Plenarprotokoll 15/115

Deutscher

Stenografischer Bericht

115. Sitzung

Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 10501 A eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 10501 A (Drucksachen 15/3088, 15/3344) ...... 10502 A Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- b) Beschlussempfehlung und Bericht des neten Wolfgang Zöller ...... 10507 D Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- nährung und Landwirtschaft Zusatztagesordnungspunkt 18: – zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut Heiderich, , Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Peter H. Carstensen (Nordstrand), wei- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur terer Abgeordneter und der Fraktion Beschleunigung von Verfahren der Justiz der CDU/CSU: Grüne Gentechnik in (… Justizbeschleunigungsgesetz) Deutschland nutzen – Verlässliche (Drucksache 15/1491) ...... 10501 B Rahmenbedingungen für einen ver- antwortungsvollen Einsatz in der Landwirtschaft schaffen Zusatztagesordnungspunkt 19: – zu dem Antrag der Abgeordneten Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Dr. Christel Happach-Kasan, Hans- Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsaus- Michael Goldmann, Ulrike Flach, wei- schuss) zu dem Zwölften Gesetz zur Ände- terer Abgeordneter und der Fraktion rung des Arzneimittelgesetzes der FDP: Chancen der Grünen Gen- (Drucksachen 15/2109, 15/2360, 15/2849, technik nutzen – Gentechnikgesetz 15/3164, 15/3384) ...... 10501 B und Gentechnik-Durchführungsge- setz grundlegend korrigieren Zusatztagesordnungspunkt 20: (Drucksachen 15/2822, 15/2979, 15/3344) 10502 A Beschlussempfehlung des Ausschusses nach c) Beschlussempfehlung und Bericht des Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsaus- Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- schuss) zu dem Gesetz zur Neuregelung des nährung und Landwirtschaft Rechts der Erneuerbaren Energien im Strombereich – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 15/2327, 15/2539, 15/2593, Dr. Christel Happach-Kasan, Hans- 15/2845, 15/2864, 15/3162, 15/3385) ...... 10501 D Michael Goldmann, (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Distanzierung Tagesordnungspunkt 22: der Bundesregierung von gesetzes- widrigen Zerstörungen von Freiset- a) Zweite und dritte Beratung des von der zungsversuchen mit gentechnisch Bundesregierung eingebrachten Entwurfs veränderten Pflanzen II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

– zu dem Antrag der Abgeordneten tion der FDP: Innovationsstrategie für Dr. Christel Happach-Kasan, Hans- Deutschland – Wissenschaft und Wirt- Michael Goldmann, Ulrike Flach, wei- schaft stärken terer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 15/3332)...... 10518 A der FDP: Freilandversuche mit gen- (CDU/CSU) ...... 10518 B technisch veränderten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlinburg durch- , Bundesministerin führen BMBF ...... 10520 C (Drucksachen 15/1825, 15/2352, 15/3383) 10502 B Katherina Reiche (CDU/CSU) ...... 10522 C Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 10502 D (FDP) ...... 10524 A (SPD) ...... 10503 D Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10525 C Helmut Heiderich (CDU/CSU) ...... 10505 A Katherina Reiche (CDU/CSU) ...... 10525 D Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 10506 D Dr. (CDU/CSU) ...... 10527 D Helmut Heiderich (CDU/CSU) ...... 10507 B Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10528 D DIE GRÜNEN) ...... 10508 A Jörg Tauss (SPD) ...... 10530 B Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 10509 B Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . 10531 A Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD) . . . . . 10511 A (CDU/CSU) ...... 10533 D Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 10512 B Marion Seib (CDU/CSU) ...... 10534 D Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD) . . . . . 10512 D (fraktionslos) ...... 10513 A Zusatztagesordnungspunkt 14: Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU) ...... 10513 D a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ wurfs eines Gesetzes zur Neure- DIE GRÜNEN) ...... 10515 B gelung von Luftsicherheitsaufgaben Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 10515 D (Drucksachen 15/2361, 15/3338) . . . . 10536 A Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 10516 A – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten , Dr. Wolfgang Schäuble, Hartmut Tagesordnungspunkt 23: Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU ein- Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, gebrachten Entwurfs eines Gesetzes , Dr. Maria Böhmer, weiterer zur Änderung des Grundgesetzes Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ (Art. 35 und 87 a) CSU: Mit Innovationen auf Wachstums- (Drucksachen 15/2649, 15/3338) . . . . 10536 B kurs – eine einheitliche Strategie (Drucksache 15/2971) ...... 10517 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten , Wolfgang in Verbindung mit Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Mehr Sicherheit im Luftverkehr Zusatztagesordnungspunkt 12: (Drucksachen 15/747, 15/3338) ...... 10536 B Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär Bundesbericht Forschung 2004 BMI ...... 10536 C (Drucksache 15/3300) ...... 10518 A Clemens Binninger (CDU/CSU) ...... 10537 D in Verbindung mit Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10538 C (BÜNDNIS 90/DIE Zusatztagesordnungspunkt 13: GRÜNEN) ...... 10540 D Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Clemens Binninger (CDU/CSU) ...... 10541 D Cornelia Pieper, (Hom- burg), weiterer Abgeordneter und der Frak- (FDP) ...... 10542 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 III

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 10543 B Tagesordnungspunkt 27: Frank Hofmann (Volkach) (SPD) ...... 10543 D a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. , Heinz Seiffert, Otto Petra Pau (fraktionslos) ...... 10544 D Bernhardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitli- chung der Umsatzgrenze bei der Be- Tagesordnungspunkt 25: rechnung der Steuer nach vereinnahm- Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, ten Entgelten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, (Drucksache 15/3193) ...... 10560 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der b) Zweite und dritte Beratung des von den CDU/CSU: Deutsche Personalpräsenz in Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. internationalen Organisationen im natio- , Carl-Ludwig nalen Interesse konsequent erhöhen Thiele, weiteren Abgeordneten und der (Drucksache 15/2652) ...... 10545 D Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Um- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 10546 A satzsteuergesetzes Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 10547 B (Drucksachen 15/359, 15/2617) ...... 10560 B Dr. (FDP) ...... 10548 D Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 10560 C Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 10549 C Lydia Westrich (SPD) ...... 10562 A Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) ...... 10551 B Dr. (FDP) ...... 10564 A Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10564 D Zusatztagesordnungspunkt 15: – Zweite und dritte Beratung des von der Zusatztagesordnungspunkt 16: Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- eines Gesetzes zur Einführung der rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes nachträglichen Sicherungsverwahrung zur Änderung der Abgabenordnung (Drucksachen 15/2887, 15/2945, 15/3346) 10552 C (Drucksachen 15/904, 15/3339) ...... 10565 D – Zweite und dritte Beratung des von den Dieter Grasedieck (SPD) ...... 10566 A Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, wei- (CDU/CSU) ...... 10566 D teren Abgeordneten und der Fraktion der Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN) ...... 10568 A Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederholungstaten Dr. Andreas Pinkwart (FDP) ...... 10569 A durch nachträgliche Anordnung der Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 10569 D Unterbringung in der Sicherungsver- wahrung Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . 10570 B (Drucksachen 15/2576, 15/3346)...... 10552 C – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Tagesordnungspunkt 29: desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zum Schutz der Bevölkerung vor Erste Beratung des vom Bundesrat einge- schweren Wiederholungstaten durch brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Anordnung der Unterbringung in der rung des § 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Ge- Sicherungsverwahrung setzbuchs (Drucksachen 15/3146, 15/3346)...... 10553 D (Drucksache 15/2951) ...... 10571 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Horst Rasch, Staatsminister (Sachsen) ...... 10571 B BMJ ...... 10553 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 10554 A BMJ ...... 10572 D (BÜNDNIS 90/ Henry Nitzsche (CDU/CSU) ...... 10573 C DIE GRÜNEN) ...... 10556 C Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ Jörg van Essen (FDP) ...... 10558 A DIE GRÜNEN) ...... 10574 B Joachim Stünker (SPD) ...... 10558 D Dirk Manzewski (SPD) ...... 10575 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Zusatztagesordnungspunkt 17: NEN) zur Abstimmung über den Entwurf ei- nes Gesetzes zur Neuordnung des Gentech- – Zweite und dritte Beratung des von den nikrechts (Tagesordnungspunkt 22 a) ...... 10583 C Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital Anlage 3 (Drucksachen 15/3189, 15/3336) ...... 10576 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- (Köln), und desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- Irmingard Schewe-Gerigk (alle BÜNDNIS 90/ setzes zur Besteuerung von Wagnis- DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den kapitalgesellschaften Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der (Drucksachen 15/1405, 15/3336) ...... 10576 C nachträglichen Sicherungsverwahrung (Zu- satztagesordnungspunkt 15) ...... 10584 A

Tagesordnungspunkt 30: Anlage 4 Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Arbeit zu der Un- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten terrichtung durch die Bundesregierung: Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE Selbstverpflichtungserklärung der Deut- GRÜNEN) und Hedi Wegener (SPD) zur schen Post AG zur Erbringung bestimmter Abstimmung über den Entwurf eines Postdienstleistungen Gesetzes zur Einführung der nachträglichen (Drucksachen 15/3186, 15/3337) ...... 10577 A Sicherungsverwahrung (Zusatztagesord- nungspunkt 15) ...... 10584 D

Tagesordnungspunkt 31: Zweite und dritte Beratung des von den Ab- Anlage 5 geordneten Jörg van Essen, , Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs GRÜNEN) zur Abstimmung über den Ent- eines Gesetzes zur Errichtung einer wurf eines Gesetzes zur Einführung der nach- „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ träglichen Sicherungsverwahrung (Zusatzta- (Drucksachen 15/473, 15/3345, 15/3361) . . . 10577 B gesordnungspunkt 15) ...... 10585 B Sabine Bätzing (SPD) ...... 10577 C (CDU/CSU) ...... 10579 C Anlage 6 Ina Lenke (FDP) ...... 10581 A Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Tagesordnungspunkt 26: GRÜNEN) zur Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Einführung der nach- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- träglichen Sicherungsverwahrung (Zusatzta- desregierung eingebrachten Entwurfs eines gesordnungspunkt 15) ...... 10586 C Ersten Gesetzes zur Änderung des Güter- kraftverkehrsgesetzes (Drucksachen 15/2989, 15/3257) ...... 10582 B Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten , , Bernd Nächste Sitzung ...... 10582 D Heynemann, , Uda Carmen Freia Heller, Michael Stübgen, Günter Nooke, , Robert Hochbaum, Anlage 1 Dr. , Henry Nitzsche, Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10583 A Dr. , Volkmar Uwe Vogel, Hartmut Büttner (Schönebeck), , Susanne Jaffke, , Michael Anlage 2 Kretschmer, Andrea Astrid Voßhoff, Klaus Brähmig und (alle CDU/CSU) Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten zur Abstimmung über den Entwurf eines Ge- Undine Kurth (Quedlinburg) und Winfried setzes zur Änderung der Abgabeordnung (Zu- Hermann (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- satztagesordnungspunkt 16) ...... 10587 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 V

Anlage 8 Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10569 A Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rainer Funke (FDP) ...... 10569 C § 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (Tagesordnungspunkt 29) Anlage 11 Rainer Funke (FDP) ...... 10588 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung Anlage 9 einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ (Tages- ordnungspunkt 31) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Johannes Kahrs (SPD) ...... 10597 B – Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10598 A – Entwurf eines Gesetzes zur Besteuerung von Wagniskapitalgesellschaften (Zusatztagesordnungspunkt 17) Anlage 12 Stephan Hilsberg (SPD) ...... 10589 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- Georg Fahrenschon (CDU/CSU) ...... 10589 D rung des Güterkraftverkehrsgesetzes (Tages- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ ordnungspunkt 26) DIE GRÜNEN) ...... 10591 C (SPD) ...... 10598 D Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 10592 B (CDU/CSU) ...... 10599 D (CDU/CSU) ...... 10600 D Anlage 10 Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 10601 D der Unterrichtung: Selbstverpflichtungserklä- (Bayreuth) (FDP) ...... 10602 C rung der Deutschen Post AG zur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen (Tagesord- , Parl. Staatssekretärin nungspunkt 30) BMVBW ...... 10603 A (Starnberg) (SPD) ...... 10592 D Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 10593 C Anlage 13 (CDU/CSU) ...... 10594 C Amtliche Mitteilungen ...... 10603 D

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10501

(A) (C) Redetext

115. Sitzung

Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : mittlungsausschuss) zu dem Zwölften Gesetz Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zur Änderung des Arzneimittelgesetzes Sitzung ist eröffnet. – Drucksachen 15/2109, 15/2360, 15/2849, Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord- 15/3164, 15/3384 – nung um die erste Beratung des Gesetzentwurfes des Bundesrates zur Beschleunigung von Verfahren der Jus- Berichterstattung: tiz – Drucksache 15/1491 – zu erweitern. Außerdem ist Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch vereinbart worden, die gestern bereits überwiesenen Ge- Berichterstatterin im Bundestag ist Gudrun Schaich- setzentwürfe der Koalitionsfraktionen sowie des Bun- Walch, Berichterstatter im Bundesrat Minister Rudolf desrates, jeweils zum Abbau von Statistiken – Drucksa- Köberle. Wird das Wort zur Berichterstattung ge- chen 15/3306 und 15/2416 –, nachträglich auch an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur wünscht? – Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Er- Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstan- klärungen gewünscht? – Auch das ist nicht der Fall. (B) (D) den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Vermitt- schlossen. lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge- Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 18 auf: schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundes- tag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist; Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten das gilt auch für die noch folgenden weiteren Empfeh- Entwurfs eines ... Gesetzes zur Beschleunigung lungen des Vermittlungsausschusses. Wer stimmt für die von Verfahren der Justiz (... Justizbeschleuni- Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf gungsgesetz) Drucksache 15/3384? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – – Drucksache 15/1491 – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag: (Zuruf von der CDU/CSU: Kein Kabinett, Rechtsausschuss keine Meinung!) Eine Aussprache ist für heute nicht vorgesehen. – Ich Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 20: sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen daher gleich zur Überweisung. Interfraktionell wird vorge- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/1491 an schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- den Rechtsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu ander- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Neu- weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die regelung des Rechts der Erneuerbaren Überweisung so beschlossen. Energien im Strombereich Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des – Drucksachen 15/2327, 15/2539, 15/2593, Vermittlungsausschusses. Nach einer interfraktionellen 15/2845, 15/2864, 15/3162, 15/3385 – Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Be- ratung von zwei Beschlussempfehlungen des Vermitt- Berichterstattung: lungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen Abgeordneter Michael Müller (Düsseldorf) jetzt gleich als Zusatzpunkte 19 und 20 aufgerufen wer- den. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Berichterstatter im Bundestag ist Abgeordneter Dann ist so beschlossen. Michael Müller, Berichterstatter im Bundesrat Minister- präsident Christian Wulff. Wird das Wort zur Berichter- Ich rufe also zunächst den Zusatzpunkt 19 auf: stattung gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Wird das Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Wort zu Erklärungen gewünscht? – Auch das ist nicht schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- der Fall. 10502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter (C) die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses und der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3385? – Gegenprobe! – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Distanzierung der Bundesregierung von ge- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- setzeswidrigen Zerstörungen von Freiset- men von CDU/CSU und FDP angenommen. zungsversuchen mit gentechnisch veränder- ten Pflanzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c auf: Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Fraktion der FDP gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts Freilandversuche mit gentechnisch verän- derten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlin- – Drucksache 15/3088 – burg durchführen (Erste Beratung 111. Sitzung) – Drucksachen 15/1825, 15/2352, 15/3383 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Berichterstattung: ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) wirtschaft (10. Ausschuss) Helmut Heiderich Ulrike Höfken – Drucksache 15/3344 – Dr. Christel Happach-Kasan Berichterstattung: Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neu- Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) ordnung des Gentechnikrechts liegt ein Entschließungs- Helmut Heiderich antrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Ulrike Höfken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Dr. Christel Happach-Kasan Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich b) Beratung der Beschlussempfehlung und Bericht höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernäh- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kol- rung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) legin Herta Däubler-Gmelin, SPD-Fraktion. (B) – zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut (D) Heiderich, Gerda Hasselfeldt, Peter H. Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Carstensen (Nordstrand), weiterer Abgeordne- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ter und der Fraktion der CDU/CSU beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts Grüne Gentechnik in Deutschland nutzen – der Bundesregierung in der durch den federführenden Verlässliche Rahmenbedingungen für einen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- verantwortungsvollen Einsatz in der Land- wirtschaft geänderten Fassung. Ich empfehle Ihnen die wirtschaft schaffen Annahme des von uns gefassten Beschlusses und auch – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel des Entschließungsantrages. Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Wo ist denn die zuständige Ministerin?) Fraktion der FDP Ich glaube, das ist deswegen richtig, weil es sich hier- Chancen der Grünen Gentechnik nutzen – bei um ein sehr wichtiges Gesetz handelt. Es geht ja da- Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durch- rum, festzulegen, unter welchen Bedingungen genverän- führungsgesetz grundlegend korrigieren derte Pflanzen und genverändertes Saatgut bei uns in der Landwirtschaft eingesetzt werden dürfen. Diese Frage, – Drucksachen 15/2822, 15/2979, 15/3344 – die unter dem Stichwort „Grüne Gentechnik“ in der Berichterstattung: Öffentlichkeit heiß diskutiert wird, ist für die Verbrau- Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) cher und für die Landwirte von hohem Interesse. Wie Helmut Heiderich wir wissen, sind sie zum allergrößten Teil außerordent- Ulrike Höfken lich besorgt und haben große Bedenken. Dagegen stehen Dr. Christel Happach-Kasan die Interessen von agrochemischen Unternehmen, die mit neuen Produkten, die sie für gut halten, in den Markt c) Beratung der Beschlussempfehlung und Bericht kommen wollen. des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernäh- rung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Auch in der Öffentlichkeit sind diese Fragen außeror- dentlich umstritten. Wir haben hier im Deutschen Bun- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel destag schon mehrfach Grundsatzauseinandersetzungen Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, unter verschiedenen Aspekten geführt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10503

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) In diesem Gesetzentwurf geht es aber nicht nur um kert. Dazu gehört zunächst einmal die gute fachliche (C) die Grundsatzauseinandersetzungen. Es gibt auch eine Praxis. Was heißt das? Das heißt: Wenn genveränderte Menge von Fragen, die im Detail sorgfältig bedacht und Pflanzen verwandt werden, dann müssen die ihnen inne- geregelt werden mussten. Das tun wir mit dem vorlie- wohnenden Risiken berücksichtigt werden. Man darf nur genden Gesetzentwurf in guter Weise. unter dieser Bedingung anbauen, um diejenigen, die keine genveränderten Pflanzen anbauen oder ökologisch So wie die Europäische Union vorgegeben hat, soll es wirtschaften wollen, nicht zu beeinträchtigen. Es muss die Möglichkeit geben, genveränderte Pflanzen und gen- also eine ganze Reihe von klaren Informationspflichten verändertes Saatgut in der Landwirtschaft einzusetzen. geben, und zwar nicht nur Pflichten für die anbauenden Unser Gesetz stellt dafür allerdings strenge Regeln auf. Landwirte, sondern auch für ihre Erzeuger und Lieferan- Diese strengen Regeln sind nötig, weil damit garantiert ten. und sichergestellt werden kann, dass Landwirte auch weiterhin ganz normal ohne genveränderte Pflanzen Diese Informationspflichten sind notwendig für die wirtschaften können und dass der ökologische Landbau Abwägung der Risiken für Mensch, Tier und Umwelt auch weiterhin – wie bisher – möglich ist. Vor allen Din- und für die Haftung bei Schäden. Es geht zudem auch gen sind sie auch nötig, damit die Verbraucherinnen und um Risiken, die sich aus der Auskreuzung ergeben kön- Verbraucher, die in ihrer überwältigenden Mehrheit gen- nen, wobei die Auskreuzungsrisiken zum Beispiel bei veränderte Lebensmittel ablehnen, die Produkte unserer Raps noch größer sind als die bei Kartoffeln. Nochmals: Landwirte auch weiterhin kaufen. Der Grund für unsere strengen Regelungen ist, dass die Landwirte, die keine genveränderten Pflanzen nutzen Gerade im Interesse der Landwirte und auch der Ver- oder ökologisch produzieren wollen, nicht ins Abseits braucherinnen und Verbraucher wollen wir nicht, dass gedrängt werden, sondern dass ihnen Sicherheit garan- gentechnisch veränderte Lebensmittel sozusagen schlei- tiert werden muss. chend, unkontrolliert und zunächst unbemerkt in unsere Ladentheken kommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Präsident Wolfgang Thierse: Wir wollen vielmehr, dass dann, wenn bei uns genverän- derte Lebensmittel erzeugt werden, nicht nur die Risiken Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sehr viel genauer bestimmt, sondern dass durch Kon- Kollegen Herzog, SPD-Fraktion? trolle auch Transparenz, Garantie, Wahrheit und Klarheit (B) möglich werden. Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): (D) Nun habe ich Ihnen die Grundsätze aufgezählt. Es ist Aber selbstverständlich. für einen Gesetzgeber natürlich nicht ganz leicht, diese Grundsätze in ihrer Breite so zu regeln, dass Garantie, Gustav Herzog (SPD): Wahrheit, Klarheit und Transparenz auch tatsächlich ge- Frau Kollegin, Sie haben von Landwirten gesprochen, sichert sind. Es ist allerdings notwendig, dass das nicht die dieser Technik skeptisch bis ablehnend gegenüber- nur versucht, sondern auch mit Erfolg erreicht wird, weil stehen. Können Sie mir sagen, ob das folgende Gesche- nur so Sicherheit und Vertrauen bei Verbraucherinnen hen in der kleinen südpfälzischen Gemeinde Böbingen und Verbrauchern, also in der Öffentlichkeit, und Klar- ein Einzelfall ist? In der Woche, in der wir die erste Le- heit für die Landwirte stabilisiert werden können. Genau sung dieses Gesetzentwurfs vorgenommen haben, hat das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. diese Gemeinde eine Aktion gestartet unter dem Titel Zum Ersten tun wir dies durch klare Aussagen „Gentechnikfreies Böbingen“. An der Spitze dieser Be- wegung war der örtliche Vorsitzende der Bauern- und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Winzerschaft, Herr Gerhard Staub, im Einsatz und der DIE GRÜNEN) Gemeinderat und der Ortsbürgermeister haben sich die- ser Aktion in Gänze angeschlossen. über das Standortregister, das wir in zwei unterschiedli- che Stufen eingeteilt haben, nämlich einmal in einen öf- (Zurufe von der CDU/CSU) fentlich einsehbaren Teil, aus dem sich ergibt, wo gen- veränderte Pflanzen auf landwirtschaftlichen Flächen – Bevor sich die Kolleginnen und Kollegen der Opposi- ausgebracht werden, und einmal in einen eher geschütz- tion noch mehr ereifern, will ich hinzufügen, dass die ten Teil, aus dem lediglich Personen mit einem berech- Damen und Herren, die sich an dieser Aktion beteiligt tigten Interesse, also Nachbarn solcher Landwirte, die haben, nach meiner Kenntnis keine Funktionäre der SPD sich für genveränderte Pflanzen entscheiden, oder auch oder der Grünen sind. Vielmehr ist jener Herr Staub bei Imker, auf deren Interesse ebenfalls ganz besonders ein- der Wahl am 13. Juni mit dem besten Stimmenergebnis zugehen ist, Näheres erfahren können, damit die notwen- in den Gemeinderat Böbingen gewählt worden. digen Informationspflichten erfüllt und die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wir haben darüber hinaus klare Regelungen für die Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Derjenige, der Haftung der Landwirte in diesem Gesetzentwurf veran- Schröder geohrfeigt hat, auch!) 10504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): aus der Landwirtschaft hingewiesen. Dem sind wir ent- (C) Vielen Dank, Kollege Herzog. Schauen Sie: Die Op- gegengekommen. position hat es natürlich leicht. Sie kann gegen alles sein Wir sind auch der Meinung, dass zusätzlich einiges und gegen jedes Gesetzesvorhaben demonstrieren. Das auf europäischer Ebene geklärt werden muss. Deswegen ist sozusagen das natürliche Recht der Opposition. haben wir einen Entschließungsantrag eingebracht, mit Unsere Aufgabe als Mehrheitsfraktion in diesem dem wir die Bundesregierung in zwei wichtigen Berei- Haus ist es, die unterschiedlichen Interessen zu berück- chen zu Aktivitäten auffordern. Zum einen sind wir der sichtigen und gegeneinander abzuwägen. Wir müssen Meinung, es wäre sehr vernünftig, wenn wir europaweit geltende Haftungsregelungen hätten, und zwar einerseits insbesondere auch Sprecher für die Landwirte sein, die deswegen, weil sie die Klarheit und die Planungssicher- dieser Technik skeptisch gegenüberstehen. Wie Sie wis- heit für alle Beteiligten erhöhen, und andererseits, weil sen, tun wir das, und zwar nicht nur durch die klaren Re- damit wettbewerbsrechtliche Verzerrungen vermieden gelungen, die ich gerade erläutert habe, sondern auch oder auch Unterschiede im Umweltbereich stärker be- durch die Möglichkeit, freiwillig gentechnikfreie Zo- rücksichtigt werden können. Deswegen drängen wir so nen zu schaffen. Sie haben ein Beispiel genannt. Aus der darauf, dass derartige Regeln europaweit vereinbart wer- Uckermark sind mir Beispiele bekannt. In Baden- den. Württemberg gibt es eine erhebliche Zahl solcher Aktio- nen. Das gilt ebenso für Bayern und andere Länder. Zum Zweiten hat das auch mit dem Haftungsrisiko der Landwirte zu tun. Natürlich haften die Landwirte für In unsere Regelungen nehmen wir natürlich auch die das, was sie selber verantworten müssen und können, Anregungen aus der Praxis und die der Bauernverbände nämlich für die Verletzung der guten fachlichen Praxis. – seien es die des Deutschen Bauernverbandes, des Bau- Darüber hinaus gibt es aber das so genannte Koexistenz- ernbundes, des Imkerbundes oder der ökologisch wirt- risiko. Das ist ein technischer Ausdruck, der sich auf das schaftenden Landwirte – auf. Das sehen Sie an unserem Risiko der Auskreuzung einer Pflanze bezieht, was zur Gesetzentwurf. Wir haben sie zu einer Anhörung einge- Folge hat, dass konventionell oder biologisch wirtschaf- laden. Die Ergebnisse der Anhörung finden sich in den tende Landwirte – das ist die überwiegende Mehrheit – Formulierungen unseres Ausschussänderungsantrages ihre Produkte nicht mehr loswerden und deshalb einen wieder. wirtschaftlichen Schaden haben. In einem solchen Fall sollten eigentlich die Erzeuger haften. Dafür gibt es bis- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten her auf europäischer Ebene noch keine Regelung. Eine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) solche einzuführen wäre sehr gut. Bis dahin allerdings Lassen Sie mich noch zu weiteren Inhalten unseres – das empfiehlt der Ausschuss allen Landwirten, die sich für den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft (B) Gesetzentwurfes kommen. Der Gesetzentwurf enthält (D) entscheiden – sollten diese Landwirte von ihren Liefe- natürlich Kontrollpflichten und Kontrollrechte der öf- ranten eine Freistellung für diese Risiken verlangen. fentlichen Hand. Es gehört zu den legitimen staatlichen Dieses Petitum kommt auch von den Bauernverbänden. Aufgaben, dafür zu sorgen, dass Gesetze eingehalten Wir haben es aufgenommen und sind der Meinung, dass werden. Mich schmerzt es trotz meines Respekts für das man das nicht laut genug fordern kann. natürliche Bedürfnis der Opposition, alles abzulehnen, immer wieder, wenn die Kontrollaufgaben oder -pflich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten als Bürokratie verteufelt werden. Wenn man nicht DIE GRÜNEN) kontrollieren kann, dann hat das Aufstellen von Regeln Ein weiterer Punkt aus dem Entschließungsantrag, der relativ wenig Sinn. uns ebenfalls wichtig ist, besagt, dass Lücken im Kenn- Im Bundesrat haben gerade die Kolleginnen und Kol- zeichnungsrecht durch einheitliche Regelungen auf EU- legen aus den CDU- bzw. CSU-geführten Ländern da- Ebene geschlossen werden müssen. Wir wissen, dass tie- rauf hingewiesen, dass sie erhebliche Bedenken gegen rische Produkte heute auch dann von der Kennzeichnung die Einführung von Landesstandortregistern hätten. ausgenommen werden, wenn die Tiere mit gentechnisch Wir sind diesen Bedenken entgegengekommen und ha- veränderten Futtermitteln, Pflanzen oder was auch im- ben uns dafür ausgesprochen, die Länderstandortregister mer gefüttert werden. Das halten wir für falsch und für nicht obligatorisch zu machen. Deshalb haben wir das ein Element der Verunsicherung. Bundesregister vorgeschlagen, das ich Ihnen gerade vor- Lassen Sie mich zusammenfassen: Wer für eine neue gestellt habe. Das hatte zur Folge, dass der Gesetzent- Technologie, die bestimmte Wirtschaftsunternehmen auf wurf in Verbindung mit einigen anderen Regelungen zu- den Landwirtschaftsmarkt bringen wollen, weil sie sich stimmungsfrei wurde. Das begrüßen wir ausdrücklich, etwas davon versprechen, Vertrauen schaffen will, der und zwar deswegen, weil damit verhindert wird, dass muss sowohl für die Haftung als auch für die Transpa- von einer bestimmten Seite in diesem Haus das Geset- renz, die Wahrheit und die Klarheit – das betrifft die zesvorhaben unendlich in die Länge gezogen werden Kennzeichnungsrichtlinien – klare Konsequenzen zie- kann. Die Landwirte, deren Interessen wir vertreten, sind hen. Wir tun hier, was wir in Ausformung des europäi- darauf angewiesen, dass sie jetzt Sicherheit haben. schen Rechts tun können. Der nächste Schritt muss jetzt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im europäischen Recht erfolgen. DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. Die Landwirte brauchen Planungssicherheit bis zum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ende dieses Sommers. Darauf haben uns alle Praktiker DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10505

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Sie haben in dieser Woche den Boden jeder seriösen (C) Ich erteile das Wort Kollegen Helmut Heiderich, parlamentarischen Behandlung dieses Themas – ich for- CDU/CSU-Fraktion. muliere das bewusst vorsichtig – verlassen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP)

Helmut Heiderich (CDU/CSU): Dass Sie nach zwei Jahren Vorlaufzeit die Runde der hoch angesehenen Wissenschaftler und Experten erst Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zwei Tage vor der entscheidenden Abstimmung eingela- Neuregelung des Gentechnikrechtes und die heutige De- den haben, zeigt am deutlichsten, was Sie von den Rat- batte hätten eigentlich bereits im Oktober 2002 hier schlägen der Wissenschaftler und Experten halten. Bis stattfinden müssen. Zwei Jahre lang haben Sie, die Koa- heute liegt nicht einmal ein Protokoll darüber vor, wel- lition, die Fortentwicklung der Gentechnik verzögert, che Verbesserungsvorschläge in der Runde am Montag blockiert, Forschung verhindert und Verfahren ver- vorgetragen wurden. schleppt. Zwei Jahre lang haben Sie sich im Bundeskabi- nett gestritten und waren unfähig, eine Lösung vorzule- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist gen. Zwei Jahre lang hat das eine Ministerium die immer so! Das ist nicht nur da so!) Forschung im Freiland finanziell unterstützt, während Dann haben Sie uns Dienstagabend lange nach Büro- das andere Ministerium die Forschung veräppelt hat, wie schluss ein einseitiges Fax mit Entschließungsanträgen es die „Zeit“ im Dezember zutreffend formuliert hat. Ihrer Fraktion zugesandt. Es enthielt keinen Vermerk Zwei Jahre lang haben Sie in Brüssel kleinlaut beige- und keinen Hinweis darauf, dass Sie anschließend in der geben, wenn Entscheidungen zur Gentechnik angestan- Nacht klammheimlich auch noch einen 40-seitigen Än- den haben. Zwei Jahre lang haben Sie im eigenen Land derungsantrag per E-Mail an die längst abgeschalteten nicht das Geringste getan, um hinsichtlich unserer kli- Computer nachsenden würden. matischen, strukturellen und landwirtschaftlichen Bedin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gungen zu belastbaren praktischen Erfahrungen vor Ort zu kommen und damit die notwendigen Grundlagen In einer solchen Art und Weise kann man mit einem so für die Ausformulierung dieses Gesetzes zu schaffen. So wichtigen Thema, über das schon seit Monaten disku- aber sind wir auf Vermutungen oder allenfalls Daten aus tiert wird, nicht umgehen. zweiter Hand angewiesen. Nicht einmal in der entscheidenden Ausschusssitzung Zwei Jahre lang haben Sie nichts vorangebracht. Des- am Mittwochmorgen lag Ihr Antragspaket in schriftli- (B) (D) wegen fordere ich Sie auf: Hören Sie endlich auf, öffent- cher Form zur Beratung vor. Auf unseren Antrag hin lich – wie auch eben wieder – nach Sündenböcken zu su- musste es erst hereingeschleppt werden, weil auf den Ti- chen! schen nichts auslag, Frau Vorsitzende. (Widerspruch der Abg. Dr. Herta Däubler- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gmelin [SPD]) Sie haben den Stillstand gewollt, den Sie demzufolge – Das ist nicht falsch; es ist vielmehr die Wahrheit. Das auch verantworten müssen. können alle Kollegen bestätigen. (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Inzwischen hat Sie offensichtlich die Panik ergriffen, dass Sie von der europäischen Entwicklung überrollt werden könnten und dass die Bürger merken könnten, Präsident Wolfgang Thierse: dass Sie zu wenig Vorsorge getroffen und zu spät und Kollege Heiderich, gestatten Sie eine Zwischenfrage unzureichend gehandelt haben. Nun bestimmt plötzlich der Kollegin Däubler-Gmelin? politische Willkür das Handeln. Alle Verfahrensbeteilig- ten werden vor den Kopf gestoßen, wie es extremer nicht Helmut Heiderich (CDU/CSU): vorstellbar ist. Nein, ich gestatte im Moment keine Zwischenfrage. – Nachträglich hat sich herausgestellt, dass Sie auch noch Die Frau Ministerin hat erst gestern Morgen wieder eine wesentliche Änderung des Bundesnaturschutz- erklärt, sie wolle alle Beteiligten an einen Tisch holen gesetzes mit aufgenommen haben, wovon weder in der und im Verbund mit allen Gruppen zu vernünftigen Er- Anhörung noch in der vorigen Fassung des Gesetzent- gebnissen kommen. Sie reden doch sonst immer davon, wurfs die Rede war. Eigentlich hätten wir eine neue An- alle Beteiligten zusammenzubringen; aber bei der grü- hörung beantragen können; diesem Antrag hätten Sie nen Gentechnik denken Sie gar nicht daran. Sie säen nur stattgeben müssen. Zwietracht und verhindern jede eingehende Beratung. Sie stiften in der Bevölkerung und der Landwirtschaft Wer so handelt und das Parlament in einer solchen Art Verwirrung, indem Sie die Zusammenhänge völlig und Weise düpiert, der will keine Diskussion zur Sache; falsch erklären. Denn Gentechnik spielt inzwischen in er will vielmehr etwas durchboxen, ohne dass ihm an- fast jedem Stall, fast jeder Apotheke und fast jedem Le- dere in die Karten schauen können. Das ist Ihr wirkli- bensmittel eine Rolle. ches Ziel. 10506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Helmut Heiderich (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Dabei besteht gar kein Anlass zu einer solch plötzli- Durch das, was Sie jetzt hastig vorgelegt haben, wird chen Blitzaktion. Frau Künast selber hat doch das gegen- die gesamte Verantwortung für diese Technologie letzt- wärtig für den wissenschaftlich begleiteten Erpro- endlich bei den Bauern abgeladen. Diese, die sowieso bungsanbau der Bundesländer genutzte Saatgut zu schon das schwächste Glied in der Kette sind, sollen nun diesem Zweck zugelassen. Sie wird doch hoffentlich ge- für die Versäumnisse von Rot-Grün geradezu an das wusst haben, was sie da getan hat. Hoftor genagelt werden, um einmal diesen Ausdruck zu verwenden. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das wäre das erste Mal gewesen!) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Sie weiß hoffentlich ebenfalls, dass dieser Anbau sicher und unbedenklich ist. Sonst hätte ihr Haus die Zulassung Wieder einmal müssen die Bauern für Rot-Grün herhal- nicht erteilen dürfen. Aber Ihr jetziger Affront gegen die ten. Diese fatale Konsequenz scheint Ihnen selbst zu betroffenen Länder, die im Grunde die Aufgabe über- dämmern. Wie sonst sollte man die in Ihrem Entschlie- nommen haben, die Sie seit zwei Jahren hätten erledigen ßungsantrag formulierte untaugliche Aufforderung an müssen, ist kein Ausdruck verantwortlichen Handelns die Landwirte verstehen – ich zitiere –, „sich durch ihre Ihrerseits. Lieferanten haftungsmäßig freistellen zu lassen“? Mit Koexistenz hat diese Aufforderung gar nichts mehr zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tun. Sie alle, auch Frau Künast, wissen außerdem, dass in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – diesem Jahr für den allgemeinen landwirtschaftlichen Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anbau in Deutschland überhaupt keine gentechnisch NEN]: Das ist die Forderung des Bauernver- veränderte Sorte zugelassen ist, dass also überhaupt kein bandes!) Anbau bei den Landwirten stattfinden kann. Selbst wenn Sie säen mit Ihrer Hauruckaktion Zwietracht in demnächst die Europäische Union eine gentechnisch Deutschland. Sie isolieren Deutschland in Europa. Sie veränderte Maissorte freigeben sollte, dann könnte der blockieren eine Forschung, die Deutschland zu einer Mais erst im kommenden Frühjahr ausgesät werden. Bis Spitzentechnologie hätte verhelfen können, wie das auch dahin wären aber die neuen gesetzlichen Regelungen al- von Abgeordneten aus Ihren Reihen immer öfter darge- lemal in einem geordneten Verfahren umsetzbar gewe- stellt wird. sen. Ihre Nacht-und-Nebel-Aktion wäre also nicht not- (B) wendig gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D) der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn ich darf, möchte ich zum Schluss noch Ihren Der krampfhafte Versuch, jetzt andere für das chaoti- Minister Clement zitieren. Er stellt fest: Jedes zertram- sche Durcheinander der Koalition haftbar zu machen, ist pelte Genmaisfeld ist eine zerstörte Chance. – wirklich der Gipfel der Unverfrorenheit. Schließlich, Frau Vorrednerin, waren es doch gerade SPD-regierte (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Bundesländer, von Rheinland-Pfalz bis Mecklenburg- Sie haben in dieser Woche sehr viele Chancen für die Vorpommern, die deutliche Nachbesserungen am bishe- Biotechnik in Deutschland zerstört. Der von Ihnen vor- rigen Gesetzentwurf verlangt haben. Die ständigen Be- gelegte Gesetzentwurf und die heutige Diskussion sind hauptungen von einer Blockade an unsere Adresse sind ein Negativum für Deutschland und seine Zukunft. schlicht unwahr, um nicht noch schärfere Formulierun- gen zu verwenden. Ich fordere Sie auf, endlich damit Schönen Dank. aufzuhören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Präsident Wolfgang Thierse: Hören Sie endlich auf, eine Debatte auf diesem Niveau Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- zu führen, wie Sie das in dieser Woche tun! gin Dr. Herta Däubler-Gmelin.

Herr Kollege Röspel, die Bio- und Gentechnik stellt Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): ein großes Wachstumspotenzial dar. Das erklärt Ihr Herr Präsident! Lieber Herr Kollege Heiderich, ich Bundeskanzler nahezu jeden Sonntag. Eine solche neue hätte Sie das gerne selbst gefragt. Da Sie aber keine Zwi- Technologie, die sich weltweit schon auf breiter Basis schenfrage zugelassen haben, mache ich das jetzt im durchsetzt, kann man den Bürgern aber nicht von oben Rahmen einer Kurzintervention. aufstülpen. Man kann ihr schon gar nicht durch populis- tisches Wegducken vor der Verantwortung gerecht wer- Sie haben mich ja auch in meiner Eigenschaft als den, wie Sie das jetzt in starkem Maße tun. Man kann sie Ausschussvorsitzende angesprochen. Ich habe bereits erst recht nicht mit einer starken Verunsicherung der vorher erklärt, dass ich viel Verständnis dafür habe, dass Bürger begleiten. Dem müssten Sie eigentlich entgegen- die Opposition sozusagen von ihrem natürlichen Recht, treten. Aber Sie tun im Moment das genaue Gegenteil. gegen alles zu sein, Gebrauch macht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10507

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) ( [CDU/CSU]: Unsinn! – Ich habe eben deutlich auf Folgendes hingewiesen: (C) Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Unglaub- Wenn Sie schon per Fax um 19.47 Uhr lich! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Um Dass Sie jetzt aber in neun Minuten Redezeit zur Sache 19.46 Uhr!) gar nichts gesagt haben, halte ich für bemerkenswert. Da Sie zum Verfahren, dem Sie sich lang und breit zuge- – oder um 19.46 Uhr – einen einseitigen Antrag ver- wandt haben, auch einige Unrichtigkeiten gesagt haben, schicken, dann hätte es der Anstand geboten, dass man muss ich das einfach sachlich richtig stellen: darauf schreibt: Achtung, per E-Mail kommen in einer Stunde noch 40 Seiten hinterher. Der Entschließungsantrag, der von Ihnen nicht gerügt wurde, ist gestern um 19.46 Uhr per E-Mail an jedes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Büro gegangen. Um 20.16 Uhr kamen die Änderungsan- Frau Vorsitzende, Kollegen haben mich angerufen träge. Dass Sie es als „klammheimlich“ bezeichnen, dass und haben mit mir über den Antrag gesprochen. Sie ha- die E-Mail-Übermittlung der Änderungsanträge 30 Mi- ben gesagt: Hier ist etwas gekommen. Darf ich dir das nuten später erfolgte, halte ich für geradezu komisch. einmal vorlesen? – Nachdem ich die drei Sätze gelesen Dass Sie bei 20.16 Uhr von „in tiefster Nacht“ reden, hatte, die in diesem Antrag standen, habe ich gesagt: Na, wird selbstverständlich auch die Öffentlichkeit einiger- wenn es denn sonst nichts ist, dann ist die Problematik maßen amüsieren. morgen früh nicht so bedeutsam. Sie haben in einem Punkt völlig Recht – lassen Sie Dann haben Sie das andere per E-Mail versandt, ob- mich das wiederholen; das haben wir auch im Ausschuss wohl die Computer um 20 Uhr oder um 21 Uhr natürlich zum Ausdruck gebracht –: Wir haben die Änderungsan- längst abgeschaltet waren – so habe ich das eben formu- träge erst am Dienstag fertig stellen können, weil wir liert; ich habe hier nichts von „tiefer Nacht“ gesagt; Sie – übrigens Ihr Interesse voraussetzend – die Anhörung müssen einmal genau zuhören –, vom Montag in die Formulierung der Änderungsanträge aufgenommen haben. Das gehört zu unserer Pflicht. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Doch!) (Birgit Homburger [FDP]: Das ist doch wirk- sodass darauf niemand aufmerksam werden konnte. lich lächerlich!) Am nächsten Morgen wäre es Ihre Pflicht gewesen, Ich finde es schade, dass Sie sich der Beratung entzo- diesen Antrag auf den Tisch zu legen. gen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (Widerspruch bei der CDU/CSU) (D) Dieser Pflicht sind Sie nicht nachgekommen. Die Kolle- Dass es sich um ein Hauruckverfahren handele, kann gen mussten Sie mehrfach auffordern, die Exemplare man eigentlich nicht sagen, weil wir im Plenum des erst einmal herbeizuschaffen, damit man überhaupt lesen Deutschen Bundestages schon mehrfach über das Thema konnte, was in diesem Antrag steht. – So sind die Dinge debattiert haben und weil vor allen Dingen der Bundes- abgelaufen. rat seine Einwände nach langer Diskussion bereits am – ich bitte die Öffentlichkeit und die verehrten Kollegin- Ich wiederhole: Mehrere Kollegen haben mir bestä- nen und Kollegen der Opposition, auf das Datum zu ach- tigt, dass sie die von Ihnen per E-Mail versandten An- ten – 2. April dieses Jahres in schriftlicher Form vorge- träge gar nicht bekommen haben. Schon allein das wäre legt hat. ein Grund, die Verhandlung abzusetzen. Wir haben auch darauf verzichtet, eine Anhörung zur Änderung des Bun- Vielen Dank. desnaturschutzgesetzes durchzuführen, obwohl Sie dies (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zusätzlich eingebracht hatten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben in dieser Woche das parlamentarische Ver- fahren mit Füßen getreten. Nun versuchen Sie hier nicht, Präsident Wolfgang Thierse: das auch noch scheinheilig zu rechtfertigen. Kollege Heiderich, Sie haben das Wort zu einer Erwi- Schönen Dank. derung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Helmut Heiderich (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Frau Vor- Präsident Wolfgang Thierse: sitzende, ich kann verstehen, dass Sie jetzt versuchen Da der Kollege Wolfgang Zöller uns die Ehre er- wollen, das wirklich unseriöse und an den üblichen de- weist, seinen Geburtstag hier mit uns zu verbringen, mokratischen Verfahren völlig vorbeigegangene Verhal- möchte ich ihm herzlich gratulieren. ten in dieser Woche in irgendeiner Form zu rechtferti- gen. (Beifall) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völlig Nun erteile ich Kollegin Ulrike Höfken von der Frak- unsinnig!) tion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. 10508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Wieso lässt (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Künast dann zu?) Kollegen! Die Kollegen von der CDU/CSU sind echt Sie wissen ganz genau: Es gibt zehn weltweit anerkannte süß. CDU und CSU sind doch die Parteien, die für die Studien. Fünf davon sagen, es gebe nachteilige Ergeb- Verlängerung der Ladenöffnungszeiten und für die Aus- nisse. dehnung der Wochenarbeitszeit eintreten. Dennoch schaffen sie es noch nicht einmal, ihren eigenen Laden (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Wieso lässt während der Geschäftszeiten des Bundestages offen zu Künast dann zu? – [CDU/ halten. Also, ich bitte Sie! CSU]: Dann hätte Künast das verbieten müs- sen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ Fünf Studien, privatwirtschaftliche übrigens, sagen, es CSU]: Wie reden Sie von diesem Parlament!) gebe keine. Eine so dünne Datenbasis kann auf keinen Fall dazu führen, das Vorsorgeprinzip, Man kann ja bei guten Wahlergebnissen übermütig wer- den. Wir werden das nicht. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sagen Sie das Ihrer Ministerin! – Max Straubinger [CDU/ (Lachen bei der CDU/CSU) CSU]: Warum hat die Ministerin nicht dage- gengehalten? Warum lässt sie das zu? Das ist – Oh nein! – Die Frage ist aber, ob Sie sich einen Gefal- doch unredlich!) len tun, wenn Sie sich hinter einem Scharfmacher wie Herrn Heiderich versammeln, der eine reine Lobbyis- das auch die EU vorschreibt – vertun Sie sich da nicht: muspolitik betreibt. Auch die EU-Richtlinie schreibt das vor –, außer Acht zu lassen. Deswegen müssen wir genau dieses Gentech- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Was? – nikgesetz jetzt vorlegen. Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Hören Sie auf mit Ihren Unterstellungen!) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Der Genmais kommt nur mit der Künast zum Einsatz!) Wenn ich mit den Kollegen von der CDU zusammen- sitze, wie das heute Abend in der Eifel auf dem Ziegen- Herr Heiderich, ich finde Ihre Anmerkungen – um das hof von Regino Esch der Fall sein wird – das gilt aber einmal vorsichtig auszudrücken – reichlich realitätsver- auch für Trier oder Rheinland-Pfalz überhaupt –, dann drehend; denn erst im April lag die Kennzeichnungs- nehmen sie ganz andere Positionen ein – der Kollege und Herkunftsverordnung der EU-Kommission vor. Die Herzog hat das dargestellt –; sie sagen nämlich: Sorgen Kennzeichnungsregeln waren erst zu diesem Zeitpunkt (B) Sie bloß dafür, dass es ein strenges Gentechnikgesetz abgestimmt. Unser Gesetz vorher zu machen wäre reich- (D) gibt! lich absurd gewesen. Erst zu dem Zeitpunkt gab es die Grundlage dafür. Das Durchführungsgesetz haben Sie Es kann doch nicht wahr sein, dass Sie sich gegen die im Bundesrat aufgehalten. Man muss sich das einmal wirtschaftlichen Interessen der übergroßen Mehrheit der vorstellen: Sie haben die Verbraucher daran gehindert, Betriebe, die Interessen der übergroßen Mehrheit der über die Kennzeichnung ihre Informationsrechte wahr- Verbraucher und sogar die der großen Handelskonzerne nehmen zu können. stellen! Gestern haben Sie ein großes Theater gemacht, als ich da etwas kritisiert habe. Heute handeln Sie gegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Handelsinteressen. Das muss man sich doch ein- und bei der SPD) mal auf der Zunge zergehen lassen. Das war eine reine Verzögerungstaktik, die Sie jetzt uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorwerfen. Das ist ja wohl das Allerdickste! und bei der SPD) Zum Erprobungsversuch. Da passiert das Gleiche. Sie haben noch einmal die zerstörten Chancen er- Selbstverständlich wissen wir alle: Es gibt nach alten wähnt. Wir als Grüne sehen keinen Nutzen im Einsatz EU-Regeln zugelassene Produkte, mit denen wir uns der Gentechnik im landwirtschaftlichen Bereich. heute auseinander setzen müssen. Es sind alte Zulassun- gen, die natürlich rechtlich entsprechend bewertet wer- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie haben den müssen. noch nie bei einem Technikeinsatz einen Nut- zen gesehen!) (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Frau Künast hat sie zum Erprobungsanbau zugelassen!) Wir sehen die zahlreichen ungeklärten Risiken für die Aber es ist doch ganz klar: Sie halten das Gentechnikge- Verbraucher. Wir sehen in der Gentechnikfreiheit einen setz im Bundesrat auf, um diese Rechtslücke für einen großen Marktvorteil für die deutsche Landwirtschaft, geheim gehaltenen Erprobungsanbau zu nutzen. Das ist, übrigens gerade für Regionen wie die Eifel und die Mit- finde ich, ein dickes Ding. telgebirgslagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hier muss man auch noch einmal etwas klarstellen. und bei der SPD) Vor allem pauschale Aussagen wie die, es hätten sich keine gesundheitlichen Risiken ergeben, stehen auf Es ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung, hier sehr wackeligen Füßen. Rechtssicherheit zu schaffen, und das tun wir auch. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10509

Ulrike Höfken (A) Um auch das noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir Der im Ausschuss beschlossene Gesetzentwurf ist ein (C) setzen hier die Regeln der EU um. Manche fragen: Wa- Dokument des Scheiterns, nichts anderes. rum verbietet ihr das Ganze nicht, wenn man sich nicht sicher sein kann, ob das nicht doch Schäden verursacht? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir nutzen in Deutschland aber in einer einmaligen Art der CDU/CSU) und Weise die nationalen Möglichkeiten aus – das ist Auf dieses Ergebnis kann hier wirklich niemand stolz ein in Europa einmaliges Gesetz, auf das viele andere sein. europäische Länder schauen –, um die gentechnikfreie Produktion zu schützen, die Verantwortung der Produ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zenten festzuschreiben, entsprechend dem Spielraum die Mit dieser Einschätzung stehe ich übrigens nicht allein. gute fachliche Praxis in ihren Rahmenbedingungen zu Ich war schon überrascht, dass mich ein Vertreter von klären, festzulegen, dass die ökologisch sensiblen Ge- Greenpeace, der das genauso sieht, angesprochen hat. biete geschützt werden, und über ein transparentes Standortregister – meine Kollegin hat alles das schon (Lachen des Abg. Dr. Reinhard Loske dargestellt – sicherzustellen, dass es die Möglichkeit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von gibt, Haftungsansprüche geltend zu machen. der SPD) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Dabei muss man sehen, dass dieses kein Einzelfall ist. CSU]: Was ist gute fachliche Praxis, wenn es Erinnern wir uns an die Diskussionen um die Rote Gen- keine Praxis gibt?) technik: Das Verfahren zur Herstellung von Insulin Die gute fachliche Praxis – das zum Schluss – wird durch gentechnisch veränderte Bakterien ist in Deutsch- natürlich von den Bundesländern noch ausgestaltet wer- land entwickelt worden. Das Verfahren zur Genehmi- den. gung der Produktionsstätte hat 13,5 Jahre gedauert. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (René Röspel [SPD]: Wer war denn zu der Zeit CSU]: Wenn es keine Praxis gibt?) an der Regierung?) Ich denke, diese sollten wir gemeinsam festlegen. Ich – Zu dieser Zeit gab es in Hessen eine rot-grüne Regie- hoffe, dass der Bundesrat und die Länder hier ihre Ver- rung. Diese ist abgewählt worden und durch eine antwortung wahrnehmen schwarz-gelbe Regierung ersetzt worden. So wird es auch Ihnen ergehen. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Gerne, aber nicht in dieser Art! Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – muss erst einmal ehrlich diskutiert werden!) René Röspel [SPD]: Das hat doch die Regie- (B) (D) und auch entsprechende Verordnungen erlassen. Ich rung Kohl verhindert!) finde es fahrlässig, wenn die Länder stattdessen durch Das Ergebnis der Diskussionen um die Rote Gentech- die Missachtung und Streichung sämtlicher Schutzmaß- nik ist bekannt: Sie hat sich durchgesetzt, sie ist akzep- nahmen, die in unserem Gesetz vorgesehen waren, tiert, sie ist auf dem Markt. Sie wissen aber auch, dass (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie haben die Wertschöpfung außerhalb des Landes stattfindet und doch Gesetzesvorgaben gestrichen!) auch die Arbeitsplätze außerhalb des Landes geschaffen wurden. Genau diese Entwicklung wird es auch bei der ein Chaos produzieren. So etwas könnte man wirklich Grünen Gentechnik geben. Auch sie wird sich durchset- nicht mittragen. Lassen Sie uns hierbei lieber gemein- zen. Jeder beteiligte Akteur weiß dieses auch; wer das sam vorgehen. nicht zugibt, belügt die Leute. Wir alle wissen das. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir alle wissen auch, dass Fermentationsprodukte von und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ CSU]: „Gemeinsam“!) gentechnisch veränderten Organismen längst in aller Munde sind. Präsident Wolfgang Thierse: (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Ich erteile das Wort Kollegin Christel Happach- CSU]: Im wahrsten Sinne des Wortes!) Kasan, FDP-Fraktion. Die Regierung hat es mir in ihrer Antwort auf meine An- frage vor einiger Zeit bestätigt. Ich bedanke mich bei Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herrn Thalheim für die korrekte Beantwortung. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot- Wir wissen auch, warum die Diskussion gescheitert Grün, warum ihr so fröhlich seid. Wenn wir einmal ganz ist. Sie wurde nämlich allein risikoorientiert geführt. Es kritisch in uns gehen und den Diskussionsprozess be- sind sehr hypothetische und nur theoretisch vorhandene trachten, dann kommen wir automatisch zu der Feststel- Risiken angeführt worden. lung, dass wir vor dem Scherbenhaufen des Diskurs- Ich will noch eines hinzufügen: Die Trennungslinie bei prozesses über die Chancen und Risiken der Grünen der Einschätzung von Grüner Gentechnik verläuft nicht Gentechnik in Deutschland stehen. zwischen Gegnern und Befürwortern. Die Trennungslinie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) verläuft zwischen Menschen, die Verantwortung für das 10510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Gemeinwesen empfinden, und solchen, die sich allein von Risikotechnologien. Damit schaden Sie der Demo- (C) auf ihre punktuelle Gesinnung verlassen. kratie; denn Demokratie setzt auf mündige, eigenverant- wortlich handelnde Bürger, während Sie über das Schü- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Populismus!) ren von Ängsten die Bürgerinnen und Bürger Wir haben einen Streit zwischen Verantwortungsethik bevormunden wollen. Sie sind eine zutiefst unliberale und Gesinnungsethik. Partei. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist ja unglaublich!) Auf der Seite derjenigen, die diese Frage gesinnungs- ethisch beurteilen, steht Greenpeace. Auf der Seite derje- Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf ab. Er kann die nigen, die diese Frage verantwortungsethisch beurteilen, Koexistenz nicht organisieren, weil er den Anbau gen- steht zum Beispiel die DFG, aber auch viele andere. technisch veränderter Pflanzen durch die verschuldens- unabhängige Haftung de facto unmöglich macht. Die (Widerspruch des Abg. Michael Müller Bundesregierung hat versäumt, eine Lösung für die Ver- [Düsseldorf] [SPD]) sicherung von Haftungsansprüchen auf den Weg zu brin- Vor diesem Hintergrund war es zwangsläufig, dass die gen. Das wäre das Beste gewesen. Diskussion scheiterte. Sie musste scheitern, weil sich verantwortliche Politiker auf die Seite der Gesinnungs- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Wider- ethiker gestellt haben und ihrer Verantwortung als Re- spruch bei der SPD) gierungsmitglieder nicht gerecht geworden sind. Der Gesetzentwurf bedient ausschließlich die Machtinte- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- ressen von Gentechnikgegnern. Auch dies lehnt die FDP ruf des Abg. Michael Müller [Düsseldorf] ab. Der Schwellenwert von 0,9 Prozent bleibt, anders als [SPD]) die „FAZ“ berichtet hat, bestehen, auch wenn die jetzt gewählte Formulierung einen anderen Anschein zu er- – Die FDP hat sich sehr klar zur Gentechnik geäußert. wecken sucht. Das ist unredlich. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Die Regierung hat versäumt, Vertrauen in staatliches Der Grund dafür, dass der Werbefeldzug von Green- Handeln zu schaffen. Dieses Vertrauen ist die Vorausset- peace Erfolg hatte, ist die Verunsicherung der Men- zung dafür, dass der legitime Wunsch der Öffentlichkeit schen. Wie man die Menschen in Deutschland verunsi- nach Transparenz beim Anbau gentechnisch veränderter chert, haben wir beispielsweise bei der Debatte um BSE Pflanzen erfüllt werden kann, ohne dass dies zur Zerstö- (B) erlebt. Greenpeace hat jedoch keinen Erfolg bei Men- rung von Feldern missbraucht wird. (D) schen, die gut ausgebildet sind, die selbstbewusst sind und die bereit sind, sich selbstständig ein Urteil zu bil- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den. Diese können nicht so leicht beeinflusst werden. der CDU/CSU – [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das wie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der!) der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Das ist unverschämt!) Ihre klammheimliche Freude an Feldzerstörung ist nicht zu übersehen. Es ist eine Schande, dass Sie beim Erpro- Das bedeutet, dass die Regierung, wenn sie in einem bungsanbau immer wieder von Geheimhaltung spre- Diskussionsprozess Konsens erzielen will, dafür sorgen chen. Das ist schlicht nicht wahr. muss, dass es sich um selbstbewusste Diskussionspart- ner handelt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das tut ja weh!) Sowohl das Konzept des Versuches als auch alles andere ist öffentlich und kann von all denen, die ein berechtig- Sie dürfen nicht verunsichert werden. Es muss eine of- tes Interesse haben, eingesehen werden. Wenn Ministe- fene und ehrliche Diskussion geführt werden. Dadurch rin Künast darauf hingewirkt hätte – kann vermieden werden, dass Verunsicherung entsteht. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wie (Zuruf der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) lang sind Ihre fünf Minuten eigentlich?) – Frau Hiller-Ohm, auch Sie haben sich daran beteiligt, – Ich wäre Ihnen dankbar, wenn auch ich zu Ende reden die Menschen zu verunsichern. dürfte. Wir wissen alle: Wer Angst hat, ist nicht frei, selbst zu entscheiden. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kollegin Happach-Kasan, Sie müssen aber zum Ende kommen, denn Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich Das Schüren von Ängsten nimmt den Menschen die überschritten. Möglichkeit, eigenverantwortlich zu handeln. Genau deswegen, Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Jedes führen Sie mit so viel Lust Risikodebatten und sprechen Mal! Immer!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10511

(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Dies habe ich versucht irgendwo in den verfügbaren (C) Ich komme zum Schluss. Publikationen belegt zu finden und bin nicht fündig ge- worden. Selbstverständlich – das ist geradezu hineinde- Der Gesetzentwurf entwertet Investitionen von For- finiert – nimmt der Pestizideinsatz erst einmal ab, wenn schungseinrichtungen und Betrieben in die Erforschung man das Pestizid, zum Beispiel Bt-Toxin, in die Pflanzen der Grünen Gentechnik, weil er verhindert, dass die Er- hineinmanipuliert. Aber schon nach wenigen Wachs- gebnisse bei uns wirtschaftlich genutzt werden. Das ist tumsperioden sind wir wieder bei dem alten Pestizidein- eine Vernichtung von Geld. Für unser Land mit hoher satz angelangt. Arbeitslosigkeit, ein Land, das weit reichende Reformen vor sich hat, ist dieser Gesetzentwurf eine Katastrophe. (René Röspel [SPD]: So ist es!) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Das heißt, dieses Vorgehen hat überhaupt nicht geholfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dann kommt hinzu, dass sich der mit Abstand größte Teil der Grünen Gentechnik überhaupt nicht mit Bt-To- xin, sondern im Wesentlichen mit der Toleranz gegen- Präsident Wolfgang Thierse: über Unkrautvernichtungsmitteln beschäftigt, insbeson- Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Ulrich von dere das von Monsanto entwickelte Round-up. Da sieht Weizsäcker, SPD-Fraktion. man sofort, schon in der ersten Wachstumsperiode, eine (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Der hat Vermehrung des Herbizideinsatzes. Max Weber gelesen!) (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das ist falsch!) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): In Argentinien hat dies mittlerweile zu absolut desaströ- Vielen Dank, Herr Präsident! Meine verehrten Damen sen Auswirkungen geführt. Dort sind Tausende von und Herren! Der Kritik der Opposition an der außeror- Quadratkilometern, die tonnenweise mit Glyphosat voll- dentlichen Eile muss ich mich anschließen; gekippt worden sind, biologisch tot – und dies bis hin zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Bodenorganismen, die normalerweise für die Hu- musbildung verantwortlich sind. Das heißt, es kommt zu sie war auch für uns im Umweltausschuss außerordent- wirklich schwersten ökologischen Zerstörungen – und lich belastend. Ich muss allerdings den Vorwurf zurück- dies nicht trotz, sondern wegen der Gentechnik. Das weisen, das habe mit irgendeiner Art von Geheimhal- muss man doch einmal zur Kenntnis nehmen. tung zu tun. Es war einfach der Ablauf der Ereignisse, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) vom Einspruch des Bundesrates über die Antwort der (D) Bundesregierung usw.; ich brauche das jetzt nicht weiter DIE GRÜNEN) auszuführen. Wir alle hätten über den Gesetzentwurf lie- Weil nun die ökologischen Erfahrungen mit der ber in Ruhe beraten. Round-up-Toleranz negativ und die mit dem Bt-Toxin Lassen Sie mich aber zum Inhalt kommen; das ist das bestenfalls neutral sind – von den gesundheitlichen As- Wichtigste. Ich will ihn aus zwei verschiedenen Blick- pekten, von denen Frau Höfken gesprochen hat, will ich winkeln betrachten, zum einen aus dem ökologischen einmal ganz absehen –, bringen die Gentechniker immer und zum anderen aus dem wissenschaftspolitischen. wieder Pflanzen in die Diskussion, die gegen Trocken- heit, versalzte Böden oder gegen allerlei Schädlinge Umweltbesorgnisse sind letzten Endes wohl der wich- – sie kommen zum Beispiel mit dem Goldenen Reis oder tigste Grund für die sehr große Zurückhaltung, die man mit irgendetwas anderem Schönen – gentechnisch robust der Grünen Gentechnik vielerorts entgegenbringt. Frau gemacht werden. Dies ist Window Dressing. Man ver- Dr. Happach-Kasan, die Verunsicherung geht nicht von sucht, etwas an die Wand zu malen, was in der Praxis Rot-Grün aus, sondern von der Sache. entweder gar nicht vorhanden ist oder keinen Nutzen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bringt. Das ist die bisherige Erfahrung. DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Von Greenpeace!) DIE GRÜNEN) Es ist eindeutig, dass große Unsicherheit besteht – und Ob diese versprochenen Wunderpflanzen – oder zwar nicht nur im einfachen Volk, sondern auch unter manchmal auch Wunderfische – ökologisch unbedenk- den Spitzenwissenschaftlern –, was eigentlich die lang- lich sind, steht völlig in den Sternen. Das Umweltgut- fristigen Auswirkungen sind. Nun so zu tun, als gehe es achten 2004 des Sachverständigenrats für Umweltfragen um den Standort Deutschland, eine Durchbrechertechno- widmet der Grünen Gentechnik ein ganzes Kapitel. Der logie, Schwellenüberwindung usw., ist, vorsichtig ge- Rat sagt, dass bezüglich der ökologischen Risiken rie- sagt, mindestens gegen das Vorsorgeprinzip. sige Ungewissheiten bestehen. In diesem Gutachten Weil die ökologischen Besorgnisse so weit verbreitet wird der ökologische Landbau als besonders schutzwür- sind, behauptet nun umgekehrt die Befürworterseite im- dig betrachtet. Es ist völlig klar, dass die von der Euro- mer wieder, die Grüne Gentechnik sei gut für die Um- päischen Kommission in die Diskussion gebrachte und welt. in die Praxis eingeführte Formel von der Koexistenz kei- nerlei Garantie für das Überleben des ökologischen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stimmt ja!) Landbaus bietet. Man sollte sich dieses Wort einmal auf 10512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) der Zunge zergehen lassen. Schon das Wort „Koexis- Ich finde es bedauerlich, dass Sie in Ihrem Debatten- (C) tenz“ ist eine sprachliche Täuschung. Da muss man mit beitrag die Forschung von Industrieunternehmen kriti- den gedanklichen Mitteln des Vorsorgeprinzips und der siert haben. Wir wollen, dass angewandte Forschung gesetzlichen Umgebung ausdrücklich dafür sorgen, dass nicht vom Staat, sondern von Industrieunternehmen be- wenigstens die Koexistenz Wirklichkeit wird. zahlt wird. Daher dürfen wir diese Forschung nicht als interessengeleitet und deswegen als nicht gut diskreditie- Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Worte zur wis- ren. Ich glaube, dass das eine falsche Vorgehensweise senschaftspolitischen Diskussion sagen. Mich hat ein ist. Brief des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemein- schaft, adressiert an Frau Däubler-Gmelin, sehr beunru- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) higt. Er sagt dort, dass die Forschung, die sich mit der Wir wollen Grundlagenforschung in den Universitä- Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen ten und wir wollen die angewandte Forschung von In- beschäftigt, nicht mehr stattfinden könne. Dazu fällt mir dustrieunternehmen und von mittelständischen Unter- ein, was mir ein norwegischer Forscher sagte: nehmen, weil sie aus der Forschung einen Profit ziehen 95 Prozent der Forscher, die zur Grünen Gentechnik ar- können. Wir wollen, dass Unternehmen Gewinn ma- beiten, stehen de facto auf der Payroll der Industrie. Das chen. heißt, es ist gar kein Wunder, dass diejenigen, die im Wesentlichen die Kommerzialisierung im Sinn haben, Ich habe in Ihrem Beitrag die Auseinandersetzung mit Besorgnisse haben, wenn man ernsthaft über die ökolo- Aussagen des Leiters des Max-Planck-Instituts für Züch- gischen Auswirkungen forschen möchte. tungsforschung, Professor Saedler – er ist sicherlich nicht industriegeleitet –, vermisst, der auf dem Forum (Widerspruch von der CDU/CSU und der des Max-Planck-Instituts sehr deutlich gemacht hat, dass FDP) zum Beispiel 4 Millionen chinesische Baumwollanbauer – Es ist ganz richtig, dass manche dieser Fragen über- mit der Gentechnik einen enormen Erfolg für die Um- haupt erst noch erforscht werden müssen. welt erzielen. (Zuruf der Abg. Ulrike Flach [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Lassen Sie mich mit einer versöhnlichen Schlussbe- Dabei handelt es sich nicht um das Ergebnis von indus- merkung enden. Wenn man die Grüne Gentechnik dort trieller Forschung, wie Sie immer behaupten. Wie ge- einsetzt, wo sie wirklich eindeutig – also ähnlich wie die sagt, es ist ein Erfolg für die Umwelt und damit ein Er- Rote Gentechnik – Nutzen stiftet, den man mit herkömm- folg für die Menschen, weil es keine Unfälle mit Pflanzenschutzmitteln gegeben hat. Es ist außerdem ein (B) licher Züchtung nicht erreichen kann – zum Beispiel bei (D) Pflanzen, die sich als Diätgrundlage für Menschen mit Beitrag zur Weiterentwicklung des Landes, weil die An- bestimmten Stoffwechselkrankheiten eignen –, wird man bauer einen größeren Gewinn erzielt haben, als dies mit von uns Umweltschützern und auch von dem vorliegen- anderen Verfahren möglich wäre. Genau das wollen wir den Gesetz keinerlei Schwierigkeiten bekommen. Denn diesen Ländern ermöglichen. Wir wollen aber nicht, dass dabei handelt sich um Größenordnungen, die man ohne das satte Europa solche Entwicklungen in der Dritten weiteres auch in geschlossenen Gewächshäusern züchten Welt verhindert. kann. Bitte berücksichtigen Sie in der Diskussion die Aus- Vielen Dank. sagen von Jacques Diouf, der im FAO-Bericht sehr deut- lich gemacht hat, wie wichtig die Weiterentwicklung ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ner solchen Forschung für die Ernährungssituation in der DIE GRÜNEN) Dritten Welt ist. Sie ist damit im Interesse der Menschen in diesen Ländern. Ich bitte, das zu berücksichtigen. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- der CDU/CSU) gin Happach-Kasan. Präsident Wolfgang Thierse: Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Kollege von Weizsäcker, Sie haben Gelegenheit zur Professor von Weizsäcker, die Verunsicherung der Reaktion. Menschen vor zehn Jahren ging – da gebe ich Ihnen aus- drücklich Recht – von der Sache aus. Zu jener Zeit war Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): der Öffentlichkeit, den Medien, aber auch den Politikern Frau Dr. Happach-Kasan, Sie geben mir Gelegenheit, relativ wenig bekannt, dass Gene in jedem Lebensmittel festzustellen, dass ich die von der Industrie bezahlte vorhanden sind. Es war wenig darüber bekannt, was sich Forschung weder für überflüssig noch für schlecht ge- bei der Züchtung vollzieht. Es ist auch wenig über die halten habe. Ich habe lediglich gesagt, dass zum Inhalt zukünftigen Auswirkungen diskutiert worden. Meine dieser Forschung nicht die Forschung hinsichtlich ökolo- Kritik ist, dass wir den Diskurs nicht offen, nicht ehrlich gischer Risiken gehört. und nicht ohne das Schüren von Ängsten geführt haben. Dies muss sich meines Erachtens gerade Rot-Grün auf Hätte ich auf Herrn Professor Saedler antworten wol- die Fahne schreiben lassen. len, dann hätte ich die ziemlich negativen Ergebnisse in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10513

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) Karnataka in Indien mit den praktisch gleichen Sorten Organismen angebaut werden. Ich denke, es ist nicht (C) erwähnt. hinnehmbar, wenn Versuchsfelder für gentechnisch ver- änderte Pflanzen geheim gehalten werden. Wenn ich auf den FAO-Bericht eingegangen wäre, dann hätte ich Stimmen aus den Entwicklungsländern zi- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tiert, die ausdrücklich die Besorgnis äußern, dass die tionslos] – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Grüne Gentechnik eine Privatisierung des Saatgutes und Das ist richtig!) damit eine Schlechterstellung der wirklich Hungernden Die PDS im Bundestag fordert also Transparenz und und der einfachen Landbevölkerung zur Folge haben zugleich gesellschaftliche Kontrollen bezüglich Risi- könnte. ken und Nebenwirkungen; denn auch in der Landwirt- Vielen Dank. schaft gilt: Vorbeugen ist besser als Heilen. Es gibt doch unbestritten Pflanzen, deren Verbreitung nicht begrenz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bar ist. Landwirte und Umweltverbände verweisen dabei DIE GRÜNEN) immer wieder auf den Raps. Er verstreut sich über die Lande und ist obendrein winterresistent. Deshalb ist es Präsident Wolfgang Thierse: aus meiner Sicht richtig, wenn für gentechnisch verän- Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau. derte Sorten ganz besondere Auflagen gelten sollen – al- lemal, um eine Vermischung mit natürlichen Raps- Petra Pau (fraktionslos): beständen, aber auch mit Naturschutzgebieten zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit vermeiden. dem vorliegenden Gesetz soll eine EU-Richtlinie in Wer aus guten Gründen Abstand davon nimmt, gen- deutsches Recht gegossen werden. Es geht um gentech- technisch veränderte Organismen zu verwenden, der nisch veränderte Organismen. Entsprechend groß sind muss auch Abstand wahren können, gerade auch vor un- die Kontroversen in der Landwirtschaft, in der Wissen- gewollter Verunreinigung. Das ist ein Gebot der Ver- schaft und bei Umweltverbänden. Wir erleben die Kon- nunft. Das ist ein schützenswertes Recht der herkömmli- troverse heute auch hier im Haus. chen Landwirte, der Imker usw. Ich finde, das ist auch Das eigentliche Problem können wir hier im Bundes- ein wichtiges Gut im Verbraucher- und Vertrauens- tag nicht mehr lösen. Wer gentechnisch veränderte Orga- schutz. nismen produziert, nutzt und in Verkehr bringt, der muss (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- auch mit den Risiken leben. Die EU hat den Einsatz von tionslos] sowie bei Abgeordneten der SPD und gentechnisch veränderten Organismen freigegeben. Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Bundesrepublik ist an EU-Recht gebunden. Folglich (D) muss es uns vorrangig darum gehen, die Risiken zu mi- nimieren und klare Regeln zu setzen, wer in Schadens- Präsident Wolfgang Thierse: fällen haftet. Ich erteile das Wort dem Kollegen Martin Mayer, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU) Damit bin ich beim ersten Punkt: Die Haftpflicht und Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): die Beweislast kann nur bei denjenigen liegen, die von Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grüne gentechnisch veränderten Organismen profitieren wol- Gentechnik bietet vielfältige Chancen. Sie ermöglicht len, also nicht bei denen, die traditionelle und ökologi- beispielsweise die Züchtung von Pflanzen, die wider- sche Landwirtschaft betreiben und aus schlechter Nach- standsfähiger gegen Schädlinge, Krankheiten und Dürre barschaft den Schaden ziehen. Aus demselben Grund sind, die Gewinnung von hochwertigen nachwachsenden lehnt die PDS einen Schadensfonds ab, der aus Steuer- Rohstoffen und die Entwicklung von Nahrungsmitteln geldern gespeist wird. mit bestimmten zusätzlichen Qualitätsmerkmalen. Es ist (Beifall des Abg. Dr. Ernst Ulrich von schon bemerkenswert, dass in dieser Debatte von den Weizsäcker [SPD]) Rednern der Koalition nicht ein einziges positives Wort über den Nutzen und die Chancen der Gentechnik gesagt Glaubt man einschlägigen Umfragen, dann gibt es in worden ist. der Bevölkerung eine große Ablehnung gegenüber gen- technisch veränderten Organismen. Das ist verständlich, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zumal es bisher keine verlässliche Risikoforschung gibt. Im Gesetzentwurf ist die Förderung der Gentechnik in Der Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker hat eben sehr Ziffer 3 des § 1 auch genannt. Aber was die Koalition eindrucksvoll die Probleme und Erfahrungen in der Grü- und was insbesondere die Grünen davon halten, kann nen Gentechnik dargestellt. Bürgerinnen und Bürger man Ausführungen der Kollegin Höfken entnehmen. In wollen völlig zu Recht wissen, was sie kaufen und ver- der Einleitung zu einem Internetforum schreibt sie: zehren. Deshalb müssen Produkte mit gentechnisch ver- änderten Bestandteilen entsprechend markiert sein. Bür- Das Gesetz ist ein wichtiges Mittel, der weiteren gerinnen und Bürger wollen aber auch wissen, wo sie schleichenden Einführung von gentechnisch verän- wohnen und leben, ob sie etwa in der Nähe von Ver- derten Produkten in Deutschland Einhalt zu gebie- suchsfeldern leben, auf denen gentechnisch veränderte ten. 10514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hat sie (C) NEN]: Jawohl, Sie wollen die schleichende doch getan! Mehrfach!) Einführung! Undemokratisch ist das! Das war Man gewinnt doch den Eindruck, dass hier wohlwollen- ein gutes Zitat!) des Augenzwinkern stattfindet. Das halte ich für einen Sie wollen die Gentechnik also nicht. Skandal. Ich nehme das Beispiel Koexistenz. Bei der Koexis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tenz geht es um das Nebeneinander von alternativer und neten der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] herkömmlicher Landwirtschaft und dem Anbau gentech- [SPD]: Es ist eine Frechheit, was Sie hier ma- nisch veränderter Pflanzen. Es ist für uns selbstverständ- chen! Das ist Verleumdung!) lich – ich betone das –, dass wir die alternativ wirtschaf- Besonders gravierend wirkt sich die Blockadewir- tenden Betriebe vor Nachteilen bewahren wollen. Im kung des Gesetzentwurfs auf die Forschung in Schadensfall muss es selbstverständlich sein, dass ein fi- Deutschland aus. Die Deutsche Forschungsgemein- nanzieller Ausgleich erfolgt. Es kann aber nicht sein, schaft hat dazu in der letzten Woche eine Ausarbeitung dass mit der Haftungsregelung der Anbau von gentech- vorgelegt und ihre Sorgen dargelegt. Das, was als Ge- nisch veränderten Pflanzen in Deutschland praktisch fährdungspotenzial angesprochen wird – so die DFG, verhindert wird. Das ist eine einseitige Ausrichtung die- nicht ich –, ist durch experimentelle Daten nicht gedeckt. ses Gesetzes, die die Landwirte benachteiligt und letzt- lich auch dem Standort erhebliche Nachteile bringt. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: So ist es! Alles aus den Fingern gesogen!) Die unionsgeführten Länder haben im Bundesrat Vor- schläge unterbreitet, wie eine ausgewogene Haftungs- Obwohl es in der Welt schon Millionen von Hektar von regelung gestaltet werden könnte. Bei einigermaßen gu- Flächen mit gentechnisch veränderten Pflanzen gegeben tem Willen der Bundesregierung wäre es möglich hat, ist bisher noch kein einziger Fall einer Schädigung gewesen, einen vernünftigen Kompromiss zu finden. aufgetreten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der FDP) NEN]: Blauäugig!) Über die Gefahren kann zunächst nur spekuliert werden. Wie sehr die Grünen ideologisch gegen die Gentech- Diese Spekulationen muss man natürlich ernst nehmen, nik sind, haben sie auch mit ihren Plakaten zur Europa- aber es gab bisher noch keine Schäden. Auch das muss wahl deutlich gemacht. Sie haben mit der Parole „Good man deutlich aussprechen. Food statt Gen Food“ die Grüne Gentechnik diffamiert. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der FDP) NEN]: Die Wähler haben es verstanden!) Die DFG kritisiert außerdem die einseitige Haftungs- – Sie machen den Bürgern zuerst Angst und dann instru- erklärung sowie die geplante Aufteilung der zentralen mentalisieren Sie diese Angst für Ihre parteipolitischen Kommission. Sie schreibt abschließend: Zwecke. Dadurch würde wissenschaftliches Arbeiten auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dem Gebiet der Grünen Gentechnik erschwert, Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE wenn nicht gar unmöglich gemacht. GRÜNEN]: Und in Bayern haben es die Wäh- ler auch verstanden!) Der Vizepräsident der DFG formuliert es noch deutli- cher: Um eine sachgerechte Lösung des Nebeneinanders zu finden, ist der Erprobungsanbau dringend notwendig. Sollte diese Haftungsregelung in Kraft treten, Dass Sie an einer sachgerechten Lösung nicht interes- würde die faktische „Innovation“ auf dem Gebiet siert sind, wird daran deutlich, dass Sie den Erprobungs- der Grünen Gentechnik darin bestehen, dass diese anbau diffamieren und ihn hemmen, wo immer es mög- Arbeiten künftig außerhalb Deutschlands stattfin- lich ist. den. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) Ich finde, es darf nicht sein, dass wir die Wissenschaft in Deutschland in diesem Bereich praktisch zum Erlahmen Ihre Einstellung wird auch in Ihrer Haltung zur Regis- bringen. trierung und Veröffentlichung von Daten über den An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bau von gentechnisch veränderten Pflanzen deutlich. Hier ist den Grünen der Datenschutz plötzlich nicht Eine derartige Entwicklung trifft im Übrigen auch die mehr so wichtig. Aber es geht doch darum, dass in über 100 mittelständischen Pflanzenzüchter, die sich in Deutschland aggressive Gruppen aus Umweltorganisa- einem schwierigen internationalen Wettbewerb behaup- tionen allzu oft vom Faustrecht Gebrauch gemacht und ten müssen. Felder mit gentechnisch veränderten Pflanzen brutal ver- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) wüstet haben. Die zuständige Bundesministerin hätte sich hier durchaus klar von diesen Taten distanzieren Auch sie müssten ihre Produktion und ihre Forschung müssen. ins Ausland verlegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10515

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) Es darf doch nicht sein, dass wir, weil wir ein gen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) technikfreies Deutschland wollen, ein arbeitsplatzfreies und bei der SPD) Deutschland schaffen. Mit einem solchen Maß an Arroganz können wir mit den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Befürchtungen der Bevölkerung nicht umgehen. Mittel- und langfristig wird es eine weltweite Ausdeh- Wenn es die ganzen Vorteile der Grünen Gentech- nung der Anwendungen der Gentechnik geben. Das ist nik, die laut Ernst von Weizsäcker von der Gentechnik- so sicher wie das Amen in der Kirche. industrie reklamiert werden, wirklich gibt – es ist besser (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für die Umwelt, es ist besser für die Bekämpfung des NEN]: Ja, klar!) Welthungers, es ist besser für die Nahrungsmittelquali- tät – und wenn die Industrie diese ganzen Vorzüge wirk- Für Deutschland wird es um die Frage gehen, ob wir bei lich herauskehren will, dann soll sie einmal beweisen, dieser Entwicklung nur Zuschauer sind oder an ihr als dass das auch wirklich so ist. Bisher ist an dieser Front echte Beteiligte mitwirken, die dann auch die Standards wenig geschehen. Die empirische Evidenz ist eigentlich mitbestimmen, eine andere. Diese Behauptungen können nicht belegt werden. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist wieder so ein Lobbyist!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die in der Forschung mitreden, die die Gefahren selbst sowie bei Abgeordneten der SPD) definieren und rechtzeitig abwenden sowie letztendlich Die Hypothese, die auch Herr Heiderich vorgetragen wirtschaftlichen Nutzen ziehen und neue Arbeitsplätze hat, halte ich für dreist und an den Haaren herbeigezo- schaffen. gen. Herr Heiderich hat gesagt, es sei sowieso schon (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Höfken überall Gentechnik drin und man könne quasi gar nichts [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist bisher mehr machen. Nein, Herr Heiderich, das stimmt nicht. überhaupt nicht der Fall! 12 Milliarden Verlust Es ist noch nicht überall Gentechnik enthalten. Sinn der für die USA! Aber das interessiert Sie alles Politik ist es ja gerade, Transparenz, Wahrheit und nicht!) Klarheit herzustellen. Das Beispiel der Anwendung der Roten Gentechnik (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Dann muss in der Arzneimittelherstellung sollte uns eine Warnung man es richtig kennzeichnen!) sein. Aufgrund unserer ablehnenden Haltung musste (B) Deutschland seine führende Rolle als Pharmastandort an Dass Sie das nicht wollen, steht auf einem anderen Blatt. (D) die Briten und viele andere Länder abgeben. Dieses Bei- Sie können aber nicht so tun, als ob die Grüne Gentech- spiel sollte sich nicht wiederholen. Deshalb fordere ich nik quasi über uns käme und man nichts dagegen tun im Interesse der Zukunft Deutschlands die Bundesregie- könne. Nein, es gibt Gestaltungsspielraum. rung auf, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen und ge- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Dann kenn- meinsam mit der Union einen neuen zu erarbeiten, der zeichnen Sie doch einmal!) Zukunftschancen für Deutschland eröffnet. Das bedeutet eben Verantwortungsethik und keine Ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sinnungsethik. neten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Loske, Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Bündnis 90/Die Grünen. Kollegin Däubler-Gmelin? (Beifall des Abg. Dr. Ernst Ulrich von Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weizsäcker [SPD]) NEN): Gerne, kein Problem. Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): möchte nicht unmittelbar an diesen „sachlichen“ und Kollege Loske, ich würde gerade in Anknüpfung an „differenzierten“ Beitrag anknüpfen, sondern zunächst Ihre Aufforderung an die Industrie eine Frage an Sie auf einige Ausführungen der Kollegin Happach-Kasan richten: Gesetzt den Fall, die Industrie wäre wirklich der eingehen. Frau Happach-Kasan, Sie haben gesagt, Meinung, es gäbe keinerlei Risiken oder zumindest Greenpeace und die Skeptiker in Sachen Grüne Gentech- keine, die einzugehen unverantwortlich wäre, sind Sie nik hätten bei intelligenten Leuten keine Chance. Das dann nicht auch der Meinung, dass die Industrie zur Ver- halte ich für eine bemerkenswerte Aussage. Ich nehme trauensbildung zum Beispiel auch die möglichen Haf- doch an, dass Sie die Skepsis, die in Sachen Grüne Gen- tungsrisiken, die sich aus der Koexistenzregelung erge- technik bei 70 Prozent unserer Bevölkerung vorherrscht, ben, freiwillig übernehmen sollte, statt sich so nachhaltig nicht als Dummheit auslegen. dagegen zu wehren? 10516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- während die Verantwortungsethik bei Ihnen liege. Das (C) NEN): haben Sie uns zwischen Mund und Nase zu verstehen Ich glaube, dass diejenigen in der Industrie, die dieser gegeben. Ich glaube, verantwortlich sein heißt, Wahlfrei- Technologie zum Durchbruch verhelfen wollen – die heit und Transparenz sicherzustellen, ökologisch sen- gibt es ja; man führt ja laufend Gespräche mit ihnen –, sible Gebiete zu schützen und sich konsequent am Vor- eine Bringschuld gegenüber der Öffentlichkeit haben, sorge- und Verursacherprinzip zu orientieren. Das ist die Vorzüge wirklich kenntlich zu machen. Insofern praktizierte Verantwortungsethik, aber keine Gesin- müssen sie in ihrem eigenen Interesse für ein hohes Maß nungsethik. Das ist ganz eindeutig. an Transparenz sorgen. Sie können auch keine Lasten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Dritte abwälzen. Ich glaube daher, dass eine konse- und bei der SPD – Dr. Christel Happach- quente Orientierung am Vorsorge- und Verursacherprin- Kasan [FDP]: Nein! Verantwortung heißt, alle zip, die sich in Haftpflichtregelungen niederschlägt, im Aspekte zu berücksichtigen!) eigenen Interesse der Industrie liegt. Das ist meine Mei- nung. Meine Redezeit ist zwar leider kurz, aber da die Red- ner der Union, was ich wirklich bemerkenswert finde, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überhaupt nichts zu ihren eigenen Vorstellungen gesagt, und bei der SPD) sondern nur auf uns herumgehackt haben, will ich noch ein paar Unterschiede zwischen uns herausarbeiten: Präsident Wolfgang Thierse: Erstens. Die Union will, dass die „gute fachliche Pra- Kollege Loske, gestatten Sie noch eine Zwischen- xis“ gestrichen wird. frage der Kollegin Happach-Kasan? (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das ist eine Lüge!) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir halten das für falsch. Wir brauchen eine Definition Selbstverständlich. der „guten fachlichen Praxis“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): und bei der SPD) Kollege Loske, Sie haben natürlich Recht: Wir müs- Zweitens. Die Union will, dass der Schutz ökolo- sen die Befürchtungen der Menschen ernst nehmen und gisch sensibler Gebiete gestrichen wird. Wir sind der sie informieren, damit sie selbst in der Lage sind, ent- Meinung, dass zum Beispiel die FFH-Gebiete und sprechend ihrem Willen zu entscheiden. Nehmen Sie (B) Natura 2000, also ökologisch sensible Gebiete, eines ge- (D) aber bitte zur Kenntnis, dass ich nicht von „intelligent“ wissen Schutzes bedürfen, weil wir nicht wissen, welche und „dumm“ gesprochen habe. Das ist nicht richtig. Auswirkungen auf die biologische Vielfalt entstehen. (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE Auch das ist ein gewaltiger Unterschied zwischen uns. GRÜNEN]: Doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich habe von gut ausgebildeten und selbstbewussten sowie bei Abgeordneten der SPD) Menschen gesprochen. Die beantworten ihre Fragen sel- Drittens. Die Union will die Haftungsregelungen ber und sind nicht auf eine Orientierungshilfe seitens der aufweichen. Wir wollen, dass die Haftungsregelungen Verbände angewiesen. Sie können das selber. Darauf ambitioniert sind. Vor allem wollen wir – das hat Frau wollte ich aufmerksam machen. Däubler-Gmelin sehr schön beschrieben –, dass die Haf- tung zumindest in der ersten Phase, wenn noch keine eu- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ropaweite Klärung vorliegt, nicht bei den Bauern liegt. NEN): Sie soll bei den Unternehmen liegen, die diese Produkte Ich nehme an, dass mein Freundes- und Bekannten- in Verkehr bringen. Ich wundere mich wirklich, dass die kreis im Durchschnitt gut ausgebildet ist. Da herrscht CDU/CSU dies ablehnt. Das muss man den Bauern noch eine gesunde Portion Skepsis. Das sind Leute, die sich einmal gut erklären. bilden, die lesen und sich informieren. Insofern finde ich eine solch arrogante Attitüde einfach nicht angemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das muss ich ganz klar sagen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Viertens. Wir wollen ein transparentes Standortre- und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: gister. Die jeweiligen Standorte sollen, sofern ein be- Eine wirklich sehr unarrogante Antwort!) rechtigtes Interesse vorliegt, flurstückscharf bekannt ge- geben werden. Sie wollen das nicht. Sie wollen dieses Zu Ihrer Differenzierung zwischen Verantwor- Thema also klammheimlich behandeln. tungsethik und Gesinnungsethik: Sie haben gesagt, dass die Gesinnungsethik eine Sache der Grünen und der Ich will auch einmal auf die „klammheimliche Ökologen sei, Freude“, die von Ihnen angesprochen wurde, zurück- kommen. Für mich und meine Freundinnen und Freunde (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Nicht der kann ich ganz klar sagen: Wir freuen uns natürlich nicht Ökologen! Das habe ich nicht gesagt!) darüber, dass solche Felder platt getrampelt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10517

Dr. Reinhard Loske (A) Aber auch eine Politik der Geheimhaltung bzw. des Un- probe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist (C) ter-der-Decke-Haltens ist nicht gut. mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Was sollen die denn machen? – Dr. Christel Happach- Tagesordnungspunkt 22 b. Wir setzen die Abstim- Kasan [FDP]: Das stimmt doch nicht! Das ist mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses nicht wahr!) für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/3344 fort. Unter Nr. 3 seiner Be- Wir brauchen eine vernünftige Dialogkultur. Dieser schlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ableh- Gesetzentwurf schafft dafür eine gute Grundlage. Er ist nung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher und für Drucksache 15/2822 mit dem Titel „Grüne Gentechnik die Umwelt. Durch ihn geben wir denjenigen in Land- in Deutschland nutzen – Verlässliche Rahmenbedingun- wirtschaft und Industrie, die in diese Technologie ein- gen für einen verantwortungsvollen Einsatz in der Land- steigen wollen, Sicherheit. Ich persönlich – das gebe ich wirtschaft schaffen“. Wer stimmt für diese Beschluss- ganz offen zu – bin kein Anhänger dieser Technologie empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – und auch meine Partei ist ihr gegenüber nicht besonders Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD positiv eingestellt. und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr freundlich umschrieben!) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Aber dieser Gesetzentwurf schafft faire Chancen. Inso- tion der FDP auf Drucksache 15/2979 mit dem Titel fern ist er auch gut, weil er Chancengleichheit herstellt. „Chancen der Grünen Gentechnik nutzen – Gentechnik- Danke schön. gesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundle- gend korrigieren“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fehlung? – Gegenprobe! – Enhaltungen? – Die und bei der SPD) Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben angenommen. Präsident Wolfgang Thierse: Tagesordnungspunkt 22 c: Beschlussempfehlung des Ich schließe die Aussprache. Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Landwirtschaft auf Drucksache 15/3383. Der Ausschuss desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuord- empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die nung des Gentechnikrechts auf Drucksache 15/3088. Ablehnung des Antrags der FDP auf Drucksache 15/1825 (B) (D) Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und mit dem Titel „Distanzierung der Bundesregierung von Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- gesetzeswidrigen Zerstörungen von Freisetzungsversu- empfehlung auf Drucksache 15/3344, den Gesetzent- chen mit gentechnisch veränderten Pflanzen“. Wer wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen. sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von der FDP auf Drucksache 15/2352 mit dem Titel „Frei- CDU/CSU und FDP angenommen. landversuche mit gentechnisch veränderten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlinburg durchführen“. Wer stimmt Dritte Beratung für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- und Schlussabstimmung. – Hierzu liegt von der Kollegin gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Undine Kurth und dem Kollegen Winfried Hermann mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen. eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsord- Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 23 sowie nung des Bundestages vor. – Ich bitte nun diejenigen, die Zusatzpunkte 12 und 13 auf: dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- 23 Beratung des Antrags der Abgeordneten setzentwurf ist mit den Stimmen von SPD und Bünd- Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion und FDP angenommen. der CDU/CSU Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Mit Innovationen auf Wachstumskurs – eine Drucksache 15/3344 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- einheitliche Strategie schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- – Drucksache 15/2971 – schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Überweisungsvorschlag: Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit Ausschuss für Bildung, Forschung und wie soeben angenommen. Technikfolgenabschätzung (f) Finanzausschuss Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3348 ab. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegen- Haushaltsausschuss 10518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) ZP 12 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- um den Wettbewerb zu drosseln, den Arbeitsmarkt zu (C) gierung verriegeln und überkommene institutionelle Arrange- ments – auch in der Wissenschaft – zu zementieren. Bundesbericht Forschung 2004 – Drucksache 15/3300 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag: Wir brauchen wieder mehr Wachstum und Inno- Ausschuss für Bildung, Forschung und vation, doch die Frage ist: Wie schaffen wir den Technikfolgenabschätzung (f) Schwenk? Wir schaffen ihn garantiert nicht mit rot-grü- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ner Effekthascherei. Mit Fanfaren werden immer wieder Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung neue Programme und Wettbewerbe angekündigt; Inno- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen vation ist übrigens bei Rot-Grün all das, gegen das sie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit noch vor ungefähr einem Jahr waren, zum Beispiel Eli- ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike ten. Doch bei der Forschung vor Ort kommt nichts an: Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann Viele Institute warten ausgerechnet im Jahr der Inno- (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak- vation noch immer auf längst zugesagte Fördermittel. tion der FDP Die Halbzeitbilanz des Jahres der Technik ist in der Innovationsstrategie für Deutschland – Wis- Tat vernichtend: Greifbare Ergebnisse gibt es nicht. Geld senschaft und Wirtschaft stärken wird allerdings verbrannt, nämlich in Form von Papie- ren, Kongressen und Kampagnen. Je erfolgloser Sie – Drucksache 15/3332 – sind, desto marktschreierischer werden Ihre Parolen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Herr Müntefering spricht übrigens schon gar nicht Technikfolgenabschätzung (f) mehr vom Jahr der Innovation; er spricht mittlerweile Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit vom Jahrzehnt der Innovation. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Jörg Tauss [SPD]: Das war immer so!) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss Er tut dies nach dem Motto: Wer bietet mehr? Vielleicht Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ist es demnächst ein Jahrhundert. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Es gab einmal einen gewissen Generalsekretär Scholz Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – wer war das eigentlich noch? –, der Anfang des Jahres (B) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kol- eine einsame Elite-Uni schaffen wollte. Dann kam das (D) legin Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion. Preisausschreiben „Brain up!“ – Deutschland sucht seine Super-Uni –, mit dem Frau Bulmahn allenfalls zur aus- Katherina Reiche (CDU/CSU): sichtsreichsten Kandidatin für den Titel „Sprechpan- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- scherin des Jahres“ geworden ist. Es wurden viele Inno- ren! Die Analyse ist klar: Das Schiff Deutschland ist in vationsbüros eingerichtet, aus denen zwar wieder schweres Fahrwasser geraten. Wir verlieren auf vielen Papiere kommen, aber definitiv keine Innovationen. technologischen Feldern und dafür tragen Sie die Verant- (Jörg Tauss [SPD]: Wurde heute Morgen wie- wortung. der gedopt? – Gegenruf des Abg. Manfred (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Grund [CDU/CSU]: Sie hat sogar einen Staatssekretär weggeschlagen!) Wir verlieren bei der Mikroelektronik und bei den Halb- leitern, weil die Märkte in Asien sehr viel interessanter Derweil treffen sich beim Kanzler die Innovationsräte, sind. Wir verlieren in der Kernenergie durch rot-grüne also die großen Runden der Konzerchefs. Der Mittel- Ideologen. Die Unterhaltungselektronik ist schon weg. stand ist hier wie üblich ausgeschlossen. Weil „Räte“ be- Wir sind längst nicht mehr die Apotheke der Welt: Von kanntlich von „raten“ kommt, trifft dies die Sache hier den 130 Forschungsstandorten, die die 30 weltweit größ- wohl sehr genau. ten Pharmaunternehmen haben, befanden sich 2001 Es nützt dem Land auch nichts, wenn man Wirklich- noch genau zehn Forschungslabore in Deutschland. Der keitsverweigerung betreibt. Auf dünnster Datenbasis Chemie droht die Luft auszugehen durch die Brüsseler wird behauptet, es gebe in Deutschland keinen Brain- Chemikalienrichtlinie. Sowohl bei Spitzentechnologien drain. Wenn man sich die Studien aber einmal genauer als auch bei technologischen Dienstleistungen sind wir anschaut, dann kommt man zu einem ganz anderen tief in den roten Zahlen. Wir mögen noch Exportwelt- Ergebnis. Nicht umsonst klagt der HRK-Präsident meister sein, wir sind aber nicht mehr Wertschöpfungs- Gaehtgens, dass Deutschland die fähigsten Doktoranden weltmeister. weglaufen. Der Siemens-Vorstand Klaus Wucherer kon- All das ist kein Betriebsunfall: Rot-Grün hat seit 1998 statierte dieser Tage in der „Welt“, dass ideologische Ab- alles unternommen, wehrkämpfe gegen Technik die Forscher geradezu aus dem Land treiben würden. (Jörg Tauss [SPD]: Ah, jedes Mal die gleichen Plattheiten! – Gegenruf von der CDU/CSU: (Jörg Tauss [SPD]: Das sagen ausgerechnet Stimmt doch!) Sie!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10519

Katherina Reiche (A) Es gehen vor allem Naturwissenschaftler, die sich in Kennzeichnend war der Satz von Frau Bulmahn in (C) den USA und in Großbritannien bessere Forschungs- der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom bedingungen erwarten. Veraltete Tarifregelungen, 25. April 2004 auf die Frage nach der Grünen Gentech- schlechte Aussichten für den akademischen Mittelbau nik. Frau Bulmahn, Sie sagten: In der Forschung sind und zu kleine Forschungsbudgets – die Liste der Mängel wir hier sicher so gut wie alle anderen Länder. Über die ist lang. Anwendung entscheidet nicht die Forschung. (René Röspel [SPD]: Denken Sie an die (Edelgard Bulmahn, Bundesministerin: Der Rüttgers-Zeit!) Verbraucher!) Sie verweisen in Ihrer Antwort derweil auf die vielen Hier liegt doch gerade der Hase im Pfeffer. Vor fünf Studenten der Kulturwissenschaften. Die kommen wohl Minuten haben Sie in diesem Haus mit Ihrer Mehrheit eher wegen der Leistungen in der Vergangenheit zu uns, ein Gentechnikverhinderungsgesetz durchgepeitscht. also quasi ins Museum Deutschland. Wir brauchen aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Zukunft. Das ist das komplette Gegenteil von Innovationen. Ein (Beifall bei der CDU/CSU) wenig Pflanzengenomforschung reicht nicht aus, Frau Bulmahn. Wir brauchen hier ein klares Commitment be- Es fehlen schon heute 10 000 bis 20 000 Ingenieure. züglich der Grünen Gentechnik und anderer Technolo- In der Biotechnologie verweisen Sie immer wieder auf gien. Sie können sich in Ihrem Kabinett aber nicht die hohe Anzahl der Unternehmen in Deutschland. Sie durchsetzen. vergessen aber regelmäßig, zu erwähnen, dass hier bis- lang fast keine Produkte zur Marktreife gelangt sind. Das Innovationssystem ist quasi wie ein Reiß- verschlusssystem zu verstehen: Die Zähne müssen in- Ihr Forschungsbericht 2004 ist ein Offenbarungseid. einander greifen. Unser vorgelegte Antrag „Mit Innova- Sie rühmen sich, dass der Anteil der Forschung und Ent- tionen auf Wachstumskurs – eine einheitliche Strategie“ wicklung am Bruttoinlandsprodukt wieder bei enthält solche Reißverschlusselemente. Es beginnt in der 2,5 Prozent angekommen ist. Gleichzeitig vergessen Sie Schule. Rot-Grün hat über Jahre versucht, den Leis- aber, zu erwähnen, dass wir vor der Wiedervereinigung tungsgedanken aus den Schulen zu verbannen. bereits bei 2,8 Prozent waren und auch längst wieder dort sein müssten. (Jörg Tauss [SPD]: Jahrzehnte! – Weitere Zurufe von der SPD: Oh!) (Beifall bei der CDU/CSU) (B) PISA hat es an den Tag gebracht: Mathematik und Na- (D) Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei Ihnen Licht- turwissenschaften müssen wieder stärker gefördert wer- jahre auseinander. 250 Millionen Euro mehr wollen Sie den. im nächsten Jahr von haben. Das würde Die Zukunft unseres Landes liegt zudem in den nicht einmal die Kürzungen aufwiegen, die Sie in die- Hochschulen. Wir begrüßen den Wettbewerb, der jetzt sem Jahr hinnehmen mussten. Wie vorgestern in der mit den Ländern verabredet werden soll. Voraussetzung „FAZ“ zu lesen war, hat sich die Tauss-Truppe durchaus ist jedoch, dass Ihnen, Frau Bulmahn, tatsächlich mehr löblich, aber dennoch kläglich bemüht, mehr Geld zu be- Geld zur Verfügung steht. Doch davon ist bislang nichts kommen. Die Finanzpolitiker der SPD haben Ihnen eine zu spüren. Klar ist, dass die Hochschulbauförderung klare Absage erteilt. zwischen 2003 und 2007 von 1,1 Milliarden Euro auf 760 Millionen gekürzt werden soll. Damit bleibt das (René Röspel [SPD]: Besser als der alte Ver- Ganze ein Nullsummenspiel. ein!) Trennen Sie sich vom Korsett des Hochschulrah- Ich denke, die Präsidenten der großen Forschungsor- menrechts. Am Mittwoch haben wir im Ausschuss be- ganisationen werden auch diesen Coup nicht so schnell schlossen, das Selbstauswahlrecht der Hochschulen end- vergessen: Der Kanzler hat dem Aufwuchs von lich zu stärken. Ich kann mich noch genau daran 3 Prozent zwar großzügig zugestimmt, die Forschungs- erinnern, wie Sie sich vor kurzem hier im Deutschen organisationen mussten dies dann aber mit der Kürzung Bundestag mit Händen und Füßen dagegen gewehrt ha- der Projektmittel bezahlen. Ihre Politik hat kein System ben. und keine Strategie. Die schweren Ordnungsstörungen, an denen unsere Gesellschaft nach sechs Jahren Rot- (Jörg Tauss [SPD]: Sie waren gar nicht da!) Grün leidet, sind im Kern durch drei Defizite bedingt: Jetzt mussten Sie auf Druck der Länder und durch ein Zum einen ist das der Verlust des Denkens in Zusam- eindeutiges Gutachten des Wissenschaftsrates klein bei- menhängen und Ursachenketten. geben. (Jörg Tauss [SPD]: Das kann ich Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: bestätigen!) Das ist ja albern!) Zweitens ist das ein geradezu epidemisches Kurzfrist- Sie sind die Getriebene und nicht die Speerspitze, wenn denken und drittens der daraus herrührende Verlust vo- es um die Entwicklung eines leistungsfähigen Hoch- rausschauender Verantwortung. schulwesens geht. 10520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Katherina Reiche (A) Ich komme zur Forschung. Forschung ist die Basis Katherina Reiche (CDU/CSU): (C) von Innovationen. Aber leider haben Sie hier ein völlig Wir müssen Bildung und Forschung entfesseln. Es falsches Verständnis. Forschung muss frei sein; gibt keinen Fortschritt, wenn Menschen kein Vertrauen in die Zukunft haben. Wir wollen eine Politik, die dieses (Jörg Tauss [SPD]: Ach!) Vertrauen in die Zukunft rechtfertigt und Technikinnova- tion in unserem Land wieder voranbringt. denn sie dringt zum Teil ins Unbekannte, noch nicht ein- mal Geahnte vor. Vielen Dank. (Jörg Tauss [SPD]: Dann machen Sie das ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla mal!) Burchardt [SPD]: Das In-den-Sand-Setzen von öffentlichen Mitteln kennt Frau Reiche ja gut!) Man kann sie nicht auf bestimmte Missionen festlegen und erklären: Gefördert wird das, was Arbeitsplätze Präsident Wolfgang Thierse: schafft. Glauben Sie vielleicht, dass sich die Erfinder des Ich erteile das Wort Bundesministerin Edelgard Transistors vor 40 Jahren vorstellen konnten, welche Bulmahn. Revolutionen sie damit in Gang setzen? Wir brauchen eine stärkere Grundlagenforschung und Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung eine Exzellenzforschung. Das heißt aber auch, dass sich und Forschung: die Forschungsorganisationen an den Projektmitteln, die Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten hoch kompetitiv sind, beteiligen können. Das hat der so Damen und Herren! Novalis – er ist einigen vielleicht genannte Dudenhausen-Erlass mit einem Instrument der bekannt – hat einmal gesagt: Wer will, der kann auch. – 70er-Jahre verhindert. Das ist das Gegenteil von Wettbe- Sie, liebe Frau Reiche, wollen nicht, Sie können auch werb. nicht. Sie wollen schlechtreden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist ja billig, Frau Bulmahn! Sie sollten sich schämen! Ein kurzer Satz zu den neuen Bundesländern. Vor Reine Diffamierung!) kurzem hat Herr von Dohnanyi die Cluster wieder ent- Wir wollen und wir können auch. deckt. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Union bereits in den 90er-Jahren sowohl im Bund als auch in den Län- (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Bei Ihnen will dern die Clusterbildung vorangetrieben hat. Dresden ist nur jeder etwas anderes!) (B) dafür ein hervorragendes Beispiel, aber es gibt noch an- Wir wollen, dass Deutschland stark in Bildung und For- (D) dere. Ich kann Sie nur auffordern, diese Cluster weiter- schung ist. hin zu fördern und sich insbesondere um die neuen Bun- desländer, zum Beispiel mit Forschungsprämien, zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kümmern. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir wollen, dass wir durch Innovationen erfolgreich neten der FDP) sind. Wir wollen, dass wir die Grundlagen für den Wohlstand in unserem Land ausbauen und stärken, da- Ich komme zu meinem letzten Punkt. Wir brauchen mit die Menschen auch in zehn oder 20 Jahren in diesem eine Aufbruchstimmung und eine Technikbegeisterung Land gut leben können. in Deutschland, um bei der Dynamik mit den anderen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ländern wieder mithalten zu können. DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Die haben Sie jetzt ge- Die Zahlen des jüngsten Bundesberichtes Forschung weckt! – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE belegen eindrucksvoll: Wir können auch erreichen, was GRÜNEN]: Wie wollen Sie mit Miesmacherei wir erreichen wollen. Zwischen 1998 und 2003 sind die eine Aufbruchstimmung machen?) Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung um rund 1 Milliarde Euro gestiegen, Es sind nicht nur die behindernden gesetzlichen Rege- lungen, sondern es ist auch die Stimmung, die in diesem (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Jetzt sin- Land erzeugt wird. Das beredte Schweigen der Bundes- ken sie!) regierung, wenn Ökoterroristen Versuchsfelder nieder- und das trotz des ungeheuren Drucks, die Finanzen zu trampeln, sagt eigentlich alles. konsolidieren. Ich möchte nur daran erinnern: Die Re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gierung Kohl hatte allein zwischen 1992 und 1998 die neten der FDP – Widerspruch bei der SPD und Ausgaben in diesem Zukunftsbereich um rund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 670 Millionen Euro gekürzt. ( [Spandau] [SPD]: Hört! Hört! – Präsident Wolfgang Thierse: Jörg Tauss [SPD]: Das ist ja unglaublich!) Kollegin Reiche, Sie müssen bitte zum Ende kom- Unser entschiedenes Handeln dagegen hat auch die men. Wirtschaft zu Investitionen ermutigt. So ist der Anteil Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10521

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Insgesamt wurden dort 6 Milliarden Euro an zusätzli- (C) Bruttoinlandsprodukt von 2,3 Prozent im Jahre 1998, cher Wertschöpfung mobilisiert und unmittelbar dem letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung, auf ak- 11 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Das ist unsere tuell 2,5 Prozent angewachsen. So ist die Realität. Strategie, unsere Politik. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Damit ha- DIE GRÜNEN) ben Sie überhaupt nichts zu tun gehabt, Frau Der Bundesbericht Forschung 2004 macht deutlich: Bulmahn!) Deutschland hat seine starke Position auf den internatio- Wir stärken unser Potenzial, stärken und sichern damit nalen Technologiemärkten behaupten können. Im Arbeitsplätze und stellen die richtigen Weichen für die Jahr 2002 betrug allein bei den Gütern der Hoch- und Zukunft. Spitzentechnologie – das sind die Wirtschaftstreiber – der Exportüberschuss 132 Milliarden Euro. Bei for- Bei den Strukturen und Rahmenbedingungen für eine schungsintensiven Gütern liegen wir mit einem Welt- effiziente Forschung sind wir energischer als jede Regie- marktanteil von 14,9 Prozent nach den USA auf Platz 2. rung zuvor vorangegangen. Wir haben bei der Vergabe Vertrauen in unsere Leistungsfähigkeit ist also durchaus von Forschungsmitteln den Wettbewerb massiv gerechtfertigt. Es ist politisch falsch, Frau Reiche, wenn verstärkt, unter anderem durch die Umstellung der man wie Sie versucht, dieses Vertrauen systematisch ka- Finanzierung der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten puttzureden und zu zerstören. deutschen Forschungsorganisation, auf die programm- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ orientierte, wettbewerbliche Finanzierung und durch die DIE GRÜNEN) Ausweitung der Projektförderung meines Hauses, durch die wir gerade die Kooperation zwischen Hochschulen Dieses Land ist leistungsfähig. Wir können eine ganze und außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Menge leisten und wir sollten das Vertrauen in unsere ei- der Wirtschaft stärken. Damit geben wir einen wichtigen gene Leistungsfähigkeit nicht zerstören, sondern weiter Impetus für die wirtschaftliche Entwicklung. erhöhen. Bei der Professorenbesoldung haben wir das Leis- Die Bundesregierung hat mit ihrer Forschungsförde- tungsprinzip eingeführt. Ich sage ausdrücklich hier im rung den Vorsprung in den wichtigen Zukunftsbranchen Bundestag, dass ich es außerordentlich bedauere, dass unserer Wirtschaft ausgebaut, zum Beispiel in der Infor- die Länder zu langsam und zu zögerlich sind, dieses mationstechnologie. Mit dem Programm IT-Forschung Bundesgesetz umzusetzen. 2006 stellt die Bundesregierung insgesamt 3 Milliarden (B) (D) Euro für die Forschung zur Verfügung. Deutschland ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heute einer der modernsten IT-Standorte der Welt. Das DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Mit Leis- schafft zukunftssichere Arbeitsplätze, und zwar gerade tung haben die da drüben nichts am Hut!) in den neuen Ländern. Mit der Förderung meines Hau- ses, des Ministeriums für Bildung und Forschung, ist in Gerade in den unionsregierten Ländern wird dieses Ge- der Region Dresden das Silicon Valley Europas entstan- setz nicht umgesetzt. Dabei schaffen wir damit eine den. wichtige Voraussetzung dafür, dass gute Leistungen in Lehre und Forschung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Katherina Reiche [CDU/ (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Die Akade- CSU]: Das war die sächsische Landesregie- mie der Wissenschaften sagt genau das Gegen- rung! – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: teil!) Schmücken Sie sich nicht mit fremden Fe- dern!) entsprechend honoriert werden können. Richten Sie Ihre Kritik bitte an Ihre Landesregierungen. In drei SPD- Es unterstreicht im Übrigen auch der sächsische Minis- regierten Bundesländern ist das Gesetz bereits umgesetzt terpräsident, dass wir durch eine konzentrierte For- schungsförderung das Silicon Valley Europas haben auf- worden. Sie von der CDU/CSU hinken kräftig hinterher. bauen können. Mit der Junior-Professur haben wir die Perspektiven (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für den wissenschaftlichen Nachwuchs verbessert. Statt DIE GRÜNEN) mit Anfang 40 können die Wissenschaftler jetzt schon mit Anfang 30 unabhängig forschen und lehren. Ich sage ausdrücklich, Frau Reiche: Ich bin die erste Forschungs- Präsident Wolfgang Thierse: ministerin gewesen, die dieses Thema aufgegriffen hat. Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Meine Vorgänger haben es überhaupt nicht zur Kenntnis Kollegin Reiche? genommen. Wir haben nicht erst Ende der 90er-Jahre eine problematische Entwicklung gehabt, sondern schon Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre. Das müssten und Forschung: Sie bei einer klaren Analyse wissen. Wir haben jetzt end- Lassen Sie mich den Gedanken noch kurz zu Ende lich eine Trendumkehr. Jetzt merken Sie, dass es ein Pro- führen. blem gab. 10522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Das ist ein – Frau Reiche, wir werden die dafür notwendigen zu- (C) Flop, Frau Bulmahn, das wissen Sie genauso sätzlichen Mittel aufbringen. Das wissen der Bundes- wie ich!) finanzminister, der mir darin zustimmt, wie auch die ge- samte Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen. Die Zahlen der ausländischen Studierenden wachsen pro Darin sind wir uns einig. Wir stellen sicher, dass die Jahr. Die OECD-Studie zeigt, dass wir ein Gewinnerland finanzielle Förderung der Hochschulen auch in der bei der so genannten Brain-Circulation sind. Breite fortgesetzt wird. (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Wo bleiben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Amerikaner?) DIE GRÜNEN) – Lesen Sie die Studie, Frau Reiche, und nehmen Sie das Im Übrigen hat der Bund – auch das bitte ich zur bitte zur Kenntnis. Kenntnis zu nehmen – die Breitenförderung in den ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gangenen Jahren um 23 Prozent erhöht. Wenn das auch DIE GRÜNEN) alle Länder getan hätten, dann stünden wir heute vor ei- ner besseren Ausgangsposition. Von Ihrem Antrag „Mit Innovation auf Wachstums- (Beifall bei der SPD) kurs – eine einheitliche Strategie“ hätte ich ein bisschen mehr Kreativität erwartet. Präsident Wolfgang Thierse: (Jörg Tauss [SPD]: Nur Polemik!) Frau Ministerin, ich darf Sie noch einmal fragen, ob Das zu fordern, was die Regierung bereits alltäglich tut, Sie die Zwischenfrage der Kollegin Reiche zulassen. Sie aber in Ihrer Regierungszeit nicht geleistet haben, ist nicht besonders originell. Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen, die mir Ja. besonders wichtig sind. Ich stimme Ihnen zu: An den Hochschulen wird sich die Zukunft unseres Landes ent- scheiden. Katherina Reiche (CDU/CSU): Frau Ministerin, Sie haben eben die noch ausstehende (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zum Förder- DIE GRÜNEN) programm für die Hochschulen angesprochen. Ich frage Sie in diesem Zusammenhang, ob Sie zusagen Für die Bundesregierung sind deshalb zwei Punkte ent- (B) können, dass zusätzliche Mittel bewilligt werden, und (D) scheidend. Erstens. Wenn wir für Forscher, Nachwuchs- wie Sie in diesem Zusammenhang bewerten, dass die wissenschaftler und junge Leute aus aller Welt attraktiv Europa-Universität Viadrina eine beträchtliche Summe sein wollen, dann müssen wir unsere Wissenschaft auch – in der Presse wurde von 50 Millionen Euro in zwei im Ausland entsprechend vertreten. Aus diesem Grund Tranchen berichtet – erhalten soll, ohne sich dem Wett- brauchen wir Spitzenuniversitäten, die auch internatio- bewerb zu stellen, und ob auch diese Mittel aus Ihrem nal wahrgenommen werden und ein hohes Renommee Haushalt finanziert werden müssen. haben. Deshalb will ich die Hochschulen, die klare Kon- zepte haben, wie sie eine weltweite Spitzenstellung er- reichen wollen, mit einem Wettbewerb finanziell so un- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung terstützen, dass sie ihre Konzepte verwirklichen können. und Forschung: Liebe Frau Reiche, Bund und Länder haben am (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 7. Juni eine klare Verständigung über die Eckpunkte der DIE GRÜNEN) Förderung erreicht. Ich stehe zu dieser Verständigung Dabei geht es mir auch darum, die Forschung wieder auf und ich gehe davon aus, dass alle Länder bereit sind, die den Campus zu holen und diese Forschung deutlich zu Forschung an den Hochschulen zu stärken, und zwar so, stärken. Das ist die Zielsetzung. Hinzu kommt eine dritte dass unsere Hochschulen auf internationaler Ebene nicht Komponente. Mit den Exzellenzclustern werden Bund nur mithalten können, sondern auch die Position einneh- und Länder die stärkere Vernetzung zwischen Hoch- men, die ich für notwendig und wichtig erachte, nämlich schulen und außeruniversitärer Forschung, aber auch ein starkes und gutes internationales Renommee zu ha- zwischen der Wirtschaft fördern und stärken. Mit den ben und dadurch als „Leuchtturm“ zu wirken. Graduiertenschulen werden wir die Förderung des wis- Ich stehe zu dieser Verständigung und stelle aus- senschaftlichen Nachwuchses verbessern. drücklich fest, dass wir die Breitenförderung der Hoch- schulen so fortsetzen wie in den vergangenen Jahren. Zusammengenommen ist es das größte Programm zur Wir haben sie schließlich um 23 Prozent erhöht. Stärkung der Universitäten seit mehr als zehn Jahren. Mit diesem großen Programm können wir die Entwick- (Bernward Müller [Gera] [CDU/CSU]: Wür- lungsmöglichkeiten unserer Hochschulen unterstützen den Sie auf die Frage antworten?) und ihnen einen nachdrücklichen Schub geben. Ich weise noch einmal darauf hin: Wenn die Länder die (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Wo nehmen Mittel im gleichen Umfang erhöht hätten, dann stünden Sie das Geld her?) wir heute besser da. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10523

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) von Ihnen angesprochenen Punkt eingehen. Sie haben DIE GRÜNEN) darauf hingewiesen, dass wir mehr Stellen für den Mit- telbau brauchen. Auch in einem anderen Punkt stimmen wir überein. Forschung bewegt sich in mehrjährigen Zyklen; das ist (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Beantworten richtig. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass die großen Sie einmal die Frage, Frau Bulmahn!) Forschungsorganisationen in den nächsten Jahren plan- bare Mittelzuwächse in Höhe von 3 Prozent von Bund Das ist ausdrücklich zu bejahen, aber das liegt nicht in und Ländern erhalten. Im Gegenzug sollen sich die For- der Zuständigkeit des Bundes, sondern der Länder. schungsorganisationen auf Reformen verpflichten. Mehr (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Was ist mit der Mittel im Wettbewerb vergeben, Versäulung aufbrechen Viadrina?) durch mehr Kooperation und Vernetzung der For- schungsorganisationen, mehr Chancen für unkonventio- Gerade deshalb ist es notwendig, dass Bund und Länder nelle Forschungsansätze und damit für Sprunginnovatio- die Ausgaben für die Hochschulen erhöhen. nen, mehr Möglichkeiten für den Nachwuchs, das sind die Ziele des Paktes für Forschung und Innovation. Zur Viadrina: Es gibt eine Vereinbarung zwischen dem polnischen Staatspräsidenten, dem französischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Staatspräsidenten und dem deutschen Bundeskanzler, DIE GRÜNEN) die so genannte Weimarer Erklärung. Wir arbeiten daran, diese Vereinbarung umzusetzen, sodass für die drei be- Um diese Ziele so schnell wie möglich zu erreichen, teiligten Länder gemeinsame Studiengänge und Studien- arbeiten wir seit langem mit der Wissenschaft und der abschlüsse entwickelt und die Verbindungen zwischen Wirtschaft an abgestimmten Innovationsstrategien. den drei Ländern deutlich gemacht werden. Wir haben Erst im Februar dieses Jahres hat die Bundesregierung das zum Beispiel mit dem Verbund deutsch-französi- für das wichtige Feld der Nanotechnologie ein Strategie- scher Hochschulen ebenfalls deutlich gemacht. Ich konzept vorgelegt, das die Grundlagenforschung mit der glaube, es ist wichtig, dass wir in Deutschland, im Her- Anwendung verzahnt. In vergleichbarer Weise arbeiten zen Europas, eine wichtige Rolle übernehmen, wenn wir die Impulskreise der Partner für Innovation für Zu- die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen diesen kunftssektoren wie Energie, Mobilität, Medien, Vernet- drei Ländern stärken. Alles andere werden Sie dann se- zung oder Gesundheit. Hier werden Pionieraktivitäten hen. aufgezeigt und konkrete Handlungsempfehlungen zur Erschließung der Innovationspotenziale in diesen The- menfeldern formuliert. Effizienz entsteht auch hier durch (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen ein eng abgestimmtes Vorgehen mit der Wissenschaft bei der CDU/CSU) und der Wirtschaft. Sie sehen, was wir schon heute tun. Aber Sie fordern das erst für morgen. Darüber hinaus habe ich Anfang Januar dieses Jahres den Bundesländern angeboten, das Hochschulrahmen- Wir beschließen heute den Entwurf eines Gesetzes gesetz auf das zu beschränken, was unbedingt bundes- zur Förderung von Wagniskapital. Diese Neuregelung ist einheitlich geregelt werden muss. Die Bedingung dafür ebenfalls wieder ein wichtiger Beitrag für die Erhöhung ist allerdings, dass die Bundesländer die neuen Freihei- der Innovationskraft technologieorientierter Unterneh- ten auch an die Hochschulen weitergeben; das ist ent- men sowie ein wirksamer Anreiz für Unternehmens- scheidend. gründungen. Forschung und Innovation müssen mehr Aufmerksamkeit erfahren. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das zurück- kommen, was Sie, Frau Reiche, gesagt haben. Wenn Sie Nur wenn Forschung und Innovation als Schlüssel behaupten, die Bundesregierung habe das Auswahlrecht für unsere Zukunft begriffen werden, wird es auch ge- der Hochschulen nicht stärken wollen, dann sagen Sie lingen, Subventionen zu reduzieren und Zukunftsinvesti- die Unwahrheit. Deshalb sage ich Ihnen ganz ausdrück- tionen zu stärken. Dies, meine sehr geehrten Damen und lich: Hören sie auf, die Unwahrheit zu sagen! Die Bun- Herren auch von der Opposition, ist die Aufgabe von al- desregierung und insbesondere die Bundesministerin hat len, die in diesem Land Verantwortung tragen. Die Bun- schon vor eineinhalb Jahren in ihrer Stellungnahme zu desregierung hat mit der Empfehlung, die Eigenheimzu- den Vorschlägen der Bundesländer ausführlich auf meh- lage zu streichen, einen zielführenden und praktikablen reren Seiten klargestellt, dass wir das Auswahlrecht der Vorschlag auf den Tisch gelegt. Ob Sie, meine Damen Hochschulen erheblich ausweiten wollen, und zwar viel und Herren von der Opposition, diesem Vorschlag zu- weiter, als es die Bundesländer vorgeschlagen hatten. stimmen werden oder ob Sie aus parteitaktischen Grün- Die Koalitionsfraktionen haben in Übereinstimmung mit den diese wichtige Zukunftsoption verhindern wollen, mir jetzt einen Kompromiss vorgeschlagen. Mein ur- sprünglicher Vorschlag ging zwar deutlich weiter. Aber (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Warum streichen ich finde, dass wir einen sinnvollen Weg gefunden ha- Sie nicht einmal bei der Steinkohle?) ben, um das Auswahlrecht der Hochschulen auszuwei- ist der Lackmustest, den Sie bestehen müssen. ten. Auch wenn man parteipolitisch die Kontroverse sucht, sollte man schlicht bei der Wahrheit bleiben. Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist wirklich besser, Frau Reiche. DIE GRÜNEN) 10524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) An dieser Frage wird sich entscheiden, ob Sie es mit Forschung und Entwicklung steuerlich abgeschrieben (C) wohlklingenden Bekenntnissen ernst meinen oder ob ih- werden können. Der BDI hat diese Woche vorgeschla- nen die Zukunft von Bildung und Forschung in Wirk- gen, eine Forschungsprämie zuzulassen: Wenn Unter- lichkeit egal ist. nehmen in Forschung und Entwicklung mehr investie- ren, dann sollte das mit 25-prozentigen Zuwendungen an Präsident Wolfgang Thierse: die Hochschulen und Forschungseinrichtungen begleitet Frau Ministerin, Sie müssen zum Schluss kommen. werden. Das sind Ideen, Frau Ministerin. Setzen Sie doch im „Jahr der Innovationen“, das Sie selbst ausgeru- fen haben, auch einmal neue Ideen um und streiten Sie Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung mit uns darüber! Wir haben von Ihnen – jedenfalls und Forschung: heute – nichts Neues gehört. Ich bin zum Schluss gekommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vielen Dank. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben Novalis zitiert. Ich zitiere Benjamin DIE GRÜNEN) Franklin: „Investitionen in Wissen bringen die besten Zinsen.“ Das ist so. Wenn sich Deutschland nicht aus der Präsident Wolfgang Thierse: Spitzengruppe der Forschungsnationen verabschieden Ich erteile das Wort Kollegin Cornelia Pieper, FDP- will, dann sind jährliche Steigerungen der gesamten Fraktion. F-und-E-Ausgaben notwendig. Dass wir in Deutschland sechsmal mehr für Soziales als für Bildung ausgeben, ist Cornelia Pieper (FDP): eine fatale Schieflage. Es ist die Ursache dafür, dass wir Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau nicht zu mehr Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft Ministerin, Sie haben für Vertrauen in Ihre Forschungs- kommen. politik geworben. Lassen Sie mich noch einmal Franklin zitieren: (Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!) „Gläubiger haben ein besseres Gedächtnis als Schuld- ner.“ In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Wir von der Opposition sagen: Vertrauen ist gut, Kon- Versprechungen der Bundesregierung. Die Ausgaben trolle ist besser. des Bundes für Forschung und Entwicklung und insbe- (René Röspel [SPD]: Das war Lenin!) sondere die Ihres Ministeriums sind eben nicht in dem Umfang gestiegen, wie Sie es angekündigt haben. (B) Frau Bulmahn, Sie sind und bleiben eine Traumtänzerin, (D) weil Sie die wirklichen Zahlen, die sich nicht nur in die- Ich erinnere Sie hier daran, dass Sie die Zukunfts- sem Bundesbericht Forschung, sondern auch im interna- investitionen bereits von 1998 bis 2002 verdoppeln tionalen Wettbewerb abzeichnen, einfach nicht zur wollten. Sie haben eine Steigerung von 12,2 Prozent Kenntnis nehmen. erreicht. Der Europäische Rat hat im März 2000 in Lis- sabon den Beschluss gefasst, dass die Länder der Euro- Ein wichtiger Indikator für die Stärke eines Wirt- päischen Union zukünftig 3 Prozent des Bruttoinlands- schafts- und Wissenschaftsstandortes sind die Ausgaben produkts für Forschung ausgeben. Diesen Beschluss für Forschung und Entwicklung. Bezogen auf den An- haben Sie haushaltspolitisch nicht umgesetzt, Frau teil am Bruttoinlandsprodukt liegt Deutschland jetzt Ministerin. Wo sind denn die Realisierungen Ihrer An- zwar, das gebe ich zu, mit 2,52 Prozent ungefähr im Mit- kündigungspolitik? Das vermissen wir. telfeld. Zieht man aber einen Vergleich zu führenden In- dustrienationen wie Schweden, Finnland, Japan und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten USA, dann erkennt man: Die Mitwettbewerber laufen der CDU/CSU) uns davon. Wir können nicht erkennen, wie Sie in der mittelfristi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen Finanzplanung erreichen wollen, dass die Ausgaben der CDU/CSU) für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. Wenn das Wir alle wissen durch die Studie des Stifterverbandes Bruttoinlandsprodukt nicht wächst, was man unter Ihrer für die Deutsche Wissenschaft von Anfang 2004, Frau Regierung ja befürchten muss, dann würde das bedeuten, Ministerin, dass die Aufwendungen der Unternehmen dass Sie in Ihrem Haushalt jährlich 210 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung im Jahre 2003 erstmals mehr für Forschung ausgeben müssten. Ich frage Sie, wieder abgenommen haben. Das ist ein alarmierendes nachdem Sie sich zu diesem EU-Beschluss bekannt ha- Signal. In einer nationalen Innovationsstrategie müssen ben: Wo ist das Geld? wir den Unternehmen wieder den nötigen Spielraum für Innovationen und Investitionen geben. Das hat Ihre Bun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten desregierung nicht getan. der CDU/CSU) Schauen Sie sich Frankreich und Großbritannien an: 3,7 Milliarden Euro wurden 2003 für die Subventio- Diese Länder schaffen Anreize, damit die Unternehmen nierung von Windmühlen ausgegeben. Ökologische in Forschung und Entwicklung investieren. Großbritan- grüne Prestigeobjekte sind der Bundesregierung wichti- nien lässt zu, dass bis zu 150 Prozent der Investitionen in ger als Investitionen in die Köpfe. Wenn Sie mich fra- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10525

Cornelia Pieper (A) gen, dann gebe ich Ihnen einen Tipp: Wenn Sie in die Präsident Wolfgang Thierse: (C) Hochschulen investieren wollen, dann sollten Sie diese Ich erteile Kollegen Hans-Josef Fell, Fraktion des Subventionen kürzen und das Geld in die Schulen und Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort. Hochschulen dieses Landes stecken. Das hilft uns mehr als das, was Sie hier vorschlagen. Das alles sind nur Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Luftblasen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Will Deutschland seine Führungsposition in Europa Herren! Frau Reiche, Sie fordern zu Recht eine Auf- halten, muss es der Forschungsförderung ein weitaus hö- bruchstimmung in Deutschland ein. Nur, wer das mit heres Augenmerk als bisher schenken. Hierzu wird ein solch mies machenden Worten wie Sie tut, wird nicht klares Forschungskonzept benötigt. Ein solches Konzept Aufbruchstimmung erreichen, sondern einen Abbruch von der Bundesregierung, von Ihnen, Frau Bulmahn, ernten. vermisse ich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt eine beängstigende Entwicklung auch bei der und bei der SPD) technologischen Dienstleistungsbilanz. Unter Ihrer Re- gierung haben wir in dieser technologischen Dienstleis- Ihre Auswahl von Zitaten und Beispielen spricht da tungsbilanz einen Rekordnegativsaldo erreicht. Betrug für sich selbst. Sie zitieren den Vorstand von Siemens er 1990 noch knapp 0,5 Milliarden Euro, so betrug er sinngemäß dahin gehend, die Forschungsbereiche in 2001 schon 7,5 Milliarden Euro. Das ist eine dramati- Deutschland seien nicht ausreichend. sche Entwicklung, die eben nicht für eine gute For- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist die schungspolitik Ihres Hauses spricht, Frau Bulmahn. Wahrheit!) (Beifall bei der FDP) Sie haben vergessen, den Vorstand von General Electric Besorgniserregend ist natürlich auch der drastische zu zitieren, der ausgerechnet nach Deutschland kommt, Rückgang beim Forschungs- und Entwicklungsperso- (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Nach Bayern, nal in der Wirtschaft. Das können wir im Forschungs- Herr Fell!) bericht nachlesen. Deutschland liegt mit 6,5 Forschern pro 1 000 Einwohnern zwar noch über dem EU-Durch- und zwar wegen der Stärke des Forschungsstandorts schnitt; jedoch sind es in Japan zehn und in den USA Deutschland, wegen der Unterstützung durch die Bun- neun Forscher pro 1 000 Einwohner. Im Osten Deutsch- desregierung, wegen der Märkte, die Sie immer ableh- lands beträgt der Anteil am gesamtdeutschen Entwick- nen. Einer der drei Schwerpunkte von General Electric lungspersonal lediglich 9 Prozent. Hier müssen Sie mehr in Garching bei München ist die Forschung für erneuer- (B) Akzente setzen, wenn wir auch im Interesse des wirt- bare Energien. (D) schaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern dort Wachstumskerne erhalten wollen und neue Wachs- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch tumskerne entstehen lassen wollen. wunderbar!) Die Bundesregierung hat, was die Forschungspolitik Das sollten Sie wissen. Sie sollten diese Strategie und anbelangt, aus meiner Sicht versagt. Die Bundesregie- die damit verbundenen Investitionen nicht ablehnen, so rung ignoriert vieles, insbesondere die Motive der Ab- wie Sie es erst heute Vormittag wieder getan haben, als wanderung von Nachwuchswissenschaftlern, von Sie das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Er- Doktoranden, die weitestgehend in die interessanteren neuerbare-Energien-Gesetz abgelehnt haben. Staaten dieser Erde gehen, in die Staaten, in denen unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leichteren Bedingungen zu forschen ist. Deswegen kann sowie bei Abgeordneten der SPD) ich Sie nur auffordern, Frau Ministerin: Ändern Sie das! Es gibt ja diesen netten Witz: Auf die Frage, was ein Sie sollten klar und ernst über diese Sachen reden. Ich deutscher Forscher braucht, um internationale Anerken- werde darauf noch zurückkommen. nung zu erlangen, antwortet ein in den USA lebender Forscher knapp: Ein Flugticket. – Das, finde ich, sollte Präsident Wolfgang Thierse: in Zukunft nicht die Linie unserer und Ihrer Politik sein. Kollege Fell, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Ministerin, machen Sie den Weg frei für mehr Kollegin Reiche? Freiheit und Wettbewerb der Hochschulen! Greifen Sie auf die Vorschläge zurück, die wir Ihnen gemacht haben! Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Reformieren Sie das Hochschulrahmengesetz! Schaffen Bitte. Sie die ZVS ab und lassen Sie das Studiengebührenver- bot fallen! Geben Sie den Hochschulen durch Wissen- schaftstarifverträge mehr Flexibilität! Wir haben ein Ge- Katherina Reiche (CDU/CSU): samtkonzept dafür vorgelegt, wie es mit Innovationen in Herr Kollege Fell, Sie scheinen mit dem von mir Zi- Deutschland vorangehen kann, um so zu einem neuen tierten nicht ganz zufrieden zu sein. Wachstum für Deutschland und zu mehr Arbeitsplätzen (Jörg Tauss [SPD]: Nein, wirklich nicht!) zu kommen. Deshalb möchte ich jetzt jemanden ins Feld führen, der Vielen Dank. unverdächtig ist, nämlich den ehemaligen Präsidenten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, der sagt: 10526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Katherina Reiche (A) Zwar mögen wir nicht so schlecht sein, wie wir uns senschaftlicher Art liegen wir weltweit auf Platz drei. (C) gerne machen, aber deshalb sind wir noch lange Damit sind wichtige Parameter genannt, die die hohe nicht so gut, wie wir gerne wären, vor allem aber, Qualität des Forschungsstandorts Deutschland aufzei- wie wir sein müssten, um im weltweiten Wettbe- gen. werb nicht nur im Rudel mitzulaufen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mich würde Ihre Haltung zu den Ausführungen von Herrn Markl interessieren. Zugleich sehen wir, dass auch in einzelnen Bereichen Erfolge nicht ausbleiben. Die Lasertechnologie wurde (Dr. [SPD]: Was hat genannt. Inzwischen beträgt unser Weltmarktanteil bei das mit dem Thema zu tun? Das ist eine reine Lasern für Materialbearbeitung 40 Prozent. In diesem Störfrage!) Sektor wurden alleine in den letzten Jahren 50 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. – Das Thema war „Schlechtreden“! Ich komme zurück auf die erneuerbaren Energien. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unsere Politik, Frau Pieper, fördert Innovationen im Be- Frau Kollegin Reiche, es ist ohne Zweifel richtig, reich Windkraft übrigens nicht durch Subventionen. dass die Bedingungen für den Forschungsstandort (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland noch verbessert werden können und verbes- und bei der SPD) sert werden müssen. Ich weiß nicht, warum Sie einfach nicht verstehen, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Subventionen sind. Der Europäische Gerichtshof hat sowie bei Abgeordneten der SPD) klar festgelegt: Einspeisevergütungen stellen keine Sub- Dies hat Professor Markl zum Ausdruck gebracht. Ich ventionen dar. Nehmen Sie das endlich einmal zur denke, bezüglich dieser Zielvorstellung stimmen wir mit Kenntnis. ihm überein. Dies hat nichts mit der Miesrederei zu tun, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Sie bei jeder Rede an den Tag legen. und bei der SPD – Zurufe der Abg. Cornelia (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pieper [FDP]) und bei der SPD) Die innovativen Instrumente, die wir in diesem Bereich Dass Deutschland ein starker Forschungs- und auch anwenden, sind marktkonform. Hierdurch wurde er- Wirtschaftsstandort ist, hat Frau Ministerin Bulmahn reicht, dass in den letzten Jahren 60 000 neue Arbeits- plätze geschaffen wurden. Inzwischen gibt es in diesem (B) schon ausgeführt. Nachdem Sie das kritisiert haben, will (D) ich wiederholen, was wir geleistet haben: Rot-Grün hat Bereich, wo einer der größten Märkte der Welt entsteht, die Forschungsausgaben von 1998 bis zum Jahre 2003 120 000. um 1 Milliarde auf inzwischen 9 Milliarden Euro erhöht. Wir nehmen auch die Markteinführung ernst, nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur durch Gesetzesvorgaben, sondern auch im gesamten und bei der SPD) Komplex der Innovation. Ich nenne beispielsweise das Stichwort Bildung: Dank der Unterstützung von Frau Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist inzwischen von Ministerin Bulmahn konnte auf der Erneuerbare-Ener- 2,3 auf 2,5 Prozent gestiegen. Dies ist wichtig. Natürlich gien-Konferenz die Gründung einer offenen Universität bekennen wir uns zu einem weiteren Ausbau. Wir halten initiiert werden, die zunächst als Internetplattform orga- an dem 3-Prozent-Ziel fest. Wir sagen aber auch genau, nisiert ist. Sie will Ausbildung in diesem Bereich sowie was dieses 3-Prozent-Ziel bedeutet. Wir kennen die durch Forschungsvernetzung weltweiten Know-how- knappe Haushaltslage. Dennoch scheuen wir uns als Transfer voranbringen. Eine Anschubfinanzierung ist Fachpolitiker nicht, klar zu bekennen: Als erster Schritt vom BMBF in Aussicht gestellt worden. Dafür möchte auf dieses Ziel hin müssen im Haushalt 2005 ich mich ausdrücklich bei der Ministerin bedanken. Die 500 Millionen Euro bereitgestellt werden. In den nächs- UNESCO bildet das Dach über dieser Universität. Wir ten Jahren muss der Betrag ansteigen, wenn der Bund haben eine breite Palette an Angeboten, um immer wie- seine Verantwortung für diesen Bereich wirklich ernst der die Einführung von Innovationen, vor allen Dingen nehmen will. auch den zukunftsorientierten, die uns besonders wichtig sind, zu unterstützen. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es steht fest: Unsere Erfolge können sich tatsächlich sehen lassen. Von Frau Ministerin Bulmahn haben wir Wir sehen, dass wir weitere Maßnahmen zur Verbes- hierzu bereits einige Beispiele gehört. Ich will diese serung der Rahmenbedingungen ergreifen müssen. Ich nicht vertiefen, aber doch noch einmal darauf hinweisen, nenne beispielsweise die Kapitalschwäche, die wir in dass wir bei Gütern der Hoch- und Spitzentechnologie Deutschland im Venture-Capital-Bereich haben. Herr weltweit den höchsten Exportüberschuss haben, dass Riesenhuber hat zu Recht immer wieder darauf hinge- Deutschland bei den forschungsintensiven Gütern einen wiesen. Wir haben bereits beschlossen, wie wir hier vor- Weltmarktanteil von 14,9 Prozent hat und damit auf gehen wollen. Ich erinnere noch einmal an die Einfüh- Platz zwei liegt. In Bezug auf Veröffentlichungen wis- rung eines Dachfonds, der mit 500 Millionen Euro Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10527

Hans-Josef Fell (A) ausgestattet wird und der die Liquidität bei Risikokapi- Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir bei den (C) tal erhöhen wird. Heute werden wir einen Gesetzentwurf kommenden Haushaltsberatungen nicht nur die institu- verabschieden, der die steuerlichen Rahmenbedingun- tionellen Mittel im Blick haben, sondern auch die Pro- gen für das Venture Capital verbessern wird. Sie sehen: jektmittel, die wir genauso stärken müssen wie alle an- Wir nehmen unsere Aufgabe ernst, bessere Rahmenbe- deren Ausgaben im Bereich der Forschung. dingungen zu schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Marion Seib [CDU/CSU]: Sechs verlorene und bei der SPD) Jahre!) Wir werden diese Projektmittel und andere For- Ich komme auf das 3-Prozent-Ziel in Bezug auf das schungsanstrengungen einsetzen, um endlich die großen Verhältnis der Forschungsmittel zum Bruttoinlands- Herausforderungen der Welt anzugehen. Die steigenden produkt zurück. Der Bundeskanzler hat sich wie die Erdölpreise sind nicht nur ein Zeichen dafür, dass wir Regierungsfraktionen immer wieder zu diesem Ziel be- mit unserem Wirtschaften ein Problem haben; nein, sie kannt und auch einen guten Gegenfinanzierungs- sind eine Mahnung an uns, endlich auch die ökologi- vorschlag vorgelegt. Die Abschaffung der überholten schen Grenzen des Wachstums in dieser Welt ernst zu Eigenheimzulage würde Bund und Ländern den not- nehmen. Wir stehen an der Schwelle zur Verknappung wendigen Spielraum für die Erhöhung der Forschungs- des Erdöls in dieser Welt. Umso wichtiger ist es, dass mittel geben. Aber wer wie Sie die Eigenheimzulage hö- wir, als in erneuerbaren Energien weltweit führende Na- her gewichtet als Investitionen in Forschung und tion, Forschung, Innovationen und auch die Marktein- Entwicklung, der zeigt, dass er reformunfähig ist, weil er führung weiter intensivieren und stärken. Nachwach- trotz knapper Haushaltsmittel nicht bereit ist, von Sub- sende Rohstoffe im Bereich der Chemie als Erdölersatz ventionen, wie Frau Pieper zu Recht sagt, auf Investitio- und Energieersatz werden eine der großen Herausforde- nen in Bildung und Forschung umzuschichten, was not- rungen sein neben den Innovationen, die notwendig sind, wendig ist. Ich fordere Sie auf, Ihren Widerstand gegen um endlich die Probleme der alternden Gesellschaft an- die Abschaffung der Eigenheimzulage endlich aufzuge- gehen zu können. ben und sich mehr für Bildung und Forschung einzuset- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. zen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die beste Innovation wären Neuwahlen!) Das Wort hat der Kollege Professor Heinz (B) Ich mahne Sie auch an, Ihre Verantwortung in den Riesenhuber von der CDU/CSU-Fraktion. (D) Ländern viel ernster zu nehmen; denn Forschungsausga- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ben sind nicht nur Ausgaben des Bundes. Man kann beobachten, wie in den Ländern, gerade in den unions- Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): regierten Ländern, Ausgaben für Bildung und Forschung Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und zusammengestrichen werden. Wir können uns an die Herren! Die Frau Ministerin hat markant begonnen: Wer Studentenproteste an den Hochschulen Anfang dieses will, der kann. – Das ist großartig. Frei nach Eugen Roth Jahres erinnern, gerade in Bayern – weil Sie das vorhin könnte man ergänzen: Das ist es gerade, selbst wollen erwähnt haben. können ist schon Gnade. (Zuruf von der CDU/CSU: Berlin! (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Wunderbar!) Jetzt wollen wir einmal überlegen, was Sie wollen kön- Wir sehen, dass Sie Ihre Verantwortung in den Ländern nen. Was Sie wollen können, hängt von zwei Dingen ab: nicht in ausreichendem Maße wahrnehmen. Wir wün- Das eine ist das zur Verfügung stehende Geld – darüber schen uns höhere Ausgaben. haben Herr Fell, Frau Flach und andere gesprochen, auch Sie selber, Frau Ministerin – und das andere sind die Vi- Ich möchte auch an uns selbst eine Mahnung richten: sionen bezüglich dessen, was Sie erreichen wollen. Der notwendige Aufwuchs für die Forschungseinrich- tungen – wir stehen hinter diesem Ziel – darf nicht zulas- Wie sieht es beim Geld aus? Wir sind ja in der glück- ten der Projektmittel gehen. Projektmittel sind wichtig, lichen Lage, heute über den Bufo 2004 diskutieren zu um neue Maßnahmen zu ergreifen, um schnell handeln dürfen, denn er ist voller Erkenntnisse. zu können, um angesichts der Herausforderungen der (Zuruf von der SPD) Gesellschaft, zum Beispiel durch die alternde Gesell- schaft oder durch die knappen Erdölressourcen dieser – Das ist der Bundesforschungsbericht; ich bitte sehr um Welt, neue Innovationen auf den Weg zu bringen. Diese Nachsicht. Dieses wertvolle Buch ist uns eben als Tisch- Projektmittel werden wir beispielsweise auch brauchen, vorlage serviert worden, um, nachdem wir endlich den Durchbruch beim Zuwan- (Jörg Tauss [SPD]: Wir haben es schon seit derungsgesetz erreicht haben, kluge Köpfe nach Mai!) Deutschland zu holen. Wir werden sie nur dann nach Deutschland holen können, wenn wir ihnen hier auch sodass wir die Möglichkeit haben, es durchzulesen, be- Forschung ermöglichen. vor wir in die Debatte eintreten. 10528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Ich bin sehr dankbar dafür, dass Seite für Seite dieses Dass wir Wachstum brauchen, ist inzwischen Konsens. (C) Berichts aus dem Internet herausgezogen werden kann. Die kuschelige Strategie des Nullwachstums, die vor ei- Professionalität ist in der Politik manchmal ganz wich- niger Zeit üblich war, ist längst vorbei. Dass wir Wachs- tig; aber dies ist hier nicht mein Thema. tum nur durch Innovationen und nicht durch ein Mehr vom Gleichen bekommen, darin sind wir uns einig. Aber Der Bufo rechnet Folgendes vor: Wenn in Europa dass eine einheitliche Strategie auf Ziele hin fehlt, das Ausgaben in Höhe von 3 Prozent des Bruttosozial- macht die ganze Schwäche aus. produkts für Forschung erreicht werden sollen, dann müsste Deutschland 3,5 Prozent leisten. Jedes Land (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müsste einen Prozentpunkt mehr leisten; denn man kann neten der FDP) nicht erwarten, dass die Polen plötzlich um 1,5 oder 2 Punkte springen. Deshalb entsteht durch die Wirklichkeit auch keine Fas- zination. Das bedeutet für uns in Deutschland: Wir müssen von rund 53 Milliarden Euro Ausgaben auf rund 73 Milliar- Ich würde mich freuen, wenn ich von unserem hoch- den kommen. Dies ist ein Zuwachs von gut 20 Milliar- verehrten Herrn Bundeskanzler mal eine Rede über den den. Jetzt rechnen wir davon einmal ab, dass die Wirt- Aufbruch in die Wissensgesellschaft hören könnte. schaft zwei Drittel zahlt. Dann bleiben knapp 7 Milliarden Euro für die öffentliche Hand. Die Länder Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zahlen ungefähr die Hälfte. Dann bleiben 3,5 bzw. Herr Kollege Professor Riesenhuber, darf ich Ihren 3,6 Milliarden Euro für den Bund. Das heißt, diese Redefluss kurz unterbrechen? Summe müssten wir aufbringen. Das dividieren wir durch sechs Jahre – das können wir im Kopf –: Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin gerade so schön in Fahrt; aber bitte schön. Dann sind wir bei einem Plus von 600 Millionen Euro pro Jahr – und das bei Nullwachstum. Wenn die Wirt- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schaft wächst, sind es ein paar 100 Millionen mehr. Der Kollege Fell würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Das hat der Bundeskanzler beschlossen. Das war nämlich der Beschluss des europäischen Gipfels. Das ist also das, was wir brauchen. Der Bundesforschungsbe- Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): richt belehrt uns aber, dass die Forschungsmittel des Halten Sie aber die Uhr an! (B) Bundes im letzten Jahr um insgesamt 279,8 Millionen (D) Euro zurückgegangen sind. Das ist kein sehr guter Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ginn für einen dynamischen Aufbruch in eine neue Welt, Die halte ich selbstverständlich an. – Bitte, Herr Fell. in der Sie all die großartigen Ziele, die Sie angesprochen haben, kraftvoll verwirklichen wollen. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Kollege! neten der FDP) Da gibt es natürlich interessante Diskussionen. Herr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Fell hat uns mit juristischem Sachverstand – Gott sei Die Uhr steht. Sie können sich überzeugen. Dank sind wir beide, lieber Herr Fell, keine Juristen – er- läutert, dass der Europäische Gerichtshof erkannt hat, Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): dass die Vergütungen für Strom aus Windkraft und ande- ren erneuerbaren Energien keine Subvention seien. Halten Sie sie noch ein bisschen länger an. Wenn wir aber pro Jahr 2,5 Milliarden Euro für eine ein- (Heiterkeit im ganzen Hause) zige Technik ausgeben, dann ist der Volkswirtschaft und Frau Lieschen Müller wurscht, ob das mit Steuern oder durch die Stromrechnung bezahlt wird. Denn es wird ab- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gezockt. Herr Kollege Riesenhuber, Sie haben gerade die Aus- gaben im Bereich der Energieforschung in Bezug auf die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Windenergie, den schnellen Brüter und andere Techni- neten der FDP) ken angesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen be- In eine einzige Technik werden Mittel in einer Größen- kannt ist, wie sich die Mittelverteilung in der Energiefor- ordnung eingesetzt, die vielmal so groß ist, wie SPD-Re- schung weltweit in den letzten 50 Jahren entwickelt hat. gierungen beim schnellen Brüter und beim Hochtempe- Nach Aussagen der OECD und vor allem der Internatio- raturreaktor oder später CDU/CSU-Regierungen es nalen Energieagentur in Paris sind in den letzten jemals getan haben. 30 Jahren 70 Prozent aller OECD-weiten öffentlichen Energieforschungsmittel in die Kernenergie, also in die Also, Herr Fell, die Stärke unseres Antrags, über den Kernfusion und in die Kernspaltung, geflossen. Das Er- wir heute diskutieren, liegt nicht nur darin, dass wir hier gebnis ist eine Deckung von – je nach Berechnungs- Dinge feststellen, bei denen wir einen Konsens haben. basis – 5 bis 7 Prozent des Weltenergiebedarfs. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10529

Hans-Josef Fell (A) Ich frage Sie: Ist das nicht Ausdruck dafür, dass dies Die Idee war aber die: Der Staat bringt die Forschung (C) im Forschungsbereich einer der größten Misserfolge ist, voran. Danach müssen die Neuentwicklungen auf den wenn man andererseits sieht, dass nur etwa 2, 3 oder Markt, 4 Prozent der öffentlichen Forschungsmittel für erneu- (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) erbare Energien ausgegeben wurden, diese aber bereits 12 Prozent des Weltenergiebedarfs decken? wo sie sich bewähren müssen. Ich bin sogar der Ansicht, dass der Staat die Markteinführung mit fördern soll. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Aber es darf keine Dauersubvention des Staates in Höhe von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr geben. Herr Kollege Fell, ich will Ihnen meine Antwort in zwei Teilen geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum ersten Teil. Für die Kernenergie ist ziemlich In den nächsten Jahren werden wir für die Subventionen viel Geld ausgegeben worden. Ich war immer sehr be- für die erneuerbaren Energien mehr als für die Kohle eindruckt davon, dass sich Bundeskanzler Schmidt dafür ausgeben. Das kann nicht die Strategie sein. entschieden hat, den schnellen Brüter und den Hoch- (Cornelia Pieper [FDP]: Genau!) temperaturreaktor zu bauen. Die Forschungsminister Matthöfer, Hauff und von Bülow Sie und ich sind der Überzeugung, dass die Wind- energie sich prächtig entwickelt hat. Entlassen Sie sie (Albert Deß [CDU/CSU]: Das waren alles also sozusagen in die Freiheit der Märkte und hängen Sie SPD-Leute!) sie nicht an den Tropf des Staates. haben mit großer Leidenschaft immer größere Beträge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dafür ausgegeben. Es gab Projekte, die völlig außer Kon- Subventionen gehen auf verschlungenen Wegen immer trolle geraten sind, sodass wir im Jahre 1982 Überhänge zu Leuten, die daran gut verdienen. So sieht die Wirk- oder so genannte Bugwellen – so wurde es vornehm ge- lichkeit in dieser beschränkten Welt aus. nannt – von Hunderten von Millionen vorfanden. Das al- les hat nichts mit den heute laufenden Leichtwasserreak- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – toren in Deutschland zu tun. Sie sind mit Ausnahme des Cornelia Pieper [FDP]: Sehr gut! – Albert Deß Bereichs der Sicherheitsforschung, in der der Staat flan- [CDU/CSU]: Zugabe!) kierend tätig war, von der Industrie bezahlt worden und Ich möchte noch eine kurze Bemerkung anfügen. In können wirtschaftlich betrieben werden. Bezug auf die gesellschaftlichen Ziele sollte der Bundes- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg kanzler einmal mit großer Leidenschaft vom Aufbruch (D) Tauss [SPD]: 4 Milliarden Altlasten!) in die Wissensgesellschaft sprechen. (Jörg Tauss [SPD]: Das tut er!) – Herr Tauss, ich habe schon die ganze Zeit darauf ge- wartet, dass ich Ihre wohlklingende Stimme heute hören Uwe Jean Heuser hat gestern in der „Zeit“ geschrieben: darf. Will man aber eine Volkswirtschaft reformieren, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und müssen sich die Bausteine schon zu einem Mosaik der FDP) zusammenfügen. Wenn aber der Chefreformer selbst nicht weiß, wie das Bild aussehen soll, dann fällt alles auseinander. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dann sind die vielen wunderschönen Einzelprogramme Herr Kollege, antworten Sie noch auf die Frage von ephemere Belanglosigkeiten, „Stroh der Zeit“, wie Herrn Fell? Nur dann kann ich die Uhr noch weiter an- Enzensberger sagen würde. All diese Programme sind halten. nicht Teil einer großen Strategie, sondern einzelne Punkte, die jeweils nur für eine Pressemeldung gut sind. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): (Albert Deß [CDU/CSU]: Alles Luftblasen!) Ja. – Herr Fell, ich komme jetzt zum zweiten Teil meiner Antwort, nämlich zu den erneuerbaren Ener- Zu dem Aufbruch in die Wissensgesellschaft lässt gien. Die erneuerbaren Energien haben wir mit großer sich sagen, dass damit nicht das Verschmelzen von Com- Leidenschaft vorangebracht. Wir haben 1982 den Gro- putern, Telefonen und Fernsehgeräten gemeint ist. Die wian, eine gespenstische Fehlkonstruktion, vorgefunden. Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft, die mit Wissen Wir mussten die Windenergie neu aufbauen. Es wurden umgehen kann, in der Wissen wächst und in der Wissen alle möglichen Typen getestet: senkrechte Achsen, für jedermann, der damit umgehen und die Wirklichkeit waagerechte Achsen, Einflügler und Mehrflügler. Wir verantwortlich gestalten kann, zu jeder Zeit verfügbar haben die Windparks in Pellworm aufgebaut sowie das ist. Deshalb haben wir den Antrag so gestellt. In einem 100-Megawatt-Windprogramm und das 300-Megawatt- großen Bogen angefangen bei der Erziehung und Bil- Windprogramm aufgelegt. dung in Schulen über die Universitäten bis zur Technik und Wirtschaft haben wir eine geschlossene Vision von (Albert Deß [CDU/CSU]: Das alles ohne der Zukunft im Rahmen einer einheitlichen Strategie Grüne!) dargestellt. 10530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dr. Heinz Riesenhuber (A) (Zuruf von der SPD: Das machen wir doch!) einfach empfehlen – das gilt vor allem für Frau Reiche (C) mit ihrer seitenlangen Polemik, auch in Ihren Anträ- Dies habe ich in keiner Rede des Bundeskanzlers über gen –: Lesen Sie doch einfach einmal objektiv! die Wissensgesellschaft entdeckt. (Marion Seib [CDU/CSU]: Das tut sie ja ge- (Widerspruch bei der SPD – Albert Deß rade! Deswegen weiß sie es!) [CDU/CSU]: Er weiß ja selber nicht, wie es weitergehen soll!) Unternehmen Sie den Versuch, dieses dicke Werk auch Wenn er diese großen Signale nicht aussendet, dann be- einmal durchzuarbeiten – von mir aus im stillen Käm- kommen wir nicht die notwendige Begeisterung in die- merlein –, und kommen Sie dann wieder und reden mit sem Land. Sie ist nicht dadurch zu erreichen, dass wir uns! noch mehr Gelder – was prima ist – noch präziser vertei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) len. Nur aus dem Geist der Zuversicht erwächst Unter- nehmungsgeist. Ich will aber noch ganz kurz auf Herrn Riesenhuber eingehen. Ich habe eine Seite aus dem Bundesbericht Die jungen Leute, die Naturwissenschaften studieren herausgerissen, die ich hier vorzeige. Es geht hier um und die wir brauchen, gehen davon aus, dass man in der Kurven. Das Kürvchen, das da unten beginnt, stellt Ihre Technik Erfolge erzielen muss. Für sie ist es kein Erfolg, Zahlen dar; die Kurve, die da oben endet, gibt unsere dass der Transrapid in China fährt, dass die Grüne Gen- Zahlen wieder. technik in Deutschland nicht angewandt wird, dass es den Ausstieg aus der Kernenergie gibt, dass die Maut ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen die Wand gefahren wird und dass das Dosenpfand DIE GRÜNEN) beherrschendes Thema über Monate bleibt. Nein, sie wollen, dass es eine zündende Bereitschaft gibt, um aus Bei allem Streit, den wir miteinander haben: Schauen Zuversicht, Kompetenz und Unternehmungsgeist eine wir uns doch einmal das an, was auf dem Tisch liegt. Zukunft aufzubauen. Genau das ist es. Bis jetzt löst die Wer von den Besuchern auf der Tribüne das Werk gerne Leidenschaft des Bundeskanzlers und seiner strahlenden hätte, dem kann ich sagen: Es kann beim Bundestag an- Forschungsministerin noch nicht die Begeisterung aus, gefordert werden. die dafür notwendig ist, dass die Herzen der Menschen bewegt werden und die jungen Leute Freude an der Zu- Lieber Herr Riesenhuber, ich komme noch einmal auf kunft haben. das Thema Kernkraft. Mir liegt es gar nicht, jetzt in Leidenschaft zu verfallen. Sie haben allerdings gesagt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Die Industrie bezahlt. Mir fällt jetzt dazu eine Sitzung (B) rufe von der SPD: Nur Gesülze! – Leider nur ein, die ich in dieser Woche im Ministerium hatte. Es (D) Gequatsche! – Kein einziger klarer Gedan- geht darum, dass für eine abbruchreife WAK-Anlage, die ke! – Keine Vorschläge!) in meinem Wahlkreis steht, wieder einmal 80 Millionen aus dem Forschungshaushalt herübergeschoben werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich habe den Vertreter des Ministeriums gefragt: Warum eigentlich müssen wir dafür zahlen, dass eine abbruch- Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der reife WAK-Anlage – diese Wiederaufarbeitungsanlage SPD-Fraktion. wurde damals von Ihnen gepuscht – abgebrochen wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den muss? Daraufhin hat er mir gesagt: Dabei handelt es sich um einen begnadeten Vertrag, den Herr Riesenhuber Jörg Tauss (SPD): noch abgeschlossen hat. Damals ging man davon aus, dass die Abbruchkosten bei 2 Milliarden liegen. Liebe Ungeachtet dessen, lieber Kollege Riesenhuber, dass Frau Pieper, wenn wir über Subventionen reden, dann wir uns alle fragen, wo die Substanz Ihrer Rede gewesen gehört auch Folgendes dazu: Bei der Kernkraft kostet sein mag, möchte ich doch sagen: Mit Ihnen macht es im der Abbruch allein dieser Anlage 2 Milliarden. Damals Gegensatz zu Frau Reiche wenigstens Spaß. Übrigens, wurde zwischen Riesenhuber und der Industrie verein- einer Ihrer Fraktionskollegen hat kürzlich zu mir gesagt, bart: 1 Milliarde – damals D-Mark – zahlt die Industrie; ich solle mich nicht aufregen, Frau Reiche werde poli- 1 Milliarde zahlt der öffentliche Bereich. Zwischenzeit- tisch nur falsch geführt. Machen Sie das einmal Ihrer lich sind wir bei Abbruchkosten von 4 Milliarden DM Fraktionsführung klar; denn schon bei Ihnen wird das so angekommen; es sind jetzt also 2 Milliarden Euro. Nur wahrgenommen. ist folgendes Interessante passiert: Die Industrie bleibt (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Marion bei 1 Milliarde DM und die übrigen 3 Milliarden DM Seib [CDU/CSU]: Das ist dummes Zeug!) sind von der öffentlichen Hand und damit vom Steuer- zahler aufzubringen. Dieses Geld fehlt heute im For- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ste- schungsetat. Das waren Ihre Verträge, Herr Riesenhuber; hen der Bundesbericht Forschung 2004 und zwei An- sie stellen einen Teil des Ärgers dar, den wir heute ha- träge der Opposition zur Forschungs- und Innovations- ben. politik auf der Tagesordnung. Das dicke Werk liegt auf dem Tisch. Seit Mai konnte man das übrigens schon (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nachlesen; jetzt hat es nur noch eine Drucksachennum- DIE GRÜNEN – René Röspel [SPD]: Die mer bekommen, lieber Kollege Riesenhuber. Ich würde wollen ja noch mehr Kernkraft!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10531

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Energieversorgung investiert hätten, sähen die energie- (C) Herr Kollege Tauss, Kollege Professor Riesenhuber politische Bilanz und die deutschen Erfolge auf dem würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Weltmarkt anders aus. Darum geht es mir. Sie das? (Albert Deß [CDU/CSU]: In Bayern haben wir den höchsten Anteil an regenerativer Energie!) Jörg Tauss (SPD): Lieber Herr Riesenhuber, im Grunde wollte ich heute Zu der ständigen Forderung der Industrie „Rein in die keine Zwischenfragen zulassen, weil ich eigentlich seit Kernkraft“ muss ich sagen: Sie muss dann, egal ob For- 11 Uhr einen wichtigen innovationspolitischen Termin schungsreaktor oder nicht, die finanzielle Verantwortung habe. Bei Ihnen mache ich jetzt eine Ausnahme. Aber dafür übernehmen. Ihre Forderungen müssen dann auch nur ganz kurz, bitte. aus ihrer Kasse und nicht nur vom Forschungsetat und vom Steuerzahler finanziert werden. Davon bin ich zu- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Gnädig!) tiefst überzeugt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): DIE GRÜNEN) Ich vermute, dass die Anlage, über die Sie sprechen, in Karlsruhe steht. Auch über die Windkraft wird immer wieder debat- tiert. Der Kollege Fell hat das eine oder andere, so zum Beispiel die Subventionen, die keine Subventionen sind, Jörg Tauss (SPD): angesprochen. Dafür bin ich Ihnen, Kollege Fell, dank- Ja! bar. Die Subventionskurve verläuft degressiv – Herr Riesenhuber, Sie fordern von uns Subventionsabbau –, Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): und genau das ist richtig. Ferner vermute ich, dass es sich dabei um einen For- schungsreaktor handelt. Der Staat hat bei der Entwicklung Vorleistungen er- bracht und in den Bereich der erneuerbaren Energien in- vestiert. Sie und wir haben geforscht; da werfe ich Ihnen Jörg Tauss (SPD): den Growian gar nicht vor. Die Erkenntnisse, die wir da- Ja! mals bezüglich der Großtechnologien und der Offshore- Windparks am Meer gewonnen haben, können wir heute Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): sehr gut verwenden. Darüber besteht kein Dissens. Die Außerdem vermute ich, dass dies ein Reaktor ist, der Subventionen werden richtigerweise ständig zurückge- (B) in der Zeit von Bundeskanzler Schmidt, SPD, errichtet fahren. (D) worden ist, und ich vermute, dass die Vereinbarungen, Wir müssen in diesem Bereich weiter forschen und um die es hier geht, getroffen worden sind – daran erin- neue Techniken am Markt einführen. Wenn diese sich nere ich mich –, um eine erhebliche Erhöhung der ur- am Markt etabliert haben, müssen wir dafür sorgen, dass sprünglich vereinbarten Summe festzulegen. Die Indus- wir die Mittel für neue Projekte freisetzen. Das ist intel- trie zu überzeugen, einen Forschungsreaktor, der von ligente Politik und der Kerngedanke des Gesetzes zur staatlichen Wissenschaftlern erfunden und vom Staat ge- Energieeinspeisung, zu dem wir übrigens einmal eine baut worden ist, mit Milliarden zu unterstützen – wir ha- gemeinsame Position – das hat sich heute geändert – hat- ben 1 Milliarde, wie Sie sagen, vereinbart –, das ist ten. schon eine beachtliche Leistung. Was ich erwartet hätte, wäre, dass Sie sagen: Lieber Herr Riesenhuber, das ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben Sie fantastisch gemacht; wir hätten nie geglaubt, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass es möglich ist, bei der Industrie durchzusetzen, dass Frau Reiche, Sie haben sich heute wieder bemüht, al- sie für eine staatliche Investition einsteht. – Insofern, lie- les schlechtzureden. Ich weigere mich, alles gutzureden. ber Herr Tauss: bitte mehr Dankbarkeit! Übrigens, der Artikel aus der „FAZ“ war nicht ganz rich- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und tig; die Ehre gebührt ein Stück weit meinem Kollegen der FDP) Fell. Herr Schwägerl hat hier falsch zitiert. Aber es ist ein anderes Thema, was die „FAZ“ vor welchem Hinter- grund und mit welcher Absicht auch immer schreibt. Jörg Tauss (SPD): In manchen Punkten waren Sie, lieber Herr Richtig ist: Wir wollen mehr Geld und wir werden Riesenhuber, im Gegensatz zu Ihren Nachfolgern wirk- über das Geld jetzt und in der Beratung über den Bun- lich nicht schlecht. An diesem Punkt muss ich Ihnen deshaushalt reden. Jetzt wollen wir aber mal über das jetzt aber ganz ehrlich sagen: Die Geschichte hinkt. Ich Geld aus Ihrer Bilanz reden. Frau Ministerin Bulmahn weise nur deswegen darauf hin, weil hier immer wieder hat bereits darauf hingewiesen: Sie haben von 1992 bis insbesondere in Bezug auf die nachwachsenden Roh- 1998 die Mittel für den Bereich Bildung und For- stoffe und die regenerativen Energien so getan wird, dass schung um 670 Millionen Euro gekürzt. Wenn es um Bi- der Staat Unheimliches leistet. Ich weiß, dass es auch lanzen geht, gehört es zur Fairness, dass Sie einmal sa- während unserer Regierungszeit Fehlentwicklungen in gen: Die Reduzierung in unserer Regierungszeit um Sachen Kernkraft gegeben hat, aber wenn Sie das Geld, 670 Millionen Euro war ein Fehler. – Wenn das die Basis das Sie damals hatten, in andere Formen dezentraler für ein gemeinsames Gespräch wäre, kämen wir 10532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Jörg Tauss (A) wahrscheinlich weiter. Wir dagegen haben die Ausgaben immer für Bildung und Forschung entscheiden, auch (C) für Forschung und Entwicklung um 1 Milliarde auf rund wenn das nicht populär ist. 9 Milliarden gesteigert. Das ist Fakt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Marion Hier wird immer wieder Herr Rüttgers angesprochen. Seib [CDU/CSU]: Stichwort Steinkohle!) Dazu möchte ich sagen: Die Kürzungen der Mittel hatte Ich wünsche mir, dass auch Sie einmal etwas derart Un- Herr Rüttgers zu verantworten. Da er immer wieder in populäres sagen und nicht so tun, als ob in diesem Lande Talkshows eingeladen wird, in denen er sich sehr elo- alles möglich wäre: mehr Gesundheit, weniger Beiträge, quent über das Thema Bildung und Forschung auslässt, weniger Steuern, mehr Straßen, höhere Renten. Sie ver- (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Da wollen Sie sprechen alles und gelegentlich auch mehr Bildung, ob- auch mal hin! Es lädt Sie nur keiner ein!) wohl Sie von dem Wahlverhalten der Bevölkerungs- schichten mit der geringsten Bildung am meisten muss ich noch einmal darauf hinweisen, dass er dafür die profitieren. Verantwortung trägt. Die kann ihm auch keiner abneh- Haben Sie doch einmal den Mut, an dieser Stelle zu men. sagen „Hier würden wir selbst Prioritäten setzen“, an- Ich frage mich übrigens ganz nebenbei, woher eigent- statt immer allen alles zu versprechen. Am Schluss blei- lich der schlechteste Bildungs- und Forschungsminister, ben die Menschen immer enttäuscht zurück. Wir wollen den wir in diesem Lande jemals hatten, für sich die Be- in diesem Haushalt Prioritäten für Bildung und For- rechtigung ableitet, das Land Nordrhein-Westfalen zu re- schung auch dann, wenn wir uns bei der einen oder an- gieren. Ich denke, auch die Nordrhein-Westfalen müssen deren Rentnerin oder bei der einen oder anderen Bevöl- wissen, was unter der Ägide des Herrn Rüttgers passiert kerungsgruppe gelegentlich unbeliebt machen. Dieser ist. Genau in diesem wichtigen Zukunftsbereich ist mas- schwierigen Aufgabe stellen Sie sich nicht und dies siv gekürzt worden, werfe ich Ihnen vor. Das ist Ihr großes politisches Ver- sagen in diesem Lande. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) weil er bei lieb Kind sein wollte, während Ohne Bildung fehlen uns die Fachkräfte von morgen. er bei Herrn Waigel nicht einmal am Pförtner vorbeige- Das ist völlig klar. Ich hoffe, wir sind uns darin einig, kommen ist, wenn er seine Etatvorstellungen einreichen dass wir unsere wichtigsten Ressourcen stärken müssen, wollte. Auch das muss der Korrektheit halber einmal ge- nämlich das Wissen und Können der Menschen in sagt werden. (B) Deutschland, unsere technologische Leistungsfähigkeit (D) Vo m 3-Prozent-Ziel – darüber sind wir uns alle und die Innovationskraft unserer Unternehmen. einig – sind wir noch weit entfernt. Die Frau Staatssekre- Genau deshalb unternehmen wir unsere Initiativen. tärin schaut uns interessiert an. Liebe Barbara Eines übrigens ganz nebenbei – auch die Ministerin hat Hendricks, wir suchen natürlich auch im Finanzministe- über unsere Initiative zur Förderung von Spitzenuniver- rium nach Verbündeten. Aber ich stimme dem Finanzmi- sitäten gesprochen –: Selbstverständlich besteht hier im nister und dem Ministerium völlig zu: Verbündete brau- internationalen Vergleich Handlungsbedarf. Meine sehr chen wir nicht nur im Finanzministerium, sondern auch verehrten Damen und Herren, werfen Sie doch einmal und vor allem dort, wo die Freunde von der anderen einen Blick in den Bundesbericht Forschung 2004. Ich Seite durch ihre Mehrheit im Bundesrat Verantwortung habe zuvor schon an Sie appelliert, sich den Bericht an- tragen. zuschauen. Damit sind wir in der Tat beim Thema Eigenheimzu- Sie fordern – darüber haben wir gestern diskutiert – lage. Ich weiß, das ist ein Thema, über das auch bei uns eine Novellierung des Berufsbildungsrechts. – Tun wir. strittig diskutiert wird und werden muss. Es geht hier Sie fordern, dass Spitzenleistungen an Hochschulen be- auch um die Realisierung der Träume kleiner Leute nach sonders unterstützt werden. – Die Vereinbarungen mit einem eigenen Haus. Das ist völlig klar. Aber gerade den Ländern haben wir getroffen. Am 9. Juli wird in der weil Sie nur populistische Wahlkämpfe bestreiten und BLK noch einmal darüber diskutiert, damit durchs Land ziehen, werden wir doch eine Frage stellen dürfen. Ist es in einer Zeit, in der die Marktzinsen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beim Bauen geringer sind als früher Bausparzinsen und in einem Gremium, das Sie ganz nebenbei abschaffen in der wir große bildungspolitische Probleme haben wollen. Also, auch das machen wir. – ich nenne beispielhaft PISA und die Probleme an den Universitäten –, wirklich unzumutbar, darüber in diesem Sie fordern, die Forschung an Hochschulen durch Land eine Diskussion zu führen und zu sagen: Den jun- Kooperation und Vernetzung zu stärken. – Tun wir. gen Menschen, von denen auch einige heute hier auf der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Tribüne sitzen, verhelfen wir zwar gern zu einem Häus- chen, aber wenn die Alternative dazu marode Hochschu- Sie fordern, die Einführung eines Wissenschaftstarifver- len, marode Universitäten und ein schlechtes Bildungs- trages zu prüfen. Das ist ja goldig. Wir prüfen nicht nur, system bedeutet, ist für mich zumindest in Zeiten sondern wir arbeiten seit geraumer Zeit daran. Wir kom- knapper Kassen die Entscheidung klar: Ich würde mich men aber bei den Ländern keinen Millimeter weiter. Es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10533

Jörg Tauss (A) gibt kein einziges Land – auch keines, in dem die FDP den Ländern versäumen, durch seine Etatmittel ausglei- (C) mitregiert, liebe Frau Pieper –, das bisher eine Initiative chen? So bekloppt ist das BMBF in der Tat nicht. zur Einführung eines Wissenschaftstarifvertrages ergrif- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen und fen hätte. Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Cornelia Pieper [FDP]: Doch! Baden- – Wir wären bekloppt, wenn wir das täten. Württemberg!) Hier muss die Verantwortung der Länder eingefor- Machen Sie doch etwas in diesem Bereich! Ich habe dert werden. Auch der Finanzminister sagt uns völlig zu überhaupt nichts dagegen. Da sind wir uns einig. Recht: Lieber Herr Tauss und lieber Herr Fell, erwartet (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des bitte nicht, dass der Bund die Versäumnisse der Länder Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE ausgleicht. Denn letztendlich würde das zu einem Null- GRÜNEN]) summenspiel bei den Investitionen in Bildung und For- schung führen und das sollten wir nicht betreiben. Der Kollege Körper kann bestätigen, dass wir diese For- derung nach einem Wissenschaftstarifvertrag, die uns (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schon mehrere Male in nächtlichen Runden zusammen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geführt hat, miteinander realisieren wollen. Die Länder aber müssen mitmachen. Darf ich sagen, dass es an der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Regierung nicht scheitern wird, wenn die Länder mitma- Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege! chen? – Der Regierungsvertreter, der derzeit nicht auf der Regierungsbank sitzt, nickt. Jörg Tauss (SPD): Der nächste Punkt betrifft das Hochschulrahmen- Lieber Herr Präsident, Ihren Einwurf an dieser Stelle gesetz. Sie wollen jegliche Hochschulrahmenregelungen befürchtend, habe ich die kommende Passage in meinem abschaffen. So haben wir es von Ihnen bei der Föderalis- Manuskript bereits durchgestrichen, weil mir klar war, muskommission gehört. Der Herr Röttgen will sogar die dass meine Redezeit dafür nicht mehr ausreicht. berufliche Bildung so ganz nebenbei in Länderverant- Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit wortung überführen. Frau Seib, ich freue mich auf die und richte an Sie, Frau Kollegin Reiche, nur noch den ersten bayerischen Kfz-Mechaniker, Wunsch: Lesen Sie den Bericht und kehren Sie in der (Marion Seib [CDU/CSU]: Die sind bestimmt Forschungs- und Bildungspolitik zu einer sachlichen De- Spitze!) batte zurück. Dann macht es auch mehr Spaß. Lieber (B) Kollege Riesenhuber, Sie sind immerhin ein Beispiel da- (D) die ersten nordrhein-westfälischen Versicherungskauf- für, wie man Debatten belebt. Das ist etwas, was Ihren leute usw. Lassen Sie diesen Unfug! Holen Sie Ihren Nachfolgern noch fehlt. Aber das ist ein anderer Punkt. Herrn Röttgen und einen Teil Ihrer Ministerpräsidenten Ich wünsche noch einen schönen Tag. auf den Boden der Vernunft zurück! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Cornelia Pieper [FDP]: Das wünschen wir uns Jetzt komme ich zu den Gütern der Hoch- und Spit- auch!) zentechnologie. Ich stimme Ihnen zu, dass wir auch hier besser sein könnten. Bei forschungsintensiven Gütern Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: liegen wir aber weltweit auf Platz 2. Das ist nun keine Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer schlechte Ausgangsbasis. Wir haben uns diesen Platz in von der CDU/CSU-Fraktion. den letzten Jahren weiß Gott hart erkämpft. Diese Posi- tion bröckelt an einigen Punkten – übrigens mehr zu Ih- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rer Zeit als zu unserer Zeit; das hängt mit den Kürzungen neten der FDP) zusammen – und daher müssen wir den Weltmarktanteil erhöhen. Aber dazu brauchen wir auch die Finanzminis- Michael Kretschmer (CDU/CSU): ter der Länder. Es kann nicht sein, dass der Bund in Bil- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Vision dung und Forschung investiert, seinen Haushalt um beschreibt man bekanntlich die Kunst, Unsichtbares zu 30 Prozent aufstockt, wie wir es gemacht haben, und die sehen. Darauf scheint sich unsere Bundesforschungs- reichen Länder – ich rede jetzt nicht von Berlin, das ist ministerin sehr gut zu verstehen. Denn die Flut der fro- schlimm genug – wie etwa Bayern in ihrem Zuständig- hen Botschaften, die aus dem BMBF immer wieder auf keitsbereich abbauen und kürzen, wie die Demonstratio- uns einprasseln, kann nur so begründet werden. Liebe nen der Studierenden gezeigt haben. Frau Ministerin, Sie können zwar die Anzahl Ihrer Pres- semitteilungen verdoppeln und die Schlagzahl noch wei- Ganz nebenbei: Es gibt Länder wie Rheinland-Pfalz ter erhöhen, aber schon heute druckt niemand mehr das, – auch dieses Land ist nicht mit Gütern in unendlich gro- was Sie herausgeben; denn es ist klar, dass das, was von ßer Zahl gesegnet –, das für seine Unis ein zusätzliches Ihnen kommt, mehr Schein als Sein ist. Programm in einer Größenordnung von 125 Millionen Euro aufgelegt hat. In Bayern wird gekürzt, in Rhein- Ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Wir werden es land-Pfalz aufgestockt und der Bund soll das, was Sie in Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie sich, weil Sie 10534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Michael Kretschmer (A) Ihre Hausaufgaben in der Gegenwart nicht richtig ma- fördern: Ideen sollen bis zur Marktreife entwickelt wer- (C) chen, auf Ihr Motto „Deutschland. Das von morgen.“ zu- den und dann zu attraktiven Arbeitsplätzen für den aka- rückziehen und uns auf die Zukunft vertrösten. Nein, wir demischen Nachwuchs, gerade in den neuen Bundes- müssen heute das Fundament legen, damit wir in Zu- ländern, führen. Denn wir wissen ja, dass junge kunft erfolgreich sein können. Wissenschaftler oft bis zur Promotion in den neuen Län- dern bleiben und dann abwandern. Wir müssen ver- (Beifall bei der CDU/CSU) suchen, zu erreichen, dass diese Leute in den neuen Län- Wie sieht diese Zukunft aus? Gerade haben die IHKn dern bleiben. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bevor wir aus Sachsen und wohl auch aus anderen Bundesländern das Geld in die Viadrina stecken, sollten wir es lieber für an den Bundeskanzler geschrieben und ihn aufgefordert, so ein Projekt nehmen; davon haben alle neuen Länder doch endlich das umzusetzen, was man im Hightech- etwas, da ist es auf jeden Fall sinnvoller angelegt. Masterplan versprochen hat. Wir stellen immer wieder (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: fest: Im von Ihnen ausgerufenen „Jahr der Innovation“ Unverschämtheit! So reden Sie über eine Spit- kürzt die Bundesregierung im Forschungshaushalt, al- zenuniversität in Ostdeutschland! – Weitere lein im Bereich der Projektmittel – wenn es also, was Zurufe von der SPD) auch Sie gesagt haben, um Wettbewerb geht – in diesem Jahr um 11 Prozent. Da können Sie uns viel darüber er- Meine Damen und Herren, wir machen den Menschen zählen, welche Mittel Sie in der Vergangenheit aufge- Hoffnung, dass mit Innovation, mit Technologie Arbeits- stockt haben. Heute wird gekürzt, und da die Mittelbin- plätze hier in Deutschland entstehen können, dass wir im dung in den langfristigen Programmen sehr hoch ist, Wettbewerb – gerade dem im Zuge der EU-Osterwei- kann in vielen Bereichen nicht ein einziges neues Projekt terung, aber auch allgemein im Zeichen der Globalisie- begonnen werden. Darauf komme ich noch zurück. rung – bestehen können. Doch wie ist die Wirklichkeit? Exemplarisch möchte ich auf Pro Inno eingehen, ein Eines der zukunftsträchtigsten Projekte ist das europäi- wichtiges Programm, durch das vor allen Dingen die sche Satellitennavigationssystem „Galileo“, mit Innovationskompetenz in mittelständischen Unterneh- 3,5 Milliarden Euro ein großes Gemeinschaftsprojekt men vorangetrieben werden soll. Pro Inno I wurde im der Europäischen Union. Wir zahlen davon gut und Oktober 2001 vorzeitig und abrupt gestoppt; nicht weil gerne 20 Prozent. Beim ersten Call, als es um die Aus- die Unternehmen keine Ideen mehr hatten oder weil die schreibung vorbereitender Maßnahmen ging, sind nur Qualität der Anträge gering war, sondern weil der Regie- 9 Prozent des Budgets an deutsche Unternehmen gegan- rung das Geld für Innovationen fehlte. gen. Der Grund dafür ist relativ einfach: Die Technolo- giepolitik dieser Bundesregierung ist in keiner Weise Seit acht Monaten warten die betroffenen Betriebe strategisch aufgebaut, (B) (D) nun darauf, dass das Nachfolgeprogramm Pro Inno II endlich gestartet wird – vergeblich. Ich prophezeie Ih- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie bitte?) nen, dass es auch bis Ende dieses Jahres nicht gestartet deshalb fällt auch der Nutzen für unser Land gering aus. wird, weil das BMWA bei den Innovationsprojekten Andere Länder stocken ihre Etats für Luft- und Raum- bzw. -programmen eine Sperre von 15 Prozent verhängt fahrt auf, um Kompetenz aufzubauen und dann bei sol- hat. Das führt dazu, dass keine neuen Projekte mehr be- chen strategischen Projekten erfolgreich zu sein. Rot- willigt werden können, weil die Vorlaufphase so lang Grün kürzt stattdessen den Titel „Forschungsförderung und die Bugwelle so hoch sind. von Technologievorhaben der zivilen Luftfahrtindus- (Jörg Tauss [SPD]: Da sehen Sie, wie wichtig trie“. Das Ergebnis, meine Damen und Herren, ist ver- das ist!) heerend: Deutschland bezahlt den Wirtschaftsauf- schwung in anderen Ländern – Herr Tauss, für Pro Inno II sind für das Jahr 2004 Mit- tel in Höhe von 108 Millionen Euro angekündigt wor- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: So ein den. Bisher ist jedoch nicht ein einziger Cent ausgezahlt Unsinn!) worden. Über 600 Unternehmen warten auf Geld, das und verspielt die Chance auf neue Arbeitsplätze für die ihnen im vergangenen Jahr zugesagt worden ist, das sie eigene Bevölkerung. Hier müssen wir dringend gegen- aber bis heute nicht bekommen haben. Ihr Hightech- steuern: Wir brauchen eine strategische Forschungs- Masterplan, Frau Bulmahn, liest sich mittlerweile wie politik. Kommen Sie endlich in die Gänge: Forschungs- eine Mischung aus Märchenbuch und Sündenregister. politik ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Arbeitsplätze hier in unserem Land zu schaffen. Cornelia Pieper [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, innovativ ist, wer auf be- sondere Situationen besondere Antworten findet. Die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: DFG hat dies wieder einmal getan und Vorschläge für Das Wort hat jetzt die Kollegin Marion Seib von der Innovationsgruppen in den neuen Ländern unterbreitet. CDU/CSU-Fraktion. Wenn die Bundesregierung wirklich zukunftsweisend sein will, setzt sie diese Vorschläge um. Die DFG will Marion Seib (CDU/CSU): – aufbauend auf bestehenden Forschungsvorhaben – ge- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen zielt Kooperationen von Wirtschaft und Wissenschaft und Kollegen! Die Geschichte kennt Beispiele verpass- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10535

Marion Seib (A) ter Gelegenheiten zur Reform. Das klassische ist das schulen in Europa zu definieren und um sich die Studie- (C) China des 16. Jahrhunderts – vielleicht ist Ihnen das renden und ihr Personal auszusuchen. neu –: Hatte das Reich nicht stolze Schiffe, den Buch- Es geht in dieser Diskussion aber auch und vor allem druck und ganz viele Gelehrte? Wozu also etwas ändern? um die Setzung der Innovations- und Forschungs- So dachte man. Doch die Bürokratie erstickte jede Initia- schwerpunkte. Innovationspolitik ist mehr als Energie- tive. Dann kam Europa und China fiel zurück. politik. Wir Deutschen haben trotz Hü und Hott der rot-grü- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter nen Regierung noch viel Innovatives – zweifelsohne –: Rossmann [SPD]: Genau das tun wir!) exzellente Forscher, Ingenieure, Hightech-Firmen. Deutschland verkauft seine Autos in alle Welt und nennt Sie aber, verehrte Damen und Herren von Rot-Grün, sich selbst Exportmeister. Wozu also etwas ändern? eiern herum, in der Gen- und Nanotechnologie genauso wie in der Kern- und Fusionsforschung. Die Globalisierung zwingt uns aber, kritischer zu sein und hinzusehen: Eine von der Universität Schanghai auf- (Jörg Tauss [SPD]: Wo?) gestellte Rangfolge der 500 besten Hochschulen hat un- Beim Transrapid, bei der Maut und in der Gentechnik erbittlich klargestellt, wo deutsche Bildungsstätten heute leisten Sie Offenbarungseide. Wir haben es heute Mor- im internationalen Wettbewerb spielen, nämlich in der gen mitbekommen: Im Tunnelbau und im Brückenbau zweiten Liga. Deutsche bekommen zwar noch immer geht vorhandenes Wissen dramatisch verloren, weil die Nobelpreise, aber meist forschen sie seit Jahren in den Anwendung fehlt und die Forschung hierzu eingestellt USA oder abseits der Uni in Einrichtungen wie den wird, Max-Planck-Instituten. (Jörg Tauss [SPD]: Der einzig unsichere Tun- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Von uns nel ist laut ADAC-Bericht in Baden-Württem- gefördert! Reden Sie nicht alles schlecht!) berg!) Deutsche Unternehmen forschen und entwickeln zuneh- obwohl in diesen Feldern andere Staaten – weltweit – mend im Ausland. 2001 – hören Sie zu, Herr Kollege! – riesige Fortschritte machen. gaben sie dort bereits 36 Prozent ihrer Forschungsetats aus; 1999 war es erst etwa ein Viertel. Die Zahl der Ab- Forschung und Entwicklung brauchen langfristige solventen in den ingenieurwissenschaftlichen Kern- Planungssicherheit und Anwendungsmöglichkeiten. Un- gebieten ist in den vergangenen Jahren bereits um rund ternehmen brauchen berechenbare Rahmenbedingungen. ein Drittel gesunken. Geben Sie der Wissenschaft und der Wirtschaft die Mög- lichkeit, sich selbst zu entfalten; denn nur so erwächst je- (B) (D) (Jörg Tauss [SPD]: Das waren aber die Stu- nes Selbstbewusstsein, aus dem die großen Leistungen dienanfänger zu Ihrer Zeit! Wie lange dauert entstehen, auf die Deutschland wirklich dringend ange- denn ein Studium?) wiesen ist. Der Verein Deutscher Ingenieure hat errechnet, dass Jahr (Beifall bei der CDU/CSU) für Jahr 20 000 Ingenieure fehlen werden; das ist eine Prognose für die Zukunft, verehrte Kollegen. Noch einmal: Was ist notwendig? Der Haushaltsentwurf, den Forschungsministerin (Jörg Tauss [SPD]: Eine bessere Opposition!) Bulmahn für das Jahr 2005 vorgelegt hat, spiegelt das Erstens brauchen wir deutlich mehr Geld für die For- ganze Versagen der Regierung wider. Die Sozialsysteme schung, für die Lehre und für Investitionen. Solange der und das Subventionsunwesen – hier sei das Stichwort öffentliche Bildungs- und Forschungsetat nicht höchste Steinkohle erwähnt – sind so zu reformieren, dass die Priorität hat und die Ministerin nicht erklären kann, wo- notwendigen produktiven Mittel für Bildung und For- her das bereits versprochene Geld kommt, sägt Deutsch- schung freigesetzt werden. land an dem Ast, auf dem es sitzt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zweitens brauchen wir eine Verbesserung der Rah- neten der FDP) menbedingungen für Unternehmen, insbesondere für Neugründungen. Erst wenn es wieder Freude macht, et- Vor allem kann die Ministerin hier und heute nicht erklä- was zu unternehmen, wird es auch wieder Unternehmer ren, wo sie die öffentlich versprochenen Mittel her- geben. Merken Sie sich: Wer Arbeitsplätze will, der nimmt. braucht Arbeitgeber. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. muss im Bereich Forschung und Entwicklung wieder an Cornelia Pieper [FDP] – Cornelia Pieper die Weltspitze und dafür benötigen wir ein zukunfts- [FDP]: Kluger Satz!) trächtiges Hochschulsystem. Die Hochschulen brau- chen vor allem mehr Freiheit, auch die Freiheit, Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine exzel- Studienbeiträge zu erheben und über das Geld eigenver- lente Bürokratie ist ein Standortvorteil. Eine aufge- antwortlich zu verfügen. Die Hochschulen brauchen die blähte Demokratie ist ein Standortnachteil. Deshalb Freiheit, um die Balance zwischen Forschung und Lehre brauchen wir – ich sage das in aller Deutlichkeit – eine zu finden, und sie brauchen die Freiheit, um ihre Positio- Brandrodung des Dickichts der Bürokratie, die inzwi- nen und ihr Profil im Wettbewerb mit anderen Hoch- schen mandarinenhafte Züge angenommen hat und die 10536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Marion Seib (A) Forscher und Unternehmer mit ihrem Antrags- und For- Berichterstattung: (C) mularwesen schikaniert und blockiert. Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach) Clemens Binninger (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn Ulrike Flach [FDP]) Ernst Burgbacher Nehmen Sie Abschied von Ihrem zentralistischen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Herrschaftsgehabe, wie es gerade wieder auf der Regie- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre rungsbank demonstriert wird, und folgen Sie unserem keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Antrag mit seinen Empfehlungen! Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Da sitzt eine ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Mandarine auf der Regierungsbank!) Körper das Wort. Dann wird es in unserem Land mit der Innovations- und Investitionsfreude wieder bergauf gehen. Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- Besten Dank. desminister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vorliegenden Gesetzentwurf zur Neuregelung von Luft- sicherheitsaufgaben stellt die Bundesregierung den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schutz der zivilen Luftfahrt vor kriminellen oder terro- Ich schließe die Aussprache. ristischen Angriffen auf eine gute, qualifizierte und übersichtliche Grundlage. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2971, 15/3300 und 15/3332 an die Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Mitarbeite- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- rinnen und Mitarbeitern der beteiligten Ressorts und ins- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der besondere den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen Fall. Dann ist so beschlossen. ein herzliches Dankeschön für die geleistete Arbeit, aber auch für die gute Diskussion und die daraus folgenden Ich rufe die Zusatzpunkte 14 a und 14 b auf: Entscheidungen im politischen Bereich zu sagen. a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes DIE GRÜNEN) zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben (B) Der Gesetzentwurf schafft eine zuverlässige Voraus- (D) – Drucksache 15/2361 – setzung für die Streitkräfte, um die Polizei bei ihren Auf- (Erste Beratung 89. Sitzung) gaben wirksam zu unterstützen, wenn dies die einzige Möglichkeit zur Abwendung einer Gefahr für das Leben – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- von Menschen ist. Auch die Zulässigkeit eines Flug- neten Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang zeugabschusses wird in sehr engen Grenzen geregelt. Es Schäuble, Hartmut Koschyk, weiteren Abgeord- wäre unredlich und unverantwortlich, einer Klärung ge- neten und der Fraktion der CDU/CSU einge- rade in diesem extremen Fall auszuweichen. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a) Auf der Basis von Art. 35 unseres Grundgesetzes bie- tet der Gesetzentwurf die Rechtssicherheit, auf die ins- – Drucksache 15/2649 – besondere die Angehörigen der Streitkräfte Anspruch haben. (Erste Beratung 100. Sitzung) (Beifall bei der SPD) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- schusses (4. Ausschuss) Ich halte es für einen Vorteil, dass die Sicherheitsarchi- tektur der Verfassung mit ihren knappen, aber ausrei- – Drucksache 15/3338 – chenden Bestimmungen nicht angetastet und kein Tor Berichterstattung: für weiter gehende Forderungen geöffnet wird. Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach) Clemens Binninger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ernst Burgbacher Zu Recht halten wir an der bewährten Trennung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zwischen Polizei und Bundeswehr fest. Das neue Luft- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem sicherheitsgesetz fasst daneben erstmals alle Regelungen Antrag der Abgeordneten Clemens Binninger, zusammen, die der Abwehr von Gewaltakten gegen den Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Ab- Luftverkehr dienen. Der zugrunde liegende Leitsatz lau- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU tet: Luftsicherheit aus einer Hand. Mehr Sicherheit im Luftverkehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD – [CDU/CSU]: Einer sehr ruhigen – Drucksachen 15/747, 15/3338 – Hand!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10537

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Neben den Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte Rahmen an Sicherheitsstandards und ist dort mit seinen (C) handelt es sich hierbei um die Vorschriften bezüglich der Sicherheitsbehörden tätig, wo er selbst die hoheitliche Eigensicherungsmaßnahmen der Flughafenbetreiber und Verantwortung trägt. Ebenso müssen die privaten Betrei- Luftfahrtunternehmen, die hoheitlichen Maßnahmen zur ber in dieser Sicherheitspartnerschaft ihre Aufgaben Kontrolle der Passagiere und ihres Gepäcks sowie die wahrnehmen. Aber – das füge ich hinzu – wir werden im Regelungen über die Zuverlässigkeitsprüfung von Perso- Rahmen der Umsetzung der EG-Luftsicherheitsverord- nengruppen im Bereich der Luftfahrt. Wichtig ist, dass nung darauf achten, dass es nicht zu ungebührlichen diese Regelungen im Einklang mit der internationalen Wettbewerbsverzerrungen kommt. Dafür werden wir uns Entwicklung stehen. Das möchte ich hier ausdrücklich in Europa einsetzen. festhalten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Wir straffen die Zuständigkeiten und schaffen eine ein- heitliche Aufsicht durch das Bundesministerium des In- Ich glaube, dass uns mit der Verabschiedung dieses nern. Wir passen wichtige Vorschriften der seit Gesetzes ein wichtiger Schritt zur Gewährleistung der Januar 2002 geltenden europäischen Luftsicherheitsver- Sicherheit dieses bedeutenden Verkehrsträgers gelungen ordnung an und erweitern den Kreis der Personen, die ist. Dies dient auch dem Vertrauen der Bevölkerung und sich einer Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen müssen. damit ist mittelbar ein wesentlicher Beitrag für den wei- teren wirtschaftlichen Erfolg dieser Branche geleistet Gestatten Sie mir einen Hinweis im Hinblick auf die worden. Diskussion im Innenausschuss. Die Herausnahme der Nachberichtspflicht für die Sicherheitsbehörden der Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Länder im Zusammenhang mit den Regelungen zur Zu- verlässigkeitsprüfung begründet entgegen den Behaup- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tungen der Opposition keine Sicherheitslücke. DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort hat jetzt der Kollege Clemens Binninger NEN]) von der CDU/CSU-Fraktion. Im Gegenteil: Die seit langem praktizierten Überprüfun- gen unter anderem des Flughafenpersonals werden zur- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dieter zeit – das möchte ich hier deutlich unterstreichen – in Wiefelspütz [SPD]: Aber heute bitte mit Maß, (B) dieser umfassenden Form weltweit nur in Deutschland Herr Binninger!) (D) durchgeführt. Clemens Binninger (CDU/CSU): (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Hört zu!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Es bleibt bei der Nachberichtspflicht der Sicherheits- Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute in zweiter behörden des Bundes. Durch den bereits vorhandenen und dritter Lesung über das Luftsicherheitsgesetz ab- intensiven Informationsaustausch zwischen den Sicher- schließend beraten, heitsbehörden von Bund und Ländern, insbesondere die (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Zugriffsmöglichkeit auf das gemeinsame nachrichten- GRÜNEN]: Das ist gut so!) dienstliche Informationssystem, abgekürzt NADIS ge- nannt, ist sichergestellt, so gibt es in einem Punkt keinen Streit, nämlich dass wir angesichts der terroristischen Bedrohung alles tun müs- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wie denn?) sen, um die Sicherheit im Luftverkehr zu erhöhen und dass alle wesentlichen Erkenntnisse den Luftsicherheits- die Gefahr von Anschlägen zu reduzieren. Alleiniger behörden nachberichtet werden können. Maßstab für unsere Debatte muss daher sein: Erreicht die Bundesregierung mit dem vorgelegten Gesetzent- Abschließend noch eine Anmerkung zu den Klagen wurf diese Ziele oder erreicht sie sie nicht? aus dem Bereich der Industrie, ihr würden mit diesem Gesetzentwurf Sicherheitsaufgaben aufgebürdet, die in (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da haben Sie die Verantwortung des Staates fallen. Dem widerspre- Recht!) che ich ausdrücklich. Bei sämtlichen Vorhaben im Rah- In diesem Zusammenhang fällt schon auf, dass die men der Terrorismusbekämpfung muss uns allen klar Bundesregierung einen langen zeitlichen Vorlauf ge- sein, dass der Staat allein Sicherheit nicht garantieren braucht hat, bis endlich ein Gesetzentwurf kam. Erst kann. Wir brauchen ein hohes Maß an Engagement und zweieinhalb Jahre nach den Anschlägen von New York Eigenverantwortung der privaten Betreiber für die Si- und eineinhalb Jahre nach dem Geisterflieger von Frank- cherheit des Luftverkehrs. furt konnten wir über ein solches Gesetz beraten. (Beifall bei der SPD) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie hätten ja Dies entspricht meiner Auffassung nach dem Leitbild gerne noch ein bisschen länger gewartet! – der Verantwortungsteilung zwischen Staat und Wirt- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Sie schaft in einem modernen Staat. Der Staat formuliert den wollten verzögern im Ausschuss!) 10538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Clemens Binninger (A) Interessant an dem Verfahren war Folgendes: Nachdem (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Haben Sie ei- (C) der Gesetzentwurf der Bundesregierung fast unverändert gentlich meine Aufsätze gelesen, Herr Ströbele?) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf?) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE ein Jahr lang im internen und parlamentarischen Verfah- GRÜNEN): ren war, gab es am letzten Wochenende vor der heutigen Herr Kollege, waren Sie bei der Anhörung anwesend? Abstimmung umfangreiche Änderungen. Ein Jahr lang Wenn nein, haben Sie sich vielleicht erzählen lassen, haben Sie nichts getan, aber am letzten Wochenende dass der von Ihnen benannte Sachverständige, der hoch wurden umfangreiche Änderungen vorgenommen, die verehrte Kollege Scholz, ehemaliger Vorsitzender des das Gesetz nicht besser, sondern im Gegenteil schlimmer Rechtsausschusses, diese Ihre Auffassung nicht vertreten machen. Man kann zu Recht sagen: Das Gesetz, das Sie hat, sondern ausdrücklich erklärt hat, eine Verfassungs- heute vorgelegt haben, ist verfassungswidrig, unprakti- änderung sei nicht erforderlich? kabel und schafft eher Sicherheitsdefizite, als dass es Sicherheit produziert. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist eben die selektive Wahrnehmung!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn man den Stimmen aus der Regierungsfraktion Clemens Binninger (CDU/CSU): glauben darf – das tue ich einfach einmal –, Ich gestehe es uns allen zu, dass wir lieber die Argu- mente hören, die die eigene Position stärken. Aber Herr (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was?) Professor Scholz hat in einem Punkt meiner persön- lichen Meinung nicht ganz entsprochen; er geht nämlich dann war nicht das Bundesinnenministerium für diese davon aus, dass die Verhinderung des Unglücksfalls von Änderungen verantwortlich, sondern Ihr Innenexperte Art. 35 Abs. 2 und 3 GG umfasst wird. Er hat aber zum Wiefelspütz, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion am Schluss noch einmal deutlich gemacht, dass er – wie Wochenende darauf gedrängt hat, dass Änderungen vor- auch Ihre Sachverständigen; ich war übrigens im Gegen- genommen wurden. Im Ergebnis wurde es leider noch satz zu den meisten von Ihnen die ganze Zeit anwesend – schlechter. Ich sage an die Adresse von Herrn Minister eine verfassungsrechtliche Klarstellung für zwingend Schily, auch wenn er heute bedauerlicherweise nicht da notwendig hält. sein kann: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Eine unterschiedliche Auffassung besteht nur in der Jetzt zu den inhaltlichen Mängeln. Sie regeln mit die- Definition des Unglücksfalles, aber nicht hinsichtlich sem Gesetz den Einsatz der Bundeswehr im Innern der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung. – das, was die Grünen angeblich nicht wollen –, in Form des denkbar schwersten Grundrechtseingriffs überhaupt, (Beifall bei der CDU/CSU) nämlich des Abschusses einer zivilen entführten Ver- Im Ergebnis bleibt Folgendes festzuhalten: Wir haben kehrsmaschine, die zu einer Waffe umfunktioniert wer- nach wie vor keine verfassungsrechtliche Grundlage für den soll. Sie tun dies ohne verfassungsrechtliche Grund- den Einsatz der Bundeswehr im Innern. Wir lassen die lage und stützen sich immer noch auf Art. 35 des Menschen, die im Zweifel handeln müssen, mit ihrer Grundgesetzes, auf die Amtshilfe. Sie haben sich auch Verantwortung allein. Sie können der deutschen Öffent- nicht von einer Sachverständigenanhörung beeindrucken lichkeit nicht vermitteln, dass wir die Bundeswehr zwar lassen, in der ganz klar wurde, dass eine Verfassungsän- für alle möglichen Aufgaben um die Welt schicken, dass derung notwendig, mindestens aber eine Klarstellung aber ihr Einsatz zum Schutz der eigenen Bevölkerung geboten ist. nicht erlaubt ist, und zwar nur deshalb, weil Sie sich ge- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE gen eine verfassungsrechtliche Regelung sperren. GRÜNEN]: Auf welcher Veranstaltung waren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie eigentlich? Selbst Herr Scholz war anderer Meinung!) Wenn man Ihren Gesetzentwurf liest – was ich Ihnen gerne empfohlen hätte, Herr Kollege Ströbele –, wird deutlich, dass er völlig unpraktikabel ist, was den Ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: satz der Bundeswehr angeht. Sie beschreiben selber, Herr Kollege Binninger, erlauben Sie eine Zwischen- dass zwei Fälle eintreten können. In dem einen Fall, frage des Kollegen Ströbele? nämlich wenn von einer Flugzeugentführung mehrere Länder betroffen sind, kann der Bund entscheiden. In Clemens Binninger (CDU/CSU): dem Fall, dass nur ein Land betroffen sein sollte – das ist Ja, gerne. je nach Größe der Maschine nicht unwahrscheinlich –, muss das betreffende Bundesland zunächst einmal den Einsatz von Streitkräften beim Bund anfordern; die An- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: forderung wird dann an den Bundesverteidigungsminis- Bitte, Herr Ströbele. ter und dann an das Lage- und Führungszentrum zur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10539

Clemens Binninger (A) Luftsicherheit in Kalkar weitergeleitet. Erst dann können entsprechende Regelung in Ihrem ersten Gesetzentwurf (C) die Maschinen aufsteigen. Das ist völlig unpraktikabel vorgesehen war. und hat mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun. Das alles haben Sie gestrichen. Für mich ist das ein (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das sind Stück aus dem Tollhaus. Meiner Ansicht nach wird mit doch Theorien, die Sie entwickeln!) dem Gesetzentwurf keine Sicherheitsüberprüfung ge- währleistet, sondern es ist eher eine Beschäftigungsga- – Nein, Sie entwickeln Theorien. rantie für die Aktivisten von al-Qaida an deutschen Flug- Bei einer Flugzeugentführung kommt es doch auf häfen. jede Minute an und es sind möglichst kurze Befehlsket- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei ten notwendig. Sie aber sehen in Ihrem Gesetzentwurf der SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜND- vor, dass zuerst das Land den Einsatz von Streitkräften NIS 90/DIE GRÜNEN]: Passen Sie auf, was beim Bund anfordern muss, der die Anforderung zu- Sie hier erzählen!) nächst prüft, bevor gegebenenfalls die Maschinen auf- steigen können. Das Gesetz ist an dieser Stelle nicht nur – Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von verfassungswidrig, sondern auch unpraktikabel. Rot-Grün, Ihren eigenen Gesetzentwurf zu lesen, der noch bis zum Freitag der vergangenen Woche Gültigkeit (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian hatte. In dieser Fassung des Gesetzentwurfs waren die Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Regelungen, die ich eben angemahnt habe, noch enthal- entscheidet nur einer! Der Verteidigungsminis- ten. Dann wurden sie gestrichen. ter! Es gibt überhaupt keine Befehlskette! – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Besonders ärgerlich ist daran, dass Sie sie nicht ge- GRÜNEN]: Er versteht es nicht! – Hans- strichen haben, weil Sie inhaltlich davon überzeugt wa- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren. Denn inhaltlich ist der Gesetzentwurf viel schlechter NEN]: Er will nicht verstehen!) geworden. Sie haben die Regelungen nur aus einem Grund gestrichen: Sie wollten das Gesetz zustimmungs- Richtig ärgerlich und auch unverantwortlich sind die frei machen, vorgesehenen Regelungen im Zusammenhang mit Per- sonal bzw. Personen, die sich regelmäßig auf einem (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Flughafen aufhalten. Die in einer Nacht-und-Nebel- GRÜNEN]: Richtig!) Aktion um die Zustimmung des Bundesrates zu umgehen. Das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE war Ihre einzige Motivation, den Gesetzentwurf so zu verschlechtern. Im Ergebnis sind Regelungen vorgese- (B) GRÜNEN]: Schon wieder!) (D) hen, die weniger Sicherheit produzieren. Im Gegenteil: eingefügten Verschlimmbesserungen wie auch die vor- Sie reißen sogar Sicherheitslücken auf und werden uns genommenen Streichungen spotten jeder Beschreibung. nicht weiterhelfen. Dazu kommt es nur deshalb, weil Sie (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE nicht bereit waren, Sicherheit in dem Maße zu schaffen, GRÜNEN]: Die Sonne schien! – Weiterer Zu- wie es für uns alle notwendig ist. ruf des Abg. Frank Hofmann [Volkach] [SPD]) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE – Es mag sein, dass Sie in der Gartenhütte von Herrn GRÜNEN]: Weil wir das Grundgesetz nicht Wiefelspütz besser Politik machen können, aber es ge- ändern wollen!) hört trotzdem in den Ausschuss. – Nein, es liegt allein an Ihnen, Herr Ströbele. Die Re- (Zurufe von der SPD: Was?) gierung weiß mittlerweile, dass Sie die Sorge haben, dass in dem Falle, dass der Vermittlungsausschuss über Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: In das Gesetz entscheiden muss, der eigene Regierungs- dem Fall, dass eine Person am Flughafen beschäftigt ist, partner dem Gesetz nicht zustimmt, weil Sie – ähnlich würde jeder vernünftige Mensch davon ausgehen, dass wie beim Zuwanderungsgesetz – nicht mehr gebraucht von der Luftsicherungsbehörde zwingend eine Über- werden. Das wird auch seine Gründe haben. So wäre es prüfung dieser Person beim Verfassungsschutz und bei sicherlich auch mit diesem Gesetzentwurf gekommen. der Polizei durchgeführt wird, dass Verfassungsschutz Sie nehmen also bewusst Änderungen von Sicherheits- und Polizei zwingend verpflichtet sind, Informationen, vorschriften in Kauf, nur damit der Gesetzentwurf zu- die sie nachträglich erhalten, der Luftsicherheitsbehörde stimmungsfrei wird. mitzuteilen, und dass die Verfassungsschutzbehörden diese Personendaten in einer gemeinsamen Datei abspei- Ich möchte an die Adresse des Bundesinnenministers chern dürfen. Folgendes sagen: Er reist in den letzten Wochen landauf, landab und erhebt ständig die Forderung: Wir brauchen All dies ist aber in Ihrem Gesetzentwurf nicht vorge- eine engere Vernetzung, einen besseren Informations- sehen. Die Luftsicherheitsbehörde ist nicht verpflichtet, austausch und einen stärkeren Datenverbund zwischen entsprechende Anfragen durchzuführen. Polizei und den Sicherheitsbehörden, damit wir den Bedrohungen Verfassungsschutz sind nicht mehr verpflichtet, nach- durch den Terrorismus gewachsen sind. Das unterstütze träglich gewonnene Erkenntnisse mitzuteilen. Die Ver- ich. Hier bin ich seiner Meinung. Aber mit dem vorlie- wendung von elektronischen Daten ist den Landesver- genden Gesetzentwurf wird er das genaue Gegenteil er- fassungsschutzbehörden untersagt, obwohl eine reichen: Er unterbindet den Informationsfluss zwischen 10540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Clemens Binninger (A) den Sicherheitsbehörden und verbietet den Landesver- Das ist doch niemandem zu vermitteln. (C) fassungsschutzbehörden sogar, Erkenntnisse in eine ge- Ein anderes Beispiel: Man muss doch den Landesver- meinsame Datei einzustellen, und zwar wider besseres fassungsschutzbehörden erlauben, Personaldatensätze in Wissen. Das ist für mich ein Stück aus dem Tollhaus. einer gemeinsamen Datei zu speichern, damit festgestellt (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian werden kann, ob Personen, die wegen islamistischer Be- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo strebungen aufgefallen sind, an einem Flughafen be- steht denn das drin? Das ist mehr Dichtung als schäftigt sind. Aber genau das haben Sie gestrichen. Das Wahrheit! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie wäre nach Ihrem alten Gesetzentwurf noch möglich ge- sind der Meister im Tollhaus!) wesen, nach Ihrem neuen aber nicht mehr. Das war Ih- nen offenbar egal. Die Sicherheit in diesem Land inte- – Nein, Herr Kollege Ströbele, das ist nur die Wahrheit, ressiert Sie, vor allem die Grünen, nicht. die bittere Wahrheit, und zwar zur Enttäuschung der Menschen in diesem Land. Ich möchte Ihnen zum Abschluss noch eines vorhal- ten: Sicherheit für die Menschen in diesem Land macht Sie müssen mir ja nicht glauben. Wenn Sie aber Ihren man entweder ganz oder gar nicht. alten Gesetzentwurf, der noch bis letzte Woche Freitag Gültigkeit hatte, mit dem neuen vergleichen und sich die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Änderungen anschauen, dann werden Sie genau die glei- GRÜNEN]: Wieso denn?) chen Punkte feststellen, die ich gerade kritisiert habe und Sie haben sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für die Sie nur gestrichen haben, weil Ihnen die Sicherheit „gar nicht“ entschieden. Diesen Weg geht die CDU/ der Menschen in diesem Land egal ist – das war bei den CSU-Fraktion nicht mit. Wir werden Sie immer wieder Grünen schon immer der Fall – und weil es Ihnen auf die mit unseren Forderungen nach mehr Sicherheit für un- Zustimmungsfreiheit des Gesetzentwurfes angekommen sere Bevölkerung und für unser Land konfrontieren. ist. Das war Ihre einzige Motivation. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir werden nach wie vor darauf drängen, dass es in diesem Land eine klare verfassungsrechtliche Grundlage Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für den Einsatz der Bundeswehr im Innern gibt; denn wir Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von brauchen sie und können den Menschen nicht vermit- Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen. teln, warum wir die Bundeswehr in allen Krisenherden dieser Welt, nicht aber zum Schutz der Bevölkerung im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) eigenen Land einsetzen dürfen. Wir sehen für den Ein- und bei der SPD – Dr. Michael Bürsch [SPD]: (D) satz der Bundeswehr im Innern klare Grenzen vor. Ihr Sicherheit nur durch Grün! Achtung!) Totschlagargument, wir wollten sie für alles einsetzen, ist falsch. Wir wollen die Bundeswehr im Innern nur im Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Kampf gegen terroristische Bedrohungen und dann auch GRÜNEN): nur, wenn Polizei und Bundesgrenzschutz nicht können, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zivile einsetzen. Dafür werden wir nach wie vor eintreten. Flugzeuge sind am 11. September 2001 von Terroristen Wir werden des Weiteren für ein Luftsicherheitsge- als Waffe eingesetzt worden. 3 000 Menschen fanden an setz eintreten, das keine Sicherheitslücken aufreißt wie einem Tag den Tod. Selbst wenn ein erneuter Angriff mit Ihres, sondern eine umfassende Sicherheitsüberprüfung zivilen Flugzeugen unwahrscheinlich ist, müssen wir die vorsieht. Wir werden weiterhin alles dafür tun, dass Ihre Instrumente zur Verfügung stellen, um eine solche nicht Regelungen keinen Bestand haben werden. Im Kern auszuschließende Bedrohungslage bewältigen zu kön- muss man Ihnen vorhalten, dass Sie zwar immer ankün- nen. digen, alles für die Sicherheit zu tun, dass Sie aber nicht Im internationalen Luftverkehr werden der Einsatz bereit sind, für Sicherheit zu sorgen. der NATO und damit der Einsatz der Bundeswehr bei Sie haben § 7 des Entwurfs des Luftsicherheitsgeset- einer schwerwiegenden Bedrohung des Luftraums ge- zes so geändert, dass die Landesbehörden nachträglich regelt. Es handelt sich hier lediglich um eine Regelungs- gewonnene Erkenntnisse nicht weitergeben dürfen. lücke im Bereich des innerdeutschen Luftverkehrs. Man muss sich das einmal an einem praktischen Beispiel Ich kann der Auffassung der FDP, die sie im Innen- vor Augen führen. Jemand soll in einem sensiblen Be- ausschuss vorgetragen hat, hier ein Stück weit folgen. reich eines Flughafens beschäftigt werden, zum Beispiel Sie will dieses Luftsicherheitsgesetz nicht, weil sie es in bei den Tankanlagen. Die Überprüfung ergibt, dass kein das Ermessen der Exekutive stellen will, wie in einer Bezug zur islamistischen Szene besteht. Er wird einge- vergleichbaren Situation zu handeln ist. Wir haben uns stellt. Vier Monate später fällt der Name des Betroffenen entschieden, die parlamentarische Verantwortung zu tra- in einem anderen Bundesland auf. Nun müsste diese Er- gen und für die Handelnden, soweit es in so einer Situa- kenntnis eigentlich verpflichtend mitgeteilt werden. tion überhaupt möglich ist, Rechtssicherheit herzustel- Aber genau das haben Sie gestrichen. len. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Genau das Was Sie vorgetragen haben, ist richtig: Im Luftsicher- ist falsch!) heitsgesetz wird genau das geregelt, was das Grund- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10541

Silke Stokar von Neuforn (A) gesetz schon heute ermöglicht. Die Regierung hat in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) einer Notsituation selbstverständlich die Handlungs- sowie bei Abgeordneten der SPD – Clemens pflicht – unter strikter Beachtung des Verhältnismäßig- Binninger [CDU/CSU]: Seit zweieinhalb Jah- keitsgrundsatzes. ren!) Rechtssicherheit schaffen wir hier insbesondere für Ich habe selten so einen Unsinn gehört wie das, was die Ausführenden, zum Beispiel für die Piloten der Bun- Sie hier beschrieben haben. Dadurch, dass das Luft- deswehr. sicherheitsgesetz zustimmungsfrei gestaltet worden ist, ist – das sage ich hier offen – die von Ihnen benannte Si- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- cherheitslücke nicht entstanden. Es ist an Ihnen vorbei- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) gegangen, dass wir die Berichtspflicht der Länder auf einem ganz anderen Wege gestärkt haben. Vor diesem Hintergrund und weil es unser Verfassungs- auftrag ist, ist es richtig, dass im Bereich der Nothilfe (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wo denn? – das Parlament und nicht die Exekutive handelt. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Auf dem Holz- wege!) Die Anhörung im Innenausschuss, werter Herr Kol- lege Binninger – ich bin ebenfalls von Anfang bis Ende Die Länder sind verpflichtet, alle relevanten Informa- da gewesen und habe mich insbesondere über Herrn tionen zum internationalen Terrorismus an die Bundes- Scholz gefreut – hat bestätigt: Für die im Luftsicher- behörden unverzüglich und nicht nur im Rahmen der heitsgesetz vorgesehenen Maßnahmen der Amtshilfe Nachberichtspflicht weiterzuleiten. der Bundeswehr liefert Art. 35 Grundgesetz eine aus- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es reichende Grundlage. Art. 35 Grundgesetz hat nämlich wäre gut, wenn die Landesbehörden dazu gebracht wür- nicht nur die Schadensbeseitigung, sondern auch die den – das steht auch in Ihrer Verantwortung –, nicht nur Verhinderung eines Unglücksfalles im Blick. Auch als dieser Berichtspflicht nachzukommen, sondern auch da- Nichtjuristin muss ich sagen: Was wäre das für eine Ver- für zu sorgen, dass die Meldung von Informationen opti- fassung, wenn man davon ausginge, dass erst gehandelt miert wird. werden dürfe, wenn der Schaden eingetreten sei. Das ist eine absurde Vorstellung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Durch das Grundgesetz ist das, was Sie darüber hi- Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des (B) naus wollen, nicht gedeckt. Frau Merkel, Ihre Vorsit- Kollegen Binninger? (D) zende, hat öffentlich angekündigt, das Luftsicherheitsge- setz im Bundesrat zu blockieren. Sie wollen eine Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE weitgehende Grundgesetzänderung zum Einsatz der GRÜNEN): Bundeswehr im Innern durchsetzen. Wir wollen die Si- Ich erlaube eine Zwischenfrage. cherheitsarchitektur, die sich in Deutschland bewährt hat, erhalten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Bundessicherheitsbehörden Bundespolizei, Nach- Bitte schön, Herr Binninger. richtendienste, Bundeswehr und – als vierte Säule – Be- völkerungsschutz nehmen unterschiedliche Aufgaben Clemens Binninger (CDU/CSU): wahr. Eine Vermischung der Aufgaben führt nicht zu Frau Kollegin Stokar, Sie haben gerade gesagt, die mehr Sicherheit, höchstens zu mehr Wirrwarr. Optimie- Berichtspflicht sei geregelt. Wir debattieren hier über ren wollen wir die Zusammenarbeit durch eine verbes- das Luftsicherheitsgesetz. Können Sie mir den Paragra- serte Koordination und Kommunikation. phen nennen, in dem geregelt ist, dass die Sicherheitsbe- hörden der Länder verpflichtet sind, Erkenntnisse an die (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Reden Sie Luftsicherheitsbehörden zu melden? Das war doch mein doch über das Luftsicherheitsgesetz!) Kritikpunkt. Hier haben wir ohne Grundgesetzänderung genügend (Detlef Dzembritzki [SPD]: Die sind automa- Entscheidungsspielraum. tisch verpflichtet! Da brauchen sie kein Ge- Sie haben Recht: Es war natürlich eine bewusste Ent- setz!) scheidung, das Luftsicherheitsgesetz zustimmungsfrei – Das ist nicht automatisch so. zu gestalten. Sie betreiben im Bundesrat und im Vermitt- lungsausschuss entweder Blockadepolitik oder Sie Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE schaffen ein heilloses Durcheinander, zum Beispiel GRÜNEN): jüngst in der Rentenfrage oder bei Hartz IV. Der interna- Herr Kollege Binninger, ich habe gesagt, dass außer- tionale Terrorismus ist eine reale Bedrohung. Rot-Grün halb des Luftsicherheitsgesetzes – – ist weder bereit, Blockade zuzulassen, noch ist es bereit, Durcheinander zuzulassen. Wir handeln verantwortlich (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber wir re- und wir verhandeln ohne Zeitverzögerung. den jetzt über das Luftsicherheitsgesetz!) 10542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Silke Stokar von Neuforn (A) – Sie können sich darüber bei Ihren Kollegen in der In- Ernst Burgbacher (FDP): (C) nenministerkonferenz informieren. Oder muss ich Ihnen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im jetzt den Unterschied zwischen einem Spezialgesetz und Ziel, die Luftsicherheit zu optimieren, sind sich alle in einem darüber stehenden Gesetz erläutern? diesem Haus mit Sicherheit – das ist überhaupt nicht die (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was denn für Frage – einig; dieses Ziel teilen wir natürlich. Es ist auch ein Gesetz? Welches Gesetz steht denn da- erfreulich für uns, dass die Regierungskoalition der Ein- rüber?) schätzung der FDP gefolgt ist, dass eine Änderung des Grundgesetzes zur wirksamen Abwehr von Luftangrif- Wir haben es dort geregelt, wo es hingehört, nämlich fen nicht erforderlich ist. Das war immer unsere Posi- im Bereich der Verordnungen zum Verfassungsschutz. tion. Das wird unsere Position bleiben. Das gehört dahin, weil wir natürlich einen besseren In- formationsaustausch nicht nur im Bereich der Zuverläs- (Beifall bei der FDP) sigkeitsüberprüfungen und im Bereich des Luftsicher- heitsgesetzes haben wollen, sondern weil wir generell Unstrittig ist ebenso der Ansatz, es durch vorsorgende sicherstellen wollen, dass die Landesämter für Verfas- Sicherheitsmaßnahmen erst gar nicht dazu kommen zu sungsschutz und auch die Sicherheitsbehörden der Län- lassen, dass ein Flugzeug entführt und eventuell als der die Informationen noch schneller und noch zuverläs- Waffe missbraucht wird. Daher sind Sicherheitsmaßnah- siger an den Bund liefern. Wenn Sie ein bisschen men wie Zuverlässigkeitsüberprüfungen der Mitarbeiter Ahnung von NADIS hätten, an Flughäfen, Sicherheitskontrollen der Passagiere und auch das Verbot der Mitnahme bestimmter Gegenstände (Lachen bei der CDU/CSU – Clemens völlig richtig und wahrscheinlich überhaupt die einzige Binninger [CDU/CSU]: Leider!) Möglichkeit, solche Vorfälle wie die vom 11. September müssten Sie wissen, dass das genau in diesem Bereich zu verhindern. geregelt werden muss und eben nicht nur im Luftsicher- Dem Kernpunkt des Gesetzentwurfes kann die FDP- heitsgesetz geregelt werden kann. Bundestagsfraktion allerdings nicht zustimmen: Die Er- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Eben nicht mächtigung des Bundesverteidigungsministers, unter mehr!) bestimmten Umständen im Benehmen mit dem Bundes- innenminister den Abschuss eines Luftfahrzeuges anzu- Deswegen ist das, was Sie hier zur Sicherheitslücke ge- ordnen sagt haben, Unsinn. Ich komme zum Schluss meines Beitrages. Wir setzen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) mit dem Luftsicherheitsgesetz insbesondere die EU-Ver- GRÜNEN]: Wo steht denn da Abschuss?) (D) ordnung und internationale Verträge um. Deswegen wol- und damit zur Abwehr einer Bedrohung Dritter den si- len wir uns auch nicht auf Ihr Spielen auf Zeit einlassen. cheren Tod der Flugzeuginsassen in Kauf zu nehmen, Ich möchte noch auf das Problem eingehen, das Herr berührt außerordentlich schwierige ethische und verfas- Körper schon angesprochen hat. Wir werden eine sehr sungsrechtliche Fragen. interessante Diskussion über das Spannungsverhältnis von Sicherheitsinteressen und Wirtschaftsinteressen be- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE kommen. Zu der Gebührenfrage gibt es ein Bundesver- GRÜNEN]: Das stimmt!) waltungsgerichtsurteil. Ich persönlich setze mich dafür Die FDP hält es für falsch, den Extremfall, nämlich den ein, dass wir an den Flughäfen eine freiwillige Evalua- Einsatz eines entführten Flugzeugs als Waffe gegen tion der Sicherheitsmaßnahmen zulassen. Der Flughafen Dritte, normieren zu wollen. Hannover hat sich untersuchen lassen. Solche Untersu- chungen führen zu interessanten Ergebnissen. Wir alle (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE können es uns nicht leisten, viel Geld für schlechte GRÜNEN]: Von Abschuss steht da nichts Sicherheit auszugeben. drin!) Zu der Frage: Was ist im Flughafenbereich hoheitli- Es wurde heute immer wieder auf die Anhörung ver- che Aufgabe und was liegt in der Verantwortung der wiesen. Professor Baldus, einer der Sachverständigen Flughafenbetreiber, wie hat also die Kostenaufteilung bei der Anhörung zum Luftsicherheitsgesetz, bezeichnet auszusehen?, werden wir weitere Diskussionen führen. dies als klassische Situation eines moralischen Dilem- Zu diesen Kostenfragen werden wir hier ergänzend tätig mas. Der im Entwurf des Luftsicherheitsgesetzes vorge- werden. sehene Einsatz des letzten Mittels, die Einwirkung mit Ich danke Ihnen. Waffengewalt, hat zwangsläufig den Tod der für die Ge- fahr Verantwortlichen, im Falle einer entführten Ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schine aber auch den Tod der Passagiere, die für die Ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) fahrenlage keine Verantwortung tragen, zur Folge. Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: solche unkalkulierbaren Situationen die in der deutschen Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der Rechtsordnung seit langem entwickelten allgemeinen FDP-Fraktion. Grundsätze anzuwenden sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10543

Ernst Burgbacher (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sen, dann könnte der Staat relativ locker auch weitere (C) GRÜNEN]: Sehr richtig! Übergesetzlicher solcher Maßnahmen beschließen, da er sie ja nicht be- Notstand!) zahlen muss. Schon zu Beginn der Debatte über das Luftsicherheitsge- Ein dritter Punkt: Gerade in diesem Bereich herrscht setz hat die FDP darauf hingewiesen, dass die Regeln für ein sehr harter Wettbewerb. Es ist für Fluggesellschaften Notstand und Nothilfe ausreichen, um die im Einzelfall und für Passagiere einfach, auf Alternativen auszuwei- erforderlichen Entscheidungen zu treffen. chen. Deshalb können wir nicht beliebig Kosten über- wälzen, sondern wir müssen auch sehen, wie stark hier- Ein Weiteres, liebe Kolleginnen und Kollegen: Durch durch der Wettbewerb, der ja europaweit stattfindet, dieses Gesetz senken wir die Schwelle für Eingriffe sehr behindert wird. Deshalb rate ich bei Maßnahmen in die- stark ab. Das halten wir für bedenklich. Wenn ein sol- sem Bereich zu größter Vorsicht. Wir müssen uns ja im cher Fall auftritt, kann der Bundesverteidigungsminister Ausschuss noch einmal im Detail darüber unterhalten. nach unserer festen Überzeugung handeln. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Er wird der CDU/CSU) nicht handeln!) Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erläutert – Wenn das Gesetz in Kraft tritt und er damit ermächtigt wird, das zu tun, dann gibt es auch Fälle – das behaupte ich –, wo er handeln muss. Das wollen wir verhindern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Burgbacher, ich bitte, dann auch zum (Beifall bei der FDP) Schluss zu kommen. Deshalb sagen wir: Es reichen die bisherigen Regelun- gen zum Notstand und zur Nothilfe. Ernst Burgbacher (FDP): Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, der – ich bin bei meinem letzten Satz –, warum die FDP die Kosten betrifft. diesen Gesetzentwurf ablehnt. Diese Entscheidung ha- ben wir uns nicht leicht gemacht. Wir haben darüber (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE viele Diskussionen geführt. Es ist uns aber nicht mög- GRÜNEN]: Genau diese Zwangsläufigkeit ha- lich, dem Gesetzentwurf in dieser Form zuzustimmen. ben wir herausgenommen!) Herzlichen Dank. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP) (B) Herr Kollege Burgbacher, erlauben Sie eine Zwi- (D) schenfrage des Kollegen Wiefelspütz? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Hofmann von Ernst Burgbacher (FDP): der SPD-Fraktion. Sehr gerne. Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Bitte schön, Herr Wiefelspütz. Kolleginnen und Kollegen! Nach den beiden Beiträgen von der FDP und von der CDU/CSU muss man sich ein- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): mal vor Augen führen, welches Gesetz zustande gekom- Sie haben ja nun gerade die Kostenfragen angespro- men wäre, wenn CDU/CSU und FDP an der Regierung chen. Obwohl Sie schon viel zu lange reden, Herr Kol- wären. lege Burgbacher, hätte ich doch gerne von Ihnen erläu- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ein tert bekommen, wie Sie sich denn einen Umgang mit besseres!) dieser Fragestellung überhaupt vorstellen. Die CDU/CSU sagt, das Gesetz gehe ihr nicht weit ge- nug; die FDP sagt, die Gesetze, die es schon jetzt gebe, Ernst Burgbacher (FDP): reichten aus. Wenn beide zusammen an der Regierung Ich bin Ihnen für die Frage dankbar, Herr Kollege wären, dann gäbe es kein Gesetz; Wiefelspütz. Ich denke, dass diese Frage tatsächlich nur sehr schwierig zu beantworten ist. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Solche Probleme hätten Sie gern!) Zuerst einmal halte ich es für kritisch, wenn der Staat Kosten in Bereichen, wo – davon gehen wir ja aus – ei- sie wären nicht in der Lage, für mehr Sicherheit in der gentlich das staatliche Gewaltmonopol gilt, auf private Luft zu sorgen. Die Konstellation von CDU/CSU und Unternehmen überwälzt; denn der Staat hat für Aufga- FDP wäre ein Sicherheitsrisiko für dieses Land. So sieht ben, die in sein Gewaltmonopol fallen, auch die Kosten es nüchtern betrachtet aus. zu tragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einen zweiten Punkt halte ich in diesem Zusammen- DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ hang für sehr wichtig: Wenn der Staat Maßnahmen be- CSU]: An dem Satz haben Sie aber lange gear- schließen kann, deren Kosten aber andere tragen müs- beitet!) 10544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Frank Hofmann (Volkach) (A) Wir betreten mit diesem Gesetz sicherlich Neuland. Herr Bosbach bei der ersten Lesung und Herr Beckstein (C) behaupten, die Bundeswehr dürfe zwar in Afghanistan, (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Glatteis!) nicht aber in Deutschland zum Schutz der Bürgerinnen Wir haben lange Diskussionen geführt, die sich auch ge- und Bürger eingesetzt werden, dann ist das demago- lohnt haben. Die Sicherheitskompetenz von Rot-Grün gisch. wurde hart erarbeitet (Beifall der Abg. Silke Stokar von Neuforn (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Oh!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das ist doch richtig!) und bewährt sich auch hier und heute mit dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben. Es ist ein Im Kosovo und in Afghanistan übernimmt die Bundes- schlüssiges Gesamtkonzept. Mit dem Gesetz gibt es wehr Aufgaben des Peace Keeping, damit Polizeistruk- Luftsicherheit aus einer Hand. Die Kritik von der CDU/ turen entwickelt werden können. Die Bundeswehr soll CSU, vorgetragen von Herrn Binninger, ist eine Kritik die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Polizei über- der aufgeblasenen Backen: viel Luft und nichts dahinter. haupt entstehen kann. Deutschland ist jedoch kein Kri- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Na! sengebiet, sondern eine stabile Demokratie mit gut funk- Mäßigung!) tionierender Polizei. Deshalb ist Ihr Argument entschieden zurückzuweisen. Herr Binninger, wenn Sie bei den Ausführungen des Par- lamentarischen Staatssekretärs zugehört hätten, dann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wüssten Sie, dass Sie damit nicht weiterkommen, dass DIE GRÜNEN) Sie das aus Ihrer Rede eigentlich hätten streichen kön- Ein Satz zum Abschluss. Die Frage eines Einsatzes nen. der Bundeswehr stellt sich bei Ihnen aus anderen Grün- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das hätten den. Bei der Polizei in Bayern, Hessen oder wo auch im- Sie gern gehabt! – Gegenruf der Abg. Silke mer werden Stellen gestrichen und dann wird nach der Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundeswehr gerufen. Das ist Ihre Antwort auf die Be- NEN]: Das ist einfach populistisch! Darum drohung durch den internationalen Terrorismus. geht es Ihnen ja nur, um nichts anderes!) (Beifall des Abg. Gerold Reichenbach [SPD]) Zur Frage der Grundgesetzänderung. Für den Gene- Sie können das fordern; wir werden dazu nicht die Hand ralinspekteur der Bundeswehr besteht aus militärischer reichen. Mit einer Militarisierung unserer Gesellschaft Sicht keine Notwendigkeit, das Grundgesetz zu ändern. bekämpft man nicht den internationalen Terrorismus. (B) Auch für den Vorsitzenden des Bundeswehr-Verbandes (D) besteht aus militärischer Sicht keine Notwendigkeit, das Herzlichen Dank. Grundgesetz zu ändern. Ebenso sieht der GdP-Vorsit- zende Konrad Freiberg keine Notwendigkeit, das Grund- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesetz zu ändern. Die Verfassungsressorts BMI und BMJ DIE GRÜNEN) sehen ebenfalls keine Notwendigkeit, das Grundgesetz zu ändern. In den entscheidenden Punkten unterstützt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: uns auch die Mehrheit der Sachverständigen. Wir stehen Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. also mit diesem Luftsicherheitsgesetz fester denn je auf dem Boden des Grundgesetzes. Petra Pau (fraktionslos): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es DIE GRÜNEN) geht heute um zwei Fragen. Erstens. Soll die Bundes- wehr künftig im Inneren quasi als Militärpolizei agieren Im Gegensatz zu Herrn Burgbacher und der FDP sind dürfen? Die PDS im Bundestag sagt dazu Nein. wir der festen Überzeugung: Wenn ein Rechtsstaat zu solchen Mitteln greift, wie wir es bei der Luftsicherheit (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tun, dann braucht er auch eine gesetzliche Grundlage. tionslos]) Gerade weil der Eingriff so ungeheuerlich ist, muss der Gesetzgeber nach öffentlicher Diskussion die Verant- Zweitens. Sollen entführte Flugzeuge samt Insassen not- wortung übernehmen. Im Gesetz ist vor allem zu klären, falls abgeschossen werden dürfen? Auch dazu sagen wir wer konkret im Ernstfall die Befehle gibt. In diesem Fall Nein. ist es der Verteidigungsminister. Deshalb ist klar: Eine (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- gesetzliche Regelung ist in einem Rechtsstaat zwingend tionslos]) geboten. Wir müssen heute dennoch darüber diskutieren, weil die Wir, die Regierungskoalition, haben das Gesetz mit CDU/CSU das Erste will und die SPD und die Grünen einem Änderungsantrag zustimmungsfrei gestellt. Wa- zumindest das Zweite wollen. rum? Wir wollen, dass das Gesetz schnell in Kraft tritt, dass es ohne Grundgesetzänderung in Kraft tritt und dass Das Grundgesetz schreibt bekanntlich die strikte die Bundeswehr nicht als Hilfspolizei eingesetzt wird. Trennung zwischen Bundeswehr und Polizei vor. Dafür Zusammengefasst heißt das: Wir wollen Gefahrenab- gibt es historische und sachliche Gründe. Sie gelten fort. wehr, nicht Krieg. Wenn Sie, Herr Binninger, ebenso wie Die Versuche der CDU/CSU, das Trennungsgebot aufzu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10545

Petra Pau (A) weichen oder aufzuheben, sind nicht neu. Neu ist, dass lehnt die PDS im Bundestag beide heute vorliegenden (C) selbst die SPD damit liebäugelt. Anträge ab. Die Bundeswehr hat in der Innenpolitik nichts zu suchen. Einen so genannten finalen Rettungs- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- schuss gegen unschuldige Passagiere darf es rechtsstaat- tionslos]) lich nicht geben.

Verteidigungsminister Struck hat unlängst ein Bundes- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- wehrkontingent für den Einsatz im Inneren gefordert. tionslos]) Seine Begründung war, das stärke die Wehrpflicht. Ich finde das – mit Verlaub – absurd und auch von vorges- tern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie aber sagen, dass Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- es um Katastrophenschutz ging!) desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben, Druck- Nun komme ich zu dem Gesetzentwurf, wonach ent- sache 15/2361. Der Innenausschuss empfiehlt unter führte Passagierflugzeuge notfalls vom Himmel ge- Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- schossen werden sollen. Ich könnte es mir leicht machen sache 15/3338, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- und einfach verlesen, was , der Altlibe- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- rale, dazu in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb. Ich entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um belasse es heute bei einem kurzen Zitat: Kein Rechts- ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – staat hat es bisher gewagt, seiner Polizei oder seinen Sol- Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den daten zu erlauben, auf Verdacht hin die Opfer eines Ver- Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen brechens in wohlmeinender Absicht zu erschießen. Die der Opposition angenommen. Bundesregierung kann nicht bei klarem Verstand sein. – Das vermute nun auch ich inzwischen und frage mich: Dritte Beratung Was ist eigentlich von der Demokratiepartei SPD übrig und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und wo ist die Bürgerrechtspartei Bündnis 90/Die Grü- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – nen abgeblieben? Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der fraktionslosen (B) tionslos]) (D) Abgeordneten angenommen. Beide Versuche, den Einsatz der Bundeswehr im Inneren Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/ zu legitimieren und auf Verdacht unschuldige Opfer zu CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände- töten, sind allerdings inzwischen keine Ausrutscher rung des Art. 35 und Art. 87 a des Grundgesetzes auf mehr. Drucksache 15/2649. Der Innenausschuss empfiehlt un- ter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sache 15/3338, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte GRÜNEN]: Wo steht denn da „auf Ver- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, dacht“?) um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei – Sie werden ja mit den Entführern nicht mehr darüber Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Ablehnung verhandeln können, was sie denn vorhaben, sondern Sie durch die Koalitionsfraktionen, die FDP-Fraktion und werden entscheiden müssen. Also geht es tatsächlich um die fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt. Damit ent- ein Abschießen auf Verdacht. fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tung. tionslos] – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Jetzt werden Sie links überholt, Herr che 15/3338 empfiehlt der Innenausschuss die Ableh- Ströbele!) nung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/747 mit dem Titel „Mehr Sicherheit im Wir erleben seit längerem eine Militarisierung der Po- Luftverkehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- litik im Inneren wie im Äußeren. Ich wiederhole: auch in lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- der EU-Politik. Denn im Entwurf der EU-Verfassung schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- steht ein Aufrüstungsgebot. Ein Friedens- und Abrüs- fraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der tungsgebot sucht man vergebens. CDU/CSU-Fraktion angenommen. Bemerkenswert daran ist: Das wird von allen Bundes- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: tagsparteien toleriert und honoriert, von der CDU/CSU, von der FDP, von der SPD und selbst vom Bündnis 90/ Beratung des Antrags der Abgeordneten Die Grünen. Ich finde das grundsätzlich falsch. Deshalb Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, 10546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und schrumpfenden Personalbestandes und der wachsenden (C) der Fraktion der CDU/CSU Aufgaben immer schwieriger aktivierbar ist. Deutsche Personalpräsenz in internationalen Es gibt den Grundsatz: Wer an einer internationalen Organisationen im nationalen Interesse konse- Schaltstelle sitzt, der kann hinsichtlich der Interessen quent erhöhen seines Landes Entscheidendes bewirken. Das Verständ- nis für deutsche Wünsche und deutsche Politikvorstel- – Drucksache 15/2652 – lungen zur Lösung der Probleme ist bei deutschen Überweisungsvorschlag: Landsleuten sicherlich stärker ausgeprägt als bei Verwal- Auswärtiger Ausschuss (f) tungsfachleuten mit spanischem oder englischem Pass. Innenausschuss Verteidigungsausschuss Die Realität in den internationalen Institutionen und Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe deren Personallandschaft sieht aus dem Blickwinkel Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Deutschlands allerdings ziemlich düster aus. Wir haben Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union einfach zu wenig Deutsche in internationalen Organisa- Ausschuss für Kultur und Medien tionen. Zum Beispiel haben wir in der EU-Kommission Haushaltsausschuss trotz eines Bevölkerungsanteils von 22 Prozent und ei- ner Beitragsquote von 23 Prozent lediglich einen Perso- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nalanteil von etwas über 12 Prozent. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stoiber will ja nicht!) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Dr. Christian Ruck von der CDU/ – Ich wusste gar nicht, dass auch Sie reden, Herr CSU-Fraktion das Wort. Ströbele. – Diese Zahl wird sich nach der EU-Osterwei- terung zu unseren Ungunsten verändern. (Beifall bei der CDU/CSU) Das UN-Sekretariat besteht trotz einer deutschen Beitragsquote von knapp 10 Prozent nur zu etwas mehr Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): als 5 Prozent aus Deutschen. Bei der WTO, die immer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem An- wichtiger wird, haben wir bei einer Beitragsquote von trag, den unsere Fraktion heute einbringt, liegen fol- 9 Prozent nur einen Personalanteil von 4 Prozent. Bei gende Überlegungen zugrunde: Unser politisches, wirt- der Weltbank, die für uns Entwicklungspolitiker beson- schaftliches und gesellschaftliches Dasein wird immer ders wichtig ist, haben wir einen Stimmrechtsanteil von (B) mehr von internationalen Faktoren beeinflusst. Die Glo- gut 6 Prozent und eine Personalquote von 3 Prozent. (D) balisierung greift immer mehr in unser alltägliches Le- Wir haben ja neulich über MONUC diskutiert. An ben – offen oder auch unmerklich – ein. Die Auswirkun- den 600 Millionen Dollar sind wir ja mit rund 10 Prozent gen der Globalisierung werden zunehmend durch ein beteiligt. Bei der Mission sind 12 600 Leute eingesetzt Geflecht aus internationalen Regeln und internationalen und von uns ist nur ein Beamter dabei. In vielen UN- Institutionen gelenkt. Deren Einfluss nimmt auch hier in Missionen, auch in vielen zivilen UN-Missionen haben Deutschland immer mehr zu. wir überhaupt niemanden. Deutschlands Wirtschaft ist auf der anderen Seite tra- Andere Länder wie Frankreich und Großbritannien ditionell stark nach außen orientiert und von äußeren sind da viel geschickter. Sie betreiben eine gezielte Ka- Einflüssen abhängig. Damit bekommen zum Beispiel derpolitik und rekrutieren Erfolg versprechende Kandi- Organisationen wie die Welthandelsorganisation, WTO, daten für alle internationalen Personalebenen. Dabei ge- deren Regelsetzung und Streitschlichtung den Welthan- hen sie viel strategischer als wir vor. Deutschland hat del auf völlig neue Grundlagen stellt, eine immense Be- sich in Personalfragen jahrzehntelang sehr zurückgehal- deutung. Dazu gehört auch die Europäische Union, die ten. Ich glaube, es ist höchste Zeit, das Ruder herumzu- – darüber wurde in diesen Tagen bei uns diskutiert – im- werfen und eine personalpolitische Offensive für Deut- mer mehr nationale Regelungskompetenzen der EU-Mit- sche in internationalen Organisationen zu starten, gliedstaaten, also auch Deutschlands, übernimmt. Deswegen ist es für uns wichtig, die Politik dieser Orga- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nisationen zu beobachten und mitzugestalten. Es ist naiv, Dr. Werner Hoyer [FDP]) anzunehmen, dass eine bloße Präsenz und eine bloße Be- auch deshalb, weil der Druck auf uns, dass wir uns inter- teiligung an den Diskussionen in den jeweiligen Len- national betätigen mögen, ständig stärker wird. Dann kungsgremien ausreichen. können wir unsererseits Druck in Richtung einer größe- (Beifall bei der CDU/CSU) ren Effizienz der internationalen Organisationen erzeu- gen. Wir brauchen eine umfassende Personalstrategie Die Mechanismen und Inhalte heutiger Politikent- für den Nachwuchs. Ferner brauchen wir ein internatio- scheidungen werden auch auf internationaler Ebene im- nales Netzwerk, das wir mithilfe unserer Landsleute auf- mer komplexer. Um dort mitreden zu können und Ent- bauen und das uns dabei hilft, das Verständnis für unsere scheidungen mittreffen zu können, ist ein immenser Vorstellungen und Anliegen zu erhöhen und uns des Wissens- und Erfahrungsschatz gefordert, der für unsere Wissens und des Erfahrungsschatzes der internationalen Ministerien und für unsere Verwaltung angesichts des Organisationen zu bedienen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10547

Dr. Christian Ruck (A) Die Arbeit fängt beim Nachwuchs an. Längst überfäl- uns allen sehr wichtig. Gerade vor dem Hintergrund der (C) lig ist eine verstärkte Ausrichtung der Regelstudien- Globalisierung – da stimme ich Ihnen zu – ist es bedeut- gänge, der postuniversitären Kurse und Praktika an un- sam, auch durch deutsches Personal die Politik der inter- seren Hochschulen auf eine Tätigkeit in internationalen nationalen Organisationen mitzugestalten. Organisationen. Das im BMZ angesiedelte Programm für beigeordnete Sachverständige ist richtig und ist auch Was aber ist passiert? Seit den 80er-Jahren gibt es erfolgreich; aber es ist viel zu gering ausgestattet und es eine Reihe von Beschlüssen zur Verbesserung der inter- muss intensiver genutzt werden. nationalen Personalpolitik. Es geschah jedoch wenig. Die Zahl der deutschen Mitarbeiter im internationalen Wir müssen aber auch die Arbeit in internationalen Bereich ging in diesem Zeitraum sogar zurück. Heute Organisationen für gute deutsche Bewerber aus der Ver- bezeichnet die Presse diese fehlenden Jahrgänge als waltung und der Wirtschaft attraktiver machen. Dies be- „deutsche Delle“. Genau das hat sich geändert. deutet zum Beispiel für die öffentliche Verwaltung, dass die vorübergehende Tätigkeit in einer internationalen Wir sind das Problem aktiv angegangen. Die Initia- Organisation als expliziter Pluspunkt für die weitere tive, die Sie jetzt vorschlagen, wurde bereits gestartet Karriere gewertet wird und dass auch die Reintegration und läuft längst. Deshalb können wir in diesem Bereich – das gilt nicht nur für die Bundesregierung, sondern all- einige Erfolge nachweisen. Was haben wir gemacht? gemein für die Verwaltung – , wenn der Betreffende wie- der zurückkehrt, wesentlich verbessert werden muss. Erstens. Im Bundeskanzleramt übernahm 1998 der Wir müssen ebenfalls die Durchlässigkeit zwischen Chef des Bundeskanzleramtes persönlich die Führung öffentlichem Dienst und privater Wirtschaft erhöhen, bei der Koordinierung von Spitzenbesetzungen in der damit auch fähigen Interessenten aus der Privatwirt- EU, in Wirtschafts- und Finanzorganisationen und in schaft der Einstieg in internationale Organisationen wichtigen Bereichen der Vereinten Nationen. schmackhaft gemacht werden kann. Zweitens. Im Auswärtigen Amt haben wir die Stelle Wir dürfen auf keinen Fall in eine alte Unsitte verfal- eines Koordinators – dazu gibt es einen Vorschlag in Ih- len, die uns oft zu Recht vorgehalten worden ist, dass rem Antrag – für die internationale Personalpolitik ge- nämlich diese Organisationen zuweilen auch als Ab- schaffen. Er untersteht direkt dem Staatssekretär. Dort schiebebahnhof für unbequeme oder weniger fähige Mit- kommen Vertreter und Vertreterinnen aller Bundesminis- arbeiter missbraucht werden. Ferner müssen wir Kontakt terien, des Kanzleramtes sowie der Bundesländer regel- mit denjenigen halten, die wir in die internationalen Or- mäßig zusammen, um sich in internationalen Personal- ganisationen geschickt haben. Nicht ohne Grund werfen fragen zu koordinieren und Bewerbungen abzusprechen. wir unseren Kollegen in internationalen Organisationen (B) manchmal vor, dass sie nicht mehr wissen, woher sie Drittens. Im April 2002 wurde in engem Zusammen- (D) kommen. Das hängt natürlich auch damit zusammen, wirken von Bundesregierung und Bundestag das Zen- dass wir uns alle bisher zu wenig für die Karriere der Be- trum für Internationale Friedenseinsätze, das ZIF, ge- treffenden eingesetzt haben. Auch das sollten wir in Zu- gründet. Es ist in diesem Bereich weltweit führend. Das kunft besser machen. Zentrum rekrutiert ziviles Personal für internationale Friedenseinsätze, die von den Vereinten Nationen, der Wir müssen noch viel deutlicher erkennen – das ist OSZE, der Europäischen Union oder anderen internatio- auch die Grundlage unseres Antrags –, dass die Zukunft unseres Landes nicht von uns allein, sondern immer nalen Einrichtungen beschlossen und durchgeführt wer- mehr von Entscheidungen in Brüssel, New York oder den. Genf abhängt. Wir müssen unsere personalstrategischen Wir trainieren Mitbürgerinnen und Mitbürger aller Scheuklappen ablegen und viel konsequenter als bisher Berufszweige, die bereit sind, sich für Einsätze in frie- auf eine Erhöhung der deutschen Personalpräsenz in in- denserhaltenden Maßnahmen oder als Wahlbeobachter ternationalen Organisationen hinarbeiten. Ich glaube, zu engagieren. dies ist eine notwendige und wichtige Investition in Deutschlands Zukunft. Deswegen fordere ich uns alle (Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf, über den vorgelegten Antrag der CDU/CSU-Frak- NEN]: Sehr gut!) tion in den Ausschüssen konstruktiv, energisch und er- giebig zu diskutieren. Damit besitzen wir erstmals eine Personalreserve. Eine solche gab es zu Ihrer Regierungszeit nicht. Aber wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sind uns einig, dass eine solche Reserve gut ist, um Detlef Dzembritzki [SPD]: Wie immer! Ma- schnell und gezielt qualifiziertes Fachpersonal bereitstel- chen wir!) len zu können. Das ZIF ist führend und beispielgebend in Europa. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Müller. und bei der SPD) Das heißt, die von Ihnen geforderte Koordinierung Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen findet längst statt; die Bundesländer sind integriert und Amt: das hat zu entsprechenden Erfolgen geführt. So hat sich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine der Anteil des deutschen Personals bei internationalen Frage, Herr Ruck, die internationale Personalpolitik ist Organisationen im vergleichbaren höheren Dienst seit 10548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Staatsministerin Kerstin Müller (A) 1998 um 1 300 Personen auf circa 4 700 Personen er- Deshalb gibt es in vielen Organisationen so genannte (C) höht. Margen, an denen sich die angemessene personelle Prä- senz messen lässt. Ich finde, nur dieser Vergleich ist ehr- Mit einem weiteren Beispiel gehe ich ganz konkret lich. auf das, was Sie angesprochen haben, ein: Seit 2001 hat das Auswärtige Amt über 2 000 Bewerberinnen und Be- Wenn Sie Ihre eigenen Forderungen gegenüber der al- werber, die sich für den zentralen Aufnahmewettbe- ten Bundesregierung aus der alten Bundestagsdrucksa- werb der EU interessieren, auf diesen Concours konkret che noch einmal nachlesen, werden Sie zugeben, dass vorbereitet. Selbst Vorstellungsgespräche werden in klei- wir diese Vorschläge weitgehend verwirklicht haben. nen Gruppen geübt. Der Aufwand lohnt sich: Die deut- Unsere Bemühungen werden auch genau beobachtet. schen Bewerberinnen und Bewerber stellen jetzt die Sie haben Frankreich erwähnt. Als größtes Lob betrachte größte Gruppe in der EU; das heißt, jeder fünfte Platz ich zum Beispiel eine Bemerkung des französischen „Fi- auf den Rekrutierungslisten für EU-Beamte ging an uns. garo“ vom Oktober 2002, den ich abschließend zitieren Sie haben den Nachwuchs angesprochen. Auch hier möchte: ist der Erfolg deutlich messbar: Unter den EU-Beamten Mittlerweile schneiden die deutschen Teilnehmer stellten wir bislang etwa 12 Prozent, beim Nachwuchs beim EU-Concours besser ab als die französischen stellen wir nun aber 20 Prozent. Das ist ein Kompliment Bewerber. Der Grund: Berlin hat den Stier bei den an den deutschen Nachwuchs, der offensichtlich akade- Hörnern gepackt und die Vorbereitung und Betreu- misch gut ausgebildet ist und meist eine große Fremd- ung organisiert. sprachenkompetenz aufweist. Sie sehen: Es hat sich viel verändert. Das meiste ha- Darüber hinaus haben wir im Auswärtigen Amt Da- ben wir schon umgesetzt und wir arbeiten gemeinsam tenbanken über alle freien Stellen bei internationalen weiter an dem Ziel einer größeren Repräsentanz von Organisationen geschaffen, die für jeden über das Inter- deutschem Personal in internationalen Organisationen. net zugänglich sind. Dort sind ständig zwischen 800 und 900 Ausschreibungen aufgelistet und fast 300 000 Bür- Vielen Dank. gerinnen und Bürger haben sich hier schon informiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine solche Übersicht war eine jahrzehntealte Forde- und bei der SPD – Marianne Tritz [BÜND- rung; wir haben sie umgesetzt. Auch können hier alle, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Arbeit!) die sich für qualifiziert halten, ihren Lebenslauf einstel- len. Sie erhalten damit einen Abgleich der theoretisch für sie interessanten Ausschreibungen. Über 7 000 Nut- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) zerinnen und Nutzer haben sich registrieren lassen. Die Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Hoyer von der (D) Folge: Die Zahl der Bewerbungen steigt und mittelfristig FDP-Fraktion. damit auch die Zahl der Einstellungen. Dr. Werner Hoyer (FDP): Sie merken also: Der Schwerpunkt unseres Engage- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ments richtet sich an die Öffentlichkeit; denn ein Groß- Wenn wir ehrlich sind, sind wir uns bei diesem Thema in teil der deutschen Beschäftigten bei internationalen Or- der Analyse ziemlich einig. Der Antrag der Unionsfrak- ganisationen kommt aus dem privaten Bereich und nicht tionen geht in die völlig richtige Richtung. Wir können aus dem öffentlichen Dienst. im Ausschuss noch über einige Details sprechen; aber Gleichwohl haben wir auch die beamtenrechtlichen die Richtung stimmt. Regelungen in der Bundeslaufbahnverordnung verbes- Bei pragmatischer Betrachtung der Situation und sert; das heißt, jetzt wird eine erfolgreiche Tätigkeit bei wenn man nicht nur Zahlenspiele im Deutschen Bundes- einer internationalen Organisation als zusätzliches Qua- tag diskutieren will, stelle ich mir jedoch die Frage, ob lifikationsmerkmal bei der Karriereentscheidung berück- man sich nicht vielleicht von der Berichterstattung an sichtigt. Damit wird erstmals das „Spiralmodell“, das in den Deutschen Bundestag trennen und stattdessen eine Ihrem Antrag erwähnt wird, also der Wechsel von Beam- intensive Berichterstattung in den jeweils zuständigen ten zwischen Mutterhaus und internationalen Organisati- Ausschüssen vornehmen könnte. Dort könnte man auch onen auf immer höheren Stufen, lohnend. offen über Qualität reden, ohne internationale Empfind- Angesichts solcher Erfolge sollten wir aber nicht ver- lichkeiten zu verletzen. Hierüber müssten wir unter- messen werden. So können wir zum Beispiel nicht, wie einander eigentlich gesprächsfähig sein. Sie, Herr Ruck, fordern, den finanziellen Beitrag, den (Beifall des Abg. [Wies- wir zur EU und zu den internationalen Organisationen loch] [SPD]) leisten, als alleinigen Maßstab für eine personelle Reprä- sentanz nehmen. Die Folge wäre nämlich, dass sich ent- Ich finde es gut, dass Sie, Frau Staatsministerin, ei- wickelnde Länder dann keine Chance hätten, in den in- nige positive Entwicklungen vorgetragen haben. So gibt ternationalen Organisation ausreichend vertreten zu sein. es zum Beispiel beim EU-Concours eine sehr erfreuli- Das können wir politisch nicht wollen. che Entwicklung. Die Situation dort hat sich in den letz- ten Jahren erheblich verbessert. Ich finde es insgesamt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gut, dass die Bundesregierung damit die Initiative fort- sowie bei Abgeordneten der SPD) führt, die 1996 die damalige Bundesregierung ergriffen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10549

Dr. Werner Hoyer (A) hat. Die Initiative geht zurück auf eine Studie der dende ist. Dann werden wir es eher schaffen, unsere An- (C) Konrad-Adenauer-Stiftung, die vom Auswärtigen Amt sprüche auf internationaler Ebene durchzusetzen. und vom Bundeskanzleramt aufgegriffen worden ist. Ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten würde einen großen Fehler machen, wenn ich die Bun- der CDU/CSU) desregierung dafür kritisieren würde, dass sie das konse- quent fortsetzt. Die von der Staatsministerin dargestellte Verbesserung der qualitativen Situation sollte daher durchaus ermuti- Trotzdem stimmt im Ergebnis vieles noch nicht. Da- gend sein. für sprechen nicht nur die Quantitäten in den internatio- nalen Organisationen, sondern häufig auch die Qualitä- Herzlichen Dank. ten. Es hat nicht viel Sinn, Planstellen einfach nur zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) addieren. Wir müssen vielmehr auch über die entspre- chenden Funktionen sprechen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahrnehmen sollen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Dzembritzki (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie von der SPD-Fraktion. des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) Betrachtet man die Personalpolitik aus Sicht der zu- Detlef Dzembritzki (SPD): ständigen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich den zuständigen Ministerien und sonstigen Behörden, denke, alle Diskussionsbeiträge zeigen auf, dass wir stellt man fest: Es fehlt an Nachhaltigkeit. Auf dem Ge- dicht beieinander sind. So gesehen bin ich froh, dass biet der politischen Zielsetzung ist mittlerweile viel pas- CDU/CSU das Thema der Präsenz unserer Mitarbeite- siert. Faktum ist aber, dass viele der in Personalverant- rinnen und Mitarbeiter in internationalen Institutionen in wortung stehenden Beamten noch nicht mitbekommen ihrem Antrag aufgreift. Dieses Thema sollten wir unse- haben, dass ein Beamter, der zu einer internationalen Or- rer dauernden Aufmerksamkeit unterwerfen. Herr ganisation wechselt, nicht aus den Augen und aus dem Kollege Ruck, Sie erheben in Ihrem Antrag einige kon- Sinn gehen darf. Das ist in der Realität aber nach wie vor struktive Forderungen, die die Notwendigkeit der Fort- der Fall. führung unserer Bemühungen unterstreichen. Ich denke, auch in unseren weiteren Beratungen werden wir sehr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie konstruktiv zusammenarbeiten. des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) Allerdings weisen sowohl die Staatsministerin als Hier gibt es viel zu verbessern. Da müssen wir dranblei- (B) auch Kollege Hoyer darauf hin, dass in den zurücklie- (D) ben. genden Jahren entscheidende Verbesserungen eingeleitet Hier braucht sich der Bund im Übrigen auch nicht zu worden sind und dass die Ergebnisse, was die Tendenz verstecken, weil das in der Privatwirtschaft häufig nicht der Entwicklung betrifft, durchaus positiv sind. Ich anders ist. Ich habe lange in einer Organisation gearbei- glaube, bei uns herrscht Einmütigkeit darüber, dass der tet, die sich mit internationaler Personalentwicklung be- Einfluss der internationalen Institutionen kontinuierlich fasst, und kann daher sagen, dass es in vielen Bereichen zunimmt. An dieser Stelle darf ich uns in die Verantwor- der Privatwirtschaft auch so ist, dass Mitarbeiter in Per- tung nehmen, dies noch viel stärker in die Köpfe unserer sonalabteilungen eine gewisse Neigung haben, jeman- Bevölkerung zu tragen. Denn wenn man sich beispiels- den zu vergessen, der früher einmal im Unternehmen weise die Wahlbeteiligung bei der Europawahl an- ganz wichtig war und jetzt in einer Auslandsverwendung sieht, dann ist das deprimierend. Das ist ein Signal dafür, ist. Hinterher wird für diesen krampfhaft eine Reinte- dass wir es bisher nicht geschafft haben, diese internatio- grationsmöglichkeit gesucht. Häufig wird jemand, den nale Verantwortung aufzuzeigen. einerseits die Bundesregierung auf Kosten der Steuer- Wir wissen, dass immer mehr Entscheidungen auf su- zahler als Experten irgendwohin geschickt hat, damit er pranationaler Ebene getroffen werden und dass es des- sich für diese internationale Organisation einsetzt, der wegen wichtig ist, dort auch Einfluss zu haben. Das andererseits aber auch Kompetenzen erwirbt, die man heißt, dass unsere Personalpräsenz auf allen Ebenen ver- hier sehr gut nutzen könnte, nachher in der Liegen- stärkt werden muss, damit wir unsere Interessen vertre- schaftsverwaltung eingesetzt. Ich könnte Ihnen hier mas- ten und unsere Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen senhaft Beispiele aus der Praxis nennen. Hier gibt es viel können. zu verbessern. Herr Kollege Ruck, ich persönlich hätte überhaupt Nationale Experten auf Kosten der Steuerzahler zu kein Problem damit, wenn unser Personaleinsatz in eini- entsenden hat nur dann Sinn, wenn das mit einem Perso- gen Institutionen größer als unser materieller Einsatz nalentwicklungskonzept verbunden ist. An diese Auf- wäre. Trotzdem will ich noch einmal das unterstreichen, gabe sollten wir dringend herangehen und die Frage der was die Staatsministerin gesagt hat. Wir müssen darauf Reintegration in den Vordergrund stellen. achten, dass wir diejenigen mitnehmen, die wir auch in anderen Debatten immer vor Augen haben: die Entwick- Ein letztes Wort: Auf der internationalen Bühne setzt lungsländer. sich mehr und mehr das Bestenprinzip durch. Deswegen ist es richtig, dass wir, wenn wir Personalpolitik betrei- Wir können nicht nur über die Erhöhung unseres An- ben, strikt darauf achten, dass die Qualität das Entschei- teils im Bundeshaushalt streiten, sondern wir müssen 10550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Detlef Dzembritzki (A) auch sehen, dass immaterielle Unterstützung ebenfalls „Wie verstärken wir unsere internationale Präsenz?“ mit (C) hilfreich sein kann. Aber ich glaube, das ist letztendlich dazu beigetragen hat, dass wir unseren Anteil in interna- kein Widerspruch. Seit Übernahme der Regierungsver- tionalen Organisationen erhöhen konnten. Wir sollten antwortung haben wir ja aufgezeigt, dass wir uns gerade ganz zufrieden sein, dass das funktioniert hat. im internationalen Bereich einbringen und positionieren und dass der Einsatz unserer Mitarbeiterinnen und Mit- Das ist, wenn man so will, eine Auflistung von Bau- arbeiter hier eine große Rolle spielt. steinen. Wir müssen sehen, dass zum Beispiel der Koor- dinator für Internationale Personalpolitik beim Auswär- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- tigen Amt und der Chef des Bundeskanzleramtes als loch] [SPD]) wichtige Koordinatoren mit die Geschicke lenken. Ich habe mich wirklich gefreut, Herr Kollege Ruck, dass Wir müssen aber auch aufpassen, dass die Programme der Weg, der beschritten worden ist, selbst in Ihrem An- weitergeführt werden. Die eigentlichen Einstiegsange- trag als richtig anerkannt und auch die Bereitschaft, ei- bote sind nämlich internationale Jugend- und Bil- nen Konsens zu finden, signalisiert wird. dungsprogramme – seien es Sprachprojekte, europäi- scher Freiwilligendienst, ERASMUS-Stipendien oder Nun zur Situation in den 80er- und 90er-Jahren. Herr das Carlo-Schmid-Programm für Hochqualifizierte oder Hoyer, Sie haben als Partner bzw. Zeugen die Konrad- internationale Praktika. Diese Programme müssen wei- Adenauer-Stiftung angeführt, die uns damals darauf terlaufen. Denn wer sich mit deutschen Mitarbeiterinnen hingewiesen hat, dass hier ein Riesennachholbedarf be- und Mitarbeitern unterhält, die den Einstieg in interna- steht, den man begonnen hat auszugleichen. tionale Organisationen gefunden haben, stellt fest, dass Aber Folgendes muss man auch aus unserer Perspek- diese Programme häufig eine Einstiegsmöglichkeit dar- tive durchaus kritisch bzw. als Herausforderung sehen: stellten. Deswegen halte ich sie für einen ganz wichtigen Die starken Jahrgänge, die ihren Berufseinstieg in den Bereich, um potenzielles Personal zu werben. 70er-Jahren hatten, gehen bald in Pension. Viele, die (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- Spitzenpositionen erreicht haben, werden sich in den loch] [SPD]) nächsten Jahren zurückziehen. Dadurch wird ein über- proportionaler Rückgang stattfinden, der sich nicht auto- Vieles mehr muss gemacht werden. Herr Kollege matisch durch die Jahrgänge, über die jetzt verhandelt Dr. Ruck, mit dem Jahresbericht – auch mit der Ergän- wird, ausgleichen lässt. zung, die Herr Hoyer vorgenommen hat – sollte man sich konstruktiv beschäftigen. Ich halte die Idee, ihn zur Auch das Thema Qualität ist angesprochen worden. intensiven Diskussion direkt in die Ausschüsse zu ge- Wir müssen feststellen, dass die Fremdsprachenkennt- ben, für einen überlegenswerten Punkt. Ich hätte da (B) nisse der mittleren Generation häufig nicht optimal sind. (D) überhaupt keine Bedenken. Wir haben also darauf zu achten, dass das, was jetzt an Aufgaben zu bewältigen ist, in besonderer Weise auch Ich will noch einmal auf die Forderung einer konse- mit jüngerem Nachwuchs bewerkstelligt wird. Wir stim- quenten Anwendung des Spiralmodells eingehen, die men erfreulicherweise darin überein, dass wir einen Sie erheben, damit im Ausland gewonnene Erfahrungen Nachwuchs haben, der seine Qualität unter Beweis ge- auch angemessen honoriert werden. Ich will zugeben: stellt hat und mit dem wir wirklich zufrieden sein kön- Im Falle von Herrn Köhler haben Sie das Modell konse- nen. quent angewandt, wenngleich das unseren Anteil an in- All das, was von der Bundesregierung eingeleitet und ternationalen Spitzenpositionen nicht gestärkt hat. Kol- von der Staatsministerin schon angesprochen worden ist lege Ströbele hat schon einen berechtigten Zwischenruf – etwa die Veröffentlichung der Stellenausschreibungen gemacht: Die Zurückhaltung des bayerischen Minister- internationaler Organisationen auf der Homepage des präsidenten stärkt unsere internationale Präsenz eben- Auswärtigen Amtes seit 2001, die hier ständig ange- falls nicht. Aber nun einmal Ironie und Freude über die sprochen wird –, ist ein exzellenter Service, der auch Entwicklung von Herrn Köhler beiseite – dieses Spiral- über Detailinformationen verfügt und Bewerberprofile modell ist ja keine neue Erfindung der Union, sondern schafft, die so zugeschnitten sind, dass viele eine Chance auch wir versuchen das zu realisieren. Das ist hier auch haben, sich einzubringen. Ich denke, dass auch die von Ihnen, von Herrn Hoyer und von Frau Müller ange- Kooperation der verschiedenen Ressorts anerkennens- sprochen worden. wert ist, um gerade für den Bereich des mittleren Ma- Wir müssen aber auch hier selbstkritisch sein. Bei al- nagements geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu ler Anerkennung und bei allem Respekt, Frau Müller, finden, und dass die Auslandsvertretungen aktiv mit ein- denke ich, dass der gesetzliche Rahmen „Beamtenge- bezogen sind. Ich glaube, das alles sind gute Zeichen. setz“ noch nicht ausreicht. Wir müssen darauf hinwir- (Vorsitz: Vizepräsidentin ) ken, dass die Mentalität in unseren Behörden wirklich verändert wird, sodass ein Auslandseinsatz nicht als Ur- Was ich hier noch einmal anerkennend herausstellen laub vom eigentlichen Arbeitsplatz angesehen wird, son- will, ist zum Beispiel die Vorbereitung für den Con- dern dass ein solcher Einsatz bei der Rückkehr berück- cours auf europäischer Ebene. Das ist wirklich ein Er- sichtigt und wirklich als Pluspunkt angesehen wird. Die folgsprogramm gewesen und das sollte man auch weiter- Bundesregierung hat durch eine Änderung der Bundes- führen. Ich glaube, wir alle können uns auf die Schulter laufbahnverordnung 2002 festgestellt, dass eine „er- klopfen, dass die dauernde Diskussion über die Frage folgreich absolvierte Tätigkeit“ besonders zu berück- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10551

Detlef Dzembritzki (A) sichtigen ist. Die Interpretation von „erfolgreich“ hat zu gen Entscheidungen, die auf diesem Feld notwendig (C) großen Diskussionen geführt: Man könne das ja nicht sind, aber schon noch nachbohren. richtig beurteilen, das alles sei nicht vergleichbar. Mir geht es auch darum: Wir haben in dieser Woche Wir machen uns selbst Probleme, wo eigentlich keine – es passt halt sehr gut zusammen – sehr stark um die sind. Zuwanderung gerungen, damit die Besten im Ausland zu uns kommen. Deshalb muss es auch im deutschen In- Unsere französischen Nachbarn haben all diese teresse liegen, dass die besten Deutschen im Ausland Dinge natürlich weitaus pragmatischer geregelt. Wir Entscheidungen treffen können. Diese Entscheidungen sollten uns nicht davon abbringen lassen, immer wieder müssen sie auch zugunsten und im Interesse der Deut- die entsprechende Forderung einzubringen. Es ist für die schen durchsetzen. Das möchte ich heute noch stärker entsendenden Behörden – ob Bundes- oder Landes- herausarbeiten. Wir wollen keinen allgemeinen interna- behörden – sinnvoll, Mitarbeiter in den Auslandsdienst tionalen öffentlichen Dienst bekommen, in dem man zu schicken; denn es ist eine Bereicherung, wenn diese Konturen verliert, sondern in ihm müssen deutsche In- zurückkommen und ihre Erfahrungen in ihren Job ein- teressen durchaus vertreten werden. bringen können. Im Grunde wäre es wenig hilfreich, um jetzt hier nicht andere Worte zu gebrauchen, wenn die Ich betone das nochmals: Nachdem wir in fast allen Kompetenz und das Erfahrungswissen, das sie mit zu- internationalen Organisationen zu den größten Beitrags- rückbringen, nicht entsprechend genutzt werden könn- zahlern gehören, haben wir auch die Pflicht und die Ver- ten. antwortung, mit eigenem Personal Linien zu ziehen. Es ist klar festzustellen, dass die internationale Verflech- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- tung ein Netz von deutschen Topmitarbeitern braucht loch] [SPD] sowie des Abg. Dr. Christian und dass dieses Personal nicht nur Beobachter bei Kon- Ruck [CDU/CSU]) ferenzen sein soll, sondern auch Weichen stellen muss, Oder nehmen Sie Großbritannien; Ihr Antrag be- weil die Multinationalität und die Internationalität der zieht sich darauf. Ich weiß nicht, ob Sie das „European Welt laufend größer werden. Mit unserem Antrag – for- Fast-Stream“-Programm meinen. In Großbritannien zum muliert von Dr. Christian Ruck; ich betone das, weil ich Beispiel werden Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten am Schluss auf etwas hinaus möchte – haben wir dieser Bereichen, also aus allen Ministerien, herangezogen, die Entwicklung Rechnung getragen. quasi als Taskforce temporär im Einsatz sind. Mit den (Jörg van Essen [FDP]: Es geht ein Ruck erworbenen Erfahrungen finden sie die Motivation, für durchs Land, jawohl!) längere Zeit in internationale Jobs zu gehen. Hieraus ist sicherlich einiger Honig zu saugen. Natürlich gab es auch in der Vergangenheit immer (B) (D) wieder bekannte Deutsche in internationalen Organi- So gesehen finde ich es schön, dass man hier am sationen. Das ist also nicht erst seit der neuen Bundesre- Samstag um 13.06 Uhr gierung so. Ich will nicht vom alten Walter Hallstein an- (Zurufe: Am Freitag!) fangen; denn das ist wirklich zu lange her, das weiß kaum mehr jemand. – am Freitag um 13.06 Uhr – eine solch breite Konsens- debatte führt. Ich habe nur um zehn Sekunden überzo- (Detlef Dzembritzki [SPD]: Doch! – Jörg van gen. Essen [FDP]: Ich war schon als Kind politisch interessiert, ich kenne ihn!) Vielen Dank und schönes Wochenende. Ich nenne unsere großen und wichtigen Leute auf der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Führungsebene der Vereinten Nationen. Als Assistant der FDP – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wenn ich Secretary General gab es Klaus Töpfer, Michael Steiner, zwölf Minuten Zeit habe, kann ich auch groß- Angela Kane, Karl Theodor Paschke und General Eisele. zügig sein!) Das alles sind bekannte Namen, die sich einen sehr gu- ten Ruf erworben haben. Wenn man heute irgendwo hin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kommt, kann man sich auf diese Leute berufen. Sie ha- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Klaus Rose, ben nicht nur persönlich etwas erreicht, sondern auch in am Freitag um 13.06 Uhr. der Sache. Hier haben die Deutschen wirklich einen gro- (Heiterkeit) ßen Beitrag geleistet. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): FDP) Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist logisch, dass bei der NATO und auch auf der EU- Ich möchte den allgemeinen Konsens nicht trüben. Ich Ebene sehr gute Deutsche Präsenz gezeigt haben. Auch bin im Gegenteil sehr dankbar, dass eine jahrelange Dis- heute kann man darauf noch stolz sein. Mit Horst kussion heute wieder einmal Konturen bekommt, weil Köhler, dem zukünftigen Bundespräsidenten, erwähne das Thema nicht nur wichtig ist, sondern uns auch am ich einen weltweit guten Namen. Herzen liegt und weil doch nicht alles in Ordnung ist. Ich freue mich zwar, dass auch vonseiten des Auswärti- Warum es mir darauf ankommt, ein Netzwerk von gen Amtes viele Erfolgsmeldungen kamen, wir werden Dauermitarbeitern und auch jungen Kräften im internatio- bei den Diskussionen im Ausschuss und vor den künfti- nalen Bereich aufzubauen, möchte ich kurz unterstreichen. 10552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dr. Klaus Rose (A) Ich erkenne an, dass es im Auswärtigen Amt eine Koor- Konsens festgestellt haben, gehe ich davon aus, dass wir (C) dinierungsstelle gibt – ab und zu rede ich mit den dort tä- uns in den nächsten Wochen und Monaten alle gemein- tigen Damen und Herren –, und bin ganz sicher, dass sie sam einen Ruck geben, um diesem Antrag zum Erfolg zu dankbar dafür sind, dass wir diesen Antrag heute einge- verhelfen. bracht haben und uns in den nächsten Monaten darüber austauschen werden. Sie fühlen sich dadurch gestützt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und gestärkt. Wir werden ihnen helfen, zu weiteren Er- folgen zu kommen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. Wir brauchen eine systematische Personalpolitik. Die Ansätze, die vorhanden sind, sollten wir überall ge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf meinsam unterstützen. Ich persönlich erwarte allerdings Drucksache 15/2652 an die in der Tagesordnung aufge- eine wirklich systematische Personalpolitik und einen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- ständigen Erfahrungsaustausch. In Zeiten moderner den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- Kommunikation sollte kein Beamter – wie man so locker schlossen. sagt – jottwede oder gar verschollen sein. Er darf auch Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf: nicht die Entwicklung in Deutschland aus den Augen verlieren, sich abkoppeln oder gar zu einem internatio- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- nalen Neutrum werden. Das möchte ich zusammen mit regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes meiner Fraktion nicht. Ein solcher Beamter sollte weiter- zur Einführung der nachträglichen Siche- hin mit Deutschland verbunden bleiben und auch die rungsverwahrung deutsche Politik aufmerksam verfolgen. – Drucksachen 15/2887, 15/2945 – Meine Vorstellung ist – Sie verzeihen mir, dass ich aus einer meiner früheren Tätigkeit einen Vergleich (Erste Beratung 105. Sitzung) ziehe – ein gegliedertes System von „Berufs- und Zeit- – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- soldaten“, die im besten Sinne des Wortes im internatio- neten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, nalen Dienst tätig sind. Einige sollen ein ganzes Leben Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und vor Ort bleiben und andere sollen nur zeitweise hinzu- der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- kommen, gut integriert werden und dann zu Hause ent- wurfs eines Gesetzes zum Schutz der Bevölke- sprechende Ergebnisse bringen. Wir haben dankenswer- rung vor schweren Wiederholungstaten durch terweise im Auswärtigen Ausschuss den Unterausschuss nachträgliche Anordnung der Unterbringung (B) Vereinte Nationen. Damit haben wir viele Möglichkei- in der Sicherungsverwahrung (D) ten, auf die Vereinten Nationen und die vielen Sonder- organisationen, die es dort gibt, nicht nur zu schauen, – Drucksache 15/2576 – sondern auch Einfluss zu nehmen. (Erste Beratung 100. Sitzung) Die Prozentzahlen, die in diesem Zusammenhang im- – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat mer genannt werden, stören mich. Denjenigen, die im- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum mer davon reden, was man prozentual zahlt und was Schutz der Bevölkerung vor schweren Wieder- man dafür an Personal stellen müsste, kann ich nur sa- holungstaten durch Anordnung der Unter- gen, dass das nicht stimmt. Man muss auch die Qualität bringung in der Sicherungsverwahrung und die inhaltlichen Weiterentwicklungen sehen. Lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: Der vorhandene Perso- – Drucksache 15/3146 – nalschlüssel, der immer wieder angeführt wird, wird (Erste Beratung 113. Sitzung) von uns in den nächsten Wochen garantiert kritisch hin- terfragt. Ich glaube nicht alles, was gesagt wird, und Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- auch nicht, dass alles bestens ist. Wir werden uns den schusses (6. Ausschuss) Personalschlüssel auf alle Fälle genau anschauen. Auch kann ein Personalschlüssel, selbst dann, wenn er wirk- – Drucksache 15/3346 – lich in Ordnung sein sollte, überprüft und neu gefasst Berichterstattung: werden. Abgeordnete Erika Simm Joachim Stünker Ich sehe, dass meine Redezeit leider dem Ende ent- Dr. Jürgen Gehb gegengeht. Bei dem neuen EU-Parlament und der neuen Dr. Norbert Röttgen EU-Kommission werden Tausende von neuen Beamten Jerzy Montag gebraucht. Ich als alter Haushälter sage: Hoffentlich Jörg van Essen werden diese Beamten bei den nationalen Parlamenten und Ministerien abgezogen, damit die Strukturen nicht Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- überall neu aufgebläht werden. Aber ich bin mir nicht so sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch sicher, ob das tatsächlich geschehen wird. höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Am Anfang habe ich erklärt: Der Antrag ist vom Kol- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst legen Ruck. Nachdem wir heute so große Einigkeit und der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10553

(A) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- tet sind, fällt mir die Zustimmung zur nachträglichen (C) desministerin der Justiz: Sicherungsverwahrung leichter. Verehrte Frau Präsidentin! Ich bedanke mich, dass Sie Wenn ich sage, dass mir heute die Zustimmung leich- mir das Wort erteilt haben. Liebe Kolleginnen und Kol- ter fällt, dann will ich keineswegs verschweigen, dass legen! An diesem Freitagmittag beraten wir drei Gesetz- ich der nachträglichen Sicherungsverwahrung lange entwürfe, die seit dem Urteil des Bundesverfassungs- skeptisch gegenübergestanden habe. gerichts vom 10. Februar vorliegen. Wir haben diese Entwürfe zügig, aber vor allen Dingen gründlich bera- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten, wie es bei diesem problematischen und schwierigen Ich halte es deshalb auch für wichtig, dass wir uns mög- Thema nicht anders geht. Ich möchte mich bei allen Kol- lichst konkret vor Augen führen, worüber wir heute ent- leginnen und Kollegen aus dem Rechtsausschuss bedan- scheiden: Jemand hat eine schwere Straftat begangen ken, dass wir die Beratungen heute abschließen können. und wurde deswegen zu einer langen Freiheitsstrafe ver- Es geht einerseits um den Schutz der Bevölkerung vor urteilt, die er teilweise verbüßt hat. Darf der Staat jetzt hochgefährlichen Straftätern, andererseits um den noch, erst nach Verurteilung und weitgehender Verbü- schwersten Eingriff, den unsere Strafrechtsordnung zu- ßung der Strafe, entscheiden, dass dieser Mensch als ge- lässt, nämlich die Sicherungsverwahrung. Das Bundes- fährlich einzuschätzen ist und auf unbestimmte Zeit ein- verfassungsgericht hat entschieden, dass dieses Mittel gesperrt bleiben muss? auch im Wege der nachträglichen Anordnung zur Verfü- Ich persönlich habe Respekt vor denjenigen, die hier gung steht, wenn der Schutz der Bevölkerung nicht an- Nein sagen. Bis zum 10. Februar hätte ich beispielsweise ders gewährleistet werden kann. Alle vorliegenden Ent- dem Kollegen van Essen zugestimmt. Seitdem haben wir würfe sehen deshalb diese Möglichkeit vor. Über die jedoch mit der Entscheidung des Bundesverfassungs- jahrelang umstrittene Grundsatzfrage besteht jetzt weit- gerichts eine andere Ausgangslage. Dieser muss man gehend Einigkeit. einfach Rechnung tragen. Ich meine übrigens auch, dass man den Richterinnen und Richtern des Bundesverfas- Einig waren sich die Entwürfe in der ursprünglichen sungsgerichts nicht einfach unterstellen sollte, sie hätten Fassung auch in der Ersttäterregelung. Der Begriff ist sich mit der Europäischen Menschenrechtskonvention eigentlich ungenau, aber er hat sich nun einmal einge- nicht auseinander gesetzt. Wir wissen genau, dass das bürgert. Der Regierungsentwurf sah praktisch die glei- Gericht dieses Thema in der mündlichen Verhandlung chen Voraussetzungen wie die Entwürfe von Union und sehr ausführlich besprochen hat. Bundesrat vor. Das haben wir nicht zuletzt nach dem Er- gebnis der Sachverständigenanhörung geändert, in der Für eine nähere Auseinandersetzung mit der Men- (B) teilweise recht kritisch auf Ersttäterregelungen einge- schenrechtskonvention fehlt hier leider die Zeit. Wir ha- (D) gangen wurde. Tatsächlich müssen wir bei diesem Täter- ben dies im Berichterstattergespräch und im Rechtsaus- kreis die Anordnungsmöglichkeit unbedingt auf diejeni- schuss schon eingehend diskutiert. Ich bleibe bei der gen Verurteilten beschränken, bei denen die Prüfung Auffassung, dass unser Gesetz über die nachträgliche Si- künftiger Gefährlichkeit schon nach Art und Schwere cherungsverwahrung nicht konventionswidrig ist. der Anlasstat nahe liegt. Diese Anforderung erfüllt un- Bis zum 30. September müssen nach diesem Bundes- sere Regelung. Sie verlangt eine Verurteilung wegen gesetz Entscheidungen über diejenigen Verurteilten ge- eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Un- troffen sein, die derzeit noch nach Landesstraftäterunter- versehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung usw. und bringungsgesetzen inhaftiert sind. Justizminister Becker eine Verurteilung zu mindestens fünf Jahren Freiheits- aus Sachsen-Anhalt hat erst Anfang dieser Woche wie- strafe. der einmal öffentlich auf die Gefahr hingewiesen, die er Auch den Straftatenkatalog, den wir jetzt für die bei Freilassung eines Verurteilten in seinem Bundesland Mehrfachtäterregelung vorschlagen, halte ich für ange- sieht. Er hat deshalb den Bundestag aufgefordert, zügig messener als die anderen Vorschläge. Zugegeben, es zum Abschluss der Beratungen zu kommen. Nach der geht um Nuancen, aber diese Nuancen können sehr weit Entscheidung von heute ist klar: Wir haben unsere Auf- reichende Folgen für die Betroffenen haben. Das Bun- gabe gemacht. Jetzt sind die Länder im Bundesrat an desverfassungsgericht hat nun einmal die besonders der Reihe. Herr Becker und seine Kolleginnen und Kol- hochrangigen Rechtsgüter genannt, deren Bedrohung die legen haben es selbst in der Hand, wie schnell das Ge- nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung setz in Kraft treten wird. Jetzt können die unionsgeführ- rechtfertigen kann. ten Länder im Bundesrat beweisen, dass sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, was sie bei uns immer Ein ganz wichtiger Punkt ist für mich schließlich das anmahnen, und dass sie nicht nur hilflose Parteistrategen Verfahren. Wenn eine so einschneidende Sanktion im sind. Raum steht, kann darüber nur mit den stärksten Verfah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rensgarantien verhandelt werden. Das wird durch das DIE GRÜNEN – Siegfried Kauder [Bad Dürr- Hauptverhandlungsmodell unseres Entwurfs gesichert, heim] [CDU/CSU]: Sie stehen doch nicht hin- und das wird auch dadurch garantiert, dass zwei unab- ter Ihrem eigenen Entwurf!) hängige, im Strafvollzug nicht mit dem Betroffenen be- fasste Gutachter ihre Prognose abgeben müssen. Weil in – Ich danke Ihnen, Herr Kauder. Wenn Sie mir richtig unserem Entwurf diese Verfahrensgarantien gewährleis- zugehört hätten – was Sie üblicherweise nicht tun –, 10554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) dann hätten Sie gehört, dass ich meine Bedenken zu- Wir fordern es seit zwei Legislaturperioden. (C) rückgestellt habe und zu diesem Entwurf stehe. Viel- leicht sollten Sie einmal zu dem stehen, was Sie immer Sie sollten nicht die Verantwortung, die Sie dadurch wieder herausposaunen. auf sich genommen haben, dass Sie unsere Forderungen vier Jahre lang zurückgewiesen haben, von sich weisen. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Sie sollten vielmehr zu dieser Verantwortung stehen und CSU]: Vielleicht denken Sie einmal voraus- das tun, was Sie vier Jahre in seiner Notwendigkeit be- schauend!) stritten haben. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie schwenken jetzt nach über vier Jahren auf die DIE GRÜNEN) Linie der Union ein (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Aber nur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: halbherzig!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert Röttgen. und übernehmen zu 80 Prozent – ich betone: zu 80 Pro- zent, nicht zu 100 Prozent – die Vorstellungen von CDU Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): und CSU. Dadurch dass unsere Vorschläge von Ihnen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- übernommen werden, halten wir sie jetzt nicht für falsch. legen! Seit über vier Jahren, seit Januar 2000, fordern Ich gehe auch nur deshalb auf die Vergangenheit ein, CDU und CSU, dass der Staat die Möglichkeit eröffnet, weil ich darauf hinweisen möchte, dass Sie jetzt einen hochgefährliche Wiederholungstäter auch dann noch in richtigen Kurswechsel vollziehen. Bei den meisten von Haft nehmen zu können, wenn sich ihre Gefährlichkeit Ihnen geschieht das aber wider die eigene Überzeugung. erst während des Vollzugs der Freiheitsstrafe heraus- Sie gehorchen einem empfundenen Druck. stellt. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Genau so (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Haben ist es!) Sie das auch schon gefordert, als Sie noch an der Regierung waren?) Das ist die Wahrheit. Die Mehrheit von Ihnen lehnt den Kurswechsel der Sache nach ab. Sie gehorchen politi- – Als wir noch an der Regierung waren, haben wir die schem Druck. Das ist Ihr Problem. nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt. Es ist (B) völlig richtig: Wir haben sie eingeführt. Aber immerhin handeln Sie jetzt, nach vier Jahren. (D) Ich rede immer wieder von diesen vier Jahren; denn so (Zurufe von der SPD: Was? – Hans-Christian gut es ist, dass Sie einschwenken, kann und darf die Po- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie litik nicht so lange zusehen und warten, wenn es um den haben sie eingeführt?) Schutz der Bevölkerung vor schwerster Kriminalität Wir haben 1998 vorgehabt, weiterzuregieren, weil wir geht. ein gutes Programm haben und noch viele sinnvolle (Beifall bei der CDU/CSU) Maßnahmen vorhaben. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist doch die Konsequenz, die wir ziehen müssen. DIE GRÜNEN) Wir haben die Verantwortung, zu handeln, statt jahrelang zuzusehen und abzuwarten. Wir haben nicht gesagt, dass alles absolviert ist. In unserem Land gibt es nur wenige hochgefährliche Wir haben seit dem Jahr 2000 die Einführung der Straftäter und Wiederholungstäter. Es ist zwar kein Mas- nachträglichen Sicherungsverwahrung gefordert. senphänomen, aber es gibt solche Täter; es gibt einige (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE wenige hochgefährliche Straftäter. Das haben die Unter- GRÜNEN]: Aber 1998?) bringungsgesetze gezeigt, die in CDU- und CSU- geführten Bundesländern im Sinne einer Notstandsge- – Ich akzeptiere, dass Sie fragen, warum wir das nicht setzgebung geschaffen worden sind. Ich spreche von schon vorher getan haben. Notstandsgesetzgebung. Da Sie über vier Jahre die Ge- setzgebung verweigert haben, haben die unionsgeführten (Beifall bei der SPD – Jerzy Montag [BÜND- Länder – obwohl Sie den Standpunkt vertreten haben, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sie also dass es Sache des Bundes sei und damit auch vor dem nicht eingeführt!) Bundesverfassungsgericht Recht bekommen haben – im Auch wir können dazulernen. Aber die Frage, die sich Sinne eines Notstandes festgestellt, dass gehandelt wer- heute, im Juni 2004, stellt, Kollege Schmidt, ist: Warum den muss. In den CDU- und CSU-geführten Ländern, die haben Sie in Ihrer Regierungszeit vier Jahre gewartet? dies getan haben, sitzen acht hochgefährliche Wiederho- Sie haben mehr als vier Jahre länger gebraucht. lungstäter ein. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Ich frage mich, warum kein Bundesland, in dem die nur ein Viertel der Zeit, die Sie benötigt ha- SPD den Ministerpräsidenten stellt, ein solches Gesetz ben!) eingeführt und darauf gedrungen hat, dass dies auch auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10555

Dr. Norbert Röttgen (A) Bundesebene geschieht. In keinem SPD-geführten Bun- (Joachim Stünker [SPD]: Graffiti und Rechts- (C) desland gibt es untergebrachte Wiederholungstäter. staat! Das ist eine Kombination! Das ist unter Ihrem Niveau!) (Zuruf von der SPD: Mit Recht!) – Graffiti ist ein Massenphänomen. Ihre Ministerin redet Frau Kollegin, ich frage Sie: Gibt es gefährliche Straftä- öffentlich anders. Wir erwarten von ihr, dass sie im Par- ter nur in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg oder lament entsprechend handelt. Bayern und nicht in Nordrhein-Westfalen, dem bevölke- rungsreichsten Bundesland? Sind diese Bundesländer Wer dem Staat die entsprechenden Instrumente ver- anders, oder liegt es daran, dass Sie in den Ländern, in weigert, der muss offen mit den Bürgern reden. Mein denen Sie regieren, die Verantwortung – ich nehme die- Appell an die FDP lautet deshalb: Die FDP-Fraktion sen Begriff von Herrn Hartenbach sehr gerne auf; denn sagt heute als einzige Nein zu der Möglichkeit einer das ist die Kernfrage – nicht wahrnehmen, weil Sie poli- nachträglichen Sicherungsverwahrung. Das ist das Er- tisch nicht in der Lage sind, solche Gesetze durchzuset- gebnis Ihrer Abwägung und Ihr Recht. Es widerspricht zen? allerdings dem Ergebnis unserer Abwägung. Ich fordere Sie auf – weil das zur Wahrheit als Teil von Verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU) tung gehört –, dass Sie der Bevölkerung sagen: Wir, die Die Wahrheit rot-grüner Rechtspolitik ist: Sie selber FDP-Fraktion, sind dafür, acht gefährliche Wiederho- schaffen es nicht, solche Gesetze zu realisieren. Sie sind lungstäter, die jetzt untergebracht sind, freizulassen. dazu nur in der Lage, wenn außergewöhnlich starker Druck ausgeübt wird. (Dirk Manzewski [SPD]: Das ist Polemik!) Ich gehe auf diese Fragen deshalb ein, weil es hier um – Nein, das ist der Sachverhalt sowie die Konsequenz den Grundsatzstreit geht, den wir über die These der der Auffassung der FDP und Ihrer privaten Auffassung, CDU/CSU führen, dass der Staat dann, wenn er auf die meine Damen und Herren von der SPD. Instrumente einer rationalen und rechtsstaatlich ausge- Wenn wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute stalteten Kriminalitätspolitik verzichtet, die Akzeptanz nicht verabschieden, werden diese gefährlichen Straftä- des Rechtsstaates unterhöhlt. Das machen Sie leider sys- ter freigelassen; das ist ganz sicher. Sie müssen den tematisch. Menschen die Wahrheit sagen und ihnen darlegen, wel- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist wirk- che Konsequenzen Ihre Politik hat. lich ein schwerer Vorwurf, mein Lieber!) Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist nach unserer Auffassung Teil einer rechtsstaatlichen Krimi- (B) Jetzt gibt es einen Beispielsfall, in dem Sie auf Druck (D) nachgegeben haben. Das ist die DNA-Analyse, die – ra- nalpolitik. Das geltende Recht sieht ja schon die Mög- tional und rechtsstaatlich ausgestaltet – möglich wäre. lichkeit vor, die Sicherungsverwahrung im Urteil anzu- Sie haben aber nicht die Einigkeit, sie durchzusetzen. ordnen oder vorzubehalten. Im Unterschied dazu wird Andere Beispiele sind Massenphänomene wie Graffiti bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung die Be- und die Kronzeugenregelung. Auf dem Gebiet der inne- wertungsgrundlage in zeitlicher Hinsicht ausgeweitet. ren Sicherheit enthalten Sie als Abgeordnete der Koali- Die Möglichkeit, eine Prognose darüber abzugeben, ob tion dem Staat systematisch mögliche rationale und ein Straftäter gefährlich ist oder nicht, wird erweitert, ge- rechtsstaatliche Mittel der Kriminalitätsbekämpfung und nauso wie die Erkenntnisgrundlage, die vom Zeitpunkt -prävention vor. der Urteilsverkündung bis hin zur Freilassung – unter Würdigung des Vollzugsverhaltens – reicht. Es geht (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dage- nicht um rechtskräftige Verurteilung. Sicherheitsverwah- gen verwahre ich mich! Diesen ungeheuren rung ist Prävention und keine Verbüßung von Strafe. Vorwurf halten Sie nicht aufrecht!) (Dirk Manzewski [SPD]: Das ist genau das – Das ist in der Tat ein ungeheurer Vorwurf. – Wir müs- Problem! Das machen Sie sich zu einfach, sen einen Grundsatzstreit über die Beispiele führen, die Herr Kollege!) ich eben genannt habe. Sie machen den Staat in be- stimmten wichtigen Bereichen unfähig, auf Kriminalität – Sie müssen sich nach all Ihren Zwischenrufen jetzt zu reagieren. wirklich entscheiden. Ich glaube, es steht fest, dass Sie innerlich bei der alten Linie bleiben; Sie sind der Auffas- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt sung, unser Gesetzentwurf sei falsch. Wenn Sie das in [Salzgitter] [SPD]: Blanke Ideologie ist das! dieser Debatte durch Zwischenrufe so penetrant zum Nichts weiter!) Ausdruck bringen, dann fordere ich Sie auf, zu Ihrer Wir wollen die zur Diskussion stehenden Instrumente Überzeugung zu stehen und gegen den Gesetzentwurf nicht mit Hurra, sondern abwägend, rechtsstaatlich aus- der Bundesregierung zu stimmen. gestaltet und rational einsetzen. Das, was wir jetzt bei (Dirk Manzewski [SPD]: Ihre Argumentation der nachträglichen Sicherungsverwahrung in die Wege ist falsch, Herr Kollege! Sie machen sich das leiten und was Sie vier Jahre verhindert haben, brauchen zu einfach! Das habe ich gesagt!) wir auch auf anderen Gebieten. Das ist der Gegenstand des Grundsatzstreites, den CDU/CSU und Rot-Grün auf Diese Doppelzüngigkeit – Sie wollen diesem Gesetzent- dem Gebiet der inneren Sicherheit führen. wurf zwar zustimmen, weisen aber alle Argumente dafür 10556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dr. Norbert Röttgen (A) zurück – lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das ist Es geht nicht um irgendwelche gefährlichen Men- (C) wohl klar. schen und um irgendwelche Straftäter, sondern um sol- che, die ihre Gefährlichkeit bereits bewiesen haben und (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Manzewski deren Gefährlichkeit durch ein eigenes, rechtsstaatliches [SPD]: Ich habe nur Ihre Argumentation kriti- und unabhängiges Verfahren erneut festgestellt worden siert, Herr Kollege!) ist. Im Hinblick auf diese – ganz wenigen – Fälle sind wir der Auffassung, dass das potenzielle Opfer auf Kos- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten des Straftäters, der seine Gefährlichkeit schon bewie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind hier nicht sen hat, zu schützen ist. Allein die CDU/CSU-Fraktion in einer Talkshow. Es also sollte daher nicht dauernd in nimmt die gebotene rechtsstaatliche Abwägung vor. den Vortrag des Redners hineingeredet werden, sodass Ich danke für die Aufmerksamkeit. man ihn nicht mehr verstehen kann. Ein Zwischenruf ist natürlich okay und guter parlamentarischer Brauch. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber der Redner muss im Fluss sprechen können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jerzy Montag. Ihre Bedenken haben in dem Gesetzentwurf Nieder- schlag gefunden. Sie haben unsere Linie zwar nicht zu Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 100 Prozent übernommen, aber die Justizministerin – sie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- kann heute nicht da sein – hat Konzessionen machen ehrter Herr Dr. Röttgen, ich habe Sie in den mittlerweile müssen. CDU und CSU sind die Einzigen, die eine wi- zwei Jahren gemeinsamer Arbeit hier im Bundestag bes- derspruchsfreie Position vertreten. Sie haben Einschrän- ser kennen gelernt. Deswegen bin ich überzeugt, dass kungen gemacht, die widersprüchlich, also nicht konse- Sie das, was Sie hier erzählt haben, selbst nicht glauben. quent, sind. Sie sehen zum Beispiel nicht vor, dass in all den Fällen, in denen im Urteil Sicherungsverwahrung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angeordnet werden kann, dies auch nachträglich gesche- und bei der SPD) hen kann. Das ist widersprüchlich. Wenn der Unter- Anders als in Fachgesprächen ziehen Sie hier in der schied lediglich darin besteht, dass der Staat über den Öffentlichkeit eine Rechtsshow ab. Ich weise Ihre Straftäter mehr weiß, dann macht es keinen Sinn – das pauschalen und unqualifizierten Angriffe auf unsere haben Sie gemacht –, den Anwendungsbereich der nach- Rechtspolitik mit aller Entschiedenheit zurück. Unsere träglichen Sicherheitsverwahrung gegenüber den Mög- Rechtspolitik gehorcht rechtsstaatlichen und verfas- (B) lichkeiten der Verhängung im Urteil einzuschränken. sungsrechtlichen Grundsätzen. (D) Das ist widersprüchlich. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Sie wollen Wir sind die einzige Fraktion, die konsequent die Täterschutz vor Opferschutz!) Auffassung vertritt, dass in all den Fällen, in denen im Urteil zum Schutz der Bevölkerung Sicherungsverwah- Wir werden uns von Ihnen nicht auf die schiefe Bahn des rung angeordnet werden kann, dies auch nachträglich Populismus in der Rechtspolitik bringen lassen. geschehen kann. Sie vertreten diese Position nicht. Ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auffassung nach ist noch nicht einmal die Gesamtheit und bei der SPD – Siegfried Kauder [Bad der Verbrechen Anlass genug, die Möglichkeit der Si- Dürrheim] [CDU/CSU]: Wer hat denn gesagt, cherungsverwahrung einzuführen. die Länder seien verfassungsrechtlich zustän- Sie haben die Ersttäterregelung weiter so verschärft, dig? – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Et- dass Anwendungsfälle kaum denkbar sind. Der Regie- was konkreter!) rungsentwurf sah noch einen Strafrahmen von vier Jah- Unser Land hat im präventiven Bereich auf das Mittel ren vor. Sie sind weiter gegangen. der Folter und im repressiven Bereich auf die Todes- Wir halten es für falsch, dass Sie dafür sorgen wollen, strafe zur Ahndung von Straftaten verzichtet. In einem dass bei 20- und 21-Jährigen, die nach Erwachsenen- Rechtsstaat wie unserem ist eine Freiheitsentziehung auf strafrecht verurteilt worden sind, die Möglichkeit einer unbestimmte Zeit und ohne eine Bindung an die Schuld Sicherungsverwahrung nur unter nicht praktikablen Be- des Straftäters das allerletzte, das allereinschneidendste dingungen angewandt werden kann. Sie sind auf unseren Mittel, das es gibt. Eine solche Verwahrung in Unfreiheit Kurs zwar eingeschwenkt, aber Sie vollziehen ihn nur ist eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass Menschen halbherzig nach und schränken die Praktikabilität ein. nur aufgrund einer richterlichen Entscheidung, nur in ei- Darum stimmen wir für unseren Gesetzentwurf. nem rechtsstaatlichen Verfahren und nur als Reaktion auf schuldhaftes rechtswidriges und strafbewehrtes Ver- Ich komme zum Schluss. Auch wir haben es uns mit halten in Unfreiheit gehalten werden dürfen. unserem Gesetzentwurf schwer gemacht. Das ist kein Dies war auch der Grund dafür, dass die Grünen die Privileg der Fraktionen, die ihn ablehnen oder die Verän- Sicherungsverwahrung über viele Jahre völlig abgelehnt derungen vorgenommen haben. Auch wir haben eine haben. ernsthafte, rechtsstaatliche Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Straftäters und dem Schutzan- (Zuruf von der CDU/CSU: Woher kommt spruch potenzieller Opfer vorgenommen. denn der Sinneswandel?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10557

Jerzy Montag (A) Deshalb machen wir es uns heute in dieser Diskussion Bei der Sicherungsverwahrung für Ersttäter haben (C) über die Regelungen auch so schwer. Deshalb achten wir wir das Problem der Qualität und der Aussagekraft psy- so akribisch darauf – im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kol- chiatrischer Gutachten, die dazu erstellt werden müssen. lege Dr. Röttgen –, dass die gebotenen, notwendigen und Alle, die mit solchen Gutachten zu tun haben – die unabweisbaren Regelungen in einem völlig korrekten Staatsanwälte, die Richter, die Verteidiger und die Sach- und rechtsstaatlichen Verfahren eingeführt werden. verständigen selbst –, erklären, dass es bei den Feststel- lungen und Schlussfolgerungen solcher psychiatrischer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gutachten eine hundertprozentige Richtigkeit nicht gibt. und bei der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ Ganz im Gegenteil: Diejenigen, die Vertrauen in solche CSU]: Bisher kein Streit!) Gutachten haben, gehen von einer Fehlerquote aus, die Der Ihnen heute zur Abstimmung vorliegende Ge- so hoch ist, dass es, wenn man sie zur Grundlage eines setzentwurf der Bundesregierung mit den notwendigen Gerichtsurteils machen würde, im Zweifel immer einen Änderungen, die die Grünen, die SPD und das Bundes- Freispruch und nie eine Verurteilung geben würde. Des- justizministerium gemeinsam erarbeitet haben, ist ein halb verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die tragbarer Kompromiss zwischen dem notwendigen Fehleranfälligkeit der Gutachten ausdrücklich mit ei- Schutz von Freiheitsrechten auch der schlimmsten Straf- nem Korrektiv versehen wird: strengste formelle Be- täter und dem notwendigen Schutz möglicher Opfer sol- grenzungen für die Anordnung der Sicherungsverwah- cher Täter in der Zukunft. rung und ein transparentes, rechtsstaatliches und die Verfahrensrechte der Betroffenen achtendes Anord- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Genau!) nungsverfahren. Uns Grünen fällt die Zustimmung zu diesem Gesetz Ich komme zum Schluss, indem ich sage: Alle diese schwer – ich verhehle das nicht –, aber wir stimmen Anforderungen für Ersttäter erfüllen wir in unserem Ge- heute zu, weil das Gesetz nach unserer Überzeugung setzentwurf. Sie erfüllen sie nicht. Sie wollen keine öf- bestmöglich geraten ist. fentliche Verhandlung, keine Pflichtverteidigung, keine Revisionsmöglichkeit. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung trennt die Würdigung der Persönlichkeit und der Person zeitlich von der Würdigung der aufzustellenden Gefährlich- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: keitsprognose. Das führt zu zwei gerichtlichen Ent- Herr Kollege! scheidungen gegen den Täter auf der Grundlage dersel- ben Tat. Die Grünen haben darin lange Zeit einen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Verstoß gegen Art. 103 Grundgesetz gesehen, nach dem (D) es eben nicht zulässig ist, einen Menschen zweimal we- Sie wollen ein Beschwerdeverfahren. Deswegen kann gen derselben Sache vor ein Strafgericht zu bringen. man Ihrem Gesetz nicht zustimmen. Das Verfassungsgericht hat nunmehr zum Bereich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schwerster Verbrechen entschieden, dass die Gefährlich- keit solcher Straftäter auch nachträglich überprüft wer- Herr Kollege! den kann, dass in einem solchen nachträglichen Verfah- ren die Gefährlichkeitsprognose aber nur aufgrund der Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Täterpersönlichkeit und der Tat aufgestellt werden kann, Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Ich bitte Sie, das Verhalten des Täters im Vollzug dazu nur ergän- meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ange- zend herangezogen werden darf. Wir richten uns bei un- sichts der Frist, die am 30. September 2004 abläuft und serem Gesetzentwurf genau nach dieser Forderung des die wir alle zu beachten haben: Springen Sie über Ihren Bundesverfassungsgerichts. eigenen Schatten und stimmen Sie – – Sie tun das nicht. Die Regelung, die Sie vorschlagen, ist in gefährlicher Nähe zu den Regelungen der verfas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sungswidrigen Ländergesetze, und bei der SPD – Jerzy Montag [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber hart!) (Lachen des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die nicht nur aus formellen Gründen, Herr Dr. Röttgen, Bevor ich das Wort dem Kollegen Jörg van Essen sondern auch deshalb für verfassungswidrig erklärt wor- gebe, möchte ich alle darauf hinweisen: Wenn wir in der den sind, weil die Länder das Verhalten im Vollzug zu Tagesordnung wie geplant fortfahren, sind wir gegen einem entscheidenden Argument bei der Gefährlich- halb vier bis Viertel vor vier am Ende. Deshalb bitte ich, keitsprognose machen wollten. mir zu erlauben, dass ich, wie eben geschehen, etwas strenger vorgehe. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das stimmt ja alles nicht!) (Joachim Stünker [SPD]: Hätten Sie vorher auch machen müssen!) – Das stimmt. Lesen Sie es in Ihrem eigenen Gesetzent- wurf nach! Kollege van Essen. 10558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Jörg van Essen (FDP): hört haben: Alle Sachverständigen, die sich ernsthaft mit (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dieser Frage befasst haben, haben gesagt, dass das, was Wir haben heute eine Frage zu entscheiden, die ganz au- hier beabsichtigt wird, mit der Europäischen Menschen- ßerordentlich schwierig ist. Sie lässt sich vor allen Din- rechtskonvention, insbesondere mit Art. 5 dieser Kon- gen nicht mit einer solchen Polemik behandeln, wie ich vention, nicht vereinbar ist. Das haben wir zur Kenntnis sie vorhin leider beim Kollegen Röttgen, den ich wie an- zu nehmen. dere auch sonst eigentlich als einen sehr angenehmen Der zweite Punkt, der mir ganz erhebliche Sorge und ernsthaften Gesprächspartner kenne, erlebt habe. Ich macht, ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung glaube, dass das dem Thema wirklich nicht angemessen für Ersttäter. Kollege Montag, Sie haben zu Recht auf ist. dieses besondere Problem hingewiesen. Gerade beim (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Ersttäter weiß man nach der ersten und einzigen Tat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht, wie er sich weiter entwickeln wird. Gerade bei dieser Gruppe ist jede Prognose schwierig. Wenn wir Es gibt viele in diesem Raum, die heute zustimmen dann noch den Hinweis von Professor Leygraf aus der werden, die aber trotzdem größte Bedenken haben. Sie Sachverständigenanhörung berücksichtigen, dass wir stimmen deshalb mit größtem Bedenken zu, weil sie die nur sehr wenige Sachverständige haben, die in der Lage doppelte Verpflichtung sehen: Auf der einen Seite wis- sind, hierzu sachlich und kompetent etwas zu sagen, sen wir, dass hochgefährliche Täter, die es in vielen Be- dann wird die Problematik deutlich, vor der wir stehen. reichen gibt, wie ich als Oberstaatsanwalt weiß, tagtäg- Ich finde, auch das muss in die Abwägung mit einflie- lich entlassen werden. Das ist Wirklichkeit in unserem ßen. Land. Dies geschieht ja nicht nur in dem Bereich, um den es hier geht. Ich sage leider, da Strafvollzug ja ei- Deshalb sagt meine Fraktion Nein. Ich habe nur drei gentlich bessern soll, es aber in vielen Fällen nicht tut. Minuten Redezeit; deswegen können meine Ausführun- Deswegen sind ja viele derer, die im Gefängnis sitzen, gen nur stichwortartig sein. Wir haben, wie gesagt, nicht nur einmal, sondern häufig dort. Es handelt sich Respekt vor den Meinungen der anderen, aber wir erbit- hierbei also um ein allgemeines Problem. Auf der ande- ten auch Respekt für unsere Auffassung. ren Seite müssen wir natürlich sicherstellen, dass Vielen Dank. Rechtsgrundsätze – davon lebt ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland – nicht zu sehr strapaziert (Beifall bei der FDP, der SPD und dem werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD (B) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (D) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker. Wir befinden uns hier in einer Grenzsituation. Ich habe Respekt vor denen, die nach sorgfältiger Abwä- Joachim Stünker (SPD): gung zu einer anderen Entscheidung als ich kommen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ich bitte aber diese wiederum um Respekt für diejenigen Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen – unsere Fraktion gehört dazu –, die das nicht so wie sie heute am Ende einer vierjährigen Debatte und haben sehen. eine Entscheidung zu fällen, die für mich die schwie- (Beifall bei der FDP) rigste der Entscheidungen ist, die ich in den sechs Jahren meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag zu tref- Ich finde, es gehört zum guten parlamentarischen Um- fen hatte. Von daher, Herr Kollege van Essen, haben Sie gang, dass das Verhalten eines jeden Einzelnen in einer unseren Respekt, wenn Sie sich anders entscheiden; solchen Frage, bei der aus guten Gründen sowohl die denn Sie haben in der Sache mit uns um die Ergebnisse eine als auch die andere Auffassung vertreten werden gerungen. kann, respektiert wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Es wird DIE GRÜNEN) respektiert! Es hat nur unterschiedliche Konse- quenzen!) Wir brauchen uns auch nicht mehr gegenseitig zu überzeugen; ich glaube, ich habe in diesen Jahren zu die- – Richtig. Aber ich habe eben gesagt, dass ich aus mei- sem Thema acht oder neun Reden gehalten. ner dienstlichen Tätigkeit auch andere Fälle kenne, in denen es zu Ergebnissen kommt, die Sie eben aufgezeigt Herr Kollege Röttgen, wir tragen – mit breiten Schul- haben. tern – die Verantwortung dafür, dass wir so viel Zeit ge- braucht haben, um die Diskussion zu dem Ergebnis zu Ich will begründen, warum wir als FDP uns nicht ent- führen, das wir heute vor uns liegen haben. Ich möchte schließen können, zuzustimmen: noch einmal ganz kurz die Gründe benennen, warum wir uns so schwer getan haben. Der erste Punkt ist die Europäische Menschen- rechtskonvention. Herr Staatssekretär, es ist richtig, das Zunächst einmal muss man wissen, worüber wir re- Bundesverfassungsgericht hat sich in der mündlichen den. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist das ei- Verhandlung mit ihr befasst, aber sie im Urteil nicht er- gentliche Lebenslänglich. Nachträgliche Sicherungsver- wähnt. Damit steht das fest, was wir in der Anhörung ge- wahrung heißt im Regelfall, dass der Mensch, den der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10559

Joachim Stünker (A) Staat wegzusperren beschlossen hat, aus der Haft nicht Wir haben in den vergangenen vier Jahren – von da- (C) wieder herauskommt. her haben Sie, Herr Kollege Röttgen, nicht ganz die Wahrheit gesagt – ein dreigestuftes Modell der Siche- Zweitens bewegen wir uns mit der nachträglichen Si- rungsverwahrung geschaffen. Schon im Jahre 2002 ha- cherungsverwahrung auf einem ganz schmalen Grat, im ben wir eine Regelung getroffen: die vorbehaltende Si- Grenzbereich zwischen Polizeirecht und Strafrecht. cherungsverwahrung. Im ersten Urteil kann, wenn die Drittens geht es um reine Prävention – darauf ist Prognose nicht ganz sicher ist, eine vorbehaltende Siche- schon hingewiesen worden –, nicht um eine schuldange- rungsverwahrung festgestellt werden. Dann folgt die messene Strafe. Strafhaft. Wenn man dann neuere Erkenntnisse hat, kann der Vorbehalt in den Ausspruch der Sicherungsverwah- Viertens erfolgt die Entscheidung auf der Grundlage rung umgewandelt werden. Es ist ja nicht so, dass wir einer Prognose – Herr Kollege van Essen hat darauf hin- hier nichts getan und nicht gehandelt hätten. Ich denke, gewiesen –, für die wir psychiatrische Gutachter brau- diese dreigestufte Lösung können wir der deutschen Öf- chen. Wir wissen, dass es in Deutschland nur eine Hand fentlichkeit jetzt anbieten. Wir haben damit unsere Ver- voll Personen gibt, die ein solches Gutachten erstellen antwortung wahrgenommen. können. Wer in seinem Leben schon einmal auf der Grundlage einer Prognose über Menschen urteilen Ich möchte mit einem Zitat aus dem „Tagesspiegel“ musste, weiß, wie schwer das ist. In meinem Beruf bis vom 11. Februar dieses Jahres schließen. Das war ein 1998 war das der Fall. Tag danach, als das zweite Urteil des Bundesverfas- Der letzte Punkt – er ist hier noch nicht angesprochen sungsgerichts hierzu ergangen ist. Unter der Überschrift worden –: Mit der nachträglichen Sicherungsverwah- „Grenzgesetz“ schreibt dort der Kommentator: rung greifen wir im Ergebnis in das Rechtsstaatsprinzip Die Sicherungsverwahrung schützt nicht vor den ein. sechs Millionen Straftaten im Jahr, sie schützt nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie vor dem Anstieg der Gewaltkriminalität, und ob sie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) überhaupt nur einem Kind das Leben rettet, wird immer Spekulation bleiben. Wir greifen nachträglich in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände ein, für die wir Wir sollten uns bewusst sein, dass „der demokratische, ein Urteil des erkennenden Gerichts haben. Ein solcher freiheitliche Staat nicht nur keine absolute Sicherheit“ Eingriff ist in der Strafprozessordnung eine große Aus- garantieren kann. nahme. Die Wiederaufnahme zulasten eines Angeklag- ten ist ein seltener Fall, der in zehn Jahren vielleicht ein- … er kann gar keine Sicherheit garantieren vor den (B) (D) mal vorkommt. Perversionen und den Perversen dieser Welt. Aber er kann alles tun, was in seiner Macht steht. Das waren die Zweifel, mit denen wir uns über Jahre geplagt haben. Es gibt – auch das gehört zu einem Das tun wir heute. Rechtsstaat – zwei Entscheidungen des Bundesverfas- Schönen Dank. sungsgerichts vom Februar dieses Jahres, mit denen für mich zwar nicht die Zweifelsfragen geklärt sind, durch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die aber der Rahmen abgesteckt ist, in dem der Rechts- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) staat zu handeln hat. Daraufhin haben wir entsprechend gehandelt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Bundesverfassungsgericht hat den Strafrechts- Ich schließe damit die Aussprache. begriff neu definiert. Es hat ihn sehr weit gefasst und den reinen polizeirechtlichen Teil als Gegenstand des Wir kommen zur Abstimmung über den von der Strafrechts definiert. Entscheidend aber ist der Satz, dass Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes ein „Konzept nachträglicher Anordnung einer präventi- zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahr- ven Verwahrung noch inhaftierter Straftäter bei entspre- ung. – Es gibt mehrere persönliche Erklärungen zur Ab- chend enger Fassung nicht von vornherein unter dem stimmung, und zwar von den Abgeordneten Beck Verdikt der Verfassungswidrigkeit“ steht. (Köln), Hermann, Schewe-Gerigk, Dümpe-Krüger, Wegener, Roth (Augsburg) und Ströbele, die wir zu Genau diesen Rahmen haben wir mit dem Gesetz, Protokoll nehmen.1) – Der Rechtsausschuss empfiehlt über das wir heute abzustimmen haben, auszufüllen ver- unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf sucht. Ob uns das gelungen ist, werden wir sehen, wenn Drucksache 15/3346, den Gesetzentwurf in der Aus- das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüft schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die worden sein wird. Es ist klar, dass es dort landen wird dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen – es wird vielleicht ein Jahr dauern – wenn der erste wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- Straftäter entsprechend unserem Gesetz untergebracht haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- worden sein wird. Das Bundesverfassungsgericht wird ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bis auf dann prüfen, ob wir den engen Rahmen dessen, was zwei Gegenstimmen von den Grünen und gegen die rechtsstaatlich vertretbar und notwendig ist, um die Ge- sellschaft vor schwersten Straftätern zu schützen, richtig ausgeschöpft haben. 1) Anlagen 3 bis 6 10560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen wor- eines Gesetzes zur Änderung des Umsatz- (C) den. steuergesetzes Dritte Beratung – Drucksache 15/359 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (Erste Beratung 31. Sitzung) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf schusses (7. Ausschuss) ist damit in dritter Lesung mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis, also mit Zustimmung der SPD und – Drucksache 15/2617 – des Bündnisses 90/Die Grünen bis auf zwei Gegenstim- Berichterstattung: men des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Gegenstim- Abgeordnete Lydia Westrich men von CDU/CSU und FDP, angenommen worden. Es Stefan Müller (Erlangen) gab keine Enthaltung. Carl-Ludwig Thiele Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Fraktion der CDU/CSU zum Schutz der Bevölkerung Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre vor schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst rung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b der Abgeordnete Peter Rzepka. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3346, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- [CDU/CSU]) chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Peter Rzepka (CDU/CSU): SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt worden. Damit Damen und Herren! Sowohl der Gesetzentwurf der entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- Unionsfraktion, den wir in erster Lesung beraten, als tung. auch der Gesetzentwurf der FDP-Fraktion, dessen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes des zweite und dritte Lesung stattfindet, sehen Änderungen Bundesrates zum Schutz der Bevölkerung vor schweren des Umsatzsteuergesetzes vor. (B) Wiederholungstaten durch Anordnung der Unterbringung Ziel des Gesetzentwurfs der Unionsfraktion ist es, den (D) in der Sicherungsverwahrung. Der Rechtsausschuss emp- Liquiditätsengpässen der kleinen und mittleren Unter- fiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf nehmen aufgrund schleppender Zahlungseingänge ent- Drucksache 15/3346, den Gesetzentwurf abzulehnen. gegenzuwirken, die Wachstums- und Beschäftigungs- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen grundlagen kleiner und mittlerer Unternehmen zu wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- festigen und damit einen Beitrag zur Stärkung des Wirt- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung schaftsstandortes Deutschland und zum Erhalt von Ar- mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grü- beitsplätzen zu leisten. nen und der FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU ab- Die Umsatzsteuer ist grundsätzlich nach vereinbarten gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung Entgelten, der so genannten Sollbesteuerung, zu be- die weitere Beratung. rechnen und zu erheben. Die Steuer entsteht also mit Ab- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf: lauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistung ausgeführt wurde, unabhängig davon, ob der Leistungs- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten empfänger die Rechnung bereits bezahlt hat. In be- Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Otto stimmten Fällen sieht das Umsatzsteuergesetz – das ist Bernhardt, weiteren Abgeordneten und der Frak- die Ausnahme von diesem Grundsatz – die Besteuerung tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines nach vereinnahmten Entgelten, nach den Regeln der so Gesetzes zur Vereinheitlichung der Umsatz- genannten Istbesteuerung, vor. Hier entsteht die Steuer- grenze bei der Berechnung der Steuer nach schuld erst mit der Bezahlung der Rechnung durch den vereinnahmten Entgelten Leistungsempfänger, also regelmäßig zu einem späteren Zeitpunkt, wodurch die Liquidität der Unternehmen ver- – Drucksache 15/3193 – bessert wird. Voraussetzung dafür ist, dass der Ge- Überweisungsvorschlag: samtumsatz des Unternehmens im vorangegangenen Finanzausschuss (f) Jahr nicht mehr als 125 000 Euro betragen hat, keine Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Buchführungspflicht besteht oder die Umsätze von ei- Haushaltsausschuss nem Angehörigen der freien Berufe getätigt werden. b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Eine weitere Ausnahme besteht bis zum 31. Dezem- neten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, ber 2004 zugunsten von Unternehmen in den neuen Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und Bundesländern, bei denen an die Stelle des Betrags von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs 125 000 Euro ein Betrag von 500 000 Euro tritt. Nach- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10561

Peter Rzepka (A) dem der Streit zwischen dem Bundeswirtschaftsminister Dieser Vorgang belegt einmal mehr, Herr Kollege, wie (C) Clement und dem Bundesfinanzminister Eichel inzwi- unzuverlässig die Angaben dieses Finanzministers über schen beigelegt ist, ist es zwischen den Regierungs- Auswirkungen von Steueränderungen sind. fraktionen und der Unionsfraktion unstrittig, dass die (Beifall bei der CDU/CSU) Vergünstigung der höheren Umsatzgrenze von 500 000 Euro für die Unternehmen in den neuen Bun- Wir halten aber an unserer Initiative fest, weil es sich le- desländern mindestens bis 2006 beibehalten werden soll. diglich um eine Verschiebung der Entstehung der Um- Das gemeinsame Ziel von Regierungsfraktionen und satzsteuer bei den einzelnen Unternehmen in verhältnis- Unionsfraktion ist es, den besonderen Problemen der mäßig begrenztem Umfang handelt. Wir hoffen auch, kleinen und mittleren Unternehmen in Ostdeutschland dass unser Gesetzentwurf im Interesse der betroffenen bei Eigenkapital und Liquidität Rechnung zu tragen. kleinen und mittleren Unternehmen, die in besonderer Weise unter der von dieser Regierung verursachten Ich möchte darauf hinweisen, dass der von den Regie- Wachstums- und Beschäftigungskrise leiden, eine Mehr- rungsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- heit in diesem Hause finden wird. rung der Abgabenordnung, der im Laufe des heutigen Tages auch noch beraten wird und in dem die Verlänge- Die FDP fordert in ihrem Gesetzentwurf, grundsätz- rung der Regelung für die neuen Bundesländer enthalten lich das Kalendervierteljahr als Voranmeldungszeitraum ist, von uns zwar abgelehnt wird. Dies geschieht aber für die Umsatzsteuer einzuführen und die Verpflichtung nicht wegen dieses Grundes, sondern aus anderen Grün- zur monatlichen Abgabe von Umsatzsteuervoranmel- den. Ich stelle deshalb ausdrücklich fest, dass wir uns in dungen abzuschaffen. Obwohl wir die Zielsetzung des der Zielsetzung mit Blick auf die neuen Bundesländer ei- FDP-Antrages, einen Beitrag zum Bürokratieabbau zu nig sind. leisten, im Grundsatz teilen und unterstützen, werden wir uns heute bei der Abstimmung dennoch der Stimme Unser Gesetzentwurf geht allerdings über das ge- enthalten. Da es bei der überwiegenden Anzahl der Un- meinsame Ziel hinaus. Wir wollen die erhöhte Umsatz- ternehmen zu einer späteren Abführung der Umsatz- grenze von 500 000 Euro bundeseinheitlich einführen steuer kommen wird, kann dies bei Bund, Ländern und und dies ohne zeitliche Befristung. Wir leisten damit ei- Kommunen zu erheblichen Liquiditätsproblemen füh- nen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung in Deutsch- ren. Andererseits würden diejenigen Unternehmen, die land und tragen auch der wirtschaftlichen Entwicklung bei einem Vorsteuerüberhang Umsatzsteuererstattungs- Rechnung. Die Umsatzgrenze von 250 000 DM bzw. ansprüche haben, diese erst mit zeitlicher Verzögerung jetzt 125 000 Euro in den alten Bundesländern gilt im geltend machen können, was bei diesen Unternehmen zu Liquiditätsengpässen führen kann. Schließlich ist nicht Wesentlichen unverändert seit 1968, sodass schon aus (B) auszuschließen, dass der zunehmende Umsatzsteuerbe- (D) diesem Grunde eine Anpassung, sprich: Erhöhung, ge- trug, der nach unterschiedlichen Schätzungen zu Steuer- rechtfertigt erscheint. ausfällen in einer Größenordnung von 14 Milliarden bis Darüber hinaus hat sich infolge der schlechten wirt- 20 Milliarden Euro pro Jahr führt, durch die Abgabe von schaftlichen Entwicklung die Zahlungsmoral bundes- vierteljährlichen statt monatlichen Umsatzsteuervoran- weit verschlechtert, sodass auch aus diesem Grunde die meldungen erleichtert wird. Nach unserer Auffassung Verbesserung der Liquidität der kleinen und mittleren müssen deshalb die mit dem FDP-Antrag aufgeworfenen Fragen noch einer eingehenderen Überprüfung, mögli- Unternehmen durch das Hinausschieben der Pflicht zur cherweise im Rahmen eines weiteren Gesetzgebungsver- Abführung der Umsatzsteuer bis zur Bezahlung der fahrens, unterzogen werden. Rechnung durch den Leistungsempfänger erforderlich ist. Nicht zuletzt schaffen wir auf dem von uns vorge- Lassen Sie mich zum Schluss meines Beitrags mit schlagenen Weg auch Rechtssicherheit und Rechtsklar- einigen Worten auf die von der Parlamentarischen heit, da wiederkehrende Diskussionen über die Verlän- Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen, gerung der Sonderregelung für die neuen Bundesländer Frau Dr. Hendricks, erhobene Forderung nach einer überflüssig werden. Bundessteuerverwaltung eingehen. Frau Dr. Hendricks fordert die Übertragung der Verwaltungskompetenz für Unseres Erachtens befinden wir uns mit unserem Ge- die Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer, über setzesvorschlag auch im Einklang mit der maßgebenden die wir heute sprechen, von den Bundesländern auf den 6. EG-Richtlinie. Wir halten ferner die Auswirkungen Bund. Offensichtlich handelt es sich dabei um ein Ab- auf die öffentlichen Haushalte für vertretbar. Noch im lenkungsmanöver, das die Konzeptionslosigkeit dieser April dieses Jahres hat das Bundesfinanzministerium die Bundesregierung angesichts der Notwendigkeit einer ra- sich aus unserem Gesetzentwurf ergebende einmalige dikalen Vereinfachung und grundlegenden Reform des Steuermindereinnahme mit 700 Millionen Euro bezif- deutschen Steuersystems überdecken soll. Anstatt die fert. In den Beratungen des Finanzausschusses in dieser Vollzugsdefizite im Rahmen des geltenden Steuerrechts Woche wurde diese Angabe korrigiert und nunmehr ein zu beklagen, sollte sich diese Regierung der Aufgabe Betrag von 2,8 Milliarden Euro genannt, also das Vierfa- einer grundlegenden Reform der Einkommens- und Un- che. ternehmensbesteuerung stellen. Denn die materiellen Defizite des deutschen Steuerrechts, das zunehmend (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: auch von Fachleuten als chaotisch wahrgenommen wird, Die korrigieren immer alles!) sind die entscheidenden Ursachen für die Defizite im 10562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Peter Rzepka (A) Steuervollzug. Der Grund ist nicht das Fehlen einer Bun- Mit Ihrem Entwurf, meine Damen und Herren von den (C) dessteuerverwaltung. Freien Demokraten, ginge das Erschwindeln noch ein wenig schneller. Die Vorschläge der Opposition in diesem Haus liegen mit dem gemeinsamen steuerpolitischen Programm von (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das Nichtstun der CDU und CSU sowie mit dem Gesetzentwurf der FDP Regierung führt zu großen Problemen!) zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Es ist – das will ich zugeben – ein Abwägungspro- Abschaffung der Gewerbesteuer auf dem Tisch. Wir zess zwischen notwendigem Verwaltungsaufwand für warten nach wie vor auf beratungsfähige Gesetzentwürfe die Unternehmen und dem Behalten von Instrumenten in dieser Bundesregierung. der Hand des Staates, mit denen er seine Einnahmen si- Ich danke Ihnen. chern und Wettbewerbsverzerrungen auf dem Markt für alle mindern kann. Aber was heißt abwägen für Sie? An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) spruch und Wirklichkeit klaffen bei Ihnen wie so oft sehr weit auseinander. Dabei unterstelle ich Ihnen ausdrück- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lich den ernsthaften Anspruch, mit uns gegen den Steu- ermissbrauch zu kämpfen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Lydia Westrich. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist sehr freundlich!) Lydia Westrich (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Wir werden Ihren Gesetzentwurf natürlich ablehnen; Kollegen! Freitags ist anscheinend immer der Steuerde- denn er wirkt sich auch, allem Gerede über die Entbüro- battentag ohne Publikum. Das ist schade, schließlich kratisierung zum Trotz, auf den Haushalt aus. sind unsere Debatten spannend und die Sachpolitik in 15 Milliarden Euro sind keine Peanuts. Es werden diesem Haus ist wichtig. 15 Milliarden Euro verschenkt und kein Vorschlag zur Gegenfinanzierung wird von Ihnen gemacht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Die Zahlen sind Das Publikum ist ja da. im Ausschuss nicht von Ihnen gebracht wor- den! Schauen Sie sich die Empfehlung an!) Lydia Westrich (SPD): Im Finanzausschuss haben Sie einen neuen Antrag ein- Der vorliegende Tagesordnungspunkt klingt natürlich gebracht, ganz im Tenor des Gesetzentwurfs der CDU/ CSU, den wir gleich behandeln werden. Auch er führt zu (B) sehr sachbezogen und Herr Rzepka hat uns sehr ausführ- (D) lich den Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Vereinheitli- Steuerausfällen von 4,2 Milliarden Euro und auch er ent- chung der Umsatzgrenze bei der Berechnung der Steuer hält keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung. nach getätigten Einnahmen geschildert. Wir haben wei- Ich habe doch Zweifel, ob Sie bei den Haushaltsbera- ter den Gesetzentwurf der FDP zur Abschaffung der mo- tungen überhaupt präsent sind. Es ist lange her, seit Sie natlichen Umsatzsteuervoranmeldung vorliegen; über einen Finanzminister gestellt haben. diesen Gesetzentwurf haben wir bereits im März sehr ausführlich im Plenum diskutiert. Der hieraus zu erwar- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: tende Steuerausfall von circa 15 Milliarden Euro steht Sie haben wohl nicht mitbekommen, dass der immer noch im Raum, Herr Pinkwart, ebenso wie die Haushalt verfassungswidrig ist!) entgegengesetzte Forderung des Bundesrechnungshofs. Bei dieser verantwortungslosen Umgangsweise mit den Dessen Ermittlungen zum Umsatzsteuerbetrug brauche Einnahmen des Staates sehe ich auch keine Zukunft für ich Ihnen nicht vorzustellen, wir kennen sie zur Genüge. Sie als Freie Demokraten in dieser Richtung. Die monatliche Erstellung von Umsatzsteuervoranmel- dungen ist eine Forderung des Bundesrechnungshofs zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erschwerung möglicher Betrugsfälle bei der Umsatz- DIE GRÜNEN) steuer. Dabei brauchen wir unsere gemeinsamen Anstren- (Beifall bei der SPD) gungen; denn wir haben – wie Sie selbst immer sagen – das gleiche Ziel. Die Umsatzsteuer ist neben der Lohn- Bayerns Finanzminister, , sagte erst steuer die bedeutsamste Einnahmequelle für die Haus- neulich: Die Erhöhung des politischen Drucks – damit halte von Bund, Ländern und Gemeinden. Uns allen ist meint er uns – ist zwingend notwendig; klar: Die Einnahmen könnten weit höher sein, wenn nicht mehrere Schlupflöcher im Umsatzsteuerrecht und (Horst Schild [SPD]: Recht hat er!) vor allem gemeinschaftliche Betrugsdelikte im großen es geht nicht an, dass angesichts leerer öffentlicher Kas- Stil zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe führen würden. sen den Bürgern dramatische Einschnitte zugemutet Der Bericht des Bundesrechnungshofs spricht von jähr- werden und wir gleichzeitig Banditen, die Millionen er- lich 15 Milliarden bis 20 Milliarden Euro, die dem Fis- schwindeln, davonkommen lassen. Da hat der Mann kus verloren gehen. Das bedeutet, dass sie bei der Finan- wirklich einmal Recht. zierung von wichtigen Gemeinschaftsaufgaben fehlen. Wir haben zuallererst die Pflicht, alles zu tun, um die (Beifall bei der SPD) Steuereinnahmen, die uns per Gesetz zustehen, auch zu Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10563

Lydia Westrich (A) erhalten, Herr Rzepka. Das hat natürlich auch etwas mit stimmung der Kommission umsetzbar sein. Dazu soll (C) dem Gesetzesvollzug zu tun. bei der Umsatzsteuer künftig von der Soll- zur Istbe- steuerung übergegangen werden. Das hieße, ein Leis- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: So ist es!) tungsempfänger erhält erst dann seine Vorsteuer erstat- Sie wissen, die Betrugspraktiken sind vielfältig: Es tet, wenn er seine Umsatzsteuer entrichtet hat. Es ist werden Vorsteuern geltend gemacht, denen keine auch denkbar, dass der Empfänger einer Ware die Um- Erwerbsgeschäfte mit entsprechenden Umsatzsteuerzah- satzsteuer nicht an seinen Lieferanten, sondern direkt an lungen gegenüberstehen; Firmen entziehen sich als das Finanzamt zahlen muss. Subunternehmer der Zahlung von Steuern und Sozialab- Auch dieses System ist natürlich missbrauchsemp- gaben, während die Auftraggeber Vorsteuern und Be- fänglich. Um diesen Missbrauch auszuschließen, brau- triebsausgaben abziehen; Scheinunternehmen werden chen wir ein computergestütztes Kontrollverfahren, so nur zum Zweck der Ausstellung von Rechnungen ge- genannte cross-checks, die die Finanzverwaltungen er- gründet; Scheinunternehmen werden gezielt in die Insol- gänzend anwenden müssen. Dieses System hätte den venz geschickt, um bei der Rückabwicklung von Vorteil, dass die Umsatzsteuer von den Unternehmen Geschäften die ausgezahlten Vorsteuern einbehalten zu nicht mehr vorfinanziert werden müsste. Sie hätten da- können usw. Die Fantasie ist im verbrecherischen Raum mit einen erheblichen Liquiditätsvorteil. Allerdings wird anscheinend grenzenlos. Allein die so genannten Karus- das vermehrt Verwaltungskosten verursachen; das will sellgeschäfte verursachen Schäden in Höhe von ich gar nicht verschweigen. Wir müssen gemeinsam 5 Milliarden Euro – Tendenz steigend. Wege finden, den bürokratischen Aufwand so gering wie Wir reden hier von wirklich kriminellen Energien und möglich zu halten. nicht von Kavaliersdelikten. Offenbar lädt das beste- Das Bundesfinanzministerium hat dazu bereits eine hende Recht dazu ein, es zu umgehen und auszunutzen. Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Dazu werden (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das bestehende bereits jetzt auf freiwilliger Basis bei den Unternehmen Recht! Genau!) Angaben über die Anzahl der jährlich gestellten Rech- nungen erhoben. Das Modell einer generellen Istversteu- Umsatzsteuerbetrug hat in Deutschland Hochkonjunktur. erung mit cross-check wird derweil in der Bund-Länder- Er ist einfacher und effektiver als jeder Banküberfall und Arbeitsgruppe weiterentwickelt. Die Unternehmerver- das können wir gemeinsam nicht zulassen. bände haben großes Interesse an einer Mitarbeit in dieser Die rot-grüne Bundesregierung hat hierauf schon mit Arbeitsgruppe bekundet. verschiedenen Gesetzen reagiert, unter anderem mit dem Dies betrifft auch den Gesetzentwurf der CDU/CSU- 2002 in Kraft getretenen Gesetz zur Steuerverkürzungs- (B) Fraktion, der auf der Tagesordnung steht, und den ange- (D) bekämpfung. Diese Gesetze haben Sie als Opposition kündigten der FDP-Fraktion, dessen Umsetzung alle abgelehnt. Wir wollen damit insbesondere den orga- 4,2 Millionen Euro teuer sein soll. Der Gesetzentwurf nisierten Umsatzsteuerbetrug bekämpfen. Dass aber der CDU/CSU als Sofortmaßnahme für die Unterneh- noch weitere Maßnahmen notwendig sind, die an der men löst keines der angesprochenen Probleme; er ist Wurzel des Übels anpacken, darüber sind wir uns alle eine reine Sofortmaßnahme und kostet eine Menge Geld. einig. Die vorgeschlagenen Wege sind vielfältig und na- Das wird vom Finanzministerium, wie es bei einem Ge- türlich hat jeder seine eigenen Risiken und Schwierig- setzentwurf anders als bei einer schriftlichen Frage üb- keiten. lich ist, sehr sorgfältig berechnet. Deswegen kommen So hat bereits 2001 der Finanzminister aus Rhein- wir auf unterschiedliche Beträge. Da aber gerade Sie als land-Pfalz, Gernot Mittler, ein Konzept vorgestellt, das Opposition immer gegen Schnellschüsse polemisieren, der Umsatzsteuerkriminalität einen Riegel vorschieben müssen Sie unsere jetzige Ablehnung verstehen. soll. Kernpunkt dieses Konzeptes ist es, die Umsatz- Ich bin zufrieden, dass Sie beide im Finanzausschuss steuer innerhalb der Lieferkette überhaupt nicht mehr zu signalisiert haben, an einer ausführlichen Beratung der erheben. Damit würde der Umsatzsteuerbetrug in Form verschiedenen Modelle interessiert zu sein. Das haben von Karussellgeschäften auf jeden Fall vermieden. Au- wir im Finanzausschuss ja schon bei der internen Anhö- ßerdem würde der Zahlungsverkehr zwischen Finanz- rung im Januar beschlossen und für den Herbst verein- verwaltung und Unternehmen erheblich verringert, also bart. Ich bitte Sie wirklich herzlich, dieses Mal über Ih- entbürokratisiert. ren parteipolitischen Schatten zu springen und für eine Derartige Veränderungen – das wissen Sie selber – sachgerechte Lösung, wie sie sich Finanzpolitiker ei- betreffen aber auch grenzübergreifende Lieferungen. Sie gentlich wünschen, offen zu sein. können deshalb nicht national vorgenommen werden. Sie haben doch gerade erst Ihre schmerzhaften Erfah- Wir haben schmerzhaft erfahren, dass die EU-Mühlen rungen bei unseren Verhandlungen über das Altersein- sehr langsam mahlen. Ich bin jedoch der Meinung, dass künftegesetz hinter sich. Sie als Fachpolitiker wissen Steuerausfälle in der EU in Höhe von 60 Milliarden Euro ganz genau, dass Sie, wenn Sie bei unseren Beratungen durchaus ein Thema sind, mit dem sich der Ecofin-Rat über dieses Gesetz effektiv mit uns zusammengearbeitet öfter beschäftigen müsste. hätten, mehr herausgeholt hätten. Wir als Koalition kön- Weil Abstimmungsprozesse auf EU-Ebene ihre Zeit nen zufrieden sein, und Sie können sich überlegen, wie brauchen, arbeitet die Bundesregierung schon länger an Sie sich beim Thema Umsatzsteuer in Zukunft verhalten einem eigenen Vorschlag. Dieser wird auch ohne Zu- wollen. 10564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Lydia Westrich (A) Im Ziel sind wir uns doch einig: Wir wollen die ehrli- wurf auf 6 Millionen reduzieren könnten. Das würde die (C) chen Unternehmen vor kriminellen Wettbewerbsverzer- Unternehmen entlasten, Arbeitsplätze schaffen, an die- rungen und alle Bürgerinnen und Bürger vor Steuerfor- sem Standort Investitionen ermöglichen und – auch das derungen schützen, die sie wegen verbrecherischer ist wichtig, Frau Westrich – die Finanzverwaltungen ent- Machenschaften einiger weniger zusätzlich erfüllen lasten. müssen. Ich glaube, es lohnt sich, gemeinsam für dieses Ziel zu arbeiten. Hier kommt nun Ihre Parlamentarische Staatssekretä- rin Frau Hendricks ins Spiel. Denn in der letzten Sitzung Vielen Dank. des Finanzausschusses hat sie uns erläutert: Die Höhe des Umsatzsteuermissbrauchs – die Sie maßgeblich zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verantworten haben, weil Sie dagegen noch nichts Wirk- DIE GRÜNEN) sames unternommen haben – sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Personalausstattung in den Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Finanzverwaltungen nicht hinreichend sei. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Pinkwart. Hier müssten die Länderfinanzverwaltungen mehr Personal einsetzen, um Kriminalität wirksam bekämpfen zu können. Da sage ich: Bauen Sie doch hier Bürokratie Dr. Andreas Pinkwart (FDP): ab – bezüglich der Masse der Firmen, die sich redlich Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und verhalten – und setzen Sie die Mitarbeiter dann gezielt Herren! Frau Westrich, ich begrüße es außerordentlich, ein, um Missbrauch zu bekämpfen. dass Sie am Ende Ihrer Rede zu den realen Faktoren zu- rückgekehrt sind, indem Sie gesagt haben, dass wir ge- Ich möchte einen zweiten Punkt kurz ansprechen: Ich meinsam bekämpfen wollen, dass wenige das Steuer- komme auf den Unionsantrag; es gibt hier viele Initiati- recht zulasten aller missbrauchen. Jawohl, das wollen ven, mit denen versucht werden soll, die kleinen und mitt- wir! leren Unternehmen umsatzsteuerrechtlich zu entlasten. Wir gehen weiter – wir haben das auch im Finanzaus- Aber eingangs Ihrer Rede haben Sie in einer Weise schuss bereits im Zusammenhang mit einem entsprechen- polemisiert, die Ihnen, wenn ich das sagen darf, doch gar den Änderungsantrag besprochen –, indem wir vorschla- nicht eigen ist und die ich massiv zurückweisen möchte. gen, von der Soll- auf die Istversteuerung – auf beiden (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Seiten, bei den Ausgangsumsätzen wie bei den Eingangs- CDU/CSU) umsätzen – überzugehen. Selbst das Bundesfinanzminis- terium sagt, dass man durch eine solche Umstellung auch Das taten Sie, als Sie sich zu unserem Vorschlag geäu- den Umsatzsteuermissbrauch wirksam bekämpfen (B) ßert haben, das zu tun, was ohnehin im Umsatzsteuerge- könnte; er beträgt jährlich zwischen 14 Milliarden und (D) setz steht. Im Umsatzsteuergesetz steht nämlich, dass 20 Milliarden Euro. Wir könnten diesen Missbrauch mit grundsätzlich das Kalendervierteljahr als Voranmel- unserer Initiative zum einen viel wirksamer bekämpfen, dungszeitraum dienen soll. Diesen Grundsatz wollen wir zum anderen könnten wir mit dieser sehr umfassenden auf alle Unternehmen anwenden. Gegenwärtig müssen Regelung dem Mittelstand, den kleineren und mittleren 1,5 Millionen Unternehmen aufgrund der Tatsache, dass Unternehmen, die gerade in der gegenwärtig schwierigen sie die Umsatzgrenze unterschreiten, Gott sei Dank nur wirtschaftlichen Situation vor Liquiditätsproblemen ste- vierteljährlich ihre Umsatzsteuer anmelden. Uns geht es hen und dadurch stark insolvenzanfällig sind, grundle- darum, dass weitere 1,5 Millionen Unternehmen diesen gend helfen. bürokratischen Aufwand ebenfalls nicht jeden Monat, sondern nur quartalsweise betreiben müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir mit Ihrer Schlussformulierung übereinstim- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: men, dass nur ganz wenige mit hochkrimineller Energie unser Umsatzsteuerrecht leider missbrauchen, dann sind Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel. das nicht die 1,5 Millionen Unternehmen, die wir gegen- wärtig zwingen, ihre Umsatzsteuervoranmeldung mo- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): natlich abzugeben, sondern nur wenige Unternehmen Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Von all – es handelt sich vielleicht um eine zwei- oder dreistel- meinen Vorrednern und meiner Vorrednerin ist der Um- lige Zahl –, die hier Missbrauch üben. Die Auswirkun- satzsteuerbetrug angesprochen worden. Es ist völlig gen sind zugegebenermaßen milliardenschwer. Aber hier richtig, dass das ein großes Problem ist, das wir hier in geht es nicht um die 1,5 Millionen Unternehmen, die wir Deutschland haben. Die Schätzungen liegen bei durch unseren Gesetzentwurf entlasten wollen. 14 Milliarden Euro, 16 Milliarden Euro – Ifo-Institut in (Beifall bei der FDP) München zum Beispiel –, 18 Milliarden Euro, wieder andere sprechen von bis zu 20 Milliarden Euro. Lassen Das will ich Ihnen einmal in Zahlen darstellen. Ge- Sie es jetzt einmal „nur“ die niedrigste Schätzung sein, genwärtig müssen 1,5 Millionen Unternehmen pro Jahr es ist schlimm genug. Wir kennen verschiedene Vor- zwölf Erklärungen und die abschließende Jahresmel- schläge, um gegen diesen Missbrauch vorzugehen. Es ist dung, also 13 Meldungen, abgeben. Zukünftig müssten allerdings so, dass bislang niemand ein Modell hat, mit sie, die Jahresmeldung eingerechnet, nur vier Erklärun- dem das Ziel auch erreicht wird: weder die Betrugsbe- gen abgeben. Das entspricht gegenwärtig 18 Millionen kämpfungsbehörden noch die Wissenschaft, die sich da- Vorgängen pro Jahr, die wir durch unseren Gesetzent- mit beschäftigt, noch die politischen Gremien, die sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10565

Christine Scheel (A) – das sage ich gerade an die Zuhörerinnen und Zuhörer zelnen kleineren und mittelständischen Betrieben über (C) auf den Tribünen gerichtet – selbstverständlich auch seit eine solche Maßnahme besser zu sichern. Ich weiß aller- Jahren mit der Frage des Umsatzsteuerbetruges beschäf- dings nicht – das ist der Punkt, an dem wir uns aufgrund tigen. Wir befinden uns in einer Phase, in der das Bun- der haushälterischen Verantwortung unterscheiden, die desfinanzministerium durch Feldversuche klären will, wir gegenüber allen Ebenen, den Ländern, den Kommu- welches Modell am gescheitesten funktioniert. Ich finde, nen und auch uns selbst, haben –, wo wir diese 2,8 Mil- wir sollten abwarten, bis diese Ergebnisse da sind, damit liarden Euro auftreiben sollen, die uns dann im Haushalt wir in diesem Hause einvernehmlich gemeinsam mit fehlen würden. Ich weiß auch nicht, wo wir die 4,2 Mil- dem Bundesrat bzw. mit den Ländern im Herbst einen liarden Euro auftreiben sollen, die uns aufgrund des Vor- vernünftigen Weg suchen können und auch mit denjeni- schlages der FDP im nächsten Haushalt fehlen würden. gen aus der Fachwelt, die bewusst sagen: Macht keinen Schnellschuss! Ihr baut eventuell einen Haufen Bürokra- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das stimmt tie auf, aber es hilft nicht bei der Betrugsbekämpfung. doch gar nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es gibt keinen Deckungsvorschlag. Deswegen ist es zwar gut gemeint, aber es ist nicht finanzierbar. Dafür plädiere ich wirklich, denn es geht um die Sache und nicht darum, vorschnell irgendetwas zu entscheiden, Aus diesem Grund kann ich nur sagen: Wir müssen das am Ende vielleicht doch, Herr Professor Pinkwart, die Vorschläge ablehnen, weil wir sie nicht finanzieren Probleme aufwirft. können; wir müssten sie also über neue Schulden finan- zieren. Aber das können wir der Gesamtheit nicht zumu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten. und bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Damit machen Sie es sich ein bisschen Danke schön. einfach!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Opposition tut sich mit schnellen Vorschlägen im- und bei der SPD) mer leicht, das wissen Sie doch; darüber müssen wir doch nicht reden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Worum es jetzt hier und heute geht, ist die Frage: Wie Ich schließe die Aussprache. können wir für kleinere und mittlere Betriebe – vor allen Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Dingen in den neuen Bundesländern – eine Situation wurfs auf Drucksache 15/3193 an die in der Tagesord- schaffen, dass sie erst dann ihrer Umsatzsteuerpflicht nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (B) nachkommen müssen, wenn die Rechnungen bezahlt anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann (D) sind? Es geht darum, dass die Betriebe nicht auf den ist die Überweisung so beschlossen. Kosten sitzen bleiben, sondern die Umsatzsteuer erst ab- geführt wird, wenn die Rechnung bezahlt wird; nicht Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- mehr und nicht weniger steht jetzt hier zur Diskussion. wurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/359 zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzaus- Es gibt eine Übereinstimmung zwischen der rot-grü- schuss empfiehlt auf Drucksache 15/2617, den Gesetz- nen Regierung und den CDU- bzw. FDP-regierten Län- entwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- dern – übrigens auch mit der CSU –, die da lautet: Lasst setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – uns diese Sonderregelung, die für die neuen Bundeslän- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf der gilt und Ende dieses Jahres ausläuft, für zwei Jahre ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- verlängern. Danach liegt in diesen Ländern die Umsatz- fraktionen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung grenze des Betriebes, bis zu der man diese Möglichkeit von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer hat, nicht bei 125 000 Euro, sondern bei 500 000 Euro. Geschäftsordnung die weitere Beratung. Dies wirkt sich auf die Liquidität der Betriebe positiv aus. Ich rufe Zusatzpunkt 16 auf: Ich halte das für richtig. Wir haben es hier mit einem Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einmaligen Steuerausfall in Höhe von geschätzt eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- 260 Millionen Euro zu tun. Einmalig bedeutet, dass es derung der Abgabenordnung sich auf das nächste Jahr verlagert. Wenn die Rechnun- gen bezahlt werden, dann kommt die Umsatzsteuer na- – Drucksache 15/904 – türlich rein. Wenn sie nicht bezahlt werden, weil das Un- (Erste Beratung 63. Sitzung) ternehmen nicht mehr existiert, dann hat der Staat Pech gehabt. So ist es nun einmal. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- schusses (7. Ausschuss) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Was momentan ja – Drucksache 15/3339 – häufig vorkommt!) Berichterstattung: Die Union hat vorgeschlagen – ich muss Ihnen ehr- Abgeordnete Dieter Grasedieck lich sagen, dass ich den Kerngedanken richtig finde –, Georg Fahrenschon das auf die Westländer auszuweiten, also im gesamten Bundesgebiet zu machen, und die Liquidität in den ein- Dr. Andreas Pinkwart 10566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- die Ausbildung wird eine Existenzbasis erarbeitet. Das (C) sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch fördern wir dadurch, dass Aufwendungen für die Ausbil- höre ich keinen. Dann ist so beschlossen. dung durch Sonderausgaben bis zu 4 000 Euro ange- rechnet werden. Dieser Betrag für Sonderausgaben Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst wurde wesentlich erhöht. Aktuell beträgt er noch der Abgeordnete Dieter Grasedieck. 920 Euro, bald werden es 4 000 Euro sein. Deshalb be- grüßen die Wohlfahrtsverbände – im Hearing wurde das Dieter Grasedieck (SPD): ganz besonders deutlich – diese Verbesserung. Alles an- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dere, was danach geschieht, wird über Werbungskosten Herren! Mit unserem neuen Gesetz verbessern wir, die abgerechnet. Das ist eine klare Abtrennung und eine ein- Koalition, viele Lebenssituationen. Ich will nur zur Ver- fach handhabbare Gesetzgebung; die Streitanfälligkeit besserung in den Bereichen der Aus-, Fort- und Weiter- wird reduziert. bildung sprechen. Genau das ist unser Ziel. Verfahren, die es noch vor Unsere Väter erlernten einen Beruf. Eine Ausbildung zwei Jahren gab, werden der Vergangenheit angehören. reichte für das gesamte Leben. Wenn man heute einmal Ein Beispiel: Eine Rechtsanwaltsgehilfin studiert neben die Veränderungen betrachtet, dann erkennt man, dass ihrem Beruf an der Fachhochschule. Die Ausgaben dafür das längst Vergangenheit ist. Heute muss man innerhalb betragen 3 200 Euro. Das war deshalb ein Streitpunkt, des Berufes und innerhalb der Ausbildung flexibel vor- weil nur Sonderausgaben von 920 Euro anerkannt wur- gehen. Viele Veränderungen treten auf. In den letzten den. Solche Gerichtsverfahren wird es in Zukunft nicht 20 Jahren hat sich die Situation dramatisch verändert. mehr geben. Auch bei berufsbegleitenden Promotionen Auch viele von uns haben mehrere Berufe erlernt. greift unser neues Gesetz. Die Frage, ob es sich um Wer- bungskosten oder um Sonderausgaben handelt, ist klar Wenn man sich die Berufsbilder einmal anschaut, geregelt. dann sieht man, dass in den unterschiedlichsten Berufen Veränderungen vorgenommen wurden. Schauen Sie sich Aus diesem Grunde begrüßt die Deutsche Steuerge- einmal die Sprünge vom Dreher zum Zerspanungstech- werkschaft den Gesetzentwurf. Sie schreibt in ihrem niker und vom Schlosser zum Industriemechaniker an. Gutachten: Die bisher schwierigen und streitanfälligen Vor allem die Inhalte der theoretischen Ausbildung sind Abgrenzungsfragen zwischen Sonderausgaben und Wer- bei den modernen Berufen wesentlich größer geworden. bungskosten werden wesentlich vereinfacht. – Sie, Wir alle, Jung und Alt, müssen uns auf ein lebenslanges meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sollten Lernen einstellen. Die SPD wird langfristig unser erfolg- sich die Argumente der Steuergewerkschaft etwas näher reiches Konzept – Innovation und Bildung – auch in den ansehen und sich damit auseinander setzen. Dazu wün- (B) nächsten Jahren fördern und unterstützen. sche ich Ihnen gute Einsichten. (D) Wir müssen uns auf Entwicklungen der Wirtschaft (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ flexibel einstellen. Deshalb brauchen wir gerade in den DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Wir Zukunftsberufen viele Ausbildungsplätze. Für das, was auch!) jetzt zwischen Unternehmern auf der einen Seite und Bundeskanzler Schröder und Wolfgang Clement auf der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: anderen Seite ausgehandelt wurde, können wir nur Dank Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg sagen. Dabei sind 30 000 neue Ausbildungsplätze er- Fahrenschon. reicht worden. 30 000 junge Menschen mehr haben die Chance, sich eine Existenz zu erarbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist ein Erfolg unseres Gesetzes zur Ausbildungs- platzabgabe, das wir gemeinsam mit den Grünen einge- Georg Fahrenschon (CDU/CSU): bracht haben. Dadurch ist der Druck erhöht worden. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen von den Regierungsfraktionen! Ihr Gesetzentwurf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur Änderung der Abgabenordnung erinnert an einen DIE GRÜNEN) Eisberg. Von einem Eisberg sind bekanntermaßen nur 10 Prozent zu sehen. Der wesentlich größere Teil ver- Es ist natürlich auch ein Erfolg unserer Regierung, ein birgt sich jedoch unter der Wasseroberfläche. Gerade das Erfolg von Wolfgang Clement und Gerhard Schröder. aber macht einen Eisberg brandgefährlich. Unser neuer Gesetzentwurf soll diese Überlegung wei- terführen. Damit wollen wir in der Hauptsache zwei (Stephan Hilsberg [SPD]: Ein Eisberg kann Ziele erreichen: Erstens. Das lebenslange Lernen in nicht brennen!) Form von Weiterbildung und Fortbildung soll scharf von Mit Ihrem Gesetzentwurf verhält es sich ähnlich. Sie der Ausbildung getrennt werden. Zweitens. Das Gesetz haben aus einer einfachen und guten Bundesratsinitiative soll helfen, Streit zu vermeiden und die Gerichte zu ent- im Handumdrehen ein unüberschaubares Artikelgesetz lasten. mit vielen versteckten Tücken gemacht. Ursprünglich Wir unterscheiden klar zwischen der ersten Berufs- wurde vom Bundesrat – darüber müsste man eigentlich ausbildung und dem Erststudium auf der einen Seite an erster Stelle reden – eine Änderung des Gemeinnüt- und der Weiter- und Fortbildung auf der anderen Seite, zigkeitsrechts für Körperschaften des öffentlichen wie es in unserem Gesetzentwurf vorgesehen ist. Durch Rechts in den Deutschen Bundestag eingebracht. Denn Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10567

Georg Fahrenschon (A) durch das Investitionszulagengesetz aus dem Jahre 1999, der Istbesteuerungsregelung für die neuen Länder nach (C) das Rot-Grün zu verantworten hat, § 20 Umsatzsteuergesetz und zu guter Letzt noch über die Änderung des Gesetzes über das Branntweinmono- (Zuruf von der SPD: Das war sehr gut!) pol. gilt für die Steuerbegünstigung eines Fördervereins zu- sätzlich, dass auch die Einrichtung bzw. Körperschaft, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für die die Mittel beschafft werden, selbst steuerbegüns- NEN]: Das sind alles gute Änderungen!) tigt sein muss. Im Klartext bedeutet das, dass einer Viel- Mit dem ursprünglichen Inhalt der Gesetzesvorlage des zahl gemeinnütziger Fördervereine, die staatliche oder Bundesrates hat das leider überhaupt nichts mehr zu tun. kommunale Einrichtungen sind wie zum Beispiel Museen und Theater, aber auch Kindergärten und sogar (Beifall bei der CDU/CSU – Christine Scheel Pflege- und Altenheime, der Verlust der Gemeinnützig- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem ist keit droht, es sei denn, die geförderten Einrichtungen ge- es gut!) ben sich selbst eine Satzung. Das war nicht richtig, son- dern das war ein erheblicher fachlicher Fehler. Schlimmer noch: Die Vorgehensweise, nach der ers- ten Lesung im Deutschen Bundestag zusätzlich noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. viele andere Gesetze auf eine Gesetzesvorlage zu pa- Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- cken, ist verfahrensrechtlich mehr als bedenklich. Nach NEN]) § 62 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Der entscheidende Fehler in Ihrem damaligen Gesetzes- ist dieses Verhalten sogar unzulässig; denn der Aus- werk besteht in der Tatsache, dass gerade staatliche Mu- schuss ist verpflichtet, die ihm überwiesene Vorlage zü- seen und Theater qua Definition ausschließlich und gig zu erledigen. Dies hat der Finanzausschuss bei die- zweifelsfrei bereits steuerbegünstigte Zwecke im Sinne sem Gesetz weit verfehlt. des § 52 der Abgabenordnung verfolgen. Bereits Mitte März 2003 hat der Bundesrat seine Ini- Das heißt, wir haben wieder einmal ein Paradebei- tiative beschlossen. Heute schreiben wir immerhin den spiel dafür, wie Rot-Grün im deutschen Steuerrecht völ- 18. Juni 2004. Durch Ihr Taktieren kam es also zu einem lig überflüssig einen weißen Schimmel schafft, der un- erheblichen Zeitverlust. Den entsprechenden Brandbrief nötige Bürokratie nach sich zieht. Denken Sie einmal der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenver- daran, was es heißt, eine Satzung zu erarbeiten, eine Sat- bände kann ich gerne zu Protokoll geben. Darin fordern zung zu beschließen, eine Satzung beim Registergericht alle drei kommunalen Spitzenverbände Anfang Januar, zu hinterlegen und eventuell die Satzung im Laufe der schnellstmöglich der Bundesratsinitiative zuzustimmen. (B) Zeit ständig anpassen zu müssen. Aus dem Grunde muss (D) man dem Bundesrat danken, dass er sich der Sache ange- Weiterhin ist das Verhalten unzulässig, weil – so sind nommen hat und die Abgabenordnung so verändert, dass nun einmal die Arbeitsregeln in unserem Parlament – ein für Gemeinnützigkeit der Fördervereine von Betrieben Ausschuss grundsätzlich kein Initiativrecht besitzt. Än- gewerblicher Art die Gemeinnützigkeit der geförderten derungen, Erweiterungen und Ergänzungen dürfen nur Einrichtung nicht mehr Voraussetzung ist. eingebracht werden, wenn sie in unmittelbarem Sachzu- sammenhang zur eigentlichen Vorlage stehen. Aus Sicht Diese Initiative des Freistaats Bayern mit dem Ziel, der Bundestagsfraktion der CDU/CSU ist kein unmittel- den bürokratischen Aufwand bei den Vorschriften über barer Zusammenhang zwischen der Änderung des Ge- die Voraussetzungen für die Gemeinnützigkeit zu ver- meinnützigkeitsrechts für Körperschaften des öffentli- meiden, begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus- chen Rechts und den übrigen Änderungsanträgen zu drücklich. erkennen. Deshalb stellt sich hier die nicht unwesentli- (Beifall bei der CDU/CSU) che Frage, ob das Gesetz hinsichtlich der übrigen Ände- rungsanträge überhaupt auf verfassungskonforme Weise Aus Sicht der Union hätte dies schon längst verab- zustande kommen kann. schiedet werden können. Denn das Gesetz wurde am 14. März 2003 vom Bundesrat beschlossen und dem Wir haben – ich erwähne das, weil dieser Punkt si- Bundestag seitens der Bundesregierung am 2. Mai 2003 cherlich noch angesprochen wird – dabei mitgemacht. zur Beratung überstellt. Über ein Jahr lang sah sich Rot- Wir haben zusätzliche Punkte aufgenommen und sie in Grün nicht in der Lage, zuzustimmen, und hielt es seit einer besonderen Anhörung behandelt. Das war auch gut Anfang dieses Jahres stattdessen für notwendig, ständig so. Insbesondere den Entlastungsbetrag von Alleinerzie- neue und im Grunde völlig sachfremde Themen in die henden hätten wir sicherlich nicht optimiert, wenn wir Gesetzesvorlage einzubringen. diese Anhörung nicht durchgeführt hätten. Es gibt aber zwei Punkte, nämlich die Änderungen hinsichtlich der Die Bundesratsinitiative wurde Ihrerseits zu einem so Umsatzsteuer sowie das Branntweinmonopol, die nicht genannten Omnibusgesetz umfunktioniert. Wir spre- einmal in der Anhörung im Mittelpunkt standen. chen deshalb heute neben dem Gemeinnützigkeitsrecht zusätzlich noch über die Einschränkung der Abzugsfä- Ich bleibe bei dem von mir verwendeten Bild des Eis- higkeit von Berufsausbildungskosten, die Änderung bergs. Statt Bürokratie abzubauen, schaffen Sie mit der beim Entlastungsbeitrag für Alleinerziehende, die Ver- Neuregelung hinsichtlich der Abschaffung bzw. Verkür- kürzung der Anmelde- und Abführungspflichten für die zung der Frist zur Anmeldung und Abführung der Kapi- Kapitalertragsteuer auf Dividenden, die Verlängerung talertragsteuer auf Ausschüttungen sogar noch mehr 10568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Georg Fahrenschon (A) Bürokratie, und zwar insbesondere für den deutschen (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das sagen (C) Mittelstand. Sie! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist Ansichtssache, Frau Scheel!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das gilt für die Regelungen für allein erziehende Mütter Herr Kollege, denken Sie bitte daran, Ihre Redezeit und Väter, sodass eben nicht mehr, wie es bislang im Ge- einzuhalten. setz geregelt ist, der Entlastungsbetrag für Allein- erziehende entfällt, wenn das Kind 18 Jahre alt wird. Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Nach der vorgesehenen Regelung wird der Entlastungs- Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die betrag von staatlicher Seite vielmehr so lange gewährt, Union zwar den ursprünglichen Gesetzentwurf des Bun- bis der Kindergeldanspruch für ein Kind entfällt. Es desrats ausdrücklich unterstützt, aber nicht bereit ist, macht schließlich keinen Sinn, wenn eine allein erzie- dem gesamten Konvolut zuzustimmen. Wir werden se- hende Mutter eines 17-Jährigen, der sich in der Ausbil- hen, was der Bundesrat mit Ihrem Gesetzentwurf macht. dung befindet, den Entlastungsbetrag bekommt, die al- lein erziehende Mutter eines 22-Jährigen, der sich in der Herzlichen Dank. Ausbildung befindet, aber nicht, obwohl die anfallenden Kosten gleich hoch sind. Das war eine völlig unsinnige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Regelung, die im Dezember in einer Nacht-und-Nebel- Aktion im Bundesrat getroffen wurde. Die unionsgeführ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten Länder wollten gar nichts für die Alleinerziehenden Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel. tun. Die rot-grüne Regierung hat einen Vorschlag unter- breitet, der allerdings nicht 100-prozentig das umfasst, was wir politisch erreichen wollten. Deswegen ist es Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): richtig, dass dieser Waggon angehängt wird. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Dass der Bundesrat eine Gesetzesinitiative auf den Weg ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Unstrittig!) bracht hat, um vernünftige Regelungen zur steuerlichen Behandlung gemeinnütziger Einrichtungen zu schaf- Wir haben einen weiteren wichtigen Bereich aufge- fen, ist zu begrüßen. Darin sind wir uns einig. griffen, bei dem es um die Zukunft von Bildungs- aufwendungen geht. Wir sind der Auffassung, dass In- Wir wissen allerdings auch, was es bedeutet, wenn ein vestitionen in Bildung in einer Dienstleistungs- und Land im Bundesrat eine Initiative einbringt, die zunächst Wissensgesellschaft immer mehr an Bedeutung gewin- mit den anderen Ländern und dem Bundesfinanzministe- nen. (B) rium koordiniert und letztendlich vom Gesetzgeber, dem (D) Parlament, auf den Weg gebracht werden muss, zumal (Zuruf von der CDU/CSU: Dann handeln Sie auch bestimmte Fristen einzuhalten sind. doch danach!) Insofern kann man zwar beklagen, dass es so lange Aus diesem Grund müssen wir schon froh sein, dass der gedauert hat – es hätte in der Tat nicht ganz so lange dau- Bundesfinanzhof die Möglichkeit eingeräumt hat, eine ern müssen, Herr Fahrenschon; das ist richtig –, aber sehr weit reichende Abzugsfähigkeit von Bildungsauf- ganz so schnell, wie Sie es dargestellt haben, geht es wendungen als Werbungskosten zu erlauben. Man muss nicht, weil das Gesetzgebungsverfahren, die Fristen und sehen, dass es hier Hürden gegeben hat, die es erst ein- die Modalitäten zwischen Bundestag und Bundesrat ein- mal zu überwinden galt. zuhalten sind. Langfristiges Ziel muss natürlich sein, dass Sach- und Wir hatten den kommunalen Spitzenverbänden recht- Humaninvestitionen steuerlich gleichbehandelt werden zeitig mitgeteilt, dass wir die Gesetzesänderung auf den und gleichermaßen abzugsfähig sind. Angesichts der Weg bringen, sodass auf kommunaler Ebene Planungssi- Zeit, in der wir leben, und der Entwicklung in unserer cherheit gegeben war. Denn es war klar: Weder die Gesellschaft ist es nicht mehr zu legitimieren, dass zwar Union noch die rot-grüne Koalition noch die FDP wür- die Kosten für eine Maschine, die man sich in die Halle den einen solchen Vorstoß ablehnen. Damit stand fest, stellt, voll abzugsfähig sind, dass aber Investitionen in dass die Gesetzesänderung erfolgen wird. Insofern war Bildung die Abzugsfähigkeit versagt bleibt. es nicht tragisch, dass wir sie einige Wochen länger lie- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gen gelassen haben – ich drücke das bewusst so aus –, SES 90/DIE GRÜNEN) weil wir noch andere Punkte, die wir vernünftigerweise regeln wollen, mit der Abgabenordnung in Verbindung Mit der von uns geplanten Maßnahme gehen wir einen gebracht haben. Riesenschritt in die richtige Richtung. Es ist also berech- tigt, auch diesen Waggon anzuhängen. Er wird ziemlich Nun ließe sich einwenden: Es gibt eine Lokomotive schnell mit in die richtige Richtung fahren. mit einem Waggon daran – das ist die Initiative des Bun- desrates –; das reicht eigentlich aus. Die rot-grüne Frak- Dem, was Herr Fahrenschon zu den anderen Themen tion hat nun aber noch ein paar weitere Waggons ange- inhaltlich gesagt hat, kann ich mich nur anschließen. Zu hängt. Aber jeder Waggon, der noch angehängt wurde, den Fragen betreffend die Umsatzsteuer habe ich schon fährt in die richtige Richtung und hat insofern seine Be- in meiner vorhergehenden Rede Stellung genommen, auf rechtigung. die ich an dieser Stelle verweisen möchte. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10569

Christine Scheel (A) Der Zug ist auf einem guten Gleis. Auch die Richtung von der Bundesregierung zusammen mit den Ländern (C) stimmt. gegen die Stimmen der FDP im Vermittlungsausschuss beschlossene Neuregelung des § 8 a des Körperschaft- Danke schön. steuergesetzes. Wir haben deshalb im Rahmen der Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schussberatung beantragt, diese Neuregelung zurückzu- und bei der SPD) nehmen. Gegenstand des § 8 a ist, dass Zinszahlungen von Unternehmen in gewissen Fällen nicht mehr als Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Betriebsausgaben geltend gemacht werden können, son- dern als verdeckte Gewinnausschüttung behandelt wer- Jetzt hat der Abgeordnete Dr. Pinkwart noch einmal den müssen. Dabei handelt es sich nach der gegen- für drei Minuten das Wort. wärtigen Gesetzeslage auch um Bankkredite, die von Unternehmern privat verbürgt worden sind. Das ist der Dr. Andreas Pinkwart (FDP): typische Mittelstandskredit. Er soll nach der geltenden Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Rechtslage nicht mehr als Betriebsausgabe abgesetzt Herren! Es handelt sich bei dem heute vorgelegten Ge- werden können. Das führt – Sie alle wissen das – zu ei- setzentwurf fürwahr um ein Omnibusgesetz, mit dem ner massiven Verunsicherung im Mittelstand: Es gibt verschiedene steuerrechtliche Anliegen befördert wer- Hunderte von Eingaben aus diesem Bereich. Verbände den sollen. Dabei haben die Anhörungen wie auch die und Sachverständige haben darauf hingewiesen, dass es Beratungen im Ausschuss gezeigt, dass mit diesem der dringenden Regelung bedarf, um einer weiteren In- „Omnibus“ leider nicht alles mitgenommen wird, was vestitionszurückhaltung und damit dem Verlust von Ar- dringend befördert gehört. Dafür werden wiederum an- beitsplätzen entgegenzuwirken. dere Dinge mitgenommen, die zumindest in der jetzigen Form nicht befördert werden sollten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Rechtsänderungen im Bereich des Gemeinnüt- zigkeitsrechts und die einkommensteuerliche Behand- Wir haben in den Ausschussberatungen hierzu eine lung Alleinerziehender werden von der FDP-Fraktion ganz klare Änderung vorgeschlagen. Das BMF-Schrei- dabei als äußerst sinnvolle Regelungen angesehen und ben reicht nicht; es schafft nicht – das ist hinreichend als Einzelrechtsänderungen jeweils begrüßt. klar geworden – die notwendige Rechtssicherheit. Ich fordere die Regierung und die Regierungsfraktionen (Beifall bei der FDP) dazu auf – sie sind in Zugzwang –, dieses Problem zu lö- Dagegen greift das im Gesetzentwurf enthaltene sen. Wenn sie das nicht tun, wird sich das Beschäfti- (B) umsatzsteuerliche Besteuerungsverfahren – das ist in gungsproblem in diesem Land weiter verschärfen. (D) der vorangegangenen Aussprache schon diskutiert wor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den – bei weitem zu kurz. Die Verlängerung der auf die neuen Bundesländer bezogenen Sonderregelungen ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zwar notwendig. Aber zum einen müsste der Anwen- dungsbereich auf die gesamte Bundesrepublik Deutsch- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ingrid Arndt- land ausgeweitet werden und zum anderen müsste die Brauer. Umsatzgrenze für Unternehmen auf 2,5 Millionen Euro angehoben werden. Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) was wir heute debattieren, könnte man „Änderung der Zudem muss in dieser Höhe die Istbesteuerung auch auf Abgabenordnung und weiterer Gesetze“ nennen. Unter der Leistungseingangsseite gelten. diesen weiteren Gesetzen befindet sich eines, wozu ich erfreulicherweise sagen kann: Da haben alle zuge- Der eben angesprochene Systemwechsel von der stimmt. Ich finde das sehr vernünftig, denn es zeigt sich: Soll- zur Istbesteuerung wird nicht – hier gehe ich auf Die Lebenswirklichkeit ist nicht immer so, wie wir sie das ein, was Frau Scheel vorhin gesagt hat – die von Ih- gerne hätten; aber wir müssen uns ihr stellen. nen genannten über 4 Milliarden Euro Mindereinnah- men für den Staat zur Folge haben. Sie als Ausschuss- Das Gesetz, an das ich denke, behandelt den Haus- vorsitzende wissen, dass das Bundesfinanzministerium haltsfreibetrag für Alleinerziehende. Diese Personen ausdrücklich gebeten worden ist, die eigenen Berech- haben das Problem, dass sie dadurch wirtschaftliche nungen noch einmal zu überprüfen, was auch zugesagt Nachteile erleiden, dass sie in der Regel ohne Partner le- worden ist; denn von der Systemumstellung erwartet ben, weswegen sie nicht die Vorteile einer Zweierbezie- auch das Bundesfinanzministerium eine wirksamere hung mit Kind genießen können. Um dem entgegenzu- Missbrauchsbekämpfung. Insofern werden die Minder- wirken, haben wir Anfang dieses Jahres einen Freibetrag einnahmen, wenn überhaupt welche entstehen, deutlich in Höhe von 1 308 Euro eingeführt. Bedingung für die- geringer ausfallen. sen Freibetrag ist, dass mindestens ein minderjähriges Kind in der Familie lebt. Das, was mit dem Omnibusgesetz nicht mitgenom- men worden ist – das bedauern wir außerordentlich, weil Die Erfahrung zeigt allerdings: Es gibt durchaus Fa- dies gegenwärtig Hunderttausende mittelständische milien, besser: Teilfamilien, in denen nicht nur ein min- Unternehmen in diesem Land massiv bedrückt –, ist die derjähriges Kind lebt. In solchen Familien lebt häufig 10570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Ingrid Arndt-Brauer (A) auch ein Kind über 18. Das ist nicht gleichbedeutend mit brachten Punkte in einem geordneten Gesetzgebungsver- (C) einem Lebenspartner. Meine eigene Lebenswirklichkeit fahren mit uns gemeinsam zu diskutieren. – ich habe zwei Kinder über 18 und zwei unter 18 – zeigt mir, dass die Kinder über 18 nur bedingt zur Erziehung Sie haben es anders entschieden. Sie machen mal wie- und Betreuung meiner unter 18-Jährigen beitragen. Fi- der einen verfahrenstechnisch fragwürdigen Schnell- nanziell tragen sie dazu überhaupt nicht bei. Um das aus- schuss und der Schnellschuss ist zudem noch halbherzig. zugleichen, erweitern wir das bestehende Gesetz um die Schauen Sie einmal in Ihren eigenen Entwurf hinein! Personengruppe, die nicht nur mit einem minderjährigen Nehmen Sie beispielhaft die Änderung des Umsatzsteu- Kind, sondern auch mit einem Kind über 18, für das ein ergesetzes. Sie wollen eine Sonderbehandlung der neuen Anspruch auf Kindergeld bzw. Freibetrag besteht, zu- Bundesländer bei der Umsatzbesteuerung nach verein- sammenlebt. Das ist gut und vernünftig. nahmten Entgelten; Sie wollen die Geltungsdauer der Umsatzgrenze von 500 000 Euro um zwei Jahre verlän- Ich freue mich – das sage ich ausdrücklich –, dass alle gern. Sie begründen es damit, dass Sie die Liquiditäts-, zugestimmt haben. Wenn wir mit den anderen Angele- Wachstums- und Beschäftigungsgrundlage kleiner und genheiten genauso ruhig und sachlich umgegangen wä- mittlerer Unternehmen in den neuen Ländern stärken ren, dann hätten wir vielleicht auch bei den anderen De- wollen. Es ist positiv, dass Sie den Mittelstand stärken tails Einigkeit erzielen können. Es ist nicht immer wollen. schlimm, Gesetzesinhalte aneinander zu reihen, damit (Zuruf von der SPD: Das kann man wohl sie möglichst schnell, womöglich rückwirkend, in Kraft sagen!) treten können. In diesem Fall war eine solche Aneinan- derreihung notwendig. Das Gesetz zur Neuregelung der Aber nicht nur in den neuen Bundesländern leidet der Ansprüche der Alleinerziehenden – wir werden es heute Mittelstand unter Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik. verabschieden – gilt rückwirkend zum 1. Januar 2004. In ganz Deutschland gibt es Unternehmenspleiten in Das heißt, die Alleinerziehenden haben in diesem Jahr noch nie dagewesenem Ausmaß. keinen Nachteil. Ich denke, das ist gut. Ich freue mich, dass das so zustande gekommen ist. (Dr. [CDU/CSU]: Leider wahr!) Danke schön. Es waren 40 000 Unternehmenspleiten allein im Jahr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 2003, also alle zwölf Minuten ein mittelständischer Be- DIE GRÜNEN) trieb weniger – alle zwölf Minuten! Wir brauchen die Grenze von 500 000 Euro für ganz Deutschland. (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (D) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian von SPD: Bei den Reden geht alle fünf Minuten ei- Stetten. ner pleite!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Sie hätten zuhören müssen! Genau vor einer Stunde haben wir zu diesem Thema unseren Entwurf in einem Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): ordnungsgemäßen Verfahren in den Bundestag einge- bracht. Deswegen sollten Sie heute die von Ihnen im Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ausschuss beschlossenen Ergänzungen zurückziehen Heute ist schon verschiedentlich erwähnt worden: Die und sich in das ordnungsgemäße Verfahren zu dem Ent- Bundesländer, die über den Bundesrat einen Gesetzent- wurf, den wir formuliert haben, einbringen. wurf mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung der Abgabenordnung“ eingebracht haben und damit Nachdem Rot-Grün hier so ein Durcheinander veran- eigentlich nur die Gemeinnützigkeitsregeln etwas verän- staltet hat – Sie haben das in einem Zwischenruf dern wollten, wundern sich heute schon – sie sind die eingeworfen –, hat sich die FDP dazu verleiten lassen, Antragsteller –, was alles im Bundestag heute beschlos- zum Thema § 8 a Körperschaftsteuergesetz noch einen sen werden soll. hinten dranzuhängen. Herr Professor Pinkwart, Sie ha- ben völlig Recht: Der § 8 a muss geändert werden. Er Ehrlich gesagt, auch ich wundere mich. Der Kollege muss aber in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren Fahrenschon ist auf die eigentlichen Ziele der Bundes- geändert werden. länder ausführlich eingegangen und er hat auch begrün- det, warum wir dem ursprünglichen Gesetzentwurf (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Aber schnell!) gerne zugestimmt hätten. Lieber Herr Staatssekretär, es reicht nicht aus, dass Sie Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- die berechtigten Interessen der Betroffenen mit einem tion, was Sie im Nachhinein alles in dieses Gesetz einfachen BMF-Schreiben aufnehmen wollen. In hineingepackt haben, ohne dass ein sachlicher Zusam- Deutschland müssen Gesetze gelten und nicht irgend- menhang mit der Vorlage des Bundesrates besteht, ist welche Verwaltungsbriefe. nicht akzeptabel. Wir haben Sie im Finanzausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehrfach gebeten – wir haben sogar einen entsprechen- den Antrag gestellt, der es uns ermöglichen sollte –, den Zum Abschluss bitte ich Sie ausdrücklich, hierzu ei- sinnvollen Forderungen der Bundesländer nachzukom- nen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. An dessen Bera- men und anschließend die von Ihnen nachträglich einge- tung wollen wir uns dann konstruktiv beteiligen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10571

Christian Freiherr von Stetten (A) (Zuruf von der SPD: Das wäre das erste Mal!) uns über einen längeren Zeitraum beschäftigen wird. Da- (C) hinter verbirgt sich das große Problem des Wohnungs- Herzlichen Dank. leerstandes, das in den neuen Bundesländern bereits in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erheblichem Umfang auftritt. Angesichts der demogra- phischen Entwicklung ist jedoch auch in den alten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bundesländern damit zu rechnen, dass ein Stadtumbau zur Behebung von Strukturproblemen erfolgen muss. Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung über den vom Bundesrat Lassen Sie mich zur Illustration nur zwei Zahlen nen- eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Abga- nen: In den neuen Ländern stehen über 1 Million Woh- benordnung kommen, möchte ich Ihnen bekannt geben, nungen leer, in Sachsen allein mehr als 400 000. Wenn dass aus den Reihen der Fraktion der CDU/CSU Sie in Rechnung stellen, dass wir etwa 4,3 Millionen 21 Erklärungen zur Abstimmung vorliegen, die wir zu Einwohner haben, kommen Sie zu dem Schluss, dass Protokoll nehmen.1) etwa jeder zehnte Sachse eine leer stehende Wohnung okkupieren könnte. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr in- teressant! Die werden wir mal nachlesen! – (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: In Gegenruf von der CDU/CSU: Das lohnt sich einem Plattenbau! Aber wer will da hinein?) immer!) – In einem Plattenbau im Allgemeinen. – Einem Über- Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss schuss in dieser Größenordnung kann man nicht mit Ein- empfiehlt auf Drucksache 15/3339, den Gesetzentwurf zelmaßnahmen begegnen. Hier sind Gesamtkonzepte in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- gefragt. Das heißt konkret, dass Planungen zur Verklei- gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- nerung von Wohngebieten erstellt werden müssen, die in stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- einem Rahmenkonzept für die jeweilige städtische Ent- gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit wicklung eingebettet sind. Den Kommunen, die diesen in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- Prozess im Wesentlichen in Zusammenarbeit mit den fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP Wohnungsunternehmen und den Wohnungsbesitzern be- angenommen. wältigen müssen, stehen damit schwierige Aufgaben be- vor. Sie können diese Aufgaben nur bewältigen, wenn Dritte Beratung ihnen das notwendige rechtliche Instrumentarium zur und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, Verfügung steht. (B) wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer Der Anfang hierzu wurde mit der Einfügung eines (D) möchte Ihn ablehnen? – Gibt es Enthaltungen? – Es Abschnitts „Stadtumbau“ in das Baugesetzbuch erst bleibt bei dem schon eben festgestellten Ergebnis: SPD kürzlich von Ihnen erfolgreich auf den Weg gebracht. und Bündnis 90/Die Grünen stimmen zu, CDU/CSU und Die Abrisskündigung gehört jedoch als weiterer zivil- FDP lehnen ab. rechtlicher Aspekt ebenso zu diesem notwendigen In- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: strumentarium. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des – Ich bedanke mich. § 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs Mit der Abrisskündigung wollen wir den schnellen – Drucksache 15/2951 – vollständigen Freizug von Gebäuden ermöglichen, die Überweisungsvorschlag: abgebrochen werden sollen. Sie soll die Rechtssicherheit Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen für alle Beteiligten erhöhen und den Stadtumbau voran- bringen. Es hat um den Sinn dieser Regelung bereits eine Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- intensive Diskussion gegeben. Lassen Sie mich insofern sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch auf die rechtlichen Aspekte besonders eingehen: höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Der Vermieter soll einen Mietvertrag kündigen kön- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für nen, wenn das Wohngebäude überwiegend, das heißt zu den Bundesrat der sächsische Staatsminister Horst mehr als 50 Prozent, leer steht und entsprechend der Rasch. städtebaulichen Planung der Gemeinde teilweise oder vollständig beseitigt werden soll. Gleichzeitig muss der Horst Rasch, Staatsminister (Sachsen): Vermieter dem Mieter Wohnraum in vergleichbarer Art, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Größe und Ausstattung nachweisen. Herren! Bei der im Gesetzentwurf des Bundesrates vor- Gefragt worden ist in diesem Zusammenhang, ob wir geschlagenen so genannten Abrisskündigung handelt es nicht mit der Kündigungsmöglichkeit aus berechtigtem sich um ein Rechtsinstrument des Stadtumbaus. Der Interesse nach § 573 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch Begriff des Stadtumbaus weist auf einen Prozess hin, der oder der gerade erst in den neuen Ländern zugelassenen Verwertungskündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB 1) Anlage 7 ausreichend Kündigungsmöglichkeiten für die Vermieter 10572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Horst Rasch, Staatsminister (Sachsen) (A) leer stehender Gebäude haben. Dies ist gerade nicht der nungsgesellschaften im Osten tragen schon jetzt jeden (C) Fall. Mieter auf Händen; denn er ist der Einzige, der ihnen in dieser wirtschaftlichen Situation wirklich helfen kann. (Dirk Manzewski [SPD]: Doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom März dieses Jahres hat bestätigt, dass die Verwer- Meine Damen und Herren, letztendlich war der ent- tungskündigung nicht den Fall des bloßen Abrisses von schiedene Fall des BGH insofern ein Sonderfall, als es Wohnhäusern ohne Neubebauung oder Umnutzung be- sich um einen trotz langer Verhandlungen und großzügi- trifft. ger Zahlungsangebote übrig gebliebenen Einzelmieter handelte. Ob ein berechtigtes Interesse von den Gerich- Entgegen der Auffassung der Bundesregierung kann ten auch dann bejaht wird, wenn noch 20 oder 30 Pro- auch nach der Entscheidung des BGH nicht von einer zent der Mieter vorhanden sind und nach städtebaulichen gesicherten Rechtslage für den flächenhaften Rückbau Entwicklungskonzepten der bestehende Leerstand auf von Wohngebäuden ausgegangen werden. Das BGH- ein Gebäude konzentriert werden soll, ist unklar. Zu war- Urteil setzt sich lediglich mit der Abgrenzung von Ab- ten, bis nur noch ein einziger Mieter in einem Wohn- riss- und Verwertungskündigung auseinander. Bezüg- block wohnt, um ihn dann, möglicherweise mit einer lich der Voraussetzungen einer konkreten Kündigung im Kündigung aus berechtigtem Interesse nach § 573 Rahmen des § 573 Abs. 1 BGB, insbesondere zum Abs. 1 BGB, herauszuklagen, ist kein akzeptabler Weg Thema Interessenabwägung und Mieterschutzerwägun- für den flächenhaften Rückbau, der in vielen Städten an- gen, wurden keine Ausführungen gemacht. steht. Hinzu kommt, dass man in diesem Bereich bei nur Wichtig ist: Kein Mieter wird auf der Straße stehen. vier vom BGH angesprochenen unterinstanzlichen Ur- Betroffene werden vielleicht in einen Block in der Nach- teilen – wobei allein zwei aus dem konkret entschiede- barschaft oder in einen anderen Stadtteil ziehen; denn nen Instanzenzug stammen – wohl noch nicht von einer wir müssen dafür sorgen, dass unsere Stadt in sinnvoller gefestigten Rechtsprechung ausgehen kann. Dies gilt Weise umgebaut werden kann, und zugleich den Betrof- umso mehr, als die Vorgaben der vereinzelten Rechtspre- fenen rechtliche Sicherheit bieten. chung auch teilweise recht unterschiedlich sind. Wäh- rend das Amtsgericht Jena und das Landgericht Gera (Beifall bei der CDU/CSU) eine Kündigungsmöglichkeit anerkennen, wenn der Dies ist ein Anliegen, das in die Zukunft weist. Die Wei- Leerstand auf demographischer Entwicklung beruht und chen dafür müssen aber jetzt gestellt werden. Deshalb der Abriss im Rahmen eines Stadtentwicklungskonzepts bitte ich Sie: Schaffen Sie die Rechtsinstrumente, die für erfolgt, sieht das vom BGH aufgeführte Urteil des Amts- (B) den Stadtumbau notwendig sind. (D) gerichts Leipzig eine Kündigungsmöglichkeit jedenfalls dann nicht vor, wenn der Vermieter das Objekt aktiv ent- (Beifall bei der CDU/CSU) mietet oder von jeglichen Vermietungsmaßnahmen aus- genommen hat, also keine Instandhaltungsmaßnahmen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: oder Vermietungsbemühungen vorgenommen hat. Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Des Weiteren bestehen in diesem Zusammenhang be- Alfred Hartenbach. züglich der Rechte der Mieter ganz erhebliche Un- sicherheiten. In vielen Fällen haben die Unternehmen Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- von sich aus und gerade aufgrund der rechtlichen Un- desministerin der Justiz: sicherheit über eine Kündigungsmöglichkeit bereits im Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Ver- Vorfeld den Mietern jeweils entsprechend üppige Ange- ehrte Rechts- und Mietfreunde! Verehrter Herr Staats- bote unterbreitet. Das vom BGH bestätigte Landgericht minister! Erst vor kurzem wurde auf Initiative des Bun- Gera spricht sogar von überobligatorischen Angeboten desrates das Verbot der Verwertungskündigung für der Wohnungswirtschaft. Altmietverträge in den neuen Ländern aufgehoben. Seit dem 1. Mai 2004 gibt es diese Beschränkung der Ver- (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Goldener mieterrechte auch in Ostdeutschland nicht mehr. Das ist Handschlag!) bei dem herrschenden Wohnungsleerstand auch vernünf- Was jedoch eine obligatorische Berücksichtigung der tig. Mieterinteressen darstellt, wurde von der Rechtspre- Mit diesem Gesetzentwurf schießt der Bundesrat aber chung bisher nicht hinreichend klargestellt. Dass die über das Ziel hinaus. Das Sonderkündigungsrecht hat für Wohnungswirtschaft solche überobligatorischen Ange- die Leerstandsproblematik keine Bedeutung; Praktiker bote bei flächenhaftem Abriss in Zukunft nicht mehr be- bestätigen mir das immer wieder. Ohnehin wird das Pro- triebswirtschaftlich tragen kann, braucht bei der derzeiti- blem in der Praxis durch das Angebot von Ersatzwoh- gen Wohnungsmarktlage in den neuen Bundesländern nungen und die Übernahme von Umzugskosten durch nicht mehr näher erläutert zu werden. Auch hier würde den Vermieter in den meisten Fällen befriedigend gelöst. mit der Ermöglichung der Abrisskündigung nunmehr eine klare Regelung getroffen. Die Abrisskündigung be- Wo eine einvernehmliche Lösung nicht erzielt wird, rücksichtigt die Interessen der Mieter, da der Vermieter ermöglicht bereits das geltende Recht den Vermietern verpflichtet ist, Ersatzwohnraum vergleichbarer Art, die Abrisskündigung. Für die Generalklausel des § 573 Größe und Ausstattung nachzuweisen. Unsere Woh- Abs. 1 BGB hat sich eine sehr vernünftige Rechtspre- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10573

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) chung zur Abrisskündigung entwickelt, die der Bundes- Gründe nachlesen; dann wird man sehen, dass man dies (C) gerichtshof mittlerweile in vollem Umfang bestätigt hat. nicht verallgemeinern kann. Die Rechtsprechung stellt den Unterhaltskosten für das Deswegen möchte ich unterstreichen, dass gegenwär- Gebäude die Mietzahlungen der verbleibenden Mieter tig für das vorgeschlagene Sonderkündigungsrecht in gegenüber und überprüft bei einem erheblichen Missver- Abbruchsfällen weder ein rechtliches noch ein prak- hältnis außerdem, ob die Mieter besonders schutzbedürf- tisches Bedürfnis besteht. tig sind. Damit werden die Interessen der Vermieter in Fällen erheblichen Leerstands angemessen berücksich- Verehrte Frau Präsidentin, ich bitte festzuhalten, dass tigt. ich heute meine Redezeit eingehalten habe. Berücksichtigt wird aber auch, dass eine Kündigung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durch den Vermieter nur bei einem Interesse von Ge- DIE GRÜNEN) wicht in Betracht kommt. Dieser Ansatz ist mir wichtig, weil die Wohnung nun einmal der Lebensmittelpunkt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: des Mieters ist und deshalb eine hohe soziale Bedeutung Vielen herzlichen Dank. – Das Wort hat jetzt der Ab- hat. geordnete Henry Nitzsche. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Henry Nitzsche (CDU/CSU): Wir haben also einen ausreichenden Kündi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein gungstatbestand und auch die erforderliche Rechts- Mann soll im Laufe seines Lebens ein Haus bauen, einen sicherheit für die Ausübung von Abrisskündigungen. Ich Sohn zeugen und einen Baum pflanzen. kann keine ernsthafte Gefahr eines Missbrauchs durch (Horst Schild [SPD]: Eine Tochter darf es aber die Mieter erkennen. Der Wunsch eines Mieters, sich auch sein!) eine Auszugsbereitschaft teuer bezahlen zu lassen, wird von der Rechtsprechung unmissverständlich als ver- Nun werden aber seit 30 Jahren in Deutschland nicht ge- tragsfremd und nicht schutzwürdig behandelt. nug Söhne – meinetwegen auch Töchter – gezeugt, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Diese Entwick- Auch die Prämisse der Rechtsprechung, dass der Ver- lung hat weit reichende Folgen für den Bestand und die mieter nur kündigen darf, wenn er den Leerstand nicht Entwicklung unserer Städte. Der Prozess des Stadtum- selbst verschuldet hat, führt bei den Abrissfällen nicht zu baus in Deutschland hat nicht nur die wirtschaftliche einer Beschränkung der Vermieterrechte. Ein schuldhaf- Fehlentwicklung – besonders in den letzten sechs tes Handeln des Vermieters wird nämlich ausdrücklich (B) Jahren –, sondern auch die Demographiebombe als Ur- (D) verneint, wenn der geplante Abriss wegen erheblichen sache. Leerstands im Rahmen eines Stadtentwicklungskonzepts erfolgen soll. Der BGH hat in diesem Zusammenhang Wir sprechen heute über einen Gesetzentwurf des übrigens auch keine Bedenken gegen die Einschätzung Bundesrates, der vom Freistaat Sachsen initiiert wurde. der Vorinstanz erhoben, dass es der wirtschaftlichen Ent- Wesentliche Gründe liegen in der sächsischen Wohn- scheidung des Vermieters überlassen sein muss, welches infrastruktur. Von den mehr als 2,2 Millionen Platten- von mehreren in Betracht kommenden Gebäuden abge- bauten in den neuen Ländern stehen allein in Sachsen rissen werden soll. mehr als 660 000. Waren 2001 noch 75 Prozent aller leer stehenden Wohnungen im unsanierten Altbau, so holt Der Gesetzentwurf würde gegenüber dem geltenden der Plattenbau mit rascher Dynamik auf: 2002 betrug Recht keine zusätzliche Rechts- und Planungssicherheit der Leerstand 38 000, im Plattenbau dagegen schon schaffen. Auch hier werden auslegungsbedürftige 58 000 Wohnungseinheiten. Rechtsbegriffe verwendet, über deren Bedeutung im Bereits mit Antrag vom 28. Januar vergangenen Jah- Streitfall wieder die Gerichte entscheiden müssen. Ich res mit dem Thema „Stadtentwicklung Ost – Mehr Effi- sehe auch nicht, dass der Gesetzentwurf im Streitfall das zienz und Flexibilität“ hat meine Fraktion unter Punkt 5 Verfahren beschleunigen könnte. Denn der gesetzliche ein Sonderkündigungsrecht für Rückbauvorhaben ge- Kündigungsschutz des Mieters, also das Recht zum Wi- genüber Mietern eingefordert. Die Begründung vor an- derspruch gegen die Kündigung und der Räumungs- und derthalb Jahren ist heute aktueller denn je. Kommunale Vollstreckungsschutz, bleiben selbstverständlich unan- Wohnungsunternehmen und Genossenschaften müssen getastet – und hier spielt ja bekanntlich die Musik. in die Lage versetzt werden, Stadtentwicklungskonzepte zügig in ihrem Bereich umzusetzen. Dazu ist es unter an- Der Vollständigkeit halber will ich noch darauf hin- derem erforderlich, den verstreuten Wohnungsleerstand weisen, dass für den Gesetzentwurf auch aus städtebau- in städtebaulich gewünschten Wohnobjekten zu konzen- licher Sicht kein Bedarf besteht. Nach dem Baugesetz- trieren. Im Normalfall nimmt die Mehrheit der Mieter buch besteht bereits für die Gemeinden die Möglichkeit, Umzugsangebote bei entsprechender Entschädigung an. in förmlich festgelegten Sanierungsgebieten und Ent- Dennoch erschweren einzelne Mieter durch überzogene wicklungsbereichen oder zur Durchführung städtebauli- Forderungen den Freizug. Um aber den Stadtumbau im cher Gebote Miet- oder Pachtverhältnisse aufzukündi- notwendigen Umfang umsetzen zu können, wird dieses gen. Die von Ihnen, Herr Staatsminister Rasch, zitierte Instrument dringend benötigt. Entscheidung ist eben eine typische Einzelfallentschei- dung des BGH. Man muss sorgfältig und genau die (Beifall bei der CDU/CSU) 10574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Henry Nitzsche (A) In den vergangenen Sitzungen haben wir den Stadt- Erstens. § 573 Abs. 1 BGB ermöglicht es, dass der (C) umbau in das Baugesetzbuch integriert. Das ist ein er- Vermieter aufgrund eines berechtigten Interesses kün- freulicher Anfang zur Wahrnehmung der Realitäten. digen kann. Diese Vorschrift wurde in der Rechtspre- chung in einer Reihe von Fällen schon angewandt. Realität ist aber auch, dass mehr als 1 Million Woh- nungen in den neuen Bundesländern leer stehen. In Zweitens. Wir haben mit Wirkung zum 1. Mai die so Sachsen sind es, wie Staatsminister Horst Rasch erwähnt genannte Verwertungskündigung in Kraft gesetzt. Sie hat, über 440 000 Wohnungen. Um den jährlichen Zu- ist jahrelang von der ostdeutschen Wohnungswirtschaft wachs an leer stehenden Wohnungen abzuarbeiten, müs- und von den ostdeutschen Ländern gefordert worden mit sen wir in Sachsen circa 20 000 Wohnungen pro Jahr ab- der Begründung, diese sei eine wichtige Voraussetzung reißen. für notwendige Abrisse. Dieser Forderung haben wir nachgegeben. Wie gesagt, diese Form der Kündigung Halten wir fest: Der Statdumbau beginnt zu greifen. wurde zum 1. Mai eingeführt. Aber die ersten beiden Jahre liefen zäh an. Abgerissen wurden bisher vorrangig Gebäude, die bereits leer gezo- Drittens. Wir haben – auch darauf hat Herr Hartenbach gen waren. Die Wohnungswirtschaft hat der Politik ver- hingewiesen – zusätzlich einen Paragraphen zum Stadt- traut. Die Vorbereitung des Leerzuges fand zum Teil umbau in das Baugesetzbuch geschrieben. Die entspre- schon statt, als Details der Forderung noch diskutiert chenden Instrumente sind eben genannt worden. Jahre- wurden. Der Leerstand gleicht einem Schweizer Käse. lang ist dies von der ostdeutschen Wohnungswirtschaft Er muss konzentriert werden auf den Abbruch geeigne- und den ostdeutschen Ländern gefordert worden. ter Gebäude. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass das Anliegen, eine Abrisskündigung einzuführen, aus sachlichen Grün- Bisherige Rechtsinstrumente reichen hierfür nicht den abzulehnen ist. Darüber hinaus bin ich aber auch ein aus. Bei der Kündigung aus allgemein berechtigtem In- wenig verärgert. Im Rahmen der Mietrechtsnovelle ist teresse, Herr Staatssekretär, welche letztlich übrig bleibt, ein ähnlicher Vorschlag diskutiert worden. Aber die ost- greifen die Punkte Vandalismus, Eigenbedarf und Ver- deutschen Länder waren sich nicht einig. Sie haben die- wertung nicht beim Stadtumbau. Deshalb ist gezieltes sen Vorschlag letztendlich abgelehnt und gefordert, dass Freilenken nur über eine Abrisskündigung möglich. Der die Kündigungen auf Basis der Verwertungskündigung von Rot-Grün strapazierte Mieterschutz ist nicht gefähr- erfolgen sollen. In der Zwischenzeit ist eine Reihe von det. Die Vermieter sind naturgegeben daran interessiert, Rechtsprechungen ergangen, die die Position der Bun- ihre Mieter zu behalten. desregierung und der rot-grünen Koalition gestärkt ha- Sehen wir dem kommenden Stadtumbau West ins ben. (B) (D) Auge, dann erkennen wir, dass uns diese Probleme Wir haben der Forderung nach Einführung der Ver- schnellstens einholen werden. Spätestens dann werden wertungskündigung trotzdem nachgegeben. Sie wurde alle begreifen, dass die Abrisskündigung eine wichtige zum 1. Mai wirksam. Rahmenbedingung für den Stadtumbau ist, die den Staat obendrein nichts kostet. Kaum sind wir dem permanenten Ruf nach Zulassung der Verwertungskündigung nachgekommen, wird eine Meine Damen und Herren Sozialdemokraten und neue Forderung nachgeschoben. Bündnisgrüne, schieben Sie nicht Ihr falsch verstande- (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Wir müssen nes Verhältnis zu den Mietern vor! Lassen Sie uns zu euch so schieben!) den objektiv richtigen Ergebnissen kommen! Das macht mich besonders ärgerlich. So geht es nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Erstens ist es nicht überzeugend, so mit einem Gesetz Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt- umzugehen. Zweitens kann man der Gesellschaft nicht Bohlig. zumuten, dass Gesetze nach dem Motto „Rin in die Kar- toffeln, raus aus den Kartoffeln!“ ständig geändert wer- den. Das ist wirklich nicht zumutbar. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Henry Nitzsche [CDU/ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! CSU]: Der Wohnungswirtschaft wollen Sie Sehr geehrter Herr Staatsminister Rasch! Die Bundes- das zumuten!) regierung hat den Gesetzentwurf des Bundesrats eindeu- tig abgelehnt, und zwar mit der Begründung – sie wurde Als Letztes noch ein inhaltliches Argument. Ich schon vorhin vom Parlamentarischen Staatssekretär glaube, dass es politisch nicht hilfreich ist, auf ein sol- Hartenbach vorgetragen –, es gebe weder ein rechtliches ches Instrument zu setzen. Ich würde dem Freistaat noch ein praktisches Bedürfnis für einen Paragraphen, Sachsen nicht dazu raten. Bisher werden die Kündigun- der den besonderen Kündigungstatbestand „Abrisskün- gen und Umsetzungen, die vorgenommen werden müs- digung“ enthält. Unsere Fraktion schließt sich dieser sen, um größtenteils leer stehende Häuser für den Abriss Auffassung ausdrücklich an, was ich kurz begründen freizumachen, konstruktiv zwischen Vermietern und möchte. Mietern geregelt. Auch die Mietervereinigungen planen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10575

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) keine Proteste; denn sie sehen ein, dass der Stadtumbau Sie hat dabei allerdings auch deutlich gemacht, dass (C) eine schwierige Aufgabe ist. Alle Beteiligten geben sich eine Kündigung durch den Vermieter wegen der sozialen Mühe, konstruktiv mitzuwirken. Bedeutung der Wohnung für den Mieter als Lebensmit- telpunkt nur bei einem Interesse von einigem Gewicht in Wir wissen, dass es einzelne Mieter gibt, die glauben, Betracht kommt. Ich halte das für ebenso richtig wie den daraus einen persönlichen Vorteil ziehen zu können. Grundsatz für vernünftig, die hier zur Diskussion ste- Aber es wäre politisch nicht hilfreich, den Abriss als be- hende Problematik nicht durch ein pauschales Sonder- sonderen Kündigungsgrund einzuführen und damit das kündigungsrecht, sondern weiterhin über die bereits Signal zu geben, dass damit ganze Häuser freigekündigt bestehenden Möglichkeiten im Rahmen einer Einzelfall- werden könnten. betrachtung zu lösen. Momentan wird die schwierige Aufgabe des Stadtum- baus in allen neuen Ländern kooperativ von den Vermie- Ein pauschales Sonderkündigungsrecht würde mei- tern und den Mietern gelöst. Das muss hoch anerkannt ner Auffassung nach einfach zu weit gehen. Es würde werden. Das geforderte Instrument hingegen würde den nicht nur die Fälle in Leipzig und in Chemnitz betreffen, sozialen Frieden gefährden. Damit sollte man nicht die Sie im Auge haben, sondern auch die schönen Ge- zündeln. Alle Beteiligten sind daher gut beraten, diesen genden in München. Zumindest in diesen Bereichen Gesetzentwurf wieder in der Schublade verschwinden zu könnte es zu Missbrauch führen. Sich einfach auf einen lassen. überwiegenden Leerstand eines Gebäudes und eine ent- sprechende städtebauliche Planung zurückzuziehen Danke schön. würde die Interessen der Mieter völlig außer Acht las- sen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Hat ein Mieter zum Beispiel im umgekehrten Fall ein berechtigtes Interesse an einer Kündigung, zum Beispiel Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: weil er berufsbedingt umziehen muss, gibt es für ihn Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski. kein pauschales Sonderkündigungsrecht wegen Umzugs. Es erfolgt vielmehr auch hier eine Lösung über die be- Dirk Manzewski (SPD): reits bestehenden Regelungen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de- Problematisch ist zudem, dass der Bundesrat einige battieren den Gesetzentwurf des Bundesrates, mit dem auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe verwendet. So dieser eine Abrisskündigung als eigenständiges ordent- stellt sich die Frage, was unter einem „überwiegenden liches Kündigungsrecht des Vermieters normieren Leerstand“ zu verstehen ist. Liegt er möglicherweise (B) möchte. Der Bundesrat begründet dies damit – das ist schon bei 51 Prozent? Damit würde das Sonderkündi- (D) heute vom Kollegen Nitzsche wiederholt worden –, dass gungsrecht aber weit über die bisher von der Rechtspre- sich derzeit für wirtschaftlich notwendige Abriss- und chung akzeptierten Fälle hinausgehen. Rückbaumaßnahmen weder im städtebaulichen Teil des Baugesetzbuchs noch im Bürgerlichen Gesetzbuch eine Man fragt sich auch, inwieweit hiernach noch ein Ver- ausreichende Rechtsgrundlage finde und auch die Recht- schulden des Vermieters an dieser Situation eine Rolle sprechung keine hinreichende Rechtssicherheit biete. spielen würde. Bezeichnenderweise heißt es in der Be- gründung des Bundesratsentwurfs – ich zitiere –: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, dass der Bundesrat es sich mit dieser Gesetzesinitiative doch et- Auch die von den Gerichten in diesem Zusammen- was einfach macht. Im Bereich des Mietrechts gibt es nie hang getätigte Einschränkung, die Situation dürfe hundertprozentige Rechtssicherheit. Ich nenne nur das nicht das Ergebnis des Verhaltens der Vermieter Beispiel Eigenbedarf. sein, … entspricht nicht den aktuellen Bedürfnissen der Wohnungswirtschaft. Unbestritten ist sicherlich, dass erhebliche Wohn- raumleerstände, die sich insbesondere in Ostdeutschland Das mag vielleicht zutreffen, aber ich halte diese Be- vorfinden, für die Eigentümer ein großes Problem dar- gründung schlichtweg für eine Frechheit. Von Ausgewo- stellen. Das deutsche Mietrecht zeichnet sich aber ge- genheit der unterschiedlichen Mietparteieninteressen rade dadurch aus – ich meine, dass wir das beibehalten gibt es keine Spur mehr. soll-ten –, dass es versucht, die Interessen von Vermie- tern und Mietern gleichermaßen zu beachten. Eine Ge- (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig setzesänderung sollte deshalb nur dann vorgenommen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) werden, wenn wir entweder ein praktisches oder ein Das muss man sich einmal verdeutlichen. Offenbar soll rechtliches Bedürfnis haben. eine Abrisskündigung selbst dann möglich sein, wenn (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das liegt vor!) der Vermieter den Leerstand zu verschulden hat. Das kann aber doch nun niemand ernsthaft wollen. Genau hieran habe ich meine Zweifel. Bereits das gel- tende Recht ermöglicht den Vermietern nämlich unter Ich erinnere zudem daran, dass wir erst vor gar nicht bestimmten Voraussetzungen eine Kündigung in so ge- langer Zeit hier über die Aufhebung der in den neuen nannten Abrissfällen. Insbesondere die Rechtsprechung Ländern geltenden Sonderregelung zur Verwertungs- hat – der Staatssekretär hat darauf hingewiesen – über kündigung debattierten. Das ist bereits angesprochen die Generalklausel des § 573 BGB einige Lösungen ent- worden. Diese war bis dahin dort aufgrund des nach der wickelt. Wiedervereinigung herrschenden Wohnraummangels 10576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Dirk Manzewski (A) und der befürchteten Verdrängung von Mietern verbo- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- (C) ten. wurfs auf der Drucksache 15/2951 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt Als Hauptargument für die Aufhebung dieser Sonder- es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. regelung – der Staatssekretär Hartenbach weiß das – Dann ist die Überweisung so beschlossen. wurden stets die Leerstandsproblematik im Osten und das stringente Bedürfnis nach Kündigungsmöglichkeiten Ich rufe den Zusatzpunkt 17 auf: zum Zweck des Gebäudeabrisses genannt. Das war sei- – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nerzeit das Hauptargument in der Debatte. Auch die nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Kollegen Wanderwitz von der CDU und Günther von GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- der FDP argumentierten damals so. zes zur Förderung von Wagniskapital Wir sind dem nachgekommen und haben diese Son- – Drucksache 15/3189 – derregelung gemeinsam aufgehoben. (Erste Beratung 111. Sitzung) (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das bringt – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat nichts!) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- – Sie sagen, sie bringt nichts. Diese Regelung gilt seit steuerung von Wagniskapitalgesellschaften sechs Wochen. Wie können Sie nach sechs Wochen be- – Drucksache 15/1405 – urteilen, ob diese Regelung etwas bringt oder nicht? Das ist doch unmöglich. (Erste Beratung 73. Sitzung) (Beifall bei der SPD) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- schusses (7. Ausschuss) Insoweit stellt sich für mich die Frage, wieso dies alles – Drucksache 15/3336 – nun plötzlich nicht mehr ausreichen soll. Wenn eine ge- wisse Evaluierung stattgefunden hat, kann man viel- Berichterstattung: leicht darüber reden, aber nach sechs Wochen können Abgeordnete Stephan Hilsberg wir doch noch gar nichts dazu sagen. Georg Fahrenschon Der Bundesgerichtshof hat im Übrigen zwischen- Die Kollegen Hilsberg, Fahrenschon, Scheel und zeitlich eine weitere Grundsatzentscheidung zu dieser Thiele haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll Thematik getroffen; der Herr Minister hat sie schon an- geben zu können. Sie sind damit einverstanden?2) – (B) gesprochen. Nach der Entscheidung des Bundes- Dann verfahren wir so. (D) gerichtshofs vom März dieses Jahres steht nunmehr für Wir kommen zur Abstimmung über den von den die Rechtsprechung fest, dass der Abriss von Wohnraum Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit Ersatz als Verwertung im Sinne von § 573 Abs. 2 eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung von Wagnis- Nr. 3 BGB anzusehen und der ersatzlose Abriss weiter- kapital. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei- hin über die Generalklausel des § 573 Abs. 1 BGB zu re- ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 15/3336, geln ist. Das gibt ein Stück Rechtssicherheit. den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Da der Gesetzentwurf des Bundesrates hierauf über- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der haupt nicht eingeht, würde der neue Kündigungsgrund Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- insbesondere über die Grundsätze der sonstigen Verwer- chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- tungskündigung weit hinausgehen. Aus diesen Gründen entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen – das kann ich Ihnen jetzt schon sagen – werden wir die- der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/ sem Gesetzentwurf nicht zustimmen. CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. Wir kommen zur Ich kann meinen Kollegen nur empfehlen, den Bür- gern in ihrem Bundesland deutlich zu machen, welch dritten Beratung „ausgewogene“ Mietpolitik Sie betreiben. und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, Ich danke Ihnen. wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit dem soeben festgestellten Stimmenverhältnis ange- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – nommen worden. Henry Nitzsche [CDU/CSU]: So verdrängt man die Realität!) Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Besteuerung von Wagniskapitalge- sellschaften: Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf abzu- Der Kollege Rainer Funke hat seine Rede zu Pro- lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- tokoll gegeben.1) Damit kann ich die Aussprache schlie- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- ßen. men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in

1) Anlage 8 2) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10577

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) (C) tionen gegen die Stimmen der FDP und bei Enthaltung gemäß § 96 der Geschäftsordnung der CDU/CSU abgelehnt. – Drucksache 15/3361 – Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die Berichterstattung: weitere Beratung. Abgeordnete Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf: Antje Hermenau Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Es ist vereinbart, dass anstelle des Berichts gemäß Bundesregierung § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Frak- tion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Errich- Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen tung einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ der genannte Post AG zur Erbringung bestimmter Post- Gesetzentwurf jetzt abschließend beraten werden soll, da dienstleistungen inzwischen die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familien, Senioren, Frauen und Jugend vorliegt. – – Drucksachen 15/3186, 15/3337 – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist so be- schlossen. Berichterstattung: Abgeordneter Johannes Singhammer Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch Die Kollegen Barthel, Singhammer, Klöckner, höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Hustedt und Funke haben gebeten, ihre Reden zu Pro- tokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie einverstanden? – Das Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst ist der Fall. die Abgeordnete Sabine Bätzing. Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Sabine Bätzing (SPD): Arbeit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und über die Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen Kollegen! Die Errichtung einer „Magnus-Hirschfeld- Post AG zur Erbringung bestimmter Postdienstleistun- Stiftung“ ist kein neues Thema. gen, Drucksache 15/3186. Der Ausschuss für Wirtschaft (Ina Lenke [FDP]: Aber ein aktuelles!) (B) und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in (D) Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung Ich möchte auch gleich zu Beginn meiner Rede festhal- eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese ten, dass deren Errichtung keine Erfindung der FDP ist. Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Dieser Gesetzentwurf trägt eine rot-grüne Handschrift gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig und keine gelb-blaue. angenommen worden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: DIE GRÜNEN – Ina Lenke [FDP]: Dann stim- men Sie zu!) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Jörg van Essen, Rainer Funke, Rainer – Frau Lenke, hören Sie zu, dann wissen Sie gleich, wa- Brüderle, weiteren Abgeordneten und der rum wir nicht zustimmen werden! Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ich möchte daran erinnern: Wir haben in der letzten Gesetzes zur Errichtung einer „Magnus- Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Errichtung Hirschfeld-Stiftung“ einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ eingebracht. Leider – Drucksache 15/473 – wollte sich uns damals die Opposition nicht anschließen. (Erste Beratung 63. Sitzung) (Jörg van Essen [FDP]: Das stimmt doch überhaupt nicht!) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Die CDU/CSU stimmte gegen den Entwurf. Die Kolle- ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ginnen und Kollegen von der FDP enthielten sich. (12. Ausschuss) (Ina Lenke [FDP]: Nein! Herr van Essen war – Drucksache 15/3345 – doch da! Was soll das?) Berichterstattung: – Hören Sie mir doch bitte zu! Abgeordnete Sabine Bätzing Michaela Noll (Ina Lenke [FDP]: Wenn Sie die Unwahrheit Irmingard Schewe-Gerigk sagen, muss man das hier sagen!) Ina Lenke Der Bundesrat erhob Einspruch, sodass der Entwurf auf die lange Bank geschoben wurde und der Diskontinuität 1) Anlage 10 unterfiel. 10578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Sabine Bätzing (A) Zu Ihrem Agieren hier, meine Damen und Herren von Bundesregierung nachdrücklich untermauern. Von daher (C) der Opposition, fällt einem leider nur der harte Begriff müssen wir uns von Ihnen keine Lehrstunde erteilen las- Populismus ein. sen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jörg van Essen [FDP]: In dieser Legislatur- DIE GRÜNEN) periode ist nichts passiert!) Sie schreiben nicht nur unseren Gesetzentwurf ab, son- wenn es darum geht, die Verbrechen der Nazidiktatur als dern Sie haben damals leider auch unser Angebot, den Unrecht anzuerkennen und, sofern das überhaupt mög- Entwurf gemeinsam einzubringen, abgelehnt. In der Op- lich ist, auszugleichen. position lassen sich leicht Forderungen stellen. Jetzt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wollen Sie die Regenbogenfahne vor sich herwehen las- DIE GRÜNEN – Ina Lenke [FDP]: Das hat sen mit der Stiftung überhaupt nichts zu tun!) (Ina Lenke [FDP]: Das ist unerhört! – Gegen- Die Rede, die der Kollege van Essen bei der ersten ruf des Abg. Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist Lesung für die FDP-Fraktion gehalten hat, hat mir au- die Wahrheit!) ßerordentlich gut gefallen. und den nötigen Wind dafür haben Sie schon gemacht. (Ina Lenke [FDP]: Das wollen Sie uns jetzt Aber so kann man keine solide und verantwortungsvolle verkaufen?) Politik machen. Ich möchte, wenn Sie, Frau Präsidentin, mir das erlau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben, daraus zitieren: DIE GRÜNEN) Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich daher ent- Es wird offensichtlich, dass es Ihnen hier nur um die schlossen, die Initiative erneut in den Bundestag eigene Profilierung geht. Die Ernsthaftigkeit, die der Er- einzubringen und richtung der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ zugrunde – jetzt wird es interessant – liegt, scheinen Sie völlig außer Acht zu lassen. zu einer Zeit zu beraten, die nicht geprägt ist von Wir wollen jetzt nicht zwischen meinem und deinem den lauten Tönen des Wahlkampfs. Gesetz unterscheiden, denn wir sind uns der Bedeutung dieses Themas bewusst. Es geht uns auch nicht darum, Das habe ich dem Kollegen van Essen so auch abgenom- uns davonzustehlen. Wir stehen zu den Zielen der men. Seine Fraktionskolleginnen und Fraktionskollegen „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ scheinen aber nicht viel von den leisen Tönen, die dieses (B) ernste und wichtige Thema begleiten sollten, zu halten. (D) (Ina Lenke [FDP]: Ach!) (Ina Lenke [FDP]: Das hat doch nichts mit und begrüßen sie ausdrücklich. Auch das haben wir be- Wahlkampf zu tun! Wir haben doch gar keinen reits in der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf deut- Wahlkampf mehr!) lich gemacht. Denn am 26. Juni, also am nächsten Wochenende, lädt (Ina Lenke [FDP]: Ja, und jetzt? – Jörg van Essen der CSD ein, nach Berlin zu kommen, um für eine [FDP]: Dann stimmen Sie doch zu!) gleichberechtigte und vielfältige Gesellschaft zu de- monstrieren. An dieser Stelle jetzt davon zu sprechen, dass homo- sexuelle NS-Opfer bei Rot-Grün unter die Räder kom- (Ina Lenke [FDP]: Ach du meine Güte! – Iris men, Gleicke [SPD]: Ach, deshalb!) (Jörg van Essen [FDP]: Genau so ist es doch!) Vielleicht erklärt ja dieses Datum, warum die FDP-Frak- tion nun versucht hat, auf eine Abstimmung zu drängen wie es in einer Pressemitteilung des Kollegen Gehb von und uns in die Enge zu treiben. der Union heißt – der jetzt leider nicht mehr hier ist –, ist schlicht falsch. (Ina Lenke [FDP]: Ach, das stimmt doch gar nicht! Das ist wirklich unerhört!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Aber diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Der Les- ben- und Schwulenverband in Deutschland sagt in seiner Dem einstimmigen Beschluss des Deutschen Bundesta- Pressemitteilung von gestern, die Stiftungsfrage sei nicht ges vom Dezember 2000 haben wir zahlreiche Taten fol- prioritär und sie werde auch auf dem CSD nicht themati- gen lassen. So war es nämlich die Bundesregierung, die siert. Diese Presseerklärung wurde gestern veröffent- im Bereich der Wiedergutmachung und Entschädigung licht. von NS-Unrecht einen Schwerpunkt ihres Handelns ge- setzt hat und auch in der Koalitionsvereinbarung die Re- (Jörg van Essen [FDP]: Eine peinlichere Erklä- habilitierung und Entschädigung von Opfern als fortlau- rung hat es doch schon seit langem nicht mehr fende Verpflichtung ansah. gegeben! Peinlich hoch drei!) Dem stimme ich nicht zu; Darüber hinaus sind im Bundesentschädigungsgesetz und im Allgemeinen Kriegsgefangenengesetz ebenfalls (Jörg van Essen [FDP]: So ist es nämlich zahlreiche Verbesserungen erfolgt, die die Haltung der nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10579

Sabine Bätzing (A) denn die Stiftungsfrage ist für uns – ich habe es vorhin (Ina Lenke [FDP]: Ach was! Von wegen „ge- (C) erklärt – von großer Bedeutung. drängt“! Das ist gut!) (Jörg van Essen [FDP]: Genauso ist es näm- lich!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit? Der LSVD sagt weiter: Andere Themen wie das Le- benspartnerschaftsgesetz und die Antidiskriminierungs- Sabine Bätzing (SPD): politik seien wichtig. Ja. – Wir hatten Ihnen eine Einigung angeboten. Aber (Ina Lenke [FDP]: Ja, weil er nicht das Sie haben sich für einen Alleingang entschieden. gekriegt hat, was er wollte!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hier gebe ich ihm Recht. Wir legen Eckpunkte zu beiden DIE GRÜNEN – Ina Lenke [FDP]: Darauf Themenbereichen vor, die sich in den Gesetzentwürfen werde ich Ihnen aber noch antworten! Solche auch wiederfinden werden. Hier, meine sehr geehrten Unwahrheiten!) Damen und Herren, bin ich auf Ihre Unterstützung ge- spannt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaela Noll.

Denn es geht darum, Toleranz und Akzeptanz in unserer Michaela Noll (CDU/CSU): Gesellschaft zu etablieren. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Jörg van Essen [FDP]: Unser Gesetzentwurf Kollegen! Entschuldigen Sie, wenn ich einmal kurz liegt doch vor!) sage: Frau Kollegin Bätzing, das, was Sie gerade von sich gegeben haben, war eine glatte Unverschämtheit. Ich habe jetzt mehrfach dargelegt, dass wir den Inhalt, Sinn und Zweck der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ aus- (Ina Lenke [FDP]: Das ist wahr!) drücklich begrüßen. Jedoch müssen wir, anders als viel- Wer im letzten halben Jahr verfolgt hat, wie bei uns im leicht die Opposition, auch der finanzpolitischen Realität Ausschuss die Beratungen stattgefunden haben – näm- ins Auge sehen, die derzeit keine Finanzierung der Stif- lich gar nicht, weil Sie die Behandlung des Themas per- tung erlaubt. Frau Lenke bezeichnet unsere Bedenken manent vertagt haben, den Punkt von der Tagesordnung bezüglich der Finanzierung als „heuchlerisch“. heruntergenommen haben, es zu keinem Berichterstat- tergespräch kam –, wird verstehen, wenn ich sage, dass (B) (Ina Lenke [FDP]: Ja, und ich sage auch (D) gleich, warum!) ich mittlerweile, gelinde gesagt, einen dicken Hals be- komme. Frau Lenke, heuchlerisch wäre meines Erachtens eine positive Beschlussfassung zur „Magnus-Hirschfeld-Stif- (Ina Lenke [FDP]: Ja!) tung“, wohl wissend, dass die finanziellen Mittel nicht Das Schöne an den Plenarprotokollen ist ja, dass man zur Verfügung stehen. Denn das wäre Augenwischerei, hinterher noch einmal alles nachlesen kann. Was Sie verantwortungslos und der Bedeutung dieses Themas heute sagen – dass Sie es mit der Haushaltslage nicht nicht angemessen. vereinbaren können, weil die Gelder nicht da sind –, das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben Sie uns letztes Mal vorgehalten bzw. Ihr Kollege DIE GRÜNEN) Volker Beck. Er sagte: Gleiches gilt auch für die Herabsetzung des Stiftungska- Die CDU hat dagegen gestimmt. Im Klartext heißt pitals. Das wäre reine Kosmetik. das doch: Die Union will die Stiftung gar nicht. Ich habe den Eindruck, sie will sich aus dem Konsens (Ina Lenke [FDP]: Das hat doch gar keiner ge- vom Dezember 2000 stehlen. fordert! Das ist doch völliger Quatsch!) (Iris Gleicke [SPD]: Stimmt ja auch!) Wir haben Ihnen mehrfach erklärt – Kollege Gehb hat Um das zu bemänteln, bauen Sie eine wüste Vor- das auch auf seine schriftliche Anfrage an Staatssekretär wurfskulisse auf. Diller vom 21. Mai als Antwort bekommen –, dass im Haushalt derzeit kein Geld für die Stiftung bereitgestellt (Sabine Bätzing [SPD]: Was hat das mit den werden kann und dass auch für das Jahr 2005 keine Mit- finanzpolitischen Aspekten zu tun?) tel eingeplant werden können. Von daher ist Ihr Vorha- – Sie sagten, dass die Errichtung der Stiftung mit der ben, die Stiftung erst 2005 zu errichten, ebenfalls nichts Haushaltslage angeblich nicht vereinbar ist. Das heißt, anderes als Kosmetik. was Sie heute als Rechtfertigung benutzen, haben Sie Ich komme zum Schluss. Im Sinne einer verantwortli- uns einmal vorgeworfen! Das ist Ihre Unehrlichkeit. chen Politik und ohne Augenwischerei können wir uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daher leider nicht anders entscheiden, als den Gesetzent- wurf der FDP schweren Herzens abzulehnen. Meine sehr Es ging schlichtweg nur um die Besetzung des Kurato- geehrten Damen und Herren, Sie haben uns zu der heuti- riums; Sie wissen ganz genau, welche Interessen da im gen Abstimmung gedrängt. Vordergrund stehen. Also seien Sie doch ehrlich! 10580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Michaela Noll (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kann Ihnen nur eines sagen: Tun Sie mir einen Gefallen, (C) bevor Sie hier groß kritisieren – – Bevor ich jetzt zu dem Gesetzentwurf komme – dem eigentlichen Gegenstand –, müssen wir hier einmal fest- halten, dass wir es erst vor zehn Jahren geschafft haben, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die letzten Reste dieses § 175 aus dem Strafgesetzbuch Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dem Thema zu entfernen. Damit war endlich Schluss mit der Verfol- sollte man sich verständigen können. Ich glaube, das ist gung Homosexueller, die es schon seit dem Mittelalter wichtig genug. Deswegen bitte ich, die Kollegin in Ruhe gibt. Wir haben viel davon verdrängt und vieles davon sprechen zu lassen. Es ist ja nicht so einfach, wenn man ist vergessen worden. Es war gerade Magnus Hirschfeld, ständig unterbrochen wird. der sich für diese Gruppe eingesetzt hat, der dieses Ko- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das gilt bei mitee gegründet hat und auch als Erster eine Petition für jedem Thema!) die Streichung des § 175 eingereicht hat. Sie wissen, was 1933 stattgefunden hat, in welcher Michaela Noll (CDU/CSU): Situation die Homosexuellen sich befanden. Sie sind un- Es ist nur so: Ich habe im Ausschuss wirklich perma- terdrückt worden, es gab gesellschaftliche Ächtung, es nent versucht, Berichterstattergespräche zu führen. Ich gab Kastrationen. Es ging bis hin zur Verschleppung in bin ja hier nicht alleine. Frau Kollegin Lenke kann bestä- Konzentrationslager. Unerbittlich wurde gegen die Men- tigen, dass die Behandlung des Themas immer wieder schen vorgegangen. Sie wurden verachtet, verfolgt und vertagt worden ist und von der Tagesordnung herunter- psychisch gebrochen. Wenn Sie sich dann hinstellen und genommen wurde. Deswegen fühle ich mich persönlich auf diese Art und Weise argumentieren, finde ich das betroffen, wenn Sie sich jetzt hinstellen und sagen, die mehr als menschenunwürdig. Errichtung der Stiftung sei an uns gescheitert. Das ist einfach gelogen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 50 000 Menschen waren Opfer dieser Verfolgungen und nur eine kleine Minderheit hat überlebt. Allen Leuten, die Interesse an der Sache haben, kann ich nur empfehlen, die Beschlussempfehlung und (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE den Bericht zum Gesetzentwurf der FDP, Druck- GRÜNEN]: „Menschenunwürdig“, das ist sache 15/473, zu lesen. Dort steht unter Nr. 2, wie die aber sehr überzogen, Frau Kollegin! Überle- Beratungen vonstatten gegangen sind. Offenkundig ha- gen Sie einmal, was Sie uns da vorwerfen!) ben Sie uns erstens hingehalten und zweitens haben Sie (B) – Nein, das ist nicht überzogen. Es geht hier nämlich um die Beratung verzögert. (D) die Opfer. Bis Mittwoch hatte ich wirklich die Hoffnung, dass Das Schöne an der ganzen Sache, die Sie uns hier ge- wir es in einem gemeinsamen Gespräch schaffen könn- rade vorhalten, ist, Sie haben Ihre Pressemitteilung, ich ten, etwas gemeinsam auf den Weg zu bringen. Eine Dis- habe meine Pressemitteilung und die halte ich Ihnen kussion unter den Berichterstattern war aber offensicht- gleich vor; dann sehen Sie einmal die andere Sichtweise. lich nicht erwünscht. Sie wissen ja, wie es am Mittwoch Unser Bestreben ist nach wie vor, dass diese Menschen ausgegangen ist. Sie haben dagegen gestimmt. Damit ist eben nicht vergessen werden. Wir sind deswegen ausge- Rot-Grün der historischen Verantwortung nicht gerecht sprochen traurig, dass es wieder nicht gelingen wird, die geworden. Das sehe nicht nur ich so. Stiftung zu errichten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Sabine Bätzing [SPD]: Letztes Mal lag es Jetzt kommen wir zu dem für Sie vielleicht unange- doch an Ihnen! Da hatten wir die finanziellen nehmen Teil. Ihre Mittel noch!) Verweigerungshaltung kann zu einem Vertun der – Nein, das war damals so und das ist heute so. einmaligen Chance führen, endlich ein angemesse- Wir sind damals gemeinsam gestartet, mit einem ein- nes Andenken an die homosexuellen Opfer des Na- stimmigen Bundestagsbeschluss. Diese Chance haben tionalsozialismus zu schaffen … Jedes weitere tak- Sie wieder nicht genutzt. Die FDP-Fraktion ist jetzt aktiv tische Verzögern mit Hinnahme des Risikos des geworden, weil Sie, wie gesagt, keinen eigenen Gesetz- parlamentarischen Scheiterns ist eine Schande im entwurf eingebracht haben. Deswegen kann ich Frau Angesicht der Verfolgung und Ermordung der Les- Lenke und Herrn van Essen nur danken. Ich hätte mir ben und Schwulen durch das Naziregime. natürlich schon sehr gewünscht, dass wir einen gemein- Dieses Zitat stammt nicht von mir, sondern aus dem Ar- samen Gesetzentwurf eingebracht hätten. beitskreis „Lesben und Schwule in der SPD“. (Iris Gleicke [SPD]: Das hätte ich gern einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sehen wollen, ob Sie das gepackt hätten!) Gleich lautend ist auch die Pressemitteilung des – Das hätte geklappt. „Aktionsbündnisses Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ von heute; auch das halte ich Ihnen gerne vor Wir unterstützen den Gesetzentwurf, weil wir zu dem einstimmigen Beschluss des Bundestages stehen. Ich (Sabine Bätzing [SPD]: Die kenne ich schon!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10581

Michaela Noll (A) – aber die, die auf den Tribünen sitzen, haben sie viel- gen sind dergestalt, dass Sie ihnen hätten zustimmen (C) leicht noch nicht gelesen –: können. Keine Lobby bei Rot-Grün: Konfliktentschädigung (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE für homosexuelle NS-Opfer wird verweigert. Sie GRÜNEN]: Das sagen Sie!) sind entsetzt. Es ist gescheitert. Es ist ein Schlag ins Gesicht aller Menschen. Die warmen Worte des Ich sage Ihnen: Bündnis 90/Die Grünen hat eine Eini- Deutschen Bundestages bleiben hohl, wenn keine gung ganz bewusst verhindert, weil es einseitige Ver- Taten folgen. Auf Untaten wie die heutige Ableh- bandsinteressen rücksichtslos – das sage ich hier im nung kann dagegen verzichtet werden. Deutschen Bundestag ganz deutlich – über das Gemein- wohl stellt. Diese Dinge hätte ich von den Grünen nie Mein Fazit in der Sache lautet, dass auch hier gilt: und nimmer erwartet. Versprochen – gebrochen. Wer sich auf Rot-Grün ver- lässt, der ist verlassen. (Beifall bei der FDP – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) was Sie da sagen, ist absoluter Quatsch!) Heute sind es nicht nur die Grünen, die die Zustimmung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zu dieser Stiftung unmöglich gemacht haben, auch Frau Das Worte hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke. Bätzing und die SPD haben daran ihren Anteil.

Ina Lenke (FDP): Ich will Ihnen nur sagen: Wir hätten alles möglich machen können, um hier einen gemeinsamen Antrag zu Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau stricken. Sie haben sich total verweigert. Es wäre nicht Bätzing, dass Sie sich als junge Abgeordnete hier dafür an der Erfüllung irgendwelcher Forderungen von Ihnen hergeben, für die SPD-Fraktion eine solche Erklärung als Voraussetzung für eine Einigung gescheitert. Sie ha- abzugeben, tut mir wirklich sehr Leid. ben es hier zum Break kommen lassen. Daran sehe ich, (Sabine Bätzing [SPD]: Was hat das mit dass die Errichtung der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ in „junger Abgeordneter“ zu tun?) dieser Legislaturperiode bedauerlicherweise an Rot- Grün gescheitert ist. Zunächst sagten Sie, wir hätten Sie gedrängt. Sie wis- sen ganz genau, dass dieser Antrag seit dem 19. Februar (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 2003 hier zur Entscheidung vorliegt. Und da reden Sie von Drängen! Frau Bätzing, wir haben mindestens vier Ich will Ihnen noch eines sagen, weil Sie darauf hin- oder fünf Berichterstattergespräche geführt. gewiesen haben, was Sie alles getan haben: Sie wissen (B) ganz genau, dass durch die „Magnus-Hirschfeld-Stif- (D) Ihr Hauptpunkt sind die Finanzen. tung“ überhaupt nichts an der individuellen Entschädi- gung geändert worden wäre; denn die Ansprüche aus (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE dem Allgemeinen Kriegsgefangenengesetz, aus den GRÜNEN]: Das haben wir gehört!) dazu ergangenen Härterichtlinien und aufgrund anderer Sie hätten heute hierher kommen, einen Änderungsan- Vorschriften bleiben von dem kollektiven Ausgleich trag vorlegen und sagen können, dass Sie die Mittel auf durch die Errichtung der Stiftung unberührt. Man kann die doppelte Zeit strecken. Auch dann wäre es heute zur es schon gar nicht mehr glauben. Frau Bätzing, in der Stiftung gekommen. Wenn Sie allerdings kein Geld aus- Anhörung des Rechtsausschusses im Juni 2002 ist das geben wollen, dann ist klar, dass Sie heute mit Nein bestätigt worden. stimmen. Das ist das Ergebnis. Frau Bätzing, all Ihre Argumente, die Sie gegen die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zustimmung für diese Stiftung vorgebracht haben, habe Anton Schaaf [SPD]: Deckungsvorschlag, ich im Deutschen Bundestag entkräftet. Frau Lenke!) (Sabine Bätzing [SPD]: Nein, eins haben Sie Hier geht es um eine Stiftung für die während des vergessen!) Dritten Reiches verfolgten Homosexuellen. Dabei han- delt es sich um ein typisches nationalsozialistisches Es ist kein Argument mehr übrig geblieben, welches ge- Unrecht. Es sollte ein Denkmal gesetzt werden. Die gen die Zustimmung zu diesem Gesetz spricht. Beschlüsse in der letzten Legislaturperiode waren ein- stimmig. Vor zwei Jahren hat Volker Beck zusammen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mit den anderen Grünen die Errichtung dieser „Magnus- Frau Kollegin Lenke. Hirschfeld-Stiftung“ in letzter Minute verhindert. Sie ist an den überzogenen Maximalanforderungen der Grünen Ina Lenke (FDP): gescheitert. Ich muss sagen: In unserer demokratischen Gesell- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE schaft, also natürlich auch hier im Parlament, habe ich GRÜNEN]: Auch das ist nicht wahr! – Gegen- immer Hochachtung vor traditionellen linken Ideen ge- ruf des Abg. [FDP]: Natürlich habt. Diese Ideen haben die beiden Fraktionen SPD und ist das wahr! Das ist eine Schande!) Grüne heute im Deutschen Bundestag verraten. Folgendes ist ganz wichtig: Wir haben Änderungen in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- dem Gesetzentwurf vorgenommen. All diese Änderun- chen bei der SPD – Silke Stokar von Neuforn 10582 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

Ina Lenke (A) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für eine Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C) Arroganz!) ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – Drucksache 15/3257 – Die Abgeordneten Schewe-Gerigk und Johannes Kahrs haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll ge- Berichterstattung: ben zu können.1) Abgeordneter Georg Brunnhuber (Michael Kauch [FDP]: Peinlich! – Gegenruf Die Abgeordneten Beckmeyer, Brunnhuber, Blank, des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ Hettlich, Friedrich und die Parlamentarische Staats- DIE GRÜNEN]: Sie sind doch auch nur noch sekretärin Mertens haben gebeten, ihre Reden zu Pro- zu dritt!) tokoll geben zu können.2) Sind Sie damit einverstan- den? – Das ist der Fall. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann schließe ich damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- rung des Güterkraftverkehrsgesetzes. Der Ausschuss für tion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf auf Druck- Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf sache 15/473 zur Errichtung einer „Magnus-Hirschfeld- Drucksache 15/3257, den Gesetzentwurf in der Aus- Stiftung“. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der ratung einstimmig angenommen worden. Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/ Dritte Beratung Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem abgelehnt. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz- weitere Beratung. entwurf ist damit – trotz der heftigen Debatte eben – am Ende doch noch einstimmig angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- (B) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- ordnung. (D) regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftver- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- kehrsgesetzes destages auf Mittwoch, den 30. Juni 2004, 13 Uhr, ein. – Drucksache 15/2989 – Die Sitzung ist geschlossen. (Erste Beratung 108. Sitzung) (Schluss: 15.52 Uhr)

1) Anlage 11 2) Anlage 12 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10583

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 18.06.2004 Dr. Struck, Peter SPD 18.06.2004 Dr. Berg, Axel SPD 18.06.2004 Dr. Thomae, Dieter FDP 18.06.2004 Bury, Hans Martin SPD 18.06.2004 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 18.06.2004 Daub, Helga FDP 18.06.2004 Widmann-Mauz, CDU/CSU 18.06.2004 Annette Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 18.06.2004 Joseph DIE GRÜNEN Wistuba, Engelbert SPD 18.06.2004 Flosbach, Klaus-Peter CDU/CSU 18.06.2004 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Grotthaus, Wolfgang SPD 18.06.2004 sammlung der NATO Hagemann, Klaus SPD 18.06.2004 Anlage 2 Hüppe, Hubert CDU/CSU 18.06.2004 Erklärung nach § 31 GO Dr. Köhler, Heinz SPD 18.06.2004 der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlin- Kopp, Gudrun FDP 18.06.2004 burg) und Winfried Hermann (beide BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über Dr. Kues, Hermann CDU/CSU 18.06.2004 den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts (Tagesordnungspunkt 22 a) Dr. Küster, Uwe SPD 18.06.2004 (B) Zur Abstimmung des Entwurfs eines Gesetzes zur (D) Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 18.06.2004* Neuordnung des Gentechnikrechts (GenTG-E), Druck- Karl A. sache 15/3088, erklären wir: Laurischk, Sibylle FDP 18.06.2004 Der Gesetzentwurf enthält viele wichtige und drin- gend erforderliche Regelungen, um die gentechnikfreie Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 18.06.2004 Landwirtschaft vor wesentlichen Beeinträchtigungen durch gentechnisch veränderte Organismen (GVO) zu Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 18.06.2004 schützen. Er bringt der Landwirtschaft Planungs- und Klaus W. Rechtssicherheit. Lips, Patricia CDU/CSU 18.06.2004 Leider enthält der zur Abstimmung stehende Gesetz- entwurf gegenüber dem ursprünglichen Entwurf eine Matschie, Christoph SPD 18.06.2004 Änderung des § 16 Abs. 4. War bisher vorgesehen, dass das für die Genehmigung von Anträgen auf die Freiset- Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 18.06.2004 zung und das Inverkehrbringen von gentechnisch verän- DIE GRÜNEN derten Organismen (GVO) zuständige Bundesamt für Raidel, Hans CDU/CSU 18.06.2004* Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) das Einvernehmen mit dem Bundesamt für Naturschutz Dr. Rexrodt, Günter FDP 18.06.2004 (BfN) herzustellen hat, sieht die nun vorgelegte Neufas- sung hierfür nur noch eine Benehmensherstellung vor. Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 18.06.2004 Das bedeutet eine eindeutige Verschlechterung der Stel- lung des Naturschutzes im Abwägungsprozess unseres Schily, Otto SPD 18.06.2004 Umgangs mit der Gentechnik. Schröder, Gerhard SPD 18.06.2004 Ich halte diese nicht nur nicht für gerechtfertigt, weil aus ihr ein tiefes Misstrauen gegen den behördlichen Na- Schultz (Everswinkel), SPD 18.06.2004 turschutz spricht, dem man offensichtlich immer noch Reinhard eine Verhinderungs- und Blockadementalität unterstellt. Seiffert, Heinz CDU/CSU 18.06.2004 Wir halten diese Regelung für falsch, weil Gentech- nik eine Risikotechnologie ist. Sie bedarf gründlicher Strothmann, Lena CDU/CSU 18.06.2004 Beobachtung, strengster Auflagen und unumgehbarer 10584 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Schutzmechanismen. Für uns ist es unverständlich, dass Zudem habe ich Zweifel daran, ob die nunmehr durch (C) eine Regelung beschlossen wird, bei der die Befugnisse den Entwurf auch bei Ersttätern geschaffene Möglich- des BfN bei Inverkehrbringung von GVO hinter denen keit einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zur Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zurückbleiben. verfassungsrechtlichen Grundsätzen, namentlich dem Vergiftete Böden können wir abtragen, Braunkohle- Verhältnismäßigkeitsprinzip bzw. dem Übermaßverbot tagebaue können wir rekultivieren, verbaute Landschaf- des Grundgesetzes, genügt. Das Gesetz lässt die nach- ten können wir entsiegeln, viele unserer Fehler im Um- trägliche Anordnung von Sicherungsverwahrung erst- gang mit der Natur können wir korrigieren. In die Natur mals auch für Verurteilte zu, die wegen nur einer Tat zu entlassene gentechnisch veränderte Organismen können einer Strafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wur- wir aber nicht wieder zurückrufen, auch nicht mit einem den. Damit wird – anders als bisher – Grundlage für eine einstimmigen Beschluss des Bundestages. Prognose der Gefährlichkeit nicht eine „Karriere“ als Straftäter, aus der sich die Neigung zur Begehung von Die Diskussionen der vergangenen Wochen im Bun- Straftaten ergeben könnte, sondern nur ein einziger Vor- destag, Bundesrat und in der Öffentlichkeit haben deut- fall, mithin eine sehr eingeschränkte Tatsachenbasis. lich gemacht, wie bedeutsam es ist, zügig für einen wirk- Dem Gesetz liegt bei dieser Ersttäterregelung offensicht- samen Schutz der gentechnikfreien Produktion zu lich die Annahme zugrunde, dass Menschen – Richter sorgen. Da der Gesetzentwurf hierfür wichtige Instru- und Sachverständige – zuverlässig feststellen können, mente bereitstellt und zudem substanzielle Nachbesse- dass ein Mensch nach Verbüßung seiner Strafe und der rungen verankert wurden, stellen wir unsere Bedenken Haftentlassung erneut schwere Straftaten begehen wird. über die Schlechterstellung des Naturschutzes zurück Dies ist jedoch nicht der Fall. Unter Hinweis auf diverse und stimmen dem Gesetzentwurf trotzdem zu. wissenschaftliche Untersuchungen haben auch in der Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses des Bundestages eine Reihe von Experten diese Annahme Anlage 3 für nicht haltbar erachtet. Es besteht daher meines Er- Erklärung nach § 31 GO achtens die Gefahr, dass auf Grundlage des Gesetzes Menschen ihrer Freiheit beraubt werden, ohne dass eine der Abgeordneten Volker Beck (Köln), strafrechtliche Schuld dies rechtfertigt und ohne dass Winfried Hermann, Irmingard Schewe-Gerigk eine objektive Gefahr im Hinblick auf die Begehung (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Hedi weiterer schwerer Straftaten tatsächlich vorliegt. Wegener (SPD) zur Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Einführung der nach- Ich verkenne gleichwohl nicht, dass im Rahmen des träglichen Sicherungsverwahrung (Zusatz- Gesetzgebungsverfahrens eine Reihe von Verbesserun- (B) tagesordnungspunkt 15) gen gegenüber dem Ursprungsentwurf erzielt wurden, (D) Das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Siche- die zu einer gewissen Eingrenzung des Anwendungsbe- rungsverwahrung setzt die Entscheidung des Bundesver- reiches der nachträglichen Sicherungsverwahrung ge- fassungsgerichts vom 10. Februar 2004 – 2 BvR 834/0 – führt haben und die den Kreis der potenziell Betroffenen um. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Ent- auf schwerste Fälle begrenzen. scheidung die Gesetze der Länder Bayern und Sachsen- Vor diesem Hintergrund und vor allem, weil das Ge- Anhalt zur Unterbringung von Straftätern aufgrund feh- setz die eingangs geschilderten Altfälle in der durch das lender Gesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig Bundesverfassungsgerichtsurteil erforderlich geworde- erachtet. Der Bundesgesetzgeber war vor diesem Hinter- nen Weise regelt, stimme ich dem Gesetzentwurf trotz grund aufgerufen, bis zum 30. September 2004 eine Re- erheblicher verfassungsrechtlicher und völkerrechtli- gelung zu finden, die bei den Personen, die aufgrund der cher Bedenken zu. verfassungswidrigen Landesgesetze in Sicherungsver- wahrung sitzen und bei denen eine von Sachverständi- gen gestellte Gefährlichkeitsprognose weiter besteht, Anlage 4 auch für die Zukunft eine Unterbringung in der Siche- rungsverwahrung ermöglicht. Für diese so genannten Erklärung nach § 31 GO Altfälle bietet der vorliegende Gesetzentwurf eine an den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung orientierte, der Abgeordneten Jutta Dümpe-Krüger angemessene Lösung. Denn es ist nicht verantwortbar, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Hedi dass diese Personen allein aufgrund einer fehlenden ge- Wegener (SPD) zur Abstimmung über den Ent- setzlichen Grundlage auf freien Fuß gelangen. wurf eines Gesetzes zur Einführung der nach- träglichen Sicherungsverwahrung (Zusatztages- Soweit der Entwurf jedoch über den vom Bundesver- ordnungspunkt 15) fassungsgericht angemahnten Regelungsbedarf hinaus- geht, habe ich erhebliche verfassungsrechtliche sowie Das vorliegende Gesetz zur nachträglichen Siche- völkerrechtliche Bedenken. Grundsätzlich ist zu bezwei- rungsverwahrung wird die Entscheidung des Bundesver- feln, dass das Gesetz dem gemäß Art. 5 EMRK erforder- fassungsgerichts vom 10. Februar 2004 – 2 BvR 834/0 – lichen Zusammenhang zwischen Freiheitsentziehung umsetzen. und Strafverfahren im Falle der nachträglichen Verhän- gung der Sicherungsverwahrung hinreichend Rechnung Mit seiner Entscheidung hatte das Bundesverfas- trägt. sungsgericht die Landesgesetze von Sachsen-Anhalt und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10585

(A) Bayern wegen ihrer fehlenden Gesetzgebungskompetenz rungsverwahrung nachträglich verhängt werden, auch (C) für verfassungswidrig erklärt. für Ersttäter und Heranwachsende. Mit Fristsetzung bis zum 30. September 2004 sollte Erstens. Nach diesem Gesetz werden mehr Men- der Bundestag eine bundesgesetzliche Lösung für be- schen, die gegen sie verhängte Strafen voll verbüßt ha- stehende Altfälle finden. Dieser Aufforderung ist der ben, für viele Jahre im Gefängnis eingesperrt. Diese Bundesgesetzgeber mit dem vorliegenden Gesetz nach- Menschen werden zwei, fünf, acht Jahre und länger im gekommen. Dabei verkennt das Gesetz jedoch grund- Gefängnis bleiben, ohne dass eine strafrechtliche Schuld legende Prinzipien von Verfassungsrang. dies noch rechtfertigt, in diesem Sinne also „schuldlos“. Das Strafrecht stellt hinsichtlich der Strafbarkeit die Begründet wird dieses weitere Einsperren im Gefängnis Tat in den Vordergrund. Das deutsche Strafrecht basiert mit ihrer Gefährlichkeit, der Gefahr also, dass sie wieder auf dem Schuldprinzip. Allein die Schuld ist Grundlage schwere Verbrechen begehen werden, unter denen die dafür, dass der Täter für die von ihm begangene tatbe- Opfer, Kinder, Frauen und andere Menschen, schwer zu standsmäßige und rechtswidrige Handlung durch staat- leiden haben. Dem Gesetz liegt die Annahme zugrunde, liche Strafe persönlich verantwortlich gemacht werden dass Menschen – Richter und Gutachter – zuverlässig kann. Sie ist sowohl Voraussetzung der Strafbarkeit als feststellen können, dass ein Mensch nach Verbüßung sei- auch Maßstab der Strafzumessung. ner Strafe und der Haftentlassung wieder schwere Straf- taten begehen wird. Diese Annahme ist falsch. Auf die Schuld als Voraussetzung der Strafbarkeit be- zieht sich ferner der bekannte Ausspruch des Bundesver- In der Anhörung des Rechtsausschusses zu dem Ge- fassungsgerichts: Dem Schuldprinzip „kommt verfas- setzentwurf wurden von sehr vielen Sachverständigen sungsrechtlicher Rang zu. Er ist im Rechtsstaatsprinzip durchgreifende Zweifel an solchen Prognosen einer spä- begründet“, BVerfGE 20, 323, 331. Das Schuldprinzip teren Gefährlichkeit von Straftätern geäußert und be- – keine Strafe ohne Schuld, Strafe nur nach dem Maß gründet. Zum Beispiel berichtete der ehemalige Vorsit- der Schuld – steht in Deutschland seit dem 19. Jahrhun- zende Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schäfer von dert fest und soll nun durchbrochen werden. „haarsträubenden“ Gutachten aus seiner Richterpraxis, auf die Gefährlichkeitsprognosen gestützt waren. Des- Dieser Verfassungsgrundsatz bedeutet, dass es ohne halb müssten auch formale Voraussetzungen, wie Vor- Straftat keine Strafe geben kann. Ein Täter kann nur für verurteilungen oder mehrere Strafen, eingrenzend wir- die Tat bestraft werden, die er begangen hat. Das vorlie- gende Gesetz bricht mit diesem Grundsatz. Das Grund- ken. Prof. Rasch vermutet in seinem Lehrbuch für gesetz lässt es auch nicht zu, dass ein Mensch, der seine forensische Psychiatrie, dass „60 bis 70 Prozent der Per- Strafe für eine Straftat bereits verbüßt hat, im Nach- sonen, die wegen Gefährlichkeit in Gewahrsam gehalten (B) hinein erneut bestraft und weiter weggesperrt wird, weil werden, überhaupt nicht gefährlich sind.“ (D) er künftig wieder straffällig werden könnte. Ich halte die Wie unsicher und falsch Prognoseentscheidungen für Annahme für falsch, dass Richter und Gutachter ohne Straftäter sind, ergibt sich umgekehrt auch daraus, dass Irrtum und zuverlässig feststellen können, dass ein immer wieder Straftäter vorzeitig aus dem Gefängnis Mensch nach Verbüßung seiner Strafe und der Haftent- entlassen werden, die kurze Zeit später erneut schwerste lassung wieder schwere Straftaten begehen wird. Straftaten begehen. Auch diese Entlassungen nach Ver- Das Gesetz über die Einführung der nachträglichen büßung eines Teiles der Strafe erfolgen aufgrund von Sicherungsverwahrung, das auch Ersttäter und Heran- Gutachten und Entscheidungen von Gerichten, die eine wachsende einschließt, verstößt zudem gegen Gefährlichkeit für die Zukunft verneinen. Oft eine ver- Art. 5 EMRK. Es droht vor dem Europäischen Gerichts- hängnisvoll falsche Prognose, wie sich später zeigt. hof zu scheitern. Das Gesetz lässt die nachträgliche Anordnung von Si- Die aufgeführten massiven Verstöße des Gesetzes ge- cherungsverwahrung auch für Verurteilte zu, die wegen gen universelle Bürgerrechte lassen sich mit meinem nur einer Tat zu einer Strafe von fünf Jahren verurteilt Gewissen nicht vereinbaren. Ich stimme deshalb dem wurden. Damit muss Grundlage für eine Prognose der Gesetz nicht zu. Gefährlichkeit nicht mehr wie bisher eine „Karriere“ als Straftäter sein, aus der sich ein „Hang“ zur Begehung von Straftaten ergeben könnte, sondern möglicherweise nur ein einziger Vorfall, also eine sehr eingeschränkte Anlage 5 Tatsachenbasis. Erklärung nach § 31 GO Zweitens. Ich bin der Auffassung, dass das Gesetz der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg) über die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Ersttä- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- ter mit dem Grundgesetz und auch Art. 5 EMRK nicht mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ein- zu vereinbaren ist. Dr. Kinzig hat dies in der Anhörung führung der nachträglichen Sicherungsverwah- dargestellt. Spätestens beim Europäischen Gerichtshof rung (Zusatztagesordnungspunkt 15) droht das Gesetz zu scheitern. Ich kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen: Trotz Drittens. Sicherungsverwahrung war immer eine sehr deutlicher Verbesserungen am Regierungsentwurf wäh- umstrittene Sanktion. Sie wurde durch die Nazis im Ge- rend der parlamentarischen Beratungen bleibt der pro- setz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher im blematische Kern des Gesetzes: In Zukunft kann Siche- Herbst 1933 ins deutsche Strafgesetzbuch eingefügt. In 10586 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) der DDR wurde diese Sanktion als „inhaltlich faschis- konnten, weil bei In-Kraft-Treten dieses rot-grünen (C) tisch“ l952 für ungültig erklärt. In der Bundesrepublik Gesetzes im Jahr 2002 ihre Verurteilungen schon rechts- wurde der Anwendungsbereich in den 70er-Jahren ein- kräftig waren. Damit hätte der Forderung ausreichend geschränkt. Sicherungsverwahrung konnte nur zusam- Rechnung getragen werden können, dass von den acht men mit dem Urteil, also nicht nachträglich, angeordnet Straftätern, die Anlass der Entscheidung des Verfas- werden und auch nur nach mehreren vorangegangenen sungsgerichts waren, niemand in Freiheit kommt, ohne Verurteilungen zu Freiheitsstrafen und längeren Straf- dass seine Gefährlichkeit geprüft und gegebenenfalls verbüßungen. Sicherungsverwahrung nachträglich verhängt werden kann. Wir wären damit über viele Schatten gesprungen; Die Grünen waren lange Zeit grundsätzlich gegen aber der jetzt vorgelegten wesentlich weiter gehenden Sicherungsverwahrung und haben wie andere Bürger- Fassung kann ich nicht zustimmen. rechtler die Abschaffung gefordert, programmatisch je- denfalls weitere erhebliche Einschränkungen der An- wendungsmöglichkeit. Dem fühle ich mich persönlich verpflichtet. Anlage 6 Viertens. Im Frühjahr 1998 wurde der Anwendungs- Erklärung nach § 31 GO bereich der Sicherungsverwahrung durch die schwarz- gelbe Regierungskoalition damals erheblich erweitert. des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde ge- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- nauso wenig ins Gesetz aufgenommen wie die Siche- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ein- rungsverwahrung für Ersttäter. führung der nachträglichen Sicherungsverwah- rung (Zusatztagesordnungspunkt 15) Einzelne CDU/CSU-geführte Bundesländer haben in den letzten Jahren die nachträgliche Sicherungsverwah- Ich kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen: Trotz rung in Landesgesetze aufgenommen. deutlicher Verbesserungen am Regierungsentwurf wäh- rend der parlamentarischen Beratungen bleibt der pro- Die rot-grüne Regierungskoalition hat kurz vor Ende blematische Kern des Gesetzes: In Zukunft kann Siche- der letzten Legislaturperiode nach intensiven internen rungsverwahrung nachträglich verhängt werden auch für Diskussionen eine so genannte Sicherungsverwahrung Ersttäter und für Heranwachsende. ins Gesetz geschrieben. Die Einführung einer nachträgli- chen Sicherungsverwahrung war diskutiert, aber verwor- Erstens. Nach diesem Gesetz werden mehr Men- fen worden. schen, die gegen sie verhängte Strafen voll verbüßt ha- Es gibt seither keine neuen Gründe, die jetzt, andert- ben, für viele Jahre im Gefängnis eingesperrt. Diese (B) halb Jahre später, die Einführung der nachträglichen Si- Menschen werden zwei, fünf, acht Jahre und länger im (D) cherungsverwahrung und gar noch für Ersttäter notwen- Gefängnis bleiben, ohne dass eine strafrechtliche Schuld dig machen. Die Kriminalität hat nicht zugenommen. dies noch rechtfertigt, in diesem Sinne also „schuldlos“. Schwerste Sexualstraftaten, begangen an Kindern, hat es Begründet wird dieses weitere Einsperren im Gefängnis leider immer geben. Sie waren immer wieder Anlass für mit ihrer Gefährlichkeit, der Gefahr also, dass sie wieder öffentliche Diskussionen und Forderungen nach schärfe- schwere Verbrechen begehen werden, unter denen die ren Gesetzen. Solche schwersten Verbrechen, auch Se- Opfer, Kinder, Frauen und andere Menschen, schwer zu xualmorde, sind nicht häufiger geworden, die Anzahl hat leiden haben. Dem Gesetz liegt die Annahme zugrunde, nicht zugenommen. Sie ist seit 1975 und auch in den dass Menschen – Richter und Gutachter – zuverlässig letzten Jahren in Deutschland sogar zurückgegangen. feststellen können, dass ein Mensch nach Verbüßung sei- ner Strafe und der Haftentlassung wieder schwere Straf- Das Bundesverfassungsgericht hat am 10. Februar taten begehen wird. Diese Annahme ist falsch. 2004 die Regelungen für die nachträgliche Sicherungs- verwahrung in Ländergesetzen für verfassungswidrig er- In der Anhörung des Rechtsausschusses zu dem Ge- klärt. Eine knappe Mehrheit im Gericht hat die nachträg- setzentwurf wurden von sehr vielen Sachverständigen liche Sicherungsverwahrung „nicht von vornherein unter durchgreifende Zweifel an solchen Prognosen einer spä- dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit“ gestellt. Die teren Gefährlichkeit von Straftätern geäußert und be- Minderheit hat verfassungsrechtliche Bedenken. Die gründet. Zum Beispiel berichtete der ehemalige Vorsit- Mehrheit hat die Regelung der Länder in der Auslegung zende Richter am Bundesgerichtshof, Dr. Schäfer, von durch das Gericht noch bis 30. September 2004 für an- „haarsträubenden“ Gutachten aus seiner Richterpraxis, wendbar erklärt. Bis dahin soll der Gesetzgeber prüfen, auf die Gefährlichkeitsprognosen gestützt waren. Des- ob er Anlass für ein Gesetz sieht. halb müssten auch formale Voraussetzungen, wie Vor- Das Bundesverfassungsgericht hat keineswegs ein verurteilungen oder mehrere Strafen, eingrenzend wir- Gesetz über die Einführung einer nachträglichen Siche- ken. Prof. Rasch vermutet in seinem Lehrbuch für rungsverwahrung gefordert und schon gar nicht eine sol- forensische Psychiatrie, dass „60 bis 70 Prozent der Per- che für Ersttäter. sonen, die wegen Gefährlichkeit in Gewahrsam gehalten werden, überhaupt nicht gefährlich sind.“ Bündnis 90/Die Grünen waren bei der Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung zu Kompromissen bereit. Wie unsicher und falsch Prognoseentscheidungen für So auch dazu, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung Straftäter sind, ergibt sich umgekehrt auch daraus, dass für diejenigen Straftäter einzuführen, die nicht von der immer wieder Straftäter vorzeitig aus dem Gefängnis vorbehaltenen Sicherungsverwahrung erfasst werden entlassen werden, die kurze Zeit später erneut schwerste Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10587

(A) Straftaten begehen. Auch diese Entlassungen nach Ver- öffentliche Diskussionen und Forderungen nach schärfe- (C) büßung eines Teiles der Strafe erfolgen aufgrund von ren Gesetzen. Solche schwersten Verbrechen, auch Se- Gutachten und Entscheidungen von Gerichten, die eine xualmorde, sind nicht häufiger geworden, die Anzahl hat Gefährlichkeit für die Zukunft verneinen. Oft eine ver- nicht zugenommen. Sie ist seit 1975 und auch in den hängnisvoll falsche Prognose, wie sich später zeigt. letzten Jahren in Deutschland sogar zurückgegangen. Das Gesetz lässt die nachträgliche Anordnung von Si- Das Bundesverfassungsgericht hat am 10. Februar cherungsverwahrung auch für Verurteilte zu, die wegen 2004 die Regelungen für die nachträgliche Sicherungs- nur einer Tat zu einer Strafe von fünf Jahren verurteilt verwahrung in Ländergesetzen für verfassungswidrig er- wurden. Damit muss Grundlage für eine Prognose der klärt. Eine knappe Mehrheit im Gericht hat die nachträg- Gefährlichkeit nicht mehr wie bisher eine „Karriere“ als liche Sicherungsverwahrung „nicht von vornherein unter Straftäter sein, aus der sich ein „Hang“ zur Begehung dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit“ gestellt. Die von Straftaten ergeben könnte, sondern möglicherweise Minderheit hat verfassungsrechtliche Bedenken. Die nur ein einziger Vorfall, also eine sehr eingeschränkte Mehrheit hat die Regelung der Länder in der Auslegung Tatsachenbasis. durch das Gericht noch bis 30. September 2004 für an- wendbar erklärt. Bis dahin soll der Gesetzgeber prüfen, Zweitens. Ich bin der Auffassung, dass das Gesetz ob er Anlass für ein Gesetz sieht. über die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Ersttä- ter mit dem Grundgesetz und auch Art. 5 EMRK nicht Das Bundesverfassungsgericht hat keineswegs ein zu vereinbaren ist. Dr. Kinzig hat dies in der Anhörung Gesetz über die Einführung einer nachträglichen Siche- dargestellt. Spätestens beim Europäischen Gerichtshof rungsverwahrung gefordert und schon gar nicht eine sol- droht das Gesetz zu scheitern. che für Ersttäter. Drittens. Sicherungsverwahrung war immer eine sehr Ich war bei der Ausgestaltung einer gesetzlichen Re- umstrittene Sanktion. Sie wurde durch die Nazis im Ge- gelung zu Kompromissen bereit, so auch dazu, eine setz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher im nachträgliche Sicherungsverwahrung für diejenigen Herbst 1933 ins deutsche Strafgesetzbuch eingefügt. In Straftäter einzuführen, die nicht von der vorbehaltenen der DDR wurde diese Sanktion als „inhaltlich faschis- Sicherungsverwahrung erfasst werden konnten, weil bei tisch“ 1952 für ungültig erklärt. In der Bundesrepublik In-Kraft-Treten dieses rot-grünen Gesetzes im Jahr 2002 wurde der Anwendungsbereich in den 70er-Jahren stark ihre Verurteilungen schon rechtskräftig waren. Damit eingeschränkt. Sicherungsverwahrung konnte nur zu- hätte der Forderung ausreichend Rechnung getragen sammen mit dem Urteil, also nicht nachträglich, ange- werden können, dass von den acht Straftätern, die Anlass ordnet werden und auch nur nach mehreren vorangegan- der Entscheidung des Verfassungsgerichts waren, nie- mand in Freiheit kommt, ohne dass seine Gefährlichkeit (B) genen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen und längeren (D) Strafverbüßungen. geprüft werden kann. Ich wäre damit über viele Schatten gesprungen. Die Grünen waren lange Zeit grundsätzlich gegen Sicherungsverwahrung und haben wie andere Bürger- Ich habe aber bei allen Gesprächen stets deutlich ge- rechtler die Abschaffung gefordert, programmatisch je- macht, dass ich das Gesetz mit der Einführung einer denfalls weitere erhebliche Einschränkungen der An- nachträglichen Sicherungsverwahrung für Ersttäter für wendungsmöglichkeit. Dem fühle ich mich persönlich nicht verantwortbar halte und dem nicht zustimmen verpflichtet. kann. Viertens. Im Frühjahr 1998 wurde der Anwendungs- bereich der Sicherungsverwahrung durch die schwarz- Anlage 7 gelbe Regierungskoalition damals erheblich erweitert. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde ge- Erklärung nach § 31 GO nauso wenig ins Gesetz aufgenommen wie die Siche- der Abgeordneten Arnold Vaatz, Manfred rungsverwahrung für Ersttäter. Grund, , Vera Lengsfeld, Einzelne CDU/CSU-geführte Bundesländer haben in Uda Carmen Freia Heller, Michael Stübgen, den letzten Jahren die nachträgliche Sicherungsverwah- Günter Nooke, Roland Gewalt, Robert rung in Landesgesetze aufgenommen. Hochbaum, Dr. Christoph Bergner, Henry Nitzsche, Dr. Peter Jahr, Volkmar Uwe Vogel, Die rot-grüne Regierungskoalition hat kurz vor Ende Hartmut Büttner (Schönebeck), Veronika der letzten Legislaturperiode nach intensiven internen Bellmann, Susanne Jaffke, Marco Wanderwitz, Diskussionen eine so genannte vorbehaltene Sicherungs- Michael Kretschmer, Andrea Astrid Voßhoff, verwahrung ins Gesetz geschrieben. Die Einführung ei- Klaus Brähmig und Ulrich Adam (alle CDU/ ner nachträglichen Sicherungsverwahrung war disku- CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines tiert, aber verworfen worden. Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung Es gibt seither keine neuen Gründe, die jetzt, andert- (Zusatztagesordnungspunkt 16) halb Jahre später, die Einführung der nachträglichen Si- cherungsverwahrung und gar noch für Ersttäter notwen- Der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf greift dig machen. Die Kriminalität hat nicht zugenommen. richtigerweise die Thematik der in § 20 Abs. 2 Umsatz- Schwerste Sexualstraftaten, begangen an Kindern, hat es steuergesetz 1999 geregelten so genannten Soll-Ist- leider immer geben. Sie waren immer wieder Anlass für Besteuerung auf. Danach können Unternehmer in den 10588 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) neuen Ländern mit einem Gesamtumsatz bis Umsatzsteuerrecht für die neuen Länder, insgesamt nicht (C) 500 000 Euro auf Antrag die Umsatzsteuer nach verein- zugestimmt werden. nahmten Entgelten – so genannte Ist-Besteuerung – ab- führen. Im Hinblick auf die anhaltend schlechte Zah- lungsmoral sowie den weiterhin schwachen Anlage 8 Konjunkturverlauf ist es insbesondere für die ostdeut- schen klein- und mittelständischen Unternehmer drin- Zu Protokoll gegebene Rede gend erforderlich, dass diese bis 31. Dezember 2004 be- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur fristete Sonderregelung verlängert wird. Dem kommt Änderung des § 573 Abs. 2 des Bürgerlichen dieser Gesetzentwurf mit der zweijährigen Verlängerung Gesetzbuches (Tagesordnungspunkt 29) bis zum 31. Dezember 2006 nach. Weiter gehend ist jedoch der Gesetzentwurf der CDU/ Rainer Funke (FDP): Die FDP unterstützt die CSU-Bundestagsfraktion, dessen erste Lesung und Gesetzesinitiative des Bundesrates. Die ablehnende Stel- Überweisung an den Finanzausschuss ebenfalls in der lungnahme der Bundesregierung geht an den Realitäten 115. Sitzung des Deutschen Bundestages am heutigen in diesem Land vorbei. Wir leben in einer Gesellschaft, Tag vorgesehen ist, Drucksache 15/3193, und zwar des- die nicht mehr wächst. Hier wirken langfristige Ursa- halb, weil er die oben genannte privilegierende Rege- chen, insbesondere der demographische Wandel, hier lung zeitlich unbefristet und darüber hinaus einheitlich wirken aber auch Ursachen, die, meine Damen und für alle Unternehmen im gesamten Bundesgebiet schaf- Herren von der Koalition, im Bereich Ihrer verfehlten fen will. Auch aus ostdeutscher Sicht ist der Wegfall der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu suchen sind. Ost- Befristung unter Rechtssicherheitsaspekten eine Verbes- deutschland ist hiervon ganz besonders betroffen. Umso serung. Der gesamtdeutsche Blickwinkel gebietet, eine bedauerlicher ist es, dass Sie die wenigen Wachstums- bisher in den neuen Ländern bewährte Regelung auf branchen, die es dort gibt, auch noch gezielt schwächen. ganz Deutschland zu übertragen. Diese Möglichkeit Das Verbot der Telefonwerbung, das sie jetzt in das wird mit der bloßen Verlängerung nur für die neuen Bun- Wettbewerbsrecht geschrieben haben, führt zu einer aku- desländer vertan. ten Gefährdung von Arbeitsplätzen in Call-Centern, von denen sich besonders viele in Ostdeutschland angesie- Außerdem handelt es sich bei dem Gesetz zur Ände- delt haben. Wer solch eine Politik macht, muss sich über rung der Abgabenordnung um ein so genanntes Omni- Abwanderung nicht wundern. busgesetz, das heißt, es werden Regelungen aus ver- schiedenen anderen Steuerfachgebieten einheitlich zur Der Gesetzentwurf des Bundesrates zeigt einen Weg auf, wie man mit den Problemen der Abwanderung und (B) Abstimmung gestellt. (D) des Bevölkerungsrückgangs vernünftig umgehen kann. Insbesondere die vorgeschlagenen steuerlichen Rege- Für die Abrisskündigung gibt es sowohl ein rechtliches lungen im Bereich der Ausbildungskosten sind bedenk- als auch ein praktisches Bedürfnis. Was die rechtliche lich. Denn dadurch wird die in den letzten Jahren ent- Seite anbetrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es wickelte höchstrichterliche Finanzrechtsprechung zur bis heute keine gefestigte Rechtsprechung zur Abriss- Abzugsfähigkeit von Berufsausbildungskosten erheblich kündigung gibt. Von der Generalklausel des § 573 Abs. 1 zulasten des Steuerzahlers eingeschränkt. Dies ist ange- BGB sind Abrisskündigungen jedenfalls nur in Extrem- sichts der Bildungsmisere unverständlich und im Hin- fällen erfasst. Hier geht es jedoch nicht um die rechtliche blick auf die von der Bundesregierung angekündigten Lösung eines Extremfalls, es geht vielmehr darum, die „Elite-Universitäten“ geradezu widersprüchlich. rechtlichen Voraussetzungen für eine Beseitigung des Auch ist die Beratung zur Gesellschafter-Fremdfinan- strukturellen Leerstandes zu schaffen. Ein Stadtumbau zierung gemäß § 8 Körperschaftsteuergesetz noch nicht wird nur gelingen, wenn es möglich ist, auch solche abgeschlossen. Eine Gesetzesänderung zur Schaffung Häuser abzureißen, die noch zu einem geringen Teil be- von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wird weiterhin wohnt sind. Auch der Hinweis der Bundesregierung auf als erforderlich erachtet. die Verwertungskündigung hilft nicht weiter. Die Ver- wertungskündigung wird von der Rechtsprechung sehr Schließlich bestehen insbesondere gegen die von den eng ausgelegt. Der ersatzlose Abriss eines Gebäudes Koalitionsfraktionen kurzfristig eingebrachten Ände- stellt regelmäßig keine wirtschaftliche Verwertung im rungsanträge erhebliche verfahrensrechtliche Bedenken. Sinne einer Verwertungskündigung dar. Eine wirtschaft- So wurde beispielsweise die oben genannte Änderung liche Verwertung setzt vielmehr voraus, dass das abge- des UStG erst am 17. Juni 2004 – also am Vortag der rissene Gebäude durch einen Neubau ersetzt wird. Unter 2./3. Lesung im Bundestag – in den federführenden diesen engen Voraussetzungen lässt sich das mit dem Finanzausschuss eingebracht. So hatten nicht alle Mit- Abriss von Wohngebäuden verfolgte Ziel einer Aufwer- glieder des Deutschen Bundestages die Möglichkeit, tung des Wohnquartiers und des Wohnumfeldes nicht sich mit dem Änderungsbegehren zu befassen. Da kein realisieren. Städteplanerische Konzepte bleiben so zum unmittelbarer Sachzusammenhang mit der Vorlage des Scheitern verurteilt. Bundesrates besteht, steht dieses Verfahren nicht im Ein- klang mit § 62 GO. Auch der Hinweis der Bundesregierung auf die Mög- lichkeit, Miet- und Pachtverhältnisse durch die Gemein- Dem Gesetzentwurf kann daher, trotz der an sich be- den nach den Vorschriften des Baugesetzbuches auf- grüßenswerten Verlängerung der Ist-Besteuerung im heben zu lassen, hilft nicht weiter. Dieses hoheitlich- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10589

(A) bürokratische Instrument taugt für einen erfolgreichen Carried Interest heißt: Die Initiatoren von Wagniska- (C) Stadtumbau nicht. Auch darf bezweifelt werden, ob ho- pitalfinanzierung bringen ihre besonderen Leistungen heitliche Maßnahmen, also Zwang, Leitbild einer huma- ein. Sie sind immaterieller Art: Das ist die Erfindung nen und bürgerfreundlichen Stadtplanung sein sollten. selbst, aber auch die Vermittlung zwischen expandieren- Ich glaube nicht, dass man bei der Anwendung von der Firma und den Kapitalgebern. Ohne diese Initiatoren Zwang die Interessen von Mietern besser wahrt. Ich bin käme das Wagniskapital nicht zustande. Ohne diese Ini- vielmehr davon überzeugt, dass die Abrisskündigung die tiatoren könnten die Firmen nicht wachsen und würden berechtigten Interessen von Mietern effektiver schützt. keine neuen Absatzmärkte erobern. Sie könnten nicht Denken Sie daran, dass eine Abrisskündigung nur unter expandieren und keine neuen Arbeitsplätze schaffen. der Bedingung des Nachweises eines vergleichbaren und verfügbaren Wohnraums zulässig ist. Bezahlen lassen sich die Initiatoren ihre Leistung durch einen erhöhten Anteil am schließlich realisierten Die Abrisskündigung muss kommen, sie ist städte- Gewinn bei der Veräußerung der Wagniskapitalanteile baulich vernünftig, wirtschaftlich notwendig und sozial nach erfolgter Expansion. Deshalb ist klar, dass diese vertretbar. Sie wird dazu beitragen, dass unsere Städte Bezahlung von der Natur her selbst ein Gewinn ist. Als auch unter den Bedingungen einer schrumpfenden Ge- solcher muss er versteuert werden. Das heißt: mit dem sellschaft lebens- und liebenswert bleiben. Halbeinkünfteverfahren. Genau dies regelt unser Gesetz. In der Anhörung des Finanzausschusses ist diese Re- Anlage 9 gelung einhellig begrüßt worden. Diskutiert wurde ein wenig über den steuerrechtlichen Weg, aber nicht über Zu Protokoll gegebene Reden das Ergebnis dieses Gesetzes. Dem applaudierte die zur Beratung: Branche der Wagniskapitalgeber eindeutig. – Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Die SPD hat die heute realisierte Lösung schon lange Wagniskapital im Visier gehabt. Schauen sie bei unserem „Masterplan High-Tech“ nach oder in unsere einschlägigen Anträge. – Entwurf eines Gesetzes zur Besteuerung von Wir realisieren heute, was wir versprochen haben. Wagniskapitalgesellschaften (Zusatztagesordnungspunkt 17) Ich bedanke mich ausdrücklich bei der CDU/CSU, die sich unserem Verfahren angeschlossen hat, weil sie in den Zielen mit uns übereinstimmt. Die Zustimmung Stephan Hilsberg (SPD): Das Gesetz, welches wir des Bundesrates vorausgesetzt, wovon ausgegangen (B) heute gemeinsam verabschieden, ist klein, die Wirkung werden kann, wird diese neue Regelung rückwirkend (D) aber groß. Es regelt die Besteuerung des Carried Interest. zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft gesetzt. Carried Interest ist ein wichtiges, aber nicht großes De- tail moderner Investmentmethoden insbesondere auf Damit ist die Reihe nun an den Vertretern des Wagnis- dem weiten Feld des Beteiligungskapitals bzw. des Wag- kapitals. Machen Sie ihr Versprechen wahr und führen niskapitals. Mit dem Carried Interest lassen sich die Ini- Sie die Branche zu neuen Erfolgen. Ich weiß, das ist tiatoren, die Vermittler von Wagniskapital ihr Engage- nicht ganz einfach; denn es hat in den zurückliegenden ment bezahlen. Diese Bezahlung, das liegt in der Natur Jahren hier auch manchen Flop gegeben, für den nicht der Sache, erfolgt aus dem Gewinn, welcher bei Veräu- die Politik, sondern allein das Management verantwort- ßerung des zur Verfügung gestellten Kapitals entsteht. lich zeichnet. Aber auch die Branche scheint mir auf ei- nem guten Weg zu sein. Deshalb stehen jetzt alle Signale Diese Methode für Firmen, die über Wachstumsaus- auf Grün, damit der Zug schnell Fahrt gewinnen kann. sichten verfügen, aber das dafür notwendige Kapital Darauf warten wir. nicht besitzen, entspricht modernen Investmentmetho- den. Auch in Deutschland muss dieses Verfahren funk- tionieren, sonst koppeln wir uns ab mit erheblichen Fol- Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Die Frage der gen für Wachstum und Beschäftigung. Deshalb muss Eigenkapitalausstattung stellt für jeden Unternehmer diese Form der Wagniskapitalfinanzierung in Deutsch- einen wichtigen Entscheidungsbereich dar – genauer ge- land klappen. Aber das tut es derzeit nicht genug. Steuer- sagt: Sie ist die zentrale Frage einer jeden Unterneh- systematische Gründe waren es, die zu Schwierigkeiten mung. geführt haben. So unterschiedlich auch die Auffassungen im Einzel- Festzuhalten ist: Auch der erhöhte Gewinnanteil der fall und je nach Branche über die angemessene Höhe des Initiatoren von Wagniskapital muss versteuert werden. erforderlichen Eigenkapitals sein können, unbestritten In Deutschland wird Gewinn grundsätzlich versteuert. ist jedoch die grundsätzliche Bedeutung des Eigenkapi- Das muss auch so sein. Das gilt auch für spezifische Ge- tals für die Dynamik und das Wachstum von Unterneh- winne bei der Wagniskapitalfinanzierung. Aber die Form men. der Gewinne der Wagniskapitalfinanzierung passte nicht ins Steuerrecht. Ein typisch deutsches Problem. Sei es, Der deutsche Begriff „Beteiligungskapital“ entspricht wie es sei: Dieses steuersystematische Problem wird dem englischen Private Equity. Private Equity ist eine heute geklärt. Ab jetzt steht das Steuerrecht der Finan- spezielle Anlageklasse, die Produkte wie Venture Capi- zierung von Wagniskapital nicht mehr entgegen. tal – zu deutsch so genanntes Wagniskapital – umfasst. 10590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Wenn wir uns also heute über die Verbesserung der unsicherung der Investoren hinsichtlich der steuerlichen (C) steuerlichen Rahmenbedingungen von so genannten Behandlung von Venture-Capital-Fonds. Venture-capital-Private-/Equity-Fonds unterhalten, spre- Warum der Einbruch im Jahre 2001? Zunächst gilt es chen wir eigentlich darüber, wie wir es als Gesetzgeber hier festzuhalten, dass es in Deutschland bisher keine erreichen können, durch klare Regelungen und in Ver- allgemeingültige Regelung für die steuerliche Behand- bindung mit Rechtssicherheit den Finanzplatz Deutsch- lung von Wagniskapitalfonds gab. Ursprünglich ging der land für Investitionen wieder attraktiver zu machen. Private-Equity-Markt davon aus, dass der erhöhte Ge- Private Equity hat sich in den vergangenen Jahren zu winnanteil der Initiatoren – der so genannte Carried einem wesentlichen Instrument der Finanzierung von In- Interest – als Ergebnisanteil zu qualifizieren ist und er novations-, Wachstums- und Restrukturierungsprozessen daher nicht voll steuerpflichtig war. Dieses Verständnis entwickelt. Forschungsaktivitäten und Innovationen entsprach der Rechtsprechung des Großen Senats des werden heute zwar immer noch meistens von Großunter- Bundesfinanzhofes und der gängigen Praxis der Finanz- nehmen oder teilweise vom Staat finanziert; bei der Um- verwaltung in den meisten Bundesländern. setzung der Ergebnisse oder von neuen Verfahren in 2001 änderte sich die Situation. Im November 2001 kommerzielle Produkte und Technologien stehen aller- veröffentlichte das BMF seinen Entwurf für einen Erlass dings traditionelle Finanzierungsinstrumente aufgrund zur einkommensteuerlichen Behandlung von Private- der damit verbundenen hohen Risiken meist nicht zur Equity-Fonds. Darin wurde der Carried Interest als ver- Verfügung. deckte Dienstleistungsvergütung gewertet, der der vollen Steuerpflicht unterliegt. An dieser Rechtsauffassung Hier setzen immer häufiger Wagniskapitalgesell- hielt das BMF leider auch in seinem Schreiben vom De- schaften an! Sie stellen in zunehmendem Maße Betei- zember 2003 fest. ligungskapital für junge und innovative Unternehmen bereit. Man muss feststellen, dass die Besteuerung von Wag- niskapitalfonds in Deutschland also bisher lediglich Venture Capital ist somit ein wichtiger Motor für den durch eine Verwaltungsanweisung des BMF „geregelt“ Siegeszug zukunftsweisender Technologien, denn oft ist; und ich setze das Wort „regeln“ hier ausdrücklich in können junge Unternehmen ihre Ideen und Innovationen Anführungszeichen. Diese Rechtsunsicherheit führte zu nur dank der Finanzierung durch Kapital seitens Dritter einem deutlichen Standortnachteil Deutschlands im in- realisieren. ternationalen Wettbewerb um Kapital zur Unterneh- mensfinanzierung und sorgte dafür, dass in Deutschland Aber auch für etablierte Unternehmen des Mittelstan- mittlerweile so gut wie keine neuen Wagniskapitalfonds des spielen Wagniskapitalgesellschaften eine immer (B) mehr aufgelegt werden. (D) wichtigere Rolle. Mittelständler stehen heutzutage vor der Herausforderung, ihre eigene Marktstellung und den Deutschland bietet hinsichtlich der Qualität der Geschäftserfolg durch weiteres Wachstum zu sichern. steuerlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für Die traditionellen Instrumente der Fremdfinanzierung Beteiligungskapital und Unternehmertum für institu- reichen zur Deckung des damit verbundenen Kapital- tionelle und private Investoren noch immer kein günsti- bedarfs in der Regel bei weitem nicht aus. Weiteres ges Klima. Eine erst am 24. Mai 2004 veröffentlichte Eigenkapital ist dann nötig. Private Equity, sprich: Wag- Studie der European Private Equity and Venture Capital niskapital, kann diese Finanzierungslücke schließen und Association (EVCA) beweist dies mehr als deutlich. Im somit beispielsweise Unternehmen mit hohem Wachs- Vergleich zu 21 von der EVCA bewerteten europäischen tumspotenzial die Expansion ermöglichen. Ländern rangiert Deutschland im Bereich Private Equity auf Platz 18 von 21! Deutschland rangiert damit weit un- Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache, dass in Zei- ter dem europäischen Durchschnitt. Nur Österreich, Dä- ten des globalen Wettbewerbs Großkonzerne ebenso wie nemark und die Slowakische Republik bieten noch der Mittelstand zunehmend gezwungen sind, ihr Unter- schlechtere steuerliche und rechtliche Rahmenbedingun- nehmen umzustrukturieren oder Strategien neu auszu- gen für Wagniskapitalfonds als wir. Wir müssen uns aber richten. Auch hier sind Wagniskapitalgesellschaften an der Spitze orientieren und die wird auf Platz 1 von wichtige Finanzierungspartner. Nur um hier einmal Großbritannien, auf Platz 2 von Luxemburg, auf Platz 3 einige Zahlen zu nennen: Private-Equity-Gesellschaften von Irland und auf Platz 4 von Griechenland angeführt; haben von 1986 bis 2001 deutschlandweit insgesamt und selbst Frankreich liegt vor Deutschland auf Platz 10. 25 Milliarden Euro in circa 15 000 kleine und mittlere Unternehmen investiert. Sie waren somit ein nicht unwe- Die Lösung des Problems der Besteuerung von Wag- sentlicher Bestandteil für ein stabiles Wirtschaftswachs- niskapitalgesellschaften ist in Deutschland also mehr als tum in Deutschland. überfällig, wenn wir nicht noch weiter abrutschen wol- len. Es besteht dringender Handlungsbedarf. CDU und Nach dem Aufschwung vor allem in den späten 90er- CSU haben dies schon lange erkannt. Seit Juli 2003 liegt Jahren befindet sich der Wagniskapitalmarkt in Deutsch- ein Gesetzentwurf des Bundesrates vor, der auf Initiative land seit 2001 in einer Krise. Gründe hierfür lagen unter Bayerns im Länderparlament beschlossen wurde. Der anderem in der allgemeinen Konjunkturschwäche in der Gesetzentwurf aus Bayern bietet eine umfassende und allgemeinen Unsicherheit an den Finanzmärkten und in einheitliche Regelung für die Besteuerung des erhöhten dem Einbruch an den Börsen. Ein wesentlicher Grund Gewinnanteils der Initiatoren eines Wagniskapitalfonds, für den Einbruch in Deutschland ist jedoch auch die Ver- des so genannten Carried Interest, und die Anwendung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10591

(A) des Halbeinkünfteverfahrens. Der Vorschlag ist steuer- Durch diese längst überfällige gesetzliche Regelung (C) systematisch klar und stellt eine eindeutige gesetzliche wird der Finanzplatz Deutschland gestärkt; damit wer- Regelung für die Steuerbarkeit von Wagniskapitalgesell- den wir in Zukunft wieder ein attraktiver Standort für schaften dar. Wagniskapitalfonds sein. Nach langem Hin und Her hat nun endlich auch Rot- Grün die Dringlichkeit dieses Themas erkannt. Am Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 25. Mai 2004 legten sie einen eigenen Gesetzentwurf zur Ich bin sehr froh, dass wir bei diesem wichtigen Vorha- Förderung von Wagniskapital vor. Aber wie das bei Rot- ben für den Innovationsstandort Deutschland eine so Grün nun mal so ist, ihr Gesetzentwurf regelt mal wieder breite parlamentarische Mehrheit gefunden haben. Nur nur die Hälfte. Im Bereich des Carried Interest lässt er die FDP kommt mal wieder nicht aus dem Mustopf und nach wie vor eine rechtliche Lücke, weil er die steuer- hängt hinten dran. Es bleibt das Geheimnis der FDP, wa- liche Qualifizierung des erhöhten Gewinnanteils nicht rum sie den gemeinsamen Antrag der Fraktionen nicht eindeutig definiert, sondern sich wieder nur auf die of- mitträgt und stattdessen lieber den Gesetzentwurf des fensichtlich unzureichende Verwaltungsanweisung des Bundesrates, der von der ganzen Systematik her auf dem BMF bezieht, dies aber nicht ins Gesetz schreibt. Stand von vorgestern ist, unterstützt. Der Gesetzentwurf von Rot-Grün hätte die Situation Die ursprünglich diskutierten Gesetzentwürfe von auf dem Wagniskapitalmarkt demnach nicht verbessert. Rot-Grün und aus dem Bundesrat lagen ja im Ergebnis Dies wurde uns im Rahmen einer Anhörung am vergan- gar nicht weit auseinander. Ich denke, wir haben mit dem genen Montag von allen Experten einvernehmlich bestä- gemeinsamen Antrag von Rot-Grün und der Union einen tigt. Parteiübergreifend wurde jedoch Handlungsbereit- guten Kompromiss zwischen den beiden Entwürfen ge- schaft und der Wille signalisiert, nun endlich eine funden, dem auch der Bundesrat zustimmen kann – aus- einheitliche Regelung für die Besteuerung von Wagnis- nahmsweise mal ohne ein Vermittlungsverfahren, so kapitalgesellschaften zu schaffen. In den Gesprächen hoffen wir zumindest! und in der Anhörung bestand Einigkeit darüber, dass in Rechtssicherheit ist absolut vordringlich dafür, dass erster Linie möglichst schnell Rechtssicherheit für Wag- in Zukunft wieder mehr Wagnisfonds in Deutschland niskapitalgesellschaften geschaffen werden muss. aufgelegt werden. Bei Laufzeiten von acht, zehn oder Der jetzt beschlossene Kompromiss stellt quasi einen auch zwölf Jahren wird ein Fonds hier in Deutschland dritten Weg dar, um nun schnellstmöglich eine gesetz- nur aufgelegt, wenn er international konkurrenzfähige liche Grundlage zur einheitlichen Besteuerung von Wag- Rahmenbedingungen vorfindet und der Initiator des niskapitalfonds zu schaffen. Der CDU/CSU-Bundestags- Fonds sich sicher sein kann, dass dies auch in zehn Jah- (B) fraktion ist zwar bewusst, dass die jetzt gefundene ren noch so sein wird. Mit unserem gemeinsamen Ent- (D) Regelung bei weitem nicht die Qualität des bayerischen wurf bekommen wir jetzt eine klare verlässliche Rege- Gesetzentwurfs zur Besteuerung von Wagniskapital- lung für Wagniskapitalfonds, die dem beginnenden gesellschaften erreicht. In den Verhandlungen mit Rot- Aufwärtstrend in den Wagniskapitalmärkten Schwung Grün und dem BMF ist es uns jedoch zumindest gelun- geben wird. gen, die unübersehbaren Schwächen des Entwurfs der In den letzten Jahren ist die Anzahl der Neuinvestitio- Regierungskoalition zu korrigieren. Zu mehr als zum nen im Wagniskapitalmarkt von fast 2 200 im Jahr 2000 jetzt beschlossenen gemeinsamen Änderungsantrag war auf knapp 900 im Jahr 2003 drastisch zurückgegangen. Rot-Grün jedoch nicht bereit. Ursache war der Crash an den Kapitalmärkten insgesamt Letztlich haben auch die Branchenvertreter im Rah- und der New Economy im Besonderen. Jetzt hat die Tal- men der Anhörung aber zu erkennen gegeben, dass sie fahrt einen Boden gefunden und es geht langsam wieder eine vertretbare, wenn auch suboptimale Lösung jetzt bergauf. vorziehen und eine weitere Verzögerung der Sache mit Steuerlich machen wir mit der geplanten Halbein- unabsehbarem Ausgang nicht in Kauf nehmen möchten. künftebesteuerung von Carried Interest, also der Tätig- Wir glauben, dass der jetzt gefundene überparteiliche keitsvergütung für Fondsinitiatoren, einen riesigen Kompromiss für die Branche nun eine langfristige Pla- Schritt in die richtige Richtung. Das ist nicht nur eine nungssicherheit gewährleistet und den Finanzplatz gute Nachricht für die Fondsinitiatoren, sondern das ist Deutschland wieder international wettbewerbsfähig vor allem auch eine gute Nachricht für Gründung tech- macht. Der erhöhte Gewinnanteil eines Initiators eines nologieorientierter Unternehmen und für Innovationen Venture-Capital-Fonds wird künftig kraft Gesetzes stets im Mittelstand. Denn gute Ideen und das Kapital, diese im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit vereinnahmt guten Ideen zu verwirklichen, müssen zusammenge- und unterliegt damit dem Halbeinkünfteverfahren. bracht werden. Wir schaffen wachstumsfreundliche Rah- In Bezug auf die so genannten Altfälle gemäß dem menbedingungen, verbessern die Chancen für Innovatio- BMF-Schreiben vom 16. Dezember 2003 geht die CDU/ nen hier am Standort und erleichtern die Bedingungen CSU-Bundestagsfraktion davon aus, dass der heutige für eine bessere Eigenkapitalausstattung für kleine und Beschluss deren Behandlung auch für zukünftige Veräu- mittlere Unternehmen. Das hat positive volkswirtschaft- ßerungen unberührt lässt. Darüber hinaus erscheint es liche Wirkungen. So stiegen laut empirischen Unter- uns sinnvoll, im weiteren Verwaltungsverfahren die Wei- suchungen die Umsätze von Beteiligungsunternehmen tergeltung der Vertrauensschutzregelung auch unter Gel- viermal schneller als im Durchschnitt der Wirtschaft, die tung des neuen Gesetzes zu betonen. Beschäftigung stieg in der Vergangenheit um 5 bis 10592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) 15 Prozent pro Jahr. Rund 4,5 Prozent der deutschen Ar- Es ist für den Standort Deutschland beschämend, dass (C) beitsplätze finden sich mittlerweile in jungen Unterneh- in den vergangenen zwei Jahren kaum Kapital nach men. Damit hier noch mehr neue Arbeitsplätze entste- Deutschland geflossen ist. Dies hat viele Arbeitsplätze hen, muss der Gründungsprozess wieder an Dynamik gekostet. Deshalb begrüßt es die FDP ausdrücklich, dass gewinnen. Das sind die eigentlichen Ziele der Regelung, sich beide Gesetzentwürfe mit Vorschlägen zur Behe- die wir heute beschließen. bung dieses Missstandes beschäftigen. Die FDP wäre gerne einem gemeinsamen Antrag beigetreten. Dies Zukünftig soll die Tätigkeitsvergütung von Fondsini- hätte allerdings vorausgesetzt, dass rechtssystematisch tiatoren nach dem Halbeinkünfteverfahren besteuert sauber vorgegangen worden wäre. Rot-Grün hat jedoch werden. Damit haben wir eine international konkurrenz- auf dem Gesetzentwurf bestanden. Deshalb war dies lei- fähige Steuerbelastung erreicht. Nach unserem gemein- der ausgeschlossen. samen Entwurf ist es nun ganz egal, aus welcher Quelle der Carried Interest kommt, ob aus dem Veräußerungs- Der Bundesratsentwurf enthält im Wesentlichen die gewinn, aus Dividenden oder Zinsen. Damit haben wir sachgerechten Lösungen. Es kann nicht sein, dass hier den Fondsinitiatoren und der Finanzverwaltung ein und heute für die Venture-Capital- und Private-Equity- schwieriges Abgrenzungsproblem und damit viel Büro- Branche ein Sondermaßnahmegesetz geschaffen wird. kratie und Kontrollaufwand erspart und die ganze Rege- Es wäre richtig gewesen, dieses über eine richtige syste- lung praktikabler ausgestaltet. matische Einordnung zu regeln. Wir brauchen kein Son- derrecht für Private Equity und Venture Capital. Diese Allerdings öffnen wir kein Fass ohne Boden. Die Be- Gesellschaften sollen ganz normal behandelt werden. günstigung ist beschränkt auf Gesellschaften, die Anteile Wir wollen, dass sich in unserem Lande etwas positiv an Kapitalgesellschaften erwerben, halten und veräu- verändert, dass auch wieder investiert und Venture Capi- ßern. Andere vermögensverwaltende Gesellschaften tal zur Verfügung gestellt wird. Hierfür werden wir uns kommen damit nicht in den Genuss des Halbeinkünfte- auch zukünftig einsetzen. Deshalb begrüßen wir, dass es verfahrens. Denn Mitnahmeeffekte auf breiter Front im Ergebnis einen ersten Schritt in die richtige Richtung wollen wir vermeiden. gibt. Mehr Innovationen im Mittelstand und Gründungen Da dieser Schritt allerdings nicht umfassend ist und technologieorientierter Unternehmen erreichen wir aber rechtssystematisch falsch ist, stimmen wir aus gesetzes- nicht allein damit, dass wir uns steuerrechtlich interna- und ordnungspolitischen Gründen gegen dieses Gesetz. tional wettbewerbsfähig aufstellen. Entscheidend ist auch, dass Innovationen ganz am Anfang Startfinanzie- (B) rungen finden, und dabei geht es sowohl um Eigenkapi- Anlage 10 (D) tal als auch um Fremdkapital. Denn private Startfinan- Zu Protokoll gegebene Reden zierungen haben unter der Krise am Wagniskapitalmarkt besonders stark gelitten. Das Finanzierungsvolumen ist zur Beratung der Unterrichtung: Selbstver- auf ein Fünftel gesunken. Die Kreditanstalt für Wieder- pflichtungserklärung der Deutschen Post AG aufbau bietet mit ihren Programmen hier alternative zur Erbringung bestimmter Postdienstleistun- Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups. Zusätzliche gen (Tagesordnungspunkt 30) Chancen bietet der neu geschaffene Dachfonds für Risi- kokapital. Klaus Barthel (SPD): Wer erinnert sich nicht: über Eine weiteres entscheidendes Innovationshemmnis Nacht verschwundene Briefkästen, schwer nachvollzieh- hier in Deutschland sind die vielen bürokratischen Hür- bare Schließungen und Verlagerungen von Postfilialen, den, die bei der Neugründung eines Unternehmens erst eingeschränktes Leistungsangebot in einzelnen Filialen, einmal überwunden werden müssen. Auf die eine oder erboste Postkunden und zornige Bürgermeister. andere Regelung und Vorschrift könnte für kleine Unter- So hatten es die Kritiker der Postprivatisierung stets nehmen sicherlich verzichtet werden, um Gründungen befürchtet und vorhergesagt. Die Koalition hatte dem je- und Aufbau neuer Unternehmen zu erleichtern. Wir wer- doch – gegen Widerstände in der nach Deregulierung den hier im Rahmen des Hightech-Masterplans noch ei- rufenden Opposition – mit der Erarbeitung einer Post- niges zu entrümpeln haben. universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) vorbeu- gen wollen. Diese Verordnung hatten wir 2002 im Lichte Carl-Ludwig Thiele (FDP): Es ist gut, dass wir uns der Erfahrungen nochmals deutlich verbessert. heute auf Initiative des Bundesrates in dieser Sitzung mit Manchmal schien es aber so zu sein, als ob bei jeder der Frage der Besteuerung von Wagniskapitalgesell- Handlung des Gesetzgebers bei der Post AG nur ganze schaften beschäftigen. Heerscharen von Konzernstrategen nach neuen Lücken suchten, wie der Wille des Gesetzgebers umgangen wer- Wagniskapitalgesellschaften spielen gerade in der au- den könnte, wie weitere Leistungen eingeschränkt, noch ßerbörslichen Unternehmensfinanzierung eine immer mehr Kosten gesenkt und Personal abgebaut werden wichtigere Rolle. Vor allem für junge Unternehmen, die könnten. in risikoreichen Wachstumsmärkten agieren, benötigen wir stabile und berechenbare Rahmenbedingungen auch Von Anfang an haben wir diese Entwicklung sehr auf- auf steuerlichem Gebiet. merksam verfolgt, die Hinweise und Beschwerden aus Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10593

(A) der Bevölkerung und der Kommunalpolitik gesammelt Bereich für die Deutsche Post AG im europäischen (C) und ausgewertet. Gleichklang. Da ist es völlig unverständlich, dass die Bundesratsmehrheit im gleichen Atemzug, in dem alle Unsere permanente Befassung der Regulierungsbe- die Selbstverpflichtung loben, ihr letztlich die Grundlage hörde für Telekommunikation und Post mit dieser Pro- wieder entziehen will. Ausgerechnet die Länder Hessen blematik hat Ende 2003 dazu geführt, dass die Behörde und Niedersachsen, die mit spektakulären Gesetzesiniti- erstmals in ihrem Tätigkeitsbericht eine Art Mängelliste ativen den Universaldienst weiter regulieren wollten und im Postuniversaldienst erstellt und sie mit der Rechts- dabei viel Lärm erzeugt haben, kommen jetzt mit Forde- lage abgeglichen hat. An dieser Stelle sei den Verant- rungen, den reservierten Bereich der Post AG über das wortlichen in der RegTP dafür gedankt, dass sie diese gesetzlich festgelegte Maß hinaus schneller und stärker Arbeit so detailliert geleistet haben. abzubauen. Dabei läuft wieder das sattsam bekannte Das war für uns die Grundlage zu ausführlichen Ge- Spiel im postpolitischen Bermudadreieck: Lobby – Teile sprächen mit der Deutschen Post AG. Für uns war die der EU-Kommission – FDP und CDU/CSU. Hauptziel: Alternative, mit politischen bzw. staatlichen Maßnah- Attacke auf die Deutsche Post, mehr Pflichten einerseits, men, sei es durch Gesetzesänderung oder Handeln der weniger Einnahmen und instabile Rahmenbedingungen RegTP, die Missstände abzustellen oder die Post AG von andererseits. sich aus zu vernünftigerem Umgang mit ihren Kunden, An dieser Stelle nur so viel: Wir werden die europäi- Vertragspartnern, Beschäftigten und Kommunen zu be- sche Rechtslage genau prüfen und einhalten, aber auch wegen. nicht mehr. Weiter gehenden Initiativen zur Aushöhlung Letzterer Weg hat nach vielen Gesprächen zum Erfolg des reservierten Bereichs fehlt jede Legitimation. geführt. Das Ergebnis liegt uns heute in Form einer Un- Ich bitte alle Seiten dieses Hauses, auf dem gemeinsa- terrichtung durch die Bundesregierung vor. Diese Unter- men Teppich zu bleiben. Unsere heutige Gemeinsamkeit richtung – Bundestagsdrucksache 15/3186 – gibt den In- in der Postpolitik könnte auch ein Zukunftsmodell sein. halt der Selbstverpflichtung wieder, die die Deutsche Der bisherige Erfolg gibt dieser Gemeinsamkeit Recht. Post AG gegenüber der Öffentlichkeit und der Bundesre- Gefährden Sie nicht ohne Not diesen Konsens! gierung abgegeben und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit mitgeteilt hat. Die Details kann man nachlesen. Für uns besonders wichtig ist die Siche- Julia Klöckner (CDU/CSU): Eine Selbstverpflich- rung des Briefkastenbestandes, die Aufwertung von grö- tung ist allemal besser als eine gesetzliche Regelung. ßeren Ortsteilen im Filialnetz, die Präzisierung bei den Gäbe es die Selbstverpflichtung nicht, hätte der Gesetz- Öffnungszeiten der Filialen und die besseren Beneh- geber nachbessern müssen. Nur das hätte – man kennt ja (B) mensregelungen den Kommunen gegenüber, aber auch das Prozedere – ein wenig länger gedauert. Gelitten hätte (D) das neue Informationssystem zwischen Post und Regu- darunter der Verbraucher, die Bürgerinnen und Bürger. lierungsbehörde. Durch die Selbstverpflichtung aber gewinnt der Verbrau- cher und mit ihm die Post. Wir sehen die Selbstverpflichtung als innovativen Schritt in der Postpolitik. So etwas hat es in anderen Ich richte meinen herzlichen Glückwunsch an die Branchen auch noch nicht gegeben. Das Beispiel könnte Deutsche Post, aber auch an alle Fraktionen des Bundes- Schule machen: auf der Grundlage klarer gesetzlicher tages. Die Selbstverpflichtung der Deutschen Post AG, Vorgaben praktikable Regelungen vereinbaren. Beides über die Dienstleistungen hinaus, zu denen sie nach dem gehört aber zusammen: der gute Wille der Beteiligten Postgesetz verpflichtet ist – zum so genannten Univer- auf Basis einer klaren gesetzlichen Regelung. saldienst –, bestimmte Leistungen anzubieten, ist sehr zu begrüßen. Deshalb begrüße ich, dass die Erklärung die Ich freue mich besonders, dass das ganze Haus heute wesentlichen Punkte, die aufgrund von Empfehlungen zu einer gemeinsamen Entschließung kommt, in der wir der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und die Selbstverpflichtung der Deutschen Post AG begrü- Post auch im politischen Raum aufgeworfen worden ßen, Kontrolle fordern und gesetzgeberische Initiativen sind, berücksichtigt. Beglückwünschen möchte ich uns für den Fall offen halten, dass sich unser nicht ganz risi- alle daher, dass wir uns in einer – in diesen Zeiten so sel- kofreier innovativer Schritt bewährt. Diese Gemeinsam- tenen – konzertierten Aktion über Fraktionsgrenzen hin- keit erhöht die Verbindlichkeit für alle Beteiligten. Vie- weg mit sanftem politischem Druck erfolgreich für die len Dank an alle, die daran beteiligt waren und sind! Verbraucherinteressen eingesetzt haben. Leider wird dieses Bild in den letzten Tagen getrübt Die freiwillige Selbstverpflichtung umfasst zwölf und der mühsam erarbeitete Konsens infrage gestellt. Dienstleistungen. So werden Zusatzleistungen wie Ein- Qualitativ hochwertigen Universaldienst, wie er in schreiben, Wert- und Nachnahmesendungen auch für Pa- PUDLV und Selbstverpflichtung festgeschrieben ist, gibt ketsendungen in den Universaldienst einbezogen. Wert- es nicht zum Nulltarif. Rahmenbedingung dafür sind sendungen werden bis zu einer Wertobergrenze von verlässliche Marktbedingungen. Wir haben 2002 – Koa- 25 000 Euro angeboten. Das bundesweite Angebot in lition und Bundesratsmehrheit – gemeinsam den Weg mindestens 12 000 Postfilialen erstreckt sich auf alle zur weiteren Liberalisierung des deutschen Postmarktes Brief- und Paketbeförderungsleistungen. In zusammen- mit der Postgesetznovelle beschlossen. Zum Umfang des hängend bebauten Wohngebieten mit mehr als Universaldienstes gehört ein stufenweise zu reduzieren- 2 000 Einwohnern wird mindestens eine stationäre Post- der und voraussichtlich 2007 auslaufender reservierter einrichtung bereitgestellt. 10594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Weiterhin gewährleistet die Deutsche Post AG, dass die Deutsche Post selbst. Es freut mich besonders, dass (C) in solchen Wohngebieten mit mehr als 4 000 Einwoh- wir gemeinsam mit einem Entschließungsantrag aller nern grundsätzlich eine stationäre Einrichtung in maxi- Fraktionen diese Errungenschaft absichern konnten. mal 2 Kilometern Entfernung für die Kunden erreichbar Jetzt steht die Bundesregierung in der Pflicht, ihrer in ist. Die stationären Einrichtungen werden grundsätzlich diesem Antrag festgehaltenen Prüfungspflicht mit der durchgehend ganzjährig an sechs Werktagen geöffnet, gleichen Verantwortung nachzukommen, mit der die wobei sich die Öffnungszeiten an der Nachfrage orien- Deutsche Post AG in Vorleistung getreten ist. Die Post tieren. Die Öffnungszeiten der Kleinstfilialen werden steht in der Pflicht, ihre Selbstverpflichtungserklärung, mindestens 50 Prozent über der tatsächlichen Kunden- mit der sie selbst massiv wirbt, auch einzuhalten. nachfrage liegen. Damit kann sichergestellt werden, dass auch in ländlicheren Regionen, die infrastrukturell weni- Johannes Singhammer (CDU/CSU): Die Abgabe ger erschlossen sind als städtische Ballungszentren, eine der Selbstverpflichtungserklärung durch die Deutsche ausreichende Versorgung vorgehalten wird. Die regel- Post AG hat dreierlei eindrucksvoll bewiesen: mäßigen langen Öffnungszeiten dienen in erster Linie auch der Versorgung weniger mobiler Bevölkerungs- Erstens. Politischer Druck bewirkt Handeln und teile, wie etwa den Senioren. bringt Erfolge für die Kunden der Deutschen Post AG. Zweitens. Politik redet nicht lange, sondern bringt rasche Man muss sich bei all dem vergegenwärtigen, dass Ergebnisse und Verbesserungen zustande. Drittens. Poli- die Deutsche Post mittlerweile eine Aktiengesellschaft tik schafft kein zusätzliches Mehr an ausufernder Büro- ist und damit in erster Linie aus gesetzlicher Verpflich- kratie, sondern findet pragmatische zeitgemäße Lösun- tung ihren Aktionären rechenschaftspflichtig ist. In be- gen. triebswirtschaftlicher Hinsicht sind etliche der durch die Selbstverpflichtung getroffenen Maßnahmen nicht not- Gleichwohl betone ich auch: Sollte die Selbstver- wendigerweise ertragreich. Schließlich hat sich das Ver- pflichtung vonseiten der Deutschen Post AG nicht auf braucherverhalten mit Blick auf die Postdienstleistungen Punkt und Komma eingehalten werden, wird der Gesetz- gerade auch wegen des Wandels in der Kommunikati- geber unverzüglich eine Änderung des Postgesetzes und onstechnologie erheblich verändert. der Postuniversaldienstleistungsverordnung in die Wege leiten. Dann werden auf diesem Wege die von uns für Besonders hervorheben möchte ich die Einrichtung den Verbraucher gewünschten Verbesserungen als ge- regionaler Politikbeauftragter durch die Deutsche Post setzliche Regelungen festgeschrieben. AG. Deutschlandweit hat das Unternehmen 14 solcher Stellen eingerichtet, um eine flächendeckende Betreuung Die angemessene und effiziente Versorgung mit Post- (B) nach regionalen Besonderheiten zu gewährleisten. Ich dienstleistungen ist für die deutsche Wirtschaft und die (D) hatte in den vergangenen Tagen Gelegenheit, den für Bürgerinnen und Bürger in unserem Land von hoher meinen Wahlkreis zuständigen Beauftragten zu sprechen Wichtigkeit. Die unter der unionsgeführten Bundesregie- und nach den genauen Aufgaben dieser neu geschaffe- rung eingeleitete Privatisierung der Deutschen Post AG nen Position zu befragen. Bei Veränderungen einer sta- war daher ordnungspolitisch richtig und volkswirtschaft- tionären Einrichtung stellt die Post künftig drei Monate lich geboten. Der Erfolg gibt uns recht: Die Deutsche vor der geplanten Maßnahme das Benehmen mit der zu- Post AG ist ein Global Player, weltweit an der Spitze der ständigen Gemeinde her. Bei Änderungen im Briefkas- im Logistik- und Transportbereich. tennetz wird sie sich ebenfalls mindestens sechs Wochen mit den Gemeinden in Verbindung setzen. Ich finde es Die Deutsche Post AG ist für die Dauer der erteilten besonders wichtig, dass bei derartigen Entscheidungen Exklusivlizenz bis einschließlich 31. Dezember 2007 die Bürger als unmittelbar betroffene Verbraucher mit- verpflichtet, die erforderlichen Infrastruktureinrichtun- einbezogen werden. gen vorzuhalten und die dafür notwendigen Universal- dienstleistungen zu erbringen: Mit 13 514 stationären Schließlich garantiert das Unternehmen bis zum Ab- Einrichtungen, von denen 5 513 eigenbetriebene Filialen lauf der Exklusivlizenz, dass bundesweit etwa sind, übererfüllt die Deutsche Post AG die gesetzlichen 108 000 Briefkästen zur Verfügung stehen. Im Jahr 2007 Vorgaben von 12 000 Einrichtungen. Rund 8 400 Filia- wird diese Zahl unter Berücksichtigung der Nachfrage len werden an Pflichtstandorten gemäß den detaillierten überprüft. Die Deutsche Post AG stellt ebenso sicher, Vorgaben der Gemeinde-, Entfernungs- und Flächenre- dass die Briefkästen nicht vor der letzten angegebenen geln unterhalten. Die gesetzliche Vorgabe, nach der in Leerungszeit geleert werden. Damit ist eine Verlässlich- Deutschland in zusammenhängend bebauten Gebieten keit für die Verbraucher bezüglich der pünktlichen Zu- kein Bürger mehr als 1 000 Meter bis zum nächsten stellung gewährleistet. Sie verpflichtet sich, der Regulie- Briefkasten zurücklegen muss, wird derzeit mit einer rungsbehörde die notwendigen Informationen zu durchschnittlichen Entfernung von rund 500 Metern überlassen, damit diese die Einhaltung des Leistungsan- deutlich unterboten – bei rund 108 000 aufgestellten gebots überprüfen kann. Briefkästen. Die Selbstverpflichtung ist eine große Errungenschaft Dennoch hat es in den zurückliegenden Wochen und für die Kunden der Deutschen Post und damit für den Monaten erhebliche Verunsicherungen und Klagen aus Verbraucherschutz in Deutschland. Wegen der damit ge- der Wirtschaft und der Bevölkerung gegeben: Diese wonnen Verbraucherbindung ist die Selbstverpflichtung betreffen die von der Deutschen Post AG betriebene aber in erster Linie auch eine große Errungenschaft für Reduzierung der stationären Posteinrichtungen in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10595

(A) Richtung auf die vorgeschriebene Mindestanzahl von gungen einzelner Gemeinden geführt. Das konnte nun- (C) 12 000 Standorten, die Neugestaltung der vertraglichen mehr verbessert werden. Beziehungen zwischen den Postagenturunternehmen Die erreichten Verbesserungen im Service- und Leis- und der Deutschen Post AG sowie auch den in einem tungsumfang zeigen sehr deutlich: Politischer Druck, die nicht unerheblichem Umfang und zudem unangekündig- Androhung gesetzgeberisch zu handeln, hat gewirkt: Die ten Abbau von mehreren zehntausenden Briefkästen. Deutsche Post AG hat sich von sich aus verpflichtet, die Die Deutsche Post AG verstößt damit nicht gegen die geforderten Regelungen umzusetzen. Die gewählte Postuniversaldienstleistungsverordnung. Dennoch zeigt Form der Selbstverpflichtungserklärung hat eine rasche gerade dieses Vorgehen, dass der Gesetzgeber sehr ge- Verbesserung für den Verbraucher bewirkt und weitere nau darauf achten muss, das derzeit hohe Niveau der unnötige Bürokratisierung durch zusätzliche gesetzliche Versorgung mit Postdienstleistungen zu sichern: Änderungen verhindert. Mit Unterschrift unter die Selbstverpflichtungserklärung hat diese bereits Geltung Die postalische Versorgung im ländlichen, infrastruk- erlangt. Die Regulierungsbehörde für Telekommunika- turschwachen Raum darf nicht von weiteren Einschrän- tion und Post wendet bereits seit Anfang Mai die konkre- kungen negativ betroffen werden. Die deshalb in den ten Inhalte der Selbstverpflichtungserklärung an. unionsgeführten Bundesländern und auch in der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion geführte Diskussion über eine Kein Gesetz, keine Verordnung hätte so rasch zu einer gesetzliche Verschärfung, um eine schleichende Ab- Umsetzung und durchgreifenden Verbesserung geführt! senkung des Service- und Versorgungsniveaus zu ver- Weiteres zentrales Element, das die politische Zu- hindern, war notwendig und richtig. Letztlich nur der stimmung zu dem gewählten Weg überhaupt erst mög- politische Druck, auf gesetzgeberischem Wege einzu- lich gemacht hat: Die Bereitschaft der Deutschen Post schreiten, hat in kurzer Zeit dazu geführt, dass vonseiten AG, sich auch in all diesen Bereichen, die über die bishe- der Deutschen Post AG die Bereitschaft signalisiert rige Postuniversaldienstleistungsverordnung hinausge- wurde, die Forderungen der Unions-Bundesländer Hes- hen, der Überprüfung durch die Regulierungsbehörde für sen und Niedersachsen in einer Selbstverpflichtungs- Telekommunikation und Post mit allen entsprechenden erklärung umzusetzen. Kontrollrechten und umfassenden Informationspflichten Deutliche Verbesserungen konnten für den Kunden zu unterwerfen. Erst damit wird eine weit reichende erreicht werden. Unter anderem: Festschreibung der Absicherung der Inhalte der Verpflichtungserklärung er- deutschlandweit rund 108 000 Briefkästen. Ohne eine reicht. solche Festschreibung wäre es der Deutschen Post AG Lassen Sie mich zum Abschluss die wichtigsten noch möglich gewesen, circa weitere 30 000 bis 35 000 Brief- darüber hinausgehenden Forderungen kurz aufzählen: (B) kästen abzubauen. (D) Es ist sicherzustellen, dass flächendeckend in einem Definition der Öffnungszeiten: ganzjährig, an sechs vernünftigen Abstandsraster, das heißt nicht nur in über- Werktagen, orientiert an der Kundennachfrage und zu- geordneten Filialen, auch die über die Postuniversal- dem in Kleinstfilialen mindestens 50 Prozent über der dienstleistungsverordnung hinausgehenden Dienstleis- Nachfrage. Eine weitere Präzisierung der Mindestöff- tungen angeboten werden. Das betrifft insbesondere nungszeiten mit detaillierten Vorgaben für Werktage so- auch die Aufgabe von Massensendungen usw. wie Vormittags- und Nachmittagsöffnungszeiten wäre Es ist darauf hinzuwirken, dass in all den stationären unpraktikabel und würde zudem weiteren bürokratischen Einrichtungen Öffnungszeiten am Morgen vorgesehen Mehraufwand mit sich bringen. Insbesondere auch in sind, in denen Postschließfächer für Firmen vorhanden den ländlichen Regionen wäre es in der Praxis problema- sind. tisch, bei Postagenturunternehmen beispielsweise zu verlangen, auch an einem Mittwoch- oder Montagnach- Um den Wünschen vieler, insbesondere älterer Bürge- mittag geöffnet zu haben, während der restliche Laden rinnen und Bürger entgegenzukommen, soll die Deut- geschlossen ist. sche Post AG das zuletzt 1993 aufgelegte Postleitzahlen- buch zum Selbstkostenpreis bei Bedarf zur Verfügung Sicherstellung, dass die Leerungszeiten der Briefkäs- stellen. ten – insbesondere der letzten Leerung – eingehalten wird, – das heißt nicht verfrüht geleert wird. Der Kunde Für den Fall eines durch die Regulierungsbehörde für kann sicher sein, dass bis zum angegebenen Zeitpunkt Telekommunikation und Post festgestellten vorsätzli- jeder eingeworfene Brief noch abgeholt wird. chen oder fahrlässigen Verstoßes gegen die Zusagen der Selbstverpflichtungserklärung muss sich die Deutsche Verpflichtung der Deutschen Post AG, bundesweit in Post AG verpflichten, eine Strafzahlung von bis zu mindestens 12 000 Filialen alle Brief- und Paketbeförde- 500 000 Euro zu leisten. Die Festsetzung der Höhe der rungsdienstleistungen anzubieten. Vertragsstrafe erfolgt durch die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post nach pflichtgemäßem Er- Und letztens und besonders wichtig: Ausweitung der messen. Pflichtstandorte für stationäre Posteinrichtungen. Zu- künftig ist allein die Einwohnerzahl von 2 000 Personen Die kommenden Monate werden zeigen, ob sich die entscheidend, nicht mehr wie bisher der jeweilige Status Selbstverpflichtungserklärung bewährt hat oder ob doch der Gemeinde nach den unterschiedlichen Kommunal- das scharfe Schwert des Gesetzes zum Einsatz kommen verfassungen der Länder. Bislang hat das zu Benachteili- muss. Bei einem Erfolg könnte dies auch ein Signal sein 10596 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) für Bürokratieabbau und effizientes Verwaltungshan- Service wesentlich besser erreichen als mit staatlichen (C) deln! Monopolstrukturen. Ein gutes Beispiel für die positiven Folgen des Wett- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bewerbs im Postwesen sind die Kuriere – häufig auf dem Wir begrüßen die Selbstverpflichtung der Deutschen Fahrrad. In nur wenigen Jahren haben flexible Wettbe- Post AG zur kundenfreundlichen Bereitstellung von werber eine Vielzahl von innovativen Dienstleistungen Postdienstleistungen. Sie verbessert damit den Service hervorgebracht. Das hat auch das Unternehmen Post be- für die Verbraucherinnen und Verbraucher. flügelt und geholfen, Verkrustungen aufzubrechen. Wer von Ihnen vor einigen Jahren versucht hat, eine Sendung Die Selbstverpflichtung ist ein wichtiger Schritt in innerhalb eines Tages an einen beliebigen Ort Deutsch- Richtung mehr Verbraucherschutz bei Postdienstleistun- lands zu befördern, weiß um den Fortschritt. Diese breite gen. Die Kriterien zur Bestimmung der Anzahl von Auswahl an Dienstleistungen und Wettbewerbern brau- Filialen und die Vorgaben zu den Öffnungszeiten der chen wir auch in anderen Bereichen des Postmarktes. Filialen werden konkretisiert. Die Post garantiert bis zum Ablauf der Exklusivlizenz im Jahr 2007 den Betrieb Wir begrüßen es, dass Bundeswirtschaftsminister von bundesweit etwa 108 000 Briefkästen; sie geht da- Clement für die Bundesregierung kurzfristig mehr Wett- mit über ihre gesetzlichen Verpflichtungen hinaus und bewerb auch bei den vorbereitenden Diensten erklärt sichert das derzeitige Niveau. Die Gemeinden sollen hat. Wir brauchen im Jahr 2007 endlich die vollständige künftig von der Deutschen Post AG stärker in ihre Pla- Liberalisierung aller Postdienstleistungen in Europa. nungen zu Veränderungen des Postnetzes oder bei ihren Postfilialen einbezogen werden. Es ist dringend erfor- Die Deutsche Post AG ist heute eines der internatio- derlich, dass die Post ihre Kommunikation mit politisch nal führenden Logistikunternehmen. Sie braucht keine Verantwortlichen vor Ort deutlich verbessert. Es ist gut, Monopole mehr. Der Schutz eines Unternehmens vor dass die Post sich auch dazu bereit erklärt hat. Die Post Wettbewerb führt zu weniger Innovationsdruck und re- sollte dabei auch Verbraucherverbände, Bürgerinnen und duziert im Laufe der Zeit die Wettbewerbsfähigkeit. Bürger sowie örtliche Initiativen einbeziehen. Deshalb wäre es gut, den Börsengang mit einer klaren Perspektive zum Auslaufen des Monopols in Deutsch- Wir begrüßen es, dass die Post sich bereit erklärt hat, land zu verbinden. verlässlichere Öffnungszeiten für ihre Filialen in der Flä- che anzubieten. Dabei liegt es im Interesse der Allge- Rainer Funke (FDP): Die Deutsche Post AG hat mit meinheit, dass die an der Nachfrage orientierten, durch- ihrer Selbstverpflichtungserklärung Empfehlungen der gehend ganzjährigen Öffnungszeiten der stationären Regulierungsbehörde aufgegriffen und ist damit einer (B) Einrichtungen sich an den gewohnheitsmäßigen oder möglichen gesetzlichen Regelung zuvorgekommen. Das (D) ortsüblichen Öffnungszeiten zum Beispiel im Einzelhan- begrüße ich nachdrücklich. Ich freue mich, dass alle del orientieren. Die Post AG sollte auch für den mobilen Fraktionen des Deutschen Bundestages einer solchen Postservice entsprechende Qualitätszusagen machen. Selbstverpflichtung den Vorzug vor schärferen Eingrif- Natürlich werden wir die weitere Entwicklung genau fen in den Postmarkt geben. beobachten und die Post an den von ihr selbst gesteckten Ich möchte aber auch betonen: Wenn wir einer sol- Zielen messen. Sollte sie dahinter zurückfallen, so wür- chen Erklärung hier zustimmen, geben wir alle der Deut- den wir die Regelungen der Selbstverpflichtung in die schen Post AG einen gewissen Vertrauensvorschuss, den Postuniversaldienstleistungsverordnung aufnehmen. sie jetzt auch rechtfertigen muss. In der Vergangenheit waren wir ja mit den Reaktionen des Postkonzerns auf In ihrem Tätigkeitsbericht 2002/03 hat die Regulie- Anliegen der Politik nicht immer einverstanden. Ich er- rungsbehörde für Telekommunikation und Post unter innere an den mangelhaften Widerhall auf unseren ge- Bezugnahme auf Bürgereingaben und eigene Auswer- meinsamen Antrag zu den Postagenturen. Dennoch tungen einen umfangreichen Katalog klärungsbedürf- möchte ich manchen Kollegen hier im Hause sagen: tiger Sachverhalte aufgelistet, der deutlichen Handlungs- Eine Selbstverpflichtung ist eben kein Gesetz und kann bedarf erkennen lässt. Insbesondere die Empfehlungen deshalb nicht ohne weiteres sanktioniert werden. Und zum Umfang und Inhalt der Postdienstleistungen als das ist auch gut so; denn ordnungspolitisch dient ein sol- Universaldienstleistungen, zu den konkretisierenden ches Instrument immer dazu, Gesetze zu verhindern. Merkmalen der Briefbeförderung und zur Exklusivlizenz sind geeignet, Handlungsoptionen hinsichtlich der noch Gesetzliche Regelungen haben oft den Nachteil, dass unerfüllten Qualitätsanforderungen der Allgemeinheit sie über das Ziel hinausschießen und deshalb Marktent- aufzuzeigen. wicklungen – wenn auch manchmal nur im Kleinen – behindern. Insofern bin ich dankbar, dass wir derzeit auf Wir begreifen die Bereitstellung von Postdienstleis- besonders eifrige Gesetzestexter verzichten können. tungen als Leistung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Denn gerade die Post AG ist erfreulich gut im globalen für die der Staat natürlich eine Garantiefunktion hat. Die Dienstleistungs- und Logistikmarkt aufgestellt. Und das Postfiliale in der Nähe und nachfragegerechte Öffnungs- soll so bleiben. zeiten zählen genauso dazu wie ein dichtes Briefkasten- netz. Deshalb wollen wir einen klar definierten staatlich Das zeigt: Die Privatisierung des ehemaligen Staats- vorgegebenen Wettbewerbsrahmen. Durch einen solchen monopolisten, die einst auf den erbitterten Widerstand Wettbewerbrahmen lässt sich guter und verlässlicher der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gestoßen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10597

(A) ist, ist ein voller Erfolg. Es ist jetzt aber notwendig, mit Wir Sozialdemokraten haben den Aufbau der (C) der Privatisierung fortzufahren. Die Post AG muss von „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ immer unterstützt und fiskalisch motivierter politischer Einflussnahme tun dies auch weiterhin. Der jetzt vorliegende FDP-Ent- schnellstens befreit werden. Die weitere Privatisierung wurf ist von Anfang bis Ende vom rot-grünen Antrag aus des Aktienpaketes des Bundes bleibt aus ordnungspoliti- der letzten Legislaturperiode abgeschrieben. Einzig und schen Gründen geboten. Und die Post AG muss konse- allein die Zusammensetzung hat sich hier etwas geän- quent in den Wettbewerb gestellt werden, damit sie auch dert. Die SPD hat die von der FDP vorgeschlagene Zu- im eigenen Land für die internationalen Märkte fit ge- sammensetzung akzeptiert, um die Stiftung daran nicht macht wird. Deshalb möchte ich schon an dieser Stelle scheitern zu lassen. Heute wird der FDP-Antrag leider alle warnen, die gerade darüber nachdenken, wie sie die abgelehnt, weil die Finanzierung der Stiftung derzeit Exklusivlizenz der Post AG im Briefbereich noch einmal nicht möglich ist. In dieser Frage hat es keine Einigkeit verlängern können. Das wird auf den entschiedenen Wi- zwischen den Koalitionspartnern gegeben. derstand der Liberalen stoßen, weil das Briefmonopol mit Wettbewerb nichts zu tun hat, die Investitionen ande- Ausgesprochen verwunderlich ist aber der Kurswech- rer entwertet und die Verbraucher unnötig belastet wer- sel, den die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP von den. der vergangenen zur jetzigen Wahlperiode vollzogen ha- ben. Damals wurde vom Kollegen Carl-Ludwig Thiele Mit großem Interesse habe ich zur Kenntnis genom- (FDP) „eine Belastung der nächsten Haushalte in einer men, dass die Bundesregierung jetzt offensichtlich den Gesamtsumme von 15 Millionen Euro zur Finanzierung Verstoß des Postgesetzes gegen die Postliberalisierungs- des Stiftungskapitals der ,Magnus-Hirschfeld-Stiftung richtlinie beim Sammeln und Sortieren von Briefen „un- für absolut zu hoch“ gehalten. Dennoch wurde eine sol- verzüglich“ korrigieren will. Das ist zu begrüßen. Aller- che Belastung im eigenen Gesetzentwurf dann anschei- dings werden wir sehr genau darauf achten, dass mit nend doch für angemessen bewertet. Der Unterschied dieser Gesetzesanpassung keine neuen Hürden für den zwischen damals und heute: In der letzten Wahlperiode Wettbewerb im Postmarkt aufgebaut werden. Wenn wir waren die entsprechenden Gelder in den Haushalt einge- uns hier ähnlich einig sind wie bei der gemeinsamen stellt und das Gesetz scheiterte im Bundesrat. Diesmal Entschließung im Wirtschaftsausschuss zur Selbstver- sind die Gelder nicht eingestellt und es wurde auf eine pflichtung der Post, dann, aber nur dann sind wir auf ei- schnelle Abstimmung gedrängt. nem guten Weg. Nichtsdestotrotz, mein Angebot zur Zusammenarbeit, das ich Ihnen in der ersten Lesung dieses Gesetzes im Anlage 11 September letzten Jahres gemacht habe, wurde von Ih- (B) nen nicht angenommen. Vielmehr erscheint es mir doch (D) Zu Protokoll gegebene Reden so, als ob auf beiden Seiten einige Kollegen versucht ha- ben, die „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ für sich in An- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur spruch zu nehmen und zu ihrem ganz persönlichen Errichtung einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ Thema zu machen. Auch das ist ein Grund dafür, dass (Tagesordnungspunkt 31) das Gesetz und damit die Stiftung wieder einmal ge- scheitert ist! Johannes Kahrs (SPD): In den letzten Jahren sind in der Schwulen- und Lesben-Politik zahlreiche Fort- Die „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ ist vorerst ge- schritte gemacht worden. Dies konnte nur mit der SPD scheitert und ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, geschehen! Als offen bekennender Schwuler in der SPD- sie vielleicht doch noch zum Leben zu erwecken. Den- Fraktion begrüße ich diese Fortschritte ausdrücklich. noch muss auch jenseits dieser Frage noch viel getan werden für die Gleichberechtigung Homosexueller in Dennoch gibt es noch vieles zu tun, um Gleichberech- unserer Gesellschaft. tigung Homosexueller in unserer Gesellschaft zu ver- wirklichen. Ein Schritt in diese Richtung ist die Aufar- Wir Sozialdemokraten werden deshalb jetzt zusam- beitung des Unrechts, das Lesben und Schwulen in der men mit unserem Koalitionspartner in Kürze ein Zeit nationalsozialistischer Willkürherrschaft widerfuhr, Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz und ein Antidis- und das Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten. kriminierungsgesetz auf den Weg bringen. Die Hinter- Aber auch die wissenschaftliche Erforschung und Dar- bliebenenversorgung in der gesetzlichen Rentenversi- stellung homosexuellen Lebens in unserem Lande, eine cherung muss erfolgen. Die Angleichung des verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und die Förderung von Unterhaltsrecht und des ehelichen Güterrechts muss er- Bürger- und Menschenrechtsarbeit im In- und Ausland folgen. Eine Lösung für kindschaftsrechtliche Fragen leisten einen entscheidenden Beitrag. Alle Fraktionen muss gefunden werden. Und das sind nur einige Punkte. wollen, dass dem einstimmigen Beschluss dieses Hauses Es gibt noch viel zu tun! vom Dezember 2000 nun auch Genüge geleistet wird. Lassen Sie uns diese Vorhaben gemeinsam in Angriff Über Sinn und Zweck der Stiftung, denke ich, ist mitt- nehmen. Lassen Sie uns das vermeiden, was mit der lerweile alles gesagt, und es herrscht vor allem Einigkeit „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ geschehen ist. In der SPD darüber. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch davon sind wir bereit zu einer konstruktiven Zusammenarbeit, absehen, nochmals auf die Aufgaben der Stiftung einzu- damit in unserem Land Gleichberechtigung endlich auch gehen. für Homosexuelle gilt. 10598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE zu Fall gebracht worden. Ein „window of opportunity“ (C) GRÜNEN): Für Bündnis 90/Die Grünen war und ist die wurde damit mutwillig zugeschlagen. Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ein wichtiges Feld unserer Politik: das Bewahren der Er- 2004 sehen die finanziellen Rahmenbedingungen lei- innerung, die Würdigung der Opfer und vor allem auch der anders aus. Daher kann dem Gesetzentwurf heute die Entschädigung und die Unterstützung der überleben- nicht zugestimmt werden. den NS-Opfer. Vieles konnten wir hier schon bewegen. Für Bündnis 90/Die Grünen ist das Anliegen, die na- Ich nenne beispielhaft nur die Stiftung zur Entschädi- tionalsozialistische Verfolgung Homosexueller in Erin- gung für NS-Zwangsarbeit. nerung zu halten, damit natürlich nicht vom Tisch. Das zeigt schon der im Dezember 2003 auf Antrag der Aber immer noch gibt es offene Entschädigungsfra- Koalitionsfraktionen zustande gekommene Bundestags- gen, sowohl was die Individualentschädigung überleben- beschluss auf Errichtung eines Denkmals für die im der Opfer, als auch was die Frage einer kollektiven Ent- Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Die schädigung in Form einer Stiftung angeht. Umsetzung des Beschlusses ist in Arbeit. Mit diesem Die aktuelle Haushaltslage stellt uns leider vor die Si- Gedenkort wollen wir die verfolgten und ermordeten tuation, dass nicht alles Wünschenswerte auch gleichzei- Opfer ehren, die Erinnerung an das Unrecht wach halten, tig machbar ist. Von daher müssen Prioritäten gesetzt ein beständiges Zeichen gegen Intoleranz, Feindseligkeit werden. und Ausgrenzung gegenüber Schwulen und Lesben set- zen. Im Hinblick auf eine mögliche Stiftung, die einen kol- lektiven Ausgleich für die Gruppe der Homosexuellen Die Erforschung der Geschichte der Homosexuellen, darstellen soll, muss daher zuerst das Verhältnis zur indi- der Kampf gegen Diskriminierung von Lesben und viduellen Entschädigung heute noch lebender NS-Opfer Schwulen, die Unterstützung von Emanzipations-, Bür- geklärt werden. gerrechts- und Menschenrechtsarbeit im In- und Ausland sind und bleiben wichtige Aufgaben. Die rot-grüne Bun- Es sieht so aus, dass derzeit aus dem Bundeshalt nicht desregierung ist auf diesen Feldern vielfach engagiert. beides gleichzeitig zu haben ist – Maßnahmen zur Ver- Die Palette der Aktivitäten reicht vom entstehenden besserung der individuellen Entschädigung und ein kol- Denkmal bis hin zur Unterstützung schwul-lesbischer lektiver Ausgleich. Menschenrechtsaktionen im Rahmen der letzten UN- Menschenrechtskonferenz. Wir werden Wege finden, Wir sehen eine moralische Verpflichtung, jetzt noch diese Anliegen auch weiter zu befördern. mögliche Hilfen für überlebende Opfer des Nationalso- (B) zialismus vorrangig zu behandeln. Für Bündnis 90/Die (D) Grünen hat daher die Verbesserung von Leistungen für bislang nicht ausreichend entschädigte NS-Opfer Priori- Anlage 12 tät. Zu Protokoll gegebene Reden Es geht dabei in Deutschland beispielsweise um die zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- Gruppe der Zwangssterilisierten, denen schwerstes, le- zes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgeset- bensprägendes Unrecht zugefügt wurde, es geht um die zes (Tagesordnungspunkt 26) Gruppe der „Euthanasie“-Geschädigten und es geht auch um die heute noch lebenden Menschen, die im National- Uwe Beckmeyer (SPD): Vor sechs Jahren fiel die sozialismus wegen ihrer Homosexualität verfolgt wur- alte Marktordnung im deutschen Güterverkehrsmarkt. den. Das neue Güterkraftverkehrsgesetz war eine notwendige Es handelt sich um hochbetagte Menschen, die oft in Antwort auf die Schaffung der Dienstleistungsfreiheit im schwierigsten finanziellen Verhältnissen leben müssen. europäischen Binnenverkehr und die damit verbundene Wir bemühen uns um eine Verbesserung der Situation Freigabe der Kabotage. Ohne den Wegfall der nationalen dieser Menschen. Wir befinden uns dazu in intensiven Regulierungen, das heißt den Abschied vom System der Gesprächen mit dem Bundesfinanzministerium. Nach Kontingentierung und Konzessionierung und der Auf- dem aktuellen Stand der Gespräche sind wir sehr opti- spaltung des Gewerbes in Güternah-, Güterfern- und mistisch, dass hier in Kürze Beschlüsse für substanzielle Umzugsverkehr, hätten sich die deutschen Transporteure Verbesserungen zustande kommen. nicht dem grenzenlosen Wettbewerb stellen können. Je- des Unternehmen aus der EU und den Mitgliedstaaten Unsere Sorge ist, dass mit einem Beschluss über die des europäischen Wirtschaftsraums hätte unbeschränkt Stiftung diese notwendigen Verbesserungen blockiert Kabotageverkehre in Deutschland durchführen können, werden. Wir hatten daher die FDP gebeten, mit der Be- die Kontingentierung der Genehmigungen hätte aber schlussfassung über die Stiftung noch etwas zu warten, gleichzeitig den Zutritt zum offenen Markt für deutsche bis das Verhältnis zwischen kollektiver und noch verbes- Betriebe verschlossen. serungsbedürftiger individueller Entschädigung geklärt ist. Dem wollte die Opposition nicht folgen. Das ist Im neuen Güterkraftverkehrsrecht wird für die Zulas- schade. sung von Unternehmen als Anbieter von Transport- dienstleistungen auf Gemeinschaftsebene nur finanzielle Das Projekt einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ war Leistungsfähigkeit, fachliche Eignung und Zuverlässig- 2002 von CDU/CSU und FDP gemeinsam im Bundesrat keit vorausgesetzt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10599

(A) Aber eines ist auch richtig: Das Gewerbe wurde ins Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Güterkraft- (C) kalte Wasser geworfen. Nach der Deregulierung der verkehrsgesetzes dämmen wir illegale Beschäftigung europäischen und nationalen Märkte stand es vor einem und existenzbedrohende Geschäftspraktiken europaweit umfassenden Anpassungsprozess, der durch die Auswir- ein. Die Unternehmer sind verpflichtet, nur Fahrpersonal kungen der Globalisierung auf alle Teile der Logistik- aus Drittstaaten einzusetzen, die im Besitz einer gültigen kette aktuell noch verschärft wird. Die Liberalisierung Arbeitserlaubnis oder der europäischen Fahrerbescheini- des Transportmarktes hat in den zurückliegenden Jahren gung sind. Ausländische Fahrer müssen diese Unterla- einerseits zweifellos zu einem verbesserten Angebot, gen und ein Ausweispapier mitführen und den Kontroll- mehr Qualität, Produktivität und sinkenden Transport- berechtigten zur Prüfung vorlegen. kosten geführt. Andererseits gerieten viele Betriebe des heimischen Gewerbes aufgrund des nicht ausreichenden Daneben ergänzt der Entwurf die bestehende Pflicht Umfangs der Harmonisierung im sozialen, fiskalischen zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung durch die und technischen Bereich unter starken wirtschaftlichen Einführung einer Mindestversicherungssumme von Druck. 600 000 Euro. Damit können auch Schäden an hochwer- tigen Gütern abgedeckt werden. Seit der Einführung des neuen Güterkraftverkehrs- Die dritte bedeutende Neuerung betrifft den Transport rechts hat die Bundesregierung eine Vielzahl von Maß- landwirtschaftlicher Güter und Erzeugnisse. Wie bisher nahmen ergriffen bzw. sind Maßnahmen in Vorberei- finden die Vorschriften des Güterkraftverkehrsgesetzes tung, welche die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen keine Anwendung in der Landwirtschaft. Die Kontrolle, Transportgewerbes innerhalb der EU verbessern: ob im konkreten Fall ein Freistellungsgrund vorliegt Mit der Einführung der streckenbezogenen Maut für oder Transporte durchgeführt werden, die dem gewerbli- LKW ab 12 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht werden chen Bereich zuzuordnen sind, wird aber durch die buß- Wettbewerbsverzerrungen zulasten deutscher Betriebe geldbewehrte Pflicht zur Mitführung eines Begleitpa- deutlich reduziert, da alle Lastkraftwagen, die deutsche piers bei bestimmten landwirtschaftlichen Transporten Autobahnen befahren, von dieser Abgabe betroffen sind. erleichtert. Alle Fraktionen haben sich im Ausschuss für Verkehr, Damit verbunden ist – nach einer positiven Prüfung Bau- und Wohnungswesen für die Annahme des Gesetz- durch die EU-Kommission – die gesetzliche Zusage ei- entwurfs der Bundesregierung ausgesprochen. Es ist un- nes Harmonisierungsbeitrags in Höhe von 600 Millionen ser gemeinsames Ziel, die Wettbewerbsbedingungen für Euro. die Unternehmen des Güterkraftverkehrs einheitlich und fair zu gestalten. Fortschritte sind in den letzten Jahren (B) Die Steuer- und Abgabenbelastung der deutschen (D) Transportunternehmen wird durch die eingeleiteten Re- gemacht worden, weitere Anstrengungen werden folgen formen spürbar sinken. müssen.

Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzent- Renate Blank (CDU/CSU): Mit dem Gesetz werden wurf passt die Bundesregierung die Vorschriften des Gü- die Vorschriften des Güterkraftverkehrsgesetzes an die terkraftverkehrsgesetzes den seit März 2003 geltenden Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates EU-Verordnungen zur Einführung einer einheitlichen über die einheitliche europäische Fahrerbescheinigung Fahrerbescheinigung an. Die im Gesetz zur Bekämpfung für den Einsatz von Fahrpersonal aus Staaten, die nicht der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterver- Mitglied der Europäischen Union bzw. des europäischen kehr vom September 2001 getroffenen nationalen Maß- Wirtschaftsraums sind, im grenzüberschreitenden ge- nahmen haben diese positive Entwicklung auf europäi- werblichen Straßengüterverkehr und im Kabotagever- scher Ebene sicherlich befördert. kehr angepasst und damit die innerstaatlichen Vorausset- Durch die illegale oder missbräuchliche Beschäfti- zungen für die Ausgabe der Fahrerbescheinigung gung von Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Staaten, die auf geschaffen. Fahrzeugen von Unternehmen aus der EU oder dem Es wird also eine einheitliche europäische Fahrerbe- europäischen Wirtschaftsraum Transporte durchführen, scheinigung eingeführt! Die Fahrerbescheinigung wird können gesetzestreuen Unternehmen gravierende Wett- Unternehmen des gewerblichen Straßengüterverkehrs bewerbsnachteile entstehen. auf Antrag erteilt, die nachweisen müssen, dass sie Fahr- personal aus Staaten, die nicht der Europäischen Union Den Fahrern, vor allem aus Osteuropa, werden Bil- bzw. dem europäischen Wirtschaftsraum angehören, ge- liglöhne ohne jede soziale Sicherung gezahlt. Die Unter- mäß den in ihrem Niederlassungsstaat geltenden Rechts- nehmen sparen Personalkosten in erheblichem Umfang und Verwaltungsvorschriften beschäftigen. ein, sie können den Verladern Dumpingangebote vorle- gen und verdrängen seriöse Betriebe vom Markt. Außer- Das Gesetz regelt ferner auch neu die Vorschriften dem ist davon auszugehen, dass die schwarzen Schafe über die von einem Unternehmer des gewerblichen Stra- der Branche ihren Angestellten kaum zu erfüllende Vor- ßengüterverkehrs abzuschließende Haftpflichtversiche- gaben machen und sie unter schlechten Arbeitsbedin- rung. Weiter werden die Kontrollmöglichkeiten hinsicht- gungen einsetzen. Übermüdete und unter permanentem lich der Freistellung land- und forstwirtschaftlicher Zeitdruck stehende Fahrer stellen eine ernste Gefähr- Sonderverkehre von den Vorschriften des Güterkraftver- dung der Verkehrssicherheit dar. kehrs verbessert. Dies zum Inhalt des Gesetzentwurfes 10600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) der Bundesregierung, der im Ausschuss mit Änderungen grünen Ideologen von der Straße auf die Schiene stattfin- (C) einstimmig angenommen wurde. den soll, vollzieht sich in der Verlagerung der Transporte vom deutschen auf den ausländischen LKW. Während Lassen Sie mich aber auch einige Anmerkungen zum das Güteraufkommen unserer Fahrzeuge im Binnenver- deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe machen: Seit der kehr ständig sinkt, können die ausländischen Konkurren- Regierungsübernahme von Rot-Grün und mit der Ein- ten ein starkes Plus verzeichnen. führung der so genannten Ökosteuer haben sich die In- solvenzen im Gewerbe seit 1999 nahezu verdoppelt, Ein weiteres Ärgernis ist die Fortführung der wettbe- nämlich von rund 1 000 Insolvenzen in 1999 auf über werbsverzerrenden Subventionierung von Dieselkraft- 1 900 im Jahr 2003. Das ist ein trauriger Rekord und stoffen in Italien und Frankreich, die mit Zustimmung macht deutlich, dass Sie dem Gewerbe keine Aufmerk- der Bundesregierung in Brüssel genehmigt wurde! An- samkeit entgegenbringen. Auch liegen die Insolvenzen dere EU-Staaten mit noch niedrigeren Mineralölsteuer- im Gewerbe um ein Vielfaches höher als in allen anderen sätzen erhalten langfristige Übergangsregelungen weit Unternehmen. Das ist unter anderem auf die Einführung unterhalb der EU-Mindestbesteuerung in der Übergangs- der Ökosteuer, aber auch auf die Vernachlässigung des phase bis 2010. Deutschland sucht man im Katalog der deutschen Gewerbes zurückzuführen. vielen nationalen Ausnahmeregelungen vergeblich. Im krassen Gegensatz dazu überschreitet die Mineralölbe- Man denke nur an das Theater um die Einführung der steuerung in Deutschland bereits heute das für 2010 an- LKW-Maut! Jetzt erwägt das Bundesverkehrsministe- visierte Mindestniveau um 42 Prozent. rium sogar, am 1. Januar 2005 mit einer höheren LKW- Maut zu starten, als bisher geplant. Dies wäre ein krasser Nachdem nun die Änderung der §§ 7 b und 7 c des Verstoß gegen den Mautkompromiss im Vermittlungs- Güterkraftverkehrsgesetzes einstimmig den Bundestag ausschuss vom 21. Mai 2003. Wir hatten damals dafür passieren wird, gebe ich die Hoffnung im Interesse unse- gesorgt, dass die durchschnittlichen Mautsätze von ur- res deutschen Gewerbes nicht auf, dass wir vielleicht sprünglich 15 Cent auf 12,4 Cent pro Kilometer so lange doch noch zu einer gemeinsamen Lösung der von mir herabgesetzt wurden, bis der Verkehrsminister für das genannten Probleme kommen können. Denn jeder deut- deutsche LKW-Gewerbe ein Harmonisierungsvolumen sche LKW, der aufgrund der niedrigeren Kosten in ande- von 600 Millionen Euro jährlich von der EU-Kommis- ren europäischen Ländern ausflaggt, vergrößert das Loch sion genehmigt bekommt. Hintergrund war, dass die in der Kasse des Finanzministers pro Jahr um rund Wettbewerbsbedingungen im europäischen Güterkraft- 70 000 Euro. Zudem fährt kein einziger LKW weniger verkehrsgewerbe angeglichen werden sollten. Erst nach auf unseren Straßen, sondern nur mit einem anderen Erreichen dieses Harmonisierungsvolumens in Brüssel Kennzeichen. Im Interesse unseres deutschen Gewerbes (B) sieht der Mautkompromiss vor, dass die Mautsätze auf muss die Bundesregierung nun endlich handeln! (D) 15 Cent pro Kilometer angehoben werden dürfen. Nur unter dieser Voraussetzung haben damals die Bundeslän- Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Wir beraten heute der auch ihre Zustimmung zur Mauthöheverordnung im in zweiter und dritter Lesung die Neufassung des Güter- Bundesrat gegeben. kraftverkehrsgesetzes. Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung ändert das bestehende Gesetz in fol- Nun sollten eigentlich die Verhandlungen in Brüssel genden Punkten: Die Vorschriften werden an die Vor- zur Harmonisierung für das deutsche Güterkraftver- gaben des Europäischen Parlaments und des Rates über kehrsgewerbe endlich zum Abschluss gebracht werden. die einheitliche europäische Fahrerbescheinigung für Der Verkehrsminister kann sich aber anscheinend in den gewerblichen grenzüberschreitenden Straßengüter- Brüssel nicht durchsetzen, denn er hat die dringend not- verkehr angepasst. Damit soll der Einsatz von Fahr- wendige Harmonisierung dem Parlament und dem Ge- personal aus Staaten, die nicht der EU oder dem euro- werbe gegenüber bereits zum Ende des Jahres 2003 an- päischen Wirtschaftsraum angehören, geregelt und gekündigt. Es wäre nun wirklich an der Zeit, in Brüssel gleichzeitig die innerstaatlichen Voraussetzungen für die zu einem Ergebnis zu kommen, damit es mit dem deut- Ausgabe der Fahrerbescheinigungen geschaffen werden. schen Gewerbe nicht noch weiter abwärts geht. Es geht Die Vorschriften über die von einem Unternehmer des um Tausende von Arbeitsplätzen! gewerblichen Straßengüterverkehrs abzuschließende Deshalb ist es ein Skandal, wie gleichgültig und taten- Haftpflichtversicherung werden neu gefasst. Die Kon- los Verkehrsminister Stolpe den zunehmenden Schwie- trollmöglichkeiten hinsichtlich der Freistellung land- rigkeiten des mittelständischen Transport- und Spedi- und forstwirtschaftlicher Sonderverkehre von den Vor- tionsgewerbes gegenübersteht. Dort, wo eigentlich schriften des Güterkraftverkehrsgesetzes werden verbes- zupackende Durchsetzungskraft gefordert ist, versteht er sert. Die Zuständigkeiten des Bundesamtes für Güterver- sich als Moderator, der gerne plaudert und sich in Unver- kehr, BAG, werden ergänzt. bindlichkeiten ergeht. Damit muss endlich Schluss sein! Die Fraktion der CDU/CSU stimmt dem Gesetzent- Zu ernst steht es um einen Gewerbezweig, der in frühe- wurf der Bundesregierung zu. Gestatten Sie mir aller- ren Jahren weit über Deutschlands Grenzen hinaus Aner- dings, dass ich zu einzelnen Punkten ein paar Anmer- kennung und Bewunderung gefunden hat. Die von Rot- kungen mache. Grün betriebenen und ständig wachsenden Kostenbelas- tungen haben dazu geführt, dass der heimische LKW im- Der eigentliche Anlass für das Änderungsgesetz, mer weiter hinter die Auslandskonkurrenz zurückfällt. nämlich die Einführung der EU-Fahrerbescheinigung, Eine Verkehrsverlagerung, wie sie nach Vorstellung der findet im Gesetz nur geringen Niederschlag. Es ist aller- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10601

(A) dings davon auszugehen, dass aus Gründen der Rechts- der Vergangenheit so erfolgreich, weil die Landwirte da- (C) förmlichkeit ein Wiederholen unmittelbar anwendbaren durch in der Lage sind, ihre Produkte in Eigenregie ge- EU-Rechts nicht erforderlich ist. Die Einstufung von gen Aufschlag zu den Abnehmern zu bringen und Be- Verstößen gegen die Fahrerbescheinigung in dem Buß- darfsgüter selbst bei den Lieferanten abzuholen. geldrahmen bis 250 000 Euro ist konsequent und wird Allerdings müssen die Voraussetzungen der Freistellung von der Union ausdrücklich unterstützt. für die Überwachungsbehörden plausibel nachzuweisen sein. Denn inzwischen ist es immer häufiger der Fall, Mit der beabsichtigten Neufassung von § 7 a GüKG dass im Rahmen landwirtschaftlicher Verkehre erhebli- und der Neufassung der entsprechenden Ordnungs- che Beförderungsmengen transportiert werden, ohne widrigkeitentatbestände in § 19 Abs. 1 Nr. 6 a bis 6 d dass der Freistellungstatbestand tatsächlich erfüllt ist. wird gegenüber der heutigen Gesetzeslage ein deutliches Mehr an Rechtssicherheit geschaffen. Die Mindestver- Eine Kontrolle landwirtschaftlicher Sonderverkehre sicherungssumme von 600 000 Euro je Schadenereignis war nach der bisher geltenden Rechtslage nur sehr einge- ist dabei durchaus angemessen. Die Versicherungspflicht schränkt möglich. Durch die Anlehnung an den Nach- ist ein wichtiges Element zur Sicherung der gesetzlichen weis im gewerblichen Verkehr und mit der Einführung Haftung des Güterkraftverkehrsunternehmers. eines Begleitpapiers hat die Überwachungsbehörde nun Bei dem derzeitigen Kostendruck und der weitgehend alle Möglichkeiten, die Plausibilität einer freigestellten aufgezehrten Eigenkapitaldecke der deutschen Güter- Beförderung nachzuvollziehen. Dem Landwirt wird da- kraftverkehrsunternehmer führt nur eine gesetzliche Ver- gegen keine unzumutbare Bürokratie aufgebürdet, da be- sicherungspflicht dazu, dass eine materiell-rechtlich be- reits heute ein erheblicher Teil der Beförderungen im stehende Haftung auch solvent bedient werden kann. Falle des Einsatzes von großvolumigen Kraftfahrzeugen, Nach dem jüngsten Branchenbericht „Straßengüter- die nicht von der Kraftfahrzeugsteuer befreit sind, mit verkehr“ des Sparkassen- und Giroverbandes verfügen einem Begleitpapier durchgeführt werden. 56 Prozent der LKW-Unternehmen nicht mehr über ge- nügend Eigenkapital. Insgesamt ist nach diesem Bericht Die Erweiterung der Kontrollbefugnisse des BAG die Eigenkapitalquote auf knapp über 1 Prozent gesun- hinsichtlich der Vorschriften über die Ladung sowie der ken. Ohne Versicherungspflicht könnten insbesondere technischen Unterwegskontrolle ist sinnvoll. Das Recht die kleineren Unternehmen versucht sein, Versiche- des BAG, sich die Zulassungsdokumente des Fahrzeugs rungsprämien zu sparen; dies bedeutet, dass die Fracht- vorlegen zu lassen, ist ebenso notwendig wie das Recht, führerhaftpflicht nach einem größeren Schadenfall das bei nicht vorhandenen Sozialversicherungsausweisen Unternehmen zwangsläufig in die Insolvenz führen oder bei anderen Anhaltspunkten für ein illegales Be- schäftigungsverhältnis die Hauptzollämter zu informie- (B) wird. Dieses leicht vorhersehbare Ergebnis kann nicht (D) im Interesse des Güterkraftverkehrsgewerbes liegen und ren, um zeitnahe Betriebsprüfungen vorzunehmen. Diese erst recht nicht im Interesse der verladenden Wirtschaft, Meldungen werden auch heute schon durchgeführt. Aus die im Schadenfall mit Recht ihre Ansprüche auf Gründen der Rechtssicherheit ist es aber begrüßenswert, Schadenersatz geltend macht. wenn die Weitergabe dieser Informationen an die Zoll- behörden gesetzlich geregelt ist. Auch die Erstreckung der Versicherungspflicht auf Ansprüche wegen Schäden, die vom Unternehmer oder Alles in allem hat die Bundesregierung einen durch- seinem Repräsentanten leichtfertig und in dem Bewusst- aus ausgewogenen Gesetzentwurf vorgelegt, dem die sein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintritt, CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Fassung des Än- begangen werden, trägt die Union mit. Dies entspricht derungsantrags der Koalition zustimmt. den Vorgaben aus § 152 Versicherungsvertragsgesetz, der einen Ausschluss des Versicherers für vorsätzliche Schadenverursachungen vorsieht. Wenn dies für andere Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu- Haftpflichtversicherungen gilt, so sollte sich die Ver- gegeben, es fällt schon etwas schwer, eine Rede zu sicherungswirtschaft auch bei der Güterschadenhaft- einem Thema zu halten, bei dem ein Konsens zwischen pflichtversicherung mit dieser Regelung einverstanden allen Fraktionen des Ausschusses für Verkehr, Bau- und erklären können. Den Interessen der Versicherungswirt- Wohnungswesen erreicht wurde. Ich möchte zunächst schaft ist dadurch Rechnung getragen, dass eine Jahres- dem Kollegen Brunnhuber herzlich für die gute und kon- höchstersatzleistung sowie ein Selbstbehalt in den Ver- struktive Berichterstattung danken, die letztlich zu der sicherungspolicen festgeschrieben werden dürfen. einstimmigen Annahme des Gesetzentwurfes im Aus- schuss geführt hat. Die neu gefasste Regelung begrüßen wir ausdrück- lich. Sie bedeutet einen wichtigen Schritt zu einer besse- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf passen wir die ren Überwachbarkeit der landwirtschaftlichen Sonder- Vorschriften des Güterkraftverkehrsgesetzes an die EG- verkehre, die mit regulären Lastkraftwagen durchgeführt Verordnung 484/2002 des Europäischen Parlamentes werden. Die Freistellung der landwirtschaftlichen Son- und und des Rates über die einheitliche europäische derverkehre ist für die Landwirtschaft von großer Be- Fahrerbescheinigung an. Darüber hinaus werden die deutung. Das Güterkraftverkehrsgesetz hat deshalb be- Vorschriften zur Haftpflichtversicherung der Straßen- reits 1952 Beförderungen im Straßengüterverkehr, die in güterverkehrsunternehmen neu geregelt und die Kon- der Landwirtschaft üblich sind, von den Regelungen des trollmöglichkeiten hinsichtlich der Freistellung land- Gesetzes befreit. Diese Freistellungsregelungen waren in und forstwirtschaftlicher Sonderverkehre verbessert. 10602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) Ich bin der Meinung, dass diese Regelungen wichtig diese Papiere wird die Kontrollmöglichkeit des Bundes- (C) und notwendig sind, denn eines hat mit der Erweiterung amtes für Güterverkehr deutlich verbessert. Da heute be- der EU auf 25 Mitgliedstaaten sicherlich nicht aufgehört: reits viele Transporte, wie zum Beispiel die oben ge- der große Wettbewerbsdruck auf die Unternehmen des nannten Zuckerrübentransporte, mit Begleitpapieren Straßengüterverkehrs, der tendenziell eher noch zuneh- durchgeführt werden, hält sich auch der bürokratische men dürfte. Da ist die Verlockung bei dem einen oder Mehraufwand in Grenzen. anderen Unternehmen schon groß, sich durch illegale Beschäftigung und/oder Lohndumping einen Wettbe- Auf eines möchte ich noch aufmerksam machen. werbsvorteil zu verschaffen. Auch wenn es sich dabei Nach der Verordnung hätten wir bereits zum 19. März hoffentlich um Einzelfälle handelt: Wir müssen unser 2003 eine einheitliche europäische Fahrerbescheinigung vordringliches Augenmerk darauf richten, die seriösen einführen müssen. Es ist schon ärgerlich, dass wir offen- Unternehmen vor einer Verzerrung der Wettbewerbsbe- sichtlich immer wieder bei der Umsetzung von EU- dingungen zu schützen. Recht in nationales Recht hinterherhinken. Ich möchte da nur an die Debatte um das Kontrollgerätebegleitge- Durch die Anpassung der §§ 7 b und 7 c des Güter- setz erinnern, wo wir ähnliche Vollzugsdefizite festge- kraftverkehrsgesetzes an die europäische Rechtslage stellt hatten. Es wäre sicherlich besser gewesen, wenn schaffen wir jetzt die Voraussetzungen für die Ausgabe wir die Gesetzesänderung bereits vor der EU-Erweite- der Fahrerbescheinigungen. Damit müssen Unterneh- rung verwirklicht hätten. Aber man sollte die Hoffnung men des Straßengüterverkehrs auf Antrag nachweisen, nie aufgeben. Vielleicht gelingt uns ja beim nächsten dass ihr Fahrpersonal – falls es nicht aus der EU mal eine zügigere Umsetzung. stammt – gemäß den Rechts- und Verwaltungsvorschrif- ten des Niederlassungsstaates und damit nach EU-kom- patiblen Vorschriften beschäftigt wird. Diese Regelung Horst Friedrich (FDP): Die Änderung des Güter- fördert einen fairen Wettbewerb und hilft, schwarze kraftverkehrsgesetzes findet zu Recht die Unterstützung Schafe bei Kontrollen schnell ausfindig zu machen. aller Fraktionen. Die Gesetzesänderungen liegen eindeu- tig auch im Interesse unseres Transportgewerbes, das be- Dass hier Handlungsbedarf geboten ist, zeigte das Er- kanntlich europaweit schweren wettbewerbsverzerren- gebnis von 25 Betriebskontrollen, die durch das Bundes- den Benachteiligungen ausgesetzt ist. Die schwersten amt für Güterverkehr durchgeführt wurden. Sieben Fir- Benachteiligungen liegen im Bereich der Besteuerung, men führten in großem Umfang verkehrsrechtlich der hohen Abgabenbelastung und bürokratischen Aus- unzulässige Beförderungen durch deutschlandweit an- wüchsen im Standort Deutschland – aber darum geht es sässige Unternehmen aus. Dabei wurden 19 Ordnungs- hier nicht. Es ist in der Vergangenheit zu Missbräuchen (B) widrigkeitverfahren und fünf Bußgeldverfahren einge- in der Europäischen Union gekommen, indem eine (D) leitet; in einem Falle führte eine Betriebskontrolle sogar wachsende Zahl von nicht aus der Gemeinschaft stam- zu neun Festnahmen in insgesamt sieben beteiligten Un- menden Kraftfahrern von Transportunternehmen zu Be- ternehmen. Dieses Ergebnis muss ich wohl nicht näher dingungen beschäftigt wird, die nicht den nationalen und kommentieren, es zeigt deutlich die Notwendigkeit die- gemeinschaftlichen arbeitsrechtlichen Vorschriften ent- ser Gesetzesänderung. sprechen. Die Einführung der einheitlichen europäischen Fahrerbescheinigung ist damit eine wirksame Maß- Mit der Neuregelung der Höhe der Mindestversiche- nahme bei der Bekämpfung des Sozialdumpings, von rungssumme bei der Haftpflichtversicherung und einer dem das deutsche Transportgewerbe in besonderer Festlegung auf 600 000 Euro je Schadensereignis schaf- Weise nachteilig betroffen ist. Durch die Fahrerbeschei- fen wir ebenfalls eine Verbesserung der Wettbewerbsbe- nigung wird wirksam überprüft, ob bei Fahrern aus dingungen. In diesem Zusammenhang ist es von großer Drittländern, die für Arbeitgeber aus den Mitgliedstaaten Bedeutung, dass die Verbände des Güterkraftverkehrsge- im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätig sind, ein werbes dieser Regelung zugestimmt haben, da sie sich ordnungsgemäßes Beschäftigungsverhältnis vorliegt. mit ihren Erfahrungen aus der Praxis deckt. Diese Regelung zur europäischen Fahrerbescheinigung Bezüglich der Freistellung land- und forstwirtschaftli- ist seit dem 19. März 2003 in Kraft. Mit den Änderungen cher Sonderverkehre hat sich seit dem In-Kraft-Treten zum Güterkraftverkehrsgesetz, die wir hier beschließen, dieser Regelung vor 50 Jahren einiges in der Branche ge- werden wir die notwendigen Anpassungen an diese Ver- ändert. Damals ging es vor allen Dingen um die Freistel- ordnung schaffen. lung landwirtschaftlicher Betriebe, die noch in Eigenre- gie ihre Produkte wie zum Beispiel Zuckerrüben zu den Im Interesse der deutschen Transportwirtschaft müs- Abnehmern brachten bzw. sich ihre Bedarfsgüter selbst sen wir uns über eines im Klaren sein: Mit der Einfüh- abholten. Heute werden jedoch erhebliche Transport- rung der Fahrerbescheinigung werden keineswegs alle mengen bewegt, die im engeren Sinne der Regelung Wettbewerbsverzerrungen beseitigt, die durch den nicht mehr den Freistellungstatbestand erfüllen und da- Einsatz drittstaatenangehöriger Fahrer entstehen. Das her auch dem Gewerbe erhebliche Transportmengen ent- Problem liegt darin, dass andere EU-Staaten mit der Er- ziehen. teilung von Arbeitsgenehmigungen für drittstaatenange- hörige Fahrer wesentlich großzügiger umgehen als Mit der Einführung eines Begleitpapiers bzw. eines Deutschland. Hier ist eine Harmonisierung notwendig, sonstigen Nachweises im Falle des Einsatzes großvolu- um Nachteile für das deutsche Transportgewerbe abzu- miger Kraftfahrzeuge und einer Mitführungspflicht für bauen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10603

(A) Auch die neue Regelung über eine Mindestdeckung werden auch in Zukunft hart daran arbeiten, diesen Un- (C) von 600 000 Euro bei der Güterschadenhaftpflichtversi- ternehmern das Leben so schwer wie möglich zu ma- cherung ist sinnvoll. Mit deutlichen Prämienerhöhungen chen. wird nicht zu rechnen sein, denn schon jetzt sind viele Güterkraftverkehrsunternehmer mit einer Deckungs- Das gilt auch auf einem anderen Gebiet: Land- und summe von 1 Million Euro und mehr versichert. forstwirtschaftliche Beförderungen sind bislang von den Vorschriften des Güterkraftverkehrs ausgeschlossen. Schließlich geht auch die Verbesserung der Kontroll- Diese Freistellung macht Sinn. Sie hat sich bewährt und möglichkeiten hinsichtlich der Freistellung land- und deshalb bleibt sie bestehen. Mit der jetzigen Änderung forstwirtschaftlicher Sonderverkehre in die richtige des Güterkraftverkehrsgesetzes verbessern wir aller- Richtung. Es ist bisher immer wieder zu Missbräuchen dings die Möglichkeiten zur Überwachung dieser Frei- der GüKG-Freistellung gekommen und es hat sich he- stellung. Denn auch in diesem Bereich hat es in der Ver- rausgestellt, dass landwirtschaftliche Sonderverkehre in gangenheit Missbrauchsfälle gegeben. Auch dies ein ihrer rechtlichen Ausnahmesituation nur schwer zu über- Beitrag zur Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen. wachen sind. Es ist zu begrüßen, dass es diesbezüglich bereits zu einer Verständigung zwischen dem deutschen Neben der Stärkung des fairen Wettbewerbs trägt die- Transportgewerbe und dem Deutschen Bauernverband ses Gesetz auch zu einer Verbesserung der Verkehrssi- gekommen ist. cherheit bei. So werden zum Beispiel dem BAG neue Prüfungskompetenzen bei der Ladungssicherung und der „technischen Unterwegskontrolle“ von Lastkraftwagen Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim übertragen. Das entspricht langjährigen Forderungen Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen: von Experten, etwa des Deutschen Verkehrsgerichtsta- Der vorliegende Gesetzentwurf schafft die Vorausset- ges. Damit tragen wir dazu bei, dass die von Bund und zungen für die Ausgabe der einheitlichen europäischen Ländern gemeinsam durchgeführten Kontrollen des Fahrerbescheinigung für den Einsatz von Personal aus Schwerlastverkehrs noch effizienter werden. Gerade in Staaten, die nicht Mitglied der Europäischen Union bzw. diesem Bereich ist diese enge Zusammenarbeit unver- des europäischen Wirtschaftsraums sind. Sie gilt im zichtbar. grenzüberschreitenden und gewerblichen Straßengüter- verkehr sowie im Kabotageverkehr. Außerdem werden Die Stellungnahme des Bundesrates vom 2. April mit dem Entwurf die Vorschriften über die im gewerbli- 2004 belegt einen breiten Konsens zwischen Bund und chen Straßengüterverkehr abzuschließenden Haftpflicht- Ländern hinsichtlich der Zielsetzung dieses Gesetzent- versicherungen neu geregelt. Zu guter Letzt werden wurfes. Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderun- noch die Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der Freistel- gen finden fast ausnahmslos auch die Zustimmung der (B) lung land- und forstwirtschaftlicher Sonderverkehre ver- Bundesregierung. Lassen Sie uns diese Zusammenarbeit (D) bessert. im Interesse des deutschen Gewerbes und aller vom Gü- terkraftverkehr betroffenen Verkehrsteilnehmer auch in Dieses Paket ist ein Beitrag zu fairen Wettbewerbs- Zukunft einvernehmlich fortsetzen. bedingungen in Europa. Das deutsche Güterkraftver- kehrsgewerbe wird davon profitieren. Das betrifft insbe- sondere die Bekämpfung der illegalen Beschäftigung Anlage 13 und des Sozialdumpings im gewerblichen Straßengüter- verkehr. Amtliche Mitteilungen Die Bundesregierung setzt damit ihren Kampf gegen Der Bundesrat hat in seiner 800. Sitzung am 11. Juni unfaire Wettbewerbspraktiken zum Wohl des deutschen 2004 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- Gewerbes fort. Wir haben ihn bereits vor drei Jahren, am stimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 6. September 2001, mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Grundgesetz nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge- illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftver- mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen: kehr begonnen. Das war damals echte Pionierarbeit, weil wir mit diesem Gesetz wesentliche Regelungen der euro- – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2003/87/EG päischen Fahrerbescheinigung bereits vorwegnahmen. über ein System für den Handel mit Treibhausgas- Diese Entschlossenheit hat die Beratungen in Brüssel zur emissionszertifikaten in der Gemeinschaft Einführung der Fahrerbescheinigung beschleunigt. Des- – Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtli- halb wird die europäische Regelung von der Bundes- chen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen regierung heute auch ausdrücklich begrüßt. und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz – Aber jedes Gesetz ist nur so gut wie die Überwachung AltEinkG) seiner Einhaltung. Die gezielten Straßenkontrollen und – Drittes Gesetz zur Änderung des Tierseuchenge- Betriebsprüfungen des Bundesamtes für Güterverkehr, BAG, in Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden der setzes Länder haben hier sehr viel Gutes geleistet. Sie haben – Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung bereits zahlreichen Güterkraftverkehrsunternehmen, die und anderer Gesetze sich durch den illegalen Einsatz von Arbeitnehmern un- gerechtfertigte Wettbewerbsvorteile verschaffen wollten, – … Strafrechtsänderungsgesetz – § 201 a StGB (… das Handwerk gelegt. Die Kontrollbehörden des Bundes StrÄndG) 10604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004

(A) – Gesetz zur Neuordnung der Gebühren in Handels-, – Finanzierungssicherheit beim Straßenbau – Bun- (C) Partnerschafts- und Genossenschaftsregistersachen desstraße 3 (Ortsumgehung von Friedberg) auf (Handelsregistergebühren-Neuordnungsgesetz – Drucksache 15/3131 HRegGebNeuOG) – Finanzierungssicherheit beim Straßenbau – Bun- – Gesetz zur Ausführung der im Dezember 2002 desstraße 45 (Ortsumgehung von Höchst im vorgenommenen Änderungen des Internationalen Odenwald) auf Drucksache 15/3132 Übereinkommens von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und des Internatio- – Finanzierungssicherheit beim Straßenbau – Aus- nalen Codes für die Gefahrenabwehr auf Schiffen bau von zwei Teilstücken der Bundesstraße 49 auf und in Hafenanlagen sechs Fahrstreifen westlich von Weilburg auf Drucksache 15/3133 – Gesetz zur Sicherung von Verkehrsleistungen (Ver- kehrsleistungsgesetz – VerkLG) – Finanzierungssicherheit beim Straßenbau – Bun- desstraße 277 (Ortsumgehung von Haiger) auf – Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuchs an EU- Drucksache 15/3134 Richtlinien (Europarechtsanpassungsgesetz Bau – EAG Bau) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben – Gesetz zu dem Abkommen vom 27. März 2003 mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den der Republik Tadschikistan zur Vermeidung der nachstehenden Vorlagen absieht: Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Auswärtiger Ausschuss – Gesetz zu dem Abkommen vom 3. März 2003 zwi- schen der Regierung der Bundesrepublik – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- Deutschland und der Regierung der Republik mentarischen Versammlung der NATO Türkei über die Zusammenarbeit bei der Be- über die Herbsttagung der Parlamentarischen Ver- kämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeu- sammlung der NATO vom 7. bis 11. November 2003 in Orlando, USA tung, insbesondere des Terrorismus und der Or- ganisierten Kriminalität – Drucksachen 15/2463, 15/2790 Nr. 1 – (B) – Gesetz zu dem Internationalen Maasübereinkom- (D) men vom 3. Dezember 2002 Finanzausschuss – Gesetz zur Änderung der Regelungen über Alt- – Unterrichtung durch die Bundesregierung schulden landwirtschaftlicher Unternehmen und Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Er- anderer Gesetze wachsenen und Kindern für das Jahr 2005 (Fünfter Existenzminimumbericht) Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- – Drucksachen 15/2462, 15/2630 Nr. 1.1 – ßung gefasst:

Der Bundesrat sieht in dem Gesetz zur Änderung der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Un- ternehmen einen Kompromiss zwischen den verschiede- – Unterrichtung durch die Bundesregierung nen Interessenlagen. Der Bundesrat stellt fest, dass es Innovationen und Zukunftstechnologien im Mittel- auch im Interesse der Planungssicherheit der betroffenen stand – Hightech-Masterplan landwirtschaftlichen Unternehmen in Ostdeutschland – Drucksache 15/2551 – liegt, eine abschließende Lösung der Altschuldenfrage herbeizuführen. Der Bundesrat geht dabei davon aus, dass es im Zusammenhang mit der Neuausrichtung der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik für einzelne Unternehmen zu Union teilweise erheblichen Belastungen kommen kann. Vor diesem Hintergrund bittet der Bundesrat die Bundesre- – Unterrichtung durch die Bundesregierung gierung, bei der Durchführung der Ablöseregelung die Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen gravierenden Gewinnänderungen auch der Wirtschafts- zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Eu- jahre, die durch den vorgesehenen Prognosezeitraum für ropäischen Parlaments 2003 die Ermittlung zukünftiger Zahlungen (fünf Jahre nach – Drucksachen 15/2547, 15/2630 Nr. 1.3 – Inkrafttreten des Gesetzes) nicht mehr erfasst werden, zu berücksichtigen. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Der Abgeordnete Bernd Siebert hat jeweils mit Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Schreiben vom 25. Mai 2004 mitgeteilt, dass folgende Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Gruppenanträge zurückgezogen werden: tung abgesehen hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Juni 2004 10605

(A) Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (C) Landwirtschaft Drucksache 15/2447 Nr. 2.19 Drucksache 15/2447 Nr. 2.44 Drucksache 15/3023 Nr. 2.16 Drucksache 15/2519 Nr. 1.5 Drucksache 15/3023 Nr. 2.25 Drucksache 15/2519 Nr. 2.45 Drucksache 15/3023 Nr. 2.27 Drucksache 15/2636 Nr. 2.15 Drucksache 15/2711 Nr. 2.14 Drucksache 15/2793 Nr. 2.10 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 15/2793 Nr. 2.13 Drucksache 15/3023 Nr. 2.2 Drucksache 15/2793 Nr. 2.15 Drucksache 15/3023 Nr. 2.7 Drucksache 15/2793 Nr. 2.19

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Rechtsausschuss Reaktorsicherheit Drucksache 15/2447 Nr. 2.45 Drucksache 15/2793 Nr. 2.8 Drucksache 15/2636 Nr. 2.9 Drucksache 15/2793 Nr. 2.16 Drucksache 15/2636 Nr. 2.10 Drucksache 15/2793 Nr. 1.1 Drucksache 15/2793 Nr. 1.2 Drucksache 15/2793 Nr. 1.3 Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksache 15/2793 Nr. 2.7 Technikfolgenabschätzung Drucksache 15/3023 Nr. 2.21 Drucksache 15/3023 Nr. 2.22 Finanzausschuss Drucksache 15/3023 Nr. 2.23 Drucksache 15/2895 Nr. 1.4 Drucksache 15/2895 Nr. 1.7 Drucksache 15/2895 Nr. 1.8 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Drucksache 15/2895 Nr. 2.7 Entwicklung Drucksache 15/2793 Nr. 2.27 Drucksache 15/2793 Nr. 2.40 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/2793 Nr. 2.41 Drucksache 15/3023 Nr. 2.4 Drucksache 15/3023 Nr. 2.6 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/3023 Nr. 2.11 Drucksache 15/3023 Nr. 2.13 Drucksache 15/1613 Nr. 1.40

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980