den USA wandelten. Neben dem Zeit mit dem Ost-West-Gegensatz beschäftigt. breiteren erinnerungskulturellen Trend, der sich Das Verhältnis eines westlichen Staates zur von den Helden ab- und den Opfern des Krie- DDR, der Sowjetunion und ihren Satellitenstaa- ges zuwandte, wurde der Krieg als notwendi- ten dominierte die Analyse bilateraler und interna- ge Vorbedingung für die Erfolgsgeschichte der tionaler Beziehungen der Nachkriegsjahrzehnte. europäischen Einigung nach 1945 reinterpre- Seit einigen Jahren entstehen zunehmend Wer- tiert. Vor allem die in diesem Zusammenhang ke, die die Beziehungen von Diktaturen und De- notwendige Aussöhnung mit Deutschland und mokratien innerhalb Westeuropas thematisieren. dessen Rehabilitierung verschob die Akzente der Stefan A. Müller, David Schriffl und Adaman- erinnerungskulturellen Repräsentation des Zwei- tios T. Skordos tun dies am Beispiel der Bezie- ten Weltkrieges in Westeuropa deutlich. Dafür hungen Österreichs zu den iberischen Diktaturen war East Anglia als Ausgangspunkt des Luftkrie- Spanien und Portugal von 1945 bis in die 1970er ges ein zunehmend ungeeigneter Erinnerungs- Jahre sowie Griechenland zur Zeit der Militärjunta raum, während das offizielle D-Day-Gedenken von 1967 bis 1974. Ziel des Buches ist es, eine zunehmend von der EU-Perspektive überformt bisher kaum erforschte Facette der Geschichte wurde. der Zweiten Republik zu beleuchten und Impulse Die amerikanische Dominanz im lokalen Ge- für weitere Forschungen zu geben. denken wäre dann nicht mehr so sehr ein Be- Das Buch besteht aus drei unabhängig von- leg des Spannungsverhältnisses zur nationalen einander lesbaren Teilen, in denen je ein Autor Ebene, als vielmehr Aufweis der Entstehung von die Beziehungen zu einer Diktatur analysiert. Refugien der von Heldentum und patriotischer Aufgrund der ähnlichen Länge decken die Ka- Gesinnung geprägten anglo- respektive fran- pitel zu Spanien und Portugal rund dreißig, das ko-amerikanischen Tradition, die sich aus dem zu Griechenland nur sieben Jahre ab. Als Quel- Zentrum des westeuropäischen Erinnerungsdis- lengrundlage dienen größtenteils Dokumente kurses hinausbewegten. Damit deuten sich auch zur Politik- und Diplomatiegeschichte, vorwie- Grenzen der Interpretierbarkeit von Befunden, die gend aus österreichischen Archiven. Der Titel sich nur auf diese beiden Regionen beziehen, an. stellt den Begriff der Freundschaft ins Zentrum,

152 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen wie dies themenähnliche Studien getan haben, zwischen einer Sympathie für die demokratische beispielsweise Birgit Aschmanns „Treue Freun- Opposition und einer pragmatischen Haltung ge- de…?“ (1999) zu den diplomatischen Beziehun- genüber der Militärjunta: So nahmen unter der gen zwischen Westdeutschland und Spanien in Regierung Kreisky die Wirtschaftsbeziehungen den Nachkriegsjahrzehnten oder António Múñoz zu und ein Minister der Junta besuchte offiziell Sánchez’ „El amigo alemán“ (2012, „Der deut- Österreich. Im Verhältnis zu den Diktaturen spiel- sche Freund“) zu Kontakten zwischen westdeut- ten jeweils verschiedene Interessen und Faktoren schen und spanischen Sozialisten. „Heimliche eine Rolle, gleichwohl konstatieren die Autoren Freunde“ bezieht sich vor allem auf die Jahre eine einheitliche Tendenz der Wiener Politik: „Ös- unmittelbar nach Kriegsende, als einige österrei- terreich vermied es stets, zu sehr als Kritiker der chische Politiker informelle Kontakte zu Spani- diktatorischen Regime in Erscheinung zu treten, en und Portugal knüpften. Nachdem das Land schaffte es aber dennoch, bei deren Ende als im Staatsvertrag 1955 seine volle Souveränität Freund und Helfer der demokratischen Opposi- erlangt hatte, nahm es diplomatische Beziehun- tion sowie der neuen Machthaber dazustehen“ gen zu Spanien und Portugal auf, die nun in der (S. 16). Sprache der Diplomatie offiziell zu Freunden Insgesamt bestätigt und erweitert die Stu- wurden. die Ergebnisse anderer Forschungen zu Bezie- Bei der Lektüre der drei Kapitel erschließen hungen zwischen Diktaturen und Demokratien sich zahlreiche Gemeinsamkeiten, aufgrund der in Westeuropa: Für die iberischen Diktaturen historischen Konstellation insbesondere zwischen sind das insbesondere die Bedeutung des An- den iberischen Diktaturen. Die Kapitel zu Spani- tikommunismus innerhalb rechtskonservativer en und Portugal gehen jeweils auf die Verschi- Eliten und des Katholizismus als ideologischem ckungen österreichischer Kinder auf die Iberische Bindeglied zwischen unterschiedlichen Regie- Halbinsel zur Erholung nach dem Krieg ein, was rungsformen. Innerhalb der Sozialdemokratie gerade von Franco propagandistisch ausgewertet kennzeichnete der Konflikt zwischen antidikta- wurde. Auch der Aufbau diplomatischer Bezie- torischer Gesinnung einerseits und einer prag- hungen, bei dem erst der Widerstand der Sow- matischen Realpolitik gegenüber den Diktaturen jetunion im Alliierten Rat überwunden werden andererseits die Haltung eines Bruno Kreisky musste, nimmt breiten Raum ein. Dazu kommen ebenso wie die eines Willy Brandt. Auch bezüg- Personen, die für beide Länder zu Schlüsselfigu- lich der griechischen Militärjunta entsprach Ös- ren wurden. Der ÖVP-Politiker Lujo Toncˇic´-Sorinj terreichs Diplomatie der der westeuropäischen trat 1952 für den Beitritt des international iso- Nachbarn, indem sie sich weder herzlich noch lierten Spaniens zur UNESCO ein und warb für feindselig verhielt. Protest gegen das Regime der die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Obristen fand sich mehrheitlich in den Aktivitä- der Begründung: „Man kann das Regime ableh- ten nichtstaatlicher oder privater Gruppierungen. nen, man kann aber Spanien nicht übersehen“ All dies macht die Studie anhand einer Fülle von (S. 50). In den 1960er Jahren setzte er als Au- Quellen deutlich. Ihre Stärke liegt in der Erschlie- ßenminister teils gegen Widerstand aus den ei- ßung von Inhalten und Material, nicht im Entwi- genen Behörden durch, dass Österreich in den ckeln eines neuartigen methodischen Zugriffs auf Vereinten Nationen portugalfreundlich abstimm- das Thema. Ihrem Anspruch, Interesse für ein te, als das Regime dort wegen der Kolonialkriege bislang wenig erforschtes Feld österreichischer zunehmend angegriffen wurde. Bruno Kreisky und europäischer Zeitgeschichte zu wecken und pflegte als Außenminister und Bundeskanzler zu weiteren Forschungen anzuregen, wird sie in eine pragmatische Politik gegenüber den Dik- jedem Fall gerecht. taturen, knüpfte hingegen während diverser Be- suche auf Mallorca Kontakte mit der Opposition Basel Patricia Hertel und unterstützte die spanischen Sozialisten beim Übergang zur Demokratie. Persönliche und zum Teil langjährige Beziehungen und Loyalitäten, die das Verhältnis zu den iberischen Ländern be- Geschichte der Nachkriegs-SPD einflussten, spielten bezüglich der griechischen Diktatur kaum eine Rolle. Die Haltung sowohl Meyer, Kristina : Die SPD und die NS-Vergan- der konservativen als auch der sozialdemokrati- genheit 1945–1990, 549 S., Wallstein, Göt- schen Regierung war ambivalent und schwankte tingen 2015.

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 153 Mitte 1947 beklagt Ludwig Bergsträsser beim verdrängten Terrain und just in einer Zeit, als SPD-Parteivorstand die „merkwürdige Tatsache“, jeder dritte Westdeutsche sich selbst noch als dass allenthalben der militärische und bürgerli- „Antisemit“ bezeichnete. Meyer arbeitet deut- che Widerstand gewürdigt werde, demgegen- lich den Widerspruch heraus, dass die SPD der über vom „Widerstand der sozialdemokratischen Adenauer-Zeit einerseits mit hoher moralischer Partei“ kaum die Rede sei. Solcher Tadel des Legitimation sich als Fürsprecherin der Verfolg- Parteienhistorikers, selbst mit Denkschriften für ten profilierte, dabei unliebsamen Gesetzen eine Leuschner in den Widerstand eingewoben, besaß Mehrheit verschaffte, andererseits aber auch um lange Zeit Gültigkeit. Und dies, obwohl die SPD des inneren Friedens willen und unter dem Ziel im Widerstand gegen Hitler neben der KPD den der Versöhnung Maßnahmen zur Integration der höchsten Blutzoll erbracht hatte und mit Fug und „Mitläufer“ stützte. Denn wenn sie erfolgreich Recht daraus die Legitimation ableiten konnte, die sein wollte, musste sie sich auch den einstigen zweite Republik zu führen. Doch hielt man sich mit NS-Parteigängern anbieten. Aber um das Maß einer Thematisierung des Widerstandes zunächst an Zugeständnissen wurde gestritten, ging doch zurück; selbst der Vorsitzende Schumacher ver- vieles den ehemals Verfolgten viel zu weit. zichtete darauf, über seinen Leidensweg im KZ zu Merkwürdig zahm verhielt sich die Partei in den berichten. So musste Fritz Erler 1951 feststellen, Parlamentsdebatten um die ‚131er‘; da wurde die es sei eine „Legende“ im Entstehen, die den Wi- Frage der Mittäterschaft nicht diskutiert, sondern derstand zur alleinigen Sache von konservativer nur die sozialen Folgen der Betroffenen. Es muss Reaktion und christlichem Klerus mache. rückschauend zudem verwundern, dass die SPD Der Umgang der SPD mit der NS-Vergan- nicht viel schärfer die personellen Kontinuitäten in genheit in der „alten Bundesrepublik“, also vor der Ministerialbürokratie geißelte. Möglicherweise der Wiedervereinigung, ist Gegenstand von Kris- wollte sie dem Vorwurf der endlosen Nazi-Rieche- tina Meyers Studie, ihrer um die Jahre 1974 bis rei nicht neue Nahrung geben. Aber man stellte 1990 erweiterten Jenaer Dissertation, die sich sich auch gegen die öffentliche Meinung: Sehn- dem Thema nur bis zum Ende der Ära Brandt te sich die Mehrheit angesichts der anstehenden gewidmet hatte. Sie nimmt zwei große Themen- Verjährung von Mord nach einem Schlussstrich blöcke in den Blick: die Geschichte der Nach- unter die justizielle Aufarbeitung des Nationalso- kriegs-SPD einerseits und die Geschichte vom zialismus, so versuchte die SPD, die Debatte in Umgang der zweiten Republik mit der Hitler-Dik- Gang zu bringen und die Regierung unter Druck zu tatur andererseits. Meyer kommt hierbei zu sechs setzen. Hierzu wurde sie auch von den Verfolgten thematischen Hauptkapiteln, die sich an den in der eigenen Partei gedrängt. (partei-)politischen Zäsuren orientieren (1949, Gerade an der Geschichte der Wertigkeit der 1959, 1966, 1974, 1982 und 1990). „Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokra- Die Erinnerung an die NS-Zeit hatte nicht ten“ (AvS) im Organisationsgeflecht der Partei nur eine historische Dimension, sondern fundier- lassen sich die Konjunkturen der sozialdemokra- te immer aktuelles politisches Agieren, denn der tischen Geschichtsauseinandersetzung ablesen. Nationalsozialismus war zwar überwunden, doch So fühlte sich die AvS in ihren Anliegen von der seine Hinterlassenschaft drückte, ob es nun um Parteispitze nicht hinreichend unterstützt, unter die Entnazifizierung, die Bestrafung der Schul- anderem wurde ihr 1954 angestoßenes Projekt digen, die Reintegration der Unbelasteten und „Archiv der Märtyrer in unserer Partei“ auf Eis (vermeintlich) gering Belasteten oder die Wie- gelegt. Am Tiefpunkt bewegten sich die Bezie- dergutmachung für die vom NS Verfemten und hungen zwischen SPD-Führung und AvS nach Verfolgten ging. Selbst der Verweis auf den so- dem Wechsel im Kanzleramt von Brandt, dem zialdemokratischen Widerstand war für die SPD Mann des Widerstands und des Exils, zum Wehr- Argumentationswaffe gegen die Kollektivschuld- machtsoberleutnant Schmidt, der in der ersten these, die – und hier schien die SPD nicht genau Regierungserklärung den „Komplex der Kriegs- hingeschaut zu haben – von den westalliierten folgelasten“ als nahezu abgeschlossen bezeich- Besatzungsmächten in dieser apodiktischen nete. Die Revitalisierung der AvS um 1980 herum Form nie propagiert wurde. markierte eine Rückbesinnung auf den bislang In der Folge übernahm die SPD mit der of- marginalisierten sozialdemokratischen Wider- fenen Forderung nach einer Wiedergutmachung stand. Das alles waren Anzeichen eines neuen, für die, denen Unrecht widerfahren war, eine Vor- auch von der Friedrich-Ebert-Stiftung beförderten reiterrolle auf eben einem von der Öffentlichkeit Geschichtsbewusstseins in der SPD, die mit der

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1982 eingerichteten „Historischen Kommission 1945, 334 S., Campus, Frankfurt a. M./New beim Parteivorstand der SPD“ das lange vernach- York 2016. lässigte Terrain neu entdeckte, auch und gerade als Gegenpart zur Kohl’schen Geschichtspolitik. Soziale Ungleichheit hat Konjunktur. Herrschten Das alles wird in sich schlüssig, tiefgehend, während der Nachkriegsjahrzehnte im kapita- mitunter jedoch ein wenig zu kleinteilig präsen- listischen Westen wie im sozialistischen Osten tiert. Allerdings: Wenn es auch um die Frage unterschiedliche Varianten einer Leitvision vor, geht, wie die Partei mit der „Aufarbeitung der die den Abbau extremer innergesellschaftlicher nationalsozialistischen Massenverbrechen“ um- Wohlstandsdisparitäten versprach, so hat sich gegangen sei, so wäre der Frankfurter Ausch- der Trend seit dem ausgehenden 20. Jahrhun- witz-Prozess stärker hervorzuheben gewesen, dert umgekehrt. Im Zeichen der beschleunigten war dieser doch in erster Linie Verdienst des Globalisierung und der Auflösung des Staatssozi- jüdisch-sozialdemokratischen Remigranten Fritz alismus ist die Schere zwischen Arm und Reich in Bauer, und zwar in einer sozialdemokratischen der (post-)industriellen Welt wieder weiter aufge- Hochburg der Adenauer-Republik: im „Roten gangen – eine Entwicklung, die von vielen als be- Hessen“ unter Ministerpräsident Zinn. drohlich empfunden wird. Die Beobachtung, dass Gibt es etwas zu bemängeln? Da muss man die Debatten um soziale Ungleichheit jüngst in sich schon auf die Ebene der kleinkrämerischen eine neue Phase getreten zu sein scheinen, neh- Besserwisserei begeben: So wurde unter dem men auch die beiden Herausgeber des vorliegen- Bestreben, die Verästelungen der Diskussionen den Tagungsbandes zum Ausgangspunkt ihrer flächendeckend zu erfassen, übersehen, dass einführenden Überlegungen. Mit den versam- es sich beim Heidelberger Karl Ebert, der sich melten Aufsätzen verfolgen sie drei Absichten: auf dem SPD-Parteitag 1946 gegen die alliier- Erstens wollen sie eine zeithistorische Ungleich- te Säuberungspolitik als Ausfluss der Kollektiv- heitsforschung vorantreiben, die nicht entweder schuldthese wandte, um den jüngsten Sohn von Armut oder Reichtum isoliert in den Blick nimmt, Reichspräsident Ebert handelte. Seine Monita sondern die beiden Pole der Wohlstandsskala zu- werden erklärlich, weil er selbst 1933 kurze Zeit sammen denkt. Zweitens geht es ihnen darum, in Haft gewesen war und sein ältester Bruder sowohl den Westen als auch das östliche Europa Friedrich jr. 1933 mehrere Monate im KZ geses- zu berücksichtigen, und zwar über die Umbruch- sen hatte. Das Bild, das Ebert jr. beim Appell in phase um 1990 hinaus. Und drittens verfolgt Sachsenhausen zeigt, findet sich auf dem Um- der Band eine interdisziplinäre Stoßrichtung, al- schlag. Die familiäre Erfahrung von Widerstand lerdings unter dezidiert kulturwissenschaftlicher und Verfolgung ließ Karl Ebert (wie die gesamte Perspektive: Ziel ist nicht die empirische Re- SPD) gegen die Kollektivschuld auftreten. konstruktion sozialer Disparitäten von 1945 bis Die kleinen Anmerkungen schmälern keines- zur Gegenwart, sondern die Beleuchtung ihrer wegs den Wert des quellengesättigten und im wandelbaren Wahrnehmungen und insbesondere Übrigen auch wegen des sprachstilistisch feinen ihrer medialen Repräsentationen. Niveaus mit Genuss und Gewinn zu lesenden Der Band ist in drei Blöcke gegliedert. Der Bandes – insgesamt also ein wichtiges, zu Recht erste Teil vereint fünf Aufsätze zur „alten“ Bun- mit dem Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte desrepublik und zu den USA, die für den Westen 2015 ausgezeichnetes Werk zu den beiden oben stehen. Lu Seegers schreibt über das normative genannten Feldern: der Geschichte der Nach- Idealbild des Hamburger Unternehmers; Anne kriegs-SPD und der bundesdeutschen Vergan- Kurr über die Rezeption der Fernsehserien „Dal- genheitsbewältigung. las“ und „Denver Clan“ in der westdeutschen Öf- fentlichkeit; Rüdiger Schmidt über die „Mitte“ als gesellschaftliches Leitbild in der Bundesrepublik; Neckarsteinach/Heidelberg Walter Mühlhausen Christian Johann über die populistische Mobilisie- rung der unteren Mittelklasse gegen die Armen im Kontext des US-amerikanischen war on pov- Mehr als soziale Tatsachen erty der 1960er Jahre; und Claudia Roesch über das Erklärungsmuster der culture of poverty in Gajek, Eva Maria/Lorke, Christoph (Hrsg.) : den Debatten um die Armut mexikanischstämmi- Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung ger Familien in den USA, ebenfalls vor dem Hin- und Deutung von Armut und Reichtum seit tergrund des war on poverty der 1960er Jahre.

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 155 Der zweite Teil fokussiert auf den Ostblock, vom Sujet her interessanten, argumentativ aber wo die offizielle egalitäre Ideologie das tatsächli- etwas diffusen Aufsatz von Hofmann fällt auf, che Vorhandensein von sozialen Disparitäten in dass der zentrale russische Begriff tunejadtsy in ganz anderer Weise als im Westen zu einem heik- mindestens vier Schreib- respektive Transkrip- len Problem machte. Jens Gieseke skizziert ost- tionsvarianten vorkommt. Bei Bönker gibt ein und westdeutsche Bemühungen der 1970er und doppelt angeführtes Zitat in abweichender Über- 1980er Jahre, die Meinungen der DDR-Be- setzung Rätsel auf. Solche Nachlässigkeiten sind völkerung darüber zu erkunden, wie es um die offenbar der Preis dafür, dass der Band weniger soziale Gerechtigkeit in ihrem Land bestellt sei; als anderthalb Jahre nach der Tagung, auf der Patryk Wasiak spürt im einzigen englischsprachi- er basiert, erschienen ist. Nichtsdestotrotz bie- gen Beitrag des Bandes den Wandlungen des tet er ein anregendes Kaleidoskop von Studien Unternehmerimages im Polen der 1980er und zu den Repräsentationen sozialer Ungleichheit 1990er Jahre nach; Anelia Kassabova demonst- seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Armut und riert anhand eines Filmprojektes über das Schick- Reichtum, so illustrieren die Beiträge, sind nicht sal unehelicher Heimkinder, auf welche Grenzen allein soziale Tatsachen, die sich variabel ausge- die visuelle Darstellung von Armut und Reichtum prägt unter jedem politischen System finden. Sie in der Volksrepublik Bulgarien stieß; und Tatiana unterliegen einem permanenten widersprüch- Hofmann widmet sich dem sowjetischen Kampf lichen Ausdeutungsprozess, der auf die Werte- gegen „Arbeitsverweigerer“, ein Konzept, das so- konstellationen einer Gesellschaft verweist und wohl gegen Arme als auch gegen Reiche gewen- an dem die Kulturwissenschaften durch Deutung det werden konnte. der Deutungen mehr oder weniger überzeugend Der dritte Teil gruppiert zunächst drei Bei- mitwirken. träge, die individuelle Sinnkonstruktionen in das Zentrum rücken. Sabine Kittel interpre- Trier Beate Althammer tiert biographische Interviews mit ehemaligen DDR-Bürgern auf die Frage hin, wie soziale Gerechtigkeit zu Zeiten des Staatssozialismus erinnert wird; Kirsten Bönker verfolgt einen Auslandskorrespondenten in Moskau ähnlichen Ansatz bezüglich der rückblickenden Repräsentationen von Egalität in der späten Metger, Julia : Studio Moskau. Westdeutsche Sow jetunion; und der gemeinschaftliche Aufsatz Korrespondenten im Kalten Krieg, 288 S., von Gertraud Koch und Bernd Jürgen Warneken Schöningh, Paderborn u. a. 2015. analysiert Selbstdarstellungen von Obdachlosen im gegenwärtigen Deutschland. Der letzte Bei- Elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrie- trag von Thomas Hecken schließlich, der nicht ges nahmen in Moskau erstmals die ständigen recht in die Sektion passen will, reflektiert ak- westdeutschen Korrespondenten Gerd Ruge und tuelle Tendenzen des demonstrativen Konsums Hermann Pörzgen ihre Arbeit auf. Ein Jahr zu- unter den Superreichen. vor war in Bonn bereits der sowjetische Journa- Wie dieser knappe Überblick andeutet, list Pawel Naumow als dauerhafter sowjetischer decken die Aufsätze ein breites thematisches Pressevertreter in der Bundesrepublik akkreditiert Spektrum ab, was es schwer macht, sie unter worden. Julia Metgers Studie nimmt diese west- einem Gesamtfazit zusammenzufassen. Ein roter deutschen Auslandskorrespondenten und ihre Faden, den die Herausgeber in der Einleitung Berichterstattung während des Ost-West-Kon- hervorheben, nämlich die kontrastiven sozialen fliktes in den Blick. Imaginationen des Kalten Krieges, zieht sich nur Zu den ersten Korrespondenten der bun- durch einen Teil der Beiträge. Auch in ihrer Aus- desdeutschen Medien in Moskau gehörten arbeitung unterscheiden sie sich stark. Detaillier- Journalisten mit Sowjeterfahrungen. Als aus- ten Fallstudien, wie jenen von Johann, Roesch gesprochenes „Urgestein“ erwies sich Her- oder Kassabova, stehen feuilletonistische Essays mann Pörzgen. Der 1905 geborene Journalist gegenüber, wie die von Schmidt oder Hecken. hatte bereits von 1937 bis 1941 distanziert Mitunter hätte man sich eine sorgfältigere Re- und mit ironischem Unterton aus Moskau für daktion gewünscht. So häufen sich in einzelnen die Frankfurter Zeitung berichtet. Nach dem Texten sprachlich-grammatikalische Fehler, die deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Som- leicht hätten ausgebügelt werden können. In dem mer 1941 kurzzeitig interniert, wechselte er zum

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Auswärtigen Amt, wo er 1944 als Presseattaché die ungeschriebenen Gesetzte der Berichterstat- der Botschaft in Sofia in sowjetische Kriegs- tung aus Moskau hielten. Wer ihnen nicht folgen gefangenschaft geriet. Erst im Oktober 1955 wollte, wurde schließlich, wie beispielweise der kehrte er, zusammen mit den letzten Kriegsge- Frankfurter Rundschau-Korrespondent, Botho fangenen, nach Deutschland zurück, doch nur Kirsch, ausgewiesen. um kurze Zeit später erneut für die Frankfurter Nachfolgend untersucht die Autorin, wie die Zeitung in Moskau zu arbeiten. Hier avancierte ständigen Vertreter der westdeutschen Medien er aufgrund seines reichen Erfahrungsschatzes an ihre Informationen gelangten und über wel- alsbald zum Nestor und Doyen der dortigen che Nachrichtenquellen sie in der abgeschotteten Auslandkorrespondenten. sowjetischen Gesellschaft verfügten. Da offizielle Mit dem später als Institution geltenden Gerd Nachrichten zumeist nur gefiltert zu den Journa- Ruge traf 1956 hingegen einer der jüngsten und listen drangen, waren eigene Beobachtungen in unbefangensten Journalisten in Moskau ein. Der dem fremden Land umso wichtiger. Doch auch 1928 geborene Ruge arbeitete seit dem Kriegs- hier blieben die bundesdeutschen Pressevertre- ende, das er als junger Soldat erlebt hatte, beim ter von ihren sowjetischen „Aufpassern“ aus dem WDR als Auslandskorrespondent. 1955 war er Außenministerium abhängig, denn nur sie konnten mehrmals in die sowjetische Hauptstadt gereist, Tickets, Gutscheine für Hotels et cetera besor- um sich dann für die Stelle eines ständigen Me- gen, wenn die Journalisten die 40-Kilometer-Zone dienvertreters in der UdSSR zu bewerben. An- um Moskau verlassen wollten, in der sie sich frei ders als Pörzgen, der sich, als Journalist alter bewegen durften. Trotzdem gelang es zahlreichen Schule, immer an die von der kommunistische Korrespondenten ihren nach Informationen aus Führung vorgegebenen Grenzen hielt, versuchte dem unbekannten Land dürstenden Zuschauern, Ruge neue Wege zu gehen und testete immer Lesern und Hörern einen Eindruck vom Alltags- wieder, wie weit er bei seiner Berichterstattung leben in den Weiten der sowjetischen Provinz zu über die Realität des sowjetischen Sozialismus vermitteln. gegen konnte. Nachdem sie kenntnisreich das Alltagsleben Als ständiges Ärgernis der Berichterstattung der weitgehend separiert lebenden westlichen aus Moskau erwies sich die sowjetische Zensur. Pressevertreter schildert, zeigt Julia Metger am Bis 1961 mussten die westlichen Korrespon- Beispiel von Heinz Lathe, wie einzelne Journalis- denten jegliche zu veröffentlichende Bericht- ten für die Knüpfung von politischen Kontakten erstattung der Zensurbehörde vorlegen. Um zu genutzt wurden. Vor allem Egon Bahr setzte Ende verhindern, dass ungeprüfte Artikel das Land ver- der 1960er Jahre auf Lathe als direkten Kom- ließen, durften die Beiträge nur über das Zentrale munikationskanal zur sowjetischen Regierung, Telegrafenamt in Moskau an die Heimatredaktio- um nicht auf die als konservativ geltenden Dip- nen gesendet werden. lomaten aus dem Auswärtigen Amt als Vermittler Die Zensurkriterien, die die westlichen Jour- angewiesen zu sein. Auch unter Umgehung des nalisten nur erahnen konnten, da schriftliche sowjetischen Außenministeriums handelten die Richtlinien nicht existierten, umfassten unter an- Regierungen in den folgenden Jahren so die we- derem militärische, staatliche und wirtschaftliche sentlichen Eckpunkte der neuen Ostpolitik aus. Geheimnisse, Unglücke und Unfälle, Zahlen zur Nachfolgend nutzte auch Bundeskanzler Helmut Kriminalität, Berichte über Versorgungskrisen, Schmidt diesen „back channel“. in Ungnade gefallene Partei- und Staatsfunkti- In ihren weiteren Kapiteln beschriebt die Au- onäre, problematische Aspekte der sowjetischen torin, wie die sowjetischen Dissidenten Anschluss Geschichte et cetera. Mit besonderer Freude an die westlichen Journalisten suchten, wobei sie nahm deshalb das westliche Pressekorps in belegt, dass die bundesdeutschen Reporter erst Moskau im März 1961 die Nachricht von der nach Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Abschaffung der sogenannten Vorzensur auf. Helsinki ihre Zurückhaltung aufgaben, über die Bald stellte sich jedoch heraus, dass dies nicht Opposition unter der sowjetischen Intelligenz zu wirklich eine freie Berichterstattung bedeutete. berichten. Ein wesentliches Ergebnis der Neuen Kritik in den sowjetischen Medien, Vorladungen Ostpolitik für die journalistische Arbeit in Moskau zur Presseabteilung des Außenministeriums der war die Einrichtung ständiger Fernsehstudios von UdSSR sowie Einschüchterungen durch den ARD und ZDF. Ab der Mitte 1970er und in den Geheimdienst KGB sorgten dafür, dass sich die 1980er Jahren prägte eine gewisse Routine und bundesdeutschen Journalisten weitgehend an Abgeklärtheit die Arbeit der in der Sowjetunion

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 157 tätigen westdeutschen Korrespondenten, die Erstens bietet es eine repräsentative Auswahl an gleichwohl vielfältigen Einschränkungen und Beispielen, die Zeugnisse sind für die vielfältigen dem Druck der Selbstzensur unterlagen. Beziehungen, die der ostdeutsche Staat zu Län- Mit ihrem Buch hat Julia Metger eine überaus dern in Nord- und Südamerika, Asien und Afrika empfehlenswerte, quellengesättigte und zudem zwischen 1949 und 1989 unterhielt. Die Beiträge, gefällig lesbare Geschichte der westdeutschen die größtenteils auf Archivrecherchen und ethno- Auslandskorrespondenten in Moskau – bislang grafischen Studien basieren, verdeutlichen zwei- ein Desiderat der Forschung – geschrieben, die tens, dass es nicht den einen Sozialismus gab, sich zudem als spannender historischer Abriss wie in der kapitalistischen Welt oft angenommen des Kalten Krieges en miniature erweist. wird, sondern „varieties of world socialism“ (S. 3). Drittens und letztens wird mit dem Mythos des ost- Moskau Matthias Uhl deutschen Provinzialismus aufgeräumt. Für viele Menschen aus Ländern des globalen Südens wa- ren die Bundesrepublik und die DDR ebenbürtig. Aus ihrer Perspektive verfügten beide deutsche Relikte des ostdeutschen Staaten über einen hohen Lebensstandard und Internationalismus technisches Know-how, beide waren Mitglied im Club der hochindustrialisierten Länder der Welt. Slobodian, Quinn (Hrsg.) : Comrades of Color. Verbindendes Element der zwölf Kapitel East Germany in the Cold War World, 334 S., des Sammelbandes ist dabei der Begriff ‚race‘. Berghahn, Oxford/New York 2015. Slobodian erklärt im ersten Kapitel die Wider- sprüchlichkeit, mit der in der DDR mit Rassismus „What remains of forty years of East German in- umgegangen wurde. Offiziell gab es diesen nicht, ternationalism?“ (S. 9). Quinn Slobodian und sei- denn im Sozialismus durfte es (ebenso wenig wie ne zwölf Mitautoren lassen in dem Sammelband zwischen den Klassen) Unterschiede zwischen „Comrades of Color“ eine sehr differenzierte den Völkern und Ethnien geben. Gleichzeitig Auseinandersetzung mit dieser zentralen Frage- wurde auf Postern und Plakaten, etwa zu den III. stellung erkennen, die weggeht von dem, was Weltjugendfestspielen in Berlin im Jahr 1951, mit man aus dem deutschen Wissenschaftsdiskurs gängigen Klischees und Stereotypen gearbeitet, zur DDR kennt. In dem Buch geht es nicht um die Slobodian als ‚sozialistische Farbenlehre‘ be- Stasi oder Stacheldraht. Im Zentrum stehen die zeichnet: Die DDR „relied on skin color and other internationale Solidarität, (Anti-)Rassismus oder markers of phenotypic difference to create (over- (Anti-)Imperialismus – allesamt Themen, die sich ly) neat divisions between social groups within a die DDR gut und gern auf die Fahnen schrieb technically nonhierarchical logic of race“ (S. 24). und die vor allem in der Geschichtsschreibung im Auch wenn die meisten DDR-Bürger keinen oder wiedervereinten Deutschland zusehends in Ver- nur wenig direkten Kontakt zu Menschen aus Af- gessenheit geraten. Die Autoren sind fast aus- rika, Asien oder Amerika hatten, so spiegelte sich schließlich Historiker, die an US-amerikanischen diese Ambivalenz dennoch auch im Alltag wider, Institutionen promoviert haben und arbeiten, teil- wie viele der Beiträge in „Comrades of Color“ an- weise mit deutschen Wurzeln. Vermutlich braucht schaulich zeigen: Auf der einen Seite steht der es den Blick von außen, um sich diesem Kapitel schwarze Mann, der es vor allem auf Sex mit blon- der DDR-Geschichte ohne akademische Schwe- den DDR-Bürgerinnen abgesehen hat; auf der an- re und Vorverurteilung annähern zu können. deren Seite die ehrliche Solidarität mit den Völkern Aber nicht nur aus diesem Grund sind die des globalen Südens „struggling against invasion, Beiträge von Slobodian und seinen Mitstreitern occupation, and racialized oppression“ (S. 32). äußerst lesenswert. „Comrades of Color“ besticht Die darauffolgenden elf Kapitel gliedern durch die vielen kleinen Erzählungen, die zum Teil sich in vier Teile. Zunächst geht es um das, anekdotischen Charakter haben, und gemeinsam was man heute unter dem Begriff ‚Entwick- mit den zahlreichen Abbildungen und Auszügen lungshilfe‘ versteht. Young-Sun Hong stellt in aus Briefen und Artikeln dem Buch eine Leich- seinem Beitrag zum Beispiel das wichtigste tigkeit verleihen, die man in der Fachliteratur oft Hilfsprogramm der DDR für Nordkorea vor: vermisst. den Wiederaufbau der Stadt Hamhung, die Folgt man der Einleitung, dann machen drei während des Korea-Krieges komplett zerstört zentrale Aspekte den Mehrwert des Buches aus: wurde. Gregory Witkowski widmet sich den ver-

158 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen schiedenen DDR-Spendensammlungen (etwa: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015 Solidaritätsfond). Die anschließenden Kapitel (tschech. 2013). werden unter dem Stichwort „ambivalent sol- idarities“ (S. 115) zusammengefasst. Simon Städtepartnerschaften sind ein beliebtes Mittel Stevens gibt Einblicke in das Leben des südaf- zur Aussöhnung und Annäherung über Grenzen rikanischen Journalisten und Schriftstellers Wil- hinweg. Umso erstaunlicher, dass diese bislang in liam „Bloke“ Modisane, der auch einige Jahre der historischen Forschung wenig berücksichtigt in der DDR verbrachte und dort unter anderem wurden. Offensichtlich haftet ihnen der Hautgout eine eindeutig zweideutige Begegnung mit ei- des Folkloristischen und damit eines zu vernach- ner Kellnerin hatte (Sex gegen Heirat, damit lässigenden Aspektes internationaler Geschichte er sie aus der DDR bringen möge – Modisane an. Dabei sind durchaus andere Lesarten denk- lehnte aber ab, so viel sei schon verraten). Sara bar. So könnte man diese zur Außenpolitik auf Pugach berichtet über das Leben afrikanischer kommunaler Ebene aufwerten oder als Beispiel Studenten an der Karl-Marx-Universität in Leip- für die Rolle zivilgesellschaftlichen Engagements zig und Katrina Hagen schreibt über Angela Da- für ein „Europa von unten“ untersuchen. vis, die US-amerikanische Friedenskämpferin Die 2013 auf Tschechisch erschienene mit den Locken, die gewiss in so einem Band und nun in deutscher Übersetzung vorliegende nicht fehlen darf. Dissertation schreibt den Städtepartnerschaf- ten eine „überaus wichtige Aufgabe“ (S. 369) Im folgenden Abschnitt werden unter der für die deutsch-französische Annäherung zu. Überschrift „socialist mirrors“ (S. 211) zwei Fall- Das vielzitierte Diktum von der „Erbfeindschaft“ studien zum DDR-Film präsentiert – zum einen aufgreifend, untersucht Lucie Filipová die zu den Berliner DEFA-Studios, zum anderen zu deutsch-französischen Städtepartnerschaften dem Film „Dschungelzeit“, eine ostdeutsch-viet- der Nachkriegszeit von den kleinen Anfängen in namesische Koproduktion aus dem Jahr 1988. den 1950er Jahren bis zur Jahrtausendwende, Der letzte Abschnitt rundet das Buch perfekt ab: an der die Zahl der Partnerschaften auf über Wer wissen will, was von der DDR übrig bleibt 2.000 gestiegen ist. Die deutsch-französischen oder geblieben ist, der findet spätestens hier eine Kooperationen machen insgesamt den größten Antwort. Christina Schwenkel erzählt am Beispiel Teil aller Städtepartnerschaften aus. An ihnen des 2010 abgehaltenen ‚Deutschland-Jahres in lassen sich exemplarisch die unterschiedlichs- Vietnam‘, wie sich die ehemaligen sozialistischen ten Dimensionen dieser Form transnationaler Bruderländer der DDR aufgrund diplomatischer Zusammenarbeit aufzeigen. Die Arbeit legt den Erwägungen mit Erinnerungsfeiern an die DDR Fokus allerdings ausschließlich auf die bilatera- zurückhalten, obwohl die ostdeutschen Solidari- le Ebene. Methodisch erhebt sie den Anspruch, tätsaktionen vielen Menschen in diesen Staaten sich zwischen Sozial- und transnationaler Ge- noch heute ein Begriff sind. Jennifer Ruth Hosek schichte zu bewegen. Handlungsleitend und schildert zum Abschluss, wie die drei Filme „Good die Darstellung strukturierend ist die unterstellte Bye, Lenin!“, „Das Leben der Anderen“ und Korrelation zwischen der Ebene der politisch- „Barbara“ in Kuba rezipiert wurden. Den Beitrag diplomatischen Beziehungen und der kommuna- schreibt sie im Wechsel mit dem 1960 gebore- len Zusammenarbeit. nen afro-kubanischen Schriftsteller Victor Fowler Die Gliederung des Buches folgt den Phasen Calzada, der über die Spuren der DDR in seiner deutsch-französischer Beziehungen, die sich aus Heimat nachdenkt. Fortsetzung folgt. Hoffentlich. den politisch-diplomatischen Beziehungen erge- ben. Die Kapitel sind nach einem sich wiederho- Brüssel Anke Fiedler lenden Schema aufgebaut. Jedes Kapitel beginnt mit einer Darstellung dieser Beziehungsebene auf Grundlage der einschlägigen Forschungen. Insofern erfährt der Leser hier nur Altbekann- Erfolgsgeschichte der Städtepartner- tes über die Qualität der Beziehungen zwischen schaft Adenauer/de Gaulle und aller folgenden couples franco-allemands . Interessanter wird es, wenn Filipová, Lucie : Erfüllte Hoffnung. Städte- es um die zusammenfassende statistische Ent- partnerschaften als Instrument der deutsch- wicklung der Städtepartnerschaften geht, die französischen Aussöhnung, 1950–2000, 409 S., anschließend an konkreten Fallbeispielen mit

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 159 Inhalten gefüllt werden. Hier arbeitet die Auto- Positiv hervorzuheben ist, dass die Studie rin mit den Quellen insbesondere der Kommu- interessante Einblicke in die konkrete Praxis nalarchive. Die Auswahl der Beispiele soll eine der Städtepartnerschaften liefert, die insgesamt größtmögliche Bandbreite liefern, von den frühen schwer auf einen Nenner zu bringen ist. So waren Kooperationen Mainz/Dijon, Duisburg/Calais die Akteure oftmals zivilgesellschaftliche, häufig und Calais/Wismar, über die Kleinstädte Kirkel/ aber auch die Kommunalpolitiker selber. Mal ging Mauléon, Brombachttal/La Rivière de Corps bis es stärker um kulturelle Themen, mal um Sport hin zu Bautzen/Dreux. oder Jugendaustausch, mitunter spielten ökono- Die Kombination von quantitativen Quel- mische Interessen eine zentrale Rolle. Überdies len und qualitativen Aussagen ist sicherlich ein stand und fiel die Kooperation häufig mit dem be- positiv hervorzuhebender Ansatz dieser Studie, sonderen Engagement einer Person, nach deren ebenso die Betrachtung über die Epochenzäsur Ableben oder Wegzug die Kooperation einschlief. 1989/90 hinweg sowie der Einbezug der „an- Auch erfahren wir vieles über die Faktoren, die für deren“ deutsch-französischen Beziehungen mit eine erfolgreiche Kooperation ausschlaggebend der DDR. Die beabsichtigte Verzahnung von waren: Eine ähnliche Größe, Bevölkerungs- und staatlicher und gesellschaftlicher Ebene gelingt Wirtschaftsstruktur waren von Vorteil. Die Ent- der Autorin allerdings nur bedingt. Die staatliche fernungen durften nicht zu groß sein. Hinderlich Ebene wird überbetont, die zur gesellschaftli- wiederum waren die unterschiedlichen institutio- chen Ebene herangezogenen Quellen sind eher nell-administrativen Strukturen. Dennoch wertet begrenzt, durchaus disparat und nur bedingt Filipová die deutsch-französischen Städtepart- aussagekräftig. Die angenommene Korrelation nerschaften als eine Erfolgsgeschichte, die die schließlich zwischen den Konjunkturen der diplo- in sie gesetzten Hoffnungen erfüllt habe und für matischen Beziehungen und der Entwicklung der die Zukunft als Modell dienen könne. Angesichts Städtepartnerschaften muss von Filipová selbst der schieren Zahl der kommunalen Kooperatio- relativiert werden. Eine zentrale Erkenntnis der nen bietet sich hier noch sehr viel Gelegenheit für weitere Forschungen. Untersuchung besteht darin, dass es im Prin- zip nur einen begrenzten Zusammenhang gibt (S. 132). Duisburg-Essen Claudia Hiepel Stattdessen lässt sich eine Eigendynamik der kommunalen Partnerschaften erkennen, die mitunter quer lag zu den Höhen und Tiefen der Immobilienspekulation revisited bilateralen Beziehungen. Hier wäre der Auto- rin ein wenig mehr Mut zu wünschen gewesen, Führer, Karl Christian : Die Stadt, das Geld und das anfängliche Konzept zu überdenken und der Markt. Immobilienspekulation in der Bun- anderen, innovativeren Deutungsmustern Raum desrepublik 1960–1985, 412 S., De Gruyter zu geben. Das Motiv der deutsch-französischen Oldenbourg, Berlin u. a. 2015. Aussöhnung verlor ja, wie zurecht festgestellt wurde, recht bald an Bedeutung, parallel dazu „Spekulation“ ist bei der gegenwärtigen Furcht vor wurde verstärkt die europäische Dimension der einer Immobilienblase wieder ein großes Thema. Städtepartnerschaften in den Fokus gerückt. Der Tatsächlich sind Begriff und Inhalt ambivalent, Rat der Gemeinden Europas als ein transnationa- was Nutzen, Moral, Selbst- und Fremdwahr- les Organ der kommunalen Kooperation spielte nehmung angeht. Die Diskussion ist keines- hier eine zentrale Rolle, die eine stärkere Be- wegs neu. 1960 begann mit dem „Abbaugesetz“ achtung verdient hätte. Zugleich eröffneten sich Bundeswohnungsbauminister Paul Lückes die ab 1990 mit dem Programm INTERREG zur Un- Liberalisierung des seit 1917 weitgehend be- terstützung grenzüberschreitender Zusammen- wirtschafteten Wohnungsmarktes. Nun, mit zu- arbeit in Europa neue Finanzierungsquellen, die nehmender Marktsättigung und wachsendem die Handlungsspielräume sicherlich vergrößerten Wohlstand, artikulierte sich mehr und mehr Kritik: und zugleich die Themen der Kooperation beein- Die kapitalistische Verfügung über Grund und Bo- flussten. Hier wäre es eine Aufgabe für künftige den beeinträchtige das Wohl der Allgemeinheit. Forschungen, die Europäisierung von Diskursen Profitgier, Spekulation hätten zu „Unwirtlichkeit und Praktiken in den kommunalen Partnerschaf- der Städte“ geführt, wie Alexander Mitscherlich in ten zu beleuchten. einer einflussreichen psychoanalytisch inspirierte

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Polemik („Anstiftung zum Unfrieden“, 1965) Wohnungssektor zu liberalisieren, stellt Führer gegen den sozialen Wohnungsbau und dessen die öffentlichen Debatten über den Wohnungs- Monotonie sowie gegen das Eigenheim und bau- markt dar, fokussiert vornehmlich auf den Köl- liche individualistische Selbstdarstellung schrieb. ner Kaufmann Günter Kaußen, der 1984 rund Die Diskussion ebbte Mitte der 1980er Jahre ab, 100.000 Wohnungen besaß („Miethai“, S. 361). lebte aber nach dem Zusammenbruch der DDR Schlaglichtartig geht er auch auf die Vermietung wieder auf. an Gastarbeiter ein und auf die komplizierte, Karl Christian Führer untersucht die damali- vielschichtige Materie von Mietrecht und Kündi- ge Kritik. Er fragt, wie berechtigt die Empörung gungsschutz. über steigende Miet- und Grundstückspreise war, Die Studie – Ergebnis eines dreijähri- welche Konsequenzen „die“ Politik zog und wel- gen DFG-Projekts – zeigt, wie stark der Umgang che Wirkungen die öffentlichen Eingriffe hatten. mit Boden und Wohnung stets von miteinander Dazu wertet er die zeitgenössische Publizistik, die verschränkten gesellschaftlichen, politischen wissenschaftliche Literatur sowie Archivalien aus und wirtschaftlichen Prozessen bestimmt war dem Bundesarchiv und weiteren Archiven aus. und ist, sodass man ihn nur dann angemessen Die Darstellung ist in drei Themen gegliedert: analysieren und interpretieren kann, wenn man zuerst der Handel mit Grund und Boden. Nach über die funktionalistische Sicht hinaus auch einem Rückblick auf die Debatten über die „Bo- die historisch-kulturwissenschaftliche einbe- denspekulation“ seit dem Kaiserreich stellt Füh- zieht. Das gelingt dem Autor eindrucksvoll. Er rer die Diskussionen der Nachkriegszeit dar. Er argumentiert, die Empörung über Spekulation im beschreibt die gegensätzlichen Einschätzungen: Bau- und Wohnungswesen sei nur vor dem Hin- steigende Grundstückspreise als sozialer Skan- tergrund der historischen Entwicklung zu erklä- dal beziehungsweise als „völlig normale Markt- ren: Langjährige Wohnraumbewirtschaftung und reaktion“; ferner die Versuche „der“ Politik, die öffentliche Förderung hätten die Bevölkerung „Bodenspekulation“ in den Griff zu bekommen. glauben gemacht, niedrige Mieten und stabile Er sieht dies als eine Geschichte des Scheiterns Wohnverhältnisse seien „sozial selbstverständ- und bewertet die steuerliche Privilegierung von lich und marktgerecht“ (S. 373). Mit Aufhebung Grundeigentum als „Liebesdienst“ der Politik. der Wohnungszwangswirtschaft schufen sich Das zweite Kapitel ist dem Geschäft mit Ängste Raum, die aus Vergegenwärtigung der bebauten städtischen Grundstücken gewidmet: Missstände vor dem Ersten Weltkrieg resultier- Abriss und Neubau, Modernisierung respektive ten. Auf diesem Boden gedieh die Skandalisie- Umwandlung in Eigentumswohnungen. Beispiele rung von „Spekulation“. Die Bevölkerung war sind das Frankfurter Westend, der durchaus ge- nicht bereit, die Wohnung „wieder primär als ein waltsame „Häuserkampf“. Diesen duldete – mit normales Wirtschaftsgut zu sehen“ und Knapp- Hinweis darauf, der „formale“ Eigentumsan- heitspreise zu bezahlen. Pfadabhängigkeit, sozi- spruch von „Großspekulanten“ sei geringzuschät- ale Besitzstände und Klientelpolitik der Parteien zen – die Stadtspitze, wiewohl der „Häuserrat“ sie wirkten zusammen. Mitunter wird einem bei der als „Gangstersyndikat“ beschimpfte (1973). Die Lektüre bange ob des Maßes an Opportunismus Polizei verhielt sich gegenüber den Eigentümern in der Politik, Selbsttäuschung der veröffentlich- unkooperativ, wurde dennoch von Hausbeset- ten Meinung und Selbstgerechtigkeit der (stu- zern der Folter an verhafteten Demonstranten dentischen) Linken. Aber die These, man habe geziehen. Einer der geschädigten Eigentümer den „Spekulanten“ deshalb als sozialen Stö- war Ignatz Bubis. „Wortführer unter den linken renfried wahrgenommen, weil man dem „Ideal Hausbesetzern“ waren Joschka Fischer und von Bewahrung“, von Stabilität des städtischen David Cohn-Bendit (S. 152, 157ff.). Der Ma- Lebens anhing (S. 372f.), verzeichnet linke Ge- gistrat kaufte mit Steuergeldern Grundstücke sellschafts- und Kapitalismuskritik wohl doch, auf, um gerichtsanhängige Verfahren „gütlich“ zu wenngleich die Kritik nicht nur in „Vorwärts“ und beenden (S. 169). Ferner bezieht Führer Stadt- „Spiegel“ zu finden war, sondern auch in „Welt“ planung und Hausbesetzungen in Hamburg be- und „Bild“ . ziehungsweise Westberlin („ein Fall sui generis“, Gleichwohl: Führers Untersuchung ist über S. 189) ein. die engeren wohnungs-, bau- und stadtge- Der dritte Teil behandelt die Mieten. Aus- schichtlichen Sachverhalte hinaus interessant gehend von Lückes Initiativen, die Woh- und stimulierend, denn sie bezieht grundlegende nungszwangswirtschaft abzuschaffen und den Fragen der Be- und Überlastung des Sozialstaats

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 161 ein, leuchtet einschlägige Aushandlungsprozesse SDS, der Kommune I und II, der Geschlechts- (und Versagen) der Politik aus und integriert kul- ordnung in den späten 1960er Jahren sowie der tur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte. Sie Darlegung der Quellenauswahl. Insgesamt lässt regt zu überfälligen Neubewertungen an und de- sich fragen, ob die vorliegende Dissertations- monstriert, wie heterogen, ambivalent und häufig schrift eine solch ausführliche Hinführung zum unzutreffend die zeitgenössische Kritik an der empirischen Teil benötigt. Einige Kürzungen, „Immobilienspekulation“ war. Straffungen und die Zusammenführung der bei- den Einleitungen, die zusammen ein Viertel des Bonn Günther Schulz Buchumfangs ausmachen, hätten der Arbeit gut zu Gesicht gestanden. Der empirische Teil gliedert sich in neun Ka- piteln mit den Überschriften: Utopie, Solidarität, Protest mit Gefühl Sprache des Protests, Provokation, Generatio- nenkonflikte, Psychoanalyse, Sexualität, Gewalt Pilzweger, Stefanie : Männlichkeit zwischen sowie Scheitern. Auf Grundlage von Erinne- Gefühl und Revolution. Eine Emotionsge- rungsschriften ehemaliger Akteure wie Daniel schichte der bundesdeutschen 68er-Bewe- Cohn-Bendit oder Peter Schneider berichtet die gung, 410 S., transcript, Bielefeld 2015. Autorin beispielsweise über den Zukunftsopti- mismus oder die Gegenwartskritik der „68er“. Im Zentrum von Stefanie Pilzwegers Dissertati- Anhand von zeitgenössischen Flugblättern re- onsschrift steht die These, dass es sich bei der kapituliert Pilzweger den Solidaritätsdiskurs „bundesdeutschen Oppositionsbewegung rund innerhalb der „68er-Bewegung“ und arbeitet „So- um das Jahr 1968 um eine maskulin codierte lidarität“ als einen zentralen Leit- und Wertbegriff Protestbewegung gehandelt“ (S. 12) habe. In heraus. Dass nicht nur Solidaritätsbekundungen einer 20-seitigen Einleitung stellt die Autorin dem Transport kollektiver Emotionen dienten, ihre Forschungsfrage vor und skizziert gelungen sondern auch humoristische Parolen und Ironie den Forschungsstand. Insbesondere möchte die Protestidentität mit ausgestalteten, zeigt das die Schrift herausarbeiten, „welche Emotionen lesenswerte Kapitel zur Protestsprache. Im Fol- in den späten 1960er Jahren der maskulinen genden geht die Arbeit unter Verwendung von Natur zu- oder abgesprochen wurden“ (ebd.). Fotografien auf die provokanten Körper- und Der knappen Einleitung folgt auf über 60 Sei- Protestinszenierungen ein, die der Kommunikati- ten der Themenabschnitt „Herangehensweise“, on neuer Männlichkeitsbilder dienten. Mao-Look, in dem Pilzweger kenntnisreich die emotionsge- lange Haare und Bärte sind für die Autorin die schichtlichen Theorieangebote referiert. Unter „Markenzeichen maskuliner Protestidentität“ der „68er-Generation“ versteht sie zunächst „alle (S. 194) und gleichzeitig zeitgebundene Be- Jahrgänge der späten 1930er Jahre bis zum kenntnisse zur „68er-Bewegung“. Beginn der 1950er Jahre“ (S. 59). Ihr Genera- Im fünften Kapitel bedient sich die Auto- tionenbegriff ist in diesem Verständnis gleichbe- rin des Generationenkonfliktnarratives, welches deutend mit Alterskohorte. Wenige Seiten später zahlreiche Erzählungen über „1968“ bestimmt. wird die „68er-Generation“ neueren generations- Die Gefühlswelt der nachgeborenen „68er“ ge- geschichtlichen Forschungen folgend wiederum genüber einer im Nationalsozialismus verstrickten als eine imagined community verstanden, die Elterngeneration beschreibt sie unter anderem sich durch nachträgliche Zuschreibungen und als eine Mischung aus Misstrauen, Scham und sinnstiftende Erzählungen herausgebildet habe moralischer Überlegenheit. Die quellenbasierte (vgl. S. 64f.). Trotz der langen Hinleitung bleibt Argumentation folgt größtenteils den autobiogra- das zugrunde liegende Generationenkonzept be- phischen Erinnerungsschriften; somit lässt Pilz- grifflich unscharf und changiert zwischen Kohor- weger die Chance, das gängige Konfliktnarrativ te und Konstrukt; zumal die „68er-Bewegung“ zu durchbrechen oder kritisch zu hinterfragen, auch mit der „68er-Generation“ gleichgesetzt ungenützt. Wie andere Studien gezeigt haben, wird. Zwar betont Pilzweger die retrospekti- waren die späten 1960er Jahren nicht nur durch ve Vermehrung dieser Generation, gleichzeitig den Konflikt, sondern auch durch Kooperation macht sie eine generationelle Minderheit jedoch und Konsens zwischen unterschiedlichen Al- zum Abbild einer ganzen Alterskohorte. Die terskohorten geprägt – bei gleichzeitigen intrage- zweite Einleitung schließt mit der Geschichte des nerationellen Auseinandersetzungen.

162 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen

In Bezug auf das Thema Sex und „68er-Be- Over the past two decades, the historiography wegung“ konstatiert die Arbeit, dass häufig Ge- on sexuality in Germany post-Second World fühle wie Scham oder Eifersucht einer offenen War has expanded significantly. There is gen- Sexualität gegenüberstanden. Insgesamt gese- eral agreement amongst historians about the hen, sei die emotionale Kultur der Bewegung dramatic changes in sexual morality and behav- durch „erhebliche Konflikte in der Sexual- und Ge- iour, particularly during the 1960s and 1970s. schlechterordnung erschüttert“ worden (S. 285). The interpretation of these changes, common- Dass so mancher „68er“-Akteur ein ambivalen- ly described with the term ‘sexual revolution’, tes Verhältnis zur Gewalt hatte, zeigt die Studie though, are a matter of debate. Initially, most im vorletzten Kapitel: Einerseits lehnte man mili- authors argued for a process of liberalisation that tärische Gewalt und den bundesrepublikanischen would have taken place in dur- Wehrdienst ab, anderseits sympathisierte man ing the post-war years and cumulated during the mit südamerikanischen Guerillakämpfern. Als second half of the 1960s. More recently, how- emotionale Gemeinschaft teilten die Protestie- ever, some historians suggested a different in- renden nach dem Tod von Benno Ohnesorg und terpretation. They propose not to describe these dem Attentat auf Rudi Dutschke die Furcht, „als changes in linear developmental terms such as Mitglied einer verfolgten Minderheit Opfer eines ‘conservative’ or ‘prudish’ on the one hand, and Gewaltverbrechens zu werden“ (S. 309). Diese ‘liberalised’ or ‘progressive’ on the other, but Wahrnehmung, gepaart mit Gefühlen wie Hass to understand them as historically contingent. und Wut, war schließlich die emotionale Grundla- Based on a Foucauldian approach, they empha- ge, um eigene Gewaltanwendungen zu rechtfer- sise processes of medialisation, normalisation, tigen. Die „68er“-Gefühlswelt schließt Pilzweger politicisation, therapeutisation, emotionalisation, mit dem Scheitern der Protestbewegung, der Er- and economisation of sexuality, a significant plu- schöpfung und dem Stagnationsgefühl, welches ralisation of sexual identities, and the mediation sich unter den Protestierenden breitgemacht of negotiation strategies for sex and neoliberal hatte. governance technologies for the management of Es ist das Verdienst dieser Studie, die Ge- the self. Taken together, these processes funda- fühlskultur einiger Protestakteure systematisch mentally changed the sex dispositive during the erschlossen zu haben. Angesichts der formu- second half of the twentieth century. lierten Forschungsfrage ist die intensive Ver- This anthology is a major contribution to such wendung retrospektiver Erinnerungsschriften, a Foucault-inspired reinterpretation of the ‘sexual aus denen man im Grunde mehr über den nach- revolution’ that is most welcome. In their introduc- träglich mit „1968“ verknüpften Emotionshaus- tion, the four co-editors make a strong case for halt erfährt, als über die Emotionsgeschichte the place of sexualities, bodies and identities in der bundesdeutschen Protestbewegung selbst, Germany’s post-war history. Their reinterpretation überraschend. Problematisch ist, dass Pilzwe- not only rejects the recent popular bashing of the ger aus retrospektiven Selbstinszenierungen 68-movement, but also criticises interpretations und Erinnerungsnarrativen einzelner Akteure al- of the changes of Germany during the 1960s tersspezifische Erfahrungs- und Emotionshaus- and 1970s as liberalisation, democratisation, halte in den späten 1960er Jahren ableitet. secularisation, individualisation and pluralisation Dennoch lädt die Arbeit dazu ein, den komple- that are widespread in the general historiography. xen Emotionshaushalt männlicher Protestak- The introduction is followed by 14 contributions teure zu entdecken. which all respond to this theoretical framework and cover a wide range of aspects of sexuality, identities, and bodies – I can highlight only a few Heidelberg Martin Stallmann chapters here. Franz X. Eder’s concise survey provides readers with a nuanced contextualisation of the The Sexual Revolution Revisited historical place of what he calls the ‘long his- tory of the “sexual revolution” in West Germa- Bänziger, Peter-Paul et al. (Eds.) : Sexuelle ny’ (p. 25). He rightly emphasises the role that Revolution? Sexualitätsgeschichte im deutsch- the media played in accelerating the changes sprachigen Raum seit den 1960er Jahren, of sexual behaviour and morality during the 376 pp., transcript, Bielefeld 2015. 1960s which, he maintains, had already begun

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 163 much earlier. Rather than conceptualising these ‘sexy bodies’ in advertising and beauty industry changes as a short ‘revolution’ (mid-1960s to (Otto Penz), the normalisation of sex in old age mid-1970s) one should see them as part of a (Annika Wellmann-Stühring), the medialisation of longer process stretching from the late 1940s AIDS and safer sex (Magdalena Beljan), and a up to the mid-1980s when AIDS brought about very timely chapter on the discourse about chil- new changes to the processes of sexualisation. dren’s sexuality and the paedo-sexual movement Hence, Eder understands the ‘sexual revolution’ (Jens Elberfeld). as a part of the longer process of the ‘dressing In contrast to what the subtitle suggests, and of the modern individual’ in the context of ‘the this is my main criticism, the volume is focussed sex’ (p. 51). Dagmar Herzog’s concluding ob- on West Germany with some articles also ad- servations about the ambiguities of the ‘sexual dressing other German-speaking countries such revolution’, the fragility of sexual identities, and as Austria and Switzerland, at least to some ex- constantly changing moral norms then positions tent; however, nothing at all is said about simi- the German developments in a wider context of lar changes in sexual behaviour and morality in West European developments. East Germany which Josie McLellan and Mark Rather than understanding pornography as Fenemore, for instance, have explored in their inherently titillating, Pascal Eitler reconstructs the outstanding work. This is a missed opportunity. historically contingent circumstances that make Looking at the case of communist East Germany specific images been seen as erotically exciting. would have allowed a very interesting compar- The question to be asked is who is supposed to ative perspective. However, no historian writing be titillated when, by what, and in what manner. about sexuality in West Germany during the sec- From this perspective, lust appears as a result of ond half of the twentieth century should ignore a specific cultural understanding of sex which is this essential and innovative anthology. also mediated through pornography. Imke Schmicke argues that second wave Durham Lutz Sauerteig feminism, by questioning gender roles and de- manding the right of self-determination for wom- en over their bodies, not only contributed to the politicisation of sexuality but, at the same time, Standardwerk zur US- through self-help and self-awareness groups, Menschenrechtsgeschichte also to the individualisation of sexuality with bio- political imperative subsequently shifting towards Keys, Barbara J. : Reclaiming American Virtue. women’s self-responsibility for their bodies. The Human Rights Revolution of the 1970s, The complexities of the reinterpretation of 368 S., Harvard UP, Cambridge, MA/London the ‘sexual revolution’ become obvious in Ben- 2014. no Gammerl’s chapter. By analysing formations of homosexual identities as processes of flexible Die Entstehung der Menschenrechte im Kontext normalisation of homosexuality with persisting el- der internationalen Beziehungen und auch in Be- ements of rigid norms, Gammerl concludes, on zug auf die US-amerikanische Außenpolitik ist ein the one hand, that notions like ‘liberalisation’ or wohl etabliertes Feld. Besonders in den letzten ‘emancipation’ are misleading because the nor- Jahren sind entscheidende Impulse von Histori- malisation of homosexual identities produced ker_innen wie Samuel Moyn („The Last Utopia. itself new norms. On the other hand, though, Human Rights in History“, 2010), Sarah Snyder the continuation of rigid norms requires a com- („Human Rights Activism and the End of the bination of narratives of emancipation with those Cold War“, 2011) und William M. Schmidli („The of normalisation rather than plainly replacing the Fate of Freedom Elsewhere“, 2013) gekommen. former with the latter. Doch fügt die Untersuchung Barbara Keys dem Similar arguments are presented throughout Feld neue Aspekte hinzu und wartet auch mit this very coherent volume in chapters on sex edu- neuen Ergebnissen auf. cation (Christin Sager), sex toys and consumerism Zunächst liest sich das Narrativ Keys’ ver- (Elizabeth Heineman and Stefanie Duttweiler), traut. In den 1970er Jahren wandte sich die debates about contraception in the Catholic US-amerikanische Außenpolitik den Menschen- Church (Eva-Maria Silies), the therapeutisation rechten mit Verve zu. Dies war das Ergebnis of sexuality (Nina Verheyen), the construction of einer Reihe von tiefgreifenden Veränderungen

164 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen wie dem Kampf der African Americans um Dazu zählen die Wendung zu internationalen und Gleichberechtigung und dem militärischen und transnationalen Problemen, die Tatsache, dass ethischen Desaster des Vietnamkrieges. Die der Kampf gegen den Vietnamkrieg nicht in der Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik Sprache der Menschenrechte gefasst war, son- und die zunehmende Ablehnung der an nackten dern auf die Auswirkungen des Krieges auf die Machtinteressen orientierten Außenpolitik Henry amerikanische Bevölkerung, und die politische Kissingers durch den Kongress taten ein Übri- Breite des Menschenrechtsdiskurses, der ja auch ges. Hinzu kamen die Rolle der NGOs und die Vertreter des antikommunistischen konservativen ideologischen Enttäuschungen in der Post-Viet- Lagers umfasste. Präsident Jimmy Carter nutzte nam-Ära, die den Menschenrechten den Status diese Diversität aus, um seine Menschenrechts- einer Ersatzutopie verschafften. Die Menschen- politik als einen konsensuellen Ansatz aller Lager rechtsdebatte entfaltete sich in zwei Lagern, zu propagieren. Er musste aber erfahren, dass den Konservativen, die vor allem sowjetische wenn Linke und Rechte „Menschenrechte“ ad- Menschenrechtsverletzungen anprangerten (in ressierten, sie jeweils etwas ganz anderes mein- Westdeutschland äußerte sich dies in einer vio- ten. lenten Kampagne um die Rechte von psychisch Ein weiterer Punkt, in dem sich Keys (wohl- Kranken in Anstalten der Sowjetunion, die sich tuend) abhebt, ist die Diskussion der emotionalen nahtlos in die Antipsychiatriedebatte der Jahre Seite des Kampfes um Menschenrechte. Dies ist einfügte) und der Anheizung des Antikommu- wohl der neueren Debatte um die Geschichte nismus in westlichen Gesellschaften diente. Für der Gefühle und Affekte zu verdanken. Auch hier die Liberalen und Linken diente die Debatte nimmt der Vietnamkrieg eine wichtige Rolle ein. zu einer Distanzierung von den Übergriffen der Während der Präsidentschaftswahl von 1972 ließ Vietnam-Ära und den autoritären Regimen, mit der Kandidat der Demokraten George McGovern denen die USA kooperierten. verlauten, Amerikaner_innen sollten sich wegen Doch weicht dieses Narrativ Keys’ in eini- des Vietnamkrieges und der in ihm begangenen gen zentralen Stellen vom Master Narrative ab. Brutalität schuldig fühlen. Das Ergebnis war ein Zum einen beschäftigt sich die Autorin vor allem Triumph für den Republikaner Richard M. Nixon, mit dem Menschenrechtsdiskurs der Linken. Sie weil die meisten Amerikaner sich nicht schuldig bemerkt, dass der Ausdruck „Menschenrechte“ fühlen wollten (S. 72). Der kluge und keineswegs (human rights ) in der Debatte selten verwendet naive Jimmy Carter verstand die Botschaft und wurde und dass stattdessen in der Regel politi- behauptete in einer Art von „domestic psycho- sche Rechte und Bürgerrechte ( civil liberties/civil therapy“ im Wahlkampf von 1976, „human rights rights ) thematisiert wurden. Zwei Veränderungen were about being proud again, standing tall, feel- beförderten diese Debatte ins Feld der Außenpoli- ing good“ (S. 267). Sie waren sein Gegengift zu tik: Die Verschiebung des schwarzen Befreiungs- Schuldgefühlen und Schande. kampfes in ökonomische und kulturelle Bereiche Keys steuert eine weitere wichtige Beob- und das Trauma des Vietnamkrieges. Für Keys achtung bei: Der Kampf um Menschenrechte war die Bürgerrechtsbewegung nicht die Quelle der 1970er Jahre war vor allem eine Introspek- der Bewegung für Menschenrechte, obwohl viele tion, eine Selbstversicherung und nicht etwa ein der AktivistInnen der Bewegung aus den Reihen Kreuzzug zur Rettung der Menschheit. Dieser ehemaliger Bürgerrechtler_innen stammten. An- Umstand hilft es auch, die Chronologie der Be- dersherum wird für sie ein Schuh daraus: Nur wegung besser zu verstehen und ihre Nonlinea- weil die Bürgerrechtsbewegung nicht mehr im rität zu begreifen. Es handelte sich nämlich nicht Mittelpunkt des Interesses stand, konnte sich der um eine mit Franklin D. Roosevelt begonnene Diskurs um Menschenrechte erst entfalten. „Only teleologische Bewegung, die im Kalten Krieg as civil rights problems faded from the national unterbrochen und dann wieder aufgenommen agenda could Americans credibly invest human wurde. Vielmehr schlägt Keys vor, die innere Me- rights with a different mean ing. […] When the chanik der Bewegung genauer zu untersuchen, movement came, it would be less about extend- um zu verstehen, wie aus der Dynamik von Ak- ing the battles of the sixties than about declar- tivist_innen, Außenpolitikern, Kongress und Wei- ing them over and searching for foreign rather ßem Haus und nach Entstehung von Amnesty than homegrown monsters to slay“ (S. 47). Um International sich eine Dynamik entwickelte, die diesen Bruch zu verdeutlichen, betont Keys die in Gesetzgebungsprojekten mündete. Besonders Diskontinuitäten zwischen beiden Bewegungen. Amnesty International wird nicht als eine linke

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 165 monolithische NGO porträtiert, vielmehr legt Keys politische Entscheidungsträger über die antizi- die inneren Konflikte offen und weist nach, wie pierten medizinischen Folgen eines mit Kern- die Gründung der Human Rights Watch 1978 die waffen geführten Krieges aufzuklären. Diese Diskussion intensivierte. Alles das ist gut belegt Aufklärungsarbeit sollte dann ein breites Pro- und plausibel argumentiert. blembewusstsein schaffen, welches wiederum Die 65 Seiten umfassende Bibliographie Regierungen in aller Welt dazu veranlassen soll- und die zahlreichen Verweise auf amerikanische te, sich aktiv für die atomare Abrüstung einzu- Archivbestände belegen, wie umfassend die Ver- setzen, um so das Wettrüsten der Supermächte fasserin recherchiert hat. Im verwendeten Ma- zu beenden und den Kalten Krieg zu entschär- terial finden sich Bestände wie das Archiv der fen. ACLU, von Amnesty International, der Nachlass Claudia Kempers Monografie „Medizin ge- verschiedener Politiker in der Hoover Institution gen den Kalten Krieg. Ärzte in der anti-atoma- (Stanford), an der Yale University, verschiedenen ren Friedensbewegung der 1980er Jahre“, eine Präsidentenbibliotheken und den Papieren aus überarbeitete Fassung ihrer Habilitationsschrift, Regierungsbürokratien. Dieses Buch wird auf beschäftigt sich im Kern mit der bundesdeut- absehbare Zeit der Standard zur Geschichte der schen Sektion der IPPNW im Zeitraum ab der Menschenrechte in den USA bleiben. Gründung der internationalen Dachorganisation in den Vereinigten Staaten 1980 über die Grün- Köln Norbert Finzsch dung der bundesdeutschen Sektion 1982 bis hin zum IPPNW-Weltkongress in Köln im Jah- re 1986, den die bundesdeutsche IPPNW-Grup- pe organisierte. Dabei beschränkt die Autorin Internationale Ärzte zur Verhütung ihren Blick aber nicht nur auf die bundesdeut- eines Atomkrieges sche Sektion, sondern bezieht Entwicklungen innerhalb der internationalen Dachorganisation Kemper, Claudia : Medizin gegen den Kalten sowie ihres US-amerikanischen Ablegers, den Krieg. Ärzte in der anti-atomaren Friedensbe- Physicians for Social Responsibility, und der wegung der 1980er Jahre, 476 S., Wallstein, IPPNW-Gruppe in der DDR mit in ihre Betrach- Göttingen 2016. tung ein. „Da die Studie als Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte angelegt ist“, recht- Vor dem Hintergrund des sogenannten ‚Zwei- fertigt Kemper ihre Vorgehensweise, „stehen ten Kalten Krieges‘ organisierten sich Ärzte in zum einen die inländischen Bedingungen für die der Bundesrepublik Deutschland wie auch in Entwicklung einzelner Organisationsteile im Mit- anderen europäischen und außereuropäischen telpunkt und zum anderen der Austausch zwi- Nationen in Aktionsgruppen, um gegen die von schen diesen Teilen“ (S. 68). Und das erscheint ihnen als lebensbedrohlich wahrgenommene durchaus plausibel. Gefahr eines Atomkrieges zu protestieren und „Medizin gegen den Kalten Krieg“ ist in selbigen zu verhindern. Im Jahre 1980 führten eine Einleitung sowie fünf Teile untergliedert. In diese Proteste zur Gründung der Internatio- der Einleitung führt die Autorin die Leserinnen nalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges und Leser in das Thema, vor allem im weiteren (International Physicians for the Prevention of Kontext des ‚Zweiten Kalten Krieges‘, ein und Nuclear War; IPPNW) durch US-amerikanische zeigt Lacunae in der bestehenden Forschung und sowjetische Mediziner. Ab 1982 firmierten zum Kalten Krieg auf, derer sich die vorliegende dann auch die bis dato in einer Reihe lokaler Untersuchung zum Teil annimmt. Der erste Ab- und regionaler Gruppen in der Bundesrepublik schnitt dient der „Vermessung des Themas: Me- organisierten Mediziner unter dem Banner einer thodik, Forschungsfelder und Akteure“ und ist bundesdeutschen IPPNW-Sektion. Ethisch-mo- in weitere vier Unterkapitel unterteilt, die logisch ralisch durch ihren Schwur auf den Hippokra- aufeinander aufbauen. Aus heuristischen Grün- tischen Eid legitimiert, sahen sich die IPPNW, den beginnt dieser Teil mit einer Einführung in deren Mitglieder sich aus den Reihen einer „un- das transnationale IPPNW-Netzwerk, insbeson- politischen Profession“ rekrutierten, als eine Ex- dere vor dem Hintergrund seiner Legitimation pertenorganisation. Aus dieser Selbstperzeption als „moralischer Instanz“ und „Expertenorgani- leitete sich, so die IPPNW, ihr gesellschaftlicher sation,“ die sich selbst in Abgrenzung von der Auftrag ab, sowohl die Öffentlichkeit als auch größeren Anti-Atomwaffenmassenbewegung

166 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen als „unpolitisch“ ansah. Dabei betont Kemper, des Buches ist gerade das Unterkapitel „Nähe dass es sich bei den IPPNW um „ein soziales und Distanz“ erwähnenswert, problematisiert es und epistemisches Phänomen“ (S. 19) handele. doch am Beispiel zentraler Bereiche wie Gen- Hilfreich ist in diesem Unterkapitel die Einbet- der, der Gründung einer IPPNW-Sektion in der tung der IPPNW-Aktivitäten in größere mora- DDR oder Kompetenzstreitigkeiten unter euro- lisch-ethische Fragen des Ärzteberufes sowie päischen IPPNW-Ablegern die Heterogenität der Rolle von Ärzten als Experten. Der daran derart transnational angelegter Netzwerke. „In anschließende Abschnitt verortet die Aktivitäten der Friedensbewegung hob die europäische der IPPNW im Hinblick auf die breitere Frie- bzw. westdeutsche Selbstverständigung nicht densbewegung der 1980er Jahre. Im folgenden nur auf kulturelle und institutionelle Unterschie- Unterkapitel geht es um die IPPNW im Rahmen de zu den USA ab, sondern integrierte auch von Nichtregierungsorganisationen, bevor das Genderkonstrukte“, wie Kemper zeigt, „die den abschließende Unterkapitel Aufbau und Struktur dichotomischen Charakter des Westbündnisses des Buches erläutert. hervorheben sollten“ (S. 338). Und dieses Bei- Der zweite Teil behandelt „Die gesellschaft- spiel verdeutlicht zugleich eine Stärke der vorlie- liche Dimension der Ärztebewegung“ und führt genden Untersuchung, die in der durchgehenden die Leserschaft in zentrale Diskussionsfelder Konzeptionalisierung und Kontextualisierung der ein, die für ein Verständnis des Aktivismus der IPPNW-Aktivitäten und Kampagnen liegt. Die IPPNW unabdingbar sind. Zum einen geht es Autorin hält dies auch konsequent im abschlie- in diesem Teil um relevante „Diskussionen im ßenden fünften Teil durch, in dem sie die we- Gesundheits- und Medizinbereich“ wie etwa Ent- sentlichen Befunde ihrer Untersuchung in den wicklungen innerhalb des bundesdeutschen und weiteren Zusammenhang der bundesdeutschen US-amerikanischen Gesundheitswesens, die Sozialgeschichte der 1980er Jahre stellt und ein von Relevanz für die Arbeit der IPPNW waren. illuminierendes Fazit zieht. Zum anderen stehen aber auch präventivmedi- Neben dieser großen interpretatorischen zinische und psychotherapeutische Ansätze im Stärke, liefert Kemper aber auch die erste um- Fokus, die eine wichtige Basis der IPPNW-Ak- fassende Auswertung des Quellenbestandes der tivitäten, besonders ihrer Methodik, darstellten. bundesdeutschen Sektion der IPPNW. Darüber Erwähnenswert ist in diesem Abschnitt die Ana- hinaus wertete die Hamburger Historikerin Un- lyse zum Verständnis von NS-Vergangenheit und terlagen der US-amerikanischen Physicians for Medizin, das – keinesfalls unerwartet – einen ho- Social Responsibility sowie den IPPNW in Ar- hen Stellenwert innerhalb der bundesdeutschen chiven in den Vereinigten Staaten aus. Gerade IPPNW-Sektion einnahm. in der Verbindung von umfassender empirischer Im dritten Teil geht es um die Gründungs- Archivarbeit sowie der rigorosen Konzeptionalisie- phase sowohl der IPPNW-Dachorganisation rung und Kontextualisierung des Themas liegt die als auch ihres Ablegers in der Bundesrepublik Stärke der vorliegenden Untersuchung. Obwohl im Zeitraum von 1980 bis 1984. Dabei stellt der zeitliche Rahmen der Untersuchung von 1980 Kemper die IPPNW aber keineswegs als eine bis 1986 schlüssig ist, wäre eine Berücksich- homogene Organisation dar. Der bundesdeut- tigung des IPPNW-Weltkongresses in Moskau sche Ableger etwa „entstand aus zwei Strömun- 1987 wünschenswert gewesen. So sanktionier- gen, die innerhalb der Sektion präsent blieben te die internationale Dachorganisation dort ihre und voneinander profitierten bzw. miteinander Entwicklung von einer single-issue in eine multi- konfligierten“ (S. 172). Neben einer Gruppe issue campaign , die sich nun ebenso mit Fragen angesehener Mediziner um Ulrich Gottstein und nicht-nuklearer Massenvernichtungswaffen oder Karl Bonhoeffer, die oft im Duktus der Bostoner von Entwicklungshilfe in der ‚Dritten Welt‘ befass- IPPNW-Zentrale agierten, gab es eine weitere te. Dies ist aber ein eher geringfügiger Kritikpunkt, Gruppe um Aktivisten wie Till Bastian, in der der keinesfalls den sehr positiven Gesamteindruck noch stärker die lokalen und regionalen Wurzeln von „Medizin gegen den Kalten Krieg“ schmälern der bundesdeutschen Sektion nachwirkten. sollte. So leistet Claudia Kemper mit ihrer Mono- Der vierte Hauptteil widmet sich dann den grafie einen wichtigen Beitrag zur Gesellschafts- „Grenzen der internationalen Friedensidee im geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie Kalten Krieg“ im Zeitraum von der Gründung der historischen Friedensforschung. der IPPNW-Dachorganisation bis zum Kölner IPPNW-Weltkongress 1986. In diesem Abschnitt Swansea Christoph Laucht

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 167 POLITIKWISSENSCHAFT Möglichkeiten sind die Folge. Dass sich apoka- lyptische und endzeitliche Denkmuster auf die Erfahrung der Endlichkeit auswirken und diese Endlichkeit ist nicht das Ende verändern, stellt Manfred Jakubowski-Tiessen heraus. Apokalyptik könne sogar hoffnungs- Bihrer, Andreas/Franke-Schwenk, Anja/Stein, voll wirken, nämlich das Bild eines zukünftigen Tine (Hrsg.) : Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit „neue[n] Himmel[s] und eine[r] neue[n] Erde“ und Begrenztheit von Mensch, Natur und Ge- (S. 111) heraufbeschwören. sellschaft, 357 S., transcript, Bielefeld 2016. II. Im ökologischen politischen Denken der 1970/80er Jahre jedoch wurde die krisenhafte Dieser Sammelband, der die Ergebnisse des Erfahrung der ökologischen Endlichkeit direkt Kieler Projektkollegs „Erfahrung und Umgang mit der Erfahrung der Endlichkeit der Mensch- mit Endlichkeit“ (2012–2015) vorstellt, ist von heit verknüpft, wie Tine Stein zeigt. Autoren wie dem Anspruch geleitet, verschiedene Formen Rudolf Bahro und Hans Jonas plädierten für der Erfahrung von Endlichkeit zu beleuchten. eine „Rettung der menschlichen Seele“ (S. 208) Drei Modi der Endlichkeit – Vergänglichkeit, Be- durch eine nachhaltige Wende. Heutzutage ist grenztheit, Transformation – werden in Bezug vor allem die Verleugnung der Endlichkeit ein zum Menschen selbst, zur natürlichen Welt und Problem, wie Jörn Lamla diskutiert. Er zeigt zur sozialen Welt gesetzt. Während zunächst der auf, dass „in die Institutionen der Moderne so- Begriff der Endlichkeit als das Faktum, „dass et- wie insbesondere in den Alltag des Konsums ein was oder jemand – seien dies Dinge, Strukturen, starkes Gegenprogramm zur Erfahrung von End- Prozesse oder Personen – in Zeit und Raum ein lichkeit eingeschrieben ist“ (S. 234). Exzessiver Ende haben“ (S. 9) sehr weit gefasst wird, wird Konsum funktioniere nur, wenn ökonomische er im Weiteren zum „universellen Reflexionsraum“ Knappheit zwar erlebt, zugleich aber durch das erhoben, „in dem individuelle und kollektive Per- Angebot überwunden werde. So manifestiere spektiven eingeschlossen sind, Materielles wie sich die Unzugänglichkeit der Erfahrung ökologi- Ideelles, Zeit und Raum umgriffen sind“ (S. 10); scher Grenzen. Ganz konkret formuliert Konrad ergänzt durch die normative Frage, wie mit End- Ott die Notwendigkeit, die ethische Frage nach lichkeit umgegangen werden soll. einem guten Umgang mit der Begrenztheit der Die Erfahrung und der Umgang mit Endlich- Natur in einen gesellschaftstheoretischen Rah- keit sind, so die These, zentrale Kategorien dieser men zu stellen. Die Trias des Endlichkeitsbezugs Reflexionen. Erfahrung wird als „Aneignung von auf Mensch, Natur und soziale Welt wird durch Wirklichkeit unter der Prämisse einer Verschrän- seine Perspektive, dass „Naturverhältnisse im- kung von eigener Wahrnehmung und (gesell- mer auch gesellschaftliche Verhältnisse“ (S. 159) schaftlich vermitteltem) Deutungshorizont“ (S. 13) sind, vollständig eingefangen. Ob die Postwachs- verstanden. Mit der Kategorie des Umgangs soll tumsgesellschaft dann wirklich eine hegelianisch die „praktische Konstitution von Sinnhaftigkeit“ inspirierte sein wird, bleibt eine spannende Frage. (S. 14), die Übersetzung von Erfahrung in soziale III. Die Relativität der Endlichkeit wird im Mo- Praktiken erfasst werden, deren Vielfalt im Band dus der Transformation besonders deutlich. Ma- offenkundig wird. Die Beiträge sind, den Endlich- ria Grewe benennt verschiedene Praktiken des keits-Bezügen auf Mensch, Natur und soziale Welt Umgangs mit der Ding-Endlichkeit: entsorgen, entsprechend, in drei Blöcke gegliedert. konservieren und reparieren. Sie stellt heraus, I. Endlichkeit als Grenzerfahrung kann sinn- dass Endlichkeit auch durch soziale Bewertung konstitutiv sein, so Thomas Rentsch. „Es zeigt entsteht – im negativen Fall ist die Mode eines sich: Was wir nicht können, ermöglicht gerade Dinges ‚zu Ende‘, im positiven wird das Heraus- lebensweltlichen Sinn“ (S. 48, Hervorhebung im zögern der Ding-Endlichkeit, zum Beispiel durch Original). Weil Menschen die Endlichkeit ihrer Reparatur, „kollektiv überhöht und mit Bedeu- Vermögen erst im intersubjektiven (‚interexisten- tung aufgeladen“ (S. 343). Die „Überwindung tiellen‘) Verhältnis erkennen, ist dies die Voraus- der Endlichkeit personengebundener Herrschaft“ setzung einer sinnhaften Endlichkeitserfahrung. (S. 288) ist ein ganz anderes Beispiel für die Markus Saur weist einen positiven Zug der Relativität der Endlichkeit. Franziska Hormuth Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Er- untersucht Memoria-Strategien, die durch die kenntnis auf: Gelassenheit und das Ziel eines ge- „öffentliche Inszenierung der Ahnen“ für eine lungenen Lebens im Rahmen der menschlichen „Allgegenwärtigkeit“ der Verstorbenen sorgte

168 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen und deren Einfluss noch nach dem Tod sicherte mit der vermeintlichen Autorität subjektiver Erfah- (S. 280). Die resultierende „Verschränkung von rung zu vermitteln. Dabei ist zu unterscheiden, ob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (S. 284) sich der Beitrag von Gefühl und Erfahrung vor ist eine bemerkenswerte Form des Umgangs mit allem darauf bezieht, wie der ethisch-moralische Endlichkeit. In Form des Wandels sozialer Konfi- Geltungsanspruch zustande kommt, oder ob bei- gurationen gedacht, kann sich der Umgang mit de Kategorien für die inhaltlich-materiale Entfal- Endlichkeit als kulturelle Ressource und politische tung dieses Geltungsanspruchs herangezogen Lösung erweisen, so Silke Göttsch-Elten. Kultur- werden. kritik, aber auch die Aneignung und Umformung Frederik von Harbous Studie reiht sich in die- von Kulturgütern, können eine mögliche Reaktion se Debattenlage ein und muss sich in ihr bewäh- auf die Destabilisierung sozialer Zusammenhän- ren. Sein Fokus sind die Menschenrechte. Das ge sein. ist deshalb von besonderem Interesse, weil recht- Der Band versammelt ein breites disziplinä- liche und moralische Dimension im Menschen- res Spektrum und kann zu Recht beanspruchen, rechtsethos eng miteinander verknüpft sind: vielfältige Bereiche des ‚universellen Reflexions- Ohne moralischen Gehalt ließe sich die rechtliche raums‘ der Endlichkeit beleuchtet zu haben. Die Normierung dieser Ansprüche kaum aufrecht- Vielgestaltigkeit der Reflexionen, die zwischen erhalten; die rechtliche Normierung hingegen komplexer Deutung von und (alltags-)prakti- macht mit einem moralischen Anspruch „ernst“ schem Umgang mit Endlichkeit variieren, bringt und versucht ihn systematisch umzusetzen. auch die Tiefe dieses Raumes gut zur Geltung. Wohltuend ist zunächst, dass der Autor die Dabei hätte der Begriff des Umgangs durch eine Reichweite seines Erklärungsversuchs begrenzt: heideggersche Lesart noch verstärkt werden Er möchte nicht Empathie und Mitgefühl als können: Dass Menschen erst im Umgang mit einzigen und exklusiven Grund der Menschen- etwas, im Kontext eines Zusammenhangs, auf rechte behaupten, sondern lediglich deren syste- eine bestimmte Weise sein können, der Umgang matischen Ort in einem Gesamtverständnis dieser also auf ihr Dasein in der Welt zurückverweist, Rechte erhellen. Um dies zu bewerkstelligen, kann zwar in den Beiträgen erahnt werden, wird wählt er einen weiten Fokus: Philosophie- und aber nicht expliziert. Was die bestimmte Weise literaturgeschichtliche Verortungen des Phäno- des (endlichen) Daseins ausmacht, ist jedoch klar mens der „Empathie“ folgen auf begriffs- und geworden: Ein tätiger Umgang mit den Erfahrun- religionsgeschichtliche Auseinandersetzungen; gen, die in der natürlichen wie der sozialen Welt Psychologie und Psychiatrie werden ebenso kon- gemacht werden. sultiert wie auch die Neurowissenschaften, bevor sich die Erörterung nach hundertfünfzig Seiten Frankfurt a. M. Katia Henriette Backhaus einem zweiten Schlüsselbegriff zuwendet, dem der Moral. Auch hier erfolgen ausführliche Son- dierungen zum Begriff, seiner Historie und den möglichen Verknüpfungen von Moral und Empa- Recht und Mitgefühl thie, um als Zwischenergebnis festzuhalten: Em- pathie ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend Harbou, Frederik von : Empathie als Element für die Begründung und Erschließung von Moral. einer rekonstruktiven Theorie der Menschen- Im dritten Hauptteil wird dann die Relevanz rechte, 393 S., Nomos, Baden-Baden 2014. der Empathie für die Menschenrechte diskutiert. Die Argumentationskette ist folgende: Men- Wenn die Frage gestellt wird, welche Rolle Gefühl schenrechte lassen sich gar nicht anders verste- und Erfahrung bei der Erschließung moralischer hen als über ihren wesentlich moralischen Gehalt. Normen haben können, bewegt man sich auf ei- Es sind moralische Ansprüche, die in Rechtsform nem weiten Feld. Es ist eine, wenn nicht die Leit- gegossen sind. Als moralische Ansprüche impli- frage des ethischen Diskurses der Moderne, die zieren sie eine altruistische Motivation, die über bis heute kontrovers erörtert wird. Längst wur- die gängigen vertrags- und vernunfttheoreti- den gegenüber den Optionen der Protagonisten schen Modelle der Menschenrechtsbegründung wie David Hume („moral sentiments“) und Arthur nicht vollständig eingeholt werden kann. Der Schopenhauer (Mitleid als Grund der Ethik) eine Bedeutungsgehalt der Menschenrechte bleibt Vielfalt differenzierter Positionen entwickelt, die also unterbelichtet, wenn nicht mit dem Ele- zum Ziel haben, die Rolle vernünftiger Reflexion ment der Empathie diese altruistische Dimension

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 169 hinzuträte. „Die in ihren Grundstrukturen ange- untermauern, dass ohne die Dimension der Em- borene Empathiefähigkeit aber beruht auf einem pathie moralische Forderungen mit universalem kortikalen Resonanzmechanismus, welcher aller Charakter nicht kohärent erhoben werden kön- Wahrscheinlichkeit wesentlich durch sog. Spie- nen und dass dies gerade für die Menschen- gelneuronen gebildet wird“ (S. 359). rechte von Belang ist, welche als Instrumente Die Studie muss differenziert bewertet wer- moralischer Universalisierung verstanden wer- den: Auf der „Haben-Seite“ steht ohne Frage den können. Aber diese Feststellung bleibt un- ihre breit angelegt Herangehensweise. Die ein- verbunden im Raum stehen. Weder schließt von zelnen Fächerperspektiven werden sachkundig Harbou damit an eine bedürfnisorientierte Be- und stringent eingeführt. Man gewinnt den Ein- gründung der Menschenrechte im Sinne Martha druck, dass hier wirklich interdisziplinär gelernt Nussbaums an, was der Sache nach durchaus werden soll, um eine spätere Synthese plausibel möglich wäre, noch führt er eine Diskussion zum zu machen. Zudem darf man nie außer Acht las- systematischen Verhältnis von Theorie und Praxis sen, dass ein Jurist spricht. Jede eng geführte sowie dem Stellenwert empirischer Sachverhal- rechtliche „Dogmatik“ wird von vornherein aus- te bei der Frage normativer Geltung. Vielleicht geschlossen. Der Autor legt mit der Anlage der wäre das auch zu viel verlangt für eine rechtswis- Arbeit ein nuanciertes, komplexes Verständnis senschaftliche Arbeit. So verbleibt der Eindruck davon an den Tag, wie rechtswissenschaftliche einer reichhaltigen und gekonnt vorgetragenen Erkenntnis zustande kommen kann – nicht über Sammlung unterschiedlicher Aspekte zum The- die innerrechtlich begriffliche Deduktion, sondern ma Empathie, welche vor allem als Dokument der über den Dialog des Rechts mit anderen Pers- rechtswissenschaftlichen Selbstvergewisserung pektiven des Weltverstehens. Der legitime und zur Erklärung der Menschenrechte Aussagekraft notwendige Ort des Rechts wird dann greifbar: entwickelt. Es ist das Nadelöhr, durch das die mit der Vielfalt der Perspektiven ermittelten Geltungsansprüche Fribourg Daniel Bogner (idealtypisch in Form der Menschenrechte) pas- sieren müssen, sollen sie Verbindlichkeit erlangen und damit für Menschen zu real erlebbarer Wirk- lichkeit werden. Recht ist so etwas wie das mo- In Verteidigung des Funktionalismus dellierende Relais moralischer Ansprüche, aber nicht die Quelle ihrer thematischen Bedeutung. Czerwick, Edwin : Funktionalismus. Konturen Die Studie von Harbous artikuliert auf beeindru- eines Erklärungsprogramms, 232 S., Mohr ckende Weise ein solches Rechtsverständnis. Sie Siebeck, Tübingen 2015. hat damit auch einen Wert für das interdisziplinä- re Gespräch, weil sie von Seiten des Rechts eine Funktionen sind „dauerhafte Einrichtungen zur Brücke zu den Kultur- und Sozialwissenschaften Lösung der Probleme von Systemen“ (S. 203), schlägt. so einer der bilanzierenden Sätze aus Edwin Auf der anderen Seite birgt die mit der of- Czerwicks vorliegendem Band mit dem schlich- fenen Hermeneutik einhergehende Breite des ten Titel „Funktionalismus“. Der Autor verfolgt Zugangs auch Gefahren, die der Autor nicht mit dem Band erstens das Ziel, herauszuarbei- vollständig im Griff hat. Zunächst überrascht der ten, was Funktionalismus bedeutet und zweitens ungebrochene anthropologische Naturalismus, „nach Möglichkeiten zu suchen, den Funktiona- wenn aus der neuronal feststellbaren Grundlage lismus als Erklärungsprogramm weiter zu entwi- der Empathiefähigkeit tout court Aussagen über ckeln“ (S. 7). die „Natur des Menschen“ und gegen kulturre- Der erste Teil des Bandes beantwortet aus- lativistische Positionen abgeleitet werden. Das gehend von den wissenschaftstheoretischen Verständnis von Kultur und Natur ist so jedenfalls Grundlagen des Funktionalismus (S. 13–50) die nicht in ausreichender Komplexität reflektiert und Frage nach der Bedeutung entlang der ‚Spielar- es bleibt ein schaler Beigeschmack ob solcher ten‘ des Funktionalismus (S. 51–88) und der ver- theoretischer „Abkürzungen“. schiedenen Formen funktionaler Erklärungen, die Auch auf die Frage, was denn der syste- sich daraus ableiten (S. 89–136). Damit zeichnet matisch originäre Ertrag der Gedankenführung er ein sehr differenziertes Bild des oft als monoli- insgesamt ist, bleibt der Autor am Ende Ant- thisch wahrgenommenen Theoriestranges. Dies worten schuldig. Zwar lässt sich mit der Studie geschieht in Abgrenzung zu naturwissenschaftlich,

170 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen kausal-logisch und deduktiv-nomologisch orien- „durch funktionale Analysen wissenschaftliche Er- tierten Erklärungsansätzen in den Sozialwissen- klärungen zu gewinnen […], die der Komplexität schaften. Dabei werden soziologische Ansätze sozialer Gegebenheiten gerecht werden“ (S. 139). in der Tradition von Talcott Parsons, Robert Mer- Der zweite, kleinere Teil des vorliegen- ton und Niklas Luhmann ebenso beleuchtet wie den Bandes beschäftigt sich in den Kapiteln 6 biologische und sozialanthropologische Ansätze. (S. 153–170) und 7 (S. 171–200) mit Perspekti- Einen zentralen Teil bildet dabei die Auseinander- ven der Weiterentwicklung des „Funktionalismus setzung mit politikwissenschaftlichen Spielarten als wissenschaftliches Forschungsprogramm“, in des Funktionalismus bei Gabriel Almond, David dessen Zentrum der Funktionsbegriff als „Selek- Easton und Karl W. Deutsch. Dabei stellt Czer- tions-, Beobachtungs-, Beschreibungs- und wick heraus, dass die Rezeption funktionalistischer Erklärungsbegriff“ (S. 149) steht. Dabei geht Ansätze in der Politikwissenschaft nicht zu einer Czerwick von der Existenz raumzeitlich relativ Entwicklung eines spezifisch politikwissenschaft- stabiler sozialer Systeme und einer Ergänzung lichen Ansatzes geführt habe (S. 77), obwohl linearer durch nichtlineare Kausalität aus und funktionalistische Herangehensweisen gerade formuliert einen Anforderungskatalog an funk- hier besonderes Potenzial entwickeln könnten. tionalistische Forschungsprogramme, der unter Die Schnittstellen zu anderen Erklärungsformen anderem einen Zuwachs an explanatorischem erachtet Czerwick dabei als besondere Stärke, Potenzial, Erfolge bei der Widerlegung von Ano- wie er in Kapitel 4 (S. 89–136) detailliert dar- malien und der Prognose neuer Ereignisse sowie legt. Dabei unterscheidet er funktional-kausale, die Konsistenz theoretischer Aussagen enthält konsequenz-funktionale, teleologisch-funktionale, (S. 167–170). In Kapitel 7 entwickelt er sodann intentional-funktionale, evolutionär-funktionale, dis- ein Mehrebenenmodell funktionaler Erklärungen positionale, äquivalenz-funktionale und System- und funktionaler Theorien. Eine funktionale Er- kapazitäten-Ansätze und zeigt deren spezifisches klärung beruhe dann „auf Ursachen, Wirkungen, Erklärungspotenzial auf. Mechanismen, Zielen und Zwecken sowie den Czerwick argumentiert auf der Basis dieser zwischen diesen bestehenden kausalen Bezie- Differenzierung, dass dem Funktionalismus „der hungen innerhalb eines konkreten Systems unter Status einer wissenschaftlichen Erklärung nicht gleichzeitiger Berücksichtigung einer Reihe von von vorneherein und apodiktisch abgesprochen Kontextvariablen“ (S. 187). werden“ (S. 135) dürfe. Dies belegt er anhand Edwin Czerwick legt mit „Funktionalismus“ der detaillierten Darstellung der Potenziale und eine ebenso überzeugende wie systematische Logiken der unterschiedlichen funktionalistischen Programmschrift für einen neuen, kritisch reflek- Ansätze. Diese wiesen zudem jenseits ihrer Spe- tierten und erweiterten sozialwissenschaftlichen zifika zwei zentrale Gemeinsamkeiten auf, welche Funktionalismus vor. Er schließt damit eine Lücke die Anschlussfähigkeit an andere Strategien der in der theoretischen und methodologischen Aus- Erklärung, wie etwa die stark von den Naturwis- einandersetzung mit funktionalistischen Ansätzen, senschaften geprägte deduktiv-nomologische die seit den frühen Schriften von David Easton, Position ermöglichten, ohne auf diese reduziert Gabriel Almond oder Karl W. Deutsch in der Poli- werden zu können: erstens ihr Rückbezug auf tikwissenschaft kaum mehr geführt wurde. Dabei „Ursachen, Wirkungen sowie Ziele und Zwecke“ überzeugt vor allem die systematische Darstellung (S. 134) und zweitens die Notwendigkeit der Ein- und Abgrenzung der unterschiedlichen Spielarten bindung kausaler Erklärungen (ebd.). funktionalistischer Ansätze und Erklärungsvari- Basierend auf der detaillierten Differenzierung anten. In Verteidigung des Funktionalismus zeigt funktionalistischer Ansätze und Erklärungswei- Czerwick Stärken, Schwächen und mögliche sen weist Czerwick einige zentrale Kritiken am Anwendungsgebiete auf, ohne bei aller merkli- Funktionalismus als zu undifferenziert zurück und chen Sympathie für die Denkrichtung die kritische kritisiert im Gegenzug die Kritik. Dies trifft etwa Distanz zu verlieren. Man muss funktionalistische Jon Elsters Radikalkritik, dass funktionalistische Ansätze und Erklärungen weder mögen noch sie Erklärungen immer auf kausale oder intentionale verwenden, aber die Lektüre des Bandes ist allen Erklärungen reduzierbar seien (S. 137). Zentrale und insbesondere den an naturwissenschaftlichen Kritikpunkte werden systematisch diskutiert und Standards orientierten politikwissenschaftlich For- mögliche Strategien des Umgangs damit skizziert. schenden als Weiterbildung nur zu empfehlen! So etwa, dass es weniger darum gehen könne, funktionale Gesetze zu suchen, sondern darum, Tübingen Rolf Frankenberger

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 171 Demokratische Körperinszenierungen immer nur als Symbol auf etwas, das er nicht ist, verweisen. Da in der Demokratie niemand Diehl, Paula : Das Symbolische, das Imaginäre die Macht dauerhaft für sich beanspruchen darf, und die Demokratie. Eine Theorie politischer könne das Objekt dieses Verweises nur das (im Repräsentation, 387 S., Nomos, Baden- Imaginären angesiedelte) Prinzip der Volkssou- Baden 2015. veränität selbst sein. Hier rekurriert die Autorin auf Claude Leforts bekanntes Bild, demzufolge „Die Wahrheit hinter Trumps Haaren ist eines in der Demokratie der Ort der Macht notwendig der größten Rätsel der Präsidentschaftskam- leer bleibe: „Will der politische Repräsentant Le- pagne“, schrieb ein Boulevardblatt kürzlich über gitimität erreichen, muss er permanent darauf den amerikanischen Wahlkampf. Sich darüber zu hinweisen, dass nicht er die Macht verkörpert, mokieren, fällt leicht. Warum dieses Rätsel aber sondern dass der eigentliche Machtinhaber das auch ein Gegenstand der Forschung sein sollte, Volk ist“ (S. 249). Ob wir den sperrigen Begriff erklärt die Berliner Politikwissenschaftlerin Paula des Imaginären benötigen, um diesen Gedanken Diehl überzeugend in ihrem Buch „Das Symboli- fruchtbar zu machen, sei dahingestellt. sche, das Imaginäre und die Demokratie“. Aller- In den letzten Kapiteln kommen die empiri- dings muss der Leser Ausdauer mitbringen. Die schen Körper und Inszenierungen lebender Politi- Verfasserin holt weit aus und entwirft zunächst kerinnen und Politiker zur Sprache: Symbolische eine umfassende Theorie des Imaginären und Prozesse müssen durch Repräsentantenkörper der symbolischen Repräsentation. Während die- performativ aktiviert werden. Hier entsteht Diehl se ersten Kapitel vor allem ein theoretisch inte- zufolge ein Dilemma: Idealerweise würde der Re- ressiertes Publikum ansprechen, finden sich im präsentant zum bloßen Interpreten und Symbol zweiten Teil etliche Bezüge zu aktuellen empiri- der Volkssouveränität werden. Zugleich hat jeder schen Forschungen über politisch-mediale Insze- Politiker einen Körper mit besonderen Merkma- nierungen und Bilderwelten. len: Geschlecht, Hautfarbe, Habitus et cetera. Die Theoriebildung begibt sich gleich zu An- Darauf kann mit unterschiedlichen Strategien fang in luftige Abstraktionshöhen. Von Cornelius reagiert werden. So neutralisiere Castoriadis übernimmt Diehl den schillernden ihre Weiblichkeit durch Kleidung und Auftreten, Begriff des „Imaginären“. Damit bezeichnet sie während Barack Obama durch eine Inszenierung eine Tiefenebene, die „die Entstehung von ‚Wirk- seines Körpers als „hybrid“ (S. 342) versuche, lichkeitskonstruktionen‘“ erst ermögliche – eine die Spaltung der Gesellschaft in Schwarz und Gesamtheit von „Bildern, Symbolen, Vorstellun- Weiß symbolisch zu überwinden. Im letzteren Fall gen und sogar Emotionen“, von denen alles po- handelt es sich um eine demokratieverstärken- litische Leben zehre (S. 81). Jede symbolische de Inszenierung. Aber auch das Gegenteil kann Repräsentation bediene sich aus diesem Fundus, eintreten. Vor allem Silvio Berlusconi dient der wirke aber zugleich performativ zurück auf das Autorin als Negativbeispiel: Seine Selbstinszenie- Imaginäre, indem sie dessen „schöpferische Sei- rung bediente primär eine Unterhaltungslogik und te […] mobilisiert“ (S. 89). So habe zum Beispiel destabilisierte so die symbolische Logik der de- Willy Brandts berühmter Kniefall in Warschau mokratischen Repräsentation (S. 281). Ähnliches maßgeblich dazu beigetragen, neue Vorstellun- dürfte heute wohl für den medialen Zirkus rund gen der eigenen Gesellschaft in Deutschland zu um die Frisur von Donald Trump gelten. etablieren. Es gelingt Diehl, ein theoretisch anspruchs- Im zweiten Schritt wird die Argumentation volles und empirisch fruchtbares Modell symbo- geschichtlich geerdet. Dazu setzt sich die Au- lischer Repräsentation zu liefern. Sie korrigiert torin unter anderem mit Ernst Kantorowicz („Die dabei eine Reihe alter Missverständnisse, wenn zwei Körper des Königs“, 1957), mit dem fikti- sie einerseits (gegen rationalistische Auffas- ven Staatskörper bei Thomas Hobbes oder der sungen) auf die unvermeidlich symbolische und Enthauptung von Ludwig XVI. auseinander. Das körperliche Seite von Repräsentationsprozessen hat den Zweck, den historischen Unterschied hinweist, andererseits aber die Differenz der Ver- zwischen vordemokratischen Vorstellungen von körperungs- zur Verweislogik herausstellt. Die Verkörperung und demokratischen Symbolen he- demokratische Variante symbolischer Repräsen- rauszuarbeiten. Während bei ersteren die Macht tation hat demnach stets das Potenzial, selbstre- mit dem Körper des Monarchen zusammengefal- flexiv zu werden – wenn zum Beispiel Obama auf len sei, könne der demokratische Repräsentant Lincolns Bibel schwört und so einem auf den

172 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen ersten Blick religiös geprägten Ritual eine zweite, Phänomene auf. Entsprechend weckt der Titel demokratische Ebene verleiht. des Buches negative, wie positive Assoziationen: Der Preis für die theoretische Geschlossen- Im Verständnis des Herausgebers ist mit der Be- heit und Kohärenz des Modells ist eine gewis- zeichnung „Transformation der Demokratie“ an- se Einseitigkeit der Perspektive. Symbolische knüpfend an Johannes Agnoli (1990) einerseits Repräsentation ist für Diehl durchweg auf das eine sich rückentwickelnde, blockierte Erosion „Ganze“ bezogen, auf das, was die „politische demokratischer Entscheidungsfindung gemeint. Ordnung zusammenhält“ (S. 303). Die prosaische Andererseits zählen auch positive Tendenzen, wie Seite von Repräsentation – als Kanal politischer eine erneuerte politische Kultur, eine verstärkte Teilhabe, Interessenaggregation und Konflikt- Protest- und Widerstandsbereitschaft, die wach- aushandlung – wird ausgespart. Aber benutzen sende Anerkennung der Menschenrechte, eine Politiker Symbole nicht auch, um Gegensätze zu erhöhte Bildungsbeteiligung sowie die deutliche konturieren? Um Anhänger für partikulare Ziele Ablehnung rechtsextremer Bestrebungen, dazu zu mobilisieren und Hegemonieansprüche zu for- (Vorwort, S. 7f.). mulieren – oder zu konterkarieren? Die Auftritte Zunächst jedoch durchzieht nahezu sämtli- von Yanis Varoufakis mit Lederjacke und Motor- che Beiträge eine Krisendiagnose. Dazu gehört rad etwa signalisierten zunächst Opposition: Hier etwa, die heutige Situation als „vielfältigen Kri- ist jemand, der euer Spardiktat nicht mitmacht. senprozess“ (Demirovic´, S. 8) zu beschreiben, Konflikte nehmen in Diehls Überlegungen aber bei der sich die Symptome einer ökologischen nur wenig Raum ein. Dabei war für ihren wich- Umweltkrise („Carbonkrise“) mit denjenigen einer tigsten Stichwortgeber, Claude Lefort, durchaus ökonomischen Öl- oder Finanzkrise überlagerten noch zentral, dass die Demokratie Zusammenhalt und so in ihren negativen Auswirkungen gegen- gerade dadurch schafft, dass sie Spaltungen und seitig steigerten. Da diese „multiple Krise“ (Mar- Gegensätze sichtbar macht. Erst im Streit erfah- kus Wissen, S. 61) bislang ungelöst geblieben re man sich als Teil desselben Gemeinwesens. sei, so eine übergreifende These des Buches, Dieses Erbe fließt in Diehls Argumentation leider führten die Probleme nun zu einer formidablen kaum ein. Krise der repräsentativen Demokratie mit all ihren Trotzdem sei das Buch jedem, der sich mit Folgen, wie Politikverdrossenheit, Wutbürgertum Theorien symbolischer Repräsentation und der und Rechtspopulismus. Selbstinszenierung von Politikern beschäftigt, Zur zentralen Kategorie avanciert bei dieser nachdrücklich empfohlen. Man liest es auch da, Art der Krisendiagnose der Begriff des Autorita- wo man widersprechen möchte, mit Gewinn. rismus: Mario Candeias (S. 9–13) erläutert die Merkmale eines europaweit sich ausbreitenden Trier Michel Dormal „autoritären Neoliberalismus“; John Kannanku- lam (S. 35–47) problematisiert einen staatlicher- seits praktizierten „autoritären Etatismus“; Alex Demirovic´ selbst spricht am Ende (S. 278–302) Zur aktuellen Transformation der von wachsenden „autoritären Tendenzen“. Und Demokratie stets ist mit „autoritär“ eine ausufernde Exe- kutivlastigkeit liberal-demokratischer Ordnun- Demirovic ´, Alex (Hrsg.) : Transformation der gen gemeint sowie der verstärkte Rückgriff auf Demokratie – demokratische Transformation, kontrollierende, ja repressive Regierungs- und 300 S., Westfälisches Dampfboot, Münster Verwaltungsformen. 2016. Angesichts der Krise der repräsentativen Demokratie und des zunehmenden Autoritaris- Begriffe und Thesen der neueren Transformati- mus loten drei Beiträge (Lutz Brangsch; Andreas onsforschung aufgreifend, hat der Berliner Po- Eis; Thomas Wagner) die derzeitigen Chancen litikwissenschaftler Alex Demirovic´ soeben einen „direkter Demokratie“ und computergestützter Sammelband vorgelegt, der sich mit den gegen- Partizipations- und Beteiligungsverfahren aus wärtigen Umbrüchen westlicher Demokratien be- (S. 84–134). Zwei weitere Beiträge (Birgit Sau- fasst. Die 15 gut lesbaren Beiträge gehen auf er; Katrin Meyer) eröffnen eine feministische eine frühere Tagung der Rosa-Luxemburg-Stif- Sicht auf Demokratie und Volkssouveränität tung (2014) zurück, greifen nun jedoch in teils (S. 156–200). Hinzu tritt die demokratietheore- aktualisierter Fassung eine Reihe gegensätzlicher tische Neulektüre der Werke von Hannah Arendt

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 173 (Dirk Jörke, S. 201–223), Walter Benjamin (Isa- „Mainstreammedien“ zu erklären oder Klassen- bell Lorey, S. 265–277) oder der Schriften des kampf dramatisierend als „Krieg“ zu bezeichnen Jakobinismus (Axel Rüdiger, S. 224–248). Nicht (S. 135–138, 151). zuletzt erfolgt eine historische Bilanz bisheriger Ganz sachlich unternimmt am Schluss Alex Konzepte der „sozialen Demokratie“ (David Salo- Demirovic´ (S. 278–302) den Versuch, die mit- mon, S. 248–264). unter weit auseinander driftenden Befunde Stark wird das Buch immer dann, wenn programmatisch zu ordnen. Hatten sich zuvor neo-marxistische Standpunkte bezogen und schon mehrere Autoren mit Colin Crouch (2008) diese mit Einsichten der neueren Transformati- befasst, so greift Demirovic´ hier die These von onsforschung verknüpft werden – sei es, um die der „Postdemokratie“ erneut auf. Statt die Demo- Erfahrungen des „Arabischen Frühlings“ zu be- kratie zu verabschieden, gehe es eher darum, ihr rücksichtigen, oder die Probleme des Nord-Süd- Potenzial unter den Bedingungen von Globalisie- Konflikts oder die mit den postcolonial studies rung und Digitalisierung neu zu ermessen. Dabei prominent gewordenen Perspektiven der „Subal- gelte es, sich einen kritischen Blick zu bewahren, ternen“. So zeichnet sich quer zu den Beiträgen aber auch die optimistische Sicht auf neue zivil- ein neues Vokabular ab, mit dem die Umbruch- gesellschaftliche Partizipations- und Protestfor- prozesse westlicher Demokratien auf neue Weise men und damit auf die Chance einer kraftvollen beschrieben und kritisiert werden können. „Mitsprache der Subalternen“ (S. 289). Doch wer Exemplarisch sind solche Inspirationen ist damit im heutigen globalen Norden konkret spürbar, wenn es darum geht, das gewohnte gemeint? Spektrum demokratischer Beteiligungs- und Protestformen zu erweitern. Neben „Ökodörfern“ Berlin Brigitte Kerchner (Frank Fischer, S. 67–83) und Demonstrationen werden dann auch Aufstände oder die Besetzung von öffentlichen Parks („Occupy“) und Plätzen zum Thema. Das Ende der Hyperstabilität? Durchaus kreativ kann die neo-marxistisch inspirierte Kritik an der Gegenwart sogar zu ei- Häusler, Alexander (Hrsg.) : Die Alternative für ner Neubenennung unserer politischen Ordnung Deutschland. Programmatik, Entwicklung und führen. In der Folge ist dann – anknüpfend an politische Verortung, 230 S., Springer VS, Ingolfur Blühdorn (2013) – kritisch von einer we- Wiesbaden 2016. nig wertegebundenen, entpolitisierten „simulati- ven Demokratie“ (Markus Wissen , S. 60–61) die Decker, Frank : Parteiendemokratie im Wandel. Rede. Oder von einem „global agierenden kom- Beiträge zur Theorie und Empirie, 264 S., No- munikativen Kapitalismus“, in dem sich die neue mos, Baden-Baden 2015. „Wissensarbeiterklasse“ der zwar gut Gebildeten, aber prekär Beschäftigten digital vernetze und Die Parteiendemokratie in der Bundesrepublik zu einem global revoltierenden „Cyberiat“ heran- Deutschland hat in den vergangenen 70 Jahren wachse (Jodi Dean, S. 135–155). eine, in mancher Hinsicht, beispielhafte, beina- So kreativ die Neuerfindung von Begriffen he lehrbuchartige Entwicklung durchgemacht. oder die ungewohnte Kombination ansonsten Das war nach dem Scheitern der ersten Repu- divergierender Forschungsansätze im vorliegen- blik 1933 alles andere als selbstverständlich. den Sammelband auch ist, all das hat offenbar Im Rückblick ist der Aussage von Fritz René seinen Preis. Will man genauer wissen, wie die Allemann „Bonn ist nicht Weimar“ (1956) daher „Transformation der Demokratie“ derzeit konkret im vollen Umfang zuzustimmen. Die Fehler der vor sich geht, so gibt das Buch darauf keine ein- Väter im Jahr 1918, wurden zu Erfahrungen, deutige Antwort. Vieles bleibt heterogen, man- einem Memento bei den Müttern und Vätern ches inkohärent. Vielleicht ist dies angesichts der des Grundgesetzes (GG) und damit im Prozess Dynamik heutiger Umbrüche auch nicht anders der Schaffung einer wehrhaften Demokratie. zu erwarten. Im Parteienwettbewerb wurde über die 5-Pro- Wirklich störend ist es allerdings, wenn ein zent-Hürde eine Konzentration sichergestellt, an sich aufschlussreicher Beitrag, wie der von die die Erreichung klarer Mehrheitsverhältnisse Jodi Dean, in einen polemischen Gestus über- ‚trotz‘ des (personalisierten) Verhältniswahlrech- wechselt, etwa um die Medien pauschal zu tes sicherstellte. Mit Artikel 21 GG erhielten die

174 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen

Parteien nicht nur Verfassungsrang, sondern Rahmung der Entwicklung von demokratischen ebenfalls eine Aufgabenbeschreibung: „(1) Die Systemen als Parteiensystemen sowie mit einem Parteien wirken bei der politischen Willensbildung Rekurs auf Otto Kirchheimers Verständnis der des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei“. Über das „Catch-All Party“ substanziell erweitert. Die Ein- Parteien- und das Parteienfinanzierungsgesetz beziehung des Klassikers und weiterer Autoren, wurde die Rollenbeschreibung vertieft und die wie unter anderem Richard Katz und Peter Mair, Unabhängigkeit von externen Einflüssen ge- zeigt, dass die gegenwärtige Kritik an der Rolle währleistet. In der langen Linie führten diese und und mehr noch dem Habitus moderner Parteien andere Faktoren zu einer Konzentrierung auf zu- in westlichen Gesellschaften – zu denken wäre nächst drei Parteien (CDU/CSU, FDP und SPD) hier an das Repräsentationsdefizit respektive die bis fast zum Ende der 1970er Jahre. Mit den Unattraktivität für junge Menschen oder neu- (Bündnis-)Grünen und der ostdeutschen Links- en Mitglieder allgemein – verhältnismäßig alt ist partei kamen nur zwei Akteure hinzu, welche sich (S. 58–61). In dieser Feststellung ist der Grund- tatsächlich etablieren konnten. Diese Genese tenor des Bandes zu hören. Decker stellt die Fra- war nicht dem Fehlen anderer Parteiprojekte ge nach den nötigen Veränderungen eines lange geschuldet, allein auf Bundesebene gab es eine Zeit sehr erfolgreichen und stabilen Systems vor deutlich dreistellige Zahl an Bewerberinnen über dem Hintergrund neuer Herausforderungen. die Jahre, einzig das System und seine „Spie- Im zweiten Teil nimmt der Autor die Par- ler“ waren derart repräsentativ und responsiv bei teiendemokratie der Bundesrepublik nach der gleichzeitig relativ hohen Einstiegshürden, dass Bundestagswahl 2013 in den Blick. Nach einer es als hyperstabil im internationalen Vergleich Skizze der Ausgangslage folgen Ausführungen beschrieben werden kann. zu den aktuell im vertretenen Parteien Nach dem Ende des Blockgegensatzes und (CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, Die LINKE mit der Wiedervereinigung sind eine Reihe von und SPD). Anschließend betrachtet er wie im Fa- Aspekten wirkmächtig geworden, die diesen Ef- zit seines Beitrages, in dem von Alexander Häus- fekt möglicherweise mittel- und langfristig auf- ler herausgegebenen Sammelband, die Stellung weichen. Zu denken wäre an die Globalisierung, und Perspektive von AfD und FDP. Nach der Ra- Digitalisierung, Integration der Nationalstaaten in dikalisierung der Rechtspopulisten unterstreicht ein supranationales Gefüge – zumindest in Euro- der Autor, dass auf der Nachfrageseite mögli- pa, die EU – sowie die zahlreichen „Post“-Phä- cherweise genug Potenzial ist, sodass beide Ak- nomene. Der inzwischen als temporärer, Hype teure fortbestehen könnten (S. 230–233). induzierter, aber durchaus für die Gesellschaft Abgeschlossen wir die Publikation von ei- themenrelevante Aufstieg der Piratenpartei so- nem Kapitel zur „Reform der Mitgliederpartei“. wie die seit 2013 stattfindende, sukzessive Eta- Hier greift Decker seine oben angesprochene blierung der Alternative für Deutschland (AfD), Grundfrage auf. Sein Urteil zeigt, dass in der können als Indikatoren eines Endes der Hy- Entwicklung des deutschen Parteiensystems ein perstabilität gewertet werden. Mit denen in dieser wichtiger Punkt erreicht ist. Das Modell der Mit- Rezension besprochenen Bänden liegen neue gliederpartei – wie es lange als Ideal betrachtet Überlegungen zu dem übergeordneten Phäno- wurde – scheint an Grenzen zu stoßen, wenn auf men wie zu der rechtspopulistisch agierenden der einen Seite, mit beinahe allen Mitteln, neue Partei vor. Aktive geworben werden sollen, auf der anderen Frank Decker, Professor für Politische Wis- Seite im Mikrokosmos der Partei respektive der senschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- parteiinternen Willensbildung die Basis nur eine Universität Bonn, hat sich in einer großen Band- sehr überschaubare Rolle spielt (S. 257). breite von Arbeiten mit der Entwicklung des Trotz des Aufbaus auf einem Vorwerk hinter- Parteiensystems auseinandergesetzt. Mit dieser lässt der ansonsten gut zusammengestellte Band Monographie legt er eine essenzielle Gegen- einen Patchwork-Eindruck. Diese Wahrnehmung wartsanalyse zum derzeit stattfindenden Wandel entsteht aus der Tatsache, dass beinahe alle der Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Kapitel bereits an anderer Stelle veröffentlicht vor. Es handelt sich dabei um eine Aktualisie- wurden (S. 7) und dass es kein einheitliches Li- rung des Bandes „Parteien und Parteiensyste- teraturverzeichnis gibt, sondern jeweils eines am me in Deutschland“ aus dem Jahr 2011 (S. 7). Kapitelende mit den hieraus natürlicherweise ent- Tatsächlich wurde die theoretische Fundierung stehenden Redundanzen. Darüber hinaus wäre mit einer Begriffsklärung, der epistemologischen ein theoretischer Bezug zu der Arbeit aus dem

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 175 Jahr 2013 von Holger Onken „Parteiensystem im zugeneigt, auf nationale Identität, nicht selten un- Wandel. Deutschland, Großbritannien, die Nie- ter dem Schlagwort Subsidiarität subsumierbare, derlande und Österreich im Vergleich“ oder bes- ausgerichtete Wagenburgmentalität beschreiben. ser noch eine direkte Anknüpfung aus der Sicht Die Teile drei, mit Beiträgen von Jasmin Siri, des Rezensenten wünschenswert gewesen. Andreas Kemper und Ulli Jentsch sowie vier, ge- Der Herausgeber des Sammelbandes zur stellt durch Felix Korsch, Naime Çakir und Jonas AfD, Alexander Häusler, kann als Pionier der Fedders, befassen sich mit zwei sehr spezifi- wissenschaftlichen Beobachtung der Partei gel- schen mehr oder weniger starken Strömungen in ten. Bereits 2013 legte er eine umfangreiche der Partei. Es zeigt sich, dass unter einem kleins- Studie für die Heinrich-Böll-Stiftung vor, welche ten gemeinsamen Nenner, der die Personen im Materialien und Deutungen für die vertiefte Aus- Protestvehikel AfD vereint hat, zahlreiche zum einandersetzung bereitstellte. Mit der vorliegen- Teil ambivalente Positionen vertreten werden. den Publikation ging es darum, „den bisherigen Diese sind im Regelfall nicht für die Gesamtpartei wissenschaftlichen Forschungsstand zur AfD zu- repräsentativ und haben bisher beispielsweise die sammenzutragen und zu reflektieren und zudem Verabschiedung eines Vollprogramms behindert. neue Forschungsaufgaben und offene Fragen zu Der fünfte Teil lässt sich ebenfalls in dem formulieren und zu erörtern“ (S. 2). Basis dieser gerade beschriebenen subsumieren. Allerdings Betrachtungen war eine Fachtagung die vom For- beschäftigen sich die Beiträge von Hellmut Kel- schungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neo- lersohn zum Einfluss der Neuen Rechten und nazismus der Hochschule Düsseldorf (FORENA) Anna-Lena Herkenhoffs Ausführungen über die am 19. Februar 2015 veranstaltet wurde. Jugendorganisation der AfD mit einer hintergrün- Die Band ist neben Einleitung und abschlie- digen Frage: Inwieweit ist die AfD das Podium, ßenden Bemerkungen in sechs Teile unterteilt: der parlamentarische Arm einer (extrem) rechten 1.) Parteipolitische Einordnung, 2.) Außenpo- Bewegung. Einfluss und Unterwanderung sind litische Positionierungen, 3.) Familien- und ge- in diesem Zusammenhang prominente Überle- schlechterpolitische Vorstellungen, 4.) AfD, gungen, die zu diesem Zeitpunkt zwar Indizien PEGIDA und Muslimfeindlichkeit, 5.) Neurechte erbringen, aber noch weit von einer konklusiven Einflüsse und 6.) Landespolitischer Einblick. Ins- Feststellung dieses Umstandes entfernt sind. gesamt gibt es 16 Beiträge von 15 Autorinnen Vor dem Ausblick des Herausgebers auf die und Autoren. AfD im Wahljahr 2016 präsentieren Christoph Den Anfang macht Frank Decker mit ei- Kopke und Alexander Lorenz einen Einblick in nem Blick des vergleichenden Parteienforschers die brandenburgische Fraktion der Partei. An der auf die AfD. Mithilfe der Frage nach der ideo- parlamentarischen Performanz soll sich die in- logischen Ausrichtung und Programmatik, ihrer haltliche Auseinandersetzung mit der Partei auf- Entstehung, der Organisationsstruktur, der Zu- bauen. Hier halten die Autoren fest „lauter Chef, sammensetzung der Anhängerschaft und der blasse Fraktion“ (S. 228). Gerade dieser letzte Zielorientierung im politischen System untersucht Teil wäre ausbaufähig. Die Fraktionen in Sachsen der Autor die Partei (S. 9–20). Decker kommt zu sowie Thüringen sind genauso lange im Amt und dem Ergebnis, dass von der internen Ausrichtung durch ihre Führungsfiguren, und beziehungsweise der Art der Wähleransprache Björn Höcke, ebenso relevant. der Partei nicht nur ihr zukünftiger Erfolg, sondern Insgesamt bietet der Sammelband auf rund auch das Fortbestehen der FDP abhängen könn- 250 Seiten einen guten Überblick über ein wei- te (S. 21f.). David Bebnowski knüpft an diese terhin wissenschaftlich viel beobachtetes und in Ausführungen insofern an, als dass er das Chan- sich bewegtes Parteiprojekt. Über die in den ein- gieren der Partei zwischen Wirtschaftsliberalis- zelnen Aufsätzen angegebene Literatur lässt sich mus und Rechtspopulismus – besonders unter ohne weiteres der Forschungsstand einschließ- dem ehemaligen Bundessprecher Bernd Lucke – lich 2015 erschließen. zum Anlass nimmt, aufzuzeigen, das Erstere der Beide Bände stellen eine klare Bereicherung „Ankerpunkt“ des Zweiten sei (S. 31). der wissenschaftlichen Diskussion dar. Dabei Im zweiten Teil führen Marcel Lewandowsky ist naturgemäß der Sammelband zur AfD mit und Dieter Plehwe diesen Gedanken fort, wenn einer verhältnismäßig geringeren Halbwertzeit sie die Verteidigungs- respektive außenpolitische für ein gesellschaftlich sehr relevantes Thema Dimension der AfD skizzieren. In gewisser Wei- ausgestattet. Das Forschungsobjekt ist mög- se lassen sich diese gleichzeitig als Autoritäten licherweise (noch) zu ‚unruhig‘, um sinnvoll in

176 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen diesem Publikationsformat erfasst zu werden. Die Identität sei, wie sie konstruiert werde. Statt- Ist-Stands-Beschreibung hat aber ohnedies ihre dessen gehe es in den normativ geprägten und Berechtigung. Die Monographie von Frank De- emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen cker entwickelt ein Thema weiter, welches bisher zumeist über den ‚richtigen‘ Umgang mit der in Deutschland beinahe ausschließlich auf einem Nation sowie über Zusammenhänge zwischen akademischen Level von Bedeutung war. Mit der Einstellungen zur Eigengruppe und Fremdgrup- Aufweichung der Hyperstabilität wird die Bun- penabwertung. Wie aber wird nationale Identität desrepublik eher keine Verdoppelung der Anzahl hergestellt und welche Bedeutung nimmt sie in der im Bundestag vertretenen Parteien erleben, unserem Alltag ein? Dieser Punkt ist der Fokus wie mehrere skandinavische Staaten 1973, aber des zu besprechenden Buches. Darin folgen die Deckers Ausführungen bieten theoriegeleitete Autoren Michael Billig (1995). Banal sei natio- Überlegungen an auf die Forschende, Studie- nale Identität, weil wir uns üblicherweise keine rende und Interessierte durchaus zurückkommen Gedanken über sie machten, sie im Lebensalltag können, vielleicht sogar sollten. irrelevant erscheine. Wir besäßen sie, sofern sie im Reisepass verzeichnet sei. Und genau diese Rostock Christian Nestler Selbstverständlichkeit nahmen die schottischen Forscher zum Anlass, Befragte um deren Defi- nition von nationaler Identität zu bitten. Zudem konfrontierten sie die Befragten mit Situationen, Nationale Identität aus einer in denen die Zuschreibung zu einer nationalen empirischen Perspektive Gruppe salient wird. Auf diese Weise wird er- kennbar, wie nationale Identität hervortritt und McCrone, David/Bechhofer, Frank : Under- warum es zu Abgrenzungen kommt. standing National Identity, 238 S., Cambridge Die Verfasser präsentieren zum Einstieg UP, Cambridge 2015. bewusst keinen theoretischen Rahmen. Sie be- fassen sich weder mit der Definition von Nation David McCrone und Frank Bechhofer, Sozialwis- noch mit der von nationaler Identität, weil objektive senschaftler der Universität Edinburgh, legen mit Faktoren – außer der Staatsbürgerschaft – nicht diesem Buch eine Zusammenfassung ihrer lang- existieren und weil diese mit den subjektiven Zu- jährigen qualitativ wie quantitativ orientierten For- schreibungen zu einer Nation im Widerspruch schungen zu nationaler Identität vor. Auf der Basis zueinander stehen (können). Als Heuristik wird einer größeren Anzahl empirischer Studien aus den angenommen, Sozialstruktur und soziales Handeln letzten 15 Jahren ziehen sie ein Resümee, das für stünden hinsichtlich nationaler Identität in einer den politischen Diskurs aber auch für die Fach- Wechselbeziehung zueinander: Selbstverständlich disziplinen anregend sein dürfte. Ungeachtet aller bestimmen Strukturen darüber mit, wer wir sind; Überlegungen und Wünsche zu einem geeinten doch ebenso verfügen wir über Freiheitsgrade bei Europa und zur Überwindung nationaler Engstir- der Festlegung dessen, wie wir uns selbst sehen, nigkeit sehen McCrone und Bechhofer die Bedeu- auch wenn unser Wille nicht vollständig frei ist. Auf tung nicht schwinden, die die nationale Identität dieser Basis verstehen McCrone und Bechhofer für uns als Einzelne habe. Im Gegenteil werde es nationale Identität als Resultat konkreter Hand- immer Situationen geben, in denen wir uns über lungen, als da sind die Art, wie das eigene Selbst die Zugehörigkeit zu einer Nation definieren oder präsentiert wird, wie Ansprüche an das Selbst oder in denen uns dieser Teil unserer sozialen Identität die Eigengruppe ebenso wie Gegenansprüche for- zugeschrieben würde. Unter welchen Umstän- muliert werden. Das Forschungsinteresse richtet den es dazu kommt, belegen die Verfasser an sich somit auf die Kriterien, mittels derer die Indi- Verhalten und Einstellungen von Engländern und viduen ihre nationale Identität herstellen, die aber Schotten, das sie in der Grenzregion im Norden zugleich von anderen anerkannt sein müssen. der britischen Insel im Detail genauso wie durch In sechs Kapiteln werden die empirischen Umfragen in Großbritannien insgesamt erfassten. Ergebnisse vorgestellt. Im allgemeinen Überblick Im Hinblick auf die kaum noch zu überschau- wird deutlich, auf welche Weise sich die Bewoh- ende Anzahl an Publikationen zu Nation, Nati- ner der britischen Inseln voneinander unterschei- onalismus und Patriotismus machen McCrone den. Ist für die ganz große Mehrheit der Schotten und Bechhofer darauf aufmerksam, dass die klar, wer sie sind, sehen sich Engländer zunächst Frage in den Hintergrund rücke, was nationale als Briten, hat die staatliche Vorrang vor der

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 177 nationalen Identität. Bemerkenswert: Diese Ein- Die Forscher untersuchen auch Aspekte von schätzungen sind unabhängig vom Nationalstolz. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Allerdings Beiderseits der Grenze sind mehr als 60% der geht es weniger um die Wechselwirkung zwischen Schotten wie der Engländer in ähnlichem Maße Eigen- und Fremdgruppenwahrnehmung, als um stolz darauf sowohl Mitglied ihrer Nation als auch die Identitätsansprüche, die Personen erheben Brite zu sein. Hinsichtlich dessen, was Stolz oder von denen erwartet wird, dass sie zurückge- bedeutet, ist von Interesse, dass lokale und re- wiesen werden. Sehen Engländer wie Schotten gionale Identitäten für Befragte in beiden Lan- keinen Widerspruch darin, sich jeweils als solche desteilen weit vor der nationalen oder staatlichen zu definieren, und beruht die Unterscheidung zwi- in Bezug auf ihre Bedeutsamkeit rangieren und schen ihnen insbesondere auf der Erkennbarkeit dass die nationale Identität eher als Faktum be- des genutzten Akzents, trifft dies für Migranten trachtet wird, denn mit Affekten zusammenhängt. und deren Abkömmlinge nicht zu. Sie definieren Differenzen zwischen beiden Landesteilen sich ausschließlich als Briten, weil sie wissen, der zeigen sich, wenn in Leitfadeninterviews nach den Anspruch, etwa Engländer zu sein, würde ihnen Gründen gefragt wird, warum sich jemand einer nicht zugestanden werden. McCrone und Bech- Nationalität zugehörig fühlt. Können Personen mit hofer sehen keine andere Möglichkeit, dies als schottischem Hintergrund sehr präzise benennen, eine Reaktion auf Rassismus einzuordnen, auch warum sie sich diese Identität zuschreiben, bleiben wenn daraus nicht automatisch auf entsprechen- Engländer eher vage, definieren sich tendenziell des Handeln geschlossen werden könne. darüber, sie seien nicht die Anderen. Interessan- Das Buch macht deutlich, dass nationale terweise sind es auch die Engländer, die, über die Identität einem Referenzrahmen entspricht, bei Zeit betrachtet, auf das schottische Unabhängig- dem die Handelnden in der Regel das Nationale keitsreferendum im Gegensatz zu den Schotten auf kulturelle Eigenheiten zurückführen. Deshalb mit stärkerer nationaler Identifikation reagieren. sollten wir bezüglich Patriotismus darauf verzich- Anregend ist auch Kapitel 4, das vielsagend ten, Staatsbürgerschaft mit nationaler Identität mit „Debatable lands“ überschrieben ist und Er- gleichzusetzen. Und was die Konkurrenz der kenntnisse von Lokalstudien präsentiert, die in verschiedenen sozialen Identitäten betrifft, folgt und um Berwick-upon-Tweed als Grenzort durch- aus der Stärke von der einen nicht die Schwä- geführt wurden. Spielt die Grenze im Lebensalltag chung der anderen. Stattdessen wird eine sol- eher keine Rolle, kommt ihr in besonderen Situ- che Identität üblicherweise unter je spezifischen ationen, wie etwa der Wahl des Krankenhauses Umständen salient. Im Hinblick auf die politische für die Geburt eines Kindes, Bedeutung zu. Erst Situation in Großbritannien belegen die Verfasser recht wird nationale Identität wichtig, wenn unter zudem, dass das Gefühl von Zugehörigkeit nicht Bezug auf sie Ansprüche erhoben werden. So be- notwendig in politische Forderungen wie etwa tonen Berwicker, speziell die Bewohner der alten der zur Unabhängigkeit mündet. Diese Schluss- Kernstadt, ihre lokale Identität – ohne die nationale folgerung wäre allerdings nach den jüngsten abzulehnen –, weil sie wissen, dass die Schotten Entwicklungen mit dem Brexit-Votum erneut zu nördlich des Tweed sie als Engländer sehen, letz- untersuchen. tere sie wiederum aus historischen Gründen als Als Resümee ist der vorgelegte Band allen Schotten titulieren. Es sind gerade diese Passa- uneingeschränkt zu empfehlen, die sich mit nati- gen des Buches, die belegen, was Konstruktion onaler Identität wie auch mit Großbritannien be- von nationaler Identität heißt, unter welchen Be- schäftigen. Die Autoren weiten unseren Blick auf dingungen sie aktualisiert wird sowie wann und das soziale Handeln, durch das nationale Identität warum der aus ihr resultierenden Zuschreibung erst geschaffen wird. ausgewichen, die lokale Identität gewählt wird. Festgemacht wird sie an der Herkunft der Familie Passau Horst-Alfred Heinrich wie auch der Nutzung des Dialekts. Ungeachtet dieser individuellen Entscheidungen ist der Ein- fluss institutioneller Faktoren nicht zu leugnen. Will sich ein Paar, das von hüben wie drüben stammt, Proeuropäische EU-Kritik trauen lassen, sind sie schnell mit Problemen kon- frontiert, die aus unterschiedlichen rechtlichen Re- Balibar, Étienne : Europa. Krise und Ende?, gelungen resultieren, die sie darauf stoßen, dass 271 S., Westfälisches Dampfboot, Münster sie in zwei Nationen leben. 2016 (franz. 2016).

178 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen

Krisen sind Gelegenheiten der öffentlichen Inter- Perspektive in einen erweiterten Kontext gestellt. vention. Intellektuellen eröffnen sie die Chance, So zeugen für Balibar auch das Erstarken populis- aber ohne jegliche Garantie, die vorherrschenden tischer Kräfte, die spezifische politische Artikulati- Weltsichten und Diskurse infrage zu stellen oder on der nationalen und der sozialen Frage sowie die zumindest zu verschieben. Die im vorliegenden Krise des europäischen Grenz- und Migrationsre- Band versammelten, zwischen Mai 2010 und gimes davon, dass die kriseninduzierte Erschüt- Oktober 2015 geschriebenen Interventionen sind terung des europäischen Gemeinwesens sehr demzufolge als Versuch zu interpretieren, die grundlegend ist und über die gewohnten Pfade Möglichkeiten eines demokratischen Neubeginns der politisch-institutionellen Regulierung hinaus in Europa auszuloten. weist. Als politischer Philosoph nähert sich Éti- Nach diesen krisen- und zeitdiagnostischen enne Balibar dieser Aufgabe auf einem hohen Ausführungen zur Lage in der europäischen Reflexions- und Abstraktionsniveau. Dieses ist Union wendet sich Balibar im vierten Teil des einerseits der durch ihn mitbegründeten Denk- Buches („Die Zukunft der BürgerInnenschaft in tradition des strukturalen Marxismus geschuldet, Europa“) der Frage zu, wie der zuvor eingefor- andererseits aber auch dem Bemühen, den Ver- derte Neubeginn und Pfadwechsel strategisch lauf der europäischen Krisen hintergründig, das konzeptualisiert werden kann. Gegen die „Re- heißt mit Blick auf die prägenden Macht- und volution von oben“, die das praktizierte Krisen- Herrschaftsverhältnisse sowie die darin eingela- management charakterisiert, knüpft er an die gerten Widersprüche, zu rekonstruieren. Diese von Jürgen Habermas unterbreitete Perspektive Herangehensweise unterscheidet sich deutlich einer post-nationalen Demokratie an, setzt da- von herkömmlichen Analysen, die sich zumeist bei aber spezifische Akzente: zum einen, indem auf das institutionelle Setting oder die makro- er eine sozialintegrative und sozialökologische ökonomischen Ungleichgewichte beziehen. Ba- Transformation der kapitalistischen Reprodukti- libar interessiert sich hingegen für den sozialen onsmuster einfordert; und zum anderen, indem Charakter der EU und die gesellschaftlichen er – gegen die „,große Koalition‘ der politischen Zwischenräume, das heißt für die Arenen, in de- Mitte“ (S. 175) – die jenseits des Nationalstaats nen sich die Krisen und Widersprüche der euro- zu entwickelnden Formen demokratischer Kon- päischen Integration öffentlich artikulieren. Dies trolle und Partizipation durch konfliktuelle Ele- wird auch daran deutlich, dass er den sozialen mente angereichert sehen will (S. 154f.). Die und politischen Kämpfen, Fragen der demokra- Stärkung der konfliktuellen Elemente stellt für ihn tischen Souveränität, populistischen Diskursen nicht nur ein wichtiges Medium gegen die voran- sowie alternativen Ideen und Handlungsoptionen schreitende Entdemokratisierung auf der europä- besondere Aufmerksamkeit schenkt. ischen wie der nationalen Ebene dar. Sie fördert Konkret gliedert sich der Band in fünf Teile auch die soziale Konstruktion eines europäischen mit jeweils spezifischen thematischen Schwer- Demos und damit einen Prozess, der eine wei- punktsetzungen. Im ersten Teil, dem Vorwort und tergehende Vergemeinschaftung der Politik unter der Ouvertüre, erläutert Balibar, warum es seines Einschluss steuerpolitischer Fragen legimatorisch Erachtens erforderlich ist, in der EU eine Debatte absichern kann. über einen Föderalismus neuer Art zu beginnen, Im abschließenden Teil („Abschluss: Der insbesondere über die „Erneuerung der Demokra- 13. Juli 2015 – und was kommt danach?“) tie im europäischen Raum“ (S. 39). Im zweiten Teil erläutert Balibar in einem mit Sandro Mezza- („Interventionen (2010–2014): Die beiden Wege“) dra und Frieder Otto Wolf gemeinsam verfass- wird dieser Gedanke anschließend vertieft. Balibar ten Text, inwiefern sich die zuvor identifizierten führt aus, dass die ungleiche Entwicklung in der Entwicklungen, Probleme und Widersprüche EU, vor allem die hierarchische Struktur der Zen- im Fall der Regierungsübernahme von Syriza in trum-Peripherie-Beziehungen, und die im Zuge Griechenland zugespitzt haben. Der Band endet der Krise beobachten Tendenzen einer techno- mit zehn programmatischen Thesen – unter an- kratisch-autoritären Entdemokratisierung – Bali- derem zur Notwendigkeit eines grundlegenden bar verweist zum Beispiel auf die zentrale Rolle Wandels, zur Etablierung einer Transferunion, der EZB im europäischen Krisenmanagement zur transnational-demokratischen Kontrolle (S. 95) – einen demokratischen Erneuerungspro- der Finanzmärkte und zur Revitalisierung eines zess sehr dringlich machen. Im dritten Teil („Nati- demokratischen „Souveränismus“ – und einer onalismus, Grenzen und Migrationen“) wird diese retrospektiven Reflexion der vorhergehenden

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 179 Überlegungen angesichts des auflebenden diagnostizieren die beiden Autoren, dass es rein Rechtspopulismus. theoretisch im russischen Interessen hätte gele- Die hier nur sehr knapp zusammengefassten gen sein können, als europäischer Staat Bestand- Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, teil dieser Stabilitätszone zu werden. Dazu kam es dass in dem Buch von Étienne Balibar zentrale jedoch nicht, weil EU-Beitritte und Nato-Osterwei- Eckpunkte einer proeuropäischen EU-Kritik ent- terung ohne Berücksichtigung anderer russischer faltet werden. Die Überlegungen sind – bei al- Interessen vollzogen worden seien und Russland len Verweisen auf die Empirie des europäischen trotz G8 nie wirklich Eingang in den Klub gefunden Krisenmanagements – vornehmlich konzepti- habe. Auf der russischen Seite stehen dagegen onell angelegt. Im Kontrast zur mitunter recht das Festhalten an einem eigenen Großmachtan- eingefahrenen Europa-Debatte liefert Balibar spruch und der Unwille, sich in Europa aufzulösen. viele analytische und auch programmatische In- Diese Wahrung der Identität des heutigen Russ- spirationen. Allerdings ist die Argumentation im lands und die Selbsterhaltung als Machtzentrum Bemühen um Systematisierung zuweilen etwas mussten notwendigerweise zu der aktuellen geo- umständlich und auf einem recht hohen Abstrak- politischen Konfrontation mit dem Westen führen. tionsniveau angesiedelt. Wie die Anregungen zu Gereiztheit und Misstrauen haben sich aufgestaut konkretisieren sind, bleibt daher häufig den Le- und schließlich in der Ukraine-Krise konfrontativen sern überlassen. Charakter angenommen. Auch kulturell sind die Differenzen gewach- Tübingen Hans-Jürgen Bieling sen. Die beiden Autoren sprechen von einer Dechristianisierung Europas, der in Russland ein Erstarken des Staates, eine neue Ideologie des Staatsnationalismus und parallel dazu ein Wieder- Europa im freien Fall erstarken der Kirche gegenüberstehen. Die nach Meinung von Grinberg und Shmelev gescheiterte Milev, Yana (Hrsg.) : Europa im freien Fall. Ori- europäische Multikulturalismus- und Migrations- entierung in einem neuen Kalten Krieg, 141 S., politik führt bei den westlichen Eliten zur Suche Turia + Kant, Wien/Berlin 2016. nach einem äußeren Feind – eine Rolle, die tra- ditionell Russland zugewiesen wurde. Als poten- Die Gemeinsamkeit der in diesem Band ver- zielle entgegenwirkende Kraft sehen sie das neue sammelten Beiträge besteht in dem Versuch, gemeinsame Feindbild des islamischen Funda- die russische Position in der sich spätestens mentalismus, demgegenüber eine beidseitige seit 2014 erneuernden Ost-West-Konfrontation Kooperationsbereitschaft bestehe. Das reiche verständlich zu machen. Gemeinsam ist ebenfalls aber nicht aus, weil von russischer Seite der tie- die Perspektive des machtpolitischen Realismus, fere Konfliktgrund in einer Art verdecktem Ener- die geopolitische Argumentationsweise und bei giekrieg gesehen wird, das heißt in dem Versuch den beiden deutschen Autoren (Herfried Münk- der EU, sich stärker von russischen Energieliefe- ler, Peter Sloterdijk) darüber hinaus ein gewisser rung unabhängig zu machen. Grinberg/Shmelev Antiamerikanismus, der bei den beiden hochran- beklagen, dass sich diese Konfrontation ungüns- gigen und mit der politischen Spitze gut vernetz- tig auf die internationale Positionierung Russlands ten russischen Autoren (Ruslan Grinberg, Boris auswirkt, das Modernisierungstempo des Landes Shmelev) durch eine nüchterne Sicht auf die verlangsamt und die Bedingungen für den Aufbau beidseitigen Interessen ersetzt wird. einer demokratischen Gesellschaft erschweren. Der gemeinsame Beitrag von Grinberg und Sie empfehlen die Suche nach Kompromissen, Shmelev ist herausragend durch seine denk- sehen aber, dass derzeit keine Klarheit darüber schriftartige Differenziertheit. Die Aufnahme der besteht, wie dies machbar sein könnte. Aus die- osteuropäischen Länder in die EU wird, anders sem Grund richten sie in einer Art geopolitischen als in der medialen russischen Propaganda, als Melancholie den Blick nach Osten – auf eine die rationalste Variante zur Stärkung der Stabilität eurasische Wirtschaftsunion mit Weißrussland, auf dem europäischen Kontinent angesehen. Die Kirgisistan und Kasachstan sowie auf eine dich- NATO-Osterweiterung wird als deren organische tere Interaktion mit China. Sie spekulieren ganz Ergänzung zu einer europäischen beziehungs- traditionalistisch, dass eine zukünftige geopoliti- weise euroatlantischen Sicherheits- und Stabili- sche Schlacht zwischen dem Westen und China tätszone eingeordnet. Von dieser Ausgangsbasis um die Kontrolle von Rohstoffquellen ausbrechen

180 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen könnte. Russland und die postsowjetischen Staa- Es ist durchaus beruhigend, dass die beiden ten könnten den Ausgang beeinflussen, je nach- russischen Autoren einer solchen überaufge- dem, auf welche Seite sie sich schlagen. Beide regten USA-Schelte ganz und gar nicht folgen, sehen in der Ausweitung der „Shanghai 5“, einer sondern die USA nur als einen wesentlichen 1996 gegründeten Kooperation zwischen Chi- Machtfaktor der weltweiten Geopolitik ansehen, na, Russland, Kasachstan, Tadschikistan und mit dem man sich arrangieren muss – wie mit al- Kirgisistan zur Lösung von Grenzproblemen, len anderen Mächten auch. einen möglichen Ansatz, zumal neuerdings Indi- en, Pakistan, Iran und die Mongolei Beobachter Göttingen Walter Reese-Schäfer entsandt haben und gerne Vollmitglieder werden würde. Die russischen Strategen empfehlen, ge- meinsam mit China die Führung zu behalten und Indien eher auf Distanz zu halten. Eine gesamteu- Zur Bedeutung von Hobbes für die ropäische Kooperation dagegen wird nach dieser Geschichte der politischen Theorie der Analyse allenfalls erst zukünftigen Generationen Internationalen Beziehungen von Politikern möglich sein, weil die Basis des Misstrauens, des Informationskrieges, der Sank- Christov, Theodore : Before Anarchy. Hobbes tionen und Gegensanktionen sowie das neue and His Critics in Modern International Thought, Rüstungsrennen dagegen stehen. 308 S., Cambridge UP, Cambridge 2016. Dieser Beitrag gibt einen wichtigen Einblick in die kühle und keineswegs vordergründig ideolo- Mit der Studie „Before Anarchy“ wird die Bedeu- gische Denkweise der russischen akademischen tung von Thomas Hobbes für die Geschichte der Politikelite. Dahinter stehen dann allerdings doch politischen Theorie der Internationalen Beziehun- Ideologeme zweiten Grades wie das geostrategi- gen eindrucksvoll dargestellt. Theodore Christov sche Machtdenken, das so unverfälscht im Wes- kritisiert, durchaus zutreffend, in seiner Studie ten nur von wenigen vertreten wird. Der Beitrag die sogenannte realist theory der Internationalen von Herfried Münkler allerdings weist methodo- Beziehungen, die Hobbes’ Naturzustand unzuläs- logisch in eine ganz ähnliche Richtung. Deutsch- sig verkürzt habe. Neu ist diese Kritik nicht, aber land müsse sich als Macht der Mitte verstehen Christovs detaillierte Analyse zeigt einmal mehr, und somit größere Distanz zum atlantischen Wes- wie kontrovers Hobbes’ Naturzustand nach wie vor ten halten. Eine Stabilisierung der Ukraine sei oh- diskutiert wird. Das Buch gliedert sich in zwei Tei- nehin nur in Kooperation mit Russland möglich. le. Der erste Teil, auf den ich hier aus Platzgründen Ansonsten seien immer noch die Nationalstaaten vornehmlich eingehen werde, analysiert Hobbes’ und deren gouvernementale Kooperation stärker Bedeutung für die Theorie der Internationalen als die Institutionen der EU. Deutschland müsse Beziehungen und der zweite Teil diskutiert exemp- sich dem neuen Bedeutungszuwachs als Macht larisch die Rezeption von Hobbes anhand von Sa- der Mitte stellen, also auch wieder eine stärkere muel von Pufendorf (Kap. 5 und 6), Jean-Jacques prägende Rolle einnehmen. Rousseau (Kap. 7) und Emer de Vattel (Kap. 8). Peter Sloterdijk bringt den machtpolitischen Zutreffend wird von Christov hervorgehoben, Realismus in seinem nur neun Seiten umfassen- dass die konstatierte Rechtlosigkeit des mensch- den Beitrag in schärfster, bei Carl Schmitt entlehn- lichen Naturzustandes ausdrücklich auch für ter Zuspitzung auf den Punkt: Er wirft Deutschland das Verhältnis der Staaten untereinander gelte. eine friedfertige Unterwürfigkeit gegenüber den Er spitzt diese Behauptung zu, indem er erklärt: USA vor: „Letztlich geht es stets um die fast „[T]he international domain […] is itself the state protestfreie Unterwerfung des tötungsunwilligen of nature in the most original and actual sense“ Vasallen unter das Diktat des tötungsfähigen (S. 113). Da es auch für die Staaten keine un- Souveräns“ (S. 37, wiederholt S. 43f., dazu noch abhängige Schiedsinstanz gibt und sie in ihrem falsch zitiert in der Einleitung Yana Milev, S. 13). Verhältnis zueinander Richter in eigener Sache Europa sei nicht mehr souveränitätsbegabt. Der bleiben, besteht die Konfliktlage zwischen den Westen sei gespalten an der Linie US-Militarismus Staaten ebenso wie zwischen den Menschen versus Euro-Pazifismus, und die Übermacht der im Naturzustand. Ohne eine übergeordnete un- amerikanischen Datentechnologie sei längst mehr abhängige Instanz können diese Konflikte nur als eine Nebenfront im amerikanischen Krieg ge- nach dem Recht des Stärkeren gelöst werden. gen den Rest der Welt. Christov würdigt in seiner Studie die Bedeutung

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 181 der Hobbes’schen Naturgesetze nicht genügend. präsent sei: „[N]ature and sovereignty […] re- Denn wenn Hobbes sagt, dass der Naturzustand semble each other much more closely than the dem zwischenstaatlichen Verhältnis entspreche, sharp contrast between the savage Libertas and dann heißt dies implizit auch, dass die vernunft- the civilised Imperium in De Cive ’s frontispiece rechtlichen Gebote des Naturzustandes auch may lead us to believe“ (S. 85, Hervorhebung im auf das Völkerrecht Anwendung finden. Es war Original). Der fundamentale strukturelle Unter- Hobbes’ feste Überzeugung, dass die Gebote schied von Naturzustand und souveränem Staat der rechten Vernunft allein nicht ausreichten, um gerät so aber aus dem Blick. einen gesicherten Rechtsfrieden zu garantieren. Die problematische Grundlage, auf der Dies war, wie Hobbes nicht müde wurde zu be- Christov die realist theory zu widerlegen sucht, tonen, erst durch die Stiftung einer mit Zwangs- ist also in der Behauptung zu sehen, Hobbes sei rechten bewehrten Staatsgewalt möglich. Die letztlich in seinem Naturzustandsszenario gera- von Hobbes entwickelten natürlichen Gesetze, de nicht davon ausgegangen, dass Anarchie die wie etwa den Frieden zu suchen oder Verträge natürlich gegebene Situation der Menschen im zu halten, können als notwendige Voraussetzun- Naturzustand gewesen sei. Die Familienstruktur, gen für die Ordnung einer Staatengemeinschaft die durchaus bereits Kooperation und Bündnisse gelesen werden. Freilich zieht Hobbes auf der im Naturzustand aufweise, sei mit den internatio- zwischenstaatlichen Ebene nicht die Konse- nalen Beziehungen vergleichbar. In beiden Fällen quenzen, die er auf der staatsrechtlichen durch sei bereits ein nicht zu übersehendes Niveau an die Stiftung eines Souveräns gezogen hatte. Die Stabilität gegeben: „Armed peace is the universal Bedeutung der natürlichen Gesetze für das Ver- requirement of all sovereigns and serves as the hältnis zwischen den souveränen Staaten ist aber practical foundation for Hobbes’s international unübersehbar. Auf diesen wichtigen Aspekt geht theory“ (S. 132). Christov ist hier in seiner Inter- Christov in seiner Studie leider nur kursorisch ein pretation begrifflich ungenau. Entspricht „armed (vgl. S. 113ff.). Andererseits wird von Christov peace“ doch viel eher der Hobbes’schen Defini- der Verpflichtungscharakter der Naturgesetzte tion des Krieges, so dass man von bewaffnetem überschätzt (vgl. S. 126), hier wäre eine Aus- Frieden nach Hobbes besser nicht sprechen soll- einandersetzung mit Howard Warrenders Studie te: „Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder angemessen gewesen. Kampfhandlungen, […] sondern in der bekann- Für Hobbes wird der Verpflichtungscharak- ten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, ter der natürlichen Gesetze durch die fehlende in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein Sicherheit auch im Hinblick auf die internatio- kann. Jede andere Zeit ist Frieden. Deshalb trifft nalen Beziehungen aus den gleichen Gründen alles, was Kriegszeiten mit sich bringen, auch und mit gleicher Konsequenz eingeschränkt. auf die Zeit zu, während der die Menschen keine Man sollte ihr Potenzial als Regelungsmecha- andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen nismus für die zwischenstaatlichen Verhältnisse ihre eigene Stärke und Erfindungskraft bieten“ aber auch nicht leichtfertig abtun oder voreilig („Leviathan“, Kap. 13, S. 96, Hervorhebung im unterschätzen, auch wenn die Souveränitäts- Original). lehre von Hobbes dazu verleitet. Konzeptionell Christov versucht die Souveränitätstheo- dient ihm der Naturzustand – und darin besteht rie von Hobbes zu relativieren. Aber die Grenze gerade eine seiner bedeutendsten rechtsphi- eines effektiven, rechtlich durchsetzbaren Völ- losophischen Leistungen – als begründungs- kerrechts verlief genau dort, wo der Staat nicht theoretischer Nachweis, dass ein staatliches bereit war, seine ihm eigentümliche Souveräni- Gewaltmonopol zur Garantie von Frieden und tätsrechte an eine diesem übergeordnete Instanz Sicherheit zwingend notwendig ist. Eben die zu übertragen. Das wurde bereits von dem Abbé Konsequenz des den Staat stiftenden Vertrags- Saint-Pierre ausführlich erörtert. Ohne den Be- schlusses wird man aber für die internationale griff zu verwenden, kommt Christovs alternative Ebene nicht ziehen können. Bereits bei Hobbes Interpretation der Doktrin der balance of power zeigt sich, dass jedes Völkerrecht unauflös- nahe. Hier hätte man sich, durchaus auch im An- lich mit der Souveränitätsfrage verschränkt ist. schluss an den Abbé Saint-Pierre, eine detaillier- Christov schlägt in seiner Untersuchung aber tere Diskussion und mehr Problembewusstsein einen anderen Weg ein, denn er versucht den gewünscht. Nachweis zu erbringen, dass der Hobbes’sche Zuzustimmen ist Christov hingegen, wenn er Naturzustand auch innerhalb des Staates noch darauf verweist, dass zwischen dem individuellen

182 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen und staatlichen Naturzustand nach Hobbes auch eigenem Bekunden ausdrücklich Hobbes. Das ein entscheidender Unterschied besteht, der bis ist alles seit über dreißig Jahren ausführlich in der heute als der maßgebliche Grund auszumachen Forschung diskutiert worden und die knappen ist, warum souveräne Staaten es vorziehen, Ausführungen bei Christov (S. 190–196) bleiben ihre Souveränität nicht vorbehaltlos auf der zwi- hinter dem seit Langem erreichten Forschungs- schenstaatlichen Ebene zu delegieren. Denn, so stand zurück. Hobbes im „Leviathan“, der Staat als Friedens- Die Akzente, die in „Before Anarchy“ ge- wahrer garantiere intern Sicherheit und daraus setzt werden, mag man aus den hier angeführten resultierend wirtschaftliche Prosperität. Zugleich Gründen nicht immer bereit sein zu teilen, bergen bedeutet für Hobbes die Gleichheit des Naturzu- sie doch die Gefahr, wesentliche Aspekte (insbe- standes, dass die Staaten, wenn sie einander als sondere die Bedeutung der Naturgesetzte für die Feinde gegenüberstehen, zwar nicht unbedingt Internationalen Beziehungen und die Souveräni- an Stärke ebenbürtig sind – die Analogie zu den tätstheorie) von Hobbes’ Rechtsphilosophie aus- Menschen im Naturzustand stößt hier an eine zublenden. Insgesamt kann man die vorgelegte weitere Grenze – wohl aber kann zwischen ihnen Studie aber nur begrüßen. Die Interpretation von kein Staat moralisch oder juristisch diskriminiert Hobbes und die Rezeption seiner Lehre, gerade werden. Jeder Staat hat ein Recht zum Kriege auch hinsichtlich der Internationalen Beziehun- und ist im Kriegsfalle dem Feind moralisch und gen, werden kontrovers bleiben. Hier so etwas juristisch als gleichwertig zu betrachten. Damit wie eine herrschende Lehre formulieren oder löst Hobbes sich von der scholastischen Theo- gar durchsetzen zu wollen, wäre angesichts des rie des gerechten Krieges (bellum iustum) – hier Reichtums und der Vielschichtigkeit der Hob- hätte man sich erneut gewünscht, dass Christov bes’schen Argumente verfehlt. „Before Anarchy“ diesen Aspekt in seine Analyse aufgenommen setzt die Diskussion, wie Hobbes treffend in den hätte. Kanon der politischen Theorien einzuordnen ist, Hobbes hatte nicht die Existenz eines Völker- trotz mancher Unzulänglichkeiten zumeist origi- rechts geleugnet, sondern dessen Garantie und nell und kenntnisreich fort und dürfte die weitere die Möglichkeit seiner rechtlichen Durchsetzung. Forschung inspirieren. Von Hobbes wird bereits die grundsätzliche Pro- blematik aufgezeigt, dass bei der Beibehaltung London Peter Schröder der Souveränität der einzelnen Staaten ein wirk- sames Völkerrecht nicht realisierbar ist. Die argu- mentative Stringenz und Stärke der von Hobbes entwickelten Souveränitätstheorie, deren be- ‚Doing good‘? Humanitäre gründungstheoretisches Fundament er in seiner Kooperationen spezifischen Naturzustandslehre geleistet hatte, bildeten daher für jeden Denker, der sich mit der Heins, Volker M./Koddenbrock, Kai/Unrau, Problematik von Souveränität und Völkerrecht Christine (Hrsg.) : Humanitarianism and Chal- auseinandersetzte, den geradezu unvermeidba- lenges of Cooperation, 230 S., Routledge, ren Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. London/New York 2016. Der zweite Teil von Christovs Studie wid- met sich der Rezeption von Hobbes anhand Es gibt im 21. Jahrhundert einen steigenden Be- von drei Fallstudien. Hier werden wichtige Ge- darf nach humanitärer Hilfe für Menschen, die sichtspunkte diskutiert, anhand deren Christov durch Kriege oder Naturkatastrophen bedroht aufzuzeigen versucht, wie Pufendorf, Rousseau sind. Doch ist dies nicht die einzige aktuelle Her- und Vattel die Theorie von Hobbes weiterentwi- ausforderung für humanitäre Organisationen. Sie ckelten. Aber auch hier ergeben sich im Detail sind selbst einem Wandel ihrer Umwelt unter- Ungenauigkeiten in der Argumentationsführung. worfen, der sie vor weitere Probleme stellt. Die So hat Pufendorf zum Beispiel mit seiner Idee westlichen NGOs teilen sich das Feld mittlerweile eines Staatensystems ausdrücklich auf Hobbes mit anderen Akteuren, die sich neben den klas- (vgl. „Leviathan“, Kap. 22) rekurriert. Die Idee sischen Geberstaaten und westlich geprägten von regulären und irregulären Staaten, wie sie für humanitären NGOs den gewaltigen Aufgaben die Souveränitätsdiskussion Pufendorfs in seiner stellen: „neue“ Geber wie China, islamische Reichsverfassungsschrift (Severinus de Monzam- NGOs oder private Militärfirmen. Oftmals zeigt bano) zentral war, verdankt sich nach Pufendorfs sich, dass diese Akteure gar nicht so neu sind,

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 183 doch wird ihre Rolle zunehmend anerkannt und geht, sondern erschreckend viel auch um öko- damit werden sie in den Augen der klassischen nomische Prozesse und Macht. Antonio Donini Geber und humanitären Organisationen vor allem deckt die inhärente Kolonialität humanitärer Hilfe zu möglichen Kooperationspartnern. Diese neue auf (S. 73). Kai Koddenbrock erklärt, dass das Konstellation verlangt nach einer eigenen Be- Feld der humanitären Organisationen seit den trachtung und Reflexion, denn sie könnte bereits 1990er Jahren rapide wächst und mit immer bestehende Probleme – wie die Instrumentalisie- mehr Ressourcen ausgestattet wird, weil hu- rung humanitärer Hilfe für politische Zwecke – manitäre Organisationen ökonomischen Motiven weiter verstärken. Im Zentrum dieses im Kontext folgen und den Gebern gegenüber Probleme des Käte-Hamburger-Kollegs Duisburg und des verschleiern (S. 86). Kerstin B. Sandvik fragt, Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts her- wie das humanitäre System für zukünftige Auf- ausgegebenen Sammelbandes steht damit die gaben „stronger, faster, and better“ werden kann hochaktuelle Frage, wie Kooperation zwischen (S. 97). humanitären Akteuren gelingen kann. Teil II des Bandes zeigt die daraus resultie- Kooperation scheint ein Schlüssel für eine renden Kooperationsprobleme an recht unter- bessere humanitäre Hilfe zu sein, die auch ange- schiedlichen konkreten Fällen auf, wobei das sichts von Instrumentalisierung und Politisierung, letzte Kapitel zum UN Sicherheitsrat auf den kulturellen Spannungen, moralischen Dilemmata Internationalen Strafgerichtshof und die respon- und steigenden Gefahren für humanitäre Helfer_ sibility to protect vom bisherigen thematischen innen bestehen kann. Die Herausgeber_innen Fokus auf humanitäre Hilfe abweicht und sich beschreiben in der programmatischen Einleitung nicht wirklich einpasst. Andere Beiträge befassen jedoch ein Paradoxon. Diese Trends, die Koope- sich mit humanitärer Hilfe, die dezidiert religiös ration einerseits erforderlich machen, verhindern motiviert, oder aber zumindest in das Spannungs- sie gleichzeitig (S. 8). Es stellt sich für die hu- feld zwischen Islam und Christentum eingebettet manitäre Hilfe daher die drängende Frage, wie ist (Charlotte Walker-Said, Mathis Danelzik und dieser Situation zu begegnen ist: in der Praxis, Mayke Kaag). Mayke Kaag legt zum Beispiel aber auch theoretisch. die Vielfalt der humanitären NGOs offen und Zunächst wird im Band ein zentraler Auf- beschreibt, wie die Kooperation zwischen islami- satz von Thomas G. Weiss, einem renommier- schen und westlichen (christlichen und säkularen) ten US-amerikanischen Politikwissenschaftler, Organisationen durch Spannungen und Vorurteile der viel zu Internationalen Organisationen, global besonders erschwert wird. Die Kooperation mit governance und Humanitarismus schreibt, er- „neuen“ Akteuren, wie dem aufstrebenden Ge- freulich kontrovers diskutiert. Weiss beschreibt, berstaat China (Hannah Bianca Krebs) oder auch wie die gegenwärtige humanitäre Kultur durch privaten Militärfirmen (Andrea Schneiker/Jutta „militarization, politicization, and marketiziation“ in Joachim) wird als notwendig, aber auch proble- Bedrängnis geraten ist. Humanitäre Organisatio- matisch beschrieben. Diese Akteure bieten Geld, nen müssten sich daher substanziell verändern, Zugang zu bestimmten Gebieten oder Sicherheit, indem sie basierend auf sozialwissenschaftli- verbinden aber auch neue Ideale mit humanitärer cher Forschung lernen, wie sie die Effekte ihres Arbeit und führen daher zu einem Identitätswan- Handelns besser einschätzen und kontrollieren del humanitärer Organisationen, wobei sich nicht können (S. 28, 31). David Chandler plädiert hin- eindeutig nachvollziehen lässt, was die Identität gegen dafür, Prozesse in den Gesellschaften, die von so vielfältigen humanitären Organisationen von Kriegen und Katastrophen betroffen sind, genau ausmacht und wohin sie sich wandelt. nicht-interventionistisch zu unterstützen (S. 46). Dass sich humanitäre Organisationen ver- Dennis Dijkzeul und Dorothea Hilhorst wenden ändern, scheint jedoch eine Voraussetzung für ein, dass auch ein evidenz-basierter Ansatz und gelingende Kooperation auch mit „neuen“ Akteu- eine konsequentialistische Ethik instrumentali- ren zu sein. Doch wandelt sich das humanitäre siert werden könnten und dass Weiss’ Ansatz System nur schwerfällig und widerwillig, denn die daher keine Lösung für das Problem der Instru- Bekenntnis zu bislang zentralen, identitätsstif- mentalisierung humanitärer Hilfe sei (S. 54). tenden Normen wie Neutralität, Unparteilichkeit In weiteren Beiträgen des Bandes wird und Unabhängigkeit verhindert das. Vieles deutet deutlich, dass es in der humanitären Hilfe nicht darauf hin, dass diese Normen zu allgemein und nur um die Linderung von Not und die Bedürf- unspezifisch sind und zudem gar nicht die Reali- nisse von Menschen in Katastrophensituationen tät treffen. Die Aufgabe besteht daher darin, ein

184 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen geeigneteres Koordinatensystem zu finden, an primäre Verteilungsmodus sind und insofern auch dem sich humanitäre Organisationen vielfältigster nicht als Abweichungen von einer Norm, sondern Art orientieren können. meist die Norm sozialen Handelns selbst bilden. Das Band wirft somit durch seine Vielfältig- Korruptionsbekämpfung muss daher als holis- keit und die Informiertheit der einzelnen Beiträge tischer Prozess der Umwandlung eines primär interessante Fragen auf. Etwas auf der Strecke partikularistischen zu einem primär universalisti- bleibt dabei die Ausarbeitung des konzeptionel- schen Verteilungsmodus von Gütern verstanden len Rahmens. Die Beiträge benennen die un- werden. terschiedlichsten Dinge als Kooperation oder Im zweiten Kapitel beschreibt die Autorin Kooperationsproblem. Doch fehlt, bis auf einige mittels zahlreicher quantitativer Vergleichsunter- sehr knappe Sätze in der Einleitung (S. 2), eine suchungen, dass es in den letzten 20 Jahren Definition und Konzeptualisierung dieses Be- sehr wenige Erfolgsgeschichten in Sachen Kor- griffes und seiner Unterscheidung zu Koordina- ruptionsbekämpfung gab. Die Gruppe der primär tion oder Kohärenz. Wünschenswert sind daher universalistisch orientierten Gesellschaften ist weitere Veröffentlichungen zum Thema, die sich mit einigen wenigen Ausnahmen weitestgehend tiefgreifender und systematischer mit diesem gleich geblieben (Westeuropa, Nordamerika, zentralen Konzept und auch seinem Zusammen- Australien, Neuseeland). Partikularistische Ver- hang mit Wandel und identitätsstiftenden Nor- teilungsprozesse verfestigen sich also meist zu men befasst. einem sehr stabilen Machtgleichgewicht, das durch freie Wahlen, Presse- und Meinungsfrei- Frankfurt a. M. Charlotte Dany heit und rein formale Gesetzgebung allein nicht tangiert wird. Wie es vor allem westlichen Staaten gelang, diese Stabilität partikularistischer Verteilungs- Der lange Marsch des Universalismus modi zu durchbrechen, ist das Thema des his- torisch argumentierenden dritten Kapitels des Mungiu-Pippidi, Alina : The Quest for Good Buches. Anhand zahlreicher historischer Beispiele Governance. How Societies Develop Control (norditalienische Stadtsaaten der Renaissance, of Corruption, 314 S., Cambridge UP, Cam- absolutistische Monarchien des 17. und 18. Jahr- bridge 2015. hunderts) wird gezeigt, dass die Entstehung von Institutionen zur Durchsetzung ethischen Univer- Korruptionsbekämpfung steht seit über zwanzig salismus oft unbeabsichtigt war. Idealtypisch für Jahren auf der Agenda zahlreicher internationa- diese Entwicklung ist Dänemark, dessen me- ler Organisationen und NGOs und war in seiner ritokratische Verwaltung vor allem auf mehrere akademischen Behandlung vor allem ein Thema verlorene Kriege und die damit einhergehende für die Rechts- beziehungsweise Verwaltungs- Entmachtung der Aristokratie zurückgeht. wissenschaft und die Ökonomie. Alina Mungiu- Im vierten Kapitel entwirft die Autorin ein Pippidis „The Quest für Good Governance. How generelles Gleichgewichtsmodell der Korrupti- Societies Develop Control of Corruption“ ist ein onskontrolle. Die Funktion dieses Modells be- Beispiel für die gelungene Öffnung des Themas steht darin, einen Mittelweg zwischen einem für die Politikwissenschaft und die (politische) So- historisch-deterministischen Pessimismus (Ent- ziologie. Die Kernaussage des Werkes ist, dass wicklungsstaaten seien dazu verdammt, partiku- gelingende Korruptionsbekämpfung ein inkre- laristisch organisiert zu bleiben) und einem naiven menteller, endogener und pfadabhängiger Pro- institutionalistischen Optimismus (Partikularismus zess sei und die Nichtbeachtung dieser Faktoren ließe sich durch den Import westlicher Instituti- meist zu ihrem Scheitern führe. onen beseitigen) zu finden. Kernaussage dabei Diese Argumente werden schrittweise in ins- ist, dass ein stabiles partikularistisches Vertei- gesamt acht Kapiteln entfaltet. Im ersten Kapitel lungssystem zugunsten eines ethischen Uni- wird Korruption zunächst als Sammelbegriff für versalismus destabilisiert werden könne, wenn diverse partikularistische Verteilungsmechanis- es gelinge, diejenigen Gruppen zu stärken, die men wie Bestechung, Patronage oder Kliente- vom jeweiligen Verteilungssystem nicht profi- lismus eingeführt. Aufbauend auf diesem breiten tieren. Dass dafür vor allem kontextspezifische Korruptionsbegriff zeigt die Autorin, dass in den Lösungen vonnöten sind, wird im fünften Kapi- meisten Regionen der Welt solche Praktiken der tel gezeigt, das sich mit den wenigen Staaten

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 185 beschäftigt, die in den letzten zwanzig Jahren si- Für die politische Soziologie ist das Buch metho- gnifikante Fortschritte in der Korruptionsbekämp- dologisch und für die Politikwissenschaft durch fung gemacht haben (Chile, Uruguay, Estland, seinen Realitätssinn ein großer Gewinn. Die Pra- Botswana, Taiwan, Südkorea und Georgien). xis der Korruptionsbekämpfung wird das Buch Die Rolle der Zivilgesellschaft und der Mas- vermutlich ernüchtert zurücklassen. senmedien in der Durchsetzung universalistischer Prinzipien wird im sechsten Kapitel besprochen, Osnabrück Fran Osrecki wobei die Grundaussage ist, dass zivilgesell- schaftliche Akteure, um als „watchdogs“ zu agieren, mitgliederstark und lokal verankert sein müssen und Massenmedien nicht selbst einer Brücken schlagen partikularistischen Logik entsprechend berichten dürfen. Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit Esders, Stefan/Schuppert, Gunnar Folke : Mit- der Rolle internationaler Organisationen in der telalterliches Regieren in der Moderne oder Korruptionsbekämpfung und kommt zu einem er- Modernes Regieren im Mittelalter?, 291 S., nüchternden Ergebnis – deren Engagement hat, Nomos, Baden-Baden 2015. statistisch gesehen, sehr wenig Einfluss auf die Kontrolle von korrupten Praktiken. Das achte und Der Band versucht, wie bereits an der wissen- letzte Kapitel umreißt die wichtigsten Ergebnisse schaftlichen Herkunft der beiden Ko-Autoren für die Entwicklung von policies der Korruptions- deutlich wird, eine Brücke zu schlagen zwischen bekämpfung, vor allem die Stärkung derjenigen staats- und verwaltungswissenschaftlichen For- Akteure, die als „change agents“ kollektiv han- schungen zu Räumen begrenzter Staatlichkeit deln können sowie eine größere Sensibilität für der Gegenwart einerseits und geschichtswissen- lokale Machtverhältnisse aufseiten internationaler schaftlichen Untersuchungen über Formen des Akteure der Korruptionsbekämpfung. Regierens im Mittelalter andererseits. Ausgangs- Die große Stärke des Buches ist dessen punkt war die Überlegung, wie die Autoren in analytischer Realismus, insbesondere wenn Par- ihrem Vorwort schreiben, dass es „aufschlussrei- tikularimus als der Normalfall sozialen Handelns che Parallelen“ der Staatlichkeit zwischen diesen beschrieben, der meist wirkungslose Formalis- beiden Bereichen gibt. Damit gehen die Auto- mus westlicher Institutionen im Rest der Welt ren ein Experiment ein, denn der Vergleich von aufgezeigt und die Ineffektivität der globalen An- politischen Systemen und Regierungsformen, tikorruptionsindustrie aufgedeckt werden. Diese zwischen denen mehr als ein Jahrtausend liegt, Phänomene sind aus der Sicht der politischen ist sicher mehr als gewagt, kann aber durchaus Soziologie zwar nicht neu, werden aber mit einer auch die Forschung stimulieren und zu neuen methodologischen Genauigkeit nachgezeichnet, Einsichten führen. die in diesem Feld äußerst selten ist. Herauszu- Der Band ist in zwei Teile gegliedert. Im ers- heben sind insbesondere die historischen Fall- ten Teil gibt Gunnar Folke Schuppert einen „Ver- analysen gelungener Korruptionsbekämpfung, such in vergleichender Governanceforschung“, im die vermutlich davon profitiert hätten, wenn man zweiten Teil geht Stefan Esders näher auf Regie- einigen von ihnen mehr Raum zugestanden hätte. ren und Staatlichkeit im Mittelalter ein. Der erste Etwas uneinheitlich ist die Darstellung der gegen- Teil liefert einen weiten und instruktiven Überblick wärtig erfolgreichen Beispiele von Korruptionsbe- über die gegenwärtige governance-Forschung. kämpfung, denn es entsteht der Eindruck, dass in Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, jedem der beschriebenen Fälle eine sehr spezifi- wie auch der Titel des gleichnamigen DFG-Son- sche Kombination von lokalen Faktoren universa- derforschungsbereichs nahe legt, aus dessen listische Verteilungsprinzipien beförderte. Dieser Forschungen der Band entstand, ist ein zen- Schluss ist auch naheliegend, wenn man den trales Thema politik- und staatswissenschaft- lokalen Machtgleichgewichten große Bedeutung licher Forschung seit den 1990er Jahren, aber beimisst sowie standardisierten und meist simpli- verstärkt seit der Jahrhundertwende. Wer einen fizierenden Lösungen skeptisch gegenübersteht. detaillierten Einblick in den Stand der mittler- Der Preis für diesen Realismus ist, dass einheit- weile sehr verzweigten Forschung sucht, dem liche Rezepte für Korruptionsbekämpfung im werden ausführliche „Lesefrüchte“ (Schuppert) Grunde nicht formuliert werden können oder sich geliefert. Dabei schlägt Schuppert den Bogen in sehr allgemeinen Empfehlungen erschöpfen. von der Reflexion über die Anwendung moderner

186 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen

Begriffe auf mittelalterliche Herrschaftssysteme der Staatlichkeit der modernen govern ance - bis zur Diskussion über die Analyse begrenz- Forschung, spielten auch im Mittelalter eine ter Staatlichkeit in der Moderne. Als besonders bedeutende Rolle bei der Etablierung von Herr- aufschlussreich erweisen sich insbesondere die schaftssystemen. Zudem wird deutlich, dass Abschnitte, die eine Verbindung von Geschichts- Epochen niemals abgeschlossen sind, sondern analyse und moderner Begrifflichkeit herstellen. in kreativer Weise bereits vorhandene Konzepte, Formelles und informelles Regieren, personale Ideen und Institutionen aufgegriffen werden, um und transpersonale Herrschaft, Rechtsetzung sie nach eigenen Vorstellungen umzugestalten. und Rechtdurchsetzung, Klientelismus sowie Governance eignet sich auch deshalb als moder- das Aufkommen von Warlords kennzeichnen ner Analysebegriff zur Untersuchung längst ver- demnach Regieren im Mittelalter auf spezifi- gangener Zeiträume, um diese Transformationen sche Weise. Leider werden die Ausführungen herauszuarbeiten und die spezifischen epochalen nicht hinreichend vertieft, sondern geben eher Veränderungen sichtbar zu machen. Impulse zum Nachdenken und Weiterforschen. Insgesamt handelt es sich bei dem Band um Darüber hinaus stören die recht ausführlich wie- ein interessantes und fruchtbringendes Wagnis, dergegebenen Originalzitate anderer Autoren governance-Formen in sehr unterschiedlichen sowie umfangreiche, oft nicht näher erläuterte Systemen und Epochen zu vergleichen. Der Tabellen den Lesefluss. Zudem nimmt der Au- Band regt an, sich vertieft mit dem Gegenstand tor zu selten selbst Stellung; vielmehr spricht er auseinanderzusetzen und stimuliert als Brücken- durch die vorgestellten Autoren zum Leser, ohne schlag zwischen unterschiedlichen Disziplinen dass eine vertiefte Einordnung oder Bewertung hoffentlich weitere wissenschaftliche Forschun- erfolgt. Gerne hätte man mehr vom Autor selbst, gen zu dieser spannenden Thematik. einem renommierten und profunden Kenner auf dem Gebiet der governance-Forschung, der hier Jena Olaf Leiße ungewöhnlich zurückhaltend agiert, gelesen. Der zweite Teil, verfasst von Stefan Es- ders, geht stärker auf die Anwendung des gov- ernance -Paradigmas zur Generierung neuer Neue Formen der politischen Erkenntnisse über mittelalterliches Regieren Partizipation ein. Was zunächst als Programm formuliert wird – Fragen der Legitimation und Leistungs- Mittag, Jürgen/Winterberg, Lars/Bitzegeio, fähigkeit politischer Ordnungssysteme, Formen Ursula (Hrsg.) : Der politische Mensch. Akteu- der Handlungskoordination, Wahrnehmung be- re gesellschaftlicher Partizipation im Übergang stimmter Funktionen und Bereitstellung von Kol- zum 21. Jahrhundert, 464 S., Dietz Nachf., lektivgütern – wird im Anschluss eingelöst. Dabei Bonn 2016. zeigt er, wie die Besonderheiten mittelalterlicher Staatlichkeit, wie personalisierte Konfliktlö- Ausgehend von der Feststellung, dass das Sys- sungsmechanismen, die ritualisierte Setzung tem der repräsentativen und eliten-zentrierten von Recht und eine weitgehend selbstregula- Demokratie gegenwärtig unter erheblichem tiven Gemeinschaft, deren wichtigste Akteure Druck steht, widmet sich der Sammelband ei- kooperativ verflochten waren und auf Konsens nem politisch und gesellschaftlich hochaktuellen orientierten, Regieren in Räumen mit begrenzten Themenkomplex – nämlich den neuen Formen institutionellen Kapazitäten ermöglichte. Ergänzt der politischen Partizipation. werden die modernen Begrifflichkeiten jedoch Als zentrale Herausforderungen bestehender mit zeitgenössischen Termini, wie Ehre, Treue, Demokratien werden derzeit das immer weiter Eid, Vasallität, Bann und Lehen, die eine stark abnehmende Vertrauen in formelle Institutionen, zeit- und kontextgebundene Bedeutung aufwei- die starken Mitgliederverluste der Parteien so- sen. Doch insbesondere bei der Untersuchung wie ein zunehmend distanziertes Verhältnis zwi- der Herrschaftsbeziehungen wird deutlich, dass schen Bürgern und ihren Vertretern einerseits es elastische und wandelbare Formen des Zu- und wachsende unkonventionelle Partizipation sammenspiels von öffentlich-rechtlichen und und Massenproteste gegen Regierungspolitik privatrechtlichen Prinzipien wohl auch schon anderseits gesehen. Wenngleich die Institutio- im Mittelalter schon gegeben hat. Sicherheit, nen des repräsentativen Systems zunehmend an Wohlfahrt, Legitimität, die bekannten Typen Legitimationskraft verlieren, sind diese für eine

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 187 wirksame demokratische Entscheidungsfindung und andererseits einer Entpolitisierung weiter und -umsetzung weiterhin erforderlich. Die reprä- Teile der Bevölkerung entgegenwirken könne. sentative Demokratie stellt also nicht das Ende Auf der dritten Analyseebene (Organisation der demokratischen Entwicklung dar. Innerhalb und Beteiligung) analysiert Marco Althaus den der etablierten Demokratien findet ein Umden- gesellschaftlichen Widerstand gegen Großprojek- ken in Richtung auf innovative Szenarien, sprich te, der durchaus positive Auswirkungen auf das auf mehr Beteiligung von Bürgern an politischen Gemeinwohl und die Aktivierung beziehungswei- Prozessen statt. se Politisierung von Bürgern habe. Dass zivilge- Auf der Grundlage von Colin Crouchs Aus- sellschaftliche Formen der Interessenvertretung führungen zur Postdemokratie, ist für den Sam- in Vereinen und Verbänden auf lokaler Politik- melband die folgende Fragestellung leitend: ebene sowohl formell als auch informell Einfluss Inwieweit ist „gesellschaftspolitisches Handeln ausüben könnten, zeigt Andrea Walter in ihrem bei der Gestaltung individueller und kollektiver Beitrag auf. Am Beispiel des „Community Or- Lebenswelten im Übergang zum 21. Jahrhundert ganizing“ zeigt Sven Gramstadt die Potenziale möglich und durch welche Aktivitäten und Aus- jenseits etablierter Beteiligungsformen insbeson- drucksformen“ (S. 21) ist dieses gesellschafts- dere hinsichtlich der diskursiven Einbindung von politische Handeln gekennzeichnet? Bürgern. Am Beispiel Island stärkt Julia Tiemann Es ist zweifellos eine besondere Stärke des die Vorteile der digitalen Bürgerbeteiligung, die vorgelegten Bandes, dass die Beiträge in insge- die Autorin vor allem in der Effizienz und in der samt fünf Analyseebenen eingebettet sind: Auf Benutzerfreundlichkeit sieht. der ersten Analyseebene (postdemokratischer Auf der vierten Analyseebene (Engagement Kontext) diskutiert Marcel Solar die durchaus und Protest) zeigt Sigrid Baringhorst Ambiva- noch ausbaufähige Anpassungs- und Wand- lenzen von Protestaktivitäten im social web auf: lungsfähigkeit traditioneller Akteure und Formen Verstärktes politisches Engagement bei gleich- politischer Beteiligung. Manfred Wannöffel und zeitiger Privatisierung des Politischen. Katrin Mark Esteban Palomo sehen in zivilgesellschaft- Bauer untersucht smartmobs und wie es diesen lichen Kooperationen einen vielversprechenden gelingt, bestehende Gemeinschaften und Iden- Weg, der durch eine ungleiche Einkommens- und titäten zu festigen. Johannes Diesing diskutiert Vermögensverteilung hervorgerufenen tiefen ge- wie Flüchtlingsproteste gesellschaftliche Debat- sellschaftlichen Spaltung politisch zu begegnen. ten initiieren. Juliane Stückrad schließlich widmet Grischa Frederik Bertram erörtert postdemokra- sich der Kultur des Unmuts und fordert darauf tische Potenziale städtischer Proteste und Initi- einzugehen; andernfalls werde Politikverdrossen- ativen, wobei der verantwortungsvolle Umgang heit eher gefördert statt verringert. mit dieser ‚neuen‘ Macht der Bürger_innen im Die fünfte und letzte Analyseebene (traditi- Mittelpunkt steht. Sigrid Kannengießer hebt die onelle und innovative Ansätze politischen Han- enormen Vernetzungspotenziale gegenwärtiger delns) eröffnet Anna-Lena Wilde-Krell mit Blick politischer Bewegungen hervor; konstatiert aber auf die Piratenpartei. Sie erörtert deren vorbild- gleichzeitig eine immanente Ungleichheit dieser liche Partizipationsmöglichkeiten auf breiter Ebe- stark mediatisierten und translokalen Form von ne. Sebastian Demel betont das Potenzial von Vergemeinschaftung. Stiftern als zivilgesellschaftlichen Akteuren für Auf der zweiten Analyseebene (Kommuni- die Qualität von Demokratie. Ina Dinter widmet kation und Manipulation) offeriert Karin Priester sich der politischen Kunst. Allerdings fällt ihr Fazit einen Überblick über Manipulationsstrategien in eher nüchtern aus, indem sie die politische Wir- der Demokratie, die vor allem in ihrer subtilen kung von Künstlern beziehungsweise von Kunst Form gefährlich sind. Für Martin Mertens ist Po- im Allgemeinen infrage stellt. Als politischer Au- pulismus verstanden als Strategie der politischen tor und Literaturwissenschaftler beschließt Enno Öffentlichkeitsarbeit ein tragfähiges Konzept zum Stahl den Band mit einer Aufforderung zu sozia- Abbau der gesellschaftlich weit verbreiteten po- lem respektive gesellschaftsbildendem Verhalten, litischen Apathie. Katharina Oerder diskutiert der jedem Menschen innewohne. die theoretischen und empirischen Stärken po- Trotz dieser Fülle an empirischen Beispie- litischer Fertigkeiten in gesellschaftlichen Kom- len, Fragen und analytischen Zugängen lassen munikationszusammenhängen. Christian Bauer sich zwei Kritikpunkte an der programmatischen fordert ein stärkeres medienkritisches Denken, Ausrichtung des Sammelbandes formulieren: das einerseits Vertrauen in die Politik erhöhen Der erste Punkt bezieht sich auf die fehlende

188 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen beziehungsweise divergierende räumliche Ver- tatsächlichen Weltereignissen ab. Gezeigt wird, ortung. In der Gesamtschau des Bandes bleibt wie unvorhersehbar die Aufschaukelungswellen unklar, ob sich die theoretischen Ausführungen sind. Gefragt wird, wie soziale Medien die Bür- und empirischen Implikationen auf die natio- ger darin beeinflussen, sich zu beteiligen und so nale, sprich bundesdeutsche Ebene oder auf kollektives Handeln auslösen. Dabei zeigen sich die europäische Ebene beziehen. Es hätte dem auch kuriose Resultate: So war die Online-Peti- Sammelband gutgetan, diesbezüglich eine ent- tion „Deport Justin Bieber and revoke his green sprechende Einordnung vorzunehmen. card“ die zweiterfolgreichste Petition in den USA Der zweite Kritikpunkt betrifft die theoretische im Januar 2015 (273.968 Unterzeichner). Of- Fundierung des Sammelbandes. So detail- und fensichtlich ein Scherz. Auf Platz 7 folgte „Par- materialreich die einzelnen Texte verfasst sind, so don Edward Snowden“, 163.602 Unterzeichner). blass bleibt auf der anderen Seite die Entwick- Diese Petitionen scheiterten meistens sehr lung theoretisch-konzeptioneller Figuren, die ei- schnell, so die Beobachtung, und das gemeinsa- nem tieferen Verständnis des Zusammenwirkens me Handeln lässt nach. von Partizipation und den politischen Menschen Wie lässt sich das Mitmachen im social web dienen könnten. Theoretische Ausgangsbasis ist überhaupt erklären? Die Autoren führen dazu lediglich der postdemokratische Ansatz von Colin die fünf wichtigsten Persönlichkeitsfaktoren Crouch, auf den sich – mehr oder weniger – alle an: Offenheit, Extraversion, Verträglichkeit und Beiträge beziehen. Dazu gehört auch, dass der Neurotizismus (openess, conscientiousness, ex- Sammelband über kein abschließendes Resümee traversion, agreeableness, neuroticism). Schüch- der Herausgeber_innen verfügt, das abstrahiert terne und ängstliche Menschen meiden demnach von den einzelnen theoretischen und empirischen eher eine Beteiligung als aggressive, ausgegli- Beiträgen Gemeinsamkeiten sowie theoretische chene oder arbeitsame Persönlichkeiten. Das Leerstellen aufzeigen könnte. Ende der Mitgliedschaft und die neue Bedeutung Ungeachtet dieser Kritikpunkte bietet der der Individuen in vielfältigen Rollen werden kon- Sammelband eine hervorragende Zusammen- statiert. Die Bedeutung von Anführern für eine schau von Beiträgen mit Fokus auf die Akteure Mobilisierung und Organisationen für Aufstände gesellschaftlicher und politischer Partizipation, oder Revolutionen wird relativiert. Das zeigten die die politikwissenschaftliche Forschung in dem beispielsweise die Verläufe der Besetzung des Themenfeld bereichern wird. Gezi Parks in Istanbul (2013) und die Proteste in Brasilien im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft Frankfurt a. M. Pamela Heß 2014. Der Pluralismus bleibt aus Sicht der Autoren das angemessenste Modell dafür, eine „chaoti- sche“, ungeordnete und „turbulente“ politische Turbulent ist das neue pluralistisch Welt in den Griff zu kriegen und zu erklären. Nach Robert Dahl und anderen klassischen Vertreter Margetts, Helen/John, Peter/Hale, Scott/ der Pluralismus-Theorie steht „Pluralismus“ für Yasseri, Taha : Political Turbulence. How Social eine Gesellschaft, in der unterschiedliche Grup- Media Shape Collective Action, 304 S., Prince- pen und Institutionen im Wettstreit stehen. Diese ton UP, Princeton, NJ/Oxford 2016. Vielfalt strukturiert das demokratische politische System. „Turbulente“ Politik ist nach diesem Ver- Unsere vielen kleinen Aktivitäten im social web ständnis eo ipso pluralistisch. können große „politische Turbulenzen“ nach sich Turbulenzen können zu einem chaotischen ziehen, von Nachbarschafts-Kampagnen bis hin System führen. Das klassische Bespiel für ein zu globalen Bewegungen wie der berühmten „Ice chaotisches System ist das Wetter. Kennzeich- Bucket Challenge“, die 2014 auf Facebook eine nend dafür sind Nicht-Linearität und Interkon- virale Verbreitung erlebte. Gemeinsames Han- nektivität. Wie chaotisch oder turbulent auch deln kann eine große ungeplante Mobilisierungs- immer die Zukunft aussehen wird, drei große kraft auslösen, bis hin zu Revolutionen; so lautet Herausforderungen des Pluralismus bleiben, so der Befund von Helen Margetts, Peter John, das Fazit der Autoren: Ungleichheit, staatliche Scott Hale und Taha Yasseri. Handlungsfähigkeit und das Problem kollektiven Dazu analysieren die Autoren viele Daten- Handelns großer Gruppen. Angeregt wird eine sätze aus dem Internet und gleichen diese mit Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlern mit

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 189 Mathematikern, Physikern und Lebenswissen- Gespenster gibt es, seit Menschen von ih- schaftlern. nen erzählen. Üblicherweise werden sie als sehr Der Anspruch der Autoren ist hoch ge- einfach strukturiert und medial äußerst kundig steckt: Mit den großen Daten und unterschied- überliefert. Zwischen diesen Erzählungen und lichen Experimenten soll ein „Toolkit“ entwickelt den digitalen Verknüpfungen unserer Tage, dem werden können, um „demokratische Turbulen- „Internet“, kam das Medium des Films ins Lau- zen“ besser zu verstehen und sogar vorhersagen fen. Diesem eignet prototypisch etwas Gespens- zu können. Dieses Versprechen wird nur bedingt terhaftes, er ist bis zu den „Social Media“, die vor eingelöst. Muss es aber auch nicht. Aus Sicht allem Kanäle sind, das eigentliche Medium direkt des Rezensenten können wir mit einer Verbin- zu vermittelnder Fantasmen. Die nicht zur Rest- dung der Theorie des kommunikativen Handelns losigkeit erkennbare Disparatheit des Wahrneh- mit postmodernen, reflexiven und kritischen An- mungsdispositivs, mit all den Phänomenen und sätzen der Dialektik von Vereinheitlichung und Entwicklungen – auch dafür steht hier der Begriff Fragmentierung im Web eher gerecht werden. der ‚Gespenster‘ –, bleibt dann unterschwellig Die Geschichte einer „Webgesellschaft“ (Gerald bestehen und wird nicht aufgeschlüsselt. Fricke) lässt sich in vielen kleinen und vielfäl- Doch: „Durch Algorithmen generierte Ord- tigen Episoden und Abschnitten erzählen, aber nungen sind ein konstitutiver Bestandteil der Kul- kaum prognostizieren. Ungeordnet, gleichzeitig, tur der Digitalität“. Es lässt sich an dieser Stelle diskontinuierlich, nicht linear, mit Beispielen und endgültig nicht länger um den Gegenstand der assoziativen Verknüpfungen, in wissenschaftli- Rezension herumkommen. Felix Stalder ist mit chen Aufsätzen und empirischen Forschungs- dem Band „Kultur der Digitalität“ ein ganz aus- berichten – und gleichermaßen auf Plattformen gezeichnetes Sach- und Fachbuch gelungen; es im Web oder mit satirischer Kurzprosa auf Twit- ist in seiner klugen Struktur und Rhythmik sehr ter. Erzählen wir am besten Geschichten ge- lesbar und entwickelt ruhig eine umfassende lungener Zusammenarbeit in diesem, unseren Darstellung dessen, worum es beim heutigen Internet. Damit können wir keine Turbulenzen Zustand der „Kultur“ – mithin „geteilter Bedeu- voraussagen, aber mit deren Auswirkungen tung“ (S. 131), so Stalder – und dem Status besser umgehen. ihrer „Digitalität“ geht. Es handelt sich um kei- ne Kampfschrift, vielmehr um eine umfassende Braunschweig Gerald Fricke Arbeit, die anhand sehr tauglicher Beispiele die durchaus nicht einfach zu findenden Kerne des Aktualzustands der digitalen Bezugssysteme un- serer Kultur herausschält. Digitale Gespenster der Felix Stalders Begriffe von „Kultur“ und „Di- Selbstoptimierung gitalität“ sind klug gewählt: „Als Kultur werden im Folgenden all jene Prozesse bezeichnet, in denen Stalder, Felix : Kultur der Digitalität, 282 S., soziale Bedeutung, also die normative Dimensi- Suhrkamp, Berlin 2016. on der Existenz, durch singuläre und kollektive Handlungen explizit oder implizit verhandelt und Gespenster gehen um in der Welt – die Gespens- realisiert wird. […] Mit anderen Worten, Kultur ist ter der Digitalität. Die Verhältnisse erweisen sich nicht symbolisches Beiwerk, kein einfacher Über- zunehmend als hybrid und die politischen Hand- bau, sondern sie ist handlungsleitend und gesell- lungsfelder sind vor neue Aufgaben gestellt, schaftsformend“ (S. 16). Stalder reklamiert – was angesichts derer die oft zu hörenden Phrasen nicht überraschen kann – hier eine „im weitesten von der aufkommenden Digitalisierung als gro- Sinne poststrukturalistische Perspektive“ für sich, be Verkennung der Lage sich erweisen; es ist, das heißt „Kultur wird als heterogen und hybrid als würde man das mittlerweile dunkle Stroh aus konzipiert“ (S. 17). Die dafür notwendigen medi- der letzten Ernte nochmals hell dreschen wollen. alen Verbindungen von Menschen und Objekten Die Entwicklungen hin zur Lage heute, in gera- sind jedoch aus Sicht des Verfassers Technologi- de noch als solchen erkenn- und benennbaren en der Relationalität, weshalb er den Aspekt der Bereichen wie Gesellschaft, Wirtschaft, Medien, Materialität stets im Blick hat. Mit dem Begriff der Politik und Arbeit, haben ihren Ausgang vor mehr „Digitalität“ bezeichnet Stalder nun „jenes Set von als hundert Jahren genommen, manche noch Relationen, das heute auf Basis der Infrastruk- früher. tur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung

190 l Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) Einzelrezensionen und Transformation materieller und immaterieller können per definitionem nicht neutral sein. Dass Güter sowie in der Konstitution und Koordination hinsichtlich Bewusstwerdung und widerständiger persönlichen und kollektiven Handelns realisiert Eigendynamik wesentlich Bildungseliten handeln, wird“ (S. 18). die sich die neuen Möglichkeiten bis hin zu den Ausgehend von drei Hauptstränge begründet Prinzipien der commons zu eigen machen, ist das Stalder (in den Beispielen, Verweisen und Argu- klar benennbare, zusätzliche Problem. Denn die mentationslinien auf den angloamerikanischen Digitalisierung erfasst zwar alle; aber nicht alle und europäischen Raum bezogen) die Möglich- fassen die Digitalisierung. Sie werden folglich keit, das scheinbar unfassbare Digitale als Be- kaum an den Alternativen zur Postdemokratie standteil und zugleich Ausweis vergangener wie partizipieren und sind den Settings der Manipu- gegenwärtiger, potenziell auch zukünftiger Er- lation in einer komitativen Sphäre zugeführt. Bü- scheinungen und Kulturäußerungen zu begreifen. cher wie das von Felix Stalder sind gerade vor Zunächst zeichnet er die „Wege in die Digitalität“ diesem Hintergrund wesentlich. nach (die historischen Entwicklungen bis in die Was nicht als eigenes Kapitel verhandelt Krise der „Gutenberg-Galaxis“ und der Auflösung wird, jedoch sehr deutlich dem Buch an vielen kultureller Geografien mit Zentrum und Peripherie Stellen eingeschrieben ist, betrifft die Unsicher- hinein) – zuvor parataktisch für sich laufende und heit der digitalen Daten, die Möglichkeit der allenfalls parallel gesetzte Prozesse erweisen sich Manipulation und der Überwachung. Diese sind heute als miteinander verschränkt und in dieser selbstverständlich einer Kultur der Digitalität hybriden Erscheinungsform kulturell dominant. eingelagert. Stalder zeichnet folglich sorgfältig In einem ganz hervorragenden zweiten Kapitel die unterschiedlichen Aspekte nach und stellt beschreibt Stalder die „Formen der Digitalität“ anhand von Überwachungs- und Verkehrsleit- anhand von Referentialität, Gemeinschaftlichkeit systemen, Googles PageRank und Facebooks und Algorithmizität – ausgehend von der Frage Timelines wesentliche Fragen (etwa, wen Goo- nach dem „Wie“ kultureller Praxis. Das dritte Ka- gles Stauwarnung wann wohin umleitet – und pitel stellt schließlich Überlegungen hinsichtlich wen nicht), ohne sich dem Zwang hinzugeben, der „Richtungen des Politischen in der Digitali- alle auch gleich zu beantworten. tät“ vor; Stalder sieht zum einen die gravierende In der strengen Ausrichtung des Buches Problematik einer postdemokratischen Gesell- auf den Kontext der Bedingungen von Digitalität schaft, andererseits das massierte Aufkommen liegt auch das Fehlen einer Diskussion darüber von commons , mittels derer er eine Möglichkeit begründet, wie nicht in der Digitalität und ihren zur Gestaltung von Zukunft sieht. Dass die post- Optionen hinreichend ausgebildete Bevölke- demokratisch-kapitalistischen Zuschnitte letztlich rungsgruppen unter den digitalen Bedingungen gravierender sein könnten als die reichhaltigen ihre kulturellen Formen wahrnehmen und weiter- Möglichkeiten der gemeinschaftlichen commons , entwickeln, auch wenn Stalders Buch genug An- wäre eine Umkehrung des Stalder’schen Be- stöße und Referenzen dafür bietet. Die Bereiche funds. Zwei klar auszumachende Gefahren be- des Urheberrechts mit all seinen Facetten kom- nennt er dennoch, auch darin der Nüchternheit men dabei nur am Rande vor (wenn, dann v. a. seiner Befunde angemessen: Cloud software und im Zusammenhang mit den commons und den sharing economy stellen zwei kommerziell inten- Lizenzen neuen Zuschnitts), wiewohl die Ausei- siv genutzte Bewegungen dar, die das Prinzip der nandersetzungen in diesen Materien mittlerweile commons ausnutzen und der Eigenverwertung beinahe kulturstiftende Eigendynamik gewannen. zuführen. Die darin angelegte Aushöhlung des Das mag somit und angesichts der Vielzahl an Prinzips der Gemeinschaftlichkeit ist kategorial. ausschließlich darauf fixierten Studien der letzten Hierin liegt ein Problem von wesentlich po- Jahre überraschen, hat aber einen vom Verfasser litischem Gehalt: Wie geht die Menge der von klar deklarierten Grund: Stalder selbst veröffent- der Digitalität und dem gegenwärtigen Stand der lichte 2014 eine eigene Abhandlung dazu („Der Kultur und ihrer Gesellschaften zwangsläufig er- Autor am Ende der Gutenberg Galaxis“). fassten Leute mit den Möglichkeiten und zugleich Gespenster, so heißt es, erzählen etwas aus Einschränkungen der umfassenden Technologien der Vergangenheit, bringen eine ungelöste Auf- um? Das Problem liegt, wie Stalder sieht, „nicht gabe in der Gegenwart erneut aufs Tapet. Die in den Algorithmen generell, sondern im spezifi- wesentliche Funktion scheint, dass aktiv Ver- schen kapitalistisch-postdemokratischen Setting drängtes oder Vergessenes reiteriert wird. Daraus ihrer Implementierung“ (S. 233). Algorithmen ergeben sich Irritationen, es entstehen Rätsel die

Neue Politische Literatur, Jg. 62 (2017) I 191 neu scheinen und doch nur alte sind; und mitunter Reiz-Reaktions-Beziehungen lassen sich brauch- soll der Rückgriff auf Vergangenes in der nunmehr bare Datenbanken aufbauen und lässt sich das gegenwärtigen Situation eine Möglichkeit der Lö- kleine Big-Data-Glück pflegen. Es wird hier nie sung bieten. Das erweist sich auch als eine der um den Einzelnen gehen, so sehr er das mit Pointen von Stalders Buch, das mit Gespenstern seinem halben Dutzend Accounts in Sozialmedi- und Geistern zwar nichts zu tun hat (auch wenn er en-Kanälen vermuten mag. Was die Algorithmen sich etwa in der Mitte auf das hier im Eingangs- ihm vorschlagen und was er zu sehen bekommt, satz angespielte „Kommunistische Manifest“ von ist einem angewandten Daten-Behaviorismus Marx und Engels bezieht), jedoch umso deutlicher geschuldet, der für Experimente ebenso offen ist zeigt, wie manche längst abgelegten Debatten wie für Manipulationen – und der umso erfolgrei- sich mit ungeahnter Vehemenz wieder positionie- cher sein kann, als die neue Kultur s/eine digitale ren, indem sie ins neue Kulturgefüge und seine ist. Im Zusammentreffen der dafür notwendigen Technologien sich nahezu zwingend einfügen las- Technologien und bereits noch länger laufender sen. An drei Beispielen – Bürokratie, Positivismus gesellschaftlicher Prozesse „ist das eigentliche und Behaviorismus – wird das besonders deutlich. Subjekt der Kulturproduktion unter den Bedin- Die von Stalder in die Zusammenhänge sei- gungen der Digitalität nicht der Einzelne, sondern nes Buches gebrachte Bürokratie und ihre not- die nächstgrößere Einheit“ (S. 128). wendigen Ordnungssysteme aus analogen Zeiten Ein Resultat der Verbindung von Ordnungs- wurden zwar lange genug von profitorientierten systemen neuen Stils und vollem Körperdaten- Ideologien insbesondere der konservativen und einsatz freut übrigens die Spieleindustrie ebenso neoliberalen Seite kritisiert, um sie entgegen aller wie die Versicherungskonzerne (und die High- real bestehenden Notwendigkeit für die Stabilität tech-Giganten, die über die Endnutzergeräte, gesellschaftlicher und sozialer Rahmenbedingun- ihre online-Shops und die Datenzuordnung mehr- gen allgemein als überholt werten zu können. De fach daran verdienen): Hin zu einem Disziplinar- facto sind sie jedoch in einer Art und Weise prä- regime, das direkt auf den Körper abzielt, ist es sent – und gerade die Parteigänger der Abschaf- nur ein kleiner Schritt. Eine entwickelte Kultur der fung akzeptieren das klaglos –, wie sie kein Max Digitalität wird somit in absehbarer Zeit auf die Weber jemals für möglich gehalten oder gar an- Verknüpfung der einschlägigen Daten von „Ver- erkannt hätte. Algorithmen brauchen die Zuord- sicherungen, Krankenkassen, Behörden oder nung, andernfalls funktionieren sie nicht. Und sie Arbeitgebern“ abstellen. Der Geist der Selbstop- sind nicht neutral, sondern müssen entsprechend timierung ist ein fremd-, ein digital bestimmter. programmiert werden. Hier sind Ordnungssyste- Michel Foucault und Jeremy Bentham hätten das me, Formulare und Bürokratien völlig neuer und mit allem Recht spannend gefunden. weitaus umspannenderer Weise am Werk als je Felix Stalders „Kultur der Digitalität“ wird zuvor – Stalder unterscheidet auch zwischen In- in den Handapparaten akademischer Einrich- formationsflut 1.0 und 2.0. Diese neuen Regi- tungen einen wohlverdienten Platz finden. me spielen jenem postdemokratischen Zustand Einen Gewinn brächte jedenfalls bereits die ins Geläuf – in die ‚Schnittstelle‘ –, der sich in erste Fußnote für eine mit Quellen operierende „Kultur der Digitalität“ wie folgt beschrieben fin- Wissenschaft in Zeiten der Digitalität: Hier be- det: „Als ‚postdemokratisch‘ bezeichne ich daher gründet Stalder sehr klar, weshalb er bei online all jene Entwicklungen – gleich wo sie stattfin- verfügbaren Quellen keine vollständige URL re- den –, die zwar die Beteiligungsmöglichkeiten ferenziert, sondern ausschließlich jene Angaben bewahren oder gar neue schaffen, zugleich aber (Verfasser, Titel – zum Beispiel) bringt, die zum Entscheidungskapazitäten auf Ebenen stärken, Auffinden erforderlich sind: „Das Internet ist kei- auf denen Mitbestimmung ausgeschlossen ist“ ne Bibliothek, und Adressen […] sind strukturell (S. 209). Nicht anders als mit der neuen (daten- instabil“ (S. 7). Es ließe sich somit fortan ‚nach und nicht faktenorientierten) Bürokratie verhält es Stalder‘ zitieren. sich mit Positivismus und Behaviorismus im nun neuen Gewand; ausschließlich über messbare Wien Peter Plener

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