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Sendung vom 23.05.2003, 20.15 Uhr

Helmuth Lohner Ehemaliger Intendant Theater in der Josefstadt im Gespräch mit Isabella Schmid

Schmid: Herzlich willkommen zu Alpha-Forum. Unser Gast heute ist Helmuth Lohner, Schauspieler, Regisseur und Intendant. Ich freue mich, dass Sie bei uns sind. Als Sie 1997 das Theater in der Josefstadt übernommen haben, sind damit auch ganz neue Aufgaben auf Sie zugekommen. Als Schauspieler beschäftigt man sich ja nur mit der reinen Kunst, da aber ging es nun plötzlich um Finanzen, um Verwaltung usw. Warum haben Sie gesagt, "Das tue ich mir noch einmal an"? Lohner: Nun, das kam recht plötzlich. Ich war in Hamburg und bei mir waren freie Tage immer schon verhängnisvoll: Da hat es immer schon so furchtbare Entschlüsse gegeben. Ich bin ja zeitlebens ein ziemlicher Frühaufsteher und ich ging damals ziemlich in der Früh rund um die Alster in Hamburg und dachte ein wenig nach. Plötzlich kam mir in den Sinn, dass nun alle Kollegen in meiner Generation ein Theater leiten: der Jürgen Flimm, der Peter Stein, der Klaus Peymann usw. Ich dachte mir also, dass ich das doch auch mal machen könnte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits erfahren, dass der die Josefstadt verlassen wird. Ich habe daraufhin also ein Brieflein an den Wiener Bürgermeister geschrieben, dass ich das gerne machen würde. Ich hatte diesen ganzen Brief aber am nächsten Tag schon wieder vergessen. An einem der nächsten Tage stand dann aber plötzlich am Abend nach der Vorstellung ein Blumenstrauß vor meiner Tür mit einem "Einverstanden". Geschickt hatte diesen Blumenstrauß der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk. Daraufhin bin ich nach Wien gefahren und habe dort einen Vertrag unterschrieben. Nach zwei, drei Tagen haben ich dann aber erst gemerkt, was ich mir damit angetan hatte. So lief jedenfalls das Ganze ab. Es gab in meinem Fall nicht, wie es heute üblich ist, diese Abstimmungen und Auswahlverfahren. Bei mir war das alles nicht so. Ich muss aber sagen, dass ich nicht irgendwelche Beziehungen benutzt hätte: Denn diese besonderen Beziehungen hatte ich ja gar nicht. Ich war nämlich bis dahin in Wien gar nicht zu Hause. Ich bin zwar dort geboren und habe auch schon am gespielt, aber Wien war zu diesem Zeitpunkt dennoch nicht mein "fester Heimatboden". Schmid: Ihr Vorgänger, Otto Schenk, hatte ein gut besuchtes Haus, aber möglicherweise in finanziellen Dingen kein sehr glückliches Händchen. Hat man daher von Ihnen erwartet, dass Sie dort zuerst einmal quasi aufräumen, Leute entlassen und billig spielen? Kamen da keine Berater zu Ihnen und haben Ihnen gesagt, wie Sie das machen müssen? Lohner: Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, in finanzieller Hinsicht ist die Sache bei mir in den ersten zwei Jahren sogar noch ärger geworden: Wenn man so etwas macht, wenn man so ein Amt antritt, dann muss man doch versuchen, Träume, Theaterträume zu verwirklichen. Die Inszenierungen von , Peter Stein oder Günter Krämer gingen natürlich ziemlich ins Geld, das stimmt schon, weil das eben auch mit Gästen usw. verbunden war. Man stand dann da und hatte zwar ein ausverkauftes Haus, denn die Auslastung war wirklich sensationell, aber man hatte doch in finanzieller Hinsicht mit vielem nicht gerechnet. Nun geht es aber wieder seit ein paar Jahren und so bin ich in der glücklichen Lage – das ist aber kein Stolz oder so –, ein komplett schuldenfreies Theater zu übergeben. Dennoch haben wir die größtmögliche Auslastung, die überhaupt denkbar ist. Schmid: Das Theater in der Josefstadt hat ja auch viele Abonnenten und viele treue Besucher. Dennoch haben Sie bei Ihrem Antritt gesagt, dass Sie dort schon auch ein bisschen andere Sachen machen wollen: "Die Leut' müssen sich auf etwas anderes einstellen!" Es wurde dann auch zum ersten Mal Thomas Bernhard im Theater in der Josefstadt aufgeführt, ebenso wie ein Stück von Friederike Roth. Das war in der Tat etwas Neues für die Leute. Lohner: Natürlich hat es daraufhin auch Abonnementkündigungen gegeben. Aber heute ist es doch wieder so, dass eine ziemlich lange Warteliste für Abonnements besteht. Diese Liste ist natürlich nicht so lange wie bei den Wiener Philharmonikern, wo man ja auf einer Warteliste steht, bei der man an die 200 Jahre alt werden müsste, um ein Abonnement für die philharmonischen Konzerte zu bekommen. Wir haben jedenfalls eine ziemliche Warteliste. Ich bin noch verantwortlich für dieses Theater bis zum 31. August 2003 und im Grunde ist dann das Ganze für mich eigentlich erledigt. Schmid: Sie haben gesagt, dass bei dem Stück von Friederike Roth auch einige ihr Abonnement gekündigt hätten. Wie weit muss man denn da gehen? Was muss man dem Zuschauer zumuten können? Inwieweit muss da einfach auch mal etwas Neues passieren? Lohner: Dieses Stück von Friederike Roth erschien mir ziemlich logisch. Ich wollte einfach unbedingt, dass Günter Krämer in Wien inszeniert. Wir haben uns dann auf die Friederike Roth geeinigt und ich halte das noch immer für ein gutes Stück mit hervorragenden Rollen. Bei einem Theaterstück waren bei mir eh immer die Rollen das Entscheidende: Ich kann die Qualität eines Theaterstücks nicht anders bewerten als danach, dass in ihm gute Rolle für die Kollegen vorhanden sind. Ich selbst habe mich dabei natürlich immer in den Hindergrund gestellt: Ich habe mich also nie selbst besetzt, darauf kann ich stolz sein, wobei ich aber sagen muss, dass "Stolz" für mich eigentlich ein völlig fremdes Wort ist: Ich habe das daher nur als Floskel gemeint. Die Qualität eines Stückes besteht für mich jedenfalls in der Qualität der Rollen. Schmid: Inwieweit kann denn das Theater heutzutage Ihrer Meinung nach noch provozieren? Lohner: Gott sei Dank leben wir ja nicht in Zeiten, in denen man das Theater zur politischen Provokation bräuchte. Ich habe mit dem polnischen Regisseur Konrad Swinarski z. B. selbst zwei Stücke gemacht. Er sagte mir, dass es in Polen eine Zeit, eine politische Zeit, gegeben hat, in der man "Richard III." nicht hätte spielen können. Dasselbe Problem hat es ja z. B. auch im so genannten Dritten Reich gegeben, das ich selbst als Kind teilweise ja noch miterlebt habe. Auch damals war "Richard III." im Berliner Staatstheater ein großer Skandal. Die Legende sagt, dass Gustav Gründgens um das Leben des zuständigen Regisseurs – ein Großer des Theaters, nämlich Jürgen Fehling – fast auf Knien hätte bitten müssen. Solche Zeiten wollen wir doch bitte schön nicht mehr haben. Man kann aber geistig provozieren, das gibt es in der Tat. So sehr jeder Theaterabend ein Fest sein sollte, sollte er auch anregen zur Diskussion: So weit soll man also provozieren, zur günstigen wie zur negativen Stellungnahme. Ein Theaterabend soll verschiedene Meinungen provozieren und nicht nur eine. Ich selbst kann davon ja ein Lied singen: Ich habe in meinem ganzen Schauspielerleben eigentlich nie durchgängig gleichmäßig gute Kritiken erhalten. Oft war es so, dass ich gleichzeitig verdammt und geküsst wurde. Der eine Kritiker wollte mich am liebsten in den nächsten Mistkübel werfen, während mich der andere auf einen Sockel gestellt hat. So war es bei mir immer. Aber das hat mich nie gegrämt: Ich habe nie verlangt, dass mich alle gerne haben müssen. Vor dieser Hochmütigkeit habe ich mich also selbst bewahrt. Schmid: Wenn es nach einem Stück noch Diskussionen gibt, dann ist das für einen Intendanten doch eigentlich toll, oder? Lohner: Ja, ja, wenn Sie diese Art von Provokation meinen. Aber politisch provozieren kann man doch heute gar nicht mehr. Es gibt natürlich schon auch heute noch Länder, in denen das möglich und notwendig ist. Es gibt heutzutage natürlich schon auch einige, die ihr Provokationsbedürfnis damit stillen, dass sie sich meinetwegen über Religionen lustig machen oder die verschiedenen Religionen zu provozieren versuchen usw. Aber das ist doch auch nichts Neues. Schmid: Ist das Theater daher Ihrer Meinung nach bei uns unpolitisch? Lohner: Das Theater ist immer politisch: Es gibt kein unpolitisches Theater. Es wird auch immer politisch sein. Nehmen Sie als Beispiel jemanden wie Bertolt Brecht: Er hat nie ein so politisches Lied geschrieben wie z. B. dieses bayerische Volkslied, in dem von der "Patrona Bavariae" gesungen wird. So etwas ist viel politischer gewesen als jegliche politische Provokation von Brecht. Schmid: Sie selbst sind ja in Ottakring geboren, in einem Arbeiterviertel in Wien, und haben dann dort an der Arbeiterhochschule die Matura, also das Abitur gemacht. Lohner: Na ja, das ist doch kein Verdienst, um Gottes Willen. Schmid: Würden Sie sagen, dass Sie dieses Viertel, diese Herkunft geprägt hat, dass Sie das auch politisch geprägt hat? Lohner: Nun ja, ich komme aus einer Familie, in der der Vater Sozialdemokrat und in der die Mutter Sozialdemokratin gewesen ist. Wie sie den Krieg und die Zeit des Nationalsozialismus gemeistert haben, weiß ich nicht. Auf jeden Fall haben sie diese Zeit überlebt. Mein Vater allerdings nicht sehr lange. Aber ich kann mir ehrlich gesagt keine andere Ideologie vorstellen, die mich durch mein Leben begleitet hätte. Ich war mein Leben lang mehr oder weniger – so weit ich ihn verstanden habe – ein Kantianer. Ich habe natürlich auch Karl Jaspers verehrt, wie es sich für unseren Beruf gehört. Den nötigen Pessimismus fürs Leben habe ich von Schopenhauer bezogen. Ich hatte jedenfalls nie Probleme mit meiner Herkunft – höchstens zeitweise. Man wird ja durch das Leben begleitet von blödsinnigen Sätzen und kommt dann im Laufe dieses Lebens immer mehr darauf, dass die Dummheit eigentlich keine Grenzen hat. Eine der wichtigsten Erkenntnisse des Lebens besteht darin, dass man genau mit dieser Dummheit immer zu rechnen hat. Alles Kluge ist dann nur noch eine große Überraschung. Schmid: Sie haben gesagt, dass Ihre Eltern im Krieg sehr gelitten haben: Ihr Vater kam dann ja auch sehr krank aus dem Krieg zurück. Schien es irgendwie vermessen, dass der Sohn dann Schauspieler werden will? Lohner: Ich hatte bei meinen Eltern nie Probleme damit. Ich habe einfach gesagt, dass ich das machen möchte, und ich war dann ja auch schon sehr früh weg von zu Hause. Ich war überhaupt immer schon sehr früh ein selbständiger Mensch. Als wir Kinder waren, war gerade Kriegsende: Jedes von uns Straßenkindern hatte da auf sich selbst zu achten. Das war natürlich eine gute Schule, obwohl uns solche Dinge damals natürlich nicht bewusst waren, denn auch wir hatten selbstverständlich den Kopf voller Blödheiten. Genau auf diese Weise ist mir dann ja auch mein erster Theaterbesuch in die Quere gekommen: Das hat mich sehr bewegt damals. Schmid: Was war das für ein Stück? Wissen Sie das noch? Lohner: Ja, das weiß ich durchaus noch. Das war die "Tosca" in der Volksoper. Das erste Sprechtheaterstück war dann die "Sappho" von Grillparzer. Dies hat mich dann aber nicht sehr beglückt, weil ich das ganze Stück über darauf gewartet habe, dass nun endlich das Orchester kommt. Ich konnte mir nämlich Theater ohne Musik gar nicht vorstellen. Ich war wirklich zutiefst enttäuscht, als der Vorhang aufging und die Schauspieler gesprochen und nicht gesungen haben. Gut, es wurde damals aber insgesamt schon noch genug gesungen auf dem Theater. Schmid: Sie sind also durch das Musiktheater sehr beeinflusst worden. Wollten Sie eigentlich ursprünglich zur Oper? Lohner: Ja, aber Gott sei Dank war ich immer selbstkritisch genug: Ich hatte einfach keine schöne Stimme, mit der ich reüssieren hätte können. Meine Operngötter, bzw. -göttinnen waren die Schwarzkopf, die Jurinac, die Irmgard Seefried usw. Bei den Sängern haben mich merkwürdigerweise immer die Baritone beeindruckt wie z. B. der Hans Hotter, der Cesare Siepi oder der George London. Das waren die großen Eindrücke meines Lebens überhaupt. Dazu zählen auch die Dirigenten, die ich alle erleben durfte. Das ist wirklich das Wichtigste, das ich meiner Vaterstadt Wien verdanke: diese Musikerziehung. Ich war, so weit es die Zeit erlaubt hat, fast jeden Abend auf dem Stehplatz in der Oper. Die Oper war damals noch im Theater an der Wien ausquartiert: Ich war dort immer im zweiten Rang auf der rechten Seite. Dort hat es so ein kleines Podest gegeben, auf das ich mich gestellt habe. Man musste ja oft stundenlang selbst für so eine Karte anstehen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir uns für die Meistersinger-Premiere von Furtwängler 24 Stunden lang angestellt haben. Teilweise haben wir uns dabei auch abgelöst: Der eine ist dann meinetwegen einen Kaffee trinken oder eine Semmel essen gegangen. Ich kann Ihnen jedenfalls gar nicht sagen, wie wichtig das für mich gewesen ist – speziell diese Premiere der "Meistersinger". Schmid: Musik ist ja immer auch ein Teil Ihres Berufs geblieben. Lohner: Ja, das war immer so. Schmid: Sie haben Operetten inszeniert und Sie haben Soloprogramme mit Couplets gemacht. Sie haben also die Musik immer integriert. Lohner: Ja, immer. Sie haben die Operetten angesprochen: Ich glaube, dass Offenbach eigentlich keine Operetten geschrieben hat. Er selbst nannte sie ja immer Opera buffa. Das waren jedenfalls keine Operetten, denn "Operette" heißt ja eigentlich "kleine Oper", wenn man es übersetzt. Schmid: Die Leidenschaft für die Musik hat Sie also Ihr ganzes Leben lang begleitet? Lohner: Ja, und sie beginnt jetzt sogar wieder stärker zu werden. Schmid: Was heißt das? Lohner: Nach dem Abschied von der Josefstadt und mehr oder weniger auch vom Beruf des Schauspielers werde ich ganz ins Musiktheater gehen. Schmid: Auch mit eigenen Inszenierungen? Lohner: Ja, hauptsächlich um zu inszenieren und nicht, um dort zu singen. Schmid: Sie haben gesagt, dass Sie vom Musiktheater beeinflusst worden sind. Ein anderer wichtiger Einfluss waren wohl auch der Deutschunterricht und das Lesen. Lohner: Ich war aufgrund eines Zufalls in der wirklich glücklichen Lage, einen wunderbaren Deutsch-Professor an der Schule zu haben, der uns zu diesen Sachen und auch überhaupt zu den Sprachen hingeführt hat. Sprachen waren und sind eine große Leidenschaft von mir. Aufgrund eines Schüleraustausches kam ich damals als 13-Jähriger nach Frankreich: Natürlich war das alles ziemlich prekär, denn ich war in diesem Dorf, in das ich damals gekommen bin, zunächst drei Wochen lang einfach der "der kleine Boche". Das hat sich dann aber gegeben und es haben sich daraus familiäre Verbindungen ergeben, die bis heute halten, obwohl das natürlich schon wieder eine neue Generation ist. Sprachen haben es mir also überhaupt sehr angetan. Ich habe merkwürdigerweise auch immer Menschen bewundert, die anders gesprochen haben als ich. Ich habe mich immer darüber geärgert, dass ich nicht verstehe, was sie sagen. Schmid: War das auch der Grundstein dafür, dass Sie heute sagen, Sie fühlten sich eigentlich gar nicht in erster Linie als Wiener oder als Österreicher, sondern viel mehr als Europäer? Lohner: Das war ich eigentlich mein Leben lang. Ich kann mir gar nichts anderes vorstellen. Wenn irgend so ein Amerikaner verächtlich vom "alten Europa" spricht, dann kann ich darauf nur sagen, dass ich mich zu diesem alten Europa sehr, sehr hingezogen fühle. Das ist für mich das Europa der unterschiedlichen Kulturen und Sprachen und Individualitäten: Da ist nicht alles gleichgeschoren und gleichgeschaltet. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich dieses Europa liebe. Ich beneide daher auch die nach uns kommenden Generationen, wenn sich in Zukunft die Sprachen vermischen werden. In 50 oder 60 Jahren werden die Kinder bestimmt zweisprachig aufwachsen. Die Fremdsprache, die sie lernen, sollte dabei aber nicht einzig und allein das Englische sein. Aber alleine schon das Wort "Fremdsprache" ist so ein furchtbarer Ausdruck: Es geht einfach um die Sprachen. Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass das sehr schön sein kann. Aber Europa braucht einfach Zeit für diese Entwicklung, damit es über die rein wirtschaftlichen Beziehungen hinauskommt und sich die Annäherung mehr auf das Kulturelle bezieht, sodass man sich gegenseitig wirklich versteht und es dann auch keine Fremdsprachen mehr gibt. Schmid: Als Sie in den fünfziger Jahren als Theaterschauspieler angefangen haben, hatten die Leute wohl wirklich noch ein riesiges Bedürfnis nach Kultur: Sie waren regelrecht ausgehungert. Damals konnte man auf diesem Gebiet noch wirklich Neuland erobern. Haben Sie das selbst auch so erlebt? Lohner: Ja, teilweise. Es war aber auch so, dass ich das bereits als Kind so erlebt habe. Ich kann mir z. B. gar nicht vorstellen, dass es mal eine Zeit gegeben hat, in der Thomas Mann verboten war, eine Zeit, in der man Mendelssohn nicht hören durfte usw. Ich nehme hierbei natürlich Thomas Mann als Synonym für alle anderen verbotenen Dichter. Damals waren ja z. B. auch bestimmte Schlager verboten. Ich finde es schrecklich, dass es Regime gibt, die so etwas notwendig haben. Ich war ja auch sehr viel in der ehemaligen DDR und habe dort Lesungen gemacht. Dabei musste man vorher natürlich sein Programm an die Künstleragentur einsenden. Wenn ich da z. B. irgendetwas von Jaroslav Hašek oder von Franz Kafka machen wollte, dann wurde das gestrichen. Das war zwar nicht verboten, aber man wollte das einfach nicht zulassen. Das Wort "verbieten" hat man dort ja überhaupt gemieden: Die totalitären oder pseudodemokratischen Regime sprechen ja nie von einem Verbot. Stattdessen sagt man einfach, dass bestimmte Sachen nicht erwünscht sind. Schmid: Junge Leute sagen ja heute oft, dass es eigentlich nichts Neues mehr zu erobern gibt. Was würden Sie denn zu diesen Leuten sagen? Was sagen Sie jungen Leuten, die Schauspieler werden wollen? Lohner: Erstens einmal halte ich es für einen totalen Schwachsinn, wenn man sagt, dass es nichts Neues mehr zu erobern gäbe. Jeder Mensch hat seine Zeit zu entdecken, und zwar in einer gültigen Form. Und jeder hat damit fertig zu werden. Die Eroberungen sind jedenfalls unendlich: Man kann ununterbrochen erobern. Ich werde mich zwar hüten, hier einen Ratschlag zu geben, aber wenn jemand auf die Welt kommt, dann sollte er als junger Mensch nicht gleich mit der Resignation beginnen. Schmid: Sie selbst haben ja immer gesagt, dass Sie sich nie ganz fest an ein Haus binden wollten. Sie waren daher viel unterwegs. Um hier nur einmal ein paar Stationen zu nennen: Sie waren in Hamburg, in Düsseldorf, in Zürich, in München, in Berlin und natürlich auch in Wien. Ist also dieses Herumziehen so etwas wie ein Lebensprinzip von Ihnen? Lohner: Na ja, ich hatte dabei doch auch immer ein Zuhause, allerdings nicht für sehr lange. Ich war mir dieses Herumziehen einfach schuldig, weil ich eben meinen Beruf ausleben wollte: Wenn ich von irgendwoher angerufen worden bin, um dort dieses oder jenes zu erarbeiten, um dort etwas Bestimmtes zu machen, dann musste ich natürlich dorthin gehen. Denn ansonsten hätte ich doch meinen Beruf geschwänzt, was ich ja aufgrund anderer Sachen eh oft genug gemacht habe. Wissen Sie, Heimweh war jedenfalls etwas, das mir immer fremd war: Dieses Gefühl kenne ich nicht. Der Grund dafür war, dass ich überall Menschen gefunden habe, mit denen ich mich ganz gut verstanden habe und mit denen man nett sein konnte und die nett zu mir waren – wo auch immer ich hingekommen bin. Es war vielleicht ein großes Glück in meinem Leben, dass ich überall solche Menschen treffen konnte. "Freunde" ist mir ein zu großes Wort, das wage ich kaum in den Mund zu nehmen. In der Jugend hat man unendlich viele Freunde, aber je älter man wird kommt man plötzlich darauf, dass eigentlich nur zwei oder drei Menschen übrig geblieben sind, die man als Freunde bezeichnen kann – insofern sie noch leben. Schmid: Haben Sie denn nie ein Heimatgefühl entwickelt? Lohner: Nie. Jetzt sitzen wir z. B. hier in München. Ich habe in München entscheidende Jahre meines Lebens verbracht. Dieses Gelände hier in Freimann ist ein Teil meiner Jugend: Hier hat es Livesendungen gegeben, in denen ich mitgewirkt habe. Damals fing das Fernsehen gerade erst an. Aber ich kenne dieses Gelände heute nicht mehr: Es ist ziemlich überbaut worden usw. Dennoch habe ich damals auch hier in Freimann unglaublich bezaubernde Menschen kennen gelernt: in der Technik, in der Kantine usw. Die Stimmung damals war herrlich, wir waren lustig und aufgeregt bei einer solchen Livesendung. Dabei haben wir einfach ein schönes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt: Wenn sich nach einer Sendung die Türen geschlossen haben, wenn man diese eineinhalb bis zwei Stunden durchgestanden hatte und das Ganze vorbei gewesen ist, dann ist man sich gegenseitig in die Arme gefallen und ging in die Kantine hinüber, um gemeinsam ein Bier zu trinken. Man gehörte einfach zusammen. Das sind mir unvergessliche Erlebnisse. In Hamburg und in Düsseldorf und in Zürich und in Genf und in Lausanne und teilweise auch in Paris ging es mir aber genauso. Diese Dinge möchte ich in meinem Leben überhaupt nicht missen. Diese Stunden und diese Minuten waren eigentlich die wichtigen in meinem Leben. Schmid: Zürich war dann doch so etwas wie ein fester Wohnsitz für Sie? Lohner: Ja, ziemlich lange. Ich habe ziemlich lange in der Nähe von Zürich, in Meilen am Zürichsee, gewohnt. Die Kinder sind dort groß geworden: Sie sind Schweizer Staatsbürger. Ich habe auch daran nur schöne Erinnerungen. Ich bin der Schweiz sehr dankbar, weil ich dort u. a. auch meine Sucht nach Sprachen intensiv ausleben konnte. Es gibt ja auch Gegenden und Landstriche, die nicht so bezaubernd sind wie die Schweiz in ihrer Schönheit. Aber ich habe mich überall wohl gefühlt. Schmid: Hat sich denn Ihr Schwerpunkt nun doch wieder etwas nach Wien verlagert? Sie haben dort im Theater in der Josefstadt die Intendanz übernommen und Ihre Lebensgefährtin, Elisabeth Gürtler, ist ja auch die Chefin des "Sacher" in Wien. Da denkt man doch, dass Ihr Lebensmittelpunkt mittlerweile in Wien sein müsste. Lohner: Der ist jetzt selbstverständlich wieder in Wien. Wenn Sie das nun schon erwähnen: Das ist scheinbar das größte Wunder in meinem Leben. Schmid: Diese Beziehung? Lohner: Ja. Schmid: Würden Sie sagen, dass Sie damit nun das Richtige gefunden haben? Lohner: Ja, unbedingt, aber ich meine damit bestimmt nicht das "Hotel Sacher" oder so, sondern natürlich dieses Wunder namens Elisabeth. Wie leitet sich das Wort Elisabeth noch mal aus dem Hebräischen ab? Das fällt mir jetzt gerade nicht ganz genau ein, es kommt, glaube ich, von "Eli", die "von Gott kommende". Aber gut, über die Bedeutung dieses Namens wollen wir gar nicht so genau nachdenken. Wie heißen Sie übrigens? Schmid: Isabella. Lohner: Isabella? Na, schauen Sie, das ist ja auch wunderschön: Wenn man den Namen "Isabella" zerlegt, dann kommt man ja auch auf Günstiges. Schmid: Sie waren in Ihrem Leben mehrmals verheiratet. Würden Sie sagen, dass es ganz einfach mit Ihrem Beruf zusammenhing, dass diese Ehen auseinander gegangen sind? Oder hatte das eher mit den Verlockungen Ihrer schönen Partnerinnen beim Theater oder Film zu tun? Lohner: Nein, nein. Es gibt Menschen, die sind für die Ehe schlechthin geboren: Bei denen funktioniert das auch. Ich war jedoch nie für die Ehe geboren. Ich habe geheiratet, weil das halt so war. Ich gebe mir da aber keine Schuld: Es war nie mein Wunsch gewesen zu heiraten. Ich habe damit einfach Wünsche erfüllt. Ich habe hier in München im Standesamt in der Mandlstraße geheiratet und auch im Standesamt in Pasing usw. Aber das ist nie gut gegangen, merkwürdigerweise. Ich würde dafür jedoch nie meinen Partnerinnen die Schuld geben. Ich war genauso schuldig oder genauso unfähig. Zu einer Trennung gehören meiner Meinung nach immer zwei. Und keiner von den beiden soll sich dabei als unschuldig bezeichnen. So weit so gut, aber jetzt wechseln wir das Thema, wenn ich bitten dürfte. Schmid: Sie haben auch Ihre Kinder erwähnt, die in der Schweiz aufgewachsen sind. Welcher Vater waren Sie Ihren Kindern? Lohner: Ein schlechter wahrscheinlich, weil ich einfach viel zu wenig da gewesen bin. Ich werde ja mein ganzes Leben lang bereits von einem schlechten Gewissen geplagt. Das hatte ich auch schon in der Zeit, bevor ich Kinder hatte. Ich gehe durchs Leben, durch die Arbeit, durch die Stadt und habe immer ein schlechtes Gewissen dabei. Das ist auch in meinem Beruf so: Ich habe mir oft gesagt, dass das, was ich da mache, doch gar nicht genügen kann. So hatte ich eben auch meinen Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich sie viel zu selten gesehen habe! Wenn man Kinder hat, muss man einfach da sein für sie. Schmid: Aber man kann ja auch eine gute Beziehung zu ihnen haben, wenn man sich nicht so oft sieht. Vielleicht waren Sie dann in den wenigen Momenten dafür umso intensiver da. Lohner: Wenn ich sie gesehen habe, dann war es zu intensiv, dann habe ich sie überfordert. Kinder sind jedenfalls eine ungeheure Verantwortung. Als Allererstes muss man sich z. B. schon mal damit abfinden, dass sie einem nicht gehören. Vielleicht in den ersten fünf, sechs Jahren ist das noch so, aber ab dem Moment, in dem sie in die Schule gehen, gehören sie einem nicht mehr und sie werden zu eigenen Menschen. Es ist einfach eine unglaubliche Verantwortung, dass man dieses Leben in die Welt gesetzt hat. Wenn die Kinder einem dann nicht mehr gehören, brauchen sie einen am meisten. Das ist das Schwierige. Und in dem Punkt war ich wirklich ein sehr schlechter Vater. Schmid: Was wollten Sie denn Ihren Töchtern an Grundlagen mitgeben für deren Leben? Lohner: Das kann ich nicht sagen, das kann ich wirklich nicht sagen. Da bringen Sie mich wirklich in Verlegenheit, denn mit dieser Frage habe ich mich nie sehr beschäftigt. Was kann man einem Kind mitgeben? Man soll ja nicht einmal ein Vorbild sein, um Gottes Willen. Ich bin froh, dass sich meine Kinder kein Vorbild an mir genommen haben, denn das wäre ja entsetzlich. Schmid: Sie haben einmal gesagt, dass der Zweifel ein Lebensprinzip für Sie sei. Lohner: Ja, das stimmt. Es gibt doch dieses wunderbare Gedicht von Bertolt Brecht, das den Titel "Lob des Zweifels" trägt. Wissen Sie, alles, was man tut, kann man u. U. am nächsten Tag schon wieder vergessen oder als falsch empfinden. Vielleicht hat mir dieser Zweifel schon auch sehr geholfen. Ich konnte mich jedenfalls in keinem Film selbst sehen. Ich weiß gar nicht, wie viele Fernsehfilme ich gemacht habe – das Thema "Spielfilm" wollen wir hier bitte teilweise verschweigen –, aber ich habe mich dann nie selbst angesehen im Fernsehen: Ich hätte mich nie ansehen können, weil ich immer genau wusste und weiß, dass es mir nicht gefallen würde. Schmid: Sie haben ja diese ganzen Filmgeschichten auch mal mit dem Satz abgetan, Sie hätten in dieser Zeit einfach nur Theater geschwänzt. Warum hadern Sie so mit dieser Filmerei? Lohner: Ich schäme mich nicht dafür, ich stehe dazu: Das habe ich gemacht! Vielleicht wollte ich mir einfach nur ein kleines Stück von dieser Torte abschneiden. Ich habe allerdings nicht nur von den positiven, sondern auch von den negativen Torten ein beträchtliches Stück essen müssen. Das hat einfach mit dazu gehört. Eines der größten Erlebnisse wirtschaftlicher Art für mich bestand z. B. darin, dass ich mir, als ich damals in Berlin engagiert war und dort meine ersten zwei Filme gemacht habe, auf dem Kurfürstendamm einen eigenen Volkswagen kaufen konnte. Einen finanziellen Sprung von dieser Größe habe ich später in meinem ganzen Leben nie wieder machen können. Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich damals gefühlt habe: Das war einer der wenigen Momente des Stolzes in meinem Leben. Dies vor allem deshalb, weil ich mir dieses Auto selbst verdient hatte. Denn es hat mir dafür ja auch niemand etwas geschenkt. Das Ganze war ja auch nicht so einfach und mit furchtbaren Krämpfen verbunden gewesen. Ich konnte jedenfalls eines Tages in einem Kuvert das Geld für diesen VW hinlegen: Vielleicht war das überhaupt einer meiner größten privaten Erfolge. Wenn man sich heute etwas kauft, ist das ja etwas anderes. Man kann aber heute eh auf so vieles verzichten: Wenn man älter wird, braucht man einfach nur noch sehr wenig. Schmid: Das Geld hat in Ihrem Leben jedenfalls nie eine große Rolle gespielt. Lohner: Das stimmt, ich habe mir nie etwas daraus gemacht. Ich war in meinem Leben ja oft in grauenvollen finanziellen Nöten, aber ich habe mir nie etwas ausgeborgt, ich habe nie Schulden gemacht. So etwas hätte ich nie gekonnt. Ich war nicht dazu fähig, zu jemandem zu sagen: "Bitte, borg' mir Geld". So etwas konnte ich noch nicht einmal zu einem Bankbeamten sagen. Schmid: Sie waren und sind in Ihrer Theaterlaufbahn eigentlich zu einem richtigen Shakespeare-Sammler geworden. Sie haben nämlich fast alles von Shakespeare gespielt: den Hamlet, den Richard III. usw. Da fehlt jetzt eigentlich nur noch der Lear - oder fehlt er Ihnen gar nicht mehr? Lohner: Natürlich, auch den Prospero habe ich nie gespielt. Schmid: Sie kommen ja jetzt erst in das Alter, in dem Sie den Lear spielen könnten. Lohner: Nein, das sehe ich gar nicht so. Es ist zu blöd, jetzt fällt mir dieser Name nicht ein: Aber bei Giorgio Strehler hat ja mal ein Kollege den Lear gespielt, der erst so um die 45 Jahre alt gewesen ist. Bei Shakespeare selbst waren die Schauspieler ja bestimmt auch nicht älter als 45 Jahre: Das lag einfach daran, dass die Menschen damals nicht älter geworden sind. Ja, der Lear, der Prospero fehlen. Ich habe auch nie den Macbeth gespielt. Das hat aber den Grund, dass mir da die Oper immer besser gefallen hat als der Shakespeare. Dafür kann ich nichts. Aber sie ist eben besser –zumindest für mich. Andere Leute mögen da anderer Meinung sein. Nun, die Rolle des Lear wäre schon sehr schön. Wenn man es genau nimmt, hat Shakespeare hier in diesem Stück vielleicht sogar bewusst die Blödheit des Alters aufzeigen wollen. Salomon war z. B. so idiotisch, sein Reich auf zwei Söhne aufzuteilen; noch blöder war Karl der Große, der sein Reich vollkommen aufgeteilt hat. Stellen Sie sich vor, Karl der Große wäre so klug gewesen und hätte sein Reich nicht aufgeteilt. Was wäre diesem Europa alles erspart geblieben! Darum geht es auch beim Lear, denn es zeugt doch von einem gewissen Schwachsinn, dass man an zwei Töchter und damit auch an zwei Schwiegersöhne sein Reich verschenkt. So etwas kann doch nicht gut gehen. Das kann nur Altersblödheit sein. Die gibt es nämlich. Ebenso wie es den Jugendirrsinn gibt, gibt es auch den Altersschwachsinn. Schmid: Gibt es denn noch eine Traumrolle für Sie? Lohner: Ich weiß es nicht. Sehen Sie, ich habe in den letzten sechs Jahren keinen Film machen können. In dieser Zeit musste ich schweren Herzens zwei sehr gute Filme absagen, was mir sehr Leid getan hat. Aber gut, da kann man nichts machen. Denn ich bin nun einmal der Meinung, dass man ein Theater nicht via Telefon leiten kann. Man ist dort einfach in sehr verantwortlicher Position. Das Theater in der Josefstadt hat insgesamt 400 Mitarbeiter: Für die muss man da sein, für jeden Einzelnen und zu jeder Zeit ansprechbar. Schmid: Sie haben einmal gesagt: "Jeder Morgen beginnt furchtbar: mit dem Blick in den Spiegel beim Rasieren. Ich mag mich nicht besonders." Damit gehören Sie wahrscheinlich zu einer kleinen Minderheit. Ist das Koketterie? Lohner: Das ist bestimmt keine Koketterie. Ich hatte Ihnen doch vorhin bereits erzählt, dass es mir unmöglich ist, einen Film mit mir anzusehen. Ich mag einfach nicht mit meinem Bild konfrontiert werden. So ist es eben am Morgen bei der Rasur auch. Nun, ich bin Gott sei Dank etwas kurzsichtig und sehe mich daher nicht so scharf beim Rasieren. Das geht also schon irgendwie. Eines der blödesten biblischen Sprichwörter ist meiner Meinung nach: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.” Ich war nie fähig, mich so absolut zu lieben. Der Nächste wäre also sehr schlecht dran bei mir. Bei mir würde das daher beim Nächsten bis zur Empfindungslosigkeit gehen. Ich finde diesen Satz jedenfalls entsetzlich: Das ist doch eine Aufforderung zur Eigenliebe schlechthin. Ich würde gerne mal mit Kardinälen und Bischöfen darüber diskutieren, damit man endlich diesen furchtbaren Satz streicht. “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" - das ist doch entsetzlich. Schmid: Aber haben Sie denn die vielen Menschen, die Sie in Ihrer langen Karriere bewundert haben, nicht doch von sich überzeugen können? Lohner: Nicht einmal ich konnte mich von mir überzeugen. Ich habe mich immer bedankt dafür, wenn andere gesagt haben, es wäre gut gewesen, was ich gemacht habe. Aber der Zweifel, der war dennoch immer vorhanden. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was das für mich eigentlich bedeutet hat. Es war nämlich oft regelrecht furchtbar für mich, am Abend mit dem Bewusstsein ins Theater hinein zu gehen, dass man eine ungeheure Verantwortung hat. Das Kostbarste, das meiner Meinung nach der Mensch besitzt, ist die Zeit. Das Leben ist so kurz: Das ist das Widerlichste, was es überhaupt gibt: dass unser Leben so kurz ist, also unser bewusstes Leben. Es ist widerlich, dass im Laufe des Lebens gewisse Funktionen einfach nachlassen. Deshalb ist die Zeit das Kostbarste überhaupt. Jede Minute ist unbezahlbar. Bei mir war das daher immer so: Diese Leute opfern Zeit, um mich zu sehen, und müssen auch noch zahlen für dieses Opfer! Das war mir jeden Abend bewusst. Man muss also jede einzelne Vorstellung vor sich selbst irgendwie verantworten können. Man muss sich gar nicht fragen, ob es gut oder schlecht gewesen ist, sondern nur, ob es in Ordnung gewesen ist: Kann man nach einer Vorstellung den Zuschauern gegenüber ein reines Gewissen haben? Das klingt jetzt recht moralisch, so moralisch bin ich eigentlich gar nicht. Was jedoch meinen Beruf und die Schauspielerei betrifft, habe ich mir das oft gesagt und gedacht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich in Düsseldorf bei "Faust II" den Hofgarten auf und ab gegangen bin: "Gehe ich da jetzt wirklich hinein und spiele das? Das ist doch das Wichtigste, was auf Deutsch je geschrieben wurde. Bin ich gut genug, um das den Menschen erzählen bzw. darstellen zu können? Kann ich es so sagen, dass sie es verstehen und dass es ihnen näher kommt, dass sie es – wenigstens für ein paar Stunden – behalten können? Schmid: Ich hoffe sehr, dass wir Sie auch weiterhin noch auf der Bühne sehen werden, vielleicht auch wieder im Film. Denn Sie machen das mit unglaublicher Leidenschaft. Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch und dafür, dass Sie heute bei uns waren. Lohner: Auch ich danke. Schmid: Bei Alpha-Forum war heute Helmuth Lohner zu Gast, Schauspieler, Regisseur und Intendant. Ich danke Ihnen fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

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