Eva Maria Klinger Nie am Ziel Helmuth Lohner

Eva Maria Klinger Nie am Ziel Helmuth Lohner Die Biografie

Mit 82 Abbildungen

AMALTHEA Besuchen Sie uns im Internet unter www.amalthea.at

© 2015 by Amalthea Signum Verlag, Wien Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT Umschlagfotos: © Ullstein-Timpe/Ullstein Bild/picturedesk.com (vorne), © Ali Schafler/First Look/picturedesk.com (hinten) Lektorat: Martin Bruny Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten Gesetzt aus der 11,5/15 pt Minion Printed in the EU ISBN 978-3-99050-022-4 e-ISBN 978-3-903083-09-7 Inhalt

Die wichtigsten Fragen beantwortet man immer mit seinem ganzen Leben 7

Das Spiel beginnt · 1933 bis 1965 22

Nie am Ziel · 1965 bis 1980 56

Schubumkehr · 1980 bis 1990 104

Heimkehr · 1990 bis 1997 142

Die Mühen der Ebene · 1997 bis 2006 159

Die große Freiheit · 2006 bis 2015 191

Rollenverzeichnis 224 Bild- und Textnachweis 248 Quellen 249 Danksagung 250 Personenregister 251 Heimkehr · 1990 bis 1997

Am 1. Januar 1988 hat mit Robert Jungbluth als ­Co-Direktor das Theater in der Josefstadt übernommen, und von da an laufen die geheimen Versöhnungsversuche, um Lohner zumindest Stück für Stück heimzuholen. Jungbluth tele- foniert mit Lohner in Zürich, trifft ihn, wenn er in Wien ist, trifft ihn bei den Salzburger Festspielen, Schenk schmollt weiterhin trotzig: »Wenn er bei mir an der Josefstadt spielt, dann soll’s gut sein« – und erteilt Felix Mitterer den Stückauftrag, einen moder- nen Jedermann zu schreiben. Erwin Steinhauer, der Mitterers Stück inszenieren soll, kapri- ziert sich darauf, dass der aktuelle Salzburger Jedermann, Hel- muth Lohner, die Titelrolle auch in der Josefstadt spielen soll. Eine Armada guter Zuredner wirkt auf die Starrköpfe ein. In der Zeit der Trennung konnte man von beiden Seiten hören: »Nie wieder will ich etwas mit ihm zu tun haben!«, aber nun kommt allmäh- lich, neben sentimentaler Sehnsucht nach alter Verbundenheit, Vernunft auf. Schenk braucht für »seine« Josefstadt den charisma- tischen Schauspieler, und Lohner wurde in den letzten Jahren mit tollen Rollenangeboten nicht mehr überhäuft, wie er es in den 30 Jahren davor gewohnt war. Er ging wohl auch selektiver vor. Ange- sichts eines bisherigen Repertoires von mehr als 150 nicht gerade unbedeutenden Rollen wäre begrenzte Spielfreude denkbar. Am 10. Januar 1991 wird Felix Mitterers Ein Jedermann am Theater in der Josefstadt uraufgeführt. Helmuth Lohner spielt die Titelrolle. Zu Bernhard Schir, der Jedermanns Troubleshoo- ter mit teuflischen Zügen spielt, hat er seine Rückkehr mit dem

142 alten Schauspielersatz »Wenn sie dich brauchen, schneiden sie dich vom Galgen« sarkastisch kommentiert. »Ich hatte Riesen­ respekt vor ihm, hatte mich sogar etwas gefürchtet, aber er war in den Proben so geduldig, so diszipliniert und unterstützend für mich jungen Schauspieler«, erzählt Bernhard Schir. Vor der Pre- miere knistert es im Zuschauerraum ob der ge­­spannt erwarteten Heimkehr des verlorenen Sohnes nach fast 30-jähriger Abwesen- Heimkehr · 1990 bis 1997 1997 · 1990 bis Heimkehr heit an diesem Theater. Lohner steht mit Schir angespannt in der seitlichen Gasse vor dem ersten Auftritt, drückt zitternd die Hand des Jüngeren und flüstert nur: »Es wird schon.« Es wurde – ein mittlerer Erfolg. Die großen interessanten Rollen folgen erst.

Am 18. September 1990 gibt Lohner seine Wohnung in Zürich- Meilen auf und nimmt eine kleinere Bleibe in der Kirchgasse im Zentrum, wo auch Thomas Baal zeitweilig wohnen kann. Er hat seit fast 30 Jahren sein Lebenszentrum in der Schweiz, ein Schweizer Pass liegt vorbereitet bei der Behörde, aber er holt ihn nie ab. Er spricht nicht nur Schwyzerdütsch, er beherrscht auch die unterschiedlichen Nuancen von Basler und Zürcher Dialekt so perfekt, dass Einheimische versichern, er sei der einzige »Usländer«, der dazu in der Lage ist. Lohner wird hauptsächlich in Wien sein, Ricarda hat eine hübsche Wohnung in der Weihburggasse in der Inneren Stadt gemietet. Mit Schenk versöhnt, soll er viel an der Josefstadt spie- len und auch inszenieren, woran ihm liegt. Kurz vor Weihnachten lade ich Robert Jungbluth und drei Ehepaare zu mir nach Hause zum Abendessen ein: Ricarda ­Reinisch und Helmuth Lohner, Christl und Heinz Zednik, Camilla und Christoph Zielinski. Der Termin ist denkbar ungünstig. Friedrich Dürrenmatt, Lohners Lebensfreund, ist am Vormittag gestorben, und es liegt noch etwas anderes in der

143 Luft. Die Freundinnen Christl Zednik und Ricarda ziehen sich mit einer Flasche Cognac in eine Ecke zurück, tuscheln und lachen ausgelassen, Helmuth Lohner hält Monologe, über Maler und Schriftsteller, die, wie Lohner auch, Schweiz zur Wahlhei- mat erkoren haben, über Canetti und James Joyce, dessen Auf- enthalte in Zürich, dessen Grabstätte auf dem Friedhof Fluntern, was manche Gäste nur mäßig interessiert. Camilla Zielinski bet- tet schläfrig ihr Haupt an die Schulter ihres Mannes, die beiden Damen abseits sind nicht zur Rückkehr in die Runde zu bewe- gen, und bevor der Abend in bedrückter Stimmung versickert, gehen alle nach Hause. Am nächsten Tag erfahre ich, dass Ricarda Reinisch und Christoph Zielinski, der bald sehr prominente Krebsspezialist, seit einigen Monaten eine geheime Affäre haben. Niemals hätte ich die Paare gemeinsam eingeladen, hätte mich vorher jemand gewarnt, aber wer wagt eine Andeutung in einer so heiklen ­Situation? Wer wusste es überhaupt außer dem Liebespaar? Ricarda war im Frühling wegen einer Augenentzündung ins AKH gefahren und begegnete dort zufällig dem jungen Arzt. Der Blitz schlägt ein. »Das Verblüffende ist, dass ich mir immer gedacht habe, das kann mir nicht passieren, dass ich mich in einen anderen verliebe, wenn ich mit einem Mann zusammenlebe, wo alles in Ordnung ist«, sagt Ricarda Reinisch heute diplomatisch. Als Helmuth Lohner von dem Betrug erfährt, macht er Tabula rasa, strebt die Scheidung an. Enttäuscht, verletzt, gekränkt, überlässt er Ricarda die gemeinsame Wohnung und beschließt, nie wieder zu heiraten. Er versinkt in einem tiefen schwarzen Loch, erliegt den immer latent drohenden Gefähr- dungen durch den Alkohol. Im Juni 1991 ist auch seine dritte Ehe geschieden. Christoph Zielinski löst ebenfalls seine Ehe, wird 1995 durch Ricarda zum dritten Mal Vater. Der alten und neuen Familie

144 Zielinski gelingt eine funktionierende Patchworkfamilie, solange es erforderlich ist. Ricarda ist fleißige ORF-Redakteurin in der Wissenschaftsabteilung, moderiert von 1994 bis 1998 dieZeit im Bild und leitet heute das Magazin Bewusst gesund. Christoph Zielinski ist Vorstand der Abteilung Innere Medizin und Onko- logie im AKH. Heimkehr · 1990 bis 1997 1997 · 1990 bis Heimkehr In diesem Scheidungs-Frühling besucht Elisabeth Gürtler eine Vorstellung von Ein Jedermann im Theater in der Josefstadt und findet den Hauptdarsteller, der einen smarten, »powervollen Businessman spielt, sehr attraktiv«, wie sie sagt. Sie stammt aus der Unternehmerfamilie Mauthner, ist Vizestaatsmeisterin im Dressurreiten und leitet seit letztem Herbst das traditionsreiche Hotel Sacher. Diese neue Aufgabe fiel ihr zu, weil ihr geschiede- ner Mann Peter Gürtler im November 1990 Selbstmord beging und die beiden minderjährigen Kinder aus dieser Ehe das Hotel Sacher und den Österreichischen Hof in Salzburg erbten. Helmuth Lohner, in Österreich noch nicht wirklich ange- kommen, neben der Josefstadt auch am Hamburger Thalia ­Theater verpflichtet, hat daher keine Ahnung, wer bei einer Heurigen-Einladung von Peter Landesmann plötzlich neben ihm sitzt. Er versteht nicht, warum Elisabeth sagt, sie wohne im Sommer in Salzburg »selbstverständlich bei uns« im 5-Sterne- Hotel Österreichischer Hof, das auch zum Sacher-Familien­ besitz gehört. Sie versucht, den Kontakt zu halten, besucht eine Jedermann-Probe und gibt ein VIP-Essen für 60 Leute, »ein Pink-Dinner« für Künstler der Salzburger Festspiele. Der Ehren- platz neben ihr ist für den Jedermann Helmuth Lohner reser- viert. Der Ehrengast erscheint nicht. In Salzburg gibt es während der Festspielzeit aber jeden Tag ein Fest, so begegnet sie ihm zufällig im Point Hotel, wo er einer anderen Einladung gefolgt ist. Die ausgestreckte Hand nimmt er

145 nur zögernd an. Er will sich nie mehr binden, nie mehr. »Ich war eigentlich gewöhnt, dass sich die Leute um mich bemühen. Er hat sich am Anfang überhaupt nicht um mich bemüht. Das hat mich sehr irritiert«, blickt Elisabeth Gürtler heute milde zurück. Lohner-Kenner verwundert sein Verhalten gar nicht. Er war so. Ein Womanizer ohne Jagdtrieb. »Ich bin nie einer Frau nach- gerannt, ich hab mich immer erobern lassen«, wird er während der Proben zu seiner letzten Rolle, Valmont in Quartett, zu ­Elisabeth Trissenaar sagen. Ob er es als Tugend oder Makel, als Stärke oder Schwäche empfunden hat?

Mit Elisabeth Gürtler, 1992

Jedenfalls noch in diesem Sommer 1991 vermeinen Beobach- ter einen besonderen Glanz in den Augen der beiden zu entde- cken, wenn man sie gemeinsam antrifft. Weder im Österreichischen Hof noch im Hotel Sacher will Lohner wohnen. So tauscht Elisabeth Gürtler das 5-Sterne-

146 Domizil gegen Lohners Wohnung in der Moosstraße, und in Wien zieht er im nächsten Jahr in ihr Haus im 19. Bezirk. »Ich wollte, dass er umsorgt und versorgt ist. Rauchen durfte er nur im Garten oder in seinem Zimmer.« Sie ließ extra einen Zubau für seine Bibliothek, seine Bilder und seine Sammlerstü- cke aus der ganzen Welt errichten. »Mein Haus war ja vollstän- dig eingerichtet, und ich wollte, dass er von seinen persönlichen Heimkehr · 1990 bis 1997 1997 · 1990 bis Heimkehr Dingen umgeben ist und einen ruhigen Raum hat, wo er Rollen lernen konnte und lesen. Meine Kinder waren ja noch im Haus. Aber allein, dass hier der Alltag organisiert war, brachte Ord- nung – ich hab ja gar nicht verstanden, wie man täglich essen gehen konnte. Er hat eine Frau gebraucht, auf die er sich verlas- sen kann und die ihn sein Leben frei führen lässt. Das war für mich selbstverständlich, denn ich arbeite jeden Tag zwölf Stun- den. Ich habe nicht zu Hause auf ihn gewartet.« Den enormen geschäftlichen Erfolg, den Fleiß und die Diszi- plin der großbürgerlichen Vollblut-Unternehmerin hat Helmuth Lohner allmählich zu schätzen gelernt und sehr bewundert. Es schwang auch grundsätzlicher Respekt vor Menschen mit, die es mit persönlichem Einsatz zu etwas gebracht haben, zu Reichtum gar. »Die eiserne Lady«, wie Profil einmal titelte, ist eine Perfek- tionistin mit Charme, eine Dame mit Grundsätzen. »Sie war das Glück seines Lebens, seine gute Fee.« Diesen Satz hört man von Renee und Otti Schenk, von all seinen Freun- den und Wegbegleitern. Obwohl, je mehr er sein Leben mit dem seiner Gefährtin akkordierte, verloren andere an Einfluss. Der Otti, immer einen treffsicheren Mutterwitz auf den Lippen, sti- chelte, wenn Helmuth sich vor dem Abendessen rasch von den Schenks verabschiedete: »Gehst scho wieder jet-setteln?« Das waren jetzt andere Kreise als die der Theaterleute, jetzt verkehrt er am zarten Arm von Elisabeth Gürtler mit Bankern, Geschäftsleuten, Direktoren aller Genres, Politikern, wer eben

147 in Österreich zur konservativen High Society gehört. Das von ihm früher gerne zum Besten gegebene Brecht-Zitat »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« würde provozieren, ein anderes Brecht-Zitat, »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«, erregt, selbst mit ironischem Unterton vorgebracht, keinen Anstoß. Er gibt es ungern zu, denn er will nicht als Verräter an seinem linken, antiklerikalen Weltbild ­gelten, aber, so ist Elisabeth Gürtler überzeugt: »Er ist einfach lieber mit mir zu meinen Einladungen mitgegangen. Meine Freunde wurden seine Freunde. Und die Renee Schenk hat sicher etwas an Einfluss verloren. Aber es blieb eine tiefe Freund- schaft zwischen ihm und dem Otti, die schon so lange vor mir bestanden hat, da habe ich mich nie eingemischt.« Über unterschiedliche Dresscode-Auffassungen gibt es Dis- kussionen. »Er hat immer provokant gefragt: Muss ich heute Abend eine Krawatte tragen? Er wusste genau, dass ich es wollte. Aber später hab ich ihn gelassen. Und wenn ich ihm etwas zum Anziehen gekauft habe, musste es von erstklassiger Qualität sein, es sollte nur immer ein bissl schlampig, abgetragen ausschaun.« Frau Diplomkaufmann Gürtler geht zwar täglich um 8.30 Uhr in einem anderen, in allen Accessoires perfekt abgestimmten, sehr eleganten Marken-Outfit außer Haus, aber sie ist eine tole- rante Frau mit einem Blick für das Wesentliche. »Ich habe ihm immer gesagt: Das Einzige, was mich wirklich dazu bringen kann, dich zu verlassen, ist, wenn du weiter trinkst. Das halte ich nicht aus. Ich habe mit meinem ersten Mann, der manisch- depressiv war, so viel mitgemacht, dass ich mir geschworen habe, ich will nie mehr leiden. Das war der einzige Druck, den ich machen konnte.« Diese Liebe wollte er nicht verlieren. Und so ist es ihm weit- gehend geglückt, in den letzten 25 Jahren seines Lebens absti- nent zu bleiben.

148 Heimkehr · 1990 bis 1997 1997 · 1990 bis Heimkehr

Mit Elisabeth Gürtler

Er besucht mit Elisabeth glamouröse Feste im In- und ­Ausland, unterhält, wenn Elisabeth selbst zum Fest lädt, die Gäste mit selbst verfassten musikalischen Nestroy-Couplets. Aus 30 zauberhaften Strophen zu ihrem 50. Geburtstag ein paar ­Zeilen: »Is schön wie die Sissi und klug wie die Sphynx, und schafft die Matura ganz locker mit links« … »…voll Anmut und Kraft wird’s Zweite der Dressurreiter-Staatsmeisterschaft. Heut dressiert’s statt der Pferd manches Männer-Exemplar – ’s is alles net wahr, ’s is alles net wahr« – »Er verschlingt Thomas Mann, sie die Börsenrevue, seine Zeit is auf d’Nacht – ihre is in der Früh …« Er begleitet sie auf ihren Geschäftsreisen und Einla- dungen nach London, New York, Paris, Zürich, Mailand, resi- diert nicht ungern in den Fünf-Sterne-Leading-Hotels, die dem Niveau des Hotel Sacher entsprechen, auch wenn er auf seinen Weltreisen weniger komfortable Quartiere bevorzugt.

149 Einmal holt sie ihn nach einer Tour ab. Am Fuße des Kili­ mandscharo. Sie unternehmen gemeinsam mit einem befreun- deten Ehepaar eine Safari und genießen in paradiesischer Land- schaft den Zauber einer luxuriösen Lodge mit eigenem Butler und im Badewasser schwimmenden Rosenblättern.

Es sieht aus, als wähle er noch sorgfältiger jene Rollen aus, die ihn interessieren, und welch Glücksfall: An der Josefstadt unter der Direktion seines Freundes Otto Schenk werden ihm die Wünsche auch erfüllt. Auch für seine Sehnsucht, Regie zu führen, zeigt man ­Verständnis. Zunächst noch mit Schenk-Einmischungen bei Lumpazivagabundus – man erinnere sich an Lohners Blumen- topf-Zeichnungen im Regiebuch –, aber mit Feydeaus turbulen- ter Farce Die Dame vom Maxim und Franz Werfels trauriger ­Emigrationskomödie Jacobowsky und der Oberst mit Otto Schenk und Herbert Föttinger in den Titelrollen gelingen Lohner tadellose Josefstadt-Inszenierungen. Neben dem Schauspiel kann er sich auch im Musiktheater bewähren, das zeitlebens sein Lieblings-Spielfeld ist. Nicht nur, dass er so nebenbei den Haushofmeister in Richard Strauss’ ­Ariadne auf Naxos an der Wiener Staatsoper gibt, bekommt er ein tolles Angebot aus Zürich. Alexander Pereira, von 1991 bis 2012 erfolgreicher Direktor der Zürcher Oper, plant mit Nikolaus Harnoncourt einen Ausflug ins leichtere Fach. Harnoncourt hatte diesem Opernhaus gemeinsam mit Jean-Pierre Ponnelle von 1975 bis zum Tod des genialen Regisseurs 1988 die aufsehenerregends- ten Operninterpretationen beschert, den lange nachwirkenden Monteverdi- und danach einen die Rezeptionsgeschichte revolu- tionierenden Mozart-Zyklus. Harnoncourt, als Kind von der Operettensucht seines Vaters angesteckt, steht der Sinn nach La belle Hélène von . Ein Regisseur wird gesucht.

150 »Wir haben überlegt, wer den Humor, das Slapstickartige, den Witz dieser Operette inszenieren kann, und da fiel unsere Wahl auf Helmuth Lohner«, erzählt Alexander Pereira. »Wir kannten seine unübertroffenen Nestroy-Interpretationen, er konnte mit großer Ernsthaftigkeit den Humor auf den Punkt bringen. Und ich wusste, dass er fürs Musiktheater nicht nur ein Faible hat, sondern auch über großes Wissen verfügt – und so Heimkehr · 1990 bis 1997 1997 · 1990 bis Heimkehr stand unserem Plan nichts mehr im Weg.« Es war nicht schwer, Lohner trotz Terminschwierigkeiten zu überreden, allzumal er mit Nikolaus Harnoncourt, den er als das »musikalische Gewissen« schlechthin verehrt, arbeiten durfte. Am 21. April 1994 hat er mit dem Hofreiter im Weiten Land an der Josefstadt Premiere, bereits fünf Wochen später Offenbach- Premiere in Zürich. Und irgendwann in den Jahren 1993/1994 dreht er zwischendurch auch eine 14-teilige Fernsehserie für Pro7: Der Gletscherclan. Diese Terminkollision kann er nur überstehen, indem er bestens vorbereitet in Zürich eintrifft. Man hört ihn zu dieser Zeit auch ständig Melodien aus der Operette summen, den französischen Couturier Jean-Charles Castelbajac, der unter anderem Sarah Jessica Parker für die Fernsehserie Sex and the City eingekleidet hat und damals eine Professur an der Universität für angewandte Kunst in Wien hatte, kann er als Kostümdesigner gewinnen, Vesselina Kasarova ist seine wun- derbare Belle Hélène. Ein glamouröser Anfang war gemacht.

Drei Jahre später setzt er seine Regiearbeiten an der Zürcher Oper mit Franz Lehárs Die Lustige Witwe fort. Pereira: »Meine Erwartungen waren hoch nach dem Erfolg von La belle Hélène. Ich kam in die Hauptprobe der Lustigen Witwe – und es hat mich fast der Schlag getroffen. Nichts hat funktioniert, kein Esprit, kein Witz, nichts hat zusammengepasst, es war ein Desaster. Ich sah einer Katastrophe entgegen und begann mich darauf einzu-

151 stellen. Und dann war in der Premiere plötzlich der ganze Charme da, der »Schmäh« sprühte in den Buffo-Szenen und Welser-Möst dirigierte leicht und spritzig.« Die Ausstattung stammte von Rolf Langenfass, der zum aller- engsten Freundeskreis des Ehepaares Schenk gehört, der später unter Lohners Direktion Ausstattungschef an der Josefstadt wird, viele Opern für Otto Schenk ausstattete und jeden Sams- tag, den er in Wien verbringt, Renee Schenk zum Flohmarkt begleitet. Langenfass ermunterte seine Freunde, gemeinsam mit Harald Serafin, der auf der Suche nach einem Regisseur für seine Seefestspiele Mörbisch war, die Premiere zu besuchen. »Nach dieser Lustigen Witwe wusste ich, Helmuth Lohner ist mein Wunschregisseur. Er weiß nicht nur Bescheid über die Operette, er hat auch eine Affinität zu dem Genre«, erzählt Harald Serafin später und beauftragte ihn jeden zweiten Som- mer mit insgesamt fünf Inszenierungen. Wenn es auch keine Weltkarriere wie die seines Freundes Otto Schenk wurde, bei Weitem nicht, so konnte Lohner doch regelmäßig eine Oper oder eine Operette oder ein Musical ­ins­zenieren, was ihm größte Freude und Erfüllung bedeutete. 17 Regien sind es geworden. Sogar 2014, sterbenskrank, hat er die Diagnose Speiseröhrenkrebs für sich geheim gehalten, um Falstaff in Seoul inszenieren zu können. Opernvirus gegen Krebs­tumor. Wer im Angesicht einer lebensbedrohenden Krankheit die Opernregie einer dringend angeordneten Opera- tion vorzieht, muss vom Musiktheater besessen sein.

Der Erfolg von La Belle Hélène mag ihm den Abschied vom Jedermann nach dem Sommer 1994 erleichtert haben. Peter Stein ist seit drei Jahren Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele, reüssiert mit großartigen Inszenierungen von Shakespeares Römischen Tragödien in der Felsenreitschule, und Gernot

152 ­Friedel muss die Buhlschaft neu besetzen, da Sunnyi Melles ja schwanger ist. Er entscheidet sich für Steins Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Maddalena Crippa. Die italienische Schau- spielerin bleibt es auch bis zu Peter Steins Vertragsende 1997, mit Ulrich Tukur als Nachfolger von Helmuth Lohner. Dieser spielt noch eine letzte Rolle in Salzburg: 1996 und 1997 den Alpen­könig in Raimunds Alpenkönig und Menschenfeind, den Heimkehr · 1990 bis 1997 1997 · 1990 bis Heimkehr Peter Stein selbst inszeniert. Während Otto Schenk als Rappel- kopf eine akklamierte urkomische Charakterstudie eines granti- gen Cholerikers liefert, sagt Lohner später über seine mit Aus- nahme einer einzigen Szene undankbare Rolle: »Den Alpenkönig hätte ich nicht mehr spielen sollen.«

In Wien hat Helmuth Lohner am Theater in der Josefstadt kei- nen Grund zur Klage. Er bekommt viele dankbare, interessante Aufgaben. Er kann jetzt Rollen nachholen, die an ihm bisher vorübergegangen sind. Den Heuchler Tartuffe von seinem geliebten Molière. Regisseur Thomas Schulte-Michels steht mit Sieghardt Rupp als Orgon, Susi Nicoletti als dessen Mutter Madame Pernelle, Kitty Speiser als Haushälterin Dorine, André Pohl als Sohn und des Regisseurs Frau Katharina Rupp als Elmire ein fabelhaftes Ensemble zur Verfügung. Lohner spielt den eitlen Dichter Trigorin in Tschechows Die Möwe, der gewissenlos ein junges in ihn verliebtes Mädchen ins Elend laufen lässt. Otto Schenk inszeniert mit Christine Oster- mayer als selbstsüchtiger Diva Arkadina, die einst Lohners Salome Pockerl im Salzburger Talisman war und die mit ­Gertraud Jesserer zur engsten Schenk-»Verwandtschaft« gehört, was für ihn, wie er sagt, die allerhöchste Stufe von Freundschaft bedeutet. Genau 30 Jahre davor hat Helmuth Lohner in einem Fernseh- film von Wolfgang Glück als Arkadinas unglücklicher Sohn

153 Konstantin gezeigt, wie Gefühle implodieren. Ich scheitere immer wieder in dem Bemühen, seine vielfältigen Ausdrucks- mittel zwischen höchster Sparsamkeit und wildester Exaltiert- heit, seine innere Energie in stillsten Momenten und in stürmi- scher Raserei, seine sprachliche Differenziertheit, seine mal verhaltene, mal akrobatische Biegsamkeit des Körpers zu beschreiben. Man musste ihn erleben und man sollte sich dieses Heimkehr · 1990 bis 1997 1997 · 1990 bis Heimkehr Erlebnis in vielen Filmen und Fernsehaufzeichnungen wieder und wieder vor Augen führen. Zum dritten Mal spielt er den Hofreiter im Weiten Land, den Egomanen mit charmanten Umgangsformen, der die Frauen und die Freunde ohne Skrupel fallen lässt, so wie er sie ohne Skrupel benützt hat. Die Qualität, solch vielschichtige Charak- tere differenziert und nuancenreich zu entfalten, den Klang und das Ambiente dieser bestimmten Wiener Gesellschaftsschicht ohne jegliche Fin-de-Siècle-Verschnörkelung zu treffen, ist mit Lohner begraben und wird von den Regisseuren auch nicht mehr angestrebt. Die Hofreiters sollen – Duell hin oder her – in größerer Nähe zum Heute leben. Es gilt auch noch Hofmannsthals Unbestechlichen von der »To-do-Liste« abzuhaken. 1974 hatte Schenk diesen verschmitzt- herrschsüchtigen Diener gespielt. »Das war eine Freude für mich, dass ich ihm den Theodor vermachen konnte. Ich hab ihn sehr gern gespielt an der Josefstadt, und ich glaube, mit Erfolg, aber das kann man selber ja nicht sagen. Und dazwischen hab ich das Stück auch inszeniert, in Berlin mit dem Schmidinger. Das war schön, dass ich ihm aus der Erfahrung der eigenen Wir- kungen eine Stütze sein konnte. Leider hatten wir ein sehr schia- ches Bühnenbild, es ist auch ein schwieriges Bühnenbild«, und sich schuldig fühlend fügt Schenk kokett an: »Vielleicht hab ich zu viel Einfluss genommen.«

155 Bild- und Textnachweis

Bildnachweis Deutsches Theatermuseum München, © Oda Sternberg (6), Porträtstudio Erich Natter (11 links), Theatermuseum Düsseldorf/Lore Bermbach (11 rechts, 73), Thomas Finkenstaedt (14, 15), Archiv »BÜHNE« (19 oben), IMAGNO/Österreichisches Theatermuseum (19 unten, 163), Archiv Thea­ ter in der Josefstadt (25, 29, 32), Archiv Theater in der Josefstadt/Ernst Hausknost (30 links), Pressefoto Bruno Völkel (30/31), Pressebilddienst Doliwa (31 rechts), Heinz Köster (34, 50, 53 oben links, 53 unten), IMAGNO/ Interfoto (35, 41, 42), Deutsches Theatermuseum München, Archiv Rudolf Betz (39), IMAGNO/Ullstein (44, 108, 199, 218), IMAGNO/Archiv Hajek (45), Rosemarie Clausen (47, 58, 70), Deutsches Theatermuseum München, Archiv Hildegard Steinmetz (53 oben rechts), Chris Nowotny/brain script GmbH (60), René Haury (63), Lore Bermbach (64), Archiv/ Elisabeth Hausmann (66, 96, 110), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Anny Madner (81), Karl Schöndorfer (86), Michael Horowitz (89, 91 unten), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Winfried Rabanus (91 oben links), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Oskar Anrather (91 oben rechts), Leonard Zubler (94), Wiener Festwochen (104), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Harry Weber (113, 119, 120, 127), Foto Harri Irmler (116), Privatarchiv Elisabeth Gürtler/Foto: Eva Maria Klinger (125), Winfried Rabanus (132), Foto Weber (134 links), Gernot Friedel (134 rechts), Vera von Glasner (139), Privatarchiv Elisabeth Gürtler (146, 149, 215), Archiv Theater in der Josefstadt/Harry Weber (154), Archiv Theater in der Josefstadt/Weber/Münster (156), Archiv Theater in der Josefstadt/ Moritz Schell (157, 170, 175, 186), Martin Vukovits (160), Archiv Theater in der Josefstadt/Margit Münster (162, 167, 179, 188), Archiv Theater in der Josefstadt/Sepp Gallauer (183, 190), Seefestspiele Mörbisch/Christian Teske (194), Archiv Theater in der Josefstadt/Erich Reismann (205), Archiv Theater in der Josefstadt/Monika Rittershaus (213), Präsidium der Salzburger Festspiele (223)

Textnachweis Originalzitate Karin Baal: Karin Baal, Ungezähmt. Mein Leben. 2012. © Südwest Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

248 Originalzitate Curt Riess: Curt Riess, Das Schauspielhaus Zürich. Sein oder Nichtsein eines ungewöhnlichen Theaters. © 1988 by LangenMüller in

der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München. Quellen Originalzitate Manfred Wekwerth: Manfred Wekwerth, Erinnern ist Leben. 2000. © Faber & Faber. Originalzitate Oscar Fritz Schuh: Oscar Fritz Schuh, So war es, war es so? Notizen und Erinnerungen eines Theatermannes. Ullstein, 1980.

Wir danken allen Buch- und Zeitungsverlagen für die Abdruckerlaubnis der im Buch verwendeten Passagen. Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt. Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten Bilder und Texte nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.

Für die großartige Unterstützung danken wir Wolfgang Huber-Lang, Yvonne Ogris, Manuela Seiler, Bernhard Struckmeyer, Bettina Trauner und den Mitarbeitern der involvierten Theater- und Opernhäuser sowie folgender Institutionen: Archiv der Salzburger Festspiele, Archiv des Theaters in der Josefstadt, Bühne-Archiv, CineGraph – Hamburgisches Centrum für Filmforschung e. V., Deutsches Theatermuseum München, Filmarchiv Austria, IMAGNO Brandstätter Images, NZZ Redaktionsarchiv, Österreichisches Theatermuseum, Rollettmuseum Stadtarchiv Baden, Stadtarchiv Zürich, Theatersammlung Bern, Theatermuseum Düsseldorf.

Quellen

Karin Baal, Ungezähmt, Mein Leben, 2012 Boleslaw Barlog, Theater lebenslänglich, 1981 Friedrich Luft, Berliner Theater 1945–1961, 1961 Wolfgang Petzet, Theater, Die Münchner Kammerspiele 1911-72 Curt Riess, Das Schauspielhaus Zürich, Sein oder Nichtsein eines ungewöhnlichen Theaters, 1988 Oscar Fritz Schuh, So war es, war es so? Notizen und Erinnerungen eines Theatermannes, 1980

249 Alice Schwarzer, Romy Schneider, Mythos und Leben, 1998 Friedrich Torberg, Das fünfte Rad am Thespis-Karren, Band 1 und 2, 1966–1967 Hans Weigel, Tausend und eine Premiere, 1961 Manfred Wekwerth, Erinnern ist Leben, Eine dramatische Autobiographie, 2000

Danksagung

Thomas Baal, Anna Badora & Thomas Finkenstaedt, Gaby Barth, Günther Beelitz, Frauke Benrath, Michael Dangl, Gerti Drassl, Herbert Föttinger, ­Gernot Friedel, Elmar Goerden, Alexander Götz, Elisabeth Gürtler, Michael ­Heltau, Miguel Herz-Kestranek, , Christiane Hörbiger, Andrea Jonasson, Berta Kammer, Maria Köstlinger, Therese Lohner, Heinz Marecek, Eleonore Märkle, Sunnyi Melles, Hans Neuenfels und Elisabeth Trissenaar, Alexander Pereira, André Pohl, Helga Rabl-Stadler, Ricarda Reinisch, Michael Rüggeberg, Otto Schenk, Harald Serafin, Toni Slama, Erwin Steinhauer, Alexander Waechter, Alexandra Winkler, Brigitte Wolf, Elfie Wollenberger, Christl und Heinz ­Zednik

250