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100 Jahre Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde

Herausgegeben von C. Anthuber M.W. Beckmann J. Dietl F. Dross W. Frobenius

44 Abbildungen 2 Tabellen

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

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Prof. Dr. Christoph Anthuber Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. For- Oßwaldstraße 1, 82319 Starnberg schung und klinische Erfahrung erweitern unsere Er- Prof. Dr. med. Matthias W. Beckmann kenntnisse, insbesondere, was Behandlung und me- Universitätsklinikum Erlangen, Frauenklinik dikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Universitätsstraße 21–23, 91054 Erlangen Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Au- Prof. Dr. med. Johannes Dietl toren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf Frauenklinik und Hebammenschule, verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissens- Universitätsklinikum Würzburg stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Josef-Schneider-Straße 4, 97080 Würzburg Für Angaben über Dosierungsanweisungen und PD Dr. phil. Fritz Dross Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist an- Glückstraße 10, 91054 Erlangen gehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel PD Dr. med. Wolfgang Frobenius der verwendeten Präparate und gegebenenfalls nach Universitätsklinikum Erlangen, Frauenklinik Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die Universitätsstraße 21–23, 91054 Erlangen dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwende- Bibliografische Information ten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt der Deutschen Nationalbibliothek gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Appli- kation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Auto- Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet ren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm die Gesamtausgabe „Herausforderungen“ etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mit- in der Deutschen Nationalbibliografie; zuteilen. detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Medizinische Redaktion: Harald Rass, Schwalbach-Hülzweiler

Die Publikation des Buches wurde unterstützt durch die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde e.V., Buchloe.

© 2012 Georg Thieme Verlag KG Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden Rüdigerstraße 14 nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen 70469 Stuttgart eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen Deutschland werden, dass es sich um einen freien Warennamen Unsere Homepage: www.thieme.de handelt. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urhe- Printed in Germany berrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb Zeichnungen: Ziegler + Müller, Kirchentellinsfurt der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist Umschlaggestaltung: Thieme Verlagsgruppe ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf- Satz: Ziegler + Müller, Kirchentellinsfurt bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Druck und Buchbinder: AZ Druck und Datentechnik Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- GmbH, Kempten speicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys- temen. ISBN 978-3-13-171571-5 123456

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Herausforderungen

Nur wenige Anlässe verpflichten mehr zum Rück- ten Matthias W. Beckmann und Wolfgang Frobe- blick als ein rundes Jubiläum. Von daher stand nius in enger Kooperation mit Medizinhistori- außer Frage, dass das Hundertjährige der Baye- kern der Universität um die Jahrtausendwende rischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauen- damit begonnen, sich intensiv mit der Rolle der heilkunde (BGGF) entsprechend genutzt werden dortigen Frauenklinik im Nationalsozialismus zu musste. Zu diskutieren blieb allerdings die Form, befassen. In Würzburg nutzte Johannes Dietl u.a. in der dies geschehen sollte. Infrage kamen die tra- das 200-jährige Klinikjubiläum im Jahr 2005, um ditionelle Aneinanderreihung unkritisch-glorifi- an die inhumanen Praktiken der NS‑Vergangen- zierender Biografien der wichtigsten Vorsitzen- heit zu erinnern. An diese Arbeiten auf lokaler den oder aber die aktuelle historische Analyse der Ebene galt es anzuknüpfen und sie aus der Per- Institution BGGF und ihrer Repräsentanten im spektive einer regionalen fachärztlichen Vereini- Kontext der Zeitgeschichte. Letzteres würde, das gung in die historischen Zusammenhänge einzu- war klar, einige Herausforderungen mit sich brin- ordnen. gen: für die beteiligten Forscherinnen und For- Für jeden Kliniker ist interdisziplinäres Vorge- scher aufwendige Recherchearbeit, für das Fach, hen bei der Behandlung seiner Patientinnen heu- die Gesellschaft undjeden einzelnen Repräsentan- te eine Selbstverständlichkeit. Der vorliegende ten eine Überprüfung ihres Selbstverständnisses. Band beweist einmal mehr, dass dies auch bei Als Ende Mai 2009 in der historischen Biblio- der Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte thek der traditionsreichen I. Universitätsfrauen- gewinnbringend möglich ist. Die intensive Ko- klinik in der Münchner Maistraße auf Anregung operation mit geschichtswissenschaftlicher Ex- von Christoph Anthuber ein erstes Treffen Inte- pertise eröffnet dem Mediziner mancherlei unge- ressierter stattfand, war bereits eine Vorentschei- wohnte Perspektiven. Dies beginnt bei der Aufbe- dung gefallen: Beteiligt waren nicht nur Reprä- reitung der Geschichte aus den Archivalien der sentanten der BGGF, sondern auch Historike- Gesellschaft. Es setzt sich fort bei Untersuchungen rinnen und Historiker. Schnell wurde Einigkeit zu Granden des Faches wie Ernst Bumm, Albert darüber erzielt, die Vereinsgeschichte in zeitge- Döderlein sowie Paul Zweifel und deren expe- mäßer Form zu bearbeiten. Ausschlaggebend war rimenteller Praxis an gesunden Frauen und die Überzeugung der Vorsitzenden, dass allein die Patientinnen. Schließlich wird auch der klinik-, längst überfällige Aufarbeitung der nationalsozia- fach- und gesellschaftsinterne Umgang mit unan- listischen Vergangenheit geradezu eine Verpflich- genehmen historischen Erkenntnissen in den tung darstellte, das 100-jährige Jubiläum in dieser 1990er-Jahren berücksichtigt. Stets findet sich Hinsicht nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. das Fach dabei ebenso wie die Bayerische Gesell- Diese Einschätzung wurde wenig später auch von schaft zentral in den wichtigen gesellschaftlichen der Mitgliederversammlung geteilt, die der Be- Debatten um Mutterschaft und Geburt, Frauen- reitstellung entsprechender finanzieller Mittel rolle, Medizin und Gesellschaft. zustimmte. Im Laufe der Forschungsarbeit drängten sich Für die Auseinandersetzung mit der Geschich- weitere Überlegungen grundsätzlicher Art auf: te der BGGF im Nationalsozialismus konnte auf Will und kann die Gesellschaft auch in Zukunft die Ergebnisse früherer Initiativen zurückge- und über diesen Band hinaus eine Dialogplatt- griffen werden. In erster Linie sind hier die Be- form für historische und frauenärztliche Exper- mühungen von Manfred Stauber aus der Frauen- tise bieten? Ist ein alter Bauernschrank auf Dauer klinik an der Maistraße in den 1990er-Jahren zu der geeignete Ort für die Unterbringung der Ar- nennen, von denen im vorliegenden Band aus- chivalien der Gesellschaft? Details dazu werden, führlich die Rede ist. Aber auch in Erlangen hat- ebenso wie Überlegungen zur Zukunft der BGGF

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York VI Herausforderungen als Fachgesellschaft, im Abschlusskapitel des vor- sprochen, schon gar keine moralischen. Die liegenden Bandes diskutiert. Geschichtswissenschaft versteht sich als ermit- Bereits die Gründer der Gesellschaft und ihre telnde Instanz, die helfen will, Zusammenhänge Zeitgenossen empfanden ihre Epoche als gerade- im Detail und auf abstrakter gesellschaftlicher zu atemberaubend schnelllebig. Dies wird heute Ebene festzustellen, zu verstehen und zu erklären. noch erheblich drastischer wahrgenommen. In Stellen wir uns also der Aufgabe, ihre Ergebnisse Wissenschaft, Klinik und Praxis bleibt immer we- zur Kenntnis zu nehmen und zu diskutieren – niger Zeit, die eigene Rolle, die Aufgaben des das Fach und die Gesellschaft, aber auch jede und Faches oder die Funktionen einer fachärztlichen jeder einzelne frauenärztlich Tätige werden sich Vereinigung zu reflektieren. Hier mag die Rück- im kommenden Jahrhundert wenn nicht mit ähn- schau helfen, auch und vielleicht gerade dort, wo lichen, so doch vergleichbar schweren Herausfor- in der Sache wenig Erbauliches zu berichten ist. derungen konfrontiert sehen wie das im vergan- Freilich gilt es dabei stets zu bedenken, dass Ge- genen Jahrhundert der Fall war. schichtsbetrachtung, erst recht deren wissen- schaftliche Bearbeitung, kein Gerichtsverfahren Christoph Anthuber, Matthias W. Beckmann darstellt: Es wird nicht angeklagt und nicht ver- teidigt, vor allem aber werden keine Urteile ge- Vorsitzende der BGGF zwischen 2009 und 2013

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Autorinnen, Autoren und Herausgeber

Prof. Dr. Christoph Anthuber PD Dr. phil. Hans-Georg Hofer Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Medizinhistorisches Institut, Universität Bonn Oßwaldstraße 1 Sigmund-Freud-Straße 25 82319 Starnberg 53105 Bonn

Prof. Dr. med. Matthias W. Beckmann Dr. phil. Annemarie Kinzelbach Universitätsklinikum Erlangen, Frauenklinik storicon Universitätsstraße 21–23 Karneidplatz 29 91054 Erlangen 81547 München

Dr. med. Florian Bruns Dr. phil. Astrid Ley Institut für Geschichte der Medizin Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen Charité – Universitätsmedizin Berlin Heinrich-Grüber-Platz Ziegelstraße 10 16515 Oranienburg 10117 Berlin PD Dr. med. Marion Maria Ruisinger Dr. phil. Gabriele Czarnowski Deutsches Medizinhistorisches Museum Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Anatomiestraße 18–20 Medizinische Universität 85049 Ingolstadt Universitätsstraße 6 A-8010 Graz Dr. phil. Marion Schumann Agentur Selbsthilfefreundlichkeit Niedersachsen Prof. Dr. med. Johannes Dietl Gartenstraße 18 Frauenklinik und Hebammenschule, 30161 Hannover Universitätsklinikum Würzburg Josef-Schneider-Str. 4 Dr. phil. Eva-Maria Silies 97080 Würzburg Freie Universität Berlin, Abteilung VI Forschung Rudeloffweg 25–27 PD Dr. phil. Fritz Dross 14195 Berlin Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der FAU Prof. Dr. med. Manfred Stauber Glückstraße 10 Am Gries 9 91054 Erlangen 93059 Regensburg

Prof. Dr. med. Wolfgang Uwe Eckart Prof. Dr. phil. Renate Wittern-Sterzel Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Institut für Geschichte und Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Ethik der Medizin der FAU Im Neuenheimer Feld 327 Glückstraße 10 69120 Heidelberg 91054 Erlangen

PD Dr. med. Wolfgang Frobenius Universitätsklinikum Erlangen, Frauenklinik Universitätsstraße 21–23 91054 Erlangen

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Inhaltsverzeichnis

Herausforderungen: 100 Jahre Bayerische Österreichs „Anschluss“ Gesellschaft für Geburtshilfe und an Nazi-Deutschland und Frauenheilkunde – zur Einführung ...... 1 die österreichische Gynäkologie ...... 138 Fritz Dross, Wolfgang Frobenius, Erlangen Gabriele Czarnowski, Graz

Die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe Die Wiederbesetzung der und Frauenheilkunde. Eine Organisation gynäkologisch-geburtshilflichen von Fachärzten im historischen Kontext .... 7 Lehrstühle in Bayern nach 1945 ...... 149 Annemarie Kinzelbach, München Wolfgang Frobenius, Erlangen

„Erlaubt ist, was neu, was anregend, Der Frauenarzt und die Sterilität was interessant ist“. Gynäkologische des Mannes: Über das Verhältnis Forschung im Zeichen der Mikrobiologie .. 36 von Gynäkologie und Andrologie Marion Maria Ruisinger, Ingolstadt in den 1950er-Jahren ...... 186 Hans-Georg Hofer, Bonn Frauenärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ...... 47 Die Debatte um ein neues Sterilisations- Renate Wittern-Sterzel, Erlangen gesetz in der Bundesrepublik. Zur Geschichte einer erfolglosen ärztlichen Forderung ...... 197 „Gestern habe ich zum letzten Mal ein Messer angefasst!“ Die Strahlentherapie auf den Astrid Ley, Berlin BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 ...... 60 Wolfgang Frobenius, Erlangen Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens – ein ethisches Problem aus historischer Sicht ...... 206 Frau und Frauenheilkunde im Nationalsozialismus. Anmerkungen Florian Bruns, Berlin/Erlangen zum Themenfeld, offene Fragen ...... 87 Wolfgang U. Eckart, Heidelberg Zwischen medizinischer Notwendigkeit und moralischem Urteil. Die bundes- deutsche Ärzteschaft, die BGGF und „Von den Juden, die nicht mehr die Durchsetzung der Pille in den in der Gesellschaft sein dürfen …“ – 1960er-Jahren ...... 217 „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF ...... 95 Eva-Maria Silies, Berlin Fritz Dross, Erlangen Die Institutionalisierung der Geburten in der Bundesrepublik 1950 bis 1975. BGGF‑Ehrenmitglieder Auswirkungen auf den Hebammenberuf . 227 und das „Dritte Reich“ ...... 115 Marion Schumann, Hannover Wolfgang Frobenius, Erlangen

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Vergangenheitsbewältigung Anhang I: in der bayerischen Gynäkologie – Die Vorstände der BGGF ...... 265 Erfahrungen an der I. Universitäts- frauenklinik München ...... 237 Anhang II: Manfred Stauber, Regensburg Die historischen Statuten der BGGF und ihrer Vorgänger bis zu ihrer Die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe Eintragung ins Vereinsregister ...... 270 und Frauenheilkunde e. V. (BGGF) – Gedanken zur Zukunft ...... 257 Anhang III: Christoph Anthuber, Starnberg Ausgewählte Kurzbiographien ...... 279

Personenregister ...... 323

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Herausforderungen: 100 Jahre Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde – zur Einführung

Im Januar 1912 beschlossen die damals bereits zum Am einfachsten ist diese Frage zu beantworten, dritten Mal gemeinsam tagenden Mitglieder der wenn man sich auf die zuletzt erwähnte Geschichte 1884 gegründeten Münchener Gynäkologischen der Bayerischen Gesellschaft von 1987 bezieht. Der Gesellschaft und der 1902 etablierten Fränkischen Band von Zander und Zimmer firmiert bewusst zu- Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, rückhaltend als „Dokumentation“, die in knapper ihre beiden Organisationen zur Bayerischen Ge- Form die Gründungsgeschichte referiert und auf sellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde etwa 50 Seiten kurze biographische Essays zu den (BGGF) zu vereinigen. Der vorliegende Band möch- Vorsitzenden der Gesellschaft von Max Hofmeier te an das 100-jährige Jubiläum dieser regionalen (1854–1927; Vorsitzender 1912–1914) bis zu Karl- fachärztlichen Organisation erinnern, wichtige Heinrich Wulf (*1928; Vorsitzender 1986/87) Aspekte der BGGF‑Geschichte beleuchten und da- bringt. Verfasst sind die Essays von oftmals mit rüber hinaus in einigen Fällen auch auf deren wei- den dargestellten Personen persönlich bekannten, teren historischen Kontext eingehen. aber kaum historisch ausgebildeten Autoren, die Zu ähnlichen Anlässen sind jüngst umfangrei- auf Quellenhinweise komplett verzichteten. Die che Sammelbände zur Geschichte der Geburtshilfe Rolle der Vorsitzenden, der Gesellschaft oder der und Gynäkologie im 20. Jahrhundert vorgelegt Frauenheilkunde insgesamt in der nationalsozialis- worden. So präsentierten Matthias David und An- tischen Diktatur wird konsequent ignoriert. Über dreas D. Ebert 2010 im Zusammenhang mit dem ihre Funktion als Zeugnisse der frauenärztlichen 300-jährigen Jubiläum der Berliner Charité eine Erinnerungskultur in den 1980er Jahren hinaus „Geschichte der Berliner Universitäts-Frauenklini- sind diese Kurzbiographien daher wissenschaftlich ken“1; Rolf Kreienberg und Hans Ludwig publizier- eher von eingeschränktem Wert. Über den „runden ten 2011 einen Band „125 Jahre Deutsche Gesell- Geburtstag“ hinaus besteht mithin Anlass, sich ein- schaft für Gynäkologie und Geburtshilfe“2.Auch gehender mit der Geschichte der BGGF zu befassen. der von Daniel Schäfer 2010 herausgegebene Band Dieser Band versteht sich aber auch als Ergän- „Rheinische Hebammengeschichte im Kontext“3 zung zu den anderen genannten Arbeiten. Aus his- gehört in diesen Zusammenhang. Bereits 1987 ha- torischer Perspektive fällt auf, dass dort vorzugs- ben Josef Zander und Fritz Zimmer zum 75-jähri- weise fachintern argumentiert wird. Im Mittel- gen Jubiläum der BGGF eine historische Dokumen- punkt stehen besondere Verfahren, bedeutende tation präsentiert.4 Was also kann ein weiterer Entdeckungen und bemerkenswerte Persönlichkei- Band Wesentliches beitragen, ohne lediglich Be- ten der Geburtshilfe und Frauenheilkunde im kanntes „wiederzukäuen“? 20. Jahrhundert. Kaum zur Sprache kommt der Or- ganismus der Fachgesellschaften, wenig bearbeitet – – 1 David, Matthias; Ebert, Andreas D. (Hrsg.): Geschichte sind soweit überhaupt vorhanden ihre Archive. der Berliner Universitäts-Frauenkliniken. Strukturen, Wenig akzentuiert wird auch der – in Abgren- Personen, und Ereignisse in und außerhalb der Chari- zungsbemühungen gegenüber anderen Fächern té. Berlin 2010. und in der Beteiligung an der Gesamtentwicklung 2 Kreienberg, Rolf; Ludwig, Hans (Hrsg.): 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts- 4 Zander, Josef; Zimmer, Fritz (Hrsg.): Die Bayerische hilfe. Werte, Wissen, Wandel. Berlin 2011. Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde 3 Schäfer, Daniel (Hrsg.): Rheinische Hebammenge- e.V. Eine Dokumentation anläßlich ihres 75jährigen schichte im Kontext. Kassel 2010. Bestehens. München 1987.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 2 Herausforderungen: 100 Jahre BGGF – zur Einführung

– durchaus ambivalente und veränderliche Status sellschaft erarbeitet und in das historische Umfeld einer medizinischen Spezialdisziplin innerhalb der des 20. Jahrhunderts gestellt. Ihr Artikel nimmt Medizin überhaupt. Schließlich lässt sich beson- sich der Aufgabe an, diese Historie nicht wie viel- ders in den Arbeiten, welche die Geschichte eines fach üblich als die Geschichte ihrer Vorsitzenden einzelnen medizinischen Faches darstellen, eine oder der auf den Jahrestagungen sichtbar werden- auffallende Abstinenz beobachten, fachspezifische den wissenschaftlichen Evolution des Faches zu Entwicklungen etwas weiter greifend in die sozial- schreiben, sondern die Entwicklung des Organis- und kulturhistorischen Zusammenhänge einzuord- mus dieser Gesellschaft im vergangenen Jahrhun- nen. Hier hilft der Rückgriff auf geschichtswissen- dert zu skizzieren. schaftliche Expertise, die allerdings – das sei nicht Der Beitrag zur Geschichte der BGGF ist – seiner verschwiegen – auf sich allein gestellt nicht in der Aufgabenstellung gemäß – der einzige, der das ge- Lage ist, die fachlichen Details der Geburtshilfe samte 20. Jahrhundert im Blick hat. In den weiteren und Frauenheilkunde erschöpfend nachzuvollzie- Beiträgen werden chronologisch enger begrenzte hen, was in den oben genannten Bänden hervorra- historische Einzelphänomene untersucht. Eine gend gelungen ist. gleichmäßige Behandlung der einzelnen Epochen Der hier vorgelegte Band nimmt eine regionale, und Jahrzehnte war dabei nicht intendiert. Viel- nämlich die bayerische, Perspektive ein und ver- mehr ergibt sich als ein markanter Schwerpunkt sucht, allgemeinere Entwicklungen in der Region die als Desiderat bereits beklagte Darstellung der unter ihren spezifischen historischen Bedingungen Geschichte des Faches und der Gesellschaft wäh- nachzuzeichnen. Besonderes Augenmerk gilt den rend des Nationalsozialismus. Zugrunde liegen Wechselwirkungen zwischen Medizin und Gesell- eine inzwischen hochdifferenzierte Forschungsla- schaft, Geburtshilfe und Mutterschaft, Frauenheil- ge, die selbst für den engeren Bereich der Medizin- kunde und Frauenbild in der Geschichte des geschichte von Einzelnen kaum mehr vollständig 20. Jahrhunderts5. In diesem Rahmen soll insbeson- überblickt werden kann,6 eine Fülle von einschlägi- dere ein Blick auf die Rolle der BGGF und ihrer Mit- gen Bemühungen anderer Fächer und Fachgesell- glieder im Nationalsozialismus geworfen werden. schaften7 sowie schließlich der Trend zur schritt- Der Initiative der BGGF und ihrer Vorsitzenden weisen und vorsichtigen Auflösung strenger Epo- Christoph Anthuber und Matthias W. Beckmann chengrenzen mit den Jahren 1933 und 1945: ist es zu verdanken, dass dazu eine Arbeitsgruppe Immer mehr werden neben Brüchen auch Konti- eingesetzt wurde, die hiermit gleichsam ihren Ab- nuitäten von der Weimarer Republik über den Na- schlussbericht vorlegt. Darüber hinaus hat die Ge- tionalsozialismus in die Nachkriegsgeschichte sellschaft die Historikerin und Leiterin von „stori- sichtbar und entsprechend betont. Neben mehre- con“ (München), Annemarie Kinzelbach, mit Re- ren Beiträgen, die unmittelbar auf das Geschehen cherchen im Archiv der Bayerischen Gesellschaft unter der Diktatur eingehen, werden einschlägige für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in München Perspektiven auch in den meisten anderen Beiträ- beauftragt. Zur Vertiefung der Befunde wurden gen von der inhumanen Forschungspraxis des weitere Historikerinnen und Historiker aus Deutschland und Österreich gebeten, ihre Sach- 6 Überblicksweise: Jütte, Robert; Eckart, Wolfgang kenntnis unter spezieller Berücksichtigung der Uwe; Schmuhl, Hans-Walter; Süß, Winfried: Medizin bayrischen Verhältnisse und besonders freilich der und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der BGGF für diesen Band in Originalarbeiten zur Ver- Forschung. Göttingen 2011. fügung zu stellen. 7 Zuletzt bspw. Beddies, Thomas: Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kin- dern in der NS‑Zeit = In memory of the children. Pe- Zu den Beiträgen diatricians and crimes against children in the Nazi pe- riod, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Berlin 2012; Krischel, Matthis; Im Zentrum des Interesses und daher ganz am An- Moll, Friedrich; Bellmann, Julia; Scholz, Albrecht; fang des Bandes steht die Geschichte der BGGF als Schultheiss, Dirk (Hrsg.): Urologen im Nationalsozia- eines fachärztlichen Regionalverbandes. Annema- lismus. Bd. 1: Zwischen Anpassung und Vertreibung; rie Kinzelbach hat sie aus den Archivalien der Ge- Bd. 2: Biografien und Materialien. Berlin 2011; Sachs, Michael; Schmiedebach, Heinz-Peter; Schwoch, Rebecca: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933– 5 Zuletzt etwa Eschebach, Insa; Ley, Astrid (Hrsg.): Ge- 1945. Die Präsidenten, hrsg. von Steinau, Hans-Ul- schlecht und „Rasse“ in der NS-Medizin. Berlin 2012. rich; Bauer, Hartwig. Heidelberg 2011.

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19. Jahrhunderts bis zur Reflektion auf die Umstän- rung nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken de erster Versuche der historischen Aufarbeitung Nachwuchses“ im Nationalsozialismus auch durch im Fach in den 1990er Jahren und sogar in Chris- Strahlen durchgeführt werden sollte oder könnte. toph Anthubers Blick in die Zukunft deutlich. Der folgende Beitrag von Wolfgang U. Eckart In ihrer exemplarischen Darstellung zu Motiva- (Heidelberg) ist der erste in der Reihe der Artikel, tion und Methoden der gynäkologischen For- die sich ausschließlich mit Fragen der Geschichte schung um 1900 schildert Marion Maria Ruisinger des Nationalsozialismus befassen. Er stellt die spe- (Ingolstadt) das von Ernst Bumm in Würzburg ziellere Geschichte der Frauenheilkunde und Ge- durchgeführte Experiment mit Gonokokken-Eiter, burtshilfe in den Kontext der allgemeineren Proble- mit dem die Ätiologie der Gonorrhoe durch einen matik von Mutterschaft, Frauenrolle und Frauenbild Versuch an einer zuvor gesunden Frau zweifelsfrei im völkisch-biologistischen Gesellschaftsideal des bewiesen wurde. Die Autorin bettet dies ein in ei- Nationalsozialismus. Vor diesem Hintergrund führt nen Überblick zur Entwicklung der experimentel- der Autor in die rezente Geschichtsschreibung zum len Gonorrhoe-Forschung im 19. Jahrhundert und Thema Eugenik und Sterilisationspraxis an deut- ergänzt ihre Darstellung durch die Beschreibung schen Universitätskliniken ein. Dies ergänzt Fritz ähnlicher Experimente durch Paul Zweifel und Al- Dross (Erlangen) am Beispiel einiger gut fassbarer bert Döderlein. Abschließend wird die öffentliche Biographien durch den Blick auf eine innerhalb des Diskussion dargestellt, die durch die zeitgenössi- Faches und der BGGF bislang kaum thematisierte sche journalistische Aufarbeitung dieser und ver- Opfergruppe: Kollegen, die nach den rassischen Kri- gleichbarer wissenschaftlicher Untersuchungs- terien des Nationalsozialismus als Juden galten und methoden nach einem Skandal letztlich in die welt- deren brutale Misshandlung, Verdrängung und Ver- weit ersten Richtlinien für die medizinische treibung zumindest toleriert wurde. Forschung mündete. Die Rolle der Ehrenmitglieder der BGGF im Na- Renate Wittern-Sterzel (Erlangen) widmet sich tionalsozialismus wird von Wolfgang Frobenius be- mit Blick auf die 1913 zum Dr. med. promovierte leuchtet. Dabei zeigt sich, dass sich viele von ihnen Selma Graf der Frage, unter welchen Umständen – teils aus Überzeugung, teils gegen ihr Gewissen – die ersten Generationen von Ärztinnen in Deutsch- zu Helfershelfern des Regimes machten, indem sie land praktizierten. Sie zeigt, dass von ihnen vor- Zwangssterilisationen, eugenische Abtreibungen zugsweise Frauen und Kinder behandelt wurden, oder rassistisch intendierte Schwangerschaftsab- dass aber nicht alle eine frauenärztliche Spezialisie- brüche bei Ostarbeiterinnen zuließen oder gar ak- rung anstrebten. Ein wichtiger Aspekt ist der tiv förderten. Damit wird ein besonders unrühmli- Standpunkt dieser Ärztinnen zur Frage des cher Aspekt der Geschichte der Frauenheilkunde Schwangerschaftsabbruches. In der NS‑Diktatur thematisiert, den offizielle Publikationen bis in die konnte eine liberale Einstellung dazu zum Vorwurf Gegenwart noch allzu oft ausgespart lassen. Auch „gewerbsmäßiger Abtreibung“ und zur Aberken- in Biographien sucht man in der Regel vergeblich nung der Doktorwürde führen. danach – ebenso wie nach Informationen über die Den Reigen der Themen aus den Tagungen der näheren Umstände der Wiederbesetzung der gynä- BGGF eröffnet Wolfgang Frobenius (Erlangen). Er kologischen Lehrstühle nach 1945, die in histori- zeigt, wie sich die Mitglieder der Gesellschaft von schen Betrachtungen gerne übergangen werden. der konstituierenden Sitzung an mit einer Zwangs- Diese Wiederbesetzungen waren nämlich – wie in pause während des Ersten Weltkriegs durch die einem weiteren Beitrag des Autors gezeigt wird – Weimarer Republik hindurch bis in das „Dritte zu einem Teil durch erbitterte Auseinandersetzun- Reich“ hinein auf ihren Kongressen mit der Strah- gen über die NS‑Vergangenheit von Amtsinhabern lentherapie auseinandersetzten. Diese damals re- und Bewerbern geprägt, hinzu kamen Intrigen und volutionär erscheinende Behandlungsmethode, de- vermutlich auch Nepotismus. Der von den Ameri- ren Etablierung von vielen Opfern unter Patientin- kanern ursprünglich geplante personelle Neuan- nen, Ärzten und Assistentinnen begleitet war, fang scheiterte initial an der dünnen Personaldecke zählte bis in die 1930er Jahre zu den wissenschaft- und dem insuffizienten Entnazifizierungsverfah- lichen Topthemen. Zahlreiche Mediziner glaubten, ren, später taten dann der heraufziehende Kalte damit werde die gerade etablierte chirurgische Krieg sowie der kollektive Wunsch nach Verdrän- Therapie vieler Erkrankungen obsolet. Dies ist nicht gen und Vergessen das ihrige, um bei diesen Neu- zuletzt grundlegend für das Verständnis der Ausei- besetzungen im Ergebnis eher Kontinuitäten als nandersetzung darüber, ob die Zwangssterilisie- Brüche Realität werden zu lassen.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 4 Herausforderungen: 100 Jahre BGGF – zur Einführung

Der Nationalsozialismus hat jedoch nicht nur in „Die Sterilisierung der Frau“ behandelten speziell der deutschen Frauenheilkunde und bei den ihr an- eingeladene Referenten die aus naheliegenden vertrauten Patientinnen tiefe Spuren hinterlassen. Gründen ausgesprochen heikle politische Forde- In einem weiteren Beitrag untersucht Gabriele rung nach einer gesetzlichen Neuregelung. Ausge- Czarnowski (Graz) die Folgen des „Anschlusses“ hend davon stellt Astrid Ley (Berlin) die gesamtge- für die vier österreichischen Universitätsfrauenkli- sellschaftliche Debatte zu diesem Thema Anfang niken unter besonderer Berücksichtigung der Gra- der 1960er Jahre in den Zusammenhang mit der zer Verhältnisse. Dabei werden zum einen die ver- nationalsozialistischen Sterilisationspraxis und de- heerenden Folgen einer ideologisch motivierten ren Reflektion in der Nachkriegszeit. Abgesehen Personalpolitik deutlich. Zum anderen beschreibt von einer Unvereinbarkeit der Bedingungen für die Autorin, wie in Graz zur Zwangsabtreibung ein- ein neues demokratisches Sterilisationsgesetz gewiesene Frauen von dem aus dem „Reich“ beru- scheiterte das ganze Vorhaben laut Ley schließlich fenen Klinikchef zum Training seiner Fertigkeiten u.a. an einem gesellschaftlichen Wertewandel, der für die vaginale Operation des Zervixkarzinoms es schlicht überflüssig machte. missbraucht wurden. Darüber hinaus führte er an Zu diesem Wertewandel trug die Einführung den Schwangeren Versuche zur Fetographie mit der Pille bei. Eingebettet in eine Darstellung der öf- teilweise hoch radioaktiven Röntgenkontrastmit- fentlichen Diskussion und der gesamtgesellschaft- teln durch und schreckte nicht vor operativen Ent- lichen Entwicklung in den 1960er und 1970er Jah- bindungen zurück, die einzig und allein dem Zweck ren zeigt Eva-Maria Silies (Berlin), wie sich die dienten, das Ungeborene auch außerhalb des Mut- Debatte über die gynäkologischen Aspekte der hor- terleibes in der noch intakten Fruchthülle in seinen monalen Kontrazeption auf den BGGF‑Kongressen „agonalen Bewegungen“ zu studieren. Die Ergeb- nach 1959 nicht zuletzt unter dem Druck der Lai- nisse dieser verbrecherischen Untersuchungen enöffentlichkeit innerhalb kürzester Zeit von ei- konnte er problemlos in angesehenen deutschen nem Rand- zu einem Topthema entwickelte. Um Fachzeitschriften publizieren. Mitglieder und interessierte Gäste auf den neues- Ein erstes Großereignis in der Nachkriegsge- ten Stand zu bringen, wurden im Oktober 1963 die schichte der BGGF brachte das Jahr 1959. Damals europäischen Pioniere auf diesem Gebiet zu Vorträ- wurde die gemeinsame Tagung der BGGF mit der gen eingeladen. Der Beitrag befasst sich auch mit Österreichischen Gesellschaft für Geburtshilfe und dem moralischen Diskurs, den die Pille innerhalb Gynäkologie (OEGGG) in Lindau zur Premieren- der gesamten deutschen Ärzteschaft auslöste und bühne für eine wissenschaftliche Gemeinschafts- der in der „Ulmer Denkschrift“ von 1965 kulmi- veranstaltung mit deutschen und österreichischen nierte. Forschern, die sich kurz zuvor in neuen Fachgesell- Während unter den Älteren die Debatten um die schaften zum Studium der Fertilität und Sterilität Pille zumindest fragmentarisch noch gegenwärtig zusammengeschlossen hatten. Erstmals standen sind, erscheint die Erinnerung an ein anderes Pro- damit Vorträge zu andrologischen Fortpflanzungs- blem aus jenen Jahren des Umbruchs weitgehend problemen auf der Agenda einer Gynäkologenge- verblasst: die Frage, ob Nidationshemmer, wie sellschaft. Hans-Georg Hofer (Bonn) beschreibt die- etwa Intrauterinpessare, als Abortiva zu gelten hät- ses Ereignis in seinem Beitrag als wesentlichen Be- ten. Sie ist eng verknüpft mit der Definition des Le- standteil des Prozesses zur Institutionalisierung bensbeginns beim Menschen, die Philosophen, und Professionalisierung der Fertilitätsforschung, Rechtsgelehrte, die Kirchen und die Medizin seit der um 1960 u.a. mit der Gründung der oben ge- Jahrtausenden beschäftigt. Ausgehend von einem nannten Fachgesellschaften einen wichtigen Weg- Rückblick auf diese Bemühungen beschreibt und punkt erreichte. Bei den beiden Gründungspräsi- analysiert Florian Bruns (Berlin/Erlangen) eine ge- denten handelte es sich mit Richard Fikentscher meinsame Sitzung der BGGF mit der Österrei- (München) und Tassilo Antoine (Wien) jeweils um chischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauen- Frauenärzte. heilkunde 1967 in Bad Gastein, bei der dieses Eine Fortschreibung von Diskussionen aus der Thema – motiviert durch eine zunehmende Rechts- ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach den Erfah- unsicherheit bei der Schwangerschaftsverhütung – rungen in der NS‑Diktatur, ist in einer Debatte zu im Mittelpunkt stand. Bruns schlägt von da aus sehen, die bei der BGGF‑Jahrestagung 1962 in Ro- auch den Bogen zur Gegenwart, in der die Errun- thenburg ob der Tauber geführt wurde. In der ers- genschaften der Reproduktionsmedizin die alten ten Sektion dieser Veranstaltung unter dem Titel Fragen in modifizierter Form neu stellen: Ab wann

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Herausforderungen: 100 Jahre BGGF – zur Einführung 5 kommt dem unzweifelhaft menschlichen Embryo Danksagung der gleiche Schutz zu wie dem geborenen Men- schen, und woran ist diese Schutzwürdigkeit fest- Abschließend sei – auch im Namen der Autorinnen zumachen? und Autoren des vorliegenden Bandes – allen ge- Unabhängig von vergangenen Tagungen der dankt, die sich für das Projekt eingesetzt haben. An BGGF präsentieren sich zwei Beiträge gegen Ende erster Stelle stehen hier die Vorstände der Bayeri- dieses Bandes. Im ersteren untersucht Marion schen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheil- Schumann (Hannover) aus der Sicht der Sozialwis- kunde: Christoph Anthuber (Starnberg) hat die Ar- senschaftlerin den Wandel im Berufsbild der Heb- beiten nicht nur mit besonderem Engagement ini- ammen, den die Verlagerung der Geburtshilfe aus tiiert, sondern auch stets tatkräftig unterstützt. den Häusern der Schwangeren in die Kliniken zwi- Matthias W. Beckmann (Erlangen) verdanken wir schen 1950 und 1975 mit sich gebracht hat. Heb- den fruchtbaren Kontakt zum Thieme-Verlag sowie ammen seien dadurch, schreibt Schumann, von jede nur erdenkliche Unterstützung der Universi- der zumeist selbständigen Begleiterin Schwangerer tätsfrauenklinik Erlangen für das Vorhaben. Beide zur Assistentin im Kreißsaal geworden. zeichnen schließlich dafür verantwortlich, dass Einer der ersten Frauenärzte, die sich mit der der Arbeitsgruppe die Präsentation erster Ergeb- NS‑Vergangenheit des Faches auseinandersetzten, nisse zur Geschichte der Gesellschaft in der natio- ist der frühere stellvertretende Direktor der I. Uni- nalsozialistischen Diktatur auf der Erlanger Jahres- versitätsfrauenklinik München, Manfred Stauber tagung 2011 ermöglicht wurde. Auf der Würzbur- (Regensburg). Sein Artikel schildert in Form eines ger Jahrestagung im Jubiläumsjahr 2012 hat persönlichen Erfahrungsberichtes die Probleme, Johannes Dietl (Würzburg) ein Panel zur BGGF‑Ge- die sich noch Ende des 20. Jahrhunderts aus den schichte eingerichtet und persönlich vorbereitet. Bemühungen ergaben, die Rolle gynäkologischer Stets großzügig und hilfreich zeigten sich auch Autoritäten im Nationalsozialismus darzustellen, Karl-Heinz Leven (Erlangen) und das von ihm gelei- Unrechtsbewusstsein zu erzeugen und sich bei tete Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, überlebenden Opfern zu entschuldigen. so dass die bereits von seiner Vorgängerin, Renate Schließlich zieht der Vorsitzende der BGGF, Wittern-Sterzel, mit Matthias W. Beckmann be- Christoph Anthuber (Starnberg), eine kurze Bilanz, gründete Zusammenarbeit von Frauenklinik und wie die Gesellschaft in den vergangenen 100 Jahren Medizingeschichte in Erlangen fortgesetzt und in- ihre Aufgaben erfüllt hat. Auf dieser Basis stellt er tensiviert werden konnte.8 Überlegungen an, welche Maßnahmen zur Bewälti- Ein Buch lebt aber schließlich von den darin vor- gung der zum Teil schon deutlich absehbaren künf- gelegten Texten. In diesem Sinne sei allen Autorin- tigen Herausforderungen beitragen könnten. Ne- nen und Autoren ganz herzlich gedankt für die Zu- ben einer Fülle von Vorschlägen für neue Initiativen sage, sich ohne Honorar in das arbeitsintensive unter dem Motto „Gestalten statt Verwalten“ be- Abenteuer zu begeben, auf allgemeiner Ebene be- tont der BGGF‑Vorsitzende die Notwendigkeit zur reits Durchdachtes und Bearbeitetes erneut unter Schaffung neuer Strukturen. Es werde in Zukunft regionaler Perspektive anzugehen und auf seine nicht mehr ausreichen, die drängenden Themen Verknüpfungen und Verstrickungen mit der Ge- im engen Rahmen von drei Vorstandssitzungen schichte der BGGF zu prüfen. und einer Mitgliederversammlung pro Jahr zu dis- Bevor aus Überlegungen ein Konzept, aus einem kutieren. Im Hinblick auf die bisher kaum bearbei- Konzept ein Arbeitsplan und aus eingereichten Bei- tete NS‑Vergangenheit fordert er die Gesellschaft trägen ein Buch wird, sind zahllose Aufgaben zu be- auf, Geschichtsbewusstsein zu zeigen und sich wältigen, die das Ergebnis schließlich kaum noch nicht unter die „gedächtnislosen Institutionen“ zu repräsentieren scheint. Für die absolut zuverläs- einzureihen. Dies sei – nach dem Vorbild anderer sige, immer pünktliche und vorausschauende Er- Gesellschaften – etwa durch die Einrichtung einer „ “ Historischen Kommission möglich. 8 Vgl. Ley, Astrid; Ruisinger, Marion Maria (Hrsg.): Von Gebärhaus und Retortenbaby. 175 Jahre Frauenklinik Erlangen. Erlangen: Universitäts-Frauenklinik 2003 (Begleitband zur Ausstellung der Universitäts-Frau- enklinik Erlangen und des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Erlangen im Stadtmuseum Erlangen vom 26. März bis 27. Juli 2003).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 6 Herausforderungen: 100 Jahre BGGF – zur Einführung ledigung von ebenso unverzichtbaren wie unter Funktion für das nun vorliegende Ergebnis mit Zeitdruck stets unangenehmen Arbeiten zur Litera- dem Plural „Hilfskräfte“ völlig unzureichend be- tur-, Quellen- und Bildrecherche, der Aufbereitung schrieben ist. der Ergebnisse, dem Korrekturlesen sowie dem Formatieren – um nur einige zu nennen – sind wir Fritz Dross, Wolfgang Frobenius Sigrid Benn von der Erlanger Frauenklinik sowie Tina Maler und Andreas Thum verpflichtet, deren Erlangen, im Herbst 2012

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Die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext

Annemarie Kinzelbach

Die Gründung der „Bayerischen Gesellschaft für Aus diesem Grund geht es in einem ersten Geburtshilfe und Frauenheilkunde“ (BGGF) erfolgte Schritt darum, nachzuvollziehen wie die BGGF als durch eine konstituierende Sitzung in Würzburg Verband gesellschaftlich einzuordnen ist. Ausge- am 28. Januar 1912. Sie war das Ergebnis einer als hend von dem, was die jeweils aktiven Mitglieder „gemeinsame Sitzung“ bezeichneten Mitglieder- als spezifische Eigenschaften der Organisation be- versammlung der „Münchner Gynäkologischen Ge- schrieben haben, greife ich dokumentierte Aktio- sellschaft“ und der „Fränkischen Gesellschaft für nen heraus, die in ihren Zielen zwar der jeweils ge- Geburtshilfe und Frauenheilkunde“ unter dem Vor- wählten Definition entsprachen, gleichzeitig aber sitz der Ordinarien Albert Döderlein (München) in ihrer spezifischen Gestaltung zusätzliche Inten- und Max Hofmeier (Würzburg). In der Folge löste tionen deutlich werden lassen. sich die Fränkische Gesellschaft nach knapp 10- Unter Punkt zwei schließt sich die Beleuchtung jährigem Bestehen auf. Die Münchner Gesellschaft der Interaktion von Vorstand und Mitgliedern an. hingegen, die bereits 1884 gegründet worden war, Am Beispiel eines wesentlichen – aber in den ver- bestand bis nach dem Zweiten Weltkrieg weiter.1 gangenen 100 Jahren unterschiedlich definierten – Die Auflösung der Münchner Gesellschaft am Merkmals der Bayerischen Gesellschaft, dem An- 24. Januar 1952 und ihre Inkorporierung in die spruch der Wissenschaftsförderung, geht es um wieder gegründete BGGF gehen aus einem Brief- das spezifische Spannungsverhältnis zwischen wechsel zwischen den Vorstandsmitgliedern her- denjenigen, die sich als Wissenschaftler verstanden vor.2 und an Universitätskliniken (später auch Lehrkran- Ziel der folgenden Darstellung ist es, die Bedeu- kenhäusern) tätig waren, sowie jenen Mitgliedern, tung dieses Zusammenschlusses und der 100-jäh- die als „Praktiker“ definiert wurden, in allgemei- rigen Geschichte der daraus entstandenen neuen nen Krankenhäusern oder privater Praxis arbeite- bayerischen Organisation von Frauenärzten ver- ten und wenig oder überhaupt nicht (mehr) publi- ständlich zu machen, indem die spezifische Ge- zierten. schichte dieser Gesellschaft in den allgemeinen Unter Punkt drei erörtere ich die in diesem Kon- wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen text naheliegende Frage, wie exklusiv die Bayeri- und sozialen Kontext eingeordnet wird. sche Gesellschaft wirkte. Dazu gehören wichtige formale Fragen wie Aufnahmebedingungen und Mitgliedsbeiträge. Von besonderem Interesse er- 1 Ausführliche Dokumentation des Gründungsvor- scheint aber die quantitative Entwicklung des Mit- gangs sowie Überblick über die Vorgeschichte der gliederbestandes unter zwei besonders augenfälli- Münchner und der Fränkischen Gesellschaft in Zan- gen Gesichtspunkten – dem Mitgliederschwund der, Zimmer: BGGF (1987), S. 1–26. 2 16. 2.1952 Josef Breitner (Schriftführer BGGF) und während des nationalsozialistischen Regimes und Otmar Bauer (Schatzmeister BGGF und Schriftführer der Unterrepräsentation von weiblichen Ärzten. MGG) an Karl Johann Burger (Vorsitzender BGGF von Beides soll näher beleuchtet werden. Mit der Frage der Neugründung 1951/52 bis 1955). Ordner und nach der Beteiligung von BGGF‑Mitgliedern an ge- Mappen im Archiv-Schrank der BGGF im Hebam- samtgesellschaftlichen Aktionen und Entscheidun- men-Unterrichtszimmer, 1. OG, Klinik und Poliklinik gen endet die Untersuchung der Innenverhältnisse. für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU, Mai- Unter Punkt vier stehen Aktionen und Reaktio- straße 11 (ab hier: Archiv BGGF), BGGF (1937–1952): 36. nen im Kontext von allgemeinen politischen und

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 8 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext sozialen Entwicklungen im Vordergrund der Dar- Schlechterstellung.3 Einer derartigen Entwicklung stellung. Exemplarisch betrachtet werden einer- standen Einzelpersonen machtlos gegenüber. Nur seits Verfehlungen und Verbrechen von Vorstands- Zusammenschlüsse machten es möglich, wirt- mitgliedern während des NS‑Regimes und die schaftliche und politische Interessen wirkungsvoll mangelnde Auseinandersetzung damit in der zu vertreten. Dabei versprachen zentrale Organisa- Nachkriegszeit. Andererseits geht es aber auch um tionen für Ärzte allgemein, wie beispielsweise der vorbildliche Aktionen im politischen und gesund- „Hartmannbund“, zwar eine Bündelung der Kräfte, heitspolitischen Diskurs, die wesentlich von Mit- konnten aber die wachsende Differenzierung nicht gliedern der BGGF veranlasst oder zumindest mit- mehr abdecken. Es entstanden daher immer mehr getragen wurden. Ein weiterer Aspekt wird das fachspezifische Verbände.4 Agieren der BGGF im Kontext von „Frauenfragen“ In diesem Kontext ist auch die Gründung eines sein. regionalen Fachverbandes wie der Bayerischen Ge- Abschließend folgt im fünften Abschnitt ein aus sellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde zu arbeitsökonomischen Gründen gleichfalls nur sehen. Schon die erste Dekade ihres Bestehens exemplarischer Einblick in die vielfältigen und um- macht exemplarisch deutlich, wie der Vorstand im fangreichen Aufgaben, die von den ehrenamtlich Spannungsfeld zwischen einem Verband zur Ver- tätigen Vorstandsmitgliedern erledigt werden tretung von Standesinteressen und einem am Ge- mussten und müssen, mit einem Abriss der daraus meinwohl orientierten Verein zur Förderung von resultierenden Verpflichtungen und Verantwor- Wissenschaft5 agierte. tung. Am Schluss steht skizzenartig eine Würdi- Nicht nur in der Gynäkologie formierten sich ge- gung der zumindest anfangs anonym bleibenden nau in diesem Zeitraum Interessengruppen, die weiblichen Sekretariatsarbeit im Hintergrund. eine genauere Festlegung dessen anstrebten, was Die Basis für diese Darstellung bildet das Archiv ein Fach- oder „Spezialarzt“ sei.6 An solchen Aktivi- der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und täten beteiligten sich auch Mitglieder der BGGF. Der Frauenheilkunde. Dieses wurde in Form von Akten- Nachweis dafür muss allerdings über einen Umweg ordnern, Mappen und einzelnen gebundenen Hef- erfolgen, da sich für die ersten Jahrzehnte die ge- ten von Vorsitzenden, Schriftführern, Schatzmeis- druckt erschienenen Sitzungsprotokolle der BGGF tern und deren Sekretärinnen nach individuellen in der Regel auf die Dokumentation der wissen- Regeln zusammengestellt und beschriftet. Eine Ar- schaftlichen Vorträge und der damit verbundenen chivordnung im eigentlichen Sinne existiert nicht. Diskussionen beschränken. Die übrigen Unterlagen Alle einsehbaren Dokumente und Unterlagen be- wurden gezielt oder zufällig nicht aufbewahrt. finden sich in einem Schrank im Hebammen- Vollständigere, handschriftliche Protokolle sind da- Unterrichtszimmer der Klinik und Poliklinik für gegen von der Münchner Gynäkologischen Gesell- Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Ludwig- Maximilians-Universität in der Münchner Mai- 3 Belege dafür diskutierte schon Huerkamp: Aufstieg straße. (1985), S. 191 f.; für die 1920er Jahre ist sogar von „Krisenjahren der Medizin“ die Rede, siehe Bruns: Medizinethik (2009), S. 32 ff. 4 Hartmannbund, gegründet als „Leipziger Verband“ Das erste Jahrzehnt und fachspezifische Organisationen siehe den Sam- melband Jütte; Gerst (Hrsg.): Ärzteschaft (1997), so- wie beispielsweise Loddenkemper: Gründungspha- Interessenvertretung sen (2010); Groß; Schäfer: DGZMK (2009), u.a. S. 81. oder Wissenschaftsförderung? 5 Ganz allgemein werden sowohl der Anspruch der Ge- meinnützigkeit als auch der Anspruch der Wissen- In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien schaftlichkeit von Soziologen und Historikern in Fra- ge gestellt, siehe beispielsweise „Forschungsberichte die Spezialisierung zum Facharzt aufgrund des der Interdisziplinären Arbeitsgruppe ‚Gemeinwohl stark vermehrten medizinischen Wissens nicht und Gemeinsinn‘ der Berlin-Brandenburgischen Aka- nur wissenschaftlich wünschenswert. Bessere Be- demie der Wissenschaften“. Berlin 2001 und 2002; zahlung ließ sie auch aus wirtschaftlichen Gründen Hacking: Construction (1999). Als Beispiel wird auch erstrebenswert erscheinen. Allerdings führte diese die Konstruktion des unpolitischen Wissenschaftlers Entwicklung am Übergang zum 20. Jahrhundert of- diskutiert, siehe spezifisch zur Medizingeschichte Schleiermacher: Medizin (2007), S. 28 f., 39. fenbar zu einem Überangebot an Spezialärzten und 6 Siehe Quincke: Spezialitäten (1906), S. 1213–1217, es mehrten sich Anzeichen ihrer ökonomischen 1260–1264.

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Abb. 1.1 Protokollnotiz Döderleins zur Fachbezeichnung „Frauenarzt“ (Quelle: Archiv BGGF). schaft überliefert, deren Mitglieder automatisch Definition die Frage noch nicht abschließend ge- der BGGF angehörten7 und deren langjährige Vor- klärt, wie weitere Diskussionen belegen; und schon standsmitglieder Albert Döderlein sowie der Chef- zwei Jahre später erschien im Protokoll eine drei- arzt des Nürnberger Wöchnerinnenheims, Max Si- jährige Assistenztätigkeit als Qualifikationsvoraus- mon, zugleich im fraglichen Zeitraum Vorsitzende setzung.8 der BGGF waren. Der gleichzeitige Beschluss der Münchner Ge- Aus der Dokumentation geht hervor, dass Dö- sellschaft, eine „wirtschaftliche Abteilung inner- derlein und Simon aktiv an der Definition des Fach- halb der gyn. Gesellschaft“ bzw. eine wirtschaftli- arztbegriffs für Frauenheilkunde mitarbeiteten. che Vereinigung zu gründen, zeigt einerseits die Diese Definition, für die eine Kommission berufen enge Verknüpfung zwischen ökonomischen und worden war, wurde am 10. März 1920 wie folgt ins fachlichen Interessen.9 Im Jahr vor der Gründung Protokoll der Münchner Gesellschaft aufgenom- der BGGF, 1911, war die Reichsversicherungsord- men: nung verabschiedet worden, ohne die detailliert „Die Bezeichnung Frauenarzt setzt eine Fach- vorgebrachten Wünsche der Ärzte zu berücksichti- ausbildung in Geburtshilfe und Gynäkologie vo- gen. In den Folgejahren kam es zu teilweise erbit- raus. Für die Anerkennung als Frauenarzt oder tertem Widerstand der Betroffenen, vor allem der Facharzt für Geburtshilfe und Gynäkologie ist der niedergelassenen oder niederlassungswilligen Ärz- Nachweis einer fachärztlichen Ausbildung erfor- te.10 Die Initiative der Münchner Gesellschaft, die derlich. Dieselbe besteht in einer mindestens 2 jäh- wirtschaftlichen Angelegenheiten in eine eigene rigen Tätigkeit als Assistent oder einer dem Assis- „Abteilung“ oder „Vereinigung“ auszulagern, macht tenten gleichwertigen Stellung an einer Frauenkli- jedoch andererseits deutlich, dass sich auch diese nik, Poliklinik oder [an einem, AK] Krankenhaus. Gesellschaft nicht als bloßer wirtschaftlicher Inte- […]“ ressenverband verstand, sondern darüber hinaus- In strittigen Fällen sollte der Zentralverband, die gehende Ziele verfolgte. Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Ge- burtshilfe, entscheiden, zu deren Vorstand auch Döderlein gehört hatte. Doch war selbst mit dieser 8 Archiv BGGF, Münchner Gynäkologische Gesellschaft (1915–1935): Sitzungsberichte 1915–1935, 10. 3. 7 Was diese nicht immer widerspruchslos akzeptier- 1920; 16. 2.1922; 18. 5. 1922. ten. Archiv BGGF (1912–1988): Übersicht der Tagun- 9 Archiv BGGF, Münchner Gynäkologische Gesellschaft gen. Auswertung von V. Korrespondenz vor 1939. (1915–1935): Sitzungsberichte 1915–1935, Korrespondenz Voltz/Dyroff/Miltner, 30. 6.1932, 18. 5.1922. 4.7. 1932. 10 Vgl. Huerkamp: Aufstieg (1985), S. 301 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 10 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext

Programmatisch formulierte der Vorstand der Gesellschaft während des Ersten Weltkrieges ein- BGGF in Paragraph 1 der ersten „Statuten“,dieGe- zelne Ehrenmitglieder aus anderen Nationen wie- sellschaft habe den „Zweck der gemeinschaftlichen der aus.14 Förderung dieser Wissenschaften“ (gemeint waren Vor allem aber eröffneten die Veranstaltungen die Namen gebende Geburtshilfe und Frauenheil- selbst sowie die Publikation der wissenschaftlichen kunde).11 Betrachtet man diese Präambel im Ver- Vorträge weitere Gelegenheiten, öffentlichkeits- gleich zum entsprechenden Passus bei den Vorgän- wirksam aufzutreten. Dies konnte dazu beitragen, gergesellschaften, so fällt auf, dass hier erstmals eine wissenschaftliche Gemeinschaft zu bilden, zu besonders auf den wissenschaftlichen Anspruch stabilisieren und nach außen hin zu profilieren.15 abgehoben wird. Bei den Vorgängergesellschaften Insgesamt entstanden so Voraussetzungen, unter ist nur von der Förderung des Fachgebietes die denen es auch möglich erschien, das durch die Aus- Rede, wobei die Münchner Gesellschaft zusätzlich einandersetzungen um die Reichsversicherungs- die „Hebung der Kollegialität“ ansprach und die ordnung teilweise beschädigte Ansehen der Ärzte Fränkische Gesellschaft die Förderung geburtshilf- wieder herzustellen und schließlich auch spezifi- licher und gynäkologischer Kenntnisse „besonders sche Projekte an Ort und Stelle voranzutreiben. auch unter den praktischen Aerzten“ als zusätzli- Im Falle der BGGF war es vor allem die Beschäf- ches Ziel der Vereinigung definierte.12 Darauf wird tigung mit der gynäkologischen Strahlentherapie,16 noch zurückzukommen sein. die in einen engeren Zeitraum vor und nach der Der in den Statuten ferner festgelegte Ersatz von Gründung der gemeinsamen Gesellschaft fiel. Es häufig stattfindenden lokalen „Sitzungen“ durch ist dokumentiert, dass dieses damals wissenschaft- nur noch ein- bis zweimal jährlich stattfindende lich besonders innovative Gebiet Mitglieder in regionale „Tagungen“ versprach zum einen eine Franken und in München verband: Noch bevor die Bündelung der wichtigsten Themen und damit Wissenschaftler im fränkischen Erlangen ihre Er- letztendlich eine effektivere Information für alle folge mit einer neuen Methode zur Behandlung Beteiligten. Zum anderen trug er praktischen Ge- von Gebärmutterhalskrebs („Röntgen Wertheim“) sichtspunkten Rechnung: Schon kurz nach der publizierten,17 referierte Albert Döderlein, der Di- Gründung der Münchner Gesellschaft im Jahr rektor der „königlichen Frauenklinik“ in München, 1884 hatte sich gezeigt, dass zu kurze Intervalle auf einer gemeinsamen Sitzung der Fränkischen zwischen den Treffen – damals zwei Wochen – und der Münchner Gesellschaft im Jahr 1911 nicht realisierbar waren. Tatsächlich reduzierte „Über Röntgentherapie“.18 In den Jahren darauf sich auch der für die BGGF ursprünglich vorgesehe- ne Tagungsrhythmus von zwei Sitzungen rasch auf 14 Zwar führte am 1.1. 1915 die Liste der Ehrenmitglie- eine pro Jahr. Zwei Sitzungen gab es zuletzt 1927.13 der in der Münchner Gesellschaft 29 Personen auf, Ferner bot die Veranstaltung größerer wissen- die in verschiedenen Städten Europas und sogar in schaftlicher Tagungen von vornherein eine attrak- Baltimore, USA, lebten. In ihrer Sitzung vom tivere Möglichkeit, die regionale Verankerung und 11. 2.1915 aber beschlossen die Anwesenden bei- gleichzeitige nationale und internationale Vernet- spielsweise, das Ehrenmitglied aus Genua, Prof. Bossi zung der Mitglieder dieser Gesellschaften hervor- (Luigi Maria Bossi, Clinica ostetrico-ginecologica di Genova), zu streichen. Archiv BGGF, Münchner Gynä- zuheben. Allerdings passte eine internationale Ori- kologische Gesellschaft (1915–1935): Sitzungsbe- entierung nicht immer zur vorherrschenden Ideo- richte 1915–1935; Sammelordner 1895-, Mitglieder- logie: So schloss beispielsweise die Münchner verzeichnis 1915. 15 Solchen Vereinigungen schrieb Goschler: Vereins- 11 Text im Anhang II hier im Band; siehe den Abdruck in menschen (2000), die Konstruktion einer wissen- Zander, Zimmer: BGGF (1987), S. 25. Aus einem Ver- schaftlichen und nichtwissenschaftlichen Öffentlich- gleich der Inhalte späterer Satzungen sowie der keit vor Ort zu, S. 32. Darüber hinaus betont er, dass Druck- und Schrifttypen der Mitgliederverzeichnisse sie sogar eine „Öffentlichkeit eigener Art darstellten, sowie aus einem Schreiben vom 15. 1.1929 an Carl Jo- in denen sich wissenschaftliche Öffentlichkeit und sef Gauß geht hervor, dass dies die ersten, 1912 ge- allgemeine Öffentlichkeit intensiv durchdrangen“, druckten Statuten waren. Archiv BGGF (1912–1988): S. 34. Übersicht der Tagungen, […] Auswertung des Ord- 16 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Frobenius zur Strah- ners Teil II, III und V; BGGF (1912–1954) Sammel- lentherapie in diesem Band, daneben Frobenius: mappe, Mitgliederverzeichnisse, Statuten, gedruckt. Röntgenstrahlen (2003), S. 32–82. 12 Siehe Anhang II hier im Band; auch hierzu die Ab- 17 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Frobenius zur Strah- drucke in Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 7,13. lentherapie in diesem Band, daneben Frobenius: 13 Vgl. Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 35 ff. „Röntgen-Wertheim“ (2003), S. 94–101.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext 11 spielte diese neue Behandlungsform bei den Sit- München, Gustav Klein, der ebenfalls über erste Er- zungen der neu gegründeten BGGF eine ganz gebnisse der Strahlentherapie referiert hatte. Bei besondere Rolle, denn hier war – wie auch bei der diesem Thema wird auch deutlich, wie wissen- legendären 15. Versammlung der Deutschen Ge- schaftliche Interessen mit persönlichen Zielen und sellschaft für Gynäkologie im Mai 1913 in Halle – lokaler Politik zusammenhingen. von geradezu spektakulären Therapieerfolgen die Rede.19 Die extrem gut besuchte Sitzung der BGGF zur Zwischen Dienst am Allgemeinwohl Strahlentherapie im Dezember 1913 führte auf und Standespolitik Vorschlag des Erlanger Ordinarius Ludwig Seitz zu einer gemeinsamen Resolution der 68 Teilnehmer Eine solche Verbindung von zunächst personali- (42 BGGF‑Mitglieder und 26 Gäste), die am folgen- sier- und lokalisierbaren Interessen mit regionalen den Tag in der Münchner Zeitung abgedruckt wur- und nationalen, und in mehreren Phasen auch de. Darin erklärten die Ärzte mit Hinweis auf die In- transnationalen, immer auch wissenschaftlichen halte der Tagung, dass die Beschaffung von Radio- Interessen gehörte und gehört zu den kennzeich- nukliden „von Seiten des Staates zur Fortsetzung nenden Eigenschaften der Entwicklung der Gesell- der Forschung und im Interesse der Krebskranken schaft. Dies belegen nach dem Zweiten Weltkrieg eine dringende Notwendigkeit ist“.20 etwa die „Gemeinsamen Tagungen“, die mit ande- Schon vorher hatte auf Initiative Döderleins am ren Gesellschaften in Deutschland, der Schweiz 29. August 1913 unter königlichem Protektorat und Frankreich sowie – seit 1965 im Zweijahres- und Beteiligung auch internationaler Prominenz in Rhythmus – mit der Österreichischen Gesellschaft München ein „Mesothorium-Konzert“ stattgefun- für Gynäkologie und Geburtshilfe abgehalten wur- den, dessen Erlös der „kgl. Frauen und Chirur- den.22 Die Vorstandsmitglieder der Bayerischen Ge- gischen Klinik“ die Anschaffung ausreichender sellschaft bemühten sich so um überregionale und Mengen des sehr kostspieligen Materials für die internationale Kontakte sowie Austauschmöglich- Strahlentherapie ermöglichen sollte. Diese Döder- keiten, ohne ihre regionale Verankerung aufzu- leinsche Aktion fand damals allerdings unter Medi- geben. zinern und in der Öffentlichkeit nicht nur Zustim- Gemeinsame Tagungen mit anderen Gesell- mung. Einer der Hauptkritikpunkte war die exklu- schaften waren allerdings auch schon vor dem siv für die klinische Behandlung vorgesehene Zweiten Weltkrieg ein Thema. Es wurde sogar ein Nutzung des Mesothoriums, gegen die sich ambu- Zusammenschluss mit der Oberrheinischen Gesell- lant tätige Ärzte wehrten.21 schaft diskutiert. Dies geht aus einem Briefwechsel Die von Seitz bei der BGGF‑Tagung im Dezem- zwischen dem damaligen 1. Vorsitzenden der BGGF ber 1913 vorgeschlagene gemeinsame Resolution und Erlanger Ordinarius Hermann Wintz sowie kann also auch als Versuch gewertet werden, dieser dem Tübinger Ordinarius August Mayer aus dem Kritik die Spitze zu nehmen. Unter den Teilneh- Jahr 1928 hervor. Wintz schwebte damals die mern der Tagung befand sich der damalige Direktor Gründung einer Süddeutschen Gynäkologen-Ge- der gynäkologischen Poliklinik der Universität sellschaft vor. Diesem Plan wurde jedoch eine Ab- sage erteilt. Am 5. November 1928 schrieb Mayer „ 18 Siehe den Abdruck der Einladung zur Gemeinsamen an Wintz: Wir haben gestern in der Oberrheini- Sitzung am 29. 1.1911 in Zander; Zimmer: BGGF schen Gesellschaft Ihre Anträge beraten. Die Gesell- (1987), S. 17. schaft ist einmütig der Meinung, daß wir unser Ei- 19 Archiv BGGF, Kopien und Sonderdrucke der Tagungs- gendasein bewahren sollen. Auch die Schweiz legt berichte: Weber: Behandlung (1912), S. 769–772; Dö- darauf Wert.“23 derlein: Erfahrungen (1914). Auch auf dem 1913 Um die Wahrnehmung der Bayerischen Gesell- stattfindenden Kongress der Deutschen Gesellschaft schaft in anderen deutschen Regionen zu ver- für Gynäkologie setzte sich Döderlein für die Strah- lentherapie ein, siehe Bahnsen, Frischbier: Strahlen- bessern, war der Vorstand der BGGF sogar bereit, therapie (2011), S. 514. finanzielle Anreize zu schaffen. So erhielten bei- 20 Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 22. spielsweise in den ersten Jahren der Bundesrepu- 21 Zander: Mesothoriumkonzert [undatiert]. Siehe auch das Werbeplakat zu dem Wohltätigkeitskonzert, Foy- er, 1. OG, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde 22 Siehe die Auflistung bis 1985 in Zander; Zimmer: und Geburtshilfe der LMU, Maistraße 11; zu Döder- BGGF (1987), S. 34–44. lein siehe Zander, Zimmer: BGGF (1987), S. 51. 23 Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 24.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 12 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext blik Kollegen aus der damaligen Deutschen Demo- sich auch in anderen Staaten als erfolgreich be- kratischen Republik Zuschüsse und Ermäßigungen, währt.27 die ihnen eine Teilnahme an den Tagungen der Schon zur Gründungszeit der BGGF, noch mehr Bayerischen Gesellschaft ermöglichen sollten.24 jedoch in den folgenden Jahrzehnten, war einer- Allerdings brachte das gemeinsame Interesse seits eine Abgrenzung gegenüber hauptsächlich am Fach nicht immer und automatisch ein harmo- wirtschaftlich orientierten Ärzte-Verbänden und nisches Verhältnis zwischen den verschiedenen Facharzt-Vereinen erforderlich. Andererseits belegt Fachgesellschaften hervor, wie hier an einem Bei- auch die Entwicklung in der Nachkriegszeit, dass spiel aus den 1960er Jahren illustriert werden soll. das Standeswohl in der Gesellschaft immer wieder Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Ge- zum Thema wurde. Die Vorstandsmitglieder der burtshilfe (DGGG) hatte 1968 festgelegt, Tagungen BGGF schlugen einen Mittelweg ein, der eine prin- ab sofort im Jahresrhythmus durchzuführen. Der zipielle Orientierung am Ziel „Gemeinwohl“ mit ge- damalige Vorsitzende der BGGF, der Würzburger legentlichen standespolitischen Aktionen verband. Ordinarius Horst Schwalm, deutete dies als Absicht, „Wirtschaftliche Fragen“ in einer eigenen Sekti- die „Tätigkeit der regionalen Gesellschaften für Gy- on erörtern zu können, gehörte deshalb zu den Be- näkologie zu behindern“,was– aus seiner Sicht – dingungen, die der damalige Schatzmeister der auch in der Diskussion über diesen Beschluss be- BGGF, Otmar Bauer, den Mitgliedern der Münchner stätigt worden war. Der Vorstand der BGGF be- Gesellschaft 1952 bei ihrer Inkorporierung zusi- schloss darauf schadensmindernd, zumindest eine cherte.28 Mit der 1971 beantragten Aufnahme eines verpflichtende Absprache zwischen den verschie- Vertreters des Berufsverbandes der Frauenärzte denen Gesellschaften über die jeweiligen Tagungs- (BVF) in den Vorstand signalisierte die Gesellschaft termine anzustreben.25 auch nach außen, dass sie standespolitische Fragen In solchen Auseinandersetzungen deutet sich als relevant für die BGGF einschätzte.29 Der BVF eine Konkurrenz um Einfluss im Fach ebenso an hatte sich seit 1951 nach einem entsprechenden wie ein Wettbewerb um Mitglieder: Bei der Deut- Beschluss der Mitgliederversammlung aus der schen Gesellschaft handelt es sich ja nicht um einen DGGG heraus zu einer effektiven Interessenvertre- Dachverband, sondern um eine überregionale Ge- tung der Frauenärzte mit eigenem Mitteilungsblatt sellschaft mit vergleichbarer Zielsetzung. Doch entwickelt.30 standen insgesamt wohl eher die gemeinsamen In- Doch schon vor 1971 belegt die Korrespondenz teressen im Vordergrund. Schließlich waren und einzelner Mitglieder der BGGF Erwartungen auf sind von der Gründung bis in die neueste Zeit Vor- Unterstützung auch in standespolitischen bzw. stände der BGGF gleichfalls im Vorstand der Deut- wirtschaftlichen Fragen. Dies illustriert das Beispiel schen Gesellschaft aktiv.26 einer Auseinandersetzung um Radium-Einlagen, Das Interesse an der Wissenschaft fungierte das sich in den Gesellschaftsakten findet. Karl auch im überregionalen Kontext als gemeinsamer Daum, Gynäkologe am Krankenhaus Kaufbeuren, Nenner, ohne dass die Vertretung von wirtschaftli- berichtete 1963, dass in seinem Haus neuerdings chen Interessen vernachlässigt worden wäre. Die- ein „Röntgenologe“ glaube, er könne auch bei gynä- ses Konzept für Gesellschaften und Vereine hatte kologischen Krebserkrankungen „das Radium selbst einlegen“, und bat um Rat und Unterstüt- 24 Archiv BGGF (1946–1967): Korrespondenz, Belege. zung. Nach einer Beratung mit einschlägig tätigen Schatzmeister Otmar Bauer […]; Hans Rummel und Bauer 1. 5.1956; 11. 5. 1956; 26. 5.1956. 27 Auf dem Konzept basierten etwa auch englische So- 25 Archiv BGGF (1967–1970): 1.2.67 bis 31.12.1970. cieties und Clubs, siehe Nathaus: Geselligkeit (2009), Kontoführung und Korrespondenz der Schatzmeister S. 22–27. Othmar Bauer und Arnulf Weidenbach; Schwalm an 28 Archiv BGGF (1937–1952): 36. Korrespondenz Eymer, Vorstand 3.10.1968, Bauer an Schwalm 10.10.1968, 6.2.1952 Bauer und 1. Schriftführer Josef Breitner an Kaiser an Amtsgericht Würzburg 22.5.1969. 1. Vorsitzenden Karl-Johann Burger mit angehäng- 26 Dies begann mit den ersten Vorstandsmitgliedern tem Sitzungsprotokoll der Münchner Gesellschaft Max Hofmeier und Albert Döderlein – Mitinitiatoren vom 24.1.1952. und Vorstand der BGGF sowie Präsidenten der DGGG, 29 30.7.1971 Fritz Zimmer an Amtsgericht Würzburg, umfasste auch einen der Vorsitzenden der NS‑Zeit, Antrag Horst-Jürgen Spechters, des 1. Vorsitzenden Heinrich Eymer, sowie zahlreiche Vorstandsmitglie- im Jahr 1978, auf nächste Mitgliederversammlung der der Nachkriegszeit, wie beispielsweise Werner vertagt, Archiv BGGF (1971–1973): 1.1.1971– Bickenbach, Josef Zander, Hermann Hepp, Klaus Frie- 1.6.1973. se. 30 Siehe hierzu Koschade: BVF (2002).

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Fachkollegen und dem amtierenden 1. Vorsitzen- Halsted Ende des 19. Jahrhunderts am Johns Hop- den Kurt Podleschka riet der 1. Schriftführer Rolf kins Hospital etablierten Prinzipien orientierte.34 Kaiser zum einen, den überweisenden niedergelas- Frauenärzte begannen dagegen entsprechend senen Gynäkologen zu empfehlen, keine Überwei- neueren internationalen Studien bereits, ein sta- sung an den Radiologen vorzunehmen. Zum an- dienadaptiertes, modifiziert radikales oder sogar dern empfahl er, dem Kollegen in der Radiologie brusterhaltendes Vorgehen zu bevorzugen. Was klarzumachen, dass unbedingt ein Gynäkologe das unter dem „üblichen operativen Procedere“ zu ver- Einlegen übernehmen sollte, da es bei falscher Ap- stehen sei, definiere die Vereinbarung nicht, kriti- plikation zu „erheblichen Komplikationen“ kom- sierte der „Spiegel“ damals. Sie sei deshalb für die men könnte.31 Patientinnen unbefriedigend. Bei dieser standespolitischen Abgrenzung gegen Maßnahmen wie die Aufnahme der Mammachi- Konkurrenz aus verwandten Fächern handelte es rurgie in die Weiterbildungsordnung sowie die För- sich um keinen Einzelfall. Ein Beispiel aus dem derung der fachbezogenen Wissenschaft definier- Jahr 1975 illustriert, wie bestimmte chirurgische ten die Vorstandsmitglieder der Bayerischen Ge- Maßnahmen als exklusives Behandlungsrecht für sellschaft als Einsatz für das Allgemeinwohl35,der Gynäkologen definiert werden sollten. In der Mit- eine Eintragung ins Vereinsregister und damit eine gliederversammlung dieses Jahres stellte der Vor- entsprechende staatliche Förderung rechtfertigte.36 standsvorsitzende Günther Stark, Chef der Nürn- Nun hängt die Attraktivität eines Vereins aber auch berger Frauenklinik, eine „Resolution“ zur Diskus- ganz wesentlich davon ab, was potentielle Mitglie- sion, die darauf abzielte „die operative Behandlung der und Förderer sich davon versprechen. Wollen der weiblichen Brust […]indieʼRichtlinien über sie – wie im Falle der BGGF – nicht in erster Linie den Inhalt der Weiterbildungʼ aufzunehmen“.Aus eine Beziehung zu einer standespolitischen Organi- dem Inhalt des Papiers geht auch die Argumentati- sation, die materielle Vorteile für ihre Klientel rea- onsstrategie hervor: lisiert, so müssen darüber hinausgehende Ziele und „Die Krebsvorsorgeuntersuchungen der Mam- immaterielle Gewinne greifbar erscheinen. Die nun ma und des Genitales bei der Frau werden weitge- genauer zu beschreibende Konstruktion einer wis- hend von den Gynäkologen vorgenommen. Damit senschaftlichen Öffentlichkeit37 entspricht bereits die Diagnostik und sachgemäße Therapie in einer einem wesentlichen Teil solcher Anforderungen. Hand bleiben, wird […] gefordert, daß diese mit in So legen und legten die Vorstandsmitglieder ei- den Inhalt der Weiterbildung zum Facharzt […] nerseits fest, wer welche wissenschaftlichen The- aufgenommen wird. […]“32 men präsentieren sowie vermitteln darf und durf- Der hier deutlich werdende Konflikt zwischen te. Andererseits ermöglichten sie einer breiteren Gynäkologen und Chirurgen war aber mit der Ein- Öffentlichkeit eine Form von Kontrolle dadurch, beziehung der Mammachirurgie in die frauenärzt- dass sie in immer stärkerem Maße die Umsetzung liche Weiterbildungsordnung noch nicht ausgetra- wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Umset- gen. Ein Kompromiss in dieser Frage wird erst in ei- zungsprobleme in der täglichen Praxis von Betrof- nem „Spiegel“-Artikel zitiert, der neun Jahre später fenen präsentieren ließen, wie beispielsweise in erschien, Darin heißt es, Vertreter der beiden Fä- der Frage von Aufwand und Nutzen gynäkologi- cher hätten vereinbart, dass das „Spätstadium“ der scher Karzinomnachsorge.38 Erkrankung den „Chirurgen vorbehalten bleiben“ Mit einer neueren Entwicklung, der Auslobung solle. Beim „üblichen operativen Procedere“ könn- von Preisen während der Veranstaltungen der ten Gynäkologen und Chirurgen gleichermaßen tä- tig werden.33 34 Halsted: Results (1894). Von Seiten der deutschen Chirurgen wurde da- 35 Eine Selbstverpflichtung auf das Allgemeinwohl gilt mals noch ein sehr radikales operatives Vorgehen als Vereinskonzept des 19. Jahrhunderts, siehe Nat- haus: Geselligkeit (2009), S. 35. favorisiert, das sich an den von William Stewart 36 Diese Eintragung erfolgte allerdings erst zur „Wieder- begründung“ nach dem 2. Weltkrieg. In einem 31 Archiv BGGF (1963–1964): Tagung 1964, 22.11.1963, Schreiben Burgers an Eymer vom 21.12.1950 teilte Daum an Kaiser; 17.12.1963, Kaiser an Daum; Eymer mit, dass er vom Registergericht erfahren ha- 20.12.1963, Podleschka an Kaiser. be, dass die BGGF auf keinen Fall ins Vereinsregister 32 Archiv BGGF (1973–1975): 2.6.1973–31.12.75. Kor- eingetragen gewesen sein konnte, da die alten Statu- respondenz, […] Protokoll der Mitgliederversamm- ten nicht dem Bürgerlichen Gesetzbuch entsprächen. lung 9.5.1975. Archiv BGGF (1937–1952): 36. Korrespondenz Eymer. 33 o.N.: Naht, S. 179 f. 37 Vgl. Goschler: Vereinsmenschen (2000).

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BGGF, konnte der Vorstand zwei Anliegen mitei- terpreise vergab. Es darf angenommen werden, nander verknüpfen: Die auswählenden Vorstands- dass zumindest bei letzteren nicht die Höhe des Be- mitglieder nahmen direkten Einfluss darauf, was trags, sondern eher die symbolische Bedeutung der als preiswürdige Wissenschaft und herausragende Auszeichnungen relevant erschien.43 wissenschaftliche Performance definiert wurde. Dieses symbolische Kapital der Gesellschaft er- Gleichzeitig war es möglich, die Attraktivität der wirtschafteten die besonders aktiven Mitglieder. Veranstaltungen für Nachwuchswissenschaftler zu In erster Linie waren dies diejenigen im Vorstand, erhöhen. Entsprechende Erfolge lassen sich an Ta- die sich für Präsentationen einsetzten, die sich mit gungen mit einem sprunghaften Anstieg von Kurz- den jeweils aktuellsten Entwicklungen im Fach be- präsentationen39 sowie an Veränderungen der schäftigten oder unmittelbar auf aktuelle gesund- Preiskriterien und ‑dotierungen ablesen. heitspolitische Debatten reagierten. An dieser Stel- Zunächst lobte die BGGF 1992 zwei mit je le begnüge ich mich mit dem Verweis auf die er- 5000 DM dotierte Preise „zur Förderung der wis- wähnte Etablierung der Strahlenmedizin, die – wie senschaftlichen Arbeit“ aus, die anhand eines bereits ausgeführt – die Gründung der BGGF be- „eingesandten Abstracts und der entsprechenden gleitete und auch die ersten Tagungen prägte.44 Referate“ vergeben wurden.40 Diese Dotierung der Eine Gesamtwertung oder auch nur Auflistung „Vortragspreise“ musste allerdings aufgrund finan- der in 100 Jahren behandelten wissenschaftlichen zieller Bedenken schon nach kurzer Zeit herunter- Themen würde den Rahmen dieser Darstellung gesetzt werden.41 In der Folge vergab die Bayeri- sprengen, wie nicht zuletzt eine neuere Publikation sche Gesellschaft dann nicht nur zwei nun etwas zur Entwicklung des Faches zeigt, zu der auch zahl- sparsamer ausgestattete „Vortragspreise“, sondern reiche Mitglieder der Bayerischen Gesellschaft bei- zusätzlich auch „Posterpreise“, die speziell auf wis- getragen haben.45 Einzelne Aspekte werden aller- senschaftlichen Nachwuchs zielten. Im neuen Jahr- dings an anderer Stelle in diesem Band ausführlich tausend nahm die Mitgliederversammlung außer- diskutiert. Das Engagement in gesundheitspoliti- dem den Vorschlag an, auch die Preisverleihung schen Debatten erörtere ich im Rahmen des Ab- der Dr. Hans L. Geisenhofer Stiftung während der schnittes zum Umgang der Gesellschaftsmitglieder Tagungen durchzuführen.42 mit sozial und politisch relevanten Themen. Wie sehr die BGGF dabei Wert auf eine Förde- rung noch nicht etablierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen legte und wie hoch sie den „Wissenschaftler“ und „Praktiker“ symbolischen Wert ihrer Preisverleihung ein- schätzte, ist daraus abzulesen, dass sie beispiels- „So habe ich eine grosse Anzahl meiner Münchner weise im Jahr 2004 einen mit 1000 € dotierten Vor- Kollegen, die ich natürlich alle dem Namen nach tragspreis und weitere vier mit 500 € belohnte Pos- und besonders durch eine starke mehr oder weni- ger indizierte operative Tätigkeit kenne, noch nie- 38 BGGF (Hrsg.): 68. Tagung (1994). Weitere Beispiele mals auf einer wissenschaftlichen Sitzung gesehen folgen im nächsten Abschnitt. Zu Kontrollmechanis- men in der Wissenschaft siehe Weingart: Wissen- schaft (2005), S. 9. 43 Archiv BGGF (2004–2005): Bayerische Gesellschaft 39 Schon 1994 gab es beispielsweise neben den fünf 78. Tagung 17.–19.6.2004 Schweinfurt. 79. Tagung Hauptthemen sieben Boxen mit themenbezogenen 26.–28.5.2005 Salzburg, einzelne Kopien der verlie- Postersitzungen. BGGF (Hrsg.): 68. Tagung (1994). henen Preisurkunden und Handzettel mit Notiz zu 40 Für die Bayreuther Tagung 1992 handelte es sich da- Namen und Beträgen, Schweinfurt 19.6.2004. bei um jeweils 5000 DM. Archiv BGGF (1990–1993): 44 Handelte es sich bei der „Konstituierenden Sitzung“ Bay. Ges. ab Mitte 1990 – Juli 1993, Tagungspro- 1912 nur um einen Vortrag zur Behandlung mit Rönt- gramm; BGGF (1990–1993): Bay. Gesell. ab Mitte genstrahlen, so beherrschten Vorträge und Diskus- 1990 – Juli 1993, 30. 11. 1992, Ernst Brusis, Protokoll sionen zur Strahlentherapie die Tagung am Vorstandssitzung 25. 11. 1992. 7.12.1913. Archiv BGGF (1980er?): Bayerische Gesell- 41 Schon 1994 wurde der Betrag auf insgesamt 4000 DM schaft Tagungen 1912–1939, Monatsschrift für Ge- reduziert. BGGF (1993–1995): Bay. Gesellsch. August burtshülfe und Gynäkologie 35 (1912), S. 758–774 1993 – Dezember 1995, Bericht des Schatzmeisters und 40 (1914), S. 512–530. der Gesellschaft Stand Mai 1995. 45 Kreienberg; Ludwig (Hrsg.): 125 Jahre DGGG (2011). 42 Archiv BGGF (2000–2001): Bayerische Gesellschaft Dort beitragende BGGF‑Mitglieder sind Dietrich Berg, 74. Tagung 1.-3. 10. 2000 Landshut. 75. Tagung 13. – Klaus Friese, Hermann Hepp, Marion Kiechle, Rainer 16. 6.2001 Baden Wien, Protokoll der Mitgliederver- Kimmig, Rolf Kreienberg, Ioannis Mylonas, Ludwig sammlung 2. 10. 2000. Wildt.

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[…]“.46 In dieser kritischen Äußerung von Heinrich der nicht-klinischen Geburtshilfe referiert und das Eymer, dem 1. Vorsitzenden der Vorkriegszeit, ge- Zögern von niedergelassenen Ärzten kritisiert wur- genüber Karl Johann Burger, dem Initiator der Wie- de, Schwangere in Geburtskliniken einzuweisen.49 derbegründung und ersten Vorstandsvorsitzenden Gelegentlich mussten sich die Vorsitzenden aus der Nachkriegszeit, wird ein Dilemma deutlich, diesem Grund gegen den Vorwurf wehren, „welt- das die Gesellschaft durch ihre gesamte 100-jähri- fremd“ zu sein.50 ge Geschichte begleitet: primär wissenschaftlich Einen nahezu institutionalisierten Ausgleich der interessierten Ärzten auf der einen und vor allem Interessenunterschiede zwischen „Wissenschaft- in der Praxis verhafteten Mitgliedern auf der ande- lern“ und „Praktikern“ sahen Vorstandsmitglieder ren Seite gleichermaßen attraktiv zu erscheinen. darin, dass sich Direktoren von Universitätsfrauen- Das von vielen durchaus als bipolar empfundene kliniken mit Chefärzten der Gynäkologie und Ge- Verhältnis zwischen „Wissenschaftlern“ und „Prak- burtshilfe in städtischen oder privaten Kranken- tikern“ bot zudem – wie sich zeigen wird – ein häusern im Vorsitz der Gesellschaft abwechselten, nicht unerhebliches Konfliktpotenzial. obgleich damit auch nur „Kliniker“ und keine nie- Unter den Vorstandsmitgliedern spielen und dergelassenen Ärzte im Vorstand vertreten waren. spielten „Wissenschaftler“ eine gewichtige Rolle.47 Schon in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens Von 38 ersten Vorsitzenden waren 33 Hochschul- folgte den Vorsitzenden Max Hofmeier und Albert lehrer, auch das Amt des 1. Schriftführers und des Döderlein als Ordinarien mit Max Simon der Inha- Schatzmeisters im Vorstand versahen seit der Wie- ber einer Privatklinik. Auch August Beckh galt als derbegründung der BGGF entweder Hochschulleh- „Praktiker“ und war Leiter einer Privatklinik; er rer oder wissenschaftliche Mitarbeiter, die im Laufe folgte auf die beiden Ordinarien Carl Josef Gauß ihrer Amtszeit zu Hochschullehrern ernannt wur- (Würzburg) und Hermann Wintz (Erlangen). Wie den. Dies erscheint auch wenig erstaunlich, wenn aus der Einladung zur Tagung 1935 in Abbildung auf die im ersten Abschnitt erwähnten „Statuten“ 1.2 hervorgeht, versuchte Beckh ganz gezielt „Prak- von 1912 Bezug genommen wird, die ja den Zweck tiker“ zu interessieren.51 der Gesellschaft ausdrücklich der Förderung der Bei der Wahl von Anton Hengge, dem damaligen Wissenschaft zuschrieben. Jedoch kann die Ergän- Leiter der Frauenabteilung der Evangelischen Dia- zung von 1929, „[…] und durch persönlichen Ver- konissenanstalt in München,52 zum Vorsitzenden kehr einen gemeinsamen Ideenaustausch herbei- im Jahr 1939 spielte allerdings nicht nur seine Rolle zuführen“, bereits als Reaktion auf das oben be- als „Praktiker“, sondern auch eine Anpassung an schriebene Dilemma interpretiert werden, das die Vorgaben der Nationalsozialisten eine Rolle. schon in der Zusammenführung der Fränkischen Der amtierende Vorsitzende Heinrich Eymer er- und der Münchner Gesellschaft angelegt war. wähnte in seiner Empfehlung an den Schriftführer Die Statuten der Fränkischen Gesellschaft hat- Rudolf Dyroff ausdrücklich, dass Hengge „in der ten – wie erwähnt – eine „Förderung der Geburts- ärztlichen Organisation der Partei wichtige Stellun- hilfe und Frauenheilkunde, besonders auch unter gen“ einnehme.53 den praktischen Ärzten“ vorgesehen,48 ein Aspekt, der sich in den Statuten der BGGF nicht explizit wiederfand. Eher zur Vermehrung des daraus re- 49 Archiv BGGF, Kopien und Sonderdrucke der Tagungs- sultierenden Konfliktpotenzials trugen Tagungen berichte: Lüttge: Reichweite (1936). bei, in deren Verlauf, wie 1935, über die Grenzen 50 28.3.1939 Eymer an Heise „[…] die klinischen Ge- burtshelfer sind ja nicht so weltfremd wie das die ver- 46 BGGF (1912–1954): Sammelmappe BGGF Statuten ehrten Kollegen draußen manchmal annehmen […]“, 1912 […] Faszikel 32/III 1. Nachkriegstagung der Archiv BGGF (1912–1954): Sammelmappe BGGF Sta- Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frau- tuten 1912 […] Auswertung von 32/V. enheilkunde, 17.3.1952 Eymer an Burger. 51 BGGF (1980er?): Bayerische Gesellschaft Tagungen 47 Der Begriff „Wissenschaftler“ wird hier in Anlehnung 1912–1939. Kopien und Sonderdrucke […]. an das Selbstverständnis der Betroffenen benutzt, die 52 Vgl. Gauß; Wilde: Geburtshelferschulen (1956), Geschichtlichkeit des Begriffs soll dadurch nicht in S. 194. Frage gestellt werden, vgl. Rheinberger: Historizität 53 BGGF (1912–1988): Übersicht der Tagungen. Aus- (2007). wertung des Ordners Teil V. Korrespondenz des 48 Text im Anhang II hier im Band; siehe den Abdruck Schriftführers Prof. Dyroff vor 1939, 22.12.1937 Ey- der Satzungen bei Zander, Zimmer: BGGF (1987), mer an Dyroff; zur Biographie der Vorsitzenden – S. 13, 25 f. Zur Datierung siehe die Anmerkungen im die allerdings solche Aspekte nicht berücksichtigte – ersten Abschnitt. siehe auch Zander, Zimmer: BGGF (1987), S. 46–71.

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Abb. 1.2 Einladung zur Tagung 1935 (Quelle: Archiv BGGF).

Obgleich in den Nachkriegsjahren die abwech- Um den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern, selnde Repräsentation von „Wissenschaftlern“ und bemühten sich Vorstandsmitglieder daher in im- „Praktikern“ im Vorstand fortgeführt wurde,54 ließ mer stärkerem Ausmaß darum, nicht als elitärer sich das Dilemma der unterschiedlichen Interes- Verein von Wissenschaftlern zu gelten, sondern senlage nicht auflösen. Die eingangs zitierte Kritik auch für „Praktiker“ attraktiv zu sein. Sie veränder- Eymers steigerte sich in seinem Brief an Burger zur ten aus diesem Grund die Gestaltung der Tagungen Klage über ein allgemeines Desinteresse der Fach- mehrfach: Der etablierte Ablauf mit Vortrag, Dis- ärzte in Bayern an wissenschaftlichen Fragestellun- kussion und abschließenden Kurzmitteilungen gen, eine Einstellung, die auch einige Jahre später wurde seit den 1960er Jahren durch jeweils zeitge- noch in der Reaktion eines Mitglieds auf eine Mah- mäßere Formen wie Kurzvorträge, „Rundtischge- nung des Schatzmeisters sehr deutlich zum Aus- spräche“, „Diskussionsrunden über Fragen der täg- druck kam: „Für uns, die wir nicht mehr aktiv an lichen Praxis“, Pro-und Kontradiskussionen, Pos- der Universität tätig sind, ist das Interesse sowieso terpräsentationen und Seminare erweitert sowie mehr ideell, als praktisch bedingt. […]“.55 durch Präsentationen mit Hilfe moderner Medien ergänzt.56

54 20. 11. 1951, Eymer an Burger „früher Usus, dass ein Klinikdirektor mit einem Praktiker abwechselt […]“ 55 17. 3.1952, Eymer an Burger, Archiv BGGF (1912– Archiv BGGF (1912–1954): Sammelmappe BGGF Sta- 1954): Sammelmappe BGGF Statuten 1912 […] Aus- tuten 1912 […] Auswertung von 32/V. Auch bei- wertung von 32/V; Mueller an Schatzmeister Bauer spielsweise 1983 wurde die Abwechslung zwischen Archiv BGGF (1946–1967): Korrespondenz, Belege, Universitätsmitglied und Chefarzt im Prinzip noch etc. […]. praktiziert. Protokoll Mitgliederversammlung 9.6. 56 Archiv BGGF: Bayerische Gesellschaft Tagungen 1983. Archiv BGGF (1982–1983): Bayer. Gesellschaft 1912–1939, Kopien und Sonderdrucke der Tagungs- für Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Prof. Krone. berichte aus Monatsschr. Geburtsh. Gynäk. 35; BGGF 1982/1983. (1963–1964): Tagung 1964, 4.1.1963-24. 4.1964 Kai-

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Auch die Entwicklung eines eigenen Logos, das sondern den niedergelassenen und in der Klinik tä- Einbeziehen von Künstlern in Tagungen und die tigen Kollegen mit einem breit gefächerten Fort- Gestaltung von Programmen sollten nicht nur und Weiterbildungsangebot entgegenzukommen.“ Identität stiften, sondern ebenso wie die Intensi- Gleichzeitig unterstrich Berg aber auch die Bedeu- vierung der Pressearbeit auch die allgemeine At- tung der Wissenschaft für die Praxis: „Auf der an- traktivität erhöhen.57 Besonders deutlich lässt sich deren Seite sollten die nicht primär der Wissen- diese Zielsetzung am Beispiel des Jahrzehnts verfol- schaft verbundenen Kollegen begreifen, daß ihnen gen, das der Erkenntnis folgte, dass die Wissen- durch die Tätigkeit von Wissenschaftlern und Uni- schaft dringend einer allgemeinen Vermittlung be- versitätskliniken diejenigen Erkenntnisse, Werk- darf.58 Im Jahr 1992 gab es im Vorstand unter dem zeuge und Methoden vermittelt werden, die sie für Vorsitz des Bayreuther Chefarztes Hans Weidinger ihre Tätigkeit in Klinik und Praxis benötigen.“60 eine Diskussion „wie mehr niedergelassene Kolle- Relevanz für die Praxis versuchten die Mitglie- gen motiviert werden könnten, an der Tagung […] der des Vorstandes auf verschiedenen Ebenen un- teilzunehmen […]“. Solche Motivationsschwierig- ter Beweis zu stellen: Sie beteiligten sich an der De- keiten schätzten die Vorstandsmitglieder als finition von Inhalten für „Weiterbildung“ bzw. grundsätzlich ein, da „die gleiche Problematik sich „Fortbildung“ und passten den Ablauf der Tagun- auch bei den Tagungen der Deutschen Gesellschaft gen sich verändernden Bedürfnissen an. Die neue […]“ stelle. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, Bezeichnung der Tagungen ganz generell als „Fort- dass ein Mittelweg eingeschlagen werden müsse: bildungskongreß“ charakterisiert die Zielsetzung „In irgendeiner Weise wird man einen Kompromiß der späteren 1960er Jahre, die auch nach der Jahr- finden müssen, sowohl die Wissenschaftlichkeit tausendwende Gültigkeit behielt. In einem Schrei- [… als auch] die praxisbezogene Information mitei- ben an das Amtsgericht gab Rolf Kaiser, 1. Schrift- nander zu verknüpfen und so attraktiver für die führer, als eine der Aufgaben des 1. Vorsitzenden niedergelassenen Kollegen zu werden.“59 der BGGF an, dieser habe „Vorschläge zur Fortbil- Vier Jahre später waren solche Spannungen of- dung von Fachärzten an bayerischen Kliniken aus- fensichtlich zu einem Konflikt eskaliert, denn der zuarbeiten“.61 Vorstandsvorsitzende Dietrich Berg, Chefarzt der Die Vorsitzenden definierten nun die „gemein- Frauenklinik Amberg, sah sich in seinem Grußwort same Fortbildung“ als ein wesentliches Ziel der zu einem Appell gegen „Separationstendenzen in- Veranstaltungen. Dies belegt auch die Begründung nerhalb der Verbände, Mißtrauen der Mitglieder für die Ernennung des Wiener Ordinarius Hugo des einen gegen die des anderen“ veranlasst. Er Husslein zum Ehrenmitglied im Jahr 1978: „[…]ge- verband diesen Appell mit dem Versprechen, die meinsame Tagungen […] gemeinsame Fortbildun- BGGF werde „sich daher vermehrt bemühen, nicht gen wurden von ihm organisiert, sodaß er ent- nur wissenschaftliche Entwicklungen zu unterstüt- scheidend Einfluß auf den Wissensstand auch der zen und auf ihren Tagungen diskutieren zu lassen, Bayerischen Gynäkologen hat.“62 Die Gründung der „Frauenärztlichen Akademie für Fortbildung“ im Jahr 1994 deutet allerdings da- – ser an Podleschka; BGGF (1967 1970): 1.2.67- rauf hin, dass regionale Verbände wie die BGGF der 31. 12. 1970, 1.4. 1968 Schwalm an Bauer; BGGF zunehmenden Nachfrage nach entsprechenden (1990–1991): Bayerische Gesellschaft 64, 7. 11. 1991 Sitzungsprotokoll der Vorstandschaftssitzung Veranstaltungen kein ausreichendes Angebot ent- 63 23.10.91; BGGF (1990–1993): Bay. Gesell. ab Mitte gegensetzen konnten. Dennoch belegen weitere 1990 – Juli 1993, 12. 8. 1992 Weidinger an Brusis. Tagungen – und beispielsweise die Erweiterung 57 Archiv BGGF (1971–1973): 1.1.1971–1.6.1973, um ein „Seminarprogramm“–die andauernden Be- 2.8.1972, Zimmer an Ober; 13.2.73, Weidenbach an mühungen, zwischen „Wissenschaftlern“ und – – Ober; BGGF (1980 1981): 1.1.80 30.6.81, Protokoll „Praktikern“ zu vermitteln.64 Zu letzteren gehörten der Vorstandssitzung […] 13.3.1981; BGGF (1990– 1993): Bay. Gesell. ab Mitte 1990 – Juli 1993, 19.7.1993 Brusis, Protokoll Vorstandssitzung 60 BGGF (Hrsg.): 70. Tagung (1996), Grußwort. 13.7.1993. 61 Archiv BGGF (1967–1970): 1.2.67–31.12.1970. Kon- 58 Gemeint ist die angelsächsische Initiative „Public Un- toführung und Korrespondenz […] 3.10.1968, derstanding of Science“; vgl. Salzmann: Wissenschaft Schwalm an Bauer; 22.5.1969, 1. Schriftführer Rolf (2007), S. 8. Kaiser an Amtsgericht Würzburg. 59 Archiv BGGF (1990–1993): Bay. Gesell. ab Mitte 1990 62 Archiv BGGF (1978–1981): − 31.12.79. Korrespon- – Juli 1993, 30.11.1992, Brusis Protokoll Vorstandssit- denz und Abrechnungen […] Ehrenmitglieder 1978, zung 25.11.1992. Kurzvita Hugo Husslein.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 18 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext seit 1991 auch Hebammen, die kurz darauf mit einer exklusiv wirkt,68 doch schloss und schließt sie me- eigenen „Sitzung“ an einer Tagung teilnahmen.65 dizinische Laien aus. Die Mitgliedschaft stand nach Auch die 2003 berichtete Zusammenarbeit mit den frühesten „Statuten“ jedem in Bayern appro- dem Bayerischen Berufsverband der Frauenärzte bierten Arzt offen, soweit er dem Vorstand von sollte dazu dienen, gemeinsam Fortbildungen zu zwei Mitgliedern vorgeschlagen und von der Mit- veranstalten, wovon sich der damalige 1. Vorsitzen- gliederversammlung durch Ballotage69 angenom- de, der Würzburger Ordinarius Johannes Dietl, ei- men worden war. Seit 1929 gilt die – allerdings nen Zuwachs an jüngeren Mitgliedern für die BGGF großzügig formulierte – fachspezifische Einschrän- erhoffte.66 Auf die Notwendigkeit, gegen eine Über- kung, wonach „jeder in Bayern tätige Frauenarzt alterung der Bayerischen Gesellschaft vorzugehen, und Geburtshelfer“ und „solche Ärzte, die sich mit hatte die Gesellschaftssekretärin Marianne Killer Geburtshilfe und Frauenheilkunde befassen“ mit schon vierzehn Jahre früher hingewiesen.67 Hilfe von zwei „Paten“ Mitglieder werden können. Aus allen Satzungen geht eine regionale Präferenz hervor, aber keine solche Beschränkung. Damit wird der Beitritt auch außerhalb Bayerns tätigen Die Bayerische Gesellschaft Personen ermöglicht. Eine gewisse soziale Exklusi- und ihre Mitglieder vität sicherte ab 1929 nicht mehr die Ballotage, sondern die bis zum heutigen Tag gültige Bestim- Die BGGF gestaltete und gestaltet die Bedingungen mung, dass der Vorstand über die Aufnahme zu für die Aufnahme von Mitgliedern so, dass sie we- entscheiden habe.70 der fachlich noch regional oder sozial besonders Über die Höhe des jährlichen Beitragssatzes wurde die Exklusivität jedoch nicht geregelt. Er 63 Archiv BGGF (1993–1995): Bay. Gesellsch. August war mit zwei Mark vor 1929 und später mit fünf 1993 – Dezember 1995. Korrespondenz […]Vor- Mark sehr niedrig angesetzt.71 Nach der Wieder- standssitzung 23. 8. 1994 Bericht des zukünftigen 1. etablierung der BGGF in der Bundesrepublik lag er Vorsitzenden Dietrich Berg über die Akademiegrün- zunächst bei 5 DM, dann 10 DM in den 1950er und dung, die von der Deutschen Gesellschaft für Ge- 1960er Jahren, bei 30 DM in den 1970er, 1980er burtshilfe e.V. und dem Berufsverband der Frauen- ärzte e.V. getragen werden sollte. und 1990er Jahren sowie bei 50 DM ab 1997 und 64 Die Gesellschaft bemühte sich auch weiterhin um 30 € ab 2002. So zielte der Beitrag nie darauf ab, fi- eine Zertifizierung als „Fortbildung“ und die Einfüh- nanziell wenig leistungsfähige Mitglieder auszu- rung des „Seminarprogramms“, das beispielsweise grenzen.72 im Jahr 2000 zwölf Seminare und Kurse umfasste Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten be- und auf ein breites Spektrum von „Praktikern“ zielte, trachtet war das Spektrum der Mitglieder sehr zu dem auch Hebammen zählten. Archiv BGGF (2000–2001): Bayerische Gesellschaft 74. Tagung 1.- breit gefächert, soweit sich dies aus den erhaltenen 3.10. 2000 Landshut. 75. Tagung 13.-16.6. 2001 Ba- Unterlagen ableiten lässt: Während zumindest für den Wien. Tagungsprogramm 1.-3. 10.2000. einige Vorstandsmitglieder Indikatoren auf erhebli- 65 Eigene Räumlichkeiten für einen Tag, Archiv BGGF (1990–1991): Bayerische Gesellschaft 64. Tagung 14.-16. 6.1990 in Passau, 65. Tagung 29.5.-1.6. 1991 68 Darin unterscheidet sie sich beispielsweise von Ge- in München, Sitzungsprotokoll der Vorstandschafts- sellschaften in Berlin, siehe Goschler: Vereinsmen- sitzung 23.10.91; eigene Sitzung, Erscheinen im Pro- schen (2000), S. 36–61. gramm und Zahlung des halben Mitgliedbeitrags, Ar- 69 Unter Ballotage ist eine anonymisierte Entscheidung chiv BGGF (1993–1995): Bay. Gesellsch. August 1993 mit Hilfe weißer und schwarzer Kugeln zu verstehen, – Dezember 1995, Protokoll der Vorstandssitzung die als Anzeichen sozialer Exklusivität zu werten ist, 22. 2.1994. vgl. Goschler: Vereinsmenschen (2000), S. 44 f. 66 Archiv BGGF (2002–2003): Bayer. Ges. 76. Tagung 70 Vgl. die Statuten im Anhang II hier im Band; Archiv 30.5.-1. 6.2002 Bad Wörishofen. 77. Gemeins. Tagung BGGF (1937–1952): 36. Korrespondenz […] Wieder- 28.-31. 5.2003 Würzburg, 30.5. 2003 Protokoll der begründung BGGF, Statuten 1951, Brief Eymer an Mitgliederversammlung. Burger, 10.2.1951, Bescheinigung Würzburger Amts- 67 3.7. 1989 Killer an 1. Vorsitzenden Henner Graeff: „Da gericht 29.12.1951; BGGF (1912–1954): Sammel- die Gesellschaft ja zu fast 70% aus älteren Mitgliedern mappe BGGF Statuten 1952; BGGF (1912–1988): [3 bestand, war ich während all dieser Jahre bemüht, aus:] Übersicht […] Satzungen 1981, 1988; Abdruck neue Mitglieder zu gewinnen. […] jüngere Chefärzte von Statuten und Satzung ca. 1912, von 1929 und und Assistenten und niedergelassene Fachärzte […]. 1985 siehe Zander, Zimmer: BGGF (1987), S. 25 f., Archiv BGGF (1987–1990): Bayerische Gesellschaft 117–120; aktuelle Satzung, www.bggf.de/cms/ für Geburtshilfe und Frauenheilkunde. index/mitgliedschaft/satzung.html (04.09.2012).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext 19 chen Wohlstand hindeuten,73 finden sich in den zugewanderten Ärzte und Ärztinnen häufig auf ersten Nachkriegsjahrzehnten immer wieder ältere Schwierigkeiten, sich in Bayern zu etablieren.76 In Kollegen und Kolleginnen, die aufgrund ihrer der Regel gingen die Schatzmeister auf die Bitten schwierigen finanziellen Lage um Erlass der Beiträ- ein und führten die Betreffenden weiter als nicht ge baten.74 In Einzelfällen wird deutlich, dass es zahlende Mitglieder. Je nach Altersstruktur der sich bei diesen um ein typisches Flüchtlingsschick- Mitglieder – und Anzahl gleichfalls beitragsfreier sal handelte.75 Nach neueren Studien stießen die Ehrenmitglieder – konnte dies in einzelnen Jahren, wie beispielsweise 1974, dazu führen, dass 16% der 77 71 Zum Vergleich: die Berliner Medicinische Gesell- Mitglieder beitragsbefreit waren. schaft hatte schon Ende des 19. Jahrhunderts einen Die Zahl der BGGF‑Mitglieder stieg – allerdings, jährlichen Mitgliedsbeitrag von 20 Mk erhoben, siehe wie Abbildung 1.3 zeigt, diskontinuierlich – von zu- Goschler: Vereinsmenschen (2000), S. 45. nächst 179 im Jahr 1929 auf 710 Mitglieder im Jahr 72 – Archiv BGGF (1912 1954): Sammelmappe Statuten; 2011.78 BGGF (1937–1952): 36; BGGF (1962–1963): Bayer. In diesem Anstieg spiegelt sich tendenziell die Gesellsch. Tagung 1963. Korrespondenz Schriftführer Kaiser; BGGF (1952–1960) sowie (1961–1967) Post- allgemeine Entwicklung der Ärztezahlen, wenn- scheck-Belege; BGGF (1971–1973): 1. 1.1971- gleich die Erhöhung der Ärztedichte allgemein in 1.6. 1973, 2.11. 1970 Bericht des Schatzmeisters; Bayern stärker ausfiel.79 Es ist nicht zu übersehen, BGGF (1971–1973): 1.1. 1971-1. 6.1973, Protokoll dass sich nur ein Bruchteil der in Bayern tätigen Gy- der Mitgliederversammlung 25. 5.1974; BGGF näkologen für eine Mitgliedschaft in der Bayeri- (1996-): Bayr. Gesellschaft. Januar 96-, 25. 11. 1996 schen Gesellschaft interessiert.80 Wie oben darge- Schreiben des Schatzmeisters Wolf-Dieter Jonatha; BGGF (2000–2001): Bayerische Gesellschaft 74. Ta- stellt, bemühte sich der Vorstand immer wieder, gung 1.-3. 10. 2000 Landshut. 75. Tagung 13.- diesen Bruchteil zu erhöhen. Eine Möglichkeit wur- 16. 6.2001 Baden Wien, Mitteilung des 1. Vorsitzen- de – wie dargestellt – darin gesehen, das Tagungs- den Johannes Dietl und des 1. Schriftführers Rainer programm so zu gestalten, dass es sich für die Kürzl über Erhöhungsbeschluss der Mitgliederver- „Praktiker“ attraktiver präsentierte. sammlung am 15. 6.2001. 73 Beispiele: 16.7. 1937, Eymer an Hans Bauer, „[…]Sehr gerne wäre ich natürlich mit meinem Wagen, mei- nem Fahrer und meiner Frau hinübergefahren. […]“; 76 Lindner: Milchpfennig (2001), S. 230–235. 1950er: mehrwöchige Urlaubsaufenthalte in Hotels 77 Archiv BGGF (1975–1977): Bayerische Gesellschaft in Schweizer Ski- und Bergorten, Hans Rummel an für Geburtshilfe und Frauenheilkunde 1975–1977, Eymer, 28. 2.1951; Rummel an Eymer August 1956; Protokoll Mitgliederversammlung 25. 5.1974. 1970er: Tagen in exklusiven Hotels und Konsum von 78 Archiv BGGF: Die Zahlen bis 2005 stammen aus der Luxusartikeln, Abrechnungen, Archiv BGGF (1937– Auswertung der gedruckten oder maschinenschriftli- 1952): 36. Korrespondenz Heinrich Eymer; BGGF chen Mitgliederverzeichnisse, aus den verstreut vor- (1978–1981): − 31.12.79. Korrespondenz und Ab- handenen Angaben der Schatzmeister sowie aus den rechnungen, 9.5. und 11. 5. 1979. Aufzeichnungen der Gesellschaftssekretärin Marian- 74 5.6. 1959, Frauenarzt aus Bad Aibling an Schatzmeis- ne Killer; die Zahlen für 2009 bis 2011 beziehen sich ter Bauer: „[…] gebe ich meine Praxis aus gesund- auf Angaben auf der Website der Gesellschaft sowie heitlichen Gründen im Alter von 70 Jahren auf. Da auf ein Mitgliederverzeichnis für 2011, das mir meine Altersversorgung knapp bemessen ist, bitte freundlicherweise die derzeitige Gesellschaftssekre- ich mir die Beiträge für die Jahre 1958 und 1959 in tärin Stefanie Motz zur Verfügung stellte, der ich für Höhe von DM 10,- zu erlassen und mich aus der Mit- ihre bereitwillige Unterstützung herzlich danke. gliedsliste zu streichen.“; 30. 7.1962 Frauenärztin aus 79 Siehe dazu die Graphiken des Bayerischen Landesam- Passau an Bickenbach, weitergeleitet an Bauer „[…] tes für Statistik und Datenverarbeitung: www.statis Da ich seit 1958 nicht mehr praktiziere, da ich jetzt tik.bayern.de/ueberuns/zeitreihen/ (04. 09. 2012). 78 Jahre alt bin, wäre ich dankbar, wenn ich vielleicht 80 Den 710 Mitgliedern in der BGGF stehen 1881 prakti- als nicht zahlendes Mitglied beibehalten werden zierende Gynäkologen und Gynäkologinnen gegen- könnte. […] lebe von der Sozialrente. […] noch immer über, die 2011 von der Kassenärztlichen Vereinigung sehr an den Tagungen und Berichten der gynäkologi- aus den Adressbüchern ermittelt wurden. Nach den schen Gesellschaft interessiert […]“. Archiv BGGF Zahlen des Berufsverbandes der Frauenärzte reprä- (1946–1967): Korrespondenz, Belege, Schatzmeister sentieren Niedergelassene ca. 58% der Gynäkologen Bauer. und Gynäkologinnen. Daraus lässt sich schließen, 75 „Da ich erst Mai 1946 als aus Schlesien Vertriebene dass im Jahr 2011 ca. 22% der in Bayern frauenärzt- nach Passau kam, wurde ich in die Bayerische Ärzte- lich Tätigen in der BGGF organisiert sind. Für die sta- versicherung nicht mehr aufgenommen und lebe von tistischen Zahlen danke ich Stefanie Motz, BGGF; Pe- der Sozialrente.“ Archiv BGGF (1946–1967): Korres- ter Arnold, KVB München; Burkhard Scheele, Berufs- pondenz, Belege, Schatzmeister Bauer, 30. 7.1962. verband der Frauenärzte e.V.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 20 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext

Mitgliederentwicklung 1929–2011 800

700

600

500

400

Mitgliederzahl 300

200

100

0 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Jahr

Abb. 1.3 Entwicklung der Mitgliederzahlen in der BGGF.

In der Tat folgte der erste starke Mitgliederzu- kein Beschluss auffinden, wonach jüdische Mitglie- wachs, der 1968 einsetzte, auf die Einführung von der ausgeschlossen werden sollten, wie dies von an- „Diskussionsrunden über Fragen der täglichen Pra- deren Gesellschaften bekannt ist.84 Aus den überlie- xis“, die der damalige 1. Vorsitzende Horst ferten Fragmenten der Korrespondenz geht dies Schwalm für die Tagung in Würzburg vorgeschla- aber eindeutig hervor. Mehr oder weniger unkom- gen hatte. Dabei sollten die Kongressteilnehmer mentiert informierte der Schriftführer Rudolf Dy- Gelegenheit erhalten, „im kleinen Kreis (8–10 Teil- roff den 1. Vorsitzenden Heinrich Eymer 1936 über nehmer) diese Fragen untereinander unter Leitung den Rückgang von 179 auf 100 Mitglieder und legte eines erfahrenen Klinikers zu erörtern.“81 gleichzeitig eine Liste der säumigen Beitragszahler Der steile Anstieg der Mitgliederzahl ab den bei. Erst im nächsten Korrespondenzschritt wurde 1990er Jahren kann auch im Zusammenhang mit dafür eine Begründung deutlich, indem Dyroff den beschriebenen Bemühungen um wissenschaft- empfahl: „Von den Juden, die nicht mehr in der Ge- lichen Nachwuchs gesehen werden. Die neuesten sellschaft sein dürfen, würde ich keine Beiträge Zahlen bis 2011 belegen allerdings einen leichten mehr einfordern, auch wenn sie mit einem größe- Rückgang der Mitgliederzahl, obgleich das damals ren Betrag im Rückstand sein sollten.“85 aktuelle Programm eine Fortführung dieser Traditi- on und deren Weiterentwicklung erkennen lässt.82 Die Diskontinuität der Mitgliederzahlen in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Gründung belegt ein 83 Zwar ist die Zählung durch zahlreiche Streichungen unerfreuliches Kapitel in der Geschichte der Bayeri- und Einfügungen erschwert, doch ist die Tatsache schen Gesellschaft. Zwischen 1929 und 1939 ver- nicht zu übersehen. Archiv BGGF (1912–1988): Über- schwanden etwa 42% der Mitglieder aus den Lis- sicht der Tagungen. […] Auswertung des Ordners Teil ten.83 Zwar lässt sich in den archivierten Unterlagen II. Mitgliederverzeichnisse, Durchschläge 1929 und 1936 mit Zusätzen bis 1939. 81 Archiv BGGF (1967–1970): 1.2.67–31.12.1970. Kon- 84 Die Satzung der „Deutschen Gesellschaft für Zahn-, toführung und Korrespondenz der Schatzmeister, Mund- und Kieferheilkunde“ von 1934 schloss alle 1.4.1968 Schwalm an Bauer. „Nichtarier“ von einer Mitgliedschaft ihrer „Arbeits- 82 Programm „Gemeinsame Tagung, BGGF und ÖGGG, gemeinschaften“ aus; vgl. Groß, Schäfer: DGZMK 25.–28. Mai 2011, Erlangen“. (2009), S. 305.

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Mitgliederanteil weiblich 45

40

35

30

25

Prozent 20

15

10

5

0 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Jahr

Abb. 1.4 Anteil weiblicher Mitglieder in der BGGF.

Da an anderer Stelle in diesem Band auf das lem gegen Jüdinnen oder Ehefrauen von Juden –, Schicksal dieser jüdischen Mitglieder näher einge- des Entzugs der Kassenzulassung und der Schikane, gangen wird, begnüge ich mich hier mit Hinweisen den Führerschein abgeben zu müssen, versuchte auf das Schicksal einer der wenigen Frauen, die be- Hilde Heim zunächst ihre Eltern und Schwiegerel- reits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in tern zu betreuen und das Familienvermögen zu ret- München praktizieren konnten: Hilde Heim. Sie ten. Erst zu Weihnachten 1938, knapp drei Monate wurde erstmals 1926 bei der Münchner und später nach dem Approbationsentzug für jüdische Ärzte, auch bei der Bayerischen Gesellschaft als Mitglied kündigte auch sie ihre Ausreise an. Schließlich ge- geführt. 1936/39 verschwand sie aus dem entspre- hörten sie und ihr Mann zu den wenigen Verfolg- chenden Verzeichnis. ten, denen über die Schweiz eine Emigration in die Nach einschlägigen Studien hatte sich Hilde USA gelang, wo Hilde Heim 58-jährig ihr medizini- Heim 1919 in München als Ärztin niedergelassen. sches Examen nochmals ablegte und danach in Aus ihrer Mitgliedschaft in der Münchner und in New York wieder praktizierte.87 der Bayerischen Gesellschaft kann darauf geschlos- Dieses Beispiel eines ehemaligen weiblichen sen werden, dass sie trotz einer internistischen Mitglieds belegt aber auch, dass die Vorstände der Ausbildung im Schwabinger Krankenhaus auch als BGGF und der Münchner Gynäkologischen Gesell- Frauenärztin tätig war.86 Schon mit Beginn der schaft schon in den ersten Dekaden des 20. Jahr- NS‑Herrschaft verlor ihr Ehemann seine Stellung hunderts bereit waren, Frauen aufzunehmen, was als Justitiar bei einem Verlag, der alle „Nichtarier“ für wissenschaftliche Gesellschaften damals keine entlassen hatte, und plante auszuwandern. Trotz Selbstverständlichkeit war.88 Der Anfang war be- der Kampagnen gegen berufstätige Frauen – vor al- sonders vielversprechend, denn sogar die erste in München niedergelassene Ärztin, Mally Kachel89, 85 Archiv BGGF (1912–1988): Übersicht der Tagungen gehörte der Münchner Gesellschaft für Gynäkolo- […] Auswertung des Ordners Teil V. Korrespondenz gie und der BGGF an. Auch die Satzung für die Neu- des Schriftführers Dyroff vor 1939, 12.12.1936 Dyroff gründung der BGGF nach dem Zweiten Weltkrieg an Eymer; 10.3.1937 Dyroff an Eymer. wurde neben sechs Männern von einer Frau mitun- 86 Siehe Damskis: Biografien (2009), S. 223; Ebert: An- erkennung (2003), S. 159 f. Zur weiblichen Klientel 87 Ebert: Anerkennung (2003), S. 147 ff., 156–160; von niedergelassenen Ärztinnen auch ohne fachärzt- Damskis: Biografien (2009), S. 43–89. liche Spezialisierung vgl. den Beitrag von Renate- 88 Vgl. Goschler: Vereinsmenschen (2000), S. 43–48. Wittern-Sterzel in diesem Band. 89 Ebert: Anerkennung (2003), S. 17, 141 ff.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 22 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext terschrieben, der Münchner Ärztin Barbara Hollen- knapp 40%, obwohl 48% der Gynäkologen in der weger-Mayr.90 Vor den Auswirkungen der NS‑Ideo- Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern weiblich logie erreichte der Anteil der Frauen in der Münch- sind und der Berufsverband der Frauenärzte 55% ner Gesellschaft sogar knapp 10% – sieben von 72 sowie die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie „ordentlichen Mitgliedern“ in der städtischen Or- und Geburtshilfe 57% weibliche Mitglieder haben.94 ganisation, eine Frauenbeteiligung, die in der Baye- Die Beteiligung der Mitglieder an Tagungen der rischen Gesellschaft erst in den 1970er Jahren er- BGGF lag schon in den 1920er Jahren teilweise un- reicht werden konnte (Abbildung 1.4).91 ter 50%. 1932 gehörte der Großteil der Tagungsteil- Betrachtet man den prozentualen Anteil der nehmer nicht der Bayerischen Gesellschaft an.95 Frauen an den Mitgliedern der Bayerischen Gesell- Die während der Tagungen stattfindende Mit- schaft näher, so fällt in den späteren 1960er Jahren gliederversammlung entschied und entscheidet ein regelrechter Einbruch auf. Dieser ist allerdings über grundsätzliche Belange der Gesellschaft. Dazu weniger auf den Austritt von Frauen zurückzufüh- gehören Satzungsänderungen, die Zusammenset- ren. Vielmehr gelang es dem Vorstand damals, be- zung des Vorstandes, die Entlastung des Schatz- sonders viele neue, hauptsächlich männliche Mit- meisters, die Beitragshöhe sowie Stellungnahmen glieder anzuziehen, die auch sprachlich über viele zu aktuellen standespolitischen Fragen, um nur ei- Jahre in allen Beschlüssen und Satzungen aus- nige Beispiele zu nennen. Trotzdem deuten die vor- schließlich adressiert wurden.92 liegenden Zahlen zur Beteiligung an den Versamm- Dies änderte sich in den 1990er Jahren. Seitdem lungen auf ein geringes Interesse der Mitglieder an stieg – möglicherweise mitbedingt durch ein weib- dieser Entscheidungsfindung. Ihr Anteil konnte so- liches Mitglied im Vorstand und die neue Betonung gar bei wichtigen Tagesordnungspunkten unter frauenspezifischer Fragen –93 die Zahl der Frauen 10% liegen.96 Das Desinteresse an einer Mitwirkung unter den Mitgliedern steil an. Verglichen mit den konnte sogar so weit gehen, dass – wie im Jahr 2001 korrespondierenden Zahlen der Kassenärztlichen – neben dem Vorstand nur noch eine verschwin- Vereinigung in Bayern und des Berufsverbands der Frauenärzte muss aber immer noch von einer zö- 94 Für die statistischen Zahlen danke ich Stefanie Motz, gerlichen Entwicklung gesprochen werden. Festzu- BGGF (1/2011); Peter Arnold, KVB München (Auswer- halten ist deshalb, dass Frauen in der BGGF seit den tung Frauenarztpraxen, Geschlecht, Alter, Zulassung, Nachkriegsjahren unterrepräsentiert waren und Stand 1/2011); Burkhard Scheele, Berufsverband der dies auch 2011 sind: Noch immer liegt der Anteil Frauenärzte e.V. (Graphik Mitgliederstruktur 2008; weiblicher Mitglieder in der Gesellschaft bei nur Tabelle Mitgliederstruktur 31. 12. 2010); zu Zahlen der DGGG bis 6/2009 siehe die Graphik auf der Web- site: www.dggg.de/ueber-die-dggg/geschichte/ 90 Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 30. (04. 09. 2012). 91 Archiv BGGF (1912–1988): Übersicht der Tagungen. 95 Archiv BGGF (1912–1988): Übersicht der Tagungen, […] Auswertung des Ordners Teil II. Mitgliederver- Auswertung des Ordners Teil IV. Teilnehmerlisten zeichnisse, Durchschläge 1929 und 1936 mit Zusät- 1925–1939. In einem Brief an Dyroff zur Tagung zen bis 1939, Mitgliederverzeichnisse bis 1988; vom 7. 2.1932 ist von „über 450 Teilnehmern“ die Re- BGGF (1968–1999) Mitgliederverz. ab 1968; Münch- de, von denen sich allerdings nur 99 in eine Liste ein- ner Gynäkologische Gesellschaft (1895–1956, 1994): getragen hatten, darunter 40 Mitglieder. Sammelordner 1895- Mitgliederverzeichnisse 1915 96 Die Zahlen zur Beteiligung sind nur lückenhaft über- (gedruckt), 1924–1934 (maschinengeschrieben) liefert, weisen aber durchgehend auf eine geringe 92 Erst 1981/1983 enthielt die neue Satzung einen Zu- Partizipation an solchen Entscheidungen hin: Ob- satz, in dem ausdrücklich Frauen und Männer, „Kolle- wohl Vorstandsmitglieder neu gewählt werden ginnen und Kollegen“, als potentielle Mitglieder an- mussten und grundsätzliche Entscheidungen wie die gesprochen wurden, Archiv BGGF (1912–1988): Aufnahme eines Vertreters des Berufsverbandes an- Übersicht der Tagungen […] Auswertung des Ordners standen, nahm am 11. 6.1971 weniger als ein Viertel Teil III. Satzungen. der Mitglieder an der Versammlung teil, Archiv BGGF 93 Mit der Ernennung von Birgit Ploß zur zweiten (1971–1973): 1. 1.1971-1. 6.1973; 30. 7.1971 Zim- Schriftführerin war einem Vorschlag des Vertreters mer an Amtsgericht Würzburg. Obgleich eine Sat- des Berufsverbandes der Frauenärzte, Eduard Ko- zungsänderung geplant war, ist für die Mitglieder- schade, ein weibliches Mitglied in den Vorstand auf- versammlung am 22. Juni 1973 sogar weniger als ein zunehmen, entsprochen worden. Archiv BGGF Fünftel Beteiligung nachweisbar, zwei Jahre darauf, (1990–1991): Bayerische Gesellschaft 64. Tagung am 9.5.1975, lag diese sogar unter 10%; BGGF 14.-16. 6.1990 in Passau, 65. Tagung 29.5.-1.6. 1991 (1973–1975): 2.6.1973-31.12.75, Protokolle der Mit- in München, 4. 12. 1990; 7.11. 1991 Sitzungsprotokoll gliederversammlung. Ähnlich niedrige Zahlen sind der Vorstandschaftssitzung. auch für die 1980er und 1990er Jahre belegt, bei-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext 23 dende Minderheit von zehn weiteren Mitgliedern Trotz der erwähnten Lücken ist aber auch im Ar- über die Belange der Gesellschaft entschied.97 Ins- chiv der Gesellschaft nicht zu übersehen, dass Vor- gesamt lässt sich daraus schließen, dass die Vor- standsmitglieder sich am Ausschluss der jüdischen standsmitglieder weitgehende Handlungsfreiheit Mitglieder beteiligten,101 nicht frei vom allgemein genossen. Nur einer verschwindend kleinen Zahl vorherrschenden Antisemitismus waren und durch der Mitglieder lag daran, über die vereinsüblichen, Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisa- formalen Mittel Einfluss zu nehmen.98 tionen ihre entsprechende Orientierung unterstri- chen. Einige Beispiele sollen dies illustrieren.102 Für die Besetzung einer „Chirurgenstelle“ war Die BGGF, Politik und Gesellschaft dem Erlanger Ordinarius und Vorstandsmitglied der BGGF Hermann Wintz von seinem Kollegen in Letztendlich waren es aus diesem Grund auch die Tübingen im Jahr 1928 ein Kandidat vorgeschlagen Mitglieder des Vorstandes, deren Agieren im Um- worden, über den es in einem späteren Schreiben feld der politischen, wirtschaftlichen und sozialen hieß, „dass man Borchers den Vorwurf machte, er Entwicklungen der Vorkriegs- und Nachkriegs- sei Jude.“ Noch in der Verteidigung dieses Kandida- gesellschaft in Deutschland das Profil der BGGF ten wird eine antisemitische Stimmung greifbar: prägten, was ebenso für die Licht- wie die Schat- „Jedenfalls hat er in seinem ganzen Auftreten nach tenseiten ihrer Geschichte gilt. meinem Dafürhalten gar nichts Jüdisches.“103 Die archivalische Überlieferung weist für die Schon 1935 ist die Mitgliedschaft in der „S.A.“ NS‑Zeit auffällige Lücken auf.99 Als Schriftführer für die Vorstandsmitglieder August Beckh, Rudolf fungierte damals – wie mehrfach erwähnt – Rudolf Dyroff sowie den Nürnberger Frauenarzt und Dyroff. Der langjährige Oberarzt der Erlanger Frau- Wintz-Schüler Carl Heinz Engelbrecht dokumen- enklinik war bereits in den ersten Nachkriegsjah- tiert. Eine Ausnahme bildete damals nur Heinrich ren wegen seiner Beteiligung an Zwangsabtreibun- Eymer, der sich aber später ebenfalls anpasste.104 gen höchst umstritten, wurde schließlich aber nach Dyroff begründete seine Mitgliedschaft in der SA heftigen – auch öffentlich im Bayerischen Landtag später – wie andere auch – mit dem Hinweis da- geführten – Diskussionen 1950 auf den dortigen rauf, er sei als Mitglied des „Stahlhelm“ im Februar Lehrstuhl berufen. Darauf wird an anderer Stelle 1934 vom NS‑Regime gegen seinen Willen der SA näher eingegangen.100 Reserve I inkorporiert worden. „Ein Austritt damals aus der SA wäre mir als Parteiprovokation ausge- spielsweise die Mitgliederversammlung vom legt worden und hätte mir durch Inhaftnahme die – – 6.6. 1980, BGGF (1980 1981): 1.1.80 30.6.81, Proto- obstruktive Haltung unmöglich gemacht, mit der koll; sowie vom 1.6. 1984, BGGF (1977–1986): ich in der Folge dem Dienst fern blieb“, schrieb er Schriftverkehr 1977–1986, Protokoll; die Mitglieder- versammlung vom 31. 5. 1991, BGGF (1990–1993): Bay. Gesell. ab Mitte 1990 – Juli 1993, Protokoll. 100 Siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Frobenius, Wie- 97 Archiv BGGF (2000–2001): Bayerische Gesellschaft derbesetzung, in diesem Band. 74. Tagung 1.-3.10. 2000 Landshut, 75. Tagung 13.- 101 Siehe dazu auch den Beitrag von Fritz Dross in diesem 16. 6.2001 Baden Wien, Protokoll der Mitgliederver- Band. sammlung am 15. 6.2001. 102 Als willige „Selbstgleichschaltung“ bezeichnete dies 98 Zu Recht wird deshalb darauf hingewiesen, dass bei Prüll: Bedeutung (2010), S. 373. einer Untersuchung von Vereinigungen Mitglied 103 Nicht signierter Brief – Schreiben von Dyroff? – und nicht gleich Mitglied zu setzen ist, vgl. Braun: Verei- Schreiben von Meyer an Wintz 7.7.1928, 27.10.1928, nigungen (2007), S. 201 f. Archiv BGGF (1912–1988): Übersicht der Tagungen 99 Die vom damaligen Schriftführer Rudolf Dyroff über- […], Auswertung des Ordners Teil V. Korrespondenz lieferte Korrespondenz wirkt insgesamt äußerst lü- des Schriftführers Prof. Dyroff vor 1939. ckenhaft, Archiv BGGF (1912–1988): Übersicht der 104 In der Abschrift eines undatierten Fragebogens der Tagungen […], Auswertung des Ordners Teil V. Kor- Polizeidirektion München war nur Heinrich Eymer respondenz des Schriftführers Prof. Dyroff vor 1939; nicht als „Mitglied bei Nat. Verbänden“ aufgeführt. die vorhandenen Unterlagen des während der natio- Dieser Fragebogen war im Jahr 1935 eingefordert nalsozialistischen Herrschaft zuständigen Schatz- worden. 30.11.1935 Eymer an Dyroff, Archiv BGGF meisters Engelbrecht sind äußerst dürftig, er soll sie (1912–1988): Übersicht der Tagungen […], Auswer- jedoch an seinen Nachfolger übersandt haben, tung des Ordners Teil V. Korrespondenz des Schrift- 18.4.53 Engelbrecht an Bauer, BGGF (1946–1967): führers Prof. Dyroff vor 1939. In späterer Zeit passte Korrespondenz, Belege […] [von mir aus beschädig- sich auch Eymer an und wurde Mitglied in einer ein- tem in neuen Leitzordner umgesetzter Bestand mit schlägigen Organisation, vgl. Bröer: Geburtshilfe Beschriftung „Gyn. Ges.“ A.K.]. (2006), S. 852, 869, 882.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 24 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext im Juni 1946 in einem Antrag auf Wiedereinset- ärztlichen Fachschaft zugunsten einer Bettenstati- zung in seine Ämter.105 on für Kieferkranke zur Disposition gestellt. Zum plötzlichen Tod des langjährigen Vorstan- Polano starb am 23. Juli 1934 in Obergrainau bei des der gynäkologischen Poliklinik der LMU in Garmisch-Partenkirchen, wohin er sich bereits im München, Oskar Polano, im Jahr 1934 sind im Ar- Mai 1933 zurückgezogen hatte. Seine Erkrankung chiv der BGGF keinerlei Unterlagen erhalten, ob- machte ihm offensichtlich schon damals das Lesen wohl er 1932 zum 1. Vorsitzenden gewählt worden und Schreiben schwer, wenn nicht unmöglich: Der war, im Februar 1933 die 21. Sitzung der Gesell- amtliche Fragebogen zur Umsetzung des „Gesetzes schaft geleitet hatte und nach den üblichen Abläu- zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“,in fen in der Gesellschaft auch 1934 eine Tagung hätte dem Polano seine Abstammung von jüdischen leiten müssen. Tatsächlich fand 1934 aber keine Ta- Großeltern angeben musste, wurde von seiner gung statt. Es existieren auch keinerlei Unterlagen Frau Anna ausgefüllt und in Vertretung unter- darüber, worauf dies zurückzuführen war. Ebenso schrieben. Das Rektorat der LMU dokumentierte wenig wird der Tod des ehemaligen Vorsitzenden den Tod Polanos mit einer knappen Nachricht an im Tagungsbericht über die 22. Sitzung der Gesell- das Kultusministerium. „Die Beisetzung hat in aller schaft in München erwähnt. Obwohl in früheren Stille stattgefunden“, hieß es darin.108 Tagungsberichten einleitend auch verstorbener Die Verstrickungen von Mitgliedern der Gesell- einfacher Mitglieder gedacht wurde, heißt es 1935 schaft in nationalsozialistische Verbrechen wie eu- an entsprechender Stelle nur: „Nach Begrüßung genisch begründete Abtreibungen und Zwangsste- der Vertreter des Kultusministeriums und des rilisationen werden an anderer Stelle in diesem Wehrkreisarztes sowie des Ehrenmitgliedes Ge- Band ausführlicher dargestellt. heimrat Döderlein, München, wird in die Arbeitsta- Die in der Gesellschaft, vor allem auch in der gung eingetreten.“106 Wissenschaft109 und in der Medizin110, ganz allge- Naheliegende Gründe für dieses Verhalten der mein lange fehlende Auseinandersetzung mit Fehl- Gesellschaft offenbaren sich bei einem Blick in die verhalten und Verbrechen während der NS‑Zeit Personalakte von Polano.107 In einer dort abgelegten war über Jahrzehnte auch für das Verhalten der Liste findet sich der Name des damals 59-jährigen Vorstandsmitglieder der Bayerischen Gesellschaft Wissenschaftlers unter insgesamt 35 Hochschulleh- kennzeichnend. So wurde beispielsweise Rudolf rern der Universität München, die Mitte 1933 we- Dyroff trotz seiner Beteiligung an Zwangsabtrei- gen „nicht arischer Abstammung“ zum Teil bereits bungen Ende der 1950er Jahre zum 1. Vorsitzenden entlassen worden waren. Vor diesem Schicksal be- gewählt und nach seiner Amtszeit zum Ehrenmit- wahrte Polano nur eine progrediente Netzhauter- glied der Gesellschaft ernannt.111 „Verschweigen krankung beider Augen, die ihm vom Sommerse- und Vergessen“ kennzeichnet auch den Umgang mester 1933 an die Ausübung seines Amtes und sei- mit weiteren Ehrenmitgliedschaften in der Nach- ner Funktionen als Leiter der gynäkologischen kriegszeit, ein Thema, auf das ebenfalls an anderer Poliklinik unmöglich machte. Ausgestattet mit ei- Stelle eingegangen werden soll. nem Attest des ebenfalls auf der Liste der „Nicht- Der zwangsweisen Sterilisierung von Frauen im arier“ stehenden Ordinarius für Augenheilkunde, Nationalsozialismus, an der Dyroff wie viele andere Karl Wessely, ersuchte Polano aus dem Kranken- Frauenärzte ebenfalls beteiligt war,112 wurde erst stand heraus am 15. Juli 1933 um seine Pensionie- rung zum November des genannten Jahres. 108 BayerHStaatA M, MK 44136: Rektorat der Universität Obwohl dieser Bitte schließlich stattgegeben München an das Kultusministerium, Schreiben vom wurde, musste Polano noch erleben, dass das Kul- 28.7.1934. tusministerium ihn vorher offiziell seines Amtes 109 Finkenstaedt: Universitätslehrer (2010), v.a.S. 183 f. 110 als Prüfer für das Medizinische Staatsexamen ent- Einen gestrafften Überblick siehe bei Oehler-Klein, Roelcke: Einführung (2007); Süß: Medizin und Natio- hob. Die Gynäkologische Poliklinik, der er 13 Jahre nalsozialismus (2011). vorgestanden hatte, wurde auf Betreiben der zahn- 111 Archiv BGGF (1946–1967): Korrespondenz, Belege […] [von mir aus beschädigtem in neuen Leitzordner umgesetzter Bestand mit Beschriftung „Gyn Ges.“ AK] 105 Spruchkammerakte Dyroff, Amtsgericht Erlangen, 31.5.61 Bauer an Dyroff; BGGF (1912–1988): Über- Nr. 13. sicht der Tagungen […], Auswertung des Ordners 106 Tagungsbericht 1935: Monatsschrift für Geburtshülfe Teil II, Mitgliederverzeichnis 1968. 101 (1936). 112 Zwangsterilisationen wurden an allen Universitäts- 107 BayerHStaatA M, MK 44 136. frauenkliniken durchgeführt. Sie gehörten zu den so-

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1968 die legale Grundlage entzogen. Die offizielle Ein spätes Beispiel für die Weigerung, sich mit Ächtung setzte in den 1980er Jahren ein.113 Aller- dem Geschehen im Nationalsozialismus kritisch dings begann schon Ende der 1950er und Anfang auseinanderzusetzen, stellt die Dokumentation der 1960er Jahre zunächst im Zusammenhang mit dar, die anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Bemühungen um Entschädigung Betroffener eine BGGF erschien. Sie enthielt noch 20 Jahre nach Be- größere Debatte darüber. Wenig später ging es ginn der breiteren Auseinandersetzung mit auch um ein neues Sterilisationsgesetz, das im Rah- NS‑Verbrechen in der Medizin nur im Geleitwort men der 5. Strafrechtsreform realisiert werden des 1. Vorsitzenden einen einschlägigen Hinweis: sollte. „Bis heute ungeschrieben und vielfach wohl auch Vor diesem Hintergrund ist die Wahl der Haupt- unbewältigt ist das Kapitel Geburtshilfe und Frau- themen für die Tagung des Jahres 1962 zu sehen, enheilkunde im Dritten Reich.“ Tatsächlich wird in die unmittelbar vor Dyroffs Ausscheiden aus dem keiner der dort publizierten Kurzbiographien der Vorstand getroffen wurde: Eines davon galt der Vorsitzenden auch nur mit einem Wort auf deren „Sterilisierung der Frau“. In der Einladung, die im Verhalten im Nationalsozialismus eingegangen.116 Januar verschickt wurde, waren zwei Referate Eine echte Auseinandersetzung mit der NS‑Vergan- dazu vorgesehen – einmal aus gynäkologischer genheit begann erst, als auf Initiative von Manfred und einmal aus juristischer Sicht. Wie der Tagungs- Stauber in den 1990er Jahren in der Klinik in der bericht zeigt, kam als drittes Referat ein Beitrag des Münchner Maistraße mit der Aufarbeitung der katholischen schweizer Moraltheologen Franz Bö- Zwangssterilisationen begonnen wurde.117 ckele auf das Programm. Zur positiven Nachkriegsbilanz der BGGF gehö- Die Auseinandersetzung mit den Zwangssterili- ren vor allem Aktionen im politischen und gesund- sationen im Nationalsozialismus wurde dabei je- heitspolitischen Diskurs, die wesentlich von Mit- doch fast völlig vermieden. Ein diskreter Ansatz zu gliedern der BGGF angestoßen oder zumindest kritischer Reflexion lässt sich nur im Zusammen- mitgetragen wurden. Als Beispiel, das sogar auf in- hang mit einer damals auch im Rahmen der Straf- ternationaler Ebene bis in die Gegenwart fortwirkt, rechtsreform diskutierten „eugenischen Indika- sei hier besonders die Entwicklung der Qualitäts- tion“ entdecken: Hierzu hielt es der referierende kontrolle in der Geburtshilfe genannt, deren Wur- Göttinger Ordinarius Heinz Kirchhoff für erforder- zeln in der Münchner Perinatalstudie liegen. Ein lich, dass ein Katalog „wirklicher Erbkrankheiten“ besonderer Aspekt für die Gesellschaftsgeschichte erstellt werden müsse.114 Darüber hinaus war bei der BGGF ergibt sich dabei aus der Tatsache, dass dem Thema eine gewisse Verunsicherung unüber- es in diesem Fall „Praktiker“ waren, von denen ent- sehbar. Der Schriftführer Rolf Kaiser sandte den Re- scheidende Impulse ausgingen: dem Vertreter des ferenten den zur Veröffentlichung vorgesehenen Verbandes der Frauenärzte bei der BGGF, Eduard Text über die Tagung nochmals zum Gegenlesen Koschade, und seinem Kollege, dem Münchner zu, mit der Begründung: „[…] bei diesem Thema Frauenarzt Fried Conrad.118 lasse er sie […] lieber überprüfen“.115 Die entsprechenden Aktivitäten sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass in Deutschland die Säuglings- und Müttersterblichkeit im internatio- genannten „ermächtigten Kliniken“. Davon gab es al- nalen Vergleich sehr hoch war. Die Senkung dieser lein im Einzugsbereich des Erbgesundheitsgerichtes Erlangen neben der Universitätsfrauenklinik und der Sterblichkeit hatte sich daher zu einem Ziel west- 119 chirurgischen Klinik drei weitere in Nürnberg und deutscher Gesundheitspolitik entwickelt. Spe- Fürth: Ley: Zwangssterilisation (2004), S. 94; über- blicksweise Schmuhl: Zwangssterilisation (2011). 116 Siehe Zander; Zimmer: BGGF (1987). 113 Tümmers: Anerkennungskämpfe (2011); Schmuhl: 117 Siehe hierzu beispielsweise Stauber: Gynäkologie Zwangssterilisation (2011), S. 210; Westermann: (1995). Im Foyer im 1.OG der Klinik und Poliklinik Leid (2010), S. 9, 187 ff.; Krüger: Zwangssterilisation für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU, Mai- (2003), S. 113. straße 11, befindet sich eine Gedenktafel für die 1345 114 Kirchhoff: Sterilisierung (1962), S. 1433. zwangssterilisierten Frauen, die das „Ärztekollegium 115 Archiv BGGF (1961–1962): Tagung 1962, 6.10.1961 2000“ gestalten ließ. Manfred Stauber erhielt nach Bickenbach an Bockelmann; 8.1.1962 Bickenbach an der „Rathaus Umschau“ vom 14.11.2001 für sein En- Englisch; 5.4.1962 Bickenbach an Kirchhoff; gagement die Auszeichnung der Stadt „München 20.7.1962 Kaiser an Kirchhoff. Vgl. den Artikel von leuchtet“. Astrid Ley in diesem Band. Zu Kirchhoff darüber hi- 118 Berg: Qualitätssicherung (2011), S. 32. naus die Hinweise in den Beiträgen von Florian Bruns, 119 Lindner: Sicherheits- und Präventionskonzepte Eva-Maria Silies und Marion Schumann. (2010), S. 232 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 26 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext ziell für den Münchner Raum wurden zudem zwi- lag beim Berufsverband der Frauenärzte. An der Pi- schen 1965 und 1970 immer wieder Statistiken lotphase der Perinatalstudie war neben Eduard Ko- präsentiert, die eine höhere perinatale Mortalität schade und Fried Conrad auch Hans Lochmüller aus zeigten, als sie in anderen Regionen nachweisbar der Klinik an der Maistraße beteiligt, der am ersten war. Dieser Umstand führte auch zu öffentlichen Erhebungsbogen mitwirkte. Diskussionen in den Medien. „Vorwürfe gingen be- Allerdings dürften die Pläne für die Perinatal- sonders in Richtung der belegärztlichen Geburts- studie anfangs nicht nur bei manchem „Wissen- hilfe, die in Bayern eine große Rolle spielte und schaftler“ auf Vorbehalte gestoßen sein. Der dama- spielt.“120 lige Münchner Ordinarius und spätere BGGF‑Vor- Gleichzeitig nahm die perinatale Medizin spe- sitzende Josef Zander beispielsweise, dem ziell in Deutschland in den 1960er Jahren einen irrtümlich neben seinen vielen anderen Verdiens- enormen Aufschwung.121 Nicht zuletzt deshalb ten auch die Urheberschaft für die Perinatalstudie stellte die Geburtshilfe bei der gemeinsamen Ta- zugeschrieben worden ist,124 schrieb jedenfalls spä- gung der Bayerischen und Österreichischen Gesell- ter, er gestehe, zunächst skeptisch gewesen zu sein. schaft in Bad Gastein im Jahr 1967 einen Schwer- Dabei bezog er sich auf die „sorgfältige Ausfüllung punkt dar. Im Rahmen eines Hauptthemas wurde der Fragebogen und die damit verbundenen we- über verschiedene Aspekte der Früherfassung sentlichen Belastungen“. Außerdem befürchtete er, kindlicher Gefährdung während der Geburt disku- die „kurzfristige statistische Auswertung des anfal- tiert. Zu den Referenten gehörte Konrad Hamma- lenden, umfangreichen Datenmaterials [sei] kaum cher aus Düsseldorf, der über die ersten Erfahrun- zu schaffen“. Die hervorragende Mitarbeit aller gen mit dem Prototypen des von ihm entwickelten Kolleginnen und Kollegen habe ihn jedoch eines Kardiotokographen berichtete.122 Bemühungen um Besseren belehrt. Die Klinik in der Maistraße habe gesundheitspolitische Konsequenzen lassen sich sich dem Projekt von Anfang an angeschlossen.125 unmittelbar danach allerdings noch nicht erken- Aufgrund der großen Akzeptanz wurde die nen. Münchner Studie schon 1979 auf ganz Bayern aus- Dies blieb der Münchner Perinatalstudie vorbe- geweitet. Heute findet sich ihr überarbeitetes Kon- halten, die im Jahr 1975 startete. Sie gilt als Reakti- zept in einem Qualitätssicherungssystem in ganz on auf die oben erwähnten schlechten geburtshilf- Deutschland sowie in weiteren europäische Staa- lichen Ergebnisse sowie deren öffentliche Diskussi- ten wieder.126 on. Beteiligt war initial neben Kliniken in München Ergänzend zur Perinatalstudie initiierte die und der näheren Umgebung auch die Frauenklinik BGGF auf Anregung aus den Reihen der „Wissen- Amberg unter der Leitung des späteren BGGF‑Vor- schaftler“ unter ihren Mitgliedern 1984 auf der Ta- sitzenden Dietrich Berg. Die Studie erfasste syste- gung in Irsee eine Kommission für landesweite Ein- matisch Daten aller Geburten auf freiwilliger Basis. zelfalluntersuchungen der sehr selten gewordenen Sie sollte vor allem die interne Selbstkontrolle der mütterlichen Todesfälle. Der Gründung dieser Geburtshelfer unterstützen und eine Basis zu ex- Kommission, die seitdem vor allem mit dem Na- terner Selbstkontrolle liefern. Weiteres Ziel war die men des Hochschullehrers Hermann Welsch aus Nutzung der Daten zur Bearbeitung perinatologi- der Klinik an der Maistraße verbunden ist, gingen scher Fragestellungen und zu Einzelfallanalysen.123 1983 entsprechende Absprachen unter ehemaligen Im Vorfeld hatten schon seit 1970 Diskussions- und amtierenden Vorständen der Gesellschaft vo- runden zwischen Geburtshelfern und Kinderärzten raus. Neben Welsch, dem für seine Tätigkeit 2004 aus dem Großraum München stattgefunden, die die Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft verliehen der Reduktion der perinatalen Mortalität und Mor- wurde, hatte man auch den Bamberger Klinikchef bidität dienen sollten. Die Federführung dieser Ak- Heinrich-Adolf Krone für diese Aufgabe berufen.127 tivitäten, die in die Gründung der perinatologi- Bereits ein Jahr nach der Ausweitung der Studie schen Arbeitsgemeinschaft München mündeten, auf ganz Bayern stellte die Perinatalerhebung 1980 in Regensburg unter der Leitung von Josef Zander 120 Berg: Qualitätssicherung (2011), S. 32. ein beherrschendes Tagungsthema der BGGF dar. 121 Vgl. Vetter, Klaus: 50 Jahre (2011), S. 362–370. Eben- Dies wiederholte sich 1992 in Amberg unter dem falls 1967 gründete Erich Saling die Deutsche Gesell- schaft für perinatale Medizin. 122 Archiv BGGF (1967): Tagung 1967, Tagungsführer, 124 Ludwig; Baltzer: Zander (2008). 26.5.1967. 125 Zander: Spuren (1998), S. 113 f. 123 Hermanek: Festveranstaltung (2006). 126 Berg: Qualitätssicherung (2011), S. 32 f.

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Vorsitz von Dietrich Berg. 2011 resümierte Berg, jedoch hauptsächlich um die Frage der medizini- die Zahl der Publikationen, die sich auf Ergebnisse schen Prävention,135 vor allem im Rahmen der seit aller Perinatalerhebungen gründen, liege „in einer diesem Zeitraum zunehmend bei BGGF‑Tagungen Größenordnung von 500–1000“.128 Auch die Kom- thematisierten Krebsfrüherkennung.136 Nur in die- mission „Mütterliche Mortalität“ kann auf eine an- sem Kontext sprach der Referent von einem distan- sehnliche Zahl von Veröffentlichungen verwei- zierten Verhältnis zwischen den meist männlichen sen.129 Fachärzten und ihren Patientinnen – und zwar als Schon 1984 hatte Josef Zander beantragt, dass Hindernis einer größeren Verbreitung von Vorsor- mindestens zwei BGGF‑Mitglieder in die „Perina- geuntersuchungen.137 talkommission“ aufgenommen werden sollten.130 Auch auf den mittlerweile nicht mehr zu über- Fünf Jahre später schlug ein Vertreter der Bayeri- sehenden „gender shift“–die überwiegende Zahl schen Landesärztekammer vor, die Auswertung weiblicher Studierender im Fach Frauenheilkun- der Daten aus der Perinatologie als beständiges de,138 das Vorherrschen von Frauen in der Assistenz Thema in den Tagungskanon aufzunehmen.131 und den allmählichen Übergang von Frauenarzt- Als „Dienst an der Frau“ charakterisiert heute praxen in weibliche Hände139 – reagierten zumin- der Ulmer Ordinarius Rolf Kreienberg, Mitglied der dest einzelne Vorstandsmitglieder der BGGF. Wie BGGF und ehemaliger Präsident der Deutschen Ge- in der Auseinandersetzung zwischen „Wissen- sellschaft für Gynäkologie, das medizinische Fach schaftlern“ und „Praktikern“ gingen die Mitglieder in Wissenschaft und Praxis.132 Dies bedeutet aber des Vorstandes in den 1990er Jahren entscheiden- nicht automatisch, dass Frauen eine wichtige Rolle de Schritte. Den Auftakt bildete ein Vortrag des 1. in der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe Vorsitzenden Henner Graeff, damals Ordinarius an und Frauenheilkunde gespielt haben – die Verhält- der TU München, über „Die Schwierigkeiten der nisse wurden schon beim Blick auf die Mitglieder Frauen in unserm Fach mit der akademischen Kar- deutlich. Dennoch: Obwohl nicht zu erkennen ist, riere“. Damit eröffnete er im Juni 1990 die Tagung dass eine gesellschaftliche Bewegung wie „Frauen- in Passau.140 Der Vorschlag des Vorstandsmitglie- gesundheit in Frauenhand“133 auf positive Reso- des aus dem Berufsverband, Eduard Koschade, nanz stieß, lässt sich nicht übersehen, dass Frauen- künftig prinzipiell eine Frau in den Vorstand der fragen zumindest in den letzten Dekaden des ver- BGGF aufzunehmen, wurde allerdings mit der Be- gangenen Jahrhunderts von Mitgliedern der Bayerischen Gesellschaft wahrgenommen wurden. 134 BGGF (1980er?): Bayerische Gesellschaft Tagungen Im Jahr 1970 gehörte das Thema „Die berufstätige 1955–1970, IV. Hauptreferat: Uhlmann W.J.: Die be- Frau in Familie und Gesellschaft“ zu den fünf rufstätige Frau in Familie und Gesellschaft. In: Ta- gungsberichte. Gemeinsame Tagung der Bayerischen Hauptreferaten.134 Nach einer allgemeinen Einlei- und der Oberrheinischen Gesellschaft für Geburtshil- tung, in der nach dem Phänomen der zunehmen- fe und Gynäkologie in Baden-Baden am 6./7. Juni den Berufstätigkeit von Frauen unter anderem 1970 (mit anschließender Diskussion), S. 188 f. deren Mehrfachbelastung erwähnt wurde, ging es 135 Zur Rolle von Prävention in der Gynäkologie siehe Lindner: Sicherheits- und Präventionskonzepte 127 Archiv BGGF (1977–1986): Schriftverkehr 1977– (2010); allgemein zur Prävention siehe die übrigen 1986, 31.5.1984 Vorstandssitzung; BGGF (1983– Artikel in demselben Sammelband. 1987): Bayer. Gesellschaft für Geburtshilfe und Frau- 136 Archiv BGGF: Bayerische Gesellschaft Tagungen enheilkunde. Vorstandssitzungen. Prof. Zimmer, 1955–1970, als Referat zu Hauptreferat IV., Frick V.: Welsch 29.5.1985; BGGF (1989–1993): Bayr. Gesell- Zur Effektivität der Krebsaufklärung, In: Tagungsbe- schaft. Unterlagen übergeben. von Prof. Graeff, richte. Gemeinsame Tagung der Bayerischen und der 10.2.1989 Conrad an Holzmann; BGGF (1990–1993): Oberrheinischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Bay. Ges. ab Mitte 1990 bis Juli 1999. Gynäkologie in Baden-Baden am 6./7. Juni 1970 (mit 128 Berg: Qualitätssicherung (2011), S. 36. anschließender Diskussion), S. 189–192. 129 Vgl. Homepage der BGGF, Mütterliche Mortalität: 137 Frick (1970): Effektivität, S. 190. www.bggf.de/cms/index/mütterliche-mortalität. 138 Siehe Hepp: Frauenheilkunde (2011), S. 5. html (04.09.2012). 139 Burkhard Scheele, Graphik „Gender Shift“ in der Frau- 130 BGGF (1977–1986): Schriftverkehr 1977–1986. Vor- enheilkunde, bezogen auf Mitglieder des Berufsver- standssitzung 31.5.1984 Kloster Irsee. bandes der Frauenärzte e.V.; Peter Arnold, KVB Mün- 131 BGGF (1989–1993): Bayr. Gesellschaft. Unterlagen chen, Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Bay- übergeb. v. Prof. Graeff. 10.2.1989 Conrad an Holz- ern. mann, 21.2.1989 Holzmann an Conrad. 140 Archiv BGGF (1989–1993): Bayr. Gesellschaft. Unter- 132 Kreienberg: Vorwort (2011). lagen übergeb. v. Prof. Graeff, 7.6.1990 Graeff an 133 Lehmann: Frauengesundheit (2003). Staatsminister Gerhard Glück.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 28 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext gründung, eine Satzungsänderung vermeiden zu gen. Aus diesem Grund lässt sich hier vereinfa- wollen, nur abgeschwächt übernommen – der chend zwischen Repräsentanten unterscheiden, zweite Schriftführer sollte weiblich sein. Im Jahr die für stetigen Wandel sorgen sollten, und solchen, 1991 bestätigte die Mitgliederversammlung Birgit die für Kontinuität in der Gesellschaft verantwort- Ploss, Frauenklinik Bayreuth, als erste Frau in die- lich waren. Diese unterschiedlichen Funktionen sem Amt. Allerdings dauerte es nach ihrem Aus- können auch schon an der bloßen Zahl abgelesen scheiden sechs Jahre, bis Annegret Kiefer, Klinikum werden. Für die Gesellschaft waren bis zum Jahr Landshut, als nächste Frau die damit verbundenen 2010 tätig: 38 verschiedene 1. Vorsitzende mit ih- Aufgaben versah.141 ren jeweiligen 2. Schriftführern, dagegen nur elf 1. In der Zwischenzeit waren jedoch weitere Schriftführer und nur sechs verschiedene Schatz- Schritte zur Einbeziehung von Frauen unternom- meister bzw. Kassenwarte sowie – 1971 vorge- men worden. Die Hebammen hatten das Recht er- schlagen, seit 1978 nachweisbar – vier Vertreter halten, während der BGGF‑Tagungen eigene Veran- des Berufsverbandes der Frauenärzte e.V.144 staltungen abzuhalten. Im Jahr 1995 plante der Die 38 Vorstandsvorsitzenden waren für die Vorstand für die nächste Tagung eine Podiumsdis- Konzeption und Durchführung der jährlichen Ta- kussion zum Thema „Die Frau in der Heilkunde: gungen verantwortlich. Je nach persönlichem Stil als Patientin, als Ärztin, als Hebamme, als Kranken- legten sie deren Inhalte und Referenten fest, indem schwester“,142 deren Inhalte auch publiziert wur- sie sich mehr oder weniger eng mit den übrigen den.143 Trotz solcher Bemühungen bleibt es aber Mitgliedern des Vorstandes sowie, bei gemeinsa- bis heute eine Aufgabe, den Anteil der Frauen an men Tagungen, mit den Vorständen der anderen den Mitgliedern und aktiv in der Bayerischen Ge- Gesellschaften absprachen. Gelegentlich korres- sellschaft Tätigen auch tatsächlich repräsentativ zu pondierten sie auch wegen Vorschlägen mit Mit- gestalten. gliedern oder nahmen deren Anregungen aus der Mitgliederversammlung auf.145 Entsprechend den Vorschriften der Satzung wechselten die Vorstandsvorsitzenden nach drei, Arbeiten für die seit 1963 nach zwei Jahren in die Ämter stellvertre- Bayerische Gesellschaft tender Vorsitzender oder Beisitzer. Um eine höhere Kontinuität zu ermöglichen, wählte die Mitglieder- Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, in versammlung seit 1985 nicht mehr den 1., sondern welcher Weise die Mitglieder des Vorstandes die den 2. Vorsitzenden, der nach zwei Jahren automa- Entwicklung der BGGF durch ihre ehrenamtliche tisch zum 1. Vorsitzenden wurde.146 Wie schon er- Tätigkeit entscheidend prägten. Die Bestimmungen wähnt, handelte es sich bei diesen ausschließlich über Zusammensetzung und Aufgaben der einzel- um Kliniker, in deren Händen entweder die Leitung nen Ämter veränderten sich über die Jahre nur gra- einer Universitätsfrauenklinik oder vereinzelt einer duell in den verschiedenen Statuten und Satzun- privaten, häufig aber einer städtischen gynäkologi- schen Einrichtung lag. Die Veranstaltung der Tagungen erforderte von 141 Archiv BGGF (1990–1991): Bayerische Gesellschaft den Vorsitzenden organisatorische Disziplin. Seit 64. Tagung 14.–16.6.1990 in Passau, 65. Tagung 29.5.–1.6.1991 in München, Vorstandssitzungen den 1970er Jahren lag ein festes Organisationsge- 1990; BGGF (1990–1993): Bay. Gesell. ab Mitte 1990 rüst vor, das von der späteren Gesellschaftssekretä- – Juli 1993, Brusis, Protokoll der Mitgliederversamm- rin Marianne Killer sogar schriftlich festgehalten lung vom 31.5.1991; BGGF (2000–2001): Bayerische Gesellschaft 74. Tagung 1.–3.10.2000 Landshut, 75. 144 Siehe dazu die Tabelle in Anhang I dieses Bandes. Tagung 13.–16.6.2001 Baden Wien, Protokoll Mitglie- 145 Ein frühes dokumentiertes Beispiel dafür: 22.6.1957, derversammlung vom 15.6.2001. 1. Vorsitzender Hans Rummel an Werner Bickenbach, 142 Archiv BGGF (1990–1991): Bayerische Gesellschaft Direktor I. Univ. Frauenklinik, München, und 64. Tagung 14.–16.6.1990 in Passau, 65. Tagung 22.7.1957, Bickenbach an Rummel, Archiv BGGF 29.5.–1.6.1991 in München, Sitzungsprotokoll der (1946–1967): Korrespondenz […]. Vorstandschaftssitzung 23.10.91; BGGF (1993– 146 Archiv BGGF (1912–1988): Übersicht der Tagungen 1995): Bay. Gesell. August 1993 – Dezember 1995, […] Auswertung des Ordners Teil III. Satzungen; Vorstandssitzung 22.2.1994; Programmentwurf, BGGF (1912–1954): Sammelmappe BGGF Statuten 17.10.1995. 1912 […] Faszikel 32/V Wiederbegründung der Baye- 143 Beispielsweise: Höß: Frauenärztin (1996); Sütterlin; rischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheil- Caffier: Frauen (1996), S. 48 ff. kunde.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext 29 wurde. Es begann mit der Übergabe der Amtsge- ran interessiert waren, eine Tagung durch eine schäfte an den neuen Vorsitzenden im September, Sachspende direkt oder durch die Beteiligung an ei- die notariell beglaubigt werden musste. Schon Mit- ner sogenannten „Industrieausstellung“ indirekt zu te Oktober verlangte das Schema die Diskussion fördern.150 und Festlegung der Tagungsthemen sowie der Die meisten späteren Vorsitzenden legten sich Hauptreferenten. Es schrieb die Anmeldefrist für keine Zurückhaltung auf, so dass der Gesellschaft Vorträge auf den 15. Januar des folgenden Jahres schnell höhere Beträge durch direktes oder indirek- fest. Erst Mitte April endete der vorgegebene Zeit- tes Sponsoring zuflossen, an dem schließlich auch plan mit der Aussendung der im Februar erstellten interessierte Pharmafirmen beteiligt waren. Schon Tagungsprogramme. Letztere sollten aus Ersparnis- 1970 und 1978 sahen die Vorsitzenden Josef Breit- gründen mit der Einladung zur Mitgliederver- ner, Chefarzt der Münchner Rotkreuz Frauenklinik, sammlung verbunden sein, deren Tagesordnung und Horst Jürgen Spechter, Chefarzt im Städtischen damit auch bereits festgelegt sein musste.147 Krankenhaus Landshut, offensichtlich keinen dro- Die 1. Vorsitzenden wirkten jedoch im Auftrag henden Interessenkonflikt darin, die hohen Spen- der Gesellschaft an Entscheidungen mit, die weit denbeiträge einschlägig interessierter Firmen wie über die Gestaltung der Tagungen hinausgingen Schering oder Nestlé zu akzeptieren.151 Auch für und sowohl die Gesundheits- als auch die Standes- die Publikationskosten der Tagungsbeiträge, Einla- politik prägten. Dazu gehörte neben den bereits er- dungen und Mitgliederverzeichnisse ließen die wähnten Aktivitäten beispielsweise die Benennung Vorsitzenden Sponsoren einwerben, die beispiels- von Mitwirkenden in der Facharztkommission. weise Säuglingsnahrung herstellten.152 Gewisse Eine entsprechende Bitte der Ärztekammer lässt Bedenken gegen eine allzu plakative Verknüpfung sich schon in den 1950er Jahren nachweisen.148 der Industrie mit den BGGF‑Tagungen wurden nur Die Vorsitzenden bestimmten auch den Grad di- zu Beginn des nächsten Jahrzehnts deutlich. Da- rekter oder indirekter Verpflichtungen gegenüber Sponsoren der Tagungen. Der Münchner Ordina- 150 1961 schenkte NESTLÉ löslichen Kaffee aus und rius Werner Bickenbach und der Nürnberger Chef- konnte die Tagung dafür nutzen, für seine neuesten Produkte zu werben. Außerdem beteiligten sich ver- arzt Hans Rummel teilten noch 1957 die Ansicht, schiedene Hersteller von medizinischen Geräten an „ höhere Tagungskosten nicht durch eine Heranzie- einer die Tagung begleitenden Ausstellung und über- hung der pharmazeutischen Industrie“ decken zu wiesen auch in den kommenden Jahren Geldbeträge. wollen, da sie – in ihrer Formulierung –„altmo- Archiv BGGF (1961–1962): Tagung 1961/1962, NEST- disch“ die Ansicht vertraten: „man sollte als Einzel- LÉ an Kaiser; 27.4.1961 und 4.5.1961 Korrespondenz – ner, wie als Gesellschaft unabhängig bleiben.“149 zwischen Kaiser und Heinr. C. Ulrich; BGGF (1961 1967): Postscheck-Belege 1961–1967. Diese Haltung verlor jedoch schnell an Geltung an- 151 Im Jahr 1966 lag der Einzelbeitrag noch bei maximal gesichts ständig steigender Tagungskosten, die so- 500 DM, seit 1970 bezahlten Firmen Beträge, die von wohl durch die Wahl von repräsentativen Veran- der Ausstellungsfläche abhängig waren; einige Phar- staltungsorten und ‑räumen als auch durch eine mafirmen überwiesen zusätzliche Spenden; den ehrgeizige Programmgestaltung verursacht wur- höchsten Betrag spendete die Firma Schering mit den. Sogar Bickenbach delegierte kurze Zeit darauf 2.500 DM, ohne sich an der Ausstellung zu beteiligen. Schon 1978 sponserte die Firma Nestlé mit 15.000 an seinen Schriftführer die Korrespondenz mit DM. Archiv BGGF (1961–1967): Postscheck-Belege Sponsoren, die zwar nicht unmittelbar Pharmapro- 1961–1967, 29.3. 1966 C.H.F. Müller GmbH Hamburg dukte herstellten, jedoch aus anderen Gründen da- an Bauer; 8.6. 1966 Chemische Fabrik von Heyden AG München; BGGF (1970): 6.–7.6.70; BGGF (1971– 147 Archiv BGGF (1990–1993): Bay. Gesell. ab Mitte 1990 1973): 1. 1.1971 bis 1. 6.1973, Abrechnung der Ta- – Juli 1993, 23.6.1993 Killer an Brusis für nächsten gung Baden-Baden 1970; BGGF (1978–1981): Vorsitzenden Lang. − 31.12.79. Korrespondenz und Abrechnungen der 148 Archiv BGGF (1946–1967): Korrespondenz, Belege Tagung Landshut 1978. […] [von mir aus beschädigtem in neuen Leitzordner 152 Diese übernahm beispielsweise 1969 die Firma Milu- umgesetzter Bestand mit Beschriftung „Gyn Ges.“], pa, später beteiligten sich an diesen Kosten das Kon- 19.5.58 Rummel an Bickenbach; 22.4.1958 Bicken- kurrenzunternehmen Alete sowie andere Firmen bach an Rummel. durch Werbeanzeigen. Archiv BGGF (1969): Tagung 149 Archiv BGGF (1946–1967): Korrespondenz, Belege 1969, 18. 4.1969 Kaiser an Brandl; BGGF (1973– […] [von mir aus beschädigtem in neuen Leitzordner 1976): Schriftverkehr 1973–1976, 17.7.72 Zimmer umgesetzter Bestand mit Beschriftung „Gyn Ges.“], an Ober, 21.7.72 Ober an Zimmer; Veröffentlichungs- 17.6.1957 Bickenbach an Rummel; 22.6.1957 Rum- reihe der 1980er und 1990er Jahre: Alete Wissen- mel an Bickenbach. schaftlicher Dienst.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 30 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext mals bestand Josef Zander darauf, die neuen Ta- nandersetzung hin, die 1987 zwischen dem 1. und gungseinladungen „ohne Reklame“ drucken zu las- dem 2. Schriftführer dokumentiert ist.157 sen.153 Allerdings sah er kein Problem darin, die Ta- Die insgesamt elfmal, seit der Wiederbegrün- gung der BGGF mit einem Symposion der Pharma- dung der Gesellschaft nur fünfmal wechselnden Firma Organon zu verknüpfen, dessen Leitung er 1. Schriftführer der Gesellschaft sorgten durch ihre übernommen hatte.154 Amtszeit von mindestens acht und bis zu vierzehn In enger Verbindung mit den jeweiligen 1. Vor- Jahren (Ernst Brusis und Rainer Kürzl) für Kontinui- sitzenden standen die 2. Schriftführer, die in der tät. Sie wurden deshalb auch gelegentlich als „stän- Regel von diesen ernannt wurden und meist in der- dige Schriftführer“ bezeichnet.158 Mit wenigen selben Klinik oder am selben Ort als Assistenten, Ausnahmen übernahmen die 1. Schriftführer ihr später auch als Oberärzte arbeiteten. Abgesehen Amt vor ihrer Habilitation159 als Assistenten an ei- von Rolf Kaiser, der mindestens sieben Jahre als ner Münchner Universitätsklinik und stiegen zu 2. Schriftführer tätig war, versahen sie seit der Wie- Oberärzten auf. Nach mehr als dreizehn Jahren als derbegründung der Gesellschaft ihr Amt deshalb 1. und 2. Schriftführer endete das Ehrenamt von maximal drei Jahre. Einzelne unter ihnen – wie bei- Rolf Kaiser mit einem Ruf nach Köln,160 Josef Breit- spielsweise Henner Graeff – blieben der Gesell- ner161 und Fritz Zimmer162 wurden als Chefärzte schaft aktiv verbunden und wurden zu einem spä- von Münchner Kliniken kurz oder unmittelbar teren Zeitpunkt zu 1. Vorsitzenden gewählt. nach ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit zu 1. Vorsit- Bis 1986 eine professionelle Firma die Organisa- zenden der Gesellschaft gewählt. Ernst Brusis ver- tion der Kongresse übernahm, beaufsichtigten die unglückte nach knapp vierzehn Jahren während 2. Schriftführer einen großen Teil der damit ver- seiner Amtszeit tödlich. Rainer Kürzl ist bis heute bundenen organisatorischen Arbeiten vor Ort. Ins- tätig.163 besondere die Planung für die „Industrieausstel- Die 1. Schriftführer beteiligten sich an der Aus- lung“155 lag vielfach in ihrer Verantwortung. Die wahl der Tagungsthemen und der Referenten, spä- folgenden Zahlen illustrieren den damit verbunde- ter auch der Preisträger; sie verantworteten die nen Arbeitsaufwand und das Maß an Verant- Protokollführung während der Vorstandssitzungen wortung: Mehr als 120 Dokumente umfasst der und der Mitgliederversammlungen. Sie firmierten Briefwechsel, den der 2. Schriftführer Volker Zahn ferner einen Großteil des Schriftverkehrs mit Mit- gemeinsam mit seinem Klinikkollegen und BGGF- Schatzmeister Arnulf Weidenbach sowie dem 157 Nach Ansicht des 1. Schriftführers erfüllten in den 1. Schriftführer Fritz Zimmer für die „Industrieaus- vorhergehenden 20 Jahren jeweils die 2. Schriftführer „ stellung“ führte, die vom 21. bis 23. Juni 1973 wäh- die Aufgabe, den wissenschaftlichen Tagungsbe- richt“ vorzubereiten. Archiv BGGF (1977–1986): rend der gemeinsamen Tagung der Bayerischen Schriftverkehr 1977–1986, 12.6.1987 Brusis an Wulf. und der Österreichischen Gesellschaft in München 158 Da fast jeder einzelne Ordner im Archiv Zeugnis von stattfand. Die von Josef Johannigmann mitorgani- der Tätigkeit der 1. Schriftführer ablegt, wird in die- sierte „Wissenschaftliche Ausstellung“ erbrachte sem Abschnitt nur in besonderen Fällen eine Quelle im Jahr 1976 für 22 Stände insgesamt 16 100 DM zitiert. 159 an Standgebühren.156 Fritz Zimmer und Rainer Kürzl waren schon zu Be- ginn der Amtszeit zu Professoren ernannt worden. Vermutlich gehörte es auch über längere Zeit zu 160 Archiv BGGF (1973–1977): Industrie-Ausst., den Aufgaben der 2. Schriftführer, die Publikation 10. 5.1973 Kaiser an Zahn. der wissenschaftlichen Sitzungen der Tagungen 161 Archiv BGGF (1937–1952): 36. Korrespondenz Eymer, vorzubereiten. Darauf deutet jedenfalls eine Ausei- 12. 3.1951 Burger an Eymer; BGGF (1961–1962): Ta- gung 1961/1962, 16.5.61 Stöckli an Breitner; 29. 5.1961 Schwalm an Breitner. 153 Archiv BGGF (1980–1981): 1.1.80–30.6.81, 24.2. 1981 162 Fritz Zimmer war schon bei der Übernahme des Am- Zimmer an Weidenbach. tes apl. Professor. Archiv BGGF (1971–1973): 154 Archiv BGGF (1980–1981): 1.1.80–30.6.81, Protokoll 1.1. 1971-1. 6.1973, 30. 7.1971 Zimmer an Amtsge- der Mitgliederversammlung […] 6. Juni 1980. richt Würzburg; BGGF (1971–1973): 1. 1.1971- 155 Seit 1986 übernahm dies eine Firma, 22.9.1986 Killer 1.6. 1973, 17. 9.1973 Zimmer an Stark. an Brusis, Archiv BGGF (1985–1987): Bayerische Ge- 163 Archiv BGGF (1977–1986): Schriftverkehr 1977– sellschaft f. Gynäkologie und Geburtshilfe 1985– 1986; BGGF (1982–1983): Bayer. Gesellschaft für Ge- 1987; 3.7.1989 Killer an Graeff, Archiv BGGF (1987– burtshilfe und Frauenheilkunde. Prof. Krone. 1982/ 1990): Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und 1983, Protokoll Mitgliederversammlung 3.6.1983; Frauenheilkunde. Ab Jubiläumstagung Mai 1987. BGGF (1996-): Bayr. Gesellschaft. Jan 96-, Protokoll 156 Archiv BGGF (1973–1977): Industrie-Ausst. der Vorstandssitzung 29. 5.1997.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext 31 gliedern und vor allem Behörden wie dem Amts- te“.167 Die ersten beiden Schatzmeister seit den gericht. Letzteres ist für Satzungsänderungen zu- 1950er Jahren machten innerhalb des Münchner ständig, nimmt die Meldung der jeweiligen Vor- Netzwerkes der Gesellschaft Karriere. Mit seiner standsmitglieder entgegen und überwacht die Ge- 19-jährigen Amtszeit war Arnulf Weidenbach am meinnützigkeit des Vereins. längsten für die Gesellschaft tätig. Er übernahm In zunehmendem Maß mussten sich die 1. das Amt als habilitierter Oberarzt seines Vorgän- Schriftführer auch mit dem Finanzamt auseinan- gers Otmar Bauer und trat nach neun Jahren die dersetzen, das über die Steuerpflichtigkeit der Ein- Nachfolge des ehemaligen Schriftführers und 1. nahmen der Gesellschaft entschied und was an Vorsitzenden Josef Breitner als Chefarzt der Aufwand oder Spenden absetzbar war. Aus der Münchner Rotkreuz Frauenklinik an.168 Otmar Bau- oben geschilderten zunehmenden Beteiligung von er hatte seine 17 Amtsjahre noch als lehrbefugter Sponsoren an Tagungen der Gesellschaft lässt sich Assistent begonnen und stieg zum Chefarzt der Gy- ableiten, dass besonders in den 1970er Jahren ent- näkologie in der zunächst städtischen Klinik rechts sprechende Fragen aktuell wurden. 1981 war der der Isar auf, die 1967 zur Universitätsklinik der Einsatz für eine neue Satzung erforderlich, damit Technischen Universität wurde.169 Die Absicht, das Finanzamt die Gemeinnützigkeit weiter aner- Bauer nach seiner langen Amtszeit zu ehren, macht kannte.164 Einen Höhepunkt erreichte der Aufwand nochmals die bereits erwähnten Spannungen zwi- schließlich für Schriftführer und Schatzmeister, als schen „Wissenschaftlern“ und „Praktikern“ deut- 1984 das Finanzamt ankündigte, die Geschäftsbü- lich. Sein Amtsnachfolger bemängelte nämlich, es cher ab 1972 auf Zutreffen der Gemeinnützigkeits- falle ihm schwer, Bauers wissenschaftliche Leistun- klausel zu überprüfen.165 gen für die Ernennung zum Ehrenmitglied zu be- Die 1. Schriftführer waren auch deshalb in die nennen.170 Auseinandersetzungen mit dem Finanzamt verwi- Seit den 1990er Jahren werden die Amtsperi- ckelt, weil sie für die Außendarstellung der Gesell- oden kürzer: Wolf-Dieter Jonatha wirkte zwölf Jah- schaft sowie für die Dokumentation zuständig wa- re als Schatzmeister und avancierte währenddes- ren, aus der auch diese Darstellung schöpft. Viel- sen zum Chefarzt im Städtischen Krankenhaus fach überwachten sie daneben die Gestaltung von München-Harlaching,171 Christoph Anthuber, Chef- Einladungen sowie deren rechtzeitige Fertigstel- arzt des Klinikum Starnbergs,172 wechselte nach lung. Gleichzeitig war Teamfähigkeit erforderlich, neun Jahren in das Amt des 1. Vorsitzenden. denn sie teilten eine Reihe von Aufgaben mit dem 2. Schriftführer und mit dem Schatzmeister der Ge- 167 Auch für die Schatzmeister gilt, dass sie in fast jedem sellschaft. Dazu gehörten neben der bereits be- Ordner so viele Spuren hinterlassen haben, dass Ein- zelnachweise den Umfang dieses Artikels sprengen schriebenen Organisation der tagungsbegleitenden würden. Solche bleiben deshalb wieder auf Sonder- Ausstellungen und der Korrespondenz mit Spon- fälle beschränkt. soren auch Bemühungen um ein Gesellschafts-Lo- 168 Archiv BGGF (1967–1970): 1.2.67–31.12.1970, go.166 2.4.1969 Weidenbach an Schwalm; BGGF (1977– Das Amt des Schatzmeisters steht für die Be- 1979): 01.01.77–31.12.79, 5.6.79 Zimmer an Weiden- wahrung der Kontinuität, denn seine Besetzung bach. 169 Archiv BGGF (1912–1954): Sammelmappe BGGF Sta- wechselte in den letzten fast sechzig Jahren nur tuten 1912 […], 32/III 1. Nachkriegstagung BGGF viermal. Auch bis zum Ende des Zweiten Weltkrie- 1952, 32/IV Kasse BGGF 1952, Postscheckkonto, 32/V ges amtierten nur zwei verschiedene „Kassenwar- Wiedergründung; BGGF (1967–1970): 1.2.67– 31.12.1970. 164 BGGF (1980–1981): 1.1.80–30.6.81; Protokoll der 170 Archiv BGGF (1973–1976): Schriftverkehr 1973– Vorstandssitzung […] 5.6.1980 […] Regensburg; Pro- 1976, 21.5.73 Weidenbach an Zimmer „[…] schwierig tokoll der Vorstandssitzung […] 13.3.1981 München; einen Text für eine Ehrenurkunde zu finden, da ja be- Satzungsänderung Juni 1981. kanntlich keine wesentlichen wissenschaftlichen 165 Archiv BGGF (1973–1975): 2.6.1973–31.12.75, Leistungen vorliegen.“ 26.6.73 Stark an Weidenbach; BGGF (1976–1977): 171 Archiv BGGF (1987–1990): Bayerische Gesellschaft 1.1.76- 31.12.77, 14.4.1976 Lieferschein Demeter; für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, 5.5. 1989 BGGF (1977–1986): Schriftverkehr 1977–1986, Vor- Holzmann an Brusis; BGGF (1989–1993): Bayr. Ge- standssitzung 12.10.1984. sellschaft. Unterlagen übergeb. v. Prof. Graeff. 166 Fritz Zimmer und Schatzmeister Arnulf Weidenbach 172 Archiv BGGF (2002–2003): Bayer. Ges. 76. Tagung erhielten den Auftrag, Entwürfe für ein Emblem der 30.5.-1. 6.2002 Bad Wörishfn. 77. Gemeins. Tagung Gesellschaft zu beschaffen. Archiv BGGF (1971– 28.-31. 5.2003 Würzburg, Bericht des 1. Schriftfüh- 1973): 1.1.1971–1.6.1973, 2.8.1972 Zimmer an Ober. rers […] Mitgliederversammlung […] 31. 5.2002.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 32 Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext

Vermögensentwicklung 1950–2005 140

120

100

DM-Angaben vor 2000 in Euro 80 umgerechnet

60

Euro (in Tausend) 40

20

0 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1973 1977 1981 1985 1989 1993 1997 2001 2005 Abschlussjahr

Abb. 1.5 Vermögensentwicklung der BGGF.

Wie schon beschrieben waren die Schatzmeister 1.5), obwohl die erheblich gestiegenen Tagungskos- in sämtliche Aufgaben der Vorstandsmitglieder in- ten, die von der Gesellschaft meist vorfinanziert volviert, doch im Unterschied zu den Vorsitzenden werden, diesen Anstieg stetig bedrohen.175 Die und den Schriftführern wirkten sie eher im Hinter- Schatzmeister scheuten sich auch nicht, das Ver- grund. Ihre Überwachung der Finanzen der Gesell- mögen der Gesellschaft gegen die Stimmen der üb- schaft war bis in die 1990er Jahre auch mit dem rigen Vorstandsmitglieder zu verteidigen, wenn es mühsamen Versenden von Mahnungen an säumige wie beispielsweise 1984 darum ging, eine hohe Beitragszahler verbunden.173 Aufgrund ihrer in Summe gegen Gewinn an Prestige einzutauschen. langjähriger Tätigkeit angesammelten Kenntnisse Arnulf Weidenbach stimmte damals als einziger spielten sie für die Gewinnung von Sponsoren eine dagegen, einen Kredit in Höhe von 30000 DM, den wichtige Rolle und waren in die Auseinanderset- die Bayerische Gesellschaft den Veranstaltern für zungen um den fiskalen Status der Gesellschaft den „11. Weltkongreß der Gynäkologie und Ge- verwickelt.174 burtshilfe“ in Berlin geliehen hatte, in eine Spende Nicht zuletzt ihrem Geschick als Geldverwalter umzuwandeln.176 und Verteidiger des gemeinnützigen Status der Ge- Die ehrenamtliche Arbeit der bisher erwähnten, sellschaft ist es zu verdanken, dass sich das Vermö- bekanntermaßen vielbeschäftigten Kliniker war je- gen der Gesellschaft stark vermehrt hat (Abbildung doch nur möglich, weil im Hintergrund eine größe- re Zahl von Frauen tätig war. Diese bleiben zu-

173 Erst am 14. 6. 1990 entschied sich der Vorstand für eine EDV‑Erfassung aller Mitglieder und eine damit 175 Der scheidende Schatzmeister Jonatha wies die Mit- verbundene Umstellung auf ein Abbuchungsverfah- gliederversammlung 2002 explizit darauf hin, dass ren, für das jedoch noch ein Wechsel der Geschäfts- nicht zu erwarten sei, dass diese Kosten in jedem bank notwendig war, da die Commerzbank ein sol- Jahr aus Einnahmen gedeckt werden könnten. Archiv ches Verfahren verweigerte. 9.7. 1990 Brusis an Vor- BGGF (2002–2003): Bayer. Ges. 76. Tagung 30.5.– standsmitglieder, Protokoll. BGGF (1987–1990): 1.6.2002 Bad Wörishfn. 77. Gemeinsame Tagung Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauen- 28.–31.5.2003 Würzburg, Bericht des 1. Schriftfüh- heilkunde. Ab Jubiläumstagung Mai 1987. rers […] Mitgliederversammlung […] 31.5.2002. 174 Archiv BGGF (1971–1973): 1. 1.1971-1. 6.1973, 176 Archiv BGGF (1977–1986): Schriftverkehr 1977– 6.4. 1972 Amtsgericht Würzburg an Weidenbach. 1986, Vorstandssitzung 31.5.1984; 12.10.1984.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die BGGF – eine Organisation von Fachärzten im historischen Kontext 33 nächst weitgehend unbekannt, werden höchstens derselben Bitte selbst.180 Diese Briefe bildeten den durch unsignierte Briefablagen, handschriftliche Auftakt zu einer langjährigen Tätigkeit Marianne Notizen177 oder Pannen sichtbar. Beispielsweise er- Killers für die Gesellschaft, die immer umfassender fahren wir nur durch eine Verzögerung in der Ta- wurde, bis sie schließlich Teilaufgaben des Schatz- gungsabrechnung, dass „Frl. Gebhard“ diese nor- meisters übernahm und zu den Vorstandssitzun- malerweise für den 1. Schriftführer Rolf Kaiser erle- gen eingeladen wurde, deren Protokolle sie in Ab- digte. Auch in der Organisation und Durchführung sprache mit dem 1. Schriftführer erstellte.181 Mit der Tagungen arbeiteten mehrere Sekretärinnen Marianne Killer wurde die Tätigkeit einer Gesell- mit.178 schaftssekretärin fest etabliert, ihre heutige Nach- Erst ab der Mitte der 1960er Jahre tauchen folgerin ist Stefanie Motz. mehrfach direkt an Sekretärinnen adressierte Brie- fe auf, aus denen hervorgeht, dass sie im Auftrag des Schriftführers, später auch des Schatzmeisters, Schluss zahlreiche Aufgaben übernahmen. Schließlich ver- fassten die Frauen dann auch eigenständige Briefe Arbeit und Einsatz vieler engagierter Menschen von „Sekretariat“ zu „Sekretariat“ und noch vor waren und sind die Voraussetzung dafür, dass die Ende des sechsten Jahrzehnts schrieben die Sekre- Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frau- tärinnen sich gegenseitig mit ihren Namen an und enheilkunde vor 100 Jahren gegründet werden tauschten sich eigenständig über Mitgliederzu- konnte und bis heute fortbesteht. Im Archiv der Ge- wachs aus. Für einen Teil dieser Dienstleistungen sellschaft wird zumindest ansatzweise deutlich, wurden sie dann auch aus der Kasse der BGGF be- wie mentale Prägungen, individuelle Ziele und In- zahlt.179 teressen sowie allgemeine Denk- und Verhaltens- Schließlich schlug 1975 Fritz Zimmer dem neu- weisen die Entwicklung dieser regional organisier- en Vorsitzenden Ernst Waidl vor, seine bisherige ten und international agierenden wissenschaftli- Sekretärin als Gesellschaftssekretärin teilzeitig zu chen Gesellschaft ebenso geprägt haben wie die beschäftigen. Ihre Tätigkeit beschrieb er folgender- Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen maßen: „alle Sekretärinnenarbeit für die Bayeri- und sozialen Parameter. Nur ansatzweise konnte in sche Gesellschaft […] Frau Killer hat in sehr gewis- dem vorgegebenen engen Rahmen gezeigt werden, senhafter Weise die Mitgliederkartei erstellt und inwiefern sich in der Geschichte der Bayerischen alle Adressen von Interessenten, die Ausschreibun- Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde gen der Bayerischen Gesellschaft bekommen wol- die Veränderungen des Faches ebenso widerspie- len, zusammengestellt (z.B. Ordinarien, Industrie, geln wie der Wandel in unserer Lebenswelt. Weite- Presse usw.). Sie hat im letzten Jahr die ganzen Aus- re Hinweise darauf finden sich in den folgenden sendungen der Einladungen und Programme ge- Beiträgen dieses Jubiläumsbandes. macht und ihre Unkosten in beiliegender Ablich- tung zusammengestellt.“ An den Schatzmeister Ar- nulf Weidenbach wandte sich Marianne Killer mit

177 Archiv BGGF (1962–1963): Bayer. Gesellsch. Tagung 1963, 1.10.1963 Notiz von Angela Gebhardt über das vorsorgliche Bereitlegen von Unterlagen. 178 Archiv BGGF (1961–1962): Tagung 1962, 4.5.1962 Podleschka an Kaiser; 24.5.1962 Podleschka an Bi- ckenbach. 179 Archiv BGGF (1946–1967): Korrespondenz, Belege 180 Archiv BGGF (1973–1975): 2.6.1973–31.12.75; […] [von mir aus beschädigtem in neuen Leitzordner 9.6.1975 Zimmer an Waidl; 10.8.1975 Killer an Wei- umgesetzter Bestand mit Beschriftung „Gyn. Ges.“], denbach. 9.6. 1964 Kaiser an Bauer; 10.6.65 Bauer an Gebhard; 181 Auch für Marianne Killer gilt ab den späteren 1970er 1966 zahlreiche von Angela Gebhardt signierte Kurz- Jahren, dass ihre Aktivitäten in jedem Ordner des Ar- briefe; BGGF (1965): Tagung 1965, „Vorzimmer“ an chivs dokumentiert sind. Archiv BGGF (1990–1993): „Vorzimmer“ 6.4.65, ebenso „Sekretariat“ 13.7.65; Bay. Gesell. ab Mitte 1990 – Juli 1993. Brusis, Proto- BGGF (1967–1970): 1.2.67-31.12. 1970, Gebhardt an koll Vorstandsitzung 13.7.1993; BGGF (2002–2003): Peter 22. 5.1967, 5.3.1968, Gebhardt an Braun Bayer. Ges. 76. Tagung 30.5.–1.6.2002 Bad Wörishfn. 28. 4.1969; BGGF (1971–1973): 1.1. 1971-1. 6.1973, 77. Gemeins. Tagung 28.–31.5.2003 Würzburg, Be- Kongressbilanz 1970, Abrechnung Erlangen 1972. richt des Schatzmeisters 30.5.2003.

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„Erlaubt ist, was neu, was anregend, was interessant ist …“ Gynäkologische Forschung im Zeichen der Mikrobiologie

Marion Maria Ruisinger

Im Oktober 1898 erschien in der Tageszeitung „Die ben Abschnitten zusammengestellt. Zwei davon Münchener Freie Presse“ der erste Beitrag der Arti- betreffen das Gebiet der Frauenheilkunde und Ge- kelserie „Arme Leute in Krankenhäusern“.1 Der lei- burtshilfe: Unter der Überschrift „Das Schicksal tende Redakteur Ludwig Quidde (1858–1941) griff Neugeborener in einer kgl. Frauenklinik“ wird von darin die seit einigen Jahren schwelende Diskus- Injektionen des damals bereits sehr kritisch disku- sion darüber auf, dass Klinikpatienten von ihren tierten Kochschen Tuberkulins bei 40 Neugebore- Ärzten vernachlässigt oder gar als Versuchsperso- nen in Königsberg berichtet, und der Abschnitt „Ei- nen für experimentelle Therapien und medizini- terkulturen in kgl. Frauenkliniken“ handelt vom sche Menschenversuche missbraucht worden sei- Einbringen von Eiterbakterien in gesunde Frauen en. Es sei notwendig, das Publikum darauf hinzu- durch „Professor Doederlein (Leipzig) und Professor weisen, „daß in den großen Hospitälern die armen Bumm (Basel)“.4 Patienten häufig nicht als lebende Individuen ange- Der folgende Beitrag nimmt den von Ernst Bumm sehen werden, die den Rechtsanspruch haben, nur (1858–1925) mit Gonokokken-Eiter durchgeführ- nach den Bedürfnissen ihrer eigenen Heilung be- ten Versuch näher in den Blick, um daran beispiel- handelt zu werden, sondern als Unterrichts-, resp. haft die Motivation und Methoden der gynäko- Versuchsmaterial, mit dessen Gesundheit und Le- logischen Forschung um 1900 zu beleuchten. Die ben geschaltet werden darf und wird, als handle es Darstellung des Bummschen Versuchs wird einge- sich um rechtlose tote Gegenstände.“ Dies beinhal- bettet in einen Überblick über die Entwicklung der te sogar Experimente, „durch die an kranken, oder experimentellen Gonorrhoe-Forschung im 19. Jahr- auch an ganz gesunden Menschen neue Krankheits- hundert. Ergänzend wird auch auf die unter Paul zustände, Vergiftungen, Eiterungen etc. künstlich er- Zweifel in Erlangen und Leipzig angestellten mikro- zeugt werden!“2 biologischen Forschungen eingegangen. Abschlie- Die Artikelserie stützte sich auf Beweismaterial, ßend wird die öffentliche Diskussion vorgestellt, das aus der Feder der beteiligten Ärzte selbst die von der Münchner Artikelserie ausgelöst wurde stammte. Wenn diese die Ergebnisse ihrer Experi- und letztlich in die weltweit ersten Richtlinien für mente für den Kollegenkreis publizierten, käme die medizinische Forschung mündete. das, so Quidde, einer „Selbstdenunziation“ gleich. Allerdings blieben diese Geständnisse meist in den Fachzeitschriften begraben. Deshalb mache es sich die „Münchener Freie Presse“ zur Aufgabe, dem Pu- Gonorrhoe in der blikum eine Auswahl davon zu unterbreiten.3 vorbakteriologischen Ära Die Experimente sind in der Artikelserie nach den jeweiligen Kliniken bzw. Fachgebieten in sie- In der vorbakteriologischen Ära erfolgte die Ein- ordnung ansteckender Krankheiten in das jeweils 1 Zwei Jahre später stellte Quidde die Beiträge zu einer gültige nosologische System ausschließlich auf Ba- Monographie zusammen, Quidde: Arme Leute sis der Anamnese und des klinischen Bildes sowie, (1900). Zu der Artikelserie und ihrer Rezeption siehe falls die Krankheit zum Tod führte, gelegentlich – ausführlich Elkeles: Diskurs (1996), S. 188 190. auch der Obduktion. Entsprechend schwierig ge- 2 Quidde: Arme Leute (1900), S. 8 f. (Hervorhebungen im Original). 3 Ebd., S. 10. 4 Ebd., S. 15.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Gynäkologische Forschung im Zeichen der Mikrobiologie 37 stalteten sich die differentialdiagnostische Unter- handelte es sich, wie Piringer in seinem Vorwort scheidung der Infektionskrankheiten, die Zuord- ausdrücklich betonte, nicht um Experimente an nung ihrer unterschiedlichen Symptome und Ma- Gesunden, sondern um Heilversuche bei Patienten, nifestationsorte sowie die Klärung ihres Übertra- die unter einem Pannus (Augenfell) litten, einer gungsweges und die Empfehlung geeigneter häufigen Spätfolge des Trachoms. Die iatrogen er- Präventivmaßnahmen. So wird verständlich, dass zeugte Blennorrhoe führte im günstigsten Fall zu bei der Cholera-Epidemie der 1830er Jahre die einer Destruktion des Augenfells und damit zur „Kontagionisten“ und die „Antikontagionisten“ Heilung des Kranken. Es gab aber auch Misserfolge, eine lebhafte Debatte darüber führen konnten, ob bis hin zur völligen Zerstörung des Auges. Für den es sich bei der Cholera um eine ansteckende Krank- Zweck der klinischen Forschung kam diese Metho- heit handele oder nicht. Ähnlich kontrovers wurde de allerdings wie gerufen. So schreibt Piringer, dass diskutiert, ob Syphilis und Gonorrhoe unterschied- ihm die „Heilungen des Augenfelles mittelst Ein- liche Erscheinungsbilder derselben Krankheit sei- impfung der Blennorrhoe eine neue, bisher kaum en, oder ob es sich dabei um zwei separate nosolo- betretene Bahn“ eröffnet hätten.10 gische Entitäten handele.5 Die Gonorrhoe warf eine Offensichtlich konnte Piringer diese „neue weitere für die Geburtshilfe relevante Frage auf, Bahn“ auch mit seinen persönlichen moralischen nämlich die nach der blenorrhoischen Konjunktivi- Prinzipien in Einklang bringen. Dagegen lehnte er tis der Neugeborenen. die Überimpfung von Blennorrhoe-Eiter auf gesun- Der Medizinhistoriker Thomas G. Benedek un- de Menschen ab, auch wenn sich dadurch die noch tersucht in seinem 2005 erschienenen Aufsatz offene Frage hätte klären lassen, ob bei Einimpfung „Gonorrhea and the beginnings of clinical research des Eiters in eine gesunde Harnröhre das Krank- ethics“ die wissenschaftliche Auseinandersetzung heitsbild des Trippers entstehen würde: „An dem mit der Gonorrhoe im 19. Jahrhundert aus der Per- Menschen ist mir im practischen Leben noch kein spektive der Forschungsethik.6 Dabei kann er über- Beispiel von einer Trippererzeugung durch das zeugend darlegen, dass bereits zu Beginn des Jahr- ophthalmoblennorrhöische Secret vorgekommen. hunderts – also lange vor der Entdeckung der Bak- Eine absichtliche Einimpfung machte ich nicht, terien – das Wesen der Blennorrhoe durch die weil ich die möglichen Nachwehen des Trippers Übertragung von Eitermaterial in nicht erkrankte fürchtete, und weil mir auch die Würde des Men- Augen beforscht wurde. Ein wesentlicher Anstoß schen ähnliche Versuche zu verbiethen schien.“11 für die Auseinandersetzung mit der Blennorrhoe Von einer ganz ähnlichen, ausdrücklich indivi- sei von Napoleons Ägypten-Feldzug ausgegangen, duell getroffenen Entscheidung gegen das Experi- auf dem unter den französischen Soldaten schwere ment an gesunden Personen berichtete der franzö- Augenentzündungen aufgetreten waren, die nicht sische Venerologe Philipp Ricord (1800–1889) in selten zur Blindheit geführt hatten. Diese „ägypti- seinen „Briefen über Syphilis“: „Wie sollte ich nun sche Ophthalmie“ (heute bekannt als „Trachom“) damit [der Auswahl der Methode] vorgehen? Man ähnelte dem klinischen Bild einer schweren Blen- konnte von einem Kranken auf einen Gesunden norrhoe, was zu einem verstärkten Interesse der impfen; Man konnte an dem Kranken selbst experi- Forschung an beiden Krankheiten führte.7 mentiren. Die erste Methode schien mir ein für alle 1820 bewies ein Arzt in Paris die Übertragbar- Mal von dem Arzt vermieden werden zu müssen. keit der Blennorrhoe, indem er eitrigen Schleim Man hat, glaube ich, kein Recht zu dergleichen Ver- aus den Augen erkrankter Kinder unter die Augen- suchen. Nicht allein, dass der Arzt seine natürliche lider von vier blinden Kindern einbrachte.8 1841 Autorität nicht benutzen darf, um, wen es auch sei, veröffentlichte der in Graz tätige Augenarzt und zu derartigen Versuchen aufzumuntern, sondern Leiter der dort von ihm gegründeten Augenklinik ich halte auch dafür, dass er selbst den Wünschen Josef Piringer (1800–1879) eine ausführliche derer sich entgegenstellen muss, die in einer Art Schrift über „Die Blennorrhoe am Menschenauge“, grossmüthiger Aufopferung sich den Chancen eines in der er sich auf seine Erfahrung mit 84 Inokulatio- Versuchs Preis geben wollen. Ich tadle nicht den, nen bei 59 Patienten stützte.9 Bei diesen Versuchen der anders handelt, ich wiederhole nur, dass ich nicht anders handeln mochte. Mir blieb also nur 5 Elkeles: Diskurs (1996), S. 42 f. der Versuch am Kranken selbst.“12 6 Benedek: Gonorrhea (2005). 7 Ebd., S. 56. 8 Ebd., S. 58. 10 Ebd., Vorrede. 9 Piringer: Blennorrhoe (1841). 11 Ebd., S. 88.

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In der Mitte des 19. Jahrhunderts, so legen die chen zu einem Abschluss gekommen bin.“ Dass methodischen Entscheidungen Piringers und Ri- Neisser sich dennoch zu einer „vorläufigen Mittei- cords nahe, war es möglich, bei der Erforschung lung“ entschloss (so der Untertitel seines Beitrags), der Geschlechtskrankheiten auf Übertragungsver- gibt die Dynamik dieses jungen Forschungszweigs suche auf den gesunden Menschen zu verzichten wieder, lässt aber auch etwas von dem daraus re- und dennoch wissenschaftlich Erfolg zu haben. sultierenden Konkurrenzdruck ahnen. Dies änderte sich mit der Suche nach spezifischen Entsprechend rasch wurden Neissers Beobach- Erregern in den 1870er Jahren grundlegend, wie tungen aufgegriffen und überprüft. Bereits 1880 die weitere Entwicklung der Gonorrhoe-Forschung überimpfte Arpad Bokai (1856–1919), 24-jähriger zeigt. Assistent an der Universität Budapest, gono- rrhoische Mikrokokken in die gesunden Harnröh- ren von sechs männlichen Versuchspersonen, die sich, wie Bokai schrieb, „zur Infection freiwillig of- Gonorrhoe im Zeichen ferirten (meist Studenten)“.15 Bei allen Probanden der Mikrobiologie entwickelte sich ein Tripper. Die Versuchsergebnis- se galten jedoch nicht als beweiskräftig, weil unklar 1876 gelang es Robert Koch (1843–1910), die Milz- blieb, auf welche Weise Bokai die Bakterien weiter- brand-Krankheit auf einen spezifischen Erreger zu- gezüchtet hatte. rückzuführen.13 Er wies den mikroskopisch kleinen Diese zweite Hürde, die Kultivierung der Bakte- Keim in einer befallenen Stelle nach, kultivierte ihn rien im Labor, war nicht leicht zu überwinden. Die im Labor und infizierte damit ein gesundes Tier mit auf den Menschen spezialisierten Gonokokken er- Milzbrand. Damit war nicht nur die Beweiskette wiesen sich als sehr anspruchsvoll. Dies brachte geschlossen, sondern auch ein neuer methodischer Ernst Bumm (1858–1925), damals Assistenzarzt Standard für den Nachweis spezifischer Erreger an der Universitätsfrauenklinik in Würzburg, auf vorgegeben, der später als die „Kochʼschen Postula- den Gedanken, die Mikroorganismen auf menschli- te“ bekannt werden sollte. Gleichzeitig stand ein chem Serum zu züchten. Der Versuch gelang: 1885 gewaltiges Forschungsprogramm im Raum: Es galt, empfahl Bumm in der Deutschen Medizinischen die bekannten Infektionskrankheiten auf spezifi- Wochenschrift „Menschliches Blutserum als Nähr- sche Erreger hin zu untersuchen, um die Differenti- boden für pathogene Mikroorganismen“.16 Später aldiagnose zu schärfen, den Übertragungsweg zu wurde dies als eine der großen mikrobiologischen klären und passende Bekämpfungsmaßnahmen zu Leistungen Bumms gefeiert.17 Ob dieser Nährboden entwickeln. Jungen, ambitionierten Ärzten bot sich auch für Gonorrhoe-Forscher praktikabel war, die hier ein weites Feld der wissenschaftlichen Tätig- nicht geburtshilflich tätig waren, sei dahingestellt. keit und der professionellen Profilierung. Bumm jedenfalls gewann das für die Kultur not- Die erste Hürde bei der Erforschung der Gonor- wendige Blutserum im Kreißsaal, indem er direkt rhoe, die mikroskopische Darstellung des Erregers, nach der Durchtrennung der Nabelschnur deren wurde 1879 von Albert Neisser (1855–1916) ge- plazentaren Anteil desinfizierte, frisch durch- nommen.14 Der 24-Jährige hatte als Assistent an schnitt und in einen sterilen Glaskolben hielt. Da- der Dermatologischen Universitätsklinik in Breslau bei, so Bumm, „entleeren sich in dickem Strahl aus den Eiter von Gonorrhoe-Patienten mikroskopisch der Vene 15–20 ccm Blut. Jede weitere Wehe und untersucht und dabei eine besondere Art von „Mi- jeder Druck auf den treibt […] neue Mengen crococcen“ gefunden. Leider sei er „durch Krank- Blutes in die Vene, aus welcher dasselbe aufs Leich- heit verhindert worden, diese Untersuchung zu teste wieder in das Gefäss abgeführt wird. Je nach vervollständigen“. Seine Ergebnisse dürften, so der Zeit der ersten Unterbindung erhält man auf Neisser weiter, jedoch genügen, den „pathologi- einmal 40–60 und mehr ccm Blut rein aus der schen Wert“ der beschriebenen Erreger zu belegen. Ader“.18 Über ihre „pathologische Bedeutung“ wolle er „zur Die dritte und letzte Hürde war die Überimp- Zeit ein Urteil noch zurückhalten bis ich mit den fung der im Labor gezüchteten Bakterien mit dem bereits begonnenen Züchtungs- und Impfversu- Ziel, das fragliche Krankheitsbild in einem bislang

15 Bokai 1880, zit. n. Elkeles: Diskurs (1996), S. 105. 12 Ricord: Briefe (1851), S. 5 f. 16 Bumm: Blutserum (1885 b). 13 Schlich: Milzbrand (2007). 17 Franz: Bumm (1925), S. If. 14 Neisser: Gonorrhoe (1879). 18 Bumm: Blutserum (1885 b).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Gynäkologische Forschung im Zeichen der Mikrobiologie 39 gesunden Organismus auszulösen. In der Regel er- sche Klinik.27 Dieser ermöglichte ihm, seine „Prädi- folgte dieser Infektionsversuch an Kaninchen, Hun- lectionsstudien in ausgedehntem Maasstabe wie- den, Katzen, Ratten oder anderen Tieren. Doch alle der aufzunehmen und auf einem neuen, nahezu Versuche, eine für die Gonorrhoe empfängliche unbebauten Felde fortzusetzen“. Mit diesem „un- Tierart zu finden, waren erfolglos geblieben.19 Die bebauten Felde“ meinte Bumm die „gonorrho- Forscher standen vor einer schwierigen Entschei- ischen Erkrankungen beim Weibe“, denn diese dung: Wer den Beweis im Kochschen Sinne zum seien von den Syphilidologen bislang ebenso stief- Ende bringen wollte, musste einen gesunden Men- mütterlich behandelt worden wie von den Gynäko- schen mit der Bakterienkultur infizieren.20 logen.28 1884 veröffentlichte der 26-Jährige einen „Bei- trag zur Kenntniss der Gonorrhoe der weiblichen Genitalien“.29 Darin erläuterte er die Unterschei- Ernst Bumm und sein dung der Neisserschen Mikroorganismen von an- Würzburger Versuch deren, apathogenen Diplokokken und gab sich zu- gleich als souveräner Beherrscher der mikrobiolo- Ernst Bumm stammte aus Würzburg, wo sein Vater gischen Methode zu erkennen. Dabei betonte er als Lehrer an einer „Taubstummenanstalt“ tätig die besonderen Schwierigkeiten, die der Forscher war, und studierte an der dortigen Universität Me- bei der Gonorrhoe der Frau zu bewältigen habe: dizin.21 Im Alter von 22 Jahren legte er seine Disser- Während bei der Infektion der männlichen Harn- tation „Zur Frage der Schanker-Excision“ vor.22 Sei- röhre oder der Konjunktiva die Gonokokken nur ne ärztliche Ausbildung erhielt er zunächst unter sehr selten mit anderen Mikroorganismen verge- Franz von Rinecker (1811–1883) an der Klinik für sellschaftet seien, mischten sie sich in dem „weib- Syphilis und Hautkrankheiten.23 Dort dürfte in lichen Genitalschlauch […] mit der vielartigen ihm die „Liebe zur klinischen Bakteriologie“ ge- Menge der immer daselbst im Secret vegetirenden weckt worden sein.24 Sein Kollege, der Assistenz- Mikroben“, was eine sichere Diagnose vergleichs- arzt Max Bockhardt, war mikrobiologisch tätig weise schwerer mache. „Gute Präparate, sichere und führte damals einen der ersten Infektionsver- Technik und gute Immersionsinstrumente“ seien suche mit Gonokokken durch. Dabei injizierte hier noch mehr nötig, als Neisser dies bereits für Bockhardt eine Bakterien-Reinkultur in die Harn- die Untersuchung des Harnröhrentrippers gefor- röhre eines Paralytikers, der elf Tage später starb. dert habe. Die Obduktion ergab eine massive aufsteigende In- 1885 folgte Bumms Habilitationsschrift, in der fektion der Harnwege.25 Der Versuch fand mit Wis- das Thema des „Mikro-Organismus der Gono- sen und Einverständnis des Klinikleiters statt. Rin- rrhoischen Schleimhaut-Erkrankungen ‚Gonococ- ecker hatte 1852 selbst drei Inokulationsversuche cus-Neisser‘“ auf rund 150 Seiten umfassend abge- mit sekundär syphilitischem Material vorgenom- handelt wurde.30 Das vierte und letzte Kapitel ent- men, die damals sogar zu einem Gerichtsverfahren hielt unter der Überschrift „Reincultur und geführt hatten.26 Offenbar vertrat er aber weiterhin Rückimpfung“ die wichtigste Botschaft Bumms: den Standpunkt, dass derartige Versuche durch ih- seine erfolgreiche Vollendung der bakteriologi- ren wissenschaftlichen Nutzen gerechtfertigt seien. schen Beweisführung durch die kulturelle Züch- Diese Grundhaltung dürfte auch den jungen Bumm tung und Überimpfung der Gonokokken. beeinflusst haben. Bumm leitete den Abschnitt über die Impfversu- Nach zwei Jahren an der Syphilisklinik wechsel- che mit einem programmatischen Satz zur For- te Bumm zu Friedrich Wilhelm von Scanzoni schungssituation ein, der zugleich eine Rechtferti- (1821–1891) an die Geburtshilflich-Gynäkologi- gung des von ihm durchgeführten Versuchs bein- haltete: „Welchʼ hohen Grad von Wahrscheinlichkeit 19 Bumm: Mikro-Organismus (1885 a), S. 136. 20 Vgl. dazu Elkeles: Diskurs (1996), S. 103 f. auch die Annahme, dass in dem Neisserschen 21 Schneck: Bumm (1983). Gonococcus das pathogene Princip der Gonorrhoe 22 Bumm: Frage (1882). verkörpert ist, durch die Gesammtheit der klini- 23 Bumm: Beitrag (1884), S. 341. 24 Franz: Bumm (1925), S. II. 27 Bumm: Beitrag (1884), S. 341. 25 Bockhart: Beitrag (1883), dazu auch Elkeles: Diskurs 28 Bumm: Mikro-Organismus (1885 a), Vorwort S. IIIf. (1996), S. 106 f. 29 Bumm: Beitrag (1884). 26 Elkeles: Diskurs (1996), S. 51–55. 30 Bumm: Mikro-Organismus (1885 a).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 40 Gynäkologische Forschung im Zeichen der Mikrobiologie schen Beobachtungen und anatomischen Untersu- von Höllensteinlösung sistierte die eitrige Sekre- chungen erhält, der strikte Beweis dafür kann nur tion nach weiteren drei Wochen. „Gegen eine et- durch die Erfüllung der dritten Kochʼschen Bedin- waige Infection der Genitalien waren von Beginn gung, durch die Erzeugung einer ächt gono- an alle Vorsichtsmassregeln getroffen.“ Bumm hat- rrhoischen Entzündung an einer bis dahin intacten te während der ganzen Dauer der Gonorrhoe das Schleimhaut vermittelst Uebertragung des auf Urethralsekret immer wieder untersucht und dabei künstlichem Nährsubstrat reingezüchteten Mikro- stets die charakteristischen Mikroorganismen organismus erbracht werden“.31 nachweisen können. Damit war der Beweis er- Diese dritte Bedingung aber sei, so Bumm, bis- bracht, dass die Neisserschen Diplokokken in der lang nicht zufriedenstellend erfüllt worden. Eine Lage waren, eine Gonorrhoe auszulösen.33 „für das gonorrhoische Contagium empfängliche Beim Lesen dieser Beschreibung fällt die weitge- Thierspecies“ habe sich trotz intensivster For- hende Marginalisierung der Versuchsperson auf. schungen nicht finden lassen, und die bislang pu- Bumm erwähnte lediglich, dass es sich um eine blizierten Inokulationsversuche hätten nicht wirk- Frau mit gesundem Unterleib handelte. Es findet lich überzeugen können. Doch wenn die „practi- sich keine der bei Inokulationsexperimenten sonst sche Medicin aus der Neisserschen Entdeckung üblichen Angaben, dass die Versuchsperson sich den vollen Nutzen ziehen“ soll, muss sie sich, so freiwillig zur Verfügung gestellt habe oder bereits Bumm, „auf eine feste wissenschaftliche Basis stüt- unheilbar krank gewesen sei. Wäre dies der Fall ge- zen können und muss in erster Linie jeder, auch der wesen, hätte Bumm wohl kaum auf eine entspre- geringste Zweifel über die Bedeutung des Gonococ- chende, als exkulpierend verstandene Bemerkung cus als Ursache der gonorrhoischen Entzündung verzichtet. Stattdessen beschränkte er sich auf die aufhören“. Er sei in der Lage, über eine Inokulation Relativierung des Versuchsrisikos mit dem Hinweis zu berichten, die diese Beweiskraft habe.32 darauf, dass die Infektion der Harnröhre erfolgreich Auf drei Druckseiten schilderte Bumm die Ge- behandelt worden sei und dass zu keinem Zeit- winnung, Züchtung und Übertragung der Gono- punkt die Gefahr einer Ausbreitung auf die Genita- kokken. Die Darstellung des Kulturverfahrens hatte lien bestanden habe. Wieweit dies vor Einführung sich bei anderen Autoren als Schwachpunkt erwie- der Sulfonamid-Therapie tatsächlich gewährleistet sen. Bumm baute einer möglichen Kritik bewusst werden konnte, sei dahingestellt. vor, indem er die einzelnen Schritte minutiös wie- Diese Überlegungen legen den Gedanken nahe, dergab. Diese technischen Details ließ er in kleine- dass es sich bei der Versuchsperson um eine Patien- rer Schrifttype drucken, was sie auch optisch vom tin der Geburtshilflich-Gynäkologischen Klinik ge- klinischen Teil des Geschehens abgrenzt und so in- handelt haben könnte, die wegen einer Erkrankung direkt die eigenständige Bedeutung der Arbeit im der Brust oder eines anderen, das äußere Genitale Labor betont. nicht betreffenden Grundleidens in Behandlung Als Ausgangsmaterial verwendete Bumm war. Das ausgeprägte hierarchische und soziale Ge- „blennnorrhoischen Conjunctivaleiter“. Daraus fälle, das in den Kliniken des 19. Jahrhunderts zwi- züchtete er auf einem Nährboden aus erstarrtem schen Ärzten und Kranken herrschte, ermöglichte Serum eine Reinkultur, die er „zur Impfung in die es dem Arzt ohne weiteres, eine Patientin auch Harnröhre einer Frau verwendet[e], deren Genitali- ohne deren Einverständnis heranzuziehen, um en und Urethra bei wiederholter Untersuchung eine drängende wissenschaftliche Frage zu klä- normal befunden worden waren.“ Am dritten Tag ren.34 nach der Impfung „wurden brennende Schmerzen Von der Befindlichkeit der Frau während ihrer beim Urinieren geklagt […]. Tags darauf hatte sich sechswöchigen, iatrogenen gonorrhoischen Ure- die geröthete und geschwellte Urethralschleimhaut thritis berichtet der Forscher Bumm lediglich, dass aus dem Orificium hervorgedrängt. […] Der weite- sie am dritten Tag nach der Inokulation über bren- re Verlauf war der einer ziemlich heftigen Urethral- nende Schmerzen klagte. Bereits am Folgetag war gonorrhoe, insbesondere war die Schwellung der die Schleimhaut der Harnröhre so geschwollen, Mucosa sehr ausgesprochen.“ Das akute Stadium dass sie für den Arzt in der Harnröhrenöffnung dauerte drei Wochen, unter täglicher Einspritzung sichtbar wurde. Von diesem Moment an verlor die

31 Ebd. Zum Bummschen Versuch s.a. Elkeles: Diskurs 33 Ebd., S. 139 f. (1996), S. 107–109. 34 Vgl. dazu die Studien von Elkeles: Diskurs (1996), Tas- 32 Bumm: Mikro-Organismus (1885 a), S. 136,138. hiro: Waage (1991) und zuletzt Sabisch: Weib (2007).

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Frau ihre Bedeutung als Informantin über das eröffnete er 1920 als 16. Präsident der Deutschen Krankheitsgeschehen. Bumm erwähnte keine wei- Gesellschaft für Gynäkologie die Tagung der Gesell- teren, mit der Urethritis verbundenen Beschwer- schaft. Aus seiner Eröffnungsrede stammt das die- den. Er interessierte sich ausschließlich für den sem Beitrag vorangestellte Zitat: „Ich glaube: er- Lokalbefund. Diese Konzentration auf das für ihn laubt ist, was neu, was anregend, was interessant Wesentliche erreichte er auch durch einen sprach- ist; verboten ist, was langweilig ist.“39 lichen Kniff, nämlich durch die Verwendung passi- Im Nachruf auf Bumm hieß es 1925: „Bumm hat vischer Konstruktionen, die das handelnde Subjekt die Lehre von der weiblichen Gonorrhöe begründet aus der Erzählung ausblenden: Die Frau klagte und sie so weit ausgebaut, daß später nichts wich- nicht selbst, vielmehr „wurden brennende Schmer- tiges mehr hinzugetan werden mußte und konnte. zen beim Urinieren geklagt“. Der als objektiv und Seiner ersten Liebe zur klinischen Bakteriologie ist wissenschaftlich empfundene Sprachduktus, der er sein Leben lang nicht untreu geworden.“40 Diese sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den ärztlichen Einschätzung stimmt allerdings nicht ganz mit der Fallbeschreibungen einbürgerte, hatte die weitge- weiteren Geschichte der Gonorrhoe-Forschung hende Ausblendung der Betroffenen aus ihrer eige- überein. So wurde die Frage der aszendierenden nen Krankengeschichte zur Folge. Gonorrhoe nicht von Bumm, sondern von dem Für Bumm ging die Rechnung auf. Mit dem von österreichischen Gynäkologen ihm vorgelegten Grundlagenwerk zur Gonorrhoe, (1864–1920) geklärt. Deshalb sei hier auch aus vor allem aber durch den erfolgreich durchgeführ- dem 1920 erschienenen Nachruf auf Wertheim zi- ten, allen wissenschaftlichen Auflagen entspre- tiert: „Bummʼs grundlegende Lehren in der Gonor- chenden Inokulationsversuch hatte er sich die Auf- rhoeforschung wurden von Wertheim weiter aus- merksamkeit der Fachwelt gesichert. Noch im Jahr gebaut. […] Die Lehre von der aszendierenden Go- ihres Erscheinens wurde seine Habilitationsschrift norrhoe verdankt Wertheim ihren Aufbau, sie in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift be- besteht heute noch unverändert in der Form zu sprochen. „Der geschilderte Versuch“,soderRe- Recht, in der sie von ihm begründet wurde.“41 zensent Dr. Paak, sei „unzweifelhaft ein sehr wich- tiger Beitrag zur Kenntniss der ätiologischen Be- deutung der Gonokokken“.35 Bumm blieb dieser Forschungsrichtung treu. An den alle zwei Jahre Paul Zweifel und sein Versuch stattfindenden Tagungen der Deutschen Gesell- in Erlangen schaft für Gynäkologie,36 der er kurz nach ihrer 1885 erfolgten Gründung beitrat, nahm er von Als Ergänzung sei ein weiterer Inokulationsversuch 1886 bis 1893 regelmäßig als Redner teil, wobei er referiert, dessen Problemstellung ebenfalls in der Themen aus der gynäkologischen Infektionslehre gynäkologischen Gonorrhoe-Forschung wurzelte, bevorzugte.37 Die weitere akademische Laufbahn der aber einen völlig anderen Ansatz hatte. Verant- Bumms sei hier nur mit ihren wichtigsten Eckdaten wortlich für das Experiment war Paul Zweifel wiedergegeben: 1894 nahm Bumm den Ruf als Or- (1848–1927), seit 1876 Direktor der Universitäts- dinarius für Geburtshilfe und Gynäkologie in Basel Frauenklinik in Erlangen.42 Er reagierte damit auf an, 1901 wechselte er nach Halle, 1904 übernahm eine Fallstudie, die sein Assistent G. Schirmer 1882 er die Leitung der Frauenklinik an der Charité in im „Centralblatt für Gynäkologie“ veröffentlicht Berlin, wo er 1910 die neu errichtete Universitäts- hatte. Sie handelte von einem sechs Tage alten, ge- frauenklinik in der Artilleriestraße bezog.38 Dort sunden Kind, das Lochialsekret seiner ebenfalls ge- sunden Mutter in die Augen bekommen hatte und 35 Paak: Bumm (1885). daraufhin eine Konjunktivitis entwickelte. Der hin- 36 Ludwig: Gründung (2005). 37 „Zur Ätiologie der puerperalen Cystitis“ (München 1886), „Zur Ätiologie der Parametritis“ (Freiburg 38 Ludwig: Bumm (2004). 1889), „Über die Bedeutung der gonorrhoischen In- 39 Ludwig: Gesellschaft (1999), S. 95. fektion für die Entstehung schwerer Genitalaffektio- 40 Franz: Bumm (1925), S. If. nen bei der Frau“ und „Über puerperale Endometri- 41 Weibel: Wertheim (1920), S. VI. tis“ (beide Bonn 1891), „Über die Heilungsvorgänge 42 Zweifel: Aetiologie (1884). – 1915 gehörte Zweifel zu nach dem Bauchschnitt bei bacillärer Bauchfelltuber- den Ehrenmitgliedern der Münchener Gynäkologi- kulose“ (Breslau 1893), abgedruckt in den jeweiligen schen Gesellschaft, s. Zander; Zimmer: Gesellschaft „Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gy- (1987), S. 9. Zur experimentellen Methode Zweifels näkologie“. siehe Stahnisch: Laboratorium (2003).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 42 Gynäkologische Forschung im Zeichen der Mikrobiologie zugezogene Direktor der Erlanger Augenklinik kamen sie dafür nicht in Frage. Die Lösung lag in Hubert Sattler (1844–1928) behandelte das Kind der bürgerlichen Familie – vorausgesetzt, dass der erfolgreich und wies im Sekret „mit aller Be- Ehemann über den Verdacht eines Seitensprunges stimmtheit eine vollkommene Reincultur von Neis- erhaben war: serʼschen Gonococcen nach.“43 „Das Hauptgewicht dieser Versuche liegt in dem Damit stand die damals noch sehr kontrovers absolut sichern Ausschluss einer Infectionsmög- diskutierte spezifische Natur der Blennorrhoea lichkeit durch Gonococcen. Von vornherein ist bei neonatorum erneut auf dem Prüfstand. Oder, wie diesem Anspruche das Secret nur im Privathause Zweifel es formulierte: Der von Schirmer geschil- zu gewinnen und nur unter besonderen Verhältnis- derte Fall „würde in der Verallgemeinerung heis- sen, wo die sociale Stellung, der Charakter des sen, dass das Lochialsecret die Nährflüssigkeit zur Mannes, namentlich aber die Kenntniss des Vorle- Entwicklung ubiquistischer Keime bilde, und dass bens den Angaben die nothwendige Gewähr geben. bei Uebertragung solchen Secretes in den Con- Den weiblichen Theil kann man bei den heutigen junctivalsack die betreffenden Keime daselbst, wie Sitten – wenigstens für Deutschland – in den besse- in einer Reincultur gezüchtet würden.“44 ren Ständen für gewöhnlich ohne weiteres als von Zweifel warnte davor, aus der solitären Kasuistik Hause aus rein betrachten.“46 allgemeine Schlüsse zu ziehen. Er selbst vermochte Der Versuch hatte das von Zweifel erhoffte Er- „an die Richtigkeit einer Infection der Augen durch gebnis. Er übertrug das Lochialsekret von sechs zu ganz normales Lochialsecret nicht zu glauben“.Da- Hause entbundenen Wöchnerinnen in die Binde- bei stellte er nicht die klinische Beobachtungsgabe hautsäcke von ebenso vielen Neugeborenen seiner seines Assistenten in Frage, sondern vielmehr die Klinik, ohne dass es auch nur in einem einzigen Glaubwürdigkeit der jungen Mutter, die behaupte- Fall zu einer Entzündung gekommen wäre. Damit te, niemals eine Gonorrhoe gehabt zu haben. Zwei- war die Bedeutung der „Diplococcen Neisserʼs“ als fels Einschätzung der ihm anvertrauten Schwange- Conditio sine qua non der Blennorrhoea neonato- ren spiegelt die soziale Situation in den Gebäran- rum bewiesen. Die Übertragung von „reinem“ Lo- stalten des 19. Jahrhunderts wider: „Die Pfleglinge chialsekret durfte nun als völlig harmlos gelten, so der geburtshilflichen Kliniken sind nie Personen, dass Zweifel, den zu Beginn des Versuchs durchaus die in Beziehung auf ihr Vorleben in der sexuellen Skrupel geplagt hatten, nun „ohne besonderen Sphäre sonderlich grosses Vertrauen verdienen.“ Muth die Collegen zur Nachahmung der Versuche In den Gebäranstalten sei „das Vorleben der Pfleg- auffordern“ konnte, sofern sie bei der „Auswahl linge in der Regel ein stark bewegtes“, so dass „häu- der Ehepaare recht sorgfältig und skeptisch vorzu- fig der Umgang mit mehreren Männern zugestan- gehen“ bereit waren.47 Ernst Bumm unterstrich in den wird“.45 seiner Habilitationsschrift die Bedeutung des Zwei- Doch solche Spekulationen führten nicht weiter. felschen Experiments. Dieser habe damit „auf expe- „Ob die Ophthalmoblennorrhoe specifisch oder rimentellem Wege eine für die Lehre vom gono- nicht specifisch sei, kann nur durch Versuche gelöst rrhoischen Contagium fundamentale Thatsache werden“, davon war Zweifel überzeugt. Er wollte constatirt [und] die Specifität des gonorrhoischen beweisen, dass die Einbringung von Lochialsekret Virus“ wieder hergestellt.“48 in den Bindehautsack von Neugeborenen keine Konjunktivitis auszulösen vermag, solange sich in dem Sekret keine Gonokokken befinden. Für den Albert Döderlein, Karl Menge Fall, dass es doch zu einer Blennorrhoe kommen sollte, vergewisserte er sich der Unterstützung sei- und Bernhard Krönig und nes ophthalmologischen Kollegen Sattler. Sehr auf- ihre Versuche in Leipzig schlussreich ist die Art und Weise, wie Zweifel das methodische Problem anging, zuverlässig „reines“ Wenige Jahre später, 1887, trat Paul Zweifel die Lochialsekret zu gewinnen. Da er den Wöchnerin- Nachfolge von Carl Credé als Ordinarius an der Uni- nen der Geburtsklinik sowohl mangelhafte Sexual- versitätsfrauenklinik Leipzig an. Im Folgejahr kam moral als auch fehlende Aufrichtigkeit unterstellte, Albert Döderlein (1860–1941)49 als Assistenzarzt

43 Zweifel: Aetiologie (1884), S. 322. 46 Ebd., S. 325. 44 Ebd., S. 323. 47 Ebd., S. 326. 45 Ebd., S. 325,327. 48 Bumm: Mikro-Organismus (1885 a), S. 5.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Gynäkologische Forschung im Zeichen der Mikrobiologie 43 an die Leipziger Klinik, wo er alsbald habilitiert und Gelatine-Kultur illustrieren ließ: „Die reichlich in 1893 zum außerordentlichen Professor ernannt die Scheide eingebrachten Staphylokokken waren wurde. 1892 veröffentlichte er seine einflussreiche […] nach vier Tagen in dem sauren Sekret dersel- Monographie über das Scheidensekret und dessen ben zu Grunde gegangen“. Bedeutung für das Kindbettfieber.50 Döderlein un- Anders als bei Bumm, der in seiner acht Jahre terschied „normales“ und „pathologisches“ Schei- zuvor erschienenen Habilitationsschrift die Befind- densekret und legte die Bedeutung der – später lichkeit der Versuchsperson zumindest an einer nach ihm benannten – säurebildenden Bakterien Stelle erwähnte und die Durchführung des Ver- für die Aufrechterhaltung des „normalen“ Milieus suchs mit den Kochschen Postulaten rechtfertigte, der Scheide dar. Er stützte sich dabei auf die chemi- lässt Döderleins Schilderung nicht nur jegliche Be- sche und mikrobiologische Untersuchung von Se- zugnahme auf die von ihm für seine Versuchszwe- kretproben, die er 195 Schwangeren entnommen cke herangezogene „Virgo“ vermissen, sondern hatte, „die vorher nicht touchirt worden waren“.51 auch den Hinweis auf die als Exkulpation verstan- Dabei stellte er fest, dass bei Schwangeren „die dene wissenschaftliche Notwendigkeit seines Ver- Scheidenbacillen, bez. ihre Stoffwechselprodukte, suchs. Der als übermächtig empfundene Zwang […] ein Hindernismittel für die Entwickelung der der „Kochschen Postulate“ hatte offensichtlich zu Staphylokokken darstellen“.52 Ob sich „die Kampf- einem methodischen Dammbruch in der gynäkolo- bedingungen der Scheidenbacillen“ auch bei Nicht- gischen Mikrobiologie geführt, in dessen Folge die schwangeren so wirksam erweisen, könne er nicht Übertragung pathogener Keime auf gesunde Orga- sagen. Dies müsse in weiteren Versuchen geklärt ne keiner weiteren Rechtfertigung mehr bedurfte. werden. Dieser Eindruck wird durch die Arbeiten zweier Doch obwohl die Untersuchung der Scheiden- weiterer Assistenten an der von Paul Zweifel gelei- bakterien bei Nichtschwangeren ausdrücklich teten Leipziger Klinik bestätigt. Karl Menge (1864– nicht zur Fragestellung seiner Studie gehörte, ließ 1945)54, der sich 1889 am Hygienisch-bakterio- Döderlein die Schilderung eines von ihm durchge- logischen Institut in Berlin mikrobiologische Kennt- führten Überimpfungsversuchs auf eine Nicht- nisse angeeignet hatte und seit 1892 an der Leip- schwangere folgen. Um sicher zu gehen, dass es ziger Klinik tätig war, und Bernhard Krönig (1863– sich dabei um ein „normales“ Scheidensekret han- 1917)55 machten sich das Forschungsgebiet ihres delte, bediente er sich einer „Virgo, bei welcher die Kollegen Döderlein zu eigen. Nach einschlägigen Sekretuntersuchung die Scheidenbacillen in Rein- Vorträgen, die in kleinere Veröffentlichungen kultur ergeben hatte“. Unter Schonung des Hymens mündeten,56 legten sie 1897 eine umfangreiche ließ Döderlein „mittelst eines kleinen Glasröhren- Monographie zur „Bakteriologie des weiblichen spekulums […] mehrere ccm einer Bouillonkultur Genitalkanales“ vor. Die von Döderlein getroffene von Staphylococcus aureus gegen den oberen Teil Unterscheidung zwischen schwangeren und nicht- der Scheide einfliessen. Mit dem Zurückziehen des schwangeren Frauen wurde von Menge und Krönig kleinen Spekulums floss der Rest der Kultur, die übernommen, um das gemeinsame Forschungsge- Wände der Scheide bespülend, aus.“ Die sechs biet unter sich aufzuteilen: Menge zeichnete für Stunden später erfolgende Kontrolle ergab „ein den ersten Teil des Werks verantwortlich, der von reichliches Auswachsen der Staphylokokken“.53 der „Bakteriologie des Genitalkanales der nicht- Eine Woche lang wurden täglich neue Kulturen an- schwangeren und nichtpuerperalen Frau“ handelte, gelegt. Das Ergebnis war Döderlein so wichtig, dass Krönig widmete sich im zweiten Teil der „Bakterio- er es in gesperrter Schrift drucken und – dies ist die logie des Genitalkanales der schwangeren, kreis- einzige Abbildung im Text – mit der Darstellung der senden und puerperalen Frau“.

49 Döderlein war von 1907 bis 1934 Direktor der I. Gy- näkologischen Klinik der LMU in München, von 1913 bis 1915 1. Vorsitzender der BGGF und später Ehren- 54 Karl Menge wurde 1904 auf den Lehrstuhl für Ge- mitglied; 1934 verfasste er den Gynäkologischen burtshilfe und Frauenheilkunde nach Erlangen beru- Kommentar („Die Eingriffe zur Unfruchtbarmachung fen, s. Wittern; Ley: Professoren (1999), S. 129. der Frau“) zum Gesetz zur Verhütung erbkranken 55 Bernhard Krönig wurde 1903 Ordinarius für Geburts- Nachwuchses. hilfe und Gynäkologie in Jena, von 1904 bis zu seinem 50 Döderlein: Scheidensekret (1892). Tod im Jahr 1917 dann in Freiburg im Breisgau. 51 Ebd., S. 5. 56 Menge: Beitrag (1893); Menge: Verhalten (1894); 52 Ebd., S. 30 f. Krönig: Mittheilungen (1893); Krönig: Verhalten 53 Ebd., S. 31. (1894).

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Beide führten mit größter Selbstverständlich- Stimmen laut, die den menschenverachtenden keit Übertragungsversuche durch. So untersuchte Umgang mit Krankenhauspatienten und die an ih- Menge die Selbstreinigungskraft der Scheide nicht- nen durchgeführten Versuche anprangerten. schwangerer Frauen, indem er „die Übertragungs- An Ludwig Quiddes eingangs erwähnter Artikel- versuche von Bumm und Doederlein“ an 35 Frauen serie „Arme Leute in Krankenhäusern“ entzündete 80mal wiederholte, denn es galt „noch recht viel zu sich die öffentliche Diskussion letztlich so stark, lernen, während bei gehöriger Vorsicht nichts auf dass daraus die weltweit erste Anweisung zur dem Spiele stand“.57 Krönig sah sich, da er seine Ex- Durchführung von medizinischen Versuchen am perimente an Schwangeren durchführte und dabei Menschen resultierte. Im Zentrum der Kritik stan- auch den Erreger des Wochenbettfiebers einimpfte, den allerdings nicht die Gonokokken-Impfversu- offensichtlich unter einem größeren Rechtferti- che, die Gegenstand des vorliegenden Beitrags wa- gungsdruck. Es sei für ihn eine „zwingende Not- ren, sondern ein 1892 durch Albert Neisser durch- wendigkeit“ gewesen, die von Döderlein an der geführtes Experiment, bei dem dieser nicht- Nichtschwangeren gemachte Beobachtung der syphilitischen Patientinnen ein zellfreies Serum Selbstreinigungskraft der Scheide an der Schwan- von Syphilispatienten unter die Haut bzw. in die geren zu überprüfen. Dafür, so Krönig weiter, dürfe Vene injiziert hatte.61 Vier Frauen, die als Prostitu- er sich nicht „auf zufällige Einschleppung von Kei- ierte arbeiteten, erkrankten später an Syphilis. Da- men beim Touchieren etc. verlassen“. Vielmehr sei mit war eine Schutzwirkung des Serums ausge- es nötig, „eine ganz bestimmte Keimart in grösse- schlossen. ren Massen absichtlich in die einzuführen, In der durch die Artikelserie ausgelösten Diskus- um dann das allmähliche Verschwinden derselben sion wurde Neisser vorgeworfen, die Syphiliser- aus dem Sekret genau verfolgen zu können“.58 Um krankung der Versuchspersonen durch die Seru- keine Wochenbettinfektion zu riskieren, schloss er minjektion hervorgerufen zu haben. Dagegen ver- Hochschwangere vom Versuch aus. Bei der Über- teidigten die Vertreter der ärztlichen Seite das tragung von Streptococcus pyogenes „benutzte“ er Vorgehen Neissers und schlossen die Möglichkeit vorsichtshalber „nur Schwangere, welche noch einer Infektionsübertragung durch ein zellfreies nicht den 8. Monat der Schwangerschaft über- Serum aus. Das Fehlen einer Aufklärung und Ein- schritten hatten“. Insgesamt führte Krönig 47 In- willigung der Patientinnen erschien ihnen dagegen fektionsversuche an Schwangeren durch. kaum der Erwähnung wert. Anders als die Fachleute aus den eigenen Reihen beurteilten die Juristen des „Königlichen Diszipli- narhofs für Nicht-richterliche Beamte“ die Sach- Klinische Forschung in lage. Das Gericht verurteilte Neisser am 29. Dezem- der öffentlichen Diskussion ber 1900 zu einer Geldstrafe von 300 Mark und erteilte ihm einen Verweis. Nicht die Seruminjek- Die Hinwendung zum naturwissenschaftlich-expe- tionen als solche erschienen dem Disziplinarhof rimentellen Arbeiten, die sich in der Medizin im strafwürdig, sondern deren Durchführung „ohne 19. Jahrhundert vollzog, wurde von der Bevölke- sich der Zustimmung dieser Personen oder ihrer rung nicht widerspruchslos hingenommen.59 In gesetzlicher Vertreter versichert zu haben“. Damit den 1830er Jahren begann sich eine Gegenbewe- habe er seine Pflichten „als Arzt, Direktor einer Kli- gung zu formieren: die Naturheilbewegung.60 Ge- nik und Professor“ verletzt.62 gen Ende des Jahrhunderts hatten sich ihr Impf- Am gleichen Tag erließ das preußische Kultus- gegner, Antivivisektionisten und andere medizin- ministerium eine „Anweisung an die Vorsteher der kritische und antimodernistische Richtungen Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenan- angeschlossen und den ursprünglichen naturheil- stalten“.63 Damit war erstmalig das Recht von Pa- kundlichen Ansatz zu einer alle Facetten der Le- tienten festgelegt, von ihrem Arzt eine umfassende bensgestaltung integrierenden „Lebensreformbe- Aufklärung über geplante Eingriffe zu erhalten und wegung“ ausgebaut. Aus ihren Reihen wurden 61 Neisser: Serumtherapie (1898); für eine ausführliche 57 Menge: Bakteriologie (1897), S. 68. Darstellung des „Falls Neisser“ s. Elkeles, Diskurs 58 Krönig: (Bakteriologie) 1897, S. 17. (1996), S. 180–217. 59 Zu diesem Abschnitt vgl. ausführlicher Ruisinger: He- 62 Zit. nach Elkeles, Diskurs (1996), S. 206. rophilos (2001). 63 Für den Volltext s. Ruisinger: Herophilos (2001), An- 60 Wittern: Natur (1992). hang, Text 1.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Gynäkologische Forschung im Zeichen der Mikrobiologie 45 die Entscheidung für oder gegen deren Durchfüh- und die Krankenordnung“ befasste sich der Jenen- rung selbstbestimmt zu fällen. Die Anweisung von ser Internist Wolfgang Heinrich Veil (1884–1946) 1900 betraf allerdings nur die rein wissenschaftli- mit der Problematik der ärztlichen Forschung an chen Experimente. Hinsichtlich der Durchführung Klinikpatienten: „Die Frage aufzuwerfen, ob der von Heil-, Immunisierungs- oder Diagnoseversu- Arzt berechtigt sei, einen Kranken als Versuchsper- chen war die Ärzteschaft weiterhin lediglich den son zu benutzen, gehört zu den unglücklichsten, ungeschriebenen „Regeln der ärztlichen Kunst“ die man stellen kann. Sie kann natürlich nur mit und ihrem eigenen Gewissen verpflichtet. Wenn nein beantwortet werden.“ Andererseits sei jede, mancher von ihnen in der Folgezeit mehr Wert da- auch die bewährteste, Behandlungsmethode ledig- rauf legte, keinen Zweifel über die Aufklärung und lich ein Heilversuch, der auch unglücklich ausge- Freiwilligkeit seiner Versuchspersonen aufkommen hen könne. Deshalb gäbe es „auch in dieser Frage zu lassen, war das wohl überwiegend auf die Angst nur einen möglichen Standpunkt für den Arzt, den vor einer den eigenen Ruf schädigenden öffentli- man sein ungeschriebenes Gesetz nennen könnte; chen Diskussion zurückzuführen. er lautet: Tue recht und scheue niemand!“67 1930 kam es zu einem erneuten Skandal, der als Der Skandal um Neisser, der gerade zehn Jahre der „Lübecker Totentanz“ in die Medizingeschichte zurücklag, als Veil in der ersten Ausgabe des Hand- einging. Die Tuberkulose-Impfung mit einer verun- buchs (1911) dieses Plädoyer für die absolute Frei- reinigten BCG‑Vakzine kostete 77 Säuglingen das heit der medizinischen Forschung formulierte, Leben, weitere 131 erkrankten.64 Der Lübecker scheint noch kein Umdenken herbeigeführt zu ha- Impfskandal veranlasste das Reichsministerium ben. In der dritten, 1932 erschienenen Auflage – des Innern, einen bereits vorliegenden Entwurf die Grober im Vorwort wiederum unter das pathe- zur Durchführung medizinischer Versuche am tische Wort „salus aegroti suprema lex“ stellte –, Menschen in einigen Punkten zu überarbeiten65 druckte Veil im Anschluss an seine oben zitierte und Ende Februar 1931 zu erlassen. Die „Richtlini- Stellungnahme die Richtlinien im vollen Wortlaut en für neuartige Heilbehandlung und für die Vor- ab – allerdings nicht, ohne sie mit einer persönli- nahme wissenschaftlicher Versuche am Men- chen Einleitung zu versehen: schen“66 griffen die Inhalte der preußischen An- „Abweichend von dieser Stellungnahme sind weisungen von 1900 auf und weiteten sie erstmals 1931 – unter ersichtlicher Beeinflusung [!] durch auf die Durchführung therapeutischer Versuche die furchtbaren Geschehnisse in Lübeck – nachfol- aus. Auf einstimmigen Beschluss des Reichsgesund- gende Richtlinien ergangen. Wie alle angstgebore- heitsrates wurde verfügt, dass „alle in Anstalten der nen Produkte stellen sie keinerlei Grundlage dar, geschlossenen und offenen Krankenbehandlung auf der sich positiver Nutzen aufbauen ließe. Viel- oder Krankenfürsorge tätigen Ärzte bei ihrem Ein- mehr wird Arzt und Öffentlichkeit in gleicher Wei- tritt auf die Beachtung dieser Richtlinien unter- se unsicher gemacht und doch nur mehr oder we- schriftlich verpflichtet werden sollten.“ niger Selbstverständliches gesagt.“68 Ob und wieweit diese Richtlinien tatsächlich wirksam geworden sind und das ärztliche Handeln in den Kliniken beeinflussten, ist eine offene Frage, Literatur deren Beantwortung zu den drängenden Desidera- ten der medizinhistorischen Forschung gehört. Zu- Benedek, Thomas G.: Gonorrhea and the beginnings of mindest wurden die Richtlinien wahrgenommen clinical research ethics. In: Perspectives in biology – und breit publiziert, dies belegt u. a. das von Julius and medicine 48 (2005), S. 54 73. Bockhart, Max: Beitrag zur Aetiologie und Pathologie Grober herausgegebene Handbuch „Das Deutsche des Harnröhrentrippers. In: Vierteljahresschrift für “ „ Krankenhaus . Im Kapitel Der ärztliche Dienst Dermatologie und Syphilis 10 (1883), S. 3–18. Bumm, Ernst: Zur Frage der Schanker-Excision. Wien 1882 (zugl. Diss. med. Würzburg). 64 Für eine ausführliche Darstellung des „Lübecker To- Bumm, Ernst: Beitrag zur Kenntniss der Gonorrhoe der tentanzes“ s. Hahn: Totentanz (1995). weiblichen Genitalien. In: Archiv für Gynäkologie 23 65 Sauerteig: Richtlinien (2000), S. 333 f. (1884), S. 327–349. 66 Rundschreiben des Reichsministers des Innern, betr. Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Men- schen, vom 28. Februar 1931, in: Reichs-Gesundheits- blatt 6 (1931), S. 174 f.; Für den Volltext s. Ruisinger: 67 Veil: Dienst (1932), S. 704 f. Herophilos (2001), Anhang, Text 2. 68 Veil: Dienst (1932), S. 705 f.

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Bumm, Ernst: Der Mikro-Organismus der Gonor- Piringer, Joseph Fr.: Die Blennorrhoe am Menschenauge. rhoischen Schleimhaut-Erkrankungen „Gonococcus- Grätz 1841. Neisser“. Nach Untersuchungen beim Weibe und an Quidde, Ludwig (Hrsg.): Arme Leute in Krankenhäusern. der Conjunctiva der Neugeborenen. Wiesbaden München 1900. 1885a. Ricord, P.: Briefe über Syphilis. Deutsch bearbeitet von C. Bumm, Ernst: Menschliches Blutserum als Nährboden Liman. (Or.: Lettres sur la syphilis adressées à M. le für pathogene Mikroorganismen. In: Deutsche Medi- docteur Amédée Latour. Paris 1851) Berlin 1851. zinische Wochenschrift 11 (1885 b), S. 910. Ruisinger, Marion Maria: Von Herophilos bis zum „Lü- Döderlein, Albert: Das Scheidensekret und seine Bedeu- becker Totentanz“. In: Ley, Astrid; Ruisinger, Marion tung für das Puerperalfieber. Leipzig 1892. Maria (Hrsg.): Gewissenlos – gewissenhaft. Men- Elkeles, Barbara: Der moralische Diskurs über das medi- schenversuche im Konzentrationslager. 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Frauenärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Renate Wittern-Sterzel

„ Die Scheu der Frauen vor männlichen Ärzten Weibliche Ärzte für und deren Folge, dass viele Frauen auch bei schwer- weibliche Patienten!“ wiegenden Leiden den Arztbesuch herauszögerten und dadurch Krankheiten unnötig verschleppten, Dieser Kampfruf steht am Anfang der Geschichte wurde am Ende des 19. Jahrhunderts aber nicht der Frauen als Frauenärztinnen in Deutschland.1 nur von den Frauen als Argument für die Notwen- Mit dem Argument, dass viele Frauen aus Scham digkeit von weiblichen Ärzten vorgebracht, son- und Scheu vor der körperlichen Untersuchung dern auch von renommierten männlichen Medizi- durch einen Mann bei Krankheiten aller Art spät nern beklagt.3 Dahinter verbirgt sich eine besonde- oder gar nicht zu einem Arzt gingen und ihre Hei- re Situation der damaligen Medizin, die zwar lungsaussichten dadurch erheblich verschlechter- grundsätzlich allen Disziplinen immanent war, für ten, gab die Frauenbewegung Ende des 19. Jahr- die Gynäkologie und Geburtshilfe aber in besonde- hunderts ihrer Forderung nach Zulassung von rem Maße zutraf: Mit der Einführung des natur- Frauen zum Medizinstudium immer wieder Nach- wissenschaftlichen Paradigmas und den damit ver- druck und setzte damit auch tatsächlich 1899 bundenen neuen Untersuchungsmethoden und durch, dass der Bundesrat beschloss, Frauen mit ‑geräten hatte sich die Interaktion zwischen Arzt entsprechender Vorbildung die Zulassung zum me- und Patient(in) grundlegend gewandelt. Hatte die dizinischen Staatsexamen und damit zur Erlangung Konsultation bis ins 19. Jahrhundert vornehmlich der deutschen Approbation zu ermöglichen. Dass in der Beobachtung und Befragung des Patienten es dann immer noch ein Jahrzehnt dauerte, bis bzw. der Patientin bestanden, war der Arzt neuer sich Frauen an allen Universitäten des Deutschen Prägung nun für die Erkundung der Krankheitsur- Reichs regulär immatrikulieren konnten und dass sachen auf diagnostische Instrumente, wie etwa Deutschland damit unter den westlichen Nationen das Stethoskop oder das Vaginalspekulum, verwie- Europas das Schlusslicht bildete, ist bekannt und sen, deren Einsatz die Entblößung des Körpers ver- soll hier nicht weiter vertieft werden.2 langte. Es bedurfte also einer neuen „medizini- schen Kultur“,4 die darauf abzielte, Alltagsnormen und Tabus im Verhältnis von Arzt und Patient(in) 1 Vgl. Albisetti: Fight (1982), S. 13 f.u.ö.; Burchardt: außer Kraft zu setzen. Diese mentale Entwicklung Durchsetzung (1993), S. 14–16; Ziegeler: Moral wurde im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- (1993); Huerkamp: Frauen (1991), S. 139 f. Dasselbe derts vom raschen medizinischen Fortschritt über- Argument war auch in Österreich-Ungarn erfolgreich, holt, so dass die Frauenbewegung mit ihrer Forde- s. Stipsits: Widerwärtigeres (2000), S. 38 f., wo Dr. Ga- rung nach weiblichen Ärzten einem dringenden briele Possaner, die erste promovierte Ärztin Öster- Bedürfnis der weiblichen Patienten entsprach. reichs 1895 in einem Gnadengesuch an Kaiser Franz Josef mit dem Hinweis auf die Scheu von Mädchen und Frauen, sich einem männlichen Arzt anzuver- 2 Die Literatur über die Diskussionen um das Frauen- trauen, um die Zulassung zum Praktizieren auf dem studium in Deutschland ist überaus reich; verwiesen Gebiet der Geburtshilfe und Frauenheilkunde bat, sei hier lediglich auf Albisetti: Fight (1982). was dieser auch bewilligte. Eine wichtige Vorkämpfe- 3 Vgl. Paul Zweifel: Der Einfluss der ärztlichen Tätigkeit rin für diese Forderung war Mathilde Weber mit ihrer auf die Bevölkerungsbewegung. Stuttgart 1887, S. 32, 1887 in erster Auflage erschienenen Schrift „Ärztin- zit. n. Huerkamp: Aufstieg (1985), S. 139. nen für Frauenkrankheiten, eine ethische und sanitä- 4 Zu diesem Begriff und zur Etablierung dieser neuen re Notwendigkeit“. Kultur vgl. Huerkamp: Aufstieg (1985), S. 155.

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Die Debatte um die Verletzung des weiblichen Schamgefühls durch den männlichen Arzt war be- Die ersten Ärztinnen für Frauen reits in den 1860er und 1870er Jahren aufgeflammt in Deutschland und Bayern und hatte auch schon damals den allerdings noch erfolglos bleibenden Ruf nach weiblichen Ärzten Bis in den Ersten Weltkrieg konnte der Begriff laut werden lassen. Bezeichnend hierfür ist etwa „Frauenärztin“ mithin auf zweierlei Weise gedeutet das folgende Zitat von Hedwig Dohm in ihrer 1874 werden. Zum einen war damit die Ärztin für Krank- in Berlin erschienenen Schrift „Die wissenschaft- heiten von Frauen (und Kindern) überhaupt ge- liche Emancipation der Frau“: meint, ohne eine Spezialisierung auf spezifische „… und ich weiß, wie viel Kummer und Thränen Leiden des weiblichen Geschlechts anzuzeigen. In es selbst derbgearteten Frauen kostet, ehe sie, wo es diesem Sinne ist die Gründung der „Poliklinik sich um Frauenkrankheiten handelt, zu dem Ent- weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“ zu verste- schluß kommen, einen Arzt zu konsultieren. Der hen, die bereits 1877 von den ersten deutschen weitaus größere Theil unterleibskranker Frauen Ärztinnen Franziska Tiburtius (1843–1927) und zieht ein lebenslanges Siechthum ärztlicher Unter- Emilie Lehmus (1841–1932) in Berlin eröffnet wor- suchung vor.“5 den war und deren Aufgabenbereich neben gynä- Die Zulassung von Frauen zum Studium wurde kologischen Erkrankungen vor allem Hautleiden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erreicht, und innere Krankheiten umfasste.8 Ihre Leiterin- und nach zunächst zögerlichem Beginn stieg die nen hatten ihre medizinische Ausbildung in der Zahl der Medizinstudentinnen im zweiten Jahr- Schweiz erworben und durften damit zwar in zehnt rasch an. Vor dem Beginn des Ersten Welt- Deutschland praktizieren, waren jedoch offiziell kriegs waren es bereits 1000. Bis 1915 waren 233 nicht als „Ärztinnen“ anerkannt, weil dieser Titel Ärztinnen in Deutschland approbiert worden, was an die deutsche Approbation gebunden war. So etwa einem halben Prozent der gesamten Ärzte- durften sie lediglich unter der wenig ehrenvollen schaft entsprach. Zehn Jahre später waren es dann Bezeichnung einer „gewerbsmäßigen Heilkünstle- laut Reichsmedizinalkalender 1395 Ärztinnen, das rin“ bzw. einer „Kurpfuscherin“ arbeiten.9 Statistische Reichsamt gab indessen die fast dop- Es gab aber zum andern bereits in der Frühzeit pelt so hohe Zahl von 2572 an. Die unterschiedli- des Frauenstudiums Frauenärztinnen im engeren chen Zahlen erklären sich durch die unterschiedli- Sinne.10 Die erste in Deutschland, die sich 1891 in chen Institutionen, von denen sie stammten, und Frankfurt am Main niederließ, war Elisabeth Win- durch die variierenden Zählkriterien der Erhebun- 7 gen.6 Vgl. Albisetti: Fight (1982), S. 14; auf dem Wiesbade- ner Ärztetag 1898 hieß es lapidar, man könne nicht Die Mehrzahl der Ärztinnen der ersten beiden annehmen, „… dass die Männer jemals der Behand- Generationen ließ sich als praktische Ärztinnen lung der weiblichen Aerzte unterstellt sein würden“, für Frauen und Kinder nieder und entsprach damit zit. nach Ziegeler: Moral (1993), S. 38. der Erwartungshaltung derjenigen Männer, die 8 Zu dieser Klinik vgl. insbesondere Hoesch: Ärztinnen sich mit dem Kampf der Frauen für das Medizinstu- (1995), S. 37–61; die Behandlung von Kindern wurde dium solidarisiert hatten und die davon ausgingen, wegen der ständig steigenden Patientinnenzahlen bereits ein Jahr später aufgegeben, ebd., S. 42. Im Lau- dass Frauen als Ärztinnen ausschließlich Frauen fe der 1890er Jahre wandelte sich die Klinik weibli- und Kinder behandelten. Jedenfalls erwartete kei- cher Ärzte zu einer gynäkologischen Spezialklinik, ner von ihnen, dass jemals ein Mann von einer vgl. Brinkschulte: Einführung (2006), S. 17. Frau ärztlich behandelt werden würde.7 9 Diese Regelung beruhte auf der Freigabe der soge- nannten Kurpfuscherei durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1869, die nach 5 Zit. nach Meyer-Renschhausen: Geschichte (1986), der Gründung des Deutschen Reiches von den ande- S. 110; vgl. ferner Hoesch: Ärztinnen (1995), S. 131– ren Staaten übernommen wurde, vgl. Huerkamp: 133. – Die Verletzung des weiblichen Schamgefühls Aufstieg (1985), S. 254–257. Zu den Problemen, die erfuhr noch eine Steigerung in den Kliniken, in denen den im Ausland approbierten deutschen Ärztinnen die Patientinnen häufig als Übungsobjekte fungierten daraus erwuchsen, vgl. Bleker; Schleiermacher: Ärz- und sich im Hörsaal vor mehr als hundert Studenten tinnen (2000), S. 24–31. entblößen mussten und Geburten gewissermaßen öf- 10 Eine Aufstellung der bis 1918 approbierten Fachärz- fentlich vor Ärzten und Medizinstudenten abliefen, tinnen findet sich in Bleker; Schleiermacher: Ärztin- vgl. hierzu Ziegeler: Moral (1993), S. 34–36. nen (2000), S. 214; danach waren von 288 Fachärztin- 6 Vgl. hierzu Huerkamp: Bildungsbürgerinnen (1996), nen in Deutschland 70 in der Frauenheilkunde und S. 229–233. Geburtshilfe tätig, was 24,3% entsprach.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Frauenärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 49 terhalter (1856–1952), die als Münchnerin ihr me- der Schweiz erhalten und dann in Halle 1901 das dizinisches Staatsexamen und die Promotion in Zü- deutsche Staatsexamen und ihre Promotion absol- rich (1889 und 1890) absolviert hatte und dann zur viert, womit sie die erste in Deutschland appro- Weiterbildung in der Gynäkologie nach Deutsch- bierte Ärztin war. Nach mehrjähriger klinischer land kam, um anschließend frauenärztlich tätig zu Ausbildung gründete sie zunächst in Dresden eine sein, was auch sie zunächst nur als „Heilkünstlerin“ Praxis für Kinder-, Frauenkrankheiten und Ge- durfte.11 Sie gründete 1891 in Frankfurt eine Frau- burtshilfe, bevor sie dann 1909 aufgrund ihrer Ehe- enpoliklinik und führte 1895 als erste Frau in schließung nach München übersiedelte und dort Deutschland einen Kaiserschnitt durch. Nebenher bis 1936 als Gynäkologin in eigener Praxis erfolg- arbeitete sie am Senckenbergischen pathologi- reich tätig war. Seit 1913 war sie Mitglied der Gy- schen Institut, wo sie 1896 die Ganglienzellen des näkologischen Gesellschaft München, in den Mit- Ovariums entdeckte.12 1904 legte sie im Alter von gliederlisten der BGGF wird sie 1929 und 1936 ge- 47 Jahren das medizinische Staatsexamen in Hei- führt. delberg ab und durfte dann nach Erhalt der deut- In der Weimarer Zeit stieg die Zahl der Ärztin- schen Approbation als „Frauenärztin“ praktizieren. nen in Deutschland kontinuierlich an und betrug Die erste Frauenärztin in Deutschland, die den Anfang der dreißiger Jahre bereits mehr als 3000. Umweg über den Status einer „Heilkünstlerin“ Von diesen waren etwa 73% niedergelassen, ca. nicht mehr machen musste, war Hermine Heusler- 25% davon waren Fachärztinnen, von denen fast Edenhuizen (1872–1955). Heusler-Edenhuizen die Hälfte in der Kinderheilkunde und ca. 15% in studierte in Berlin, Zürich, Halle und Bonn – in den der Frauenheilkunde und Geburtshilfe tätig waren. deutschen Universitäten jeweils mit Gasthörerin- Die weitaus meisten Ärztinnen arbeiteten dem- nenstatus –, bestand 1903 ihr medizinisches nach als praktische Ärztinnen und diese wiederum Staatsexamen in Bonn und wurde noch im gleichen mit der Zusatzbezeichnung „für Frauen und Kin- Jahr ebendort mit einer Arbeit über „Albuminurie der“.16 Bevorzugter Ort ihrer Tätigkeit war bis zum bei Schwangeren und Gebärenden“ mit summa Zweiten Weltkrieg die Großstadt; hierin unter- cum laude promoviert.13 Nach drei Jahren allge- schieden sich die weiblichen Ärzte von den männ- meiner praktischer Ausbildung an verschiedenen lichen.17 Die spezialärztliche Versorgung hingegen Kliniken und drei Jahren Spezialausbildung als ers- war ein Großstadtphänomen, unabhängig von der te etatmäßig angestellte Assistenzärztin an der Geschlechtszugehörigkeit dessen, der sie betrieb.18 Universitätsfrauenklinik in Bonn ließ sie sich 1909 Es überrascht daher nicht, dass die sechs weibli- in Köln und schon wenige Monate später in Berlin chen Mitglieder (von insgesamt 158 Mitgliedern) als „Spezialärztin für Frauenkrankheiten und Ge- der BGGF auf deren ältester Mitgliederliste von burtshilfe“ nieder. Einer Prüfung bedurfte es zu 1929 ausnahmslos in München praktizierten.19 dieser Zeit dafür noch nicht. Das Problem der Aus- In ihren Praxen, die durchweg gut angenommen bildung und Prüfung als „Spezialarzt/-ärztin“ oder wurden,20 kamen die Ärztinnen, die in den 1920er „Facharzt/-ärztin“ war zwar seit der Jahrhundert- wende in der Diskussion, diese wurde aber erst 14 Vgl. dazu Huerkamp: Aufstieg (1985), S. 179–182. 15 1924 durch die Verabschiedung der Facharztord- Vgl. die Kurzbiographie im Anhang sowie Buchin: Do- kumentation web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00203 nung beendet.14 c1.html (04.09.2012). – Erheblich früher, nämlich Das Verdienst, eine der ersten Frauenärztinnen 1893, hatte Hope Bridge Adams-Lehmann in Mün- Münchens und Bayerns gewesen zu sein, kommt chen zu praktizieren begonnen, nachdem sie bereits Ida Democh(-Maurmeier) zu.15 Sie hatte, ebenso 1880 in Leipzig das medizinische Staatsexamen, aller- wie Winterhalter, ihre medizinische Ausbildung in dings ohne Erlaubnis und Anerkennung, absolviert hatte. Es wurde jedoch erst 1904 offiziell anerkannt, vgl. Buchin: Dokumentation web.fu-berlin.de/aeik/ 11 Zu Leben und Tätigkeit von Elisabeth Winterhalter HTML/rec00012c2.html (04.09.2012). vgl. Dokumentation: Winterhalter; kurze Biogra- 16 Ein statistischer Überblick über Frauen im ärztlichen phien finden sich auch in Brinkschulte: Ärzte (1993), Beruf 1910–1991 findet sich in Brinkschulte: Ärzte S. 186, und Bleker; Schleiermacher: Ärztinnen (2000), (1993), S. 153–155. Etwas andere Zahlen, aber im S. 302 f. Trend gleich bei Huerkamp: Bildungsbürgerinnen 12 Vgl. Winterhalter: Ganglion (1896), S. 49–56. (1996), S. 237. 13 Die Einzelheiten ihres Werdegangs sind dank ihrer 17 Vgl. Huerkamp: Bildungsbürgerinnen (1996), S. 247 f. Lebenserinnerungen gut bekannt, s. Prahm: Hermine 18 Vgl. Huerkamp: Aufstieg (1985), S. 179 f. (1997); vgl. Buchin: Dokumentation web.fu-berlin. 19 Archiv der BGGF, Mitgliederverzeichnis vom 1. Januar de/aeik/HTML/rec00433c1.html (04.09.2012). 1929 (mit handschriftlichen Ergänzungen).

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Jahren in der Kassenpraxis eher unterrepräsentiert ärztinnen zur Erstuntersuchung von vermeintli- waren, grundsätzlich zwar wohl nicht mehr als ihre chen und tatsächlichen Prostituierten eingesetzt.25 männlichen Kollegen in Kontakt zu den ärmeren Unterstützt und begleitet wurden diese vielfäl- Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig aber ist davon tigen Tätigkeiten durch die Frauenbewegung und auszugehen, dass Arbeiterinnen und Arbeiterfrau- den 1924 gegründeten „Bund deutscher Ärztin- en von Ärztinnen ein erhöhtes Einfühlungsvermö- nen“ (BdÄ), in dessen Satzung die Verfolgung „so- gen und besonderes Verständnis für ihre Leiden zialer und sozialhygienischer Bestrebungen“ an und sozialen Notlagen erwarteten, so dass Ärztin- prominenter Stelle stand.26 Der BdÄ war auch für nen mit Kassenzulassung durchweg einen großen die weiblichen Mitglieder der BGGF von Bedeu- Zulauf von dieser Klientel hatten. Dies gilt ganz be- tung, die nicht nur als Mitglieder, sondern auch als sonders für die Frauenärztinnen.21 Funktionsträgerinnen die Geschicke des Bundes Die teilweise erschütternden Erfahrungen, wel- gestalteten: Die bereits erwähnte Ida Democh trat che die praktischen und Frauenärztinnen in ihren 1930 der Ortsgruppe München des BdÄ bei; Maria Praxen und bei Hausbesuchen machten, führten Monheim trat 1927 in den BdÄ ein, wo sie – evtl. bei sehr vielen zu einem breitgefächerten, vielfach bevorzugt durch ihre Mitgliedschaft in der ehrenamtlichen oder nebenamtlichen Engagement NS‑Frauenschaft – 1933 Ortsgruppen-Leiterin in in den verschiedensten Beratungs- und Fürsorge- München und Vorstandsmitglied wurde;27 Sophie einrichtungen, die in der Weimarer Zeit entstanden Lützenkirchen war 1927 Schatzmeisterin des Be- und einen wesentlichen Faktor der zeitgenössi- zirks Bayern des BdÄ;28 Annemarie Durand-Wever schen sozialen Gesundheitspolitik darstellten.22 Die schließlich wurde 1927 die zweite Vorsitzende des Tätigkeit erstreckte sich u. a. auf Schwangerenfür- Bundes und leitete die Landesgruppe Bayern29. sorge, Mutterschutz,23 Säuglingsfürsorge, Verbes- Eine besondere Rolle spielte im Kontext der sozial- serung der Versorgung unehelicher Mütter, Kinderpflege und allgemeine hygienische Haus- 25 Vgl. Hoesch: Ärztin (1993), S. 60. Die erste Polizeiärz- haltsführung. Zudem wurden die Ärztinnen in Mäd- tin war Dr. Agnes Hacker, die 1896 ihr medizinisches chenschulen als Schulärztinnen zur Vermeidung Examen in der Schweiz bestanden, ein Jahr später in Wien über ein gynäkochirurgisches Thema promo- von Untersuchungen durch männliche Ärzte, aber viert hatte und seit 1898 in Berlin an der „Berliner auch für die Aufklärung über hygienische, sexuelle Klinik weiblicher Ärzte für Frauen“ tätig war. Dass und allgemeine gesundheitliche Themen gebraucht. sie bereits 1900, also ohne deutsche Approbation, an- In diesem Amt war seit 1907 das Mitglied der BGGF gestellt wurde, zeigt, dass der Bedarf an Frauen in Mally Kachel (1876–1972) in München tätig und dieser Position groß war. Zu Agnes Hacker vgl. ebd., – – übte es über den erstaunlichen Zeitraum von 58 Jah- S. 58 64. Zur Diskussion um die Prostitution und die um die Jahrhundertwende entstehende Sittlich- ren aus.24 Außerdem wurden Ärztinnen seit der keitsbewegung vgl. ferner Meyer-Renschhausen: Ge- Jahrhundertwende auch bei der Polizei als Polizei- schichte (1986). 26 Zur Gründung des BdÄ und seinen sozialmedizini- 20 Vgl. Prahm: Hermine (1997), S. 108 f. schen und sozialpolitischen Bestrebungen in der Wei- 21 Vgl. Huerkamp: Bildungsbürgerinnen (1996), S. 252. marer Zeit vgl. Huerkamp: Bildungsbürgerinnen 22 Vgl. Schleiermacher: Mission (2002), S. 95–100; (1996), S. 249–259. – Die erste Vorsitzende des BdÄ 23 Zu dem bereits 1905 von der Frauenrechtlerin und war Hermine Heuser-Edelhuizen. Sexualreformerin Helene Stöcker (1869–1943) ge- 27 Maria Monheim war es auch, die im Mai 1933 nach gründeten „Bund für Mutterschutz“, der in der De- der Gleichschaltung des BdÄ als dessen neues Vor- batte um die angemessene Berücksichtigung und standsmitglied in einem „Offenen Brief an die Mit- den Schutz der generativen Leistung der Frau in der glieder des BdÄ“ von diesen die Bereitschaft einfor- Industriegesellschaft eine wichtige Rolle spielte, vgl. derte, „an der Verwirklichung der großen Ideen unse- z.B. Matzner-Vogel: Schwangerschaft (2002), S. 157– rer Zeit“ mit „heißer Hoffnung und werktätiger Liebe“ 159. mitzuwirken (Die Ärztin 9, 1933, S. 122–124) – Über 24 Mally Kachel hatte auch, wie Ida Democh, bereits den Akt der Gleichschaltung des BdÄ gibt es eine be- 1901 das deutsche Staatsexamen (mit Sondergeneh- wegende Darstellung in dem Tagebuch der jüdischen migung in Freiburg) abgelegt und war nach Hope Ärztin Hertha Nathorff, die in der Weimarer Zeit ne- Bridge Adams-Lehmann die erste Ärztin, die sich in ben ihrer Praxis leitende Ärztin eines Entbindungs- München niederließ. Sie starb 1972 mit 95 Jahren als und Säuglingsheims des Roten Kreuzes war, vgl. älteste praktizierende Ärztin Europas, nach insge- Benz: Tagebuch (2010), S. 40. samt 65 Jahren ärztlicher Tätigkeit, vgl. die Kurzbio- 28 Vgl. Buchin: Dokumentation web.fu-berlin.de/aeik/ graphie im Anhang sowie Buchin: Dokumentation HTML/rec00650c3.html (04.09.2012) web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00494c3.html 29 Vgl. Buchin: Dokumentation web.fu-berlin.de/aeik/ (04.09.2012) HTML/rec00218c3.html (04.09.2012).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Frauenärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 51 hygienischen Bemühungen die Sexualberatung der abweichender Auffassung des gerichtlichen Gut- Frauen, die vor dem Hintergrund der gleichzeitig achters durchaus dafür belangt werden.32 stattfindenden Abtreibungsdebatte von Ärzten Seit der Jahrhundertwende erlangte der will- und von Seiten der Staatsorgane argwöhnisch be- kürliche Schwangerschaftsabbruch verstärkte öf- obachtet wurde. fentliche Aufmerksamkeit und wurde seitdem mit wechselnder Intensität kontrovers diskutiert, wo- bei der Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen in der Weimarer Zeit lag. Die Diskussion wurde an- Ärztinnen und die Debatte um gestoßen durch den auch in anderen Industrielän- den Schwangerschaftsabbruch dern registrierten Geburtenrückgang33 und durch die Erkenntnis, dass die Strafandrohung des § 218 Die Abtreibung von unerwünschten Schwanger- ihren Zweck offenkundig verfehlte, da die Zahl der schaften war ein drängendes Problem, das die Tä- Abtreibungen bis zum Ersten Weltkrieg und da- tigkeit der ersten Generationen der praktischen nach kontinuierlich anstieg. Obwohl das tatsächli- Ärztinnen und Frauenärztinnen stark belastete che Ausmaß der künstlich herbeigeführten Abbrü- und das zudem mit großer Leidenschaft in der Öf- che, die ja durchweg im Verborgenen durchgeführt fentlichkeit diskutiert wurde.30 Das Problem war wurden, nicht festzustellen war, kursierten etliche freilich nicht neu; künstliche Schwangerschaftsab- Schätzungen, die sich zwischen 200 000 und einer brüche sind bereits aus den ältesten Hochkulturen Million bewegten. Ende der 1920er Jahre, so nahm belegt, und auch die Frage der Bestrafung wurde man an, wurde jede zweite bis dritte Schwanger- seit alters diskutiert und je nach religiöser Über- schaft unterbrochen.34 zeugung bzw. politischer Weltanschauung unter- Als problematisch erschien diese hohe Zahl schiedlich gelöst. Für die neuere Zeit wurde das nicht zuletzt auch deshalb, weil die meisten Ein- Preußische Reichsstrafgesetzbuch maßgeblich, das griffe nicht von Ärztinnen oder Ärzten durchge- 1871 in Kraft trat und in dem in den Paragraphen führt wurden, sondern von den Frauen selbst oder 218 und 219 die Strafen für vorsätzliche Abtreibun- von Kurpfuschern, den „weisen Frauen“ oder „En- gen sowohl für die Schwangere als auch für die gelmacherinnen“. Die Ärzte, deren Mehrzahl sich oder den Helfer festgelegt wurden.31 Gesetzlich wohl angesichts des hohen Strafmaßes weigerte, nicht geregelt war die Frage der medizinischen In- selbst Abtreibungen durchzuführen, kamen zu- dikation, also der Abbruch wegen gesundheitlicher meist erst dann ins Spiel, wenn es dabei zu Kompli- Gefährdung der werdenden Mutter. Er wurde zwar kationen, zu Perforationen, schweren Blutungen vielfach durchgeführt und mit einem sogenannten oder Infektionen, gekommen war, die oft tödlich Notstandsrecht begründet, aber da sich der Arzt endeten.35 Wenngleich auch die verhängnisvollen hier im rechtsfreien Raum bewegte, konnte er bei Folgen unsachgemäß durchgeführter Abtreibungen statistisch nicht erfassbar waren, so war doch allen 30 Einen guten Überblick über die Abtreibungsproble- nachdenklicheren Zeitgenossen klar, dass es sich matik im Laufe der europäischen Geschichte gibt der hier nicht nur um ein Problem der betroffenen Sammelband Jütte: Geschichte (1993); zur Weimarer Zeit vgl. bes. Eckhof: Abtreibungsseuche (1987); Us- borne: Heilanspruch (2000) und Usborne: Cultures 32 Vgl. Eckhof: Abtreibungsseuche (1987), S. 100 f. (2007). 33 Vgl. Saatz: Recht (1991), S. 13–15. 31 Die beiden Paragraphen haben den folgenden Wort- 34 So Eckhof: Abtreibungsseuche (1987), S. 85; ferner laut: § 218 „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vor- Kienle: Frauen (1989), S. 117; Saatz: Recht (1991), sätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit S. 24 f. Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Sind mildernde 35 Auf der Basis von Prozessakten aus der Weimarer Zeit Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht kommt Usborne (Heilanspruch, 2000, S. 105–107) al- unter 6 Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften fin- lerdings zu dem Schluss, dass die von Ärzten immer den auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwil- wieder beklagte Abtreibungspraxis von Laien vor al- ligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung lem professionspolitisch motiviert war und dass oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht auch ärztliche Schwangerschaftsabbrüche durchaus hat.“ § 219: „Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird be- gefährlich sein konnten, weil die meisten praktischen straft, wer einer Schwangeren, welche ihre Frucht ab- Ärzte keine ausreichenden Kenntnisse in der Abort- getrieben oder getötet hat, gegen Entgelt die Mittel technik gehabt hätten; ausführlich dazu auch dies.: hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beige- Cultures (2007). – Schätzungen von Ärzten über die bracht hat.“ Zit. nach Eckhof: Abtreibungsseuche jährlichen Todesfälle als Folge von Abtreibungen bei (1987), S. 100. Saatz: Recht (1991), S. 27.

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Frauen, sondern um ein gesamtgesellschaftliches wieder geforderten Abschaffung des Paragraphen handelte, das dringend einer Lösung bedurfte. nicht Rechnung. Eine erhebliche Änderung der Fragt man, welche Frauen es vornehmlich wa- Rechtslage ergab sich indes insofern, als der Ab- ren, die ihre Schwangerschaft vorzeitig zu beenden bruch nicht mehr als „Verbrechen“, sondern nur wünschten, so haben Untersuchungen an den we- noch als „Vergehen“ galt, das Zuchthaus durch das gen Abtreibung Verurteilten gezeigt, dass die weit- Gefängnis ersetzt wurde und die Mindeststrafe aus größte Gruppe verheiratete Frauen aus den so- von einem halben Jahr auf einen Tag reduziert wur- zial schwachen Bevölkerungsschichten mit bereits de. Ferner musste die Frau nicht in Untersuchungs- mehreren Kindern waren, die aufgrund der Inflati- haft genommen werden. Von der Zuchthausstrafe on und Arbeitslosigkeit oft unterhalb des Existenz- weiterhin bedroht wurden Ärztinnen und Ärzte, minimums lebten und sich außerstande sahen, denen „gewerbsmäßige Abtreibung“ vorgehalten noch ein weiteres Kind in überdies viel zu kleinen werden konnte. Eine weitere Erleichterung, die ge- und völlig überbelegten Wohnungen durchzubrin- rade von den Ärztinnen und Ärzten immer wieder gen.36 Daneben waren es vielfach junge unverheira- gefordert worden war, erfolgte 1927 durch ein tete Frauen, die durch ein uneheliches Kind aus der Grundsatzurteil des Reichsgerichts, demzufolge zu- Bahn geworfen zu werden drohten.37 Diese beiden mindest eine Abtreibung aufgrund einer medizini- Gruppen von Frauen waren es vor allem, für die die schen Indikation nicht mehr strafbar war.40 Gegnerinnen und Gegner des Abtreibungsverbots Die Gesetzgebung entsprach damit der offiziel- kämpften, indem sie die Aufhebung des § 218 oder len Stellungnahme der Deutschen Ärzteschaft, die wenigstens die soziale Indikation durchzusetzen im Herbst 1925 auf dem Leipziger Ärztetag Leitsät- versuchten. ze zur „Bekämpfung der Abtreibungsseuche“ ver- Die Akteure, die sich seit der Jahrhundertwende abschiedet hatte, in denen zwar soziale und wirt- für eine Veränderung der Gesetzeslage einsetzten, schaftliche Gründe für die steigenden Abtreibungs- kamen überwiegend aus den politisch links orien- zahlen erkannt wurden, die bedingungslose tierten Gruppierungen mit den Kommunisten an Freigabe und auch die soziale Indikation jedoch der Spitze, dem linken Flügel der SPD und diesen aus Furcht vor angeblich weiterer „Verwilderung nahestehenden Vertreterinnen der Frauenbewe- der Sitten“ abgelehnt wurden.41 Weitere Argumen- gung. Ihnen gegenüber standen als Befürworter te gegen die Abtreibung, die vor allem vom Deut- des Abtreibungsverbots vor allem die Konservati- schen Ärztevereinsbund artikuliert wurden, waren ven mit starker Rückendeckung durch die katholi- u.a. standesethische Bedenken, die gesundheitli- sche Kirche. Von Seiten der Frauen forderte im Jah- chen Risiken der Schwangeren und der zunehmen- re 1908 die aus Österreich stammende Frauen- de Geburtenrückgang mit seiner Gefährdung der rechtlerin Camilla Jellinek, die Leiterin der Machtstellung des deutschen Volkes.42 Auffallend Rechtskommission des Bundes deutscher Frauen- an den Stellungnahmen der hier zusammenge- vereine (BdF),38 auf der Generalversammlung des schlossenen Ärzte war das fast völlige Fehlen einer BdF die Abschaffung des § 218. Der BdF lehnte diese Einsicht in die psychischen und sozialen Probleme nach hitzigen Debatten zwar ab, forderte jedoch der betroffenen Frauen, deren Wunsch nach Ab- eine Milderung der Strafen und die Einführung treibung überwiegend durch schwierigste Lebens- von Indikationen für einen Abbruch. verhältnisse hervorgerufen wurde. Dieser soziale Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs intensi- Hintergrund stand demgegenüber bei den männli- vierte sich die Diskussion. 1920 stellte die SPD im chen ärztlichen Befürwortern im Vordergrund ih- Reichstag den Antrag auf Straffreiheit bei einer Ab- rer Forderung nach einer Reform des Abtreibungs- treibung durch einen Arzt innerhalb der ersten drei paragraphen, wenngleich die Zahl von öffentlichen Schwangerschaftsmonate, der jedoch scheiterte.39 Verlautbarungen aus diesem Kreis eher klein Auch die Gesetzesnovelle von 1926 trug der immer blieb.43 Auch das Lager der weiblichen Ärzte war gespal- 36 Zur Wohnungsnot in den Arbeitervierteln der deut- ten. Am radikalsten war die Stellungnahme des schen Großstädte, aber auch in Klein- und Mittelstäd- ten vgl. Eckhof: Abtreibungsseuche (1987), S. 95–97. 40 Vgl. ebd., S. 101 f. 37 Eindrucksvolle Beispiele für diese Schicksale gibt 41 Die Leitsätze sind abgedruckt in Eckhof: Abtreibungs- Kienle: Frauen (1989), S. 99–103, 122–127, 127–130. seuche (1987), S. 135 f. 38 Zu Carola Jellinek vgl. Österreichisches Biographi- 42 Vgl. Eckhof: Abtreibungsseuche (1987), S. 120–122; sches Lexikon 1815–1950. Band 3. Wien 1965, S. 101. Dienel: Das 20. Jahrhundert (1993), S. 153–158. 39 Vgl. Eckhof: Abtreibungsseuche (1987), S. 105. 43 Vgl. Eckhof: Abtreibungsseuche (1987), S. 130–132.

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Deutschen Bundes für Mutterschutz und Sexualre- lebte sie zum Zeitpunkt dieser Aktivitäten bereits form,44 deren Mitglieder sich aus dem linken Flügel in Berlin.50 der Frauenbewegung rekrutierten. Ihm gehörten Die Zahl der Ärztinnen, die sich unter dem Ein- auch etliche Frauenärztinnen an, die sich der von druck der vielfach verzweifelten Lage der sie kon- Helene Stöcker45 propagierten „Neuen Ethik“ und sultierenden Arbeiterfrauen für eine Abschaffung „Neuen Sexualmoral“ anschlossen und auf dieser oder zumindest eine durchgreifende Reform des Basis in den zahlreichen Ehe- und Sexualbera- § 218 aussprachen, war prozentual zwar höher als tungsstellen engagierten.46 Der Bund für Mutter- die der männlichen Ärzte, aber insgesamt waren schutz forderte die völlige Straffreiheit der Abtrei- laut einer Umfrage des Jahres 1931 doch nur 21% bung und eine breite Aufklärung über die Möglich- dafür; mehr als die Hälfte sprach sich jedoch für keiten der Schwangerschaftsverhütung. die Anerkennung der sozialen Indikation aus.51 Ei- Demgegenüber war im BdÄ ein breites Spek- nen gewissen Sonderfall stellte dabei Berlin mit sei- trum von Überzeugungen vertreten, das von der nem hohen Anteil an Arbeiterfamilien in extrem Beibehaltung des überkommenen Gesetzes über beengten Lebensverhältnissen dar. 1930 machten die Anerkennung der medizinischen, sozialen und 356 Berliner Ärztinnen – von insgesamt 476 in Ber- eugenischen Indikation bis zur Abschaffung des lin tätigen –, die in ihrer täglichen Praxis besonders § 218 reichte. Diese gegensätzlichen Positionen mit der Not und dem Leiden der schwangeren wurden auch von weiblichen Mitgliedern der Frauen konfrontiert waren, eine Eingabe an den BGGF öffentlich vertreten. Während Ida Democh Strafrechtsausschuss des Reichstages, in der die den „Schutzparagraphen 218“ unbedingt bewahrt Straffreiheit für den Abbruch einer unerwünschten wissen wollte und auch die soziale Indikation Schwangerschaft gefordert wurde, wenn dieser scharf ablehnte,47 sprach sich Annemarie Durand- von einem/einer approbierten Arzt/Ärztin vorge- Wever, Mitbegründerin des „Überparteilichen nommen würde.52 Frauenbundes gegen den § 218 und für Reform der Diese Eingabe war auch eine Reaktion auf die in Sexualgesetzgebung“, für die Abschaffung des Para- diesen Jahren weiter steigende Zahl von Abtreibun- graphen aus,48 setzte sich aber zugleich für eine gen und Teil der anschwellenden öffentlichen Aus- bessere Konzeptionsverhütung ein;49 allerdings einandersetzung über den § 218, an der sich inzwi- schen alle relevanten Gruppierungen beteiligten. Einen besonderen Schub bekam die Bewegung 44 Die Erweiterung des Namens des Bundes für Mutter- noch dadurch, dass sich jetzt auch verstärkt füh- schutz erfolgte 1908. rende Literaten und andere Künstler zu Wort mel- 45 Zur Biographie: Wickert: Stöcker (1991); Hamel- deten und in Romanen, Theaterstücken und Ge- mann: Stöcker (1992). dichten sowie in aufrüttelnden Plakaten und Zei- 46 Im Zeitraum von 1919 bis 1932 wurden über 400 Ehe- und Sexualberatungsstellen in Deutschland ge- tungsartikeln die Ängste und Nöte von Frauen mit gründet, vgl. Brinkschulte: Stationen (2006), S. 105; ungewollter Schwangerschaft thematisierten.53 Zu nach Dienel: Das 20. Jahrhundert (1993), S. 149 nennen sind hier insbesondere Bertolt Brecht, Kurt wünschten zwei Fünftel der Frauen, die im Jahr 1925 Tucholsky, Alfred Döblin, Hans Fallada und Arnold in die Sexualberatungsstelle des Bundes für Mutter- Zweig. schutz in Frankfurt kamen, Beratung für eine Abtrei- Auch der Film nahm sich des Themas an.54 Pro- bung, drei Fünftel in Sachen Empfängnisverhütung. – „ “ Die Grundlage der „Neuen Ethik“ im Sinne Stöckers minentestes Beispiel war der Film Cyankali nach sollte das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ih- ren Körper und ihre Sexualität bilden, vgl. dazu Eck- 50 Vgl. die Kurzbiographie im Anhang dieses Bandes so- hof: Abtreibungsseuche (1987), S. 112, und Saatz: wie Buchin: Dokumentation web.fu-berlin.de/aeik/ Recht (1991), S. 51–54. HTML/rec00218c1.html (04.09.2012). 47 Vgl. ihre Erwiderung auf einen Aufsatz von Hermine 51 Diese und weitere Zahlen finden sich bei Dienel: Das Heusler-Edenhuizen, die 1931 unter dem Titel „Zu 20. Jahrhundert (1993), S. 160; Huerkamp: Bildungs- § 218 vom Standpunkt der Frau“ im Deutschen Ärzte- bürgerinnen (1996), S. 252 f., und Usborne: Ärztinnen blatt (S. 210 f.) erschien. (2002), S. 80. 48 Vgl. ihre Stellungnahme in: „Grundsätzliches zum 52 Von den weiblichen BGGF‑Mitgliedern hat Annema- § 218“ vom November 1931 (Der Abolitionist 30, rie Durand-Wever die Eingabe mit unterzeichnet, 1931, S. 81–83). vgl. Buchin: Dokumentation web.fu-berlin.de/aeik/ 49 So beispielsweise in ihrem Aufsatz „Die ärztlichen Er- HTML/rec00218c3.html (04.09.2012). fahrungen über medizinisch indizierte Konzeptions- 53 Vgl. hierzu Theesfeld: Abtreibungsdramen (2006); verhütung“ (Die Medizinische Welt 5, 1931, ferner Dienel: Das 20. Jahrhundert (1993), S. 166. S. 759,826 f.). 54 Vgl. hierzu Usborne: Cultures (2007), S. 31–41.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 54 Frauenärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem gleichnamigen Bühnenstück von Friedrich einer der ersten Ärztinnen für Frauen und Kinder in Wolf, der 1930 unter der Regie von Hans Tintner Franken, dargestellt.58 in Berlin uraufgeführt wurde.55 Er löste eine heftige und auf vielen Podien mit großer Leidenschaft ge- führte Diskussion über das Für und Wider des § 218 aus. Die ohnehin explosive Stimmung wurde Selma Graf: Ärztin für Frauen dann noch durch zwei weitere Ereignisse ange- und Kinder heizt, die unmittelbar aufeinander folgten: Die am 31. Dezember 1930 erschienene Enzyklika „Casti Selma Reichold wurde am 11. Juni 1887 in Nürn- Connubii“, in der Papst Pius XI. jede Form der Emp- berg in eine gut situierte jüdische Kaufmannsfami- fängnisverhütung ablehnte und Abtreibung grund- lie geboren und erlangte nach Privatstunden und sätzlich als Mord klassifizierte, und die Verhaftung Abiturprüfung am Alten Gymnasium Nürnberg die von Friedrich Wolf, KPD‑Mitglied und Arzt, der in Hochschulreife. Sie studierte ab 1908 in Erlangen59 Stuttgart eine Praxis für Homöopathie und Natur- und München Medizin und legte im Frühjahr 1913 heilkunde führte, sowie seiner ebenfalls in Stutt- als dritte Frau an der fränkischen Universität das gart tätigen Kollegin Else Kienle, die zwar eine Pra- Medizinische Staatsexamen ab.60 Ihre Promotion xis für Haut- und Harnleiden führte, aber nebenbei erfolgte ebenfalls hier im Juni 1913, und zwar mit eine viel besuchte Beratungsstelle für Geburtenre- einer Arbeit aus der Geburtshilfe.61 Im selben Jahr gelung und Sozialhygiene unterhielt. Beide waren erhielt sie auch ihre Approbation und absolvierte wegen gewerbsmäßiger Abtreibung angezeigt danach ihr Praktisches Jahr an der Erlanger Frauen- worden.56 klinik.62 Bereits im Mai 1913 hatte sie den Apothe- Die durch die Verhaftungen ausgelöste Agitati- ker Konrad Graf geheiratet und war kurz zuvor zum onswelle, die insbesondere von linken politischen katholischen Glauben übergetreten. Gruppierungen getragen wurde und als deren Hö- Im Juni 1914 ließ sich Selma Graf (Abbildung hepunkt eine Kundgebung von 15 000 Menschen 3.1) in Bamberg als praktische Ärztin für Frauen im Berliner Sportpalast stattfand, verebbte jedoch und Kinder nieder. Sie war hier neben 36 männli- relativ rasch. Der § 218 blieb unverändert bis 1933 chen Ärzten die einzige Ärztin und blieb es auch bestehen. Bemerkenswert ist jedoch, dass trotz bis 1938.63 Bis 1933 hatte ihre Praxis offenkundig steigender Abtreibungszahlen seit Mitte der recht großen Zulauf. Viele ihrer Patientinnen ka- 1920er Jahre eine gerichtliche Verfolgung nur men allerdings aus dem ländlichen Umfeld Bam- noch nach einem tödlichen Ausgang, einer schwe- bergs und gehörten eher den ärmeren Bevölke- ren Verletzung oder aufgrund einer Denunziation rungsschichten an, so dass ihr Einkommen ver- erfolgte und dass das Strafmaß dann zumeist sehr gleichsweise bescheiden war.64 Ab 1931 war sie gering ausfiel.57 Insofern hatte die öffentliche De- auch sportärztlich tätig und trat dem Deutschen batte offenbar zu einer allgemeinen Entschärfung Sportärztebund bei; ab 1933 führte sie ihre Praxis der Situation beigetragen, die manche Ärzte und als „Fachärztin für Frauen- und Kinderkrankhei- Ärztinnen ermutigen mochte, helfend einzugreifen, 58 wenn sie in ihrer Praxis mit dem Problem einer un- Zur Biographie von Selma Graf vgl. Franger: Regelstö- rung (2003); Wittern; Frewer: Aberkennungen erwünschten Schwangerschaft konfrontiert wur- (2008), S. 149–158. den. Dass dies jedoch nach der Machtergreifung 59 Im WS1908/1909 gab es insgesamt 11 Studentinnen durch die Nationalsozialisten verhängnisvolle Fol- in Erlangen; zu der zahlenmäßigen Entwicklung des gen haben konnte, sei abschließend an Selma Graf, Frauenstudiums an der Erlanger Universität in dieser frühen Zeit vgl. Lehmann: 90 Jahre (1993), S. 488– 490. 60 Vgl. Bleker; Schleiermacher: Ärztinnen (2000), S. 190. 55 Zum Inhalt des Stückes und Wolfs Auffassung von 61 Der Titel ihrer Dissertation lautet: Ueber die Adrena- den Aufgaben der Kunst vgl. Theesfeld: Abtreibungs- linämie in der Schwangerschaft. Sie wurde noch im dramen (2006), S. 208 f. gleichen Jahr in Bamberg gedruckt. 56 Zu Else Kienle vgl. vor allem Herrmann: Else Kienle 62 Die Zahl der Approbationen von Ärztinnen betrug (1993); Kienle: Frauen (1989). – Friedrich Wolf kam 1913 im Deutschen Reich 45, vgl. Bleker; Schleierma- bereits nach wenigen Tagen nach Zahlung einer Kau- cher: Ärztinnen (2000), S. 43. tion wieder frei, Else Kienle trat nach einigen Wochen 63 Vgl. Franger: Regelstörung (2003), S. 58. in Hungerstreik und wurde kurz darauf wegen Haft- 64 Nach Franger: Regelstörung (2003), S. 58 f., betrug ihr unfähigkeit entlassen. Einkommen im Jahr 1931 insgesamt 3747 Reichs- 57 Vgl. Usborne: Cultures (2007), S. 215 f. mark.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Frauenärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 55 ten“;65 Mitglied der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde war sie jedoch nicht.66 Schon während der Weimarer Zeit gab es in Bamberg, das eine der Hochburgen von Julius Strei- cher war, antisemitische Aktivitäten, die bisweilen auch zu Tätlichkeiten führten. Mit der Machtüber- nahme der Nationalsozialisten war auch Selma Graf, obwohl sie zum Katholizismus konvertiert war, von der Ausgrenzungspolitik gegenüber den jüdischen Ärzten und Ärztinnen betroffen, und aus Furcht vor Denunziation fanden nur noch wenige Patientinnen den Weg in ihre Praxis. Für die Frauenheilkunde allgemein und die Ge- burtshilfe im Besonderen bedeutete der politische Umschwung insofern einen entscheidenden Ein- schnitt, als das neue Regime die Abtreibung in den folgenden Jahren systematisch als bevölkerungspo- litisches Instrument einsetzte, das in zwei Richtun- gen wirken sollte: Als eugenische Zwangsmaßnah- me wurde sie zum einen als Mittel gegen die soge- nannte Aufzucht von „Erbkranken“ oder „rassisch Minderwertigen“ genutzt. Zum andern sollten ver- schärfte Kontrollen, die vor allem seit 1935 ver- stärkt durchgeführt wurden, die Abtreibung von Abb. 3.1 Selma Graf (1877–1942) (Quelle: Stadt- „arischen“ Kindern zum Schutz der „Lebenskraft archiv Nürnberg, E 39 Nr. 1154/4). des deutschen Volkes“ verhindern. Erlaubt war hier lediglich die „ärztlich gebotene Unterbre- duum in ihrer sozialen, wirtschaftlichen und psy- chung“, die durch ein Gutachterverfahren geneh- chischen Situation gänzlich unberücksichtigt blieb, migt werden musste.67 Erste Maßnahmen, die so- gleich nach der Machtübernahme durchgesetzt 67 Hierzu wurden im ganzen Reich „Gutachterstellen für wurden und den Bruch zur Weimarer Zeit beson- Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbar- machung aus gesundheitlichen Gründen bei der ders deutlich werden ließen, waren die Schließung Reichsärztekammer“ eingerichtet, vgl. Czarnowski: der vielen unterschiedlichen Beratungsstellen und Frauen (1993), S. 59–61. das Verbot aller Aktivitäten der Sexualreformbewe- 68 Nach der Schließung der Beratungsstellen, in denen gung,68 wodurch insbesondere auch die Beratung auch besonders viele Frauenärztinnen mitgearbeitet für Frauen über Verhütungsmittel untersagt wur- hatten, wurden etliche Mitarbeiterinnen und Mitar- de. Außerdem wurde die Weitergabe von Abtrei- beiter, die linken Gruppierungen angehörten, verhaf- tet; einige der exponierten Vertreterinnen der Re- bungsmitteln unter Strafe gestellt.69 Zudem wurde formideen, wie Helene Stöcker, Käte Frankenthal und im Oktober 1936 durch Sondererlass des Reichs- Hertha Riese, konnten sich der drohenden Verhaf- führers der SS, Heinrich Himmler, die „Reichszen- tung durch Emigration entziehen. Helene Stöcker trale zur Bekämpfung der Homosexualität und Ab- emigrierte im Februar 1933 zunächst in die Schweiz, treibung“ gegründet. 1940 nach Schweden und kam schließlich über die Diese Verschärfung der Abtreibungspolitik, vor Sowjetunion in die USA, wo sie 1943 starb. Hertha deren Hintergrund die schwangere Frau als Indivi- Riese, die seit 1924 Leiterin der Frankfurter Sozial- und Sexualberatungsstelle gewesen war, ging 1933 nach Frankreich und 1940 in die USA, vgl. Bleker; 65 Vgl. Bleker; Schleiermacher: Ärztinnen (2000), S. 253. Schleiermacher: Ärztinnen (2000), S. 285 f. Käte Fran- – Ob sie dafür nach der Einführung der Facharztord- kenthal, in der Weimarer Zeit Stadt- und Schulärztin, nung eine eigene Prüfung ablegen musste oder ob Kämpferin für Eheberatungsstellen und gegen den ihre bisherige Praxiserfahrung ausreichte, ist nicht § 218, emigrierte 1933 über die CSR, Frankreich und bekannt. die Schweiz 1936 in die USA, ebd., S. 248. 66 Vgl. die Mitgliederverzeichnisse der BGGF aus dem 69 Dies geschah durch Wiedereinführung der §§ 219 Januar 1929 und dem Dezember 1936 (handschrift- und 220 des Strafgesetzbuches in der Fassung von lich ergänzt 1939) im Archiv der BGGF. 1871, die 1926 weggefallen waren.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 56 Frauenärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Selma Graf zum Verhängnis. Im Juli 1938 heimlichen können.72 Die Mittel, die Selma Graf wurde sie unter der Anklage, seit 1928 „gewerbs- bei ihren Patientinnen einsetzte bzw. verschrieb, mäßige Abtreibung“ in etlichen Fällen durchge- dienten nach dem damaligen Kenntnisstand der führt zu haben, verhaftet und ein Jahr später vom Herbeiführung der Regelblutung73 und hatten Schwurgericht Bamberg zu sieben Jahren Zucht- auch in etlichen Fällen, soweit der Ausgang über- haus verurteilt.70 Die Verhandlung dauerte drei Ta- haupt dokumentiert ist, Erfolg. Mehrfach kam aber ge, einer der beiden Sachverständigen war Rudolf trotz der Behandlung später ein Kind zur Welt. Dyroff, der zu dem Zeitpunkt des Prozesses außer- Eine angemessene nachträgliche Beurteilung ordentlicher Professor für Geburtshilfe, Frauenheil- dessen, was in der Praxis von Selma Graf tatsäch- kunde und Röntgenkunde an der Erlanger Frauen- lich geschah und welches Ziel diese mit ihrer Be- klinik war.71 Grundlage des Verfahrens war Selma handlung im Einzelfall verfolgte, ist auf der Basis Grafs Patientenkartei aus dem Zeitraum von 1928 der erhaltenen Quellen schwierig. Da verschiedene bis 1935, in der nach Auffassung des Gerichts auf- Zeuginnen im Prozess darauf verwiesen, dass Dr. fallend viele Fälle unter der Diagnose „Regelstö- Graf im weiteren Umkreis von Bamberg offenkun- rung“ behandelt worden waren. Hinter den meis- dig bekannt dafür war, dass sie Frauen, die fürchte- ten dieser Regelstörungen habe, so lautete die An- ten, schwanger zu sein, „helfen würde“,74 und da klage, eine Schwangerschaft gestanden, die die sowohl aus ihrer polizeilichen Vernehmung als Ärztin durch verschiedene Maßnahmen zu unter- auch aus ihrem Schlusswort vor Gericht zu entneh- brechen versucht habe. Um dies zu erhärten, wur- men ist, dass sie nicht alle Frauen wegschickte, die den alle Fälle einzeln diskutiert, zu 17 Fällen wur- mit dem Ansinnen zur Abtreibung zu ihr kamen,75 den die betreffenden Patientinnen vernommen. ist aber davon auszugehen, dass Selma Graf tat- Von den insgesamt 44 Regelstörungen in der Kartei, sächlich in der Weimarer Zeit manchen Frauen die von Selma Graf behandelt wurden, fielen 38 in beim Ausbleiben der Regel zu deren Wiedereintritt die Jahre vor 1933, die übrigen sechs verteilten sich verholfen hat.76 Ihre Überzeugung, dass dies im auf die Jahre 1933 und 1935; und von diesen sechs Einklang mit ihrer Zeit gestanden habe, geht aus konnte der Angeklagten in drei Fällen kein schuld- ihren dem verhörenden Polizisten gegenüber ge- haftes Handeln nachgewiesen werden. äußerten Worten hervor, dass diese Praxis „im Bei den meisten Patientinnen, die Selma Graf 2. Reich üblich war“.77 Danach habe sie jedoch viele aufsuchten, war die „Regelstörung“ erst wenige Tage oder allenfalls Wochen alt; in diesen Fällen 72 UAE: A1/3a Nr. 946c, S. 18 f. konnte damals eine Schwangerschaft weder sicher 73 Dies waren Ferrovarial- und Agomensin-Tabletten, festgestellt noch ausgeschlossen werden. Dieser Apiol- und Aloe-Eisenpillen sowie Senfmehlbäder. Als mechanisches Mittel verwendete Graf einen Dila- Umstand wurde vom Gericht aber gegen die Ange- tator, mit dem sie nach eigener Aussage nur den klagte verwendet und als ein besonders raffiniertes äußeren Muttermund erweitern konnte und wollte; Vorgehen deklariert, weil sie auf diese Weise einen die Gutachter nahmen allerdings an, dass es sich bei Schwangerschaftsabbruch am ehesten hätte ver- den Dilatationen stets um die Erweiterung des gan- zen Halskanals und des inneren Muttermundes ge- handelt habe und dass diese ein probates Mittel sei, 70 Zu diesem Zeitpunkt war Selma Graf die Approbation um eine Schwangerschaft zu unterbrechen, vgl. UAE: aufgrund des § 1 der 4. Verordnung zum Reichsbür- A1/3a Nr. 946c, S. 6 f. gergesetz vom 25. 7.1938 entzogen. – Das Urteil des 74 Dies geht etwa aus folgendem Fall vom 6.5.1935 her- Schwurgerichts ist im Universitätsarchiv der Univer- vor: „Die Zeugin P. hat angegeben: Im Mai 1935 sei sität Erlangen-Nürnberg in Abschrift vorhanden: ihre Regel 2–3 Wochen über die Zeit ausgeblieben. UAE: A1/3a Nr. 946c, S. 1–78. – Eine ausführliche In- Ihr Ehemann, der in einer Fabrik in Schweinfurt ar- terpretation des Verhandlungsprotokolls mit dem beite, habe ihr daraufhin erzählt, er habe in der Fabrik Versuch, die medizinische Sachlage aus damaliger gehört, dass in Bamberg eine Frauenärztin sei, die ihr Sicht zu klären, findet sich in Franger: Regelstörung helfen könne.“ UAE: A1/3a Nr. 946c, S. 42. (2003), S. 59–67. 75 UAE: A1/3a Nr. 946c, S. 20 f. 71 Zu Dyroff vgl. Wittern: Professoren (1999), S. 33 f. Dy- 76 Dass sie sich vielfach durch die Frauen genötigt ge- roff war seit 1935 Mitglied in der SA, vgl. Beitrag von fühlt habe, zeigt ihre Äußerung, „es sei ihr selbst Annemarie Kinzelbach in diesem Band. Seit 1934 war sehr zuwider gewesen, daß die Frauen immer zu ihr er an den Zwangssterilisierungen in der Erlanger Kli- gekommen seien und geweint und gejammert hätten, nik beteiligt und seit 1943 war er auch in die Abtrei- daß sie wieder so daran seien, schon so und so viele bungen an den Zwangsarbeiterinnen involviert, vgl. Kinder hätten und sich in den oder jenen Verhältnis- Wittern; Frewer: Aberkennungen (2008), S. 152, sen befänden“, UAE: A1/3a Nr. 946c, S. 21. Anm. 16. 77 UAE: A1/3a Nr. 946c, S. 20.

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Frauen und Mädchen weggeschickt, „weil der jetzi- ten und Krankheiten eher verschleppten, als sich ge Staat ein anderes Geburtensystem wünscht“.78 der neuen, sachlich zwar geforderten, aber tradi- Obwohl also die größte Zahl der als Abtreibun- tionelle Tabus brechenden Arzt-Patientinnen-In- gen verdächtigten Behandlungen Selma Grafs vor teraktion auszuliefern. Diese Zurückhaltung galt der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter besonders bei den spezifischen Frauenleiden. anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bedin- Nachdem dann in den ersten Jahrzehnten des gungen stattgefunden hatte und die wenigen Ver- 20. Jahrhunderts immer mehr Ärztinnen, deren dachtsfälle unter dem neuen Regime in dessen ers- Wirkungskreis zunächst ausschließlich auf Frauen ten drei Jahren lagen, in denen nach neueren For- und Kinder beschränkt war, ihre Arbeit aufgenom- schungen die nationalsozialistische Strafpraxis men und etliche sich auch als Fachärztinnen für gegen Abtreibung noch nicht so rigide war, wie es Frauenheilkunde und Geburtshilfe niedergelassen die Theorie vorsah,79 wurde Selma Graf im Jahr hatten, wurden sie, die zumeist dem Bildungsbür- 1939 überaus hart zu sieben Jahren Zuchthaus und gertum entstammten, vielfach erstmals mit den Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, eben- Sorgen und Nöten der Frauen und Mädchen der Ar- falls für die Dauer von sieben Jahren, verurteilt.80 beiterklasse konfrontiert und entwickelten unter- Die unverhältnismäßige Höhe des Strafmaßes81 er- schiedlichste Initiativen zur Hilfe. Viele von ihnen klärt sich zweifellos durch die Tatsache, dass Selma engagierten sich in der breiten sozialmedizinischen Graf trotz ihrer Konversion zum Katholizismus Bewegung, die ihren Höhepunkt in der Weimarer nach nationalsozialistischer Definition als Jüdin Zeit erlebte, und trugen so in bedeutendem Maße galt.82 Bis 1942 blieb Selma Graf im Zuchthaus zur damaligen Gesundheitspolitik bei. Im Zentrum Aichach. Im Dezember 1942 wurde sie ins KZ standen dabei die vielfältigen Fürsorge- und Bera- Auschwitz deportiert, wo sie nach Mitteilung der tungsstellen um Schwangerschaft, Geburt, Säug- Gestapo Nürnberg am 31. Dezember 1942 an Grip- lingsfürsorge und Mutterschutz. Ein Problem, das pe verstarb. die anderen überragte und auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter in der Diskussion stand, wurde in diesen Jahrzehnten die zahlenmäßig sich ausbrei- Fazit tende willkürliche Schwangerschaftsunterbre- chung, welche die Öffentlichkeit tief beunruhigte Das tragische Schicksal der Frauenärztin Selma und die Gesellschaft in Befürworter und Gegner Graf ist Teil einer Entwicklung, die eine markante spaltete. Für die Frauenärztinnen (und Frauenärz- Phase in der Geschichte der Frauenheilkunde und te) war diese Situation eine besondere Herausfor- Geburtshilfe darstellt. In der zweiten Hälfte des derung, der sie je nach Weltanschauung unter- 19. Jahrhunderts hatte die Forderung der Frauen- schiedlich begegneten. bewegung nach Zulassung zum Medizinstudium den entscheidenden Schub durch die Erkenntnis erhalten, dass weibliche Patienten unter den Be- dingungen der naturwissenschaftlichen Medizin zunehmend den Weg zum männlichen Arzt scheu-

78 UAE: A1/3a Nr. 946c, S. 20. 79 Vgl. Usborne: Cultures (2007), S. 221 f. 80 Die Medizinische Fakultät entzog ihr aufgrund der Verurteilung und des Verlustes der bürgerlichen Eh- renrechte im Februar 1940 den Doktortitel, vgl. Wit- tern; Frewer (2008), S. 156 f. 81 Zum Vergleich sei der Fall eines ebenfalls in Erlangen promovierten praktischen Arztes herangezogen, der 1938 wegen 21 Verbrechen der gewerbsmäßigen Ab- treibung, von denen 14 in den Jahren 1933 bis 1937 erfolgten, zu nur zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Der Betreffende war seit 1930 Mitglied der NSDAP, vgl. dazu Wittern; Frewer (2008), S. 159–164. 82 Zu den scharfen und verleumderischen Reaktionen der Presse auf das Urteil gegen Selma Graf vgl. Fran- ger: Regelstörung (2003), S. 66 f.

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„Gestern habe ich zum letzten Mal ein Messer angefaßt!“ Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939

Wolfgang Frobenius

Einleitung berühmte Operateur habe ihm im Gespräch gesagt: „[…] ich muß es als tragisches Schicksal hinneh- „Ich erinnere mich noch heute der Erregung im men, daß meine Lebensarbeit, die Radikaloperation Saal, als die Vertreter der Freiburger Frauenklinik des Uteruskarzinoms, in dem Augenblick überholt ihren Vortrag […] beendet hatten. Alles diskutierte und unnütz gemacht wurde, wo ich sie unter vielen wild durcheinander. Ein sehr bekannter Operateur Mühen und unter sehr schmerzlichen Verlusten auf sprang auf, hochrot im Gesicht, und rief pathetisch: die Höhe der Ausbildung gebracht habe.“2 ‚Gestern habe ich zum letzten Mal ein Messer ange- An der Entwicklung der so viel versprechenden faßt!ʼ […] Würdige Herren umarmten sich. Ein Do- gynäkologischen Strahlentherapie, für die in den zent, der hinter mir saß, verkündigte feierlich: ‚Die Anfängen neben onkologischen auch viele Indika- Krebsgefahr ist gebannt, die Menschheit darf aufat- tionen zur Behandlung gutartiger Erkrankungen men.ʼ Noch nie hatte uns, so schien es, ein Mittel gesehen wurden, hatten die Direktoren der Univer- von so starker Zerstörungskraft auf Karzinomzellen sitätsfrauenkliniken München, Erlangen und Würz- zur Verfügung gestanden.“1 burg zusammen mit ihren Mitarbeitern in den ers- Die Beschreibung dieser Szene, die sich in den ten Dekaden des 20. Jahrhunderts erheblichen An- Memoiren des ehemaligen Berliner Ordinarius teil. Albert Döderlein (1860–1941), der Direktor Walter Stoeckel (1871–1961) findet, illustriert per- der Frauenklinik an der Münchner Maistraße, und fekt die Ausnahmesituation, in der sich die deut- Carl Joseph Gauß (1875–1957), der 1923 als schon schen Frauenärzte zu Beginn der zweiten Dekade renommierter Strahlentherapeut aus der oben er- des 20. Jahrhunderts fühlten: Nur rund eineinhalb wähnten Freiburger Klinik kommend die Würzbur- Jahrzehnte nach Etablierung der ersten Erfolg ver- ger Universitätsfrauenklinik übernahm, gehörten sprechenden Krebsoperationstechniken an der Ge- zu den Pionieren der ersten Stunde. Ludwig Seitz bärmutter schien sich auf der 15. Versammlung der (1872–1961), bis 1921 Direktor der Erlanger Klinik, Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie im Mai sowie sein Schüler und Nachfolger im Amt, Her- 1913 in Halle mit der eben erst entdeckten Strah- mann Wintz (1887–1947), begannen ab 1914 – ge- lentherapie eine Methode zu präsentieren, die tragen von der Dresdner Aufbruchsstimmung – in nicht nur einen weiteren Fortschritt, sondern eine enger Kooperation mit dem ortsansässigen Unter- Revolution in der Onkologie verhieß. nehmen Reiniger, Gebbert und Schall (später Sie- Der Wiener Ordinarius Ernst Wertheim (1864– mens) ein strahlentherapeutisches Forschungs- 1920), mit dessen Namen noch heute für viele und Behandlungszentrum von Rang zu etablieren.3 Fachgenossen die abdominale Radikaloperation Die Beiträge der genannten Wissenschaftler zur des von Krebs befallenen Uterus verbunden ist, Strahlentherapie, die in international beachteten zeigte sich von den in Halle präsentierten Ergebnis- Fachzeitschriften erschienen und in Handbüchern sen der Strahlentherapie bei dieser Erkrankung ihren Niederschlag fanden, wurden natürlich auch nicht weniger beeindruckt als seine Kollegen. Ernst auf den Kongressen der Bayerischen Gesellschaft Bumm (1858–1925), damals als ein Vorgänger Sto- für Geburtshilfe und Frauenheilkunde (BGGF) the- eckels Direktor der Berliner Universitätsfrauenkli- matisiert. Vorträge und Diskussionen dazu standen nik an der Artilleriestraße, berichtete später, der

2 Bumm: Eröffnungsrede (1920), S. 9–10 1 Stoeckel: Erinnerungen (1966), S. 212. 3 Siehe hierzu Frobenius: Röntgenstrahlen (2003).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 61 vom Gründungsjahr an bis zum Beginn des Zweiten voll, sich die Situation zu vergegenwärtigen, in der Weltkriegs in vielen Versammlungen auf der Tages- sich die Frauenheilkunde zu Beginn des Untersu- ordnung. Schon bei der konstituierenden Sitzung chungszeitraums befand.5 Wie oben angedeutet, am 28. Januar 1912 in Würzburg wurde über Rönt- hatten vor allem österreichische Frauenärzte im gentherapie vorgetragen und diskutiert, im weite- ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun- ren Verlauf beherrschte das Thema Strahlenthera- derts mit ihren Operationstechniken erstmals ein pie die Veranstaltungen von 1913, sowie – nach Instrument geschaffen, mit dem bösartige gynäko- der durch den Ersten Weltkrieg bedingten Pause – logische Erkrankungen kurativ angegangen wer- ab 1921 bis zum Anfang der 1930er Jahre. den konnten. Während vor 1878 beim Uteruskrebs Einen letzten Höhepunkt innerhalb des Zeit- nur konservatives Vorgehen mit rein palliativem raums bis zum Zweiten Weltkrieg, der hier etwas Charakter in Frage kam, wagte man von da an bis genauer betrachtet werden soll, stellte die Sitzung 1895 auf der Basis der von Wilhelm Alexander vom 12. Februar 1933 in München dar. An dieser Freund (1833–1917) und Vinzenz Czerny (1842– Veranstaltung, die dem Gedenken von Wilhelm 1916) vorgeschlagenen Verfahren bereits in etwa Conrad Röntgen (1845–1923) anlässlich seines 15% der Fälle eine Operation. Die erweiterten ab- 10. Todestages gewidmet war, beteiligte sich auch dominalen und vaginalen Eingriffe, die Ernst Wert- die zwei Jahre zuvor gegründete Bayerische Gesell- heim und (1849–1919) dann seit schaft für Röntgenologie und Radiologie4,diebe- der Jahrhundertwende in Wien auf der Basis der reits 1932 aus besonderem Anlass zu einer Arbeiten anderer speziell für das Zervixkarzinom BGGF‑Tagung hinzugebeten worden war. Auch da- etablierten, steigerten die Operabilität bis 1910 auf rauf wird noch zurückzukommen sein. 50% und mehr. Im Mittelpunkt des Interesses bei den BGGF‑Ta- Trotz aller Bemühungen blieb die Operations- gungen standen jeweils die neuesten Ergebnisse mortalität hoch: Wertheim vermochte sie in seiner der Behandlung mit Röntgenstrahlen bzw. Radio- besten Serie auf 9% zu drücken, im Durchschnitt nukliden. Sie sollten therapeutische Kernfragen je- starb von seinen ersten 500 Patientinnen etwa ner Zeit beantworten helfen: Kann die Strahlenthe- jede vierte. Schautas vaginale Operation erwies rapie die operative Behandlung tatsächlich erset- sich bei 445 krebskranken Frauen zwar als weniger zen? Ist die Therapie mit Röntgenstrahlen jener riskant, aber auch er verlor noch durchschnittlich mit Radium bzw. Mesothorium überlegen oder be- 8,9% durch die Operation. Immerhin erreichte dient man sich am besten der Kombination von Wertheim bis 1911 ein rezidivfreies Fünfjahres- beidem? Im Laufe der Jahre schoben sich jedoch Überleben für über 42% seiner primär erfolgreich auch andere Probleme in den Vordergrund – so operierten Patientinnen, bei Schauta waren es etwa die Diskussion über mögliche Fehlbildungen knapp 35%.6 bzw. Erbschäden bei Kindern von Müttern, die we- Die bis zum Beginn der zweiten Dekade des gen gutartigen Erkrankungen bestrahlt worden 20. Jahrhunderts mit der operativen Therapie er- waren. Dieses Problem entwickelte – wie sich zei- reichten Erfolge bei der Behandlung einer tödlichen gen wird – zunehmende Brisanz, so dass sich die Erkrankung wurden nach anfänglicher Skepsis der BGGF sogar gezwungen sah, 1932 mit einer Resolu- Methode gegenüber zunächst als eindrucksvoll tion von Tagungsteilnehmern dazu Stellung zu be- empfunden. Unter dem Einfluss der ersten Berichte ziehen. über die Ergebnisse der Strahlentherapie änderte sich dies aber wieder bis zu einem gewissen Grad: Angesichts der Möglichkeit, inoperable Patientin- nen mit Strahlen zu behandeln, betrachtete man Bis 1913: Dominanz operativer die Ergebnisse der Chirurgie nun auch unter dem Verfahren mit vielen Misserfolgen Aspekt der „Dauerheilungen“: Dabei wurde der Be- handlungserfolg auf alle beobachteten Fälle bezo- Bevor nun die BGGF‑Tagungen anhand der schrift- gen – also nicht nur auf die operierten (absolute lichen Tagungsberichte bis 1939 einer genaueren Heilungsziffer). So gesehen konnten sowohl Wert- Betrachtung unterzogen werden, erscheint es sinn- 5 Siehe hierzu ein detaillierter Überblick in Frobenius 4 Die Gesellschaft wurde 1931 in München gegründet. (Röntgenstrahlen), S. 13–99. Diesem Überblick wird Sie trägt jetzt den Namen Bayerische Röntgengesell- hier gefolgt. schaft (bayroe.de/hp438/Gruendungsaufruf.htm 6 Siehe hierzu Wertheim: Operation (1911) und Schau- (04.09.2012)). ta: Operation (1911).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 62 Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939

Abb. 4.1 Operationssaal der Erlanger Frauenklinik 1908 (Quelle: Archiv Frauenklinik Erlangen).

heim als auch Schauta nicht einmal jeder fünften Diese relativ hohe Morbidität und Mortalität der Krebspatientin wirksame Hilfe leisten. „Die Erfolge chirurgischen Behandlung war von einer weiteren der Chirurgie haben die Erwartungen enttäuscht“, Verfeinerung der Operationstechnik nicht ent- resümierte der Berliner Chirurg und Professor am scheidend zu beeinflussen. Wie wir heute wissen, Radiuminstitut der Charité, Anton Sticker, in einem bedurfte es wesentlicher Fortschritte in der Anäs- Bericht über die II. Internationale Konferenz für thesie und Intensivmedizin sowie in der Infektions- Krebsforschung, die 1913 in Brüssel stattfand.7 behandlung, um – beginnend in den fünfziger Jah- Auch prinzipiell gutartige Erkrankungen wie ren des 20. Jahrhunderts – den Anteil tödlicher Myome und hämorrhagische Metropathien wiesen Komplikationen etwa bei der Wertheim-Operation bei der Behandlung durch Hysterektomie in der in den Bereich unter einem Prozent abzusenken. ersten Dekade des 20. Jahrhunderts eine Mortalität Für die palliative Therapie bei den beklagenswer- zwischen 1,1 und 9% auf. Genauere Angaben über ten Opfern fortgeschrittener Karzinome hatten die die Morbidität, womöglich aufgeschlüsselt nach Erfolge im operativen Bereich zunächst überhaupt der genauen Indikation zur Operation, lassen sich keine Auswirkungen gehabt.9 für die Zeit vor 1910 in der Literatur kaum finden. Eine Übersicht hierzu gibt erst die 1920 veröffent- lichte Zusammenstellung von Arthur Giles. Er fand bei rund 3100 Eingriffen eine postoperative Kom- Beginn der Behandlung mit plikationsrate von über 13%, wobei Wundheilungs- Röntgenstrahlen und Radium und Blasenstörungen die wichtigste Rolle spielten. Außerdem kam es dieser Übersicht zufolge immer- Die Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) und hin bei etwa 1% der Patientinnen zu Verletzungen des Radiums (1898) sowie die rasch folgenden Hin- anderer Organe.8 weise darauf, dass damit womöglich bisher unge- ahnte therapeutische Möglichkeiten eröffnet wer-

7 Sticker: Strahlenbehandlung (1913), S. 451. 9 Zur Situation dieser Krebskranken Freund: Leben 8 Giles: Indications (1920), S. 13–21. (1913), S. 121–129.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 63 den könnten, begannen nach der Jahrhundertwen- Die bei der Veranstaltung geweckten Hoffnun- de Mediziner aller Fachrichtungen zu faszinieren. gen erwiesen sich in ihrer übersteigerten Form Abgesehen von Einzelfällen lag der Schwerpunkt zwar schon wenige Monate später als trügerisch. der radiotherapeutischen Versuche in den ersten Dennoch gilt der Kongress von Halle auch heute Jahren methodenbedingt vor allem im Bereich der- noch als Meilenstein in der Geschichte der gynäko- matologischer Erkrankungen. Etwa vom Jahr 1906 logischen Radiologie, weil von ihm wesentliche Im- an begann man, die aktinische Behandlung nach pulse für weitere Untersuchungen auf diesem For- ersten Erkenntnissen über ihre potentielle Tiefen- schungsgebiet ausgegangen sind. Dazu gehören si- wirkung auch bei gynäkologischen Erkrankungen cherlich auch die entsprechenden Aktivitäten der in größerem Umfang einzusetzen. Eine Indikation BGGF‑Mitglieder, die in der vorliegenden Arbeit hierfür stellten zunächst vor allem der Uterus myo- im Spiegel ihrer Kongresse betrachtet werden sol- matosus und die hämorrhagischen Metropathien len. dar. Bestrahlt wurde dabei in Deutschland anfäng- lich überwiegend mit Röntgenapparaten (Telethe- rapie), in Frankreich mit Radium (Brachytherapie). In Deutschland stand Radium damals kaum zur Technische Probleme Verfügung. Eine Therapie mit Radionukliden in bei der Strahlentherapie größerem Umfang wurde erst möglich, nachdem der Chemiker Otto Hahn (1879–1968) 1907 das Die in der ursprünglichen Versuchsanordnung ih- Mesothorium entdeckt hatte. res Erfinders entstehende Röntgenstrahlung war Im Jahr 1913 lagen zur radiotherapeutischen relativ wenig penetrationsfähig („weich“)sowie Behandlung von Myomen und Metrorrhagien be- qualitativ und quantitativ äußerst inkonstant. Ob- reits mehrere größere Studien vor. Als herausra- wohl für den medizinischen Gebrauch rasch spe- gend muss dabei eine Untersuchung der Freiburger zielle Röhren mit hohlspiegelartig geformten Ka- Frauenklinik bezeichnet werden, deren Ergebnisse thoden und metallischen Antikathoden („Targets“) von Gauß und Hermann Lembcke (1884–1975) konstruiert wurden, ließen sich in der Therapie zu- 1912 unter dem Titel „Röntgentiefentherapie – nächst nur oberflächlich wirksame Bestrahlungen ihre theoretischen Grundlagen, ihre praktische An- durchführen, deren Effekte auch wegen der fehlen- wendung und ihre klinischen Erfolge“ als Monogra- den Möglichkeit zu irgendeiner Form der Dosime- phie publiziert worden waren. In der Arbeit wird trie weitgehend unvorhersehbar waren. Als Folge nicht nur über die Behandlungsergebnisse bei 205 davon blieb die Behandlung nicht selten wirkungs- Patientinnen berichtet. Sie enthält auch einen aus- los oder es traten schwere Verbrennungen bei den führlichen experimentellen Teil, mit dem die Ent- Patientinnen auf. wicklung des methodischen Vorgehens begründet Die Schwankungen in der Strahlenqualität und wird, das nach Angaben der Autoren letztlich zu ei- ‑quantität der ersten Röntgenröhren erwiesen sich ner Erfolgsrate von 100% führte.10 als Folge des Konstruktionsprinzips: Es handelte Obwohl sich die Freiburger Frauenärzte zum sich um sogenannte Gasentladungsröhren, deren Zeitpunkt der genannten Publikation auch schon Evakuierung sich im Betrieb rasch änderte. Trotz seit mehreren Jahren mit der Röntgentiefenthera- vielfältiger Bemühungen mit allen möglichen tech- pie von gynäkologischen Malignomen befasst hat- nischen Tricks gelang es bis 1913 nicht, grundsätz- ten, wurde dieses Thema in der Monographie prak- lich Abhilfe zu schaffen. Einen gangbaren Weg zum tisch nicht erwähnt. Die Strahlenbehandlung von weitgehenden Ausgleich dieses konstruktionsbe- Uteruskrebsen entwickelte sich erst beim oben er- dingten Nachteils der Gasentladungsröhren fand wähnten Kongress der Deutschen Gesellschaft für erst 1916 Hermann Wintz mit seinem „Regenerier- Gynäkologie im Mai 1913 in Halle zu einem zentra- automaten“.11 Schon 1913 allerdings hatte der len Thema: Damals präsentierten die führenden Amerikaner William David Coolidge (1873–1975) Radiotherapeuten in der Gynäkologie – auch für eine Hochvakuum-Glühkathodenröhre beschrie- die Veranstalter überraschend – ihre neuen, vor- ben, bei der Röhrenstrom und Röhrenspannung läufigen Behandlungsergebnisse, die von der über- unabhängig voneinander geregelt werden konn- wiegenden Zahl der Kongressteilnehmer als so sen- ten.12 Sie wies damit die beschriebenen Nachteile sationell empfunden wurden.

11 Wintz: Regenerierung (1916), S. 382–383. 10 Gauß; Lembcke: Röntgentiefentherapie (1912). 12 Coolidge: Roentgen (1913–1914), S. 115–124.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 64 Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 der Gasentladungsröhre nicht auf und konnte sich len auf Zellen umso intensiver, je größer deren re- bis zur Mitte der zwanziger Jahre weitgehend produktive Aktivität ist, je länger ihre mitotischen durchsetzen. Phasen dauern und je weniger ihre Morphologie Trotz des beschriebenen grundsätzlichen Röh- und spezielle Funktion festgelegt sind. Etwa von renproblems war die Leistungsfähigkeit der Rönt- 1905 an mehrten sich auch die Hinweise darauf, gengeräte in der ersten Dekade des 20. Jahr- dass Röntgenstrahlen negative Auswirkungen auf hunderts kontinuierlich gesteigert worden. Neben beginnendes Leben haben können. 1910 präsen- verschiedenen Modifikationen an den Gasent- tierte der Bonner Gynäkologe Karl Reifferscheid ladungsröhren trugen Verbesserungen in der Gerä- (1874–1926) erstmals histologische Untersuchun- tetechnik dazu bei. So gelang es, die erforderlichen gen an menschlichen Ovarien, die Röntgenstrahlen Hochspannungsgeneratoren leistungsfähiger zu ausgesetzt gewesen waren. Er fand eine weitgehen- machen. Die Anfänge der Filtertechnik, mit deren de Zerstörung aller epithelialen Strukturen und Hilfe die Röntgenstrahlung für bestimmte thera- konstatierte, damit sei „für die zahlreichen klini- peutische Zwecke im Sinne einer Härtung in gewis- schen Erfolge bei der therapeutischen Verwendung sen Grenzen homogenisierbar wurde, ließen etwa von Röntgenstrahlen eine positive histologische ab 1904 erstmals auch die Bestrahlung tiefer gele- Grundlage“ gefunden worden.16 gener Organe ohne Überschreitung der Hauttole- Die Radiologen der ersten Stunde schätzten die ranzdosis zu. „Intensität des ausgestrahlten Lichtes“ u. a. danach Für die Entwicklung der Röntgentiefentherapie ab, wie eine – oft genug die eigene – in den Strah- spielten auch die frühen Untersuchungen zur Be- lengang gehaltene Hand auf einem Röntgenschirm strahlungstechnik eine Rolle. In diesem Zusam- abgebildet wurde. Aufschluss über die applizierte menhang sind vor allem die Bedeutung des Fokus- Dosis gaben nach einem mehr oder minder langen Haut-Abstandes (FHA) und die Benutzung mehre- Intervall das Behandlungsergebnis, nicht selten rer Strahleneinfallspforten (Kreuzfeuerbestrah- aber auch ein beträchtlicher Strahlenschaden. Die lung) zu nennen. So zeigte Friedrich Dessauer Entwicklung von Verfahren zur Ermittlung der (1881–1963) nach 1904 mit umfangreichen Mes- Strahlenqualität begann 1902, als der französische sungen am Modell, dass aufgrund des Abstands- Physiker Louis Benoist (geb. 1856) sein Radiochro- quadratgesetzes eine Homogenisierung der Rönt- mometer zur Differenzierung von zwölf Härtegra- genstrahlen in gewissen Grenzen auch durch eine den einer Strahlung vorstellte.17 Es basierte auf der Vergrößerung des FHA möglich ist.13 Für die Praxis unterschiedlichen Strahlentransparenz von Metall erlangte allerdings zunächst die „mehrstellige Fil- verschiedener Schichtdicke. ternahbestrahlung“ der Freiburger Klinik größere Die Quantität von Strahlen wurde zunächst vor Bedeutung, da die Bestrahlungsdauer nach dem allem mit chemischen Methoden ermittelt. Erwäh- Dessauerschen Prinzip wegen des enormen FHA nenswert sind hier das von Guido Holzknecht bei der damaligen Leistungsfähigkeit der Apparate (1872–1931) entwickelte Chromoradiometer, das 100 Stunden und mehr betrug. Radiometer X der Franzosen Raymond Sabouraud Erste biologische Grundlagen für die Röntgen- (1864–1938) und Henri Noiré (1878–1937) sowie tiefentherapie ergaben sich 1903, als der Radiologe das erstmals 1905 vorgestellte Quantimeter von Heinrich Ernst Albers-Schönberg (1865–1921) zei- Robert Kienböck (1871–1953), der wie Holzknecht gen konnte, dass sich männliche Kaninchen und zu den Pionieren der österreichischen Radiologie Meerschweinchen durch Röntgenstrahlen zumin- gehört.18 Erste Versuche, die ionisierende Wirkung dest temporär sterilisieren lassen.14 Diese Untersu- der Röntgenstrahlen zu quantifizieren und dadurch chungen wurden zwischen 1904 und 1906 von zuverlässigere Ergebnisse zu erreichen, fallen be- zwei französischen Wissenschaftlern erweitert. reits in die zweite Dekade nach der Jahrhundert- Aus ihren Beobachtungen zogen sie weitreichende Schlüsse, die als das „Gesetz von Bergonié und Tri- 15 Jean Bergonié (1857–1925) war Radiologe, Albert Tri- “ bondeau in die medizinische Literatur eingegan- bondeau Histologe. Siehe hierzu: Beck-Bornholdt: gen sind und denen heute noch von manchen Fach- Proliferationsrate (1997), S. 335–337 sowie den Le- leuten eine gewisse Bedeutung beigemessen serbrief dazu von Streffer: Proliferationsrate (1997), wird.15 Danach sind die Auswirkungen von Strah- S. 484. 16 Reifferscheid: Studien (1910), S. 593–597. 17 Benoist: Definition (1902), S. 225. 13 Dessauer: Anwendung (1907), S. 3. 18 Siehe hierzu Frobenius: Röntgenstrahlen (2003), 14 Albers-Schönberg: Wirkung (1903), S. 1959–1860. S. 49–54.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 65 wende. Für eine spezielle Dosimetrie bei der Appli- In der Diskussion wies Seitz darauf hin, dass die kation von Radionukliden sah man zunächst über- lange Behandlungsdauer ein Nachteil der Röntgen- haupt keine Notwendigkeit: Es genüge, die „biolo- therapie sei. Er bezog sich dabei auf einen Hinweis gische Leistungsfähigkeit“ der Präparate an der von Weber, wonach nicht alle Patientinnen die Haut zu ermitteln und dann nach Zeit zu dosieren, Therapie zum Abschluss gebracht hätten. Seitz sag- da das Radiumpräparat im Gegensatz zur Röntgen- te dazu, klinische Patientinnen verlören häufig röhre als konstante Strahlungsquelle anzusehen während der Behandlung die Geduld. Er führe da- sei.19 her die Bestrahlung nur bei den Frauen durch, die dies ausdrücklich wünschten. Auch könne die Be- handlungsdauer jetzt durch den Einsatz von neuen Konstituierende Sitzung 1912 Röntgengeräten und Aluminiumfiltern wesentlich verkürzt werden. Dieser Meinung schloss sich Os- in Würzburg: Myome standen kar Polano (1873–1934) an, der „harte Röhren, im Mittelpunkt starke Ströme und länger dauernde Belichtung“ propagierte. Dann führe die Behandlung auch bei Die Röntgentherapie führte schon auf der konstitu- Myomen in der Mehrzahl der Fälle zum Erfolg. Kri- ierenden Sitzung der BGGF am 28. Januar 1912 zu tische Anmerkungen grundsätzlicher Art kamen einer lebhaften Diskussion. Ausgangspunkt war von dem Nürnberger Frauenarzt Siegfried Flatau ein Referat von Franz Weber (1877–1933, Selbst- (1865–1926). Er wandte sich insbesondere gegen mord), dem späteren Direktor der II. Universitäts- die Behauptung, dass die Röntgenbestrahlung bei frauenklinik München, über die „Brauchbarkeit“ klimakterischen Blutungen das „denkbar einfachs- der neuen Behandlungsform in der Klinik von Dö- te Verfahren“ sei. Sie erfordere vielmehr eine übe- derlein bei einer Reihe von gynäkologischen Er- raus komplizierte Apparatur und die Technik sei krankungen. Dazu zählte Weber vor allem klimak- nicht leicht zu beherrschen. Ferner sei ein großer terische Blutungsstörungen, dysmenorrhoische Be- Aufwand an Zeit und Geld nötig, „was in der realen schwerden sowie Myome. Von den Patientinnen Welt der nicht staatlich-klinischen Tätigkeit ein mit den klimakterischen Blutungsstörungen hätten wichtiger Faktor ist“.21 mit einer einzigen Ausnahme alle als geheilt entlas- Kritisch setzte sich auch Gustav Klein (1862– sen werden können, sagte er. Der Misserfolg habe 1920), Leiter der Universitätspoliklinik für Frauen- sich bei einer 37-jährigen Frau gezeigt und sei ver- krankheiten und Geburtshilfe in München, mit der mutlich auf das noch relativ jugendliche Alter zu- Strahlentherapie der Myome auseinander. Bei der rückzuführen –„eine Tatsache, die ja in der in der zweiten Sitzung der BGGF am 7. Juli 1912 in der Jugend viel stärkeren Ovarialfunktion eine genü- bayerischen Landeshauptstadt bezog er sich in ei- gende Erklärung findet.“ nem Vortrag vor allem auf Äußerungen aus der Etwas komplizierter lägen die Dinge bei der Be- Freiburger Klinik, wonach es jetzt möglich sei, alle handlung von Myomen. Zum einen sei es nicht im- Myome mit Röntgenstrahlen zu heilen: „Zahlreiche mer sicher möglich, in diesen Fällen ein womöglich Gynäkologen, darunter auch ich, können [dem, WF] simultan aufgetretenes Korpuskarzinom auszu- nicht zustimmen.“ Klein wies dazu auf eigene schließen. Zum anderen könne die Frage nach Misserfolge hin. So sei es in einigen Fällen von sub- „einer Neigung günstig beeinflusster Myome zu mukösen Myomen nicht möglich gewesen, die Blu- späterer maligner Degeneration erst in Zukunft be- tungen hinreichend zu vermindern. Wegen „der antwortet werden.“ Ausfallerscheinungen bei Pa- zunehmenden Anämie und schwerer Herzdegene- tientinnen, bei denen durch die Bestrahlung eine ration“ hätte dann doch operiert werden müssen. Cessatio mensium erreicht worden sei, habe er nur Besondere Probleme sah Klein bei jungen Frauen in wenigen Fällen beobachtet. Insgesamt kam We- mit Myomen: ber, der kaum Zahlen nannte, zu dem Schluss, „Da die Röntgenstrahlen hauptsächlich, wenn „dass die Therapie der Myome bei älteren Frauen auch nicht ausschließlich, auf dem Weg über die sowie die Therapie der klimakterischen Blutungen und Beschwerden zu den glänzendsten Errungen- 20 Weber: Behandlung (1912), S. 769–771. Zum Selbst- schaften der Röntgentherapie zählen.“20 mord Webers siehe auch Dross (Juden) und Frobenius (Wiederbesetzung) in diesem Band. 21 Seitz; Polano; Flatau: Diskussionsbeiträge (1912), S. 772. Zum Schicksal von Polano siehe Kinzelbach 19 Siehe hierzu ebd., S. 62–63. (BGGF) in diesem Band.

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Ovarien wirken, geht es hier wie früher mit der so erklärte er, nun „aus dem Stadium der schüch- Kastration: Man hat die gesunden Ovarien entfernt, ternen Versuche herausgehoben“ und habe sich um den Tumor in der Bauchhöhle zurückzulassen. „zu einem äußerst wirkungsvollen Machtmittel Beim Röntgenisieren zerstört man die Ovarien, entwickelt“.Ihre„verständnisvolle Ausnützung“ welche noch wichtige Funktionen für das Allge- werde eine „tiefgreifende Umwälzung“ in der ge- meinbefinden haben, und konserviert zunächst samten, besonders der operativen Gynäkologie die Myome.“22 herbeiführen. „Noch aber gärt es in diesem neues- ten Zweig der Heilkunde, und es bedarf jetzt gerade wohl keine andere Frage so wie diese möglichst Die Sitzungen von 1913 vielseitiger Erörterung, damit wir aus den verschie- denartigen Beobachtungen und Erfahrungen das 1913, im Jahr des später als Meilenstein in der gy- beste Produkt herauskeltern können.“24 näkologischen Strahlentherapie bezeichneten Im Hinblick auf die technische Entwicklung der Dresdner Kongresses, hatten sich die Mitglieder Behandlung mit Röntgenstrahlen bezeichnete Dö- der BGGF schon im Februar in Nürnberg bei ihrer derlein „das Gespenst der Röntgenverbrennung“ ersten Sitzung des Jahres intensiv mit der Strahlen- als gebannt. Diese Komplikation, nicht nur der Ärz- therapie befasst. Im Mittelpunkt der Veranstaltung teschaft, sondern auch dem großen Publikum standen Berichte von Albert Döderlein und Ernst durch vielerlei in Zeitungen „fast unaufhörlich“ ab- von Seuffert (1879–1952) aus München. Döderlein, gehandelte Entschädigungsprozesse bekannt, sei der in diesen Wochen unermüdlich als Vortragen- durch die Berücksichtigung der Wirkung unter- der in Sachen Strahlentherapie unterwegs war schiedlicher Strahlenqualitäten auf die Haut und und gleichzeitig ausführlich publizierte, sprach die adäquate Filterung beherrschbar geworden. Al- über die Röntgentherapie bei Myom und Karzinom, lerdings bleibe die Anwendung der Röntgenthera- Seuffert über gynäkologische Röntgentherapie, pie eine so „verantwortungsvolle und vielgestaltige wobei er sich auch mit technischen Details ausei- Aufgabe, daß nur derjenige dieses Unternehmen nandersetzte. wagen darf, der sich mit allen diesen technischen Die Sitzungsberichte der BGGF verweisen zu und wissenschaftlichen Einzelheiten genauestens den Ausführungen der beiden Referenten auf in vertraut gemacht hat.“ Bei der Behandlung sei ein der Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkolo- Maß von Arbeit und Aufmerksamkeit nötig, wie gie und in der Strahlentherapie publizierte Arti- sie derzeit keine andere gynäkologische Therapie kel.23 Abgedruckt ist nur der einzige Diskussions- beanspruche.25 beitrag zum Thema, der von Seitz stammte und Döderlein beschäftigte sich dann mit der Tatsa- über erste Erfahrungen aus der Erlanger Klinik be- che, dass es kaum zwei Kliniken oder Röntgeninsti- richtete. Da davon ausgegangen werden kann, dass tute gebe, in denen „in ganz gleicher Weise“ gear- Döderlein und von Seuffert vor den Mitgliedern der beitet werde. Nun habe aber die von Gauß und Gesellschaft die wichtigsten Aspekte ihrer Veröf- Lembcke in Freiburg ausgearbeitete und publizierte fentlichungen darlegten, soll hier wenigstens auf Methode Klärung in vielen Streitfragen gebracht, die Ausführungen Döderleins eingegangen werden. das „unruhige Hin- und Herwogen der Anschauun- Der Münchner Klinikchef, dessen beeindruckende gen und Vorschläge“ beendet und das therapeuti- Persönlichkeit von seinen Zeitgenossen immer sche Handeln auf eine sichere Basis gestellt. In der wieder herausgestellt wurde, dürfte bei dem Kon- Münchner Klinik werde das Freiburger Verfahren, gress mit ähnlicher Wortgewalt und Überzeu- mit dem sich von Seuffert bei wiederholten dorti- gungskraft aufgetreten sein, wie sie sich in seinen gen Aufenthalten durch das „weitgehende Entge- schriftlichen Äußerungen widerspiegelt. Sie ver- genkommen der Herren Krönig und Gauß“ habe mitteln einen lebendigen Eindruck von der Situati- vertraut machen können, seit etwa einem Jahr an- on in der Strahlentherapie zu Beginn der zweiten gewandt. Bei exaktem Vorgehen nach der Freibur- Dekade des 20. Jahrhunderts. ger Methode ließen sich Krönigs Erfahrungen be- Aus den einleitenden Bemerkungen Döderleins stätigen, „der ja den viel angefeindeten Ausspruch ist der Stellenwert zu entnehmen, den er der Strah- getan hat, dass er in 100 pCt. Heilungen erzielen lentherapie Anfang des Jahres 1913 beimaß. Sie sei, konnte.“26

22 Klein: Myome (1912), S. 589–591. 24 Döderlein: Röntgenstrahlen (1912), S. 553. 23 Döderlein: Röntgenstrahlen (1912). Seuffert: (1913). 25 Ebd., S. 554–555.

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Döderlein präsentierte dazu 21 Fälle von Myom strahlung operiert hatte, „um nichts unversucht zu mit Anamnese, klinischem Befund, Art der Bestrah- lassen“ und um eine Histologie zu gewinnen. Die lung und Behandlungsergebnis. Dabei habe sich be- 47-jährige Frau war ursprünglich stark blutend, ab- stätigt, dass es mit der neuen Methode in viel kür- gemagert und mit stinkendem Ausfluss zur Be- zerer Zeit als früher, nicht selten sogar in einer ein- handlung gekommen. Bei der Untersuchung fand zigen Sitzung gelinge, eine komplette Amenorrhoe sich eine Portio mit großem Karzinomkrater, „der zu erzielen. Dies sei nicht nur wegen der Verkür- sich etwa bis in die Mitte des Corpus uteri hinauf zung der Behandlungszeit ein Gewinn. Damit erstreckte und weit auf die Scheide übergriff.“ Im könnten nun auch „ausgeblutete Frauen mit My- Bereich des rechten Parametriums zeigte sich ein omherzen oder Myokarditiden“ ohne zusätzliche bis an die Beckenwand reichendes, den Uterus ein- Gefährdung der Röntgentherapie unterzogen wer- mauerndes Infiltrat. Der „gänzlich inoperable Fall“ den. Kontraindikationen sah Döderlein nur noch wurde dann Döderlein zufolge vaginal mit Mesot- in der Kombination Myom/Karzinom, bei mit Ad- horium bestrahlt. Schon nach vier Wochen habe nextumoren vergesellschafteten Myomen sowie sich ein vollkommen gewandeltes klinisches Bild bei Frauen mit Sterilitätsproblemen durch Myome. gezeigt. Blutung und Ausfluss hätten „vollständig Auch sei es „keine Frage, dass die Strahlenbehand- nachgelassen“, die Zervix sei neu formiert gewe- lung bei jüngeren Frauen mit Myomen Nachteile sen, die Patientin habe an Gewicht zugenommen mit sich bringen kann.“27 und „hatte keinerlei Klagen mehr“. Im Zusammenhang mit der Behandlung von Bei der Untersuchung des Operationspräparates Malignomen durch Röntgenstrahlen wies Döder- bestätigte sich entsprechend dem klinischen Bild, lein auf die noch sehr inkonsistenten Erfahrungen dass die Karzinomzellen bis „in eine gewisse Tiefe“ hin. Einerseits seien aus der Vergangenheit viele vollständig verschwunden waren. Döderlein fol- vergebliche Therapieversuche bekannt geworden. gerte daraus, dass die therapeutische Wirkung der Andererseits habe Bumm Ende 1912 über einen Strahlen in diesem Fall noch nicht genügend in die Fall von fortgeschrittenem, inoperablem Zervixkar- Tiefe gedrungen war. Er sah mit diesem Befund, der zinom berichtet, in dem der Zustand der Patientin ihn zur Weiterbehandlung der Patientin veranlass- durch eine halbjährige Behandlung mit der „jetzi- te, zum einen die grundsätzliche Effektivität des gen, sich quantitativ und qualitativ von der frühe- Mesothoriums bestätigt. Zum anderen meinte er, ren wesentlich unterscheidenden Verabreichung die in diesem Fall noch nicht ausreichende Wir- von Röntgenstrahlen“ gebessert werden konnte. kung der Behandlung werde sich „nach allem, was Döderlein ließ allerdings keinen Zweifel daran, wir bei der Entwicklung der Tiefentherapie […] dass er Röntgenstrahlen für die Krebsbehandlung kennengelernt haben“, sicherlich noch steigern las- aus verschiedenen Gründen nicht als das Mittel sen. Daraus ergebe sich die praktische Folgerung, der ersten Wahl betrachtete. Schließlich erklärte „dass wir weitere Versuche zur ausschließlichen er: „Da kommt uns eine Entdeckung außerordent- Behandlung der Uteruskarzinome [mit Strahlen, lich gelegen, die berufen ist, die Radiotherapie in WF] mit allem Nachdruck aufnehmen dürfen.“29 denkbar einfacher Weise zu komplettieren […], Besonders spektakulär gestaltete sich die zweite das vom Radium abstammende […] Mesothori- Sitzung der BGGF des Jahres 1913, die im Dezem- um.“28 ber, also nach der Dresdner Veranstaltung, in Mün- Döderlein präsentierte dann sechs eigene Fälle, chen stattfand: Hier demonstrierte Döderlein den bei denen die Behandlung „teils in Kombination fast 70 Tagungsteilnehmern 24 Patientinnen mit mit Röntgenstrahlen, teils auch ohne solche“ weit- einem Uteruskarzinom, die in der Münchner Klinik gehend fortgeschritten bzw. abgeschlossen war. In mit Mesothorium behandelt worden waren und bei allen Fällen, die Döderlein später auch auf dem denen aktuell keinerlei Symptome mehr nachweis- Kongress in Dresden vorstellte, hatte sich zumin- bar waren. Im Sitzungsbericht ist vermerkt, dass dest eine deutliche Besserung des Befundes erge- diese Patientinnen von sämtlichen Anwesenden ben. Dabei diskutierte er die erste Patientin beson- untersucht werden konnten, um den Ärzten Gele- ders ausführlich, die er im Anschluss an die Be- genheit zu geben, sich mit eigenem Augenschein von den Erfolgen der Mesothorium-Behandlung zu 26 Ebd., S. 558. Bernhard Krönig (1863–1917) war von überzeugen.30 1904–1917 Direktor der Freiburger Universitätsfrau- enklinik. 27 Döderlein: Röntgenstrahlen (1912), S. 570. 29 Ebd., S. 583. 28 Ebd., S. 579. 30 Döderlein: Erfahrungen (1913), S. 512.

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In der Diskussion ergänzte Döderlein später, Interessant ist, dass Seitz hier bereits erstmals dass 1913 insgesamt 153 an einem Uteruskarzinom auf die Problematik der Lymphknotenmetastasie- erkrankte Frauen in die Münchner Klinik eingewie- rung für die Kontakttherapie mit Mesothorium sen worden seien. Davon seien 24 verstorben, 98 hinwies. Er bezog sich dabei auf zwei Patientinnen. noch in Behandlung und 31 aktuell ohne irgend- Bei einer von ihnen hatte er nach der Behandlung welche Krankheitserscheinungen. Die 24 demons- eines Zervixkarzinoms mit Mesothorium den Ute- trierten Patientinnen zählten den Angaben Döder- rus radikal exstirpiert. Dabei sei am Präparat kein leins zufolge zu den 31 asymptomatischen Frauen, Krebs mehr nachweisbar gewesen. Allerdings hät- die alle für diese Sitzung nach München eingeladen ten sich in zwei mit entfernten, an der Teilungsstel- worden waren. Allerdings hätten die fehlenden sie- le der Arteria iliaca gelegenen Lymphknoten „ganz ben trotz mehrfacher Bitten keine Notwendigkeit frische, unveränderte und lebensfähige Karzinom- gesehen, sich nochmals in der Klinik vorzustellen zellen“ gefunden. Im zweiten Fall habe ein weit und sich bei dieser Gelegenheit auch von mehreren fortgeschrittenes Korpuskarzinom zwar ganz aus- Ärzten untersuchen zu lassen.31 gezeichnet auf die Behandlung reagiert. Wenig spä- Ein weiterer Höhepunkt der Veranstaltung war ter sei jedoch eine ungewöhnlich rasch wachsende die Verabschiedung einer Resolution, mit der die Metastase im Bereich der Inguinalregion aufgetre- Politik zur Unterstützung bei der kostspieligen An- ten. „Diese Beobachtungen lassen die Frage nach schaffung ausreichender Mengen von Mesothori- der Beeinflussung weiter entfernt liegender Metas- um aufgefordert werden sollte. In der von Seitz ini- tasen in wenig günstigem Licht erscheinen, we- tiierten Erklärung, die von den 68 anwesenden Ärz- nigstens mit der bisher geübten Technik“, erklärte ten einstimmig angenommen wurde, heißt es, die Seitz.33 Tagungsteilnehmer seien überzeugt davon, „dass Die einzige kritische Stellungnahme kam von die Beschaffung solcher Stoffe von Seiten des Staa- Adolf Theilhaber (1854–1936), dem Leiter einer tes zum Fortsetzen der Forschung und im Interesse privaten Frauenklinik in München. Er bezog sich der Krebskranken eine dringende Notwendigkeit auf Untersuchungen von Wertheim und Schauta, ist“. Die Absicht des Kultusministeriums, noch in bei denen sich nach Radiumbehandlung bei der der laufenden Budgetperiode eine entsprechende Mehrzahl der behandelten Patientinnen in der Vorlage im Landtag einzubringen, werde daher Tiefe noch zum Teil unbeschädigte Krebszellen dankbar begrüßt. gefunden hätten. „Es ist deshalb einstweilen bei Zuvor hatten Joseph Albert Amann (1866– operablen Fällen das Messer der Behandlung mit 1919), der Direktor der II. Universitätsfrauenklinik radioaktiven Substanzen vorzuziehen“, erklärte München, und Seitz aus Erlangen über ihre Erfah- Theilhaber. Er wies ferner auf Komplikationen der rungen mit der neuen Behandlungsmethode be- Strahlentherapie hin. Zur Problematik der Beschaf- richtet. Auch von ihnen wurde der Effekt besonders fung von Radionukliden meinte Theilhaber, mit der hervorgehoben, der mit Mesothorium bei inoper- jetzt so wesentlich verbesserten Röntgentherapie ablen Patientinnen mit großen, jauchenden Krebs- ließe sich nun „mit recht geringen Mitteln“ häufig geschwüren zu erzielen war. Amann sagte, auch Annäherndes erreichen.34 Dem widersprach Ernst wenn bei sehr fortgeschrittenen Erkrankungen von Seuffert mit Hinweis auf die Erfahrungen mit nach Mesothorium keine Besserung der Erkran- der Röntgenbestrahlung von Karzinomen in der kung selbst gesehen werden konnte, so sei aber Berliner Universitätsfrauenklinik durch Ernst stets wenigstens eine deutliche Beeinflussung von Bumm. Die dort geübte Form der Röntgentherapie Jauchung und Blutung möglich gewesen. Seitz be- sei außerordentlich kompliziert und langwierig. schrieb die Effekte wie folgt: „[…] hörte die Blutung Auch bei der Betrachtung der Kosten ergebe sich und Jauchung alsbald auf, die Kranken nahmen an kein Vorteil für die Röntgentherapie, wenn man Gewicht zu, der Karzinomkörper verkleinerte sich den Aufwand für das Röntgenzimmer, die Appara- und schrumpfte schließlich zu einem überhäuteten te, den Strom und die Röhren sowie den enormen engen Kanal zusammen, genau so, wie wir es eben Zeitaufwand und das nötige Personal berücksich- bei den von Herrn Döderlein vorgestellten Fällen tige.35 durch Untersuchung feststellen konnten.“32

33 Seitz: Diskussionsbeitrag (1913), S. 517–518. 31 Döderlein: Schlusswort (1913), S. 526–527. 34 Theilhaber: Diskussionsbeitrag (1913), S. 513. 32 Amann: Resultate (1913), S. 514–516. 35 Seuffert: Diskussionsbeitrag (1913), S. 514.

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– gie zu der vielzitierten Arbeit der Freiburger Klinik 1914 1921: keine dokumentierten (1912) und zu der zusammenfassenden Darstel- Sitzungen, viel Forschung lung der Münchner Untersuchungen von Ernst von Seuffert (1917) eine Monographie mit dem Titel Der denkwürdige Dresdner Kongress im Oktober „Unsere Methode der Röntgen-Tiefentherapie und und die eben beschriebene Sitzung der BGGF im ihre Erfolge“38. Die wissenschaftliche Arbeit von Dezember 1913 sind die letzten dokumentierten Wintz fand eine öffentliche Anerkennung in der Veranstaltungen, auf denen die bayerischen Frau- Tatsache, dass er 1924 – zehn Jahre nach Beginn enärzte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und seiner Tätigkeit in Erlangen als Volontärassistent – seiner unmittelbaren Nachwehen die Möglichkeit zum Präsidenten der Deutschen Röntgengesell- hatten, sich auf Kongressen auszutauschen. Von schaft gewählt wurde. den zwei BGGF‑Sitzungen 1915 existieren keine Als Albert Döderlein am 30. Januar 1921 in Tagungsberichte. Die Versammlungen der Deut- Nürnberg die erste Nachkriegssitzung der BGGF lei- schen Gesellschaft für Gynäkologie wurden erst tete, standen deshalb Vorträge von Seitz und Wintz 1920 mit einem Kongress in Berlin, die Sitzungen sowie von Ernst von Seuffert im Mittelpunkt des der BGGF im Januar 1921 mit einer Veranstaltung Interesses. Die Erlanger berichteten dabei nicht in Nürnberg wieder aufgenommen. Die Klage des nur über die Bestrahlung von Uterus-, sondern ersten Nachkriegspräsidenten Ernst Bumm in sei- auch von Mammakarzinomen. Eine besondere Rol- ner Berliner Eröffnungsansprache, wonach der le spielte das von ihnen entwickelte Konzept des Krieg die Röntgenlaboratorien geleert und „auf lan- „Röntgen-Wertheim“, das 1919 erstmals publiziert ge Zeit stillgelegt“ habe,36 war allerdings nicht für worden war. Ausgehend von der Überlegung, dass alle Einrichtungen zutreffend: In Erlangen gelang die Strahlentherapie ebenso wie die operative The- es Seitz zusammen mit seinem auch technisch rapie das von Seitz schon bei der BGGF‑Sitzung von hoch begabten Schüler Hermann Wintz, bis zur 1913 angesprochene Problem des Lymphknoten- Wiederaufnahme der BGGF‑Sitzungen 1921 ein befalls in erheblicher Distanz zum Primärtumor be- strahlentherapeutisches Forschungs- und Behand- rücksichtigen müsse, hatten die Erlanger dafür eine lungszentrum von internationalem Rang aufzubau- neue Röntgen-Bestrahlungstechnik entwickelt. Sie en, das Mitte der 1920er Jahre der damals schon sah die Einbeziehung der pelvinen Lymphknoten traditionell hoch angesehenen Einrichtung der Dö- und der Parametrien vor und wurde als „aus- derleinschen Klinik vermutlich in nichts nachstand schließliche“ Röntgenbestrahlung apostrophiert.39 (Abbildungen 4.2 und 4.3).37 In der Sitzung präsentierten die Erlanger zu- Wissenschaftliche Kommunikation innerhalb nächst ihre gesammelten Fünfjahres-Ergebnisse Deutschlands blieb auch ohne die Kongresse mög- bei Patientinnen mit Zervixkarzinom, von denen lich, die der rasanten Entwicklung in der Radiolo- ein Teil noch kombiniert mit „kleinen Mengen Ra- gie jener Jahre durch die zeitlichen Intervalle zwi- dium“ behandelt wurde. Für die 58 Frauen ergab schen den Veranstaltungen ohnehin nur einge- sich insgesamt eine absolute Heilungsziffer von schränkt Rechnung tragen konnten. Wichtige 20,7%.40 Zur Differenzierung der Ergebnisse zwi- Träger dieser Kommunikation waren von Anfang schen Patientinnen, die ausschließlich bzw. vor- an auch die Zeitschriften gewesen, die wie die da- wiegend mit Röntgenstrahlen behandelt wurden, mals auch international hoch angesehene „Münch- ner Medizinische Wochenschrift“ (MMW) und das 38 Seitz; Wintz: Methode (1920). „Zentralblatt für Gynäkologie“ teilweise wöchent- 39 Wintz: Ergebnisse (1919), S. 101. Das Manuskript lich erschienen. Vor allem in diesen beiden Zeit- entstand auf der Basis eines Vortrages, den Wintz schriften, aber auch in der „Strahlentherapie“ und am 4. Oktober 1918 in Breslau hielt. In der Publikati- „ in der „Berliner Medizinischen Wochenschrift“, pu- on gebraucht Wintz den Terminus Röntgen-Wert- heim“ noch nicht, obwohl er das Konzept in extenso blizierten Seitz und Wintz die Ergebnisse ihrer Ar- beschreibt. Der Begriff findet sich erst später in einer beiten aus jenen Jahren zur Verbesserung der Rönt- von Seitz und Wintz gemeinsam 1919 in der MMW genröhren- und Apparatetechnik, zur Dosimetrie veröffentlichten Arbeit: Seitz; Wintz: Röntgenbe- sowie zur Optimierung der Bestrahlungsverfahren. strahlung (1919). 1920 veröffentlichten die Erlanger dann in Analo- 40 Die absolute Heilungsziffer ergibt sich aus der Ge- samtzahl der Patientinnen mit Zervixkarzinom. Dazu gehören auch Frauen, die zwar in der Klinik vor- 36 Bumm: Eröffnungsrede (1920). gestellt, aber dann nicht bestrahlt wurden (z. B. aus- 37 Siehe hierzu Frobenius: Röntgenstrahlen (2003). sichtslose Fälle oder Patientinnen, welche die vorge-

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Abb. 4.2 Forschungslabor von Hermann Wintz in der Erlanger Frauenklinik (Quelle: Archiv Frauenklinik Erlan- gen). erklärten sie, hier zeigten sich nach den zwei Jah- die für die Strahlentherapie besonders ungünstigen ren, über die verglichen werden konnte, kaum Un- Ausgangsvoraussetzungen berücksichtigt werden terschiede: Die Heilungsziffern betrügen 53% für müssten. So sei die Strahlenbehandlung durch die ausschließliche und 56% für die vorwiegende „den Zugang von ganz besonders ungünstigen Fäl- Röntgenbestrahlung. Die absolute Heilungsziffer len belastet und außerdem dadurch, dass manche von 20,7% für das Gesamtkollektiv sei „im allge- Kranke sich nicht allen […] erforderlichen Bestrah- meinen“ etwas höher als jene, die andernorts mit lungen unterzogen (ungenügend Bestrahlte).“ Von der ausschließlichen Radiumbehandlung erzielt den ungenügend bestrahlten Frauen, so die Refe- werde und stimme mit der mittleren absoluten renten, sei nach fünf Jahren keine mehr am Leben, Heilungsziffer nach der radikalen Wertheimschen von den genügend bestrahlten dagegen noch 20%. Operation überein.41 Außerdem handele es sich bei der Strahlentherapie Seitz und Wintz wiesen gleichzeitig darauf hin, im Gegensatz zur Operation um eine Methode, die dass beim Vergleich zwischen den Ergebnissen der noch in der Entwicklung sei. Strahlentherapie und der operativen Behandlung Erstmals wurde auch über Strahlentherapie bei Brustkrebs berichtet. Seitz und Wintz erklärten schlagene Bestrahlung ablehnten). Diese Begrifflich- dazu recht pauschal, von den 24 in ihrer Klinik pri- keiten wurden zur besseren Vergleichbarkeit der Be- mär bestrahlten Patientinnen mit Brustkrebs seien handlungsstatistiken eingeführt. Sie fanden aber erst nach bis zu vier Jahren „noch die meisten am Leben in der 1923 etablierten Form der „Winterschen Karzi- und gesund.“ Die Nachbestrahlung von operierten “ nomstatistik ihren allgemein akzeptierten Nieder- Patientinnen mit dieser Erkrankung habe ebenso schlag. wie die Nachbestrahlung von operierten Uterus- 41 Seitz, Ludwig; Wintz, Hermann: Erfahrungen (1921), S. 91–92. karzinomen die Rezidivrate sehr vermindert. Be-

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Abb. 4.3 Blick in das Röntgeninstitut der Erlanger Frauenklinik 1921 (Quelle: Archiv Frauenklinik Erlangen).

reits aufgetretene Rezidive, deren Röntgentherapie In der Publikation, auf die von Seuffert hinwies, in früheren Jahren wenig befriedigend gewesen sei, hatte er sehr ausführlich über die ungleich größe- könnten nach einer Umstellung der Technik auf ren Zahlen von Patientinnen berichtet, über die Fernfeldbestrahlung nunmehr weit besser behan- die Münchner vor allem aufgrund ihrer langen Er- delt werden.42 fahrungen in der ausschließlichen Strahlenbehand- Ernst von Seuffert konzentrierte sich in seinen lung von Karzinomen verfügten. In der Döderlein- Ausführungen auf die Behandlung gutartiger Er- schen Klinik wurden ja seit dem 1. Januar 1913 krankungen mit Röntgenstrahlen. Zur Therapie Patientinnen mit Krebserkrankungen des Gebär- von Malignomen verwies er auf eine ausführliche mutterhalses nur noch mit aktinischen Substanzen Veröffentlichung der Münchner Ergebnisse in der behandelt. Diese Form der ausschließlichen Mesot- Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. horium- bzw. Radiumtherapie von Malignomen Unmittelbar auf seine Vorredner eingehend, erklär- wurde erst von 1918 an in bestimmten Fällen mit te er aber ergänzend, die in München bei der der Röntgentherapie ergänzt.44 Zum Ende der De- Krebsbehandlung ausschließlich mit radioaktiven kade zu machte sich dann auch in der Döderlein- Substanzen erzielten Ergebnisse bestätigten, dass schen Klinik die Überzeugung breit, dass die ergän- mit beiden Verfahren – der ausschließlichen Rönt- zende Röntgentherapie möglicherweise die Be- gentherapie und der ausschließlichen Radium- handlungsergebnisse weiter verbessern konnte.45 bzw. Mesothorium-Behandlung – gleichwertige Er- Einer der Gründe für die primäre Zurückhaltung gebnisse erzielt werden könnten.43 der Münchner beim Einsatz der Röntgenbehand-

42 Ebd., S. 92–93. 44 Seuffert: Ergebnis (1920), S. 115. 43 Seuffert: Erfahrungen (1921), S. 95–96. 45 Ebd., S. 130.

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Abb. 4.4 Einstellen des suprasymphysären Feldes beim „Röntgen-Wertheim“ (Quelle: Archiv Frauenklinik Erlangen). lung zur Krebstherapie war rein praktischer Natur eines Myoms noch Symptome wie Kompressions- gewesen: Die in der Klinik vorhandenen Röntgen- erscheinungen, Ischurie oder Druckneuralgie als apparate waren – wie Döderlein schon 1912 fest- Kontraindikationen für die Bestrahlung zu betrach- stellte – mit den Bestrahlungen gutartiger Erkran- ten. „Besonders hervorheben möchte ich noch, daß kungen mehr als ausgelastet.46 wir bei keinem Fall der Strahlenbehandlung dieser Im Zusammenhang mit den Behandlungsergeb- nichtmalignen Prozesse jemals irgendwelche nen- nissen der Münchner Klinik bei gutartigen Erkran- nenswerte Schädigungen erlebt haben, vor allem kungen betonte von Seuffert bei der BGGF‑Tagung keine Hautschädigungen und ernstlichen Darmstö- – ohne Zahlen zu nennen – die wachsende Thera- rungen“, betonte von Seuffert.47 piesicherheit sowohl im Hinblick auf die erzielten In den Ausführungen des Münchner Strahlen- Behandlungseffekte als auch auf die Vermeidung therapeuten bei der Sitzung spielten auch die tem- von Komplikationen. So könne bei einfachen kli- poräre Strahlensterilisation bei jüngeren Frauen makterischen Blutungen unter allen Umständen und die damit verbundenen Risiken eine wichtige der volle Erfolg ohne jedes Risiko erreicht werden. Rolle. Auf dieses Thema, das die BGGF bis 1932 er- Ebenso sicher sei bei Myomen älterer Frauen eine heblich beschäftigte, wird später noch genauer ein- Amenorrhoe zu erzielen. Mit „leistungsfähigeren gegangen. Instrumentarien“ sowie entsprechender Technik In der Sitzung vom 26. November 1922 präsen- könnten auch symptomatische Myome „fast stets“ tierte erstmals die Würzburger Universitätsfrauen- zur Zufriedenheit der Patientinnen angegangen klinik Behandlungsergebnisse für Patientinnen mit werden. Jedenfalls seien aktuell weder die Größe 47 Seuffert: Erfahrungen (1921), S. 93–95, Hervorhe- 46 Döderlein: Röntgenstrahlen (1912), S. 578. bung im Original.

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Zervixkarzinom. Im Gegensatz zu anderen Kliniken einteilung unterschied je nach Ausmaß der Erkran- hatte man dort die Therapie je nach Stadium der kung vier Gruppen und korrespondierte in etwa Erkrankung nicht nur im Hinblick auf die Frage mit der erst 1929 festgelegten Klassifikation der „Operation vs. Strahlen“, sondern auch hinsichtlich Radiologischen Kommission des Völkerbundes, aus des Operationsverfahrens individualisiert. Wie der der später die FIGO‑Klassifikation hervorging.50 Referent, Walther Schmitt (1888–1931), mitteilte, Danach lag die optimale Heilungsziffer im genann- wurden unter 314 Patientinnen zwischen 1910 ten Zeitraum für das Stadium I (n = 43) bei 81%, für und 1919 die operablen Fälle (51,5%) je nach Stadi- das Stadium II (n = 50) bei 36% und für das Stadium um der Erkrankung („günstig“ vs. „ungünstig“)ent- III (n = 121) bei 10,4%. Für das Stadium IV wurden weder auf vaginalem oder auf abdominalem Weg keine Zahlen angegeben. Scholten betonte, dass behandelt. Bei inoperablen Frauen kam die Strah- diese Ergebnisse auf die ausschließliche Behand- lentherapie (Radium, Röntgen alleine oder in Kom- lung mit radioaktiven Substanzen zurückzuführen bination) zur Anwendung. seien.51 Bei den günstigeren Befunden, die vaginal ope- In der Diskussion wies Döderlein auf die beson- riert wurden (100 Fälle), betrug die fünfjährige dere Bedeutung der Darstellung der Behandlungs- Dauerheilung Schmitt zufolge 38,9%, bei den abdo- ergebnisse nach den einzelnen Gruppen hin. Nur minalen Wertheim-Operationen (50 Fälle) 31,3%. dann sei es möglich, die Wertigkeit der Strahlen- Für die Jahre zwischen 1910 und 1916 gab der Re- therapie gegenüber der Operation einzuschätzen. ferent auch eine absolute Heilungsrate für die ope- Mit den vorgelegten Zahlen könne die Münchner rierten Patientinnen an: Sie lag bei 20,2%. Bestrahlt Klinik belegen, dass die Strahlentherapie „in einer wurden in den Jahren zwischen 1913 und 1920 Reihe von Fällen“ auch eine Heilung bei inoperab- insgesamt 122 Frauen. 11,3% dieser inoperablen len Patientinnen bewirke. „Diese Fälle beweisen Patientinnen seien länger als fünf Jahre gesund ge- schlagend die qualitative Überlegenheit der Strah- blieben. Von den zwischen 1913 und 1916 insge- lenbehandlung über die operative“, erklärte Döder- samt behandelten 126 Patientinnen blieben 28 lein.52 Die Ergebnisse der Würzburger Klinik be- fünf Jahre und länger ohne erkennbares Rezidiv. zeichnete Döderlein wegen der dort vorgenomme- Die absolute Leistung der operativen und der nen individualisierten Indikationsstellung als Strahlentherapie lag den Angaben zufolge im ge- besonders bemerkenswert. Dadurch werde es nannten Zeitraum demnach bei 22,2%.48 möglich, die Wertigkeit der derzeit unterschiedli- Auch von der Döderleinschen Klinik wurden chen Behandlungsmöglichkeiten bei differenzie- den Tagungsteilnehmern neue Zahlen präsentiert. rendem Einsatz zu beurteilen. Er halte es für sehr Aus den von Gustav Scholten, dem späteren Chef wohl möglich, dass die weitere Entwicklung der der gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses gesamten Karzinombehandlung auf diesem Weg rechts der Isar, vorgelegten Daten ergaben sich In- fortschreite.53 August Mayer (1876–1968) aus Tü- formationen, die in dieser Weise bisher noch nicht bingen wies darauf hin, dass in seiner Klinik Patien- vermittelt worden waren: die „optimalen Hei- tinnen seit einigen Jahren präoperativ bestrahlt lungsziffern“ für zwischen 1913 und 1916 behan- würden. Dadurch gelinge es in Fällen, in denen die delte Frauen mit Zervixkarzinom, eingeteilt nach Karzinome verjaucht seien, dieses Infektionsrisiko klinisch ermittelten Stadien der Erkrankung.49 Un- zu beseitigen. So habe man die Mortalität wegen ter der „optimalen Heilungsziffer“ verstand man postoperativer Peritonitis von 10,9% auf 4,4% drü- Scholten zufolge die Ergebnisse bei Patientinnen, cken können. „Ich glaube also, daß auch dieser bei denen die geplante Behandlung in vollem Um- Weg des Versuches wert ist“, sagte Mayer.54 fang durchgeführt werden konnte, die sich also der In den folgenden Jahren standen weniger die Er- Therapie nicht vorzeitig entzogen hatten oder im gebnisse als vielmehr der Krebstherapie ganz allge- Verlauf aus verschiedenen Gründen von der Thera- mein assoziierte Themen im Fokus der BGGF‑Sit- pie ausgeschlossen werden mussten. Die Stadien- zungen, soweit das Thema überhaupt angespro- chen wurde. So zeigt sich auf dem Münchner 48 Schmitt: Behandlung (1922), S. 287–288. Bei der Be- trachtung dieser Zahlen ergibt sich eine gewisse Un- 50 Siehe hierzu im Überblick Frobenius (Röntgenstrah- sicherheit: Es fehlen die genauen Definitionen für Be- len), S. 282–284. griffe wie absolute Heilungsrate und absolute Leis- 51 Scholten: Heilerfolge (1922), S. 291–292. tung. Auch ist nicht klar, ab wann in Würzburg mit 52 Döderlein: Diskussionsbeitrag (1922), S. 292–293. der Strahlentherapie begonnen wurde. 53 Ebd. 49 Scholten: Heilerfolge (1922), S. 291. 54 Mayer: Diskussionsbeitrag (1922), S. 293.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 74 Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939

Abb. 4.5 Erste Maßnahmen des Strahlenschutzes an Röntgenröhren: „Wintz-Kanone“ um 1925 (Quelle: Ar- chiv Frauenklinik Erlangen).

Kongress im Mai 1924 das zunehmende Interesse lungsziffer nach Georg Winter (1856–1946) vorge- an Fragen des Strahlenschutzes. Friedrich Voltz nommen und diese Werte mit jenen für die Opera- (1891–1938), der von Döderlein zum Leiter seiner tion verglichen. Dabei fand er für die Strahlenabteilung berufene Physiker, sprach dazu ausschließliche Strahlentherapie Werte von 16,9% über eine Methode zur Abschirmung der Röntgen- (absolute Heilungsziffer) und 41,3% (relative Hei- röhren durch den Einbau in Bleikästen, die ein Aus- lungsziffer). Für die operative Behandlung lagen treten der Strahlung nur noch über die dazu vorge- die entsprechenden Zahlen bei 26% und 39,2%. sehene Blende zuließen (Abbildung 4.5).55 Ferner „Der Unterschied zwischen diesen Zahlen darf spielte die Frage möglicher Strahlenschäden bei nicht zugunsten der Operation verwertet werden, der Frucht eine Rolle, auf die hier später noch ein- denn das Material der Strahlenbehandlung trei- gegangen wird. Die Erlanger Klinik trat nun mit benden Kliniken ist schlechter“, erklärte Voltz. Neuerungen zur radiologischen Diagnostik hervor, Dies lasse sich durch den Vergleich der Operabili- mit der sich Dyroff und Wilhelm Flaskamp (1891– tätsziffern belegen. Die Überlegenheit der Strahlen- 1980) befassten.56 therapie ergebe sich ferner aus dem Fehlen einer Allerdings konnte Voltz 1925 in Nürnberg, als primären Mortalität sowie aus der Tatsache, dass Gauß erstmals den Vorsitz führte, eine große Sam- auch inoperable Karzinome in bestimmten Fällen melstatistik vorlegen, in der die Ergebnisse aller in damit heilbar seien.57 der Literatur auffindbaren Untersuchungen zur Der Physiker Voltz trat bereits zwei Jahre später, ausschließlichen Strahlentherapie des Zervixkarzi- 1927 in Nürnberg unter dem Vorsitz von Hermann noms zusammengefasst wurden. Voltz hatte für Wintz, erneut auf einem BGGF‑Kongress auf. Dies- diese Untersuchungen ohne Rücksicht auf Methode mal präsentierte er den Teilnehmern schon im Feb- und Technik der jeweiligen Behandler eine Berech- ruar die Ergebnisse zu 14 Jahren Strahlentherapie nung der gesamten absoluten und relativen Hei- 57 Voltz: Resultate (1925), S. 4. Die relative Heilungszif- fer berücksichtigt nur Patientinnen, die tatsächlich 55 Voltz: Bestrahlen (1924), S. 233–234. einer Behandlung unterzogen wurden. 56 Dyroff: Darstellung (1925), S. 351–353; Flaskamp: Dyroff: Darstellung (1925), S. 351–353; Flaskamp: Lymphgefäßdarstellung (1925), S. 353–355. Lymphgefäßdarstellung (1925), S. 353–355.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 75 der Karzinome in München, die Döderlein selbst weis auf vergleichbare Ergebnisse aus der interna- erst im darauffolgenden Juni beim Kongress der tionalen Literatur seinen Standpunkt, dass die Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie in Bonn Strahlentherapie für die Behandlung der Uterus- vorstellte. Zur Analyse der ermittelten Zahlen wur- karzinome das Verfahren der Wahl sei. Er bezog da- de zunächst betont, dass mit Einführung der Strah- bei auch die in Erlangen erzielten Ergebnisse ein, lentherapie die Zahl der in der Klinik mit stark fort- die an anderer Stelle vorgestellt worden waren.61 geschrittenen Erkrankungen vorgestellten Patien- Angesichts der Situation appellierte Döderlein an tinnen ganz erheblich zugenommen habe: Die die deutschen Gynäkologen, sich zur Strahlenthe- Operabilität der Zervixkarzinome sei deshalb nach rapie zu bekennen, wie dies in Frankreich und 1912 von 62% auf 20% abgesunken. Dies müsse bei Amerika längst geschehen sei.62 Bei derselben Sit- der Betrachtung der absoluten Heilziffer beachtet zung demonstrierte der von Gauß in Würzburg an- werden. Die Münchner wiesen in diesem Zusam- gestellte Röntgenphysiker Theodor Neeff (1898– menhang vor allem auf ihre Ergebnisse aus den 1940, gefallen) zwei Tabellen für die Dosierung Jahren von 1921 bis 1923 hin: Hier seien absolute von Radium einmal in Kombination mit Röntgen- Heilziffern von 23%, 34,3% und 35,6% erzielt wor- strahlen und einmal ohne, denen die von Wintz den. Sie führten diese Verbesserung, die wegen entwickelte Hauteinheitsdosis (HED) zugrunde des noch kurzen Beobachtungszeitraums noch lag.63 Wintz berichtete über die Ergebnisse einer nicht als endgültig betrachtet werden könnte, auf ersten größeren Serie von Röntgenbehandlungen die 1921 eingeführte Kombination der Radium- beim Mammakarzinom. Für diese nach seiner An- mit der Röntgentherapie sowie auf den Einsatz ei- sicht technisch besonders anspruchsvolle Behand- nes neuen Röntgenapparates zurück. 58 lung hatte er eine eigene Methode entwickelt und In der Diskussion beglückwünschte Gauß die 1924 in einer Monographie detailliert beschrie- Münchner zu ihren „geradezu glänzenden Heiler- ben.64 Behandelt worden waren seinem Bericht zu- folgen“ bei der Bestrahlung der gynäkologischen folge bis 1929 mehrere Hundert Patientinnen mit Karzinome. Die Voltzschen Zahlen seien geeignet, operablen, inoperablen und rezidivierenden Er- nicht nur die Berechtigung, sondern sogar die Ver- krankungen. Auf die Einzelheiten kann hier nicht pflichtung nachzuweisen, „daß der strahlentech- eingegangen werden.65 nisch ausgestattete Gynäkologe – aber auch nur Die BGGF‑Tagung vom Februar 1933 spielte in dieser! – seine Karzinompatientinnen bestrahlt.“ mehrerer Hinsicht eine besondere Rolle. Zum einen Dabei sei die kombinierte Radium-Röntgenbe- stellte sie – wie einleitend erwähnt – als Gedenksit- strahlung der alleinigen Röntgen- und der alleini- zung für den zehn Jahre zuvor verstorbenen Wil- gen Radiumbehandlung überlegen.59 Die Überle- helm Conrad Röntgen die letzte Schwerpunktver- genheit der Strahlentherapie gegenüber der Opera- anstaltung zur Strahlentherapie vor Beginn des tion wurde auch von Heinrich Eymer (1883–1965) Zweiten Weltkriegs dar, weil sich andere Themen betont, der als Ordinarius in Innsbruck an der Ta- in den Vordergrund schoben. Zum anderen deute- gung teilnahm und in seiner dortigen Klinik – wie ten sich hier erstmals auf einer BGGF‑Sitzung Ent- er sagte –„aus äußeren Gründen auf die Strahlen- wicklungen an, durch welche die Strahlentherapie therapie verzichten“ musste. Mit dem Hinweis auf von den Indikationen, aber auch von der prakti- seine „sicher günstige“ operative Mortalität bei schen Durchführung her auf längere Sicht wesent- Karzinomeingriffen von 4,5% erinnerte er daran, lich verändert werden sollte. Dazu gehörten die dass alle inoperablen Frauen von vornherein „auf Hinwendung zur protrahiert-fraktionierten Appli- die Verlustliste“ gesetzt werden müssten, während kation der Strahlendosen nach Henri Coutard gerade die in einzelnen Fällen gezeigte Heilung die- (1876–1950) und der Zweifel an der Berechtigung ser Erkrankten „die Leistungsfähigkeit der Strah- lentherapie auf das Schlagendste beweist.“60 61 Wintz: Ergebnisse (1925), S. 19–21. Diese Zahlen Auch in den folgenden Jahren bis 1933 wurden wurden auch in Radiology and Cancer publiziert. auf den Sitzungen immer wieder neue Statistiken 62 Döderlein: Strahlenbehandlung (1929), S. 168–169; mit verbesserten Ergebnissen der Strahlentherapie ebenso in Döderlein: Carcinombestrahlung (1929), präsentiert. 1929 bekräftigte Döderlein mit Hin- S. 2. 63 Zur HED siehe Frobenius: Röntgenstrahlen (2003), S. 184–189. 58 Döderlein: Strahlenbehandlung (1927), S. 138–140. 64 Wintz: Mammakarzinom (1924). 59 Gauß: Diskussionsbeitrag (1928), S. 150. 65 Wintz: Röntgenbehandlung (1929), S. 169–170. Zu 60 Eymer: Diskussionsbeitrag (1928), S. 150. Details auch Frobenius (2003), S. 291–297.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 76 Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 der Indikation zur Strahlentherapie bei Myomen chirurgischen Therapie zugeführt werden. Dies gel- und Metropathien. te auch für alle „jugendlichen Myomträgerinnen, Die zunehmende Kritik an der Behandlung gut- bei denen der Wunsch nach Erhaltung der Mens- artiger Erkrankungen mit der Strahlentherapie truation bzw. der Konzeptionsfähigkeit besteht“. wurde eher indirekt deutlich: Der Nürnberger Alle anderen Patientinnen könnten mit gleich Frauenarzt Richard Mandelbaum (geb. 1896),66 der großer Aussicht auf Erfolg durch Bestrahlung be- nur wenige Jahre später von den Nationalsozialis- handelt werden.69 ten zur Emigration gezwungen wurde, zitierte die- Im Zusammenhang mit der Strahlentherapie bei se Kritik einleitend im Zusammenhang mit der Vor- Malignomen des Uterus stellte Eymer, inzwischen stellung seiner Behandlungsergebnisse bei 170 Pa- nach Heidelberg berufen und dort noch Ordinarius, tientinnen, die an Myomen oder Metropathien die Behandlungsergebnisse der Klinik von 1913 bis litten. Er bezog sich dabei namentlich auf den 1927 vor. Für 587 Frauen mit Zervixkarzinom, die österreichischen Endokrinologen Bernhard in dieser Zeit den Rat der Klinik gesucht hätten, er- Aschner (1883–1960), der wie andere auch diesen gebe sich eine absolute Heilungszahl von 22,3%. Be- Eingriff als „besonders verhängnisvoll“ für den züglich der detaillierten Daten zur absoluten und weiblichen Organismus bezeichne und ihn deshalb relativen Leistungszahl sowie zu Mortalität und völlig ablehne. Mandelbaum konzedierte, dass es Strahlenschäden verwies er auf eine Publikation in sich bei den kastrierenden Bestrahlungen um einen der Zeitschrift „Strahlentherapie“.70 schwerwiegenden Eingriff handle. Er werde aber Substantiellere Informationen zur protrahiert- nur dann vorgenommen, wenn jede andere Thera- fraktionierten Strahlentherapie gab es interessan- pie fehlgeschlagen sei. Von seinen Patientinnen sei- terweise nicht in den Vorträgen, sondern eher bei- en 87% mit dem Therapieergebnis zufrieden.67 läufig in der ausgiebigen Diskussion dazu. Das aus- In der Diskussion erwies sich in diesem Punkt lösende Referat von Paul Schumacher (geb. 1896) vor allem Wintz noch als erklärter Anhänger der aus der Universitätsfrauenklinik Gießen zum The- Strahlentherapie bei Myomen. Er kritisierte ganz ma „Klinische Erfahrungen mit protrahiert-fraktio- im Gegenteil „die weitverbreitete Anschauung nierter Intensiv-Röntgenbestrahlung bei inoperab- […], nach der Myome und Metropathien erst dann len und rezidivierenden malignen Genitaltumoren der Strahlentherapie zugeführt werden sollen, und Mammakarzinomen“ bezog sich auf insgesamt wenn konservative Maßnahmen […] versagen.“ nur 45 sehr heterogene Fälle mit maximal zwei Jah- Das Hinausschieben der Bestrahlung sei aber nicht ren Nachbeobachtungszeit. Genauere Details zur nur zwecklos, sondern schädlich, sagte er. „Der Behandlung wurden nicht mitgeteilt. Von daher dauernde Blutverlust muß zu Anämien führen; blieb als Information vor allem mitzunehmen, dass das Myom wächst durch das Abwarten.“68 Heinrich diese Art der Behandlung eine erhöhte Belastung Guthmann (1893–1968) aus Frankfurt/Main, da- des Gesamtorganismus mit sich bringen könne, mals noch Oberarzt von Seitz, sprach sich dagegen wenn die Strahlendosen nicht an die neue Thera- für eine differenzierende Indikationsstellung aus, pieform angepasst würden. Um den zusätzlichen die einerseits die anatomische Situation berück- Risiken Rechnung zu tragen, müssten Allgemeinzu- sichtige, andererseits aber auch individuelle endo- stand und Blutbild der Patientinnen künftig genau- krine Aspekte einbeziehe: So sei bei großen Myo- er kontrolliert werden.71 men mit Komplikationen im Regelfall die Operati- In der Diskussion stellte sich heraus, dass Modi- on vorzuziehen, ebenso sollten Frauen mit fikationen der klassischen Strahlentherapie in eini- Neigung zu innersekretorischen Störungen, bei de- gen Kliniken bzw. Instituten schon länger zur An- nen die Ausfallerscheinungen nach Bestrahlung wendung kamen. So erklärte Guthmann, die Frank- wahrscheinlich sehr störend werden würden, der furter Klinik habe sich schon seit acht Jahren von der vor allem durch Wintz propagierten einzeiti- gen Bestrahlungstechnik abgewandt und bevorzu- 66 Richard Mandelbaum, der seit 1926 in Nürnberg als Frauenarzt niedergelassen war, gehört zu den jüdi- ge an ihrer Stelle die Bestrahlung mit geteilten Do- schen Medizinern und BGGF‑Mitgliedern, die im sen unter Beibehaltung der Gesamtdosis. Beobach- Dritten Reich verfolgt wurden und das Land verlassen tet würden dabei vor allem „zweifellos geringere mussten. 1936 bat er von New York aus um eine Be- stätigung seiner BGGF‑Mitgliedschaft: Archiv der BGGF (1912–1988), Korrespondenzen Dyroff. 69 Guthmann: Diskussionsbeitrag (1936), S. 315–316. 67 Mandelbaum: Fälle (1936), S. 308–311. 70 Eymer: Ergebnisse (1936), S. 319–320. 68 Wintz: Diskussionsbeitrag (1936), S. 317. 71 Schumacher: Erfahrungen (1936), S. 320–321.

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Nebenschädigungen und eine bessere Verträglich- und Hugo Sellheim (1871–1936) schon 1911 auf keit ohne ungünstigen Einfluss auf die Wirkung.“ entsprechende Risiken hin.74 Ebenso warnte der Erst in den letzten Jahren seien die Dosen etwas er- Radiologe Josef Wetterer in seinem berühmten höht worden. Was die Behandlung mit fraktionier- Handbuch zur Strahlentherapie von 1913 eindring- ten und erhöhten Dosen betreffe, so habe noch kei- lich: „Eine Schädigung der Frucht durch Röntgen- ne Klinik Erfahrungen, die den Forderungen nach strahlung ist durchaus möglich, und zwar schon einer fünfjährigen Nachbeobachtungszeit entsprä- durch kleine Dosen. Es sollte daher die Abdominal- chen. Auch wenn die bisherigen Beobachtungen gegend gravider Frauen unter keinen Umständen eine leichte Verbesserung der Ergebnisse zeigten, bestrahlt werden.“ Wetterer sprach sich deshalb so habe man doch noch keine Veranlassung, die auch gegen die damals praktizierte Abortinduktion Methode der fraktionierten Hochdosenbestrahlung mit Hilfe von Röntgenstrahlen aus. Bei einem Miss- als das Verfahren der Wahl zu bezeichnen.72 erfolg müsse mit der Geburt eines geschädigten Ernst Schehl (geb. 1900) aus der Gaußschen Kli- Kindes gerechnet werden, erklärte er.75 nik in Würzburg berichtete ebenfalls im Rahmen Ein anderes Problem stellte die Frage dar, wel- der Diskussion über 60 Patientinnen mit „fast che Folgen eine Bestrahlung der Ovarien für späte- durchweg inoperablem“ Zervixkarzinom, die seit re Schwangerschaften haben konnte. Durch die im 1930 nach der Methode von Coutard protrahiert- Untersuchungszeitraum zunehmend beliebtere fraktioniert mit einer kombinierten Radium- und und vielfach praktizierte temporäre Radiomeno- Röntgentherapie behandelt worden seien. Bei den lyse zur Therapie von sonst refraktären Blutungs- ersten 20 dieser Patientinnen betrage die Nachbe- störungen und Myomen bei prinzipiell konzep- obachtungszeit nun zwei Jahre. Schehl verglich sie tionsfähigen Frauen besaß diese Frage erhebliche mit 20 anderen Frauen mit ähnlichem Krankheits- Relevanz. Als sie in der ersten Sitzung nach dem bild, die kurzzeitig-fraktioniert und ebenfalls kom- Weltkrieg im Januar 1921 erstmals auf einer biniert behandelt worden waren. Bestrahlungs- BGGF‑Veranstaltung ausführlicher thematisiert technik und Dosierungen gab er genau an. Aus den wurde, schien sie eigentlich schon beantwortet: tabellarisch dargestellten Ergebnissen (zum Über- Ernst von Seuffert, der aus der I. Frauenklinik Mün- leben und zum klinischen Zustand im Verlauf nach chen über die Behandlung gutartiger gynäkologi- Jahren) könne trotz der kleinen Zahl der Schluss ge- scher Erkrankungen referierte, erklärte nämlich, zogen werden, dass die protrahiert-fraktionierte Befürchtungen einer Keimschädigung dürften Methode beim inoperablen Kollumkarzinom mehr „heute als vollständig widerlegt betrachtet wer- leiste. Nachteile seien die höheren Kosten bei län- den.“ Als Beweis führte er experimentelle Untersu- gerem Klinikaufenthalt und die schlechtere Ver- chungen von Ludwig Nürnberger (1884–1959) so- träglichkeit bei kachektischen Patientinnen.73 wie die „klinische Tatsache“ an, dass schon in zahl- reichen Fällen Frauen nach einer temporären Strahlenmenolyse gesunde Kinder bekommen hät- ten.76 Die Diskussion um genetische Seufferts Einschätzung der Sachlage sollte sich Schäden und teratogene Effekte allerdings als Irrtum herausstellen. Die Frage der Unbedenklichkeit der zeitweisen Ausschaltung der Die Diskussion um genetische Schäden und terato- Ovarialfunktion erwies sich in der Folge keines- gene Effekte der Strahlentherapie beschäftigte die wegs als eindeutig beantwortet, sondern beschäf- BGGF über Jahre. Hinweise auf teratogene Effekte tigte die Gesellschaft ganz im Gegenteil in zuneh- oder – wie man damals sagte – Frucht- bzw. Erb- mendem Maße. Zunächst hatte aber Walther schädigung durch die Strahlentherapie mehrten Schmitt aus Würzburg im Mai 1924 noch neun Fäl- sich in der wissenschaftlichen Literatur bereits seit le vorgestellt, in denen bestrahlte Frauen gesunden 1905. Allerdings ergab sich bei der Untersuchung Nachwuchs geboren hatten. Im Hinblick darauf so- von Fällen, in denen Schwangere akzidentell be- wie mit Hinweis auf die vorliegende Literatur be- strahlt worden waren, zunächst ein durchaus noch stätigte er die Einschätzung Seufferts, dass nach Be- widersprüchliches Bild. Dennoch wiesen unter den strahlung der Ovarien bei einer später eintretenden Gynäkologen Albert Döderlein, Carl Joseph Gauß

74 DGGG München 1911. 72 Guthmann: Diskussionsbeitrag II (1936), S. 326–327. 75 Wetterer: Handbuch (1913–1914), S. 295. 73 Schehl: Diskussionsbeitrag (1936), S. 325–326. 76 Seuffert: Erfahrungen (1921), S. 94.

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Schwangerschaft noch in keinem Fall „Störungen“ schädigte Kinder zu bezeichnen.“ Dyroff berichtete oder „Mißbildungen“ beobachtet worden seien. An von einigen eigenen einschlägigen Tierexperimen- der temporären Kastration könne daher festgehal- ten, bei denen er keinen geschädigten Nachwuchs ten werden. In der Diskussion mit wenigen Wort- gesehen habe. Emil Vogt aus Tübingen wies auf die meldungen verwies Rudolf Dyroff in dem einzigen Schwierigkeit hin, eine womöglich strahlenindu- unmittelbar themenrelevanten Beitrag auf 13 wei- zierte Retardierung bei Kindern nachzuweisen, die tere Fälle aus Erlangen, die ebenfalls ohne Auffällig- aus einer Amenorrhoe heraus geboren wurden.78 keit geblieben waren. 1930 waren die temporäre Radiomenolyse und Schon im darauffolgenden Jahr, 1925, veränder- ihre möglichen Folgen dann schon zu einem groß- te sich dieses Bild allerdings: Nun löste der Hinweis en Thema geworden, zu dem es bei der BGGF‑Ta- von Schmitt auf einen zuvor in Wien beim Deut- gung vier eingeladene Referenten gab, deren schen Gynäkologenkongress präsentierten Fall Beiträge anschließend in der Zeitschrift „Strahlen- eine lebhafte Debatte unter den BGGF‑Sitzungsteil- therapie“ abgedruckt werden sollten. Als erster nehmern aus. Dabei handelte es sich um einen „ty- sprach Wintz über die wissenschaftlichen und ex- pischen Mongoloiden“, den eine Frau zwei Jahre perimentellen Grundlagen der – wie er es nannte nach einer Bestrahlung wegen profuser Blutungen –„temporären Röntgenamenorrhöe“. Wintz beton- bei Uterus myomatosus geboren hatte. Schmitt sag- te, der Prozentsatz der Erfolge dieser Behandlung te dazu, zwar könne kein zwingender Zusammen- sei so groß, „dass sie […] mit allen anderen medizi- hang zwischen der Bestrahlung und dem Phänotyp nischen Techniken verglichen werden kann.“ Scha- des Kindes hergestellt werden. Es sei aber auch den für die Frauen gebe es nicht, da weder der nicht möglich, zu beweisen, dass sicher keine Stoffwechsel noch die Verfassung der Haut oder Strahlenschädigung vorliege. Die Würzburger Kli- das psychische Verhalten tangiert würden. Auch nik halte sich daher –„trotz inneren Zweifels“– träten bei anderen Drüsen der inneren Sekretion für verpflichtet, eine temporäre Strahlensterilisati- keine Störungen ein, das Geschlechtsleben bleibe on nur noch dann auszuführen, wenn aller Voraus- unbeeinflusst. „Wir sind also berechtigt, in der Me- sicht nach eine weitere Schwangerschaft nicht thode der temporären Röntgenamenorrhöe eine mehr zu erwarten sei. Von daher kämen bis auf wertvolle Bereicherung unserer Behandlungsmög- weiteres nur noch größere Myome sowie gonor- lichkeiten zu erblicken.“79 rhoische und tuberkulöse Adnexerkrankungen als Ludwig Nürnberger aus Halle (Saale) erklärte, Indikation in Frage.77 im Zusammenhang mit Keimschädigung durch In der Diskussion meldeten sich vor allem Erlan- Röntgenstrahlen müsse genau zwischen Früh- und ger zu Wort: Wilhelm Flaskamp erklärte, der er- Spätschädigung unterschieden werden. Unter wähnte Fall verdiene zweifellos „ernstliche Beach- Frühschädigung verstand er die akute Strahlenwir- tung“. Allerdings sollte er auch hinsichtlich erbbio- kung auf einen proliferierenden Follikel mit Eizelle logischer Komponenten überprüft werden. Sein bzw. auf einen Embryo, als Spätschädigung be- Chef Hermann Wintz glaube jedenfalls, „auf das zeichnete er die Manifestation eines Strahlenscha- hervorragende therapeutische Hilfsmittel […]bei dens an einer Frucht, die nach längerer Amenor- wohlbegründeter Indikationsstellung nicht ver- rhoe aus einem während der Bestrahlung ruhen- zichten zu können.“ Bei Myomträgerinnen sollte den Follikel entstanden war. „Die Möglichkeit unter Berücksichtigung der innersekretorischen einer Frühschädigung durch Röntgenstrahlen ist Genese die definitive Röntgenkastration durchge- allgemein anerkannt“, stellte Nürnberger fest. führt werden. Flaskamps Mitassistent Penzoldt Über das Vorkommen einer Spätschädigung gingen warnte mit dem Hinweis auf Mütter, die nach Be- die Ansichten dagegen noch auseinander. Trotz strahlung konzipiert hätten und deren Kinder jetzt neuerer experimenteller Befunde mit Drosophila heranwüchsen, dringend davor, fragliche Keim- melanogaster seien aber bisher alle Versuche miss- schädigungen vorschnell zu veröffentlichen. Er glückt, die Möglichkeit einer Spätschädigung zu kündigte genaue Richtlinien dazu an, was in diesen beweisen.80 Fällen als Mindestmaß an Anamnese und Befund Der Anatom Hermann Stieve (1886–1952), der erwartet werden müsse. Es sei nicht angängig, später in der NS‑Zeit skrupellos u.a. an den Eierstö- „blasse oder unterernährte Kinder röntgenvorbe- cken von hingerichteten Frauen Studien betrieb, re- handelter Frauen […] als pathologische, röntgenge-

78 Ebd., [Diskussionsbeiträge]. 77 Schmitt: Nachkommenschädigung (1925), S. 359 f. 79 Wintz: Grundlagen (1930), S. 2849.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 79 ferierte über Rückbildungserscheinungen an den stelle, „in denen mit späterer Nachkommenschaft Keimdrüsen. Zu den entsprechenden Phänomenen gerechnet werden muß und soll.“ Döderlein bezog an den Ovarien sagte er, sie liefen unabhängig von sich dabei nicht nur auf die bereits erwähnten Indi- den einwirkenden Noxen stets in gleicher Weise kationen, sondern führte auch schwerere Allge- ab: Zunächst gingen alle Eizellen in wachsenden meinerkrankungen an, bei denen die Frauen im Follikeln zugrunde; nur bei sehr gravierenden und Hinblick auf ihre „monatlichen Genitalfunktionen länger einwirkenden Faktoren würden auch die ru- nicht nur subjektiv außerordentlich leiden, son- henden Primärfollikel vernichtet. Von daher seien dern auch objektiv in ihren anderweitigen Erkran- die Ovarien nach weniger ausgeprägter Schädigung kungen auf das empfindlichste [sic] gefährdet in der Lage, ihre Funktion wieder aufzunehmen. sind.“ „Niemals konnte bisher festgestellt werden, daß Le- Im Zusammenhang mit den befürchteten bewesen, die infolge einer Keimdrüsenschädigung Fruchtschäden verwies Döderlein auf die Feststel- der angeführten Art für kürzere oder längere Zeit lungen von Nürnberger und Stieve. Sie ließen unfruchtbar waren, später mißgebildete oder „doch in ganz anderem Lichte“ erscheinen, inwie- krankhafte Nachkommen erzeugt haben.“81 weit die beim Menschen beobachteten Missbildun- Carl Joseph Gauß, einer der Erfinder der Metho- gen von Kindern früher Bestrahlter wirklich Strah- de, setzte sich zunächst mit den unterschiedlichen lenfolgen seien. Seine Erfahrungen wie auch die der Bezeichnungen auseinander. Die bisher gebräuchli- Würzburger und der Erlanger Klinik zeigten, dass chen Termini träfen zum Teil nicht den Kern der Sa- schon Hunderte von Kindern nach Bestrahlung zur che, seien falsch gebildet, ließen sich schwer aus- Welt gekommen seien, die, soweit sie bis jetzt sprechen oder erweckten eine „die Patientin ab- verfolgt werden konnten, nicht die geringste Strah- schreckende Vorstellung (‚Kastration‘).“ Gauß lenschädigung aufwiesen. Man dürfe nicht Experi- empfahl daher für die künftige Verwendung den mente an niederen, sich extrakorporal entwickeln- Begriff Menolyse. Nach Erörterung der Indikatio- den Tieren „gegen eine so ungeheuer bedeutungs- nen, Kontraindikationen und Heilerfolge ging er volle Therapiefrage beim Menschen immer wieder auch ausführlich auf Probleme ein. Verbrennungen, als Gespenst vorführen“, erklärte Döderlein.83 so erklärte er, könnten bei exakter Dosierung nicht Dass die BGGF‑Tagung von 1932 einen ganz be- mehr vorkommen. Auch eine ungewollte Dauer- sonderen Charakter haben würde, konnte sich den amenorrhoe lasse sich so weitgehend vermeiden. Mitgliedern schon frühzeitig durch die erste Einla- Vor jeder Behandlung müsse eine Schwangerschaft dung erschließen: „Bei der ungeheueren Bedeu- mit allen Mitteln der Diagnostik ausgeschlossen tung, die der Frage der temporären Röntgename- werden; werde sie erst nach der Bestrahlung ent- norrhoe infolge der neuesten Veröffentlichungen deckt, so sei mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer zukommt, hat der Vorstand es für zweckmäßig be- Fruchtschädigung die baldige Unterbrechung nötig. funden, dieses Thema als Hauptthema auf die Ta- Gauß riet zur Vermeidung der sogenannten Früh- gesordnung zu setzen. Es werden Referate von den schädigung dazu, in den fünf Monaten nach einer auf diesem Gebiet erfahrensten Autoren gehalten Bestrahlung eine Schwangerschaft unbedingt zu werden“, schrieb der seinerzeitige Vorsitzende, vermeiden.82 der Geheime Sanitätsrat August Beckh (1865– Albert Döderlein schließlich hielt in einer Art 1951) aus Nürnberg, am 12. Dezember 1931.84 zusammenfassendem Schlusswort noch einmal Zu den angesprochenen „neuesten Veröffentli- ein engagiertes Plädoyer für die temporäre Strah- chungen“ zählte eine „Entschließung der Deut- lenmenolyse. Die zeitweilige Ausschaltung von schen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft Ovarien und Menstruation erscheine ihm in nicht über die Frage der Keimschädigung durch Röntgen- wenigen Fällen als eine einzigartige Therapie, die strahlen und die Strahlentherapie“, von der die von nichts anderem erreicht werde und einen Mitglieder der BGGF ebenso wie andere Strahlen- großen Fortschritt gerade auch in den Fällen dar- therapeuten im September 1931 überrascht wor- den waren. In dem Papier, dem sich zwei Tage 80 Ebd., S. 2849 f. Nürnberger bezog sich dabei auf die nach seiner Verabschiedung auch die Deutsche Ge- Versuche des späteren Nobelpreisträgers (1946) Her- sellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) angeschlos- mann Josef Muller (1890–1967), der in Bestrahlungs- versuchen mit Drosophila melanogaster genetische Mutationen in den Keimzellen induzierte. 83 Döderlein: Diskussionsbeitrag (1930), S. 2855–2857. 81 Wintz: Grundlagen (1930), 2850 f. 84 Erste Einladung zur Tagung am 7. Februar 1932; Ar- 82 Gauß: Erfahrungen (1930), S. 2852–2854. chiv der BGGF.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 80 Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 sen hatte, wurde unmissverständlich vor der tem- Erbschäden hervorgerufen werden könnten, „da porären Radiomenolyse gewarnt: die Dosen bei zahlreichen Beckenaufnahmen, gera- „Die Mitglieder […] sind der Ansicht, daß die de beim Mann, nicht viel unter den Dosen der tem- Schädigung der Erbmasse durch Röntgenstrahlen porären Sterilisation liegen.“87 durch eine große Zahl exakter Experimente sicher- Paula Hertwig stellte in ihrem Beitrag zunächst gestellt ist. Sie halten es daher für ihre Pflicht, die den Stand der Forschung in der experimentellen deutsche Ärzteschaft eindringlich auf die Gefahren Genetik dar. Von daher sei bekannt, dass Radium- hinzuweisen, die der Nachkommenschaft durch und Röntgenstrahlen Erbänderungen oder Muta- Röntgenbestrahlung der Keimdrüsen, insbesonde- tionen auslösen könnten. Im Tier- und Pflanzen- re bei der sogenannten temporären Sterilisierung versuch erweise sich die Steigerung der Mutations- droht. Es handelt sich um Schädigungen der Erb- rate der Ionisationsrate als direkt proportional. masse, die unter Umständen erst nach Generatio- Eine Erhöhung sei bereits bei 100 r gesichert.88 „Es nen in Erscheinung treten.“85 gibt streng genommen keine untere Grenze der Auf der Tagung wollte die BGGF dieser Resoluti- mutationsauslösenden Wirkung der Bestrahlung, on entgegentreten. Dazu waren neun hochkarätige da die Mutationen anscheinend durch die Elektro- Referenten aufgeboten worden. Die Objektivität der nen bewirkt werden und von der Zahl der Elektro- wissenschaftlichen Auseinandersetzung sollte un- nen, die die Zellen passieren, abhängen“, betonte ter anderem dadurch demonstriert werden, dass Paula Hertwig. Sie wies ferner darauf hin, dass sich unter den Vortragenden zwei – wie es hieß – nach dem Kenntnisstand der Wissenschaft kein „führende Erbforscher“ befanden. Gemeint waren Grund erkennbar sei, Spermatogonien und Sper- die Berlinerin Paula Hertwig (1889–1983), die zu matozyten oder den Primärfollikeln (Oozyten) der den Begründerinnen der Strahlengenetik gezählt Säuger die Mutationsfähigkeit abzusprechen. Für wird, sowie der Münchner Rassenhygieniker Hans einen Beweis fehlten allerdings noch Versuche in Luxenburger (1894–1976). Dabei vertrat Hertwig ausreichendem Umfang an Säugetieren. Schon die den Standpunkt der Deutschen Gesellschaft für Möglichkeit einer Gefährdung des menschlichen Vererbungswissenschaft, Luxenburger sprach für Erbgutes genüge aber als Anlass, eindringlichst auf die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene. In die Risiken aufmerksam zu machen. Diese Erwä- den Formulierungen, die er bei seiner Darstellung gungen hätten die Deutsche Gesellschaft für Ver- benutzte, trat schon deutlich der Duktus hervor, erbungsforschung bewogen, ihre Warnung vor der später die Sprache der NS‑Eugeniker prägen „starken und vermeidbaren Bestrahlungen der sollte.86 Keimdrüsen in Form einer Entschließung auszu- Einleitend wies Wintz nochmals auf die Bedeu- sprechen.“89 tung der temporären Strahlenamenorrhoe für die Auch Hans Luxenburger erklärte, an den Ergeb- Frauenheilkunde hin. Es gebe eine ganze Reihe von nissen der experimentellen Forschung könne so Indikationen, bei denen die „zeitweise Ausschal- lange nicht vorbeigegangen werden, bis klar ge- tung der Menstruation einer Dauerausschaltung“ worden sei, ob der menschlichen Erbpathologie im vorzuziehen sei, sagte er. Gleichzeitig wiederholte Falle der Strahlenschädigung eine Sonderstellung er die Überzeugung, dass die „phänotypische, viel- eingeräumt werden könne. Aktuell sei es aber leicht auch genotypische Schädigung“ eines Kindes noch nicht einmal möglich, Vermutungen darüber – wenn überhaupt – nur bei der „Frühbefruchtung“ zu äußern, welche Strahlungsintensitäten eventu- möglich erscheine. Eine Stellungnahme zu der Ent- ell schon keimschädigend auf den Menschen wir- schließung der Erbforscher sei vor allem deshalb ken könnten. Auch das Problem der Früh- oder erforderlich, weil es „nicht ohne weiteres berech- Spätbefruchtung liege völlig im Dunkeln. Luxen- tigt erscheint, die 500 Kinder, geboren von Frauen burger versicherte, die Eugenik wolle der ärztli- nach temporärer Strahlenamenorrhoe, als erbge- chen Aktivität durchaus keine Schwierigkeiten be- schädigt zu bezeichnen.“ Ferner gehe es um die reiten. Sie habe aber „nicht nur das Entartete aus- Frage, ob auch durch diagnostische Maßnahmen 87 Wintz: Strahlenamenorrhoe (1932), S. 196–197. 85 Zitiert nach Nürnberger: Entschließung (1932), 88 Das „r“ war die Bezeichnung für „Internationales S. 202. Röntgen“. Die Einheit der Dosis betrug 100 r, was 86 Hans Luxenburger sprach 1934 auf einer „Kundge- 0,93 Gy entspricht. Zu historischen und aktuellen bung der deutschen Ärzteschaft“ in Fürth, auf der Strahlendosen im Vergleich siehe Willers et al.: Jahr- „Frankenführer“ Julius Streicher die Hauptrede hielt. hundert (1998), S. 54. Siehe den Beitrag von Dross, Juden, in diesem Band. 89 Hertwig: Grundlagen (1933), S. 197–198.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 81 zumerzen“, sondern müsse „allen Maßnahmen ge- früher geäußerte Auffassung, dass bei der Risikoab- genüber auf der Hut sein, die geeignet sein könn- schätzung für Erbschäden strikt zwischen der ten, zu der an sich schwer ausrottbaren, schon be- Früh- und der Spätbefruchtung unterschieden wer- stehenden Belastung neues Material für die Gegen- den müsse. Mit Hinweis auf die von Paula Hertwig auslese zu liefern.“ Deshalb könne die Eugenik ihre angeführten experimentellen Befunde erklärte er, Bedenken gegen die Bestrahlung der Keimdrüsen eine kritische Analyse zeige, dass diese Mutationen erst aufgeben, wenn der Nachweis ihrer Unbedenk- „so gut wie ausschließlich“ bei Frühbefruchtung lichkeit erbracht worden sei.90 beobachtet worden seien, also dann, wenn die Anschließend setzte sich in sehr detaillierter Keimzellen kurze Zeit nach der Bestrahlung be- Form Ludwig Nürnberger aus Sicht der Frauenärzte fruchtet worden seien. „In keiner einzigen der zahl- und Radiologen mit juristischen, allgemein reichen Arbeiten […] ist der Beweis erbracht wor- menschlichen und wissenschaftlichen Aspekten den, daß es eine Spätschädigung durch Röntgen- der Resolution auseinander. Zu den juristischen strahlen gibt.“ Nürnberger resümierte, die beiden Aspekten sagte Nürnberger, Ärzte müssten nun da- Gesellschaften hätten in ihrer Entschließung „einer mit rechnen, zivil- oder strafrechtlich haftbar ge- gefühlsmäßigen Antipathie gegen die temporäre macht zu werden, wenn einer Patientin nach einer Sterilisierung Ausdruck verliehen“ und dabei „den temporären Strahlenmenolyse „ein Kind mit ir- Boden der wissenschaftlich gesicherten Tatsachen gendwelchen Anomalien“ geboren werde. Darüber verlassen.“93 hinaus bestehe das Haftungsrisiko aber auch dann, Rudolf Dyroff (1893–1966) berichtete von ge- wenn es im Zusammenhang mit einer therapeuti- meinsamen Untersuchungen mit Wintz an Säuger- schen Bestrahlung zu einer akzidentellen Schwan- ovarien. Dabei habe sich eine abgestufte Reaktion gerschaft komme, da in der Resolution nicht nur auf Röntgenstrahlung ermitteln lassen: „Pri- auf Gefahren der temporären Sterilisierung, son- mordialeier erweisen sich als relativ strahlenresis- dern auch ganz allgemein auf die der Röntgenbe- tente Gebilde, die zu ihrer Schädigung erheblich strahlung der Keimdrüsen hingewiesen werde. höhere Strahlendosen benötigen als die anderen Nürnberger erklärte, es müsse deshalb nun davor Eistadien, die also bei Strahlenschädigung der übri- gewarnt werden, temporäre Menolysen durchzu- gen Eielemente ungeschädigt bleiben können.“ führen. Bei therapeutischen Bestrahlungen sei es Nach Ablauf einer temporären Menolyse würden erforderlich, sich von den Patientinnen und ihren aus dem Bestand ungeschädigte Primordialeier Ehemännern eine adäquate Aufklärung über die Ri- nachreifen. Ferner wies Dyroff auf physiologische siken der Frühbefruchtung bescheinigen zu las- Unterschiede zwischen der Eizellreifung bei Droso- sen.91 phila und bei Säugern hin. Bei den Fliegen würden Im Zusammenhang mit den allgemein mensch- Eizellen aus Oogonien nachproduziert, weibliche lichen Auswirkungen der Resolution wies Nürnber- Säuger kämen dagegen mit einem fertig gebildeten ger unter anderem auf die Situation von Eltern hin, Eivorrat in Form der Primordialeier zur Welt. Die deren Kind aus einer Schwangerschaft nach einer im Drosophila-Ovar vorhandenen Eielemente ent- Bestrahlung hervorgegangen sei. Bei diesen Eltern sprächen den Primordialeiern der Säuger weder müsse, wenn sie von der Resolution Kenntnis er- anatomisch noch biologisch, resümierte er. 94 hielten, mit einem „schweren psychischen Trauma“ In den übrigen Vorträgen wurde nochmals auf gerechnet werden. „Selbst wenn das Kind gesund Aspekte hingewiesen, die bei der BGGF‑Tagung und frisch ist, werden die Eltern, bei denen der Ver- 1930 bereits dargestellt worden waren. Schließlich dacht auf eine rezessive Keimschädigung einmal legte Albert Döderlein den Tagungsteilnehmern geweckt ist, vielleicht nie mehr dieses Kindes froh eine Resolution vor, in der die Deutsche Gesell- werden. Zeigt das Kind aber gar die geringste Auf- schaft für Vererbungswissenschaft und die Deut- fälligkeit, dann besteht die große Gefahr, dass die sche Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) Eltern in ihm ein geschädigtes und minderwertiges dazu aufgefordert wurden, ihre Entschließung aus Element der Gesellschaft erblicken.“92 dem Jahr 1931 zu überprüfen. Zur Begründung Im Hinblick auf die wissenschaftlichen Aspekte hieß es, die Entschließung der Erbforscher stütze der Resolution erneuerte Nürnberger die schon sich ausschließlich auf experimentelle Untersu- chungen an Tieren und Pflanzen. Die zugrunde ge- 90 Luxenburger: Strahlenamenorrhoe (1933), S. 198– 200. 91 Nürnberger: Entschließung (1933), S. 204. 93 Ebd., S. 208. 92 Ebd. 94 Dyroff: Ovarhistologie (1933), S. 209–211.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 82 Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 legten Versuchsbedingungen könnten weder quali- Früherkennung wird zum Thema tativ noch quantitativ mit den Bedingungen vergli- chen werden, unter denen Strahlen am Menschen Mit der Ernüchterung im Hinblick auf die Bedeu- angewendet werden. „Da also die Voraussetzungen tung der Strahlentherapie gingen Überlegungen für eine solche Entschließung fehlen, lehnen wir sie zur Verbesserung der Früherkennung einher, auf ab, zumal auch die bisher vorliegenden Beobach- die abschließend kurz eingegangen werden soll. In tungen am Säugetier und am Menschen dagegen diesem Zusammenhang stieß vor allem die bereits sprechen.“ Des Weiteren wurde auf die möglichen in den 1920er Jahren von Hans Hinselmann (1884– Folgen der Entschließung der Erbforscher hinge- 1959) inaugurierte Kolposkopie auf größeres Inte- wiesen. So hieß es, dadurch werde der „Bestand resse. Auf der BGGF‑Tagung 1933, in dem Jahr, in und die Weiterentwicklung der heute unentbehrli- dem Hinselmann seine Monographie zur Einfüh- chen und auch nicht zu ersetzenden diagnosti- rung in diese Technik publizierte,98 präsentierte Er- schen und therapeutischen Anwendung der Rönt- win Zweifel (1885–1949) ein von ihm konstruiertes genstrahlen im Bereich des männlichen und weib- einfaches Instrument für diese Technik, das kos- lichen Unterleibes“ aufs äußerste gefährdet. Für tengünstig zur Verbreitung der Kolposkopie beitra- den Arzt seien unabsehbare zivil- und strafrechtli- gen sollte. 1937 hielt der Hinselmann-Schüler Gus- che Auswirkungen zu erwarten.95 tav Mestwerdt (1910–1979) aus Jena dann einen Die Entschließung wurde von der Versammlung Vortrag über das „latente Portiokarzinom“,der mit einer Gegenstimme angenommen. In der fol- eine rege Diskussion unter den Tagungsteilneh- genden Debatte forderte August Mayer „die Herren mern auslöste. 1939 schließlich lud die Gesellschaft Erbforscher“ dazu auf, wenigstens vorerst zu erklä- den Königsberger Ordinarius Felix von Mikulicz- ren, dass die Verwendung von Röntgenstrahlen „in Radecki (1892–1966) zu einem Vortrag über „Er- keiner Weise als sittenwidrige Handlung“ betrach- fahrungen mit der Krebsreihenuntersuchung“ an tet werden könne. Es bestehe sonst die Gefahr, dass seiner Klinik ein. Bei dieser Gelegenheit präsentier- deren Resolution „ein Nagel zum Sarg der gesam- te auch der inzwischen nach Altona gewechselte ten Strahlenforschung wird, auf die wir Deutschen Mestwerdt Ergebnisse von 340 Kolposkopien bei mit Recht so stolz sein dürfen.“96 Wer von den An- asymptomatischen Frauen, die anlässlich der Vor- wesenden gegen die BGGF‑Entschließung ge- bereitung zur Zwangssterilisation untersucht wor- stimmt hatte, geht aus der Diskussion nicht hervor. den waren. Dabei hatte er in zwei Fällen ein Mikro- In den folgenden Sitzungen der BGGF bis zum karzinom entdeckt und die betroffenen Frauen va- Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde das Thema ginal hysterektomiert.99 erstaunlicherweise kaum noch berührt. 1933 bei der Veranstaltung zum 10. Todestag von Röntgen stand die onkologische Strahlentherapie im Mittel- Fazit punkt der Tagung, die Veranstaltung 1934 fiel wegen der Erkrankung und des Todes des Vorsit- In den ersten Dekaden nach der Gründung der zenden Oskar Polano aus und 1935 bildete die Ge- Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frau- burtshilfe zusammen mit den eugenischen Sterili- enheilkunde (BGGF) im Jahr 1912 hat die Entwick- sationen einen Schwerpunkt der Tagung. Erst lung der Strahlentherapie die Kongresse der Gesell- 1936 findet sich im Zusammenhang mit einer Dis- schaft stark geprägt. Dies ist einerseits darauf kussion über die Radiumtherapie von schweren zurückzuführen, dass einige der Pioniere und wis- Genitalblutungen folgende Bemerkung von Gauß: senschaftlichen Wegbereiter dieser neuen Behand- „Eine Radium-Schwachbestrahlung […] ist nach lungsform Mitglieder der Gesellschaft waren. Zu den heutigen Ansichten über die Gefahr einer nennen sind hier vor allem Albert Döderlein, Lud- Keimschädigung bei allen gebärfähigen Frauen wig Seitz und Hermann Wintz, später auch der ebensowenig statthaft wie die seit geraumer Zeit schon aus Freiburg wohlbekannte Carl Joseph als untragbar angesehene temporäre Strahlenme- Gauß. Ihre Arbeit wäre freilich nicht möglich gewe- nolyse.“97 sen ohne die Unterstützung durch Ernst von Seuf- fert sowie die Strahlenphysiker Friedrich Voltz (München), Walther Rump (Erlangen) und Theodor

95 Döderlein: Diskussionsbeitrag (1933), S. 215. 96 Mayer: Diskussionsbeitrag (1933), S. 219. 98 Hinselmann: Einführung (1933). 97 Gauß: Diskussionsbeitrag (1936), S. 359. 99 Mestwerdt: Portiokarzinom (1939), S. 1743.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 83

Neeff (Würzburg, später München). Andererseits und Teletherapie beim Zervixkarzinom kristalli- gab es Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur für sierten sich Anfang der 1920er Jahre heraus. Eine Mediziner kaum ein Thema, das derart faszinierte konsequente Umsetzung dieses Konzeptes verfolg- wie die Wirkungen von Radionukliden und Rönt- ten die Strahlentherapeuten in der Münchner Mai- genstrahlen. straße bereits ab 1921. Die Erlanger konnten sich Die Sitzungsberichte der BGGF vermitteln einen dazu zunächst nicht entschließen, obwohl dies zu- lebendigen Eindruck davon, welche klinischen Pro- mindest retrospektiv dem Konzept des Röntgen- bleme die Frauenheilkunde in jenen Jahren vor al- Wertheim am besten entsprochen hätte. lem beschäftigten: hohe Morbiditäts- und Mortali- Der anfängliche Verzicht auf Röntgenstrahlen tätsraten bei operativen Eingriffen trotz inzwi- für die Behandlung bösartiger Geschwülste in der schen schon gut entwickelter chirurgischer I. Münchner Universitätsfrauenklinik war nicht al- Technik, aber noch ohne differenzierte anästhesio- lein wissenschaftlich-medizinischen Überlegungen logische Begleitung und Antibiotika; schwer kon- geschuldet, sondern folgte auch den Sachzwängen, trollierbare, oft genug fatal anämisierende Blutun- die sich aus einer durch die Behandlung gutartiger gen bei ovarieller Dysfunktion und gutartigen Ute- Erkrankungen ausgelasteten Röntgenabteilung er- rustumoren ohne endokrine Therapieoption sowie gaben. In Erlangen war es wohl umgekehrt: Hier schließlich für Betroffene, Angehörige und oftmals bewirkten die besonders günstigen Voraussetzun- auch Ärzte kaum erträgliche Belastungssituationen gen für die Röntgenbehandlung, die enge Koopera- durch fortgeschrittene maligne Tumoren, aber tion mit der örtlichen Industrie und die Einrich- ohne adäquate palliative Behandlungsmöglichkei- tung einer militärischen Röntgenstation in der ten. Kein Wunder, dass schon die ersten auf den Frauenklinik im Ersten Weltkrieg eine zunächst BGGF‑Kongressen präsentierten Bestrahlungser- eher einseitige Ausrichtung in anderer Form. gebnisse an Einzelfällen sehr euphorisierend wirk- Die wissenschaftliche Debatte über die Strah- ten. lentherapie vollzog sich auf sehr unterschiedlichen Wie unglaublich das Verschwinden von verjau- Ebenen. Verantwortlich dafür war vor allem die chenden Tumorkratern angemutet haben mag, er- enorme Komplexität des Themas, die sich bei- schließt sich aus dem Entschluss Döderleins, diese spielsweise im physikalisch-technischen Bereich ersten Patientinnen auf einem BGGF‑Kongress vor- nur von relativ wenigen Ärzten, wie etwa dem zustellen mit dem Angebot der Nachuntersuchung auch mit einer physikalischen Arbeit promovierten an alle Tagungsteilnehmer. Dass die überwiegende Hermann Wintz, voll erfassen ließ. Von daher be- Mehrzahl der behandelten Frauen sich tatsächlich schränkte man sich in lokalen ärztlichen Vereinen dazu bereit erklärte, kann sicherlich als Ausdruck vor allem auf Werbung für die neue Behandlung. der Dankbarkeit für eine bis dahin unvorstellbare Bei den BGGF‑Sitzungen, aber auch in den Ver- Behandlung gewertet werden. Die Entschlossen- handlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynä- heit der Gesellschaft, den Ausbau der Strahlenbe- kologie, diskutierten Teilnehmer und Referenten handlung nach Kräften zu fördern, manifestierte über ihre Behandlungsergebnisse, in der Regel, sich in der Resolution vom Dezember 1913, mit ohne auf technische Details der einzelnen Verfah- der für die Bereitstellung der teuren Radionuklide ren näher einzugehen. Dies blieb vor allem radiolo- um Unterstützung durch die Politik geworben wur- gischen Kongressen vorbehalten, auf denen auch de. hochspezialisierte Frauenärzte wie etwa Wintz auf- Bemerkenswert erscheint die Konsequenz, mit traten. Ähnlich verhielt es sich mit den Publikatio- der Döderlein in der I. Münchner Frauenklinik ab nen zur Strahlentherapie. Ergebnisse und klinische Januar 1913 alle Patientinnen mit bösartigen gynä- Fragestellungen wurden in gynäkologischen Fach- kologischen Tumoren der kaum etablierten Strah- zeitschriften publiziert, technische Details vor al- lentherapie zuführte, obwohl er zu den besten lem in der „Strahlentherapie“ oder in den „Fort- Operateuren seiner Zeit gezählt wurde. Trotz seines schritten auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen“. unermüdlichen Werbens für die allgemeine Um- Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellte in den ers- stellung der Behandlung mochte ihm darin nur ein ten Dekaden des 20. Jahrhunderts die „Münchner Teil der Fachgenossen folgen. Andere entschieden Medizinische Wochenschrift“ dar, in der beispiels- sich – wie die Vertreter der Würzburger Universi- weise Wintz auch seine technischen Erfindungen tätsfrauenklinik – für ein differenzierteres Vorge- publizierte. Die bayerischen Ordinarien trugen die- hen, das sich an der Operabilität eines Tumors ori- ser Komplexität der Strahlentherapie frühzeitig in entierte. Die Vorteile der Kombination von Brachy- personeller Hinsicht Rechnung, indem sie u. a. die

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 84 Die Strahlentherapie auf den BGGF‑Tagungen von 1912 bis 1939 oben erwähnten Physiker für die Forschung und der Entschließung wurde eine eigene Resolution die Überwachung der Therapie einstellten. zur Rechtfertigung der bis dahin geübten Praxis In den Tagungsberichten der BGGF lässt sich gut entgegengesetzt. An dieser Stelle ist es interessant verfolgen, wie mit den Jahren die Ansprüche an die zu sehen, wie die politische Entwicklung eine Fra- Dokumentation der Behandlungsergebnisse zu- ge, der ursprünglich große Bedeutung beigemessen nahmen, um zu einer möglichst genauen Ver- worden war, offenbar innerhalb kürzester Zeit ge- gleichbarkeit der vor allem zu Beginn sehr unter- genstandslos machen konnte. Unter dem Gesichts- schiedlichen Verfahren zu gelangen. Zudem ging punkt der „Aufrassung“ hatte ein Therapieverfah- es natürlich auch immer um das Abschneiden ge- ren wie die temporäre Röntgenmenolyse anschei- genüber den operativen Verfahren, wobei die nend ohne weitere Diskussion keine Chance mehr Strahlentherapie ihre Anwendbarkeit bei inoper- – jenseits aller anderen Einwände, die man gegen ablen Befunden und in der Palliation als bedeuten- das Verfahren haben konnte. des Alleinstellungsmerkmal ins Feld führen konnte. Einen Meilenstein für die Ergebnisdokumentation stellte die Einführung der Kriterien der Winter- Literatur schen Karzinomstatistik im Jahr 1923 dar, der – mit gewissen Einschränkungen – von da an gefolgt Albers-Schönberg, Heinrich Ernst: Über eine bisher un- wurde. bekannte Wirkung der X‑Strahlen auf den Organis- Erstaunlich wenig Resonanz auf den BGGF‑Ta- mus der Tiere. In: Münchner medizinische Wochen- schrift 50 (1903), S. 1959–1960. gungen erfuhren wichtige Neuerungen in der Amann, Joseph Albert: Bisherige Resultate der Mesotho- Strahlentherapie, die nach 1928 auf den großen ra- riumbehandlung bei Uteruskarzinom in der Kgl. II. diologischen Kongressen die Diskussionen be- gynäkologischen Universitätsklinik. Monatsschrift stimmten: Die Abwendung von der einzeitigen Be- für Geburtshülfe und Gynäkologie 40 (1912), S. 514– strahlung zugunsten der protrahiert-fraktionierten 516. Methode nach Coutard und die Einführung inter- Beck-Bornholdt, Hans-Peter; et al.: Proliferationsrate und Strahlenempfindlichkeit. Der Irrtum von Bergo- national anerkannter Dosiseinheiten für die appli- nié und Tribondeu. In: Strahlentherapie und Onkolo- zierte Strahlung. Obwohl sich beispielsweise Wintz gie 173 (1997), S. 335–337. auf radiologischen Kongressen an den Diskussio- Benoist, Louis: Experimental definition of various types nen zum Für und Wider der protrahiert-fraktio- of X‑rays by the radiochrommator. In: Comptes Ren- nierten Therapie beteiligte, blieb das Thema bei dus de l'Académie des Sciences 134 (1902), S. 225. den BGGF‑Sitzungen bis zum Zweiten Weltkrieg in Bumm, Ernst: [Eröffnungsrede]. In: Hans Ludwig (Hrsg.): Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts- den Referaten von untergeordneter Bedeutung. Es hilfe. Die Reden. Eröffnungsansprachen zu den Kon- erlangte lediglich in Diskussionen eine gewisse Re- gressen der Gesellschaft 1886–1998. Zusammenge- levanz, als sich herausstellte, dass das neue Verfah- stellt und mit kurzen Einleitungen versehen von Pro- ren doch zumindest in einigen Kliniken getestet fessor Dr. Hans Ludwig, Basel. Heidelberg, Berlin wurde. Stellungnahmen von Döderlein, Gauß und 1999, S. 94–96. Wintz zur protrahiert-fraktionierten Strahlenthe- Coolidge: William David: A powerful Roentgen ray tube rapie vor dem BGGF‑Auditorium sucht man aber with a pure electron discharge. In: American Journal of Roentgenology 1 (1913–1914), S. 115–124. vergeblich. Dessauer, Friedrich: Eine neue Anwendung der Röntgen- Allerdings drängte sich gegen Ende der 1920er strahlen. In: Verhandlungen der deutschen Physikali- Jahre ein anderes Thema in den Vordergrund, von schen Gesellschaft 9 (1907), S. 3. dem pessimistische Zeitgenossen fürchteten, es Döderlein, Albert: Röntgenstrahlen und Mesothorium in könne womöglich die ganze Ära der Strahlenbe- der gynäkologischen Therapie, insbesondere bei Ute- handlung und ‑diagnostik abrupt beenden: die Fra- ruskarzinom. In: Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie 37 (1913), S. 553–593. ge der Frucht- bzw. Erbschädigung. Sie erhielt ganz Döderlein, Albert: Meine weiteren Erfahrungen über die besondere Brisanz durch die erwähnte Entschließ- Mesothorium-Behandlung des Karzinoms (mit Kran- ung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswis- kendemonstrationen). In: Monatsschrift für Geburts- senschaft und der Deutschen Gesellschaft für Ras- hülfe und Gynäkologie 40 (1914), S. 512–528. senhygiene (Eugenik) von 1931, in der insbesonde- Döderlein, Albert: [Schlusswort der Diskussion]. In: re vor der beliebten temporären Röntgenmenolyse Bayerische Gesellschaft für Geburtshülfe und Frauen- krankheiten. Sitzung am 7. Dezember 1913 in Mün- zur Behandlung von Blutungsstörungen und Myo- chen. In: Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynä- ‑ men gewarnt wurde. Bei der BGGF Tagung 1932 kologie 40 (1914), S. 526–528. kam es zu einer lebhaften Debatte darüber und

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Döderlein, Albert: 14 Jahre Strahlenbehandlung des Ute- Giles, Arthur: Indications and results of myomectomy ruscarcinoms. In: Verhandlungen der Deutschen Ge- for uterine fibroids. Proceedings of the Royal Society sellschaft für Gynäkologie. In: Archiv für Gynäkologie of Medicine 16 (1920), S. 13–21. 132 (1927), S. 138–140. Guthmann, Heinrich: [Diskussionsbeitrag I]. In: Bayeri- Döderlein, Albert: Carcinombestrahlung. Klinische Wo- sche Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheil- chenschrift 8 (1929), S. 2. kunde. Sitzung am 12. Februar 1933 in München. In: Döderlein, Albert: Ergebnisse der Strahlenbehandlung Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie 95 der weiblichen Genitalkarzinome. In: Monatsschrift (1933), S. 315–316. für Geburtshülfe und Gynäkologie 85 (1929), S. 168– Guthmann, Heinrich: [Diskussionsbeitrag II]. In: Bayeri- 169. sche Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheil- Döderlein, Gustav: [Diskussionsbeitrag]: In: Bayerische kunde. Sitzung am 12. Februar 1933 in München. In: Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie 95 Sitzung am 26. November 1922 in Nürnberg. In: Mo- (1933), S. 326–327. natsschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie 63 Hertwig, Paula: Die genetischen Grundlagen der Erbän- (1922), S. 292–294. derung. In: Zentralblatt für Gynäkologie 57 (1933), Döderlein, Gustav: [Diskussionsbeitrag]. In: Zentralblatt S. 816–818. für Gynäkologie 45 (1930), S. 2855–2857. Hinselmann, Hans: Einführung in die Kolposkopie. Ham- Döderlein, Gustav: [Schlusswort der Diskussion]. In: burg 1933. Bayerische Gesellschaft für Geburtshülfe und Frauen- Klein, Gustav: Myome und Röntgenstrahlen. In: Monats- krankheiten. Sitzung am 7. Februar 1932 in Mün- schrift für Geburtshülfe und Gynäkologie 36 (1912), chen. In: Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynä- S. 589–591. kologie 93 (1933), S. 215–217. 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Frau und Frauenheilkunde im Nationalsozialismus. Anmerkungen zum Themenfeld, offene Fragen

Wolfgang U. Eckart

Folgt man der Programmatik der nationalsozialisti- „Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit schen Ideologie und Propaganda, so war der Frau des Völkischen Staates muss ihre Krönung darin im völkischen Staat eine vorwiegend biologisch finden, dass sie den Rassesinn und das Rassegefühl dienende Rolle als Mutter zugedacht. Dieser Vorga- instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn be, die körperliche Ertüchtigung einschloss, see- der ihr anvertrauten Jugend hineinbrennt. Es soll lisch-geistige „Werte“ indes bewusst hintan stellte, kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlassen, hatte sich alle Erziehung, hatten sich auch alle sozi- ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendig- alpolitischen Maßnahmen in der NS‑Diktatur un- keit und das Wesen der Blutreinheit geführt wor- terzuordnen. Neben ihrer arischen Abstammung, den zu sein.“2 die für die „deutsche Frau“ als selbstverständlich Abstand von modeabhängigen Idealen in Beklei- vorausgesetzt wurde, sollte sich der nationalsozia- dung und Aussehen unter Hinwendung zu neuen listische Idealtypus der Frau durch einen tugend- „Werten“ und neuer „körperlicher Schönheit“,um haften Charakter (Treue, Pflichterfüllung, Opferwil- so den deutschen Mann als den wahren „Ritter“ le, Leidensfähigkeit, Selbstlosigkeit) auszeichnen. der Volksgemeinschaft zu erkennen, gehörte eben- Ihre Hauptfunktion aber lag biologisch im Dienste so zu diesem neuen Mädchen- und Frauentypus der „Volksgemeinschaft“ in ihrer Eigenschaft als wie die Unverführbarkeit durch „Judenbankerte“: Mutter. Darüber hinaus wurden ihr – bis auf ge- „Das Mädchen soll seinen Ritter kennenlernen. schlechtstypisch erachtetes soziales Engagement – Würde nicht die körperliche Schönheit heute voll- lediglich sehr begrenzte Mitsprachekompetenzen kommen in den Hintergrund gedrängt durch unser und ‑rechte eingeräumt. Entscheidungen jenseits lässiges Modewesen, wäre die Verführung von des typisch mütterlichen und sozialen Kompetenz- Hunderttausenden von Mädchen durch krummbei- feldes blieben allein Männern vorbehalten. Dass im nige, widerwärtige Judenbankerte gar nicht mög- biodiktatorischen System des NS die Medizin als lich. Auch dies ist im Interesse der Nation, dass sich biologische Leitwissenschaft hiervon nicht ausge- die schönsten Körper finden und so mithelfen, dem nommen sein konnte, nimmt nicht Wunder. Bereits Volkstum neue Schönheit zu schenken.“3 in „Mein Kampf“ schreibt Hitler 1925/27 zur Ziel- Nur so sei es möglich, dass sich Schwangerschaft richtung der Mädchenerziehung im neuen Staat: und Geburt in rassischer und „infektionsfreier „Analog der Erziehung des Knaben kann der völ- Reinlichkeit“4 gestalten könnten, und „den kleinen kische Staat auch die Erziehung des Mädchens von jungen Volks- und Rassegenossen“5 selbst zu einem den gleichen Gesichtspunkten aus leiten. Auch dort „wertvollen Glied für eine spätere Weitervermeh- ist das Hauptgewicht vor allem auf die körperliche rung erziehen“6 zu können. Nach dem Wahldesas- Ausbildung zu legen, erst dann auf die Förderung ter der NSDAP 1932 versuchte die Parteiführung, der Seelischen und zuletzt der geistigen Werte. die nahezu ausschließlich biologische Funktionszu- Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrück- weisung – kurzfristigen taktischen Interessen ge- bar die kommende Mutter zu sein.“1 zollt – auf eine kameradschaftlich-werktätige zu Mutterschaft im NS‑Staat bedeutete zugleich die Unterordnung von Körper und Geist unter die Ras- 2 Ebd., S. 475 f. 3 senideologie des Systems: Ebd., S. 458. 4 Ebd., S. 454. 5 Ebd., S. 451. 1 Hitler: Kampf (1925/27), S. 459 f. 6 Ebd.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 88 Frau und Frauenheilkunde im Nationalsozialismus. Anmerkungen zum Themenfeld, offene Fragen erweitern. Goebbels notierte dazu am 29. März für wirkliche oder vermeintliche Staats- und Ras- 1932 in seinem Tagebuch: senzwecke, sondern Selbstzweck ihres Daseins zu „Der Führer entwickelt ganz neue Gedanken sein.“8 über unsere Stellung zur Frau. Die sind für den Es überrascht nicht, dass der Sozialdemokrat nächsten Wahlgang von eminenter Wichtigkeit; Hoegner nicht zuletzt wegen solcher Positionen denn gerade auf diesem Gebiet sind wir bei der ers- bereits am 1. Mai 1933 aus dem Staatsdienst ent- ten Wahl hart angegriffen worden. Die Frau ist Ge- lassen wurde. Hoegner gelang die Emigration, zu- schlechts- und Arbeitsgenossin des Mannes. Sie ist nächst 1933 nach Tirol und bereits 1934 in die das immer gewesen und wird das immer bleiben. Schweiz,9 von wo er unmittelbar nach dem Zusam- Auch bei den heutigen wirtschaftlichen Verhältnis- menbruch des NS‑Regimes wieder nach Bayern zu- sen muss sie das sein. Ehedem auf dem Felde, heute rückkehrte und für die SPD 1945/1946 und 1954– auf dem Büro. Der Mann ist Organisator des Lebens, 1957 zum bayerischen Ministerpräsidenten ge- die Frau seine Hilfe und sein Ausführungsorgan. wählt wurde. Diese Auffassungen sind modern und heben uns Bald nach der Machtübernahme Ende Januar turmhoch über alles deutschvölkische Ressenti- 1933 sollten die Visionen Hoegners Wirklichkeit ment.“7 werden. Eine der Ersten, die die neue Rolle der Am Primat der rassisch-völkischen Aufgabenzu- Frau im nationalsozialistischen Staat auf den Punkt weisung änderten solche Lippenbekenntnisse, auch brachte, war die Journalistin, politische Lobbyistin wenn sie nach 1933 in einzelnen emanzipatori- und bürgerliche Gattin eines Juristen und Kunst- schen Elementen der NS‑Frauenpolitik gelegentlich malers Else Frobenius (1875–1952).10 In ihrer wieder aufgegriffen werden sollten, im Kern nichts. Schrift „Die Frau im Dritten Reich“ formulierte sie Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten blieben solche Unterwerfungsideologien bei Kriti- 8 Hoegner: Frau (1931), S. 15 f. kern und Gegnern der NS‑Bewegung nicht unwi- 9 In der Schweiz war Hoegner als Emigrant eine öffent- dersprochen. Zu ihnen gehörte etwa der bayerische liche politische, juristische oder journalistische Tätig- Jurist und Politiker Wilhelm Hoegner (1887–1980). keit untersagt. Es blieb ihm allerdings das Mittel der literarischen Auseinandersetzung mit dem NS‑Regi- Hoegner, der zwischen 1930 und 1933 als Reichs- me. Unter dem Pseudonym „Urs Liechti“ publizierte tagsabgeordneter für die SPD wirkte, verfasste 1931, er 1936 in Zürich den Roman „Wodans Wiederkunft. als II. Münchener Staatsanwalt durchaus bereits in Lustiger Reisebericht aus einer traurigen Zeit“, der in einer öffentlich exponierten Position, eine kleine grimmiger Satire mit Hitler-Deutschland abrechnete. Kampfschrift unter dem Titel „Die Frau im Dritten Noch im Exil entwarf Hoegner 1939/40 eine neue Reich“, die im Berliner Verlag Johann Heinrich Wil- Reichsverfassung für die Zeit nach dem Zusammen- bruch der Diktatur in Deutschland und formulierte helm Dietz erschien. Darin skizzierte er auf der zwischen 1943 und Frühjahr 1945 neben Gesetzes- „ “ Grundlage seiner Analyse von Hitlers Mein Kampf texten für einen zukünftigen bayerischen Staat im und der Parteiprogramme der NSDAP in erschre- Rahmen eines föderalistisch organisierten Deutsch- ckend klarer Vision die zukünftige Rolle der Frau lands auch einen „Vorschlag für die Neugliederung nach einer möglichen Machtübernahme der Natio- Deutschlands“. Wichers: Hoegner (2009); Kronawit- nalsozialisten und widersprach ihr entschieden: ter: Hoegner (2005); http://de.wikipedia.org/wiki/ Wilhelm_Hoegner (Zugriff: 16. 02. 2012). „Wir lehnen es ab, das Blut unserer Jugend 10 Else Frobenius wurde als Tochter des livländischen durch nationalsozialistische Abenteurer und Kata- Generalsuperintendenten Theophil Gaehtgens gebo- strophenpolitiker für Hirngespinste vergeuden zu ren, lebte in erster Ehe mit Carl von Boetticher, in lassen. Wir legen feierlich Verwahrung dagegen zweiter Ehe mit dem Kunstmaler Hermann Frobeni- ein, dass das höchste Lebensglück der Frau, die us. Sie war zunächst in Riga als Schriftstellerin tätig. Mutterschaft, nur ein rechnerischer Faktor im fri- Ab 1908 studierte sie drei Jahre Germanistik in Ber- volen Spiele nationalsozialistischer Machtpolitiker lin. Seit 1910 wirkte sie als Mitarbeiterin an Berliner Zeitungen, von 1914 bis 1922 als Generalsekretärin sein soll. Das kann nicht geschehen dadurch, dass des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesell- man die Frau nur als Geschlechtswesen und Ras- schaft und von 1916 bis 1936 als Vorsitzende der Ver- senzuchttier einschätzt, das kann nur geschehen einigung Baltischer Frauen. Von 1921 bis 1925 war sie durch Achtung auch vor der geistigen Persönlich- Vorsitzende im Frauenausschuss des Deutschen keit der Frau. […] So hat nach unserer Meinung Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutsch- auch die Frau ein Anrecht darauf, nicht nur Mittel tum. Politisch gehörte sie von 1919 bis 1930 der DVP, von 1933 bis 1945 der NSDAP an. Seit 1945 lebte sie im Ruhestand in Schleswig, wo sie von 1949 bis 7 Goebbels: Tagebücher (1992), S. 637. 1950 Vorsitzende des Baltischen Hilfskomitees war.

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(bis 1945 unrevidiert) die Rolle der Frau im die noch nicht Geborenen in Angriff nehmen. Um NS‑Staat. Kernsätze wie die folgenden sollten das die Fortpflanzung der schwer erblich belasteten Frauenbild von 1933 bis 1945 in allen Frauenorga- Personen zu verhindern, will er ein Gesetz zur Ver- nisationen der NS‑Zeit prägen helfen: hütung erbkranken Nachwuchses erlassen, also Eu- „Die Frauen sind das Herz eines Volkes. Ihr Blut genik in großem Maßstabe treiben.“15 ist sein Blut. Die Mütter sind Trägerinnen der Rasse. Die Vorstellungen von Else Frobenius, die sie auf Nur wenn sie sich den Gesetzen der Arterhaltung den etwa 100 Seiten ihrer Schrift entwickelt, lesen beugen, wird ein rassereines, starkes Volk erstehen. sich wie eine Programmatik für die Rolle der Frau […] Das bedeutet eine Abkehr von den Ansprüchen bzw. des Frauenkörpers in der biopolitisch-völki- des Ich-gebundenen Materialismus und Liberalis- schen NS‑Diktatur. Fasst man sie zusammen, so er- mus.11 […] Es ist ein Zurückfinden zu dem organi- geben sich die folgenden Aufgaben, die bis 1945 schen Wollen der Natur und die Heimkehr des ihre Gültigkeit beibehalten sollten: Die Frau ist Ob- deutschen Blutes zu sich selbst. Eine Heimkehr des jekt eugenisch-völkischer Bevölkerungspolitik. Das deutschen Volkes zu sich selbst. Eine Heimkehr zu Bild der Frau wird durch die Reduktion auf ihren den Kräften des Blutes und der Seele, die geheim- Körper und dessen biologische Funktionen be- nisvoll im Schoße der Mütter ruhen.12 […]Die stimmt als „Fruchtschoß“ und „Lebensborn“.Ihr Frau im Dritten Reich will Frau und Mutter sein. Körper ist Austragungsort eugenischer Vorstellun- […] Die Liebe zur Frau spornt den Mann zur Hoch- gen. Sie ist Wächterin ihres Blutes und schenkt die spannung seines Wollens an. Erst der Mann vermag rassereine Frucht ihres Leibes in erster Linie „Füh- alle in der Frau schlummernden Entscheidungs- rer“ und „Volk“. Ihr körperlicher „Wirkort“ ist Ehe möglichkeiten zu wecken.“13 und Familie. Und hieraus bestimmt sich – nach Frobenius verstand die Frau im völkischen Staat den Worten von Lydia Gottschewsky (1906–1989), uneingeschränkt als „Trägerin der Rasse“. Durch Reichsleiterin „Bund Deutscher Mädel“ (BDM), – frühe Heirat und Mutterschaft könne es gelingen, auch ihr Verhältnis zum Mann: „die jungen Männer der Versuchung zu einem un- „Die Frau im Dritten Reich will Frau und Mutter fruchtbaren, Blut und Seele zerstörenden Liebesle- sein; […] Nicht untergeordnet darf die Frau des ben zu entziehen“. Geradezu lächerlich allerdings neuen Deutschland [ihrem Mann, WE] sein, son- sei „angesichts solch hoher Zielsetzung“ der deka- dern beigeordnet, ein Stück seines Selbst, der ande- dente Vorwurf, der „Nationalsozialismus wolle die re Teil des Ganzen, den der Schöpferwille der Natur Frauen zur ʼGebärmaschineʼ erniedrigen“.14 Genau fordert.“16 darauf aber liefen ihre Vorstellungen hinaus, die Dass sich fortan auch die Frauenheilkunde im im Sinne der Rassenpflege und der beabsichtigten Nationalsozialismus diesen Zielen uneingeschränkt Sterilisationsmaßnahmen auch den Ärzten ihre verschreiben musste, liegt auf der Hand. Ihre Ar- Aufgabe zuwiesen: beitsgrundlagen standen unter den Zielvorgaben „Erfahrene Ärzte sind berufen, um für wichtige der „positiven“ und „negativen“ Eugenik, wobei rassenpflegerische Maßnahmen der Regierung die „positive“ Eugenik wesentlich durch die As- den Weg zu bereiten. […] Der Staat beabsichtigt pekte der „Aufartung“ und „Rassenbrutpflege“ be- eine Umstellung des gesamten öffentlichen Ge- stimmt war, die „negative“ Eugenik hingegen durch sundheitswesens; er will die Ärzteschaft auf Erfül- die Einschränkung sexueller Menschenrechte, lung ihrer Aufgaben unter dem Gesichtspunkt der Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung. Die ge- Rassenhygiene, der Bevölkerungs- und Rassenpoli- setzlichen Grundlagen hierfür lieferten das „Gesetz tik verpflichten. Der Staat und das Gesundheitswe- zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (1933) sen sollen als Kern ihrer Aufgabe die Vorsorge für und dessen Novellierungen und Folgegesetze sowie die Nürnberger Rassengesetze (1935). Auch alle er- zieherischen und sozialpolitischen Maßnahmen Schriftstellerisch trat sie vor allem seit 1913 hervor: hatten sich diesen Maßgaben unterzuordnen.17 „Die Weltanschauung des Dichters Lenz“ (1913), „Mit uns zieht die neue Zeit“ (eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, 1927), „Karten“ (1929), „Das malerische Franken“ (1930), „Väter und Töchter“ (1932), „Dreißig Jahre koloniale Frauenarbeit“ (1936). 11 Frobenius: Frau (1933), S. 38. 15 Ebd., S. 47. 12 Ebd., S. 53. 16 Zit. nach ebd., S. 56. 13 Ebd., S. 56. 17 Vgl. hierzu auch Wahlert-Groothuis: Frauenbild 14 Ebd., S. 57. (1984).

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Auslese und Fürsorge – Als sehr konkretes Beispiel für eine geburtenför- „ “ dernde Rassenpolitik hat der Lebensborn e.V. zu Lebensborn und National- gelten. Der Lebensborn e.V., gegründet am 12. De- sozialistische Volksfürsorge (NSV) zember 1935 in Berlin, war ein Projekt des Reichs- führers-SS Heinrich Himmler (1900–1945), das Die nationalsozialistische Rassenpolitik beschränk- sich an den beiden zentralen bevölkerungspoliti- te sich nicht auf die „Ausmerzung Minderwertiger“, schen Leitlinien des Nationalsozialismus orientier- sondern erstreckte sich gezielt auch auf die „Ausle- te: Rettung der „nordischen Rasse“ vor dem angeb- se Hochwertiger“; sie betrieb im Sinne Galtons ne- lich drohenden „Untergang“ durch Maßnahmen gative ebenso wie positive Eugenik. Eine systemati- zur Steigerung der Geburtenrate und qualitative sche „Menschenzüchtung“, wie sie durchaus zum Verbesserung des Nachwuchses unter „Zuchtkrite- Programm einiger Gruppierungen der rassisch und rien“ im Sinne der Eugenik, beziehungsweise der eugenisch orientierten Lebensreformbewegung be- nationalsozialistischen Rassenhygiene. Seine Be- reits vor dem Ersten Weltkrieg erhoben worden deutung wuchs nach dem Überfall auf Polen vor war, hat es in der Zeit des Nationalsozialismus dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Welt- zwar nicht gegeben. Allerdings kam in allen Berei- krieges auch als Gegenmaßnahme zu einem be- chen der Sozial- und Gesundheitsfürsorge das Prin- fürchteten kontraselektorischen Effekt des Krieges. zip der Selektion, der Hege, Pflege und Förderung In einem Befehl Heinrich Himmlers an die gesamte der Besten im Sinne eines arisch-germanischen SS und Polizei vom 28. September 1939 hieß es: Deutschtums schon allein deshalb radikal zur An- „Jeder Krieg ist ein Aderlaß des besten Blutes. wendung, weil – im Jargon der Machthaber – alles Mancher Sieg der Waffen war für ein Volk zugleich „Minderwertige“, die jüdische Bevölkerung, ras- eine vernichtende Niederlage seiner Lebenskraft sisch und politisch Diffamierte und Verfolgte sowie und seines Blutes. Hierbei ist der leider notwendige die große Gruppe der „Gemeinschaftsfremden“, Tod der besten Männer, so bedauernswert er ist, von den Homosexuellen bis hin zu „Asozialen“, noch nicht das Schlimmste. Viel schlimmer ist das „Arbeitsscheuen“, „Arbeitsunwilligen“, „Arbeits- Fehlen der während des Krieges von den Lebenden verweigerern“ und „Drückebergern“, gar nicht erst und der nach dem Krieg von den Toten nicht ge- unter den Schirm der Förderung genommen wur- zeugten Kinder. […] Im vergangenen Krieg hat de. mancher Soldat aus Verantwortungsbewußtsein, Im Sinne einer eugenischen Selektion war das um seine Frau, wenn sie wieder ein Kind mehr hat- Spektrum der einzelnen Fürsorge- und Förde- te, nicht nach seinem Tode in Sorge und Not zu- rungsmaßnahmen sehr unterschiedlich und reich- rücklassen zu müssen, sich entschlossen, während te in seinen Dimensionen vom platten Konkre- des Krieges keine weiteren Kinder zu erzeugen. tismus bis hin zur diskreten Anspielung, von der Diese Bedenken und Besorgnisse braucht Ihr Verleihung des Mutterkreuzes für hohe Gebärfreu- SS‑Männer nicht zu haben. […] Für alle während digkeit über die Säuglingsfürsorge der NS‑Volks- des Krieges erzeugten Kinder ehelicher und unehe- wohlfahrt bis hin zu kostenlosen Kartoffel- und licher Art wird die Schutzstaffel während des Krie- Kohlelieferungen für Kinderreiche. „Pimpfe“, BDM ges, für die werdenden Mütter und für die Kinder, und Hitlerjugend dienten sicherlich nicht unmittel- wenn Not oder Bedrängnis vorhanden ist, sor- bar eugenischen Zuchtideen, prägten aber früh die gen.“18 nationalsozialistische Geschlechterperspektive und Vor dem Krieg sollte der „Lebensborn“ unter An- bahnten bald den Wahn von arischer Weiblichkeit, wendung des Selektionsprinzips durch eine Inten- völkischer Mutterschaft und dominanter Männ- sivierung der Unehelichenpolitik zur Minderung lichkeit, die dann in der Brachialästhetik des natio- des Geburtenrückgangs beitragen. Zwar darf die nalsozialistischen Körperkults ihre Anknüpfungs- bis heute vorherrschende Meinung, dass der „Le- punkte fanden. Und wenn auch nicht jeder bensborn“ eine menschliche Zuchtanstalt gewesen KdF‑Volkswagen ins Eheglück fuhr, so war doch al- sei, indem er Zeugungen organisiert habe, inzwi- len klar, dass sich hinter der populären Parodie auf schen als Mythos gelten. Ebenso wenig handelte es Wilhelm Bornemanns romantischen Volksliedtext sich beim „Lebensborn“ um eine Institution, die „Im Wald und auf der Heidi, verlor ich Kraft durch Freudi, die Folgen davon sind: Mutter mit Kind“ 18 „Geheimerlass des Reichsführer-SS für die gesamte SS eine Anspielung auf die Organisation „Kraft durch und Polizei“ (28. Oktober 1939); abgedruckt in Wes- “ Freude verbarg. tenrieder: Frauen (1984), S. 42.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Frau und Frauenheilkunde im Nationalsozialismus. Anmerkungen zum Themenfeld, offene Fragen 91 ausschließlich karitativen Zwecken diente. Viel- Schwesternschaften. Schließlich gestaltete er 1938 mehr verfolgte der Verein in seinen Entbindungs- wesentlich das „Reichsgesetz zur Ordnung der und Kinderheimen das Ziel, durch die Betreuung Krankenpflege“ und zwang damit auch die konfes- lediger Mütter und ihrer Kinder biologischen Nach- sionellen Verbände zur Ausbildung von wuchs für die SS zu gewinnen. Er diente damit ganz NS‑Schwestern. Während der Kämpfe um Berlin unzweifelhaft der natalistischen Bevölkerungspoli- starb (vermutlich Suizid) Hilgenfeldt 1945. tik des Regimes. Erbbiologische und rassische Aus- Im Arbeitsmittelpunkt der NSV standen Ge- lese – durchaus auch im Sinne einer Zusammen- sundheitsfürsorge, Vorsorgeuntersuchungen sowie führung Reproduktionswilliger –, rechtswidrige die medizinische Betreuung, die während des Geheimhaltungsmaßnahmen sowie ein quasi insti- Zweiten Weltkriegs vor allem von Bombenopfern tutionalisierter Missbrauch der Fürsorgegewalt in Anspruch genommen werden musste. In der waren dabei an der Tagesordnung. Hierzu gehörten Wahrnehmung ihrer Aufgaben konzentrierte sich nicht nur anonyme Entbindungen und die teils die NSV auf Gesundheitsführung, Wohlfahrtspflege rechtswidrige Vermittlung der Neugeborenen zur und Rechtsberatung. Hierzu gehörten als Einzel- Adoption an Familien von SS‑Angehörigen sowie aufgabengebiete: Kindergärten, Horte, Wohnungs- die „Evakuierung“ von Besatzungskindern, sondern hygiene, Wohnungsbeschaffung, Schädlingsbe- auch der Raub und die gezielte Verschleppung von kämpfung, Jugendschutz, Haftverschonung für Ju- Kindern aus den besetzten Gebieten. Galten solche gendliche, Kleingärtenvermittlung, Naherholung, Kinder im Sinne der NS‑Rassenideologie ihren Brandverhütung, Berufsberatung, Müttererholung, äußeren Merkmalen nach als „arisch“, wurden sie vorbeugende Jugendhilfe, Aufklärung über Volks- in Lebensborn-Heimen im Reich und in den besetz- seuchen. Untergliederungen der NSV waren das ten Gebieten untergebracht. In den besetzten Ge- „Winterhilfswerk“ und das Hilfswerk „Mutter und bieten dienten die Lebensborn-Heime nicht zuletzt Kind“. dem Schutz von Mutter und Kind vor Diskriminie- Dem 1934 gegründeten Hilfswerk „Mutter und rung durch die unterdrückte Bevölkerung, so etwa Kind“ (Finanzvolumen durch Sammlungen 1934: in Norwegen, wo bis September 1944 insgesamt 10 Millionen Reichsmark, 1937 bereits 78,4 Millio- 6584 Norwegerinnen in völlig überbelegte Lebens- nen) war vor allem die Aufgabe zugedacht, „ari- born-Entbindungsheime aufgenommen wurden. sche“ Schwangere, junge Mütter und deren Säug- Bis zum Ende der deutschen Besatzung wurden in linge zu betreuen. Zu den Aufgaben des „Hilfs- den Heimen mehr als 10000 Kinder geboren. werks“, das dem Hauptamt für Volkswohlfahrt in Die Nationalsozialistische Volksfürsorge (NSV) der Reichsleitung der NSDAP direkt unterstand wurde am 18. April 1932 ins Leben gerufen. Am und sich personell überwiegend aus der NS‑Frau- 3. Mai 1933 wurde die NSV durch Führerdekret enschaft und der NS‑Volkswohlfahrt rekrutierte, zur Organisation innerhalb der Partei erklärt. Die gehörten im Einzelnen: Familienhilfe und Gemein- nach der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zweitgrößte depflege in Kooperation mit der NS‑Schwestern- Massenorganisation des NS‑Regimes zählte 1943, schaft, Wöchnerinnen- und Jungmütterfürsorge, elf Jahre nach ihrer Gründung, etwa 17 Millionen Müttererholungsfürsorge sowie Erziehung und Ge- Mitglieder. Zentrale Leitungsfigur der NSV wurde sundheitsfürsorge in Kindertagesstätten, wobei die im Frühjahr 1933 Erich Hilgenfeldt (1897–1945). Anzahl der Kindertagesstätten im Sinne einer Zu- Hilgenfeldt leitete die Gleichschaltung der freien rückdrängung der Frau aus dem öffentlichen Leben Wohlfahrtsverbände (1933), wurde von Goebbels unter Betonung ihrer „primären“ Rolle als Gattin, im gleichen Jahr mit der Gründung und Führung Hausfrau und Mutter bewusst gering gehalten wur- des Winterhilfswerks beauftragt, stand seit Januar de. Hinzu traten Fürsorgebereiche wie die „Jugend- 1934 dem Hauptamt für Volkswohlfahrt und dem hilfe“ durch „Jugenderziehungsberatungsstellen“ Hauptamt der NS‑Frauenschaft vor und wurde und „NS‑Jugendheimstätten“ sowie die Mitwir- Dienstvorgesetzter der NS‑Frauenführerin Gertrud kung bei der „Kinderlandverschickung“ vor dem Scholtz-Klink (1902–1999). Auf Weisung von Ru- Hintergrund zunehmender Bombenangriffe und dolf Heß (1894–1987) schaltete Hilgenfeldt die der dadurch gravierend anwachsenden Versor- freie Schwesternschaft zur „NS‑Schwesternschaft“ gungsprobleme in den Städten. In diesem Arbeits- gleich, bildete den Reichsbund der freien Schwes- bereich, bei dessen Organisation das Hilfswerk eng tern und Pflegerinnen (RBdfS) und koordinierte mit der seit 1940 federführenden Hitlerjugend ko- die Schwesternschaft des Roten Kreuzes (DRK) operierte, wurden bis Kriegsende rund 2,5 Millio- ebenso wie die katholischen und evangelischen

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 92 Frau und Frauenheilkunde im Nationalsozialismus. Anmerkungen zum Themenfeld, offene Fragen nen Jungen und Mädchen in ländliche Gebiete eva- der Bann gebrochen, und die Rollen [sind] anders kuiert und in etwa 9000 Lagern untergebracht. verteilt.“20 Damit wird deutlich, dass die Arbeit von Gynä- kologie und Geburtshilfe im Nationalsozialismus Negative Eugenik und Sterilisation fortan von drei zentralen Aufgaben bestimmt war: Der Sicherung und Steigerung des erbgesunden Die Vor- und Wirkungsgeschichte der NS‑Sterilisa- Nachwuchses, der Verhinderung des erbkranken tionsgesetzgebung ist in der Forschung intensiv be- Nachwuchses sowie der Erhaltung und Erhöhung arbeitet worden, so dass hier nur auf eine Zusam- der biologischen Leistungsfähigkeit der Frau. Tat- menfassung des Forschungsstandes hingewiesen sächlich gab es auch in der Gynäkologie Stimmen, werden soll. Bemerkenswert sind aber Äußerungen die zwar nicht vor den radikalen Maßnahmen der von Chirurgen und Gynäkologen zur Umsetzung Sterilisation im Rahmen der „negativen“ Eugenik des Gesetzes, das ihren Operationssälen eine ganz warnten, aber doch betonten, dass daneben die neue, völkische Bedeutung im Sinne der NS‑Ras- „positive“ Eugenik nicht zu vernachlässigen sei. Zu senpolitik zuwies. Exemplarisch steht hier die posi- ihnen gehörte etwa der Heidelberger Privatdozent tive Resonanz auf das Sterilisationsgesetz durch der Frauenheilkunde Hugo Otto Kleine (1898– den damals noch Breslauer Chirurgen Karl Heinrich 1971), der in seiner Antrittsvorlesung im Novem- Bauer und den Frankfurter Gynäkologen Ludwig ber 1933 betonte: Seitz (1872–1961). „Da eine erbändernde Beeinflussung minder- Bauer hielt 1934 in einem Leitartikel der Zeit- wertiger und kranker Erbstämme unmöglich ist, schrift „Der Chirurg“ dafür, dass das Gesetz zur Ver- so ergibt sich die Forderung, sie durch Ausschließ- hütung erbkranken Nachwuchses für das deutsche ung von der Fortpflanzung auszuschalten. Wir Volk „nichts anderes und nichts geringeres, als den müssen uns jedoch klar darüber sein, dass alle gigantischen Versuch [bedeute], die Volksgesund- Maßnahmen, die auf Verminderung Erbuntüchti- heit in ihrer tiefsten Wurzel, nämlich in ihren Erb- ger hinzielen, lediglich negativen Wert haben. Der anlagen zu erfassen, sie von vielerlei Formen von Anteil der Minderwertigen in unserm Volke darf Erbschäden zu befreien und damit die Erban- keinesfalls zunehmen. Für jeden Einsichtigen ist es lagenbeschaffenheit des Volkes von Generation zu deshalb klar, dass die Zukunft Deutschlands in ers- Generation fortschreitend zu verbessern.“19 Es sei ter Linie von der Erreichung des Zieles einer positi- „wichtig“, so Bauer, dass die nunmehr legitimierte ven Rassenhygiene abhängt, nämlich von der Erhö- „Ausmerze von Erbübeln“ durch die „Unfruchtbar- hung der Kinderzahl unserer leiblich und geistig machung“ endlich und „selbstverständlich“ auch gesunden Familien. Die unabänderliche Wahrheit mit „Zwangsmaßnahmen“ durchgeführt werden dieses Gedankens immer wieder nachdrücklich zu könne. „Die Stätte, an der der Grundgedanke des betonen, gehört ebenfalls zu den Aufgaben der Gesetzes in die schließlich allein befreiende Tat Deutschen Ärzteschaft.“21 umgesetzt“ werde, sei „der Operationssaal des Chi- De facto verwandelten sich viele Operationssäle rurgen“. in deutschen Frauenkliniken in den ersten Jahren Der Frankfurter Gynäkologe Seitz kommentierte nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erb- im gleichen Sinne auf der 23. Tagung der Gesell- kranken Nachwuchses in Sterilisationssäle. Exem- schaft für Gynäkologie (11. bis 14. Oktober 1933): plarisch kann dies am Beispiel der Heidelberger „Der Erlaß des Sterilisationsgesetzes bedeutet Universitätsfrauenklinik22 zwischen 1933 und nicht nur in eugenischer Beziehung einen Mark- 1945 gezeigt werden, über die Ralf Bröer ausführ- stein, er ist auch für unser Fachgebiet von überra- lich gearbeitet hat. Seiner Studie verdanke ich gender Bedeutung. Mancher von uns mag, wenn auch viele der folgenden Angaben.23 Als Ordinarien er bei der Geburt eines mißgestalteten oder geistig wirkten dort in jener Zeit Heinrich Eymer (1883– minderwertigen Kindes […] Beistand geleistet hat, 1965)24, der jedoch bereits 1934 einem Ruf nach sich nachher die Frage stellen, ob es für Kind und Mitwelt nicht besser gewesen wäre, wenn er sich 20 Seitz: Eingriffe (1933), S. 132 f. dieser Mühe nicht unterzogen hätte. […] Heute ist 21 Hugo Otto Kleine, Antrittsvorlesung am 4. Nov. 1933 über „Die Schwangerschaft als biologischer Kampf“; zit. nach: o.N.: Erbpathologie (1938). 22 Vgl. hierzu für Erlangen Krüger: Zwangssterilisation 19 Bauer: Bedeutung (1934), S. 329 (Hervorhebungen im (2007), oder für München Horban: Gynäkologie Original). (1999).

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München folgte, und Hans Runge (1892–1964)25. 1935 stieg die Gesamtzahl unter Runge auf dann Runge leitete die Klinik von 1934 bis 1945 und da- 285, im Oktober lag sie bei 353 Fällen, um dann bis nach wieder als Lehrstuhlvertreter von 1946 bis Ende 1935 auf 600 hochzuschnellen. Damit dürften 1964. Unter Eymer und stärker noch unter Runge allein zwischen Oktober und Dezember 1935 an je- wird die Heidelberger Universitätsfrauenklinik po- dem Werktag drei bis vier Sterilisationen durchge- litisch vollständig gleichgeschaltet. Es gab dort kei- führt worden sein. nen – nicht entlassenen – ärztlichen Mitarbeiter, Nicht genug damit, denn es kam neben der tägli- der nicht in mindestens einer NS‑Organisation Mit- chen Sterilisationspraxis regelmäßig auch zur wis- glied gewesen wäre. senschaftlichen Ausbeutung der betroffenen Frau- Medizinisch wandelte sich der Charakter der en. So widmeten sich zwischen 1935 und 1940 Klinik unter Runge zur Sterilisationsklinik. Die eu- neben zahlreichen Einzelpublikationen elf von Do- genischen Sterilisationen und Schwangerschafts- zenten der Heidelberger Universitätsfrauenklinik abbrüche stellten seit Januar 1934 einen wesentli- betreute Dissertationen dem Thema der eugeni- chen Teil der operativen Praxis an der Universitäts- schen Sterilisation, fünf davon allein der Situation frauenklinik dar. Zwar lässt sich die Gesamtzahl der in Heidelberg (Methodendiskussion, Sterilisation Sterilisationen wegen fehlender Krankenakten im Wochenbett, Abtreibung mit Sterilisation etc.). nicht mehr ermitteln. Mit ungefähr 650 eugeni- Auchkam eszu Plänen für eine dramatische Auswei- schen Sterilisationen in den zwei Jahren zwischen tung der Indikationsstellung für Sterilisationen. So März 1934 und Februar 1936 liegt die Heidelberger warnte der bereits zitierte Privatdozent der Klinik Klinik bis zu diesem Zeitpunkt jedoch an zweiter Hugo Otto Kleine zusammen mit seinem Chef Runge Stelle aller Frauenkliniken im Reichsgebiet, zu de- vor der „wachsenden Zahl erblich Minderwertiger“ nen während der NS‑Zeit Daten veröffentlicht wur- und forderte 1938 in „Ziel und Weg“ unter der Über- den. Auf der Sitzung der Mittelrheinischen Gesell- schrift „Erbpathologie in der Frauenheilkunde“,die schaft für Geburtshilfe und Gynäkologie am gesetzlichen Grenzen der Zwangssterilisationen 16. Februar 1936 nannte Runge sogar die Zahl von aufzuheben bzw. auszuweiten (auf Intersexualis- 700 Sterilisationen. Einzelne Zahlenwerte sprechen mus, Hüftverrenkung, enges Becken, Genitalhypo- daneben auch eine deutliche Sprache: So wurden plasie etc.). Die Folge einer solchen Indikationsaus- unter der kommissarischen Leitung Schultze- weitung, zu der es schließlich nicht kam, wäre eine Rhonhofs bis November 1934 insgesamt 109 euge- nahezu schrankenlose Sterilisationspraxisgewesen. nische Sterilisationen durchgeführt. Bis August Man fragt sich, ob die behandelnden Ärztinnen und Ärzte je auch die Opferperspektive ihrer Pa- 23 Bröer: Geburtshilfe (2006). tientinnen eingenommen haben. Sie haben, wenn- 24 Eymer überwirft sich mit dem Badischen Kultusmi- gleich gelegentlich auf eine zynische Weise. So nisterium im März 1933; Rufannahme nach Mün- chen; protegiert von Reichsärzteführer Gerhard Wag- schreibt etwa die Doktorandin der Klinik Elisabeth ner (1888–1939); Dienstantritt: 1. Mai 1934; Eymers Hofmann in ihrer Dissertation 1937: „Die Kämpfe Verhältnis zum Nationalsozialismus opportunistisch derer mit anzusehen, die den Verlust der Mutter- (Bewerbung um Aufnahme in NSDAP scheitert im schaft als Aufgabe ihres ganzen Lebenszweckes Juni 1933 zunächst; Beitritt am 1. Mai 1937). Dekan und darüber hinaus als Minderung ihres menschli- Carl Schneider (1891–1946) im Juli 1934: Eymer chen Wertes als Schande empfinden, ist erschüt- habe die nationalsozialistischen Zielsetzungen der “26 Fakultät „im Rahmen der von ihr angestrebten Um- ternd. Die Bemerkung klingt auf den ersten Blick wandlung der gesamten Medizin“ für die Frauenheil- empathisch. Allerdings spricht die Verfasserin im kunde nicht mitverfolgt. Kontext ihrer Arbeit nahezu allen zwangssterili- 25 1932–1934 Ordinarius und Direktor in Greifswald; sierten Frauen ihr Urteilsvermögen über die Trag- dort Ruf als überzeugter NS‑Mann; mit allen Assis- weite des Eingriffs ab. tenten geschlossener Eintritt in die NSDAP im April Auch am Beispiel Heidelbergs lassen sich also 1933; 1934 Berufung nach Heidelberg gegen das Vo- neben der Praxis der Zwangssterilisationen die tum Eymers (!) (in der Berufungskommission: Dekan Carl Schneider, Kanzler Johannes Stein, Dozenten- ausnutzende Forschung an diesen weiblichen Op- schaftsführer Hermann Schlüter, Studentenschafts- fern der NS‑Diktatur sowie der Zusammenhang führer Gustav Adolf Scheel); 1937–1939 Dekan der von eugenischer Theorie, gesetzlicher Disposition Medizinischen Fakultät; 1939–1945 Stellvertreter und gynäkologischer Praxis der Zwangssterilisati- ‑ des Dekans; 1.10. 1945: Entlassung durch US Militär- on nachweisen. regierung; Januar 1946: Wiederzulassung zum Dienst; 1960 Emeritierung; Lehrstuhlvertretung bis 1964. 26 Hofmann: Befinden (1937), S. 16.

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Forschungsdesiderate Goebbels, Joseph: Tagebücher 1924–1945. Bd. 2: 1930– 1934. hrsg. v. Reuth, Ralf Georg, 2. Aufl. München Insgesamt erscheint der Forschungsstand zum The- 1992. Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 1925/27. menbereich Gynäkologie im Nationalsozialismus Hoegner, Wilhelm: Die Frau im Dritten Reich. Berlin gut, allerdings ergeben sich bei näherer Betrach- 1931. tung noch zahlreiche Forschungsdesiderate auf Hofmann, Elisabeth: Körperliches Befinden und Einstel- diesem Feld, die in der Zukunft Anlass zu Detailun- lung von Frauen, die nach dem Erbgesundheitsgesetz tersuchungen geben sollten. Hierzu gehören etwa sterilisiert wurden. Diss. med. Heidelberg 1937. zusammenfassende prosopographische Studien Horban, Corinna: Gynäkologie und Nationalsozialismus. Die zwangssterilisierten ehemaligen Patientinnen (zu Opfern, Vertriebenen, Tätern), Studien zur Ge- der I. Universitätsfrauenklinik heute. Eine späte Ent- schichte staatlicher Forschungsförderung von Gy- schuldigung. Diss. med. München 1999. näkologie und Geburtshilfe im NS, eine Geschichte Kronawitter, Hildegard: Bayerischer Patriot, Gefuehlsso- bzw. Geschichten der gynäkologisch-geburtshilfli- zialist und erfolgreicher Ministerpraesident: Wil- chen wissenschaftlichen Vereinigungen, die Ge- helm Hoegner. In: Einsichten und Perspektiven schichte des Umgangs solcher Vereinigungen mit (BLZ‑Report), Heft 2 (2005), S. 34–57. http:// ihren belasteten Ehrenmitgliedern nach 1945, die 192.68.214.70/blz/eup/02_05/9.asp (Zugriff: 16. 02. 2012). Traumatisierungsgeschichte (historische Trauma- Krüger, Dorothea Irene Edith: Zwangssterilisation im forschung) der Gynäkologieopfer, eine Pflegege- Nationalsozialismus. Das „Gesetz zur Verhütung erb- schichte im Umfeld der NS‑Gynäkologie und ‑Ge- kranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 und seine burtshilfe, die Alltagsgeschichte der frauenärzt- Durchführung an der Universitäts-Frauenklinik Er- lichen Praxis und schließlich auch die Körper- und langen. Diss. med. Erlangen-Nürnberg 2007. Mentalitätsgeschichte(n) der Frau unter der o.N.: Die Erbpathologie in der Frauenheilkunde. In: Ziel und Weg 8 (1938), S. 482–489. NS‑Diktatur. Es gibt viel zu tun. Seitz, Ludwig: Eingriffe aus eugenischer Indikation. Re- ferat auf der 23. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. In: Archiv für Gynäkologie 156 Heft Literatur 1–2 (1933/34), S. 128–142. Wahlert-Groothuis, Gabriele von: Frauenbild und Frau- Bauer, Karl Heinrich: Die Bedeutung des Gesetzes zur enheilkunde im Nationalsozialismus. Diss. med. Hei- Verhütung erbkranken Nachwuchses für die Chirur- delberg 1984. gie. In: Der Chirurg 6 (1934), S. 329–334. Westenrieder, Norbert: Deutsche Frauen und Mädchen. Bröer, Ralf: Geburtshilfe und Gynäkologie. In: Eckart, Vom Alltagsleben 1933–1945. Düsseldorf 1984. Wolfgang U.; Sellin, Volker; Wolgast, Eike (Hrsg.): Wichers, Hermann: Hoegner, Wilhelm (vom 3.09. 2009). Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). www. Heidelberg 2006, S. 845–891. hls-dhs-dss.ch/textes/d/D27985.php (04. 09. 2012). Frobenius, Else: Die Frau im Dritten Reich. Eine Schrift für das deutsche Volk. Berlin 1933.

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„Von den Juden, die nicht mehr in der Gesellschaft sein dürfen …“–„Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF

Fritz Dross

Einleitung schen Ärzteschaft und besonders freilich der Baye- rischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauen- Die Geschichte des deutschen Antisemitismus be- heilkunde (BGGF) fassen, die nicht deren Patientin- ginnt nicht mit dem Amtsantritt der im Januar nen, sondern Kolleginnen und Kollegen, Mitglieder 1933 gebildeten Koalitionsregierung der „nationa- der Gesellschaft betrafen. Beide Begriffe –„Gleich- len Erhebung“ unter dem Reichskanzler und „Füh- schaltung“ und „Arisierung“5 – sollen hier in einem rer“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbei- sehr weiten Sinn gebraucht werden, in dem sich terpartei Adolf Hitler. Gleichwohl begann mit de- beide auch überschneiden: Der Fokus liegt auf der ren Amtszeit insofern eine neue Epoche in der „Gleichschaltung“ durch das „arisch“-Machen, wo- Geschichte des Antisemitismus, als erstmals und mit ich hier das Bestreben der Verbände und Ver- ohne historisches Vorbild ein Staat und seine Orga- waltungen, daneben aber auch der Betriebe, der ne es sich zu einer zentralen Aufgabe machten, die Redaktionen und bürgerlicher Vereine – letztlich nunmehr nach rassistischen Kriterien als „jüdisch“ auch der BGGF – kennzeichne, neben der wider- kategorisierte deutsche Bevölkerung zu verdrän- spruchslosen Akzeptanz des „Führerprinzips“ und gen und zu verfolgen, auszuplündern, zu vertrei- weitgehender staatlicher Aufsicht auch nach rassis- ben und schließlich nach Möglichkeit vollständig tischer Auffassung „jüdische“ Kolleginnen und Kol- zu vernichten.1 Der Transfer der rassistischen Ideo- legen zu verdrängen, zu entrechten und zu vertrei- logie vom – breiten – rechten Rand des politischen ben. Im Falle von Ärztinnen und Ärzten lief dies Spektrums zur Staatsdoktrin hatte sich keines über kurz oder lang auf die Vertreibung aus dem mehrheitlich getragenen und deutlich artikulierten Erwerbsleben hinaus, auf die Unmöglichkeit, den Widerstands zu erwehren.2 Die zahlreichen, an die- ärztlichen Beruf auszuüben.6 ser Stelle nicht einzeln aufzuzählenden Gesetze Dies ist als aktiver Vorgang in den Unterlagen und Verordnungen des Deutschen Reiches3 zur der BGGF nicht (mehr?) unmittelbar überliefert.7 Verdrängung und Entrechtung der „jüdischen“ Eher zwischen den Zeilen finden sich etwa in der Deutschen wurden oft genug nicht einmal in An- Korrespondenz zwischen August Mayer in Tübin- spruch genommen, weil viele Beteiligten dem be- gen und Hermann Wintz in Erlangen bereits im No- liebig und unwidersprochen vorgriffen. Auch wenn vember 1928 Überlegungen dazu, ob ein als Chi- der verwaltungsmäßige Weg korrekt beschritten rurg zu berufender Kollege der Gerüchte wegen, er wurde, ist zu konstatieren, dass viele Deutsche sei ein „Jude“, keine Berücksichtigung finde. Sehr „hingeschaut und weggesehen“ 4 haben. Unter den – nota bene: zeitgenössischen – Ter- Götz Aly „Hitlers Volksstaat“ als „Gefälligkeitsdikta- “ mini „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ möchte tur , Aly: Hitlers Volksstaat (2005); vgl. dazu Sozial. Geschichte 20 (2005) Heft 3 (Beiträge Ebbinghaus, ich im Folgenden Vorgänge innerhalb der deut- Hachtmann, Buchheim, Kuczynski, Caplan und Wildt) sowie die Replik Alys in Sozial.Geschichte Heft 20 1 Im Überblick: Friedländer: Das Dritte Reich (2007). (2006) Heft 1. 2 Longerich: Die Deutschen (2006). 5 Drecoll: Fiskus (2009), S. 25. 3 Vgl. bezüglich der Ärzteschaft die Auflistung ein- 6 Bezüglich der bayerischen Ärzteschaft vgl. Drecoll; schlägiger Gesetze und Verordnungen bei Schwoch: Schleusener; Winstel: Nationalsozialistische Verfol- Ärztliche Standespolitik (2001), S. 286–355. gung (1998). 4 Gellately: Hingeschaut (2005); erheblich weiter ge- 7 Detailliert dargestellt im Beitrag von Annemarie Kin- hend – und entsprechend umstritten – diskutiert zelbach in diesem Band.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 96 „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF viel mehr im Fokus stand naheliegender Weise die kalenders wurden Ärztinnen und Ärzte gesondert Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie, in deren gekennzeichnet, die nach den rassistischen Vorstel- Namen sich Walter Stoeckel mit „Reichsärztefüh- lungen des nationalsozialistischen Deutschlands rer“ Leonardo Conti 1933 darauf verständigt hatte: als „Juden“ zu gelten hatten – und denen bereits „Das Mitgliedsverzeichnis wissenschaftlicher Ge- im Folgejahr, 1938, die Approbation entzogen wur- sellschaften braucht nicht ʼjudenreinʼ zu sein. – Ge- de. Zwölf der Gesellschaftsmitglieder, die 1929 gen die Einreise und das Sprechen ausländischer noch Mitglied gewesen waren, lassen sich auf die- Juden in wissenschaftlichen Sitzungen bestehen sem Wege als „jüdisch“ identifizieren. Andere wa- keine Bedenken. – Inländische Juden sollten nicht ren womöglich bereits vor 1936 aus Deutschland sprechen und sich in ihrem eigenen Interesse zu- geflohen und wurden deswegen im Reichsmedizi- rückhalten.“8 Schon zur Tagung der Deutschen Ge- nalkalender 1937 nicht mehr geführt. Neben die sellschaft 1933 in Berlin teilte Stoeckel der Ver- Verfolgung aus rassistischen Motiven trat die poli- sammlung mit, dass die Gesellschaft inzwischen tische Verfolgung, die zu Austritten geführt haben der „Reichszentrale für Gesundheitsförderung“ kann, was aber ohne weiteres Quellenmaterial beim Ministerium des Innern angegliedert sei und nicht halbwegs zuverlässig zu identifizieren ist. er in diesem Zuge zugestimmt habe, dass Vorstand, Eine große Hilfe stellt Linda Damskis Studie „Zer- Satzung und Beschlüsse der Mitgliederversamm- rissene Biografien“ dar, in der verfolgte jüdische lung der Bestätigung des Innenministeriums be- Ärzte aus München, Nürnberg und Würzburg zu- dürften.9 sammengetragen sind.11 Ein erheblicher Teil der Im März 1937 überlegten Heinrich Eymer, der 87 Mitglieder aus dem Jahr 1929, die 1936 nicht damalige Vorsitzende der Bayerischen Gesellschaft, mehr geführt wurden, wird indes ohne jeden Ver- und Rudolf Dyroff, der dies 1959 noch werden soll- folgungshintergrund schlicht und einfach aus Bay- te, wie mit den säumigen Beitragszahlern der Ge- ern verzogen und deshalb aus der BGGF ausge- sellschaft umzugehen sei. Dyroff empfahl in der schieden oder aber verstorben sein. Angelegenheit: „Von den Juden, die nicht mehr in Ein vollständiges Verzeichnis aller in den Jahren der Gesellschaft sein dürfen, würde ich keine Bei- nach 1933 mit Verfolgungshintergrund aus der träge mehr einfordern, auch wenn sie mit einem BGGF ausgeschiedenen Mitglieder oder sämtlicher größeren Betrag im Rückstand sein sollten.“10 entsprechender bayerischer Frauenärztinnen und Ganz offenbar ging der Vorstand der BGGF im Jahr ‑ärzte, etwa im Sinne eines Gedenkbuches,12 kann 1937 mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, an dieser Stelle, dies sei ausdrücklich betont, nicht dass „Juden“ tatsächlich keine Mitglieder der Ge- geleistet werden. Hier wurde der umgekehrte Weg sellschaft mehr sein durften – eine einschlägige beschritten: Ausgehend von den Angaben in den Satzungsänderung oder auch nur ein entsprechen- Mitgliederverzeichnissen der Gesellschaft wurde der Vorstandsbeschluss findet sich hingegen nicht der Weg in die Archive gesucht, um zu einzelnen in den Unterlagen der Gesellschaft. Vorgängen historisch handfestes und bislang nicht Die in dieser Hinsicht aussagekräftigsten Doku- ausgewertetes Aktenmaterial zu heben, das – so mente stellen maschinenschriftliche Mitgliederlis- die Hoffnung – in einigen Varianten die Verfol- ten der Jahre 1929 und 1936 (Abbildung 6.1), Letz- gungsgeschichte „jüdischer“ Mitglieder der Gesell- tere mit handschriftlichen Nachträgen bis 1939, schaft am konkreten Beispiel zu konturieren ver- aus dem Archiv der BGGF dar. Ganze 87 Mitglieder mag. Im Zentrum des Artikels stehen die Verfol- (von insgesamt 158), die 1929 noch geführt waren, finden sich 1936/39 nicht mehr auf der Liste, die für das Jahr 1936 hundert Mitglieder verzeichnet. Al- 11 Damskis: Zerrissene Biografien (2009); für Nürnberg: lein die Zahlen sprechen für eine umfassende Ve- Rieger; Jochem: Jüdische Ärzte (2009); für München ränderung der Mitgliederstruktur in diesen Jahren. Jäckle: Schicksale (1988); alle Titel mit weiteren Lite- ratur- und Quellenangaben. Es ist nicht ganz leicht, daraus zuverlässig auf Ver- 12 Als hervorragendes Beispiel: Schwoch: Kassenärzte drängung und Verfolgung in den Einzelfällen zu (2009), das auch von der Datengrundlage (Reichsarzt- schließen. Im Jahrgang 1937 des Reichsmedizinal- register) und methodischen Konzeption her Grundla- ge ähnlicher Unterfangen sein muss. Die Arbeit doku- 8 Rudloff; Ludwig: Jewish gynecologists (2005), S. 248; mentiert in Kurzbiographien 2018 Berliner jüdische zur Einordnung von Stoeckel Schagen: Stoeckel Kassenärzte. Als Pionierarbeit bezogen auf ein medi- (2010). zinisches Fach muss Seidler: Jüdische Kinderärzte 9 Ludwig: Reden (1999), S. 152. (2007) in zweiter und erweiterter Ausgabe gelten; 10 Nach Kinzelbach in diesem Band. zuletzt vgl. Krischel u.a.: Urologen (2011).

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Abb. 6.1 Mitgliederverzeichnis Ende 1936, Ausschnitt (Quelle: Archiv BGGF).

gungsbiographien von Erwin Zweifel und Richard der mehr gehabt und war zu Beginn der Diktatur in Fleischer. deren Worten schon „judenfrei“.14 Ergänzend fiel Die Recherchestrategie lief darauf hinaus, zwei die Ortswahl auf Fürth (Bayern) als eine kleinere Orte auszuwählen, um die Zahl der zu konsultieren- Stadt mit seinerzeit etwa 80000 Einwohnerinnen den Archive zu beschränken, dabei aber gleichzeitig und Einwohnern,15 die durch die 1906 erfolgte Stif- die Möglichkeit zu eröffnen, zusammenhängende tung eines Wöchnerinnen- und Säuglingsheimes Vorgänge zu eruieren und auf diese Weise die ein- durch den jüdischen Rechtsanwalt Alfred Louis Na- zelnen Verfolgungsgeschichten auch im lokalen than, das seit 1925 der ärztlichen Leitung des Rahmen kontextualisieren zu können. Die Wahl fiel BGGF‑Mitglieds Richard Fleischer unterstand, im naheliegender Weise zuerst auf München, das – hier angesprochenen Zusammenhang von beson- nicht zuletzt des Weiterbestehens der Münchner derem Interesse ist.16 Gesellschaft innerhalb der BGGF wegen –13 in den Mitgliederzahlen der bayerischen Gesellschaft weit überrepräsentiert ist und das es mit seiner Universi- tät und den Universitätsklinika erlaubt, den Ver- drängungs- und Vertreibungsprozess innerhalb ei- ner bayerischen Hochschule zu erläutern, wozu sich das Beispiel des BGGF‑Mitglieds Erwin Zweifel als besonders materialreich erwies. Die Erlanger Medizinische Fakultät etwa hat bereits 1933 keine aus rassischen Gründen zu vertreibenden Mitglie- 14 Wittern-Sterzel; Frewer: Aberkennungen (2008), S. 40/41. 13 Vgl. den Artikel von Annemarie Kinzelbach in diesem 15 Ohm: Fürth (2007), S. 296. Band. 16 Ohm: Nathanstift (2010).

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– 29. März, hatte Hitler das Kabinett mit seinen Plä- Gustav Wiener ein frühes Opfer nen bekannt gemacht, „in Abwehr der verbrecheri- des SA‑Terrors schen Hetze ab Sonntag, den 1. April 1933, vorm. 10 Uhr, über alle jüdischen Geschäfte, Warenhäu- Die nationalsozialistische Herrschaft musste für die ser, Kanzleien usw. den Boykott zu verhängen“, nunmehr als „nichtarisch“ geltenden Deutschen wie der von Julius Streicher gezeichnete Aufruf nicht zwingend mit subtilen, aber weniger auffälli- vom 31. März dann formulierte.19 gen und nicht unmittelbar handgreiflichen Wider- wärtigkeiten beginnen, um sich dann nach und „ “ nach im Sinne einer kumulativen Radikalisierung Das Gesetz zur Wiederherstellung (Hans Mommsen) zu steigern und im Völkermord zu enden. Sie umfasste bereits in den ersten Wo- des Berufsbeamtentums chen gewaltsame und mörderische „Aktionen“. Der in Regensburg geborene Frauenarzt Gustav Die „Reichsleitung der deutschen Freiheitsbewe- Wiener, ein BGGF‑Mitglied, und seine Frau Babette gung“, wie sich die Hitler-Regierung im Boykott- wurden in der Nacht vom 28. auf den 29. März aufruf gegen alle jüdischen Betriebe und Geschäfte, 1933 – Wiener stand kurz vor seinem sechzigsten Rechtsanwälte und Ärzte zum 1. April 1933 be- Geburtstag – in ihrer Wohnung von einer Horde zeichnete, besorgte sich um eine nicht allein sach- SA‑Schläger überfallen.17 Während zwölf Mann lich, sondern auch politisch zuverlässige Beamten- mit dem Gewehrkolben gegen zwei Uhr nachts die schaft. Mit diesem Ziel erging am 7. April das Tür der Wohnung Odeonsplatz 1, Ecke Brienner- „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamten- straße einschlugen und die Telefonleitungen kapp- tums“,20 das es ermöglichte, „Beamte, die nach ih- ten, standen weitere Männer vor der Tür Wache, rer bisherigen politischen Betätigung nicht die Ge- um Nachbarn, nächtliche Passanten oder reguläre währ dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für Polizei, die von den Schreien aufgeschreckt werden den nationalen Staat eintreten“, aus dem Dienst zu könnten, bei eventuellen Hilfeversuchen einzu- entlassen (§ 4), und das vorsah, „Beamte, die nicht schüchtern. Die Wohnungseinrichtung, insbeson- arischer Abstammung sind, […] in den Ruhestand dere das Arbeitszimmer Wieners, wurde weitest- zu versetzen“ (§ 3). Lange vor den auf dem „Reichs- gehend zerschlagen; Herr und Frau Wiener wur- parteitag der Freiheit“ 1935 erlassenen „Nürnber- den von den Schlägern misshandelt und gezwun- ger Gesetzen“ legte die Regierung in der ersten Ver- gen, sich zu entkleiden, so dass die Eheleute nackt ordnung zum „Berufsbeamtengesetz“ vom 11. April und blutend vor den gewalttätigen Einbrechern für Behörden verbindlich fest, was sie unter „nicht- standen; Gustav Wiener waren sämtliche Zähne arisch“ verstand: „Als nicht arisch gilt, wer von eingeschlagen, beide Schienbeine und mehrere nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Rippen gebrochen worden. In diesem Zustand Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Eltern- schleppten die SA‑Männer den schwer verletzten teil oder ein Großelternteil nicht arisch ist.“ Frauenarzt auf die nächste Polizeiwache. Frau Wie- In den kommenden Wochen verschickten sämt- ner lief daraufhin mit Nachthemd und einem Pelz- liche Behörden – wozu in diesem Fall auch die Uni- mantel bekleidet zu ihrer benachbarten Freundin versitäten mit ihren beamteten Angehörigen zäh- Elfriede Dittmar, Odeonsplatz 8, um von dort mit len – schlichte Fragebögen an alle Mitarbeiterinnen dem Roten Kreuz zu telefonieren. Dem Roten Kreuz und Mitarbeiter, in denen deren „arische“ Abstam- gelang es schließlich, Gustav Wiener auf der Poli- zeiwache auszumachen und ihn in die Wohnung 18 Gemeint ist vermutlich die Frau des praktischen Arz- zurückzubringen, wo er von seiner Ehefrau, Elfrie- tes und Geburtshelfers Ludwig Thalheimer, der 1939 de Dittmar und „Frau Dr. Thalheimer“18 notdürftig nach Auer, Provinz Trient, in Italien, floh, wo er 1943 von der Wehrmacht verhaftet wurde, aber aus einem versorgt und in das Rotkreuzklinikum an der Nym- Gefangenenlager fliehen konnte. Er lebte später in phenburger Straße gebracht wurde. Gustav Wiener Bozen, wo er 1956 verstarb. Jäckle: Schicksale (1988), verstarb am 25. November 1933. Am Tag der in der S. 129; Damskis: Zerrissene Biografien (2009), S. 230. Konsequenz tödlichen Gewalttat gegen ihn, dem 19 Friedländer: Das Dritte Reich (2007), S. 26–38; Longe- rich: Die Deutschen (2006), S. 58–66. Der Aufruf ist 17 Nach den Berichten von Barbara (Babette) Wiener zitiert nach Hürten; Müller: Deutsche Geschichte und Elfriede Dittmar in: BayerHStaatsA M LEA 39 958. (1995), Nr. 50, S. 168 f. Die Angaben zu Gustav Wiener in Jäckle: Schicksale 20 Zitiert nach Hürten; Müller: Deutsche Geschichte (1988) sind korrekturbedürftig. (1995), Nr. 53, S. 176–178.

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Münchner Universitätsfrauenärzte, deren ausge- füllte Fragebögen für diese Arbeit durchgesehen wurden, haben sich allerdings nicht zu solcher Iro- nie durchringen können. Tatsächlich bedeuteten das Gesetz und seine erste Durchführungsverordnung einen erheblichen Einschnitt in der Verfolgungsgeschichte der deut- schen Juden: Entscheidend dafür ist genau nicht die Qualität der Definition von „arisch“, sondern das schlichte Vorhandensein einer solchen Definiti- on überhaupt und die damit nicht weiter diskuta- ble Suggestion, eine solche Definition könne – an- hand welcher Kriterien auch immer – auf dem Ver- ordnungs- oder Gesetzeswege erfolgen. Insofern ist Abb. 6.2 Notiz über Erwin Zweifels Abstammung das Berufsbeamtengesetz die Grundlage aller wei- ‑ ‑ (Quelle: Universitätsarchiv München, E II 3691, PA teren Verfolgungsmaßnahmen. Um die Reichweite Erwin Zweifel). dieses Gesetzes und seiner Folgen aus der Perspek- tive der Verfolgten einschätzen zu können, ist es in- mung abgefragt wurde. Das in München benutzte des sinnvoll, an einem biographischen Beispiel et- Formular enthielt erläuternd dazu noch den Hin- was weiter zurück zu gehen und die Vorgeschichte weis „Entscheidend ist aber nicht die Religion, son- kurz zu klären. Dies soll am Beispiel des BGGF‑Mit- dern die Rassezugehörigkeit der vier Großeltern“.21 glieds Erwin Zweifel geschehen. Die Prüfung von Ahnenreihen und die Feststellung Dem 1885 als Sohn des Erlanger Ordinarius für „arischer“ Abstammung war ein neuer Verwal- Geburtshilfe und Gynäkologie und späteren Vorsit- tungsvorgang, der vom Personal der Verwaltungs- zenden der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie apparate erst eingeübt werden musste. In der Per- Paul Zweifel23 in Erlangen geborenen Erwin Zweifel sonalakte von Erwin Zweifel findet sich ein kleiner war – so musste es lange scheinen – eine glänzende Notizzettel (Abbildung 6.2), auf dem der zuständige Karriere geradezu vorgezeichnet. Er hatte in Edin- Sachbearbeiter offenbar versucht hat, sich dessen burgh, Leipzig und Freiburg Medizin studiert und Abstammung und die daraus zu ziehenden Konse- wurde 1910 approbiert und promoviert. Als ein- quenzen zu veranschaulichen, indem der im Sinne jährig-freiwilliger Arzt diente er daraufhin beim des Gesetzes „jüdische“ Erbweg mit rotem Stift Feldartillerie-Regiment No. 48 in Dresden, um den markiert wurde. Sommer 1911 als Schiffsarzt in „Deutschostafrika“ Wie absurd die zugrunde liegende Definition und Kamerun zu verbringen. Von Oktober 1911 bis war, entlarvte der Kieler Ordinarius für Rechtsge- März 1913 war Zweifel erstmals als Assistent an schichte und ‑philosophie Ernst Kantorowicz, der der I. Universitäts-Frauenklinik in München (Abbil- an entsprechender Stelle in den Fragebogen ein- dung 6.3), wechselte von dort für ein Jahr als erster trug: „Da zu einer Rückfrage, in welchem Sinne Assistent nach Jena und verbrachte noch zwei Mo- das Wort Rasse verwendet wird, keine Zeit ist, be- nate als Volontärassistent an der Chirurgie in schränke ich mich auf folgende Erklärung: Die Ras- Würzburg, bevor er von August 1914 bis zur Demo- sezugehörigkeit im wissenschaftlichen (anthropo- bilmachung Kriegsteilnehmer war. Von Februar logischen) Sinn vermag ich nicht mehr festzustel- 1919 an war er wieder Assistent bei Albert Döder- len, da meine 4 Großeltern sämtlich seit langem lein in München, wo er 1920 mit einer Schrift „Ue- verstorben sind und m.E. die erforderlichen Mes- ber die Entstehung der Eklampsie“ habilitiert sowie sungen usw. s.Z. nicht vorgenommen wurden. Ihre am Heiligen Abend 1925 zum außerordentlichen Rasse im volkstümlichen (sprachlichen) Sinne war, Professor ernannt wurde.24 da sie sämtlich Deutsch als Muttersprache spra- chen, die deutsche, also eine indogermanische 22 Zitiert nach Friedländer, Das Dritte Reich (2007), oder arische. Ihre Rasse im Sinne der 1. Durchfüh- S. 62. rungsverordnung zum Gesetz v. 7. April 1933 § 2 23 Zu Paul Zweifel siehe die Ausführungen von Marion Abs. 1 Satz 3 war die jüdische Religion.“22 Die Ruisinger in diesem Band. 24 UnivA M E‑II‑3691, PA Erwin Zweifel (np); Bayer- HStaatsA M MK 35817, PA Erwin Zweifel (np). UnivA 21 UnivA M E‑II‑3691, PA Erwin Zweifel (np). MN‑I‑96 Bd. 5 Nr. 5 (Habilitation Zweifel).

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Abb. 6.3 Universitäts-Frauenklinik München I (Quelle: I. UFK München).

Um 1920 begann er, sich mit der gynäkologi- heiratete Erwin Zweifel die Berliner Bankierstoch- schen Strahlentherapie zu befassen, was ihm bald ter Gabriele Meyer. Selbstbewusst schrieb er noch auch internationale Anerkennung einbrachte. In im Januar 1928 an die Universitätsleitung, er erbit- der zweiten Hälfte des Jahres 1923 war er nach te „eine Damenkarte für die in Frage kommenden Dublin eingeladen worden, um „dort eine Strahlen- Veranstaltungen (Besuch von Staatssammlungen, abteilung während dieser Zeit einzurichten, zu lei- Museen, etc.)“, was allerdings abschlägig beschie- ten und Vorträge über den Stand und die Methoden den wurde, da die Universität keine „Damenkarten der Strahlenbehandlung in Deutschland zu halten.“ zum Besuch von Staatssammlungen, Museen usw. Sein Chef Döderlein begrüßte dies ausdrücklich [vermittle, F.D.]. Dagegen erhalten die Herren Do- „mit dem Bemerken, dass ich Dr. Zweifel auf 2 Mo- zenten für ihre Damen zu den akademischen Feier- nate unter Fortbezug seines Gehaltes beurlaubt ha- lichkeiten der Universität München von Fall zu Fall be, von dem Gesichtspunkte ausgehend, dass es Einladungskarten.“26 Sein Selbstbewusstsein zeigt sehr begrüßt werden muss, wenn deutsche Gelehr- sich auch in dem Umstand, dass Zweifel im Som- te ins Ausland berufen werden, zumal nach Gross- mer 1931 eine belanglose Auseinandersetzung mit britannien, um die Ueberlegenheit der deutschen seinem Chef Döderlein um die vorherige Ankündi- Forschung dort zu erweisen.“25 gung eines Vortrags bzw. Vortragstitels unter Beru- Der Aufenthalt in Dublin wurde schließlich bis fung auf seine „persönliche Ehre“ eskalieren ließ, zum April 1924 verlängert, anschließend war Zwei- um schließlich (und vergeblich) eine amtliche Un- fel noch ein weiteres Jahr für röntgenologische Ar- tersuchung gegen Döderlein zu fordern und seine beiten in Belgrad beurlaubt. Im Dezember 1927

25 BayerHStaatsA M MK 35 817, PA Erwin Zweifel (np). 26 UnivA M E‑II‑3691, PA Erwin Zweifel (np).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF 101 mit immerhin 6400 RM monatlich vergütete Stelle Daran scheiterte indes das entsprechende Ver- als Assistent zu kündigen.27 fahren von Hans Sänger. Er war 1923 von Döderlein In den Jahren 1925, 1926, 1927, 1929, 1932 und und dem Pathologen Max Borst habilitiert worden 1933 firmierte Zweifel als Vortragender auf den und führte seit 1927 den Professorentitel.30 Mehr- jährlichen Kongressen der BGGF, 1932 und 1933 so- fach war das BGGF‑Mitglied Sänger auch als Vortra- gar mit jeweils zwei Vorträgen.28 Als Referent hatte gender bei den Kongressen der Gesellschaft aufge- er 1930 die USA bereist, wo er auf dem Amerikani- treten.31 Erst im März 1933 wurde sein Dienstver- schen Gynäkologenkongress, in den Gynäkologi- trag als „gehobener ordentlicher Assistent“ an der schen Gesellschaften in New York, Chicago, St. Louis II. Gynäkologischen Klinik der Universität München sowie der Mayo Clinic in Rochester und der Univer- um zwei Jahre verlängert. 32 Er stammte von zwei sität Chicago sprach. Erwin Zweifel war also, sowohl jüdischen Großeltern im Sinne des Berufsbeamten- privat als auch beruflich, ein „gemachter Mann“– gesetzes ab und führte zur Kompensation ebenfalls ein in Forschung und Klinik sowohl in Bayern als den „Frontkämpferparagraphen“ an, nach dem Be- auch international geachteter Gynäkologe und ge- amte, „die im Weltkrieg an der Front für das Deut- fragter Vortragsredner, dessen Privatpraxis inzwi- sche Reich oder seine Verbündeten gekämpft schen so gut lief, dass er auf die Stelle und das Gehalt haben“, von den Bestimmungen ausgenommen eines Assistenten an der Universitätsklinik verzich- waren.33 Sänger gab an, von November 1917 bis Ja- ten konnte, um dort lediglich noch die Vorlesungen nuar 1919 im Militärdienst gestanden zu haben, zu halten, zu denen er kraft seiner Venia legendi und von April bis September 1918 in „dem dauernd un- des Professorentitels verpflichtet war. ter feindlichem Fliegerfeuer stehenden Kriegslaza- Dies war die Situation, als Zweifel im Juni 1933 rett bayr. 63 in Cambrai“, zudem an einem Seu- den Fragebogen über seine Abstammung zu bear- chenlazarett, was dem Frontdienst gleichzustellen beiten hatte, der im Zuge des Berufsbeamtengeset- sei. Die einfache Mitteilung Sängers reichte den Be- zes von sämtlichen Universitätsangehörigen auszu- hörden allerdings nicht, und die im Oktober amt- füllen war.29 Auf die Frage, welchen politischen Par- lich eingeholte Nachricht vom bayerischen Kriegs- teien er bislang angehört habe, antwortete Zweifel: archiv führte schließlich dazu, dass Hans Sänger „keine (außer Stahlhelm)“. Es ergab sich aber darü- noch im November 1933 mit sofortiger Wirkung ber hinaus, dass beide Elternteile seiner in Fürth aus dem bayerischen Staatsdienst entlassen wurde. geborenen Mutter Therese Brandeis als Angehörige Schwierig wurde mit dem Berufsbeamtengesetz der „israelitischen Religion“ im Sinne des Gesetzes auch die berufliche Situation des amtierenden Vor- galten und dass Zweifels Ehefrau Gabriele Meyer sitzenden der BGGF, Oskar Polano,34 der im Sinne von vier jüdischen Großeltern im Sinne des Berufs- des Gesetzes ebenfalls keine „arische Abstam- beamtengesetzes abstammte. Immerhin bestätigte mung“ nachweisen konnte. In seinem Fall schien das bayerische Kultusministerium im Oktober ihn vorerst die Bestimmung zu schützen, dass „Be- 1933, dass Zweifel, der im Ersten Weltkrieg mit amte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse so- gewesen sind“35, ebenfalls nicht in den Ruhestand wie dem Adlerorden mit Schwertern ausgezeichnet versetzt werden sollten. Polano war indes schwer worden war, seine Frontkämpfereigenschaft nach- gewiesen habe. 30 BayerHStaatsA M MK 44 237, PA Hans Sänger. 31 Mitgliederverzeichnis 1929; Vorträge: Zur Frage der 27 BayerHStaatsA M MK 35817, PA Erwin Zweifel (np); aktiven Abortbehandlung (1921), Über vorzeitige Lö- UnivA M E‑II‑3691, PA Erwin Zweifel (np). sung der außerhalb der Geburtsbahn inserierten Pla- 28 Nach den Tagungsberichten der entsprechenden Jah- zenta/Einige Beobachtungen bei Neugeborenen- re. Im Einzelnen sprach Zweifel über: Ein neues Zan- asphyxie (1922), Über Kompression der Nabelschnur genmodell (1925), Über chemische Untersuchungen durch die kindliche Hand (1927), Unsere Erfahrungen des Corpus luteum (1926), Zur Strahlenbehandlung mit der Tubensterilisation nach Madlener, mit salpin- der weiblichen Genitaltuberkulose (1927), Zur ge- gographischer Nachprüfung (1933). burtshilflichen Indikationsstellung (1929), Ein neuer 32 BayerHStaatsA M MK 44 237, PA Hans Sänger (np). Tamponator, Über das Corpus-Carcinom (beide 33 Zitiert nach Hürten; Müller: Deutsche Geschichte 1932), Ein neues Kolposkop, Über den Ptyalismus (1995), Nr. 53, S. 176–178. gravidarum (beide 1933). 34 BayerHStaatsA M MK 44 136, PA Oskar Polano (np). 29 Zur Durchführung des Berufsbeamtengesetzes und Ausführlich dazu der Artikel von Annemarie Kinzel- der Situation an den deutschen Universitäten im bach in diesem Band. Frühjahr und Sommer 1933 vgl. Friedländer, S. 62– 35 Zitiert nach Hürten; Müller: Deutsche Geschichte 73. (1995), Nr. 53, S. 176–178.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 102 „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF erkrankt: Seine Augenerkrankung führte dazu, Jahr 1950 dessen Herzschwäche und ein in der Fol- dass er den Fragebogen von seiner Frau ausfüllen ge 1949 aufgetretenes Lungenödem darauf zurück, lassen musste; im Juli 1933 bat der fast sechzigjäh- dass er nach seiner plötzlichen Flucht nach Los An- rige Polano um seine vorzeitige Pensionierung und geles im Jahr 1935 darunter litt, dass sein Bruder in verstarb im Juli 1934. Darmstadt erschossen wurde, seine Schwieger- Für Sänger hatte die Entlassung die Konsequenz, mutter Selbstmord beging und er bis 1938 seine dass ein vor allem gegen ihn und den Direktor der Frau noch in Deutschland wusste, damit sie we- II. Gynäkologischen Klinik, das BGGF‑Mitglied nigstens einen Teil des gemeinsamen Vermögens Franz Weber36, gerichtetes Untersuchungsverfah- retten könne – das Ehepaar besaß eine mit 100 000 ren wegen des Verdachts, dass sie „die Frage der Mark taxierte Kunstsammlung.41 Schwangerschaftsunterbrechung und der Sterili- Erwin Zweifel war der einzige der hier betrachte- sierung ganz außerordentlich weitherzig“37 behan- ten Universitätsangehörigen, der vorerst in seiner delt und systematisch „indicationelle Mißwirt- Professorenposition belassen wurde. Ob und in wel- schaft betrieben“ hätten, im Grunde ohne weitere cher Form seine Vorlesungen boykottiert oder auch Folgen blieb. Weber hatte sich während der von handgreiflich gestört worden sind, ließ sich den Carl Menge aus Heidelberg38, einem späteren konsultierten Akten nicht entnehmen und war im Ehrenmitglied der BGGF, geleiteten Untersuchung Rahmen dieser Untersuchung nicht zu ermitteln – umgebracht, Sänger war aufgrund des Berufsbeam- auf diese regelmäßig durch die jeweiligen NS‑Stu- tengesetzes bereits entlassen, so dass das vernich- dentenschaften der Universitäten veranstalteten tende „Gesamtergebnis der Gutachten der Untersu- „Aktionen“ sei jedoch wenigstens hingewiesen. chungskommission […] nach den nationalsozialis- Da Zweifel, wie bereits erwähnt, seine Stellung tischen Grundsätzen über die Pflichten des Arztes“ als Assistent im Streit mit Döderlein bereits 1931 lediglich den Internisten Friedrich Hiller traf und gekündigt hatte, hatte er Auslandsreisen und Beur- dessen Entlassung zur Folge hatte.39 Noch 1934 laubungen von seinen Lehrverpflichtungen nun- wanderte der von norwegischen Großeltern ab- mehr unmittelbar dem Rektorat einzureichen. Im stammende Gynäkologe Sänger nach Norwegen Juni 1934 teilte er dort mit, dass er von der „Ame- aus, wo er 1943 verstarb. rican Association of Obstetricians and Gynecolo- gists“ erneut zu einem Vortrag eingeladen war. Das Rektorat legte dies dem Dozentenführer der Fortsetzung der Ausgrenzung Universität mit dem bezeichnenden Namen Wil- helm Führer vor, ein handschriftlicher Vermerk und Verfolgung nach der Vorlage ergänzte „Dr. Zweifel ist nichtarischer dem Berufsbeamtengesetz Abkunft“. Der Dozentenführer urteilte, dass einer Reise Zweifels als Privatperson keine Einwände Die einzelnen Verfolgungsgeschichten mussten entgegenstünden. Das Rektorat empfahl dann dem sich nicht in jedem Fall auf Angriffe oder Entrech- zuständigen Ministerium am 31. Juli: tung der betroffenen Gynäkologen beschränken – „Professor Dr. Zweifel hat mitgeteilt, daß er se- die sich zuspitzende Situation konnte auch Famili- hen will, ob er nicht in Amerika bleiben kann. Mit enmitglieder betreffen. Die Witwe des BGGF‑Mit- Rücksicht darauf beantrage ich die Reise zu geneh- glieds Friedrich Wilhelm Callmann40 beispielswei- migen und ihm aufzulegen, daß er bei seiner Teil- se führte in ihrem Entschädigungsantrag aus dem nahme an der Tagung in jeder Weise klarstellt, daß er nicht etwa im Auftrage des Staates oder der Uni- 36 Mitgliederverzeichnis 1929; Vorträge auf BGGF‑Jah- versität oder der Fakultät, sondern als Professor resversammlungen: Zur Behandlung gynäkologi- Zweifel gekommen ist.“ scher Erkrankungen mit Röntgenstrahlen (1912), Die Aus der schlichten Anzeige einer Vortragsreise chirurgische Behandlung des Puerperalfiebers in die Vereinigten Staaten eines nicht an der Uni- (1921), Schwangerschaftsunterbrechung und Sterili- sation in einer Sitzung (1922). versität oder deren Klinik beschäftigten außeror- 37 Zur Abtreibungsdebatte der 1920er und 1930er Jahre dentlichen Professors entwickelte sich in diesem und der Verschärfung der einschlägigen Gesetzge- Fall eine Angelegenheit, deren Schriftwechsel bis bung während des Nationalsozialismus vgl. den Bei- zur endgültigen Stellungnahme des Ministeriums trag von Renate Wittern-Sterzel in diesem Band. im August sich über annähernd zwei Monate hin- 38 Zu Menge Bröer: Geburtshilfe (2006). 39 BayerHStaatsA M MK 44 237, PA Hans Sänger (np). 40 Vgl. Damskis: Zerrissene Biographien (2009), S. 220. 41 BayerHStaatsA LEA 633, Friedrich Wilhelm Callmann.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF 103 zog und das Rektorat, den Dozentenführer und das beim Dekan der Medizinischen Fakultät „um Ur- Ministerium beschäftigte. Die Universitäts- sowie laub für das Wintersemester 1935/36, um mich die Ministerialverwaltung betrachteten die Geneh- ganz Studien widmen zu können“.46 Erneut ent- migung von Zweifels Vortragsreise in die USA 1934 spann sich ein Schriftwechsel zwischen Dekanat, offensichtlich als ein geeignetes Vehikel, den Gynä- Rektorat und Staatsministerium unter Einbezie- kologen ohne größeren Aufwand loszuwerden. hung des Dozentenführers, der insbesondere durch Aber Zweifel kehrte zurück. Noch im November die harsche Belehrung des Rektors durch den De- teilte er der Münchner Universität mit, dass ihn kan vom 7. Dezember unangenehm imponiert, die amerikanische Gesellschaft zum Ehrenmitglied „dass nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Ge- gewählt habe. setze und ihren Erstattungsbestimmungen die Be- Vor allem beeindruckt der Wandel der Kenn- zeichnung ʼNichtarierʼ nicht mehr gebraucht ist. Es zeichnung nationaler Zugehörigkeit und Wert- handelt sich um die von mir geforderte Stellung- schätzung innerhalb weniger Jahre: Im Zusammen- nahme darum, ob Professor Zweifel Jude, Halb- hang mit seiner Habilitation gab Zweifel im August oder Vierteljude ist und auch seine Ehefrau.“47 1920 zur völligen Zufriedenheit des Rektorats an, er Noch in den Tagen zwischen Weihnachten und Sil- besitze nicht etwa die deutsche, sondern „die baye- vester 1935 waren sich die beteiligten Stellen darü- rische und sächsische Staatsangehörigkeit; die baye- ber einig geworden, dass Zweifel vom Lehrbetrieb rische, weil mein Vater bayerischer Beamter war, die zu entpflichten sei, obwohl dies nach Weisungslage sächsische, weil er jetzt sächsischer Beamter ist.“42 zwingend nur für Beamte mit drei oder vier jüdi- Im September 1923 unterstützte Döderlein Zweifels schen Großeltern gelte. Der amtliche Bescheid Tätigkeit in Dublin, da „es sehr begrüßt werden über die Entziehung der Lehrbefugnis mit Ablauf muss, wenn deutsche Gelehrte ins Ausland berufen des Jahres 1935 an Zweifel datiert vom 2. März werden, […] um die Ueberlegenheit der deutschen 1936, eine Mitteilung darüber mit Eilvermerk war Forschung dort zu erweisen.“ Keine elf Jahre später ihm am 4. Januar zugestellt worden. war Erwin Zweifel offenbar nicht mehr die geeigne- Mit der fortschreitenden Entrechtung konnten te Person, um die „Ueberlegenheit der deutschen sämtliche privaten Geschäfte Zweifels von dessen Forschung“ im Ausland zu erweisen. Im Zusammen- Partnern zunehmend willkürlich sabotiert werden, hang mit einem Gerichtsverfahren bekannte Zwei- indem Zahlungsverpflichtungen gefahrlos nicht fel im Januar 1936: „Ich bin sowohl Schweizer wie mehr eingehalten wurden. Besonders schwer wird Deutscher Staatsangehöriger, mein Vater war ge- durch die Wiedergutmachungsakte die Firma Kam- bürtiger Schweizer“43; kurz nach seiner Flucht in merer in München belastet.48 Zweifel hatte der Fir- die Schweiz im Jahre 1939 bemühte sich Zweifel ma im Herbst 1935 10 000 Reichsmark geliehen, um die Erstattung der „Reichsfluchtsteuer“ wegen damit diese Patentanmeldungen vornehme und seiner doppelten Staatsangehörigkeit.44 Zweifel an den erhofften Erlösen beteilige, was Mit dem „Reichsbürgergesetz“ vom 15. Septem- nicht geschah; die fälligen Zinszahlungen für ein ber 193545 und der dort getroffenen Unterschei- 1936 gewährtes Darlehen über weitere 20 000 dung zwischen Staats- und Reichsbürgern wurde Reichsmark waren zu Beginn der 1940er Jahre ein- die bürgerliche Stellung der nach rassistischen Ge- gestellt worden. Kurz vor seiner Flucht in die sichtspunkten jüdischen Staatsbürger weitestge- Schweiz hatte Zweifel Rudolf Kammerer überdies hend marginalisiert; die 1. Durchführungsverord- sein Auto verkauft, ohne jemals Zahlungen dafür nung dazu präzisierte nun auch die seit 1933 erhalten zu haben. Aus der Akte geht hervor, dass rechtsgültigen Vorschriften darüber, wer fortan als Kammerer 1946 Zweifels Bruder Alfred in Baden- „Jude“ zu gelten hatte, und hob die Ausnahmebe- Baden offenbar aus schlechtem Gewissen vor der stimmungen aus dem Berufsbeamtengesetz ersatz- Währungsreform annähernd wertlose 1000 los auf. Ob, von wem und in welcher Form Zweifel Reichsmark zukommen ließ. entsprechende „Empfehlungen“ erhielt, geben die Seit Januar 1936 scheint sich Zweifel mit einer Akten nicht her, aber am 1. November 1935 bat er Flucht in die Schweiz befasst zu haben; er sondierte die Möglichkeit, dort Immobilien zu erwerben. 42 UnivA M E‑II‑3691 PA Zweifel, Schreiben Zweifels an Dies führte jedoch unmittelbar zur Denunziation das Rektorat vom 25. 08. 1920. 43 StaatsA M Staatsanwaltschaften 8261, p. 2. 46 BayerHStaatsA M MK 35 817, PA Zweifel (np); UnivA 44 BayerHStaatsA LEA 41 295, Gabriele Zweifel (np). ME‑II‑3691 PA Zeifel (np). 45 RGBl. I S. 1146; Gütt; Linden; Maßfeller: Blutschutz- 47 UnivA M E‑II‑3691 PA Zweifel (np). und Ehegesundheitsgesetz (1936), S. 245. 48 StaatsA M Wiedergutmachung Ia4952 (np).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 104 „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF

Zweifels wegen Devisenvergehen durch den als Be- Die „Gleichschaltung“ und rater hinzugezogenen Josef Gruber. Gruber war sei- „ “ nerseits wegen Devisenvergehen vorbestraft und Arisierung einer jüdischen angesichts seiner guten Kontakte in die Szene von Stiftung: das Fürther Nathanstift der Zollfahndung als Spitzel eingesetzt worden.49 Zweifel wurde am 14. Januar festgenommen und Ganz anders als in der Groß- und Universitätsstadt am 15. Januar wieder aus der Haft entlassen, was München gestalteten sich die Dinge in dem mit sei- den darüber offenbar enttäuschten Gruber weit nerzeit etwa 80000 Einwohnerinnen und Einwoh- über jeden Auftrag, den er von der Zollfahndung nern erheblich kleineren Fürth, das urban im gehabt haben kann, am 18. Januar dazu veranlasste, Schatten der benachbarten Großstadt Nürnberg, Zweifel abträglicher Äußerungen über das Deut- akademisch im Schatten der ebenfalls benachbar- sche Reich, dessen Beamtenschaft und insbesonde- ten Universität Erlangen lag. Fürth verfügt über re dessen „Führer“ im Sinne des sogenannten eine außerordentlich reiche jüdische Tradition und „Heimtückegesetzes“ zu beschuldigen. Erneut wur- war bis ins 18. Jahrhundert hinein eine der Städte de Zweifel verhaftet und benannte Reichsärztefüh- mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil im rer Wagner als „Gewährsmann für meine politische deutschen Sprachraum. Auch wenn sich der Anteil Zuverlässigkeit“ sowie den ebenfalls an dem Son- im Laufe des 19. Jahrhunderts drastisch reduzierte, dierungsgespräch mit Gruber beteiligten Johann verfügte die Stadt auch im 20. Jahrhundert noch Dostler als Zeugen. Wagner war indes nicht bereit, über ein reiches wohltätiges Stiftungswesen aus jü- sich für Zweifel zu verwenden, und Dostler gab dischen Stiftungen.51 Im hier gewählten Zusam- ebenfalls ein recht ungünstiges Zeugnis für Zweifel menhang ist das von dem wohlhabenden Rechts- ab. Zweifels Rettung in dem Verfahren war, dass es anwalt Alfred Nathan 1906 mit 300 000 Mark fun- seinem Rechtsanwalt gelang, den Richter von der dierte Wöchnerinnen- und Säuglingsheim von völligen Unglaubwürdigkeit der Hauptzeugen besonderem Interesse (Abbildungen 6.4a–d).52 Dostler und insbesondere Gruber zu überzeugen. Die Einrichtung scheint unter jüdischen Ge- Trotz dieser Erfahrungen zog sich die Flucht burtshelfern einen ganz ausgezeichneten Ruf be- Zweifels in die Schweiz, deren Staatsangehörigkeit sessen zu haben. Als im Februar 1925 deren ärztli- er besaß, noch eine Weile hin. In der Entschädi- cher Leiter Julius Bing verstarb, der nebenbei eine gungsakte datiert Gabriele Zweifel den Entschluss offenbar ausgezeichnet laufende Privatklinik be- auf den Dezember 1937. Seine Durchführung trieb, konnte der Stiftungsrat nur elf Tage nach des- machte es jedoch nötig, vorerst nach Berlin zu zie- sen Tod beruhigt feststellen, dass eine Stellenaus- hen, um dort – bei den Schwiegereltern Zweifels in schreibung nicht notwendig sei, weil sich bereits Wannsee lebend – in Zusammenarbeit mit dem fünf Bewerber gemeldet hätten. Hinsichtlich der Schweizerischen Gesandten die bürokratischen Auswahlkriterien bemerkte der Stiftungsrat: „Mit Prozeduren zu erledigen. Erst Anfang November Rücksicht auf die Eigenart unserer Anstalt muss 1938, kurz vor dem verheerenden Pogrom am der Bewerber vornehmlich auch das Vertrauen der 9. November, gelang die Ausreise nach Zürich. Er- zahlenden Kreise gewinnen.“53 Die außerordentli- win Zweifel und seine Frau Gabriele haben Dikta- che Attraktivität der nebenamtlich zu versorgen- tur, Weltkrieg und Shoa in Brugg im Aargau über- den Stelle bezog sich also weniger auf das damit lebt. Erwin Zweifel verstarb dort am 12. Juli 1949.50 verbundene Gehalt, sondern auf den darauf zu- rückgehenden Ruf, der es ermöglichte, recht um- fangreich vermögende Klientel an die Privatpraxis zu binden. Dies führte 1931 dazu, dass der leitende Arzt ins Gerede gekommen war, überhöhte Sonder- rechnungen an im Nathanstift entbindende Privat- patientinnen zu stellen, überdies käme „fast keine Frau ohne Dammnaht aus der Anstalt“.54 Die Bewerbungen stammten überwiegend aus der Region und von jüdischen Geburtshelfern:

49 StaatsA M Staatsanwaltschaften 8261. 51 Ohm: Fürth (2007), S. 232–249. 50 Beglaubigte Abschrift von dessen Testament und Pro- 52 Ohm: Nathanstift (2010), S. 18–49. tokoll der Testamentseröffnung am 1.08. 1949 in 53 StadtA Fü 9–3877 Nathanstift, ärztliche Leitung (np). StaatsA M Wiedergutmachung Ia4952, p. 34. 54 StadtA Fü 9–3877 Nathanstift, ärztliche Leitung (np).

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Abb. 6.4 Fürth Nathanstift (Quelle: Stadtarchiv Fürth).

Richard Fleischer, Hans Sahlmann und Hans Kraus Fürth niederließ.56 Sein Vertreter am Nathanstift aus Fürth sowie Moritz Hirschmann aus Nürnberg, wurde Hans Sahlmann. daneben Walther Simon aus München und Gustav Tatsächlich haben beide Ende der 1920er Jahre Röther aus Breslau. Die Wahl fiel auf das BGGF‑Mit- äußerst erfolgreiche Privatpraxen in Fürth betrie- glied Richard Fleischer, der 1890 in Bayreuth gebo- ben. Der Fürther Chirurg Fritz Gastreich schätzte ren worden war, in München, Straßburg, Heidel- sie in 1963 angefertigten Gutachten für deren Ent- berg, Berlin und Erlangen studiert hatte, 1916 pro- schädigungsverfahren als die beiden erfolgreichs- moviert wurde und daraufhin in den Ersten ten Gynäkologen der Stadt ein und legte seinem Weltkrieg zog. Anschließend war er Assistent an Gutachten die Geschäftsberichte der AOK Fürth der Privatklinik von Adolf Theilhaber55 in Mün- bei; nach diesen Unterlagen habe ihr durchschnitt- chen, dem Gründer des „Daniel-Bund e.V. Gesell- liches Jahreseinkommen bei 20 000 (Sahlmann) schaft für ethische Erneuerung des Judentums“ bzw. bis zu 40000 oder nach der Schätzung seiner und Vereinsarzt des Israelitischen Frauenvereins in Ehefrau sogar bei 60000 Reichsmark (Fleischer) ge- München. Danach arbeitete Fleischer am städt- legen.57 Fleischers bewohnten eine neun bis zehn ischen Wöchnerinnenheim in Nürnberg, das er Zimmer große Wohnung in der Königstraße, in der vertretungsweise auch leitete, sowie an der Univer- sich auch die Praxis befand. Sahlmann gab an, dass sitätsfrauenklinik in Breslau, bis er sich 1924 in 56 Nach Fleischers Bewerbungsunterlagen in StadtA Fü 9–3877 Nathanstift, ärztliche Leitung (np). 55 Vgl. Jäckle: Schicksale (1988), S. 130; Damskis: Zerris- 57 BayerHStaatsA M LEA 11505 Richard Fleischer; Bay- sene Biografien (2009), S. 231. erHStaatsA M LEA 31625 Hans Sahlmann.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 106 „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF er „einen volleingerichteten Geburtskoffer, zwei – erst mit der Durchführung des Berufsbeamtenge- Sterilisationsapparate, einen Diathermieapparat, setzes im Sommer 1933 einsetzten, konnte eine ein Mikroskop, einen Instrumentenschrank, zwei rasch „gesäuberte“ und entschlossen handelnde Untersuchungsstuehle, einen kleinen fahrbaren Stadtverwaltung, dafür steht das Fürther Beispiel, Roentgenapparat, Hoehensonne und eine große im Mai bereits Vollzug melden. Auswahl von Instrumenten aller Art [besaß, F.D.], Zum 1. Dezember 1934 lud der neue ärztliche da ich in Privatkrankenhaeusern zu operieren Leiter des Nathanstifts, SA‑Sanitätsbrigadeführer pflegte und dazu meine eigenen Instrumente be- Streck, zu einer pompösen „Kundgebung der nutzte.“58 Besonders erinnerte sich Gastreich an deutschstämmigen Ärzteschaft von Fürth […]in das Biedermeier-Zimmer bei den benachbarten dem in festlichem Gewande prangenden großen Sahlmanns, „welches schon in den damaligen Zei- Saale des Parkhotels“,63 zu der – wie einem Bericht ten durch seine seltene Schönheit, seinen besonde- des Deutschen Ärzteblatts zu entnehmen ist – ne- ren Antiquitätswert und beste Konservierung nicht ben dem Vortragenden, dem Psychiater Hans Lu- nur mir sondern allgemein auffiel.“59 xenburger64, und diverser örtlicher Prominenz Am 13. März 1933 befand der wohl noch nicht auch „Frankenführer“ Julius Streicher sowie „fast umbesetzte Stiftungsrat unter dem Vorsitz Bürger- die gesamte medizinische Fakultät der Universität meister Wilds, „der Name ʼNathanstiftʼ passt in die Erlangen“ angetreten waren. Streck begrüßte die heutige Zeit nicht mehr. Die Beibehaltung dieser Teilnehmer „und betonte einleitend, […] daß es Bezeichnung beeinflusst den Betrieb der Anstalt si- sich nicht um einen der üblichen wissenschaftli- cher ungünstig; denn sie erweckt den Anschein, als chen Vorträge handele, sondern um eine Kundge- handele es sich um eine rein jüdische Einrichtung, bung, die zwar von den deutschen Ärzten der ehe- die heute von dem Großteil der Bevölkerung nicht maligen roten Judenhochburg Fürth als erstes öf- in Anspruch genommen werden will.“60 Zwei Tage fentlich-korporatives Bekenntnis zu unserem darauf kam es zu einer nationalsozialistischen De- geliebten Führer und Kanzler Adolf Hitler und zu monstration gegen den Oberbürgermeister, der dem von ihm geschaffenen dritten Reich veranstal- sich noch am 25. Februar geweigert hatte, Adolf tet worden ist, an der aber das gesamte Volk des Hitler am Fürther Flughafen zu begrüßen.61 Am Gaues Franken durch seine Führer und Vertreter 16. März reichte Wild „Urlaub“ ein und wurde am teilhaben sollte. […] Durch die Anwesenheit von 1. Mai in den Ruhestand versetzt. Am 30. März ver- […] Arbeitern der Stirn und der Faust sei dem fuhr der Stiftungsrat analog mit Richard Fleischer, Abend der Stempel der wahren nationalsozialisti- der in einem Gespräch dazu gezwungen wurde, schen Volksgemeinschaft aufgedrückt.“65 Kennzei- sich bis auf weiteres beurlauben zu lassen und mit- chen der „jüdischen Wissenschaft“ seien akademi- zuteilen, dass er von seiner Kündigung zum 1. Ok- scher Dünkel und Verkennung und Missachtung tober Kenntnis genommen habe.62 Das mit Eilver- der „blutgebundenen Volksgemeinschaft“ gewesen. merk versehene Schreiben der Stadtratskanzlei an Der Arzt, so Streck weiter, habe im nationalsozia- Fleischer, er werde infolge seiner Bitte beurlaubt listischen Deutschland seine Aufgaben, „nicht im und sei zum 1. Oktober gekündigt, trägt verräteri- Heilen, sondern im Vorbeugen zu erkennen und scher Weise dasselbe Datum wie Fleischers er- sich in gleichem Maße für die Wehrgesundheit sei- zwungenes Schreiben an den Stiftungsrat; ein nes Volkes verantwortlich zu fühlen, so wie die poli- gleichlautendes Schreiben erging gleichzeitig an tischen Leiter die Verantwortung der weltanschau- Sahlmann. Ebenfalls vom 30. März datiert der Ver- lichen Gesundung des Volkes zu tragen haben. Die trag mit SA‑Sanitätsbrigadeführer Arnulf Streck Ärzte des neuen Staates müssen in erster Linie welt- über die ärztliche Leitung der Wöchnerinnenabtei- lung. Am 4. Mai 1933 heißt es in Fleischers Arbeits- 63 Deutsches Ärzteblatt 51 (1934) S. 1240–1242. 64 zeugnis, er sei „infolge der politischen Umwälzun- Nicht zu verwechseln mit dem Chirurgen und BGGF‑Mitglied (1929) August Luxenburger. Vgl. die gen beurlaubt“ worden. Während an den Universi- Personen- und Vorlesungsverzeichnisse der LMU seit „ “ tätskliniken in München Gleichschaltung und dem Wintersemester 1924/25. Hans Luxenburger „Arisierung“–in dem hier weit verstandenen Sinn war seit 1924 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Psy- chiatrie in München unter Emil Kraepelin, dann Ernst 58 BayerHStaatsA M LEA 31 625 Hans Sahlmann. Rüdin (Mitverfasser des GzVeN) tätig, wurde 1933 59 Ebd. habilitiert und war seit 1934 ao. Prof. der LMU. Vgl. 60 StadtA Fü 9–3899 Nathanstift, Stiftungsrat (np). Klee: Personenlexikon (2011), S. 513. 61 Ohm: Fürth (2007), S. 300. 65 Deutsches Ärzteblatt 51 (1934) S. 1240–1242, Her- 62 StadtA Fü 9–3899 Nathanstift, Stiftungsrat (np). vorhebungen im Original.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF 107 anschaulich und charakterlich gefestigte National- selbstverständlich natur- und volksnotwendigen sozialisten (keine Materialisten und Egoisten der Abschlußparagraphen folgen zu lassen des Inhalts, Vergangenheit!), in zweiter Linie politische Solda- daß jede versuchte körperliche Gemeinschaft zwi- ten des Führers im Geiste der SA und SS und erst in schen deutscher Frau und Judenstämmling genau- dritter Linie Ärzte und Berufsmänner sein.“66 Lu- so wie die vollzogene mit schwerster Strafe geahn- xenburger, der in Fürth über „Erbbiologisch-rassen- det wird“. Einzig Luxenburger, so der „Stürmer“, hygienische Tagesfragen“ sprach,67 warf das Deut- habe sich anschließend in der „Frankfurter Zei- sche Ärzteblatt in seinem Artikel über die Versamm- tung“ von dem Telegramm distanziert. lung vor, die „Arbeiter der Faust“ im Ton und Duktus Richard Fleischer und seiner Familie wurde im seines wissenschaftlichen Vortrags übergangen, vor Laufe des Jahres 1935 deren große Wohnung ge- allem aber, das Thema verfehlt zu haben: „Ein in ei- kündigt und sie bezogen eine etwa halb so große nem nationalsozialistischen Deutschland gehalte- an der Schwabacher Straße.69 Im Juli 1936 wander- ner Vortrag über Rassenhygiene, in dem das Wort ten Richard Fleischer, seine Frau Elisabeth, gebore- Jude überhaupt nicht fällt, ist ein Widerspruch in ne Kaufmann, sowie deren minderjährige Tochter sich selbst.“ Den Geschmack der Redaktion des Eva über Paris und Le Havre nach New York aus, Deutschen Ärzteblatts hatte „Frankenführer“ Strei- wo Fleischer am 8. Mai 1949 verstarb. Ihre nach cher in seiner anschließenden zweistündigen Rede Auskunft von Fleischers Witwe mit etwa 14 000 besser getroffen; bemerkt wurde, „daß Julius Strei- Reichsmark eingeschätzte Wohnungseinrichtung cher vielleicht noch nie eine so aufmerksame, wiß- hatten sie für 2000 Reichsmark losgeschlagen, was begierige und am Schluß mit lautem herzlichen Bei- kaum die Hälfte der Umzugskosten deckte. fall aufrichtig dankende Gemeinde von Akademi- Kurz vorher, im Mai 1936, verließ Hans Sahl- kern als Zuhörer hatte.“ mann mit seiner Familie Fürth und Deutschland Zum Abschluss der Veranstaltung verlas Streck über Paris und Cherbourg nach New York. Seine ein Telegramm, das namens der versammelten Praxiseinrichtung ließ er in Deutschland, an Teilnehmer an Reichsinnenminister Wilhelm Frick „Reichsfluchtsteuer“ hatte Sahlmann 35 286 geschickt wurde. Den Text hat Streck unter dem Ti- Reichsmark überwiesen. Die Flucht Sahlmanns ge- tel „Ein prophetisches Telegramm“ in Streichers schah in großer Eile. Ein Schulfreund Sahlmanns, Hetzblatt „Der Stürmer“ vom 5. Oktober 1936 pu- Oscar Baumann, berichtete im Zusammenhang mit bliziert,68 da es die Bestimmungen der 1935 erlas- dem Entschädigungsverfahren 1967, dass er Sahl- senen „Nürnberger Gesetze“ vorweg genommen mann plötzlich telefonisch nicht mehr erreichen und gefordert habe, „baldigst dem schon in Kraft konnte, worauf er sich an den Chirurgen Gastreich befindlichen Arier- und Erbgesundheitsgesetz den gewandt habe. Dieser berichtete, dass Sahlmann überstürzt geflohen sei und zahlreiche Wertsachen 66 Deutsches Ärzteblatt 51 (1934) S. 1240–1242, Her- zurücklassen musste. Baumann habe daraufhin in vorhebungen im Original. 1935 sprach Streck als Ver- Erfahrung gebracht, dass Sahlmann befürchtet ha- treter des Reichsärzteführers ein Grußwort an die in be, der „Stürmer“ bereite einen Artikel über ihn München versammelte Deutsche Gesellschaft für Gy- vor, der nach Baumanns Aussage nach der Flucht „ näkologie: Ihre Aufgabe ist es, in der wissenschaftli- Sahlmanns auch erschienen ist: „Jedenfalls wurde chen Werkstätte die Waffen zu schmieden, mit denen er in der üblichen Weise im Stürmer angegriffen. die Berufsgenossen, die an der Front und damit direkt im Volke stehen, den Kampf gegen den biologischen Er war Frauenarzt, was in dem Artikel stand kann 70 Feind unseres Volkes aufnehmen müssen und kön- man sich vorstellen…“ Sahlmann gelang es, in nen. Damit ist klar bewiesen, daß auch, d.h. gerade den USA wieder Fuß zu fassen. Im Februar 1939, Ihre Fachwissenschaft nicht ihrer selbst wegen, son- drei Jahre nach seiner Flucht, erwarb er die „Physi- dern nur des Volkes wegen vorhanden sein darf und cians License“ für den Staat Indiana und damit das muß. Und Vorbedingung auch für Ihre Fachwissen- Recht, in seiner neuen Heimat wieder als Arzt zu schaft ist nicht – wie vor einigen Tagen ein anerkann- arbeiten. Verwandte von Hans Sahlmann, die in ter Wissenschaftler für sein Fachgebiet erklärt hat – „gelehrt sein, und sonst gar nichts“, sondern Vorbe- Deutschland geblieben waren, hatten folgende dingung ist: „Deutsch und volksverbunden sein, und Schicksale: Der Hopfenhändler Carl Sahlmann sonst gar nichts.“ Ludwig: Reden (1999), S. 162. brachte sich am 15. November 1938, kurz nach der 67 Auf der Jahrestagung der BGGF 1933 sprach Hans Lu- xenburger über „temporäre Strahlenamenorrhöe und 69 BayerHStaatsA M LEA 11 505 (Richard Fleischer). menschliche Erbforschung“, ausführlich dazu der Bei- 70 BayerHStaatsA M LEA 31 625 Hans Sahlmann. Ein ent- trag Frobenius, Strahlentherapie, in diesem Band. sprechender Artikel im „Stürmer“ konnte nicht verifi- 68 Der Stürmer vom 5.10. 1936. ziert werden.

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Pogromnacht, in seiner Wohnung um. Kurt Sahl- mann und dessen Bruder Paul, 1921 in Erlangen zum Dr. jur. promoviert, wurden 1942 ins Ghetto Izbica in Polen deportiert; Kurt Sahlmann überleb- te die Deportation.71 Bereits 1930 war Hans Kraus, der sich 1925 ebenfalls um die ärztliche Leitung des Nathanstifts beworben hatte und 1929 als Mitglied der BGGF geführt wurde, aus ungeklärter Ursache verstor- ben. Gemeinsam mit seiner Schwester Irma (Abbil- dung 6.5),72 die 1924 an der Erlanger Medizini- schen Fakultät mit einer Arbeit über die Chirurgie von Schuss- und Stichverletzungen des Herzens promoviert worden war, führte er eine Praxis in Fürth. Diese „Praxisgemeinschaft“ einer prakti- schen Ärztin, die zu einem großen Teil Frauen be- handelte, mit ihrem Bruder, einem Frauenarzt, be- stätigt das von Renate Wittern-Sterzel in diesem Band Ausgeführte. Noch im Juli 1933 hatte Irma Kraus ihre Hausan- gestellte „wegen Verschlechterung meiner Wirt- schaftslage“ entlassen müssen (Abbildung 6.6) – offenbar eine Folge der „Verordnung über die Zu- lassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Kranken- kassen“ vom 22. April 1933,73 mit der die „Tätigkeit von Kassenärzten nicht arischer Abstammung und von Kassenärzten, die sich im kommunistischen Abb. 6.5 Irma Kraus (1896–1942) (Quelle: Jüdi- Sinne betätigt haben“ zum 1. Juli 1933 seitens der sches Museum Franken). kassenärztlichen Vereinigungen für beendet zu er- klären waren. Dies traf niedergelassene Ärztinnen und Ärzte nachvollziehbarer Weise härter als im zichtigt wurde. Sie hatte im Verlauf des Verfahrens Krankenhaus angestellte; für die überwiegend zugestanden, „auf Bitten“ bereit gewesen zu sein, Frauen und Kinder eher einfacher Herkunft behan- „durch geeignete Eingriffe und Mittel die Beseiti- delnden Ärztinnen waren die Folgen dramatischer gung der Schwangerschaft herbeizuführen“, in ei- als für die Frauenärzte Sahlmann und Fleischer, de- nem Fall etwa, weil sie ihre Patientin für suizidge- nen Einkünfte aus Entbindungen privat abrechnen- fährdet hielt. Es ging durchweg um einfache Frau- der Mütter immerhin das wirtschaftliche Überle- en, denen es zum Zeitpunkt der Schwangerschaft ben sicherten. in der Regel aus sozialen Gründen nicht möglich Das Ende der ärztlichen Tätigkeit kam für Irma war, ihre Liebhaber zu heiraten; der größere Teil Kraus im Juli 1935 mit einem Gerichtsverfahren, in von ihnen war bereits vorher bei Irma Kraus in Be- dem sie der „gewerbsmäßigen Abtreibung“74 be- handlung gewesen. Das Gericht bestritt jedoch, dass Kraus „aus Mitleid“ gehandelt habe, da ihr Ein- 71 Nach den Angaben von Blume: Memorbuch www. kommen „nach ihren eigenen glaubhaften Angaben juedische-fuerther.de/index.php?option=com_wrap nach der Machtergreifung sehr zurückgegangen“ per&view=wrapper&Itemid=30; Gedenkbuch des und sie somit „bestrebt war, auf alle Weise, auch Bundesarchivs www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ directory.html.de?id=957270 und www.bundes auf gesetzlich nicht erlaubtem Weg, sich eine Ein- archiv.de/gedenkbuch/directory.html.de?id=957267 nahmequelle zu verschaffen, um ihr Leben fristen (04.09.2012) zu können.“75 72 UnivA Er A1/3a 346e und C3/3 Nr. 1923/24–35 (Pro- motionsakt); Wittern-Sterzel; Frewer: Aberkennun- gen (2008), S. 183–188. Zur Tätigkeit von weiblichen Ärzten vgl. den Beitrag von Renate Wittern-Sterzel in 74 Dazu ausführlich der Beitrag von Renate Wittern- diesem Band. Sterzel in diesem Band. 73 Schwoch: Standespolitik (2001), S. 298. 75 UnivA Er A1/3a 346e.

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Abb. 6.6 Entlassungszeugnis für die Hausangestellte von Irma Kraus, 15. Juli 1933 (Quelle: Jüdisches Museum Franken).

Im November 1935 wurde Irma Kraus zu einer dern und durch persönlichen Verkehr einen ge- Zuchthausstrafe von sechs Jahren verurteilt, darü- meinsamen Ideenaustausch herbeizuführen“, sind ber hinaus, weil sie „durch ihr Verhalten eine äuß- keinerlei Anstrengungen dokumentiert, den „per- erst ehrlose Gesinnung an den Tag gelegt“ habe, sönlichen Verkehr“ mit den hier Genannten seit wurden ihr die bürgerlichen Ehrenrechte für noch 1933 in irgendeiner Weise zu schützen oder dies fünf weitere Jahre entzogen. Vom Zuchthaus Aich- auch nur in Erwägung zu ziehen. Die BGGF war als ach wurde die Ärztin in das Konzentrationslager Agent von Vertreibung und Verdrängung anderer- Ravensbrück verbracht, wo im Juni 1942 ihr Tod seits nicht unmittelbar gefragt. Dies übernahmen vermerkt wurde. Ihre und Hans Kraus’ Geschwister andere Stellen – aus der Perspektive des BGGF‑Vor- Selma und Felix waren im November 1941 nach Ri- stands „reinigte“ sich die Gesellschaft auf dem ga-Jungfernhof deportiert worden und gelten als Wege zustimmender Duldung gleichsam von selbst. verschollen. Eine weitere Schwester, Hedwig, die Frauenheilkunde und Geburtshilfe standen in mit dem 1940 verstorbenen Alfred Bendel verhei- dem geschilderten Prozess von „Gleichschaltung“ ratet war, wurde im März 1942 gemeinsam mit und „Arisierung“ unter besonderer Beobachtung. dem Juristen Paul Sahlmann und mehr als 260 wei- Wolfgang Eckart hat in diesem Band drei zentrale teren Fürtherinnen und Fürthern nach Izbica de- Aufgaben des Fachs herausgestellt: die Steigerung portiert und gilt ebenfalls als verschollen.76 „erbgesunden“ und die Verhinderung „erbkran- ken“ Nachwuchses sowie die Verbesserung der Ge- bärfähigkeit,77 kurz und zusammengefasst: die Ar- Reprise: Geburtshilfe, beit gegen den „biologischen Untergang“, wie es in Frauenheilkunde und der der Einleitung zur kommentierten Ausgabe des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuch- nationalsozialistische Rassismus ses“ heißt.78 Die besondere Affinität von Frauen- heilkunde und Geburtshilfe zum Nationalsozialis- Seitens der BGGF, die sich nach ihren Statuten von mus liegt darin begründet, dass jede Rassenlehre 1929 dem Zweck verpflichtet hatte, „die gynäkolo- besonderes Augenmerk auf die Vererbungsvorgän- gische und geburtshilfliche Wissenschaft zu för- ge legen wird. Ihr langfristiges Gesundheitskonzept lässt sich als Eugenik zwischen den beiden Polen 76 Blume: Memorbuch www.juedische-fuerther.de/ „Aufartung“ und „Ausmerze“ in der Kontrolle über index.php?option=com_wrapper&view=wrapper &Itemid=23; Gedenkbuch des Bundesarchivs www. bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de? id=905011; www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ 77 Siehe den Beitrag von Wolfgang Eckart in diesem directory.html.de?id=905011 (04.09.2012). Band.

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Zeugung und Geburt charakterisieren. Jede Eugenik angesichts der so notwendigen Rassenpflege nicht zeitigt ihre konkreten Ergebnisse im Kreißsaal. erfüllt, wenn wir Krankheiten oder gar Organe be- Frauenheilkunde und Geburtshilfe waren in handeln; wir müssen vielmehr auch als Mensch ganz besonderem Maße „systemrelevante“ medizi- und Staatsbürger hinein in die Arena zum Kampf nische Disziplinen. Das „Gesetz zur Verhütung erb- für den Wiederaufstieg unseres Volkes.“83 Dies gilt kranken Nachwuchses“ aus dem Juli 1933 stieß im in herausragendem Maße auch in Bayern und für Fach auf annähernd ungeteilte Zustimmung. Ausei- die BGGF – immerhin war der Gründer und lang- nandersetzungen gab es lediglich hinsichtlich der jährige Vorsitzende des NS-Ärztebundes, Ludwig dort zunächst noch ungeklärten Frage der eugeni- Liebl, Mitglied der bayerischen Gesellschaft;84 die schen Schwangerschaftsunterbrechung sowie der gynäkologischen Kommentierungen der quasi- Strahlensterilisierung. Diskutiert wurde ferner amtlichen Ausgaben des Kommentars zum Sterili- über die am besten geeignete chirurgische Metho- sationsgesetz verfassten die Münchner Lehrstuhl- de. Angesichts der in der Sache zustimmenden Be- inhaber Albert Döderlein (1934) und dessen Nach- urteilung der eugenisch motivierten Sterilisierung folger Heinrich Eymer (1936).85 Döderlein sprach in erstaunt es schließlich kaum, dass das „Gesetz zur diesem Zusammenhang von einer „verlockende[n], Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das heute aber nicht leichten Aufgabe“.86 in der Geschichtswissenschaft als zentrales und ini- Bereits 1934 hatten erhebliche Teile der Erlan- tiales Instrument des „hygienischen Rassismus“ der ger Medizinischen Fakultät offenbar keine schwer- nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik gilt,79 wiegenden Einwände gegen das im Anschluss an nach dem Untergang der Diktatur von Vielen die oben erwähnte Ärztekundgebung verschickte durchaus nicht als Unrecht empfunden wurde und Telegramm mit der Forderung nach strengster Be- dessen geschätzte etwa 400000 Opfer dementspre- strafung von „Rassenschande“. Besorgniserregend chend erst seit 1980 entschädigt werden konn- für die Funktionäre der Frauenheilkunde musste ten.80 Das Diskussionsprotokoll zu den Referaten dagegen eine Erhebung sein, die Julius Hadrich87 unter dem Thema „Eingriffe aus eugenischer Indi- im Deutschen Ärzteblatt unter dem Titel „Nichtari- kation“ auf der Tagung der DGG im Oktober 193381 sche Ärzte in Deutschland“ 1934 publizierte.88 Be- vermerkt nur einen kritischen Beitrag aus katholi- reits im Laufe des Jahres 1933 seien zwar annä- scher Perspektive von Albert Niedermeyer, den Ta- hernd 10% der „jüdischen“ Ärzte ausgewandert, gungsleiter Stoeckel allerdings nach Kräften zu ver- noch immer sei ihr Anteil aber unproportional hindern suchte und der mit „eisigem Schweigen hoch verglichen mit dem Bevölkerungsanteil. Zu- der Versammlung“ quittiert wurde.82 Wegen seines dem seien diese zu einem Anteil von über 40% Widerstandes gegen das Sterilisationsgesetz wurde Fachärzte, unter denen die Frauenärzte mit über Niedermeyer später verhaftet. August Mayer, Ordi- 10% die drittstärkste Gruppe nach den Dermatolo- narius in Tübingen und später Ehrenmitglied der gen und Internisten bildeten. Entscheidend im hier BGGF, formulierte die vorherrschende Zustimmung angesprochenen Zusammenhang sind aber nicht mit den Worten: „Kurz, unsere ärztliche Aufgabe ist die mitgeteilten Zahlen, sondern ist die Tatsache, dass solche ausschließlich rassistisch motivierten 78 Gütt; Rüdin; Ruttke: Gesetz (1936), S. 10 (Vorwort Zählungen unternommen und im Deutschen Ärzte- zur 2. Auflage): „Die Erkenntnis breitet sich immer blatt publiziert wurden. weiter aus, daß die Zukunft eines Volkes und seine Behauptungsmöglichkeit von seiner Bestanderhal- Für die Frauenheilkunde und Geburtshilfe darf tung, also einer ausreichender Zahl erbgesunder und neben deren in diesem Sinne staatstragender Funk- wertvoller Kinder abhängt. Bleiben diese aus, so ist tion für die nationalsozialistische Diktatur auch das der Untergang einer solchen Nation besiegelt. Gegenbild nicht übersehen werden: Das von der Deutschland hat versucht, mit allen Mitteln seinem rassistischen Hetze ebenso prominent wie vehe- biologischen Untergang entgegenzuarbeiten. Mögen ment verbreitete Zerrbild vom „Judenarzt“, der als sich alle Völker ein Beispiel daran nehmen!“ 79 Im Überblick Schmuhl: Zwangssterilisation (2011); vgl. in diesem Band die Beiträge Frobenius: Ehren- 83 Eingiffe aus eugenischer Indikation (1934), S. 142. mitglieder; Eckart: Frau im Nationalsozialismus; Ho- 84 Vgl. die Kurzbiographie im Anhang. fer: Frauenarzt und Sterilität des Mannes; Ley: Debat- 85 Döderlein: Eingriffe (1934); Eymer: Eingriffe (1936). te um ein neues Sterilisationsgesetz. 86 Siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Frobenius in 80 Westermann: Verschwiegenes Leid (2010); Tüm- diesem Band. mers: Anerkennungskämpfe (2011). 87 Zu Hadrich ausführlich: Schwoch: Standespolitik 81 Eingriffe aus eugenischer Indikation (1934). (2001). 82 Doetz: Alltag (2011), S. 32–34. 88 Hadrich: Die nichtarischen Ärzte (1934).

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Abb. 6.7 Titel „Stürmer“ 1935, Rassenschänder (Quelle: Universitätsbibliothek Erlangen).

Raubtier, Vergewaltiger arischer Frauen und damit – hier allerdings im Sinne der Entschädigung Sahl- als „Rassenschänder“ imaginiert wurde. Im Februar manns – zu entfalten. Im April 1935 erschien eben- 1935 berichtete der „Stürmer“ über einen Arzt und falls im „Stürmer“ ein Leitartikel unter dem Titel „Talmudjuden“, der eine deutsche Frau vergewal- „Judenärzte. Frauenschänder und Mörder“ (Abbil- tigt, das dabei gezeugte Kind anschließend abge- dung 6.7b), der sich insbesondere dem vom „Stür- trieben und den Ehemann der Frau mit Schweige- mer“ offenbar als besonders gefährlich erachteten geld bestochen habe: „Er hatte eine rassisch wert- Argument widmet, „daß von vielen Juden Nichtjü- volle Frau entraßt und mit seinem Judenblut für dinnen Geburtshilfe geleistet wird.“91 immer vergiftet.“89 (Abbildung 6.7a) Die Sorge vor Die ebenfalls in Nürnberg unter Streichers Aus- einer Kampagne dieser Art hatte Hans Sahlmann pizien von 1933 bis 1935 publizierte und der im Mai 1936 dazu getrieben, die gründliche Vorbe- „Volksheilkunde und Rassenpflege“ gewidmete reitung seiner Emigration abzubrechen, um sofort Zeitschrift „Deutsche Volksgesundheit aus Blut überstürzt aus Deutschland zu fliehen. Die Äuß- und Boden“92 eröffnete im Spätsommer 1933 mit erung von dessen Schulfreund Baumann, „was in Leitartikeln wie „Die Rolle des Juden in der Medi- dem Artikel stand kann man sich vorstellen…“90, zin“ und „Ursachen unserer Entartung“ und be- verdeutlicht die Verbreitung des rassistischen Kli- zeichnete in der Eröffnungsnummer ausgerechnet schees, das noch in den 1960er Jahren nicht eigens den führenden nationalsozialistischen Rassenhy- ausgeführt werden musste, um Überzeugungskraft gieniker Otmar Freiherr von Verschuer als „exakten

89 Der Stürmer, 13. Jg., Nr. 8 Februar 1935, Titelgeschich- 91 Der Stürmer, 13. Jg., Nr. 17 April 1935, Titelgeschichte. te. 92 Deutsche Volksgesundheit … aus Blut und Boden! 90 BayerHStaatsA M LEA 31 625 Hans Sahlmann. Ein ent- Unter Mitwirkung einer Gruppe nationalsozialisti- sprechender Artikel im „Stürmer“ konnte nicht verifi- scher Politiker, Geistlicher, Lehrer und Ärzte heraus- ziert werden. gegeben von Dr. H. Will. Nürnberg.

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Judenschützer“. Nummer 2 aus dem Oktober 1933 dulden. Für die verfassten Geburtshelfer und Gynä- stand unter dem Titel „Erziehung zur Grausamkeit kologen bestand also – neben dem lautstarken Be- – Vivisektion und Schächten“. 1935 wurde nicht al- kenntnis zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken lein „Wahres Deutschtum auch in der Heilkunde“ Nachwuchses“–durchaus Interesse daran, die ei- getitelt, sondern – in einer an Ärzte gerichteten genen Reihen in „rassischer“ Hinsicht zu „säubern“ und von einem Arzt redigierten Zeitung! – auch bzw. die Brutalität der durch andere Stellen durch- überlegt: „Kann man Judenblut feststellen? Erfah- geführten „Arisierungsmaßnahmen“ großzügig zu rungen mit dem Pendel“.93 Besonders widerwärtig übersehen. In seiner Eröffnungsansprache zur ist schließlich die einschlägige Geschichte in dem 23. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gynäko- rassistischen Kinderbuch „Der Giftpilz“, erschienen logie 1933 in Berlin fasste Walter Stoeckel dies in 1938 im Verlag des „Stürmer“, mit Texten von des- die weitsichtigen Worte: sen Hauptschriftleiter Ernst Hiemer und Illustratio- „Revolutionszeiten aber sind Gebärzeiten – hart, nen des wichtigsten Zeichners des „Stürmer“, Phi- schwer, erschütternd und schmerzerfüllt – und lipp Rupprecht, Pseudonym „Fips“.94 Unter der auch die revolutionären Nachgeburtsperioden sind Überschrift „Inges Besuch bei einem jüdischen noch durchbebt von der gewaltigen Kraft, die das Doktor“ besucht das BDM‑Mädel Inge gegen ihren Neue werden ließ und es weiter zu schirmen und Willen auf Anraten ihrer Mutter den alten Hausarzt zu schützen hat, bis es eigenwüchsig und unver- der Familie und entkommt nur knapp einer Verge- wundbar geworden ist. – Weich war die Zeit im waltigung.95 Niedergang unseres Volkes – hart ist sie im Aufstieg Der hier angerissene pornographisch-rassisti- geworden und stahlhart wird auch die Führung im sche Ton war freilich nicht der der verfassten deut- neugestalteten Staat bleiben müssen. – Diese uner- schen Ärzteschaft. Andererseits bemerkte deren bittliche Härte bei der unbeirrbaren Verfolgung Stimme, das „Deutsche Ärzteblatt“, im Jahr 1934, großer politischer Zukunftsziele zerschlägt vieles, wie oben zitiert: „Ein in einem nationalsozialisti- was dauerhaft schien und wirkt tief hinein in alte schen Deutschland gehaltener Vortrag über Ras- Bindungen und Arbeitsgemeinschaften. Sie zer- senhygiene, in dem das Wort Jude überhaupt nicht bricht rücksichtslos das staatlich nicht Gewollte fällt, ist ein Widerspruch in sich selbst.“96 Der der und sie geht mit dem festen Blick auf Deutschlands Geburtshilfe und Frauenheilkunde aufgegebene national-völkische Gestaltung schicksalhaft über und von deren Vertretern oft begeistert angenom- Einzelschicksale hinweg. Wir bedauern, daß diese mene Kampf gegen den „biologischen Untergang“ Entwicklung auch Kollegen schwer getroffen hat, sattelte auf einer rassistischen Grundstimmung, deren Persönlichkeit wir hochschätzen und deren die „Reichsärzteführer“ Conti im „Völkischen Beob- wissenschaftliche Leistungen wir hoch bewerten. achter“ 1942 auf die Formel brachte: „Jeder nicht Wir können ihr Geschick nicht wenden; sie sind entarteten Frau muß und wird es im Innersten wi- die beklagenswerten Opfer einer Härte geworden, derstreben, sich von einem jüdischen Frauenarzt die für die Gesundung des deutschen Volkes not- behandeln zu lassen; das hat nichts mit Rassenhass wendig geworden war. – Ich hoffe und ich erwarte, zu tun, sondern das ist eine ärztliche Forderung, daß mit dieser Erklärung die Einstellung der Deut- daß ein Band des Verstehens vom seelenverwand- schen Gesellschaft für Gynäkologie richtig und klar ten Arzt zum Patienten sich schlingen muß.“97 genug wiederzugeben ist, und daß sie genügt, um Es liegt auf der Hand, dass es nicht im Sinne der unsere Verhandlungen bei einer für sie selbst wün- BGGF oder anderer Fachverbände sein konnte, die schenswerten Zurückhaltung der Betroffenen rei- Arbeit gegen den „biologischen Untergang“ von de- bungslos ablaufen zu lassen.“98 ren wesentlichen Verursachern im Sinne der anti- semitischen Doktrin erledigen zu lassen oder auch nur den Verdacht aufkommen zu lassen, dies zu

93 Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden, 3. Jg. Nr. 17 vom 1. September 1935, S. 6. 94 Zu Hiemer: Klee: Kulturlexikon (2009), S. 223; zu Rupprecht („Fips“) ebd. S. 138, sowie NDB XXII (2005) S. 282 f. 95 Hiemer: Giftpilz (1938), S. 30–33. 96 Deutsches Ärzteblatt 51 (1934) S. 1240–1242. 98 Ludwig: Die Reden (1999), S. 151–152. Dazu Schagen: 97 Friedländer: Das Dritte Reich (2007), S. 42. Stoeckel (2010); Schneck: Frauenheilkunde (1994).

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BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“

Wolfgang Frobenius

Einführung „Späte Entschuldigung“ der I. Universitätsfrauen- klinik München bei ihren Sterilisationsopfern.4 „Bis heute ungeschrieben und vielfach unbewältigt Weit weniger ins Bewusstsein gedrungen zu ist das Kapitel Geburtshilfe und Frauenheilkunde sein scheint allerdings, dass Stauber darüber hi- im Dritten Reich.“1 Mit diesem Satz kommentierten naus schon damals auch Konsequenzen im Hinblick Vorstand und Beirat der Bayerischen Gesellschaft darauf anmahnte, „[…]daßwir[…] die damaligen für Geburtshilfe und Frauenheilkunde (BGGF) im Täter […] zu Ehrenmitgliedern unserer wissen- Jahr 1987 eine Dokumentation zum 75-jährigen Ju- schaftlichen Gesellschaft gemacht haben, daß wir biläum der Gesellschaft. Und in der Tat: In dem sie in Büsten verehren oder daß wir bei histori- Band werden überwiegend die Geschichte ihrer schen Aufarbeitungen geschönte Biographien an Gründung sowie die Historie nach dem Zweiten die jungen Kolleginnen und Kollegen weiterge- Weltkrieg dargestellt. Darüber hinaus enthält er ben.“5 hagiographisch gefärbte Kurzbiographien der Vor- So fanden Repräsentanten des Faches mit dem sitzenden und eine Liste der Ehrenmitglieder. Kon- Ausklingen der 1990er Jahre zwar zunehmend kretere Hinweise auf die Rolle, die die älteren unter deutliche Worte für den „abscheulichen“ Charakter ihnen im Nationalsozialismus (NS) gespielt haben, von Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibun- finden sich nicht. gen im Nationalsozialismus.6 Oder sie konzedier- Hier hat sich in den vergangenen 25 Jahren bis ten, dass man viele Ausführungen höchster Funkti- zum aktuellen 100-jährigen Jubiläum der BGGF ei- onsträger der Frauenheilkunde aus jener Zeit heute niges geändert.2 Aus den Reihen der Frauenärzte „nur mit Scham“ lesen könne.7 Aber die Listen der selbst gab vor allem Manfred Stauber mit seiner Ar- Ehrenmitglieder der BGGF und auch der DGGG ent- beitsgruppe in den 1990er Jahren mit Arbeiten halten noch immer unkommentiert Namen sol- über „inhumane Praktiken“ an der I. Münchener cherart inkriminierter Persönlichkeiten. Eine Universitätsfrauenklinik entsprechende Impulse.3 Diskussion darüber lässt sich bisher nirgends nach- Unterstützt vom damaligen Klinikdirektor Günther weisen. Noch im 2011 erschienenen Jubiläums- Kindermann thematisierte er Zwangssterilisatio- band zum 125-jährigen Bestehen der DGGG wird nen sowie die dabei oft simultan vorgenommenen wider jedes bessere Wissen konstatiert: „Überall Abtreibungen beim 50. Kongress der Deutschen ist es [das Fach, W. F.] ein Dienst an der Frau geblie- Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ben, der diese Wissenschaft ebenso wie diese prak- (DGGG) 1994 in München und initiierte die bei äl- tische Medizin gewidmet blieb.“8 teren Kollegen teils heftige Reaktionen auslösende

4 Siehe den Beitrag von Manfred Stauber in diesem 1 Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987), S.V. Band. 2 Siehe hierzu für Bayern neben den nachfolgend zitier- 5 Stauber: Gynäkologie (1995), S. 754 f. ten Arbeiten von Manfred Stauber: Krüger: Zwangs- 6 Berg: Vorwort (1999), S.V. Der Sammelband, in dem sterilisationen (2007); Frobenius: Abtreibungen sich dieses Vorwort findet, stellt einen der wenigen (2004); Wolf: Gauß (2008); Horban: Gynäkologie Versuche dar, die NS‑Vergangenheit der DGGG zu (1999). thematisieren. 3 Stauber; Kindermann: Praktiken (1994); Stauber: Gy- 7 Ludwig: Einführung (1999), S. VII; vgl. Berg: Vorwort näkologie (1994); Stauber: Frauenheilkunde (1995); (1999), S.V. Stauber: Frauenheilkunde (1998). 8 Kreienberg: Vorwort (2011), S.V.

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Im folgenden Beitrag soll daher der Versuch un- kannt, dass in der I. UFK München sowie in den ternommen werden, die Rolle einiger Ehrenmit- Universitätsfrauenkliniken Erlangen, Tübingen glieder der BGGF im „Dritten Reich“ zu dokumen- und Würzburg in den letzten Kriegsjahren von tieren. Dafür kann zu einem großen Teil auf bereits den Direktoren die oben erwähnten Zwangsabtrei- vorliegende Untersuchungen zurückgegriffen wer- bungen bei Ostarbeiterinnen zumindest zeitweise den, die allerdings in der Frauenheilkunde außer- geduldet wurden. Während Ausmaß und Ablauf halb historisch besonders interessierter Kreise bis- der Zwangssterilisationen sowie der damit verbun- her kaum auf Resonanz gestoßen sind. Als zusätzli- denen Abtreibungen inzwischen relativ gut unter- che Quellen dienen Originalpublikationen der sucht sind, weisen die Kenntnisse zu den Schwan- genannten Ärzte sowie einschlägige Archivalien. gerschaftsabbrüchen bei Ostarbeiterinnen große Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die oben an- Lücken auf: Details gibt es bisher vor allem für die gesprochene Unterstützung von bzw. Beteiligung Universitätskliniken von Erlangen und Würzburg. an Maßnahmen der nationalsozialistischen Euge- Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, nik nach 1933 sowie an Zwangsabtreibungen bei allen Facetten der Persönlichkeit der genannten Ostarbeiterinnen zwischen 1943 und 1945. Ehrenmitglieder gerecht zu werden. Es soll an die- Es ist belegt, dass sich mindestens zehn der Eh- ser Stelle auch nicht auf die Verdienste hingewiesen renmitglieder der BGGF im NS an Zwangssterilisa- werden, die sie sich letztlich alle in mehr oder min- tionen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkran- der großem Ausmaß um die Frauenheilkunde und ken Nachwuchses“ (GzVeN) vom 14. Juli 1933 be- um die BGGF erworben haben und wofür ihnen teiligt bzw. dafür engagiert haben. Neun von ihnen die Ehrenmitgliedschaften verliehen wurden. In- wirkten zwischen 1933 und 1945 als hoch angese- tention dieser Arbeit ist es vielmehr, ihre Biogra- hene Ordinarien in Universitätsfrauenkliniken phien und die Geschichte der von ihnen geleiteten (UFK), konnten diese Tätigkeit im Nachkriegs- Kliniken zu ergänzen und damit eine Diskussion in deutschland fortsetzen bzw. gelangten dann in der Gesellschaft möglich zu machen. Dazu er- eine entsprechende Position: Albert Döderlein, scheint es zunächst sinnvoll, die Begrifflichkeiten Heinrich Eymer und Werner Bickenbach (alle I. „Zwangssterilisation“ und „Zwangsabtreibung“ an UFK München), Richard Fikentscher (II. UFK Mün- ihren Auswirkungen für die Betroffenen sowie für chen), Carl Joseph Gauß (UFK Würzburg), Rudolf das Arzt-Patientinnen-Verhältnis zu konkretisie- Dyroff (UFK Erlangen), Ludwig Seitz (UFK Frank- ren.13 furt), August Mayer (UFK Tübingen) sowie Gustav Döderlein (UFK Jena), der erst neuerdings mit Zwangssterilisationen in Verbindung gebracht wird.9 Einziger Nichthabilitierter war Max Brandl, Historischer Hintergrund bis Kriegsende Assistent in Erlangen und ab 1947 der Zwangssterilisationen Chefarzt der Geburtshilfe und Gynäkologie im oberpfälzischen Amberg.10 Die Rolle von Otmar Eugenische bzw. rassenhygienische Maßnahmen in Bauer, der 1937 als Assistent von Eymer in die I. Form von Sterilisationen „erblich Minderwertiger“ UFK München eintrat, später dort Oberarzt wurde waren keine Erfindung der Nationalsozialisten. Sie und seine Karriere als Chefarzt der Frauenklinik wurden auf der Basis von Sozialtheorien, die im im Städtischen Krankenhaus rechts der Isar (FK TU Umfeld des Darwinismus entstanden, bereits An- München) beendete, bleibt unklar. fang des 20. Jahrhunderts in zahlreichen US‑ameri- Mit Ausnahme von Albert Döderlein, der 1934 kanischen Bundesstaaten legalisiert und prak- emeritiert und von Heinrich Eymer abgelöst wur- tiziert. In Schwellenländern bzw. Ländern der de, verantworteten die genannten Ehrenmitglieder „Dritten Welt“ erreichte eine Welle eugenischer auch die ab 1934 vom Reichsärzteführer empfohle- Zwangssterilisationen in den 1970er Jahren ihren nen11 und nach dem 26. Juni 1935 gesetzlich mög- Höhepunkt und ist bis in die Gegenwart hinein lichen simultanen Schwangerschaftsabbrüche im nicht völlig abgeebbt. Historiker unterscheiden aus Rahmen von Zwangssterilisationen.12 Ferner ist be- internationaler Perspektive vier Phasen der eugeni- schen Sterilisation: die amerikanische (bis Anfang 9 Czarnowski: Erkrankte (2008), S. 139. Biographische Daten zu den Genannten finden sich später im Text. 10 Mit Ausnahme von Dyroff, Bauer und Brandl sind die 12 Vgl. ebd., S. 51. Genannten auch Ehrenmitglieder der DGGG. 13 Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Eckart in 11 Vgl. Link: Zwangssterilisationen (2002), S. 49. diesem Band.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ 117 der 1930er Jahre), die europäische (1934 bis 1940), eine skandinavische ab Mitte der 1930er Jahre so- wie die erwähnte Phase in den Schwellenländern bzw. Ländern der „Dritten Welt“.14 In Deutschland hatten sich bereits in der Wei- marer Republik vermehrt Initiativen für eine Ge- setzgebung zur Legalisierung eugenischer Sterilisa- tionen entwickelt. 1932 legte der Ausschuss für Be- völkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates einen Entwurf für ein Ste- rilisierungsgesetz vor. Danach sollte der Eingriff zu- lässig sein, wenn erbliche Geisteskrankheit, erbli- che Geistesschwäche, erbliche Epilepsie oder krankhafte Erbanlagen vorlagen. Als Voraussetzung wurden das Einverständnis der Betroffenen sowie deren Pfleger oder gesetzlichen Vertreter genannt. Ferner sah der Entwurf die Genehmigung des Ein- griffs durch einen mit zwei Ärzten und einem Vor- mundschaftsrichter besetzten Ausschuss vor. In der Begründung des Gesetzentwurfes fanden sich die in den eugenischen Debatten der vorange- henden Jahrzehnte kreierten rassenhygienischen Formulierungen und Denkmuster, die der Erbge- sundheitspolitik der Nationalsozialisten den Boden bereiteten. So wurde u.a. das Risiko beschworen, dass ohne entsprechende Maßnahmen die Zahl Abb. 7.1 „Gesunde Eltern – gesunde Kinder“–Pro- der „Geisteskranken, Schwachsinnigen, Fallsüchti- pagandaplakat der NS‑Volkswohlfahrt für die Euge- gen, Psychopathen, erblich Kriminellen und ande- nik im „Dritten Reich“ (1934) (Quelle: Stadtarchiv re[r] Belastete[r]“ so zunehme, dass die dadurch Erlangen). bedingte Fürsorgelast von den „gesunden arbeits- tüchtigen Familien“ kaum noch getragen werden könne. Da eine „Beeinflussung dieser Menschen zur Enthaltung von Ehe oder Fortpflanzung […]ge- aber pauschal die Anwendung von Zwang zur rade bei den unerwünschtesten nach ihrer ganzen Durchsetzung der darin fixierten Maßnahmen vor- geistigen Verfassung unmöglich“ sei, bleibe nur de- gesehen. „Das NS‑Sterilisierungsprogramm spreng- ren „Dauerausschaltung von der Fortpflanzung“.15 te dadurch, dass es offene Gewalt – anders als in der Sterilisationsgesetzgebung anderer Staaten – über den Kreis der Patienten aus der Anstaltspsychiatrie Das „Gesetz zur Verhütung hinaus legalisierte, alle bis dahin bekannten Di- mensionen“, erklärt Hans-Walter Schmuhl dazu in erbkranken Nachwuchses“ einer aktuellen Übersicht.16 Als „erbkrank“ definierte das GzVeN Menschen, Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuch- die an einer der folgenden acht Erkrankungen lit- ses“ (GzVeN), das die Nationalsozialisten sofort ten: „1. Angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophre- nach ihrer Machtübernahme 1933 auf den Weg nie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, brachten (zur begleitenden Propaganda siehe Ab- 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Hun- bildung 7.1) und das am 1. 1.1934 in Kraft trat, ori- tingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. Erbli- entierte sich in Teilen an dem preußischen Ent- cher Taubheit, 8. Schwerer erblicher körperlicher wurf. Weit darüber hinausgehend, war im GzVeN 16 Schmuhl: Zwangssterilisation (2011), S. 202. Zum GzVeN, seiner Durchführung bei Frauen und Män- 14 Siehe hierzu Schmuhl: Eugenik (2011), S. 25 f.; nern, seiner Nachgeschichte sowie der Nachkriegsde- Schmuhl: Zwangssterilisation (2011), S. 210. batte um ein neues Sterilisierungsgesetz ausführli- 15 Zitiert nach Link: Zwangssterilisationen (1999), S. 34. cher auch Ley in diesem Band.

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Mißbildung.“ Weiter hieß es im Gesetzestext: „Fer- Gisela Bock konnte ferner zeigen, dass die ner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an NS‑Sterilisationspraxis in der sozialen Diagnostik schwerem Alkoholismus leidet.“17 Von größter Be- geschlechterspezifischen Kriterien folgte. So sei bei deutung für den Vollzug des Gesetzes wurde der Frauen im Rahmen erbgesundheitsrechtlicher Ver- von dem Psychiater und Rassenhygieniker Ernst fahren im Gegensatz zu Männern stets auch das Se- Rüdin (1874–1952), dem Arzt Arthur Gütt (1881– xualverhalten überprüft worden. Dabei habe man 1948) und dem Juristen Falk Ruttke (1894–1955) alle Abweichungen von der damals propagierten verfasste Kommentar dazu, der Anfang 1934 in ers- Geschlechterrolle – vor allem jede Form von Pro- ter und 1936 in erweiterter zweiter Fassung er- miskuität – als „weibliche Minderwertigkeit“ gegen schien. Die darin enthaltenen medizinischen Erläu- die in Frage stehenden Frauen verwendet. „Lebens- terungen bildeten einen Leitfaden, an dem sich bewährung“–ein Kriterium, das eine Zwangssteri- nicht nur Ärzte, sondern auch die an den Verfahren lisation abwenden konnte, sei bei Frauen an der Fä- vor den Erbgesundheitsgerichten18 beteiligten Ju- higkeit und Neigung zu Hausarbeit festgemacht risten orientierten. „Damit wurde letztlich eine worden, während bei Männern ihre Stellung im Be- neue, rein eugenisch motivierte Diagnostik konsti- rufsleben zur Beurteilung herangezogen wurde.22 tuiert“, konstatiert Astrid Ley in ihrer Untersu- Die eingangs erwähnten, oft simultanen chung zu „Zwangssterilisation und Ärzteschaft“.19 Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen von Dies führte dazu, dass mancherorts – nachgewie- Zwangssterilisationen wurden 1935 durch das „Ge- sen etwa für die Kliniken von August Mayer setz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erb- (1876–1968) in Tübingen, Heinrich Eymer (1883– kranken Nachwuchses“ legalisiert. In dem entspre- 1966) in München sowie Carl Joseph Gauß (1875– chenden Paragraphen (10a) hieß es dazu ein- 1957) in Würzburg – aus offensichtlich rein rassis- schränkend, die Schwangere müsse mit dem tischen Gründen auch „Zigeunerinnen“ und Jüdin- Abbruch einverstanden sein. Außerdem dürfe die nen zwangssterilisiert wurden.20 Frucht nicht lebensfähig sein, d.h. nicht älter als In der zitierten Übersicht betont Schmuhl mit sechs komplette Schwangerschaftsmonate. Eine dem Hinweis auf die richtungweisenden Untersu- Kontraindikation für einen Abbruch sah das Gesetz chungen von Gisela Bock aus dem Jahr 1986, dass auch bei „ernste[r] Gefahr für das Leben oder die sich in den Sterilisierungsverfahren medizinische Gesundheit der Frau“.23 und soziale Diagnostik mischten. „Neben ʼschwe- Die oben erwähnten beiden Fassungen des rem Alkoholismusʼ bot vor allem die Diagnose ʼan- GzVeN‑Kommentars von Rüdin, Gütt und Ruttke geborener Schwachsinnʼ eine Zugriffsmöglichkeit enthielten neben den bereits angesprochenen auf ʼasoziale Psychopathenʼ, denen – unabhängig „Handlungsanweisungen“ für die Diagnostik auch von ihrer Intelligenzleistung –‚moralischer Empfehlungen zur praktischen Durchführung der Schwachsinnʼ unterstellt wurde. Auf diese Weise Operationen. Diese Beiträge über „Eingriffe zur Un- liefen Menschen Gefahr, sterilisiert zu werden, fruchtbarmachung der Frau“, auf die noch zurück- weil sie den Volksschulabschluss nicht geschafft zukommen sein wird, wurden 1934 von Albert hatten, ein uneheliches Kind besaßen, keiner gere- Döderlein (1860–1941) und 1936 von Heinrich gelten Arbeit nachgingen, keinen festen Wohnsitz Eymer verfasst. Eymers Artikel erläuterte entspre- vorweisen konnten oder wegen Bagatelldelikten chend den inzwischen vorgenommenen Modifika- mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren.“21 tionen des Gesetzes auch Methoden der Schwan- gerschaftsunterbrechung und der Strahlensterilisa- tion.24 17 Zitiert nach Link: Zwangssterilisationen (1999), S. 509. 18 Die Erbgesundheitsgerichte entschieden über die An- träge auf „Unfruchtbarmachung“, die von Amtsärzten nach entsprechenden Anzeigen durch Kollegen oder Privatpersonen gestellt wurden. Alle approbierten Ärzte waren verpflichtet, auch Verdachtsfälle zu mel- 22 Bock, zitiert nach ebd., S. 205. den. Hierzu auch der Beitrag von Astrid Ley in diesem 23 Reichsgesetzblatt (1935) Nr. 65, S. 196; zur gleichzei- Band sowie Ley: Zwangssterilisation (2003), S. 67–93. tigen Verschärfung des Abtreibungsverbots und der 19 Ley: Zwangssterilisation (2003), S. 48. Debatte um den § 218 vgl. den Beitrag von Wittern- 20 Horban: Gynäkologie (1999), S. 34; Doneith: Mayer Sterzel in diesem Band. (2008), S. 205; Wolf: Gauß (2008), S. 57. 24 Döderlein: Eingriffe (1934), S. 224–227; Eymer: Un- 21 Schmuhl: Zwangssterilisation (2011), S. 204. fruchtbarmachung (1936), S. 317–347.

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möglichen Umgang mit „einzelnen Schizophrenie- Klinische Praxis der fällen, die sich langdauernd in weitgehender Ver- Zwangssterilisationen wirrtheit und hochgradiger Erregung“ befänden und sich jedem Untersuchungsversuch „mit hart- Im Gegensatz zu Medizinverbrechen wie Men- näckigem Widerstand, der bis zum Toben ausartet“ schenversuchen in Konzentrationslagern, aber widersetzten: Er habe, so Ottow, „anfangs geglaubt, auch teilweise zu den Abtreibungen an Ostarbeite- solche schweren Fälle von der Operation temporär rinnen, blieb der Unrechtscharakter der Zwangs- zurückstellen zu müssen“, seine Meinung jedoch sterilisationen nach dem Ende der NS‑Herrschaft geändert, „seitdem sich erwies, dass gerade in die- lange strittig. So zählte das GzVeN nicht zu den Ge- sen Fällen […] die vaginale Sterilisation ausge- setzen, die der Alliierte Kontrollrat 1945 aufhob. zeichnete Erfolge zu verzeichnen hat.“28 Erst 1980 stellte der Bundestag fest, dass es sich da- Ottow schildert dazu den entsprechenden Ein- bei um NS‑spezifisches Unrecht gehandelt habe; griff an einer Frau, bei der er die Operation zu- bis 1998 mussten noch lebende Opfer auf die for- nächst abgelehnt hatte. Als sie „in unverändertem male Aufhebung der „Urteile“ der Erbgesundheits- Verwirrtheitszustand“ nach sieben Monaten er- gerichte warten.25 neut zur Sterilisation eingewiesen worden sei, Davon unabhängig ist jedoch die klinische Pra- habe er sie in einer „schnell und schonend eingelei- xis der Zwangssterilisationen zu betrachten, wie teten Zwangsnarkose“ vaginal operiert. „Bereits am sie sich jetzt in den vorliegenden Studien präsen- nächsten Tage saß die Kranke völlig wohl und über tiert, aber schon damals den Akteuren nicht ent- uns triumphierend im Bett. Sie fühlte sich den Ärz- gangen sein dürfte. Darüber hinaus lassen sich aus ten gegenüber als Siegerin […]. Des erfolgten Ein- wissenschaftlichen Publikationen der 1930er Jahre griffs ist sie sich gar nicht bewußt geworden.“ So Rückschlüsse darauf ziehen, wie mit den Sterilisati- „unsympathisch“ Zwangsnarkosen im allgemeinen onsopfern umgegangen wurde.26 Hier zeigt sich seien, hier halte er sie für unentbehrlich, resümiert auch, dass man vielfach den eigenen Ansprüchen Ottow.29 an Sorgfalt und Vorsicht bei den Eingriffen nicht ge- Bei der beschriebenen Operation dürfte ein recht wurde. In der Fülle der einschlägigen Publika- Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre entwi- tionen ging es nicht nur um Vor- und Nachteile der ckeltes Anästhesieverfahren benutzt worden sein, bekannten Sterilisationstechniken bzw. um Vor- dessen Einsatzmöglichkeiten für die Frauenheil- schläge zu deren Optimierung.27 Es wurde auch kunde ebenfalls 1935 im „Zentralblatt für Gynä- der als problematisch geltende klinische Umgang kologie“ beschrieben wurden. Es basierte auf der mit den Frauen thematisiert, die sich gegen Maß- rektalen Applikation eines bromsäurehaltigen Bar- nahmen im Zusammenhang mit geplanten bitursäurepräparates („Rectidon“) als Basisnarkoti- Zwangssterilisationen wehrten bzw. in der post- kum vor Einleitung einer Äthernarkose. Der Autor operativen Phase „Schwierigkeiten“ machten. Wei- Kurt Walther Schultze (geb. 1907), damals Assis- tere Aufschlüsse können ärztliche Einträge in Steri- tent an der UFK Königsberg (Preußen), ging dabei lisationsakten geben. auch speziell auf seine Anwendung bei Sterilisan- Hinweise auf den Umgang mit Sterilisandinnen dinnen ein, „von denen mit großer Wahrscheinlich- sind beispielsweise der im April 1935 in der „Deut- keit anzunehmen ist, daß sie auf ein Zugreifen des schen Medizinischen Wochenschrift“ veröffent- Arztes abnorm reagieren“. Dies gelte besonders für lichten Arbeit von Benno Ottow (1884–1975) zu „erregte Schizophrenien [sic], für gewisse Epilepti- entnehmen. Der Autor, Direktor der Brandenburgi- ker und für manche Schwachsinnige“. Während schen Landesfrauenklinik und ausdrücklich als man früher bei diesen Frauen eine Narkose nur Mitglied des Erbgesundheitsgerichtes in Berlin aus- sehr schwer habe durchführen können, sei dies gewiesen, schildert darin wohl exemplarisch den heute ganz einfach. Die Patientinnen wüssten gar nicht, wann sie operiert würden. „Sie bekommen ʼ ʼ 25 Vgl. hierzu im kurzen Überblick Süß: Versuche morgens im Bett von der Schwester einen Einlauf (2011), S. 287–291; zuletzt Topp (2012) mit dem Hin- und wachen am Abend auf, ohne irgendeine Erin- weis auf die neuesten gründlichen Studien von Wes- nerung an den Arzt oder die Narkose zu haben.“30 termann (2010) und Tümmers (2011). 26 Vgl. Leuthold (1975). 27 Eine Auflistung zahlreicher gynäkologischer Quellen 28 Ottow: Klinik (1934), S. 586. dazu findet sich in Doetz: Alltag (2011), S. 202, Fuß- 29 Ebd. note 161. 30 Schultze: Rectidon (1935), S. 1537 f.

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und anderen schweren Komplikationen führe. Fer- ner äußerte Gaupp die Befürchtung, die Psychiatrie werde so zu „mittelalterlichen Zuständen“ zurück- kehren. Gaupp forderte Mayer aber nicht etwa auf, die Sterilisationen einzustellen oder zahlenmäßig zu reduzieren. Vielmehr erinnerte er Mayer daran, dass er angekündigt habe, zur Vermeidung der be- fürchteten Wundkomplikationen künftig durch die Scheide zu operieren. Gaupp bat Mayer, zu überle- gen, ob die vaginale Methode nicht grundsätzlich bei allen zu sterilisierenden psychisch Kranken an- gewandt werden könne. „Ich muss sonst einfach die Ausführung der Operation […] verweigern […]“, schrieb der Psychiater. Mayer nahm dies zum Anlass, Gaupp für seinen schon länger bestehenden Plan zur Einrichtung einer besonderen „Sterilisie- rungsabteilung“ mit speziell geschultem Personal zu gewinnen, der jedoch letztlich nicht zur Ausfüh- rung kam. Hinsichtlich der diskutierten Komplika- Abb. 7.2 Operationsbericht mit Dokumentation tionen wies er zusätzlich noch auf „die Arbeitsfä- einer illegalen eugenischen Abtreibung (Quelle: higkeit der Kranken gefährdende Nachwirkungen“ Grimm: Zwangssterilisationen [2004]). hin, die es zu vermeiden gelte.32 Wie viele Frauen im „Dritten Reich“ in unmittel- barem Zusammenhang mit den Zwangssterilisatio- nen Komplikationen erlitten, ist schwer beurteil- Bei den oben angesprochenen postoperativen bar. Zahlen aus Halle (5,5%), Erlangen (8,5%) und „Schwierigkeiten“ handelte es sich um Komplika- Göttingen (23%) zeigen eine große, wohl erfas- tionen, die vor allem nach Laparotomien auftreten sungsbedingte Schwankungsbreite.33 Auch zur konnten. Das ganze Ausmaß dieser Probleme wird Mortalität des Eingriffs gibt es widersprüchliche beispielhaft deutlich an einem Briefwechsel zwi- Daten. Gisela Bock, von der die Gesamtzahl der eu- schen August Mayer und dem damaligen Direktor genischen Sterilisationen in diesem Zeitraum auf der Tübinger Universitäts-Nervenklinik Robert etwa 400000 geschätzt wurde, geht von 4500 To- Gaupp (1870–1953), den Thorsten Doneith doku- desfällen bei Frauen aus. Daraus lässt sich eine mentiert hat.31 Gaupp wandte sich deshalb schon Mortalität von etwa 1,4% ermitteln.34 Die Untersu- im November 1934 in einem Brief an Mayer. Darin chungen in Erlangen ergaben einen Wert von beschrieb er den Zustand zweier unmittelbar nach 0,48% (zwei Todesfälle) bei 512 Sterilisationen und einer abdominalen Sterilisation in seine Klinik ver- in Würzburg kamen bei 994 Sterilisationen vier legter Mädchen, die an Händen und Füßen festge- Frauen zu Tode (0,40%).35 bunden werden mussten, damit sie sich nicht die Die Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen des Wunden aufrissen. „Offenbar erkranken doch sehr GzVeN wurden auf sehr unterschiedliche Weise viele Menschen in Reaktion auf den operativen Ein- durchgeführt und waren oft auch nicht durch das griff mit starken Erregungszuständen und es ist NS‑Gesetz gedeckt. Dies ist sicherlich zu einem dann ein wahres Wunder, wenn sie mit dem Leben Teil der Tatsache geschuldet, dass entsprechende davon kommen“, folgerte der Psychiater. Gleichzei- „ tig warnte er vor maßlose[r] Verbitterung im Vol- 32 Doneith: Mayer (2008), S. 101–106. ke“, falls das „Konkurrenzrennen um möglichst 33 Für Halle: Grimm: Zwangssterilisationen (2004), hohe Sterilisierungszahlen, das wir in Deutschland S. 48; für Erlangen: Krüger: Zwangssterilisationen jetzt unter den Ärzten beobachten“, zu Todesfällen (2007), S. 97; für Göttingen: Koch: Zwangssterilisati- on (1994), S. 46 f. 34 Zitiert nach Schmuhl: Zwangssterilisation (2011), 31 Doneith: Mayer (2008), S. 101–106; zu Gaupps Rolle S. 203. bei der Entnazifizierung der Universität Tübingen: 35 Für Erlangen: Krüger: Zwangssterilisationen (2007), Grün: Schuld (2007), S. 288–290. S. 102 f.; für Würzburg: Wolf: Gauß (2008), S. 156.

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Diagnosen in der Frühphase einer Gravidität ohne geringen Zahl derer, die sich finden ließen, waren die heute verfügbaren biochemischen Tests oder auch durchaus nicht alle bereit, sich zu äußern. die Sonografie nicht mit ausreichender Sicherheit In der eben zitierten Untersuchung von Jana gestellt werden konnten. So kam es dazu, dass Ope- Grimm zu den Zwangssterilisationen an der UFK rateure in großer Anzahl „prophylaktische“ Küret- Halle wird von einem Interview mit einer ehemali- tagen bei Sterilisandinnen vornahmen oder – gen Landarbeiterin berichtet, bei der der entspre- wenn sie bei einer Laparotomie zur Sterilisation chende Eingriff wegen „angeborenen Schwach- von einer klinisch erkennbaren Schwangerschaft sinns“ im Alter von 21 Jahren durchgeführt worden überrascht wurden – sie durch Sectio parva been- war. Die zum Zeitpunkt der Befragung 74 Jahre alte deten, im Zweifelsfall auch ohne Einverständnis. Frau wird mit einem Schwerpunkt auf der amts- Jana Grimm hat einen derartigen Fall dokumen- ärztlichen Untersuchung für das Erbgesundheits- tiert, an dem Richard Fikentscher (1903–1993), da- gericht zitiert, die sie als äußerst entwürdigend mals Assistent und Facharzt an der Universitäts- empfand. So habe sie sich für die körperliche Unter- frauenklinik Halle, als Operateur beteiligt war. suchung in Anwesenheit der Protokollführerin ent- Nach der Vorgeschichte im OP‑Bericht handelte es kleiden müssen. Ferner beklagte die Frau, die be- sich um ein 15-jähriges Mädchen, bei dem man stimmte Fragen des für die Gutachten verwendeten vor der geplanten Zwangssterilisation auf eine Un- Intelligenzprüfungsbogens noch wiedergeben tersuchung verzichtet hatte, da „die Mutter […]an- konnte, eine unfaire Form der Befragung: „Bei mir gab, daß das Kind niemals aus dem Hause gekom- haben sie alles durcheinander gemacht. Ich wusste men ist und angeblich die Regel ganz in Ordnung gar nicht, was ich sagen sollte.“38 war“. Weiter heißt es im OP‑Bericht (Abbildung Grimm berichtet aber auch über Schicksale von 7.2): „Anruf [beim Klinikdirektor Ludwig] Nürnber- Zwangssterilisierten in Halle, die sich besonderen ger, da keine Einwilligung der Patientin bzw. deren Akteneinträgen entnehmen lassen. So etwa über Eltern vorliegt, ist die Frage schwierig, ob unterbro- eine Frau, die sich am Tag der Einlieferung in die chen werden darf oder nicht. Da aber das Kind […] Klinik vergiften wollte. Nach Angaben der Gemein- offenbar schwachsinnig ist und das zu erwartende deschwester trank sie Petroleum. Eine andere Frau Kind möglicherweise auch von einem schwachsin- hatte nach vielen vergeblichen Einsprüchen gegen nigen oder gewissenlosen Vater erzeugt wurde, soll den Eingriff versucht, sich durch Umzug zu entzie- unterbrochen werden.“ Es werden dann die Sectio hen. Die Behörden machten sie jedoch ausfindig parva durch Fundusschnitt, die Ausräumung des und zwangen sie, sich in der Klinik vorzustellen. Kavums und die Sterilisation durch tiefe Keilexzisi- Am OP‑Tag versuchte sie zu fliehen, wurde aber on der uterinen Tubenenden mit Naht beschrieben. noch auf dem Klinikgelände aufgegriffen. Sofort da- „Zur weiteren Sicherung“, heißt es abschließend, nach injizierte man ihr im Stationszimmer unter „wird bei dem offenbar sehr hemmungslosen Mäd- Aufsicht des Oberarztes Evipan zur Narkose und chen […] noch beiderseits nach Madlener unter- nahm den Eingriff vor. bunden.“36 Zumindest manche der jungen Opfer wussten offenbar überhaupt nicht, wie ihnen geschah. Einer der Akten, die Grimm gesichtet hat, ist zu entneh- Zum Erleben der Opfer men, dass ein im Alter von 15 Jahren sterilisiertes Mädchen erst im Rahmen einer Kinderwunschbe- Berichte von Sterilisationsopfern darüber, wie sie handlung fast zwei Jahrzehnte später erfuhr, wo- das Verfahren erlebt haben und welche Folgen die rauf ihr Problem zurückzuführen war: Der behan- Eingriffe für ihr späteres Leben hatten, sind in der delnde Arzt hatte in der UFK Halle nachgefragt Literatur selten.37 Als die historische Aufarbeitung und war dann über die Sterilisation informiert begann, lagen die Ereignisse bereits Jahrzehnte zu- worden. Die Patientin dagegen war die ganze Zeit rück. Nur wenige Untersucherinnen und Untersu- über entsprechend der ihr erteilten ärztlichen Aus- cher bemühten sich, noch lebende betroffene Frau- künfte der Meinung gewesen, es sei nur eine „Lage- en ausfindig zu machen und zu befragen. Von der 38 Grimm: Zwangssterilisationen (2004), S. 51. Bei der Frau konnte der Beschluss zur Sterilisation erst nach einer Schwangerschaft vollzogen werden. Die daraus 36 Grimm: Zwangssterilisationen (2004), S. 45. hervorgegangene Tochter arbeitete später als Verkäu- 37 Siehe hierzu Horban: Gynäkologie (1999) und ferin, deren zwei Kinder wiederum als Rechtsanwalt Grimm: Zwangssterilisationen (2004). bzw. in der EDV. Ebd., S. 54.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 122 BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ veränderung der Gebärmutter“ vorgenommen worden.39 Ausbildung und Forschung In den Untersuchungen zu den Vorgängen an mit dem GzVeN der I. UFK München wird der Bericht einer damals 18-Jährigen zitiert, die wegen „körperlicher Miss- Vor allem an primär strahlentherapeutisch orien- bildung“ zur Sterilisation eingewiesen worden tierten Kliniken konnte das GzVeN – besonders in war. Diese junge Frau musste sich ihren Schilderun- den ersten Jahren seiner Anwendung – zu einer gen zufolge vor der Operation mit verbundenen deutlichen Erhöhung der Zahl von Laparotomien Augen den Studierenden im Hörsaal präsentieren. führen, wie dies u. a. für Erlangen dokumentiert ist Dabei wurde nicht nur die als „Missbildung“ einge- (Zunahme um fast 20%).43 Es darf durchaus unter- stufte leichte rachitische Ulnardeviation der Finger stellt werden, dass dies in der Klinik auch als Chan- demonstriert, sondern auch der geplante Eingriff ce für junge Ärzte gesehen wurde, operative Routi- an ihrem Unterleib aufgezeigt. Sie habe lange Jahre ne zu erlangen. Dies betraf nicht nur die Sterilisa- befürchtet, jemand könne sie an ihren Händen wie- tionsoperationen selbst. Im Zusammenhang damit dererkennen, berichtete die Frau. Mit diesen Hän- wurden auch zusätzliche Eingriffe vorgenommen. den sei sie ihr Leben lang voll arbeitsfähig gewe- Ein Beispiel sind die zumeist prophylaktisch durch- sen.40 geführten Appendektomien, die in Erlangen im- Die Arbeitsgruppe um Manfred Stauber, von der merhin knapp 15% der Zwangssterilisationen be- letzteres Schicksal dokumentiert wurde und die gleiteten und die vom GzVeN nicht gedeckt wa- die meisten derartigen Gespräche geführt hat, kon- ren.44 statierte bei den befragten Sterilisationsopfern zu- Dass die Zwangssterilisationen in der ärztlichen sammenfassend eine erhebliche psychische Trau- Ausbildung einen nicht unerheblichen Stellenwert matisierung. Verantwortlich dafür seien mehrere hatten, lässt sich am Beispiel der Hamburger Faktoren. Genannt werden die Erfahrung des medizinischen Fakultät belegen: Der Direktor der Zwanges, „teilweise der unmittelbaren Gewalt“, dortigen Universitäts-Frauenklinik, Theodor Hey- die erzwungene Kinderlosigkeit mit häufigem nemann (1878–1951), beklagte sich bei der Unter- Scheitern von Partnerschaften sowie physische Fol- richtsbehörde über die rückläufigen Sterilisations- gen der Eingriffe. Hinzu komme eine soziale Stig- zuweisungen. Eine Erhöhung ihrer Zahl sei für den matisierung, die bei Vielen zum Rückzug aus der akademischen Unterricht unerlässlich, erklärte Gesellschaft geführt habe. Auch die Beziehungs- er.45 Andererseits konnte die Steigerung der Opera- und die sexuelle Erlebnisfähigkeit seien einge- tions- und Patientenzahlen durch das GzVeN auch schränkt worden. Fast alle der befragten zwangs- als Belastung empfunden werden. So beantragte sterilisierten Frauen hätten „sich für eine rein ka- der Leiter der Göttinger Universitätsfrauenklinik meradschaftliche Partnerschaft ab einem Alter von Heinrich Martius (1885–1965) im Jahr 1934 zu- ca. 50 Jahren entschieden oder es vorgezogen, al- sätzlich eine Assistenten- und zwei Volontärstellen, lein zu leben.“41 Keine der Frauen, so heißt es an um die durch die eugenischen Sterilisationen be- anderer Stelle, habe in den Gesprächen den Ein- dingte „Mehrarbeit“ bewältigen zu können.46 druck von „Schwachsinn“ hinterlassen – der Diag- In vielen Kliniken wurden die durch das GzVeN nose, unter der über die Hälfte der in der I. UFK geschaffenen Bedingungen auch als willkommene München „behandelten“ Frauen sterilisiert worden Gelegenheit für Forschung verstanden. Auf die waren.42 zahlreichen Arbeiten zu den unterschiedlichen Ste- rilisationsmethoden wurde bereits hingewiesen. Die Autoren erfüllten damit eine Forderung, die Al- bert Döderlein schon 1934 in einer Arbeit über „Versager bei der operativen Unfruchtbarmachung der Frau“ aufgestellt hatte. Aufgabe der gynäkologi- schen Operationsforschung, so schrieb er damals, 39 Grimm: Zwangssterilisationen (2004), S. 50–61. sei es, „nunmehr vollkommen zuverlässige Metho- 40 Horban: Gynäkologie (1999), S. 92–96. den auszuarbeiten. Dann ist unsere positive Ein- 41 Ebd., S. 122 f. 42 Ebd., S. 116; im Landgerichtsbezirk Nürnberg-Fürth 43 Krüger: Zwangssterilisationen (2007), S. 61. wurden 46% der Sterilisierungsfälle mit dem Befund 44 Ebd. „Schwachsinn“ durchgeführt, siehe den Artikel von 45 Vgl. Pfäfflin et al.: Krankenversorgung (1989), S. 286. Astrid Ley in diesem Band. 46 Koch: Zwangssterilisation (1994), S. 60.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ 123 stellung zum eugenischen Gesetz restlos verwirk- licht.“47 In Erlangen sammelte Rudolf Dyroff (1893– 1966) die Daten über die ersten 100 an der Frauen- klinik durchgeführten Zwangssterilisationen und stellte seine Ergebnisse am 24. Februar 1935 in ei- nem Vortrag auf der Tagung der BGGF in München vor (Abbildung 7.3). Er präsentierte dort auch die von ihm modifizierte Methode der Tubensterilisati- on nach Max Madlener (1868–1939) und verwies dabei auf eine „Erhöhung der Erfolgsziffer“.48 Das GzVeN erschloss Dyroff auch die Möglich- keit, seine Forschungen über die Tubendurchgän- gigkeit zu vertiefen. Gegenstand einer entspre- chenden Studie, mit der ein Doktorand von Dyroff promovierte, waren 341 Frauen, die man an der Klinik sterilisiert hatte. Obwohl das Gesetz dies nicht vorsah, wurden für diese Arbeit auch Rönt- genkontrastmittel-Untersuchungen der Gebärmut- ter und der Eileiter vorgenommen (Hysterosalpin- gographie, HSG), um die Undurchgängigkeit der Tu- ben nach der Sterilisation mit der von Dyroff modifizierten Madlenerschen Methode zu doku- mentieren. Dafür wählte man Patientinnen aus, „die zufällig noch oder neuerdings wieder in der Abb. 7.3 Publikation des Vortrags von Dyroff vor Heil- und Pflegeanstalt Erlangen untergebracht der BGGF (Quelle: Dyroff: Erfahrungen [1936]). waren.“ Obwohl die HSG sehr schmerzhaft sein kann und zudem erhebliche Risiken birgt (z. B. as- zendierende Infektionen oder Kontrastmittelzwi- schenfälle), fehlt in der Arbeit der Hinweis darauf, mit sich. Sie konnten auch zu Maßnahmen animie- ob die Frauen ausreichend aufgeklärt und um ihr ren, die Assoziationen zu Menschenversuchen her- Einverständnis gebeten worden waren. Es wird vorrufen.51 In Erlangen geht aus dem Operations- nur konstatiert, dass die Nachuntersuchungen den bericht über die Sterilisation einer Hilfsarbeiterfrau „vollen Operationserfolg“ bewiesen hätten. Die hervor, dass die Ärzte ihren Blinddarm nicht ent- zwei erwähnten Todesfälle brachte Dyroff nicht in fernten, sondern einstülpten, dann mit einem Bari- Zusammenhang mit der Operation. „Mit einer sol- um-Röntgenkontrastmittel füllten und mit einer chen Mortalität [ist] bei der Art dieses psychisch Tabaksbeutelnaht sowie Decknähten verschlossen. und somatisch veränderten Materials wohl auch in Im Anschluss an die Operation wurde eine Rönt- Zukunft zu rechnen“, heißt es in der Arbeit49,von genaufnahme angefertigt, die einen gut gefüllten der Dyroff Teilergebnisse bereits anlässlich der Blinddarm demonstrierte. Im Verlauf wurde einge- BGGF‑Tagung am 27. Februar 1938 vorstellte. Dort tragen, dass „mehrere Röntgenaufnahmen“ zur demonstrierte er auch entsprechende Kontrastmit- Kontrolle der gefüllten Appendix gemacht worden telaufnahmen. Außerdem erklärte er, die HSG habe seien. Eine Begründung für die Maßnahmen findet für die Erbgesundheitsgerichtsverfahren Bedeu- sich in der Krankengeschichte nicht. Dieses Experi- tung. Sie ermögliche es den Gynäkologen, „angebli- ment, zu dem keine Einverständniserklärung der che frühere Sterilisationsoperationen in ihrem Er- Patientin dokumentiert ist, war sicherlich mit er- folg zu bestätigen oder abzulehnen.“50 heblichen Risiken für die Patientin verbunden und Die Sterilisationen brachten für die Ärzte nicht entbehrte darüber hinaus jeglicher medizinischen nur die bereits erwähnte Möglichkeit zum „Üben“ Indikation.

47 Döderlein: Versager (1934), S. 429. 48 Dyroff: Erfahrungen (1936), S. 14. 51 Vgl. zur Gesamtproblematik für die kaiserzeitliche 49 Koch: Modifikation (1940), S. 16 f. Gynäkologie den Beitrag von Marion Ruisinger in die- 50 Dyroff: Kontrolle (1938), S. 1761. sem Band.

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Ähnliche Beobachtungen ließen sich im Zusam- menhang mit Sterilisationen machen, die bei Au- gust Mayer in Tübingen vorgenommen wurden. Hier führten die Ärzte bei Eingriffen in den Jahren zwischen 1935 und 1937 offensichtlich nicht indi- zierte Keilexzisionen aus Ovarien durch. Die Exzi- sionen sind in den OP‑Berichten beschrieben. In den Krankenakten finden sich die meist unauffälli- gen histologischen Befunde, jedoch keine Erklärun- gen für die Maßnahmen. Thorsten Doneith, der dem in seiner Biographie über Mayer nachgegan- gen ist, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass 1935 von Stein und Leventhal das Syn- drom der polyzystischen Ovarien beschrieben und die Keilexzision als eine Möglichkeit der Behand- Abb. 7.4 Ostarbeiterinnen in einem Lager bei Erlan- lung vorgeschlagen wurde.52 gen (1942) (Quelle: Stadtarchiv Nürnberg).

Zwangsabtreibungen zugeleitet werden. Die Kammer holte eine Befür- wortung durch den Beauftragten des „Reichskom- bei Ostarbeiterinnen missars für die Festigung des deutschen Volks- tums“ ein, stimmte formal ebenfalls zu und beauf- Während die Nationalsozialisten bei ihrem Sterili- tragte einen Arzt mit der Durchführung. In dem sationsprogramm großen Wert darauf legten, dass Erlass heißt es außerdem: „Als geeignete Einrich- in der deutschen Öffentlichkeit, aber auch im Aus- tungen […] kommen auch die für die Ostarbeiter land, der Eindruck auf ein rechtsstaatliches Verfah- eingerichteten Krankenbaracken, insbesondere ren entstand und gewahrt blieb, vollzogen sich die diejenigen, in denen die Entbindungen von Ostar- Abtreibungen an Ostarbeiterinnen (Abbildung 7.4) beiterinnen stattfinden, in Betracht.“55 in den Kriegsjahren von 1943 bis 1945 unter ganz Es ist eingangs erwähnt worden, dass zu diesen anderen Bedingungen. Formale Grundlage dafür auch an Universitätsfrauenkliniken vorgenomme- stellte eine Anordnung des Reichsgesundheitsfüh- nen Abtreibungen bisher nur relativ wenig bekannt rers Leonardo Conti (1900–1945, Selbstmord) vom ist. Einen Eindruck von den Vorgängen vermittelt 11. März 1943 dar, die ausdrücklich als „geheim“ jedoch der Bericht einer Untersuchungskommissi- und „nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichnet on, die sich an der Universität Erlangen auf Antrag war. Danach konnte im Gegensatz zum strengen der Militärregierung kurz nach Kriegsende damit Abtreibungsverbot für deutsche Frauen bei Ostar- befasst hat.56 Der Kommission gehörten als Vorsit- beiterinnen „auf Wunsch der Schwangeren“ ein zender der Psychiater und Medizinhistoriker Wer- Abbruch vorgenommen werden.53 Den politischen ner Leibbrand (1896–1974), der Gynäkologe Ro- Hintergrund bildeten vor allem die rassischen In- bert Ganse (1909–1972), der evangelische Theolo- tentionen der Nationalsozialisten. Zu der angespro- ge Hermann Sasse (1895–1976) und der Jurist chenen Freiwilligkeit meint Gisela Schwarze: „Die Vsevolod Braga an. Leibbrand und Ganse waren im [se] Situation [der Ostarbeiterinnen] war derart „Dritten Reich“ aus politischen Gründen verfolgt zwanghaft, daß von einer eigenen Entscheidung worden, Sasse blieb trotz scharfer Kritik am NS er- zur Abtreibung in keinem Fall gesprochen werden staunlicherweise unbelästigt.57 Zur Aufklärung der kann.“54 „Vorgänge in der Frauenklinik“ wurden die beteilig- Anträge auf Schwangerschaftsunterbrechung mussten nach dem Conti-Erlass der entsprechen- den Gutachterstelle der zuständigen Ärztekammer 54 Schwarze: Kinder (1997), S. 147–150. Gisela Schwar- ze hat die Verhältnisse im größten Entbindungs- und 52 Doneith: Mayer (2008), S. 92. Abtreibungslager des „Dritten Reiches“ im westfäli- 53 Abschrift in UnivA Er, A6/3d/21, BUK, Beilage 1. Zu- schen Waltrop untersucht. sammenfassend und sehr detailreich zu den Formalia 55 Abschrift in UnivA Er, A6/3d/21, BUK, Beilage 1. im Umgang mit Zwangsarbeiterinnen: Link: Zwangs- 56 Siehe hierzu Frobenius: Abtreibungen (2004), S. 283– sterilisationen (1999), S. 449–454. 307.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ 125 ten Ärzte befragt; Versuche, auch Opfer der Abtrei- bungen zu hören, sind nicht ersichtlich. Für die Eingriffe hatte man dem Kommissions- bericht zufolge auf einer Station der Klinik zwei Zimmer mit sechs bis acht Betten bereitgestellt, da- mit „die Ostarbeiterinnen unter sich blieben“.Bei den mindestens 136 abgebrochenen Schwanger- schaften handelte es sich in den meisten Fällen um Graviditäten, die das erste Trimenon bereits über- schritten hatten. Ein großer Teil war sogar schon älter als 20 Wochen. Nach den Krankenakten wur- den die Aborte zunächst von einem Assistenten in der damals üblichen Weise durch mechanische Maßnahmen herbeigeführt: bei Frühschwanger- schaften instrumentelle Ausräumung nach Dilatati- on der Zervix, bei fortgeschrittenen Graviditäten Aufdehnung des Muttermundes und Ballondilatati- on des unteren Uterinsegmentes (Metreuryse). Nachdem es dabei einen Todesfall gegeben hatte (Abbildung 7.5), beauftragte der kurz nach Kriegs- ende verstorbene damalige Klinikdirektor Her- mann Wintz (1887–1947)58 den Facharzt Max Brandl (1910–1991), sich für die fortgeschrittenen Schwangerschaften nach einer besseren Methode umzusehen. In der Folge instillierte man eine Sei- fenlösung durch die Zervix. Es kam dann in der Re- Abb. 7.5 Tödliches Ende einer Zwangsabtreibung gel nach 24 bis 48 Stunden zum kompletten Abort. (Sektionsbefund) (Quelle: Archiv der Frauenklinik Er- Die Methode wurde in der Nachkriegszeit noch langen). über längere Zeit bei Vergewaltigungsopfern ange- wandt. Im Gegensatz zu den eugenischen Sterilisatio- nen ist bekannt, dass über die ethische und rechtli- den verweigert wurden. Dennoch hat sich mit Aus- che Vertretbarkeit der Zwangsabtreibungen schon nahme einer Famulantin, die jede Mitwirkung an während der Kriegsjahre in der Klinik lebhaft dis- den Eingriffen ablehnte und deren Haltung von kutiert wurde. Eine junge Assistentin sagte vor der Wintz akzeptiert wurde, offenbar niemand aus Untersuchungskommission: „Ein Teil [der Ärzte] dem Kreis der Erlanger Mediziner widersetzt.59 war dagegen, eigentlich die meisten.“ Die Motive In ihrem Abschlussbericht würdigte die Kom- seien aber sehr unterschiedlich gewesen. Für sich mission die juristischen und die ethischen Aspekte persönlich nannte sie weltanschauliche Gründe. der gegen die Ärzte erhobenen Vorwürfe sehr un- Ein älterer Assistent, der selbst an den Eingriffen terschiedlich. So hieß es einerseits entschuldigend, beteiligt war, erklärte an anderer Stelle, es sei die Conti-Verordnung sei zwar auch vom Stand- „eben eine etwas unheimliche Geschichte“ gewe- punkt des NS‑Verfassungsrechtes aus nicht legal sen. Er bezog sich dabei auf die Tatsache, dass bei gewesen. Die ganzen Umstände des Verfahrens Ostarbeiterinnen eine Maßnahme zulässig sein hätten die beteiligten Ärzte aber kaum an der Ge- sollte, die bei deutschen Frauen streng verboten setzmäßigkeit der Anordnung über die Abtreibun- war. Die Erlanger Ärzte wussten auch, dass in den gen zweifeln lassen. benachbarten Frauenkliniken von Nürnberg und Die ethische Beurteilung dagegen fiel vernich- Bamberg Zwangsabtreibungen aus ethischen Grün- tend aus: Ausgangspunkt aller Überlegungen müs- se sein, dass sowohl das damals gültige Strafrecht 57 Auf die Untersuchungskommission wird an anderer als auch die ihm zugrunde liegenden ethischen Stelle dieses Bandes genauer eingegangen: Siehe Normen die Abtreibung bei einer gesunden Frau hierzu den Beitrag Wiederbesetzung in diesem Band. 58 Zur Biographie von Wintz: Frobenius: Röntgenstrah- len (2003), S. 381–419. 59 Frobenius: Abtreibungen (2004), S. 297 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 126 BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ als Verbrechen betrachteten. Die strenge Beach- tung dieser Normen müsse zu den obersten Grund- Die Ehrenmitglieder sätzen einer Universitätsfrauenklinik gehören, der und die NS‑Eugenik die Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses oblie- ge. Es ist einleitend pauschal festgestellt worden, wo Bei den Vernehmungen habe sich das erschüt- Verantwortlichkeiten der genannten neun Ehren- ternde Bild ergeben, dass von keinem der beteilig- mitglieder der BGGF hinsichtlich der Unterstüt- ten Ärzte auch nur der Versuch unternommen wor- zung der NS‑Eugenik zu sehen sind. Im Zusammen- den sei, sich über die gesetzliche Grundlage einer hang mit dem Versuch, die Begrifflichkeiten Maßnahme zu informieren, durch die in der Klinik „Zwangssterilisation“ und „Zwangsabtreibung“ an „praktisch eine Abtreibungsanstalt“ eingerichtet ihren Folgen für die Betroffenen sowie in ihren worden sei. Selbst der Oberarzt – damals Rudolf Auswirkungen auf das Arzt-Patientinnen-Verhält- Dyroff – habe nur gewusst, dass der Befehl „von nis zu konkretisieren, kamen auch schon einige oben“ stammte. Weiter heißt es: „Diese geistige personenbezogene Details zur Sprache. Bevor nun Unselbständigkeit, dieses widerspruchslose Hin- im Folgenden etwas näher auf die Einzelpersonen nehmen eines ʼvon obenʼ kommenden Befehls zur eingegangen wird, sollen bestimmte Grenzen die- Vornahme von Handlungen, die bis dahin als ver- ser Darstellung aufgezeigt werden. So ist hier nicht brecherisch galten, ist allein schon eine schwere beabsichtigt, im Detail auf mögliche Mitgliedschaf- Versündigung nicht nur gegen die Gebote der ärzt- ten und Aktivitäten in NS‑Organisationen einzuge- lichen Ethik, sondern gegen die Grundgebote der hen, die vor allem bei der Entnazifizierung zumin- Ethik überhaupt.“ dest vorübergehend eine Rolle spielten.62 Die bis- Die Kommission erklärte, die Hauptschuld treffe her erschlossenen Quellen machen es auch den Klinikdirektor Hermann Wintz, der aus offen- weitgehend unmöglich, die bei den meisten Ehren- sichtlich politischen Gründen den Befehlen der mitgliedern sichtbar werdende national-konserva- Gauleitung widerspruchslos nachgekommen sei tive politische Grundhaltung klar von einer über und nichts getan habe, „um seiner Klinik und damit die NS‑Eugenik hinausgehenden Befürwortung der Universität die Schuld zu ersparen, die in jenen spezifisch nationalsozialistischen Gedankengutes Jahren angehäuft worden ist.“ Ungeachtet etwaiger abzugrenzen.63 strafrechtlicher Konsequenzen seien Universitäts- lehrer und ‑assistenten, die in einem konkreten Zu- Albert Döderlein sammenhang mit den dargelegten Tatsachen stün- den, unter keinen Umständen mehr als wissen- Albert Döderlein (1860–1941), der die Münchener schaftliche und standesethische Erzieher der Frauenklinik an der Maistraße seit 1907 leitete und künftigen akademischen Jugend tragbar. Sie müss- 1934 emeritiert wurde, zählt sicherlich zu den na- ten daher unverzüglich entlassen werden. Diese tional und international angesehensten deutschen Entlassung aus dem Hochschuldienst durch die Mi- Frauenärzten seiner Zeit. „Niemand konnte sich litärregierung ist am 6. Februar 1947 auch tatsäch- dem machtvollen Eindruck dieser imponierenden lich erfolgt.60 Persönlichkeit entziehen“, erklärte Rudolf Theodor Als gegen die Ärzte später auch eine staatsan- Edler von Jaschke (1881–1963) beim ersten Nach- waltschaftliche Ermittlung wegen der Zwangsab- kriegskongress der DGGG im April 1949 in einem treibungen eingeleitet wurde, machten sich die kurzen Nachruf auf den bereits 1941 Verstorbe- Strafverfolger aber offensichtlich die juristische nen.64 Für eugenisches Gedankengut engagierte Sicht der Kommission zu eigen und stellten im De- sich Döderlein schon vor 1933 durch seine Mitar- zember 1948 das Verfahren ein: In der Begründung beit in der Kommission „Zur Erhaltung und Meh- der I. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg- rung der Volkskraft“ des Ärztlichen Vereins Mün- Fürth hieß es, den Beschuldigten habe „das Be- chen.65 Spezielle Veröffentlichungen dazu ließen wußtsein einer rechtswidrigen Handlung ge- sich allerdings nicht finden. Inwieweit die Tatsache, fehlt“.61 62 Siehe hierzu den Beitrag Wiederbesetzung in diesem Band. 60 Ebd., S. 299 f. 63 Zu dieser Problematik speziell im Hinblick auf Eymer: 61 BayerHStaatsA M, MK 43 537, PA Dyroff: Abschrift des Albrecht: Eymer (2010), S. 309. entsprechenden Beschlusses des Landgerichts Nürn- 64 Jaschke: Eröffnungsrede (1949), S. 194. berg-Fürth vom 27. 12.1948. 65 Klee: Döderlein (2011), S. 114.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ 127 dass Döderlein den Blutordensträger und NS‑Akti- […] des Münchner Verlags J.F. Lehmanns initiiert visten Ernst Bach (1899–1944) ab 1927 in seiner wurde, oder ob es die nationalkonservative Gesin- Klinik ausbildete, zum Oberarzt machte und 1934 nung Döderleins war, die dem Zeitgeist des frühen vor seiner Emeritierung habilitierte, auf Döderleins 20. Jahrhunderts entsprang und auch der eugeni- politische Gesinnung schließen lässt, muss auch of- schen Bewegung positiv gegenüberstand.“69 Mit fen bleiben.66 seinen Äußerungen in dem zitierten Artikel bezieht Wie einleitend erwähnt, unterstützte Döderlein Döderlein allerdings in einer Weise Stellung, die nach der Machtübernahme durch die Nationalso- eindeutig ist und nicht verschwiegen werden soll- zialisten die Zwangssterilisationen dadurch, dass te. Von daher kann Döderlein auch als Beispiel für er den semi-offiziellen Gesetzeskommentar67 der das von Manfred Stauber kritisierte Verhalten he- NS‑Eugeniker Gütt, Rüdin und Ruttke von 1934 rangezogen werden, in historischen Darstellungen durch einen Beitrag über „Die Eingriffe zur Un- geschönte Biographien bedeutender Frauenärzte fruchtbarmachung der Frau“ ergänzte. In dem Text, weiterzugeben. In einem Artikel über Döderlein- der verschiedene sterilisierende Operationsverfah- sche Verdienste mit dem Titel „Albert Doederlein ren darstellt und diskutiert, enthielt sich Döderlein [sic] (1860–1941): Von der Vaginalflora zur Strah- allerdings jeder Wertung des Gesetzes. Seine Ein- lentherapie des Uteruskrebses“, der 2003 im „Gy- stellung dazu kann nur der bereits zitierten Publi- näkologen“ erschien, findet sich im Gegensatz zu kation „Versager bei der operativen Unfruchtbar- der zitierten Arbeit von David kein Wort zu seinem machung der Frau“ entnommen werden. Über das Engagement für die NS‑Eugenik.70 Und ob das The- schon erwähnte Zitat hinaus heißt es dort einlei- ma Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibun- tend: gen im Zusammenhang mit einem aktuellen Rück- „Das neue, eugenische Gesetz zur Ausmerzung blick auf die Geschichte der UFK München adäquat der Erbschäden im deutschen Volk, das vom vater- behandelt worden ist, kann durchaus in Zweifel ge- ländischen wie ärztlichen Standpunkt aus aufs zogen werden.71 wärmste begrüßt werden muß, stellt uns Gynäko- logen vor verlockende, aber nicht leichte Aufgaben. Um so mehr müssen wir Hand in Hand mit den ziel- Ehrenmitglieder als Ordinarien bewußten Gesetzgebern der Verwirklichung dieser im Nationalsozialismus verheißungsvollen Bestrebungen zum Siege verhel- fen.“68 Heinrich Eymer (1883–1965), August Mayer Aus der Arbeit geht aber auch hervor, dass in der (1876–1968), Carl Joseph Gauß (1875–1957) und Klinik unter der Ägide von Döderlein bis zu seiner Ludwig Seitz (1872–1961) haben im Nationalsozia- Emeritierung vermutlich keine eugenischen Sterili- lismus die Universitätsfrauenkliniken München I, sationen vorgenommen worden sind. Der Autor be- Tübingen, Würzburg und Frankfurt/Main geleitet. richtet für den Zeitraum von 1907 bis 1933 zwar Mit Ausnahme von Seitz, der 1938 emeritiert wur- von insgesamt 137 Eingriffen zur Verhinderung de, umfasste ihre Amtszeit den gesamten Zeitraum von Schwangerschaften. Alle diese Operationen, von 1933 bis 1945. Mayer und Eymer konnten ihre die meist im Zusammenhang mit wiederholten Tätigkeit nach dem Zusammenbruch des NS‑Regi- Kaiserschnitten vorgenommen wurden, waren mes sogar über ihre reguläre Emeritierung hinaus aber medizinisch indiziert. Döderlein verfolgte da- fortsetzen. Nur Gauß kehrte nicht ins Amt zurück.72 mit vor der Machtübernahme und dem GzVeN – Mit Ausnahme von Seitz gehörten alle Genann- wie sich noch zeigen wird – in seiner Klinik offen- ten der NSDAP an. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in bar eine deutlich andere Politik als beispielsweise ihren Kliniken zunächst die Voraussetzungen für Mayer in Tübingen oder Gauß in Würzburg. die reibungslose Umsetzung der Zwangssterilisa- Was Döderlein zur Mitarbeit an dem Kommen- tionen schufen und damit auch all die Folgen mit- tar zum GzVeN veranlasst hat, lässt sich höchstens verantworteten, auf die hingewiesen wurde. Später vermuten. Matthias David meint dazu, es sei nicht billigten sie, teils widerstrebend, teils engagiert, die klar „ob dies durch die Beziehungen zu dem den ab 1936 zulässigen eugenischen Abtreibungen. In Nationalsozialisten nahestehenden Eigentümer München waren das 1318 Sterilisationen und 58

69 David: Döderlein (2007), S. 93. 66 Grüttner: Lexikon (2004), S. 17. 70 Ludwig: Döderlein (2003), S. 554–556. 67 Siehe hierzu Weindling: Publisher (2002), S. 159 f. 71 Ludwig: Spuren (2011), S. 64 f. 68 Döderlein: Versager (1934), S. 429. 72 Siehe hierzu Wiederbesetzung in diesem Band.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 128 BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ eugenische Abtreibungen; die analogen Zahlen lau- Heinrich Eymer ten für Würzburg 994/29, für Frankfurt 509/148 und für Tübingen 740/46. Dabei sind die Tübinger Abgesehen von seinem Beitrag in dem Kommentar Angaben Mindestzahlen, in Frankfurt wurden eu- zum GzVeN, in dem er sich wie auch schon Döder- genische Sterilisationen schon ab 1932 miterfasst, lein jeder politischen Bewertung enthielt, finden als sie noch jenseits jeder Legalität waren.73 sich in Eymers übrigen Publikationen keine Äuß- Zwischen 1943 und 1945 führten die Ärzte in erungen zu den Zwangssterilisationen. Der Artikel den Kliniken von Eymer, Gauß und Mayer außer- in dem Kommentar geht über die operativen Ein- dem Zwangsabtreibungen an Ostarbeiterinnen griffe hinaus aber auch auf die Technik der seit durch. Aus der Seitzschen Klinik ist dazu bisher 1936 zulässigen Strahlensterilisationen sowie auf nichts bekannt. Es muss davon ausgegangen wer- Möglichkeiten zur praktischen Durchführung der den, dass die Verhältnisse bei den Abtreibungen je- eugenischen Schwangerschaftsabbrüche ein – nen ähnelten, die im Zusammenhang mit Rudolf ebenfalls ohne Bewertung. Dies ist insofern bemer- Dyroff und Max Brandl für die Erlanger Frauenkli- kenswert, als Eymer – wie aus anderen Quellen nik beschrieben wurden. Genauere Zahlen zu den deutlich wird – gegenüber den eugenischen Abtrei- Eingriffen liegen nur für Würzburg (148) und Er- bungen erhebliche Bedenken hatte.76 Nicht euge- langen (mindestens 136) vor. Ebenso wie bei den nisch intendierte Schwangerschaftsabbrüche aus Sterilisationen nahm man dabei schwere Kompli- anderen als medizinischen Indikationen lehnte er kationen und Todesfälle mit in Kauf.74 ohnehin kategorisch ab.77 Während die rassistisch motivierten Abbrüche An der Einbeziehung der Strahlensterilisation in in Erlangen und bei Gauß gegenüber den NS‑Be- den Katalog der Maßnahmen zur NS‑Rassenhygie- hörden offenbar weitgehend widerspruchslos voll- ne war Eymer beteiligt, obwohl er auch dagegen zogen wurden, versuchten Eymer und Mayer, sich Bedenken hatte. Zusammen mit Ernst Rüdin, dem dieser Aufgabe zu entledigen und die Zwangsab- Koautor des GzVeN‑Kommentars, ermittelte er in treibungen abzuschieben. Ein Brief Eymers an May- einer Experten-Umfrage Details zu den techni- er aus dem März 1944 legt davon Zeugnis ab. Darin schen Bedingungen für diese Eingriffe. In dem ent- wird deutlich, dass Eymer für seine Klinik schon er- sprechenden Bericht für das Reichsinnenministeri- folgreich war: „Wir machen hier […] derartige Un- um, den Eymer und Rüdin im März 1935 erstatte- terbrechungen nicht mehr“, schrieb er. Der Brief ten, wurde unter anderem festgestellt, dass eine zeigt auch, dass beide Ordinarien sich zwar des ho- sichere Sterilisierung bei Frauen nur durch Appli- hen Unrechtsgehaltes der Abtreibungen bewusst kation einer kastrierenden Strahlendosis mit all ih- waren, den Wunsch, damit nicht befasst zu wer- ren Nebenwirkungen zu erreichen sei. Eymer den, offiziell aber nur mit vorgeschobenen Argu- schloss sich trotzdem dem Votum für eine Zulas- menten (Platzmangel, Behinderung des geburts- sung der Strahlensterilisation für Fälle an, in denen hilflichen Unterrichtes) begründeten. Eymer operative Maßnahmen nicht möglich seien.78 schloss den Brief an Mayer, in dem er ihm eine Festzuhalten bleibt außerdem, dass in Eymers Möglichkeit zur Abschiebung der Zwangsabtrei- Klinik die mit Abstand meisten Sterilisationen an bung aufzeigte, mit den Worten: „Ich hoffe, dass bayerischen Universitätsklinika durchgeführt wur- Sie auf diese Weise für ihre Klinik und Ihr Gewissen den. Auch die Zahl der eugenischen Abtreibungen etwas Günstiges erreichen.“75 (58) übertraf die in Erlangen (13) und Würzburg (29). Die Zahl der Strahlensterilisationen (64) er- scheint dagegen im Vergleich mit Würzburg (111) 73 München: Horban: Gynäkologie (1999), S. 41,49; Würzburg: Wolf: Gauß (2008), S. 156; Frankfurt: Tau- Zu Kuß und Eymer auch der Beitrag Wiederbesetzun- bert: Zwangssterilisierungen (1998), S. 21; Tübingen: gen in diesem Band. Im Spruchkammerverfahren Doneith: Mayer (2008), S. 95, 120. stritt Eymer dagegen ab, Abtreibungen bei Ostarbei- 74 Erlangen: Frobenius: Abtreibungen (2004), S. 284; terinnen vorgenommen zu haben. Dafür erhielt er Würzburg: Wolf: Gauß (2008), S. 176 f. auch eine Bestätigung seines damaligen Oberarztes 75 Doneith hat diesen Brief im Universitätsarchiv Tübin- Rech (StA München SpKA Eymer, 382, Nr. 17). gen aufgefunden. Er kritisiert den Kontext, in dem 76 StaatsA M, SpK Eymer, 382. Brief von Hans Naujoks an Kuß [Kuß: Schwangerschaftsabbrüche (2001), S. 898] Eymer, in dem er zu dessen Bedenken Stellung diesen Brief 2001 in der DMW veröffentlicht hat: „Es nimmt. Naujoks war vehementer Befürworter der eu- mutet […] schon fast zynisch an, den Brief Eymers als genischen Abruptio. Akt gegen die nationalsozialistische Herrschaft dar- 77 Doneith: Mayer (2008), Fußnote 491. zustellen […].“ Doneith: Mayer (2008), Fußnote 491. 78 Weber: Ernst (1993), S. 219 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ 129 eher niedrig.79 Schwangerschaftsabbrüche an Diese vermutlich sehr hohe Zahl eugenischer Ab- Ostarbeiterinnen wurden vorgenommen, ihre Zahl treibungen dürfte dadurch begründet sein, dass ist aber unbekannt. sich Seitz nicht nur vehement für Zwangssterilisa- Pavla Albrecht, die sich in einem Beitrag für den tionen, sondern eben auch für die eugenischen Ab- Sammelband „Rechte Karrieren in München“ mit treibungen einsetzte.83 Er kann sogar als einer der der Persönlichkeit von Eymer beschäftigt hat, attes- Wegbereiter der entsprechenden Erweiterung des tiert ihm die „Bereitschaft, der verbrecherischen GzVeN bezeichnet werden. Rassenpolitik des ʼDritten Reichesʼ gedanklich und Literarische Aktivitäten von Seitz dazu lassen praktisch zuzuarbeiten.“80 Die Quellen, die sie zur sich schon 1933 nachweisen, als noch über den Untermauerung dieser Einschätzung zitiert, sind preußischen Entwurf für ein Sterilisationsgesetz allerdings – soweit sie über die hier genannten Fak- diskutiert wurde, in dem derartige Maßnahmen ten hinausgehen – in mancherlei Hinsicht nicht in nicht vorgesehen waren. In einem ausführlichen der Lage, diese Einschätzung zu stützen. Dies gilt Beitrag von Seitz für die „Deutsche Medizinische vor allem für den Teil der Publikation, in dem Ey- Wochenschrift“ heißt es: mer besondere Aktivitäten zur Fortentwicklung „Der Entwurf […] sucht nur die Erzeugung erb- der NS‑Eugenik zugeschrieben werden. So fehlen kranker Menschen zu verhüten, geht dagegen acht- für seine Mitgliedschaft im Sachverständigenbeirat los und stillschweigend an dem wichtigen 9mona- für Bevölkerungs- und Rassenpolitik ab Frühjahr tigen Zwischenstadium vorbei, das jeder Mensch 1933 ebenso die Belege wie für besondere wissen- einmal vom Augenblick seiner Erzeugung an bis schaftliche Aktivitäten zur Strahlensterilisation, die zur Vollendung seiner Geburt durchlaufen hat.“84 über die oben erwähnte Umfrage hinausgehen.81 Seitz schlägt deshalb vor, in einem künftigen Zwei Dissertationen aus der Klinik, die sich mit der Gesetz zur eugenischen Sterilisation „in besonders Wirkung von Strahlen auf die weiblichen Gonaden schweren Fällen“ auch die Möglichkeit zum beschäftigen, sind weder vom Inhalt her noch von Schwangerschaftsabbruch vorzusehen. Begründet ihrer Diktion mit der NS‑Eugenik in Verbindung zu werden könne diese Abweichung vom allgemeinen bringen. Sie wurden offensichtlich auch nicht von Abtreibungsverbot in Analogie zu jener bei der me- Eymer, sondern von dem Physiker Friedrich Voltz dizinischen Indikation: Während bei der medizini- (1891–1938) angeregt und betreut, der damals schen Indikation ein „Notstand“ im Hinblick auf Le- Konservator des Strahleninstituts der I. Universi- ben und Gesundheit der Mutter den Eingriff recht- tätsfrauenklinik München war.82 fertige, sei dies bei einem „erbkranke[n] und entartete[n] Kind“ das „Interesse der Volksgemein- schaft“. Seitz geht in seinem Artikel ferner auf die Ludwig Seitz Frage der Freiwilligkeit bei eugenischen Eingriffen Noch aktiver als in München wurde offenbar in der ein, die ja im preußischen Entwurf für ein Sterilisa- Klinik von Ludwig Seitz in Frankfurt aus eugeni- tionsgesetz vorgesehen war: schen Gründen abgetrieben: Hans-Dieter Taubert „Persönlich scheint es mir gerechtfertigt, bei ermittelte bei seinen diesbezüglichen Untersu- schweren Verbrechern und bei ganz besonders chungen, dass die von 1932 bis 1945 dort vorge- schweren Erbkrankheiten Bestimmungen […]auf- nommenen 509 Sterilisationen von 148 Abbrüchen zunehmen […], die einen gewissen Druck auf wi- begleitet wurden. In 38 Fällen waren die Schwan- derwillige Personen auszuüben erlauben.“85 gerschaften älter als fünf Monate, manche der Frau- en befanden sich bei der Interruptio sogar schon im siebten Monat. In fast der Hälfte der Fälle nahmen die Ärzte für den Abbruch eine Sectio parva vor.

79 Zahlen nach: David: Döderlein (2007), S. 93. 80 Albrecht: Eymer (2011), S. 309. 83 Taubert: Zwangssterilisierungen (1998), S. 23. Die 81 Siehe hierzu Kuß: Eymer (2011), S. 27 f. Der Autor meisten der kombinierten Eingriffe wurden in den teilt diese Einschätzung der Quellenlage, allerdings Jahren von 1932 bis 1934 durchgeführt, als dies noch ohne Eymer als Mitläufer einzustufen. Dafür hatte jenseits jeder Legalität war. Allerdings ließ sich die der Ordinarius an der I. UFK zu viel Einfluss. Siehe eugenische Indikation in vielen Fällen nicht eindeutig hierzu auch Wiederbesetzung. nachvollziehen. 82 Weist: Untersuchungen (1937); Mußmann: Beiträge 84 Seitz: Verkoppelung (1933), S. 1084. (1938). 85 Ebd., S. 1086.

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Gauß sie in der Nachkriegszeit, um sich als NS‑Geg- Carl Joseph Gauß ner darzustellen. Zum anderen zeigt seine Recht- Wie oben erwähnt, übertraf die Zahl der Strahlens- fertigung gegenüber den damaligen Machthabern, terilisationen in Würzburg mit 111 die aller ande- dass er die NS‑Eugenik in wesentlichen Punkten ren von BGGF‑Ehrenmitgliedern geleiteten Univer- voll unterstützte. So erklärte er, schon seit 1925 sitätsklinika. Ursächlich dafür war sicherlich, dass „als einer der ersten überhaupt“ eugenische Sterili- sich der von seiner Biographin Susanne Wolf als sationen vorgenommen zu haben.90 „überzeugter Nationalsozialist“86 eingestufte Carl In ihrer zusammenfassenden Würdigung der Joseph Gauß intensiv für diese Methode einsetzte. Rolle von Gauß im NS kommt Susanne Wolf zu Zeugnis davon legt ein leidenschaftliches Plädoyer dem Ergebnis, dass sich der Würzburger Ordinarius ab, das er 1935 in der „Münchner Medizinischen „mit der Bevölkerungspolitik der Nationalsozialis- Wochenschrift“ (MMW) veröffentlichte. Darin be- ten identifizierte und die entmenschlichende Ma- zeichnete er die Sterilisation mit Radium- oder schinerie der Erbgesundheitsgesetze noch zu ver- Röntgenstrahlen als sichere, einfache und billige bessern suchte.“91 Dies überschatte sein von der Alternative zu den operativen Eingriffen. Bedenken Sorge um seine Patientinnen sowie enormer Schaf- hinsichtlich der für die betroffenen Frauen daraus fenskraft und Produktivität geprägtes Lebenswerk erwachsenden Kastrationsfolgen spielte er herun- ebenso wie seine Weigerung, sich nach 1945 kri- ter.87 tisch mit seiner Rolle in der NS‑Zeit auseinanderzu- Für sich selbst völlig überraschend geriet Gauß setzen.92 nach dieser Publikation bei der NS‑Elite heftig in die Kritik. Sie störte sich daran, dass er sein Eintre- August Mayer ten für die zu diesem Zeitpunkt noch unzulässige Strahlensterilisation bei der Veröffentlichung in Auch zu August Mayer existiert eine Biographie, die der auch im Ausland sehr beachteten MMW unter sich intensiv mit der Rolle dieses BGGF‑Ehrenmit- anderem mit einer hohen Komplikationsrate bei gliedes in der NS‑Zeit beschäftigt.93 Der Autor, den operativen Verfahren begründet und darüber Thorsten Doneith, hat für seine Untersuchung ne- hinaus ein abschreckendes Bild von den Zuständen ben wissenschaftlichen Arbeiten, amtlichen Quel- auf den entsprechenden Stationen gezeichnet hat- len sowie Krankenakten der Tübinger Frauenklinik te. Ferner nannte er für die Eingriffe eine „Sterb- den umfangreichen Nachlass Mayers ausgewertet, lichkeitsziffer von ca. 5%“. Diese hohe Rate sei da- zu dem viele Briefe zählen. In Bezug auf die Rolle rauf zurückzuführen, dass es sich bei den Patientin- von Mayer im NS kommt Doneith zu dem Ergebnis, nen „fast durchweg um nicht nur geistig, sondern dass sich der Tübinger Ordinarius mit großen Tei- auch körperlich minderwertige Menschen han- len der von den Nationalsozialisten propagierten delt“.88 Ideen zur Rolle der Frau in der Gesellschaft sowie Der Artikel drohte wegen der von den Nazis be- zur Eugenik identifizieren konnte, „wenn auch fürchteten negativen Auswirkungen für das öffent- sein ideologischer Hintergrund ein anderer war“.94 liche Image ihrer Rassenpolitik für seinen Autor zu- Weiter heißt es: „Mayer verstrickte sich in die NS- nächst erhebliche Folgen zu haben. Die Details dazu Ideologie, ohne ein wirklicher Parteigänger gewe- hat Susanne Wolf in der Biographie von Gauß dar- sen zu sein.“ Auch ihm wird Unfähigkeit dahinge- gestellt.89 In die entsprechende Debatte schalteten hend bescheinigt, sich nach Kriegsende kritisch sich neben höchsten staatlichen Stellen auch die mit seiner Rolle im NS auseinanderzusetzen.95 Auf GzVeN‑Kommentatoren Rüdin und Gütt ein. Rüdin Details der Vorgänge in der Tübinger Frauenklinik veröffentlichte eine Erwiderung in der MMW, die wurde oben bereits eingegangen. Erwähnt werden Gaußsche Antwort darauf lehnte die Schriftleitung muss zusätzlich, dass Mayer schon zwischen 1918 ab. Ihm wurde u.a. unterstellt, gegen das GzVeN zu und 1930 in 25 Fällen eugenische Sterilisierungen arbeiten. Schließlich gelang es Gauß mit Hilfe ein- vorgenommen hat, davon neun in Kombination flussreicher Verbündeter, unbeschadet aus der Af- mit einem Schwangerschaftsabbruch.96 färe herauszukommen, die historisch vor allem aus zwei Gründen von Interesse ist: Einmal benutzte 90 Ebd., S. 173. 86 Wolf: Gauß (2008), S. 210. 91 Ebd., S. 210. 87 Gauß: Anwendung (1935), S. 491. 92 Ebd., S. 212–214. 88 Zitiert nach Wolf: Gauß (2008), S. 170. 93 Doneith: Mayer (2008). 89 Wolf: Gauß (2008), S. 166–175. 94 Ebd., S. 205.

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1935 hat Mayer in seiner Eigenschaft als Präsi- Ober- und Fachärzte, spätere Ordinarien dent der DGGG den Kongress der Gesellschaft in München ausgerichtet. Dabei bemühte er sich Bei der praktischen Umsetzung der Zwangssterili- schon im Vorfeld intensiv darum, die Veranstaltung sationen, den damit assoziierten eugenischen Ab- nach den Vorstellungen der braunen Machthaber treibungen sowie bei den Schwangerschaftsabbrü- ablaufen zu lassen. Als besonders kritischer Punkt chen an Ostarbeiterinnen spielten die Ober- und erwies sich die eugenische Sterilisierung: Einer- Fachärzte der beteiligten Kliniken natürlich eine seits war die Thematisierung dieses Punktes zu wichtige Rolle. Ordinarien nahmen – mit Ausnah- Propagandazwecken von Seiten staatlicher Stellen men – derartige Eingriffe offenbar eher selten sehr erwünscht, andererseits fürchtete man dort selbst vor. Eine dieser Ausnahmen ist Heinrich vor allem nach dem kurz vorher in der MMW er- Martius, der die Göttinger Frauenklinik von 1926 schienenen Artikel von Gauß erneute unerwünsch- bis 1954 leitete und bei dem das spätere BGGF‑Eh- te Präsentationen oder Diskussionsbeiträge. So renmitglied Werner Bickenbach (1900–1974) tätig schrieb Franz Wirz (1889–1969), Reichshauptstel- war. lenleiter im Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP‑Reichsleitung an Mayer: „Bei dem […]The- Werner Bickenbach ma dürfen unter gar keinen Umständen Entglei- sungen zutage treten, wie in der Arbeit von Gauss Werner Bickenbach, der fast die ganze NS‑Zeit in [sic] […]. Ich bitte Sie, mit allen Rednern zu diesem Göttingen bei Martius verbrachte und 1944 nach Thema vorher über diesen Punkt Fühlung zu neh- Münster in sein erstes Ordinariat berufen wurde, men.“ Mayer konnte Wirz beruhigen: „Der Vorsicht hat sich in seinen wissenschaftlichen Publikationen halber habe ich die Hauptreferate nur gesinnungs- nicht zur Eugenik geäußert. Nach einer Untersu- tüchtigen Herren übertragen.“97 chung von Thomas Koch, die zu den frühen Lokal- Die Veranstaltung lief dann wie gewünscht ab. studien in dieser Frage zählt, führte Bickenbach Die anwesenden Vertreter des NS‑Regimes konn- 173 der insgesamt 787 Zwangssterilisationen in ten zufrieden konstatieren, dass die Referateintei- Göttingen durch (22%). Vor seinem Lehrer Martius, lung der „erstmalig judenfreien Tagung“ der „neu- der dem GzVeN in Teilen durchaus kritisch gegen- en Zeit“ entspreche: „[…] a) Klima-, Licht- und Bä- überstand, war Bickenbach damit der in diesem Be- derbehandlung im Sinne der Betonung der reich aktivste Arzt. Martius selbst machte 146 Frau- naturgemäßen Lebens- und Heilweise, b) Sterilität en unfruchtbar (18,5%).100 im Sinne der aktiven Bevölkerungspolitik in quan- In der Gesamtzahl der Sterilisationen sind 22 titativer Hinsicht und c) eugenische Sterilisierung Frauen inbegriffen, bei denen Röntgenstrahlen ein- im Sinne der aktiven Bevölkerungspolitik in quali- gesetzt wurden. Ferner berichtet Koch von mindes- tativer Hinsicht.“98 In seiner Eröffnungsrede hatte tens 14 eugenischen Abtreibungen. Im Gegensatz Mayer in Anknüpfung an die Ergebenheitsadresse zu der andernorts geübten Praxis hielt man in Göt- seines Vorgängers Walter Stoeckel (1871–1961) tingen Abbrüche nach dem vollendeten 4. Monat beim DGGG‑Kongress 1933 erklärt: „Unserem Füh- für zu gefährlich und lehnte sie deshalb ab. Wer rer rufen wir […] zu: Hier stehen wir, wenn man die Abbrüche und Strahlensterilisationen durchge- uns braucht, wir sind bereit!“99 führt hat, bleibt unklar. Im Gegensatz zu Mayer und Gauß sah Bickenbach die Praxis der Sterilisierung im NS später offenbar kritisch. 1962, als er bereits 95 Ebd., S. 207. Direktor der Klinik an der Maistraße in München 96 Ebd., S. 89. Die Daten stammen aus einer 1936 veröf- war, äußerte er sich auf einer Tagung der katholi- fentlichten Dissertation. Doneith zitiert den Autor schen Akademie in Bayern zu den Diskussionen „ mit den Worten: Es war damals nach streng rechtli- über ein neues Sterilisationsgesetz wie folgt: „Ich chem Begriff nicht erlaubt, nur aus eugenischer Indi- darf in Erinnerung rufen, daß in der Vergangenheit kation zu sterilisieren. […] Heute liegt das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses […] vor und wir mit der zwangsweisen Sterilisierung sogenannter führen diese Sterilisationen im Auftrag des Staates Erbkranker viel Unheil angerichtet worden ist und aus.“ sich der Eingriff bei der Frau als keineswegs harm- 97 Zitiert nach Doneith: Mayer (2008), S. 85. los erwiesen hat.“ Auf seine persönlichen Erfahrun- 98 Mayer: Eröffnungsrede (1936), S. 11; Mayers Eröff- gen ging er dabei allerdings nicht ein.101 nungsrede auch bei Ludwig: Reden (1999), S. 157– 161. 99 Mayer: Eröffnungsrede (1936), S. 11. 100 Koch: Zwangssterilisation (1994), S. 59.

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als Oberarzt zu Otto Eisenreich (1881–1947) in die II. UFK, aus der bisher keine Daten zu eugenischen Maßnahmen während der NS‑Zeit vorliegen. 1949 wurde Fikentscher zum Nachfolger von Eisenreich berufen.104

Rudolf Dyroff und Max Brandl Rudolf Dyroff und Max Brandl aus Erlangen sind die in der NS‑Zeit noch in nachgeordneter Stellung tätigen Ärzte unter den BGGF‑Ehrenmitgliedern, über deren Aktivitäten im Zusammenhang mit Zwangssterilisationen und Abtreibungen an Ostar- beiterinnen am meisten bekannt ist. Viele der De- Abb. 7.6 Die Erlanger Frauenklinik im „Dritten tails dazu sind oben bereits angeführt worden. Bei Reich“ (Quelle: Archiv der Frauenklinik Erlangen). ihrer Betrachtung drängt sich der Eindruck auf, dass Dyroff das GzVeN auf Kosten der Patientinnen mit besonderer Energie für seine wissenschaftliche Arbeit nutzte, deren Schwerpunkt schon länger im Bereich der Tubenfunktion lag. Seine Beteiligung an Richard Fikentscher den Zwangssterilisationen selbst sah er als „Beitrag Auf Richard Fikentscher ist schon im Zusammen- […] gedacht zu dem vom deutschen Volke unter- hang mit dem illegalen eugenischen Schwanger- nommenen Versuch, bedenkliche Schlacken seines schaftsabbruch in der UFK Halle hingewiesen wor- Erbgutes auszumerzen.“105 den. Er war dort bis 1939 als Assistent und später Vor allem im Zusammenhang mit den Zwangs- als Oberarzt an den insgesamt 1398 Zwangssterili- abtreibungen hat Dyroff später versucht, die Ver- sationen und 86 eugenischen Abbrüchen in der Kli- antwortung für die Vorgänge in der Erlanger Frau- nik von Ludwig Nürnberger (1884–1959) beteiligt. enklinik (Abbildung 7.6) allein seinem 1947 ver- Als Operateur wird er in 179 Fällen genannt storbenen Chef Hermann Wintz zuzuschieben. (12,8%). Er scheint damit nicht zu den auf diesem Dazu ist festzustellen, dass Dyroff Wintz wegen Gebiet besonders aktiven Ärzten gehört zu haben. häufiger und auch lange dauernder Abwesenheit Es bleibt allerdings unklar, wie oft er den jüngeren aus Dienst- oder Krankheitsgründen über Jahre im- Kollegen assistierte, die jeweils zwischen 15 und mer wieder voll vertreten hat.106 Diese Vertretun- 20% der Eingriffe vornahmen. Klinikdirektor Nürn- gen, die später als Nachweis seiner Eignung zum berger selbst führte 77 Sterilisationen durch Ordinarius ins Feld geführt wurden, lassen vermu- (5,5%).102 ten, dass er nicht ohne Einfluss war.107 Von Fikentscher ist 1935 in der „Medizinischen Max Brandl kann ebenso wie Dyroff trotz Partei- Klinik“ auch eine Übersichtsarbeit zum Thema mitgliedschaft nach den bisher auswertbaren Quel- „Ärztliche Gesichtspunkte und Erfahrungen bei len über die Beteiligung an rassistischen Maßnah- der Durchführung des Sterilisierungsgesetzes an men hinaus nicht als besonders engagierter NS‑Ak- weiblichen Erbkranken“ erschienen. In der Publika- tivist bezeichnet werden. Er verhielt sich offenbar tion geht es unter anderem um die Frage der Not- eher opportunistisch. Seine 1937 erschienene Dis- wendigkeit der gynäkologischen Untersuchung sertation hatte Brandl in den Dienst des NS‑Frauen- vor den eugenischen Operationen sowie um die bildes gestellt. Er musste sich deshalb später vor- Diskussion der Methoden. Aus der damals aktuel- len Debatte über die eugenischen Schwanger- 104 Siehe hierzu auch Wiederbesetzung in diesem Band. schaftsabbrüche hält er sich explizit heraus. In der 105 Dyroff: Sterilisationen (1936), S. 16. Die Daten waren Arbeit finden sich auch keinerlei politische Äuß- zuvor auf der BGGF‑Tagung von 1935 vorgestellt und erungen.103 Fikentscher ging 1939 nach München lebhaft diskutiert worden. 106 Frobenius: Röntgenstrahlen (2003), S. 402 f. 107 BayerHStaatsA M, MK 72 015: Vorschlagsliste der Fa- 101 Zitiert nach Koch: Zwangssterilisation (1994), S. 66. kultät für die Wiederbesetzung des Lehrstuhls für 102 Grimm: Zwangssterilisationen (2003), S. 29 f. Frauenheilkunde vom 14. 10. 1949 mit Sondervotum 103 Fikentscher: Gesichtspunkte (1935), S. 311–313. für Dyroff.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ 133 werfen lassen, er habe eine unwissenschaftliche, Gustav Döderlein „politisch-propagandistische Doktorarbeit“ ange- fertigt.108 Gustav Döderlein (1893–1980), Sohn von Albert Döderlein und von 1936–1945 Leiter der gynäkolo- gischen Abteilung am Staatskrankenhaus der Poli- Otmar Bauer zei in Berlin, ist in der überwiegend gynäkologisch Inwieweit Otmar Bauer (1904–1985) an den orientierten medizinhistorischen Literatur lange Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen in nicht mit Zwangssterilisationen und ‑abtreibungen der I. UFK München beteiligt war, ist unklar: In der in Verbindung gebracht worden. Gabriele Czar- entsprechenden Untersuchung von Horban werden nowski weist in ihrer Untersuchung über „Politi- die Namen der an den Eingriffen beteiligten Ärzte sche Gynäkologie an den Berliner Universitäts- nicht genannt. Da Bauer jedoch 1937 als bereits frauenkliniken im Nationalsozialismus“ von 2008 erfahrener Assistent und Facharzt aus dem jedoch auf eine Arbeit hin, wonach in der gynäko- St. Elisabeth-Krankenhaus in Halle/Saale zu Eymer logischen Abteilung des Polizeikrankenhauses kam, muss davon ausgegangen werden, dass er auch „rassisch indizierte Zwangssterilisationen Zwangssterilisationen durchführte. Möglicherwei- vorgenommen“ worden sind. Dies gehe aus den Er- se war er auch in die Abtreibungen bei Ostarbeite- innerungen eines Opfers hervor: Eine damals dort rinnen involviert. Darauf könnte eine ministerielle polizeilich eingelieferte Augsburgerin habe Ent- Aktennotiz hindeuten, die 1950 im Zusammen- sprechendes schon in den 1980er Jahren zu Proto- hang mit der Neubesetzung des II. Münchner Lehr- koll gegeben.113 Döderlein, der 1945 zum Ordinari- stuhls angefertigt wurde, für den Bauer im Ge- us in Jena berufen wurde, hatte Derartiges nach spräch war. Darin werden kirchliche Stellen mit Kriegsende explizit bestritten.114 dem Hinweis zitiert, Bauer sei „durch eine großzü- gige Einstellung zu Dingen des § 218 belastet“.109 Von Bauer selbst ließen sich aus der Zeit vor Entnazifizierung und Kontinuitäten 1945 keine Äußerungen zur NS‑Rassenpolitik fin- den. Seine eigene, spätere Darstellung der Haltung Kurz nach Kriegsende wurden alle genannten Eh- zum Nationalsozialismus erscheint widersprüch- renmitglieder, soweit sie noch in Universitätsklini- lich: Einerseits will er 1933 trotz innerer Ableh- ken tätig waren, von der jeweiligen Militärregie- nung in die NSDAP eingetreten sein, um „sich seine rung zumindest befristet ihrer Ämter enthoben. mühsam, mit viel Fleiß, harter Arbeit und großen Die Unterstützung und Beteiligung an den hier ge- Opfern errungene Existenz zu sichern“.110 Anderer- schilderten NS‑Zwangsmaßnahmen spielte dabei seits müsste er selbst diese Bemühungen intensiv jedoch anfänglich kaum eine Rolle: Ausschlagge- konterkariert haben, wenn er sich – wie es ihm bend waren vor allem die formalen Mitgliedschaf- zahlreiche eidesstattliche Erklärungen im Spruch- ten in NS‑Organisationen und besondere Funk- kammerverfahren bescheinigten – in der Klinik als tionen. Von daher ergab sich für die meisten der „wütender Gegner dieses Regimes“ präsentiert hät- genannten Ehrenmitglieder zunächst keine Not- te, der „stets in aller Offenheit den Nationalsozialis- wendigkeit, sich hinsichtlich der eugenischen mus in aller Schärfe angegriffen“ habe.111 Eymer Zwangsmaßnahmen und der Abtreibungen bei hat Bauer stets gefördert. Er ermöglichte ihm 1944 Ostarbeiterinnen zu rechtfertigen. die Habilitation und ernannte ihn 1949 zum Ober- Ausnahmen stellten nur Gauß und Eymer sowie arzt.112 Dyroff und Brandl dar. Gauß hatte die Zwangssteri- lisationen in seinem Spruchkammerverfahren zu 108 Brandl, Max: Für und wider den Sport in der Pubertät seiner Entlastung selbst thematisiert. Eymers Kon- der Mädchen. Diss. med. Erlangen 1937. Der Vorwurf frontation damit war vor allem darauf zurückzu- wird im Spruchkammerverfahren erhoben (Amtsge- führen, dass er sich so öffentlichkeitswirksam an rA E, SKA Max Brandl, Nr. 23, S. 2.). 109 BayerHStaatsA M, MK 69402: Aktennotiz vom dem Kommentar zum GzVeN beteiligt hatte. Die 15. 6.1950 für Rheinfelder. Siehe hierzu auch Wieder- Verwicklung von Dyroff und Brandl in die Abtrei- besetzungen in diesem Band. bungen an Ostarbeiterinnen war durch die speziel- 110 UnivA M, E‑II‑804, PA Otmar Bauer, Abschrift des Spruchs der Spruchkammer vom 1.7.1948. 112 UnivA M, E‑II‑804, PA Otmar Bauer, Lebenslauf von 111 UnivA M, E‑II‑804, PA Otmar Bauer, Abschrift des Bauer. Spruchs der Spruchkammer vom 1.7.1948, beilie- 113 Czarnowski: Erkrankte (2008), S. 139. gende Mappe mit eidesstattlichen Erklärungen. 114 Siehe hierzu David: Döderlein (2007), S. 97 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 134 BGGF‑Ehrenmitglieder und das „Dritte Reich“ len Nachkriegsverhältnisse in der Erlanger Frauen- So unterstützten Albert Döderlein und Heinrich klinik und die von der Militärregierung eingesetzte Eymer das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach- universitäre Untersuchungskommission publik ge- wuchses (GzVeN) durch ihre Beiträge zu den offi- worden.115 ziellen Kommentaren mit der Autorität ihrer Per- Wenn auch die Wieder- bzw. Neubesetzung der son sowie ihres Amtes, wobei Eymer auch an der Lehrstühle in München (I. UFK) für Eymer (1948) Einführung der kastrierenden Strahlensterilisatio- und in Erlangen für Dyroff (1950) mit erheblichen nen beteiligt war. Ludwig Seitz muss durch seine Turbulenzen verbunden war, blieb von den genann- Veröffentlichungen zum GzVeN wenn nicht als ten Ehrenmitgliedern der damals schon 70 Jahre Wegbereiter, so doch zumindest als entschiedener alte Gauß der einzige, für den seine Rolle im „Drit- Befürworter des begleitenden Schwangerschafts- ten Reich“ dauernde berufliche Konsequenzen hat- abbruches aus eugenischer Indikation bezeichnet te: Obwohl er, wie die anderen, letztlich in seinem werden. August Mayer bot den Nationalsozialisten Spruchkammerverfahren die Einstufung als „Mit- auf dem DGGG‑Kongress 1935 durch entsprechen- läufer“ erreichen konnte, verweigerte ihm die Uni- de Selektion der Referenten die gewünschte propa- versität die Emeritierung. Mayer in Tübingen wur- gandistische Plattform zur Kommunikation ihres de sogar als entlastet eingestuft und leitete die Kli- eugenischen Gedankengutes. Zuvor hatte sich nik nach nur kurzzeitiger Suspendierung bis 1949 Gauß in einem Zeitschriftenbeitrag vehement für weiter. Zusammen mit Robert Gaupp galt er in der die Zwangssterilisation durch Bestrahlung einge- Tübinger Fakultät auch darüber hinaus noch lange setzt und die damit verbundene Kastration in ihren als „moralische Autorität“.116 Folgen heruntergespielt. Brandl bewarb sich knapp zwei Wochen nach Als Klinikdirektoren im NS verantworteten die der Entlassung wegen der Abtreibungen an Ostar- genannten Ordinarien mit Ausnahme des emeri- beiterinnen auf einem offiziellen Briefbogen der Er- tierten Albert Döderlein die praktische Umsetzung langer Frauenklinik mit einem Zeugnis von Dyroff des GzVeN mit all den geschilderten Begleiterschei- um die Chefarztstelle in Amberg, die er am 15. Sep- nungen. Beteiligt waren ferner Werner Bickenbach, tember 1947 erhielt und bis in den Ruhestand 1973 Richard Fikentscher und Rudolf Dyroff in ihrer innehatte. Eine Nachfrage während des Bewer- Funktion als Fach- bzw. Oberärzte sowie der dama- bungsverfahrens, ob er aus dem Hochschuldienst lige Leiter des Berliner Polizeikrankenhauses, Gus- entlassen worden sei, bejahte Brandl mit dem Hin- tav Döderlein. Zwischen 1943 und 1945 ließen zu- weis „auf die für die Universitäten geltenden be- mindest Eymer, Mayer, Gauß und Dyroff Zwangs- sonderen Bestimmungen“. Von einem Antrag auf abtreibungen an Ostarbeiterinnen zu, von denen eventuelle Wiedereinstellung habe er „bis jetzt Ab- in Erlangen der damalige Facharzt Max Brandl den stand genommen, da ich inzwischen aus freien Stü- größten Teil durchführte. Vor allem aus Erlangen cken anders disponiert habe.“117 und Tübingen ist auch bekannt, dass versucht wur- de, aus den Sterilisationen auf Kosten der Opfer wissenschaftlich Kapital zu schlagen. Fazit Unabhängig von der jeweiligen Motivation, auf die hier nicht eingegangen werden kann,118 haben Anhand von Biographien, lokalen Studien, wissen- die genannten Ehrenmitglieder mit der Beteiligung schaftlichen Publikationen und Archivalien lässt an den NS‑Zwangsmaßnahmen bzw. deren Befür- sich für alle genannten Ehrenmitglieder mit Aus- wortung oder Duldung sicherlich gegen Gebote nahme von Otmar Bauer belegen, dass sie sich im der Humanitas und das ärztliche Prinzip des „nil „Dritten Reich“ zu Helfershelfern der NS‑Rassenpo- nocere“ verstoßen. Wie sich zeigte, ließen sie sich litik gemacht haben. Dies vollzog sich – in Abhän- dabei auch zu Handlungen verleiten, durch die sie gigkeit vom ideologischen Hintergrund, der wohl ihre eigenen Grundsätze verrieten. In biographi- meist nicht streng nationalsozialistisch geprägt schen Darstellungen und historischen Rückblicken war – in unterschiedlicher Form, auf unterschiedli- sollte dies nicht ausgeblendet werden, zumal die chen Ebenen und mit unterschiedlicher Intensität. NS‑Eugenik auch den klinischen Alltag in erhebli- chem Maße beeinflusst hat.

115 Siehe hierzu auch Wiederbesetzungen in diesem Band. 116 Grün: Schuld (2007), S. 303. 118 Siehe hierzu beispielsweise für die Erlanger Ärzte: 117 StadtA Am, Personalakt Max Brandl. Frobenius: Abtreibungen (2004), S. 301–305.

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Stadtarchiv Amberg (StadtA Am) Personalakt Max Brandl

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Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie

Gabriele Czarnowski1

Der „Anschluss“ Österreichs nach dem Einmarsch ker Albert Niedermeyer war der einzige, der sich der deutschen Truppen am 12. März 1938 hatte für mit einem kritischen Beitrag zur Zwangssterilisati- die österreichischen Gynäkologen und wenigen Gy- on zu Wort meldete.4 näkologinnen im Prinzip dieselbe Wirkung wie die Neben dem „Archiv für Gynäkologie“ war es vor nationalsozialistische „Machtergreifung“ für die allem das wöchentlich erscheinende „Zentralblatt Frauenärzt/innen im „Altreich“ fünf Jahre zuvor. für Gynäkologie“, in dem sie die Fachdebatte über Wir finden auf der einen Seite die Verfolgung jüdi- die „gesetzlichen Sterilisierungen“ in Deutschland scher und politisch missliebiger Kolleginnen und verfolgen konnten. Bis zum „Anschluss“ waren Kollegen, auf der anderen Seite die Verstrickung dort 37 Beiträge zu diesem Thema erschienen, auß- besonders von Klinikärzten in die nationalsozialis- erdem Kongressberichte und Sitzungsprotokolle tische Bevölkerungs- und Rassenpolitik. Die öster- regionaler gynäkologischer Gesellschaften sowie reichischen Frauenärzt/innen waren durchaus vor- einschlägige Rezensionen aus der nationalen wie bereitet auf das, was auf sie zukam, nicht nur durch internationalen Fachliteratur.5 Die Forderung nach Beobachtung der allgemeinen Politik des Nachbar- eugenischer Sterilisation war in Österreich nicht landes, sondern auch berufsbezogen, etwa durch unbekannt, wenn sie auch im christlich-sozialen gegenseitige wissenschaftliche Einladungen und Ständestaat praktisch nicht durchzusetzen war. Arbeitsaufenthalte, als Mitglieder in der Deutschen Doch wie in vielen Ländern Europas und der beiden Gesellschaft für Gynäkologie2 oder als Leser der Amerika hatte sich auch in Österreich ein mehr- Fachzeitschriften. Im „Archiv für Gynäkologie“ stimmiger Diskurs über Eugenik entfaltet, der sich konnten sie nachlesen, wie die Gesellschaft auf grob in eine deutschnational-antiklerikale, eine so- ihrer Versammlung im Oktober 1933 unter dem zialistische und eine katholische Ausprägung ein- damaligen Vorsitzenden Walter Stoeckel (1871– teilen lässt.6 Der Antisemitismus hatte in Öster- 1961) die politische und „rassische“ Selbstgleich- reich eine eigenständige und lange Tradition, auch schaltung mit den neuen Machthabern vollzog als „deutsch-christliche“ Variante. Besonders in und wie über „Eingriffe aus eugenischer Indikati- der Medizin spielte er in der Zwischenkriegszeit on“–im Hinblick auf das ab Januar 1934 in Kraft eine zunehmende Rolle, wie Michael Hubenstorf tretende „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach- facettenreich untersucht hat.7 Seit Hitler in wuchses“ (GzVeN) als eines der Hauptthemen auf Deutschland Reichskanzler geworden war, saßen die Agenda gesetzt – referiert und diskutiert wur- de.3 Der katholische Frauenarzt und Sozialhygieni- 3 Die österreichischen Mitglieder konnten am Kongress nicht teilnehmen, denn Österreichern war zu dieser Zeit im Zuge des außenpolitischen Kleinkriegs zwi- 1 Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem schen beiden Staaten die Ausreise nach Deutschland vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen von ihrer Regierung verboten. Forschung, Wien, finanzierten Projekt „Gynäkologie 4 Niedermeyer: Wahn (1956), S. 277 f. Niedermeyer im Nationalsozialismus. Die Universitätsfrauenklinik übernahm 1935 die 1934 vom Ständestaat geschlos- Graz 1938–1945“ am Institut für Sozialmedizin und sene Eheberatungsstelle des „Roten Wien“ und setzte Epidemiologie der Medizinischen Universität Graz. sie bis zu ihrer erneuten Schließung unter christlich- 2 Die Berufsorganisation vereinte bis 1945 deutsch- eugenischen Vorzeichen fort. Vgl. Löscher, Vernunft sprachige Frauenärzt/innen Mitteleuropas, in der (2005), S. 219–240. überwiegenden Mehrheit männlichen Geschlechts, 5 Zimmermann: Zwangssterilisationen (1997). ab 1933 unter Ausschluss der deutschen Juden. 6 Vgl. Baader: Eugenik (2007).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie 139 die österreichischen Nationalsozialisten gewisser- maßen in den Startlöchern – und sie wurden im- mer mehr. Dieser Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die nach dem „Anschluss“ verhängten Entlas- sungen und die personellen Kontinuitäten im Fach Gynäkologie und Geburtshilfe in den Universitäten und den Landesfrauenkliniken/Hebammenlehran- stalten, soweit dies bisher erforscht ist. Zweitens wird das Ausmaß der Zwangssterilisationen und forcierten Abtreibungen an „Ostarbeiterinnen“ in Österreich vorgestellt. Drittens und in der Hauptsa- che geht es um ein Thema, das – soweit es die Gy- näkologie betrifft – bisher vor allem mit der Person von Carl Clauberg und den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück verbunden wird: me- dizinische Experimente an Opfern des Nationalso- zialismus. Abb. 8.1 Heinrich Kahr (1888–1947), Klinikvorstand der I. Wiener UFK, 1938 Personelle Wechsel und entlassen (Quelle: Bildarchiv der Medizinischen Universität Wien). Kontinuitäten in Universitäts- und Landesfrauenkliniken lungen in den großen Krankenhäusern Wiens ent- hoben. Vier der Vertriebenen standen im 50. bis Zu den frühesten Maßnahmen der neuen Machtha- 60. Lebensjahr, fünf im 60. Lebensjahr und darüber. ber gehörte die rassisch und politisch begründete Die jüngsten waren 44 und 46 Jahre alt.10 Acht von Entfernung von Professoren und Dozenten aus Leh- ihnen gelang es zu emigrieren. Emanuel Klaften re und Klinik – d. h. ihre Vertreibung von den medi- (1892–1971) konnte erst 1939 nach der Haft im zinischen Fakultäten und aus den Universitäts- Konzentrationslager Dachau entkommen. Wilhelm Frauenkliniken (UFK), deren es 1938 vier in Öster- Latzko (1863–1945), langjähriger Vorstand des reich gab: Wien I und II, Graz und Innsbruck. An der Bettina-Pavillons, der gynäkologischen Abteilung Wiener Medizinischen Fakultät, einer der größten im Kaiserin-Elisabeth-Spital, zuletzt bis zu seiner im deutschsprachigen Raum, waren weit über die Pensionierung 1936 ärztlicher Direktor des Spitals, Hälfte aller Universitätslehrer betroffen, nämlich verließ das Land mit 75 Jahren.11 Der 65-jährige 170 von 309. Im Fach Geburtshilfe und Gynäkologie Oskar Frankl wählte den Suizid. waren es elf von neunzehn.8 Entlassen wurde der An der Universität in Graz kam es zur Entlassung Vorstand der I. Wiener Universitäts-Frauenklinik von 21 Lehrkräften der medizinischen Fakultät. Heinrich Kahr (1888–1947; Abbildung 8.1). Zehn Vertrieben wurden zehn von 32 Professoren, zwei weiteren Professoren und Dozenten – darunter be- Privatdozenten, vier Assistenten, ein Lektor und rühmte Endokrinologen wie Ludwig Adler (1876– vier „sonstige“.12 Im Fach Gynäkologie und Ge- 1958),9 Bernhard Aschner (1883–1960) und Oskar Frankl (1873–1938) – wurde die Lehrbefugnis ent- 10 Biografische Angaben zu Bernhard Aschner, Robert zogen. Außerdem wurden sie ihrer Stellen als Uni- Joachimovitz, Heinrich Kahr, Hans Heidler, Ludwig versitätsassistent oder als Leiter der Frauenabtei- Adler, Isidor Fischer, Josef Novak, Josef Schiffmann, Oskar Frankl, Emanuel Klaften und Robert Köhler vgl. Bauer-Merinsky: Auswirkungen (1980); Vertrie- 7 Hubenstorf: Wahrheit (1995); ders.: Medizin (1995); ben 1938 (online); Gedenkbuch (online). ders.: Kontinuität (2004); ders.: Urologie (2011). 11 Latzko war Präsident des Medical Circle in New York, 8 Hubenstorf: Medizinische Fakultät (1989), S. 240. Ta- einer Emigrantengründung, die sich als Fortführung belle 1: Entlassungen und Personalentwicklung an der Gesellschaft der Ärzte in Wien verstand, Hubens- der Medizinischen Fakultät der Universität Wien torf: Medizin (1995), S. 16; Tragl: Krankenanstalten 1938–1945. Zur Wiener Medizin im Nationalsozialis- (2007), S. 230,418; Kreienberg; Ludwig: 125 Jahre mus vgl. grundlegend die Arbeiten von Hubenstorf. (2011), S. 182, 394 f., 397. 9 Frobenius: Hitschmann und Adler (1990), S. 84 f. 12 Lichtenegger: Vorgeschichte (2004), S. 66.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 140 Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie

Keinen Wechsel der Vorstände gab es 1938 in der II. Wiener UFK mit Wilhelm Weibel (1876– 1945) und in Innsbruck. Weibel ging 1942 in den Ruhestand. Die Innsbrucker UFK leitete seit 1936 Isidor Alfred Amreich (1885–1972), der bereits 1934 in die NSDAP eingetreten und somit illegales Mitglied der NSDAP gewesen ist. 1938 wurde er außerdem Angehöriger der SS.16 Auch an den Lan- desfrauenkliniken und Hebammenlehranstalten in Salzburg, Klagenfurt und Linz ging es 1938 ohne Wechsel ab. Oskar Nebesky (1873–1968), der die Salzburger Landesfrauenklinik und Hebammen- schule seit 1924 leitete, schied 1939 aus Alters- gründen aus. In Klagenfurt überdauerte Viktor Hiess (1886–1960) mit seiner Amtszeit von 1923 bis 1953 die erste Republik, den Austrofaschismus und das „Dritte Reich“. Franz Ertl (1879–1941) stand der Landesfrauenklinik und Hebammenlehr- Abb. 8.2 Hans Zacherl (1889–1968), anstalt in Linz von 1923 bis 1941 vor. Über die poli- Klinikvorstand der Grazer UFK, 1938 in tischen Orientierungen von Weibel, Nebesky, Hiess den Ruhestand versetzt (Quelle: Bildarchiv und Ertl ist bisher wenig oder nichts bekannt. der Medizinischen Universität Wien). Jenseits der Verfolgung traf der politische „Um- bruch“ auf Professoren, Dozenten, Assistenten und burtshilfe betraf es in der Gruppe der Professoren Hilfsärzte, die sich als illegale Nationalsozialisten und Privatdozenten zwei von fünf. Schon im Mai in vielen Fällen bereits seit Jahren für den „An- verlor der a.o. tit. Prof. Alfons Mahnert (1892– schluss“ eingesetzt hatten. (Die NSDAP war im Juni 1962), ein politisch weit rechts stehender Deutsch- 1933 nach blutigen Attentaten in Österreich verbo- nationaler, die Lehrbefugnis. Sein hauptsächliches ten worden.) Hier einige Streiflichter aus Graz.17 „Vergehen“ bestand darin, dass seine erste verstor- Überliefert ist eine Aussage des Sekundararztes Dr. bene und seine zweite Ehefrau (von der er bereits Mooslechner aus dem Jahr 1936, die er zu Prof. Za- seit 1932 geschieden war) nach der Klassifizierung cherl im Kreißsaal getan habe, dass 99% aller Ärzte des „Blutschutzgesetzes“„jüdische Mischlinge ers- an der Klinik Nazis seien.18 Das stimmt zwar nume- ten und zweiten Grades“ gewesen waren.13 Zum risch nicht, doch der Tendenz nach, und dazu passt 1. September 1938 wurde der christlich-soziale Kli- eine Erklärung von Dozent Erich Engelhart (1904– nikvorstand Hans Zacherl (1889–1968, Abbildung 1962), er habe sich „mit anderen Assistenten an der 8.2) aus politischen Gründen in den Ruhestand Klinik […] bemüht, dass freigewordene Stellen an versetzt.14 Er war erst im November 1935 auf die der Frauenklinik in Graz durch nationalsozialisti- Grazer Lehrkanzel berufen worden und kam aus sche Ärzte besetzt worden sind“.19 Innsbruck, wo er neben seinem Hauptberuf als Die späteren Assistenten Walter Pöschl (1913– Lehrstuhlinhaber und Vorstand der Universitäts- 1996), Karl Tritthart (1905–1974) und Erich Stadler frauenklinik Dienststellenleiter der Vaterländi- (1911–1980) waren während ihrer Studentenzeit schen Front (VF) an der Universität gewesen ist.15 16 Czech: Zwangsarbeit (2004), S. 276. 17 Die anderen österreichischen Frauenkliniken sind in 13 Scheiblechner: Kurzbiographien (2002), S. 160 f.; dieser Hinsicht noch kaum erforscht. Lichtenegger: Vorgeschichte (2004), S. 65. 18 BA (ehem. BDC) OPG Häusler, Herbert. Ludwig Moos- 14 Scheiblechner: Kurzbiographien (2002), S. 279. lechner war Mitglied der Studentenverbindung Caro- 15 Die VF, eine Gründung des austrofaschistischen lina im CV (Cartellverband Katholischer Studenten- christlich-sozialen Ständestaates, suchte in „berufs- verbindungen). 1938 aus dem LKH entlassen und ständischen Organisationsabteilungen“ alle Beschäf- seitdem als Arzt in Schwanberg (Weststeiermark) tigten zu erfassen, darunter in den „Dienststellenor- niedergelassen, wurde er im April 1945 zusammen ganisationen“, die am weitesten ausgebaut waren, mit 16 Männern und Frauen der Widerstandsgruppe alle öffentlichen Bediensteten durch nahegelegte Schwanberg ermordet. Wachs: Kampfgruppe (1968), (Zwangs-)Mitgliedschaft. Vgl. Kriechbaumer: Öster- S. 39 f. reich (2005), S. 47. 19 Scheiblechner: Kurzbiographien (2002), S. 38.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie 141 illegale nationalsozialistische Aktivisten; am Lan- lenden Streit zwischen Staat und Partei im „Alt- deskrankenhaus (LKH), in das die Grazer Universi- reich“, der in der Forderung der Parteiführung tätskliniken integriert waren, hatte eine illegale nach einer Änderung des Sterilisationsgesetzes gip- NS-Ärztegruppe existiert, in der mindestens vier felte, ohne die das GzVeN in der „Ostmark“ nicht Assistenten der Frauenklinik Mitglied gewesen eingeführt bzw. die Verfahren nicht begonnen wer- sind. Über die „Zeit des Umschwunges“ schrieb den sollten.24 Langwierige Verhandlungen führten Assistent Herbert Häusler (1905–1986) in einem erst im Spätjahr 1939 zu einer Einigung. Das GzVeN Fragebogen, er sei „immer, wenn es der klinische wurde schließlich zusammen mit dem „Ehege- Dienst erlaubte, mit den anderen Ärzten des Spitals sundheitsgesetz“ im November 1939 eingeführt bei Aufmärschen und Fackelzügen“20 gewesen. und trat mit Jahresbeginn 1940 – wegen des Krie- Hierbei handelte es sich um fast tägliche Massen- ges nur mehr eingeschränkt auf „fortpflanzungsge- demonstrationen der Nationalsozialisten und ihrer fährliche Fälle“– in Kraft.25 Anhänger/innen, denen die austrofaschistische Re- Auch Bestimmungen über Schwangerschaftsab- gierung kaum mehr Herr wurde.21 brüche aus eugenischen und gesundheitlichen Diese Grazer Skizze möge abgerundet werden Gründen waren im GzVeN geregelt. Im Unterschied durch ein Bekenntnis des Privatdozenten für Ge- zum „Altreich“ war in Österreich die Partei an den burtshilfe und Gynäkologie Walter Schauenstein Sterilisationsverfahren zu beteiligen. Jeder von den (1870–1943), das er als Präsident der Steiermärki- Amtsärzten vorbereitete Antrag auf Zwangssterili- schen Ärztekammer im August 1938 abgab. Er sation musste vor Abgabe an das Erbgesundheits- schloss die letzte Sitzung vor ihrer Auflösung mit gericht vom Gauleiter genehmigt werden. In den Worten, dass „dieser Kammer vom ersten bis Deutschland war das nur der Fall, wenn Parteige- zum letzten Tag seiner Geschäftsführung nur Na- nossen betroffen waren. Unbekannt ist, ob und tionalsozialisten angehörten“.22 Das war von 1932 wie viele Sterilisationen in Österreich auf diese Art bis 1938. Es folgte die von den steirischen Ärzte- unterbunden wurden. funktionären freudig begrüßte „Eingliederung“ in Die Entscheidung über die Zwangssterilisation die Reichsärztekammer. war ein arbeitsteiliger Prozess. Der Beschluss zur Sterilisation aufgrund einer der im GzVeN be- stimmten Diagnosen war Sache der „Erbgesund- Gynäkologie und die national- heitsrichter“,26 die Durchführung der „Unfrucht- sozialistische Bevölkerungs- und barmachung“ Aufgabe der namentlich dazu er- mächtigten Operateure (oder Röntgenärzte). Rassenpolitik: Zwangssterilisatio- Zweifel oder Kritik an der „erbbiologischen“ Diag- nen und forcierte Abtreibungen nose standen den Gynäkologen nicht zu, wohl aber die Überprüfung der Fruchtbarkeit27 und die eigen- Anders als bei den „Nürnberger Rassengesetzen“, ständige Entscheidung über die Operationsfähig- die bereits wenige Wochen nach dem „Anschluss“ keit der Patientin vor dem chirurgischen Eingriff. im Mai 1938 in der „Ostmark“ eingeführt worden Allein das Faktum, die Sterilisation gegen den Wil- waren und die gesetzliche Basis für die zunehmen- len der Frau durchzuführen, wäre eine medizinisch de Entrechtung der österreichischen Juden bilde- „ ten, verzögerte sich die Übernahme des Gesetzes 24 Zu den Auseinandersetzungen vgl. Bock: Zwangsste- zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) rilisation (1986), S. 339–351. in Österreich um mehr als eineinhalb Jahre. Zwar 25 Vgl. Spring: Krieg (2009), S. 70–73. Das Ehegesund- sollten die Landeshauptmannschaften schon Ende heitsgesetz bestimmte eugenische und gesundheitli- 1938 die Namen von Ärzten nach Wien melden, che Eheverbote, vgl. Czarnowski: Eheeignung (2007). 26 Zur nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichts- die „sowohl in fachlicher als auch in weltanschauli- barkeit allgemein und den Diagnosen des GzVeN vgl. cher Hinsicht die Gewähr für eine den Intentionen den Beitrag von Ley in diesem Band sowie für die 23 des Gesetzes völlig entsprechende Eignung“ als „Ostmark“ Spring: Krieg (2009); Goldberger: NS‑Ge- Operateure boten. Doch scheiterte die schnelle sundheitspolitik (2004), S. 145–170; Poier: Umset- Rechtsangleichung an einem bereits lange schwe- zung (2004), S. 202–214. 27 Gynäkologen wurden in einigen Fällen bereits vom 20 BA (ehem. BDC) PK Häusler, Herbert 16.1.05. Gericht als Gutachter zur Beurteilung der „Fortpflan- 21 Staudinger: Entwicklung (1988). zungsgefährlichkeit“ herangezogen. Eine diagnosti- 22 Egglmaier: Ärztekammer (1993), S. 59. zierte Infertilität konnte den Zwangseingriff verhin- 23 StLA LReg 200 E 1/1941. dern, vgl. Spring: Krieg (2009), S. 201,207 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 142 Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie begründete Kontraindikation gewesen. (Und in der Innsbruck belegt. Von den geschätzten 400 Sterili- Tat ist ein nicht geringer Teil der relativ hohen Zahl sationen insgesamt in Tirol und Vorarlberg sollen der Todesfälle bei den Frauen darauf zurückzufüh- die meisten in Innsbruck und Bregenz stattgefun- ren.) Die Probleme des Umgangs mit widerspensti- den haben. Für das Salzburger Landeskrankenhaus gen Patientinnen und Gefahren etwa eines „Narko- ist die Zahl von 30 Eingriffen an Männern und Frau- seüberfalls“ wurden anfangs auf Gynäkologenver- en bekannt. Die Zahlen für Kärnten sind unbe- sammlungen debattiert, aber praktisch in der kannt. Im Reichsgau Oberdonau (Oberösterreich) Regel zugunsten des Staates und gegen die Patien- wird eine Gesamtzahl von etwa 1000 Eingriffen an tinnen gelöst. Dies geschah unter Aufbietung der Männern und Frauen angenommen. Orte der „ärztlichen Autorität“, und wenn das nichts nützte, Durchführung waren hier ebenso wie im Reichsgau durch Überrumpelung, Täuschung und Gewalt.28 Niederdonau (Niederösterreich) und in der Steier- Die Zahl der Todesfälle sollte hingegen dadurch re- mark nicht nur die Landesfrauen- bzw. die Univer- duziert werden, dass bei Inoperabilität für Frauen sitätsfrauenklinik(en), sondern auch fast jedes klei- über 38 Jahren die Zwangssterilisation durch Rönt- nere und mittlere Landeskrankenhaus. In den klei- genstrahlen vorgesehen war; in jüngeren Jahren neren Spitälern operierten – wie in Deutschland – war hierzu die Einwilligung der Betroffenen einzu- zumeist Chirurgen und nicht Gynäkologen. holen. De facto stellte die „Röntgensterilisation“ In den letzten beiden Kriegsjahren überwogen eine Kastration dar mit eingreifenden physischen die Abtreibungen an Zwangsarbeiterinnen die Zahl und psychischen Folgen. In der Grazer UFK wurde der Zwangssterilisationen bei weitem. Kurz nach eine 22-jährige gehörlose Frau dieser Prozedur un- Erlass der „Verordnung zum Schutz von Ehe, Fami- terzogen. Dass sie ihre Einwilligung gegeben hat, ist lie und Mutterschaft“ im März 1943, welche u. a. wenig wahrscheinlich. Die meisten Sterilisationen die Todesstrafe für Lohn- oder mehrfache Abtrei- waren chirurgische Eingriffe. bung ohne Gegenleistung an „deutschen“ Frauen In österreichischen Spitälern wurden zwischen einführte und in nachgeordneten Erlassen den 1940 und 1945 – so die Schätzungen – etwa 6000 Schwangerschaftsabbruch an nichtdeutschen Zwangssterilisationen nach dem GzVeN an Män- Frauen von der Bestrafung ausnahm, organisierte nern und Frauen durchgeführt. Die Überlieferun- „Reichsgesundheitsführer“ Dr. Leonardo Conti gen sind unvollständig oder noch nicht untersucht. (1900–1945) im Einvernehmen mit Himmler als Bisher ist Folgendes bekannt:29 In den noch vor- „Reichskommissar für die Festigung deutschen handenen Akten des Wiener Erbgesundheitsge- Volkstums“ Abtreibungen an „Ostarbeiterinnen“ in richts und des Erbgesundheitsobergerichts Wien großem Maßstab. Zuständig für die Genehmigung sind 1203 Beschlüsse zur Zwangssterilisation nach- wurden die „Gutachterstellen für Schwanger- weisbar; davon fanden 62 Eingriffe in der I. Wiener schaftsunterbrechung aus gesundheitlichen Grün- UFK bis März 1942 statt. Wie viele Patientinnen in den“ der Reichsärztekammer, die auch im Falle me- der I. UFK bis Kriegsende und wie viele in der II. dizinisch indizierter Eingriffe an „deutschen“ Frau- Wiener UFK insgesamt zwangssterilisiert wurden, en tätig wurden. Doch urteilten sie bei Letzteren ist noch nicht bekannt. Auch Ärzte weiterer Wiener höchst restriktiv, so können wir im Fall der „Ostar- Krankenhäuser waren ermächtigte Operateure.30 beiterinnen und Polinnen“ von Massenabtreibun- In den Standesprotokollen für die UFK Graz gen sprechen.31 konnte die Autorin dieses Beitrags 114 Zwangsste- Die meisten dieser „rassisch indizierten“ rilisationen identifizieren; mindestens acht davon Schwangerschaftsabbrüche wurden in Lagern von waren mit einem Schwangerschaftsabbruch ver- großen Firmen und in den Durchgangslagern der bunden. Zwischen 1940 und 1942 wurden in Tirol Arbeitsämter vollzogen, ihre Zahl wird sich wohl und Vorarlberg 112 Frauen und 126 Männer nicht mehr erheben lassen. Doch fanden diese Ein- zwangssterilisiert, sechs Eingriffe sind für die UFK griffe auch in städtischen Spitälern, kleinen und größeren „Gaukrankenhäusern“ und – soweit bis – 28 Vgl. Czarnowski: Volkswachstum (2008), S. 145–149. jetzt bekannt in mindestens einer Landesfrauen- 29 Zu den Krankenanstalten, Operateuren und zur klinik und in einer Universitätsfrauenklinik statt.32 Strahlenbehandlung ermächtigten Ärzten in einzel- In Überlieferungen aus der Grazer UFK habe ich nen „Ostmark-Gauen“ vgl. Spring: Krieg (2009), S. 240–247; Goldberger: NS‑Gesundheitspolitik (2004), S. 111–114; Poier: Umsetzung (2004), 31 Czarnowski: Material (2004), S. 240. S. 214–220; Lechner: Unglück (2002), S. 244 f. 32 Für die bayerischen UFK vgl. Frobenius, Ehrenmitglie- 30 Vgl. Spring: Krieg (2009), S. 236–247. der in diesem Band.

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508 Schwangerschaftsabbrüche an Frauen und Mädchen aus Osteuropa identifizieren können (Ab- bildung 8.3). In der „Ausländerbaracke“ des Ottak- ringer Krankenhauses (Wilhelminen-Spital) in Wien wurden 670 Abtreibungen an Ausländerin- nen durchgeführt, wie Herwig Czech dargelegt hat.33 Was in den beiden Wiener Frauenkliniken diesbezüglich geschah, ist noch nicht bekannt. Für die Landesfrauenklinik in Linz stellte Gabriella Hauch über 900 eindeutige Abtreibungen anhand der Auswertung von Krankengeschichten fest.34 Ob auch in den Landesfrauenkliniken in Salzburg und in Klagenfurt Schwangerschaftsabbrüche an „Ostarbeiterinnen“ verübt wurden, ist noch nicht erforscht. Für Niederösterreich lässt sich mangels Überlieferung diese Frage wohl nicht mehr beant- worten. Eine besondere Beachtung verdient die UFK in Innsbruck. Hier weigerte sich der Vorstand Sieg- fried Tapfer (1900–1981), Abtreibungen aus „rassi- scher Indikation“ an gesunden jungen Frauen vor- zunehmen. Wie die Direktoren der UFK München I (Heinrich Eymer) und Tübingen (August Mayer) folgte auch Tapfer beim Schwangerschaftsabbruch Abb. 8.3 Ambulanzbuch UFK Graz 1944, Aufnahme an „Ostarbeiterinnen“ nicht der nationalsozialisti- zur Interruptio der schwangeren Natalja N (Quelle: schen Volkstumspolitik, sondern der traditionellen Steiermärkisches Landesarchiv, Frauenklinik [Gebär- ärztlichen Ethik der universitären Gynäkologie. haus] K. 118 [1944]). Diese erkannte nur „rein wissenschaftliche“ Indika- tionen für den Schwangerschaftsabbruch an – die tätsfrauenklinik Frankfurt am Main nach Graz be- eugenische eingeschlossen. rufen. Mit Ehrhardt traf ein Vertreter der operativ konservativen, in der Krebsbehandlung vorrangig auf die Strahlentherapie setzenden Erlanger-Frank- Die UFK Graz: medizinische furter gynäkologischen Schule von Ludwig Seitz – 35 Verbrechen in einer ganz (1872 1961) auf Oberärzte und Assistenten, die in der Tradition und Ausbildung der operativ akti- normalen Klinik ven Wiener Schule Ernst Wertheims (1864–1919) und Friedrich Schautas (1864–1920) standen.36 Sie Als eine der schwerwiegendsten Folgen des „An- waren ihm als Operateure überlegen, nicht nur bei schlusses“ für die Gynäkologie in Österreich und Krebsoperationen, sondern auch in der Geburtshil- vor allem für ihre Patientinnen muss die nach län- fe, etwa in der Anwendung der Zange. gerer Vakanz erfolgte politische Neubesetzung der Binnen kurzem kam es zwischen den österrei- Grazer Lehrkanzel durch den Frankfurter Oberarzt chischen Assistenten (von denen drei wie Ehrhardt Professor Karl Ehrhardt (1895–1993) angesehen der SS angehörten) und ihrem neuen reichsdeut- werden. Ehrhardt, NSDAP- und SS‑Mitglied seit schen Chef zu erheblichen fachlichen und persön- 1933, hatte sich 1931 habilitiert und war in der lichen Konflikten. Sie führten zunächst zu einer fa- „scientific community“ vor allem als Hormonspe- zialist bekannt. Ein zweiter Forschungsschwer- 35 Der Frankfurter Klinikchef Ludwig Seitz hatte bis punkt war die „Fetographie“. Im April 1939 wurde 1921 die UFK Erlangen geleitet. Vgl. Kleinert: Radi- Ehrhardt durch Einfluss der SS von der Universi- um-Jubel (1988); Frobenius: Röntgenstrahlen (2003); Frobenius, Strahlentherapie in diesem Band. 36 Emil Knauer (1867–1935), über 30 Jahre lang Vor- 33 Czech: Zwangsarbeit (2004). stand der Grazer UFK vor Zacherl, war ein Schüler 34 Hauch: Ostarbeiterinnen (2001); Hauch: Zwangsar- Schautas gewesen. Vgl. Artner; Schaller: Radikalope- beiterinnen (2001). ration (1968); Köhler: 100 Jahre (1999).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 144 Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie kultätsinternen, schließlich Anfang des Jahres 1942 den wird es um die Experimente des Klinikchefs zu einer externen Untersuchung durch drei von der gehen, die er im Rahmen seines Forschungsgebiets Wissenschaftsabteilung des Berliner Reichsminis- „Fetographie“ durchführte. teriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbil- Die Fetographie ist eine historisch noch kaum dung (REM) nach Graz gesandte Ordinarien, die untersuchte Phase bzw. Technik in der Geschichte Ehrhardts diagnostische und operative Fähigkeiten der Sichtbarmachung des Ungeborenen zwischen überprüfen sowie ein Gutachten darüber abgeben den ersten anatomischen Darstellungen Samuel sollten, ob er als Klinikchef weiterhin tragbar wäre. Thomas Soemmerrings (1755–1830) aus dem Jahr Unter anderem ging es dabei um die Klärung von 179938 und der Erfindung der Ultraschalluntersu- sieben Todesfällen. Beide Untersuchungen gingen chung der schwangeren Gebärmutter. Die Entste- mit massiver Unterstützung der Fakultät positiv hung und Entwicklung der Fetographie hängt eng für Ehrhardt aus, während die Assistenten gemaß- mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen zusam- regelt wurden. Diese Vorfälle, verstärkt durch die men und deren diagnostischen Verheißungen in Einberufung fast aller Assistenten zum Kriegs- der Medizin. Das Röntgenverfahren wurde bald dienst, zogen eine fast vollständige Auswechslung auch zur Durchdringung der Gebärmutter auspro- des wissenschaftlichen Personals nach sich. Außer- biert. Doch abgesehen von den Gefahren, die be- dem mündeten sie in spezifische medizinische Ver- reits 1907 erstmalig thematisiert wurden,39 erwies brechen. Ehrhardt missbrauchte eine unbekannte sich das Röntgen schwangerer Frauen (außer in der Anzahl von zum Schwangerschaftsabbruch einge- Geburtsmedizin) als nicht sehr ergiebig. Ein Rönt- wiesenen jungen, gesunden Frauen aus der Ukrai- genbild des Fötus war erst nach Entwicklung der ne, Russland und Polen, indem er an ihnen be- kindlichen Skelettanlage zu sehen und ergab außer stimmte Techniken des vaginalen Operierens bei ersten Knochengewebsstrukturen wenig „Sichtba- Kollumkarzinom (aus)übte: den Schuchardtschnitt, res“. Das änderte sich mit der Erfindung von Rönt- das Anlegen einer Zervixmanschette, die Präparati- genkontrastmitteln, die z.B. die Körperkonturen on eines oder beider Harnleiter. Zwei Zwangsarbei- des Fötus sichtbar machten. Weltweit experimen- terinnen starben an Verblutungen wegen nicht ent- tierten Forscher und Forschergruppen an verschie- deckter Gebärmutterzerreißungen nach Einlage ei- denen Tierarten und schwangeren Frauen im Wett- nes Metranoikters in die Zervix. lauf um geeignete Kontraststoffe. „Ostarbeiterinnen“ und ihre ungeborenen Kin- Auch Ehrhardts Versuche müssen in diesen der wurden in der Grazer UFK nicht nur Opfer poli- Wettlauf eingeordnet werden und wurden von der tisch forcierter Schwangerschaftsabbrüche und fachübergreifenden radiologischen Debatte inspi- verbrecherischer chirurgischer Eingriffe, sondern riert, wie sie etwa in der Zeitschrift „Fortschritte darüber hinaus Objekte klinischer Forschung in ei- auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen“ geführt wur- nem Ausmaß, wie es bisher für noch keine andere de (in der auch er publizierte). Was Ehrhardt an Universitätsfrauenklinik im „großdeutschen Reich“ dieser Methode interessierte, war nicht so sehr bekannt geworden ist. Hinsichtlich der Vielgestal- ihre Erprobung als diagnostisches Hilfsmittel. Er tigkeit seiner Forschungen (fetographische, phar- wollte vor allem „die Geheimnisse des intrauterin- makologische, endokrinologische) und ihrer Ge- en Lebens“ ergründen und nahm für sich in An- fährlichkeit für die betroffenen Patientinnen muss spruch, als Erster röntgenologisch bewiesen zu ha- an erster Stelle der Klinikvorstand als Täter be- ben, dass der Fötus im Mutterleib trinkt und atmet. nannt werden. Auch der Oberarzt Franz Hoff Um dies experimentell nachzuweisen, verzögerte (1909–1986) bediente sich der unfreiwilligen Pa- er bei Patientinnen, die wegen eines Abbruchs ih- tientinnen für seine Forschungsinteressen. Er rer Schwangerschaft in der Klinik waren, den Zeit- nahm an fast jeder schwangeren Zwangsarbeiterin, punkt der Abtreibung um mehrere Tage und unter- die er operierte (das waren etwa 200), physiologi- zog sie zunächst einmal einer Amnionpunktion. sche Experimente zur Motilität des Uterus vor. Mit einer Spritze entnahm er eine bestimmte Men- Doch seine Versuche waren, gemessen an denen ge Fruchtwasser durch die Bauchdecke und inji- von Ehrhardt, weit weniger eingreifend und sollen zierte auf demselben Weg die gleiche Menge des hier nicht näher dargestellt werden.37 Im Folgen- Röntgenkontrastmittels Thorotrast oder Umbra- thor in die Gebärmutter. Im Verlauf der folgenden

37 Zu endokrinologischen Versuchen Ehrhardts und zu den Versuchen Hoffs vgl. Czarnowski: Material 38 Soemmerring (1799): Icones. (2004), S. 259–273. 39 Vgl. Frobenius, Strahlentherapie in diesem Band.

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Stunden und Tage (bis zu drei Tagen und mehr) Patientinnen als „Material“– kontrollierte er durch fortgesetzte Röntgenaufnah- men, ob bzw. wie weit der „Magen-Darm-Kanal“ Forschen an Opfern und die Lungen der Leibesfrucht sich verschatteten, des Nationalsozialismus und zog daraus seine Schlussfolgerungen. Dann entfernte er den Fötus aus dem mütterlichen Leib. Ehrhardts menschliche Forschungsobjekte41 waren Hierzu wählte er häufig für die Patientinnen ein- Anfang der 1930er Jahre – noch vor der nationalso- greifendere operative Methoden als nötig, die es zialistischen „Machtergreifung“ und vor Erlass des ihm erlaubten, den Fötus möglichst unverletzt in GzVeN in Deutschland – sechs Patientinnen, die seinen Eihüllen zu „gewinnen“. So konnte er ihn zum Schwangerschaftsabbruch aus vermutlich me- noch lebend auch außerhalb der Gebärmutter rönt- dizinischen Gründen in die Frankfurter Universi- gen, seine „agonalen Bewegungen und Reflexe“ tätsfrauenklinik kamen. An ihnen führte er zu- „beobachten“ oder die Art seiner Atemzüge „bis nächst „plazentographische“ Versuche durch: Er zum völligen Erlöschen“„studieren“. injizierte den Frauen vor dem Schwangerschaftsab- Der Schwangerschaftsabbruch stand zwingend bruch intravenös Thorotrast und konnte auf diese am Ende des Experiments, nicht zuletzt wegen der Weise die Plazenta auf dem Röntgenschirm sicht- „gewissen Radioaktivität“ des Thoriums. Die von bar machen, nicht jedoch ihren Inhalt. Über dieses Ehrhardt verwendeten Kontrastmittel Thorotrast Verfahren, das er zuvor tierexperimentell erprobt und Umbrathor waren seit 1929 im Handel und hatte, fand er nach eigenen Angaben zur „Fetogra- wurden vor allem in der Inneren Medizin zur Sicht- phie“. Seit Beginn der nationalsozialistischen barmachung von Blutgefäßen und Organen auf Zwangssterilisationen und eugenischen Abtreibun- dem Röntgenschirm eingesetzt. Ehrhardt nahm für gen missbrauchte er schwangere Sterilisandinnen sich in Anspruch, Thorotrast als Erster für die Feto- für seine wissenschaftlichen Interessen. So be- graphie genutzt zu haben, und fand prompt Nach- schrieb er in seiner ersten Publikation zur Fetogra- ahmer, aber auch Kritiker.40 In die Blutbahn inji- phie 1937 unter dem Stichwort „Versuchsanord- ziertes Thorium wird nicht ausgeschieden, sondern nung“ sein Vorgehen an einer im sechsten Monat lebenslang im Körper gespeichert und setzt ihn we- schwangeren ledigen Frau von 21 Jahren, „bei der gen der langen Halbwertszeit von 14 Milliarden aus eugenischen Gründen (wegen angeborenem Jahren unter dauernde Strahlenbelastung. In den Schwachsinn [sic, G.C.]) die Sterilisation und Inter- USA warnte die Food and Drug Administration ruptio durchgeführt werden sollte“. Aufbauend auf (FAD) bereits 1933 vor seiner Anwendung und Tier- und Menschenversuchen in Graz, publizierte auch in Europa war sie nicht unumstritten. Trotz er 1941 im „Zentralblatt für Gynäkologie“„Weitere der Warnungen wurde Thorotrast Tausenden Pa- Erfahrungen mit meiner Methode der intraamnia- tienten und Patientinnen in vielen Ländern der len Thoriuminjektion“. Abgedruckt waren neue Erde verabreicht, bis es 1949/50 wegen der mögli- Röntgenabbildungen von fünf Leibesfrüchten zwi- chen tödlichen Spätfolgen (Krebs) verboten und schen dem dritten und sechsten Schwangerschafts- mit den ersten epidemiologischen Thorotrast-Stu- monat, die (bis auf eine Abbildung aus Frankfurt) dien begonnen wurde. eine „Auswahl aus den zahlreichen Röntgenbil- dern“ darstellte, die – so der Verfasser –„ich im Laufe der letzten zwei Jahre […] erzielen konnte“. Die ab dem Frühsommer 1943 zur Abtreibung aus rassenpolitischen Gründen eingewiesenen jun- gen Frauen aus Osteuropa erhöhten die Zahl der potentiellen und tatsächlichen Forschungsobjekte um ein Vielfaches. Dass Ehrhardt seine fetographi- 40 Zwei Ärzte der UFK Würzburg, W. Reifferscheid und R. Schmiemann, „überprüften“ nur zwei Wochen schen Experimente an schwangeren Zwangsarbei- nach Ehrhardts erster Veröffentlichung das Verfahren terinnen fortsetzte, ist aus einem privaten Notiz- im Spätjahr 1937 an drei Patientinnen, bei denen aus bucheintrag des Dr. Hoff vom Januar 1944 zu erfah- medizinischer Indikation je ein Schwangerschaftsab- ren: „[…] der Verbrauch von Röntgenfilmen ist bruch mit Sterilisation vorgenommen wurden. Aus enorm. (Aufnahme der Russenfeten!)“. Die Experi- der nachfolgenden Veröffentlichung entwickelte sich ein Prioritätenstreit mit Ehrhardt, wer nun als Erster den „atmenden Fötus“ nachgewiesen habe. Czar- 41 Vgl. zum Folgenden mit Zitatnachweisen Czarnowski: nowski: Material (2004), S. 254. Material (2004), S. 252–258.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 146 Österreichs „Anschluss“ an Nazi-Deutschland und die österreichische Gynäkologie mente sind außerdem bezeugt durch ein Versuchs- Aborten platziert ist, ist ein Beispiel dafür, dass die protokoll, welches das Kriegsende in der Schreib- politischen und klinischen Umstände, unter denen tischschublade des Klinikvorstands überdauerte, medizinische Autoren während des Nationalsozia- während dieser sich längst nach Bayern abgesetzt lismus zu Ergebnissen in bestimmten Forschungs- hatte.42 Die in diesem Protokoll dokumentierten bereichen kamen, selbst in den 1960er Jahren nicht Versuche gehen schon allein von der Zahl der Ver- thematisiert wurden. Dem Verfasser des Buches, suchspersonen her weit über alle vorherigen hi- der um diese Zeit als Oberarzt an der Grazer UFK naus. Das Protokoll umfasst den Zeitraum Januar tätig war, dürften die Umstände bekannt gewesen bis Juni 1944 und enthält Aufzeichnungen über Ex- sein – oder wurde darüber all die Jahre geschwie- perimente an 85 Frauen und Mädchen aus der gen? Ukraine, Russland und Polen. 60 von ihnen waren Das Protokoll Ehrhardts dokumentiert schließ- zwischen 18 und 23 Jahre alt und 63 zum ersten lich die Fortsetzung der fetographischen Versuche Mal schwanger. Knapp zwei Drittel waren schon in großem Umfang. Ehrhardt injizierte den 85 Frau- über den vierten Monat hinaus, vier bereits im ach- en und Mädchen nicht nur verschiedene Pharmaka ten Monat ihrer Schwangerschaft. zur Tötung der Leibesfrucht, sondern darüber hi- Die Aufzeichnungen lassen erkennen, dass Ehr- naus 67 von ihnen zusätzlich Röntgenkontrastmit- hardt hier zwei verschiedene Versuchsreihen mit- tel; und er erhob genaue Daten über die Leibes- einander verband und gleichzeitig durchführte, früchte: Länge, Gewicht, Geschlecht. Das von ihm zum einen fetographische Experimente, zum ande- durch Formalin-Injektion getötete, kurz vor seiner ren pharmakologische Versuche zur nichtoperati- Geburt stehende Kind der 22-jährigen Anna H. aus ven Abtreibung in mittleren und späten Phasen Kiew war 51 cm lang und wog 3000 g. der Schwangerschaft. Hierzu injizierte er den un- Zwischen 1937 und 1945 stellte Ehrhardt die Er- freiwilligen Patientinnen durch die Bauchdecke gebnisse seiner fetographischen Forschungen meh- (bei einigen zervikal) Sulfonamide, Morphinpräpa- reren wissenschaftlichen Gesellschaften vor und rate, Scopolamin, Evipan, Stilbene, Novocain-Adre- publizierte vier Aufsätze zu diesem Thema. In sei- nalin, Gynergen, Kampfer und Dolantin, am häu- nen Publikationen, die allesamt in angesehenen figsten jedoch Formalin –„was in 50 Fällen aus- medizinischen Fachblättern erschienen, werden nahmslos den intrauterinen Fruchttod zur Folge sukzessive sprachliche und reale Grenzüberschrei- hatte“, wie er im Frühjahr 1944 seinen Kollegen tungen deutlich. Sie reichen im Frühjahr 1945 bis von der Fakultät und anderen Ärzten auf einer Sit- zur röntgenologischen Darstellung des lebendigen zung der Medizinischen Gesellschaft Steiermark geburtsreifen Kindes vor der ärztlich eingeleiteten vortrug. Ob zur Sprache kam, an wem er diese Ein- Totgeburt. griffe vollzog, ist im Sitzungsprotokoll nicht ver- Konnten die ehemaligen Zwangspatientinnen merkt. Offenbar wurde diese Methode in der Gra- aus Osteuropa nach den mehrfachen Röntgenauf- zer UFK auch nach Kriegsende weiterhin ange- nahmen und teilweise eingreifenden Operationen wandt bei Abtreibungen an steirischen Frauen, die noch gesunde Kinder zur Welt bringen? Haben die von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wor- in die Gebärmutter injizierten radioaktiven Kon- den waren. Hier lassen sich einige Parallelen ziehen trastmittel zu Krebserkrankungen geführt? Keine zu den in der Erlanger UKF an „Ostarbeiterinnen“ der von Ehrhardt missbrauchten Frauen hat beim praktizierten Schwangerschaftsabbrüchen durch österreichischen Versöhnungsfonds einen Antrag die Einspritzung von Euxyl-Seife.43 auf Entschädigung gestellt. Ihr Schicksal ist unbe- Noch in einem 1967 publizierten Buch, das kannt. „[die] künstliche Schwangerschaftsunterbrechung und [den] kriminelle[n] Abort“ behandelt, wird Ehrhardt im Abschnitt über „konservative Metho- den der Schwangerschaftsunterbrechung der in- traovulären (intraamnialen) Injektionsmethoden“ aufgeführt.44 Dass er im Teil des Buches über die ärztliche Kunst und nicht etwa bei den kriminellen

42 Vgl. zum Folgenden Czarnowski: „Russenfeten“ (2008). 43 Frobenius: Abtreibungen (2004); Frobenius: Rönt- 44 Heiss: Schwangerschaftsunterbrechung (1967), genstrahlen (2003), S. 504–511. S. 244.

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Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945

Wolfgang Frobenius

Einleitung dass auch dort zumindest Zwangssterilisationen durchgeführt wurden. Frühsommer 1945. Die äußeren Voraussetzungen Es waren jedoch nicht die angeführten Umstän- konnten unterschiedlicher nicht sein: Während de, die schon im Laufe des Jahres 1945 zur Entfer- die Universitäten in München und Würzburg durch nung aller genannten Ordinarien aus ihren Ämtern Kriegseinwirkungen zu 80 bis 90% zerstört waren, führten. Diese erste Maßnahme der amerikani- hatte die Erlanger Alma mater auch das Ende des schen Militärregierung zur Entnazifizierung der „Dritten Reiches“ dank der kampflosen Übergabe Universitäten beruhte vor allem auf formalen Krite- der Stadt an die vorrückenden Amerikaner nahezu rien: Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer völlig unbeschadet überstanden. Die den Universi- Organisationen, frühere Tätigkeit in einer heraus- täten zugehörigen Frauenkliniken präsentierten gehobenen Position oder etwa allgemein bekannte sich in Analogie dazu in München und Würzburg, besondere Affinität zur Partei und ihren Spitzen- wenn auch nicht schwer getroffen, so doch deutlich vertretern. Grundlage der Säuberungsaktion war beeinträchtigt, das Erlanger Pendant dagegen war ein Fragebogen der Militärregierung, der von allen in seiner Bausubstanz vollkommen intakt geblie- Universitätsangehörigen ausgefüllt werden musste. ben. Die Antworten, ausgewertet von der Entnazifi- Was die zunächst nicht so klar erkennbaren Fol- zierungsabteilung der Militärregierung „Special gen der NS‑Herrschaft anbelangt, erwiesen sich die Branch“, entschieden über Internierung, Entlas- I. Universitätsfrauenklinik (UFK) München an der sung oder ein vorläufiges Berufsverbot.2 Betroffen Maistraße sowie die gynäkologisch-geburtshilf- waren deshalb in den Frauenkliniken nicht nur die lichen Einrichtungen in Würzburg und Erlangen je- Ordinarien, sondern auch Ober- und Assistenzärz- doch in vergleichbarer Weise stark betroffen. Wie te. In Erlangen führte dies beispielsweise zusätzlich sich zeigen sollte, hatten sich ihre Direktoren – zur Entlassung des Oberarztes Rudolf Dyroff, in wie auch andernorts in Deutschland – zusammen München wurden Walter Rech (I. UFK) und Richard mit Angehörigen der Assistentenschaft zu Helfers- Fikentscher (II. UFK) ihrer Ämter enthoben. Alle helfern einer menschenverachtenden Politik Genannten übten in ihren Kliniken die Funktionen gemacht, indem sie in großem Stil eugenische von Chef-Stellvertretern aus. Zwangssterilisationen und – zumindest zum Teil – Infolge dieser Säuberungsaktionen kam es so- rassistisch intendierte Abtreibungen bei Ostarbei- fort zu einem beispiellosen Personalnotstand, der terinnen durchführten. Darüber hinaus waren zunächst nur die Krankenversorgung betraf, weil Heinrich Eymer (I. UFK München) und Carl Joseph die Universitäten noch geschlossen waren. Mit ih- Gauß (Würzburg) aktiv an der Propagierung bzw. rer Wiedereröffnung im Laufe des Jahres 1946 Optimierung der Sterilisationen im Sinne der Na- drohte jedoch auch für die Lehre ein Desaster, von tionalsozialisten beteiligt. Hermann Wintz (Erlan- Forschung konnte ohnehin kaum gesprochen wer- gen) ließ einen Assistenten Abtreibungen bei den. Dies galt, obwohl bei Besatzern wie bei deut- Schwangerschaften auch fortgeschrittenen Gestati- onsalters perfektionieren.1 Die Rolle der II. Univer- 1 Siehe hierzu den Beitrag BGGF‑Ehrenmitglieder in sitätsfrauenklinik München mit ihrem Direktor diesem Band. Biographische Angaben finden sich im Hauptteil des vorliegenden Beitrags. Otto Eisenreich ist bisher noch nicht genauer un- 2 Siehe hierzu beispielsweise Sandweg: Universität tersucht. Es muss aber davon ausgegangen werden, (1993), S. 367.

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ter Verdrängung und Verleugnung der Vergangen- heit wieder in die angestammten oder gar noch hö- here Positionen zu gelangen. Auf der anderen Seite standen die wohl auch nicht immer integren Be- mühungen von im NS verfolgten oder durch die Kriegseinwirkungen aus ihrer Heimat vertriebenen Fachärzten, im Nachkriegsdeutschland beruflich Fuß zu fassen. Dazwischen wirkten Militärregie- rung, Hochschulrepräsentanten und Vertreter der Ministerialbürokratie sowie der Politik und der Medien entweder als ehrliche Makler oder – be- wusst und unbewusst – als Interessenvertreter rechter bzw. linker Netzwerke, wobei dies auch aus der Distanz von Jahrzehnten oft kaum zu diffe- renzieren ist. Im Verlauf der Wieder- bzw. Neubesetzungspro- zesse waren die Protagonisten immer wieder von überraschenden Änderungen ihrer Arbeitsverhält- nisse betroffen: Auf die Entlassung konnte oft sehr kurzfristig die Genehmigung zur Weiterarbeit fol- gen, u. U. nur als „common labourer“, also Arzt ohne Leitungsfunktion und Lehrbefugnis. Dies war in der Regel dem weitergehenden Entnazifizie- rungsprozess geschuldet, der in der amerikani- schen Besatzungszone ab 1946 auf der Basis des „Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus Abb. 9.1 Massenansturm auf die unzerstörte Uni- und Militarismus“ (Befreiungsgesetz) die nunmehr versität Erlangen 1946 – Blick in einen Hörsaal. in deutschen Händen liegenden, sogenannten Spruchkammerverfahren als differenzierendere Maßnahme vorsah, wobei gegen die darin ausge- sprochenen Verdikte bei einer höheren Instanz – schen Funktionsträgern die Besorgnis hinsichtlich meist erfolgreich – Berufung eingelegt werden eines Zusammenbruchs der medizinischen Versor- konnte.3 Außerdem hatten die Hochschulen mit gung nicht nur für die Normalbevölkerung, son- dem Hinweis auf drohende Engpässe in der Kran- dern auch für die zusätzlich zu betreuenden kenversorgung die Möglichkeit, befristete Arbeits- Kriegsverletzten bereits zu ersten Kompromissen in der strikten Entnazifizierung gesorgt hatte. Die 3 Spruchkammern waren Laiengerichte, die nach dem „ Masse Studierwilliger, die zum Teil durch Kriegs- Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 zur Entnazifizierung dienst in ihrer Ausbildung um Jahre zurückgewor- eingerichtet wurden. In Spruchkammerverfahren fen waren und nun an die Hochschulen drängten mussten sich die von dem Gesetz Betroffenen recht- (Abbildung 9.1), verstärkte diese Effekte. fertigen, wobei die Beweislast bei ihnen lag. Sie wur- Aus dieser Situation heraus vollzog sich für die den dann je nach Beurteilung durch die Kammer in Ordinariate der Geburtshilfe und Frauenheilkunde fünf Gruppen eingestuft (Hauptschuldige, Belastete, an den bayerischen Universitäten ein Neu- bzw. Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete). Die Kam- mer verhängte entsprechende Sühnemaßnahmen, Wiederbesetzungsprozess, der im Folgenden einer die für Hauptschuldige bis zu zehn Jahre Arbeitslager genaueren Betrachtung unterzogen werden soll. und den völligen Einzug des Vermögens bedeuten Dieser Prozess konnte – je nach Ausgangslage – konnten. Gegen den Kammerspruch war Berufung rasch bzw. relativ geräuschlos (Würzburg, Mün- möglich. Die Berufungskammern mussten von einem chen II) oder aber auch quälend langsam und/oder zum Richteramt befähigten Juristen geleitet werden. unter erheblichen Turbulenzen in der Öffentlichkeit Die Spruchkammerverfahren waren und sind in ihrer (München I und Erlangen) ablaufen. Einflussfakto- Bedeutung für die Entnazifizierung sehr umstritten. Ein wichtiger Kritikpunkt ist die Tatsache, dass damit ren waren auf der einen Seite die Versuche der im kaum „Täter“ ermittelt wurden – u.a. deshalb, weil NS etablierten Funktionsträger, gegebenenfalls un- die Betroffenen in den Verfahren meist in der Lage

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 151 möglichkeiten für von der Entnazifizierung betrof- gliedschaft in der NSDAP (seit 1937), bei der SA fene Ärzte zu beantragen. Eine zusätzliche Rolle Reserve I als Sanitätssturmführer (seit 1934) sowie spielte die öffentliche Diskussion über die NS‑Ver- die Zugehörigkeit zum NS‑Dozentenbund, zur Na- gangenheit vor allem von Rudolf Dyroff und Hein- tionalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und rich Eymer, wobei Letzterer – wie sich zeigen wird zum Altherrenbund ausschlaggebend waren.7 – auch wegen seiner Nachkriegshaltung gegenüber Obwohl Dyroff in der Folge – immer wieder be- jüdischen Kollegen in die Kritik geriet. Hinzu kam fristet – zunächst als „common labourer“ in der ein von der Militärregierung im Februar 1947 vor- Frauenklinik an der medizinischen Versorgung be- genommener drastischer Eingriff, mit dem in Er- teiligt blieb,8 hatte die Verfügung des Kultusminis- langen auf einen Schlag die Entlassung von 30 Pro- teriums den Erlanger Lehrstuhl wenige Monate vor fessoren und Dozenten verfügt wurde, weil die der geplanten Wiederaufnahme des Unterrichtsbe- Universität bei der Entnazifizierung zu lasch vorge- triebes seines letzten Dozenten beraubt. Der noch gangen sei.4 Mit Werner Bickenbach gelangte nach von Dyroff kurz nach Kriegsende als Oberarzt einge- der Emeritierung Eymers 1954 nochmals ein im stellte Flüchtling Kurt Podleschka (1902–1999) hat- Nationalsozialismus belasteter Ordinarius auf den te zwar während seiner Ausbildung an der Frauen- I. Lehrstuhl für Gynäkologie und Geburtshilfe in klinik der Deutschen Universität in Prag die Venia München. legendi erworben, war aber noch nicht umhabili- tiert. In dieser Situation setzte das Kultusministeri- um am 14. Januar 1946, vier Tage vor Beginn der ers- Erlangen: Dyroff ex machina ten Vorlesungen, mit Billigung der Militärregierung den Oberarzt von Eymer, Walter Rech (1896–1975; Besonders lang und quälend zog sich die Wieder- Abbildung 9.3), als kommissarischen Vertreter des besetzung des mit der Entlassung und dem frühen Erlanger Lehrstuhls für Geburtshilfe und Gynäkolo- Tod von Hermann Wintz (1887–1947) verwaisten gie sowie als Leiter der Frauenklinik ein.9 Wie Rech Erlanger Lehrstuhls hin. Wintz war als Rektor der und Dyroff, wobei Letzterer ja seit 1920 in der Erlan- Universität im NS (1938–1944) unmittelbar nach ger Frauenklinik tätig gewesen und dort 1933 zum der Besetzung Erlangens in „automatischen Arrest“ außerordentlichen Professor ernannt wordenwar,10 genommen, interniert und am 15. Juni 1945 seines mit dieser Situation umgingen, lässt sich aus den Amtes enthoben worden.5 Die Leitung der Klinik Akten nicht rekonstruieren. Es kann jedoch ange- übernahm dann zunächst Rudolf Dyroff (1893– nommen werden, dass damals schon die Lagerbil- 1966; Abbildung 9.2), der Wintz schon früher über dung in der Frauenklinik begann, die später für so längere Zeit voll im Amt vertreten hatte. Allerdings heftige Verwerfungen sorgen sollte. blieb auch Dyroff nicht lange von der ersten Welle Gegen Rech, NSDAP‑Mitglied seit 1939, wurden der Entnazifizierung verschont: Am 19. November immer wieder Vorwürfe laut, er sei ein besonders 1945 teilte ihm das Kultusministerium mit, er sei aktiver NS‑Aktivist gewesen. Sie spielten, teils of- auf Weisung der Militärregierung mit sofortiger fen, teils unterschwellig, auch in den Auseinander- Wirkung seines Amtes als außerplanmäßiger Pro- setzungen eine Rolle, in deren Mittelpunkt Rech fessor in der Medizinischen Fakultät Erlangen ent- hoben und habe sich „jeder weiteren dienstlichen 7 AmtsgerA Er, Spruchkammerakte Dyroff. … “6 Tätigkeit [ ] zu enthalten. Begründet wurde die 8 BayerHStaatsA M MK 43 537, PA Dyroff. Maßnahme nicht. Zu diesem Zeitpunkt kann je- 9 Rech hatte einige Zeit gezögert, nach Erlangen zu ge- doch davon ausgegangen werden, dass Dyroffs Mit- hen, weil ihm von Seiten der Militärregierung zu- nächst die Möglichkeit angedeutet worden war, er waren, aufgrund bestehender Netzwerke eine Fülle könne eventuell Nachfolger Eymers werden. Hierzu von Entlastungszeugen aufzubieten. Die erste umfas- UnivA Er A2/10 Nr. 5, Telegramme des Erlanger Rek- sende Untersuchung zu diesem Thema trug daher tors Theodor Süss an Rech (7.11. und 16. 11. 1945); auch den bezeichnenden Titel „Die Mitläuferfabrik“. Brief von Rech an Rektor Süss (10. 11. 1945); Schrei- Siehe hierzu: Vollnhals: Entnazifizierung (1991), ben des Dekans der Medizinischen Fakultät, Konrad S. 16–24 und Niethammer: Mitläuferfabrik (1982). Schübel, an Rech, in dem Schübel Rech die Übernah- 4 Die Neue Zeitung vom 3.2.1947. me der Erlanger Aufgabe mit dem Hinweis schmack- 5 Wintz starb kurz nach seiner Entlassung aus dem La- haft machte, er sei „in erster Linie für die definitive ger Hersbruck am 11. Juni 1947. Zu Einzelheiten sei- Besetzung in Aussicht genommen“ (15. Dezember ner Biographie Frobenius: Röntgenstrahlen (2003), 1945). S. 381–419. 10 Zu Einzelheiten seiner Biographie Frobenius: Rönt- 6 BayerHStaatsA M MK 43 537, PA Dyroff. genstrahlen (2003), S. 425–432.

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Marie Gertrud Rech, geb. Quincke, aber bereits im Dezember 1945 erklärt, dass die damalige Tren- nung im gegenseitigen Einvernehmen erfolgte und rassische Gründe keine Rolle spielten.13 In einem Brief an den Münchner Rektor Georg Hohmann (1880–1970) nach der Rundfunk-Attacke Geßners erläuterte sie ergänzend, dass die Eheleute für die Scheidung die von der NS‑Gesetzgebung vorgese- hene „Anfechtung“ der Ehe wegen ihrer nicht rein arischen Abstammung als formal einfachsten Weg gewählt hätten – sie sei „zu 50% Mischling“. „We- der ich noch meine Tochter waren je in einem KZ. Wir haben vielmehr, von meinem Mann großzügig unterhalten, seit 1934 unbehelligt hier [in Heidel- berg] gelebt“, schrieb Frau Rech.14 Seinen Parteieintritt 1939 hat Rech später damit erklärt, dass er den von der NS‑Dozentenschaft ge- gen ihn aufgebauten Druck vermindern wollte; er galt bereits in Heidelberg „seit jeher als Zentrums- mann“.15 Aus einer Beurteilung vom 18. Januar Abb. 9.2 Rudolf Dyroff (1893–1966). 1941 geht in der Tat hervor, dass man ihn dort kri- tisch sah: Auch wenn Rech inzwischen in die Partei aufgenommen worden sei, schrieb Dozenten- während seiner Tätigkeit als kommissarischer Lei- schaftsleiter Ernst Bergdolt (1902–1948), könne er ter der Erlanger Klinik stand und von denen noch sicher nicht als überzeugter, „geschweige denn ak- ausführlich zu berichten sein wird. Der gravie- tiver und einsatzbereiter Nationalsozialist gelten“. rendste Vorwurf betraf die Umstände der Trennung Ferner wurde ihm mangelnde Unterstützung des von seiner ersten Frau im Jahr 1934 in Heidelberg, nationalsozialistischen Nachwuchses unter den kurz vor seinem beruflichen Wechsel nach Mün- Klinikassistenten angelastet. „Oft genug werden chen: Hierzu hieß es, Rech habe sich scheiden las- andere Volontäre mehr gefördert“, klagte Bergdolt. sen, weil seine damalige Frau Jüdin gewesen sei. Allerdings bescheinigte er Rech die fachliche Eig- Sie und ihre Tochter wären nach der Trennung von nung für die Stelle des Oberarztes einer Universi- den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager tätsklinik und befürwortete „trotz aller schon frü- gebracht worden. Dieser Vorwurf fand Eingang in her bestehenden Bedenken […] im Interesse einer Spruchkammerakten, wurde am 18. Juli 1946 von geordneten Klinikführung besonders jetzt unter dem Journalisten Herbert Geßner11 in einem Kom- den schwierigeren Kriegsverhältnissen und beim mentar des Münchner Rundfunks erhoben und Fehlen einer sofort greifbaren geeigneteren Persön- taucht auch heute noch in einer historischen Unter- lichkeit“ die Besetzung einer neu geschaffenen suchung auf.12 Tatsächlich hat die Exfrau von Rech, Oberarztstelle mit Rech.16 In diesem Zusammen- hang wird ein Satz verständlicher, der sich in einem 11 Herbert Geßner, gebürtiger Münchner, war im NS aus Nachruf auf Rech findet: „Großen Dank sind ihm politischen Gründen mit einem Studienverbot belegt auch die ehemaligen Assistenten schuldig, die […] worden und hatte sich nach dem Realgymnasium als [in Rech, W. F.] besonders in der Ära des National- Hilfsarbeiter durchgeschlagen. 1939 eingezogen und im Verlauf wegen Wehrkraftzersetzung zu einer Strafkompanie versetzt, desertierte er 1944 und schloss sich einer bayerischen Untergrundbewegung 12 StaatsA M Spruchkammern K 382 Heinrich Eymer; an. Nach Kriegsende wurde Geßner Rundfunkkom- AmtsgerA Er, Spruchkammerakte Walter Rech; Al- mentator in München. 1947 wechselte er zu dem un- brecht: Eymer (2010), S. 388, Fußnote 42. ter sowjetischer Kontrolle stehenden Berliner Rund- 13 UnivA Er A 2/1 Nr. R 63, Abschrift einer eidesstattli- funk. Geßner gehörte zum antifaschistischen Freun- chen Erklärung (15. 12. 1945). deskreis des Gynäkologen Robert Ganse. Siehe hierzu 14 Ebd., Abschrift des Briefes an Hohmann (7.8. 1946). Kühn; Schneck: Ganse (1988), S. 110; 120–123. Fer- 15 Bröer: Geburtshilfe (2006), S. 852. ner: Internet Munzinger online/Personen – Interna- 16 BayerHStaatsA M, MK 44171 Walter Rech, Dozenten- tionales Biographisches Archiv. schaft München (18. 1.1941).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 153 sozialismus einen klugen und hilfsbereiten Rat- geber besaßen.“17 In der Erlanger Frauenklinik sah es im Sommer 1946 zunächst so aus, als würde Dyroff die von der Militärregierung im Zusammenhang mit der ersten Entlassungswelle eingeräumte Möglichkeit zur Re- habilitierung für sich erfolgreich nutzen können. Zwar folgte die Erlanger Spruchkammer am 27. Juli 1946 seinem Antrag auf Entlastung nicht, stufte ihn aber als Mitläufer ein und eröffnete damit grund- sätzlich die Möglichkeit zur Einsetzung in seine al- ten Funktionen. Basis der Entscheidung war eine Reihe von entlastenden Erklärungen, die Dyroff beigebracht hatte. Ferner war es ihm gelungen, sei- ne Mitgliedschaften in NS‑Organisationen als rein formal darzustellen.18 Ein späterer Versuch, sich mit einem Dienstverweis des Reichsministers für Wissenschaft aus dem Jahr 1942 als Widerständler darzustellen und so doch noch zu einer Einstufung als Entlasteter zu kommen, schlug allerdings fehl.19 Mitten in die Anstrengungen Dyroffs, die Wie- Abb. 9.3 Walter Rech (1896–1975). dereinsetzung in seine Ämter zu erreichen, platzte dann allerdings ein von der Universität auf Betrei- ben der Militärregierung eingesetzter Untersu- der künftigen akademischen Jugend tragbar und chungsausschuss, in dem die zwischen 1943 und müssten daher unverzüglich entlassen werden.21 1945 in der Erlanger Frauenklinik durchgeführten Der Kommissionsbericht, der nie offiziell veröf- mindestens 136 Zwangsabtreibungen an Ostarbei- fentlicht wurde, hatte jedoch keine unmittelbaren terinnen erstmals thematisiert wurden. Wegen dienstrechtlichen Folgen. Dies ist vermutlich da- dieser Abtreibungen, von denen einige für die be- rauf zurückzuführen, dass die Zusammensetzung troffenen Frauen tödlich endeten, musste sich Dy- der Kommission innerhalb des konservativen La- roff im Oktober 1946 zusammen mit drei Assisten- gers der Universität auf Kritik stieß. Ihr gehörten ten der Klinik vor dem Ausschuss verantworten. als Vorsitzender der Nervenarzt und Medizinhisto- Über die Details dazu wird an anderer Stelle berich- riker Werner Leibbrand (1896–1974), der evangeli- tet.20 Von Bedeutung für die Bemühungen von Dy- sche Theologe Werner Sasse (1895–1976), der Gy- roff um Wiedereinsetzung in seine Ämter war, dass näkologe Robert Ganse (1909–1972)22 und der Ju- der Ausschuss die Beschuldigten zwar von einer rist Sevold Braga an.23 Leibbrand und Ganse waren Verantwortung im juristischen Sinne freisprach, ih- im „Dritten Reich“ verfolgt worden, Sasse hatte sich nen jedoch gleichzeitig aus ethischen Gründen die dem Regime gegenüber immer wieder öffentlich Eignung für eine künftige Tätigkeit an der Universi- kritisch geäußert, war jedoch unbehelligt geblie- tät komplett absprach: Sie seien, so hieß es, – unab- ben. Gegenüber dem völlig unbelasteten Sasse gab hängig von der Hauptverantwortung des Klinikdi- es nicht nur in der Theologischen Fakultät heftige rektors Wintz – unter keinen Umständen mehr als Animositäten, weil er die Aktivitäten seiner Kolle- wissenschaftliche und standesethische Erzieher gen im NS im April 1946 in einem vertraulichen Memorandum für die Militärregierung dokumen- 17 Zander; Ries: Memoria (1976), S. 479. tiert hatte.24 Ganse, von dem noch ausführlicher 18 AmtsgerA Er, Spruchkammerakte Dyroff. 19 Ebd., Schreiben an den zweiten Vorsitzenden der die Rede sein wird, war seit Oktober 1945 in der Spruchkammer Erlangen, Adam Volk, vom 28. Okto- ber 1947. Mit dem Dienstverweis waren fehlende 21 UnivA Er A6/3d/21, Bericht der Untersuchungskom- Meldungen zum Vollzug des Gesetzes zur Verhütung mission; Von Wintz existiert nur eine briefliche Stel- erbkranken Nachwuchses geahndet worden – büro- lungnahme. kratische Versäumnisse also. 22 Zu Ganse auch Fußnoten 745 und 748. 20 Siehe hierzu den Beitrag Ehrenmitglieder in diesem 23 Ebd.; Zu Leibbrand vgl. Ruisinger, Marion M. (Hrsg.): Band. Ausführlicher in Frobenius: Abtreibungen 50 Jahre jung! Das Erlanger Institut für Geschichte (2004). der Medizin (1948–1998). Erlangen 2002.

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Frauenklinik als Assistent tätig, gehörte der besetzung des Erlanger Lehrstuhls, für den fast Spruchkammer als Beisitzer an und engagierte zwei Jahre nach Kriegsende und ein Jahr nach Wie- sich für die Kommunistische Partei Deutschlands deraufnahme des Vorlesungsbetriebs noch keine (KPD) sowie für die Vereinigung der Verfolgten des Berufungsliste ausgearbeitet war. Dyroff versuchte Naziregimes (VVN).25 nun, sich in Erlangen durch die Gründung einer Pri- Nichtsdestotrotz wurde im Februar 1947 erneut vatklinik eine alternative Existenz aufzubauen, und eine Dienstenthebung Dyroffs ausgesprochen. Die- setzte seine Bemühungen um Rehabilitation von da se Maßnahme war nun Teil der oben bereits er- aus fort. Im öffentlichen Fokus stand weiterhin der wähnten spektakulären Aktion der Militärregie- „common labourer“ Rech, der ab Mai 1947 von rung gegen die ihrer Ansicht nach unzureichende Podleschka in der Lehre unterstützt wurde, obwohl Selbstreinigung der Universität; auf einen Schlag dessen Umhabilitation erst im Oktober 1947 Wirk- wurden 30 Dozenten und Professoren entlassen. samkeit erlangte. Unter ihnen befand sich nun auch der gerade erst Rech hatte bereits seit seiner Einsetzung in das eingesetzte kommissarische Leiter der Frauenklinik Amt des kommissarischen Leiters der Frauenklinik Walter Rech. Damit war der Lehrstuhl erneut ohne Probleme mit dem Personal. Auf der einen Seite einen Dozenten. Allerdings gelang es offensichtlich standen Altassistenten der Klinik, die auf Dyroff schon kurze Zeit später, mit dem Hinweis auf die eingeschworen waren. Auf der anderen Seite fand akute Gefährdung der medizinischen Versorgung sich der erwähnte, im NS verfolgte, kommunisti- der Bevölkerung für Rech eine befristete Arbeitsge- sche Aktivist Robert Ganse, ein erfahrener und nehmigung als „common labourer“ zu bekommen. auch operativ gut ausgebildeter Facharzt, der über- Dyroff dagegen, so die entsprechende Mitteilung dies voller wissenschaftlichem Ehrgeiz war.28 Gan- des Kultusministeriums, durfte nunmehr „in der se hatte sich bei Rech, den er für einen Nazi hielt, Anstalt […] aus der Sie entlassen wurden“ auch von Anfang an unbeliebt gemacht und war deshalb nicht als „gewöhnlicher Arbeiter“ verwendet wer- aus dem OP und von Station in die Poliklinik ver- den.26 bannt worden. Zuvor hatte er allerdings bei der Su- Einen Eindruck von der so entstandenen Situati- che nach einem Habilitationsthema das Problem on vermittelt der Wochenbericht des Dekans der des medizinisch indizierten Schwangerschaftsab- Medizinischen Fakultät an den Rektor vom 2. März bruches für sich entdeckt, das in der unmittelbaren 1947, in dem sich dessen Bemühungen um Ersatz- Nachkriegszeit angesichts von vielen vergewaltig- dozenten widerspiegeln. Darin heißt es: „Gynäko- ten Frauen mit dem Wunsch nach einem Abbruch logie: [Prof.] Dr. [Rudolf] Cordua Hamburg hat aus kriminologischer Indikation von großer Brisanz nach reiflicher Überlegung und Kenntnis der Lage war und für das nach möglichst ungefährlichen Lö- an Ort und Stelle abgelehnt; er wäre sehr geeignet sungen gesucht wurde.29 Dabei stieß er auf die Ak- gewesen und ist völlig unbelastet.“ Ebenso habe ten der Zwangsabtreibungen bei Ostarbeiterinnen sich ein weiterer Gynäkologe aus der russischen und wertete sie aus. Sein Versuch, diese Daten zu- Zone verhalten. „Überbrückt konnte der Notstand im Lehrbetrieb, der in diesem Hauptfach der Medi- 27 UnivA Er C3/1 Nr. 746. Bei dem Heidelberger Oberarzt zin nicht anfallen durfte, nur dadurch werden, dass handelte es sich um Theodor Spannagel. Er war der einzige unbelastete Arzt an der UFK Heidelberg und ich durch persönliche Vorstellung in Heidelberg ei- hatte deshalb dort die Hauptvorlesung im WS1945/ nen fähigen Oberarzt der dortigen Universitäts- 46 gehalten. Spannagel war nicht habilitiert, wird frauenklinik für kurze Zeit ausgeliehen bekam. Der aber in den Akten immer wieder als Professor be- Notstand im Krankenhausbetrieb ist durch die 60- zeichnet. Siehe hierzu Bröer: Geburtshilfe (2006). tägige Arbeitsbewilligung an Prof. Rech […] vorläu- 28 Robert Ganse, geb. am 24.2. 1909 als Apothekersohn fig behoben.“27 in Kassel, entdeckte schon als Student in Hamburg in Die spektakuläre Aktion der Militärregierung einer Lehrveranstaltung von Hans Hinselmann die Kolposkopie für sich. Die Arbeit und die wissen- und ihre unmittelbaren Folgen markieren in gewis- schaftliche Auseinandersetzung mit dieser Methode ser Weise eine Zäsur in der Geschichte der Wieder- begleiteten ihn durch sein ganzes Berufsleben. Ganse wurde nach seiner Entlassung in Erlangen 1947 Leiter 24 Siehe hierzu etwa Wendehorst: Geschichte (1993), der Frauenklinik des Dresdner Friedrichstädter Kran- S. 226 f.; Sandweg: Way (1996), S. 380–383. kenhauses. An der neu gegründeten Medizinischen 25 Hierzu auch Kühn; Schneck: Ganse (1988), S. 106– Akademie Carl Gustav Carus in Dresden habilitierte 123. er sich und wurde 1957 zum ordentlichen Professor 26 BayerHStaatsA M MK 4537, PA Dyroff, Schreiben vom ernannt. Ganse starb am 13. 8.1972: Kühn; Schneck: 6.2. 1947. Ganse (1988), S. 162.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 155 sammen mit eigenen Beobachtungen als Habilitati- mit einem Telegramm an das Kultusministerium onsarbeit einzureichen, stieß allerdings bei Rech die Reihenfolge dahingehend zu ändern, dass Rech und der Universitätsleitung auf wenig Gegenlie- an erster Stelle erschien. Die ganze Liste ver- be.30 Wie dann die Informationen über die Zwangs- schwand jedoch in der Versenkung, als gegen abtreibungen bei Ostarbeiterinnen ihren Weg zur Knaus Beschuldigungen im Zusammenhang mit amerikanischen Militärregierung fanden, bedarf seinem Verhalten im NS erhoben wurden.32 keiner gewagten Spekulation. Als Ironie des Schick- Die Auseinandersetzungen zwischen Rech und sals erscheint, dass es Dyroff war, der Ganse 1945 Ganse, in die nolens volens auch der liberale Rektor in der Klinik angestellt hatte. Brenner einbezogen wurde, führten schließlich zur Ganses Vergangenheit als NS‑Verfolgter und sei- Entlassung von Ganse. In einer entsprechenden ne politischen Aktivitäten, die auf einen radikalen Mitteilung der Universität, die am 4. Juni 1948 in Bruch mit der Vergangenheit abzielten, hatten ihn den Nürnberger Nachrichten erschien, wird ein po- nach seiner Ankunft in Erlangen rasch mit Hoch- litischer Hintergrund dieser Entscheidung nach- schullehrern in Verbindung gebracht, die zumin- drücklich verneint.33 Der Erlanger Historiker Jürgen dest einen Teil seiner Überzeugungen teilten. Dabei Sandweg, der sich intensiv mit diesen Vorgängen handelte es sich vor allem um Leibbrand und Sasse, beschäftigt hat, kommt jedoch zu folgender Ein- mit denen er dann in der Untersuchungskommissi- schätzung, die die Situation gut erläutert: on zusammenarbeitete. Auch bei seiner Arbeit in „Im ʼFall Ganseʼ geriet Brenner hoffnungslos in der Frauenklinik hatte es Ganse offensichtlich ver- einen unlösbaren Konflikt zwischen seiner, mut- standen, einige Assistenten auf seine Seite zu zie- maße ich, persönlichen Sympathie für einen vom hen. Jedenfalls veranlasste die Nachricht, dass NS‑System (wie Brenner selbst) beschädigten Rech nach Überprüfung der Vorwürfe gegen ihn Mann, der nun Gerechtigkeit einforderte und seine wieder in seine Funktion als kommissarischer Lei- Chancen zur beruflichen Normalisierung wahrneh- ter der Frauenklinik eingesetzt werden sollte, zwei men wollte, und seiner Fürsorgepflicht für andere von ihnen zu einem Protestbrief an die Militärre- Universitätsangehörige. Der zweifellos tüchtige Gy- gierung.31 Dies konnte freilich nicht verhindern, näkologe hatte, hierin nicht nur einem persönli- dass das Kultusministerium am 5. November 1947 chen Bedürfnis folgend, sondern auch der Politik mit Billigung der Militärregierung die Wiederein- der KPD‑Führung, die restaurativen, ja reaktionä- setzung von Rech verfügte. ren Tendenzen in der Medizinischen Fakultät ange- Diese Maßnahme hatte sich bereits im Sommer prangert, die Verhinderung seines Habilitations- 1947 abgezeichnet, als die Medizinische Fakultät wunsches […] beklagt und sich für die Demokrati- eine erste Liste für die Wiederbesetzung des vakan- sierung der Universität […] Verbündete gesucht. ten Lehrstuhls von Wintz erarbeitete. Diese Liste, […] Zuletzt spitzte sich der Konflikt […] so zu, daß die dem Kultusministerium am 8. August übermit- der Rektor zum Mittel der förmlichen Entlassung telt wurde, positionierte Rech an zweiter Stelle. Pri- greifen mußte. Ganse blieb nichts anderes übrig, mo loco gesetzt waren der frühere Ordinarius in als Erlangen und die US‑Zone zu verlassen und in Prag, Hermann Knaus (1892–1970), und der bereits die SBZ zu gehen, wo er rasch eine große Karriere erwähnte Hamburger Chefarzt Rudolf Cordua […] machte. In Erlangen zurück blieb ein Scherben- (1892–1959); an dritter Stelle erschien der eben haufen […].“34 nach Jena berufene Gustav Döderlein (1893–1980). Aus dem Urlaub heraus versuchte der damalige Rektor in Erlangen, Eduard Brenner (1888–1970), Hinter den Kulissen

29 Vgl. zur Diskussion um den Schwangerschaftsab- In der Zwischenzeit hatte Dyroff im Hintergrund bruch auch den Beitrag von Florian Bruns in diesem seine Bemühungen um Wiedereinsetzung ins Amt Band. 30 Kühn; Schneck: Ganse (1988), S. 108. trotz des Verdikts der Untersuchungskommission 31 UnivA Er C3/5 Nr. 44: Schreiben von Georg Rieck und vom Oktober 1946 und der folgenden Entlassung Luitgard Heimberger (8.1.1947). Rieck folgte Ganse Anfang Februar 1947 fortgesetzt. Er setzte dabei im Oktober 1948 nach Dresden und wurde dort bald auf den offiziellen Charakter des Spruchkammer- Oberarzt: Kühn; Schneck: Ganse (1988), S. 135; Heimberger ging für über 6 Jahre als Assistentin an 32 BayerHStaatsA M MK 72 051, Lehrstuhlakte UFK Er- die Universitätsfrauenklinik Würzburg und ließ sich langen. später in der Stadt als Frauenärztin nieder: Stoeckel; 33 NN vom 4.6. 1948. Gynäkologen (1960), S. 182. 34 Sandweg: Fassaden (1996), S. 383.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 156 Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 bescheides, mit dem er im Juli 1946 als Mitläufer Wiedereinstellung von Dyroff unter den gegebenen eingestuft worden war, und suchte damit im April Umständen nicht in Betracht komme. Davon sei 1947 offenbar das direkte Gespräch mit der Militär- Dyroff „in geeigneter Weise zu verständigen.“ Dies regierung. Dies geht jedenfalls aus einer „schrift- wiederum veranlasste Dyroff, sich nun direkt an lichen Ergänzung“ Dyroffs zu diesem Gespräch den Hochschulreferenten im Kultusministerium, hervor, die sich bei seinen Akten befindet. Darin re- Hans Rheinfelder (1898–1971), zu wenden. Am lativiert er seine Mitgliedschaften in NS‑Organisa- 1. Oktober 1947 schrieb er unter Bezug auf einen tionen und erläutert, weshalb er dem NS‑System vorangegangenen persönlichen Besuch an Rhein- gegenüber nur innerhalb seines engeren Wir- felder, er habe nun „in den Akten der Universität kungskreises und dort nur in Grenzen habe Wider- festgestellt“, dass sein Gesuch um Wiederverwen- stand leisten können. Auch in diesem Zusammen- dung nicht an das Ministerium weitergeleitet wor- hang versucht er wieder, den zitierten Dienstver- den sei. In der Stellungnahme des Rektors zu seiner weis wegen unterbliebener Meldungen von Eignung sehe er eine „voreingenommene, unge- Zwangssterilisationen als Folge eines aktiven Vor- rechte und unbegründete politische Beurteilung“ gehens gegen das Erbgesundheitsgesetz darzustel- seiner Person, deren Überprüfung er wünsche.37 len.35 Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte Dyroff Mit dieser Intervention glaubte Dyroff offen- schon am 6. Oktober 1947 erneut einen Antrag auf sichtlich, Erfolg gehabt zu haben, denn Anfang Mai Wiedereinstellung. Der Rektor nahm dies zum An- schrieb er ein Gesuch mit der Bitte um Wiederver- lass, Leibbrand in seiner Eigenschaft als ehemaligen wendung in seinen alten Positionen an das Kultus- Vorsitzenden der Untersuchungskommission zu ministerium, das – entsprechend dem üblichen den Zwangsabtreibungen um ein Gutachten zu bit- Dienstweg – von der Universität weitergeleitet ten. Darin riet Leibbrand von Aktivitäten zur Wie- werden sollte. Was nun folgte, erscheint nach Ak- dereinstellung Dyroffs ab. Zum einen, so schrieb tenlage teilweise widersprüchlich und ist deshalb er, müsse das Ergebnis staatsanwaltschaftlicher Er- schwer zu durchschauen. Insgesamt entsteht je- mittlungen zu den Abtreibungen abgewartet wer- doch der Eindruck, dass der Rektor, aber auch an- den. Zum anderen sei die ethische Seite des Falles dere Gremien der Universität zu diesem Zeitpunkt zu bedenken: „Professor Dyroff ist leider an dem eine Wiedereinstellung Dyroffs verhindern woll- Komplex Frauenklinik in zwei Fällen aktenkundig ten. beteiligt. Diese Tatsache muss für die Frage der Jedenfalls hatte Brenner – wie Dyroff später fest- Wiedereinsetzung maßgebend sein. Ich verhehle stellte – das Gesuch nicht an das Ministerium wei- nicht, dass wir in Herrn Dr. Dyroff einen hochquali- tergeleitet, sondern selbst eine Stellungnahme ab- fizierten Operateur verlieren würden. Ich darf aber gegeben. Darin stellte er einerseits fest, die Spruch- andererseits über die soeben angegebenen Beden- kammer habe Dyroff als Mitläufer eingestuft, und ken nicht fahrlässig hinweggehen.“38 dieser Entscheid sei von der Militärregierung in Er- Bevor noch der erneute Antrag Dyroffs zusam- langen auch anerkannt worden. Andererseits fügte men mit der Stellungnahme von Leibbrand beim Brenner jedoch hinzu, er sehe sich als Rektor der Kultusministerium eingegangen sein konnte, hatte Universität Erlangen nicht in der Lage zu erklären, Rheinfelder Dyroff aber schon auf seine Bitte um dass Dyroff „die positiven politischen, liberalen „politische Überprüfung“ geantwortet. In dem und moralischen Eigenschaften besitzt, die erwar- Schreiben vom 17. Oktober 1947 hieß es lapidar: ten lassen, dass er zur Entwicklung und Förderung „[…] teile ich Ihnen mit, dass die Ablehnung Ihrer der Demokratie in Deutschland beitragen wird.“ Wiedereinstellung nicht durch die Äusserung des Damit bezog sich Brenner offensichtlich auf die Rektors […], sondern dadurch veranlasst war, dass Vorwürfe mit den Abtreibungen, denn in einem die Militär-Regierung von Bayern bereits mit Nachsatz heißt es: „Die mir in letzter Zeit zugestell- Schreiben vom 25.4. 1947 […] mitgeteilt hat, dass ten Akten über Dyroff erlaube ich mir beizufü- eine Wiedereinstellung nicht in Betracht gen.“36 kommt.“39 Daraufhin schrieb das Kultusministerium am Eine völlig neue Situation für Dyroff ergab sich 6. Juni 1947 an das Erlanger Rektorat, dass eine Ende Dezember 1948, als das Landgericht Nürn-

35 BayerHStaatsA M MK 43537, PA Dyroff, Schreiben 37 Ebd., Schreiben (10. 1.1947). vom 10. 4.1947. 38 Ebd., Leibbrand an Brenner (17. 10. 1947). 36 Ebd., in der PA findet sich von diesen Akten nichts. 39 Ebd., Rheinfelder an Dyroff (17. 10. 1947).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 157 berg-Fürth das Ermittlungsverfahren gegen ihn einen großen Artikel im Nachrichtenmagazin „Der und drei weitere Ärzte der Frauenklinik wegen der Spiegel“ öffentlich und verursachten dann über Zwangsabtreibungen einstellte. In dem entspre- Monate erhebliche politische Turbulenzen. Ihre An- chenden Beschluss wird die Voruntersuchung da- fänge sind in den Akten auf Anfang April 1949 da- mit begründet, dass die Angeschuldigten „eines tierbar. Damals hatte sich durch Indiskretionen42 fortgesetzten Verbrechens der Abtreibung“ an „so- offenbar herumgesprochen, dass die Fakultät in genannten Ostarbeiterinnen russischer, polnischer dem vom Kultusministerium angeforderten neuen und ukrainischer Staatsangehörigkeit“ hinreichend Besetzungsvorschlag mehrheitlich Rech an erster verdächtig gewesen seien. Weiter heißt es: „Die Stelle nennen wollte. Dies veranlasste einige Assis- Tatsache der Schwangerschaftsunterbrechungen, tenten zu einem Beschwerdebrief über Rech, der an denen sich die Angeschuldigten nach dem Er- von dem katholischen Stadtpfarrer und Dekan Am- gebnis der Voruntersuchungen mehr oder weniger bros Neundörfer bei einem Besuch in München di- beteiligt haben, wird von ihnen nicht in Abrede ge- rekt im Kultusministerium abgegeben wurde.43 stellt.“ Nach den gesamten Umständen hätten sie In dem mit Namen von fünf Assistenten und ei- aber auf eine „gesetzmäßig in Ordnung gehende ner Assistentin44 abgezeichneten Schreiben wer- Anweisung vertraut, sodass ihnen das Bewusstsein den auf fünf eng beschriebenen Schreibmaschinen- einer rechtswidrigen Handlung, das nach überwie- seiten schwere Vorwürfe gegen Rech als Kliniklei- gender neuer Rechtssprechung stets zur Erfüllung ter erhoben. Der kommissarische Chef, so heißt es, der Strafbarkeit einer Handlung zu finden ist, ge- zeige „mangelnde wissenschaftliche Einstellung“, fehlt hat.“40 vernachlässige die ärztliche Ausbildung „eines Mit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens Großteils der Assistenten“ unter Bevorzugung Ein- verstärkte Dyroff vom Februar 1949 an die Bemü- zelner, lege unärztliches sowie unsachliches Ver- hungen um seine Wiedereinsetzung erheblich. Da- halten „im Allgemeinen“ an den Tag und weise ei- bei bevorzugte er primär nicht mehr den Weg über nen Mangel an Charakterfestigkeit auf. Zu jedem die Fakultät und das Rektorat, sondern wandte sich der genannten Punkte sind Beispiele angeführt, da- direkt an den damaligen Kultusminister Alois runter der Hinweis auf ein angebliches außereheli- Hundhammer (1900–1974). Außerdem aktivierte ches Verhältnis Rechs und eine als anstößig emp- er viel versprechende verwandtschaftliche Bezie- fundene Faschingsveranstaltung der Klinik. Von be- hungen: Sein Schwager war Fritz Schäffer (1888– sonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung 1967), bayerischer Staatsrat a.D., 1946 kurzzeitig sollten in dem Brief zitierte Äußerungen Rechs ge- von der Militärregierung eingesetzter bayerischer genüber Patientinnen werden: So habe er zu einer Ministerpräsident und zusammen mit Hundham- Frau gesagt, sie sei „gut im Speck“. Bei einer ande- mer Mitbegründer der CSU. Ob Dyroff damals ren, mehrfach voroperierten Patientin verglich er schon den Lehrstuhl anstrebte, ist unklar, erscheint deren Bauch mit einer „Mondlandschaft“. Anläss- aber angesichts der nahezu gleichzeitig eintreten- den Verwerfungen in der Frauenklinik nicht un- 42 Siehe hierzu UnivA Er C3/5 Nr. 44, Brief von Oberst wahrscheinlich. Weitgehend zeitgleich mit Dyroffs a.D. Braun-Barlow vom 19. 4.1949. 43 Vorsprache bei Hundhammer erreichte die Univer- UnivA Er C3/5 Nr. 44, Abschrift des Beschwerdebriefes (8.4. 1949). sität auch der Wunsch des Kultusministeriums, 44 Es handelte sich um Josef Horvath, Ludwig Rupp, Eli- möglichst umgehend eine neue Berufungsliste vor- sabeth Raab (verh. Kötter), Clemens Anton Schmitz zulegen, „nachdem der Dreiervorschlag […] schon sowie um Andreas Siegert und Waldemar Bleier. [Die sehr lange Zeit zurückliegt.“41 Ärzte wurden mit Ausnahme von Siegert und Bleier identifiziert in Stöckel: Gynäkologen (1960).] Der da- mals 40 Jahre alte Horvath war seit 1935 in der Frau- Die Affäre Rech enklinik beschäftigt, wurde 1939 Facharzt auch für Röntgenologie und arbeitete bis zu seinem Ausschei- den aus der Klinik 1949 als Leiter des Röntgeninstitu- Die angesprochenen Verwerfungen in der Frauen- tes. Horvath hatte sich nicht habilitiert. Später übte er klinik wurden erst im Juli 1950, Monate nach der eine Tätigkeit als niedergelassener Arzt in Fürth (Bay- Berufung Dyroffs auf den Erlanger Lehrstuhl, durch ern) aus: Archiv der Frauenklinik; Ärztekarteiblatt Horvath; Stoeckel: Gynäkologen (1960), S. 215. Bleier, 40 Ebd., beglaubigte Abschrift des Beschlusses mit dem geb. am 14.10.1910 in Neunkirchen (Saar) und ver- Aktenzeichen 1 c Js 600/48 (27. 12.1948). storben am 26.02.2002 in Püttlingen, war später 41 BayerHStaatsA M MK 72 015, Lehrstuhlakte, Rheinfel- Chefarzt der gyn.-geburtsh. Abteilung des Städt. der an die Universität (4.2.1949). Krankenhauses in Saarlouis: Standesamt Saarlouis.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 158 Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 lich einer Operation habe er die Schwester aufge- rischen Klinikleiter „einen Strick“ drehen. Der Rek- fordert, ihm für die Zervixdilatation „einen Lippen- tor der Diakonissenanstalt Augsburg widersprach stift“ zu geben.45 der von den Kritikern Rechs aufgestellten Behaup- Es wird nicht ganz klar, auf welchen Wegen Leo tung, wegen des Klinikchefs seien Überlegungen Wegerhoff (geb. 1898)46, ein Vertrauter Rechs aus angestellt worden, die Schwestern abzuziehen.49 der Münchner Frauenklinik, der damals als Aus- Nachdem Rech, der zunächst nicht offiziell über tauschassistent in Erlangen arbeitete und mit sei- diese Vorgänge informiert worden war, von sich ner großen operativen Erfahrung offensichtlich De- aus am 27. April 1949 beim inzwischen neu ge- fizite des vorhandenen Personals ausgleichen soll- wählten Rektor Friedrich Baumgärtel (1888–1981) te, von der Attacke gegen seinen Mentor Kenntnis Aufklärung verlangt hatte, wurde die Angelegen- erhielt. Jedenfalls schrieb Wegerhoff schon wenige heit bis zum 8. Juli 1949 in vier Einzelterminen vor Tage später eine dreiseitige Widerlegung der Vor- dem Concilium decanale verhandelt. Neben Rech würfe, die an den Dekan der Medizinischen Fakul- und den Beschwerdeführern hörte das Gremium tät adressiert war. Darin wies er detailliert alle Vor- unter anderen den Oberarzt Podleschka, die Ober- würfe zurück und erklärte, die Klinik habe im Ge- schwester sowie eine Schwester und zwei weitere genteil unter Rechs Ägide eine erstaunliche Angestellte der Frauenklinik. Der Rektor riet den Zunahme der Belegung, der Geburten sowie der Beschwerdeführern, die sich mit dem ursprünglich größeren Operationen zu verzeichnen. Gewisse verfassten Brief auch nicht mehr identifizieren Probleme, die zugestanden würden, seien vor allem wollten und von einem „Konzept“ sprachen,50 durch die lange Zeit der kommissarischen Lehr- wohl in der Art eines Vermittlungsversuchs, die stuhlbesetzung zu erklären. Hinzu komme, dass fachliche Qualifikation Rechs künftig nicht in Frage sich die Assistenten mit drei verschiedenen medizi- zu stellen. Außerdem sollte der Umgang des in nischen Schulen auseinandersetzen müssten. Ein München verheirateten Rech mit einer „befreunde- Hemmschuh für die Jüngeren seien Assistenten, ten Dame“ aus dem nahen Hersbruck nicht mehr die zehn Jahre an der Klinik verbracht hätten, thematisiert werden. Rech ließ sich jedoch auf ohne sich zu habilitieren. „Diesen Zustand nicht än- nichts ein, sondern verlangte schärfste Bestrafung dern zu können, gehört zu den Beschränkungen, der Assistenten. Daraufhin wandte sich Baumgärtel die einem kommissarischen wissenschaftlichen an das Kultusministerium mit der Bitte, sich des Leiter auferlegt sind.“47 Falles anzunehmen. Eine Bereinigung innerhalb In den folgenden Tagen erhielt der Dekan, der der Universität erscheine nicht mehr möglich.51 spätestens mit dem Brief von Wegerhoff Kenntnis Als die erhoffte schnelle Reaktion ausblieb, von der Aktion gegen Rech erhalten hatte, weitere schrieb Baumgärtel knapp drei Wochen später Schreiben in der Angelegenheit. Zunächst melde- nochmals an das Ministerium mit der dringenden ten sich sieben andere Assistenten der Frauenklinik Bitte, „dass bald klare Verhältnisse geschaffen wer- zusammen mit Wegerhoff zu Wort, um Rech zu un- den.“ Die Zustände, die sich an der Frauenklinik terstützen. Sie bezeichneten das Schreiben an das Kultusministerium als „Aktion einer kleinen Zahl 47 UnivA Er C3/5 Nr. 44: Schreiben von Dr. Leo Weger- von Ärzten“ und mutmaßten, dass nur einer davon hoff (14. 4. 1949). 48 Ebd., Brief der Assistenten Wegerhoff, Kurt Michalzik, dafür verantwortlich sei. Sie hätten vollstes Ver- Carla Friedhofen, Fritz Ganser, Paul Mehringer, Fritz trauen zum Klinikleiter. Ihrer Überzeugung nach Koch und L. Koch sowie Peterhoff vom 17. 4.1949. werde in der Klinik ernsthaft und mit Erfolg gear- [Die Ärzte wurden mit Ausnahme von L. Koch und Pe- beitet.48 Ein Bekannter Rechs erklärte, offensicht- terhoff in Stoeckel: Gynäkologen (1960) identifiziert.] lich wollten die Beschwerdeführer dem kommissa- Michalzik habilitierte sich 1956 in Erlangen und wur- de Oberarzt der Klinik (apl. Prof. 1963, ao. Prof. 1978) ·Nach Versetzung in den Ruhestand 1980 ar- 45 UnivA Er C3/5 Nr. 44, Abschrift des Beschwerdebriefes beitete Michalzik in Erlangen als niedergelassener (8.4. 1949). Frauenarzt. Wittern: Professoren (1999), S. 131 f. 46 Wegerhoff war damals schon über 50 Jahre alt. Er 49 Ebd., Brief von Oberst Braun-Barlow vom 16. 4.1949; hatte vor seinem Wechsel in die I. UFK München Brief des Rektors der Diakonissenanstalt vom 1937 über zehn Jahre als Chirurg gearbeitet. Ab 1947 13. 4.1949. war er Facharzt für Chirurgie sowie Geburtshilfe und 50 UnivA Er A2/10, Nr. 5 Ehrenangelegenheit Prof. Wal- Gynäkologie. Später arbeitete er als Chefarzt der gy- ter Rech, Protokolle der Sitzungen des Concilium de- näkologisch-geburtshilflichen Abteilung des canale. St. Barbara-Hospitals in Gladbeck/Westfalen: Sto- 51 BayerHStaatsA M MK 72015, Lehrstuhlakte, Baum- eckel: Gynäkologen (1960), S. 548 f. gärtel an Kultusministerium (26. 7.1949).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 159 entwickelt hätten, seien nicht mehr lange tragbar. sich nichts in den Akten. Allerdings schrieb Matthes Die ganze Klinik präsentiere sich „bis in das Unter- selbst am 20. Oktober 1949 an das Kultusministeri- personal hinunter, […] in zwei Parteien aufgespal- um, die Erlanger Fakultät habe sich mit den Zitaten ten, für und gegen Prof. Rech. Die Spannung, die da- eingehend beschäftigt und sei zu dem Ergebnis ge- durch in die ganze Arbeit kommt, die der Gereizt- kommen, „dass diese aus dem Zusammenhang ge- heit auf beiden Seiten entspringt, ist so stark, dass rissenen Redewendungen, die nicht habituell, son- ganz zweifellos die Arbeit in jeder Beziehung leidet dern nur einmal in ganz bestimmten Situationen und dass letzten Endes die Patientinnen die Leid- angewandt worden sind, einen verletzenden Sinn tragenden dieser unhaltbaren Zustände sind.“52 nicht enthalten und dass sie uns als Fachleuten ei- Dieser Notruf Baumgärtels zeigte Wirkung: Nur nen so schwerwiegenden Schritt schwer verständ- knapp zwei Wochen später schaltete sich Minister lich erscheinen lassen.“ Es werde daher gebeten, Hundhammer persönlich ein und kündigte eine Rech so lange in der kommissarischen Leitung zu Prüfung der gegen Rech erhobenen Vorwürfe „im belassen, bis eine endgültige Berufung „aufgrund einzelnen“ an. Insbesondere werde untersucht der von der Fakultät eingereichten Liste erfolgt werden, inwieweit die Assistenten in unberechtig- ist.“56 ter Weise Vorwürfe erhoben hätten und deshalb Auch diesem Vorstoß war kein Erfolg beschie- zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Weiter den. Am 2. November 1949 schrieb das Kultusmi- schrieb Hundhammer: „Unabhängig davon steht nisterium zurück, der Minister habe „nach noch- fest, dass Professor Rech verletzende Äußerungen maliger Überprüfung“ abgelehnt: Es müsse mit der [die zitierten, W.F.] gegenüber Patientinnen zuge- Entscheidung „sein Bewenden“ haben.57 geben hat. Diese Tatsache beweist, dass Professor Aber schon am nächsten Tag sah sich Hundham- Rech für eine Professur für Frauenheilkunde nicht mer wieder mit Rech konfrontiert: Er stand an ers- geeignet erscheint.“53 ter Stelle der Berufungsliste, die von der Fakultät Der Minister verfügte gleichzeitig die Aufhe- nun endlich präsentiert und vom Rektor an das bung der kommissarischen Vertretung der Profes- Kultusministerium weitergeleitet worden war.58 sur in Erlangen durch Rech zum 1. November 1949. Hinzu kam eine sehr ausführliche, positive Würdi- Ferner mahnte er den schon Anfang Februar ange- gung seiner Person. Darin hieß es unter anderem, forderten und danach von der Fakultät immer wie- Rech habe sich als ausgezeichneter Operateur und der verzögerten neuen Berufungsvorschlag an: vorzüglicher Diagnostiker bewährt. Sein Interesse „Der beschleunigten Vorlage […] wird entgegenge- gelte „gleichmäßig geburtshilflichen, gynäkologi- sehen. Sollte bis Semesterbeginn keine Berufung schen und strahlentherapeutischen Fragen“.Die zustande kommen, muss ein ordentlicher Professor wissenschaftliche Arbeit lasse einen reifen und kri- der Fakultät vertreten.“54 tischen Forscher erkennen. Während seiner 3 ½ Diese Entwicklung war nun offensichtlich nicht Jahre als kommissarischer Leiter der Frauenklinik nach dem Geschmack des neuen Dekans der Medi- habe er sich auch den organisatorischen Aufgaben zinischen Fakultät: Karl Matthes (1905–1962), erst der Klinikleitung in jeder Weise gewachsen ge- seit 1946 in Erlangen, ließ sich Anfang September zeigt. Und schließlich: „Wenn die Fakultät Herrn einen Termin bei Hundhammer geben. Über das Kollegen Rech an erster Stelle ihrer Liste benennt, Gespräch der beiden ist nichts dokumentiert. Die so ist dies auch das Ergebnis der Meinungsbildung weitere Entwicklung zeigt aber, dass es offensicht- […] über den Konflikt, der in letzter Zeit zwischen lich um die Wertigkeit der Äußerungen von Rech einigen Assistenten der Frauenklinik und Herrn gegenüber den Patientinnen ging. Kurze Zeit später Professor Rech entstanden ist. Eine wesentliche Ur- fragte ein Ministerialdirektor Hundhammers bei sache […] war die Unsicherheit, die durch die lang- Karl Burger (1893–1962) in der Würzburger Frau- enklinik an, ob es sich bei den inkriminierten For- 55 Ebd., Ministerialdirektor Mayer an Burger (ohne Da- mulierungen – wie von Rech „nahe stehender Sei- tum). “ –„ “ te behauptet teils um Fachausdrücke , teils um 56 Ebd., Matthes an Kultusministerium (20. 10. 1949). Ausdrücke handle, „die im Jargon der Frauenärzte 57 Ebd., Kultusministerium an Rektorat der Universität üblich sind“.55 Auch von der Antwort Burgers findet Erlangen (2.11. 1949). 58 Ebd., Baumgärtel an das Kultusministerium (3.11. 1949). Das Schreiben enthält den Vorschlag 52 Ebd., Baumgärtel an Kultusministerium (11. 8.1949). der Fakultät mit der zitierten Würdigung Rechs, das 53 Ebd., Hundhammer an Baumgärtel (23.8. 1949). folgende Sondervotum und den abschließend zitier- 54 Ebd. ten Hinweis des Rektors.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 160 Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 jährige kommissarische Leitung der Klinik entstan- Sie, möglichst bald beim Herrn Minister vorzuspre- den ist.“ Es folgte der Hinweis, dass Rech nach chen.“ Schon fünf Tage später konnte Hundham- Hauptkammerbescheid vom 26. August 1949 hin- mer dann folgende Notiz zu den Akten geben: „Pro- sichtlich der NS‑Zeit entlastet sei. fessor Dyroff hat heute bei mir vorgesprochen. Er Allerdings war dieser Liste ein Sondervotum hat sich bereiterklärt, auch unter den derzeit ver- beigefügt. Dieses Sondervotum, das von sechs Pro- worrenen Verhältnissen die Professur in Erlangen fessoren unterzeichnet wurde, nennt an erster Stel- anzunehmen, falls sie ihm angeboten wird. Meiner le neben Rech den langjährigen Assistenten von früheren Weisung entsprechend bitte ich daher Menge in Heidelberg, Friedrich Schultze-Rhonhof umgehend, das Berufungsschreiben an Professor (1892–1951), der von 1934 bis 1945 Leiter der Uni- Dyroff ergehen zu lassen.“61 versitätsfrauenklinik Breslau war. Im Fakultätsvor- schlag befand sich Schultze-Rhonhof an zweiter Stelle. Begründet wurde seine Aufwertung mit der Brief an den „lieben Fritz“ „Gesamtqualifikation“. Und an dritter Stelle des Sondervotums tauchte nun neben dem auch im Fa- Dieser Entscheidung des Ministers, die ohne noch- kultätsvotum an dieser Position vorgesehenen Kurt malige Konsultation der Fakultät in rascher Folge Nordmeyer (geb. 1907), einem langjährigen Ober- zu Berufungsverhandlungen mit Dyroff, dessen arzt von Martius in Göttingen, erstmals Rudolf Dy- frühzeitiger Amtsübernahme in der Frauenklinik roff auf. Ausschlaggebend für die Wahl des Letzte- (1.4. 1950) und zu seiner offiziellen Ernennung ren seien die ausgezeichnete Schule von Seitz und zum Ordinarius zum 1. Mai 1950 führte, waren leb- Wintz sowie die sehr gute Ausbildung auf allen Ge- hafte Aktivitäten hinter den Kulissen vorausgegan- bieten der Frauenheilkunde, Geburtshilfe und gen. Es hatte damit begonnen, dass Dyroff nur we- Röntgenologie. In Vertretung von Wintz habe er nige Wochen nach Einstellung des Verfahrens we- häufig Gelegenheit gehabt, die Frauenklinik selb- gen der Abtreibungen bei Hundhammer in ständig zu leiten und sich dabei voll zu bewähren. München um einen Gesprächstermin nachsucht Dyroff, der eine große Zahl wissenschaftlicher Ar- und diesen auch bekommen hatte. In dem Ge- beiten verfasst habe, gelte als tüchtiger und gewis- spräch hatte der Minister Dyroff offensichtlich ge- senhafter Operateur sowie als guter akademischer raten, die Gerichtsentscheidung durch eine „Erklä- Lehrer. Wegen seiner ärztlichen und menschlichen rung in eigener Sache“ zu ergänzen, um so seine Eigenschaften sei er „weit über Erlangen hinaus be- Ausgangsbasis für ein Gesuch auf Wiedererteilung kannt und beliebt“. Ein Hinweis auf seine Einstu- der Venia legendi zu verbessern. In einem Brief Dy- fung durch die Spruchkammer fehlt.59 roffs an den Kultusminister vom 4. Februar 1949 Dem Dreiervorschlag und dem Sondervotum heißt es jedenfalls: „Entsprechend Ihrer Weisung beigefügt ist außerdem der Hinweis des Rektors gelegentlich der mir gewährten Vorsprache gestat- Friedrich Baumgärtel, dass sich der engere Senat in te ich mir, Ihnen anbei zu Ihren Akten eine beglau- seiner Sitzung vom 2. November 1949 nicht habe bigte Abschrift des Gerichtsbeschlusses […]inder entschließen können, dem Vorschlag der Medizini- Ostarbeitersache zu überreichen. Dieser Abschrift schen Fakultät beizutreten. Nach längerer Beratung füge ich, wie von Ihnen angeregt, eine ergänzende sei bei vier Stimmenthaltungen (darunter die drei Erklärung […] bei.“62 Vertreter der Medizinischen Fakultät) folgender In dieser Erklärung bestreitet Dyroff die Fest- Beschluss ergangen: „Der Senat der Universität Er- stellung des Gerichts, wonach die Angeschuldigten langen hat ernste Bedenken dagegen, dass Profes- die Tatsache der Schwangerschaftsunterbrechun- sor Rech unter den besonderen Umständen, wie gen „nicht in Abrede gestellt“ hätten. Diese Fest- sie durch die monatelange Krise sich herausgebil- stellung sei für seine Person unzutreffend und nur det haben, als Vorstand der Universitäts-Frauenkli- darauf zurückzuführen, dass es wegen der Einstel- nik in Erlangen berufen wird.“60 lung des Verfahrens „nicht zur Abwägung der Ein- Unter dem Datum des 8. Februar 1950 findet zelverantwortlichkeiten gekommen ist und mir so- sich dann in der Lehrstuhlakte ein Brief des Kultus- mit auch nicht die Möglichkeit gegeben war, auf ministeriums an Dyroff: „In unmittelbarem Auftrag Grund der Krankenakten zu beweisen, dass ich des Herrn Staatsministers“, heißt es da, „bitte ich 61 Ebd., Aktennotiz Hundhammer (13. 2. 1950); Was mit der „früheren Weisung“ gemeint ist, bleibt unklar. 59 Ebd. 62 BayerHStaatsA M MK 43537, PA Dyroff, Brief an 60 Ebd. Hundhammer (4. 2.1949).

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[…] lediglich als Oberarzt der Klinik verantwortlich nensache“ in die er, „wie mir auch der Vorsitzende mit hineingezogen worden bin.“ Er habe, so Dyroff, der seinerzeitigen Untersuchungskommission, im Übrigen bei seinen Vernehmungen immer wie- Herr Prof. Leibbrand bestätigte, zu unrecht [sic] hi- der betont, „dass ich meines Wissens selbst keine neingezogen“ worden sei, ohnehin schon zweiein- dieser Schwangerschaftsunterbrechungen durch- halb Jahre verloren. „[Ich, W. F.] wäre Dir daher geführt habe, sondern nur bei 2 Fällen zur Scha- dankbar, wenn Du an maßgeblicher Stelle feststel- denverhütung dabei stand.“63 len könntest, was ich etwa von mir aus zur Be- Ferner unterstreicht Dyroff in der Erklärung die schleunigung meiner Rehabilitierung tun kann“, Alleinverantwortung seines zu diesem Zeitpunkt schließt der Brief.66 schon seit fast zwei Jahren verstorbenen Chefs Her- Die Begründung der Fakultät dafür, vor der Be- mann Wintz. Dieser habe die Durchführung der handlung des Dyroffschen Gesuches erst auf die Abbrüche ohne seine Kenntnis übernommen und Wiederbesetzung der vakanten Lehrstühle zu die mit den Eingriffen befassten Assistenten direkt drängen, beleuchtet einen interessanten Aspekt beauftragt. Ein Eingriffsrecht habe ihm nicht zuge- der Personalpolitik im Zusammenhang mit der standen. Da sein Verhältnis zu Wintz damals ge- Entnazifizierung. Offenbar wurden im Laufe der spannt gewesen sei, sei ihm auch ein „irgendwie durch die normative Kraft des Faktischen und die anders gearteter Einfluss auf diese Dinge“ nicht politische Großwetterlage zunehmend aufge- möglich gewesen.64 weichten Einstellungskriterien Prozentsätze fest- Wenige Tage später hatte Dyroff dann wieder gelegt, zu denen in bestimmten Bereichen Mitläu- den offiziellen Weg beschritten und am 10. Februar fer beschäftigt werden durften. Im Fall von Dyroff, 1949 bei der Fakultät ein Gesuch auf Wiederertei- der ja auch als Mitläufer eingestuft war, fürchtete lung der Venia legendi eingereicht. Als ein Be- man nun, bei seiner Wiedererteilung der Venia le- schluss darüber auf der folgenden Fakultätssitzung gendi womöglich einen Grenzwert zu erreichen, Anfang März verschoben wurde, weil Rech als der dann die Berufung eines ebenfalls als Mitläufer Fachvertreter nicht anwesend war, bemühte Dyroff eingestuften Kandidaten auf das Ordinariat zum wiederum seine Beziehungen. Diesmal wandte er Scheitern bringen könnte. Wie sich später zeigte, sich an seinen oben bereits erwähnten einflussrei- war dies allerdings unbegründet. chen Schwager Fritz Schäffer, der wenige Monate In den „kurzen Zeilen“, die Schäffer in der Causa später zum Bundesfinanzminister ernannt werden Dyroff von Rheinfelder erbeten hatte und die ihm sollte. Der entsprechende Brief Dyroffs findet sich wenige Tage später zugingen,67 wies der Hoch- bei seinem Personalakt in München, denn Schäffer schulreferent Hundhammers mit knappen Worten leitete ihn an den Hochschulreferenten Rheinfelder auf das erforderliche offizielle Prozedere hin, mit weiter mit dem Hinweis: „Ich wäre Ihnen dankbar, dem Dyroff dann im Sommer 1949 erfolgreich wenn ich einige kurze Zeilen erhalten könnte.“65 wurde. Nach einem positiven Fakultätsbeschluss In dem Brief an den „lieben Fritz“ beklagte Dy- beantragte Rektor Baumgärtel mit einem Schreiben roff zunächst die Verschiebung der Fakultätsent- vom 27. Juli 1949 beim Kultusministerium die Wie- scheidung über sein Gesuch, die auch damit be- derverleihung der Venia legendi an Dyroff. Gleich- gründet worden sei, dass zuerst beim Kultusminis- zeitig lieferte er die Unbedenklichkeitserklärung terium auf die Besetzung der noch vakanten mit, die der frühere Rektor Brenner noch verwei- Lehrstühle gedrängt werden solle – darunter auch gert hatte, – in Übereinstimmung mit dem Concili- der für Geburtshilfe und Gynäkologie. Damit könne um decanale, wie Baumgärtel betonte. Ferner teilte seine Angelegenheit „ad calendas Graecas“ vertagt er mit, dass der Anteil der politisch Belasteten in werden, meinte Dyroff. Durch diese Situation der Frauenklinik unter Berücksichtigung von Dy- fürchte er „neuerlich unabsehbar ins Hintertreffen roff nun bei rund 20% der Gesamtbeschäftigten lie- zu geraten“.Erhabeja„durch die Ostarbeiterin- ge. Beigelegt war dem Antrag eine Erklärung Dy- 63 Ebd., Erklärung Dyroffs zum „Urteilsspruch“ des roffs zum Gerichtsbeschluss zu den Abtreibungen, Landgerichts Nürnberg-Fürth in der „Ostarbeiterin- die kürzer gefasst war als die Hundhammer im Feb- nensache“. ruar zugesandte. Sie wich auch in den Formulierun- 64 Ebd. gen davon ab. Dyroff stellte darin unter anderem 65 Ebd., Schäffer an Rheinfelder (15. 3. 1949). Rheinfel- der antwortete Schäffer am 7.4.1949 sehr sachlich mit einer Darstellung des offiziellen Prozedere; auch 66 Ebd., Dyroff an Schäffer (12. 3.1949). dieser Brief findet sich in der Personalakte. 67 Ebd., Rheinfelder an Schäffer (7. 4.1949).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 162 Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 fest: „Eine Beteiligung an diesen Schwangerschafts- zum Privatdozenten sowie außerplanmäßigen Pro- unterbrechungen hätte meiner inneren Einstellung fessor.71 Damit stand auch seiner späteren Beru- widersprochen […]. Tatsächlich bin ich in das Ver- fung zum ordentlichen Professor formal nichts im fahren auch nur deshalb hineingezogen worden, Wege. Die Militärregierung bzw. der Hohe Kom- weil ich in 2 Fällen, die ein jüngerer Kollege vom missar wurden nicht mehr befragt. Chef, Prof. Wintz, durchzuführen unmittelbar be- auftragt wurde, zur Schadenverhütung anwesend war.“68 Am Ende stand ein Skandal Wenige Tage nach Eingang des Antrages beim Kultusministerium fand der dortige Staatsrat Hans Die handstreichartige Entlassung Rechs und die Be- Meinzolt (1887–1967) einen Brief Dyroffs vor, in rufung Dyroffs auf den Lehrstuhl, die dann gegen dem um möglichst baldige Erledigung gebeten das Votum der Fakultät erfolgte, schlug allerdings wurde. Gleichzeitig bat Dyroff um „Wiedereinrei- hohe Wellen und sollte das Kultusministerium hung als außerplanmäßiger Professor“. Dies, so noch einige Zeit beschäftigen. Daran änderte schreibt er, „wäre […] ein gewisser Ausgleich für nichts, dass Rech trotz seiner vom obersten Dienst- die bisherige Benachteiligung, die ich durch das herrn bescheinigten mangelnden Eignung nach sei- Hinschleppen in der Ostarbeitersache erlitten habe. ner Rückkehr aus Erlangen ungeachtet formaler Was letztgenannte Angelegenheit anlangt, möchte Schwierigkeiten (seine Stelle war besetzt) am ich nochmals darauf hinweisen, dass diese nicht 1. April 1950 – dem Tag des Amtsantritts von Dy- nur durch Einstellung des Verfahrens niederge- roff in Erlangen – wieder zum Oberarzt und außer- schlagen ist, sondern dass, was meine Person be- planmäßigen Professor in der I. Münchner Univer- trifft, anerkannt wurde, dass ich selbst in diese An- sitätsfrauenklinik ernannt wurde.72 gelegenheit zu Unrecht hineingezogen wurde und Zunächst musste sich Kultusminister Hundham- selbst keine Unterbrechungen durchgeführt ha- mer mit einem an ihn persönlich gerichteten Be- be.“69 schwerdebrief der Fakultät über die Umstände der Am 1. November 1949 wandte sich dann noch- Berufung von Dyroff auseinandersetzen. Darin mals Fritz Schäffer wegen Dyroff an Rheinfelder. hieß es, wenn die Fakultät bestimmte Persönlich- Offenbar in Kenntnis der Dreierliste mit Rech an keiten nicht auf ihre Liste nehme, so habe sie dafür erster Stelle, die von der Erlanger Fakultät kurz zu- ihre Gründe. Das Vorgehen des Ministers habe „Be- vor beschlossen worden war, brachte er seinen fremden und Unruhe“ ausgelöst.73 Dann mahnte Schwager nun sozusagen hilfsweise als Nachfolger Rech an, dass eine vom Ministerium angekündigte des Leiters der II. UFK München ins Gespräch. Dy- gründliche Untersuchung der Assistenten-Be- roff komme insbesondere dann in Betracht, „wenn schwerde ausstand. Der Kultusminister hatte sich Prof. Dr. Rech auf der Erlanger Professur weiter be- ja in der Begründung der Entlassung Rechs nur auf stätigt werden sollte“, schrieb Schäffer, nunmehr die inkriminierten Äußerungen gegenüber Patien- mit dem Briefkopf des Bundesfinanzministers. Dy- tinnen bezogen. Schließlich reichte Rech vor dem roff genieße in Fachkreisen gleicherweise als Hoch- bayerischen Verwaltungsgerichtshof Anfechtungs- schullehrer, Wissenschaftler und Arzt allgemein klage gegen seine Entlassung in Erlangen ein.74 anerkannten Ruf. Hinzu komme, dass Dyroff gebo- Die geschilderten Vorgänge um die Entlassung rener Bayer sei „und ihm deshalb vor nichtbayeri- Rechs und die Wiederbesetzung des Erlanger Lehr- schen Bewerbern für die zu vergebende Stelle der stuhls wurden spätestens im Juni 1950 öffentlich, Vorrang gebührt.“70 als das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spie- Am 19. Dezember 1949, knapp ein Jahr nach gel“ in einer längeren Reportage darüber berichte- Einstellung des Verfahrens wegen der Zwangsab- 71 treibungen an den Ostarbeiterinnen und vier Jahre Ebd., Kultusministerium an die Universität Erlangen (19. 12. 1949). nach seiner Entlassung durch die Militärbehörden 72 UnivA Er A2/1 Nr. R 63 PA Rech; Schreiben Hundham- im Rahmen der Entnazifizierung, ernannte das Kul- mer an Rektorat (20. 3.1950). Darin wurde auch ver- tusministerium – dem Vorschlag von Fakultät und fügt, dass Rech seine Bezüge als kommissarischem Concilium decanale folgend – Rudolf Dyroff wieder Leiter der FK bis zum 1.4. 1950 nachbezahlt werden sollten. 73 UnivA Er C3/5a Nr. 63, Akte Berufungen, Brief des De- 68 Ebd., Erklärung Dyroffs (10. 2.1949). kans an Hundhammer vom 31.7. 1950. 69 Ebd., Dyroff an Staatsrat Meinzolt (1. 8.1949). 74 UnivA Er A 2/10 Nr. 5, Ehrenangelegenheit Rech 70 Ebd., Schäffer an Rheinfelder (1. 11. 1949). 1949–1951.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 163 te. Darin stellte das Blatt Rech als Opfer einer Intri- Anfang Oktober schließlich meldete sich Schäf- ge dar, die letztlich zur Rehabilitierung und Beru- fer noch einmal mit einem Leserbrief im „Spiegel“ fung des Lokalmatadors Dyroff führen sollte. Der zu Wort. Darin präsentiert er einen Auszug aus der „Spiegel“ erwies sich in dem Beitrag als gut infor- Rede Hundhammers vor dem Landtag, in dem auf miert, denn er konnte – wenn auch nicht ganz kor- die näheren Umstände der Berufung von Dyroff rekt – unter anderem aus den in den Akten abge- eingegangen wird. Hundhammer erklärt danach, legten Briefen von Schäffer und Dyroff zitieren.75 bei der Prüfung der Neubesetzungsfrage habe er Von daher war es nicht schwer, den Bundesfinanz- insbesondere „Herrn Strathmann, der als Erlanger minister indirekt des Nepotismus zu zeihen und Professor die Verhältnisse an Ort und Stelle kennt, auf dessen Verbundenheit mit „Parteifreund Hund- zur Beratung herangezogen“,mit„dem einen oder hammer“ hinzuweisen. Die NS‑Belastung Dyroffs, anderen Erlanger, so auch mit dem Rektor der Uni- der als „Assistent des Engelmachers bei den Ostar- versität, die Dinge besprochen“ und sich dann ent- beiterinnen“ apostrophiert wurde, kam dabei eher schlossen, Dyroff mit der Leitung der Klinik zu be- am Rande zur Sprache, ebenso die Tatsache, dass trauen.82 Fast gleichzeitig kam der Fall Dyroff bei seiner Berufung kein normales Verfahren voraus- den Haushaltsberatungen im Landtag noch einmal gegangen war.76 zur Sprache. Hier verlas Hundhammer eine Erklä- Der Artikel erregte großes Aufsehen und führte rung des neuen Erlanger Ordinarius, wonach dieser schließlich zu einer Anfrage im Bayerischen Land- „weder aktiv noch sonstwie“ an den Abtreibungen tag. Unter der Überschrift „Schwere Vorwürfe Dr. beteiligt gewesen sei. Der Minister betonte, man Hundhammers gegen Professor Rech“ berichteten könne nicht aufgrund von Zeitschriftenartikeln sol- die Erlanger Nachrichten Anfang September über che Beschuldigungen erheben. Ein Sprecher der Be- die entsprechende Sitzung, in der der Minister per- hörde ergänzte, es sei Dyroff geraten worden, nicht sönlich auftrat und die – nie abschließend unter- rechtlich gegen die Veröffentlichungen vorzuge- suchten – Vorwürfe der meuternden Erlanger As- hen, da die Zeitungen nur auf neues Material für sistenten wiederholte. Gleichzeitig betonte er, die ihre „Skandalfälle“ warteten.83 Berufung von Dyroff sei aus rein sachlichen Ge- Der spätere Umgang mit der Vergangenheit Dy- sichtspunkten erfolgt und stehe mit der Tatsache, roffs zeigt sich an den Artikeln, die zum 65. und dass er mit dem Bundesfinanzminister verschwä- zum 70. Geburtstag des Frauenarztes in Erlanger gert sei, in keinerlei Zusammenhang.77 Schon am Zeitungen veröffentlicht wurden. In einem Beitrag folgenden Tag war die Erwiderung von Rech zu le- vom 14. April 1958 heißt es, 1946 habe „man“ Dy- sen, in der er sich als „Opfer einer groß angelegten roff gezwungen, seine klinische Tätigkeit zu unter- Intrige“ bezeichnete. Rech trat dabei bereits in Be- brechen. Dann wird der Jubilar wie folgt zitiert: gleitung des Anwalts auf, der ihn in dem folgenden „Die vier Jahre bis 1950 waren für mich keine ver- Verwaltungsgerichtsverfahren vertrat.78 Die Affäre lorene Zeit. Ich halte es für wichtig, dass Universi- wurde dann auch noch Thema einer ausführlichen tätslehrer auch einmal in der Praxis tätig waren.“84 Bildreportage in der Illustrierten „Der Stern“ mit Fünf Jahre später hieß es nur noch: „Unmittelbar dem Titel „Soweit sollten Sie Hundhammer ken- nach dem Ende des zweiten Weltkriegs war er als nen! Klinischer Kuhhandel in Erlangen“.79 In dem Facharzt […] in Erlangen tätig; seine damalige pri- Beitrag hieß es, „[…] der Bayerische Verwaltungs- vate Geburtsstation war eine Insel der Stille und gerichtshof wird entscheiden müssen, ob Recht Ruhe für die jungen Mütter und ihre Kinder in be- Recht bleiben soll, oder ob auch jetzt wieder partei- wegter Zeit.“85 politische Querverbindungen vor Recht gehen.“80 Rech hat seine Anfechtungsklage gegen die von Die Illustrierte war in Erlangen, wie die Lokalzei- Hundhammer ausgesprochene Amtsenthebung tung notierte, kurze Zeit nach ihrem Erscheinen komplett ausverkauft.81 81 EN vom 14. 9.1950, S. 6. 82 Spiegel vom 4.10. 1950, S. 42. Der Theologe Hermann 75 Der Spiegel vom 20. Juli 1950, S. 6–8. Die Aussagen Strathmann saß 1946–1950 für die CSU im Bayeri- des Briefes von Dyroff, den Schäffer nur weiterleitete, schen Landtag und setzte sich dort für den Abschluss werden Schäffer in den Mund gelegt. Vgl. Anm. 776. der Entnazifizierung ein. Rektor Baumgärtel war 76 Ebd. ebenfalls Theologe. Vgl. Wendehorst: Geschichte 77 EN vom 8. September 1950, S. 7. (1993), S. 237. 78 EN vom 9. September 1950, S. 10. 83 EN vom 7.10. 1950. 79 Stern 1950, Nr. 37 vom 10. September, S. 6–7, 21. 84 EN vom 14. 4.1958; S. 8. 80 Ebd., S. 6. 85 EN vom 13. 4.1963, S. 7.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 164 Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 vor dem Verwaltungsgerichtshof Ende 1950 zu- Mitarbeiterinnen zeigten nicht nur Ausmaß, Um- rückgezogen. In einem am 6. Dezember 1950 ge- stände und Folgen dieser Eingriffe auf, sondern ini- fassten Beschluss bürdete das Gericht Rech die Kos- tiierten zusätzlich eine viel beachtete „späte Ent- ten des Verfahrens auf.86 Schon im Mai des Jahres, schuldigung“ bei den Opfern und verhalfen noch kurz nach dem Amtsantritt Dyroffs, waren vier der Lebenden zu finanzieller Entschädigung.89 Dass an der Aktion gegen Rech beteiligten Assistenten, mit diesen Bemühungen Flecken auf dem glanzvol- die noch in der Frauenklinik tätig waren, vom Rek- len Bild der Klinik sichtbar und Fragen nach der tor wegen „Nichteinhaltung des Dienstwegs“ mit Verantwortung Eymers aufgeworfen wurden, rief einem Verweis belegt worden.87 Rech blieb bis zu Verteidiger auf den Plan: Einer von ihnen, Erich seinem 65. Lebensjahr an der I. Universitätsfrauen- Kuß, bemühte sich in akribischen Untersuchungen, klinik München tätig. Nach seiner Pensionierung den „Klinikdirektor in politischer Bedrängnis“ zu betreute er in privater Praxis noch jahrelang seine exkulpieren.90 Pavla Albrecht schließlich beschrieb früheren Patientinnen.88 Eymer kürzlich als Karrieristen „zwischen Ehrgeiz, Eugenik und Nationalsozialismus“, dessen Biogra- fie „fast symbolisch die Laufbahn der gesamten Medizin in dieser Zeit und den jahrzehntelang un- Eymer und die I. Frauenklinik reflektierten Umgang der Gesellschaft mit der un- an der Maistraße rühmlichen Vergangenheit ihrer Eliten widerspie- gelt.“91 Auch in der I. Universitätsfrauenklinik an der Die für die nähere Betrachtung der Ereignisse Münchner Maistraße kam es in den ersten Nach- heute zur Verfügung stehenden Quellen sind be- kriegsjahren zu erheblichen Turbulenzen, die über schränkt und zu einem großen Teil nicht unproble- die Klinikmauern hinaus eine breitere Öffentlich- matisch.92 Relativ wenige Schwierigkeiten ergeben keit beschäftigten. Im Gegensatz zu Erlangen voll- sich mit der Bewertung der Fakten, die durch die zog sich die endgültige Wiederbesetzung des Lehr- Untersuchung der Zwangssterilisationen und der stuhls mit dem früheren Amtsinhaber Heinrich Ey- eugenischen Abtreibungen vorliegen. Diffiziler er- mer (1883–1965; Abbildung 9.4) jedoch rascher. scheint schon, den tatsächlichen Einfluss Eymers Zwischen Fakultät, Universitätsspitze und dem Kul- auf die eugenische Gesetzgebung der Nationalso- tusministerium bestand dabei nach dem ebenso zialisten festzustellen. Vor einem weitgehend un- mühsamen wie vergeblichen Versuch einer Neube- lösbaren Problem sieht man sich schließlich bei rufung letztlich Einverständnis bei der Herstellung dem Versuch, der Person Eymers durch die Bewer- der alten Verhältnisse. Daran änderte auch die zwi- tung des Spruchkammerverfahrens und der die- schenzeitlich ausgetragene, äußerst kontroverse sem Verfahren zugrunde liegenden Akten gerecht Debatte um die Person des Klinikchefs nichts, die zu werden: Selbst eine so intensive Bearbeitung vor allem von aus dem Osten geflüchteten, zum der von mancherlei Merkwürdigkeiten begleiteten Teil im NS als Juden verfolgten Ärzten befeuert Abläufe, wie sie von Kuß vorgenommen wurde, wurde. Im Mittelpunkt stand die Rolle Eymers im führt am Ende zu einer Einschätzung, die letztlich „Dritten Reich“, aber auch sein Verhalten in der un- offensichtlich durch subjektive Kriterien entschei- mittelbaren Nachkriegszeit. dend geprägt sein muss. Diese Rolle Eymers hat in der jüngeren Vergan- Unter diesen Vorbehalten sind die nun folgen- genheit mehrere Untersucher beschäftigt. Zu- den Bemühungen zu sehen, die mit den Auseinan- nächst thematisierte eine Arbeitsgruppe um Man- dersetzungen um Eymer verknüpfte Wiederbeset- fred Stauber Anfang der 1990er Jahre erstmals die zung des Ordinariates an der I. Universitätsfrauen- Zwangssterilisationen und eugenischen Abtreibun- klinik München zu skizzieren. Sie müssen sich in gen, die unter der Ägide Eymers im Dritten Reich wesentlichen Teilen auf die im Kern oft wider- auch in der I. Münchner Universitätsfrauenklinik sprüchlichen Aussagen im Spruchkammerverfah- durchgeführt worden waren. Stauber und seine 89 Siehe hierzu den Beitrag Ehrenmitglieder in diesem 86 UnivA Er A2/10 Nr. 5, Ehrenangelegenheit Rech Band. 1949–1951, Kultusministerium an Rektorate der Uni- 90 Kuß: Klinikdirektor (1999) und Kuß: Eymer (2011). versitäten von München und Erlangen (18. 12. 1950). 91 Albrecht: Eymer (2010), S. 298. 87 Ebd., Schreiben vom 12. Mai 1950 an Siegert, Rupp, 92 Darauf weist auch Albrecht ausdrücklich hin und re- Bleier und Johannes Thomas. lativiert damit den Tenor ihres Beitrages nicht uner- 88 Zander; Ries: Rech (1976), S. 479. heblich. Albrecht: Eymer (2010), S. 309.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 165 ren stützen, für das Eymer ein in über zehn Jahren entstandenes Netzwerk nutzen konnte, das in den einflussreichsten Persönlichkeiten der Gesellschaft verankert war. Seine Gegner hatten da – unabhän- gig davon, wie berechtigt oder unberechtigt ihre Vorwürfe waren – eine Ausgangsposition, die von Anfang an nicht gut war und sich mit dem abneh- menden Interesse der Amerikaner an der Entnazifi- zierung und dem wachsenden Widerstand dagegen in der Bevölkerung zunehmend verschlechterte.93 Der 63-jährige Heinrich Eymer war, wie alle hö- heren Funktionsträger mit NS‑Parteibuch, nach Kriegsende schon der ersten Entnazifizierungswel- le zum Opfer gefallen: Die amerikanische Militärre- gierung hatte am 15. November 1945 seine Dienst- enthebung verfügt.94 Als unmittelbare Reaktion da- rauf bemühte sich der „vorbereitende Ausschuss zur Wiedereröffnung der Universität München“ of- fenbar um den ehemaligen Berliner Ordinarius Georg August Wagner (1873–1947), der bis 1945 die Frauenklinik der Charité geleitet hatte. Der da- Abb. 9.4 Heinrich Eymer (1883–1965). mals bereits 73-jährige Mediziner war wohl aus persönlichen Gründen an einer kommissarischen Tätigkeit in München interessiert und hatte sich – Sympathisantenkreis sowie den Neuankömmlin- vermutlich auf Wunsch des ersten Nachkriegsrek- gen und deren Unterstützern. Erstere waren um tors Albert Rehm (1871–1949) – zusammen mit Besitzstandswahrung bemüht, Letztere leiteten seinem früheren Assistenten Walther Koerting aus der Verfolgung während der NS‑Zeit bzw. den (1887–1971) Ende 1945/Anfang 1946 bereits in Auswirkungen des von den Nazis angezettelten der Maistraße einquartiert, um die Klinikleitung Krieges ihre Ansprüche ab. Die Spuren dieser Aus- zu übernehmen. Dort waren angesichts der kata- einandersetzung finden sich in Form zahlreicher, strophalen Wohnungsnot in der zu einem hohen häufig eidesstattlicher Erklärungen vor allem in Prozentsatz zerstörten Münchner Innenstadt95 ne- den Akten des Spruchkammerverfahrens, das zu- ben Eymer in der weitläufigen Direktorenwohnung nächst zu einer Einstufung Eymers als „minderbe- an anderer Stelle auch Klinikärzte wie etwa Rech lastet“ führte; in der Berufung konnte er dann eine mit Familie und Kinderfrau sowie die erwähnten Herabstufung zum „Mitläufer“ erreichen, die seine jüdischen Ärzte untergebracht, die aus dem Osten Wiedereinstellung in den Hochschuldienst formal nach München gekommen waren und dort Unter- möglich machte. Die „Entlastung“ wurde ihm aller- stützung suchten.96 dings explizit verweigert.97 Aus dieser Situation heraus entwickelte sich – Bei der Auseinandersetzung um Eymer spielten ähnlich wie in Erlangen – eine mit harten Banda- schon die Umstände seiner Berufung nach Mün- gen geführte Auseinandersetzung zwischen den in chen im Jahr 1934 eine Rolle. Bereits im ersten der Maistraße etablierten Medizinern und deren Spruchkammerverfahren wurde zu seiner Belas- tung angeführt, er sei mit Hilfe der Nationalsozia- 93 Siehe hierzu Vollnhals: Entnazifizierung (1991), Das listen aus Heidelberg auf den Münchner Lehrstuhl gescheiterte Experiment, S. 7–24. gelangt und damit ein Profiteur des Regimes.98 Tat- 94 BayerHStaatsA M MK 43 580, PA Eymer, Mitteilung des Kultusministeriums (15. 11. 1945). sächlich hatte die Fakultät für die Wiederbesetzung 95 Vgl. Burianek: München (2005), S. 18. nach der Emeritierung von Albert Döderlein 96 Über die Bemühungen um G.A. Wagner findet sich in (1860–1941) eine Dreierliste aufgestellt, auf der der Lehrstuhlakte des HStA M MK 69 381 nichts. Die sich an erster Stelle Rudolf Theodor Edler von Informationen gehen auf einen Bericht Koertings zu- rück, der sich in der PA von Eymer als Anlage zum Spruchkammerentscheid findet: HStA München MK 97 StaatsA M, SpkA, 382, Heinrich Eymer. 43 580, Abschrift des Spruchkammerentscheides 98 BayerHStaatsA M MK 43537, PA Eymer, Bericht des vom 17. 12. 1947. Kultusministeriums (30. 7.1946).

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Jaschke (1881–1963) und dann in absteigender Rei- Ernannt wurde er zum 1. Mai 1934. Über die Grün- henfolge Heinrich Martius (1885–1965) sowie Ro- de der NSDAP, Eymer in dieser Weise gegen die Fa- bert Schröder (1884–1959) fanden. Die Genannten kultät durchzusetzen, lässt sich nur spekulieren. Al- waren zu diesem Zeitpunkt als Ordinarien in Gieß- brecht meint, sie in einem besonderen wissen- en, Göttingen und Kiel tätig. Von Eymer war zu- schaftlichen und klinischen Engagement für die nächst überhaupt nicht die Rede. Er kam offen- NS‑Eugenik finden zu können.103 Kuß sieht mögli- sichtlich erst auf Intervention der Nationalsozialis- che Gründe in der persönlichen Fürsprache eines ten ins Gespräch, die in der Zeit nach der Parteigängers und früheren Assistenten von Eymer Machtübernahme besonderen politischen Druck sowie in dessen grundsätzlicher Ablehnung von auf die Medizinischen Fakultäten ausübten.99 Schwangerschaftsunterbrechungen, die dem Pro- Aus dem Schreiben, mit dem der Dekan der Me- natalismus der Nationalsozialisten entsprach.104 Si- dizinischen Fakultät, Wilhelm Brünings (1876– cher erscheint nur eines: Allein klinisch-wissen- 1958), dem Kultusministerium die Berufungsliste schaftliche Kriterien dürften wohl kaum den Aus- für die Döderlein-Nachfolge übermittelte, geht her- schlag gegeben haben. Mehr lässt sich dazu aber vor, dass die Fakultät auf Wunsch der Regierung zu- auch nicht sagen. sätzlich zu den nominierten Wissenschaftlern Er- Weitere Vorwürfe, die in den Spruchkammer- kundigungen über Eymer einziehen musste. Von verfahren gegen Eymer verwendet wurden, versu- den sechs Gutachtern, die dazu befragt wurden, chen seine nationalsozialistische Gesinnung vor al- habe ihn aber nur sein Lehrer Carl Menge (1864– lem an seinem Verhalten in der unmittelbaren 1945) „den von der Fakultät vorgeschlagenen Her- Nachkriegszeit festzumachen. Im Mittelpunkt stan- ren als gleichwertig erachtet“, schrieb Brünings. den dazu Berichte des erwähnten Walther Koer- „Die Fakultät bittet hiernach, Herrn von Jaschke ting, der sich selbst als „rassenmäßig Jude“ be- […] berufen zu wollen.“100 Diesem Wunsch verlieh zeichnete, sowie der jüdischen Ärzte Josef Heller Brünings knapp zwei Wochen später nochmals (geb. 1894) und Eduard Goldberger. Die Berichte Nachdruck. Die Fakultät sei in Sorge „um die Erhal- beschäftigten sich u. a. mit den Aktivitäten Eymers, tung ihrer bisher führenden Stellung“, hieß es nun. nachdem er bereits zwei Monate nach seiner ersten „Diese Sorge erstreckt sich besonders auch auf die Dienstenthebung „im Interesse der öffentlichen Neubesetzung des gynäkologischen Lehrstuhls, Gesundheit“ vom 16. Januar 1946 an mit einer Son- welcher durch das Lebenswerk und die Persönlich- dererlaubnis wieder als kommissarischer Leiter der keit Döderleins […] zum ersten Deutschlands ge- Frauenklinik tätig werden durfte. Es geht dabei ein- worden ist.“101 mal um die Umstände, unter denen diese vorläufi- Dekan und Fakultät konnten sich aber offen- ge Arbeitsgenehmigung erteilt wurde. Zum ande- sichtlich nicht durchsetzen. Am 29. Januar 1934 ren beschreiben sie die Personalpolitik Eymers aus schrieb Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888– der Sicht der NS‑Opfer. 1939) ebenso knapp wie eindeutig an das Kultus- Koerting, der sich von Georg August Wagner die ministerium: „Die Vorschlagliste der Fakultät war Bestallung als Oberarzt und auch die „alsbaldige uns bekannt, ebenso die in den Schreiben nieder- Habilitierung bzw. Professur“ erhoffte, behauptete, gelegten Beurteilungen. Ich kann dazu nur erklä- der damalige Hochschulreferent des Kultusminis- ren, dass sich selbstverständlich auch die Partei teriums, Reinhard Demoll (1882–1960), habe Wag- ein Urteil über die Bewerber gebildet hat, auf ner am 4. Januar 1946 die Ernennung zum kommis- Grund von Auskünften, die sie allerdings nicht nur sarischen Leiter der Klinik an der Maistraße für die bei Ordinarien, sondern auch anderen ihr geeignet nächsten Tage angekündigt. Im Gegensatz dazu sei bzw. geeigneter erscheinenden Stellen eingeholt Eymer jedoch bereits am nächsten Tag wieder mit hat. Es kommt für den Lehrstuhl von Döderlein le- der Leitung der Klinik betraut worden. Als Grund diglich Professor E y m e r – Heidelberg in Frage. habe man auf einen „ärztlichen Notstand“ verwie- Heil Hitler! Dr. Wagner.“102 sen, der jedoch nicht vorgelegen habe, da sowohl In der Lehrstuhlakte findet sich dann nur noch der Ruf an Eymer, der am 24. Februar 1934 erging. 102 Ebd., Brief der NSDAP, Dr. Wagner, an das Kultusmi- nisterium (29. 1. 1934). Eymers Name ist auch im Ori- 99 Vgl. Babaryka: Institut (2008), S. 104. ginal gesperrt gedruckt. 100 BayerHStaatsA M MK 69 381, Lehrstuhlakte I. UFK 103 Albrecht: Eymer (2010), S. 299–300. Auf die Proble- München. matik dieser Aussage weist Kuß hin: Eymer (2011), 101 Ebd., von Brünings an das Kultusministerium S. 29–30. (23. 1.1934). 104 Siehe hierzu Kuß: Klinikdirektor (1999), S. 70–90.

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Wagner als auch er in der Klinik hätten eingesetzt als materieller Profiteur des NS‑Regimes angepran- werden können.105 Koerting beklagte ferner, Eymer gert. Seine Klinik, so der Kommentator, sei in der habe im Verlauf statt politisch und rassisch Verfolg- Nachkriegszeit zum „Sammelpunkt nazistisch-all- ter „Wehrmachtsärzte“ oder im Jahr 1945 notap- deutsch-militaristisch-deutschnationaler-antise- probierte Ärzte angestellt. Er nannte in diesem Zu- mitischer Kreise von ehedem“ geworden.109 Jeden- sammenhang Dr. Heinrich, einen Freund des Soh- falls sah sich der damalige Kultusminister Franz nes von Eymer, sowie Dr. Butz, einen Neffen der Fendt (1892–1982) schon am Folgetag genötigt, Oberhebamme der Klinik. Dagegen habe der er- dem Innenministerium gegenüber eine Stellung- wähnte jüdische Arzt und ehemalige KZ‑Häftling nahme abzugeben. Darin wurden die Vorwürfe al- Heller, ein „ausgezeichnet qualifizierter Facharzt lerdings als gegenstandslos bezeichnet. Die Militär- mit zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten“ kei- regierung habe bisher keinen Anlass gesehen, ge- ne Chance erhalten. Von Heller sei vielmehr kolpor- gen die Klinikleitung Bedenken anzumelden, hieß tiert worden, er sei ein „Spitzel der Militärregie- es. In dem dazugehörigen Begleitschreiben erklärte rung“. Ein anderer Kollege, „politisch unbelastet, Fendt, es wäre im Interesse der I. Universitätsfrau- Mischling II. Grades“, arbeite als unbezahlter Vo- enklinik „sehr wünschenswert, wenn der Ent- lontärassistent, habe bisher keine Assistentenstelle scheid der Spruchkammer bald herbeigeführt wer- erhalten und werde „bei allen klinischen Arbeiten den könnte, da bei der derzeitigen Situation Presse- zurückgesetzt.“106 und Radioangriffe im Kampf um die Stelle des Di- Heller, nach eigenen Angaben aus Klausenburg rektors der I. Univ.-Frauenklinik abwechseln wer- (Siebenbürgen) mit seiner Familie nach Auschwitz den, wie das seit Wochen bereits geübt wird.“110 verschleppt und alleiniger Überlebender, verwies Als Reaktion auf die Kritik an Eymer wandten auf die nach seiner Ansicht unwürdige Unterbrin- sich mehrere Klinikmitarbeiterinnen und ‑mitar- gung in der Klinik und andere Diskriminierungen. beiter in einem Unterstützungsschreiben an die Er und Goldberger, so erklärte er, hätten über sechs Militärregierung, das auch dem Kultusministerium Monate in einem ungeheizten Praktikantenzimmer zuging. Zu den Unterzeichnern gehörten die Ober- mit verschalten Fenstern im Keller der Klinik hau- hebamme Mathilde Butz, eine Assistenzärztin und sen müssen. Gleichzeitig habe Eymer ca. 18 Zim- der langjährige Anstaltsgeistliche Johann Baptist mer bewohnt, und für abwesende Oberärzte seien Hartmann. Mit Hinweis auf die Angriffe gegen Ey- Räume reserviert geblieben. Die jüdischen Ärzte mer „in Rundfunk und Presse“ erklärten sie, sie hätten ihre Mahlzeiten abseits von den anderen hielten sich für verpflichtet, „gegen dieses schänd- Ärzten der Klinik einnehmen müssen. Bitten an Ey- liche Treiben und gegen diese schweren Anschuldi- mer nach einer ärztlichen Betätigung in der Klinik gungen Einspruch zu erheben.“ Die Unterzeichne- hätten sich als vergeblich erwiesen. Informationen, ten wüssten genau, dass Eymer kein Nationalsozia- die er einem Vertreter des CIC (Central Intelligence list gewesen sei, auch wenn er als Mitläufer gelte. Corps, auch: Counter Intelligence Corps) zur Entna- „Es handelt sich hier eindeutig um sehr durchsich- zifizierung von Universitätsangestellten gegeben tige Bestrebungen gewisser Elemente, die sich in- habe, habe man an „interessierte Personen“ weiter- nerhalb der Klinik befinden und deren Absicht es vermittelt.107 sein dürfte, die Stelle von Prof. Eymer einzunehmen Die Situation spitzte sich zu, als die Vorwürfe und die deshalb mit skrupellosen Mitteln auf seine gegen Eymer öffentlich wurden. Eine wichtige Rolle Beseitigung hinarbeiten.“111 spielte dabei offensichtlich eine Sendung, die Radio Die oben zitierten Vorwürfe von Koerting und München am 16. Juni 1946 ausstrahlte und die er- Heller führten zusammen mit dem Bericht des hebliche Wellen schlug: In einem Drei-Minuten- Obersten Ermittlers für die Spruchkammer dazu, Kommentar des bereits im Zusammenhang mit dass Eymer am 27. Juli 1946 – also schon einige Rech erwähnten Herbert Geßner108 wurde Eymer Tage vor dem eigentlichen Verfahren – erneut ent- lassen wurde. Aus einer entsprechenden Mitteilung 105 BayerHStaatsA M MK 43 580, PA Eymer, Anlagen zum des Kultusministeriums geht hervor, dass gleich- Bericht des Obersten Ermittlers für das Spruchkam- zeitig die Ernennung des früheren Oberarztes der merverfahren gegen Eymer; Bericht Dr. Koerting (2.6. 1946). 108 Vgl. Fußnote 11. 106 Ebd. 109 StaatsA M, SpkA, 382, Heinrich Eymer (Abschrift un- 107 Ebd., Anlagen zum Bericht des Obersten Ermittlers ter dem Hinweis „Im Radio“). für das Spruchkammerverfahren gegen Eymer; Be- 110 Ebd., Schreiben Fendts (17. 6.1946). richt Dr. Heller (2.6.1946). 111 Ebd., Schreiben an die Militärregierung (8.7. 1946).

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Klinik, Ernst Ritter von Seuffert (1879–1952), zum erordentliche propagandistische Unterstützung kommissarischen Leiter erfolgte.112 Die erneute der NS‑Gewaltherrschaft) unter die Hauptschuldi- Entlassung Eymers provozierte noch am selben gen fällt, was bei Hochschullehrern prinzipiell zu Tag eine Reaktion seiner Unterstützer: 97 Patien- erwägen wäre.“115 tinnen, die „teils operiert, teils wartend“ in der Kli- Die öffentliche Sitzung der Spruchkammer, in nik lagen, wandten sich in einem Schreiben an die der am 31. Juli und am 2. August 1946 die oben an- Militärregierung: „Sorgen Sie dafür, dass Herr Pro- gesprochenen Punkte erörtert wurden, fand offen- fessor Eymer sofort wieder die Fürsorge für seine bar in einer emotional hoch aufgeladenen Atmo- Kranken übernehmen kann […]“, hieß es darin.113 sphäre statt. Einen Eindruck davon vermittelt ein Für die öffentliche Sitzung der Spruchkammer Bericht der Deutschen Allgemeinen Nachrichten- am 31. 7.1946 hatte der Oberste Ermittler einen agentur (DANA),116 der in den Akten zitiert wird. Bericht über Eymer angefertigt, der sich im Hin- Danach kam es während der Verhandlung „mehr- blick auf das belastende Material – wie ausdrück- mals zu lautstarken Protestkundgebungen anwe- lich betont wird – überwiegend auf die zitierten sender Studenten gegen die Kammer und beson- Aussagen von Koerting und Heller bezog. Darüber ders den öffentlichen Kläger“. 15 Zeugen hätten hinaus wurde auf den Staatskommissar für die Uni- versucht, Eymer zu entlasten, während der Haupt- versität München, Otto Graf (1892–1971), hinge- belastungszeuge, Staatskommissar Otto Graf, „in wiesen, der die Personalakte Eymers im Hinblick letzter Minute absagte“. Drei als weitere Belas- auf dessen Berufung nach München durchgesehen tungszeugen aufgebotene jüdische Ärzte seien hatte und dabei auf den erwähnten Brief des ebenfalls nicht erschienen. Man habe sie wenige Reichsärzteführers gestoßen war. Ferner wurden Tage vor der Verhandlung wegen angeblicher Ab- Eymers Mitgliedschaft in der NSDAP seit 1937 so- treibung verhaftet. Nach ihrer Entlassung hätten wie seine Zugehörigkeit zu mehreren anderen Par- sie sich geweigert, als Zeugen aufzutreten, „da sie teiorganisationen angeführt. Seine deutschnatio- um ihre persönliche Sicherheit fürchteten.“117 nale sowie seine militaristische Gesinnung sollte Dieser Bericht erweist sich hinsichtlich der Be- die Tatsache belegen, dass im Ärztekasino Bilder lastungszeugen als nicht ganz korrekt. Bei den drei von 16 Generälen und in seiner Wohnung ein Bild jüdischen Ärzten handelte es sich um Koerting, Hindenburgs hingen.114 Heller und Israel Legmann, wobei Letzterer inzwi- Hinsichtlich der zahlreichen von Eymer vorge- schen wohl anstelle des abgereisten Goldberger in legten Entlastungszeugnisse kam der Oberste Er- der Frauenklinik untergebracht war. Gegen Heller mittler zu dem Schluss, sie schienen nicht geeignet, hatte es eine anonyme Anzeige wegen angeblicher das Bild von ihm zu verschönern: „Sofern sie nicht Abtreibungen gegeben. Dieser Verdacht erwies sich wertlos sind wie das Attest Prof. [Karl Theodor] Jas- jedoch schon nach einer Vernehmung als gegen- pers, der Eymer seit seiner Berufung nach Mün- standslos. Mit dem Hinweis auf diesen Vorfall hatte chen nicht mehr sah, oder von Dr. von Seuffert, auch Koerting sein Nichterscheinen vor der der Eymer die gute Behandlung seiner jüdische Spruchkammer begründet und auf die von ihm in Frau nachrühmt, beziehen sie sich, wie die vom der Sache Eymer bereits abgegebene Erklärung Kardinal [Michael von Faulhaber] hervorgehobe- verwiesen. Legmann begründete sein Fernbleiben nen Fälle dartun, auf billige Gesten, die man seiner mit anderweitigen Verpflichtungen. Verhaftet, gesellschaftlichen Stellung in einem katholischen aber zwischenzeitlich wieder entlassen worden Lande schuldig ist […].“ Der Oberste Ermittler kam war Hans Tremel, ein nichtjüdischer Arzt, der sich zu dem Schluss, nach dem Befreiungsgesetz gehöre Eymer mindestens zu den Belasteten, „und zwar 115 Ebd. ebenso als Aktivist wie auch als Nutznießer […] 116 Die DANA war eine Gründung der Amerikaner und falls er nicht überhaupt, gemäß Art. 5, Abs. 6 (auß- stand bis zu ihrer Lizensierung für Deutsche im Okto- ber 1946 noch unter amerikanischer Vorzensur. Nach dem Willen der Besatzungsbehörde sollte in der Ar- 112 BayerHStaatsA M MK 43580, PA Eymer, Schreiben des beit der DANA‑Journalisten die amerikanische Form Kultusministeriums. Seuffert war 1937 von den Na- des Nachrichtenjournalismus mit der strikten Tren- tionalsozialisten aus dem Hochschuldienst entlassen nung von Nachricht und Kommentar realisiert wer- worden. den. Aus der DANA entstand später die Deutsche 113 StaatsA M, SpkA, 382, Heinrich Eymer, mit der Nr. 90 Presse-Agentur (dpa). Siehe hierzu: Stöber: Pressege- gekennzeichnet. schichte, Konstanz 2005, S. 135 114 BayerHStaatsA M MK 43580, PA Eymer, Schreiben an 117 BayerHStaatsA M MK 43580, PA Eymer, zitiert aus ei- das Kultusministerium. nem Bericht für den Minister (2. 8.1946).

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1934 in der I. UFK vergeblich um eine Assistenten- mers als Mitläufer, wobei zur Begründung auf die stelle beworben hatte und Eymer seitdem feindlich Mitgliedschaften in der NSDAP und anderen partei- gesonnen war. Tremels Verhaftung erfolgte auf- nahen Organisationen verwiesen wurde. Alle ande- grund der Anzeige einer Pensionsinhaberin, deren ren Vorwürfe habe er widerlegen können, hieß es. Mieterin nach einer Behandlung stark blutend auf Dabei waren auch Eymers Beitrag für den Kom- ungeklärte Art zu Tode gekommen war.118 mentar zum Erbgesundheitsgesetz sowie die Die Spruchkammer stufte Eymer dann mit zwei Zwangssterilisationen in seiner Klinik zur Sprache Jahren Bewährungsfrist in die Gruppe der Minder- gekommen.122 belasteten ein. Ferner sollten 40% seines Vermö- Im Detail wurde zunächst auf den Vorwurf ein- gens für Wiedergutmachungszwecke eingezogen gegangen, Eymer sei mit seiner Berufung auf den werden.119 Zur Begründung wurde unter anderem Münchner Lehrstuhl zu einem Profiteur des NS‑Re- auf die Häufung seiner Mitgliedschaften bei ver- gimes geworden. Dazu hieß es, es hätten sich nir- schiedenen NS‑Organisationen hingewiesen. Fer- gendwo Anhaltspunkte dafür gefunden, dass er ner habe er als akademischer Lehrer und Direktor sich selbst beworben habe. Zum Zeitpunkt seiner der I. Münchner Frauenklinik den ihm unterstellten Berufung sei er noch nicht Mitglied der NSDAP ge- Ärzten und Studenten hinsichtlich der politischen wesen. Seine Qualifikation ergebe sich daraus, dass Betätigung ein schlechtes Beispiel gegeben.120 Of- er zuvor schon als Ordinarius in Innsbruck und an- fenbar warf ihm die Kammer auch vor, er habe als schließend in Heidelberg tätig gewesen sei. Mit der einer der führenden Wissenschaftler Europas Annahme des Rufes sei er einem „Parteibefehl“ ge- durch seinen Parteieintritt der NSDAP dazu verhol- folgt. In dem Verfahren habe er trotz seiner bedeu- fen, ein Gesicht zu erhalten, das viele Deutsche tenden Stellung im öffentlichen Leben den Nach- über die wahren Ziele dieser Bewegung hinweg- weis führen können, den Nationalsozialismus „kei- täuschte.121 neswegs […] mehr als unwesentlich unterstützt Gegen die Entscheidung legten sowohl Eymer und gefördert zu haben.“ als auch der öffentliche Kläger Berufung ein, die Weiter hieß es, für den Antisemitismus Eymers am 9. und 12. Dezember 1947 vor dem 4. Senat der vor 1945 habe sich nicht der Schatten eines Bewei- Berufungskammer für München unter dem Vorsitz ses ergeben. Bei der Intelligenz des Betroffenen von Landgerichtsrat Max Gramich verhandelt wur- dürfe man davon ausgehen, dass er auch nicht de. Wie im ersten Verfahren fehlten die jüdischen nach 1945 plötzlich antisemitisches Verhalten an Belastungszeugen Heller und Legmann – diesmal, den Tag gelegt habe. Die jüdischen Ärzte seien in weil sie inzwischen ausgewandert waren. Koerting dem weitgehend beschädigten Klinikgebäude so wurde, nachdem er wieder nicht erschienen war, gut wie irgend möglich untergebracht worden. auf Anordnung des Senats polizeilich vorgeführt, Auch im Zusammenhang mit der Tatsache, dass sie brachte aber nach Auffassung der Kammer „nichts allein ihre Mahlzeiten einnahmen, konnte die Wesentliches“ vor. Im Gegensatz dazu konnte Ey- Kammer aufgrund der Zeugenaussagen keine ras- mer eine Fülle von Entlastungszeugen aufbieten. sistischen bzw. antisemitischen Motive erkennen. Das Verfahren endete nun mit der Einstufung Ey- Dafür seien andere Gründe, wie etwa sehr unter- schiedliche Essenszeiten, ausschlaggebend gewe- sen. Die Behauptung Hellers, Eymer habe ihm eine 118 StaatsA M, SpkA, 382, Heinrich Eymer, Aktennotiz des öffentlichen Klägers vom 10. 8.1946 nach entspre- adäquate Beschäftigung in der Klinik vorenthalten, chenden Ermittlungen. In der Spruchkammerakte könne nicht zutreffend sein. Heller habe sich sehr finden sich weitere Informationen zu Tremel, die wohl im Rahmen der Klinik ärztlich betätigen kön- kein günstiges Licht auf ihn werfen. Siehe hierzu nen. Heller und Goldberger hätten von Anfang an auch Kuß, Klinikdirektor (1999), S. 40. keinen Zweifel daran gelassen, dass sie auswandern 119 Ebd., Formblatt mit der Entscheidung. Die Entschei- wollten – was inzwischen auch geschehen sei. dungsgründe, die separat formuliert wurden, ließen Zudem habe Heller sich in der Klinik in seinen sich hier nicht finden. Die Spruchkammerakten sind in archivalisch schlechtem Zustand. Räumlichkeiten privatärztlich betätigt, was Eymer 120 Ebd., Nr. 119. Diese Sätze sind der Berufungsbegrün- zugelassen habe, obwohl es an sich nicht erlaubt dung von Rechtsanwalt Müller entnommen, dem die gewesen sei. Damit seien die diesbezüglichen Be- Begründung der Spruchkammer offensichtlich vor- schuldigungen „in sich zusammengebrochen“. lag. 121 BayerHStaatsA M MK 43580, PA Eymer: Auszug aus der DANA‑Meldung über das Spruchkammerverfah- 122 StaatsA M SpkA, 382, Heinrich Eymer 382, Spruch ren. und Begründung des 4. Senates vom 17. 12. 1947.

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Zu den Vorwürfen Koertings, Eymer habe vor- Gewaltmethoden etwa im Sinne einer auf diese zugsweise Wehrmachts- oder SS-Ärzte behalten Weise beabsichtigten Ausrottung sogenannter bzw. eingestellt, erklärte die Kammer, sie seien minderwertiger Völker oder lebensunwerter Men- nicht nur unwahrscheinlich, sondern „glatt wider- schen erweisen.“124 legt“. Zur Begründung wurde darauf hingewiesen, Abschließend beschäftigte sich der Senat mit dass Eymer Anstellungen und Entlassungen nach der Frage, ob Eymer nicht trotz seiner formellen Fragebogenüberprüfungen nur im Einverständnis Mitgliedschaft in der Partei und ihren Organisatio- mit der Militärregierung vornehmen konnte. „Es nen etwa wegen aktiven Widerstandes und da- muss also unterstellt werden, dass sämtliches Per- durch erlittener Nachteile Entlasteter sei. Dies wur- sonal auch im Sinne des Dr. Heller als einwandfrei de ausdrücklich verneint. Der Senat verwies dabei anzusehen war.“ auf im Verfahren vorgebrachte Argumente wie den Koerting könne über den Betroffenen politisch Widerstand Eymers gegen die Abschaffung der nichts Nachteiliges aussagen. Er habe unwiderspro- Taufe und der religiösen Betreuung in seiner Klinik chen eine ihm angebotene Oberarztstelle in der II. oder seine Ablehnung der indikationslosen Universitätsfrauenklinik abgelehnt, ebenso eine Schwangerschaftsunterbrechung bei Ostarbeiterin- Oberassistentenstelle unter Eymer. Um eine privat- nen. Selbst wenn man dies –„was der Senat durch- ärztliche Praxis habe er sich nicht bemüht. Weiter aus offen lässt“–als aktiven Widerstand einstuft, heißt es, es sei begreiflich, „dass die jahrelange Ge- so habe der Betroffene doch hierdurch keinerlei fangenschaft und Behandlung als Menschen II. nachweisbare, über eine Kritik hinausgehende Klasse bei den jüdischen Mitbürgern psychologisch Nachteile erlitten.125 fortwirkt und die Aussagen […] subjektiv beein- Die Entscheidung der Kammer, Eymer als „Mit- flusst haben mag“. Eymer könne aber keine gehäs- läufer“ einzustufen, führte zwar noch zu einigen sige Haltung gegenüber rassisch Verfolgten oder Protesten,126 bereitete aber den Weg für die Wie- eine „antisemitische Überzeugungsbetätigung“ dereinsetzung Eymers in seine Ämter. Anfang vorgeworfen werden.123 März 1948 erkannte die Militärregierung die Ent- Im Zusammenhang mit dem Beitrag Eymers scheidung an, Mitte März setzte sich der Betriebs- über „Die Unfruchtbarmachung der Frau“ in der rat der Frauenklinik beim Rektor der Universität zweiten Auflage des Kommentars zum „Gesetz zur dafür ein und wenig später wandte sich die Fakul- Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) tät in der Angelegenheit über den Rektor an das wies die Berufungskammer darauf hin, dass darin Kultusministerium. In dem entsprechenden Schrei- weder zu politischen noch zu rassischen Aspekten ben heißt es, das Urteil der Berufungskammer lasse der Maßnahmen Stellung genommen werde. Aus erkennen, „dass Herr Prof. Eymer trotz vielfacher dem genannten Werk gehe hervor, dass Eymer Gut- formeller Zugehörigkeit zu NS‑Organisationen auf achten über die Frage der Sterilisierung bei Kran- Grund seines persönlichen Verhaltens nicht als üb- ken erstellt habe. Ferner seien in seiner Klinik erzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Be- auch Sterilisierungen durchgeführt worden. Die wegung angesehen werden kann.“ Die Fakultät Gutachten hätten sich jedoch nur auf die Feststel- habe sich daher nach reiflicher Überlegung ent- lung bezogen, „ob nicht schon eine Unfruchtbarkeit schlossen, die Wiedereinsetzung von Prof. Eymer bestand, also ob die Sterilisierung überhaupt noch zu beantragen. Es folgt der Zusatz: „Sie wurde in notwendig war.“ Hinsichtlich der Zwangssterilisa- diesem Beschluss bestärkt durch die ungünstigen tionen wird auf die Rechtslage verwiesen. Weiter Erfahrungen, die ihr erwachsen sind bei dem Be- heißt es, zwangsweise Sterilisierung finde auch in streben, geeignete politisch unbelastete Fachver- anderen Staaten, darunter in den USA, statt, sei ge- treter für ein so bedeutungsvolles Ordinariat […] setzlich geregelt und gehe von dem Gedanken aus, zu finden.“127 „daß eugenische Verhütung besser ist als nachträg- Nachdem der Rektor am 30. März 1948 die poli- liche Euthanasie.“ Ferner habe Eymer bei der Fest- tische Unbedenklichkeitserklärung für Eymer ab- stellung der Voraussetzung der Sterilisierung, also gegeben hatte, wurde diesem am 1. April zunächst der Erbkrankheit, nicht mitgewirkt. „Nur hier je- wieder die kommissarische Leitung der Klinik üb- doch konnte die nationalsozialistische Gewaltherr- schaft Missbrauch von ihrer Macht betreiben und 124 Ebd. 125 ein Betroffener sich als überzeugter Anhänger von Ebd. 126 Ebd. 127 BayerHStaatsA M MK 43 580, PA Eymer, Brief der 123 Ebd. Med. Fakultät (25. 3.1948).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 171 ertragen.128 Ende April äußerte die Militärregie- re Wirkungsstätte Döderleins, habe sich „dank der rung trotz der vorausgegangenen Anerkennung Chefärzte geradezu zu einem Asyl für politisch Ver- des Kammerspruchs nochmals Bedenken gegen Ey- folgte entwickelt“–eine Beurteilung, die neuer- mer. Sie zeigte sich zwar damit einverstanden, dass dings in Zweifel gezogen wird.131 Eymer kommissarischer Leiter blieb, forderte die Zusammenfassend, so hieß es, sei die Fakultät Fakultät jedoch auf, sich weiter energisch um einen einhellig der Ansicht, „dass die Frage der Wieder- Nachfolger zu bemühen, damit Eymer in den Ruhe- besetzung des I. Lehrstuhls für Frauenheilkunde stand versetzt werden könne. Zur Begründung hieß und Geburtshilfe durch die endgültige Wiederein- es, der „Fall Eymer“ habe die Öffentlichkeit in ho- stellung von Herrn Prof. Eymer am besten gelöst hem Maße bewegt. Es müsse damit gerechnet wer- wird.“ Schon vor der Beratung des Vorschlags in den, „dass diese Sache von interessierter Seite er- der Fakultät hatte Kultusminister Alois Hundham- neut aufgegriffen wird.“ Außerdem sei Eymer „erst mer in einem Schreiben an die Militärregierung in der Berufungsinstanz zum Mitläufer erklärt wor- um nochmalige Überprüfung der Angelegenheit den.“129 Eymer gebeten.132 Diese Intervention war knapp ei- Das hinderte die Fakultät jedoch nicht, Eymer an nen Monat später von Erfolg gekrönt: In einem die erste Stelle der Liste zu setzen, die nach Auffor- Schreiben an den Ministerpräsidenten wurden alle derung durch das Kultusministerium für die Wie- Einwände gegen Eymer zurückgezogen, der dann derbesetzung des Lehrstuhls erarbeitet wurde. In mit Wirkung vom 1. Oktober 1948 seine Wiederer- der Erläuterung des Vorschlags, der einstimmig an- nennung zum ordentlichen Professor erfuhr.133 genommen wurde, begründete die Berufungskom- mission ihren Vorschlag mit dem Hinweis auf den Spruch der Berufungskammer. Weiter hieß es, Ey- Bemühungen um Heinrich Martius mer gelte als hervorragender Charakter und sei, was der Fakultät wichtig erscheine, ein in seiner Die „ungünstigen Erfahrungen“, von denen die Fa- Allgemeinbildung hoch kultivierter Mensch. Die kultät im Zusammenhang mit den Bemühungen Mitgliedschaft in verschiedenen Organisationen gesprochen hatte, einen geeigneten, politisch un- der Partei falle nicht ins Gewicht, „zumal nichts be- belasteten Fachvertreter für den Münchner Lehr- kannt geworden ist, was Prof. Eymer als Aktivisten stuhl zu finden, bezogen sich auf ein Berufungsver- bezeichnen würde. Im Gegenteil hat er sich allen fahren, das 1946/47 parallel zu den Vorgängen um Machenschaften der Partei bewußt und nach- Eymer für den Lehrstuhl gelaufen und letztlich drücklich fern gehalten.“130 nach über einjähriger Dauer gescheitert war. Im Mit den anderen Kandidaten beschäftigte sich Mittelpunkt stand Heinrich Martius aus Göttingen. der Vorschlag nur sehr kurz. Von Hans Runge Als besonderes Problem erwies sich die Tatsache, (1892–1964) wird angemerkt, auch er sei „nicht dass Martius fünf Dozenten mitbringen wollte, von frei von politischer Belastung“ (Parteigenosse von denen teilweise noch nicht geklärt war, ob sie poli- 1932), Karl Anselmino (1900–1978) wird als her- tisch ausreichend entlastet waren. Martius begrün- vorragender Wissenschaftler und Operateur ge- dete seine Forderung im Dezember 1946 mit dem lobt. Einen Ruf nach Freiburg habe er abgelehnt Hinweis: „In München sind […] wie ich höre, auch „wegen der Aussichtslosigkeit des Wiederaufbaues die letzten operationsfähigen Assistenten aus poli- der Freiburger Universitätsklinik“. Er sei Mitglied tischen Gründen beseitigt worden.“ Ein weiteres der NSDAP seit 1935 gewesen und als Mitläufer Argument war, dass es sich bei den gewünschten eingestuft. Gustav Döderlein, dem Sohn des frühe- Mitarbeitern um einen in sich geschlossenen For- ren Ordinarius, wird mehr Aufmerksamkeit gewid- scherkreis handle.134 met: „[Er] ist politisch völlig unbelastet, er war nie- 131 – mals Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Organi- Ebd. Zu Döderlein siehe Czarnowski: Erkrankte (2008), S. 139, 143. Hier wird auch er mit Zwangsste- sationen.“ Er sei ein ausgezeichneter Organisator, rilisationen in Verbindung gebracht. Vgl. ferner: Da- glänzender Operateur und sehr lebendiger Lehrer. vid: Döderlein (2006), S. 58. Auch wissenschaftlich habe er „durchaus Gutes ge- 132 BayerHStaatsA M MK 43 580, PA Eymer, Brief Hund- leistet“. Das Polizeikrankenhaus Berlin, eine frühe- hammers (14. 7.1948). 133 BayerHStaatsA M MK 69 381, Lehrstuhlakte I. UFK 128 Ebd., Brief des Kultusministeriums (16. 8.1948). München, Schreiben des Kultusministeriums 129 Ebd., Aktennotiz (26. 4.1948). (7.10. 1948). 130 BayerHStaatsA M MK 69381, Lehrstuhlakte II UFK 134 Ebd., Brief Martius an Kultusministerium München, Vorschlag der Fakultät (30. 7. 1948). (24. 12. 1946).

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Die Frage der Mitarbeiter stand dann im Mittel- punkt monatelanger zäher Verhandlungen. Bickenbach: „Hoffentlich nicht […] Schließlich stellte der Hochschulreferent des Kul- schwerer belastet als der Akt ahnen tusministeriums, Hans Rheinfelder, Martius Ende läßt […]“ September 1947 telegrafisch ein Ultimatum: „Wei- tere und genauere Zusagen des Ministeriums leider Zum 1. April 1952 wurde Heinrich Eymer mit 69 unmöglich. Bitte um Entscheidung bis 15. Oktober.“ Jahren emeritiert. Gleichzeitig beauftragte ihn das Martius hat dieses Telegramm nicht beantwortet, Kultusministerium aber noch für das bevorstehen- sich aber vor Ablauf der gesetzten Frist nochmals de Sommersemester mit der Lehrstuhlvertretung an den Dekan, August Forst, gewandt, der sich of- und forderte die Fakultät auf, bis zum 1. Juli einen fenbar sehr für diesen Ruf engagiert hatte. In den Berufungsvorschlag auszuarbeiten. Es ist nicht Akten findet sich ein Brief von Martius an Forst, in ganz klar, warum dies nicht geschah – auf jeden dem er sich für dessen Bemühungen bedankt. Mar- Fall vertrat Eymer ohne Auftrag auch noch im Win- tius legt darin noch einmal seinen Standpunkt dar. tersemester 1952/53. Erst im März 1953 fiel auf, Besonders betont er diesmal, den strahlenthera- dass noch keine Liste vorgelegt worden war. Im Mi- peutisch sehr versierten Richard Kepp (1912– nisterium entstand der Eindruck, Eymer verzögere 1984) nicht entbehren zu können: „Es dürfte be- die Berufung eines Nachfolgers, weil er bis April kannt sein, dass ich seit dem Jahre 1928 hier eine 1954 im Amt bleiben wollte.138 besondere Strahlenbehandlungsmethode entwi- Am 12. Juni 1953 legte die Fakultät dann nach ckelt habe, die von der Münchner Methode erheb- einer erneuten Aufforderung die gewünschte Liste lich abweicht. Herrn Kepp kann ich nicht entbeh- vor: An erster Stelle stand Carl Kaufmann (1900– ren, um diese Methode in die große Münchner 1980) aus Marburg, an zweiter Werner Bickenbach Strahlenabteilung zu übertragen.“135 (1900–1974; Abbildung 9.5) aus Tübingen und an Als die Verhandlungen scheiterten, hatte das dritter Gerhard Schubert (1907–1964) aus Ham- Kultusministerium Martius offenbar zugestanden, burg. Die Liste war einstimmig verabschiedet wor- einen Dozenten, zwei Assistenten und eine Sekre- den. Bereits im Vorfeld hatte es Bemühungen um tärin mit nach München zu bringen. Gleichzeitig Kaufmann gegeben, der als Hormonforscher mit machte es ihm aber keinerlei Hoffnungen, etwa zu dem Nobelpreisträger Adolf Butenandt (1903– einem späteren Zeitpunkt weitere Mitarbeiterin- 1995) zusammenarbeitete. Letzterer hatte seit nen oder Mitarbeiter aus Göttingen nachziehen zu 1952 den Lehrstuhl für physiologische Chemie in können. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, München inne und unterstützte Kaufmann des- dass damals gerade von Seiten der Bayerischen halb. Der Marburger Ordinarius, der politisch völlig Jungärzteschaft heftig gegen die Übernahme von unbelastet erschien, konnte jedoch wählen: An ihn Assistenten und Oberärzten aus anderen deut- war auch ein Ruf nach Köln ergangen, wo ihm für schen Ländern protestiert wurde. Diesen Umstand die nächsten Jahre ein Klinikneubau in Aussicht ge- thematisierte Martius in dem Schreiben an Forst stellt wurde.139 wie folgt: „Bedenklich ist, dass das Ministerium Vor diesem Hintergrund folgten erneut zähe mir ausdrücklich mitteilen ließ, dass das spätere Verhandlungen um die Besetzung des Lehrstuhls. Nachziehen von Mitarbeitern ausgeschlossen sei. Kaufmann hatte einen umfangreichen Forderungs- Ich kann mir schwer vorstellen, dass die Münchner katalog aufgestellt. Darunter fielen bauliche Verän- Universität ihre Pforten für den Zuzug von aus- derungen an der Klinik mit dem für damalige Zei- sichtsreichen jungen Forschern, die später unsere ten sehr hohen geschätzten Kostenaufwand von Lehrstühle besetzen sollen, geschlossen halten bis zu einer halben Million Mark. Die Unterlagen will.“136 Wie sich später herausstellte, gab es noch in der Lehrstuhlakte zeigen, dass das Ministerium ein weiteres Problem: Martius, damals 61 Jahre Kaufmann so weit wie möglich entgegenkommen alt, hätte wegen seines Alters nicht in das bayeri- wollte. Es fühlte sich in scharfem Wettbewerb mit sche Beamtenverhältnis übernommen werden Köln, das nicht nur den Klinikneubau in Aussicht können.137 stellte, sondern auch Kaufmanns Vaterstadt war. Assistenten und Oberärzte Eymers mögen diese Be-

135 Ebd., Brief Martius an Forst (11. 10.1947). 136 Ebd. 138 Ebd., Brief Kultusministerium an Rektor (10. 3.1953). 137 Ebd., Brief Finanzministerium an Kultusministerium 139 Ebd., Brief an Kultusministerium mit Liste der Fakul- (12. 3.1948). tät (12. 6.1953).

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1949 in Kategorie IV eingereiht, was nach den Maßstäben der US‑Zone etwa einem Minderbelas- teten entspreche. Nach neuerlicher Überprüfung habe man Bickenbach aber gänzlich entlastet. Diese Entlastung sei bei seinem Wechsel nach Tübingen im Jahr 1950 für die französische Zone anerkannt worden. Die Beteiligung Bickenbachs an den NS‑Zwangsmaßnahmen zur Eugenik war damals offenbar unbekannt: Er hatte – wie sich später zei- gen sollte – in Göttingen von allen Ärzten die meis- ten Zwangssterilisationen durchgeführt (173 von insgesamt 787 zwischen 1934 und 1945).142 Es ist bekannt, dass die Entnazifizierung in den unterschiedlichen Besatzungszonen mit unter- schiedlichem Nachdruck durchgeführt wurde. In der US‑Zone ging man wesentlich rigoroser vor als etwa in der britischen oder gar in der französischen Besatzungszone.143 Von daher erstaunt es wenig, dass sich auf dem Schreiben des Dekans zur Beru- fung Bickenbachs, das in den ministeriellen Akten Abb. 9.5 Werner Bickenbach (1900–1974) (Quelle: abgelegt ist, infolge der dortigen Bearbeitung auf Archiv der I. Universitätsfrauenklinik München). Seite 2 handschriftlich in Rot folgender Satz findet: „Hoffentlich ist Bickenbach nicht als Nazi schwerer mühungen mit etwas gemischten Gefühlen gese- belastet als der Akt ahnen lässt. […] Kommt denn hen haben, denn Kaufmann sprach sich in den Ver- Rech, der frühere kommissarische Leiter der gynäk. handlungen nachdrücklich gegen die damals beste- Klinik in Erlangen […] nicht in Frage? Eymer hat henden, offenbar sehr großzügigen Möglichkeiten das immer sehr gehofft, auch mir gegenüber ein- für die Mitarbeiter aus, auch privatärztlich tätig zu mal zum Ausdruck gebracht, er wäre ein tüchtiger werden. Nachfolger.“ Darunter in Grün: „Rech steht nicht Trotz aller Bemühungen kam nach mehr als auf der Liste!“144 halbjährigen Verhandlungen am 16.2. 1954 doch Wie dem auch sei: Bei Bickenbach kam es offen- das Aus: Kaufmann zog Köln vor, wo ihm eine klei- bar zu keinerlei Schwierigkeiten mehr. Am 19. Juli ne, höchst moderne Klinik errichtet wurde.140 In 1954 nahm er nach ausführlichen Verhandlungen der Folge erging dann nur knapp drei Wochen spä- den Ruf an. Für Klinikumbau und Renovierungs- ter der Ruf an Bickenbach. In dem Schreiben, mit maßnahmen wurden ihm etwa 400000 DM bewil- dem der Dekan Bickenbach dem Kultusministeri- ligt – also fast ebenso viel, wie Kaufmann gefordert um vorschlug, wird darauf hingewiesen, dass der hatte. Ferner durfte Bickenbach vier Assistenten Qualitätsunterschied zwischen Bickenbach und mitbringen. Möglicherweise war die Fakultät mit Schubert nach Meinung der Fakultät größer sei als dieser Entwicklung gar nicht so unglücklich, denn der zwischen Kaufmann und Bickenbach. Zudem Kaufmann als Hormonforscher hatten zumindest habe Bickenbach kürzlich einen Ruf nach Hamburg einige der Mitglieder im Hinblick auf die praktische abgelehnt.141 Gynäkologie und Geburtshilfe keine Höchstleistun- Zur Belastung Bickenbachs durch die NS‑Zeit gen zugetraut.145 heißt es, der Tübinger Ordinarius sei Mitglied der 142 Siehe hierzu Koch: Zwangssterilisation (1994), S. 59. NSDAP seit 1933 und Sanitätsobersturmführer Siehe hierzu den Beitrag Ehrenmitglieder in diesem beim Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps Band. (NSKK) gewesen. Während seiner Tätigkeit bei 143 Vgl. Vollnhals: Entnazifizierung (1991), S. 7–42. Martius in Göttingen im britischen Kontrollgebiet 144 BayerHStaatsA M MK 69 381, Lehrstuhlakte I. UFK hätten ihn die Behörden bei der Entnazifizierung München, Brief Dekan an Rektor für Kultusministeri- um (9.3. 1954). Rotstift wird üblicherweise von Staatssekretären, Grünstift vom Minister verwendet. 140 Ebd., Brief von Kaufmann (16. 2.1954). Vgl. Der Spiegel, Heft 39, 1996, S. 75. 141 Ebd., Brief Dekan an Rektor für Kultusministerium 145 Ebd., „Vorbemerkung“ zur Berufungsliste der Fakultät (9.3. 1954). (2.7. 1953).

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Burgers Berufung nach Würzburg sich später in München niederließ, noch nicht ein- mal das Facharztzeugnis. Die Fakultät hatte also ge- Die Wiederbesetzung des Würzburger Lehrstuhls wichtige Gründe, sich rasch um einen Nachfolger vollzog sich nach der Entlassung des damals schon für Gauß zu bemühen, zumal davon natürlich auch fast 70-jährigen Carl Joseph Gauß (1875–1957) am die Wiedereröffnung des Unterrichtsbetriebes ab- 10. August 1945146 im Vergleich zu Erlangen und hing.149 München I relativ rasch und geräuschlos. Dazu hat Die äußeren Bedingungen waren allerdings sicherlich erheblich beigetragen, dass Gauß nach schlecht: „Die zeitlichen Verhältnisse machten es seiner Amtsenthebung durch die Militärregierung unmöglich, mehr als 2 [für den Lehrstuhl] in Be- die Stätte, an der er fast ein Vierteljahrhundert ge- tracht kommende Herren ausfindig zu machen“, wirkt hatte, rasch verließ und so Auseinanderset- schrieb der geschäftsführende Leiter der medizini- zungen über eine mögliche Wiedereinsetzung ins schen Fakultät am 28. Mai 1946 an den Rektor, als Amt – sei es auch nur kommissarisch – vermieden er ihm einen ersten Berufungsvorschlag unterbrei- wurden. Ausschlaggebend für die Entscheidung tete. Auf der „Liste“ mit nur zwei Namen fand sich von Gauß, Würzburg zu verlassen, waren sicherlich an erster Stelle Ludwig Nürnberger aus Halle und nicht Alter oder körperliche Verfassung. Eine Rolle an zweiter Walter Rech. Zu Nürnberger hieß es, er gespielt haben dürften die erheblichen Kriegsschä- sei ein anerkannter Kliniker, „über den aus Fach- den an der Klinik und vor allem die Zerstörung des kreisen die günstigsten Urteile eingingen“. Er sei Direktorenwohnhauses.147 Susanne Wolf be- auch bereit, einen Ruf anzunehmen. Die von der Fa- schreibt diesen Abschied unter Berufung auf eine kultät über Rech eingezogenen Erkundigungen autobiografische Quelle wie folgt: „Auf Betreiben wurden ebenfalls als „sehr günstig“ beschrieben. seiner Ehefrau verlässt Professor Gauß mit seiner Dies gelte sowohl für seine Tätigkeit als Kliniker Familie, der Hausangestellten Dora Nickl und den wie auch als Hochschullehrer. Aus einer „ganzen beiden Hunden am 27. 9.1945 Würzburg auf einem Reihe gediegener Arbeiten“ ergebe sich auch, dass offenen Lastkraftwagen, der mit den traurigen Res- Rech ein „ernster wissenschaftlicher Forscher“ ten seiner Habe beladen war.“148 sei.150 Wie andernorts führte die Entlassung des Kli- Es zeigte sich allerdings rasch, dass es mit der nikdirektors auch in Würzburg zu einem erhebli- Verfügbarkeit von Nürnberger und Rech für den chen Personalproblem, zumal Gauß ja nach seinem Würzburger Lehrstuhl nicht so weit her war: Schon Abgang auch nicht für eine kommissarische Leitung kurze Zeit später teilte das Kultusministerium dem oder als „common labourer“ zu Verfügung stand. Rektor mit, dass die Münchner Militärregierung Die Lehrstuhlakte schweigt sich über diesen Not- Nürnberger abgelehnt habe.151 Rech, so hieß es stand aus. Offenbar musste das folgende Jahr mit weiter, der aktuell in Erlangen als kommissarischer der kommissarischen Leitung durch zwei nicht ha- Leiter der Klinik tätig sei, „dürfte, wenn aus politi- bilitierte Frauenärzte überbrückt werden. Der ers- schen Gründen keine Schwierigkeiten bestehen, te, Walter Gfroerer, war von 1912 bis 1919 Assis- auf den dortigen Lehrstuhl berufen werden.“ Das tent des Gauß-Vorgängers Max Hofmeier (1854– Ministerium bitte daher, die Berufungsliste neu zu 1927) gewesen und wurde aus seiner über 25-jäh- bearbeiten. Gleichzeitig empfahl die Behörde die rigen Tätigkeit als niedergelassener Frauenarzt in Kontaktaufnahme mit dem seinerzeitigen Oberarzt Würzburg in die Klinik zurückgerufen. Ihm folgte der Göttinger Universitätsfrauenklinik, Karl Burger im August 1946 Oswald Fritz Peil, der nach seiner (Abbildung 9.6).152 Approbation 1941 als Assistent in der Universitäts- Schon rund einen Monat später, am 3. Septem- frauenklinik Leipzig bei Robert Schröder gearbeitet ber 1946, wandte sich der Würzburger Rektor er- hatte. Zum Zeitpunkt der Übernahme der kommis- 149 sarischen Leitung besaß Peil, der dann unter Karl Zu Gfroerer und Peil siehe Wolf: Gauß (2008), S. 20 und Stoeckel: Gynäkologen (1960), S. 151 (Gfroerer) Burger (1893–1962) als Oberarzt tätig wurde und sowie S. 381 (Peil). 150 BayerHStaatsA M MK 72 455, Lehrstuhlakte UFK 146 Wolf: Gauß (2008), S. 19. In der Lehrstuhlakte findet Würzburg, Schreiben Ackermann an Rektor sich darüber nichts (BayerHStaatsA M MK 72 455). (28. 5.1946). Unterschiedliche Daten sind darauf zurückzuführen, 151 Nürnberger wurde am 1.9.1947 zum Ordinarius in dass Verfügungen der Militärregierung und des Kul- Köln berufen [Gauß; Wilde: Geburtshelferschulen tusministeriums zitiert werden können. (1956), S. 132]. Offensichtlich hatte er dort in der bri- 147 Dietl: Jahre (2005), S. 61. tischen Besatzungszone keine politischen Schwierig- 148 Wolf: Gauß (2008), S. 20. keiten.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 175 neut in der Berufungsfrage an das Kultusministeri- um. Er übermittelte mit einem kurzen Begleit- schreiben den dringenden Wunsch der Fakultät, Burger zu berufen. Burger habe sich grundsätzlich bereit erklärt, die Würzburger Professur zu über- nehmen. Diesem Wunsch schließe er sich als Rek- tor in Übereinstimmung mit dem Akademischen Senat an. Die Fakultät hatte in ihrem Berufungs- wunsch darauf hingewiesen, dass keine Auswahl- liste eingereicht werden könne, „da zur Zeit nur völlig unbelastete Herren in Betracht kommen“. Burger sei eine Persönlichkeit, „die unter allen Um- ständen für die dauernde Übernahme eines so wichtigen Lehramtes ernstlich in Betracht zu zie- hen ist und der [sic] außerdem politisch keinerlei Belastung aufweist.“153 Das Schreiben beschäftigt sich dann näher mit Burger und den Auskünften, die über ihn eingeholt worden waren. Der 53-Jährige, heißt es, sei in Budapest geboren und habe die dortige Universi- tätsfrauenklinik von 1936–1944 geleitet. Sämtliche Abb. 9.6 Karl Burger (1893–1962) (Quelle: über ihn eingezogenen Erkundigungen seien auß- Archiv der Universitätsfrauenklinik Würzburg). erordentlich günstig ausgefallen. Zitiert werden in diesem Zusammenhang die Ordinarien Hans Runge Auch der weitere Ablauf der Berufung Burgers (Heidelberg), Ernst Philipp (Kiel), Harald Siebke zeigt, unter welchem Zugzwang Ministerium und (Bonn) und Heinrich Martius (Göttingen). Von be- Universität standen. Bereits wenige Tage nach Ein- sonderer Bedeutung dürfte die Einschätzung von gang des Schreibens der Universität telegrafierte Martius sein, an dessen Klinik sich Burger seit Mitte das Ministerium an Burger, ob seine Bereitschaft Juni 1945 als Gast aufhielt: Er bezeichnete Burger zur Übernahme des Amtes weiter gegeben sei.156 als einen auf wissenschaftlich hohem Niveau ste- Nach der positiven Antwort übermittelte das Kul- henden sehr guten Lehrer. Ferner sei er „mit der tusministerium am 23. September den offiziellen beste Operateur, den ich je gesehen habe; auch hat Ruf mit der Bitte, sich so bald wie möglich in Mün- er ein gütiges und liebenswürdiges Wesen.“154 chen zu den erforderlichen Verhandlungen vorzu- Dem beigefügten Lebenslauf Burgers ist zu ent- stellen. Das Ministerium riet Burger gleichzeitig, nehmen, dass er sich in den 1920er Jahren wäh- möglichst über Würzburg zu reisen, um sich „an rend seiner Assistentenzeit an den Universitäts- Ort und Stelle über die Verhältnisse Gewissheit zu frauenkliniken von Budapest und Szeged auch viel verschaffen.“157 im Ausland aufhielt – neben Deutschland beispiels- Die anschließenden Verhandlungen mit Burger weise in den USA und in Kanada sowie sechs Mona- verliefen offenbar ohne größere inhaltliche te in Großbritannien. In den USA arbeitete er als Schwierigkeiten. Bereits Ende Oktober 1946 konnte Research Fellow der Rockefeller Foundation in der das Ministerium mit dem Rektor der Universität ei- Frauenklinik der Johns Hopkins Universität in Balti- nige abschließende Detailfragen klären. Sie betra- more. Dem Lebenslauf Burgers beigefügt war eine fen Ausbesserungsarbeiten an der vom Krieg be- lange Liste von Publikationen, darunter mehrere schädigten Klinik (Abbildung 9.7), einen von Burger Lehrbücher in deutscher und ungarischer Sprache. gewünschten Ausbau des Laboratoriums sowie die Seine Arbeit hatte ihm zahlreiche Auszeichnungen Beendigung der Einquartierungen in der Klinik, und Ehrenmitgliedschaften eingebracht.155 durch die damals 22 Räume blockiert waren. Auß-

155 Ebd., Lebenslauf Burger (27. 8.1946). Zu seinen Publi- 152 BayerHStaatsA M MK 72 455, Lehrstuhlakte UFK kationen auch Stoeckel: Gynäkologen (1960), S. 70– Würzburg, Schreiben Kultusministerium an Rektor 72. Universität Würzburg (21. 5.1946). 156 Ebd., Telegramm Süß an Burger (11. 9.1946). 153 Ebd., Schreiben Ackermann an Rektor (2.9. 1946). 157 Ebd., Eilbrief Kultusministerium an Burger 154 Ebd. (23. 9.1946).

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gründet, die den Nationalsozialismus in Ungarn einführte. Kurz vor seinem Tod habe Gömbös „sei- nen Gesinnungsgenossen […] Burger, der gleich ihm als Nationalsozialist und Antisemit bekannt war, zum Professor in Budapest“ ernannt. Bei Annä- herung der Russen sei Burger dann nach Deutsch- land geflohen.159 Das Ministerium hatte sich deshalb aber offen- sichtlich nicht zu einer Unterbrechung der Ver- handlungen genötigt gesehen. Es hielt lediglich die offizielle Berufung Burgers zurück, die mit Wir- kung vom 1. November 1946 vorgesehen war.160 Gleichzeitig bat der Kultusminister Burger in Göt- tingen sowie den ebenfalls aus Ungarn stammen- den und neu nach Würzburg berufenen Orthopä- den Kaspar Niederecker (1894–1969) um „Stel- lungnahme durch eidesstattliche Versicherung“. Beide antworteten rasch und ausführlich. Nieder- ecker fügte der offiziellen Erklärung für das Kultus- ministerium noch ein persönliches Schreiben an den damaligen Hilfsreferenten im Kultusministe- rium, Günter Olzog (1919–2007)161, bei, den er of- fensichtlich kannte. In der eidesstattlichen Erklärung Niedereckers heißt es, seines Wissens habe sich Burger nie poli- tisch betätigt. Außerdem sei die Pfeilkreuzlerpartei Abb. 9.7 Noch mit Tarnanstrich: Die Würzburger nicht von Gömbös gegründet worden, sondern von Frauenklinik nach dem Zweiten Weltkrieg (Quelle: Szálasi. Ferner bestreitet Niederecker, dass Gömbös Archiv der Universitätsfrauenklinik Würzburg). Einfluss auf die Ernennung von Burger zum ordent- lichen Professor habe nehmen können oder müs- erdem hatte Burger eine zweite Sekretärin bean- 159 Ebd., Brief Auerbach an Fendt (17. Oktober 1946). Die tragt.158 Pfeilkreuzlerpartei wurde 1935 unter dem Namen Mitten in diesen Verhandlungen sah sich das „Partei der Nationalen Einheit“ von Ferenc Szálasi in Ministerium allerdings völlig überraschend mit Ungarn gegründet. Sie vertrat nationalsozialistisches Vorwürfen gegen Burger konfrontiert, die seine po- Gedankengut. Mit Unterstützung der deutschen Na- litische Vergangenheit in Ungarn betrafen. Veran- tionalsozialisten installierten die Pfeilkreuzler gegen lasst durch eine Meldung des Bayerischen Staatsan- Ende des Zweiten Weltkrieges in Teilen Ungarns eine nationalsozialistische Regierung, die für die Ermor- zeigers über den an Burger ergangenen Ruf hatte dung mehrerer zehntausend Menschen verantwort- sich der im Zusammenhang mit den Anschuldigun- lich wurde. Zu den Pfeilkreuzlern Szöllösi-Janze: gen gegen Eymer bekannte Walther Koerting an Pfeilkreuzlerbewegung (1986). den Staatskommissar für rassisch, religiös und poli- 160 Ebd., Aktennotiz (ohne Datum). tisch Verfolgte beim Bayerischen Innenministeri- 161 Zu Olzog und seiner Rolle im Spruchkammerverfah- um, Philipp Auerbach (1906–1952), gewandt und ren gegen Eymer siehe Kuß: Klinikdirektor (1999), S. 59–60, 109–110. Zur Biographie von Olzog, der Burger dort als ungarischen Faschisten und Antise- nach Jurastudium und Promotion in München einen miten bezeichnet. In einer entsprechenden Akten- Verlag mit den Schwerpunkten Politik, Zeitgeschichte notiz, die Auerbach Kultusminister Franz Fendt sowie Sozialwissenschaften gründete und sich auch übersandte, heißt es, Burger sei ein intimer Freund weiterhin hochschulpolitisch engagierte: boersen des ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Göm- blatt.net. Günter Olzog ist tot [Nachruf] www.boer bös (1886–1936) gewesen und habe mit ihm die senblatt.net/143090/ (04. 09.2012) sowie ein Ge- später als Pfeilkreuzler bezeichnete Bewegung ge- spräch des Bayerischen Rundfunks mit dem Verleger aus dem Jahr 2004: www.br.de/fernsehen/br-alpha/ sendungen/alpha-forum/guenter-olzog-gespraech 158 Ebd., Brief Kultusministerium (29. 10. 1946). 100.html (04.09.2012).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 177 sen: Die Ernennung sei das souveräne Recht des dierten ungarischen Medizinstudenten nach Halle Kultusministers gewesen. Darüber hinaus habe befohlen worden und habe dort seine Lehrtätigkeit Burger „auf Grund seiner wissenschaftlichen Quali- fortgesetzt.163 täten“ keine politischen Beziehungen für die Er- Daraufhin schrieb Staatssekretär Hans Meinzolt nennung benötigt. Er sei auch kein Antisemit gewe- am 23. November 1946 an Burger, er habe dessen sen –„weder im Professorenkollegium noch an sei- Stellungnahme mit Genugtuung zur Kenntnis ge- ner Klinik“. nommen. Unter gleichzeitigem Verweis auf die Er- In dem persönlichen Brief an Olzog schrieb Nie- klärung Niedereckers erklärte Meinzolt, er sehe da- derecker, seiner Ansicht nach stamme „dies alles her keine Veranlassung, die an Burger gerichtete von Dr. Heller“. Heller habe gegenüber einem Drit- Berufung zurückzunehmen. Nach Abschluss „zu- ten schon vor einigen Wochen erklärt, „den Burger, sätzlicher Untersuchungen“–in etwa 8 Tagen – wenn er nach München käme, zu erledigen.“ Wei- werde er Burgers Ernennungsurkunde an den Rek- ter heißt es in dem Brief: „Jetzt genügt auch die Er- tor der Universität Würzburg leiten. Burger hat die nennung nach Würzburg, um auf solch eine gemei- dortige Frauenklinik dann bis zu seiner Emeritie- ne Weise einen Angriff ausüben zu können.“ Es sei rung am Ende des Sommersemesters 1958 geleitet. „ganz traurig, dass so etwas noch möglich ist […].“162 Auch Burger wies die Vorwürfe als „in allen Punkten unrichtig“ zurück. Mit Gömbös habe er in Fikentscher: seinem ganzen Leben kein einziges Wort gespro- ohne unangenehme Fragen chen. Der Vollständigkeit halber erwähne er je- doch, dass er mehrere Jahre nach dem Tod von An der „Universitätsklinik für Frauenkrankheiten Gömbös dessen Witwe ärztlich behandelt und da- und Abteilung für Frauenkrankheiten und Geburts- nach auch dessen Tochter zweimal entbunden ha- hilfe des allgemeinen städtischen Krankenhauses be. Ferner sei er niemals Mitglied irgendeiner poli- l.d. Isar“, wie die II. Universitätsfrauenklinik Mün- tischen Partei gewesen. Ebenso unwahr sei, dass er chen damals offiziell hieß, waren die ersten Nach- Gömbös seine Berufung verdanke. Er habe 1927 kriegsjahre ebenso durch dramatischen Personal- bereits an erster Stelle der Berufungsliste für die mangel geprägt wie in den bereits besprochenen Universität Szeged gestanden, wenig später auch Einrichtungen. Allerdings traf es diese Klinik in ge- auf der Liste für Debrecen, danach 1936 auf Vor- wisser Weise noch härter als die anderen: Zu den schlag der Fakultät ebenfalls primo loco in Buda- Entlassungen in den ersten Monaten nach der Ka- pest. Für seine Bewerbung hätten sich in Gutachten pitulation, von denen der Klinikdirektor Otto Ei- namhafte englische Gynäkologen ausgesprochen, senreich (1881–1947) und sein Oberarzt Richard ebenso die Rockefeller Foundation. Fikentscher (1903–1993) betroffen waren, kamen Zum Vorwurf des Antisemitismus wies Burger innerhalb weniger Jahre zwei überraschende To- darauf hin, dass innerhalb der Budapester Fakultät desfälle: Zunächst starb Eisenreich nur acht Mona- besonders die jüdischen Kollegen für seine Beru- te nach seiner kommissarischen Wiedereinsetzung fung eingetreten seien. Er habe stets jüdische Pa- ins Amt, die am 17. Oktober 1946 erfolgt war. Dann tientinnen gehabt, „da allgemein bekannt war, traf es am 7. Oktober 1949 seinen Nachfolger als dass ich mich bei der Behandlung meiner Patien- kommissarischen Leiter, Wilhelm Freiherr von tinnen niemals von rassischen Rücksichten habe Redwitz (1888–1949), als nach knapp dreijähriger leiten lassen.“ Bis in das Jahr 1944 hinein hätten Amtszeit gerade über seine endgültige Berufung an seiner Klinik Ärzte jüdischer Abstammung gear- diskutiert wurde. Erst ein Jahr später, am 15. Okto- beitet. Er nenne dazu „nur die aus der Fachliteratur ber 1950, war die Position mit Fikentscher (Abbil- bekannteren Herren Dr. Franz Szolnoki, Dr. Stefan dung 9.8) wieder längerfristig besetzt. Biro und Dr. Edmund Kerpel“. Auch von einer Ein etwas genauerer Blick auf die Protagonisten „Flucht nach Deutschland“ könne keine Rede sein. sowie die geschilderten Ereignisse und ihre Vorge- Er sei vielmehr von der ungarischen Regierung schichte zeigt weitere Facetten der Gynäkologiege- 1944 zusammen mit nach Deutschland komman- schichte im Dritten Reich und unmittelbar danach. Otto Eisenreich hatte die Klinik 1933 kommissa-

162 BayerHStaatsA M MK 72 455, Lehrstuhlakte UFK Würzburg, Briefe Niedereckers an Kultusministerium 163 Ebd., Brief Burger an Kultusministerium und Olzog (10. 11. 1946). (15. 11. 1946).

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eine große Reihe von Missständen teils ärztlich praktischer, teils auch wissenschaftlich und welt- anschaulich-politischer Art“. Ein großer Teil des Personals habe „teils mehr, teils weniger starke passive Resistenz“ geübt. Die Umstände hätten Ei- senreich gezwungen, die Ordensoberin innerhalb von 24 Stunden durch eine „absolut zuverlässige Schwester“ zu ersetzen. Inzwischen seien aber alle genannten Probleme behoben.165 Eisenreich, der für die Übernahme der II. Frau- enklinik auf entsprechende Bitten hin ganz kurz- fristig die Leitung seiner eigenen Münchener Pri- vatklinik aufgegeben hatte, gelang es also offen- sichtlich sehr rasch, seine neue Wirkungsstätte im Sinne der Nationalsozialisten auszurichten. Inwie- weit er dabei später auch die eugenischen Zwangs- Abb. 9.8 Richard Fikentscher (1903–1993) (Quelle: maßnahmen unterstützte, muss hier offen bleiben. Bayerische Staatsbibliothek München/Fotoarchiv Eisenreich, Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, war Timpe). förderndes Mitglied der SA seit 1933 sowie Ange- höriger des NS-Ärztebundes und seit 1937 NSDAP- risch übernommen. Vorausgegangen war eine Akti- Mitglied. Das Spruchkammerverfahren gegen ihn on, bei der es sich vermutlich um eine Säuberung wurde wegen seines Todes eingestellt. Seine Witwe im nationalsozialistischen Sinne handelte und der hatte von Seiten der damals bekannten Einzelhei- die alte Klinikleitung zum Opfer fiel: Franz Weber ten seiner politischen Vita keinerlei Probleme, das (geb. 1877), seit 1920 dort im Amt, wurde am übliche Ruhegeld durchzusetzen.166 21. 11.1933 in den Selbstmord getrieben, sein lang- Auch die Fakultät war offenbar mit Eisenreich jähriger Oberarzt Hans Sänger (1884–1943) und zufrieden. Als es 1935/36 um seine endgültige Be- der erfahrenste Assistent wurden in „Schutzhaft“ rufung ging, schlug sie ihn primo et unico loco vor. genommen. Im Hintergrund stand wahrscheinlich Er konnte eine Ausbildung bei Döderlein an der I. eine Denunziation im Zusammenhang mit den na- UFK vorweisen, war dort einige Jahre Oberarzt ge- tionalsozialistischen Anstrengungen zur Erhöhung wesen, hatte sich schon 1914 habilitiert und erfuhr der Zahl „erbgesunder“ Kinder: Dem Innenministe- 1920 die Ernennung zum außerordentlichen Pro- rium, so ist den Akten zu entnehmen, waren „Mit- fessor. Bei seiner Berufung waren von interessierter teilungen zugekommen, dass Prof. Dr. Weber in An- Seite durchaus noch andere Kandidaten ins Ge- gelegenheiten der Sterilisation und der Schwanger- spräch gebracht worden – unter anderem von dem schaftsunterbrechung allzu entgegenkommend“ einflussreichen völkischen Verleger J.F. Lehmann, sei. Deshalb habe man eine Untersuchungskom- der gerne Walter Haupt (1888–1944) aus Bonn in mission unter der Leitung von Carl Menge aus Hei- dieser Position gesehen hätte. Haupt posierte in ei- delberg eingesetzt. Ob es allein die Arbeit dieser nem der Rassen-Bücher Lehmanns mit seiner Frau Kommission war, die Weber zu seiner Verzweif- und seinen fünf Kindern im Bild als Beispiel einer lungstat trieb, oder ob weitere Faktoren eine Rolle „nordischen Familie“.167 spielten, ließ sich bisher nicht klären. Sänger – Von Redwitz, der nach dem Tod von Eisenreich „Halbjude“, wie die Akte vermerkt – ist später vom Dekan der Medizinischen Fakultät ebenfalls nach Norwegen emigriert und dort verstorben.164 aus großer personeller Not in die kommissarische Die Amtsübernahme 1933 durch Eisenreich Leitung gerufen wurde, kam aus privater Praxis in vollzog sich, wie die NS‑Dozentenschaft später in einer Beurteilung feststellte, unter „schwierigsten 165 Ebd., Dozentenschaft an Reichskultusministerium Bedingungen“.Inder„nach außen hin angesehe- (13. 8.1935). nen und gut laufenden Klinik [herrschte, W.F.] 166 BayerHStaatsA M MK 43 553, PA Eisenreich. Die Dienstenthebung durch die Militärregierung war so- 164 BayerHStaatsA M MK 69 402, Professur München II, mit vor allem durch das Amt des Klinikdirektors und Kultusministerium an Reichswissenschaftsministeri- Hochschullehrers begründet. um (11. 6.1935). Vgl. dazu auch den Beitrag von Fritz 167 BayerHStaatsA M MK 69 402, Professur München II, Dross in diesem Band. Brief von Lehmann an Kultusministerium (1.2.1936).

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München und war nicht habilitiert – ein Umstand, scheint diesen Schwebezustand dazu benutzt zu der für einige kritische Anmerkungen sorgte und haben, den Konflikt um die Neubesetzung durch die Fakultät veranlasste, ihn rasch zum Honorar- Vertagung zu entschärfen. Jedenfalls gab es erst professor zu ernennen.168 Abgesehen von den feh- fast ein Jahr später, am 22. Dezember 1949, einen lenden wissenschaftlichen Weihen konnte von revidierten Vorschlag der Fakultät für die Neube- Redwitz aber auf eine Ausbildung bei Döderlein setzung.171 In der Zwischenzeit war von Redwitz verweisen. Während seiner Assistentenzeit ver- verstorben und der seit 1941 bei Eisenreich und brachte er vier Monate im Austausch bei Menge in später bei von Redwitz tätige Assistent Ernst Waidl Heidelberg. Als er 1924 nach zweijähriger Tätigkeit (1914–1981) hatte die Klinik geleitet. Waidl war in Oberarztfunktion die Döderleinsche Klinik ver- dann von 1969 bis 1981 Direktor der Frauenklinik ließ, hatte er eine vorzügliche Ausbildung genos- der Medizinischen Fakultät der TU München, von sen, schrieb Eymer später in einem Nachruf.169 Das 1976 bis 1977 Vorsitzender der BGGF und ist deren war freilich zum Zeitpunkt seiner Vertretung in der Ehrenmitglied.172 II. Frauenklinik schon mehr als 20 Jahre her. Der neue Vorschlag der Fakultät war vor allem Um die Jahreswende 1948/49, als es um die end- auf Drängen der Stadt München zustande gekom- gültige Berufung von Redwitz ging, regte sich je- men, die durch lange Vakanz des Postens Nachteile doch Widerstand gegen ihn. Offenbar war in einer für ihre gynäkologisch-geburtshilfliche Abteilung Fakultätssitzung vom 5. Januar 1949 beschlossen im Krankenhaus links der Isar befürchtete. Dies worden, von Redwitz als einzigen Kandidaten würde zu einem Rückgang der Belegung in der Pri- beim Kultusministerium in Vorschlag zu bringen. vatabteilung und damit verbundenen finanziellen Dies veranlasste den Direktor der medizinischen Ausfällen führen, hieß es. In dem neuen Vorschlag Poliklinik, Walter Seitz, sich „im Auftrag einiger wurden Otto Brakemann (geb. 1890) und Richard Mitglieder der Medizinischen Fakultät“ mit der Bit- Fikentscher genannt. Brakemann, der seine Ausbil- te an das Kultusministerium zu wenden, die „Beru- dung in der Gynäkologischen Universitäts-Polikli- fung von Herrn von Redwitz an die II. gynäkologi- nik München bei Oskar Polano (1873–1934) erhal- sche Klinik zu inhibieren.“ Seitz bezog sich dabei ten hatte und 1934 zum a.o. Professor ernannt auf ein Separat-Votum vom 7. Januar 1949, in dem worden war173, galt der Fakultät wegen seiner wis- kritisiert wurde, dass die Fakultät „ohne ein eigent- senschaftlichen Leistungen als Favorit.174 Als sie liches Berufungsverfahren durch einfache Abstim- deshalb das Kultusministerium bat, Brakemann mung gegen eine Minorität“ beschlossen habe, von die Leitung zu übertragen, kam es allerdings zu ei- Redwitz als einzigen in Vorschlag zu bringen. Das nem Protest des Münchner Stadtrates, der bei Bra- Separat-Votum nannte keine anderen Namen, son- kemann zu wenig praktische Fertigkeiten für den dern warnte dringend vor der Berufung eines Posten vermutete und deshalb Fikentscher favori- „Nicht-Habilitierten und eines Nicht-Wissenschaft- sierte.175 lers“. Dies würde, so hieß es, in der medizinisch- Mit diesem Einspruch wurde Anfang 1950 das wissenschaftlichen Welt Deutschlands auf „völlige Kandidatenkarussell noch einmal in Bewegung ge- Verständnislosigkeit“ stoßen und sei nur geeignet, setzt. Anfang Februar bat der Kultusminister, den den Ruf der Münchner Universität zu schädigen.170 Kriegsheimkehrer Carl Schroeder jun. (1900–1955) Weitere Details dieses Konfliktes sind der Lehr- „mitzuwürdigen“.176 Im Mai wandte sich der dama- stuhlakte nicht zu entnehmen. Eine Rolle spielte lige Bundeslandwirtschaftsminister Wilhelm Ni- aber offensichtlich auch, dass die Stadt München klas (1887–1957) brieflich an Kultusminister bei der Besetzung des Postens ein Wort mitzureden Hundhammer mit dem Hinweis, im Zusammen- hatte, denn mit der Professur war seit 1915 die Stelle eines Abteilungsleiters im städtischen Kran- 171 BayerHStaatsA M MK 69 402, Lehrstuhlakte Professur kenhausdienst verbunden. Zugleich gab es eine De- München II. 172 Siehe hierzu Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987), batte darüber, ob die universitäre Einrichtung nicht S. 104–105. an die Stadt abgegeben werden sollte. Die Fakultät 173 Gauß; Wilde: Geburtshelferschulen (1956), S. 133. 174 BayerHStaatsA M MK 69 402, Lehrstuhlakte Professur 168 StaatsA M, SpkA, 382, Heinrich Eymer. Beschwerde- Gynäkologie und Geburtshilfe München II, Vorschlag brief Koertings an die Fakultät zur Ernennung von der Fakultät vom 22. 12. 1949. Redwitz zum Honorarprofessor (21. 11. 1946). 175 Ebd., Protestbrief des Stadtrats vom 10. 1.1950. 169 Eymer: Redwitz (1949), S. 209. 176 Ebd., Aktennotiz vom 1.2.1950 [Autor unbekannt]. 170 BayerHStaatsA M MK 69 402, Lehrstuhlakte Professur Carl Schroeder jun., Fachausbildung bei Gauß in München II, Seitz an Kultusministerium (10. 1. 1949). Würzburg, dort 1932 habilitiert. Schroeder machte

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 180 Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 hang mit der Neubesetzung „schon einmal“ auf Ey- lichen und am 31. Oktober 1962 zum planmäßigen mers Oberarzt Otmar Bauer aufmerksam gemacht ordentlichen Professor ernannt. Auf seine Ver- zu haben. „[…] ich darf daher bitten, sich bei der dienste um die Modernisierung der Klinik sowie Entscheidung gütigst an meine Vorstellung erin- um die Sterilitätstherapie wird andernorts hinge- nern zu wollen.“177 Einen Monat später wurde wiesen.183 Hochschulreferent Rheinfelder in derselben Ange- Mit Fikentscher war – zwei Jahre nach Eymer – legenheit Adressat für Niklas. Bei ihm empfahl er ein vermutlich zumindest ebenso belasteter Frau- Bauer, „weil er meine Frau ganz ausgezeichnet […] enarzt ohne jede öffentliche Diskussion oder behandelt hat und weil ich von meinem Sohn weiß, größere Probleme mit Behörden in eine leitende dass Dr. Bauer eine seltene Lehrbegabung hat.“178 Position gelangt. Über die Zeit zwischen seiner Ent- Schließlich setzte sich Niklas auch noch gegenüber lassung Ende 1945 und seinem ersten Spruchkam- dem Münchner Oberbürgermeister Thomas Wim- merverfahren im März 1948, in dem er als Mitläu- mer für Bauer ein. All dies wurde jedoch wenig spä- fer eingestuft worden war, schweigen sich Akten ter durch eine anonyme Notiz für Rheinfelder rela- und Biographen aus.184 Schon im Juli 1948 erreich- tiviert, die sich in der Lehrstuhlakte findet: „Einer te er in der Berufung das Prädikat „entlastet“.Inder der Herren von St. Bonifaz teilte mir heute seine Be- Begründung hieß es, er habe „[…] in überzeugen- sorgnis über die geplante Ernennung Dr. Bauers der Weise den Nachweis erbracht, dass sein Partei- mit, der durch eine großzügige Einstellung zu Din- eintritt im Jahre 1933 einzig und allein nur auf gen des § 218 belastet sei.“179 Schließlich bat der Grund seiner Studentenschaft“ bedingt gewesen Betriebsrat der Gynäkologischen Abteilung des sei. Damit sei auch eine Aufnahme in die SA Ver- Krankenhauses das Kultusministerium um eine ra- pflichtung gewesen. Trotz dieser formalen Zugehö- sche Entscheidung für Fikentscher. rigkeit sei er „dauernd antifaschistisch eingestellt Als das Kultusministerium die Universität am gewesen, was sich aus seiner fortwährenden öf- 22. Juni 1950 um eine Stellungnahme zu Bauer bat, fentlichen Kritik und seiner laufenden Unterstüt- präsentierte die Fakultät stattdessen einen Dreier- zung von rassisch Verfolgten ergab. Bezüglich des vorschlag mit Brakemann, Fikentscher und – plötz- letzteren wurde er laufend von der Gestapo über- lich – Rech.180 Gleichzeitig hieß es, zu Bauer werde wacht und in seinem persönlichen Fortkommen man nicht Stellung nehmen, so lange das Ministeri- behindert.“185 um nicht über den aktuellen Vorschlag entschieden Schon der Blick in Fikentschers Personalakte habe. Die Behörde reagierte prompt: Aus dem Drei- zeigt jedoch ein anderes Bild. An der Universitäts- ervorschlag könne nur Fikentscher in die engere frauenklinik Halle, wo er an Zwangssterilisationen Wahl gezogen werden. Deshalb bitte man noch um und eugenischen Abtreibungen beteiligt war,186 eine Stellungnahme zu Bauer.181 Damit endete die machte er eine reibungslose Karriere: 1931 als As- Auseinandersetzung: Am 15. September 1950 er- sistent in die Frauenklinik eingetreten, konnte er teilte Kultusminister Hundhammer Fikentscher sich bereits 1935 habilitieren. Zu diesem Zeitpunkt „nach Einvernehmen mit dem Stadtrat München“ wurde er auch zum Oberarzt befördert. Die NS‑Do- den Ruf für die a. o. Professur für Geburtshilfe und zentenschaft befürwortete alle Schritte dieser Kar- Gynäkologie sowie für die Leitung der II. Frauenkli- riere ohne Einschränkungen. Dabei mag geholfen nik.182 Auch die weitere Karriere Fikentschers ver- haben, dass Fikentscher nach seinem Eintritt in die lief glatt. Am 14. Januar 1959 wurde er zum ordent- NSDAP und die SA 1933 noch im selben Jahr dem NS-Ärztebund beitrat. Später wurde er Mitglied dann offensichtlich eine militärische Karriere, wurde der NS‑Volkswohlfahrt, des NS‑Dozentenbundes 1935 Leitender Arzt am Hindenburg-Lazarett in Ber- lin und nach Umhabilitierung a.o. Professor. Noch 1950 übernahm er die Leitung der Städt. Frauenklinik in Hamburg-Barmbeck. Gauß; Wilde: Geburtshelfer- 182 Ebd., Schreiben Kultusministerium an Rektorat schulen (1956), S. 208. (15. 9.1950) · 177 Ebd., Brief von Niklas an Hundhammer (11. 5.1950). 183 Siehe hierzu den Beitrag von Georg Hofer in diesem 178 Ebd., Brief Niklas an Rheinfelder (6. 6.1950). Band. Ferner: Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987), 179 Ebd., Aktennotiz für Rheinfelder (15. 6.1950). Ge- S. 88–91. meint ist vermutlich einer der Mönche der Benedikti- 184 Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987), S. 88–91. nerabtei in München. 185 UnivA M E‑II‑1305, Rektoratsakte zu Fikentscher, 180 Ebd., Schreiben an Kultusministerium (29. 6.1950). Spruchkammerentscheid vom 12. 7.1948. 181 Ebd., Schreiben Kultusministerium an Rektorat 186 Siehe hierzu den Beitrag Ehrenmitglieder in diesem (14. 8.1950). Band.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 181 und des Altherrenbundes der Deutschen Studen- – jeweils gegen den Willen der Fakultät, wohl ten.187 durch ein Machtwort des Ministers. In beiden Fäl- Auch seinem Wechsel nach München 1938 an len kamen durch ihr Verhalten im NS belastete frü- die II. Frauenklinik zu Otto Eisenreich legte die Par- here Oberärzte der Kliniken zum Zug: in Erlangen tei keine Steine in den Weg. In einem Gutachten nach langen Auseinandersetzungen der vor allem der Dozentenschaft vom März 1938 erinnerte man im Zusammenhang mit Zwangsabtreibungen an sich wohlwollend an sein Verhalten während der Ostarbeiterinnen ins Zwielicht geratene Rudolf Dy- erwähnten Ausbildung in der Pathologie, die er roff, in München Richard Fikentscher, dessen ganz Ende der 1930er Jahre in der bayerischen Landes- offensichtlich durch Anpassung an das NS‑Regime hauptstadt absolviert hatte: „Weltanschaulich-po- gekennzeichnete Karriere 1948 niemanden mehr litisch war Fikentscher bereits während seiner zu stören schien. Münchener [sic] Zeit gesinnungsmäßiger National- Als Folge der zunächst sehr strikten Entnazifi- sozialist […].“ Erkundigungen in Halle hatten offen- zierungsmaßnahmen der US‑Militärregierung war bar das günstige Bild nicht getrübt: Er habe sich es 1945/46 in den genannten Hochschulkliniken auch dort, so hieß es, „als einsatzbereiter National- zu einer Personalnot bis dahin unbekannten Aus- sozialist bewährt.“188 Diese Einschätzung änderte maßes gekommen, die Krankenversorgung, Lehre sich nicht, als es 1941 um die Ernennung Fikent- und Forschung gleichermaßen betraf. In Würzburg schers zum außerplanmäßigen Professor ging: musste der seit über 25 Jahren niedergelassene „Weltanschaulich-politisch steht F. fest auf dem Bo- Frauenarzt Walter Gfroerer für die Klinik reakti- den des Nationalsozialismus; er hat es immer ver- viert werden. Später trat ein Assistenzarzt in Aus- standen, trotz stärkster beruflicher Beanspru- bildung, Oswald Fritz Peil, an seine Stelle, bis Bur- chung, mit der Dozentenschaft Fühlung zu hal- ger übernehmen konnte. Eine ähnliche Situation, ten“.189 allerdings über einen längeren Zeitraum, ergab sich für die II. Münchner Frauenklinik nach dem Tod von Klinikchef Otto Eisenreich: Hier musste Fazit man den Frauenarzt Wilhelm Freiherr von Redwitz bitten, die Klinikleitung zu übernehmen. Auch von Die Wiederbesetzung der gynäkologisch-geburts- Redwitz war seit über 20 Jahren niedergelassen. hilflichen Lehrstühle an den bayerischen Universi- Das öffentlich kritisierte Manko fehlender wissen- täten nach dem Ende des nationalsozialistischen schaftlicher Qualifikation glich die Fakultät durch Regimes war erst Anfang der 1950er Jahre abge- seine rasche Ernennung zum Honorarprofessor schlossen. Sie vollzog sich in Abhängigkeit von den aus. An der I. UFK München wurde der 1937 von lokalen Gegebenheiten unterschiedlich schnell. Ein den Nationalsozialisten entlassene, bereits 67-jäh- echter Neuanfang ist – wenn überhaupt – nur in rige ehemalige Oberarzt Ernst Ritter von Seuffert Würzburg zu erkennen, wo sich der bei Kriegsende zum kommissarischen Leiter ernannt. Die wenigs- fast 70-jährige Carl Joseph Gauß nach seiner Ent- ten, weil nur kurzfristigen, Personalprobleme gab lassung durch die Militärregierung in die private es in Erlangen, nachdem dort Anfang 1946 Walter Praxis nach Bad Kissingen zurückzog und mit Karl Rech für die Lehrstuhlvertretung gewonnen wor- Burger schon im November 1946 ein von extern be- den war, was allerdings auf anderer Ebene zu hefti- rufener, politisch unbelasteter Nachfolger das Amt gen Turbulenzen führte. übernahm. An der I. Universitätsfrauenklinik Mün- Bei der Betrachtung der Ereignisse bestätigen chen wurde der seitherige Amtsinhaber Heinrich sich andernorts gemachte Beobachtungen. So zeigt Eymer nach heftigen Auseinandersetzungen um – wie oben beschrieben – auch der Blick auf die seine NS‑Vergangenheit und einer gescheiterten bayerischen Universitätsfrauenkliniken, dass die externen Neuberufung im Oktober 1948 wieder ursprüngliche Intention der Amerikaner, durch als Ordinarius installiert. Erst 1950 folgte die Wie- strikte Entnazifizierung einen kompletten demo- derbesetzung des Erlanger Lehrstuhls und der Pro- kratischen Neuanfang zu ermöglichen, an den per- fessur für die II. Münchner Universitätsfrauenklinik sonellen Realitäten im Bereich der Hochschulmedi- zin scheitern musste. Ebenso erwiesen sich die 187 UnivA M E‑II‑1305, PA Fikentscher, Lebenslauf. Spruchkammerverfahren als wenig taugliches In- 188 Ebd., Gutachten der Dozentenschaft München vom strument der Vergangenheitsaufarbeitung – schon 19. 3.1938. deshalb, weil sie in ihrer Standardisierung speziel- 189 Ebd., Gutachten der Dozentenschaft München vom 29. 11. 1941. len Fragestellungen keinen Raum gewähren konn-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 182 Die Wiederbesetzung der gynäkologischen Lehrstühle in Bayern nach 1945 ten. Sie waren aber auch in ihren Möglichkeiten zur lensterilisationen wegen ihres kastrierenden Cha- Tatsachenfeststellung sehr eingeschränkt – zum ei- rakters sehr kritisch gegenüberstand, beteiligte er nen durch die schiere Fülle der zu bearbeitenden sich doch an der Etablierung dieser Methode. Fälle, zum anderen durch die weitgehend fehlen- Schließlich trug er zur Propagierung der NS‑Euge- den Möglichkeiten zu objektiver Ermittlung. Des- nik bei, indem er den Kommentar zum „Gesetz zur halb blieb und bleibt man in vielen Punkten auf Verhütung erbkranken Nachwuchses“ mit einem die subjektive Wertung entlastender und belasten- umfassenden Beitrag über die zur Verfügung ste- der Erklärungen angewiesen – wohl wissend, dass henden Sterilisations- und Abtreibungsmethoden Erstere häufig das Produkt undurchschaubarer Ver- ergänzte.190 flechtungen waren, die Opfer und Täter einander Als Karrierist und Profiteur des NS‑Regimes verpflichten konnten und deshalb als „Persilschei- lässt sich mit mehr Berechtigung Richard Fikent- ne“ charakterisiert wurden. Belastende Erklärun- scher bezeichnen, an dessen Beurteilung durch die gen andererseits wurden in manchen Fällen durch- Spruchkammer die Problematik dieses Verfahrens aus dazu missbraucht, offene Rechnungen zu be- einmal mehr deutlich wird. Fikentscher wurde – gleichen oder sich einen Vorteil zu verschaffen. wie oben dargestellt – im Oktober 1950 für die Pro- So erscheint das Spruchkammerverfahren ge- fessur und die Leitung der II. Münchner Universi- gen Eymer weder in der Erst- noch in der Beru- tätsfrauenklinik berufen, nachdem er von den fungsinstanz besonders gut geeignet, sich ein Bild Spruchkammerinstanzen zunächst als Mitläufer von seiner politischen Haltung im Nationalsozialis- und dann als entlastet eingestuft worden war. In mus oder in den ersten Nachkriegsjahren zu ma- der Begründung hieß es u. a., trotz seiner formalen chen. Die Masse, aber auch die Art mancher ent- Parteizugehörigkeit sei er „dauernd antifaschistisch lastenden Erklärungen lässt ahnen, mit wie viel eingestellt“ gewesen, habe die Partei öffentlich kri- Einfluss und wie viel Professionalität hier vorge- tisiert und laufend rassisch Verfolgte unterstützt. gangen wurde. Aber genügt das, diese Zeugnisse Deshalb habe ihn die Geheime Staatspolizei (Gesta- pauschal als „Persilscheine“ abzuqualifizieren? po) überwacht und er sei in seinem persönlichen Können die – durchaus sehr suspekten – Anzeigen Fortkommen behindert worden. Richtig war jedoch gegen Belastungszeugen ohne weiteres gegen Ey- offensichtlich das Gegenteil: Beginn der Facharzt- mer verwendet werden? Sind andererseits alle ausbildung 1931, Habilitation und Ernennung zum Vorwürfe, die von Seiten der in der Klinik unterge- Oberarzt 1935, dann 1941 außerplanmäßiger Pro- brachten jüdischen Ärzte gegen Eymer erhoben fessor, stets begleitet von wohlwollenden Beurtei- wurden, als korrekt zu unterstellen, weil sie von lungen der NS‑Dozentenschaft, die in ihm einen Opfern des NS‑Regimes kamen? Konnte nicht hier „gesinnungsmäßigen“ und „einsatzbereiten“ Na- auch der berechtigte Wunsch nach Kompensation tionalsozialisten sah. zur Überzeichnung führen? An dieser grundlegen- Rudolf Dyroff schließlich ist ein Beispiel dafür, den Problematik ändert der Spruch der Kammer wie eine Hochschulkarriere trotz frühzeitig be- nichts. kannter, erheblicher Belastung aus der NS‑Zeit im Von daher erscheint es nicht belegbar, Eymer als Nachkriegsdeutschland mit nur kurzer Zäsur er- nationalsozialistischen Aktivisten, Militaristen und folgreich fortgesetzt werden konnte. Ermöglicht Antisemiten zu beschreiben, wie dies neuerdings haben dies das nachlassende Interesse der Ameri- geschah. Allerdings ist nach den verfügbaren Fak- kaner an der Entnazifizierung, restaurative Ten- ten mit seiner Wiederernennung 1948 ein Hoch- denzen an der Universität Erlangen, Netzwerke Dy- schullehrer im Amt bestätigt worden, der sich in roffs an der Universität, in seiner alten Klinik und in vielerlei Hinsicht gegen seine Überzeugungen dem der Politik sowie ein konservativer und offensicht- „Dritten Reich“ dienstbar gemacht hat, damit des- lich von der Situation an der Erlanger Frauenklinik sen menschenverachtende Ziele unterstützte und zunehmend genervter Kultusminister Hundham- sicherlich in gewissem Umfang auch davon profi- mer. Hinzu kam die unbestrittene fachliche Kom- tierte. Wie an anderer Stelle näher ausgeführt, er- petenz Dyroffs, der bereits 1925 Oberarzt gewor- möglichte Eymer an seiner Klinik die Durchführung den war, sich 1927 habilitiert hatte und Anfang von Zwangssterilisationen, ließ gegen seine Über- 1933 den Titel eines Professors erhielt. zeugung eugenische Abtreibungen durchführen und duldete offenbar eine Zeit lang Schwanger- schaftsunterbrechungen bei Ostarbeiterinnen, die 190 Siehe hierzu den Beitrag Ehrenmitglieder in diesem er grundsätzlich verurteilte. Obwohl Eymer Strah- Band.

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Die restaurativen Tendenzen an der Erlanger Das Schicksal der in der Eymerschen Klinik un- Universität setzten mit der Abwahl des liberalen, tergebrachten jüdischen Ärzte sowie der Fall Ganse anglophilen Rektors Eduard Brenner 1948 unter in Erlangen werfen natürlich die grundsätzliche der Ägide des nachfolgenden Theologen Friedrich Frage auf, wie groß die Bereitschaft an den bayeri- Baumgärtel ein. Der neue Rektor stellte Dyroff schen Universitätsfrauenkliniken war, überhaupt 1949 die von Brenner noch verweigerte politische Verfolgte des NS‑Regimes sowie Flüchtlinge aus Unbedenklichkeitserklärung aus und dürfte das den Ostgebieten nach dem Krieg aufzunehmen Votum des Concilium decanale nicht unerheblich und zu integrieren. Dazu lässt sich sagen, dass in beeinflusst haben, das sich gegen Rech als Ordina- der I. UFK München der jüdische Arzt David Kleba- rius aussprach und den bis dahin nicht berücksich- now nach KZ‑Haft und Befreiung durch die Rote Ar- tigten Dyroff in einem Sondervotum auf die Beru- mee zunächst als Volontärassistent und dann als fungsliste setzte. Ferner spielte die inkonsequente wissenschaftlicher Assistent eine Anstellung fand. Haltung der Fakultät eine Rolle, die Dyroff einer- Er arbeitete dort unter Eymers Leitung für fünf Jah- seits die Venia legendi wieder erteilen, ihn aber re, habilitierte sich und emigrierte 1951 in die USA, offensichtlich als Lehrstuhlinhaber verhindern obwohl der Klinikchef ihm eine glänzende Karriere wollte. prophezeit und ihn zum Bleiben aufgefordert hatte. Spuren der Netzwerke Dyroffs in der Politik sind Aus einem von Kuß zitierten Brief geht außerdem durch die dokumentierte Fürsprache des einfluss- hervor, dass Klebanow in den Jahren nach seiner reichen CSU‑Politikers Fritz Schäffer aktenkundig, Emigration brieflichen Kontakt mit Eymer hielt der mit Dyroff verschwägert war. Im kollegialen und bei Besuchen in Deutschland stets den Kontakt Kreis legt unter anderem der Persilschein eines zu ihm suchte.191 Einen „Persilschein“ hatte er Ey- ehemaligen Forchheimer Bezirksarztes davon mer bei dessen Bemühungen um Entnazifizierung Zeugnis ab, in dem Dyroff eine „innerlich ablehnen- allerdings verweigert.192 de Haltung“ gegenüber dem „Gesetz zur Verhütung Leichter fiel die Integration des Deutschböhmen erbkranken Nachwuchses“ bescheinigt wurde. In- und späteren BGGF‑Ehrenmitgliedes Kurt Pod- wieweit Dyroff den Assistenten-Aufstand gegen leschka, der an der „Reichsuniversität Prag“ mit sei- Rech beeinflusst hat, muss unklar bleiben. Mit ner Habilitation eigentlich eine wissenschaftliche dem mutmaßlichen Rädelsführer Horvath, der un- Karriere angestrebt hatte. 1940 war er jedoch von ter Rech um seine Position als Leiter des Strahlen- den deutschen Besatzern nach Ostrava (Ostrau) instituts der Klinik fürchten musste, verband ihn „abkommandiert“ worden, um dort die Leitung allerdings jahrelange Zusammenarbeit. der Frauenklinik des staatlichen Krankenhauses zu Der in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen übernehmen. Mit Kriegsende geriet Podleschka als Dyroff erhobene Vorwurf der Beteiligung an Zivilist zunächst für vier Monate in russische Zwangsabtreibungen wurde nach der klaren ethi- Kriegsgefangenschaft, anschließend war er bis zu schen Verurteilung durch die universitäre Untersu- seiner Aussiedlung nach Junkersdorf (Kreis Ebern) chungskommission von 1946 schon zwei Jahre spä- Anfang 1946 von den Tschechen interniert.193 Ab ter durch die Justiz mit einer formalrechtlichen Be- 1947 konnte Podleschka in Erlangen als Oberarzt gründung relativiert. In der Folge begann Dyroff, tätig werden, sich umhabilitieren und den Titel ei- die – wie er es nannte –„Ostarbeiterinnensache“ nes außerplanmäßigen Professors erwerben. 1954 zunehmend zu einer Angelegenheit umzudeuten, wurde er zum Chefarzt der Frauenklinik am Städt- mit der er zunächst nur zufällig und dann eigent- ischen Krankenhaus Nürnberg berufen. Schließlich lich überhaupt nicht mehr in Verbindung zu brin- ist an dieser Stelle Karl Burger aus Budapest zu nen- gen war. Schließlich behauptete er sogar, sein nen, der 1936 bis 1944 Direktor der II. Universitäts- schärfster Kritiker Werner Leibbrand habe ihm be- Frauenklinik in Budapest war, dann in Göttingen stätigt, „zu unrecht [sic]“ mit den Zwangsabtrei- bei Martius unterkam und von dort als Ordinarius bungen in Verbindung gebracht worden zu sein. nach Würzburg berufen wurde. Darüber hinaus versuchte er, sich als Gegner des Als der große Verlierer bei der Wiederbesetzung „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuch- der gynäkologisch-geburtshilflichen Ordinariate in ses“ zu stilisieren. Diese Bemühungen waren inso- Bayern nach 1945 erscheint Walter Rech: Von den fern erfolgreich, als Dyroffs Aktivitäten im „Dritten Reich“ über Jahrzehnte nicht mehr thematisiert 191 Kuß: Klinikdirektor (1999), S. 91–93. und schon gar nicht weitergehend untersucht wur- 192 Siehe hierzu den Beitrag von Stauber in diesem Band. den. 193 UnivA Er F2/1, Nr. 1755: Nr. 38 (Lebenslauf).

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Amerikanern ursprünglich für die Eymer-Nachfol- Kühn, Kurt; Schneck, Peter: Robert Ganse. Das Schicksal ge in München ins Kalkül gezogen, ging er als kom- eines Frauenarztes in den Kämpfen seiner Zeit. 2., missarischer Leiter nach Erlangen, wurde auch in durchges. Auflage, Leipzig 1988. Kuß, Erich: Ein Klinikdirektor in politischer Bedrängnis. Würzburg für den Lehrstuhl diskutiert und letzt- Der Direktor der I. Frauenklinik der Universität Mün- lich aufgerieben. Es half ihm nichts mehr, dass er chen, Professor Dr. Heinrich Eymer, „subject of inves- 1950 auch auf einer Liste für die Besetzung der II. tigation“ der Militärregierung und „Betroffener“ im Münchner Frauenklinik auftauchte. 1954 brachte Spruchkammerverfahren, jetzt im Zwielicht der ihn, der sich im „Dritten Reich“ offenbar vergleichs- „Vergangenheitsbewältigung“. Aachen 1999. weise wenig angepasst hatte, das Minister-State- Kuß, Erich: Heinrich Eymer. Die Vergangenheitsüber (be)wältigung und die Selbstkontrolle der Wissen- ment „Steht nicht auf der Liste“ um eine letzte schaft. epub.ub.uni-muenchen.de/12313/ (04.09.2012). Chance, doch noch Ordinarius zu werden. Man er- Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik. Entnazifizierung innert sich: In anderen Fällen ließ sich so ein Pro- am Beispiel Bayerns. Frankfurt a. Main 1982. blem durchaus lösen. Sandweg, Jürgen: Die Universität in Staat und Gesell- schaft 1871–1950. In: Friederich, Christoph (Hrsg.): Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn- Literatur berg 1743–1993. Geschichte einer deutschen Hoch- schule. Veröffentlichungen des Stadtmuseums Erlan- gen, Nr. 43. Nürnberg 1993, S. 311–377. – Albrecht, Pavla: Prof. Dr. Heinrich Eymer eine ärztliche Sandweg, Jürgen: „My way to academic democracy“. Karriere zwischen Ehrgeiz, Eugenik und Nationalso- Von Blumen-, Frucht- und Dornenstücken auf dem zialismus. In: Krauss, Marita (Hrsg.): Rechte Karrie- Weg des Rektors Brenner. In: Sandweg, Jürgen; Leh- ren in München von der Weimarer Zeit bis in die mann, Gertraud (Hrsg.): Hinter unzerstörten Fassa- – Nachkriegsjahre. München 2010, S. 297 310. den. Erlangen 1945–1955. Erlangen 1996, S. 380– Babaryka, Gregor: Das Pathologische Institut der Univer- 383. sität München. In: Kraus, Elisabeth (Hrsg.): Die Uni- Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte. 2. Aufl., Kon- versität München im Dritten Reich, Aufsätze. Teil II. stanz 2005. – München 2008, S. 63 131. Stoeckel, Walter (Hrsg.): Deutscher Gynäkologenkalen- Bröer, Ralf: Geburtshilfe und Gynäkologie. In: Eckart, der. Biographisch-Bibliographisches Verzeichnis der Wolfgang Uwe; Sellin, Volker; Wolgast Eike (Hrsg.): Deutschen Frauenärzte. Bearbeitet von Dr. Friedrich Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus. Michelsson. Leipzig 1928. – Heidelberg 2006, S. 845 891. Stoeckel, Walter (Hrsg.): Gynäkologen deutscher Spra- „… Czarnowski, Gabriele: das unheilbar Erkrankte aus che. Biographie und Bibliographie. Herausgegeben “ dem Volkswachstum ausschalten : Politische Gynä- vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gynä- kologie an den Berliner Universitätsfrauenkliniken kologie. Bearbeitet von Prof. Dr. H. Kirchhoff und Dr. im Nationalsozialismus. In: Schleiermacher, Sabine; R. Polacsek. 3. Aufl., Stuttgart 1960. Schagen, Udo (Hrsg.): Die Charité im Dritten Reich. Szöllösi-Janze, Margit: Die Pfeilkreuzlerbewegung in – Paderborn; München; Wien; Zürich 2008, S. 133 Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und 150. Herrschaft“ (= Studien zur Zeitgeschichte 35). Olden- – David, Matthias: Albert und Gustav Döderlein ein kri- burg; München 1989. tischer Blick auf zwei besondere Lebensläufe deut- Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Entnazifizierung. Politische scher Ordinarien. In: Zentralblatt für Gynäkologie Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besat- – 128 (2006), S. 56 59. zungszonen von 1945–1949. 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Archivalien Internetquellen

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Universitätsarchiv München (UnivA M) E‑II‑1305, PA Richard Fikentscher PA‑allg.-15, PA Otmar Bauer E‑II‑804, Otmar Bauer

Universitätsarchiv Erlangen (UnivA Er) A2/10 Nr. 5 Ehrenangelegenheit Rech 1949–1951; A2/1 Nr. R 63 PA Walter Rech F2/1 Nr. 1755 Podleschka, Kurt A6/3d/21 Frauenklinik Erlangen C3/1 Nr. 746 C3/5 Nr. 44

Archiv des Amtsgerichtes Erlangen (AmtsgerA Er) SpKA Rudolf Dyroff

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Der Frauenarzt und die Sterilität des Mannes: Über das Verhältnis von Gynäkologie und Andrologie in den 1950er Jahren

Hans-Georg Hofer

Ein bayerischer Gynäkologe, der Ende September was die spezifischen Antriebsmomente, wer die 1959 an den Bodensee reiste, um in Lindau an der handelnden Akteure? alljährlichen Gynäkologen-Tagung teilzunehmen, Auf diese Fragen sollen im folgenden Beitrag in mochte über den thematischen Auftakt der Ver- drei Schritten Antworten formuliert werden. Zu- anstaltung einigermaßen erstaunt sein. Denn am nächst werden die Umstände skizziert, die zur ersten Tag des Treffens hatte eine neue Fachgesell- Gründung der Deutschen Gesellschaft zum Studi- schaft, die sich dem Studium der Fertilität und Ste- um der Fertilität und Sterilität (DGSFS) führten. rilität verschrieben hatte, zu einer „Wissenschaftli- Hierbei kam der bayerischen Gynäkologie, insbe- chen Gemeinschaftssitzung“ eingeladen. Diese in sondere dem Münchener Gynäkologen Richard Fik- bayerisch-österreichischer Zusammenarbeit orga- entscher, eine Vorreiterrolle zu. Mit der Gründung nisierte Sitzung war dem eigentlichen Programm dieser Fachgesellschaft war ein neues, interdiszipli- der gynäkologischen Tagung vorgelagert. Ein Blick näres Forum für die Fertilitätsforschung geschaffen, auf das Programm zeigte, dass die Sitzung von den das (Un)Fruchtbarkeit als Problem beider Ge- Präsidenten der Bayerischen bzw. Österreichischen schlechter begriff. Diese Entwicklung, nämlich die Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Überwindung der einseitigen gynäkologischen Fi- Richard Fikentscher (München) und Tassilo Antoi- xierung auf den Körper der Frau und die Erweite- ne (Wien), eröffnet wurde; diese beiden Gynäkolo- rung der Fertilitätsforschung auf das männliche Ge- gen firmierten auch als Gründungspräsidenten der schlecht, soll in einem zweiten Punkt ausgeführt neuen, dem gynäkologischen Fachpublikum vorzu- werden. Im Fokus steht hierbei das Aufkommen stellenden Gesellschaft. Nach dessen Begrüßung der Andrologie im Nachkriegsdeutschland, die sich sollte die Zusammenkunft mit fünf Vorträgen zum an mehreren Orten konstituierte und in der medi- Thema „Männliche Sterilität“ eingeleitet werden. zinischen Fachöffentlichkeit zunehmend Aufmerk- Ein an der Fertilitätsforschung interessierter Frau- samkeit fand. Schließlich soll in einem dritten enarzt konnte somit neugierig zur Kenntnis neh- Punkt der Frage nachgegangen werden, welche men, dass ganz oben auf der Tagungsagenda die konkreten Forschungsfragen in den Vorträgen zur Unfruchtbarkeit des Mannes stand. Das war ein No- männlichen Sterilität aufgeworfen wurden, und vum. Noch nie in der Tagungsgeschichte der Baye- welche gemeinsamen, aber auch unterschiedlichen rischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauen- Positionen und Reaktionen von Seiten der Gynäko- heilkunde war dem männlichen Geschlecht eine ei- logie bzw. Andrologie zu erkennen sind. Im Blick gene Sektion gewidmet gewesen. Und nun, im liegen hierbei die frühen Tagungen der Gesellschaft Jahre 1959, waren gleich fünf Vortragsredner ein- für Fertilität und Sterilität, die 1958 begonnen und geladen worden, die an prominenter Stelle der Ta- von 1959 an gemeinsam mit der BGGF veranstaltet gung das Verhältnis von Frauenheilkunde und Fer- wurden.1 tilität neu und anders definiert haben wollten – nämlich unter Einbeziehung des Mannes. Warum rückten Ende der 1950er Jahre Fertili- tätsprobleme von Frauen und Männern ins Blick- 1 Ab 1959 erschienen die Vorträge der (parallel zu den feld der Gynäkologie? Was waren die wissenschaft- Kongressen der BGGF abgehaltenen) Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Fertilität und Sterilität lichen und gesellschaftlichen Bedingungen dafür, auch in gedruckter Form, und zwar als Beilagenheft zur „Zeitschrift für Geburtshilfe“.

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Vorbereitung der Gründung einer deutschen Fach- Ein neues Forum der gesellschaft begonnen. Die Münchener Gynäkolo- Fertilitätsforschung gie war damit impulsgebend für die Professionali- sierung und Internationalisierung der deutschen 1959 führten die Deutsche Gesellschaft zum Studi- Fertilitätsforschung unter dem Dach einer neuen um der Fertilität und Sterilität und die Österrei- Fachgesellschaft, deren Arbeit im Einklang mit den chische Gesellschaft zum Studium der Sterilität Zielsetzungen der IFA stehen sollte. Hierzu war und Fertilität2 zum ersten Mal eine gemeinsame auch an einen intensiven Austausch mit der parallel Tagung durch. Als Vorsitzender der deutschen gegründeten österreichischen Fachgesellschaft ge- Fachgesellschaft firmierte Richard Fikentscher dacht.4 (1903–1993), Direktor der II. Universitätsfrauenkli- Ziel der Fachgesellschaft war es, wie Fikentscher nik München, als Vorsitzender der österreichischen in seiner Eröffnungsansprache in Lindau ausführte, Fachgesellschaft Tassilo Antoine (1895–1980), Vor- die „wissenschaftliche Weiterarbeit in dem weitge- stand der I. Universitäts-Frauenklinik in Wien und spannten Gebiet der Fertilität und Sterilität“ unter zu diesem Zeitpunkt auch Rektor der Universität Zusammenführung der „bislang zum Teil getrennt Wien. Beide Fachgesellschaften hatten sich auf- arbeitenden Kreise der sogenannten Grundlagen- grund äußerer Umstände gegründet. 1953 war in forschung und angewandten Wissenschaft“.5 Fik- New York der 1. Weltkongress der International entscher benannte hierbei ausdrücklich „die Kolle- Fertility Association (IFA) mit dem Ziel abgehalten gen aus dem Gebiet der Entwicklungsgeschichte, worden, der Fertilitätsforschung neue Impulse zu der Genetik, die Anatomen, die Veterinärmedizi- verleihen. Die geringe Beteiligung europäischer ner, die Sozialhygieniker, die Andrologen und die Wissenschaftler führte dazu, dass man von Seiten Gynäkologen“. Sie alle sollten zu einem koordinier- der IFA beschloss, den 2. Weltkongress in Europa ten Austausch zusammengeführt werden, um das abzuhalten. Die Wahl fiel auf Neapel, wo 1956 der zweite, anwendungsbezogene Ziel verfolgen zu Kongress unter Beteiligung möglichst vieler neuer können, nämlich „die Förderung und Vertiefung nationaler Fachgesellschaften angestrebt wurde. unserer ärztlichen Arbeit bei der Beratung und Be- Dies gelang nur zum Teil, da die Einladungen an handlung einer sterilen Ehe“.6 gynäkologische Fachgesellschaften verschickt wur- Sowohl Fikentscher als auch Antoine galten als den, die Satzungsbestimmungen der IFA allerdings führende Gynäkologen ihrer Zeit und waren als vorsahen, dass in der Fachgesellschaft neben der Gründungsvorsitzende der deutschen bzw. öster- Gynäkologie auch die Andrologie sowie die Vete- reichischen Fachgesellschaften sicherlich geeignet, rinärmedizin vertreten sein sollte; auf diesem den Anliegen der Gesellschaft Gehör zu verschaf- Wege sollte eine interdisziplinäre Ausrichtung der fen. Ihr Nahverhältnis zur Thematik der Sterilität Fachgesellschaft sichergestellt sein. 1958 gründete hatte jedoch insbesondere im Falle von Fikentscher Richard Fikentscher mit seinem damaligen Mitar- eine problematische Vorgeschichte. Fikentscher beiter Kurt Semm sowie mit dem Magdeburger Gy- hatte seine akademische Karriere als Gynäkologe näkologen Josef-Peter Emmrich, dem Dermatolo- an der Universitätsfrauenklinik in Halle begonnen, gen und Andrologen Paul Jordan (Münster) und wo er sich 1935 habilitierte. Dort nahm er von dem Veterinärmediziner Harry Tillman (Gießen) 1935 an im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung in München die Deutsche Gesellschaft zum Studi- erbkranken Nachwuchses“ bei 179 Frauen eine um der Fertilität und Sterilität.3 Fikentscher und zwangsweise Unfruchtbarmachung vor.7 Semm hatten auch am Kongress in Neapel 1956 teilgenommen und noch im selben Jahr mit der 4 Zum Verhältnis der beiden Fachgesellschaften vgl. den nostalgischen Rückblick von Fikentscher: Traditi- on (1989), S. 5–10. 2 Sic! – Die österreichische Gesellschaft hatte das Stu- 5 Fikentscher: Eröffnungsansprache (1959), S. 4. dium der Sterilität vor dasjenige der Fertilität gesetzt 6 Ebd., S. 1 f. und hielt auch in der Folge daran fest. Vgl. Reinold: 7 Von insgesamt 1398 Frauen, die bis 1945 an der Uni- Jahre (1998), S. 41–43. versitätsfrauenklinik zwangssterilisiert worden wa- 3 Vgl. Fikentscher: Aufgaben (1958), S. 1497–1591; ren, hatte Fikentscher jede achte Frau operiert. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Reproduktionsmedizin: Grimm: Zwangssterilisationen (2004), S. 29. Zum Geschichte, www.repromedizin.de/dgrm-informa- „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, tionen/geschichte.html (04.09.2012); 1998 in Deut- seiner Durchführung und zur Debatte um ein Sterili- sche Gesellschaft für Reproduktionsmedizin umbe- sationsgesetz in der Bundesrepublik vgl. den Beitrag nannt. von Astrid Ley in diesem Band.

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1942 wechselte Fikentscher als außerplanmäßi- von martialischen Männlichkeitsvorstellungen ge- ger Professor für Gynäkologie nach München; 1950 kennzeichnet gewesen, gerade auch in der Medizin. wurde ihm die Leitung der II. Universitätsfrauenkli- Dennoch kann – wie vor allem die Arbeiten der His- nik übertragen. Das Ordinariat für Gynäkologie er- torikerin Florence Vienne gezeigt haben – mit Blick hielt Fikentscher erst 1959 – ein Jahr nachdem er auf die NS‑Zeit von einer einseitigen „Ausblen- auch Gründungspräsident der Deutschen Gesell- dung“ des Mannes in Fragen von Fertilität und (un- schaft für Fertilität und Sterilität geworden war.8 ter Zwang vollzogener) Sterilität keine Rede sein.11 Auch Tassilo Antoine war nach dem „Anschluss“ Männliche Zeugungsunfähigkeit wurde auch Österreichs an das nationalsozialistische Deutsch- nicht erst in den 1950er Jahren zu einem For- land in seiner Funktion als Primararzt am Kranken- schungsgegenstand von Gynäkologie und Androlo- haus der Stadt Wien (Lainz) für die Durchführung gie; die Entwicklungslinien der Diskussion darüber von Zwangseingriffen zur „chirurgischen Unfrucht- können bis ins späte 19. Jahrhundert zurückver- barmachung an Frauen“ ermächtigt gewesen.9 1943 folgt werden. So machten etwa bereits um 1900 wurde er Ordinarius für Gynäkologie und Geburts- der Leipziger Sexualwissenschaftler Hermann Roh- medizin an der I. Universitäts-Frauenklinik in Wien leder sowie der Berliner Anatom und Internist Paul und hatte diese leitende Stellung bis 1967 inne. Fürbringer darauf aufmerksam, dass das Problem der männlichen Sterilität entkoppelt von der sexu- ellen Potenz verstanden werden müsse; die Anzahl und die Qualität der Spermatozoen im Sperma sei- Männliche Sterilität in der en bei der Unfruchtbarkeit das Entscheidende – ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht so sehr das sexuelle Unvermögen des Mannes, den Beischlaf zu vollziehen.12 Die Diffe- In der historischen Rückschau von Gynäkologen renzierung zwischen einer potentia coeundi und und Andrologen, wie etwa auf der Jubiläumsveran- der potentia generandi war eine der zentralen Ein- staltung anlässlich des 25-jährigen Bestehens der sichten, die von der frühen Sterilitätsforschung am Gesellschaft im Jahr 1983, wurden die (zum Teil Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglicht wurde. von den eigenen Mitgliedern durchgeführten) In Erinnerung zu rufen ist weiterhin, dass das Zwangssterilisierungen im Nationalsozialismus um 1900 einsetzende Erkenntnisinteresse an der vollständig ausgeblendet. Zugleich wurde die Zeit männlichen Unfruchtbarkeit in einem Nahverhält- vor der Gründung der Gesellschaft als eine für die nis zu dem (in diesem Zeitraum ebenso aufkom- Fertilitätsforschung unergiebige und wenig innova- menden) Gedankengut der Eugenik und Rassenhy- tive Phase charakterisiert. In der Gynäkologie, so giene zu sehen ist. So arbeitete etwa Alfred Ploetz, stellte es etwa Boris Belonoschkin dar, sei noch in der den Begriff der „Rassenhygiene“ prägte, selbst den 1940er Jahren „jeglicher Zweifel an der männ- zu Fragen der Spermatogenese im Tierexperiment; lichen Zeugungsfähigkeit tabu“ gewesen; er selbst, die Bedeutung männlicher Zeugungsunfähigkeit Belonoschkin, sei 1943, als er auf einer Gynäkolo- für die Fortpflanzung hatte Ploetz klar erkannt; gentagung zum Thema der männlichen Sterilität dementsprechend richtete er seine Leitsätze für sprach, coram publico „ausgelacht“ worden.10 eine zu schaffende Fortpflanzungshygiene nicht Zweifelsohne war die Zeit des Nationalsozialismus nur an Frauen, sondern auch an Männer.13 Im Nationalsozialismus wurden nach Einfüh- 8 Vgl. Aigner: Frauenklinik (1988), S. 47. rung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken 9 Ob er diese auch tatsächlich durchführte, ist aller- Nachwuchses“ etwa 200000 Männer (und damit dings nicht klar, da Antoine kurz nach Antritt der in derselben Größenordnung wie Frauen) zwangs- Stelle in Lainz an die gynäkologische Universitätskli- operiert, um sie dauerhaft von der Fortpflanzung nik in Innsbruck wechselte (1940), bevor er drei Jahre auszuschließen.14 Gemäß den rassenpolitischen später nach Wien zurückkehrte. Vgl. Spring: Krieg Zielsetzungen des Regimes wurde parallel dazu (2009), S. 240 und Wolf: Vernunft (2008), S. 558. Zur österreichischen Gynäkologie nach dem „Anschluss“ an das Reich vgl. in diesem Band den Beitrag von Ga- 11 Vgl. Vienne: Zeugungsvermögen (2008); Vienne: briele Czarnowski. Mann (2006); Vienne: Geschichte (2005); jüngst 10 Belonoschkin: Grußwort (1983), S. 29. Belonoschkin auch Heinitz; Roscher: Making (2010). hatte seit den 1930er Jahren zunächst in Würzburg 12 Vgl. Benninghaus: Beteiligte (2007), S. 139–155; und dann an der Danziger Frauenklinik auf dem Ge- Vienne: Zeugungsvermögen (2008), S. 171–178. biet der „experimentellen Spermaforschung“ gear- 13 Vgl. Vienne: Zeugungsvermögen (2008), S. 168. beitet. 14 Vgl. ebd., S. 180.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Über das Verhältnis von Gynäkologie und Andrologie in den 1950er Jahren 189 die Forschung zur männlichen Sterilität intensi- des Mannes sicher oder zumindest äußerst wahr- viert, um „erbgesunden“, aber nicht fortpflan- scheinlich.“17 Damit stellte der Basler Frauenarzt zungsfähigen Männern zur Zeugungsfähigkeit zu klar, dass die Thematik der Sterilität beide Ge- verhelfen. Im Mittelpunkt standen hierbei physio- schlechter betraf: Nicht nur der weibliche, sondern logische und morphologische Studien des Spermas auch der männliche Körper konnte zeugungsunfä- sowie neue Möglichkeiten der Klassifizierung. Das hig sein. Spermiogramm wurde als neue Methode einge- führt, um die Anzahl unbeweglicher oder patholo- gisch veränderter Spermien im Ejakulat genauer Andrologie und Aufbaugesellschaft erfassen zu können. Auf diesem Wege hoffte man zu einer aussagekräftigeren Diagnose über die Zeu- Am Ende des Zweiten Weltkriegs schien Joël die Er- gungsunfähigkeit zu kommen. Über diese neuen forschung der Unfruchtbarkeit des Mannes und Möglichkeiten, männliche Sterilität durch Sperma- ihre therapeutische Beeinflussung aktueller denn bestimmungen genauer eingrenzen zu können, je. In der „Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynä- wurde zunehmend auch in gynäkologischen Fach- kologie“ forderte er 1945, dass nach dem „mörde- zeitschriften publiziert.15 Ein weiterer wichtiger rischen Völkerringen“ nun auch von Seiten der Me- Schritt war die 1942 erfolgte Anerkennung der Un- dizin alles Notwendige für den „Wiederaufbau“ fruchtbarkeit beim Mann als Krankheit, deren Be- einzuleiten sei. Hierbei sei eine verstärkte Ausei- handlung von den Krankenkassen zu übernehmen nandersetzung mit allen Fragen von Fertilität und war. Sterilität unerlässlich. Durch gemeinsame Anstren- Wichtige Impulse zur männlichen Sterilitätsfor- gung von Frauenärzten und Spezialisten unter- schung kamen in den 1940er Jahren aus der Frau- schiedlicher Fachprovenienz müsse ein neues Ar- enklinik der Universität Basel. Dort hatte Charles beitsgebiet mit dem Namen „Andrologie“ geformt A. Joël 1942 eine Monographie mit dem Titel „Stu- werden: „In unseren Zeiten des verheerenden Aus- dien am menschlichen Sperma“ vorgelegt. Zusam- falls männlicher Partner“, begründete Joël diese men mit der zwei Jahre später von dem Chirurgen Forderung, komme diesem Gebiet zukünftig große Hans Stiasny publizierten Monographie über die Bedeutung zu.18 Joëls Ruf zur Einführung der An- „Unfruchtbarkeit beim Manne“ war dies die zu die- drologie verhallte in der unmittelbaren Nach- sem Zeitpunkt umfassendste Abhandlung zur Ste- kriegszeit zunächst. Andrologisches Wissen war zu rilitätsforschung beim Mann.16 Ähnlich wie Stiasny, diesem Zeitpunkt erratisches Wissen, ohne klare der zu seinen Forschungen durch die Praxis der disziplinäre Anbindung und institutionelle Zuord- Zwangssterilisation beim Mann angeregt worden nung, personifiziert in den Forschungsanliegen war, argumentierte auch Joël, dass die Frage der einzelner Ärzte. Fertilität des Mannes „vom eugenischen Stand- 1951 unternahm der Bonner Ordinarius für punkt“ erheblich an Bedeutung gewonnen habe. Frauenheilkunde, Harald Siebke, einen erneuten Eine Besonderheit bei Joël lag aber darin, dass erst- Versuch, andrologische Positionen zu stärken. In ei- mals ein Gynäkologe die Thematik der männlichen nem viel beachteten Aufsatz forderte Siebke die Zu- Sterilität explizit zu seinem Forschungsthema ge- sammenarbeit von Gynäkologen und Andrologen, macht hatte. Joël lieferte in seinem Werk nicht nur um die Behandlung der Kinderlosigkeit in Ehen einen ausführlichen historischen Abriss über die von einem Standpunkt aus zu erforschen, der prin- neuzeitliche Spermaforschung, sondern auch eine zipiell beide Geschlechter einschließe. Nicht nur umfängliche Bibliographie, die über 500 Veröffent- Frauen, sondern auch Männer sollten sich in diesen lichungen umfasste. Seine eigenen Ejakulatsunter- Fällen einer fachärztlichen Untersuchung unterzie- suchungen an der Basler Frauenklinik, die er an hen. Siebke tat dies mit explizitem Hinweis auf die rund 300 Männern, deren Ehe mindestens zwei „altbekannte Tatsache, daß Männer den Grund der Jahre kinderlos geblieben war, durchgeführt hatte, Kinderlosigkeit einer Ehe beharrlich auch dann nur brachten folgendes Ergebnis: In rund 20% aller Fäl- bei der Frau suchen und vom Arzt nur bei der Frau le habe der Mann eine „sichere Schuld“ an der „ste- suchen lassen, wenn sie allen Grund hätten, ihn bei rilen Ehe“; in rund 50% aller Fälle sei „die Schuld sich selbst zu vermuten“.19

15 Vgl. Stiasny: Untersuchungsmethode (1941), S. 1246– 1257. 16 Vgl. Joël: Studien (1942); Stiasny: Unfruchtbarkeit 17 Joël: Studien (1942), S. 133. (1944). 18 Joël: Sterilität (1945), S. 247.

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Siebke wollte einen Bewusstseinswandel da- logen auch venerologisch arbeiteten und somit mit durch hervorrufen, dass von Seiten der Medizin Geschlechtskrankheiten befasst waren, die bei ih- dem Gynäkologen ein Androloge gegenübergestellt ren männlichen Patienten immer wieder zu Un- werde, der sich auf die Prüfung der Zeugungsfähig- fruchtbarkeit führten. Besonders gefürchtet war in keit des Mannes spezialisiert hatte. Die Ursache für diesem Zusammenhang die Gonorrhoe, die häufig die Kinderlosigkeit von Ehen sah er in erster Linie zu Nebenhoden- und Hodenentzündungen – und beim Manne, dessen Sexualität und Fortpflan- in weiterer Folge zu verminderter Fertilität oder zungsfähigkeit durch Krieg und Gefangenschaft ge- gar irreversibler Sterilität – führen konnte. litten habe: „Männer, die eine Dystrophie, Hunge- In der Nachkriegszeit gingen dann gleich von rödeme, Typhus, Malaria, längeres Fieber unklarer mehreren westdeutschen Universitätshautkliniken Ätiologie hatten, kommen erst ganz allmählich wichtige Impulse aus: In Münster war es der Der- wieder zum normalen Befund, oft ebenso langsam matologe Paul Jordan, der als Gründungsmitglied zum Impetus in der vita sexualis überhaupt. Wie der Deutschen Gesellschaft zum Studium der Ferti- oft waren Männer und Frauen von den aus der Ge- lität und Sterilität andrologische Anliegen ein- fangenschaft zurückkehrenden Männern auf die- brachte. An der Hamburger Hautklinik förderte Jo- sem Gebiet enttäuscht, weil sie von dem auch im seph Kimmig die andrologischen Ambitionen sei- Umgang mit Frauen ausgehungerten Mann mehr ner Assistenten Wolfgang Nikolowski und Carl oder anderes erwartet hatten, als er gab und geben Schirren. Insbesondere Schirren forcierte in den konnte. Wie viel können Gynäkologe und Andro- 1960er Jahren den Aufbau der Andrologie als neues loge bei guter Zusammenarbeit in solchen Fällen Spezialgebiet.23 In Gießen wurde die Andrologie mit einigen verständnisvollen Worten helfen.“20 von dem dortigen Leiter der Hautklinik, Rudolf M. Siebkes Aufruf zur systematischen Erforschung der Bohnstedt, und seinem Mitarbeiter Ernst Heinke Fertilität des Mannes auf dem Wege der Zusam- unterstützt.24 In Würzburg war es Hans Schuer- menarbeit mit Andrologen stieß Anfang der 1950er mann, der von 1948 an als Leiter der Universitäts- Jahre auf mehr Resonanz. Dies mochte nicht nur hautklinik andrologische Themen förderte und mit der einflussreichen Position zu tun haben, die selbst auch bearbeitete.25 1958 wechselte Schuer- Siebke in der Gynäkologie Nachkriegsdeutschlands mann auf den Lehrstuhl für Dermatologie an der hatte. Sein vor allem an der Figur des Kriegsheim- Universität Bonn, wo er mit seinem Mitarbeiter Ru- kehrers entwickeltes Argument, dass auch der dolf Doepfmer weitere Forschungen zur männli- männliche Körper in seiner Fortpflanzungsfähig- chen Sterilität initiierte.26 Von Seiten der Gynäkolo- keit beeinträchtigt sei, betraf ein vieldiskutiertes gie war es neben der Bonner Universitätsfrauenkli- Problem der westdeutschen Nachkriegsgesell- nik auch Göttingen, das sich als Ort fruchtbarer schaft. 1956 etwa hatte die Deutsche Gesellschaft andrologischer Forschung erwies: 1956 habilitierte für Sexualforschung einen Kongress in Erlangen ab- sich dort der Gynäkologe Hans-Werner Vasterling gehalten, der eigens der Thematik der Sexualität mit einer Arbeit, die einige Jahre später auch als des Heimkehrers gewidmet war.21 Monographie unter dem Titel „Praktische Sperma- Die von Siebke angeregte Zusammenarbeit des tologie“ (1960) erschien.27 Gynäkologen mit dem Andrologen führte in den 1950er Jahren häufig in (und über) Universitäts- 22 Vgl. Schirren: Geschichte (1989), S. 17–22. hautkliniken. Neben Gynäkologie, Anatomie, Phy- 23 1969 gründete Schirren die deutschsprachige andro- siologie und Chirurgie war es insbesondere die logische Fachzeitschrift „Andrologia“. Dermatologie, die sich in der ersten Hälfte des 24 Vgl. Schirren: Geschichte (1989), S. 17. 20. Jahrhunderts als Ort der medizinischen For- 25 Vgl. Schuermann: Zunahme (1949), S. 366. schung zu Fragen der männlichen Sterilität er- 26 Doepfmer und Heinke verfassten zusammen mit dem wies.22 Dies hat seinen Grund darin, dass Dermato- Münchener Dermatologen Siegfried Borelli den Band „Fertilitätsstörungen beim Manne“, der 1960 im Er- gänzungswerk zu dem von Josef Jadassohn herausge- 19 Siebke: Gynäkologe (1951), S. 635. Zu Siebke, an des- gebenen „Handbuch der Haut- und Geschlechts- sen Frauenklinik in Bonn während der NS‑Zeit eine krankheiten“ erschien: Heinke; Doepfmer; Borelli: große Zahl von Zwangssterilisierungen durchgeführt Fertilitätsstörungen (1960). Vertiefte anatomische wurde, vgl. Forsbach: Fakultät (2006), S. 238–247. Kenntnisse lieferte das von dem zunächst in Gießen 20 Siebke: Gynäkologe (1951), S. 636. (und ab 1958 in Tübingen) wirkenden Anatomen 21 Vgl. Gesellschaft für Sexualforschung: Sexualität Emil Tonutti und Mitarbeitern verfasste Gemein- (1957). Zu den medizinischen Debatten über Kriegs- schaftswerk „Die männliche Keimdrüse“. heimkehrer vgl. Goltermann: Gesellschaft (2009). 27 Vgl. Vasterling: Spermatologie (1960).

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Diese Beispiele zeigen, dass in den 1950er Jah- die Sektion mit einem Vortrag zu andrologischen ren an mehreren Standorten eine intensive andro- Untersuchungstechniken. Neben Vorträgen zu logische Forschung eingesetzt hatte, die sich am neueren Ergebnissen biochemischer Samenunter- Ende des Jahrzehnts in einer Reihe von Veröffentli- suchungen (Baier, Schöldgen) bildeten Vorträge, chungen manifestierte. Diese Entwicklung wurde die sich mit der Morphologie und Motilität der zunehmend auch von Seiten der Gynäkologie be- Spermien (Sillo) beschäftigen, einen zweiten achtet und anerkannt. Der einflussreiche Tübinger Schwerpunkt. Zudem wurden Erkenntnismöglich- Gynäkologe August Mayer etwa hielt 1958 die keiten der Hodenbiopsie thematisiert (Niermann „Spermaforschung“ für eine „eigene verantwor- und Hornstein).29 Auch die 1960 erneut in Mün- tungsvolle Wissenschaft“, die im „Kampf gegen die chen stattfindende Tagung setzte mit Vorträgen zu Unfruchtbarkeit“ auch für die Frauenheilkunde un- morphologischen und biochemischen Analysen des verzichtbar geworden sei.28 Es war daher nur folge- Spermas ähnliche Schwerpunkte (Schirren, Doepf- richtig, dass zu diesem Zeitpunkt auf gynäkologi- mer, Hornstein, Niermann). schen Fachtagungen auch andrologische Vorträge Leitgedanke war hierbei, das Ejakulat des Man- zugelassen und neue Wege der Kooperation ge- nes nicht nur physikalisch und mikroskopisch auf sucht wurden. Mit der Gründung der Deutschen eine vermutete Aspermie oder Oligospermie zu un- Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterili- tersuchen, sondern darüber hinaus auch Kenntnis- tät wurde ein solches Forum geschaffen, das Gynä- se über dessen biochemische Eigenschaften zu ge- kologen und Andrologen in Austausch miteinander winnen. Bestimmte Substanzen im Ejakulat, so die brachte. Annahme der Andrologen, hatten auf die Qualität der Spermien (und somit auf die Zeugungsfähig- keit) unmittelbaren Einfluss. Ihre Bestimmung konnte die Befunde des Spermiogramms ergänzen Fertilität und Sterilität im Fokus und präzisieren. von Gynäkologie und Andrologie Als wichtigste Substanz der andrologischen Un- tersuchung galt zu diesem Zeitpunkt die Fruktose. Überblickt man die Vorträge der seit 1912 abgehal- In den 1940er Jahren hatte der englische Biochemi- tenen Bayerischen Gynäkologentagungen, so zeich- ker Thaddeus Mann mit seinen Mitarbeitern im net sich die Ende der 1950er Jahre einsetzende gy- Tierexperiment demonstriert, dass zwischen der näkologische Aufmerksamkeit für Fertilitätsproble- Fruktosekonzentration im Spermaplasma und der me des Mannes deutlich ab. Was waren nun die Motilität der Spermatozoen ein Zusammenhang konkreten andrologischen Themen, die auf den Ta- besteht. 1954 legte Mann zur biochemischen Ana- gungen der neuen Fachgesellschaft in Vorträgen lyse des Spermaplasmas eine umfangreiche Unter- behandelt wurden? Wer waren die Vortragenden? suchung vor, die auch von westdeutschen Androlo- Tabelle 10.1 gibt einen Überblick über Anzahl und gen rasch rezipiert und in ihre forschungsprakti- thematische Ausrichtung jener Vorträge zur männ- sche Arbeit integriert wurde.30 Die Analyse der lichen Sterilität, die auf den ersten drei Tagungen Fruktosekonzentration, so die Argumentation der der DGSFS gehalten und publiziert worden sind: Andrologen, habe für die Fertilitätsuntersuchung Insbesondere forschungsmethodische Fragen des Mannes zweierlei Bedeutung: Zum einen erlau- standen im Mittelpunkt der andrologischen Vor- be diese Methode genauere Rückschlüsse auf die träge und Diskussionsbemerkungen: Auf welchem Bewegungsfähigkeit und Dichte der Spermatozoen; Wege ließ sich eine vermutete Sterilität beim so könne etwa bei einem Fehlen von Spermatozoen Mann einwandfrei feststellen? Welche Methoden (Azoospermie) auch kein Fruktoseabbau festge- sollten hierbei zur Anwendung kommen? Und wel- stellt werden. Zum anderen könne ein niedriger che anderen Faktoren waren in Betracht zu ziehen, Fruktosegehalt auch mit der (defizienten) hormo- wenn die Untersuchung des Ejakulats im Labor kei- nalen Situation des Mannes in Zusammenhang ne eindeutige Schlussfolgerung erlaubte? Auf der gebracht werden. Niedrige Fruktosewerte im mitt- Gründungstagung der Gesellschaft in München hatte Rudolf Doepfmer die Bedeutung der Infekti- 29 Bei dieser Methode wurde mit Hilfe eines operativen onskrankheiten für die männliche Infertilität skiz- Eingriffs ein kleines Stück vom Hoden entfernt, um es ziert; ein Jahr später eröffnete er in Lindau erneut mikroskopisch auf das Vorhandensein von Spermien untersuchen zu können. Vgl. Schirren: Einführung (1977), S. 38–42. 28 Mayer: Bemerkungen (1959), S. 68. 30 Vgl. Mann: Biochemistry (1954).

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Tabelle 10.1 Deutsche Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität: Vorträge/Beiträge zur Thematik der männlichen Sterilität (1958–1960/61). Gründungstagung der Deutschen Herausgeber: Prof. Dr. R. Fikentscher Gesellschaft zum Studium der Fertilität Beilageheft zur „Zeitschrift für Geburtshilfe“ Bd. 152 und Sterilität (DGSFS) in München (Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag; 1959) am 17./18.5.1958

Doepfmer, R. Bonn Die Bedeutung der Infektionskrankheiten für die männliche Infertilität

Heinke, E. Gießen Die Behandlung männlicher Infertilität an Hand mehrjähriger Beobachtungen (rebound-Phänomen)

Tillmann, H. Gießen Männliche Infertilität (mit Filmvorführung)

Vasterling, H. W. Göttingen Fruktose und Fruktolyse im menschlichen Sperma

Winzeler, H. Zürich Zur Frage des Rebound-Phänomens beim Mann

Gemeinschaftssitzung der Deutschen Herausgeber: Prof. Dr. R. Fikentscher Gesellschaft zum Studium der Fertilität Beilageheft zur „Zeitschrift für Geburtshilfe“ Bd. 152 und Sterilität und der Österreichischen (Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag; 1960) Gesellschaft zum Studium der Sterilität und Fertilität in Lindau am 30.9.1959

Baier, W. München Vergleichende Betrachtung über die männliche Sterilität

Doepfmer, R. Bonn Aktuelle Fragen der Störungen der männlichen Fertilität

Hornstein, O. Bonn Über Leydigzell-Hyperplasie bei primären Hodenparenchymschäden

Niermann, H. Münster Samenfadenzahl und Hodenbiopsie im Vergleich

Leeb, H. Wien Zur Interpretation des Penetrationstestes

Schöldgen, W. Düsseldorf Über die wechselnde Aktivität glykolytischer Fermente im Seminalplasma

Sillo, G. Frankfurt/M. Geschwindigkeit und Zeugungsfähigkeit der menschlichen Samenfäden

Gemeinschaftstagung der Deutschen Herausgeber: Prof. Dr. R. Fikentscher Gesellschaft zum Studium der Fertilität Beilageheft zur „Zeitschrift für Geburtshilfe“ Bd. 157 und Sterilität und der Österreichischen (Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag; 1961) Gesellschaft zum Studium der Sterilität und Fertilität in München am 15./16.10. 1960

Bohnstedt, R.M. Gießen Fertilitätsstörungen bei Varikozelen und nach Hodendystopien und Leistenbruchoperationen

Meyhöfer, W. Gießen Untersuchungen an menschlichen Hodenzellen mittels Ultraviolett- Spektrometrie

Schirren, C. Hamburg- Die Bedeutung biochemischer Untersuchungen für die moderne Eppendorf Fertilitätsdiagnostik beim Manne

Doepfmer, R. Bonn Die Bedeutung des Spermaliquors für die Befruchtung

Hornstein, O. Bonn Über das Vorkommen von Glukose im menschlichen Sperma Niermann, H./ Münster Chromatinbestimmung bei Fertilitätsstörungen Kosenow, W.

Heise, G.W. Magdeburg Röntgenologisch gesicherte Veränderungen an Samenleitern und Samenblasen

Kiessling, W. Heidelberg Katamnesen bei sterilen Ehen

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Abb. 10.1 Richard Fikentscher: Gesichtspunkte einer Sterilitätsberatung im modernen Sinn (Quelle: Fikent- scher, Eröffnungsansprache 1959). leren Lebensalter des Mannes würden auf diesem halten. Tulzer zog darin eine kritische Bilanz. Die indirekten Wege eine – krankheits- oder altersbe- bislang durchgeführten Untersuchungen und Stu- dingte – geringere Ausschüttung oder Wirksamkeit dien seien hinter den Erwartungen zurückgeblie- der männlichen Sexualhormone anzeigen. Dadurch ben. Auch die Bestimmung des Fruktosegehalts könnten bislang umstrittene Konzepte, wie etwa des Spermas sowie Hodenbiopsien und Hormon- dasjenige von „Wechseljahren“ beim Mann, in ein analysen hätten für sich genommen keine wesent- neues Licht gerückt werden.31 lichen Fortschritte gebracht.32 Allerdings waren von Beginn an auch kritische Diese Kritik kam nicht zufällig aus der Gynäko- Stimmen zu hören, die die Aussagekraft der andro- logie, die das Problem der Sterilität bei den Ge- logischen Laboruntersuchungen anzweifelten und schlechtern umfassender betrachtet haben wollte. um klinische Forschungskriterien ergänzt haben Hier kündigten sich grundsätzliche Auffassungs- wollten. Bereits 1957 hatte der Wiener Gynäkologe unterschiede an: Während die aufstrebenden H. Tulzer auf der Bayerisch-Schweizerisch-Öster- Andrologen ihre Forschungsarbeit vor allem in der reichischen Gynäkologentagung in Wien einen Differenzierung und Weiterentwicklung der mor- Vortrag „Über den Wert der Laboratoriumsmetho- phologisch-biochemischen Untersuchungsmetho- den zur Beurteilung der männlichen Fertilität“ ge- den sahen und sich solcherart als unverzichtbare Spezialisten definierten, wollten die Gynäkologen 31 Zu den Kontroversen über die „Wechseljahre des Mannes“ vgl. Hofer: Medizin (2007). 32 Vgl. Tulzer: Wert (1957), S. 1056 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 194 Über das Verhältnis von Gynäkologie und Andrologie in den 1950er Jahren eine möglichst breite und vielfältige Herangehens- schaft heimgekehrt, sei der Mann mit beruflichem weise ermöglichen, die neben labordiagnostischen Erfolgsdruck sowie mit permanenter Zeitnot kon- Methoden klinische Erfahrungen und Befunde in- frontiert, die sich in seiner psychosexuellen Biogra- tegrierte sowie darüber hinaus auch die psychoso- phie negativ auswirkten.34 Andrologen und Gynä- zialen und gesellschaftlichen Aspekte der Proble- kologen, dies zeigt sich bei einer Durchsicht der matik berücksichtigte. Richard Fikentscher hatte ersten drei Tagungsbände der DGSFS deutlich, dies 1958 in seiner programmatischen Eröffnungs- brachten somit recht unterschiedliche Sichtweisen rede zur Gründung der Gesellschaft in München auf das Problem der Sterilität bei Frauen und Män- wie folgt ausgedrückt: Nicht allein die möglichst nern in die Arbeit der Fachgesellschaft ein. Koope- objektive Ermittlung von Laborwerten von Frauen ration, Abgrenzung und Autonomie waren daher und Männern könne Aufgabe der Fertilitätsfor- auch die Begriffe, die in der Folge das Verhältnis schung sein, sondern auch die Berücksichtigung von Gynäkologie und Andrologie bestimmten. der bei einem kinderlosen Ehepaar „gegebenen Ge- samtsituation“. Fikentscher meinte damit nicht nur die „Störfaktoren der vita sexualis“, sondern auch Fazit und Ausblick alle Ursachen einer „gesundheitsschädigenden Le- bensführung“, die sich direkt oder indirekt negativ Auf die Gründung der neuen Fachgesellschaft, so auf das Zusammenleben von Frau und Mann in der erinnerte sich Richard Fikentscher ein Vierteljahr- ehelichen Gemeinschaft auswirkten.33 hundert später, habe die akademische Gynäkologie Der neue Blick von Gynäkologen auf Frauen und mit abwartender Distanz reagiert; man sei als Mit- Männer als Subjekte einer kinderlos gebliebenen glied dieser Sozietät „manchem Mißtrauen“ begeg- Ehe versuchte somit eine Vielzahl von Faktoren net und habe mit der Position, eine moderne, beide und Sichtweisen zu integrieren. Zu dieser Gesamt- Geschlechter integrierende Sterilitätsberatung zu schau (Abbildung 10.1) gehörten nicht zuletzt Er- ermöglichen, auch in der Deutschen Gesellschaft klärungsansätze, die über unmittelbare gynäkolo- für Gynäkologie „keine wesentliche Unterstüt- gische und andrologische Belange hinausgingen zung“ gefunden.35 Aus Sicht der Andrologie wertete und allgemeine soziale und gesellschaftliche Ver- Carl Schirren die Gründung der Fachgesellschaft hältnisse sowie die dadurch veränderten Ge- deutlich günstiger, nämlich als bedeutenden Pro- schlechterbeziehungen ansprachen. Wiederholt fessionalisierungsschritt einer aufstrebenden Spe- etwa wurde auf den Tagungen das Problem der Ste- zialdisziplin. Mit der Aufnahme der Andrologie in rilität als zeittypisches Phänomen der westdeut- eine von Gynäkologen begründete Fachgesellschaft schen Aufbaugesellschaft diskutiert. Der Gynäkolo- sei es fortan weitaus besser gelungen, männliche ge H.-J. Kühnelt etwa sah 1959 die Hauptursache Zeugungsunfähigkeit ins Bewusstsein der Medizin von kinderlos gebliebenen Ehen „in der rapide an- zu rufen.36 Dies war ein nachvollziehbares Argu- steigenden Zahl berufstätiger Frauen“,die„durch ment: Denn im Unterschied zur Gynäkologie und die Überforderung in Beruf und Familie die Gren- Veterinärmedizin, den beiden anderen Gründungs- zen der Anpassungsfähigkeit überschritten“ hätten. disziplinen der Fachgesellschaft, stand die Androlo- Kühnelt machte hierfür den „Comfortismus“ der gie noch am Beginn ihrer Entwicklung; sie war als deutschen Wirtschaftswundergesellschaft verant- Spezialdisziplin an einzelnen Standorten innerhalb wortlich; dieser habe zu „übersteigerten Anforde- von Gynäkologie oder Dermatologie vertreten, hat- rungen“ sowie zu einer „Gier nach Luxus“ geführt, te aber noch keinen eigenständigen Lehrstuhl mit die bei der Frau zu einer „gespannten und ungesun- der damit verbundenen Leitung eines Instituts den Familiensituation mit gynäkologischen Folgen“ oder gar einer Klinik aufzuweisen. Wohl nahm in geführt habe. den darauffolgenden Jahren die Zahl andrologi- Allerdings erfasste der zeitdiagnostische Blick scher Vorträge zu, und auch innerhalb der Fachge- des Gynäkologen auch die „schädliche Lebensfüh- sellschaft konnte sich das Anliegen der Andrologen rung“ des Mannes. Für die Zunahme männlicher Gewicht und Gehör verschaffen, als 1963 Paul Unfruchtbarkeit machte Kühnelt ein Bündel an psy- Jordan als Präsident der Gesellschaft auf Richard chosozialen Belastungsmomenten aus, die er unter Fikentscher folgte (und 1970 erneut ein Androloge, dem Schlagwort des „modernen Managertums“ zusammenfasste. Kaum aus Krieg und Gefangen- 34 Vgl. Kühnelt: Möglichkeiten (1959), S. 29–31. 35 Fikentscher: Grußwort (1984), S. 21. 33 Fikentscher: Eröffnungsansprache (1959), S. 2 f. 36 Vgl. Schirren: Betrachtungen (1984), S. 41.

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Carl Schirren, die Präsidentschaft übernahm). Die Literatur ungeklärte Stellung der Andrologie an den medizi- nischen Fakultäten sowie ihre anhaltenden Bemü- Aigner, Bernhard: Die II. Frauenklinik der Ludwig-Maxi- hungen um die Verselbstständigung des Faches milians-Universität München unter dem Direktorat blieben jedoch für die weitere Entwicklung charak- des ordentlichen Professors Dr. med. Richard Fikent- scher. Diss. med. München 1988. teristisch. Diesen Entwicklungslinien in einem ge- Belonoschkin, Boris: Grußwort. In: Schirren, Carl; sonderten Beitrag nachzugehen, wäre ein lohnen- Semm, Kurt (Hrsg.): Kongreßbericht Rothenburg ob des Unternehmen. der Tauber 1983: 25 Jahre Deutsche Gesellschaft Hier bleibt abschließend festzuhalten, dass um zum Studium der Fertilität und Sterilität. (= Fort- 1960 in der Geschichte der (west)deutschen Gynä- schritte der Fertilitätsforschung 12) Berlin 1984, kologie und Andrologie ein neues Kapitel aufge- S. 27 f. Benninghaus, Christina: „Leider hat der Beteiligte fast schlagen wurde: Mit der von Münchener Gynäko- niemals eine Ahnung davon …“. Männliche Un- logen betriebenen Gründung der Deutschen Ge- fruchtbarkeit, 1870–1900. In: Dinges, Martin (Hrsg.): sellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wan- wurde 1958 ein neues Forum für eine interdiszipli- del ca. 1800–2000. Stuttgart 2007, S. 139–155. när ausgerichtete Fertilitätsforschung und eine Ste- Deutsche Gesellschaft für Reproduktionsmedizin: Ge- rilitätsberatung geschaffen, die beide Geschlechter schichte. www.repromedizin.de/dgrm-informatio- nen/geschichte.html (04.09.2012). in den Blick nehmen sollte. Ein Jahr später wurden Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (Hrsg.): Die Vorträge zur Thematik der männlichen Sterilität Sexualität des Heimkehrers: Vorträge, gehalten auf auf die Agenda einer Gynäkologentagung gesetzt. dem 4. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Sexu- Die damit verbundene Botschaft für Frauenärzte alforschung in Erlangen 1956. Stuttgart 1957. war klar: Nicht allein Frauen, sondern gerade auch Fikentscher, Richard: Die modernen Aufgaben auf dem Männer waren für Reproduktionsprobleme Gebiet der Fertilitätsforschung und der Sterilitätsbe- (mit)verantwortlich. Wer nach Ursachen und The- handlung (Zielsetzung von Tagungen der am Pro- blem interessierten Kreise in Deutschland). In: Zen- rapiemöglichkeiten einer kinderlos gebliebenen tralblatt für Gynäkologie 80 (1958), S. 1497–1591. Ehe suchte, hatte den weiblichen und den männli- Fikentscher, Richard: Eröffnungsansprache: Die moder- chen Partner in Betracht zu ziehen. Dies machte die nen Aufgaben auf dem Gebiete der Fertilitätsfor- Zusammenarbeit mit der Andrologie notwendig, schung und der Sterilitätsbehandlung (Zielsetzung die ihrerseits einen bemerkenswerten Aufstieg von Tagungen der am Problem interessierten Kreise vollzogen hatte. Männliche Sterilität war seit Ende in Deutschland). In: Fikentscher, Richard (Hrsg.): Bei- träge zur Fertilität und Sterilität. (= Beilagenheft zur des 19. Jahrhunderts sowohl als medizinisches wie Zeitschrift für Geburtshilfe 152) Stuttgart 1959, S. 1– auch als gesellschaftliches Problem erkannt wor- 6. den. Die im Nationalsozialismus bei beiden Ge- Fikentscher, Richard: Grußwort. In: Schirren, Carl; schlechtern durchgeführten Zwangssterilisationen Semm, Kurt (Hrsg.): Kongreßbericht Rothenburg ob brachten eine Intensivierung der Forschung über der Tauber 1983: 25 Jahre Deutsche Gesellschaft Fertilität und Sterilität, die sich nach 1945 fortsetz- zum Studium der Fertilität und Sterilität. (= Fort- schritte der Fertilitätsforschung 12) Berlin 1984, te. Gleichwohl zeigt das Entstehen einer neuen S. 20 ff. Spezialdisziplin, die institutionell an Universitäts- Fikentscher, Richard: Tradition als lebendige Verpflich- hautkliniken verankert war, auch eine für die Nach- tung. In: Gynäkologische Rundschau 29, Supplemen- kriegszeit spezifische Entwicklung, die sich Ende tum 2 (1989), S. 5–10. der 1950er Jahre – mit dem Zusammentreffen von Forsbach, Ralf: Die Medizinische Fakultät der Universität Gynäkologen und Andrologen in einer neuen Fach- Bonn im „Dritten Reich“. München 2006. gesellschaft – verdichtete. Goltermann, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfah- rungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009. Grimm, Jana: Zwangssterilisationen von Mädchen und Frauen während des Nationalsozialismus: Eine Ana- lyse der Krankenakten der Universitäts-Frauenklinik Halle von 1934 bis 1945. Diss. med. Halle 2004.

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Heinitz, Anna Frederike; Roscher, Rickmer: The Making Schuermann, Hans: Über die Zunahme männlicher Fer- of German Sperm. Überlegungen zum Zusammen- tilitätsstörungen und über die Bedeutung psy- hang von Spermakonservierung, Männlichkeiten chischer Einflüsse für die zentral-nervöse Regulation und Nationalsozialismus. In: Berliner Blätter, Sonder- der Spermiogenese. In: Medizinische Klinik 43 heft 51/2010: Samenbanken-Samenspender. Ethno- (1949), S. 366. graphische und historische Perspektiven auf Männ- Siebke, Harald: Gynäkologe und Androloge bei der Steri- lichkeiten in der Reproduktionsmedizin. Münster litätsberatung. In: Zentralblatt für Gynäkologie 73 2010, S. 29–67. (1951), S. 633–637. Heinke, Ernst; Doepfmer, Rudolf; Borelli, Siegfried: Fer- Spring, Claudia A.: Zwischen Krieg und Euthanasie. tilitätsstörungen beim Manne (somatischer Teil). In: Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945. Wien; Jadassohn, Josef (Hrsg.): Handbuch der Haut- und Köln; Weimar 2009. Geschlechtskrankheiten. Ergänzungswerk Band VI, Stiasny, Hans: Untersuchungsmethode und Therapie der III. Teil. Berlin 1960. Sterilität beim Manne (Kurzbericht). In: Zentralblatt Hofer, Hans-Georg: Medizin, Altern, Männlichkeit: Zur für Gynäkologie 27 (1941), S. 1246–1257. Kulturgeschichte des männlichen Klimakteriums. In: Stiasny, Hans: Unfruchtbarkeit beim Manne. Diagnostik Medizinhistorisches Journal 42 (2007), S. 210–245. und Therapie mit Verwendung des Spermiogramms. Joël, Charles A.: Studien am menschlichen Sperma. Basel Stuttgart 1944. 1942. Tonutti, Emil; et al.: Die männliche Keimdrüse. Struktur, Joël, Charles A.: Die männliche Sterilität. Ätiologie, Diag- Funktion, Klinik. Grundzüge der Andrologie. Stutt- nostik, therapeutische Ausblicke. In: Monatsschrift gart 1960. für Geburtshilfe und Gynäkologie 120 (1945), Tulzer, H. […]: Über den Wert der Laboratoriumsmetho- S. 225–250. den zur Beurteilung der männlichen Fertilität. In: Kühnelt, H.-J.: Möglichkeiten und Grenzen der Sterili- Geburtshilfe und Frauenheilkunde 17 (1957), tätsbehandlung. In: Fikentscher, Richard (Hrsg.): Bei- S. 1056 f. träge zur Fertilität und Sterilität. (= Beilageheft zur Vasterling, Hans-Werner: Praktische Spermatologie. Ein Zeitschrift für Geburtshilfe 152) Stuttgart 1959, Leitfaden für Ärzte. Stuttgart 1960. S. 29–36. Vienne, Florence: Die Geschichte der männlichen Sterili- Mann, Thaddeus: The Biochemistry of Semen. London tät schreiben – das Beispiel der NS‑Zeit. In: Feminis- 1954. tische Studien 23 (2005), S. 143–149. Mayer, August: Bemerkungen zum Kampf gegen die Un- Vienne, Florence: Der Mann als Wissensobjekt. Ein blin- fruchtbarkeit. In: Fikentscher, Richard (Hrsg.): Beiträ- der Fleck in der Wissenschaftsgeschichte. In: NTM. ge zur Fertilität und Sterilität. (= Beilageheft zur Zeit- Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik schrift für Geburtshilfe 152) Stuttgart 1959, S. 59–69. der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 14 Reinold, E […]: 40 Jahre Österreichische Gesellschaft (2006), S. 222–230. zum Studium der Sterilität und Fertilität. In: Gynäko- Vienne, Florence: Gestörtes Zeugungsvermögen: Sa- logisch-geburtshilfliche Rundschau 38 (1998), S. 41– menzellen als neues humanmedizinisches Objekt, 43. 1895–1945. In: Vienne, Florence; Brandt, Christina Schirren, Carl: Einführung in die Andrologie. Darmstadt (Hrsg.): Wissensobjekt Mensch. Humanwissen- 1977. schaftliche Praktiken im 20. Jahrhundert. Berlin Schirren, Carl: 25 Jahre Andrologie. Betrachtungen zur 2008, S. 165–186. Jubiläumstagung der Deutschen Gesellschaft zum Wolf, Maria A.: Eugenische Vernunft. Eingriffe in die re- Studium der Fertilität und Sterilität. In: Schirren, produktive Kultur durch die Medizin 1900–2000. Carl; Semm, Kurt (Hrsg.): Kongreßbericht 1983: 25 Wien 2008. Jahre Deutsche Gesellschaft zum Studium der Fertili- tät und Sterilität. Berlin 1984, S. 41–48. Schirren, Carl: Geschichte der Andrologie in der Derma- tologie. In: andrologia 21, Supplement 1/1989 (1989), S. 1–56. Schirren, Carl: 50 Jahre erlebte Andrologie. In: Schles- wig-Holsteinisches Ärzteblatt 62, H. 5 (2009), S. 67– 72. www.aeksh.de/shae_alt/2009/200905/Mw_67. pdf (04.09.2012).

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Die Debatte um ein neues Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik. Zur Geschichte einer erfolglosen ärztlichen Forderung

Astrid Ley

Bei der Jahrestagung der Bayerischen Gesellschaft rung wollte Kirchhoff dagegen einer Gutachterstel- für Geburtshilfe und Gynäkologie 1962 in Rothen- le übertragen. Daneben forderte er – zum Zweiten – burg ob der Tauber standen nicht nur fachmedizi- auch eine „eugenische Indikation“, die er bei seinen nische Fragen auf dem Programm. In der ersten Ausführungen aber nur sehr knapp thematisierte. Sektion mit dem unscheinbaren Titel „Die Sterili- Die eugenisch motivierte Sterilisierung sollte einzig sierung der Frau“ ging es vielmehr um eine ausge- mit Einwilligung der Betroffenen möglich sein. Als sprochen politische Angelegenheit: die Forderung weitere Voraussetzungen hielt Kirchhoff die „Auf- nach einer gesetzlichen Neuregelung der operati- stellung einer Gutachterkommission aus einem be- ven bzw. radiologischen Unfruchtbarmachung.1 In sondern Expertengremium“ und die „Anfertigung drei Vorträgen mit anschließender Aussprache eines Katalogs wirklicher Erbkrankheiten“ für „er- wurden dabei verschiedene Indikationen sowie forderlich“. Zum Dritten verlangte er schließlich weitere Voraussetzungen diskutiert, die solche Ein- nach einer gesetzlichen Regelung für eine „soziale griffe legitimieren könnten. Dieser Frage maßen die Indikation“, die unter strengen Vorgaben zuzulas- bayerischen Gynäkologen offenbar große Bedeu- sen sei. Hier ging es ihm „um das Einzelschicksal tung zu, denn als Hauptredner traten neben einem der Frau in ihrer Familiensphäre“,umdie„auf der Standesvertreter auch ein bekannter Strafrechtler Grenze der Kompensation ihrer Leistungsfähigkeit sowie ein Moraltheologe auf.2 stehende Mutter vieler Kinder“.3 Im Auftaktvortrag zur Sektion erläuterte der Vor allem dieses dritte Indikationsmodell, das Göttinger Ordinarius für Frauenheilkunde Heinz bei problematischen sozialen Verhältnissen eine Kirchhoff (1905–1997) drei Indikationen, die nach Sterilisation in familienplanerischer Absicht recht- „der heutigen Einstellung der deutschen Ärzte- fertigen sollte, wurde von einigen Folgerednern schaft“ eine Sterilisation notwendig erscheinen strikt abgelehnt. So bezeichnete der als zweiter ließen. Allerdings wurden diese von den folgenden Hauptvortragender geladene Münchner Straf- Rednern nur zum Teil anerkannt. An erster Stelle rechtsprofessor Karl Engisch (1899–1990) die so- nannte Kirchhoff die „medizinische Indikation“, zial motivierte Unfruchtbarmachung als „rechtlich die nicht nur eine „therapeutische Sterilisierung“ unstatthaft“. Indem er die dafür maßgeblichen Be- zur unmittelbaren Verhütung oder Heilung von Ge- weggründe als „rein wirtschaftlich“ darstellte, sundheitsschäden ermöglichen würde, sondern rückte er diesen Eingriff zudem in die Nähe der un- auch eine „prophylaktische Sterilisierung“ im Hin- ter Ärzten verpönten „Gefälligkeitsoperation“.4 blick auf die Verhinderung zukünftiger Gesund- 3 heitsgefahren bei der betreffenden Patientin. Für Kirchhoff: Die Sterilisierung der Frau in gynäkologi- – die therapeutisch motivierten Eingriffe trügen „die scher Sicht (1962), S. 1433 f. Mit seiner Forderung “ nach einer sozialen Indikation war Kirchhoff ein Vor- Ärzte die Verantwortung allein , die Entscheidung reiter in der Ärzteschaft, der auch bei der Antibaby- über die medizinisch-prophylaktische Sterilisie- pille – zumindest in Bezug auf verheiratete Frauen, die bereits Kinder hatten – eine vergleichsweise libe- 1 Tagung der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe rale Haltung zeigte. Vgl.: Anti-Baby-Pille nur für Ehe- und Frauenheilkunde am 12. und 13. Mai 1962 in Ro- frauen? Spiegel-Gespräch mit dem Leiter der Univer- thenburg ob der Tauber. In: Geburtshilfe und Frauen- sitäts-Frauenklinik Göttingen, Professor Dr. Heinz heilkunde 22 (1962), S. 1433–1441. Kirchhoff. In: Der Spiegel Nr. 9 (1964), S. 79–89. Zur 2 Vgl. den Beitrag von Annemarie Kinzelbach in diesem Diskussion um die Einführung der „Pille“ vgl. in die- Band. sem Band den Beitrag von Eva-Maria Silies.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 198 Die Debatte um ein neues Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik

Auch der gynäkologische Altmeister Gustav Döder- doch bei dieser Debatte zunächst zurück. Erst lein (1893–1980) sprach sich gegen eine „rein so- nachdem das Bundesjustizministerium 1954 im ziale Indikation zur Sterilisierung“ aus: „Soziale Zusammenhang mit einer geplanten Strafrechtsre- Not verlangt soziale Hilfe.“5 Der als dritter Haupt- form verschiedene medizinische Fachgesellschaf- redner auftretende Schweizer Moraltheologe Franz ten um Stellungnahmen zum Thema gebeten hatte Böckle (1921–1991) lehnte nicht nur die soziale, – darunter die Deutsche Gesellschaft für Gynäkolo- sondern alle genannten Sterilisationsindikationen gie –, fand die Problematik allmählich Eingang in ab. Als einzige Ausnahme ließ er „therapeutische die ärztliche Diskussion und wurde Gegenstand Eingriffe“ gelten, die zwar „Zeugungsunfähigkeit bei Tagungen verschiedener medizinischer Fach- zur Folge“ hätten, aber „nicht unmittelbar die Steri- verbände. In der Folge sprach sich 1960 die Profes- lisierung, sondern die Verhütung oder Heilung von sorenkonferenz beim Kongress der deutschen Gy- Schäden“ bezweckten.6 Diese – von Böckle auch als näkologengesellschaft in München eindeutig für „indirekte Sterilisationen“ bezeichneten – Eingriffe eine Legalisierung der medizinisch wie der euge- stellten nach der Mehrheit der Wortbeiträge einen nisch indizierten Sterilisierung aus. Im Jahr darauf eigenen Problemkreis dar, der besser aus der Dis- vertraten der bereits erwähnte Heinz Kirchhoff kussion um ein Sterilisationsgesetz herausgelassen und der Münchener Lehrstuhlinhaber Werner Bi- werden sollte.7 ckenbach (1900–1974) die deutschen Gynäkologen Trotz aller Differenzen über die soziale Indikati- bei einer Sachverständigenkommission im Bundes- on stimmten die versammelten bayerischen Ge- justizministerium, die ebenfalls die Zulassung der burtshelfer und Frauenärzte Kirchhoffs Ausführun- medizinischen und eugenischen Unfruchtbarma- gen in mehreren Punkten zu: Gefordert wurde eine chung empfahl, eine Sterilisation aus anderer, auch gesetzliche Regelung, die dem Arzt die Vornahme sozialer, Indikation aber als „sittenwidrig“ ablehnte. von prophylaktischen Sterilisationen aus medizini- Das Thema Sterilisation lag also gleichsam in der schen sowie aus eugenischen Gründen ermöglich- Luft, als sich die Bayerische Gesellschaft für Ge- te. Beides sollte ausdrücklich nur mit Einwilligung burtshilfe und Gynäkologie 1962 in Rothenburg ob der Betroffenen statthaft sein. Die Entscheidung der Tauber mit der Thematik befasste.9 über die Zulässigkeit der Maßnahme im Einzelfall sollten – wie von Kirchhoff vorgeschlagen – Gut- achterstellen treffen. Um die unter das eugenische Der historische Hintergrund: Sterilisationsgesetz fallenden Krankheitsbilder ge- nau zu bestimmen – und vor allem auch einen Erfahrungen mit dem „Missbrauch“ der Maßnahme zum Zwecke selbst- NS‑Sterilisationsgesetz bestimmter Familienplanung, die alle Beteiligten strikt ablehnten, zu verhindern –, wurde zudem Wie bei allen diesbezüglichen Debatten der Zeit die Erstellung eines verbindlichen Katalogs der gab auch bei der Tagung in Rothenburg das natio- Erbkrankheiten verlangt. nalsozialistische Sterilisationsgesetz den Rahmen Mit diesen Forderungen standen die bayeri- vor, auch wenn es bei der dortigen Diskussion nur schen Gynäkologen zu Beginn der 1960er Jahre ganz am Rande erwähnt wurde. Auf der Basis die- nicht allein. Obwohl die eugenische Sterilisierung ses Gesetzes waren zwischen 1934 und 1945 in vor allem durch ihre exzessive Umsetzung in der Deutschland mit den Grenzen von 1937 etwa NS‑Zeit in Deutschland diskreditiert war, hatte es 400000 Menschen unfruchtbar gemacht worden, bereits kurz nach dem Krieg erste Initiativen für fast 1% der Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen ein neues Sterilisationsgesetz aus der Medizinal- Alter zwischen 16 und 50 Jahren.10 Hauptabsicht verwaltung gegeben.8 Die ärztlichen Interessenver- der 1933 als „Gesetz zur Verhütung erbkranken tretungen in der Bundesrepublik hielten sich je- Nachwuchses“ erlassenen Vorschrift war die euge- nisch motivierte Unfruchtbarmachung „Erbkran- 4 Engisch: Die Sterilisierung der Frau in juristischer ker“ gewesen – und zwar sowohl weiblichen als Sicht (1962), S. 1434. auch männlichen Geschlechts.11 Mit dem Gesetz 5 Diskussion zum Referat I. In: Geburtshilfe und Frau- verfolgte der NS‑Staat das Ziel, die „deutsche Volks- enheilkunde 22 (1962), S. 1435. 6 Böckle: Die Sterilisierung der Frau in katholisch-mo- 9 Zierke: Sterilisation (2006), S. 51–54, 64–72, 83–97. raltheologischer Sicht (1962), S. 1434 f. 10 Bock: Zwangssterilisation (1986), S. 237 f. Zur Frage 7 Diskussion zum Referat I, S. 1435. der Sterilität und Sterilisierung von Männern vgl. in 8 Hierzu: Zierke: Sterilisation (2006), S. 41 f. diesem Band den Beitrag von Hans-Georg Hofer.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Debatte um ein neues Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik 199 gesundheit“ durch eine Beseitigung krankhafter de mit dem erwarteten Nutzen für die Allgemein- Anlagen aus dem kollektiven Erbgut zu heben und heit legitimiert. Für die Betroffenen bot das Verfah- zudem die öffentlichen „Fürsorgelasten“ für „Geis- ren dagegen weder in gesundheitlicher noch in tesschwache, Hilfsschüler, Geisteskranke und Aso- anderer Hinsicht einen Vorteil. Die als erbkrank ziale“ zu senken.12 In § 1 waren neun „Erbleiden“ klassifizierten Menschen wurden einer Operation genannt, deren Weitergabe „verhütet“ werden soll- unterzogen, die für ihre Gesundheit medizinisch te: fünf psychiatrisch-neurologische Krankheitsbil- unnötig, wenn nicht sogar schädlich, war. Durch der – angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, den Vollzug der Sterilisation wurden sie überdies zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche als Träger „minderwertiger Anlagen“ gesellschaft- Fallsucht, erblicher Veitstanz (Huntingtonsche lich stigmatisiert und von verschiedenen Sozialleis- Chorea) –, drei somatische Behinderungen – erbli- tungen ausgeschlossen.14 Das Interesse des Einzel- che Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche nen an körperlicher Unversehrtheit – und auch an körperliche Missbildung – sowie schwerer Alkoho- selbstbestimmter Familienplanung – wurde somit lismus.13 Der Erlass des Sterilisationsgesetzes weist dem abstrakten Gemeinwohl eines zukünftigen auf eine grundsätzliche Umorientierung in der öf- „Volkskörpers“ untergeordnet. fentlichen Krankheitsvorsorge hin: Auf dem Wege Um den eugenischen Erfolg der für die Betroffe- der Unfruchtbarmachung sollte die Fortpflanzung nen so nachteiligen Maßnahme zu sichern, hatte vermeintlicher Anlageträger – und damit die Ge- der NS‑Gesetzgeber – anders als später in der Bun- burt weiterer potentieller Kranker – verhindert desrepublik für eine Neuregelung der Sterilisati- werden. Dem Phänomen „Krankheit“ sollte also onsfrage gefordert – einen Zwangsparagraphen in nicht mehr durch eine Verhütung von Erkrankun- der Vorschrift verankert, der die Durchführung des gen, sondern durch die Verhütung der Kranken Eingriffs „auch gegen den Willen des Unfruchtbar- selbst vorgebeugt werden. zumachenden“ ermöglichte.15 Der Zwangscharak- Derartige Vorstellungen belegen deutlich die ter des NS‑Sterilisationsgesetzes offenbarte sich Wirkungsmacht eugenischer Denkmodelle in der bereits im Antragsrecht. So waren neben dem Be- damaligen Zeit. Aus medizinischer Perspektive soll- treffenden selbst bzw. dessen gesetzlichem Vertre- ten eugenische Maßnahmen wie die Sterilisation ter auch Amtsärzte und Anstaltsleiter zur Beantra- zur Vorbeugung gegen Krankheiten dienen, die gung von Sterilisationen berechtigt, Ersteren oblag aufgrund fehlender kausaler Behandlungsmöglich- sogar eine „Antragspflicht“.16 Und tatsächlich ba- keiten als untherapierbar galten. Nutznießer derar- sierte die Durchführung der Vorschrift zwischen tiger Prophylaxe war nicht das betroffene oder ge- 1934 und 1945 in allererster Linie auf der Antrags- fährdete Individuum, sondern die „Volksgesund- tätigkeit der Amts- und Anstaltsärzte: Wie etwa die heit“, zu deren Verbesserung als erbkrank Auswertung des Antragsregisters für den Landge- erachtete Einzelpersonen an der Fortpflanzung ge- richtsbezirk Nürnberg-Fürth ergab, waren nur hindert werden sollten. Dadurch, so meinte man, 2,5% der in diesem Gebiet während der gesamten werde das Vorkommen von Erbleiden langfristig Gültigkeitsdauer des Gesetzes geführten Sterilisati- minimiert. Der mit dieser Kollektivprophylaxe ver- onsverfahren von den Betroffenen oder ihren ge- bundene Eingriff in die Rechte von Individuen wur- setzlichen Vertretern beantragt worden. Alle ande- ren Anträge hatten Ärzte gestellt.17 11 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. In: Reichsgesetzblatt Teil I, 80 (1933), S. 529–331. Neben der eugenischen Sterilisierung 14 Zu den persönlichen und sozialen Auswirkungen der ließ das Gesetz nur Eingriffe „zur Abwehr einer erns- NS‑Sterilisationsverfahren auf die Betroffenen: Ley: ten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit“ des Teufelskreis (1999). Betroffenen zu (§ 14). Zu den Voraussetzungen und 15 § 12 GzVeN, in: Gütt; Rüdin; Ruttke (Hrsg.): Verhü- Zielen der NS‑Sterilisationspolitik ausführlich: Ley: tung (1934), S. 58. Zu den unterschiedlichen Formen Zwangssterilisation (2004). von Zwang im NS‑Sterilisationsverfahren im Einzel- 12 Rede des Reichsinnenministers Dr. Frick auf der ers- nen: Bock: Zwangssterilisation (1986), S. 254–278. ten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölke- 16 §§ 2 und 3 GzVeN, in: Gütt; Rüdin; Ruttke (Hrsg.): rungs- und Rassenpolitik über die Rassengesetzge- Verhütung (1934), S. 56; Art. 3 der Verordnung zur bung vom 28. Juni 1933 in Berlin. In: Friedrichs Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken (Hrsg.): Revolution (1937), S. 169–177, hier S. 172 f. Nachwuchses vom 5. 12.1933, in: ebd., S. 63 f.; Erläu- 13 § 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nach- terungen zu Art. 3 der VO zur Ausf. des GzVeN, in: wuchses (GzVeN), zitiert nach: Gütt; Rüdin; Ruttke ebd., S. 136–142. (Hrsg.): Verhütung (1934), S. 56. 17 Ley: Zwangssterilisation (2004), S. 75 f.

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Über die Vornahme der Eingriffe bestimmten onskandidaten“ sowie die Ausarbeitung der zur aus Ärzten und Juristen bestehende „Erbgesund- Eröffnung der eigentlichen Sterilisationsprozesse heitsgerichte“ im Rahmen spezieller Verfahren. nötigen „Anträge auf Unfruchtbarmachung“.Der Durch die Überantwortung der Entscheidung über Stellung solcher Sterilisationsanträge gingen meist die Zwangsmaßnahme an die Justiz hatte der umfangreiche Recherchen durch die Mitarbeiter NS‑Gesetzgeber gezielt die Erwartung auf ein un- von Gesundheitsämtern voraus. Gegenstand derar- abhängiges Verfahren zu wecken versucht, das von tiger Nachforschungen wurden Menschen, die auf dem Renommee richterlicher Objektivität profi- irgendeine Weise „amtsbekannt“ geworden waren tierte. Die scheinbare Unvoreingenommenheit des – das Spektrum der Möglichkeiten reichte von der gerichtlichen Verfahrens verhalf dem Sterilisati- Inanspruchnahme staatlicher Fürsorgeleistungen onsgesetz zu gesellschaftlicher Akzeptanz, da sie bis zur Bestellung eines Aufgebots beim Standes- in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckte, jeder amt – oder dem Gesundheitsamt von dritter Seite Fall werde unparteiisch geprüft. Dieser Nimbus als „erbkrank“ angezeigt worden waren. Der zweite der Gesetzlichkeit prägte nicht allein die zeitgenös- Teil des Verfahrens bestand im Prozess vor dem sische Bewertung der eugenischen Zwangssterili- Erbgesundheitsgericht, das jeweils aus einem Rich- sation in Deutschland; sein Einfluss auf die öffentli- ter und zwei Ärzten zusammengesetzt war. Den che Meinung überdauerte auch die Nachkriegszeit, Abschluss bildete der sogenannte „endgültige“ Ge- wie sich an der jahrzehntelangen Negierung des richtsbeschluss. Wurde dem Antrag auf Unfrucht- NS‑spezifischen Unrechtscharakters der Vorschrift barmachung – wie in der großen Mehrzahl der Fäl- durch bundesrepublikanische Behörden ablesen le – stattgegeben, folgte die Durchführung des Ein- lässt.18 Doch die Sterilisationsverfahren erfüllten griffs in einem öffentlichen Krankenhaus. die in sie gesetzten Erwartungen nicht. Um die Ein- Bei der Umsetzung des Sterilisationsgesetzes flussmöglichkeiten aufzuzeigen, die von vornhe- nahmen Amtsärzte, die in beiden Verfahrensab- rein in der Verfahrensstruktur enthalten waren, schnitten eine tragende Rolle spielten, eine heraus- soll ein kurzer Blick auf den gesetzlich vorgegebe- gehobene Stellung ein. In der Phase der Erfassung nen Verfahrensablauf geworfen werden. Wie dabei und Antragstellung war der örtlich zuständige deutlich wird, zeigt sich der Zwangscharakter der Amtsarzt sogar die zentrale Figur. Er traf die Ent- Maßnahme vor allem im Detail. scheidung über eine Verfahrenseröffnung für alle Die sogenannten Erbgesundheitsverfahren zer- Personen, die außerhalb geschlossener Anstalten fielen in zwei Abschnitte, eine vorbereitende Erfas- lebten.20 Der Gesetzgeber hatte also die Erfassung sungs- bzw. Ermittlungsphase und eine gerichtli- der zu sterilisierenden Menschen Amtsärzten üb- che Entscheidungsphase.19 Im Zentrum des ersten, ertragen, die sich dabei – neben ärztlichen und noch außergerichtlichen Verfahrensabschnitts nicht-ärztlichen Sterilisationsanzeigen – vor allem standen die Suche nach potentiellen „Sterilisati- auf die gesundheitsamtlichen Unterlagen aus der Randgruppenbetreuung stützten. In dem der An- 18 Da in den 1920er und 1930er Jahren auch einige de- tragstellung folgenden Erbgesundheitsgerichtsver- mokratisch regierte europäische und nordamerikani- fahren fungierte der Amtsarzt zudem als gerichtli- sche Staaten Sterilisationsgesetze erlassen hatten, cher Sachverständiger, der zur Ermittlungstätigkeit stufte der Amerikanische Militärgerichtshof das „Ge- herangezogen werden konnte, wenn gegen Perso- setz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ nicht 21 als „typisches NS‑Gesetz“ ein. Infolgedessen wurden nen aus seinem Amtsbezirk verhandelt wurde. die Opfer der Zwangssterilisation später in der Bun- Schließlich waren Amtsärzte auch direkt an den desrepublik über Jahrzehnte hinweg nicht als Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte betei- NS‑Verfolgte anerkannt. Erst 1980 stellte der Bundes- ligt, da einer der beiden ärztlichen Richter in diesen tag fest, dass es sich bei der Vorschrift um NS‑spezifi- Kammern stets aus den Reihen der beamteten Me- sches Unrecht gehandelt habe, und sprach den Opfern diziner kam.22 Dadurch fand die amtsärztliche eine einmalige Entschädigung zu. Seit 1990 erhalten die noch lebenden Opfer überdies eine geringe mo- natliche Rente. Ende Mai 1998 hob der Bundestag die auf der Basis des NS‑Sterilisationsgesetzes gefäll- 19 Zur Struktur und zum Ablauf der Erbgesundheitsver- ten Urteile schließlich formal auf. Damit wurden die fahren im Einzelnen: Ley: Zwangssterilisation (2004), Opfer nach jahrzehntelanger Debatte über die recht- S. 67–99. liche Bewertung der NS‑Vorschrift juristisch rehabili- 20 § 3 GzVeN und Art. 3 der VO zur Ausf., in: Gütt; Rüdin; tiert. Zur Diskussion über die Entschädigung Zwangs- Ruttke: Verhütung (1934), S. 56, 63 f. sterilisierter im Einzelnen: Zierke: Sterilisation 21 § 4 GzVeN und Erläuterungen, in: ebd., S. 142 f. (2006); Tümmers: Anerkennungskämpfe (2011). 22 § 6 GzVeN, in: ebd., S. 57.

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Sichtweise auch unmittelbar in den Urteilen Nie- setzeskommentar deutlich heraus: Wie es dort derschlag. hieß, seien die Erbgesundheitsgerichte „nicht ein- Doch nicht allein die starke Position beamteter gerichtet worden, um die berechtigten Interessen Ärzte verhinderte, dass die Betroffenen eine wirkli- einzelner Volksgenossen wahrzunehmen“, sondern che Chance hatten. Denn Sterilisationsprozesse „um die Forderungen, die die Volksgemeinschaft hatten mit der Zivil- und Strafprozessordnung als auf dem Gebiet der Erbpflege stellen muss, zu ei- dem Inbegriff gerichtlicher Handlungen und Vor- nem Teil durchzusetzen“. Es komme bei den Ver- gänge nur wenig gemein. Ihre Verfahrensvorschrif- fahren daher „nicht darauf an, unter Beachtung be- ten entsprachen vielmehr weitgehend denen der stimmter Formvorschriften eine formal richtige, sogenannten Freiwilligen Gerichtsbarkeit, einer sondern […] eine dem Leben des Volkes dienende meist Zwecken des Rechtsverkehrs dienenden Entscheidung zu finden“.25 staatlichen Zivilrechtspflege zur Regelung nicht Auch der Umstand, dass die betroffenen „Erb- streitiger Vormundschafts-, Nachlass- und Beur- krankheiten“ im NS‑Gesetz gleichsam per Katalog kundungssachen. Übertragen auf Sterilisationsver- genau festgeschrieben worden waren, trug nicht fahren vermochten die Vorschriften der Freiwilli- zur Rechtssicherheit in den Verfahren bei. Als „erb- gen Gerichtsbarkeit die Rechte der Betroffenen er- krank in Sinne des Gesetzes“ galt, wer an einer der heblich einzuschränken.23 Einer der zentralen folgenden Krankheiten litt: „1. angeborenem Unterschiede zum Zivil- und Strafprozess, der soge- Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (ma- nannte Amtsbetrieb, soll darum beispielhaft erläu- nisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, tert werden. Bei Verfahren im Amtsbetrieb be- 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. schränkte sich die Möglichkeit der Betroffenen, die erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwe- Verhandlung zu beeinflussen, auf ein Minimum. Da rer erblicher körperlicher Missbildung“ sowie die Beweisaufnahme „von Amts wegen“ erfolgte, „schwerem Alkoholismus“.26 Nur für ein einziges lag die Entscheidung, welche Beweise erhoben dieser Krankheitsbilder war die Erblichkeit zu die- wurden und damit Eingang in den späteren Be- ser Zeit sicher belegt: für die autosomal dominant schluss fanden, allein bei den Mitgliedern des Ge- vererbte Chorea Huntington, die bei der Umset- richts. Anträge der Betroffenen wogen dagegen zung der Vorschrift aber kaum eine Rolle spielte. In nur als „Anregungen und Vorschläge“ für das Ver- der Praxis waren dagegen vor allem die Krank- fahren.24 Der Amtsbetrieb schuf also in der Beweis- heitsbilder „Schwachsinn“ und Schizophrenie von erhebung zweierlei Maß: Während die Zulassung Bedeutung: So wurden die weitaus meisten Sterili- von Aussagen Betroffener im Ermessen des Ge- sationsverfahren im Landgerichtsbezirk Nürnberg- richts lag, hatte der als Gegenpartei fungierende Fürth wegen der Befunde Schwachsinn (46%), Schi- Amtsarzt den Status eines gerichtlichen Sachver- zophrenie (28%) und Epilepsie (14%) geführt. In ständigen inne. Das machte seine Darlegungen a größerem Abstand folgten manische Depressivität priori verfahrensrelevant. und Alkoholismus mit 4% bzw. knapp 3,5%.27 In Mit den Erbgesundheitsgerichten hatte der der Psychiatrie – in deren Gebiet diese Diagnosen NS‑Gesetzgeber also die Entscheidung über die Zu- gehörten – wurde zwar zu jener Zeit nicht an der lässigkeit der Sterilisierung im Einzelfall speziellen hereditären Bedingtheit vieler Geisteskrankheiten Gutachterstellen übertragen, wie das auch später gezweifelt, gesicherte Erkenntnisse über die Verur- bei der Debatte um eine Neuregelung der eugeni- sachung der genannten Leiden besaß man aber schen Unfruchtbarmachung in der Bundesrepublik kaum.28 Hinzu kam, dass die vom Gesetz betroffe- erneut gefordert wurde. Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, war die Einrichtung von Erb- 25 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom gesundheitsgerichten jedoch kein Garant für eine 14. Juli 1933, in: Gütt; Rüdin; Ruttke: Verhütung unabhängige Entscheidung. Denn der Gesetzgeber (1936), S. 227, 274. 26 § 1 Abs. 2 GzVeN, in: Gütt; Rüdin; Ruttke: Verhütung hatte über die Verfahrensstruktur sichergestellt, (1934), S. 56. dass die Umsetzung der Vorschrift den eugenischen 27 Die übrigen Befunde – Chorea Huntington, Blindheit, und sozialpolitischen Intentionen der NS‑Regie- Taubheit und schwere körperliche Missbildung – ka- rung entsprach. Dies stellte auch der amtliche Ge- men dagegen jeweils nur auf circa 1% Häufigkeit. Zur Diagnosenverteilung in diesem und anderen Ge- 23 Siehe hierzu im Einzelnen: Ley: Zwangssterilisation richtsbezirken vgl.: Ley: Zwangssterilisation (2004), (2004), S. 85–88. S. 39. 24 Erläuterungen zu § 7 GzVeN, in: Gütt; Rüdin; Ruttke: 28 Zum damaligen Stand der psychiatrischen Erbfor- Verhütung (1934), S. 148–154. schung: Ley: Zwangssterilisation (2004), S. 40–45.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 202 Die Debatte um ein neues Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik nen Krankheitsbilder zum Teil nur schwer von exo- nen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des gen bedingten Störungen gleicher Symptomatik zu Patienten dar und waren deshalb eigentlich straf- unterscheiden waren, wie sich etwa anhand der bar. Allerdings galt ein mit Einwilligung des Betrof- problematischen Differentialdiagnostik zwischen fenen vorgenommener Eingriff nach dem Strafge- „erblicher Fallsucht“ und durch äußere Einwirkun- setzbuch nur dann als rechtswidrig, wenn er gegen gen hervorgerufener Epilepsie illustrieren lässt, „die guten Sitten“ verstieß. Eine „freiwillige“ Steri- wenn in einem gegen den Betroffenen gerichteten lisation war somit zwar prinzipiell erlaubt, der auf Zwangsverfahren am Wahrheitsgehalt der von die- die allgemeine Rechts- und Sozialmoral zielende sem gemachten Aussagen gezweifelt werden kann. Rechtsbegriff der „guten Sitten“ schuf jedoch Un- Bei der quantitativ bedeutendsten Diagnose, beim klarheit vor allem im Hinblick auf die Zulässigkeit „angeborenen Schwachsinn“, hatte der Gesetzge- eugenisch und sozial motivierter Eingriffe.31 ber sogar auf das einschränkende Adjektiv „erblich“ Mit Verweis auf diese „nicht länger zu tolerie- verzichtet, so dass alle von Geburt an bestehenden rende“32 Rechtsunsicherheit setzte sich die Ärzte- Oligophrenien zur Zwangssterilisation führen schaft also seit Mitte der 1950er Jahre verstärkt konnten, also auch Behinderungen, die durch prä- für ein neues Sterilisationsgesetz ein, das im Unter- natale Schädigungen verursacht worden waren. schied zur NS‑Vorschrift aber nur Eingriffe mit Ein- Aufgrund der unklaren Abgrenzung der im Gesetz willigung der Betroffenen ermöglichen sollte. Diese genannten Krankheiten erhielten außermedizini- Eingriffe wurden in der Debatte etwas irreführend sche Kriterien wie das Sozialverhalten des Betroffe- als „freiwillige Sterilisierung“ bezeichnet. Vor allem nen eine erhebliche Relevanz in den Erbgesund- eugenisch motivierte Sterilisationen stellen aber in heitsverfahren.29 Wie mit dieser kurzen Rückschau der Praxis eher Eingriffe auf Vorschlag des Arztes auf das NS‑Sterilisationsprogramm gezeigt werden als auf Wunsch des Patienten dar. Weiterhin ver- sollte, hat somit weder die Einrichtung spezieller langten die Ärzte die Einrichtung spezieller Gut- Entscheidungskommissionen noch die – wegen achterstellen sowie eine verbindliche Festlegung des damaligen Kenntnisstandes ohnehin fragwür- der als Indikationen für eine Sterilisierung zugelas- dige – Festschreibung der betroffenen Erbkrank- senen Erbkrankheiten, um eine Nutzung als Verhü- heiten die Rechtssicherheit der betroffenen Men- tungsmaßnahme auszuschließen. Wie diese Bedin- schen erhöht. gungen verdeutlichen, zielten die Forderungen der Ärzte im Grunde darauf ab, das nationalsozialisti- sche „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach- Das Scheitern der Bemühungen wuchses“ in ein demokratisches Sterilisationsge- setz umzugestalten, das freiheitlichen Rechtsvor- um ein neues Sterilisationsgesetz stellungen entsprach.33 Dieser Anspruch war in der Bundesrepublik jedoch, wie im Folgenden gezeigt wird, aus mehre- ren Gründen nicht erfüllbar, so dass es bis heute Die bereits kurz nach Kriegsende einsetzende und nicht zum Erlass eines Gesetzes über die freiwillige bis in die 1980er Jahre andauernde Debatte um Sterilisierung gekommen ist.34 eine Neuregelung der medizinischen und der euge- Dass der Gesetzgeber trotz mehrerer entspre- nischen Sterilisation verweist auf den damals unge- chender Vorlagen von einer Regelung der freiwil- brochenen Einfluss eugenischen Denkens in der ligen Sterilisierung absah, war zum Teil den eben deutschen Medizin. Ein anderer Grund für die ärzt- genannten Bedingungen geschuldet. Zum einen liche Forderung nach einer solchen Vorschrift lag stellte sich die Ausarbeitung eines Katalogs der darin, dass nach dem Ende des NS‑Regimes – statt Erbkrankheiten, der sowohl demokratischen für Betroffene – auf einmal für Ärzte Rechtsunsi- Rechtserwartungen als auch eugenischen Zielset- cherheit bei Sterilisationen herrschte. Das „Gesetz “– zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ob- 30 Zierke: Sterilisation (2006), S. 38–41. Zu der von Ärz- schon erst 1974 in der gesamten Bundesrepublik ten empfundenen Rechtsunsicherheit: ebd., S. 54–59. außer Kraft gesetzt – wurde nicht länger ange- 31 Ebd., S. 24 f. wandt.30 Grundsätzlich stellen Sterilisierungen ei- 32 Kirchhoff: Sterilisierung (1962), S. 1433. 33 Zierke, Sterilisation (2006), S. 4. 34 Die wesentlichen Stationen und Fakten dieser Ent- 29 Zur Problematik der psychiatrischen Diagnostik im wicklung, auf denen die folgende Darstellung beruht, Zusammenhang mit der NS‑Zwangssterilisation: sind detailliert zusammengestellt bei: Zierke: Sterili- Ley: Zwangssterilisation (2004), S. 34–66. sation (2006).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Debatte um ein neues Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik 203 zungen genügte, nach den Aussagen der hinzuge- einer solchen Regelung in den 1960er Jahren zu- zogenen ärztlichen Berater als ausgesprochen nehmend durch einen gesellschaftlichen Werte- schwierig dar.35 Einige als Erbleiden anerkannte wandel in Frage gestellt, der sich nicht nur in einer Störungen waren infolge des medizinisch-pharma- geänderten Rechtsauffassung infolge liberalerer kologischen Fortschritts mittlerweile symptoma- Moralvorstellungen niederschlug, sondern zudem tisch beherrschbar, so dass es unverhältnismäßig eine deutliche Verschiebung der vorherrschenden schien, von den Kranken einen Verzicht auf Nach- sozialphilosophischen Prämissen von der Gemein- kommen zu verlangen. Bei vielen anderen mut- schaft zum Individuum bewirkte. Diese Entwick- maßlichen Erbkrankheiten wurde der Kenntnis- lung, die hier allerdings nur grob skizziert werden stand der nun Genetik genannten Vererbungswis- kann, machte eine Neuregelung der freiwilligen senschaft nach wie vor als ungenügend angesehen. Sterilisierung in der Bundesrepublik am Ende über- Vor allem in Bezug auf Geisteskrankheiten, die flüssig. noch immer im Zentrum der eugenischen Bestre- Durch den erwähnten Wertewandel der 1960er bungen der Ärzte standen, wich bei Genetikern in Jahre wurde die bisher gültige Vorstellung vom Fa- der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zudem der milienleben mit Kindern als nahezu einziger Form Glaube an erbliche Ursachen allmählich der Vor- sittlich angemessener Lebensführung allmählich stellung, dass für einen Krankheitsausbruch neben relativiert. Die Auswirkungen dieses Wandels zeig- konstitutionellen Bedingungen auch exogene Aus- ten sich bereits 1964 in einem Urteil des Bundesge- löser verantwortlich waren. Als ein zweites die richtshofs (BGH), in dem ein vorinstanzlich für Neuregelung hemmendes Element erwies sich – schuldig befundener Chirurg aus Niedersachsen, wenn auch indirekt – die Forderung nach der Ein- der seit 1946 Hunderte verheiratete Frauen in so- willigung der Betroffenen. Da man die Vorausset- zialer Notlage auf deren Wunsch unfruchtbar ge- zung für die Wirksamkeit einer solchen Einwil- macht hatte, freigesprochen wurde. Wie die Nicht- ligung in einer umfassenden Aufklärung des zu anwendung des Körperverletzungsparagraphen in Sterilisierenden über Umfang und mögliche Konse- diesem Fall zeigt, sah das Gericht in den sozial mo- quenzen des Eingriffs sah, stellte sich – vor allem tivierten Eingriffen des Arztes keinen Verstoß ge- im Hinblick auf die als Hauptzielgruppe der eugeni- gen die „guten Sitten“.38 Die diesem Richterspruch schen Sterilisierung geltenden Geisteskranken – zugrunde liegende Rechtsauffassung, dass eine Ste- gleichsam automatisch die Frage nach dem Um- rilisierung mit Einwilligung der Betroffenen grund- gang mit nicht einwilligungsfähigen Menschen, sätzlich zulässig war, wurde 1976 durch ein ande- die aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage res BGH‑Urteil weiter gestärkt, das eine zum waren, die Tragweite einer Sterilisationsoperation Zwecke der Familienplanung vorgenommene Steri- zu verstehen.36 Für die Handhabung derartiger mo- lisierung auf Wunsch der Betroffenen im Nach- ralisch brisanter Fälle hätte ein die Zustimmung hinein für rechtskonform erklärte.39 Durch diese der Betroffenen voraussetzendes Sterilisationsge- beiden Grundsatzurteile, in denen auch die fort- setz ohnehin keine Lösung geboten. Dieser Um- schreitende Veränderung der gesellschaftlichen stand dürfte ein wichtiger Grund dafür gewesen Moralvorstellungen in den 1960er und 1970er Jah- sein, dass sich der Gesetzgeber über lange Zeit ren deutlich zum Ausdruck kommt, war die Rechts- nicht zu einer Neuregelung der Sterilisationsfrage unsicherheit von Ärzten zumindest bei Sterilisatio- entschloss.37 nen mit Einwilligung der Betroffenen endgültig be- Nachdem die Verabschiedung eines demokrati- seitigt. Ein Teil des Problems, das zu der ärztlichen schen Sterilisationsgesetzes zunächst vor allem an Forderung nach einem Sterilisationsgesetz geführt der Unvereinbarkeit der dafür formulierten Bedin- hatte, war somit auch ohne eine gesetzliche Neure- gungen gescheitert war, wurde die Notwendigkeit gelung gelöst. Ungeklärt blieb nur die Frage der Be- handlung nicht einwilligungsfähiger Menschen. Durch das BGH‑Urteil von 1964, das in der Öf- 35 Zierke: Sterilisation (2006), S. 95–97, 123–130. 36 Ebd., S. 116 f., 127. fentlichkeit großes Aufsehen erregte, wurden aber 37 Nach Zierke stand hinter der Zurückhaltung des Ge- auch neue Ansprüche im Hinblick auf die freiwillige setzgebers zudem die Sorge, mit einer Neuregelung Sterilisation geweckt. Vor dem Hintergrund einer der Sterilisierung Anspruchsgrundlagen in der ab 1957 aufkommenden Debatte um eine Entschädi- gung von Opfern der NS‑Zwangssterilisation zu 38 Zierke: Sterilisation (2006), S. 132–135. Vgl. auch: schaffen. Zu diesem hier nicht weiter thematisierten o.N.: Dohrn-Urteil (1964), S. 70 f. Aspekt: Zierke: Sterilisation (2006), passim. 39 Zierke: Sterilisation (2006), S. 192 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 204 Die Debatte um ein neues Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik fortschreitenden Liberalisierung der bundesdeut- Fazit schen Gesellschaft verschob sich die allgemeine Perspektive ab der Mitte der 1960er Jahre zuneh- Zur Mitte der 1950er Jahre setzte in der Bundesre- mend von der Gemeinschaft auf das Individuum. publik eine breitere Diskussion um eine Neurege- Anstelle des bisher verfolgten Gemeinwohls rückte lung der medizinischen und eugenischen Sterilisie- nun das Interesse der oder des Einzelnen und deren rung ein, in der bald auch ärztliche Interessenver- Streben nach individueller Selbstbestimmung bände – wie 1962 die Bayerische Gesellschaft für (auch in sexueller Hinsicht) in den Vordergrund. Geburtshilfe und Gynäkologie – mit der Forderung Dieser Wandel bildete sich auch in der Sterilisati- nach einem neuen Sterilisationsgesetz hervortra- onsdebatte ab. War es dabei anfangs einzig um me- ten. Als Negativfolie in der Debatte diente das na- dizinisch-eugenische Indikationen gegangen, so tionalsozialistische „Gesetz zur Verhütung erb- gewann in der öffentlichen Debatte neben der so- kranken Nachwuchses“, dessen eugenische Zielset- zialen Indikation zunehmend auch die Forderung zungen man zwar teilte, das in seiner Form – vor nach einer Zulassung der Sterilisierung als Verhü- allem wegen des Zwangsparagraphen – aber unter tungsmaßnahme an Gewicht. Der gesellschaftliche demokratischen Bedingungen nicht mehr zeitge- Anspruch auf selbstbestimmte Familienplanung, mäß erschien. Als wichtigste Voraussetzung für der durch die Verbreitung der Antibabypille weiter eine Unfruchtbarmachung sahen Ärzte daher die verstärkt wurde, blieb nicht ohne Auswirkungen Einwilligung der Betroffenen an. Allerdings war auf die Praxis: Zur Mitte der 1980er Jahre war die die geforderte Legalisierung der freiwilligen Sterili- Sterilisierung auf Wunsch der Patienten – zumin- sierung vor dem Hintergrund der Moralvorstellun- dest wenn diese bereits Kinder hatten – als Mittel gen der 1950er und frühen 1960er Jahre nur denk- der Familienplanung allgemein akzeptiert.40 Das bar, wenn man die Gültigkeit der Vorschrift mit Hil- lässt erkennen, dass das ursprünglich von Volkskör- fe eines gesetzlich fixierten Indikationskatalogs auf per-Ideologien bestimmte Thema „Sterilisierung“ Fälle beschränkte, in denen der Eingriff nach ärztli- längst zu einer Frage individueller Selbstbestim- chem Dafürhalten notwendig war. Die Aufstellung mung geworden war. eines entsprechenden Katalogs der Erbkrankheiten Aufgrund der skizzierten Entwicklung wurde und die Einrichtung von Gutachterstellen, die im das lange diskutierte Gesetz über die freiwillige Einzelfall über die Zulässigkeit urteilen sollten, Sterilisierung in den 1980er Jahren von der Bun- stellten daher weitere zentrale Forderungen der desministerialverwaltung endgültig zu den Akten Ärzte dar, durch die ein „Missbrauch“ der neuen gelegt. Die Sterilisation nicht Einwilligungsfähiger, Vorschrift ausgeschlossen werden sollte. die angesichts der geschichtlichen Erfahrungen in Die ärztlichen Bedingungen erwiesen sich je- Deutschland über geraume Zeit als heikle Frage doch als schwerwiegendes Hemmnis bei den Be- galt, wurde erst 1990 im sogenannten Betreuungs- mühungen um ein Gesetz, das sowohl demokrati- gesetz geregelt. Danach ist eine Unfruchtbarma- schen Rechtserwartungen als auch eugenischen chung Einwilligungsunfähiger mit Zustimmung Zielsetzungen genügen sollte. So hatte die Überant- des Betreuers zulässig, wenn sie dem individuellen wortung der Entscheidung an vermeintlich unab- Wohl des Betreffenden dient und – nach Ansicht hängige Gremien zwar bereits in der NS‑Zeit er- Dritter – seinem Willen nicht widerspricht.41 Steri- folgreich Rechtssicherheit suggeriert, den exzessi- lisationen aus eugenischen Gründen sind danach ven staatlichen Missbrauch der Maßnahme damals zwar prinzipiell unstatthaft, dennoch ist die Vor- aber ebenso wenig verhindert wie der im NS‑Ge- schrift problematisch, vor allem wegen der Klausel setz enthaltene Katalog der Erbkrankheiten. Als zum vermeintlichen Willen nicht Einwilligungsfä- problematisch stellte sich jedoch vor allem die For- higer in Bezug auf die Sterilisierung. derung nach einer Einwilligung der Patienten he- raus, denn diese Bedingung ging letztlich an den eugenischen Intentionen der geplanten Vorschrift vorbei: Da die im Fokus der Eugeniker stehenden schwer Geisteskranken juristisch nicht selten als einwilligungsunfähig galten, wäre eine an die Zu- stimmung des Betroffenen gebundene Maßnahme in solchen Fällen nicht anwendbar gewesen.

40 Ebd., S. 201 f. 41 Ebd., S. 202–205.

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Am Ende scheiterte die Verabschiedung eines Literatur demokratischen Sterilisationsgesetzes in der Bun- desrepublik aber nicht allein an der Unvereinbar- Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialis- keit der dafür aufgestellten Bedingungen. Die For- mus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. derung nach einer Neuregelung der freiwilligen Opladen 1986. Böckle, F.: Die Sterilisierung der Frau in katholisch-mo- Sterilisierung wurde vielmehr von einem gesell- raltheologischer Sicht. In: Geburtshilfe und Frauen- schaftlichen Wertewandel eingeholt: Bedingt heilkunde 22 (1962), S. 1434 f. durch die Liberalisierung der allgemeinen Moral- Engisch, K.: Die Sterilisierung der Frau in juristischer vorstellungen seit der Mitte der 1960er Jahre und Sicht. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 22 eine wachsende Bedeutung individueller Selbstbe- (1962), S. 1434. stimmung entwickelte sich der Eingriff allmählich Gütt, Arthur; Rüdin, Ernst; Ruttke, Falk (Hrsg.): Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli zu einem anerkannten Mittel der Familienplanung, 1933 mit einem Auszug aus dem Gesetz gegen ge- das allein auf Wunsch der betroffenen Person zum fährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßre- Einsatz kam. In dieser Situation erschien es dem geln der Sicherung und Besserung vom 24. Nov. Gesetzgeber offenbar überflüssig, Indikationen für 1933. München 1934. eine freiwillige Sterilisierung zu formulieren: In Gütt, Arthur; Rüdin, Ernst; Ruttke, Falk (Hrsg.): Gesetz den 1980er Jahren wurden die Pläne für ein bun- zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. 2., neubearbeitete Aufl., München 1936. desrepublikanisches Sterilisationsgesetz endgültig Kirchhoff, H.: Die Sterilisierung der Frau in gynäkologi- aufgegeben. Die Unfruchtbarmachung nicht Ein- scher Sicht. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 22 willigungsfähiger wurde schließlich 1990 im soge- (1962), S. 1433 f. nannten Betreuungsgesetz unter bestimmten Be- Ley, Astrid: Im Teufelskreis der Eugenik. Die Erfahrun- dingungen für zulässig erklärt. Diese nicht unpro- gen der Nürnbergerin Grete S. mit der NS‑Erbpflege. blematische Regelung stellt einen negativen In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral – Gesichtspunkt in der hier geschilderten emanzipa- History 12 (1999), S. 92 107. Ley, Astrid: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hinter- torischen Entwicklung dar. gründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945. Frankfurt/M. 2004. o.N.: Dohrn-Urteil. Der Lückenbüßer. In: Der Spiegel Nr. 45 (1964), S. 70 f. Rede des Reichsinnenministers Dr. Frick auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölke- rungs- und Rassenpolitik über die Rassengesetzge- bung vom 28. Juni 1933 in Berlin. In: Friedrichs, Axel (Hrsg.): Die nationalsozialistische Revolution 1933. 2., neubearbeitete Aufl., Berlin 1937, S. 169–177. Tümmers, Henning: Anerkennungskämpfe. Die Nachge- schichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisa- tion in der Bundesrepublik. Göttingen 2011. Zierke, Roland: Sterilisation per Gesetz. Die Gesetzesini- tiativen zur Unfruchtbarmachung in den Akten der Bundesministerialverwaltung (1949–1976). Berlin 2006.

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Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens – ein ethisches Problem aus historischer Sicht

Florian Bruns

Einleitung se Güterabwägung zu erheblichen ethischen Pro- blemen führen. Die schwierige Frage nach dem Be- Die Frage „Wann beginnt menschliches Leben?“ be- ginn menschlichen Lebens und dem zu schützen- schäftigt Medizin und Wissenschaft seit ihren An- den Rechtsgut spielt heute, anders als noch vor fängen: Lässt sich ein Zeitpunkt festlegen, ab dem einigen Jahrzehnten, nicht nur beim Thema Abtrei- menschliches Leben als solches bezeichnet werden bung, sondern auch in der Reproduktionsmedizin kann? Und wenn ja, an welcher Stelle der vorge- sowie in der Forschung an embryonalen Stammzel- burtlichen Entwicklung lässt sich dieser Zeitpunkt len eine Rolle. terminieren? Gibt es vorbestimmte Zäsuren in der Die jeweiligen Fachgesellschaften haben sich Embryonalphase, die eine solche Festlegung recht- stets bemüht, den individuellen ärztlichen Stand- fertigen? Oder haben wir es ohnehin mit einem punkt durch Hinzuziehung externer Expertise zu fließenden biologischen Geschehen zu tun, in dem ergänzen und auf übergeordneter Ebene Regelun- das Leben von Generation zu Generation weiterge- gen aufzustellen. Diesen Versuch unternahm auch geben wird und dessen Anfang und Ende im Dun- die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und keln liegen? Frauenheilkunde (BGGF), als sie 1967, initiiert An dem Versuch, innerhalb der Embryonalent- durch den damaligen Vorsitzenden Max Brandl2, wicklung, also zwischen Befruchtung der Eizelle auf der gemeinsamen Tagung mit der österrei- und Geburt, eine Art archimedischen Punkt zu be- chischen Fachgesellschaft die Frage nach dem Le- stimmen, der menschliches Leben von einem sehr bensbeginn zum ersten Teil des wissenschaftlichen uneinheitlich bezeichneten Vorzustand trennt, ha- Programms machte. Im Folgenden soll die Debatte ben sich seit jeher die unterschiedlichsten Diszipli- um den Beginn des menschlichen Lebens im medi- nen beteiligt, die Medizin ebenso wie die Biologie, zinhistorischen Kontext nachgezeichnet werden. Theologie und Philosophie, aber auch die Rechts- Nach einem kurzen und eher schlaglichtartigen wissenschaften. Bereits an dieser Fächervielfalt las- Rückblick auf frühere Versuche, den Beginn des sen sich die diversen Ebenen der Diskussion um ei- Menschseins zu bestimmen, wird sich der Fokus nen solchen terminus a quo ablesen, die neben wis- auf die Hintergründe und Inhalte der Bad Gasteiner senschaftlich-rationalen stets auch transzendente Tagung der BGGF im Jahr 1967 richten. Aspekte umfasst hat. Innerhalb der klinischen Me- dizin ist es bis heute vor allem die Frauenheilkun- de, die immer wieder mit existenziellen Fragen des Lebensbeginns und der pränatalen Entwick- lung in Berührung kommt.1 Ärzte müssen die Be- 2 Max Brandl (1910–1991) war als Assistent an der Er- treuung schwangerer Frauen und deren je nach Le- langer Frauenklinik an Zwangssterilisierungen und benslage und Persönlichkeit unterschiedliche Prä- Zwangsabtreibungen während des Nationalsozialis- ferenzen mit der Sorge um das ungeborene Kind in mus beteiligt; nach dem Krieg wurde er Chefarzt der Einklang bringen. In manchen Fällen, etwa bei dem Gynäkologischen Abteilung des Marienkrankenhau- Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch, kann die- ses in Amberg und 1966–67 Präsident, später Ehren- mitglied der BGGF. Er leitete die Tagungen der Gesell- schaft in Regensburg und Bad Gastein. Ausführlicher 1 Allgemein zur Ethik in Gynäkologie und Geburtshilfe: zu Brandl in diesem Band Frobenius: Ehrenmitglie- Maier: Ethik (2000). der.

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nach der Empfängnis seine menschliche Gestalt ge- Historische Theorien wonnen hat und damit als Mensch im eigentlichen zur Embryogenese Sinne des Wortes zu betrachten ist. […] Der Zeit- punkt der Beseelung wird mit dem Termin teils Die auf den griechischen Philosophen Aristoteles der Befruchtung, teils der Ausbildung der mensch- zurückgehende Idee einer allmählich sich vollzie- lichen Gestalt, teils des Auftretens der ersten henden Beseelung des menschlichen Embryos war Kindsbewegungen identifiziert und von manchen von der Antike bis zur Neuzeit die einflussreichste erst unmittelbar nach der Geburt angenommen.“5 und langlebigste Theorie zur Zeugung und vorge- Thomas von Aquin, Kirchenlehrer und Vorden- burtlichen Entwicklung des Menschen. Entspre- ker mittelalterlicher Theologie, griff im 13. Jahr- chend der Auffassung einer sukzessiven Beseelung hundert die aristotelische Stufenlehre auf und be- verfügt die Leibesfrucht zunächst über eine vegeta- schrieb die von außen erfolgende Beseelung als tive Seele, führt also eine Art Pflanzenleben. Spä- Schöpfungsakt des christlichen Gottes.6 Diese als testens mit Bildung des embryonalen Herzens folgt Kreatianismus bezeichnete Theorie behielt die von das Stadium animalisch-sensitiven Lebens, in dem Aristoteles vorgegebene Vorstellung, wonach der von einer fühlenden Seele ausgegangen werden männliche Embryo in den ersten 40, der weibliche kann. Erst nachdem er phänotypisch die menschli- in den ersten 80 Tagen seiner Entwicklung unbe- che Gestalt angenommen hat, ist der Embryo bereit seelt sei, grundsätzlich bei. Die Sukzessivbeseelung für die Aufnahme der Geist- oder Vernunftseele, galt jahrhundertelang, von kurzen Unterbrechun- welche im Gegensatz zu den beiden vorangehen- gen abgesehen, als herrschende kirchliche Lehre. den Seelenkräften nicht vom Erzeuger auf ihn üb- An der Beseelungslehre orientierte sich nicht nur ertragen, sondern dem Embryo von außen einge- die Kontroverse um den Lebensbeginn, sondern geben wird. Den Abschluss der körperlichen Glie- auch die strafrechtliche und medizinische Praxis derung und den Erhalt der substanziellen Seele des Schwangerschaftsabbruchs. Die Abtreibung ei- von außen datiert Aristoteles bei männlichen Em- nes unbeseelten Embryos wurde vom katholischen bryonen auf den 40. und bei weiblichen ungefähr Kirchenrecht erheblich geringer geahndet als die auf den 80. Tag nach der Empfängnis. Von diesem eines beseelten Embryos. Zeitpunkt an galt der Embryo als vollgültiger Die wachsenden technischen Möglichkeiten im Mensch, der sich von Tier und Pflanze unterschied Bereich der Naturwissenschaften, etwa in Form und dem entsprechend eine besondere Schutzwür- der Mikroskopie, erlaubten jedoch im Laufe der digkeit zukam.3 Zeit neue, ungeahnte Einblicke in die menschliche Bedeutende Arztpersönlichkeiten der Antike Individualentwicklung und brachten dieses Welt- wie Hippokrates und Galen vertraten zum Teil ähn- bild ins Wanken. Die Entdeckung der Säugetier-Ei- liche Zeugungs- und Entwicklungstheorien wie zelle 1827 durch den Naturforscher und Anthropo- Aristoteles, in manchen Punkten unterschieden logen Karl Ernst von Baer war ein erster entschei- sich ihre Auffassungen jedoch auch. So hielt Hippo- dender Schritt. 1843 beobachtete der britische krates die Formung des Embryos bereits nach Embryologe Martin Barry erstmals unter dem Mi- 30 Tagen für abgeschlossen.4 Mit Blick auf die un- kroskop das Vorhandensein eines Spermiums in ei- terschiedlichen Theorien und Vorstellungen jener ner Eizelle. Oscar Hertwig, Anatom in Jena und spä- Zeit resümierte der Gynäkologe und Medizinhisto- ter in Berlin, enthüllte schließlich 1875 am Tiermo- riker Paul Diepgen in seiner historischen Abhand- dell den grundlegenden Vorgang der Fertilisation, lung zur Frauenheilkunde: indem er zeigte, dass Spermium und Ovum durch „Am Ausgang der Antike ist es die landläufige Kernverschmelzung zu einer neuen Struktur, der Meinung geworden, dass der Embryo am 40. Tag Zygote, fusionieren. Diese Meilensteine der embryologischen For- schung führten zu neuen Postulaten in Bezug auf 3 Zu Hintergründen siehe u.a. Willam: Mensch (2007), S. 18–44. den Beginn menschlichen Lebens. So verlor etwa 4 Insbesondere übernahm die hippokratische Medizin die lange Zeit vorherrschende Präformationslehre, nicht die aristotelische Schlussfolgerung, die mensch- der zufolge Embryonen von Anfang an als winzige liche Formung des Embryos stelle eine moralische Schranke gegen seine Abtreibung dar, vgl. Jerou- schek: Lebensschutz (1988), S. 18. Zum antiken Kon- 5 Diepgen: Frauenheilkunde (1937), S. 154. Siehe auch text von Begriffen wie „Abtreibung“, „Embryo“ oder S. 319 f. mit weiteren Belegen und Verweisen. „Empfängnis“ siehe Leven: Medizin (2005). 6 Siehe dazu ausführlich Richter: Beginn (2008).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 208 Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens vorgeformte Menschen in Ei- oder Samenzelle vor- zwischen menschlichen und tierischen Embryonen handen sind und nur noch heranwachsen müssen, wenig Raum für die Ansicht, dass menschliches Le- endgültig ihre Grundlage. Daneben geriet jedoch ben bereits mit der Befruchtung der Eizelle begin- auch die Idee der Sukzessivbeseelung zunehmend nen könnte. Schon deshalb war Haeckels Rekapitu- unter Druck. Hierzu trugen nicht nur die neuen na- lationstheorie bereits zeitgenössisch heftiger Kritik turwissenschaftlichen Erkenntnisse bei, sondern ausgesetzt. auch die sich innerhalb der katholischen Kirche Andererseits gab es stets auch solche Stimmen, ausbreitende Tendenz, die göttlich vermittelte die das ungeborene Leben als Teil der Mutter ansa- „Einhauchung“ der menschlichen Geistseele auf hen und, angelehnt an die Philosophie der Stoa, erst den Zeitpunkt der Befruchtung vorzuverlegen. Die- mit der Geburt von einem menschlichen Lebewe- se sogenannte Simultanbeseelung hatte nicht mehr sen im eigentlichen Sinne ausgingen. Diese Position die äußerlich erkennbare menschliche Gestalt des findet sich auch in der religiösen Tradition des Ju- Embryos zur Voraussetzung. Mit der päpstlichen dentums. Dem Talmud zufolge ist ein Fetus weder Bulle „Apostolicae sedis“ verabschiedete sich die ein lebender Mensch, noch eine Person. Erst mit katholische Glaubenslehre 1869 offiziell von der den Geburtswehen, mitunter sogar erst mit dem Vorstellung einer sukzessiven Beseelung des Em- Sichtbarwerden des Kopfes, erhält der Fetus den bryos. 1917 fand schließlich die Lehre der Simul- Status einer Person, „und man darf ihm nichts tanbeseelung Eingang in das Kirchenrecht.7 mehr tun.“9 Im klinisch-praktischen Alltag spielten, jenseits Die Deutung der Geburt als besondere juristi- von Fragen der Abtreibung, Spekulationen über sche und moralische Zäsur geht auf das römische das Leben vor der Geburt nur eine untergeordnete Recht sowie auf philosophische Überlegungen Rolle. Geburtshelfer richteten ihr Augenmerk lange während der ersten nachchristlichen Jahrhunderte Zeit vorwiegend auf das unter und nach der Geburt zurück, denen zufolge die Seele erst mit der Luft gefährdete Wohl der Mutter sowie auf das neuge- eingesogen werde. Demnach beginne das Leben borene Kind. Erst mit der sich entwickelnden Ge- mit dem ersten Atemzug und werde mit dem letz- burtsmedizin des 18. und 19. Jahrhunderts rückte ten ausgehaucht. Die Hervorhebung der Geburt für daneben auch das vorgeburtliche Leben in den Fo- den Beginn menschlichen Lebens fand im 19. Jahr- kus der Aufmerksamkeit. Hebammen und Ärzte be- hundert auch Eingang in das deutsche Strafrecht. griffen das ungeborene Kind zunehmend als ein ei- Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 fasste die Ge- genständiges Wesen und verliehen ihm in der Folge burt als entscheidendes Differenzierungsmerkmal nicht nur einen klinischen, sondern auch einen auf, indem es im § 218 die Abtreibung der Leibes- moralischen Status, indem sie seine besondere frucht vom Mord und Totschlag abgrenzte und ent- Schutzwürdigkeit herausstellten.8 sprechend mildere Strafen vorsah. Trotz der geset- Das wachsende Interesse vieler Kliniker und zessystematischen Einordnung unter die soge- Forscher an der Pränatalphase sowie das erweiterte nannten Verbrechen und Vergehen wider das embryologische Wissen beförderten die Abkehr Leben, bezweckte der § 218 nicht den Schutz be- von der vormodernen Theorie der Sukzessivbesee- reits spezifisch menschlichen Lebens. Vielmehr lung. Über alternative Ansätze, die frühe Phase der ging es darum, „den möglichst ungestörten Werde- Embryonalentwicklung überzeugend zu erklären, gang vom foetalen zum menschlichen Leben nach wurde Ende des 19. Jahrhunderts intensiv gestrit- der Geburt zu gewährleisten, ohne daß beide Leben ten. Als wirkmächtig erwies sich die von dem Jena- in eins zu setzen wären.“10 Das Dilemma der er Zoologen Ernst Haeckel 1866 aufgestellte „Bioge- Rechtspraxis, vorgeburtliches Leben in seiner Exis- netische Grundregel“. Haeckel ging aufgrund der tenz weder zu negieren, noch mit geborenem Le- Ähnlichkeit früher Embryonen verschiedener Ar- ben gleichzusetzen, tritt hier deutlich hervor. ten davon aus, dass die Individualentwicklung (On- togenese) die Stammesentwicklung aller Lebewe- 9 Rey-Stocker: Anfang (2006), S. 128. sen (Phylogenese) rekapituliert. Haeckels These, 10 Jerouschek: Lebensschutz (1988), S. 275 mit Verweis die heute wissenschaftlich als überholt gilt, ließ auf die einschlägigen zeitgenössischen Rechtskom- mit ihrer Betonung der anfänglichen Ähnlichkeit mentare. So hieß es etwa bei Holtzendorff: Handbuch (1874), S. 457, eine Abtreibung beeinträchtige nicht 7 Ausführlich zum theologischen Disput über die Be- menschliches „Leben im juristisch engeren Sinne“, seelungstheorien Hack: Streit (2011). sondern nur die „Wahrscheinlichkeit eines späteren 8 Siehe hierzu die Beiträge in Duden et al.: Geschichte Lebens“, das mit der Geburt beginne. Zitiert nach Je- (2002). rouschek, a.a.O., S. 275 f.

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Als Zwischenbefund dieses kursorischen Rück- letztlich muss dies aber Spekulation bleiben, da blicks lässt sich festhalten: In der historischen Be- sich Moll nicht explizit zum Status der befruchteten trachtung sind weder kirchlichen noch weltlichen Eizelle äußerte. Verlautbarungen einheitliche oder dauerhaft gülti- Auch in der zwischen 1922 und 1938 in Halle er- ge Aussagen zum Beginn menschlichen Lebens zu schienenen Zeitschrift „Ethik“, einem sehr frühen entnehmen. Selbst die Stellungnahmen der katholi- Periodikum der Medizinethik in Deutschland, wur- schen Kirche waren oft heterogen und einem ste- de der Beginn menschlichen Lebens von vielen ten Wandel unterworfen. Die Datierung des Le- Autoren in erster Linie im Zusammenhang mit der bensbeginns war lange Zeit rein metaphysisch ge- Abtreibungsfrage thematisiert. Eine direkte Formu- prägt und schwankte zwischen dem Zeitpunkt der lierung bzw. Beantwortung der Frage des Lebens- Befruchtung, dem Erhalt der Geistseele um den 40. beginns findet sich in den Beiträgen nicht.12 bzw. 80. Tag, den ersten spürbaren Kindsbewegun- Auf Ebene der gynäkologischen Fachgesellschaf- gen und der Geburt. Die einzige Sicherheit in der ten erfolgte diesbezüglich eine konkretere Positio- Frage nach dem Lebensbeginn bestand, so scheint nierung. In den 1930er Jahren verabschiedeten die es, in der Unklarheit der Antwort. Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und die Ber- liner Gesellschaft für Gynäkologie eine Resolution, in der die Befruchtung als Beginn individuellen menschlichen Lebens bezeichnet wurde. Die teil- Wissenszuwachs und neue weise drakonischen Strafandrohungen bei Abtrei- Unsicherheit im 20. Jahrhundert bungen während der Zeit des Nationalsozialismus hatten dagegen weniger den individuellen Schutz Fortschreitende Erkenntnisse über die Physiologie menschlichen Lebens zum Ziel, sondern gründeten der Schwangerschaft sowie verbesserte diagnosti- sich auf ideologische und bevölkerungspolitische sche Möglichkeiten etwa durch das Aufkommen Prämissen, wie etwa den Schutz von „Rasse“ und hormonbasierter Schwangerschaftstests und durch „Lebenskraft“ des Volkes.13 die fetale Sonografie haben im 20. Jahrhundert der Die christliche Sicht einer Simultanbeseelung Debatte um den Beginn menschlichen Lebens neue bestätigte in den Nachkriegsjahren der prominente Ansätze und Impulse geliefert. Zunächst war es Moraltheologe Bernhard Häring. In seinem opulen- über viele Jahre der oftmals erbittert geführte ten Werk „Das Gesetz Christi“, in dem er sich auch Streit um Schwangerschaftsabbruch und Empfäng- zur Menschwerdung äußerte, ging er überdies da- nisverhütung, der das Interesse am Lebensbeginn von aus, dass sich der Gedanke einer Geistbesee- wachhielt. Im letzten Drittel des Jahrhunderts lie- lung zum Zeitpunkt der Empfängnis unter Ärzten ßen außerdem die Diskussionen über In-vitro-Fer- und Theologen allgemein durchgesetzt habe.14 Auf tilisation, Stammzellforschung und Präimplanta- empirische Belege für diese Behauptung verzichte- tionsdiagnostik die moralische Bedeutung des Le- te er gleichwohl. bensbeginns nochmals stark hervortreten. Die Fortschritte der embryologischen Forschung Das 1902 erschienene Buch „Ärztliche Ethik“, führten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten verfasst von dem Berliner Nervenarzt Albert Moll Weltkrieg zu einer besonders intensiven Erörte- und nach Art und Umfang seinerzeit ein Standard- rung der Frage nach dem Lebensbeginn. So ver- werk in Deutschland, ging nicht auf die Frage nach schob der Einsatz der Phasenkontrastmikroskopie dem Lebensbeginn ein. Angesichts der Breite der in und anderer neuer Aufbereitungs- und Darstel- diesem Buch behandelten Themen ist diese Leer- lungsmethoden in der Embryologie die Grenzen stelle bemerkenswert. Im Hinblick auf Schwanger- des Sichtbaren nochmals in einer Weise, die viele schaftsabbrüche gab Moll zu bedenken, dass eine bestehende Annahmen und Überzeugungen erneut Abtreibung etwa aus dringlicher sozialer Indikation in Frage stellte. Arthur Hertig und John Rock liefer- ebenso wenig unmoralisch zu nennen sei, wie die ten 1954 die ersten Bilder einer menschlichen Zy- Tatsache, „dass viele Eier von der Frau unbefruchtet gote und konnten damit die embryologischen abgehen, dass Milliarden von Samenfäden niemals Sammlungen um die bislang unbekannten Frühsta- zu einer Befruchtung benützt werden“.11 Diese li- dien der Menschwerdung ergänzen. Dass diese berale Auffassung könnte auf eine eher späte Datie- 12 rung des Lebensbeginns durch Moll hindeuten; Zu Hintergründen siehe Frewer: Medizin (2000). 13 Siehe übergreifend hierzu Bruns: Medizinethik (2009). 11 Moll: Ethik (1902), S. 259. 14 Häring: Gesetz (1959), S. 1008.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 210 Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens neuen Befunde am Menschen erhoben werden insgesamt 64 überlebensgroße Kunststoffmodelle, konnten, machte sie besonders spektakulär – be- die als „Humanembryologische Sammlung Blech- ruhte das bisherige Wissen doch meist auf Unter- schmidt“ die Entwicklung des menschlichen Em- suchungen an tierischen Fortpflanzungsstadien, bryos von der Befruchtung bis zur vollendeten ach- was in der Vergangenheit mitunter zu Fehlschlüs- ten Schwangerschaftswoche darstellen.18 Blech- sen, wie etwa Haeckels „biogenetischer Grundre- schmidt hielt es durch seine Forschungen für gel“, geführt hatte. Auch die nach Meinung des erwiesen, dass menschliches Leben im Augenblick Theologen Häring vermeintlich weit verbreitete der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entste- Annahme einer Simultanbeseelung des Embryos he und brachte dies auf die prägnante Formel, der wurde durch neue biologische Erkenntnisse in Fra- Embryo entwickele sich nicht zum Menschen, son- ge gestellt. Der gleichzeitig mit der Befruchtung dern stets als Mensch.19 Blechschmidt verfolgte stattfindenden Beseelung stand die neu gewonne- nicht nur wissenschaftliche, sondern auch mora- ne Gewissheit entgegen, dass die Bildung eineiiger lisch-normative Ziele. Der erklärte Abtreibungs- Mehrlinge noch bis zum Abschluss der Nidation gegner und Kreationist legte seine Thesen öffent- möglich ist. Mithin ließ sich vor der Einnistung lichkeitswirksam in mehreren, reich bebilderten schwerlich von einem individuellen, d.h. unteilba- Büchern dar, die zum Teil mehrere Auflagen erleb- ren Leben sprechen15 – nur einem solchen „In-divi- ten und nicht nur in kirchlichen Kreisen oft zitiert duum“ konnte aber nach theologischer Lehrmei- wurden.20 nung die sogenannte Geistseele verliehen werden. Generell wurde die Frage nach dem Lebensbe- Neu war überdies der öffentlichkeitswirksame ginn in den 1960er Jahren auf breiter Ebene disku- Anspruch, den nicht wenige Forscher auf dem Ge- tiert. Gesellschaftspolitische Umbrüche und Refor- biet der Entwicklungsbiologie an den Tag legten. men gingen mit Pionierleistungen und Neuent- Der amerikanische Gynäkologe und Embryologe wicklungen auf medizinischem Gebiet einher. Im Landrum B. Shettles veröffentlichte seine in den Bereich der Frauenheilkunde war es zweifellos die 1950er Jahren gemachten Beobachtungen zum zu Beginn des Jahrzehnts eingeführte Antibaby- Wachstum von Follikel und Oozyt im menschlichen pille, die eine wichtige Zäsur markierte. Diese Ovarialgewebe sowie über das Verhalten der Zygote neue Möglichkeit der Familienplanung hatte weit- vor der Einnistung nicht nur in der Fachliteratur, reichende Auswirkungen auf die Gesellschaft und sondern auch in einem Bildband, der sich bewusst das Rollenverständnis von Frauen und Müttern.21 an ein breites Publikum richtete. 1960 erschien die- Als Mittel der Empfängnisverhütung tangierte die ser Bildbericht in deutscher Übersetzung.16 In Pille den moralisch sensiblen Bereich des Lebens- Technik und Darbietung noch anschaulicher und beginns nicht unmittelbar – was ihre Akzeptanz spektakulärer waren die von dem Wissenschaftsfo- allgemein erleichterte. Stattdessen entzündete sich tografen Lennart Nilsson einige Jahre später veröf- an dieser Art der Verhütung eine tiefergehende fentlichten Bilder menschlicher Embryonen.17 Kulturkritik. Die aus der breiten Anwendung der In Deutschland war es vor allem der Göttinger hormonellen Kontrazeption tatsächlich oder ver- Anatom und Embryologe Erich Blechschmidt, der meintlich resultierenden Entwicklungen, wie etwa in den 1960er Jahren mit umfangreichen Forschun- die wachsende Emanzipation und häufigere Be- gen zur frühen Embryonalperiode hervortrat – und rufstätigkeit der Frau, wurden von konservativer damit über die Fachwelt hinaus Aufmerksamkeit Seite, auch innerhalb der Frauenheilkunde, scharf erregte. Blechschmidts Spezialgebiet waren soge- angeprangert. So sah beispielsweise der emeritier- nannte Schnittserien-Rekonstruktionen menschli- te Direktor der Tübinger Frauenklinik, August May- cher Embryonen. Basierend auf einer Vielzahl mi- er, im „geistig-ethischen Chaos unserer Zeit“ eine kroskopischer Schnittpräparate formte Blech- schmidt in einem aufwändigen Verfahren 18 Siehe Blechschmidt: Entwicklungsstadien (1961). 19 Vgl. Blechschmidt: Ei (1968), S. 32, 50 und passim. 15 Die Diskussion über die Bedeutung der Individuation Diese Formulierung fand Jahre später auch Eingang für den moralischen Status des Embryos hält bis heu- in ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum te an, vgl. Hepp; Beck: Lebensbeginn (2000), S. 538. Schwangerschaftsabbruch, siehe BVerfGE 88, 203 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die [252]. erste in Deutschland dokumentierte Geburt eineiiger 20 Siehe als Beispiel Splett: Mensch (1981), S. 407 f. und Vierlinge am 6. 1.2012 in Leipzig. passim. 16 Siehe Shettles: Ovum (1960). 21 Siehe dazu den Beitrag von Eva-Maria Silies in diesem 17 Siehe Nilsson: Kind (1967). Band.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens 211 zunehmende Gefahr für Ehe und Familie22 und Fachgesellschaften stand in deutlichem Gegensatz sprach düster von einem „Jahrhundert ohne zu der bis dato auch in Deutschland gültigen Lehr- Gott“.23 meinung, wonach die Schwangerschaft mit der Be- In der Tat gehörten Kritik und Beharrungsversu- fruchtung beginne.26 Das aus dieser neuen Definiti- che konservativer Kreise im Hinblick auf die neue on des Schwangerschaftsbeginns ableitbare Bestre- Fortpflanzungsmoral ebenso zum Spezifikum die- ben, nidationshemmende Mittel wie zum Beispiel ses unruhigen Jahrzehnts wie Innovationen und die Spirale vom Verdacht der Abtreibung zu entlas- Aufbrüche. So stand der Umwälzung auf dem Ge- ten, nötigte auch den deutschen Fachgesellschaften biet der Empfängnisverhütung eine weiterhin res- eine entsprechende Standortbestimmung ab. Der triktive Regelung der Abtreibungsfrage gegenüber. Direktor der Göttinger Universitätsfrauenklinik, Der umstrittene § 218 blieb inmitten der sozialen Heinz Kirchhoff, nahm eine solche vor, indem er und politischen Veränderungen und Reformen 1966 auf dem 36. Deutschen Gynäkologentag in noch bis in die 1970er Jahre hinein formal unange- Hannover den Einsatz von Intrauterinpessaren zu- tastet. Konnten Ovulationshemmer nicht ohne stimmend bewertete. Zwar ließ Kirchhoff, der von weiteres in den Verdacht der Vernichtung bereits 1966 bis 1968 auch Präsident der Deutschen Ge- vorhandenen Lebens geraten, so traf dies auf Mittel, sellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe war, welche die Einnistung der befruchteten Eizelle in nie einen Zweifel an seiner Überzeugung, dass der das Endometrium des Uterus verhinderten, umso Beginn neuen menschlichen Lebens mit der Be- mehr zu. Die Frage, ob Nidationshemmer, wie fruchtung der Eizelle zusammenfalle.27 Seiner Auf- etwa das Intrauterinpessar („Spirale“), als Abortiva fassung nach sei jedoch die Verhinderung der Nida- zu gelten hätten, war auch der Ausgangspunkt für tion nicht mit Abtreibung gleichzusetzen, da die die Themenstellung der gemeinsamen Sitzung der befruchtete Eizelle vor der Implantation nicht als Bayerischen und Österreichischen Gesellschaft für „Leibesfrucht“ im Sinne einer Verbindung zwischen Geburtshilfe und Frauenheilkunde 1967 in Bad mütterlichem und kindlichem Gewebe anzuspre- Gastein. chen sei. Erst die Einnistung in den Uterus markie- re den Beginn der Schwangerschaft.28 Kirchhoffs Sichtweise wurde keineswegs von al- len Fachkollegen geteilt. Der Grazer Gynäkologe Die Tagung der BGGF 1967 in und Oberarzt der dortigen Frauenklinik, Herbert Bad Gastein und ihre Ergebnisse Heiss, betonte die Identität von Zygote und er- wachsenem Menschen. Seiner Ansicht nach gebe Nicht nur das Bemühen, in der Frage der Nidations- es weder entwicklungsbiologische noch morali- hemmer ethisch „sicheren Boden zu gewinnen“24, sche Einschnitte in der Pränatalphase: „Der Nasci- sondern auch die notwendig erscheinende Positio- turus, das keimende Leben, ist vom Zeitpunkt der nierung der Fachgesellschaft zu übergreifenden Vereinigung von weiblichem Ei und männlicher Sa- Entwicklungen veranlasste den Präsidenten der menzelle ein lebendes Wesen, das heranreifende BGGF, Max Brandl, den Lebensbeginn zum themati- Leben ist Mensch, der Mensch ist Person […].“29 schen Schwerpunkt der für 1967 geplanten Tagung Aus der Erkenntnis „Jeder Erzeugte ist Mensch“ er- zu machen. So hatten etwa kurz zuvor das Ameri- gab sich für Heiss „die logische Schlußfolgerung, can College of Obstetricians and Gynecologists daß das keimende Leben nicht getötet werden darf. (ACOG) sowie die Fédération Internationale de Gy- Bei dem Abbruch der Gravidität handelt es sich um nécologie et d'Obstétrique (FIGO) entschieden, eine solche Tötung, die unvereinbar ist mit dem na- nicht mehr die Verschmelzung von Ei und Samen- türlichen Sittengesetz, überdies unvereinbar mit zelle, sondern den Zeitpunkt der Implantation des dem ärztlichen Ethos.“30 befruchteten Eies als Beginn der Schwangerschaft anzunehmen.25 Diese Setzung zweier wichtiger 25 Ebd., S. 5. 26 So auch die entsprechenden Passagen in den damals 22 Mayer: Gestaltwandel (1961), S. 37. gängigen geburtshilflichen Standardwerken: Kraatz: 23 Mayer: 50 Jahre (1961), S. 31. Zu Mayer siehe die kri- Stoeckels Lehrbuch (1967), S. 75; Martius: Lehrbuch tische Biographie von Doneith: Mayer (2008). (1964), S. 1 sowie Mikulicz-Radecki: Geburtshilfe 24 So der Münchener Ordinarius Werner Bickenbach im (1954), S. 28. Geleitwort der Tagungsdokumentation: Brandl: Be- 27 Siehe u.a. Kirchhoff: Beginn (1970), S. 3 f. ginn (1969), S. V.; vgl. die Kurzbiographie zu Bicken- 28 Vgl. ebd., S. 9. bach im Anhang. 29 Heiss: Problem (1965), S. 863.

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Diese und andere, unterschiedlich nuancierte Mit Franz Böckle war es bemerkenswerterweise Positionen bildeten aus professionsinterner Per- ein Vertreter der katholischen Kirche, der die Beto- spektive den Hintergrund für die 1967 stattfinden- nung der Nidation als wichtigen Einschnitt der de bayerisch-österreichische Gynäkologentagung. Menschwerdung nicht nur übernahm, sondern Hinzu kam das Warten nicht nur katholischer Krei- dieser Zäsur auch eine eigene moralische Relevanz se auf die ausstehende päpstliche Reaktion zur Fra- zusprach. Dabei galt ihm die Empfängnis weiterhin ge der Empfängnisverhütung.31 Erst die Enzyklika als eigentlicher Lebensbeginn, so dass Böckle letzt- „Humanae vitae“ von 1968, umgangssprachlich lich eine doppelte Zäsur sah: „zunächst den Beginn auch als „Pillen-Enzyklika“ bekannt, legte schließ- eines neuen Lebensprozesses durch die Gameten- lich die restriktive Haltung der katholischen Kirche verschmelzung und dann die Festlegung des ‚Anla- in dieser Frage fest. gemusters‘ auf eine einzige Individualität am Ende Die bevorstehende päpstliche Entscheidung der Keimimplantation.“ Böckle zufolge könne „vor machte es für Brandl schwierig, geeignete Referen- der Implantation kaum von einem Individuum ten für die Bad Gasteiner Tagung zu finden.32 Nicht und damit auch nicht von der Anlage zur dialogi- wenige katholische Theologen vermieden öffent- schen Existenz gesprochen werden“.35 Dennoch liche Stellungnahmen vor der Verkündung der En- machte Böckle deutlich, dass er den Einsatz von Ni- zyklika. Brandl gelang es jedoch, neben medizini- dationshemmern, im Gegensatz zur Anwendung schen und juristischen Experten unter anderem von Antikonzeptiva in einer Ehe, für moralisch pro- auch den angesehenen katholischen Moraltheolo- blematisch hält. Katholischer Tradition folgend, ar- gen Franz Böckle (Bonn) für die Tagung zu gewin- gumentierte er tutioristisch, d.h. im Zweifel eher nen. Dieser zeichnete sich durch eine „unkonven- die restriktive Variante wählend: „Die Frage nach tionelle Denkweise“ aus und war seinerzeit ein der Existenz spezifisch menschlichen Lebens steht gesuchter Gesprächspartner in Fragen der Emp- unter einem positiven Zweifel. Wenn es um das fängnisverhütung.33 menschliche Leben geht, muß aber der sittliche Eingeleitet wurde die Tagung von einem medi- Entscheid im Zweifelsfall den sicheren Weg wäh- zinischen Referat Fritz Zimmers. Dieser war Ober- len.“36 Seiner vorsichtig liberalen Grundhaltung arzt an der I. Frauenklinik in München und ging an- gemäß ließ Böckle jedoch Ausnahmen zu und bau- hand neuester Forschungen auf die Bedeutung der te den ärztlichen Befürwortern der Nidationshem- Nidation für das Zustandekommen einer Schwan- mer damit eine Brücke: „Wo aber dagegen einer- gerschaft ein („graviditas est fertilisatio et nida- seits die Geburtenbeschränkung mit höchster tio“). Er hob hervor, dass etwa die Hälfte der be- Dringlichkeit gefordert ist und andererseits keine fruchteten und fraglich „belebten“ Eizellen nicht tauglichen Mittel außer z.B. die IUCD‑Schleifen zur zur Einnistung gelangten und zugrunde gingen. Verfügung stehen, da müßte man meiner Meinung Zimmer plädierte für eine Zweiteilung der vorge- nach wegen des gleichen Zweifels zur Verhütung burtlichen Entwicklung des Menschen. Die erste katastrophalen Elends (Kindersterben) keinen un- (Präimplantations-)Phase reiche von der Konzepti- bedingten Verzicht auf die Schleifen fordern.“37 on bis zur Nidation, die zweite (Gestations-)Phase Wie ungewöhnlich und umstritten solche Äuß- von der Nidation bzw. Implantation bis zur Ge- erungen im Bereich der katholischen Moraltheorie burt.34 Auf normative Schlussfolgerungen, die eine waren, zeigte sich unter anderem in der Tatsache, solche Periodisierung möglicherweise nahelegte, dass die Zeitschrift „Arzt und Christ“ Böckles Vor- verzichtete Zimmer in seinem Referat. trag nur mit einem kritischen redaktionellen Kom- mentar abdruckte, in dem von einer „Überbewer- tung der Nidation“ durch Böckle ebenso die Rede 30 Ebd., S. 864. war wie von der Hoffnung, Intrauterinpessare wür- 31 Papst Paul VI. hatte mit Blick auf die Uneinigkeit in- den „nur relativ kurze Zeit am medizinischen Mo- nerhalb der Kirche eine Festlegung jahrelang vermie- dehimmel verbleiben“ und alsbald „in die Museen den. Auch während des Zweiten Vatikanischen Kon- “ 38 zils (1962–1965) wurde das Thema Geburtenkontrol- medicohistorischer Institute verbannt werden. le offiziell nicht erörtert. Spätestens mit der im Juli 1968 veröffentlichten 32 So Brandl selbst in ders.: Beginn (1969), S. 6. Enzyklika „Humanae vitae“ war Böckles liberale 33 Diese Charakterisierung Böckles findet sich in: DER SPIEGEL 13/1970 (23. 3. 1970), S. 209. Siehe auch das 35 Böckle: Beginn (1969), S. 30. Hervorhebungen im Ori- ausführliche Interview mit Böckle in: DER SPIEGEL ginal. 49/1967 (27. 11. 1967), S. 52–60. 36 Ebd., S. 31. 34 Vgl. Zimmer: Beginn (1969). 37 Ebd.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens 213 und hinsichtlich des zu erwartenden päpstlichen chen Interpretation der vorgetragenen Referate, die Entscheids optimistische Einschätzung unhaltbar auch in der abschließenden Diskussion zum Aus- geworden. Allerdings zeigen sein Vortrag und die druck kam, wird im Rahmen der historischen Be- anschließende Podiumsdiskussion im Rahmen der trachtung einmal mehr die Komplexität und welt- BGGF‑Tagung, wie offen die Frage der Bewertung anschauliche Bedingtheit der Frage nach dem Be- des Lebensbeginns selbst in der katholischen Kir- ginn und der moralischen Relevanz des che in den 1960er Jahren zunächst war, und welche menschlichen Daseins deutlich. Ernüchterung die eine Empfängnisverhütung rigo- Die Vorträge der Referenten41 der Bad Gasteiner ros ablehnende Enzyklika für viele Katholiken mit Tagung wurden nicht nur in der üblichen Kurzform sich brachte. eines Tagungsberichts in der Zeitschrift „Geburts- Für die Bad Gasteiner Tagungsteilnehmer ergab hilfe und Frauenheilkunde“ veröffentlicht, sondern sich aus den Referats- und Diskussionsbeiträgen in in voller Länge und ergänzt um die Wortmeldun- der Zusammenschau jedoch eine recht eindeutige gen der Podiumsdiskussion in einem eigenen Sam- Tendenz zugunsten der Auffassung, präimplantati- melband abgedruckt.42 Welche Bedeutung der De- ves Leben sei zwar vorhanden, aber nur abgestuft batte um den Lebensbeginn damals von ärztlicher schützenswert. So vertrat beispielsweise der Erlan- Seite zugemessen wurde, lässt sich überdies an der ger Strafrechtswissenschaftler Georg Schwalm die entsprechenden Themenwahl anderer medizini- Ansicht, die Rechtsordnung müsse sich „mit der scher Fachgesellschaften ablesen. So beschäftigten Gewährleistung eines allen zumutbaren ethischen sich zur gleichen Zeit, um nur zwei herauszugrei- Minimal- und Kernbereichs begnügen, insbesonde- fen, auch die Deutsche Gesellschaft für Rechtsme- re in unserer heutigen pluralistischen Gesell- dizin sowie der Gesamtverband Deutscher Nerven- schaft.“ Dazu gehöre „sicher der Kampf gegen die ärzte mit der Frage nach dem Beginn menschlichen Abtreibung“, aber nicht die strafrechtliche Verfol- Lebens und den jeweiligen moralischen Implikatio- gung von Ovulations- oder Nidationshemmern.39 nen. Tagungspräsident Max Brandl blieb in seinem Fazit dennoch vorsichtig. Hinsichtlich der Befruchtung als Zeitpunkt des Lebensbeginns sei die bestehende Schlussbetrachtung Meinung der Fachgesellschaft durch die Referenten bestätigt worden. Positiv habe man das zustim- Nur wenige Kontroversen im Bereich von Medizin, mende Bekenntnis der anwesenden Theologen zur Recht, Theologie und Philosophie sind derart an- Empfängnisverhütung aufgenommen. Diese Zu- dauernd und intensiv diskutiert worden wie die stimmung beziehe sich jedoch nach seinem Ver- Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens. Die ständnis, so Brandl, nur auf Eingriffe, die eine Kon- daraus entstandenen Vorstellungen und Konzepte zeption verhinderten. Somit seien die Verschrei- zur embryonalen Entwicklung sind vielfältig und bung und der Einsatz von Nidationshemmern reichen zum Teil bis in die Antike zurück. Eine gesi- abzulehnen.40 cherte Antwort auf die Frage, ab wann der Mensch Dieses Fazit überrascht angesichts der in dieser ein Mensch sei, ist dennoch nicht gefunden wor- Hinsicht eher permissiven Tagungsbeiträge, unter den. Vielmehr liegt ein Spektrum divergierender denen selbst ein katholischer Moraltheologe die Meinungen vor, die nicht nur moralische, sondern ausnahmsweise Verwendung von Intrauterinpes- auch historische und kulturelle Prägungen aufwei- saren für gerechtfertigt hielt. An der unterschiedli- sen. Die im 19. und 20. Jahrhundert zu beobachten- 38 Vorbemerkung des Gynäkologen und Mitherausge- den wissenschaftlichen Fortschritte in Forschung bers der Zeitschrift „Arzt und Christ“, Wolfgang Mül- ler-Hartburg, in: Böckle: Beginn (1968), S. 65. 39 Schwalm: Beginn (1969), S. 61. Schwalms Ansicht hat 41 Beiträge oder auch nur Wortmeldungen von Teilneh- insofern Bestätigung gefunden, als die Straflosigkeit merinnen sind in der schriftlichen Dokumentation von nidationshemmenden Mitteln 1974 erstmals in der Tagung nicht überliefert, was ein bezeichnendes den § 218 aufgenommen wurde. In der seit 1993 gül- Licht auf die seinerzeit herrschende Geschlechterver- tigen Fassung lautet die Formulierung: „Handlungen, teilung bei der Diskussion dieser Themen wirft. deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des be- 42 Siehe Brandl: Beginn (1969). Darüber hinaus waren fruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten einige der Vorträge nach der Tagung bereits im nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses „Deutschen Ärzteblatt“, in der „Medizinischen Klinik“ Gesetzes.“ § 218 StGB Abs. 1 Satz 2. und, wie erwähnt, in der Zeitschrift „Arzt und Christ“ 40 Brandl, in: ders.: Beginn (1969), S. 96. publiziert worden.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 214 Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens und Klinik haben zwar einige biologische Fragen Eine zentrale Rolle spielen dabei die sogenann- klären können, auf ihre Art jedoch auch zur fort- ten SKIP‑Argumente, mit deren Hilfe versucht wird, dauernden Aktualität ethischer Probleme am Le- den moralischen Status präimplantativer Embryo- bensbeginn beigetragen. Motiviert durch eine zu- nen näher zu bestimmen und zu belegen. Dieser nehmende Rechtsunsicherheit bei der Schwanger- Argumentation zufolge können die Zugehörigkeit schaftsverhütung waren es in den 1960er Jahren zur menschlichen Spezies, das Kontinuum der em- vor allem Gynäkologen, die Antworten auf drän- bryonalen Entwicklung, die Identität des Embryos gende Fragen zum Lebensbeginn suchten. Die auf mit der aus ihm hervorgehenden Person sowie die Fachtagungen im Zusammenwirken mit geistes- im Embryo angelegte Potentialität späterer mora- wissenschaftlichen Disziplinen gewonnenen Er- lisch relevanter Eigenschaften zur Begründung der kenntnisse konnten jedoch bei weitem nicht alle Schutzwürdigkeit und Unverfügbarkeit des Embry- Unsicherheiten beseitigen – nicht zuletzt deshalb, os bereits in seinem frühesten Stadium herangezo- weil manche Aussagen, etwa von katholischen gen werden.45 Dem gegenüber stehen gradualisti- Theologen, durch päpstliche Ex-cathedra-Entschei- sche Argumente, die keinen absoluten, sondern ab- dungen und deren Absolutheitsanspruch nach kur- gestuften Embryonenschutz intendieren und den zer Zeit konterkariert wurden. Zudem ließ der ge- moralischen Schutzanspruch des Embryos mit des- sellschaftliche Wertepluralismus – dieser heute so sen biologischer Entwicklung gleichsam mitwach- modern erscheinende Begriff wurde bereits 1967 sen sehen. Aus dieser Perspektive stellt die Ver- in Bad Gastein verwendet – die Aussicht auf die ei- wirklichung des Menschseins eine Entwicklung ne, alles erklärende Wahrheit geringer werden. dar, die auch nach der Geburt noch nicht beendet Ärzte waren somit einmal mehr auf ihr persönli- ist. ches Gewissen angewiesen, wenn sie in der tägli- Manche Philosophen knüpfen die Zuerkennung chen Praxis über die Verschreibung bzw. Anwen- von Menschenwürde und damit die Schutzwürdig- dung von Verhütungsmaßnahmen entscheiden keit des Lebens an das Personsein des Menschen. sollten. Kann der Embryo aber von Beginn an das Prädikat Durch die Möglichkeiten – aber auch Begehr- einer Person beanspruchen und ist deshalb sein Le- lichkeiten – moderner Reproduktionsmedizin und ben absolut schützenswert? Erhält er den persona- Embryonenforschung stellt sich die Frage, ab wann len Status vielleicht erst mit dem nach einigen Wo- der Mensch als Mensch zu betrachten ist, an der chen beginnenden „Hirnleben“ (in Analogie zum Wende zum 21. Jahrhundert erneut. Die Fragestel- „Hirntod“)46 – oder gar erst mit dem Vollzug be- lung hat sich jedoch in gewisser Hinsicht verscho- stimmter Fähigkeiten (Bewusstsein seiner selbst, ben. Es ist inzwischen weitgehend unstrittig, dass Gedächtnis, Zukunftssorge, Überlebensinteresse) mit der Fusion von Ei und Spermium neues einige Zeit nach der Geburt?47 menschliches Leben vorhanden ist.43 Nach Ab- Nach unserem heutigen Verständnis von Men- schluss der Konjugation der Zellkerne und mit schenwürde, das sich an Immanuel Kant anlehnt, dem Vorliegen des neuen diploiden Genoms be- kommt dem Menschen allein aufgrund seiner prin- ginnt eine humanspezifische Entwicklung. Davon zipiellen Fähigkeit zur Vernunft menschliche Würde ausgehend wird heute vor allem darüber diskutiert, zu. Ungeachtet einer noch nicht oder nicht mehr ab wann dem unzweifelhaft menschlichen Embryo gegebenen Ausübung dieser Vernunftfähigkeit, ori- der gleiche Schutz wie dem geborenen Menschen entiert sich die Zuerkennung von Würde an der zukommt, und woran diese Schutzwürdigkeit fest- zumachen ist.44 44 Auf die kaum noch zu überschauende philosophische Literatur zum moralischen Status des Embryos kann 43 Dazu prägnant Hepp; Beck: Lebensbeginn (2000). Aus hier nicht eingegangen werden. Hingewiesen sei auf juristischer Sicht ist jedoch zu beachten, dass es eine Beiträge mit medizinischem Bezug, u.a. Körner: Le- vom Gesetzgeber getragene Definition von „Lebens- ben (1992); Wildfeuer: Lebensbeginn (2000); Kreß: beginn“ bis heute nicht gibt, vgl. Eser: Lebensbeginn Lebensbeginn (2002); Heyer: Anfang (2003) sowie (2000). Auch das Bundesverfassungsgericht hat in Be- Maio: Status (2007). zug auf den Beginn des zu schützenden Lebens eher 45 Ausführlich zum Für und Wider dieser Argumentati- vorsichtig formuliert: „Leben im Sinne der geschicht- on siehe u.a. Damschen; Schönecker: Status (2003). lichen Existenz eines menschlichen Individuums be- 46 Diese Position hat u.a. der Medizinethiker Hans-Mar- steht nach gesicherter biologisch-physiologischer Er- tin Sass vertreten, siehe Sass: Hirntod (1989). kenntnis jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfäng- 47 Ein prominenter und gleichzeitig umstrittener Ver- nis (Nidation, Individuation) an […].“ BVerfGE 39, 1 treter dieser Auffassung ist der australische Philosoph [37]. Peter Singer.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens 215 menschlichen Gattungszugehörigkeit, an der Eser, Albin: Lebensbeginn, rechtlich. In: Korff, Wilhelm; „Menschheit“ (Kant) des Einzelnen.48 Die Frage Beck, Lutwin; Mikat, Paul (Hrsg.): Lexikon der Bio- – nach dem Personsein steht hierbei nicht im Vorder- ethik, Bd. 2. Gütersloh 2000, S. 539 541. Frewer, Andreas: Medizin und Moral in Weimarer Repu- grund. Der aus dieser Perspektive ableitbare abso- blik und Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Ethik“ lute Lebensschutz für Embryonen ist in der Realität unter Emil Abderhalden. Frankfurt/Main; New York kaum zu finden. Eine abgestufte Schutzwürdigkeit 2000. des Ungeborenen hingegen, die eine Güterabwä- Hack, Tobias: Der Streit um die Beseelung des Menschen. gung ermöglichen und sich damit der Lebenswirk- Eine historisch-systematische Studie. Fribourg 2011. lichkeit annähern würde, wäre wiederum auf die Häring, Bernhard: Das Gesetz Christi. Moraltheologie. Dargestellt für Priester und Laien, 5. Aufl., Freiburg willkürliche Setzung von Zäsuren in der Embryo- 1959. – nalentwicklung angewiesen. Obwohl die anthro- Heiss, Herbert: Zum Problem der künstlichen Schwan- pologische Frage nach dem Beginn des Lebens heu- gerschaftsunterbrechung. In: Geburtshilfe und Gynä- te nicht mehr im Zentrum steht, sind die hieran kologie 25 (1965), S. 862–883. geknüpften ethischen Probleme offenkundig wei- Hepp, Hermann; Beck, Lutwin: Lebensbeginn, medizi- terhin vorhanden. nisch. In: Korff, Wilhelm; Beck, Lutwin; Mikat, Paul (Hrsg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 2. Gütersloh 2000, S. 537–539. Heyer, Martin: Der Anfang menschlichen Lebens. Eine Literatur europäische Diskussion. In: Der Gynäkologe 36 (2003), S. 582–589. Blechschmidt, Erich: Die vorgeburtlichen Entwicklungs- Holtzendorff, Franz von (Hrsg.): Handbuch des deut- stadien des Menschen. Eine Einführung in die Hu- schen Strafrechts, Bd. 3. Berlin 1874. manembryologie. Basel u.a. 1961. Jerouschek, Günter: Lebensschutz und Lebensbeginn. Blechschmidt, Erich: Vom Ei zum Embryo. Die Gestal- Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots. Stuttgart tungskraft des menschlichen Keims. Stuttgart 1968. 1988. Böckle, Franz: Um den Beginn des Lebens. In: Arzt und Kirchhoff, Heinz: Der Beginn des Lebens aus biologischer Christ 14 (1968), S. 65–73. Sicht. In: Beiträge zur Gerichtlichen Medizin 27 Böckle, Franz: Um den Beginn des Lebens. In: Brandl, Be- (1970), S. 3–13. ginn, 1969, S. 21–32. Körner, Uwe: Wann beginnt das menschliche Leben, und Brandl, Max (Hrsg.): Der Beginn des Lebens. Referate, ge- woraus folgt vorgeburtlich seine Schutzwürdigkeit? halten auf der Bayerisch-Oesterreichischen Gynäko- In: Ethik in der Medizin 4 (1992), S. 120–134. logen-Tagung in Bad Gastein, 26.–27. Mai 1967. Kraatz, Helmuth (Hrsg.): Stoeckels Lehrbuch der Ge- Stuttgart; New York 1969. burtshilfe, Teil 1. 14. Aufl., Stuttgart 1967. Bruns, Florian: Medizinethik im Nationalsozialismus. Kreß, Hartmut: Der Lebensbeginn – eine Glaubensfrage? Entwicklungen und Protagonisten in Berlin (1939– Christliche Tradition und heutige Konkretionen im 1945). Stuttgart 2009. Umgang mit Embryonen. Dortmund 2002. Damschen, Gregor; Schönecker, Dieter (Hrsg.): Der mo- Leven, Karl-Heinz (Hrsg.): Antike Medizin. Ein Lexikon. ralische Status menschlicher Embryonen. Pro und München 2005. Contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Poten- Maier, Barbara: Ethik in Gynäkologie und Geburtshilfe. tialitätsargument. Berlin; New York 2003. Entscheidungen anhand klinischer Fallbeispiele. Ber- Diepgen, Paul: Die Frauenheilkunde der Alten Welt. lin u.a. 2000. München 1937. Maio, Giovanni (Hrsg.): Der Status des extrakorporalen Doneith, Thorsten: August Mayer. Ein Klinikdirektor in Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zu- Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nach- gangs. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007. kriegszeit. Stuttgart 2008. Martius, Heinrich: Lehrbuch der Geburtshilfe. 6. Aufl., Duden, Barbara; Schlumbohm, Jürgen; Veit, Patrice Stuttgart 1964. (Hrsg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfah- Mayer, August: Alfred Hegar und der Gestaltwandel der rungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwanger- Gynäkologie seit Hegar. Freiburg 1961. schaft, 17.–20. Jahrhundert. Göttingen 2002. Mayer, August: 50 Jahre selbst erlebte Gynäkologie. München 1961. Mikulicz-Radecki, Felix von: Geburtshilfe des prakti- 48 So auch die Sichtweise des Bundesverfassungsge- schen Arztes. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärz- richts in einem Urteil zum Schwangerschaftsabbruch te. 5. Aufl., Leipzig 1954. aus dem Jahr 1975: „Wo menschliches Leben exis- Moll, Albert: Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in tiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht allen Beziehungen seiner Thätigkeit. Stuttgart 1902. entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewu- Nilsson, Lennart: Ein Kind entsteht. Bilddokumentation ßt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang über die Entwicklung des menschlichen Lebens im an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fä- Mutterleib. Gütersloh 1967. higkeiten genügen, um die Menschenwürde zu be- gründen.“ BVerfGE 39, 1 [41].

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Rey-Stocker, Irmi: Anfang und Ende des menschlichen Splett, Jörg: Wann beginnt der Mensch? Philosophische Lebens aus der Sicht der Medizin und der drei mono- Erwägungen zum Lebensanfang. In: Theologie und theistischen Religionen Judentum, Christentum und Philosophie 56 (1981), S. 407–419. Islam. Basel u.a. 2006. Wildfeuer, Armin G.: Lebensbeginn, ethisch. In: Korff, Richter, Paul: Der Beginn des Menschenlebens bei Tho- Wilhelm; Beck, Lutwin; Mikat, Paul (Hrsg.): Lexikon mas von Aquin. Wien; Berlin 2008. der Bioethik, Bd. 2. Gütersloh 2000, S. 541–544. Sass, Hans-Martin: Hirntod und Hirnleben. Medizinethi- Willam, Michael: Mensch von Anfang an? Eine histori- sche Materialien des Zentrums für Medizinische sche Studie zum Lebensbeginn im Judentum, Chris- Ethik Bochum, Heft. 20. Bochum 1989. tentum und Islam. Fribourg 2007. Schwalm, Georg: Über den Beginn des Lebens aus der Zimmer, Fritz: Der Beginn des individuellen Lebens und Sicht des Juristen. In: Brandl, Beginn, 1969, S. 55–66. der Schwangerschaft in biologischer Sicht. In: Brandl, Shettles, Landrum B.: Ovum humanum. Wachstum, Rei- Beginn, 1969, S. 7–20. fung, Ernährung, Befruchtung und frühe Entwick- lung. München; Berlin 1960.

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Zwischen medizinischer Notwendigkeit und moralischem Urteil. Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren

Eva-Maria Silies

Einführung Nachteile präsent. Insbesondere die Nebenwirkun- gen und möglichen Langzeitfolgen blieben ein be- Als zu Beginn der 1960er Jahre zunächst in den USA ständiges Thema. Die Angst vor Medikamenten und dann auch in der Bundesrepublik hormonale war eine Folge des Contergan-Skandals, der nur Verhütungsmittel auf den Markt kamen, hatte de- kurz vor der Einführung der Pille die Bundesrepu- ren Entwicklung bereits eine jahrzehntelange Ge- blik und zahlreiche weitere Länder erschüttert hat- schichte.1 Die entsprechenden Präparate wurden te.4 unter Medizinern und Laien schnell unter der kur- Der rasche Aufstieg des neuen Verhütungsmit- zen und prägnanten Bezeichnung „die Pille“ be- tels vollzog sich zudem nicht ohne Diskussionen kannt. Selbst in Teilen der medizinischen Fachpres- um medizinische und moralische Folgen, die das se kursierte der Begriff bald allgemein akzeptiert Kontrazeptivum tatsächlich mit sich brachte oder neben Fachtermini wie „Kontrazeptiva“, „Antikon- in der Vorstellung der Zeitgenossen mit sich zu zeptiva“ oder „Ovulationshemmer“.2 bringen drohte. Die entsprechenden Debatten wur- Die Durchsetzung der Pille vollzog sich in der den sowohl in der medizinischen Fachwelt – insbe- Bundesrepublik in einem Zeitraum von nur zehn sondere in der Gynäkologie – als auch in der allge- Jahren: Gebrauchten noch 1965 – vier Jahre nach meinen medialen Öffentlichkeit geführt. Letztere der Markteinführung – nur 2,4% der Frauen im ge- öffnete sich in den 1960er Jahren zunehmend Be- bärfähigen Alter zwischen 15 und 44 Jahren das richten über medizinische Fragen sowie Darstel- Medikament, so waren es 1971 bereits 25,6%. Als lungen und Bildstrecken zu sexuellen und anderen, 1975 der Anteil der Anwenderinnen auf 32,3% ge- vormals meist beschwiegenen Themen. stiegen war, hatte sich die Pille zum meist genutz- Im Folgenden wird nachgezeichnet, wie sich ten Verhütungsmittel bundesdeutscher Frauen insbesondere die medizinische Fachöffentlichkeit entwickelt.3 dem Thema der oralen Kontrazeption seit deren Für diese Entwicklung waren mehrere Vorzüge Markteinführung näherte und sich in diesem Zu- der Pille von Bedeutung: Das neue Mittel bot eine sammenhang neuen Herausforderungen im Um- höhere kontrazeptive Sicherheit als alle bisher be- gang mit Sexualität und Empfängnisverhütung kannten reversiblen Methoden, es ließ sich einfa- ausgesetzt sah. Von besonderem Interesse wird da- cher anwenden und machte zudem die Frauen von bei sein, welche Rolle die Pille in den 1960er Jahren der Kooperation der Männer in der Verhütung un- auf den Kongressen der Bayerischen Gesellschaft abhängig. Neben den Vorteilen waren aber auch die für Geburtshilfe und Frauenheilkunde (BGGF) spielte, die damals zum Teil noch in Kooperation 1 Zur Entwicklung der Pille allgemein vgl. Asbell: Pille mit mehreren anderen Regionalgesellschaften (1998); mit Schwerpunkt auf die Beiträge der Bioche- mie vgl. Streller; Roth: Heldentaten (2011); mit Blick stattfanden und so ein besonders breites wissen- auf die historische Entwicklung und die Einführung schaftliches Podium darstellten. in der Bundesrepublik vgl. Staupe; Vieth (Hrsg.): Pille (1996) und Silies: Liebe (2010), S. 62–99. 2 Für die BGGF lässt sich für den Bericht zur Jahresta- gung 1970 erstmals die Verwendung der umgangs- sprachlichen Bezeichnung nachweisen. Vgl. Hun- stein: Langzeitnebenwirkungen (1971), S. 178. 3 Vgl. zu den Zahlen Laengner: 20 Jahre (1981), S. 6.4. 4 Vgl. Kirk: Contergan-Fall (1999).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 218 Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren

genlos machen konnte, als die Angst vor einer Gesellschaftliches Umfeld und Schwangerschaft durch die sichere Verhütung ent- Markteinführung der Pille fiel. Obwohl ein konkretes Präparat bereits 1960 entwickelt worden war, wurde es angesichts mög- Bei der Markteinführung der Pille in der Bundesre- licher, unter Umständen geschäftsschädigender öf- publik am 1. Juni 1961 galten Themen wie Sexuali- fentlicher Debatten über seine moralische Vertret- tät und Empfängnisverhütung noch als tabu. Sie barkeit in der Praxis zunächst nur im Ausland ge- wurden – wenn überhaupt – im privaten Rahmen testet. Die Markteinführung in Deutschland wagte behandelt, nicht aber öffentlich diskutiert. Sowohl Schering erst, nachdem sich das Medikament mit in der breiten Bevölkerung als auch unter Ärzten dem Namen „Anovlar“ ab Februar 1961 in Austra- war profunderes Wissen zu diesen Themenfeldern lien über fünf Monate als erfolgreich erwiesen hat- wenig verbreitet. Insbesondere bei der heranwach- te und in der bundesdeutschen Ärzteschaft wichti- senden Jugend bestand große Unkenntnis, da häu- ge Befürworter gewonnen worden waren. Dazu ge- fig weder die Eltern noch Lehrer oder Ärzte umfas- hörte beispielsweise der Göttinger Ordinarius für send aufklärten. Frauenheilkunde Heinz Kirchhoff, der sich inner- In einer Ende der 1950er Jahre erstmals veröf- halb kurzer Zeit vom Pillen-Skeptiker zum Pillen- fentlichten Studie, in der unter anderem Details Befürworter gewandelt hatte. zur Anatomie der Genitalien und zum Ablauf des Bei der Markteinführung von Anovlar im Juni Geschlechtsverkehrs abgefragt wurden, konnten 1961 wählte Schering eine zurückhaltende Strate- die interviewten 16-Jährigen von 31 Fragen nur gie: Informationen über das neue Produkt erhielten knapp fünf (Jungen) bzw. nur knapp zwei Fragen zunächst nur ausgewählte Mediziner, hauptsäch- (Mädchen) richtig beantworten.5 Die Ärzte, eigent- lich Gynäkologen. In der beigefügten Broschüre lich Experten auf diesem Feld, zeigten noch in den wurde die empfängnisverhütende Wirkung nur als 1950er Jahren wenig Engagement für dieses The- letzte von mehreren Indikationen genannt; statt- ma. Bei einer Befragung zur Kontrazeption unter dessen standen die Krankheitsbilder im Vorder- 1370 norddeutschen Medizinern waren nur 15% grund, die schon länger mit Gestagenen behandelt an dem generellen Thema Empfängnisverhütung wurden. Zudem empfahl das Unternehmen den „sehr interessiert“, 55% hingegen „weniger“ oder Ärzten, die Pille nur an verheiratete Frauen zu ver- „gar nicht“.6 Die Gründe hierfür sind zum einen in schreiben, die bereits mindestens zwei Kinder hat- der erwähnten allgemeinen gesellschaftlichen Ta- ten.9 buisierung des Themas zu suchen. Zum anderen Die Strategie von Schering, nur einem ausge- war aber auch der Informationsgrad der Ärzte wählten Kreis von Gynäkologen Informationen selbst bezüglich Sexualität und Verhütung niedrig: über die Pille zukommen zu lassen, ließ sich jedoch Die entsprechenden Inhalte spielten – wie auch von nur kurzfristig durchhalten. Erste Berichte in Zeit- Fachvertretern eingeräumt wurde – in der medizi- schriften – insbesondere im „Stern“10 – führten da- nischen Ausbildung kaum eine Rolle.7 zu, dass eine breite Basis an Bundesbürgerinnen Angesichts dieser Tabuisierung der Sexualität und ‑bürgern über das neue Mittel informiert war, zögerte der damalige Berliner Pharmahersteller bei den Ärzten danach fragte, und dementspre- Schering8 zunächst, ein Medikament auf den Markt chend auch Schering mehr Informationen zur Ver- zu bringen, das Sexualität zumindest insofern fol- fügung stellen musste. Dennoch war es für das Un- ternehmen wie auch für die meisten Ärzte essen- 5 Vgl. Hunger: Sexualwissen (1960), S. 75 f. tiell, dass die Verschreibungshoheit über die Pille 6 Vgl. Knack; Pieper: Empfängnisverhütung (1956), in den Händen der medizinischen Experten blieb. S. 388. Dies betonte man bei Schering von Anfang an: 7 Vgl. Kirchhoff: Antibabypillen (1964), S. 88. „Mit ANOVLAR®, einer Kombination zweier Steroi- 8 Die Schering AG, gegründet 1855 in Berlin als kleines de, die der Wirkstoffklasse der weiblichen Sexual- pharmazeutisches Labor, gehörte im 20. Jahrhundert zu den forschungsintensiven Pharmaunternehmen Europas. 2006 wurde sie von der Bayer AG übernom- 9 Vgl. Unger; Lachnit-Fixson: Entwicklung (1994), men und firmierte dann unter dem Namen Bayer S. 940; Sieg: „Anovlar“ (1996), S. 140; Laengner: 20 Schering Pharma AG. 2011 ist das Unternehmen in Jahre (1981), S. 6.2. Bayer HealthCare Pharmaceuticals aufgegangen und 10 Vgl. vor allem den Bericht einer Serie zur Empfäng- der Name verschwunden. Vgl. hierzu Schering Archi- nisverhütung, der sich ausführlich mit der Pille ausei- ve: www.wirtschaftsarchivportal.de/archiv/details/ nandersetzte: Eine Pille reguliert die Fruchtbarkeit. id/34 (04.09.2012). In: Stern 26/1961, S. 52–57.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren 219 hormone zuzurechnen sind, haben wir ein Präparat Dementsprechend spielte die Therapie mit Ge- eingeführt, mit dem der Arzt dort, wo er es für an- stagenen auch auf den Tagungen der BGGF Ende gebracht hält, eine sichere und gefahrlose Konzep- der 1950er Jahre und in den 1960er Jahren immer tionsverhütung durchführen kann.“11 wieder eine wichtige Rolle. Der erwähnte Göttinger Die Entscheidungshoheit über die Pillenver- Frauenarzt Kirchhoff sprach in diesem Zusammen- schreibung, die weit über medizinische Gesichts- hang von einer „völligen Umwälzung der Hormon- punkte hinausging, behielten die Mediziner in den therapie in der Gynäkologie“.15 Die dabei beobach- 1960er und 1970er Jahren. Nicht alle Ärzte ver- teten Effekte auf Dysmenorrhoe, dysfunktionelle schrieben die Pille an jede Frau, die in der Sprech- Blutungen und Endometriose wurden stets mit der stunde danach fragte: Wenn Patientinnen nicht Hemmung der Ovulation in Verbindung gebracht, nachweisen konnten, zumindest verlobt zu sein, ohne dass dabei zunächst sofort und in erster Linie wurde ein Rezept häufig verweigert. Standesintern an kontrazeptive Effekte gedacht wurde. Die erfolg- diskutierten die Ärzte anhaltend über ihre Position reiche Sterilitätsbehandlung mit den neuen Gesta- bei der Pillenverschreibung, während sie zugleich genen führte man auf einen „Rebound-Effekt“ zu- in der medialen Öffentlichkeit immer wieder in ih- rück, die Therapie hypoplastischer Uteri auf die rer Kompetenz als Experten auf dem Feld der Emp- durch die Gestagene verursachten „Scheinschwan- fängnisverhütung be-, aber auch hinterfragt wur- gerschaften“. den. So fanden die amerikanischen Untersuchungen zur Kontrazeption mit Hormonen, die als „Puerto- Rico-Versuch“16 apostrophiert wurden, auf der BGGF‑Tagung im Herbst 1959 nur in der Diskussion Medizinische Hintergründe Erwähnung. In den angemeldeten Referaten zum und Diskussionen in der BGGF Thema „Der heutige Stand der Behandlung mit Ge- stagenen“ präsentierten die Vortragenden viel- Die Realisierung des Konzeptes von der oralen hor- mehr eigene Untersuchungen und Beobachtungen monalen Kontrazeption, das der Innsbrucker Phy- zu besonderen Eigenschaften neuer gestagener siologe Ludwig Haberlandt schon in der zweiten Substanzen sowie zum Hormonmetabolismus an- Dekade des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte,12 hand der Ausscheidung im Urin. war an die Verfügbarkeit von gestagen hoch wirk- In der Diskussion thematisierten von zehn Red- samen Substanzen geknüpft, die im Gegensatz zu nern nur zwei den „Puerto-Rico-Versuch“. Beide natürlichem Progesteron in Form von Tabletten ge- Wissenschaftler, auf endokrinologische Probleme schluckt werden konnten. Als Anfang der 1950er spezialisiert, stellten dabei in Frage, dass die beob- Jahre in den USA die ersten derartigen Steroide ver- achtete kontrazeptive Wirkung ausschließlich auf fügbar wurden,13 dachten zunächst jedoch weder die Hemmung der Ovulation zurückzuführen sei: die beteiligten Biochemiker noch die mit der prak- Herbert Rauscher, Oberarzt an der I. Universitäts- tischen Anwendung befassten Biologen, Physiolo- frauenklinik Wien, bezog sich u.a. auf Tierversu- gen und Ärzte an diese Indikation.14 Ihr Interesse che. Diese ließen erkennen, dass die kontrazeptive konzentrierte sich vielmehr auf die Behandlung Wirkung der dabei benutzten Hormone auch Folge von Sterilität und menstruellen Störungen im wei- negativer Auswirkungen auf Eizelle, Ovar und Sper- testen Sinne, wo mit den neuen Medikamenten of- mientransport sein könne. Rolf Kaiser, damals habi- fensichtlich beachtliche Erfolge zu erzielen waren. litierter Assistent an der I. Universitätsfrauenklinik München, erklärte, das Endometrium sei nach ei- 11 Schering Aktiengesellschaft: Bericht (1962), S. 10. ner derartigen Behandlung selbst im Falle von Ovu- 12 Zu Haberlandt siehe Simmer: History (1970), S. 3–27; Köstring: Haberlandt (1996), S. 113–126. 13 Ein schwächer wirksames orales Gestagen wurde be- 15 Kirchhoff; Haller: Konzeptionsverhütung (1959), reits 1937 von Hans Herloff Inhoffen und Walter S. 2189. Hohlweg bei Schering entwickelt, biologisch getestet 16 In Puerto Rico wurden 1956 die ersten größeren Ver- und anschließend in die Therapie eingeführt. Die suche mit der Pille durchgeführt, die schließlich im Substanz, damals u.a. als Ethinyltestosteron bezeich- Mai 1960 in den USA zur Zulassung des weltweit ers- net, kann als „Stammvater“ der vom Testosteron ab- ten oralen hormonalen Kontrazeptivums führten geleiteten künstlichen Gestagene bezeichnet werden. (Enovid). Vgl. Rock: Time (1963), S. 165 f. sowie As- Siehe hierzu Frobenius: Rabbits (2011), S. 32–57. bell: Pille (1998), S. 183–215. Kritisch zu den Versu- 14 Vgl. u.a. Streller; Roth: Heldentaten (2011), S. 279– chen mit zum Teil uninformierten Frauen: Kurz 282. (1996), S. 119–131.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 220 Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren lation und Konzeption für eine Implantation unge- anderen Indikationen wie Dysmenorrhoe, Endo- eignet.17 metriose, Blutungsstörungen oder funktionelle Ste- Nur zwei Monate später, im Dezember 1959, rilität waren demgegenüber in den Hintergrund nahm Kirchhoff vor einem breiteren ärztlichen Pu- getreten. blikum zu den Möglichkeiten der Konzeptionsver- Das Hauptreferat hielt Jürgen Haller aus Göttin- hütung durch oral wirksame Gestagene Stellung. gen, der zusammen mit seinem Chef Kirchhoff in- In einem Beitrag für die „Deutsche Medizinische zwischen für Schering eine große Studie zu Anovlar Wochenschrift“ (DMW) stellte er zusammen mit durchgeführt und publiziert hatte.20 Zwei weitere seinem Assistenten Jürgen Haller den damals aktu- Beiträge stammten von dem belgischen Frauenarzt ellen Stand der Forschung dar. In der Einleitung zu F. Peeters und seinem Team. Peeters hatte in der dem Übersichtsartikel heißt es: gynäkologischen Abteilung der städtischen Klinik „Wenn sich auch die synthetischen Gestagene in in Turnhout Ende 1959/Anfang 1960 ein von Sche- der Therapie verschiedener endokriner Störungen ring neu entwickeltes Gestagen unter der Prüfbe- bei uns einen festen Platz erobert haben, ist doch zeichnung SH 513 in Kombination mit Ethinylest- die Anwendung dieser Substanzen zur Konzepti- radiol erfolgreich auf seine kontrazeptive Wirkung onsverhütung eine Indikation, die auf dem euro- getestet.21 Es waren seine positiven Berichte gewe- päischen Kontinent bisher noch keinen Eingang ge- sen, welche die Schering-Leitung 1961 dazu bewo- funden hat. Es mehren sich jedoch sowohl in der gen hatten, das Präparat nach weiteren Testphasen Laienpresse wie auch im medizinischen Schrifttum im Ausland unter dem Namen „Anovlar“ auf dem Anfragen, die eine Stellungnahme zu diesem Pro- bundesdeutschen Markt einzuführen. blem angeraten erscheinen lassen.“18 Haller informierte die Kongressteilnehmer in Die Autoren erklärten dann, die Geburtenrege- seinem Referat zunächst ausführlich über die Ge- lung stelle ein „Problem dar, dem man sich aus be- schichte der Ovulationshemmung und wies auf die völkerungspolitischen Gründen und wegen seiner Bedeutung des Östrogenzusatzes in den Präparaten Bedeutung für das Einzelschicksal nicht verschließ- für die Zyklusstabilität hin. Ferner führte er die ge- en kann.“ Nach Darstellung der Studienlage, einer stagenbedingte fehlende Spinnbarkeit und Pene- Diskussion der möglichen Wirkmechanismen so- trationsfähigkeit des Zervixschleims für Spermien wie der bis dahin beobachteten und theoretisch sowie die frühe Transformation des Endometriums denkbaren Nebenwirkungen kamen sie damals je- als mögliche zusätzliche kontrazeptive Effekte un- doch noch zu dem Schluss, für eine endgültige Be- ter Behandlung mit der Pille an. Zu den Ergebnissen urteilung des Wertes oder der Gefahren einer sol- der Göttinger Studie sagte er, die Erfahrungen an chen Behandlung sei die Zeit nicht reif. Die bisher 1695 Frauen in über 11100 Zyklen hätten „bei rich- vorliegenden Befunde ließen von einer Anwendung tiger Einnahme“ eine antikonzeptionelle Wirkung der Steroide zur Konzeptionsverhütung abraten. Es von 100% ergeben. empfehle sich jedoch, „die weitere Entwicklung im Trotz des Verweises auf die kontrazeptiven Auge zu behalten.“19 Aspekte der Pille stellte Haller die weiteren medizi- Schon drei Jahre später, bei der dritten gemein- nischen Indikationen für das Präparat im Folgen- samen Tagung der Bayerischen, Österreichischen den in den Vordergrund und erwähnte die Verhü- und Schweizerischen Gesellschaft für Geburtshilfe tungsfunktion nur an letzter Stelle. Die Pille eigne und Gynäkologie Anfang Oktober 1963 in Luzern, sich bei folgenden Indikationen: „1. zur Fertilitäts- präsentierte sich den anwesenden Frauenärzten steigerung bei funktioneller Sterilität durch Aus- aber eine grundlegend veränderte Situation: Die nutzung des Rebound-Phänomens; 2. zur Fertili- „medikamentöse Hemmung der Ovulation“ stellte tätssteigerung bei Uterushypoplasie durch Erzeu- ein Hauptthema dar, unter den Referenten befan- gung einer Pseudogravidität; 3. bei Dysmenorrhoe den sich die Pioniere der oralen hormonalen Kon- ohne organische Ursache; 4. bei Endometriose; 5. trazeption in Europa, und von 18 wissenschaftli- zur oralen Konzeptionsverhütung.“22 chen Beiträgen zur Behandlung mit Gestagenen be- Haller beschäftigte sich dann auch ausführlich richteten zehn an erster Stelle über Erfahrungen mit den Nebenwirkungen der Präparate und den mit dem Einsatz der Pille als Verhütungsmittel. Die 20 Kirchhoff; Haller: Erfahrungen (1964). 17 Rauscher; Kaiser: Diskussionsbeiträge (1959), S. 290. 21 Bei SH 513 handelte es sich um Norethisteronazetat. 18 Kirchhoff; Haller: Konzeptionsverhütung (1959), Anovlar enthielt diese Substanz in Kombination mit S. 2189. Ethinylestradiol. 19 Ebd., S. 2192. 22 Haller: Hemmung (1964), S. 636 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren 221 daraus folgenden Konsequenzen für die Behand- fen und zum Teil noch über Jahre fortgesetzt. Es lung. Ein endgültiges Urteil darüber, ob die Hem- war aber gerade die kontrazeptive Indikation, wel- mung der Ovulation auch nach langjährigem Ge- che die Pille für den Großteil der Frauen interessant brauch reversibel sei und auf die Nachgeborenen machte. Denn wenn auch einige das neue Mittel keinen negativen Einfluss habe, könne noch nicht aus medizinischen Gründen nahmen, wollte doch abgegeben werden. Als Kontraindikationen müss- ein Großteil der Frauen ein Rezept erhalten, um ten schwere Leberschädigungen, eine „gewichtige“ vor einer unerwünschten Schwangerschaft ge- Thromboseanamnese, Tuberkulose und Diabetes schützt zu sein. genannt werden. Deshalb seien für die Behandlung ärztliche Überwachung, die Verwendung möglichst niedriger Hormondosen, eine Limitierung auf zwei Jahre mit anschließender Überprüfung der Ovarial- Die medizinische und moralische funktion sowie die Beachtung der Kontraindikatio- Beurteilung durch Ärzte nen zu fordern. Bei der gemeinsamen Tagung der Bayerischen Letztlich waren es zwei Felder, auf denen sich Ärzte und der Oberrheinischen Gesellschaft für Geburts- in der Einführungsphase der Pille betätigten und zu hilfe und Gynäkologie im Juni 1970 in Baden-Baden denen sie sich fachintern sowie öffentlich äußer- standen dann schon Langzeitnebenwirkungen im ten: Zum einen betrafen sie medizinische Proble- Mittelpunkt der Referate und Diskussionen zur Pil- me, die sich vor allem auf die Anwendungsgebiete, le. Der Göttinger Internist W. Hunstein wies darauf die Indikationen und die möglichen Nebenwirkun- hin, dass unter Pilleneinnahme mit der Verände- gen bezogen, zum anderen aber auch moralische rung zahlreicher Laborparameter gerechnet wer- Aspekte, bei denen die grundsätzliche Frage im den müsse. Ferner sei nach Einnahme von oralen Vordergrund stand, welchen Frauen die Pille über- Kontrazeptiva häufiger ein cholestatischer Ikterus haupt verschrieben werden sollte. beschrieben worden. Mit einer pathologischen Glu- In Bezug auf die medizinischen Aspekte wird kosetoleranz müsse in bis zu 78% der Fälle gerech- aus den dargestellten Beiträgen in Fachzeitschrif- net werden, auch der Seruminsulinspiegel könne ten und auf den Tagungen der BGGF mehreres erhöht sein.23 deutlich. So zeigt sich, wie rasch die wissenschaftli- Außerdem ging es nun schon um den differen- chen Erkenntnisse zu den oralen hormonalen Kon- zierteren Einsatz der unterschiedlichen Präparate, trazeptiva zunahmen und die Indikation unter den die sich bereits in größerer Zahl auf dem Markt be- Ärzten prinzipiell akzeptiert wurde. Darüber hi- fanden. Der Ulmer Ordinarius für Frauenheilkunde, naus machten es die Tagungen mit ihren Präsenta- Christian Lauritzen, zeigte dazu Richtlinien auf, die tionen und Diskussionen auch für überwiegend sich aus Anamnese und Befund ergeben sollten. Er oder ausschließlich praktisch tätige Fachärzte mög- unterschied dabei zwischen Pillen mit hohem bzw. lich, sich über die neuen endokrinen Behandlungs- niedrigem Östrogen- bzw. Gestagengehalt sowie möglichkeiten zu informieren. An Mediziner aller zwischen Kombinations- und Sequenzpräparaten. Fachgebiete wandte sich beispielsweise der zitierte So empfahl er beispielsweise, dass bei normaler Zy- Beitrag von Kirchhoff in der DMW. klus-, aber sonst belasteter Eigenanamnese „Frauen Dennoch gab es Anfang der 1970er Jahre große von normal weiblichem bis adipösem Typ nur Prä- Informationsdefizite in der Ärzteschaft. Eine Studie parate mit niedriger Östrogen- und niedriger Ge- untersuchte 1972, was Ärzte – im Fokus der Studie stagendosis“ erhalten sollten. Bei „Frauen von eher standen Allgemeinmediziner aus Hannover – über männlichem Typ“ mit verkürztem Zyklus und die Nebenwirkungen der Pille tatsächlich wuss- schwacher Blutungsstärke könnten dagegen östro- ten.25 Gefragt wurde unter anderem nach den genbetonte Präparate sinnvoller sein.24 Kontraindikationen bei der Verordnung der Pille, Die oben angesprochene Strategie, bei den Ovu- von denen mit Berufung auf Leitsätze der Bundes- lationshemmern weniger die Verhütungsfunktion ärztekammer von 1970 durch den Autor der Studie als vielmehr die Wirkweise bei gynäkologischen insgesamt neun festgelegt worden waren: vorange- Erkrankungen in den Vordergrund zu stellen, wur- gangene Thromboembolien in der Schwanger- de Anfang der 1960er von vielen Ärzten aufgegrif- schaft, Sichelzellenanämie, hormonabhängige maligne Tumore, Schwangerschaft, bestehender Leberzellschaden, akute Leberinfekte, Schwanger- 23 Hunstein: Hemmung (1971), S. 178. 24 Lauritzen: Möglichkeiten (1971), S. 182. schaftsgelbsucht in der Anamnese, familiäre, ange-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 222 Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren borene oder erworbene Störungen der Gallense- Adressiert war die Denkschrift an die Bundesge- kretion, Auftreten von Migräne und Sehstörun- sundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt gen.26 Das Ergebnis war erschreckend: Keiner der (CDU), bekannt wurde sie durch einen Abdruck im befragten Allgemeinmediziner konnte mehr als Deutschen Ärzteblatt im Oktober 1965.30 Sie war drei richtige Kontraindikationen nennen, 93% ein besonders extremes Beispiel für die ärztliche kannten sogar nur zwei oder weniger medizinische Ablehnung der Pille und für die Verurteilung der Gründe gegen die Verschreibung der Pille. Und ob- moralischen Verhaltensweisen der bundesrepubli- wohl explizit lediglich nach medizinischen Kontra- kanischen Bevölkerung, insbesondere der Jugend. indikationen gefragt wurde, nannten die Ärzte im- Schon im einführenden Teil äußerten die Verfasser mer wieder auch moralisch-ethische Gründe wie in drastischer Ausdrucksweise ihre Sorge ange- „Enthemmung, Gefahr für die Ethik, gesunde Ehe, sichts der öffentlichen Diskussion um Sexualität Maßlosigkeit, Zerfall der sittlichen Werte usw.“27 und die Pille und warnten davor, das Medikament Die nicht gefragten moralischen wurden als medi- an junge Mädchen und unverheiratete Frauen aus- zinische Gründe für eine Nichtverschreibung aus- zugeben. Zugleich sahen sie ihre Rolle als ärztliche gegeben. Zudem nannte fast jeder zweite Arzt min- Autoritäten gefährdet: destens eine falsche Kontraindikation – wie Adipo- „Heute will man unter Zuhilfenahme des öffent- sitas, Libidoschwankungen, Unverträglichkeiten, lichen Druckes der Massenpresse und des Fernse- Frigidität, Depressionen usw. –, die im alltäglichen hens den Arzt zum Funktionär des wachsenden se- Praxisablauf der Allgemeinmediziner häufig auftrat xuellen Materialismus degradieren durch die For- und damit Anlass zur Verweigerung eines Rezepts derung, daß die sog. ‚Antibabypillenʼ auch ohne bzw. zum dringenden Rat zum Absetzen der Pille ärztliche Indikation an unverheiratete Frauen und geben konnte.28 an Mädchen ausgegeben werden sollen. Aus dem Die damit noch in den 1970er Jahren festzustel- Diener des Lebens würde so der Bedienstete des lende Tendenz, dass sich die Ärzte nicht allein für Sich-Aus-Lebens, dessen Aufgabe es ist, durch ein die medizinische Seite der Pille zuständig fühlten, Privatrezept jedermann unverbindliche und fol- sondern auch zu moralischen Aspekten Stellung genfreie sexuelle Beziehungen zu ermöglichen und nehmen wollten, war in den 1960er Jahren noch dabei vor allem die von der Schöpfungsordnung deutlicher zu Tage getreten. Das markanteste Bei- her damit verbundene Möglichkeit der Entstehung spiel für diese Vermischung von medizinischer neuen menschlichen Lebens zu verhindern.“31 und moralischer Argumentation im Für und Wider Die Denkschrift stellte insgesamt vier Forderun- der Pille war die sogenannte „Ulmer Denkschrift“. gen auf, deren gemeinsamer Tenor es war, dass Sie entstand im Sommer 1964 und wurde von 140 eine öffentliche Sexualisierung der Gesellschaft Ärzten aus dem Ulmer Raum sowie von 45 Univer- verhindert werden und die Verschreibungspflicht sitätsprofessoren unterschrieben. Durch nachträg- für die Pille bestehen bleiben müsse. In der Begrün- liche Unterschriften kam man bis zum Oktober dung für die Forderungen wurden zahlreiche histo- 1965 insgesamt auf über 400 zustimmende Ärzte, rische und systembedingte Vergleiche angestellt, ganz überwiegend aus dem süddeutschen Raum.29 die in einer Warnung vor der Zerstörung des „christlich abendländische[n] Erbe[s]“ mündeten.32 Immer wieder wurde vor einer moralischen Ver- 25 Vgl. Pacharzina: Moralwächter (1978). Die Studie ent- stand als medizinische Dissertation unter der Betreu- wahrlosung gewarnt, und als Verursacher der Se- ung des Frankfurter Sexualmediziners Volkmar Si- xualisierung des öffentlichen Lebens wurden die gusch. Ergebnisse der Studie waren im Herbst 1975 Massenmedien mit ihrer „hemmungslosen propa- durch Zitierung zunächst im „Stern“, später auch in gandistischen Ausnützung des weiblichen Körpers anderen Medien bekannt geworden. Sowohl Pachar- und sexueller Reize zu Reklamezwecken“ angepran- zina als auch Sigusch sahen sich danach heftigen An- gert.33 Als Teil dieser Sexualisierung galt die üblich griffen von standesärztlichen Organisationen und gewordene Form der „rein ʼwissenschaftlichen‘ einzelnen Ärzten ausgesetzt, die eine Verunglimp- “ fung des ärztlichen Bildes fürchteten. Vgl. die Doku- wertfreien Aufklärung über Sexualität allgemein mentation im Anhang von Pacharzina: Moralwächter und Verhütungsmittel im Speziellen, die die Ehr- (1978), S. 237–248. furcht vor den Geheimnissen der Entstehung 26 Vgl. Pacharzina: Moralwächter (1978), S. 88. 27 Ebd., S. 89, 226, Tab. 16. 30 Vgl. Ulmer Denkschrift (1965), S. 2138–2141. 28 Vgl. ebd., S. 89. 31 Ebd., S. 2138. 29 Vgl. dazu und zur Denkschrift insgesamt auch Chris- 32 Punkt 2. In: Ebd., S. 2139 [Hervorhebung im Original]. toph: Medizin (1975), S. 105–109. 33 Punkt 7a. In: Ebd. [Hervorhebung im Original].

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren 223 menschlichen Lebens zerstöre.34 Die ebenfalls be- Moral verschwunden, schrieb er und bewertete triebene „öffentliche Verhöhnung der Keuschheit“ dies für die Jüngeren in der Gesellschaft durchaus führe zu einer „Bagatellisierung“ des vor- und auß- positiv: „Unsere Generation scheint eben im Begrif- erehelichen Verkehrs, wodurch bei vielen Frauen fe sich eine neue Moral zu schaffen. Sie wird anders das „natürliche Verlangen nach Kindern“ in eine aussehen als diejenige, die in oder zwischen den Angst vor diesen umschlage und die von ihrem we- Zeilen der ʼUlmer Denkschriftʼ zu lesen ist.“38 sentlichen und ursprünglichen Sinn gelöste Sexua- Die Denkschrift selber wie auch die fachinterne lität zur Sucht werde.35 Die Unterzeichner warnten Diskussion darüber zeigen, dass innerhalb der Ärz- vor einer wahllosen Ausgabe der Pille an Frauen teschaft große Uneinigkeit, aber offensichtlich auch und Mädchen, da dies „die letzten Bremsen gegen Unsicherheit über den eigenen Stand und die eige- den modernen Sexualisierungstrend beseitigen“ ne Rolle in der Gesellschaft der sechziger Jahre be- würde. stand, und dass dieser Konflikt durch die Ausbrei- Die Denkschrift löste innerhalb der bundesre- tung der Pille geschürt wurde. Man fühlte sich publikanischen Ärzteschaft heftige Diskussionen dem Wohlergehen der Gesellschaft verpflichtet, aus. Bis März 1966 wurden im „Deutschen Ärzte- konnte sich aber zumindest in Teilen mit zahlrei- blatt“ insgesamt 17 Beiträge von Ärzten dazu veröf- chen neueren Erscheinungen nicht anfreunden, fentlicht, die überwiegend die Denkschrift und ihre vor allem im Zusammenhang mit der öffentlichen Forderungen ablehnten.36 Es kann allerdings nicht Thematisierung bisher eher tabuisierter Bereiche. davon ausgegangen werden, dass die abgedruckte Diskussion repräsentativ für die gesamte deutsche Ärzteschaft war. Die Dauer und Vielfältigkeit der Diskussion belegt aber, dass die Verfasser der Die ärztliche Meinung Denkschrift offenbar Probleme thematisiert hatten, in der öffentlichen Diskussion die viele Ärzte bewegten. So wurde unter anderem die in der Denkschrift geforderte Rückkehr zu be- Ärzte beschäftigten sich in den 1960er Jahren aber währten moralischen Normen und Sitten kritisch nicht nur standesintern mit der Pille, ihre Exper- gesehen. Ein Arzt – offensichtlich jüngeren Alters, tenmeinung war auch in der öffentlichen Diskussi- da er sich mehrfach von den älteren Ärzten absetz- on gefragt. Insbesondere Zeitschriften, die sich an te, zu denen er die Verfasser der Denkschrift zählte eine breite Leserschaft wandten, thematisierten – schrieb, dass das Problem der Familienplanung die Pille in den ersten Jahren nach der Marktein- nur mit Hinweisen auf sittliche Werte und Enthalt- führung regelmäßig mit grundsätzlichen medizini- samkeit als höhere sittliche Pflicht nicht gelöst schen Informationen. In der Frauenzeitschrift „Bri- werden könne: „[Wo] soll sich der interessierte gitte“ wurden zu diesem Zweck ärztliche Ratgeber Laie sachliche Information und Rat holen? Soll er eingebunden, die in der Rubrik „Medizin – Fragen seine Zweifel wieder, wie zu Zeiten unserer Väter, und Antworten“ (vermeintliche) Leserinnenanfra- in Tabus erstickt sehen?“37 Ein Münchener Kollege gen beantworteten. Dabei waren die Inhalte der sah in der Definition der bürgerlichen Moral die Fragen auffallend ähnlich: Fast immer drehte es Schlüsselfrage der gesamten Denkschrift. Dabei sich um die Wirkweise, um mögliche Nebenwir- war es seiner Ansicht nach schon immer so, dass kungen oder um Falscheinnahmen. Die Frauen hät- sich Moral mit dem Verschwinden einer tonange- ten diese Fragen eigentlich dem verschreibenden benden Gesellschaftsschicht veränderte. Mit dem Arzt stellen können (oder müssen), hatten dies of- Untergang des Bürgertums des 19. Jahrhunderts fensichtlich aber nicht getan – die Zuschrift an die seit dem Ersten Weltkrieg sei auch die bürgerliche Zeitschrift wurde zum Ersatz für das Gespräch mit dem Arzt. So wurde beispielsweise immer wieder 34 Punkt 7c. In: Ebd. [Hervorhebung im Original]. gefragt, ob die Pille auch in der einnahmefreien 35 Vgl. Punkt 7 g u. 8. In: Ebd., S. 2140. [Hervorhebung letzten Woche des vierwöchigen Zyklus wirke und im Original]. 36 Die Beiträge waren in insgesamt vier Aussprachen zu- Frauen auch dann vor einer Schwangerschaft sicher sammengefasst. Vgl. Deutsches Ärzteblatt 62 (1965) seien.39 Nr. 48, S. 2684 ff.; Deutsches Ärzteblatt 63 (1966) Ein Umschwung in der Berichterstattung weg Nr. 1, S. 32–36; Deutsches Ärzteblatt 63 (1966) Nr. 4, von einer expertengesteuerten medizinischen Be- S. 218 f.; Deutsches Ärzteblatt 63 (1966) Nr. 13, S. 872–875. 37 Dr. Werner Ohl. In: Deutsches Ärzteblatt 62 (1965) 38 Dr. med. A. Kammermeier. In: Deutsches Ärzteblatt Nr. 48, S. 2684 f., hier S. 2684. 62 (1965) Nr. 48, S. 2685.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 224 Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren lehrung hin zu einer stärkeren Akzentuierung per- eine Meinung gebildet und kamen mit ihren Wün- sönlicher Erfahrungen mit der Pille setzte etwa schen und Vorstellungen in die Praxis. Mitte der sechziger Jahre ein, nachdem immer Im Verlauf der sechziger Jahre fand so ein gegen- mehr Frauen das Medikament bereits nutzten. Als seitiger Lernprozess statt, bei dem die Ärzte immer ab etwa 1965 in bundesdeutschen Medien grund- mehr von ihrer vormals fast unangefochtenen Ex- sätzlich offener über Sexualität berichtet wurde, pertenposition weichen mussten, gleichzeitig aber gab es dort beispielsweise Debatten darüber, ob von den Erfahrungen ihrer Patientinnen mit einer und in welcher Form die Pille einen Einfluss auf Erweiterung ihrer Kompetenz profitierten. Ein das sexuelle Empfinden von Frauen habe. Zwar wichtiger Grund war, dass die Frauen zunehmend konnte hier kein Konsens erzielt werden: Es gab so- Themen ansprachen, bei denen die Ärzte gerade wohl Stimmen, die von einem gesteigerten sexuel- keine Experten waren – und das aufgrund einer in len Empfinden berichteten, als auch solche, die ge- diesem Punkt mangelhaften Ausbildung auch gar nau das Gegenteil konstatierten. Neu war aber, dass nicht sein konnten. Wie bereits skizziert, hatten bei dieser Debatte verstärkt alle möglichen persön- die Themenfelder Sexualität und Aufklärung über lichen Erfahrungen von Frauen öffentlich wieder- Verhütung in der medizinischen Ausbildung bis gegeben wurden. So beschrieb beispielsweise eine weit in die siebziger Jahre kaum einen Platz. In der 35-jährige Mutter von vier Kindern in einem mehr- zitierten Studie mit Hannoveraner Ärzten aus dem seitigen Erfahrungsbericht in der Zeitschrift „El- Jahr 1972 wurden diese auch dazu befragt, ob sie tern“ 1966 sehr genau, was sich durch die Pille für ihrer eigenen Meinung nach während des Studi- sie verändert hatte.40 Sie konnte von Gesprächen ums in ausreichendem Maß über die Sexualität mit verschiedenen Ärzten, vom Austausch ihres des Menschen und sexuelle Störungen informiert Mannes über das Mittel im Freundeskreis und von worden seien. Dies verneinten 80%, und von den leichten Nebenwirkungen ebenso berichten wie 17%, die ihre Unterrichtung als ausreichend ein- die Wirkweise der Pille erläutern. Sie verschwieg schätzten, gaben viele individualisierte Erklärun- auch nicht ihre Bedenken gegenüber dem Mittel gen wie eigenes Interesse oder einen guten Lehrer angesichts von Krebswarnungen und dem nicht an.42 vergessenen Contergan-Skandal. Die sie umgeben- den Männer kritisierte sie für den sehr technischen Umgang mit der Pille: „Seit ich ʼdie Pilleʼ nehme, Fazit komme ich mir vor wie ein Kosmonaut: Die drei Leiter meines Raumfahrtprogramms, Hausarzt, Gy- Die Einführung und Durchsetzung der Pille stellte näkologe und Ehemann, meinen, es wird schon gut für die bundesrepublikanische Gesellschaft eine gehen, in vollem Vertrauen auf Laboratorien, ge- Herausforderung dar. Das Verhütungsmittel eröff- waltige chemische Werke, sorgsame Prüfstände. nete neue Möglichkeiten im Umgang mit der Se- Aber die unternehmen die Reise zum Mond und xualität, was insbesondere bei jungen Frauen zu ei- zurück nicht selber. Es ist und bleibt ein Abenteuer ner starken Nachfrage führte. Für sie, aber ebenso für mich.“41 für Frauen, die bereits Kinder hatten und weitere Zugleich verdeutlichen diese Erfahrungsberich- Schwangerschaften vermeiden wollten, eröffnete te auch, wie sehr sich unter den Pillennutzerinnen die Pille die Chance, Sexualität ohne die permanen- ein eigener Wissensbestand zu dem Verhütungs- te Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft mittel etabliert hatte. Sie setzten eher auf persönli- erleben und damit befreiter als zuvor sexuelle Er- che Erfahrungen als auf medizinische Experten- fahrungen sammeln zu können. kontrolle. Ärzte waren nicht mehr die einzigen, die Diese Möglichkeiten riefen zugleich Befürchtun- sich mit dem Thema medizinisch auseinandersetz- gen in der noch moralkonservativ geprägten bun- ten, sondern auch ihre Patientinnen hatten sich desdeutschen Gesellschaft der 1960er Jahre hervor, die insbesondere eine drohende Verwahrlosung der Sitten zum Gegenstand hatten. Die tatsächlich 39 Vgl. Wann wirkt die Antibabypille? In: Brigitte H. 10 aber relativ langsame Durchsetzung der Pille – erst (1967), S. 163; Darf ich die Pille im 35-Tage-Rhyth- gegen Ende der 1960er Jahre konnte von einer flä- mus nehmen? In: Brigitte H. 22 (1968), S. 122; Ist die chenmäßigen Verbreitung gesprochen werden – Pille in der Einnahmepause sicher? In: Brigitte H. 3 sowie Ergebnisse von Umfragen und sexualwissen- (1969), S. 53. 40 Vgl. Die Pille In: Eltern H. 10 (1966), S. 20 ff. 41 Ebd., S. 22. 42 Vgl. Pacharzina: Moralwächter (1978), S. 37.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren 225 schaftlichen Studien belegen jedoch, dass von einer zess setzte ebenfalls mit der Einführung der Pille „Sexualisierung“ der Jugend kaum gesprochen wer- ein und ist letztlich, angesichts einer Vielzahl von den konnte. So hatte sich beispielsweise bei Verhütungspräparaten, bis heute nicht abgeschlos- Jugendlichen in den 1960er Jahren zwar der Zeit- sen. punkt der Aufnahme sexueller Aktivitäten vorver- legt. Dies führte aber nicht zu ständig wechselnden Beziehungen, sondern im Gegenteil zu anhaltender Literatur Partnerbindung.43 Die Pille war damit für junge Frauen ein Mittel, Sexualität freier zu erleben, aber Asbell, Bernard: Die Pille und wie sie die Welt veränder- kein Türöffner zu Promiskuität, wie von einigen te. Frankfurt am Main 1998. Zeitgenossen befürchtet. Zugleich wurde die Popu- Christoph, Klaus: Medizin und Empfängnisverhütung. Ein Beitrag zur Analyse des Selbstverständnisses larisierung der Pille jedoch immer von kritischen westdeutscher Ärzte. Stuttgart 1975. Stimmen begleitet, die vor Nebenwirkungen und Frobenius, Wolfgang: “The Rabbits are Prepared…” The möglichen Langzeitfolgen warnten. In den 1970er Development of Ethinylestradiol and Ethinyltestoste- Jahren gewann diese Kritik im Zuge der Frauenbe- rone. In: J Reproduktionsmed Endokrinol 8 (2011), wegung an Bedeutung. Immer mehr potentielle Special Issue 1 “50 Years Oral Hormonal Contracepti- ” – und tatsächliche Nutzerinnen hinterfragten die Pil- on ,S.32 57. Giese, Hans; Schmidt, Gunter: Studentensexualität. Ver- le, setzten sie ab und suchten nach natürlicheren, halten und Einstellung. Eine Umfrage an 12 west- ungefährlicher erscheinenden Verhütungsmetho- deutschen Universitäten. Reinbek 1968. den.44 Haller, Jürgen: Die medikamentöse Hemmung der Ovu- Ärzte waren die entscheidenden Akteure bei der lation. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 24 Durchsetzung der Pille in der Bundesrepublik, al- (1964), S. 636 f. lerdings offensichtlich nicht ohne einen gewissen Hunger, Heinz: Das Sexualwissen der Jugend. 2., völlig neubearb. Aufl., München; Basel 1960. öffentlichen Druck. Nach Berichten aus den USA Hunstein, W.: Langzeitnebenwirkungen von Ovulations- über erste größere Untersuchungen zur oralen hor- hemmern: Intern-medizinische Aspekte. In: Ge- monalen Kontrazeption fühlten sie sich auch durch burtshilfe und Frauenheilkunde 31 (1971), S. 178. das Echo in der Laienpresse rasch veranlasst, das Kirchhoff, Heinz: Anti-Baby-Pillen nur für Ehefrauen? Thema in Fachzeitschriften und auf Kongressen SPIEGEL‑Gespräch mit dem Direktor der Universi- wie den zitierten Veranstaltungen der BGGF aufzu- täts-Frauenklinik Göttingen, Professor Dr. Heinz – greifen und mit eigenen Studien zu ergänzen. Un- Kirchhoff. In: Der Spiegel, Heft 9 (1964), S. 79 89. Kirchhoff, Heinz; Haller, Jürgen: Konzeptionsverhütung geachtet einer heftigen innerärztlichen Debatte, durch oral wirksame Gestagene. In: Deutsche Medi- bei der viele Mediziner in der Anwendung der Pille zinische Wochenschrift 84, Nr. 49 (1959), S. 2189– eine Frage der Moral sahen und sich als deren Hü- 2192. ter verstanden, lockerte sich die ursprünglich äuß- Kirchhoff, Heinz; Haller, Jürgen: Klinische Erfahrungen erst restriktive Verschreibungspraxis nach und mit einer ovulationsunterdrückenden Östrogen-Ge- nach und machte so die flächendeckende Verbrei- stagen-Kombination (Anovlar). In: Medizinische Kli- nik 59 (1964), S. 681–687. tung der oralen Kontrazeption möglich. Kirk, Beate: Der Contergan-Fall: Eine unvermeidbare Die Verschreibungspflicht der Pille brachte für Arzneimittel-Katastrophe? Zur Geschichte des Arz- die Ärzte auch Vorteile mit sich: Sie erhielten so neistoffs Thalidomid. Stuttgart 1999. eine ganz neue Klientel von Patientinnen, die sie Knack, A.V.; Pieper, W.: Empfängnisverhütung als ärztli- für ein Pillenrezept regelmäßig aufsuchen musste, che Beratungsaufgabe. In: Ärztliche Mitteilungen 14 dabei aber relativ einfach zu behandeln war. Dies (1956), S. 387 ff. Köstering, Susanne: „Etwas Besseres als das Kondom“. traf insbesondere für Gynäkologen zu, denen sich Ludwig Haberlandt und die Idee der Pille. In: Staupe, häufig ein auch finanziell relativ lukratives zusätz- Gisela; Vieth, Lisa (Hrsg.): Die Pille. Von der Lust und liches Betätigungsfeld und neue medizinische von der Liebe. Berlin 1996, S. 113–126. Kompetenzen eröffneten. Hinzu kam ein Austausch Kunz, Gabriele: Medizinische Experimente mit der Anti- mit Patientinnen, die oft eigene Vorstellungen über babypille. Ein Rückblick auf die ersten Versuche an Verhütungsmethoden und geeignete Pillen mit in puertoricanischen Frauen. In: Zeitschrift für Sexual- – die Praxen brachten. Dieser Kommunikationspro- forschung 2 (1989), S. 119 131. Laengner, H.: 20 Jahre Schering-Kontrazeptiva – von 43 Vgl. Giese; Schmidt: Studentensexualität (1968), Anovlar zu Triquilar. In: Schering Pharma Deutsch- … S. 393 f; Schmidt; Sigusch: Arbeiter-Sexualität (1971), land (Hrsg.): Die Pille wird 20. So begann es und S. 98–100. da stehen wir heute. Symposium Berlin, 25. 5.1981. – 44 Vgl. dazu ausführlich Silies: Liebe (2010), S. 382–412. Berlin 1981, S. 6.1 6.5.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 226 Die bundesdeutsche Ärzteschaft, die BGGF und die Durchsetzung der Pille in den 1960er Jahren

Lauritzen, Christian: Möglichkeiten einer gezielten diffe- Silies, Eva-Maria: Liebe, Lust und Last. Die Pille als weib- renzierten Anwendung der im Handel befindlichen liche Generationserfahrung in der Bundesrepublik oralen Antikonzeptiva. In: Geburtshilfe und Frauen- 1960–1980 (= Göttinger Studien zur Generationsfor- heilkunde 31 (1971), S. 182. schung, Bd. 4). Göttingen 2010. Pacharzina, Klaus: Moralwächter im weißen Kittel. Zur Simmer, Hans H.: On the history of hormonal contracep- Sexualmedizin in der Allgemeinpraxis. Lollar 1978. tion. I. Ludwig Haberlandt (1885–1932) and his con- Peeters, F.: Die konservative Therapie der Endometriose cept of “hormonal sterilization”. In: Contraception 1 durch zyklische Behandlung mit Anovlar. In: Ge- (1970), S. 3–27. burtshilfe und Frauenheilkunde 24 (1964), S. 629. Staupe, Gisela; Vieth, Lisa (Hrsg.): Die Pille. Von der Lust Rauscher, Herbert; Kaiser, Rolf: [Diskussionsbeiträge]. und von der Liebe. Berlin 1996. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 19 (1959), Streller, Sabine; Roth, Klaus: Über die Heldentaten der S. 290. Hormonsucher. 50 Jahre Pille in Deutschland. In: Rock, John: The time has come. A catholic doctorʼspro- Chemie in unserer Zeit 45 (2011), S. 270–291. posals to end the battle over birth control. New York Ulmer Denkschrift. Zur Frage der Geburtenbeschrän- 1963. kung. In: Deutsches Ärzteblatt 62, Nr. 40 (1965), Schering Aktiengesellschaft: Bericht über das Geschäfts- S. 2138–2141. jahr 1961. Berlin 1962. Unger, Renate; Lachnit-Fixson, Ursula: Case F: Die Ent- Schmidt, Gunter; Sigusch, Volkmar: Arbeiter-Sexualität. wicklung der „Pille“ (Oral Contraceptives). In: Al- Eine empirische Untersuchung an jungen Industrie- bach, Horst (Hrsg.): Culture and Technical Innovati- arbeitern. Berlin 1971. on. A Cross-Cultural Analysis and Policy Recommen- Sieg, Sabine: „Anovlar“–die erste europäische Pille. Zur dations. (= Akademie der Wissenschaft zu Berlin, Geschichte eines Medikaments. In: Staupe, Gisela; Research Report Bd. 9) Berlin; New York 1994, Vieth, Lisa (Hrsg.): Die Pille. Von der Lust und von S. 922–1012. der Liebe. Berlin 1996, S. 131–144.

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Die Institutionalisierung der Geburten in der Bundesrepublik 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf

Marion Schumann

Zwischen 1950 und 1975 fand die flächendeckende eine Neuorientierung in der gesellschaftlichen Verlagerung der Geburtshilfe vom Haus der gebä- Wahrnehmung von Schwangerschaft und Geburt renden Frauen in die Klinik statt. Dieser Trend hatte ein. zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt, als die Die Hebamme, die traditionell die Hausgeburten Krankenhäuser zu modernen Dienstleistungsun- betreute, blieb auch in der Klinik für die Geburtsbe- ternehmen umgestaltet wurden und sich des Ru- treuung zuständig. Das Berufsbild wurde jedoch ches eines Ortes der Armenfürsorge entledigen zwischen 1950 und 1975 den neuen Rahmenbe- konnten.1 Im Zuge dessen wurde die Zahl plan- dingungen in der Institution Krankenhaus ange- mäßiger geburtshilflicher Betten in den Kliniken passt und unterlag damit dem tiefgreifendsten deutscher Großstädte kontinuierlich erhöht. Paral- Wandel in seiner Geschichte. Im Folgenden wird lel dazu nahm der Anteil der Klinikentbindungen die Umgestaltung des Hebammenberufes im Zuge bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Hospitalisierung der Geburt nachgezeichnet. stetig zu.2 Im Jahr 1939 lag der Anteil der Klinikent- Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach den Verän- bindungen bei 39%, und im Jahr 1954 erblickten die derungen des Verhältnisses zwischen Hebammen Neugeborenen in der Bundesrepublik erstmals und Frauen sowie zwischen Hebammen und der überwiegend in einem Krankenhaus das Licht der Medizin. Welt. Im Jahr 1960 waren dies zwei Drittel aller Kinder. 1975 war die Klinikgeburt zur Regel und die Geburt außerhalb der Institution mit 1,2% zur Soziales Betreuungskonzept großen Ausnahme geworden.3 Ein Stadt-Land-Ge- fälle kennzeichnete jedoch diesen Wandel. So ka- von Hebammen in men in München bereits 1957 etwa 90% aller Kin- der Hausgeburtshilfe der im Krankenhaus zur Welt. In Bayern insgesamt fand dagegen noch knapp die Hälfte aller Geburten Die Hausgeburtshilfe übten freiberuflich tätige im Privathaus statt, und in ländlichen Gegenden lag Hebammen mit einer Niederlassungserlaubnis aus. der Anteil der Hausgeburten bei ca. 60%.4 Nur Sie bekamen einen Bezirk für ihre Berufstätigkeit knapp 20 Jahre später hatte sich allerdings auch zugewiesen und waren dem hier zuständigen auf dem Lande die Klinik als Geburtsort durchge- Amtsarzt unterstellt. Das Tätigkeitsfeld für die Heb- setzt. ammen regelte das 1954 ergänzte Hebammenge- Die Verlagerung der Entbindung vom Haus in setz von 1938. Aufgabe der Hebamme war danach die Klinik führte zu einer neuen Deutung des Ge- die eigenverantwortliche Leitung der „normal“ ver- burtsgeschehens, das von einem sozialen in einen laufenden Geburt.6 Hebammen hatten (und haben) medizinischen Rahmen überführt wurde.5 Diese das Monopol auf die unkomplizierte Geburt. Zu je- tiefgreifende Veränderung beeinflusste alle am Ge- der Entbindung musste nach dem Gesetz eine Heb- burtsgeschehen in der Klinik Beteiligten und leitete amme hinzugezogen werden, und erst beim Auf- treten von Komplikationen war die Hebamme ver- 1 Lisner: Hüterinnen (2006), S. 100–106. pflichtet, einen Arzt hinzuzuziehen. Über die 2 Ebd., S. 111. Geburtsbetreuung hinaus war sie sowohl für die 3 Schumann: Dienst (2009), S. 54 f. 4 Bickenbach: Geburtshilfe (1957), S. 345. 5 Duden: Ungeborenen (1998), S. 151–153. 6 Hebammengesetz § 3.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 228 Die Institutionalisierung der Geburten 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf

Beratung und Betreuung von Schwangeren und derungen kommt der Beziehung zwischen Hebam- Wöchnerinnen als auch für die Pflege der Neuge- men und den von ihnen betreuten Frauen eine be- borenen bis zu deren zehntem Lebenstag zustän- sondere Bedeutung zu, und gerade diese machte dig. Diese vielseitigen Aufgaben übten Hebammen die hohe Berufszufriedenheit der Hausgeburtshe- in den Privatwohnungen und ‑häusern der Frauen bammen aus.12 aus, zu denen ihnen für ihre Tätigkeiten Zutritt ge- Die Berufspraxis der Hausgeburtshebammen in währt wurde. Die Hebammen mussten sich somit den 1950er und 1960er Jahren beschreibt die Sozi- an die Gegebenheiten im Haus der Frauen anpas- alwissenschaftlerin Ricarda Henze folgendermaß- sen, mit dem Vorhandenen zurechtkommen und en:13 In der Regel meldete sich eine schwangere häufig improvisieren. Die Frauen hingegen verblie- Frau einige Monate oder Wochen vor dem Geburts- ben während der biographischen Ausnahmesitua- termin bei einer niedergelassenen Hebamme zur tion der Geburt – die immer als unsicheres Ereignis Hausgeburt an. Sofern die werdende Mutter keine galt –7 in ihrem privaten, vertrauten Bereich. Beschwerden hatte, besuchte die Hebamme sie Die hier als soziale Betreuung bezeichnete Pra- ein- bis zweimal vor dem Entbindungstermin. Bei xis von Hebammen zielte auf eine kontinuierliche diesen Besuchen sah sich die Hebamme die häusli- und individuelle Betreuung der Schwangeren und chen Gegebenheiten an, besprach mit der Frau, was Gebärenden in deren sozialem Umfeld. Ein Kenn- noch zu besorgen wäre, wann diese sie rufen sollte zeichen war die Vermischung von Privatem und Be- und wie sie sich im Falle einer Blutung oder eines ruflichem, da die Hebammen häufig in ihrem Ar- Blasensprungs verhalten musste. Bei den Vorbe- beitsbezirk lebten. So begegneten sie ihrer Klientel sprechungen untersuchte die Hebamme die Frau. bei alltäglichen Besorgungen und hatten damit Sie testete den Urin, maß den Blutdruck, überprüfte auch außerhalb ihrer beruflichen Pflichten Berüh- das Gewicht und kontrollierte die Lage und die rung mit den Frauen. Darüber hinaus gewannen Herztöne des Ungeborenen. Hatte die Hebamme ei- die Hebammen durch ihre Tätigkeit Einblick in die nen Fortbildungskurs in Geburtsvorbereitung ab- Lebensumstände und die gelebten geschlechtli- solviert, wies sie die Schwangere bei diesen Vorbe- chen Verhältnisse der von ihnen betreuten Frauen.8 suchen in die Atem- und Entspannungstechnik ein. So bestand eine zwangsläufige Nähe zwischen Wurde die Hebamme zur Geburt gerufen, blieb sie Hebammen und ihren Klientinnen in der Hausge- bei der Frau, sobald diese regelmäßige Wehen hat- burtshilfe.9 Während der Zeit von Schwanger- te. Bei einer Regelwidrigkeit wurde ein Arzt hinzu- schaft, Geburt und Wochenbett nahmen die Heb- gezogen. ammen für die von ihnen betreuten Frauen eine Während der Eröffnungsphase der Geburt be- zentrale Stellung ein, beispielsweise als Beraterin, reitete die Hebamme gemeinsam mit der Frau und Zuhörerin, Vertraute, Freundin oder für einige weiteren Familienmitgliedern das Gebärzimmer Frauen auch als eine mütterliche Figur.10 Das Ver- vor, sorgte für Hygiene, kochte ihre Instrumente hältnis zwischen Hebammen und Klientinnen war aus und traf weitere letzte Vorbereitungen für die über den Betreuungszeitraum intensiv, schwächte Entbindung. Die Kreißende bekam einen Einlauf, sich jedoch anschließend wieder ab. Die Hausge- ihr Urin wurde auf Eiweiß untersucht. Die Hebam- burtshebammen boten eine Dienstleistung an, die me überwachte sie ferner durch regelmäßige Puls-, sie an die einzelnen Gebärenden und ihre Familie Blutdruck- und Temperaturmessungen, Kontrolle anpassten. Sie fühlten sich auch über ihre geburts- der Wehentätigkeit und Überprüfung des Geburts- hilflichen Aufgaben hinaus sozial verantwortlich fortschritts mittels innerer Untersuchung. Ferner für „ihre“ Frauen, so die Historikerin Wiebke Lisner. wurden die kindlichen Herztöne regelmäßig kon- Diese Nähe zu den Frauen betrachteten die Hebam- trolliert. Während dieser Zeit bewegte sich die men als „Vertrauensverhältnis“, und das „Persönli- Kreißende in der Regel in ihrer Wohnung oder der che“ galt auch in den 1950er und 1960er Jahren als Stärke von Hebammen.11 In biographischen Schil- 11 Schumann: Dienst (2009), S. 85. 12 Vgl. dazu Grabrucker: Abenteuer (1996); Linner: Ta- 7 Duden: Ungeborenen (1998), S. 152 f. gebuch (1989); Grubenmann: Praxisfälle (1993; 8 Lisner: Hüterinnen (2006), S. 202–204. 1995). 9 Diese Nähe funktionalisierte der nationalsozialisti- 13 Henze: Geburtshilfe (1999), S. 52–56. Die Sozialwis- sche Gesetzgeber für eine gegenseitige Kontrolle von senschaftlerin Ricarda Henze interviewte neun nie- Hebammen und den Frauen. Lisner: Hüterinnen dergelassene Hebammen, die in den 1950er und (2006), S. 167 f. 1960er Jahren in Niedersachsen Hausgeburtshilfe 10 Lisner: Hüterinnen (2006), S. 224. leisteten.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Institutionalisierung der Geburten 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf 229 näheren Umgebung. „Die Hebammen warteten, bindungen hinzugezogen werden. Grundsätzlich kümmerten sich um die Gebärende und verbrach- vollzog sich die Geburt in einem der Gebärenden ten die Zeit zum Beispiel mit Massagen, Gesprä- vertrauten sozialen Rahmen. Sie wurde nicht pri- chen, Spaziergängen und Handarbeiten.“14 Die ei- mär als medizinisches Ereignis gedeutet, dies ge- gentliche Geburt fand in der Regel im Bett statt. In schah nur beim Auftreten von Komplikationen. der Austreibungsphase leitete die Hebamme die Rief die Hebamme den Arzt bei Komplikationen Frau beim Pressen an und führte den Dammschutz zur Geburt hinzu, übernahm er die Behandlung, durch. Nach der Geburt nabelte sie das Neugebore- und die Hebamme wurde dann nach dem Hebam- ne ab und leitete die Nachgeburtsperiode. Das Neu- mengesetz zu seiner Gehilfin.17 Die Zuständigkeit geborene und die Frau wurden versorgt und das von Hebammen und Ärzten in der Hausgeburtshilfe Kind zum Stillen angelegt. Frühestens zwei Stun- orientierte sich damit ganz eindeutig an der Nor- den nach der Entbindung verließ die Hebamme malität oder Pathologie der Geburten. das Haus. Die anschließende Wochenbettbetreu- ung führte sie in der Regel über zehn Tage durch, kam einmal am Tag vorbei, um die Wöchnerin und den Säugling zu untersuchen und vor allem beim Anpassung des Hebammenberufs Stillen zu unterstützen. Daneben erledigte die Heb- an die Institution Krankenhaus amme laut Henze nicht selten noch notwendige Haushaltsarbeiten oder kümmerte sich um bereits Mit dem steigenden Bedürfnis der Schwangeren vorhandene Kinder. nach der Entbindung im Krankenhaus ging die Die Kernkompetenz der Hausgeburtshebammen grundsätzliche Umgestaltung und Anpassung des lag in der genauen Beobachtung der Gebärenden Hebammenberufs an den klinischen Rahmen ein- und des Geburtsfortschritts. So konnten Abwei- her. Zwar waren im gesamten 20. Jahrhundert im- chungen vom regelrechten Verlauf frühzeitig fest- mer auch fest angestellte Hebammen im Kranken- gestellt werden. Die kontinuierliche Betreuung ei- haus tätig, jedoch überwog bis zum Ende der ner einzelnen Frau über die gesamte Zeit der Ge- 1960er Jahre die Zahl der niedergelassenen Heb- burt ermöglichte der Hebamme die sensible ammen, die zusätzlich im Krankenhaus als Beleg- Wahrnehmung von Abweichungen vom normalen hebamme arbeiteten. Gerade in der Zeit des Gebur- Verlauf, die sie aufgrund ihrer Erfahrungen nach ih- tenbooms in der ersten Hälfte der 1960er Jahre wa- rer Bedeutung einordnen konnte. Dies zeigt auch ren in den Kliniken überwiegend Beleghebammen das Zitat einer von Ricarda Henze interviewten tätig.18 Für die einzelne Hebamme bestimmten das Hebamme, Frau Deiter: „Das habe ich im Gefühl ge- Geburtenaufkommen, die räumliche Nähe einer habt, wissen Sie, wie unruhig die Mutter wurde, geburtshilflichen Abteilung im Krankenhaus sowie der Ton macht die Musik […]. Von Anfang an steck- die geburtshilfliche Organisation in dieser Abtei- te das irgendwie in mir drin, dieses Empfinden, lung ihre Berufsausübung als Beleghebamme. Die also so ganz richtig läufts nicht. Denn wie gesagt, Arbeitsteilung in der klinischen Geburtshilfe wirkte man war ja Stunden im Haus, Stunden.“15 Grundla- sich auf das Tätigkeitsspektrum der Hebammen ge des sozialen Betreuungskonzeptes von niederge- aus. In der Klinik war die Hebamme häufig nicht lassenen Hebammen war die hohe Kontinuität in mehr für die gesamte Dauer der Geburt sowie für der Begleitung einer ihr bekannten Frau bei der Ge- die komplette Neugeborenen- und Wochenbett- burt. Den Hebammen war es möglich, eine den Be- pflege zuständig, sondern hier wurden die Betreu- dürfnissen der einzelnen Frau angepasste Geburts- ung der Frauen sowie die Berufspraxis von Hebam- hilfe zu leisten. Das Konzept weist damit Parallelen men fragmentiert. Dieser Vorgang verlief jedoch zur christlichen Krankenpflege auf, das zeitgleich aufgrund der differierenden Bedingungen von Kli- großen Veränderungen unterlag.16 nik zu Klinik und von Region zu Region unter- Die Tätigkeit von Hebammen und Ärzten war schiedlich. Waren eigenständige Abteilungen für klar voneinander abgegrenzt. Die Hebamme war Geburtshilfe und Gynäkologie in den Großstadtkli- für die Betreuung der normalen Geburt zuständig, niken bereits gang und gäbe, so wurden solche der Arzt musste bei pathologisch verlaufenden Ent- Fachabteilungen in Kliniken mittelgroßer Städte

14 Henze: Geburtshilfe (1999), S. 58. 17 Dienstordnung für Hebammen § 10/3: Hebammen- 15 Ebd., S. 59. gesetz (1955), S. 107 f. 16 Kreutzer: Liebesdienst (2005), S. 255–273. 18 Schumann: Dienst (2009), S. 69.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 230 Die Institutionalisierung der Geburten 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf und in Kleinstädten erst nach und nach bis Mitte men wurden damit Teil einer fortschrittlichen der 1970er Jahre eingerichtet. Dementsprechend Geburtshilfe und trugen zur Akzeptanz der Klini- unterschieden sich die Berufspraxis von Hebam- kentbindung bei. Sie praktizierten dabei zwei un- men und der Anpassungsvorgang an die Gegeben- terschiedliche geburtshilfliche Konzepte – Hausge- heiten der Klinik zwischen den Regionen. burten und Klinikgeburten – nebeneinander. Auf dem Lande war es beispielsweise bis in die Mit der sinkenden Geburtenrate, dem Ausbau 1960er Jahre üblich, dass die Frauen „ihre“ Hebam- von Fachabteilungen für Gynäkologie und Geburts- me bei Geburtsbestrebungen riefen und diese mit hilfe in den Krankenhäusern sowie steigenden ihnen in die Klinik fuhr. Hier betreuten die Beleg- Zahlen von Gynäkologen hatte sich die Kreißsaal- hebammen die Gebärenden häufig noch vom An- hebamme als Berufsleitbild im Jahr 1970 durch- fang bis zum Ende der Geburt selbständig, wie gesetzt.22 Die Kreißsaalhebamme betreute aus- nach traditioneller Berufsauffassung üblich. Auch schließlich Geburten in der Klinik und war dort die regelmäßige Wöchnerinnen- und Neugebore- fest angestellt. Sie verkörperte den modernen Be- nenpflege oblag ihnen in den kleinen und mittle- rufstyp, der die Geburtshilfe als Dienstleistung aus- ren Kliniken oft noch.19 In diesem Modell blieb die übte und an die Standards der klinischen Arbeits- soziale Beziehung zwischen Frau und Hebamme welt angepasst war. Hebammen hatten hier eine ein zentraler Bestandteil der geburtshilflichen Be- geregelte Arbeitszeit, verfügten über ein sicheres treuung, jedoch spielten die Familie der Gebären- Gehalt und ein von ihrer Berufstätigkeit getrenntes den und auch die private Umgebung der Frau nun Privatleben. Die Voraussetzungen für ihre Tätigkeit keine Rolle mehr. Die Hebamme war auch in der hatten sich gegenüber der Hausgeburtshilfe funda- Klinik nur für die eine Frau zuständig. Sie fand hier mental verändert:23 Statt nur eine Gebärende zu zur Geburtsbetreuung eine standardisierte und hy- betreuen, waren sie, je nach Klinikgröße und Ge- gienische Arbeitsumgebung vor, die professionel- burtenaufkommen, für mehrere Frauen gleichzei- len Maßstäben entsprach. tig zuständig; statt einer ihnen bereits bekannten In anderen Kliniken arbeiteten Beleghebammen Frau trafen sie auf eine Fremde; statt eines bereits zur gleichen Zeit bereits viel arbeitsteiliger, weil die bestehenden Kontaktes musste dieser erst aufge- Betreuung der Neugeborenen oder auch der Wöch- baut werden; statt eine Frau von Anfang bis Ende nerinnen dort bereits als spezialisierter Bereich zur der Geburt zu betreuen, bestimmte der Schicht- Pflege gehörte. Die Fragmentierung der Tätigkeit wechsel Anfang und Ende des Kontaktes; statt ei- bestimmte nun den Einsatz von Hebammen, und ner Betreuung vor der Geburt und darüber hinaus die Berufsgruppe wurde auf die reine Geburtshilfe beschränkte nun die Funktionsteilung der Klinik im Kreißsaal festgelegt und spezialisiert. die Tätigkeit der Hebammen auf die rein geburts- Zum Anpassungsprozess des Hebammenberufs hilfliche Leistung. Außerdem teilten Hebammen an die klinischen Rahmenbedingungen gehörte für die Verantwortung für Frau und Kind nun mit ei- Beleghebammen die Regelung, im Schichtdienst zu nem Arzt. arbeiten und, damit einhergehend, zeitgleich meh- rere Frauen bei der Geburt zu betreuen. So nahmen beispielsweise Beleghebammen in Kliniken in Das Verhältnis von Hebamme Münster in den 1960er Jahren an einem 24-Stun- den-Schichtdienst teil.20 Bei diesem Modell kann- und Frau in der institutionalisierten ten sich Hebamme und Gebärende nur noch selten Geburtshilfe zuvor. Damalige Beleghebammen berichten, dass sie Das Verhältnis zwischen Hebamme und Frau hatte ihre Arbeit als sehr erfüllend erlebten und häufig sich in der Klinik grundlegend geändert. Zwar blieb eine enge Bindung zu „ihrem“ Beleghaus hatten. die Hebamme auch hier die erste Ansprechperson Die Anbindung an die Klinik eröffnete ihnen zu- für die Gebärende, aber die nun anonyme Bezie- sätzliche Möglichkeiten, sich neue Tätigkeitsberei- hung wurde neu strukturiert. Eine Möglichkeit che zu erschließen, wie die Geburtsvorbereitung dazu bot die Methode der Geburtsvorbereitung, oder die Rückbildungsgymnastik.21 Beleghebam- die zur Angst- und Schmerzlinderung während der Geburt beitragen und zugleich die Gebärende

19 Ebd S. 79 f. 20 Schmitz: Hebammen (1994), S. 89. 22 Schumann: Dienst (2009), S. 69–71. 21 Ebd., S. 89. 23 Ebd., S. 294.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Institutionalisierung der Geburten 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf 231 im Kreißsaal disziplinieren sollte.24 Aufgabe der Hebamme wurde es nun, die Gebärende unter der Das Verhältnis von Hebammen Geburt bei der Anwendung dieser Technik anzulei- zu Medizin und Medizinern ten, wodurch auch die Gesprächsgegenstände und die Gesprächsführung weitgehend vereinheitlicht In der Klinik war die Hebamme nun weniger auf die wurden. Unumstritten war jedoch auch unter Me- Kooperation mit der Gebärenden, sondern viel- dizinern, dass das Vertrauen der Gebärenden zur mehr auf die Zusammenarbeit mit den Ärzten und Hebamme den Geburtsverlauf positiv beeinflusst. Kolleginnen angewiesen. Gerade die Frage nach der Das im Auftrag des Bundesgesundheitsministeri- Arbeitsabgrenzung zwischen Arzt und Hebamme ums 1971 in zweiter und neubearbeiteter Auflage wurde mit der zunehmenden Verlagerung der Ge- herausgegebene Hebammenlehrbuch nennt zehn burten in die Klinik virulent. Zwar leiteten die Heb- Grundregeln, wie die Hebamme der Gebärenden ammen Mitte der 1960er Jahre in den Kliniken begegnen sollte.25 Danach kam der Hebamme die noch die Hälfte aller Geburten,28 die Gynäkologen Aufgabe zu, „ein kleines Wunder“ zu vollbringen: forderten damals jedoch bereits die Leitung jeder Sie sollte sich der jeweiligen Frau adäquat annä- Geburt durch den Facharzt.29 Konfliktpotential hern, ihr auch unter Zeitdruck das Gefühl geben, zwischen beiden Berufsgruppen deutete bereits immer zu wissen, „wen sie vor sich hat“, ihr kleine der Direktor der I. Universitätsfrauenklinik Mün- Wünsche erfüllen und sie umsorgen, z.B. indem sie chen, Werner Bickenbach, im Vorwort seines 1962 ihr den Schweiß abwischte. Einen „herrischen Kli- erschienenen Hebammenlehrbuchs an.30 Zur „Rol- nikton“ sollte sie der Gebärenden gegenüber eben- lenverteilung in der Geburtshilfe“ führte er aus, so wenig anwenden wie einen „routinemäßigen dass die Hebamme immer zwei Aufgaben habe: Herzenston“. Sie sollte freundlich und sachlich sein, zum einen die „selbständige Verantwortung“ bei keine falschen Versprechungen hinsichtlich des Ge- der Betreuung der normalen Geburt und zum an- burtsverlaufs machen und die Frau sicher führen deren das Aufgeben dieser Selbständigkeit, wenn und anleiten, damit diese die Geburt aktiv voran- sie einen Arzt wegen Abweichungen hinzugezogen trieb. Außerdem sollte sie „das Vertrauen der Pa- habe. In diesem Fall werde sie zu seiner Helferin tientin zum Arzt aufbauen“ und somit als Vermitt- und Erfüllungsgehilfin. Diese Form der Zusammen- lerin zwischen Arzt und Gebärender agieren. Von arbeit sei aber „nicht selten die Quelle von Reibun- Kreißsaalhebammen wurde im Dienstleistungsbe- gen“, so Bickenbach. trieb also eine freundliche und rationale Anteilnah- In der ersten Zeit der Geburtenverlagerung in me erwartet. Wirkliche Vertrauensperson für die die Krankenhäuser kam es noch nicht zwangsläufig Frauen zu sein, war für sie ein schwieriges Unter- zu einem Zusammentreffen von Hebammen und fangen – diese Lücke sollten bald die werdenden Ärzten, jedoch nahmen die Begegnungen zwischen Väter schließen.26 beiden Berufsgruppen mit der Einrichtung von im- Die soziale Nähe der Hausgeburtshilfe zwischen mer mehr gynäkologischen Fachabteilungen zu. Hebamme und Gebärender existierte im Kreißsaal Der Ausbau dieser Fachabteilungen fand in den nicht mehr. Damit entfiel die soziale Abhängigkeit kleinen und mittleren Krankenhäusern besonders zwischen beiden Akteurinnen.27 Die Arbeitsteilung in den 1960er Jahren statt. Bis dahin war jedoch in in der Klinik bot der Hebamme nicht mehr den der Regel kein Facharzt anwesend, dem die Hebam- Rahmen für ihre Kernkompetenz, die individuelle me untergeordnet war. und kontinuierliche Beobachtung der Geburt und Die Anstellung von Fachärzten wurde von Heb- die Betreuung einer einzelnen Frau über den ge- ammen nicht immer als Kompetenzverlust wahr- samten Verlauf. Damit ging den Hebammen die tra- genommen. Die Beleghebamme Anna Wilke erleb- ditionelle Grundlage für die Beurteilung des Ge- te beispielsweise die Anstellung eines Facharztes in burtsverlaufs verloren. Die Wandlungen im Heb- einem niedersächsischen Kreiskrankenhaus im ammenberuf verweisen auf grundlegende Jahr 1962 als Entlastung. Bis dahin konnte ihr im Veränderungen im Verständnis darüber, was eine Notfall nur der Chirurg der Klinik zur Seite ste- Geburt ist, in welchen Rahmen sie gehört und was hen.31 Befürchtete sie Komplikationen, fuhr sie die eine Frau zum Gebären braucht. Gebärende deshalb in ihrem Auto zu einem nahe-

24 Dazu ebd., S. 138–149 und Schumann: Care (2011). 28 Dietel: Referat (1967), S. 205. 25 Martius: Hebammenlehrbuch (1971), S. 363. 29 Schumann: Dienst (2009), S. 190 f. 26 Vgl. dazu Schumann: Dienst (2009), S. 160–168. 30 Bickenbach: Hebammenlehrbuch (1962), S. 3 f. 27 Lisner: Hüterinnen (2006), S. 237 f. 31 Schumann: Dienst (2009), S. 81.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 232 Die Institutionalisierung der Geburten 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf liegenden Krankenhaus, in dem ein Gynäkologe ar- Hebammen und Ärzten umstrittener Eingriff in die beitete. Dieser Aufwand fiel mit der Anstellung des Geburt, an dem sich Auseinandersetzungen zwi- Gynäkologen in ihrer Belegklinik weg. Zugleich schen den beiden Berufsgruppen entzündeten.34 nahm Frau Wilke eine entscheidende Veränderung Diese spielten sich häufig zwischen erfahrenen ihrer Arbeitsroutine vor und rief den Arzt zu jeder Hebammen und den Assistenzärzten im Kreißsaal Geburt hinzu, was sie als ihre „innere Pflicht“ an- ab, so wie es Bickenbach im Hebammenlehrbuch sah. Das habe sich so ergeben, gesprochen worden beschrieben hat. sei darüber nicht, erklärte sie. Aber ihr habe seine Da es Hebammen nicht erlaubt war, einen Anwesenheit mehr Sicherheit gegeben. Dammschnitt selbständig durchzuführen, bot die- Dies zeigt, wie sich in der Klinik, mit mehr oder ser Routineeingriff Ärzten den legitimen Zugriff weniger Einverständnis von Hebammen, die Be- auf die Geburt. Damit wurde die Hierarchie im treuungssituation bei der Geburt veränderte. Den Kreißsaal gesichert, die Hebamme war beim Wunsch der Ärzte, zur Geburt hinzugezogen zu Durchtritt des Kindes die Assistentin des Arztes. werden, akzeptierte auch die Hebammenberufs- vertretung. Die Vorsitzende des Hebammenbun- desverbandes, Ruth Kölle, kommentierte dies Veränderungen der 1971: „Ich glaube kaum, dass eine Hebamme die- sen Wunsch nicht respektiert hat.“32 Damit kamen geburtshilflichen Konzepte die Hebammen den Forderungen der Mediziner durch Technikeinsatz nach der ärztlichen Leitung jeder Geburt entgegen, die diese seit Mitte der 1960er Jahre öffentlich er- Der Hebammenberuf erlebte in den 1960er Jahren hoben. Letztlich hing die Selbständigkeit der Heb- durch den Wandel der Geburtshilfe zur Geburts- amme im Kreißsaal davon ab, wie der Arzt seinen medizin eine weitere Umformung. Zentrales Cha- Kompetenzbereich und den der Hebamme defi- rakteristikum dieses Wandels waren technische nierte. Neuerungen, die den Medizinern einen direkteren Das Verhältnis zwischen Hebammen und Ärzten Zugriff auf den Fötus im Mutterleib erlaubten. Zu war in der Klinik von einer grundsätzlich verschie- den Methoden der Zustandsdiagnostik vor und un- denen Haltung gegenüber Interventionen bei der ter der Geburt gehörten die Amnioskopie, die fetale Geburt geprägt. Während Hebammen nicht in die Blutanalyse, das Kardiotokogramm (CTG) und der Geburt eingreifen durften, gehörten medizinische Ultraschall. Für die geburtshilfliche Praxis bedeu- Interventionen in großen Kliniken seit ihrem Be- tete dies, dass sich die Fokussierung von der Gebä- stehen zur ärztlichen Praxis. Die Indikationen dafür renden auf das Ungeborene verschob. Nun gaben bestimmte die Medizin als Profession selbständig Messdaten vor, wann ein Gesundheitsrisiko für und definierte die normale Geburt und ihre Be- den Föten vorlag und wann in die Geburt einzugrei- treuung immer wieder neu. Insbesondere neue fen war. Die Gebärende und ihr Befinden waren für Medikamente fanden eine breite Anwendung im die Beurteilung des Geburtsverlaufs immer weni- Untersuchungszeitraum. Neben dem Einsatz von ger relevant, denn die Äußerungen der Frauen gal- Schmerzmitteln nahm in den 1950er Jahren auch ten im Gegensatz zu den Messdaten als subjektiv. die Gabe von Wehenmitteln zur Beschleunigung Geburtshelfer, Medien und Gesundheitspolitiker des Geburtsverlaufes zu. An der I. Universitätsfrau- betrachteten diese technischen Neuerungen in den enklinik München (Maistraße) verdoppelte sich 1960er und 1970er Jahren als Garanten für die Sen- beispielsweise zwischen 1950 und 1960 der Ge- kung der hohen Mütter- und Säuglingssterblichkeit brauch von Wehenmitteln; parallel dazu stieg die in der Bundesrepublik. Dammschnittrate von nahezu Null auf 75%.33 Die Parallel zum Einsatz der technisch-diagnosti- Interventionen wurden zur Routine und von den schen Verfahren wurden Wehenmittel differen- Medizinern als harmlos eingeschätzt. Hebammen zierter eingesetzt. Sie ermöglichten nicht nur das waren darin geschult, den Damm bei der Geburt direkte Eingreifen in eine laufende Geburt, sondern zu halten. Dies gehörte zu den im Hebammenlehr- auch die Geburtseinleitung. Diese Medikamente buch definierten klassischen Aufgaben der Berufs- fanden im Kreißsaal zunehmend Anwendung. Der gruppe. Gerade der Dammschnitt war ein zwischen

34 Zum Dammschnitt siehe Steffen: Dammschnitt 32 Kölle: Organisation (1971). (2001); Arney: Power (1985), S. 69–75; Schumann: 33 Loytved: Geduld (2004), S. 18–21. Dienst (2009), S. 175,195 f.

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Münchner Perinatalstudie zufolge erhielten mehr hieß, dem physiologischen Verlauf – überlassen als die Hälfte der Frauen, die in 26 Kliniken in Mün- wurde.38 Damals konnte die Geburtsmedizin mit chen und näherer Umgebung im Jahr 1975 entbun- dem Versprechen der Senkung der Mütter- und den wurden, Wehenmittel bei der Geburt, bei 23% Säuglingssterblichkeit durch technische Moderni- der Frauen wurde die Geburt medikamentös einge- sierung und Überwachung in der Geburtshilfe an leitet.35 Die Rate der Geburtseinleitungen in diesen die aktuellen gesellschaftlichen Vorstellungen der Kliniken schwankte zwischen 8 und 65%, und die Plan- und Machbarkeit durch Technik anknüpfen Hälfte der dort eingeleiteten Geburten von Erstge- und in den Medien sowie bei den Frauen für diese bärenden endete operativ. Hinsichtlich der Not- Idee Rückhalt finden.39 wendigkeit einer Geburtseinleitung waren die Auf- Der klassische Geburtshelfer und die Hausge- fassungen der Geburtshelfer also anscheinend burtshebamme leisteten aus Sicht der Geburts- durchaus unterschiedlich – die Tendenz zur Patho- mediziner eine überholte und lebensgefährliche logisierung der Geburt zeigen die Eingriffsraten je- Geburtshilfe, denn sie orientierten sich an über- doch deutlich. Infolge dieser Entwicklungen stieg wiegend subjektiv wahrnehmbaren Gefahrenhin- auch die Kaiserschnittrate kontinuierlich. weisen bei der einzelnen Gebärenden. Geburtshel- fer, die das moderne Konzept nicht übernahmen, waren große Ausnahmen. Ein Beispiel ist Alfred Ro- ckenschaub, der von 1965 bis 1985 die Ignaz-Sem- Ausrichtung der Geburtshilfe melweis-Frauenklinik der Stadt Wien leitete.40 Dies nach dem Risikokonzept gilt auch für den Würzburger Ordinarius Karl Hein- rich Wulf, 1986/87 Vorsitzender und später Ehren- Die genannten neuen diagnostischen, medikamen- mitglied der BGGF, der in seiner Begrüßungsrede tösen und operativen Techniken sowie die Daten zur 44. Tagung der DGGG 1982 in München vor der in der Klinik entbundenen Frauen waren die „programmierter und getimeter Geburt, [vor dem] Voraussetzung für die Installierung des Risikokon- computerisierten Kreißsaal oder [vor] der Geburts- zeptes in der Geburtsmedizin. Dieses präventive medizin“ warnte und für eine Geburtshilfe plädier- Konzept, das sich insgesamt in der Medizin durch- te, die eben auch „weise Beschränkung“ bedeute.41 setzte, sollte unter anderem Sicherheit bei der Ent- Die Folge des Orientierungswandels von der Ge- bindung garantieren. Danach steht nicht die einzel- burtshilfe zur Geburtsmedizin war eine Pathologi- ne Frau mit ihrer Geschichte und ihrem subjektiven sierung der Geburt, die zu zunehmenden Eingriffen Befinden im Mittelpunkt der Betreuung. Die in die natürlichen Abläufe führte.42 Schwangere und die Gebärende sind vielmehr Teil einer statistischen Grundgesamtheit, bei der das Zusammentreffen von bestimmten Merkmalen zur Das Verhältnis von Hebammen Klassifizierung als Risikofall führt. „Normalität“ ist in diesem Risikokonzept an einen sehr engen Be- zu Medizin und Medizinern reich statistischer Daten gebunden. Sobald bei- im technisierten Kreißsaal spielsweise unter der Geburt Abweichungen ge- messen werden, wird eingegriffen. Das Angleichen Das Verhältnis von Hebammen zur Medizin hatte an Normvorgaben soll Gefahren vermeiden und die durch die Technisierung der Geburtshilfe einen Geburt zum sicheren Ausgang führen.36 Gebären weiteren Wandel erfahren. Sie mussten nun, eben- wurde von der Medizin als ein plan- und steuerba- so wie Ärzte, die Kurven des CTG und die Ergebnis- rer Vorgang betrachtet, der jederzeit beeinflusst se von Mikroblutuntersuchungen in die Beurtei- werden kann, um maximale Sicherheit bei der Ge- lung des Geburtsverlaufs einbeziehen und sich da- burt zu erzielen.37 Höhepunkt dieser Entwicklung ran orientieren. Ihre Aufgabe blieb jedoch parallel war die „Programmierte Geburt“ zu Beginn der die Betreuung und Beobachtung der Gebärenden. 1970er Jahre, die vom Anfang bis zum Ende durch- geplant war und bei der nichts dem Zufall – das 38 Vgl. dazu Hillemanns: Geburt (1978). 39 Zum zeitgenössischen Planungsdenken siehe z.B. 35 Selbmann u.a.: Perinatal-Studie (1980), S. 12, 19. Schildt: Wohlstand (2000), S. 48. 36 Weir: Folgen (2006), S. 53–56. Duden: Kopfgeburten 40 Vgl. dazu Rockenschaub: Gebären (1998). (2006), S. 6–9. 41 Ludwig: Reden (1999), S. 346. 37 Vgl. dazu Duden: Ungeborenen (1998); Tew: Geburt 42 Vgl. dazu z.B. Schwarz; Schücking: Geburt (2004), (2007), S. 224–246. S. 22 f.

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Die Bedeutung dieser Aufgabe illustriert die ehe- ammen nur „noch sehr wenig selbständig machen malige Lehrhebamme Maria Hipp. Sie berichtet können“. Gegen den Chef konnte sich auch Frau von einem Ehemann und dem Arzt, die am Kreiß- Reinke kaum wehren. bett über den Kopf der Gebärenden hinweg spra- Auch Maria Hipp erlebte als leitende Hebamme chen, ohne dass der Arzt das Vena-Cava-Syndrom der Universitätsfrauenklinik Heidelberg den Chef- der Frau wahrnahm: arztwechsel Mitte der 1960er Jahre vom konserva- „Ich komm zufällig rein, sehe das blasse Gesicht tiven Geburtshelfer Hans Runge (1892–1964) „mit der Frau, geh hin und sag: Ist ihnen schlecht? Ja, einer geburtshilflich guten, zuverlässigen Haltung“ antwortete sie. Ich lagere sie auf die Seite und zum Geburtsmediziner mit der Vorstellung einer gleich wurde es besser. So ist es, wenn man nur aktiven, an einem Zeitplan ausgerichteten Geburts- auf die Kurve guckt. Und das war ja nachher die hilfe, dem zugleich die geburtshilfliche Erfahrung große Schwierigkeit zwischen Arzt und Hebamme. fehlte. Auf der von ihm präsidierten 31. Tagung der Sie haben nur noch die Kurve gesehen, die Frau DGGG 1956 in Heidelberg hatte Runge in seiner konnte daneben schwitzen, jammern oder sonst Eröffnungsrede noch konzediert, „daß in vielen Fäl- was tun. Sie merkten es nicht. Ich habʼ mal zu ihnen len wohl eine Entbindung mit Hilfe der Hebamme gesagt: Sie brauchen bloß noch die Kurve, die Frau ohne Arzt vor sich gehen kann, daß aber niemals können sie unters Bett legen, die merken sie ja doch ein Arzt bei einer Geburt auf die verständnisvolle nicht. Dass die Technik mich als Hebamme über- Hilfe der Hebamme verzichten sollte.“45 Das „ge- flüssig machte, das Gefühl hatte ich nicht, im Ge- burtshilfliche Denken“ zwischen der Hebamme genteil.“43 und dem neuen Chefarzt Josef Zander (1918–2007), Die Hebamme Maria Hipp stellt damit die Beob- der 1980 Vorsitzender und später Ehrenmitglied achtungskompetenz der Hebamme als weiterhin der BGGF wurde, war Maria Hipp zufolge grundver- zentral bei der Geburtsbetreuung im technisierten schieden, so dass sie nach zwei Jahren ständiger Kreißsaal heraus. Sie begründet dies damit, dass Konflikte die Klinik verließ. sich die Mediziner insbesondere an Messdaten ori- Die Aufgabenverteilung zwischen Arzt und Heb- entierten. amme grenzte das Hebammenlehrbuch 1971 nicht Das Verhältnis zwischen der erfahrenen Heb- konkret ab, sondern sah allgemein die gemeinsame amme und dem jungen Geburtsmediziner war von Überwachung der Geburt durch beide Berufsgrup- deren unterschiedlichen Einstellungen zur Geburt pen vor.46 Die Hebamme sollte eine „ständige enge, geprägt. Der Wechsel zur technikorientierten Ge- kollegiale Zusammenarbeit mit einem Arzt“ pfle- burtsmedizin ging in den 1960er und 1970er Jah- gen sowie einen adäquaten sozialen Umgang mit ren häufig mit einem Generationenwechsel bei der Gebärenden, so das Lehrbuch weiter. Darüber den Chefärzten der geburtshilflichen Abteilungen hinaus gehörte es zur Aufgabe von Hebammen, die einher. Das Verhältnis zwischen Hebammen und Gebärenden den ärztlichen Anweisungen gegen- Ärzten wurde neu bestimmt. Die leitenden Hebam- über zu „öffnen“ und als Vermittlerin zwischen bei- men in den Kliniken teilten die geburtshilfliche den zu fungieren.47 Hebammen kam es unter den Haltung ihres neuen vorgesetzten Chefarztes oft- rationalisierten Bedingungen der Klinik zu, eine mals nicht. So vertrat beispielsweise der Geburts- moderne Dienstleistungsbeziehung zur Gebären- helfer Heinz Kirchhoff (1905–1997) in der Göttin- den aufzubauen, die Arzt-Patientinnen-Beziehung ger Universitätsfrauenklinik die Auffassung, dass positiv zu beeinflussen sowie zwischen Technik, in erster Linie die Hebammen für die Frauen zu- Frau und Arzt zu vermitteln. ständig seien. Mit dem Chefarztwechsel zu Beginn der 1970er Jahre wurden jedoch in dieser Hinsicht neue Regeln in der Klinik eingeführt, wie die da- Fazit mals dort leitende Hebamme Annemarie Reinke berichtet.44 Schwangere wurden nun bei ihrer Auf- Mit der kulturellen Umorientierung der Schwange- nahme dem Arzt vorgestellt und nicht mehr wie ren, zur Entbindung das Krankenhaus aufzusuchen, vorher üblich der Hebamme. Diese war nun in der veränderten sich der Handlungsrahmen und die Göttinger Klinik nicht mehr erste Ansprechpartne- rin der Gebärenden. Darüber hinaus hätten Heb- 45 Ludwig: Reden (1999), S. 229; zu Runge vgl. die Bei- träge von Wolfgang Eckart und Wolfgang Frobenius (Wiederbesetzung) in diesem Band. 43 Interview mit Maria Hipp vom 19. 10. 2001. 46 Martius: Hebammenlehrbuch (1971), S. 258. 44 Interview mit Annemarie Reinke vom 24.1. 2002. 47 Ebd., Vorwort.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die Institutionalisierung der Geburten 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf 235 geburtshilfliche Praxis von Hebammen in zwei Dietel, Hanns: Einleitendes Referat zum Podiumsge- Schüben. spräch über die Neuordnung der Geburtshilfe. Ihre Kernkompetenz – die kontinuierliche Beob- 36. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gy- näkologie vom 20.-24. 9.1966. In: Archiv für Gynäko- achtung des Geburtsverlaufs – konnten Hebammen logie Band 204 (1967), S. 298–301 und S. 305 f. nur unter den Bedingungen einer sozialen Betreu- Duden, Barbara: Die Ungeborenen. Vom Untergang der ung anwenden. Voraussetzung dafür war die indi- Geburt im späten 20. Jahrhundert. In: Schlumbohm, viduelle und kontinuierliche Betreuung einer Ge- Jürgen; Duden, Barbara; Gélis, Jaques; Veit, Patrice bärenden. In der Klinik war dies übergangsweise (Hrsg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. – möglich. Die Geburt wurde jedoch im Laufe der München 1998, S. 149 169. Duden, Barbara: Kopfgeburten. In: Deutsche Hebam- weiteren Entwicklung aus dem sozialen Zusam- menzeitschrift 58 (2006), S. 6–9. menhang herausgelöst, der Hebammenberuf im Grabrucker, Marianne: Vom Abenteuer der Geburt. Die weiteren Verlauf fragmentiert und die Leitung der letzten Landhebammen erzählen. Frankfurt/Main Geburt ging auf den Arzt über. Im technisierten 1996. Kreißsaal erfuhr der Hebammenberuf eine weitere Grubenmann, Ottilia: 200 Praxisfälle, Bd. 1 und 2. Umformung durch die Bewertung des Geburtsver- 2. Aufl., Weissbad 1993/95. laufs anhand technischer Messdaten vom Fötus. Hebammengesetz vom 21. Dezember 1938 nebst Gesetz zur Regelung von Fragen des Hebammenwesens vom Dieser stand nun im Blickpunkt einer medizini- 4. Januar 1954 mit Erläuterungen und Anhang von schen Geburtsüberwachung. Neue Hauptaufgabe Kurt Zimdars und Karl Sauer. Neu bearbeitete und er- der Hebamme wurde die Vermittlung zwischen gänzte 3. Aufl. von Dr. Friedrich Koch und Dr. Fritz Gebärender, Arzt und Technik. Bernhardt. Hannover 1955. So galt der Beruf der Kreißsaalhebamme Anfang Henze, Ricarda: Geburtshilfe in den 50er und 60er Jah- der 1970er Jahre als ein anspruchsvoller und spe- ren in Niedersachsen aus Sicht der damals freien Hebammen. Diplomarbeit im Fach Sozialwissen- zialisierter Frauenberuf. Jedoch hatte die Berufs- schaften. Hannover 1999. – gruppe im Zuge der Hospitalisierung der Gebur- Hillemanns, Hans-Günter (Hrsg.): Die programmierte ten, der arbeitsteilig durchgeführten Geburtshilfe Geburt. 1. Freiburger geburtshilfliches Kolloquium und der Technisierung der Kreißsäle – nicht nur 1976. Stuttgart 1978. ihre traditionelle Orientierung auf das Verhältnis Huerkamp, Claudia: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahr- zur Gebärenden verloren, sondern auch ihre Selb- hundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens. Göttingen 1985. ständigkeit weitgehend eingebüßt. Die Geburt Kölle, Ruth: Organisation und Tätigkeit. In: Deutsche wurde als medizinisches Ereignis verstanden, das Hebammenzeitschrift 23 (1971), Sonderbeilage. nur von der Medizin sicher und professionell be- Kreutzer, Susanne: Vom „Liebesdienst“ zum modernen treut werden konnte. Frauenberuf. Die Reform der Krankenpflege nach 1945. (= Geschichte und Geschlechter 45) Frankfurt/ Main 2005. Literatur Linner, Rosalie: Tagebuch einer Landhebamme 1943– 1980, 2. Aufl., Rosenheim 1989. Lisner, Wiebke: „Hüterinnen der Nation“. Hebammen im Arney, William Ray: Power and the Profession of Obste- Nationalsozialismus. (= Geschichte und Geschlechter trics. Chicago 1982. 50) Frankfurt/Main 2006. Bickenbach, Werner: Häusliche und klinische Geburts- Loytved, Christine: Geduld in der Geburtshilfe aus histo- hilfe. In: Deutsche Hebammenzeitschrift 8 (1957), rischer Perspektive. In: Die Hebamme 17 (2004), – S. 344 349. S. 18–21. Bickenbach, Werner (Hrsg.): Hebammenlehrbuch. Im Martius, Gerhard (Hrsg.): Hebammenlehrbuch. Im Auf- Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheitswe- trag des Bundesministeriums für Jugend, Familie sen. Stuttgart 1962. und Gesundheit. Neubearbeitete und erweiterte Dienstordnung für Hebammen. Erlass des Niedersächsi- Aufl., Stuttgart 1971. schen Ministers für Arbeit, Aufbau und Gesundheit Neuscheler, Veronika: Beruf und Berufsorganisation der vom 17. Dezember 1947 (Amtsbl. für Niedersachsen, Hebamme. Professionalisierung oder Deprofessiona- S. 13) (Auszugsweise, soweit die Dienstordnung für lisierung eines Gesundheitsberufes? (= Konstanzer Hebammen vom 16. 2.1943 verändert wurde) In: Schriften zur Sozialwissenschaft 12) Konstanz 1991. Zimdars, Kurt; Sauer, Karl (Hrsg.): Hebammengesetz Rockenschaub, Alfred: Gebären ohne Aberglauben. Eine vom 21. Dezember 1938 nebst Gesetz zur Regelung Fibel der Hebammenkunst. Lauter 1998. von Fragen des Hebammenwesens vom 4. Januar 1954. Neu bearbeitete und ergänzte 3. Aufl. von Dr. Friedrich Koch und Dr. Fritz Bernhardt. Hannover 1955, S. 107 f.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 236 Die Institutionalisierung der Geburten 1950 bis 1975. Auswirkungen auf den Hebammenberuf

Schildt, Axel: Materieller Wohlstand – pragmatische Po- Schwarz, Clarissa M.; Schücking, Beate A.: Adieu, norma- litik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der le Geburt? Ergebnisse eines Forschungsprojekts. In: Bundesrepublik. In: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Dr. med. Mabuse 29 (2004), S. 22–25. Lammers, Christian (Hrsg.): Dynamische Zeiten: die Selbmann, K.-H.; u.a. (Hrsg.): Münchner Perinatalstudie 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. 1975–1977. Daten, Ergebnisse, Perspektiven. Mün- (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte chen 1980. 37) Hamburg 2000, S. 21–53. Steffen, Gisèle: Ist der routinemäßige, prophylaktische Schmitz, Britta: Hebammen in Münster. Historische Ent- Dammschnitt gerechtfertigt? Überblick über neuere wicklung – Lebens- und Arbeitsumfeld – Berufliches Forschungsarbeiten. 5. Aufl., Frankfurt/Main 2001. Selbstverständnis. Münster 1994. Tew, Marjorie: Safer childbirth? A critical history of ma- Schumann, Marion: Vom Dienst an Mutter und Kind ternity care. London 1990. Aus dem Englischen von zum Dienst nach Plan. Hebammen in der Bundesre- Clarissa Schwarz; Katja Stahl (Hrsg.): Sichere Geburt? publik 1950–1975. (= Frauengesundheit 8) Göttingen Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschich- 2009. te der Geburtshilfe. Frankfurt/Main 2007. Schumann, Marion: Dienstleistung statt sozialer Betreu- Weir, Lorna: Folgen des Risikofaktors. In: Deutsche Heb- ung. Der Auftrag von Hebammen in der frühen Bun- ammenzeitschrift 58 (2006), S. 53–56. desrepublik im Umbruch. In: Schäfer, Daniel (Hrsg.): Rheinische Hebammengeschichte im Kontext. (= Köl- ner Beiträge zu Geschichte und Ethik der Medizin 1) Kassel 2010, S. 251–272. Schumann, Marion: From Social Care to planning Child- birth in the Federal Republic of Germany 1950–1975. In: Braun, Kathrin (Hrsg.): Between Self-Determina- tion and Social Technology. Medicine, Biopolitics and the New Techniques of Procedural Management. Bielefeld 2011, S. 31–63.

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Vergangenheitsbewältigung in der bayerischen Gynäkologie – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München

Manfred Stauber

Zusammenfassung Beispiele für menschenverachtende Medizin in For- schung und Lehre. Bei einem Rückblick auf fast 25 Jahre Bearbeitung Besonders positiv war die Wirkung der langjäh- des Themas Gynäkologie und Nationalsozialismus rigen Erinnerungsarbeit seit 1987 auf die jüngeren an der I. Universitätsfrauenklinik (UFK) München – Ärzte, Hebammen, Schwestern und Studenten der einer Schwerpunktklinik für Zwangssterilisationen I. UFK. Bis heute werden deshalb in jedem Semester im „Dritten Reich“–zeigt sich trotz anfänglicher die Medizin im „Dritten Reich“ und speziell die Er- Turbulenzen eine vorwiegend positive Auswirkung eignisse an der I. UFK für die Studierenden aufbe- auf die Klinik und auch auf das Fach. Dies betrifft an reitet. Durch die neu gewonnene Einsicht in die bis- erster Stelle die Rolle der in den 1990er Jahren her vorwiegend verdrängte und verharmloste Di- noch erreichten zwangssterilisierten Opfer, die mension unmenschlicher Praktiken sollen sie zu durch eine individuell angepasste „späte Entschul- einer sensibleren Medizin finden. Denn, dies kann digung“ ihre Würde zurückerhielten. Ferner beka- nicht verschwiegen werden, noch Jahrzehnte nach men diese meist früheren Patientinnen der I. UFK dem Krieg – und das betraf nicht nur die I. UFK in eine erste einmalige und dann auch eine lebenslan- München – errichteten viele medizinische Fächer ge finanzielle Unterstützung sowie eine kostenlose eine Mauer des Schweigens, vergaßen die Opfer psychosomatische Betreuung. Unser Modell einer und verehrten die Täter in Büsten und geschönten „späten Entschuldigung“ hatte zudem eine positive Biographien. Nach jahrelanger Vergangenheitsbe- Wirkung auf andere Frauenkliniken und deren Op- wältigung wurde schließlich eine Gedenktafel in ferfamilien. Ein weiterer Vorteil der intensiven Er- der Klinik angebracht, die aus den Ehrenbüsten innerungsarbeit ab 1987 betraf das Klinikpersonal Mahnmalbüsten machte, was die Chance bietet, insofern, als es die sogenannte Zweite Schuld in die notwendige Erinnerung wachzuhalten. Als der Nachkriegsära – durch Wegschauen, Verdrän- Quintessenz der gesamten 25-jährigen Rückschau gen und Verharmlosen der inhumanen Medizin im ergibt sich für mich für die I. UFK ein erweiterter „Dritten Reich“ und das Vergessen der zahlreichen Blickwinkel, der neben der „ersten großen Schuld“ Opfer – beenden konnte. Die anlässlich des 75-jäh- (1933–1945) eine „zweite Schuld“ (1945–1987) rigen Bestehens der „Maistraße“ in der Klinik erst- und eine „dritte Teil-Schuld“ (1987–2012) in der malig aufgezeigten konkreten Daten aus einer Dis- Verarbeitungszeit anzeigt. sertation von Robert Haselwarter1 über zahlreiche inhumane medizinische Eingriffe zwischen 1934 und 1937 führten zu einem Paukenschlag, der eine Die Rahmenbedingungen durchaus heilsame Wirkung hatte. Eine Ausnahme „ waren allerdings manche emotional gefärbten zu Beginn der Vergangenheits- Kommentare, die in den damaligen über 1000 bewältigung“ 1987 Zwangssterilisationen an der I. UFK mit zum Teil schwersten Komplikationen keinen Verrat an der Im August 1987 war Ordinariatswechsel an der ärztlichen Fürsorgepflicht erkennen konnten. Wie baulich besonders schönen und berühmten „Mai- sich zunehmend zeigte, gab es zahlreiche weitere straße“. Günther Kindermann, zuletzt Lehrstuhlin- haber an der Universitätsfrauenklinik Berlin-Char- 1 Haselwarter: Zusammenstellung (1939). lottenburg, hatte den Ruf nach München angenom-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 238 Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München men und Josef Zander in der Leitung der I. UFK ab- sistenten und Oberärzte) versuchte damals ihre gelöst. Dieser Führungswechsel brachte eine unru- Konflikte durch die Machteinbuße humorvoll mit hige Zeit mit sich. Es gab strukturelle Veränderun- einem Schuss Aggression abzuwehren: „Vorsicht – gen und neue Funktionsbereiche. Die Verteilung die Preußen kommen“, das war immer wieder von der Räume mit Eingliederung der zehn mitgebrach- ihnen zu hören. Auch mit einem „Theaterstück von ten Berliner Ärztinnen und Ärzte ging nicht immer den 10 kleinen Negerlein“ (gemeint waren die Ber- ohne Kompromisse vor sich. Kindermann kümmer- liner Ärztinnen und Ärzte, die immer weniger wer- te sich anfänglich besonders um eine gute Zusam- den sollten) brillierte die Münchner Ärztegruppe menarbeit mit verwandten medizinischen Fächern im großen Hörsaal. Ich, als einziger „Nichtpreuße“, wie der Chirurgie, der Anästhesiologie sowie der versuchte möglichst ausgleichend zu wirken, wie Inneren Medizin und engagierte sich dann zuneh- ich dies in der Gerechtigkeit suchenden 1968er mend in der operativen Gynäkologie. Meine Funk- Ära in Berlin positiv erlebt hatte. Außerdem war tionen als Leitender Oberarzt und C3-Professor ich ja gebürtiger Bayer aus der Oberpfalz, der 17 teilte ich anfangs brüderlich mit Jörg Baltzer, der Jahre in Berlin eine sehr kreative und erfolgreiche aber leider schon bald die Klinik verließ, um eine Zeit erlebt hatte. In der Leitungsfunktion half mir Chefarztstelle in Krefeld zu übernehmen. So erhielt meine Doppelausbildung als Gynäkologe und Ge- ich eine ganze Reihe zusätzlicher Funktionen mit burtshelfer einerseits sowie als Psychosomatiker großen Gestaltungsmöglichkeiten. Neben der Tä- und analytischer Psychotherapeut andererseits. tigkeit des Lehrbeauftragten engagierte ich mich besonders für bauliche Verbesserungen in der Kli- nik. Vor allem patientenorientierte Einrichtungen Schlüsselerlebnisse, die zu einer wie die Verkleinerung der 6–8-Bettzimmer, die „ Neueinrichtung einer Erwachsenen-Intensivstati- geschichtlichen Aufarbeitung on, die Schaffung einer Tagesklinik und einer Abtei- der I. UFK“ führten lung für Physiotherapie, die Neuausstattung der Kreißsäle, die Funktionsverbesserung der Operati- Im Unterschied zu der älteren Praxis legten die aus onssäle und die Sanierung des Hörsaals wurden Berlin kommenden Ärzte und Ärztinnen einen be- schnell in Angriff genommen. Kindermann unter- sonderen Schwerpunkt auf die Betreuung von Pa- stützte mich in allen Belangen, besonders auch im tientinnen mit psychosozialen Problemen, etwa Aufbau einer Abteilung für psychosomatische Ge- mit Sucht oder HIV, in der Schwangerschaft. Die burtshilfe und Gynäkologie, die ich nach dem Berli- „Maistraße“ galt ja traditionell als ein Krankenhaus ner Modell mit Sekretariat und psychologischem mit vielen Patientinnen aus gehobener, ja sogar Personal einrichten konnte. Diese Abteilung spielte oberer Schicht, was in Berlin entgegengesetzt ge- dann auch eine sehr wichtige Rolle bei der langdau- wesen war. Auch in der Lehre erlebte ich ein deut- ernden NS‑Vergangenheitsbewältigung, da dort lich distanzierteres Verhältnis zwischen Studieren- neben den psychosomatischen Sprechstunden die den und Hochschullehrern. Deshalb hielt ich auch Doktoranden- und Studentenseminare für die im Studentenunterricht mehr Kollegialität zwi- NS‑Thematik stattfanden. schen Lehrer und Schülern für wichtig. Und gerade diese Neuerung schien im folgenden Beispiel wirk- sam zu greifen. Atmosphäre im sich verändernden klinischen Alltag ab 1987

In den täglich zweimal stattfindenden Ärztebe- sprechungen spürte man deutlich das Aufeinander- treffen zweier unterschiedlicher Arbeitsstile. Eine stärker materiell interessierte Ärzteschaft aus München2 (mit auffälligem Interesse an Praxisver- 2 Diese Münchner Haltung war bereits dem damaligen tretungen, Privatpatientinnen und Alpenbesuchen) Marburger Ordinarius Carl Kaufmann aufgefallen. Er traf auf eine mehr sozial eingestellte Berliner Ärzte- hatte sie deshalb bei seinen Berufungsverhandlungen im Rahmen der Eymer-Nachfolge thematisiert. Siehe gruppe. Die zahlenmäßig deutlich überlegene hierzu Frobenius, Wiederbesetzungen, in diesem Münchner Ärzteschaft (ca. 40 wissenschaftliche As- Band.

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Betreffend die Lehre und Forschung – Lehrmittelsammlung

Als ein Student (sein Name war R. Holzbach) mich im Wintersemester 1988/89 in meiner Eigenschaft als Lehrbeauftragter fragte, ob denn im gynäkolo- gisch-geburtshilflichen Studentenkurs noch Filme aus dem „Dritten Reich“ gezeigt würden, wurde ich hellhörig. Wie sich zeigte, ging es im konkreten Fall um einen „Eklampsiefilm“, der eine hoch- schwangere Patientin mit tonisch-klonischem Krampfanfall ohne ärztliche Hilfestellung bei weg- gezogener Bettdecke präsentierte. Der Student nannte dies ein „Dokument menschenverachten- der Forschung und Lehre“. Es sei zu vermuten, dass die Patientin darauf vorbereitet worden war. Schließlich handle es sich um einen akuten Notfall, der mit großer Gefahr für Mutter und Kind einher- geht. In der Tat, es war ein „inhumaner Film“, ohne pflegerische und ärztliche Hilfestellung, routine- mäßig gezeigt im Praktikum bis 1988. Meine Rück- frage bei einigen Dozenten ergab, dass dieser Film tatsächlich ohne Hinweis auf die ethische Grenz- verletzung gezeigt wurde. Kurz entschlossen nahm ich ihn aus dem aktuellen Lehrprogramm und begann mit einer Überprüfung der gesamten umfangreichen Lehrmittelsammlung, die unter Abb. 15.1 Titelblatt des Kommentars zum Gesetz dem großen Hörsaal aufbewahrt wurde. Es ent- zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mit dem stand – auch dank der damaligen Vorlesungsassis- Hinweis auf den Beitrag Eymers. tentin Almut Paluka und der Medienhelfer – eine aktualisierte und zeitgerechte Dokumentation aller für die Vorlesungen und das Praktikum geeigneten Hilfsmittel.3 Mehrere ethisch problematische Un- alle drei mit den Büsten dargestellten Klinikchefs terlagen – vor allem auch die von Heinrich Eymer mehr oder weniger problematisch mit der Medizin aufgezeichneten Forschungsfilme über Sterilisati- des „Dritten Reiches“ verwoben waren – Albert Dö- onsmethoden – wurden aus dem Studentenunter- derlein (Klinikchef 1916–1933) durch seinen 1934 richt entfernt. publizierten Fachbeitrag in der ersten Auflage des Kommentarbandes zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ 1934, Werner Bicken- Betreffend die „Ehrenhalle der Klinik bach (1954–1969) als Hauptzwangssterilisator an mit Ehrenbüsten“ der Universitätsfrauenklinik Göttingen4 und Hein- rich Eymer (1934–1945 und 1948–1954) als Klinik- In der „Ehrenhalle der Klinik“ im ersten Stock vor direktor in der Hauptzeit der Zwangssterilisationen der Bibliothek standen drei Bronzebüsten mit den an der I. UFK München sowie als Verfasser des Namen Döderlein, Eymer und Bickenbach, aber Fachbeitrags zur zweiten Auflage des Kommentar- ohne Jahreszahlen. Da es solche Ehrenbezeugungen bandes zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken in unserer Berliner Klinik nicht gegeben hatte und Nachwuchses“ 1936 (Abbildung 15.1). hier keinerlei Zuordnung ersichtlich war, blieb dies Die mittlere Büste war nur locker am Marmor- für mich ein Phänomen mit Klärungsbedarf. Erst sockel befestigt und ließ sich leicht – wie öfter ge- nach Aufarbeitung der geschichtlichen Daten durch schehen – zur Wand drehen, gerade so, als stünde eine meiner Doktorandinnen wurde mir klar, dass

4 Koch: Zwangssterilisation (1993), S. 59. Siehe hierzu 3 VerfA: Paluka: Sichtung (1991). auch Frobenius, Ehre, in diesem Band.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 240 Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München auch die in ihr ausgedrückte Ehrung nicht fest. Ein eng mit den Vorstellungen und Wünschen des da- erster Blick in die 1987 erschienene Festschrift zum maligen Stararchitekten Theodor Kollmann, des 75. Geburtstag der Bayerischen Gesellschaft für Ge- Klinikchefs Albert Döderlein und auch des Königs burtshilfe und Frauenheilkunde von Josef Zander Ludwig III. (er wollte eine „frauenfreundliche Kli- und Fritz Zimmer zeigte, sie enthielt Biographien nik“ mit ersten Rooming-in-Möglichkeiten schaf- all dieser Klinikchefs – leider ohne näheren Hin- fen) zusammenhingen, finden sich u. a. in der „Zeit- weis auf die Zeit des „Dritten Reiches“, d. h. sie wa- schrift für Krankenanstalten“.6 Für die von uns ge- ren geschönt.5 Dies erlebte ich als besonders planten – denkmalpflegerisch abgesicherten – schweren Verstoß gegen die in der Nachkriegszeit Sanierungsmaßnahmen hatten wir dadurch gute so wichtige geschichtliche Aufarbeitung einer je- Voraussetzungen. den Universitätsklinik, ob gynäkologisch, psychi- atrisch, chirurgisch, urologisch oder pädiatrisch – vor allem wegen der heutigen und der zukünftigen Erste unerwartete und bisher nicht ethischen Herausforderungen in der Medizin. Um es vorwegzunehmen: Die letztlich erreichte Neuge- bekannte konkrete Daten zur staltung dieser Ehrenhalle im Jahr 2000 mit Ge- Krankenversorgung, Forschung denktafel und Mahnmalbüsten mit Jahreszahlen bietet seitdem die Chance für diese so wichtige Er- und Lehre an der I. UFK durch die innerungsarbeit. geschichtliche Aufarbeitung

In einer Dissertation, die sich mit dem Geschichts- verlauf der I. UFK von 1916 bis 1945 befasste, hat Entschluss zu einer umfangreichen mich meine Doktorandin Karolin Kettler schon wissenschaftlichen Aufarbeitung sehr früh mit mehreren unerwarteten Ergebnissen 7 der „Geschichte der I. UFK“ konfrontiert. So brachte sie mir die Dissertation aus dem „Dritten Reich“ von Robert Haselwarter8, die eine exakte Zusammenstellung von Zwangsste- Mit Hilfe von Doktoranden in Zusammen- rilisationen aus den Jahren 1934–1937 enthielt. Die „ arbeit mit der Medizingeschichte der aus eugenischen Gründen indizierten Zwangssteri- Universität“–bewusst noch vor ihrem lisationen wurden vor allem in den ersten Jahren 75. Geburtstag am 18. Dezember 1991 der Hitlerdiktatur vorgenommen. Hieraus wurde deutlich, dass diese damals nicht einfachen opera- Neben den oben dargestellten Aufgaben sahen wir tiven Eingriffe einen Großteil der gynäkologischen noch die Notwendigkeit einer damit verwobenen Klinikroutine ausmachten (ca. 25% in den Jahren Basisarbeit im Archiv der I. UFK. Unter dem Motto: 1935–1937). Der durchschnittliche Klinikaufent- „Archivgut ist Kulturgut“ machten wir uns an die halt lag bei diesen Operationen bei ca. drei Wochen ungepflegten Lager- und Archivräume im Keller und war mit den verschiedensten Komplikationen mit z. T. schimmelnden alten Krankenakten. Mit belastet, gelegentlich auch mit Todesfolge. Der da- Unterstützung des Universitätsbauamtes gelang malige Doktorand Haselwarter arbeitete jetzt mit die Schaffung von besser belüftbaren Räumen für uns als hilfreicher Zeitzeuge eng zusammen. Er be- das Archiv, so dass auch Doktoranden zumutbar richtete über schreckliche psychische Belastungen ein Studium früherer Patientinnen-Akten hier vor- für die Patientinnen im Hörsaal und in den großen nehmen konnten. Dies betraf besonders die Journa- Krankensälen. Es wurde auch häufig Gewalt durch le aus der NS‑Zeit, die dann in einem geeigneten Polizei und Pflegekräfte eingesetzt. Ende 1991 war Raum gelagert wurden und so auch für künftige ein erster Überblick zur Entwicklung von 1916– Generationen einsehbar sind. Von den Mitarbeitern 1945 zusammengestellt, so dass sich eine baldige des Universitätsbauamtes erhielt ich auch wertvol- Präsentation zum 75. Geburtstag der Klinik anbot. le Unterlagen zum Denkmalschutz der I. UFK. Wichtige Details zur Baugeschichte der I. UFK, die

5 Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987); hier: Zander, 6 Kollmann: Neubau (1918), S. 253–289. Josef: Döderlein, S. 50–55; Zimmer, Fritz: Bickenbach, 7 Kettler: Aspekte (1994). S. 81–84; Kaiser, Rolf: Eymer, S. 68–70. 8 Haselwarter: Zusammenstellung (1939).

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Zum Vortrag: „Weihnachten 1916 – Weihnachten 1991, 75 Jahre Maistraße“

König Ludwig III. eröffnete in der Weihnachtszeit 1916 – genau auf den Tag 75 Jahre vor der Klinik- weihnachtsfeier am 18. Dezember 1991 – die bau- lich eindrucksvolle I. Universitäts-Frauenklinik. Da keine eigene Feier für den 75. Geburtstag der Klinik geplant war, kam mir dieser Termin durchaus gele- gen für einen integrierten (Fest-)Vortrag. Ich sah darin sogar die Chance, ein interessiertes Audito- rium aus allen Tätigkeitsbereichen der Klinik an- sprechen zu können. Außerdem empfand ich die bisherigen Weihnachtsfeiern in der Maistraße mit ausgiebigen Ess- und Trinkgelagen sowie anschließ- enden Kneipengängen bis zum nächsten Morgen als wenig sensibel. Die Realität bitterer Wahrheiten aus der eigenen Geschichte wird zu jedem Termin schmerzlich sein. Deshalb erschien es mir besser, das in der Klinik bisher praktizierte Wegschauen und Ausblenden einer unethischen Medizin zu be- enden. Mutig sagte ich mir: „Die Wahrheit ist konkret“ und sie hat auch Priorität vor einem weih- nachtlichen Trinkgelage. Und so rückte der gemein- same Termin von Weihnachtsfeier und 75. Geburts- Abb. 15.2 Titelblatt der Dissertation von Haselwar- tag der Klinik mit viel Vorbereitungszeit für mich ter zu den Sterilisationen (1939). näher. Günther Kindermann war leider kurzfristig durch Krankheit verhindert, so dass ich als sein Ver- ter Dr. Winterstein […]. Es wimmelte nur so von treter neben meinem Vortrag im Programm „Weih- Prinzessinnen und Prinzen, Ministern und hohen nachten 1916 – Weihnachten 1991–75 Jahre Mai- Beamten.“9 straße“ auch seine Begrüßungs- und Dankesrede Dann präsentierte ich eine Serie von alten Fotos übernehmen musste. Ich tat dies tapfer, aber durch- und kurzen Stummfilmen, die die klinische Arbeit aus mit gemischten Gefühlen. in der Geburtshilfe und auf gynäkologischen Statio- Am 18. Dezember 1991 nachmittags um 17 Uhr nen um 1920 zeigten. Die Stimmung im Hörsaal füllte sich der große Hörsaal schnell mit festlich ge- war wegen der sehr originellen Aufnahmen aus kleideten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller dem Archiv aufgeheitert bis lustig. Bereiche der Klinik, einschließlich der Verwaltung und einiger Gäste. Es war bereits ein großes Buffet mit vielen Speisen, Wein, Bier, Stollen und Plätz- Einige wenige konkrete Daten chen für die Zeit nach der Weihnachtsfeier am zur NS‑Geschichte der Klinik wirkten großen Gang vor dem Hörsaal aufgebaut. Nach ei- dann aber wie ein Paukenschlag ner einleitenden Orchestermusik und einer kurzen Begrüßungsrede begann ich meinen schriftlich gut Nach dem ersten Teil der Klinikgeschichte wurde es vorbereiteten „Festvortrag“ zum 75. Geburtstag der ruhiger, als ich vorsichtig eine finstere Zeit ankün- I. UFK. Zuerst zitierte ich einen Zeitungsausschnitt digte, die jeder Klinikangehörige – wie ich ausführ- von 1916 mit König Ludwig III. hier im großen Hör- te – auch kennen sollte bzw. nicht vergessen dürfe. saal der Klinik, der genau den Geburtstag der Klinik Ich illustrierte dies mit einigen Dias aus der Doktor- betraf. Das erregte Aufmerksamkeit: arbeit von Haselwarter10 (Abbildungen 15.2 und „Gegen 10 Uhr fuhren der König und die Königin mit Gefolge vor dem großen Portale des Neubaues 9 Münchner Neueste Nachrichten 644, 1916, S. 3. an der Maistraße vor, empfangen von Kulturminis- 10 Haselwarter: Zusammenstellung (1939).

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Abb. 15.3 Tabelle aus der Dissertation Haselwarters.

15.3), was in der Tat zu absoluter Stille im Hörsaal Wahrheit wachgerüttelt und es war klar, dass es führte. Die Darstellung der Maistraße als Schwer- nach einigen Turbulenzen zu einem langen Verar- punktklinik für Zwangssterilisationen – es wurde beitungsprozess kommen würde, der aber geleistet ein Überblick zu 861 operativen Zwangseingriffen werden muss. (Sterilisationen und Schwangerschaftsabbrüchen) Am Ende meines Vortrages gab es trotz der be- mit Komplikationsangaben und vereinzelten To- lastenden Neuigkeiten erstaunlich starken Applaus desfällen gezeigt. Anschließend kamen das Thema und ein insgesamt positives Echo. Ich spürte aber der Ehrenbüsten und die Verstrickung der darge- auch die ablehnende Haltung bei einigen älteren stellten Klinikchefs mit der inhumanen Medizin Kollegen, die sich z.T. als frühere Ärzte im Ruhe- zur Sprache. Dies alles stellte offenbar Neuland für stand unter den Gästen befanden. Und da es sich nahezu alle Anwesenden dar. Die Stimmung war bei den angesprochenen Klinikrealitäten auch um nach diesem Paukenschlag beklemmend, wurde Fragen von Schuld und Verantwortung handelte, doch die „Maistraße“ bisher stets nur idealisiert begann ein emotionaler Diskussionsprozess zuerst dargestellt oder mit einer weißen Weste gesehen. in der Ärztebesprechung und dann durch zwei offe- In dieser Situation war es für mich nicht ganz ne Briefe, die in dieser Publikation wegen des groß- leicht, zur Tagesordnung überzugehen und die en Umfanges jeweils um ca. die Hälfte gekürzt wer- neueren Entwicklungen nach 1945 zu schildern. den. Ihre zentralen Aussagen und ihr emotionaler Mit der unerwarteten historischen Tatsachenfest- Sprengstoff kommen aber zum Ausdruck. Der erste stellung war eine Situation geschaffen worden, die Brief war vom Laborleiter der Klinik, Erich Kuss11, das bisherige Wegschauen und Verdrängen in Fra- der interessanterweise selbst nicht auf der Weih- ge stellte oder sogar anklagte. Die Klinikangestell- nachtsfeier war, aber von einigen Oberärzten infor- ten wurden durch eine verschwiegene konkrete

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München 243 miert wurde. Der Antwortbrief von mir kam dann nandersetzung mit der Anklage nicht eingeräumt einige Wochen später. worden war. […]. Ich wandte mich gegen die Selbstgefälligkeit in der heutzutage billig erhältlichen Verurteilung der in der Vergangenheit „nach ihren Normen und Öffentlicher Brief an die Mit- nicht nach unserer Weisheit“ Handelnden […]. Im arbeiterinnen und Mitarbeiter der vorliegenden Fall war es die kraft Amtes maßgebli- che Beteiligung Eymers an der zeitgemäßen, nicht I. UFK von Prof. Kuss zum Thema zwingend NS‑abhängigen, Sterilisation „Erbkran- „NS‑Medizin in der Maistraße“ ker“. Diese erfolgte auf der Grundlage des weitge- hend gebilligten „Gesetzes zur Verhütung erbkran- Abs.: Prof. Dr. Dr. Erich Kuss 23.12. 1991 ken Nachwuchses“ nach Beschluss von Erbgesund- heitsgerichten. […]. Eymer handelte legal und nach Liebe Kolleginnen und Kollegen, ethischen Werten, die von der Gesellschaft seiner Zeit weitgehend akzeptiert waren, allerdings nach nachdem ich in der Klinikbesprechung wissenschaftlichen Kenntnissen, die sich nach heu- am 21. Dezember den Vortrag tigem Stand der Humangenetik als defizitär erwie- sen haben. […]. Weihnachten 1916 – Weihnachten 1991, Zur wissenschaftlich defizitären Grundlage der 75 Jahre „Maistraße“– Eugenik: Die Eugenik der zwanziger und dreißiger Jahre war ähnlich schwach fundiert wie es heute diskutiert hatte, wurde ich als „Ewiggestriger“ ein- noch z.B. Psychotherapie und Psychosomatik sind. geordnet. Damit Sie nachweislich erkennen kön- Auch die radikale Operation und die aggressive nen, was als „Ewiggestrig“ bezeichnet wurde, prä- Chemotherapie der Krebspatienten und vieles an- zisiere und fixiere ich meinen Diskussionsbeitrag dere von dem, was Ärzte heute und hier mehr wie folgt. oder weniger unreflektiert ordinieren, ist nicht Ich distanzierte mich von der Form der öffentli- über jeden Zweifel erhaben. […]. chen Verurteilung des ehemaligen Direktors unse- Ich wünsche Ihnen eine akademische Atmo- rer Klinik, Professor Dr. H. Eymer. Die Verurteilung, sphäre, die Bedingung der Möglichkeit für For- die, zumindest nachträglich, auch vom jetzigen Di- schung, Lehre und ärztliche Tätigkeit in Skepsis, rektor dieser Klinik ausdrücklich gebilligt worden Selbstdisziplin und Freiheit, die zu schaffen und zu ist, hatte ihren spezifischen Ausdruck darin gefun- gewähren Weihnachten 1991 zu den Rechten und den, dass im Rahmen der Adventsfeier dieser Klinik Pflichten der Universität und somit zu den Aufga- das Bild des zur Wand umgedrehten Kopfes des ben ihrer Professoren und Doktoren gehört. ehemaligen Direktors dieser Klinik gezeigt wurde. Den Begleittext, u.a. die Begründung dieser Positi- [Unterschrift: Prof. Kuss]12 on, sprach nicht irgendwer, sondern der Leitende Oberarzt dieser Klinik. Dieser Brief – hier in gekürzter Form – von Prof. Ich richtete meine Aussagen gegen den Inhalt Kuss wurde in die Postfächer verteilt und hing des Vortrages, soweit er die undifferenzierte Ankla- auch am Anschlagbrett des Ärztecasinos. Das ge- ge und Verurteilung eines Mannes betraf, der in der samte Klinikpersonal hatte also die Möglichkeit, Zeit des Nationalsozialismus Direktor der I. Frauen- die vorgebrachten Argumente im kleinen oder klinik der Universität in der „Hauptstadt der Bewe- größeren Kreis zu durchdenken und zu diskutieren. gung“ war und auch in der Zeit danach. Undifferen- Viele der Ärzte sprachen mich auf den entstande- ziert deswegen, weil Anklage und Verurteilung von nen Konflikt an. Ich teilte ihnen daraufhin meine einer unabgeschlossenen Doktorarbeit eines Laien Absicht mit, nach einer Denkpause einen Antwort- der Medizinhistorik abgeleitet worden waren und brief in ähnlicher Weise öffentlich zu machen. Dies weil die Möglichkeit der argumentativen Ausei- 12 VerfA: Kuss: Brief (1991). Die eckigen Klammern kennzeichnen Auslassungen im Rahmen der vom Au- 11 Für den Namen von Erich Kuss finden sich – offenbar tor vorgenommenen Kürzungen. Ferner sind von von ihm toleriert – unterschiedliche Schreibweisen Kuss zur Untermauerung bestimmter Aussagen bzw. (ss und β). Dies gilt für Veröffentlichungen ebenso Standpunkte angeführte Literaturzitate weggelassen wie für den klinikinternen Gebrauch. worden.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 244 Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München geschah dann im Februar 1992. Auch dieser Brief LMU München gesucht und hieraus weitere Doku- gelangte in alle Postfächer sowie an das Anschlag- mente erhalten. brett des Casinos. In Ihrem Brief greifen Sie wiederholt den Leiten- den Oberarzt dieser Klinik an, nennen aber seinen Namen nicht. Ich heiße Manfred Stauber und stehe Öffentlicher Antwortbrief an die zu jedem Punkt meines Vortrages, der – wie Sie wiederholt bestätigt erfuhren – von schätzungs- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weise 9/10 der ca. 200 Zuhörer akzeptiert wurde. der I. UFK von Prof. Stauber zum In der Klinikbesprechung unmittelbar nach mei- „ ‑ nem Vortrag zum 75. Geburtstag der I. UFK haben Thema NS Medizin in der Sie Herrn Professor Kindermann nach seiner Ein- Maistraße“ stellung zu den Zwangssterilisationen befragt, die unter dem Rektorat von Professor Eymer vorge- Abs.: Prof. Dr. M. Stauber München, 22. Febr.1992 nommen wurden. Prof. Kindermann hat dabei mei- ne Ausführungen ausdrücklich gebilligt und auch Sehr geehrter Herr Kuss, bestätigt, dass seiner Meinung nach der Direktor einer Klinik für die Richtlinien und Indikationen Sie haben sich in einem Brief an alle Kolleginnen eine Gesamtverantwortung trägt. Dies ändert und Kollegen der I. Universitäts-Frauenklinik Mün- nichts daran, dass auch noch andere Ärzte, z.B. chen gewandt, der meinen Vortrag zum 75. Ge- Prof. Rech, Prof. Dietel oder Dr. Ihm als Ärzte an burtstag dieser Klinik am 18. Dezember 1991 zum der I. UFK, in dieser Zeit tätig waren. Inhalt hatte. Die Argumente, die sowohl Sie als auch Herr Ich darf Ihnen heute meine Antwort darauf ge- Brusis im Zusammenhang mit der inhumanen Me- ben, obwohl ich weiß, dass Sie diesen Vortrag selbst dizin in der nationalsozialistischen Zeit hervorge- nicht gehört haben und Ihre Informationen aus bracht haben, erweckten in mir Betroffenheit, ja zweiter Hand kommen. Aufgrund der Folgediskus- noch schlimmer, ich war erschüttert über eine der- sionen war deutlich zu erkennen, dass Sie gemein- artige Sensibilitätsverarmung. Die Bagatellisierung sam mit Herrn Professor Brusis Kritik an meinen und Legalisierung der damaligen Vorgänge an der Ausführungen übten, die ich als erschreckende Ba- I. UFK deutete mir an, dass bisher keine ausreichen- gatellisierung der Geschehnisse im Dritten Reich de Bewältigung dieser Zeit erfolgt ist. So war ich auf verstanden habe. Die wesentlichen Punkte hierzu der anderen Seite auch froh, nicht wie in früheren darf ich schriftlich fixieren: Berichten über die I. UFK schweigend über diese Bei meinem Überblick über die 75-jährige Ge- Zeit hinweggegangen zu sein. Erschreckend erlebte schichte dieser bedeutenden und großen deut- ich deshalb Ihre Ausführungen, Herr Kuss, in einem schen Universitäts-Frauenklinik in der Maistraße öffentlichen Brief an alle Kolleginnen und Kollegen habe ich die Zeit zwischen 1933 und 1945 als der Klinik, wo Sie versuchten, mit viel „Wissen- schwierig beschrieben und hierzu eine Statistik ei- schaftlichkeit“ zu untermauern: Eymer handelte ner Original-Doktorarbeit gezeigt, die 861 Zwangs- somit legal und nach ethischen Werten, die von sterilisationen beinhaltet, die unter dem Rektorat der Gesellschaft seiner Zeit weitgehend akzeptiert von Professor Eymer publiziert wurde. Der Inhalt waren. dieser sachlichen Mitteilung war anscheinend neu Ihre späteren Ausführungen, in denen Sie erneut für viele Kolleginnen und Kollegen – ich wollte ihn die Legalität der damaligen Zwangssterilisationen aber auf keinen Fall bei einem Überblick über die akzentuierten, führten bei einer Reihe von jünge- Geschichte unter den Tisch fallen lassen. Wenn Sie ren Kolleginnen und Kollegen zur Diskussion über in Ihrem Brief meine jetzige Doktorandin – Frau den Stellenwert von Legalität und Recht – heute Tzelepes (jetzt Kettler) – angreifen, so möchte ich und in der damaligen Zeit. Zunehmend erkannten entgegenhalten, dass diese Kollegin wichtige Doku- mehrere dieser Ärzte, dass eine Missachtung mente zum Verständnis der Geschichte dieser Kli- grundlegender Menschenrechte einfach nicht lega- nik über die Archive der Universität, der Stadt lisierbar sein kann. […]. München und der I. UFK selbst geliefert hat. Sie hat [Als ein gutes Beispiel für eine gelungene Verar- auch auf meine Anregung hin die Zusammenarbeit beitung und Vergangenheitsbewältigung wird nun mit dem Institut für Geschichte der Medizin der im Brief die Familie von Weizsäcker angeführt, MS]: So war der Vater von Richard und Carl-Friedrich

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München 245 von Weizsäcker – der Diplomat Ernst von Weizsä- schüttelnden Bewegungen – wiederholt klarzuma- cker – in die Lösung der europäischen Judenfrage chen, dass nicht Eymer der Schuldige sei, sondern zum Teil problematisch involviert. Durch die aktive der damalige Assistent und NS‑Aktivist Karl Ihm. Auseinandersetzung, das Erinnern, die kritische Ohne primär reagieren zu können, befreite ich Aufarbeitung und den wiederholten Versuch der mich nach kurzer Zeit aus der Zwangshaltung und Bewältigung gelang es dem jetzigen Bundespräsi- teilte Brusis dann relativ ruhig mit, dass primär denten und dem bekannten Physiker und Friedens- der Klinikdirektor oder sein Vertreter für OP‑Indi- forscher, Wege aufzuzeigen, die als beispielhaft gel- kationen und geschäftsführende Anordnungen ver- ten können. […]. antwortlich sei, auch z.B. für über tausend Zwangs- [Zum Schluss greife ich den letzten Kussschen Satz sterilisationen und z.T. assoziierte Zwangsabrup- seines öffentlichen Briefes auf, wo er wie in eine Uni- tiones, die ja die Gefahr schwerer Komplikationen form gegossen „Selbstdisziplin und Pflichtbewusst- bis hin zur Todesfolge beinhalteten. Brusis hatte sein“ idealisiert. Meine Antwort darauf lautet:] Ich außer seiner sichtbaren Emotionalität kein Gegen- vermisse dabei einfach die Bereitschaft der Einfüh- argument. Ich sagte ihm dann, dass „die Wahrheit lung, der Flexibilität und der Kreativität. Auch Ihre konkret ist“ und verwies ihn auf die klaren Statisti- Geringschätzung der wissenschaftlichen Grundla- ken der Doktorarbeit von Haselwarter sowie auf die ge von Bereichen wie der aggressiven Chemothera- Ausführungen in der Doktorarbeit von Kettler.14 pie, der radikalen Operation oder der Psychosoma- Letztere könne ihm auch Eymers schriftliche Indi- tik spricht dafür, dass Sie auch in Zukunft eine indi- kation zur Zwangssterilisation mit dem gleichzeiti- vidualisierte Medizin, die natürlich auch das gen Hitlergruß zeigen. (Übrigens, Herr Brusis hat Feingefühl der Ärztin/des Arztes verlangt und nicht sich nie für diesen tätlichen Übergriff entschuldigt. nur auf Statistiken beruhen kann, nicht zulassen Ich konnte aber damit leben, da es gelang, in der wollen. Aber gerade eine solche, auch in Zukunft weiteren klinischen Arbeit ohne nennenswerte praktizierte Medizin ist patientenorientiert und Emotionen zur Tagesordnung überzugehen.) Die hat meiner Meinung nach aus der uniformierten, Versuche von Kuss und Brusis sowie einigen älteren inhumanen Medizin des Dritten Reiches sinnvolle früheren Klinikärzten – zum Teil noch unter Eymer Konsequenzen gezogen. – das Maistraßennest sauber zu halten, parierte ich mit der Feststellung des bekannten Münchner Psy- [Unterschrift: Prof. Stauber]13 chosomatikers Gerhard Haselbacher, wonach es hier nichts zum Sauberhalten gebe, da ja das Nest bereits schmutzig sei. Gleichzeitig verwies ich auf die Publikation von Emotionale Auseinandersetzungen Eymer im Kommentar zum „Gesetz zur Verhütung in der Klinik über die inhumane erbkranken Nachwuchses“15, die dort nicht veröf- Medizin im „Dritten Reich“, die fentlicht worden wäre, wenn er Bedenken gegen das Gesetz geäußert hätte. Im Gegenteil: Unter Ey- zum 75. Geburtstag der Klinik mers Leitung wurde die I. UFK zu einer Schwer- öffentlich verbalisiert wurden punktklinik für Zwangssterilisationen und Zwangs- abtreibungen.16 Es gab dort zudem schädigende Auch nach meinem Brief erhielt ich – ähnlich wie Forschungen zur Strahlensterilisation. Eymer be- nach dem „Weihnachtsvortrag“–von der großen fasste sich auch gemeinsam mit Rüdin im Reichsge- Mehrheit ein positives Echo, was mir Mut für die sundheitsamt mit solchen Projekten.17 Auch Dok- bevorstehenden weiteren Auseinandersetzungen torarbeiten wurden in Eymers Klinik zu diesem machte. Besonders auffällig und aggressiv war die Thema vergeben.18 Reaktion des erwähnten älteren Münchner Ober- arztes Ernst Brusis, der eng mit Erich Kuss zusam- menarbeitete. In seiner betont bayerischen, ja derb hemdsärmeligen Art fasste er mich am Kittel, zog 14 Haselwarter: Zusammenstellung (1939); Kettler: mich ein Stück zu sich und versuchte mir – mit Aspekte (1994). 15 Eymer: Eingriffe (1936). 16 UnifrauenA M: Eymer: Schriftverkehr (1939). 13 VerfA: Stauber: Antwortbrief (1992). Auch hier mar- 17 Weber: Rüdin (1993), S. 218–220. kieren die eckigen Klammern Auslassungen bzw. Er- 18 Weist: Untersuchungen (1937); Mußmann: Beiträge klärungen des Autors. (1938).

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• Nach dem Klinikvortrag und die Zusammenarbeit mit universitären und wis- senschaftlichen Instituten sowie Gesellschaften, den öffentlichen Briefen werden die das NS‑Thema diskutieren wollten, z.B. die weitere Schritte für eine umfang- Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG), die reiche Vergangenheitsbewältigung International Society of Psychosomatic Obste- vorgenommen trics and Gynaecology (ISPOG), die Fédération Internationale de Gynécologie et d'Obstétrique Die wichtigsten dabei waren: (FIGO), die Deutsche Gesellschaft für Gynäkolo- • eine Fragebogenaktion bei den deutschen Uni- gie und Geburtshilfe (DGGG) versitätsfrauenkliniken über die Erfahrungen in • die spätere ergänzende außerklinische Zusam- ihrer Klinik mit der NS‑Medizin menarbeit mit bayerischen Archiven (z.B. Nürn- • eine Zeitzeugensuche (führte zu aufschlussrei- berg, Hof, Regensburg, Amberg) zur Gewinnung chen Interviews mit früheren Ärzten, Schwes- von Vergleichsdaten. tern und Patientinnen) • die Durchführung von Seminaren mit Studenten und Doktoranden über viele Jahre bis 2012 (da- Erste öffentliche wissenschaftliche bei auch wissenschaftliche Vorträge zur T4-Ak- „ tion und Zwangssterilisation sowie zu inhuma- Sitzung zum Thema Gynäkologie ner Lehre und Forschung unter Einbeziehung und Geburtshilfe im National- vieler Autoren: z.B. Ernst Haeckel, Francis Gal- sozialismus“ auf der Tagung der ton, Alfred Plötz, Karl Binding und Alfred Hoche, Ernst Ritter von Seuffert, Alexander Mitscher- Deutschen Gesellschaft für lich und Fred Mielke, Gerrit Hohendorf, Sieg- Psychosomatische Geburtshilfe fried Tapfer, Rolf Kaiser, Andreas Tandler- und Gynäkologie (DGPGG) an Schneider, Gunther Link, Andreas Heusler, Mi- chael H. Kater, Norbert Moissl usw.)19 der Charité in Berlin 1993 • Exkursionen mit Studenten und Assistenten (z.B. nach Dachau, Kaufbeuren, Auschwitz, Es war der Vorschlag von Heribert Kentenich, da- Nürnberg, Hartheim und andere Orte sowie ge- mals Gynäkologe und Psychosomatiker an der Uni- legentlich Vorträge eigener Ergebnisse z.B. beim versitätsfrauenklinik in Berlin-Charlottenburg, die IPPNW‑Kongress in Nürnberg)20 inzwischen bekannt gewordene NS‑Aufarbeitung • die enge Zusammenarbeit mit dem Bund der an der Münchner I. UFK zum Hauptthema des Jah- Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisier- reskongresses der Deutschen Gesellschaft für Psy- ten e.V. Detmold (Die Vorsitzende, Klara No- chosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie zu wak21, besuchte unsere Arbeitsgruppe wieder- machen. Er ermöglichte mir die Zusammenstellung holt, erbat Gutachten für weibliche und männli- einer wissenschaftlichen Sitzung mit renommier- che Zwangssterilisierte, um eine schnelle ten Fachleuten. Ich tat dies besonders gerne, da ich finanzielle Wiedergutmachung zu erreichen. diese Gesellschaft in Deutschland mitbegründet Außerdem erhielten wir von dort Adressen von habe und mehrere Jahre ihr Präsident gewesen Kontaktleuten bzw. Kontaktstellen für Wieder- bin. Die dort vorgetragenen Beiträge führten zu ei- gutmachungsanträge, z.B. Oberfinanzdirektion ner außerordentlich substantiellen Sitzung. Sie München, Bundesfinanzministerium Bonn) wurden im Tagungsband 1993/94 im Springer-Ver- lag publiziert.22 Beteiligt waren Margarete Mit- 19 Haeckel: Schöpfungslehre (1868); Galton: Eugenics scherlich-Nielsen, Almuth Sellschopp, Rolf Winau, (1905); Plötz: Tüchtigkeit (1895); Binding; Hoche: Paul Franke und ich.23 Es folgte damals nach den Freigabe (1920); Ritter von Seuffert: Hebammen- schule (1925); Mitscherlich; Mielke: Medizin (1949); Vorträgen eine intensive Diskussion, die mich er- Hohendorf; Magull-Seltenreich: Medizin (1990); Tapfer: Eymer (1965); Kaiser: Eymer (1983); Tand- 22 Kentenich; Rauchfuß; Diederichs: Gynäkologie ler-Schneider: Geburtshilfe (1995); Link: Zwangsste- (1994). rilisationen (1999); Heusler: Ausländereinsatz 23 Mitscherlich-Nielsen: Unfähigkeit (1994); Sell- (1996); Kater: Ärzte (2002); Moissl: Aspekte (2005). schopp: Gynäkologie (1994); Sellschopp: Ergebnisse 20 Stauber: Medizin (1996). (1997); Winau: Gynäkologie (1994); Franke: Wider- 21 Nowak: Broschüre (1998). VerfA: Bund (2000). spiegelung (1994); Stauber: Gynäkologie (1994).

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München 247 mutigte, weitere Aufarbeitungsschritte einzuleiten. „ Auch Kindermann nahm an dieser Sitzung teil und Die öffentliche späte Entschuldi- brachte für die weitere Aufarbeitung an der I. UFK gung“ auf dem 50. Kongress der eine Reihe von Vorschlägen ein. Dazu zählte die Deutschen Gesellschaft für Gynä- Vorbereitung einer gemeinsamen Publikation in der Zeitschrift „Geburtshilfe und Gynäkologie“.24 kologie und Geburtshilfe (DGGG) Diese Publikation fand in der Kollegenschaft große am 25. August 1994 in der Aula der Resonanz. Allerdings war die Thematik in der Schriftleitung vorher verzögernd lange diskutiert Ludwig-Maximilians-Universität worden. Die Reaktionen in Leserbriefen gestalteten München sich überwiegend positiv, obwohl es auch verein- zelt erboste Reaktionen aus Münchner Kreisen Ein besonders wichtiger Aspekt in unserer Aufar- gab, deren Vertretern es anscheinend um die „Ret- beitung des NS‑Themas für die Klinik und die deut- tung der Väter“ bzw. um eine Bagatellisierung der sche Gynäkologie war ein Vortrag mit dem Ziel ei- Ereignisse an der I. UFK ging. Die Stellungnahme ner „öffentlichen späten Entschuldigung“ auf dem von Kuss dazu passte in die Rubrik der „Ewig-Gest- 50. Deutschen Gynäkologenkongress in München. rigen“ und rief mehrere kritische bis wütende Ge- Er fand in der großen Aula der Ludwig-Maximili- genreaktionen hervor.25 ans-Universität statt. Hermann Hepp hatte als Kon- Ein Kollege – Dr. Benedix – erregte damals mit gresspräsident das NS‑Thema schon früh in sein mehreren Schreiben großes Aufsehen, da er wegen Programm aufgenommen und bat mich über Herrn der Kussschen Publikation die Zeitschrift „Geburts- Kindermann, den Vortrag zum Thema „Gynäkolo- hilfe und Gynäkologie“ abbestellen wollte. Er gie und Nationalsozialismus“ zu übernehmen. Er schrieb an den Verlag: „Man kann doch heute – suchte speziell für dieses schwierige Thema einen nach den Erfahrungen mit dem Dritten Reich – festlichen Rahmen, da auch frühere Opfer von nicht mehr so argumentieren, wie Kuss dies in aller Zwangssterilisationen eingeladen waren. Parallel- Öffentlichkeit tut“. Der Verlag reagierte salomo- veranstaltungen waren nicht vorgesehen, um mög- nisch mit dem Hinweis, dass ihm der Beitrag von lichst vielen Kolleginnen und Kollegen die Mög- Kuss auch Bauchschmerzen bereite, er ihn aber im lichkeit zur Teilnahme zu geben. Zuerst dachte er Sinne einer notwendigen Diskussion habe zulassen als günstigsten Veranstaltungsort direkt an die Ein- müssen. Die Mehrzahl der Briefe zeigte unterstüt- gangshalle des zentralen LMU‑Gebäudes mit dem zende Tendenzen für die kritische Aufarbeitung Sophie-Scholl-Mahnmal, entschied sich aber dann der NS‑Medizin. So wandte sich Herwig Egger, Eh- für die große Aula mit einer passenden Musikum- renmitglied der BGGF, in einem Brief direkt an Kuss rahmung. und die in die Diskussion involvierten Professoren. In den Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft Er kritisierte dabei u. a. die von Kuss vertretene An- für Gynäkologie und Geburtshilfe kündigte Hepp sicht, der Artikel Eymers über Sterilisationstechni- im „Frauenarzt“ dieses Spezialreferat als Kristallisa- ken im Kommentar zum „Gesetz zur Verhütung tionspunkt an. Er führte dazu aus: „Das Referat ‚Gy- erbkranken Nachwuchses“ habe zur Erhöhung der näkologie und Nationalsozialismus oder: die späte Sicherheit des Eingriffs beigetragen, weshalb „ein Entschuldigung‘ soll anlässlich dieses 50. Kongres- Teil der heute zur, späten Entschuldigungʼ herange- ses die Zeit der Verdrängung und des Verschwei- zogenen Frauen just diesem Artikel ihr Leben zu gens unserer belasteten Vergangenheit beenden; verdanken haben.“ Egger schrieb weiter: „Danach unser Bekenntnis soll die notwendige Sensibilität meinen Sie gar, Eymer sei eher zu loben. Da wird für das Mögliche in uns steigern. Wir sprechen mir kalt.“ Wichtig an der Arbeit von Kindermann eine ‚späte Entschuldigung‘ darüber aus, dass wir und Stauber sei, das Thema ins Bewusstsein der Öf- über fünf Jahrzehnte das zugefügte körperliche fentlichkeit gerückt und damit zur Umsetzung des und seelische Leid nicht thematisiert haben und Bundestagsbeschlusses zur Entschädigung der Op- nicht auf die leidenden Frauen zugegangen sind. fer sowie zu ihrer erneuten Annahme als gleichbe- Ich bitte Sie, diese Stunde der Besinnung mit an- rechtigte Mitmenschen beigetragen zu haben. Dies sei in den Jahren zuvor nicht geschehen.26 26 VerfA: Herwig Egger: Briefliche Stellungnahme zum Artikel von Kuss in „Geburtshilfe und Frauenheilkun- de“ (20. 7.1995). Das Schreiben ging außer an Kuss 24 Stauber; Kindermann: Praktiken (1994). persönlich auch an mehrere andere involvierte Pro- 25 Kuss: Praktiken (1995). fessoren.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 248 Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München schließendem kurzen Konzert am 25. 8.1994, 18.00 ihre Namen ohne Kommentar in Kongresspro- gemeinsam zu erfahren.“27 grammen erscheinen. Dieses Thema ist heute noch Bei der Einführung für diese abendliche Festsit- aktuell. Das zeigte z.B. 2011 die Erlanger Tagung zung war der Kongresspräsident Hepp sichtlich be- der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und wegt. Nach seiner Begrüßung der Gäste in der voll Frauenheilkunde, auf der hierüber eine engagierte besetzten Aula sagte er: „Dies ist eine besondere Diskussion erfolgte.28 Stunde in der Geschichte unserer wissenschaftli- chen Gesellschaft und deren 50. Kongress.“ Er führ- te dann unter anderem nochmals aus, „dass es un- Positive Reaktionen der Presse auf die ser zentrales Anliegen anlässlich dieses 50. Kon- „öffentliche späte Entschuldigung“ gresses der DGGG ist, zu bekennen und eine ‚späte‘ Entschuldigung darüber auszusprechen, dass wir Zahlreiche Zeitungen kommentierten auffällig ein- im Prozess des Verdrängens über fünf Jahrzehnte fühlsam die auf dem Deutschen Gynäkologenkon- das von uns bewirkte körperliche und seelische gress vorgenommene „späte Entschuldigung“ bei Leid nicht thematisiert haben und nicht auf die lei- den Opfern der inhumanen Medizin im „Dritten denden Frauen zugegangen sind.“ Reich“.Die„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ wid- Es folgte dann mein Vortrag, bei dem ich zuerst mete diesem Thema unter der Überschrift: „Kaum die in der ersten Reihe der Aula sitzenden Frauen, fassbare ärztliche Inhumanität – Die deutschen Gy- die im „Dritten Reich“ an der I. Universitäts-Frauen- näkologen entschuldigen sich bei den Opfern des klinik zwangssterilisiert wurden, besonders herz- Nationalsozialismus“ einen ausführlichen Bericht. lich willkommen hieß und mich dafür bedankte, Margot Behrends schildert hier die gedrückte Stim- dass sie dieser Veranstaltung beiwohnten. „Sie ste- mung in der Aula der Universität, die am Ende in hen für uns auch symbolisch für die vielen damals Erleichterung mit stürmischem Applaus überging, gegen ihren Willen sterilisierten Frauen, die nicht da das auf allen lastende Tabu endlich gebrochen anwesend sein können.“ Ausgehend von konkreten war.29 Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete eben- Zahlen der NS‑Medizin in Deutschland wurde dann so ausgiebig vom 50. Deutschen Gynäkologenkon- ein Überblick über die Daten gegeben, die an der gress und der öffentlich in einer Festsitzung vorge- I. UFK in den Jahren zuvor in Archivforschungen er- nommenen „späten Entschuldigung“. Lilo Berg be- mittelt worden waren. Der Schwerpunkt lag aber schreibt dabei die Zuhörer als ergriffen und bewusst – auch wegen der anwesenden Opfer – beschämt.30 Und in der Tat bewirkten nach meiner auf der öffentlichen „späten Entschuldigung“,die Einschätzung die zwangssterilisierten früheren Pa- symbolisch an alle Zwangssterilisierten und ihre tientinnen der I. UFK in der ersten Reihe des Fest- Familien gerichtet war, um deren Würde wieder saales, die viele andere bereits verstorbene Patien- herzustellen. tinnen vertraten, eine anrührende Atmosphäre. Der schwierige Umgang mit der Schuld bzw. den Tätern konnte im weiteren Verlauf des Vortrags ohne gezielte Schuldzuweisung thematisiert wer- den. Hier kam auch das für den Einstieg in dieses Diskussion über die Verantwort- Thema oft diskutierte Wort der „Verurteilungsabs- lichkeit der inhumanen Praktiken tinenz“ zum Tragen, da wir alle nicht wissen, wie wir selbst in der damaligen Zeit reagiert hätten. in Krankenversorgung, Forschung Nach einem mehrjährigen tiefen Einblick in die und Lehre an der I. UFK München Motivation und das Verhalten der Verantwortli- chen führt aber kein Weg an einer Bewertung der Auch nach der ergreifenden Sitzung „Gynäkologie Taten vorbei. Das ist besonders wichtig für die jün- und Nationalsozialismus“ auf dem 50. Kongress geren Generationen, die Schaden an falschen Vor- der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und bildern nehmen würden. So erkennt man eine Geburtshilfe gingen die Diskussionen an der I. UFK „zweite Schuld“ darin, dass die Verantwortlichen in München speziell über die Verantwortlichen der inhumanen Medizin mit Ehrenbüsten und Bun- desverdienstkreuzen belobigt und Ehrenmitglieder 28 Bayer: Gemeinsame Tagung (2011), S. 622–623. Siehe ‑ wissenschaftlicher Gesellschaften wurden, wobei dazu ferner in diesem Band Frobenius: BGGF Ehren- mitglieder. 29 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.9. 1994, S. N 3. 27 Hepp: Kongress (1994). 30 Süddeutsche Zeitung vom 31. 8.1994, S. 14.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Vergangenheitsbewältigung – Erfahrungen an der I. Universitätsfrauenklinik München 249 weiter. Interessant war z.B. eine öffentliche Stel- Stieve aus der Berliner Charité hatte und die er bei lungnahme von 15 Schülern Eymers für ihren Leh- mir in guten Händen wüsste. Ich fühlte mich da- rer.31 Fritz Zimmer, der gemeinsam mit Josef Zan- mals überrascht und momentan überfordert. Er der die geschönte Gedenkschrift zum 75-jährigen verabschiedete sich dann und kündigte einen spä- Bestehen der Bayerischen Gesellschaft für Geburts- teren Besuch bei mir in München an. Dieser Besuch hilfe und Frauenheilkunde verfasst hatte,32 war der fand schließlich an meinem Wohnort in Hohen- Wortführer der 15 Kollegen, von denen sich später brunn bei München statt. Hierbei berichtete er mir einige distanziert haben. Einige Schüler Eymers viel von seiner schrecklichen Zeit während des versuchten den jüdischen Nachkriegsdozenten Da- Zweiten Weltkrieges. Als jüdischer Arzt überstand vid Klebanow in den neunziger Jahren für eine ent- er durch ärztliche Hilfsdienste die letzten Kriegs- lastende Stellungnahme für Eymer zu gewinnen. jahre in Konzentrationslagern. Ich erinnere mich Klebanow, der nach schrecklichen Erfahrungen auch noch an sehr tiefgehende Diskussionen zu in Konzentrationslagern froh war, nach dem Krieg den Themen „Vergangenheitsbewältigung in von Eymer eine Assistentenstelle erhalten zu haben, Deutschland, Theorien des amerikanischen Psy- sollte ihm damals für die Spruchkammerverfahren chiaters Lifton zu den Ärzten im „Dritten Reich“ einen vorbereiteten entlastenden „Persilschein“ un- und den sog. ‚Seiflingen‘ in Israel“. Zusammenfas- terschreiben. Durchaus ambivalent gegenüber Ey- send hatte ich nach einem langen und aufrichtigen mer, lehnte Klebanow aber die Unterschrift ab. Die Diskussionsabend ein bestätigendes Gefühl für Bitte darum empfand er als derartige Zumutung, meine Arbeit. Im Hinblick auf die Kollegen Zimmer, dass er die Klinik empört verließ und seine Stelle zu- Kuss usw. wurde mir deutlich, dass Klebanow ih- rückgeben wollte. Wie er mir später berichtete und nen – ähnlich wie Eymer – wahrscheinlich keinen auch in einigen Briefen mitteilte, ließ er über seine „Persilschein“ geben würde.34 Kollegen sinngemäß Folgendes als Begründung für seine Ablehnung einer Hilfe für Eymer mitteilen: Ey- mer habe den Juden in den 1930er Jahren nicht ge- Abschließende weitere holfen, so dass er ihm nach dem Krieg auch nicht helfen könne. Er habe sich aber schließlich mit Ey- Bewältigungsarbeit in Vorträgen mer ausgesöhnt und sei noch einige Jahre an der Kli- im In- und Ausland mit Hinweisen nik geblieben, bis er später nach Amerika ging. Als nach der NS‑Aufarbeitung an der I. UFK einige Schü- auf zukunftsorientierte ethische ler Eymers versuchten, ihren Lehrer vor Angriffen in Herausforderungen Schutz zu nehmen, habe er den Bitten seiner Nach- kriegskollegen entgegenkommen wollen. Trotzdem In den Jahren nach der „öffentlichen späten Ent- sei dies ein Konflikt für ihn geblieben, was dazu schuldigung“ bei den Opfern gab es für mich eine führte, dass er mit mir das persönliche Gespräch Reihe von Einladungen zu Vorträgen über das suchte.33 NS‑Thema in der Medizin und seine Auswirkungen, Dies geschah zuerst auf dem internationalen die ich auf Tagungen im In- und Ausland halten Kongress für psychosomatische Geburtshilfe und sollte und durfte. Dazu gehörten z.B.: Gynäkologie in Basel, den ich damals als Präsident • der IPPNW‑Kongress in Nürnberg zum Thema der ISPOG mitorganisiert hatte. Er hörte meinen Medizin und Gewissen,35 Eröffnungsvortrag, der auch den NS‑Konflikt an • der internationale Kongress für psychosomati- der I. UFK zum Inhalt hatte. Unmittelbar danach sche Medizin in Jerusalem,36 kam er zu mir mit dem unerwarteten Satz: „Herr • die jährlichen deutschen Tagungen der psycho- Kollege Stauber, ich kenne den Streit um Prof. Ey- somatischen Gesellschaft für Gynäkologie und mer, ich habe Vertrauen zu Ihnen.“ Er gab mir Geburtshilfe, bei denen seminarartig weiterfüh- dann ein Paket mit seinen wissenschaftlichen Ar- rende Aspekte behandelt wurden, beiten und histologischen Präparaten, die er noch • die alle drei Jahre stattfindenden internationa- aus der Zusammenarbeit mit dem aus der NS‑Zeit len Kongresse der psychosomatischen Gesell- ebenfalls erheblich belasteten Anatomen Hermann schaft für Geburtshilfe und Gynäkologie (ISPOG)

31 Zimmer et al.: Eymer (1998), S. 35. 34 Zu Klebanow auch Frobenius, Wiederbesetzung, in 32 Zander; Zimmer: Bayerische Gesellschaft (1987). diesem Band. 33 VerfA: Klebanow: Schriftverkehr mit Manfred Stau- 35 Stauber: Medizin (1996). ber über mehrere Jahre nach 1995. 36 Stauber: Conclusions (1995).

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in Stockholm, Washington und Buenos Aires, bei Augsburg publiziert wurde, auf die später noch ein- denen nach dem NS‑Debakel eine „globale gegangen wird. Ethik“ angemahnt wurde.

Der Sinn der Vorträge in verschiedenen Ländern der ISPOG war eine Diskussion von dort aktuellen Aus Ehrenbüsten wurden ethischen Konflikten, wobei ich von den schreckli- Mahnmalbüsten chen Erfahrungen der inhumanen Medizin in Deutschland ausging. Regelmäßig führten meine Ergebnis der vielen Aktivitäten zur Aufarbeitung Vorträge dann zu den derzeitigen großen ethischen der NS‑Zeit an der I. UFK war schließlich der Ent- Problemen in der Gynäkologie, wie z. B. der ge- schluss der jüngeren Ärzteschaft der Klinik, eine schlechtsspezifischen Abruptio (u.a. China), der Gedenktafel für die Opfer der Zwangssterilisation weiblichen Beschneidung (u.a. Indien, Afrika) und in der I. UFK anzubringen. Vorausgegangen war der ausufernden Reproduktionsmedizin (u. a. in ein Brief des Sprechers des 17. Gesundheitspoliti- den USA). Auf kleineren internationalen Fachta- schen Kongresses der Fachtagung Medizin, Helmut gungen z. B. in Peking, Kalkutta und Südafrika wur- Keil,40 der mit einer Unterschriftenliste von Medi- den in Verbindung mit der ISPOG und der World zinstudenten einen Brief an Prof. Kindermann rich- Health Organisation spezielle Fragen der Medizin- tete und dringend ein deutliches Mahnmal anregte. ethik – im Hinblick auf eine zukünftige „globale Dieser mögliche Weg war zuvor im Zusammen- Ethik“–diskutiert. hang mit meinem Vortrag zum Thema „Gynäkolo- Meine frühere Doktorandin Corinna Horban, die gie im Nationalsozialismus“ bei der Fachschaft Me- zwischenzeitlich als wissenschaftliche Assistentin dizin der LMU München diskutiert worden. Ich er- in der Medizingeschichte arbeitete, stellte in einer hielt kurz darauf einen bereits textlich gut öffentlichen Fortbildung für alle Ärztinnen und ausgearbeiteten Entwurf für eine Gedenktafel vom Ärzte in München 1999 ihre Dissertation zum The- Assistentensprecher Kästner mit dem Hinweis, ma der zwangssterilisierten ehemaligen Patientin- möglichst bis zum Jahr 2000 eine Realisierung in nen der I. UFK München37 vor. Es wurde sehr sach- Absprache mit Günther Kindermann vorzuneh- lich, konstruktiv und anerkennend diskutiert, was men.41 Bei einer Diskussion mit Kindermann wur- wir damals als einen gewissen Abschluss der lan- den dann nur noch einige Korrekturen und Forma- gen Aufarbeitungszeit an der I. UFK ansahen. Aber litäten geklärt. Der konsensfähige Mahnmalent- weit gefehlt! Im gleichen Jahr wurde eine Schrift wurf sollte ein Appell gegen das Vergessen sein von dem bereits im Ruhestand befindlichen Erich (Abbildung 15.4). Der Haupttext lautet: „An der I. Kuss mit einer Widmung für seinen früheren Chef Frauenklinik der Universität München wurden von Josef Zander anlässlich von dessen 80. Geburtstag 1934 bis 1945 1345 Frauen zwischen 12 und 47 Jah- veröffentlicht. Der Titel dieser Abhandlung lautete ren zu Sterilisation und/oder Abtreibung gezwungen. „Ein Klinikdirektor in politischer Bedrängnis“38 Grundlage hierfür war das am 14. Juli 1933 verab- und sie enthielt nach meiner Einschätzung neben schiedete Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach- zahlreichen verharmlosenden Winkelzügen und wuchses.“ vielen weit hergeholten Zitaten nichts argumenta- Für die Ausführung haben wir den Bildhauer tiv Neues. Eine Stellungnahme in der Zeitschrift und Steinmetz Stephan Eichweber aus München „Frauenarzt“ zu diesem Buch von Kuss schließt mit gewonnen. Bei den drei Büsten wurden noch die den Worten: „Kuss hat eine Studie vorgelegt, die Jahreszahlen für das Wirken der dargestellten Per- nicht wissenschaftlich ist, sondern voreingenom- sonen an der I. UFK auf dem Marmorsockel hinzu- men und tendenziös.“39 Ich erlebte diese, in der Kli- gefügt. Bei der Büste Eymer verdeutlicht der geteil- nik kaum wahrgenommene „Kussʼsche Eymerver- te Zeitraum (1934–1945 und 1948–1954), dass er teidigung“ als ein Nachtreten bei mehr und mehr vorübergehend nach 1945 als Klinikchef – wegen eingekehrter klinischer Ruhe. Eine noch peinlichere seiner Belastungen – seiner Ämter enthoben war. Situation für Kuss entstand 2010, als eine wissen- Da in den letzten Jahren intensive Erinnerungsar- schaftliche Studie über Eymer aus der Universität beit in der Klinik geleistet wurde und weitgehen- der Konsens in der Sache bestand, wurde auf eine

37 Horban: Gynäkologie (1999). 38 Kuss: Klinikdirektor (1999). 40 VerfA: Keil: Brief (1998). 39 Lehmann: Stellungnahme (2000), S. 538. 41 VerfA: Kästner: Bericht (1999).

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Abb. 15.4 Mahnmal mit Mahnmalbüsten (Quelle: I. Uni- versitätsfrauenklinik München).

offizielle Enthüllungsfeier verzichtet. Trotzdem Bronzebüsten der früheren Chefs der I. UFK spiel- wurde diese Gedenktafel von Ärzten anderer Klini- ten in all den Jahren der Diskussionen eine anre- ken vielfach besucht und anerkennend wahrge- gende und emotional außerordentlich bedeutsame nommen. Auch im aktuellen Studentenunterricht Rolle. über Medizinethik ist der Besuch dieses Mahnmals Nach Anbringung des „Denkmals“ wurde es ru- regelmäßig eingeplant. Die Studierenden finden higer in der I. UFK – vor allem was das Thema Gynä- das gut und evaluieren die in jedem Semester vor- kologie und Nationalsozialismus betraf. Eine ergän- getragene Thematik zur inhumanen Medizin als zende Dissertation zur „Geburtshilfe an der I. UFK wichtig. zwischen 1933 und 1945“43 wurde noch an einen Es kam nach der Anbringung der Gedenktafel jungen Kollegen vergeben und erfolgreich abge- mit den Mahnbüsten oft die Frage auf, warum wir schlossen. Günther Kindermann wurde 2002 eme- die Büsten nicht einfach ganz entfernt haben (zu- ritiert. Ich spürte durchaus seine Zufriedenheit letzt nach meinem Vortrag über Zwangssterilisa- über die Münchner Jahre an der Klinik. Klaus Friese tionen in der Psychiatrischen Universitätsklinik bei übernahm seine Stelle in der Maistraße und zu- einer Tagung zur Gestaltung des geplanten Doku- gleich die Leitung der Frauenklinik in Großhadern. mentationszentrums in München 2011).42 Ich bin 2005 hielt ich meine Abschiedsvorlesung mit psy- gut auf diese Frage vorbereitet, da sie uns schon chosomatischen und philosophischen Überlegun- sehr oft gestellt wurde, besonders auch von renom- gen und Visionen. Ich ging mit einem guten Gefühl mierten Persönlichkeiten und Wissenschaftlern aus der Klinik, zumal die Aufarbeitung der Medizin der psychosomatischen Medizin, wie z. B. von den im „Dritten Reich“ einen zufriedenstellenden Ab- früheren Präsidenten der Internationalen Gesell- schluss gefunden hat. Die Zusage von Friese für schaft für Psychosomatische Geburtshilfe und Gy- eine auch in Zukunft stellenmäßig gut abgesicherte näkologie Eylard van Hall (Amsterdam) und Ingrid psychosomatische Abteilung machte mich froh, da Ursing (Stockholm) oder dem Psychoanalytiker Er- ja letztendlich von dort die wichtigsten Impulse nest Freud (London), dem Enkel von Sigmund für die Vergangenheitsbewältigung kamen und vie- Freud. Fast alle Mahnmalbesucher waren primär le neue Herausforderungen für eine patientenori- für eine völlige Entfernung der Büsten. Wenn ich entierte Medizin zu erwarten sind. aber unsere Absicht für eine möglichst „dauerhafte Erinnerungsarbeit an den Mahnmalbüsten“ zu er- klären versuchte, kam Nachdenklichkeit auf, die sich meist in Zustimmung wandelte. In der Tat, die

42 Stauber: Zwangssterilisation (2011). 43 Moissl: Aspekte (2005).

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Bewältigungsarbeit in anderen sonstigen Literatur die Beurteilungen von Frau Al- brecht.“50 Auch die Arbeit meiner Doktorandin Kliniken und wissenschaftlichen Horban wird als wissenschaftlich solide bestätigt.51 Gesellschaften Albrecht zeigt Eymer als Karrieristen zwischen Ehrgeiz, Eugenik und Nationalsozialismus. Aus Im letzten Jahrzehnt bemühten sich mehr und dem Spruchkammerverfahren zitiert sie, dass Ey- mehr in den alten und neuen Bundesländern be- mer ein schlechtes Beispiel für die ihm unterstell- troffene medizinische Fächer wie die Pädiatrie, ten Ärzte und Studenten war. Ferner erweitert sie Psychiatrie, Chirurgie und Urologie um einen adä- an einigen Stellen die von uns gewonnene Sicht ei- quaten Umgang mit der inhumanen Medizin im ner damals praktizierten inhumanen Medizin, spe- „Dritten Reich“. Was die Gynäkologie betrifft, so ziell in Bezug auf die Zwangssterilisationen. Außer- hat in Bayern Würzburg dieses Thema in einer Ta- dem weist Albrecht auf die „Persilscheine“ hin, die gung mutig aufgegriffen.44 Auch für die Erlanger in „beträchtlicher Zahl“ von der eigenen Beleg- Frauenklinik wurden Zwangssterilisationen und schaft für Eymer geliefert wurden. Auch zur anti- Zwangsabtreibungen bei Ostarbeiterinnen wissen- semitischen Einstellung von Eymer nimmt sie schaftlich bearbeitet.45 In Kenntnis vorläufiger Er- kritisch Stellung. In ihrer Arbeit ist zu lesen: „Unbe- gebnisse ließ Klinikchef Matthias Beckmann schon stritten bleibt Eymers Bereitschaft, der verbreche- 2001 die Büsten der in dieses Unrecht verwickelten rischen Rassenpolitik des „Dritten Reiches“ ge- Ordinarien entfernen.46 Nun informieren Poster danklich und praktisch zuzuarbeiten.“52 Albrecht über die Vorgänge im „Dritten Reich“. schließt ihre Untersuchung mit folgender gesell- schaftsrelevanten Feststellung: „Dass er [Eymer] gleichwohl noch im Jahre 1953 das Große Ver- Abschließende Bemerkungen dienstkreuz aufgrund ärztlicher und wissenschaft- licher Verdienste erhielt, ist ein Zeugnis dafür, wie Kurz vor dem Abschluss unserer langjährigen Auf- lange in Deutschland ein Unrechtsbewusstsein ge- arbeitungstätigkeit mit zukunftsorientierten genüber den moralischen Irrwegen der Medizin im Aspekten erlebe ich eine unerwartete Genugtuung Nationalsozialismus fehlte.“53 durch das Erscheinen des Bandes „Rechte Karrieren Und da bekanntlich nur die Wahrheit die Ver- in München“, herausgegeben von der Historikerin gangenheit zur Ruhe bringen kann, ist das Erinnern Marita Krauss von der Universität Augsburg.47 Da- bereits ein Stück der notwendigen Friedensarbeit. rin befasst sich ein Beitrag von Pavla Albrecht mit Betrachten wir die lange Aufarbeitungszeit als der Biographie von Heinrich Eymer.48 Unter der Wahrheitssuche und Friedensarbeit zugleich, dann Überschrift „Eine ärztliche Karriere zwischen Ehr- brachte diese, wie früher dargestellt, einen deutli- geiz, Eugenik und Nationalsozialismus“ wird Eymer chen Gewinn. Er ist allerdings – wie die abschließ- zu den Profiteuren im „Dritten Reich“ gerechnet. ende Übersicht (Tabelle 15.1) zeigt – mit einer „ers- Unsere früheren Ausführungen über Eymer wer- ten großen Schuld“ (1933–1945), einer „zweiten den hier in noch deutlicherem Ausmaß bestätigt. Schuld“ (1945–1987) und einer „dritten (Teil-) Die Beschreibung von Kuss wird als „verharmlo- Schuld“ (1987–2012) verbunden gewesen, die kei- send“ eingestuft.49 In einer als Entgegnung dazu nen Schlussstrich zulassen. publizierten Arbeit zitiert Kuss die Antwort auf eine Anfrage bei der Herausgeberin: „Weder die Autorin [Albrecht] noch ich als verantwortliche He- rausgeberin stimmen mit Ihrem Text inhaltlich überein. Ich teile nach Kenntnis der Quellen und

44 Dietl: Medizin (2005). 45 Siehe hierzu etwa Frobenius: Abtreibungen (2004) und Krüger: Zwangssterilisationen (2007). 46 Anonymus: Nazi-Köpfe (2001). In: Erlanger Nachrich- ten (3.7. 2001), S. 3. 47 Krauss: Karrieren (2010). 50 Kuss: Eymer (2011), S. 4. 48 Albrecht: Eymer (2010). Siehe hierzu auch Frobenius, 51 Horban: Gynäkologie (1999). Wiederbesetzungen, in diesem Band. 52 Albrecht: Eymer (2010), S. 309. 49 Kuss: Klinikdirektor (1999). 53 Ebd., S. 310.

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Tabelle 15.1 Gynäkologie und Nationalsozialismus an der I. UFK München.

Vor 1933 1933 bis 1945 1945 bis 1987 1987 bis 2012 „Erste Schuld“ „Zweite Schuld“ „Dritte Schuld“

Ideologien des Inhumane Gynäkologie • Verleugnung, Ver- Positiv: Sozialdarwinismus und • eingeleitet durch das „Gesetz“ drängung, Verharm- • Aufarbeitung der der Eugenik als Vorläufer zur Verhütung erbkranken losung inhumanen Medizin für das 1933 erlassene Nachwuchses“, 14.7.1933 • Vergessen der noch • Opferhilfe durch späte „Gesetz zur Verhütung von A. Gütt, E. Rüdin, F. Ruttke lebenden Opfer nach Entschuldigung mit erbkranken Nach- Unter Mitautorenschaft Zwangssterilisation finanziellen und wuchses“ Münchner Ordinarien: • Kontinuitäten z. B. psychosomatischen Literatur z.B.: Chirurgie: E. Lexer durch Personen und Maßnahmen Haeckel E. (1868) Lehrmaterial Gynäkologie: 1. Aufl. A. Negativ: Galton F. (1905 • „Ewig-Gestrige“ Döderlein, 2. Aufl. H. • Verharmlosung und Ploetz A. (1895) zementieren Verweigerung der Eymer Sensibilitätsdefizite Binding K. und Aufarbeitung durch • Universitäts-Frauenklinik wird Hoche A. (1920) • Ehrungen von Tätern „Ewig-Gestrige“ unter Heinrich Eymer Schwer- mit Büsten, in wissen- punktklinik schaftlichen Gesell- für Zwangssterilisationen schaften, mit Bundes- für Zwangsabruptionen verdienstkreuz • Zusätzlich: inhumane For- schung, inhumane Lehre, verweigerte Hilfeleistungen

Danksagung • den unterstützenden Psychosomatikern, wie Kentenich, Haselbacher, Conrad, E. Freud, van Neben den schmerzenden Aspekten der Vergan- Hall, Ursing, Klebanow, Köhler, und bei genheitsbewältigung an der I. UFK habe ich von • den „Mutzusprechern und Ehrungenverteilern“, vielen Kolleginnen und Kollegen Gratifikationen z.B. den Bürgermeistern Münchens, der LMU- erfahren, für die ich mich herzlich bedanken darf, Leitung, den wissenschaftlichen Gesellschaften z.B. bei DGPFG, ISPOG, BGGF, DGGG sowie der Bundes- • den vielen Studierenden und Doktorandinnen ärztekammer, dem Berufsverband, dem Klini- sowie Doktoranden, die das Seminar „Gynäkolo- kumsmagazin und anderen, die hier nicht alle gie und Nationalsozialismus“ besuchten und un- genannt werden können. terstützten mit Vorträgen und Exkursionen zu Orten mit inhumaner medizinischer Forschung, z.B. die Damen und Herren Hipp, Hirsch, Engert, Literatur Horban, Reichert, Stadler, Kettler, Dathe, Burger, Fischer, Erdkönig, Moissl, Albrecht, Pavla: Prof. Dr. Heinrich Eymer – eine ärztliche • den Mitarbeiterinnen der psychosomatischen Karriere zwischen Ehrgeiz, Eugenik und Nationalso- Arbeitsgruppe, wie den Kolleginnen Hahlweg, zialismus. In: Krauss, Marita (Hrsg.): Rechte Karrie- ren in München – von der Weimarer Zeit bis in die Müller, Kästner, Härtl, Silva und Friedl, Nachkriegsjahre. München 2010, S. 297–310. • den Ärztinnen und Ärzten der I. UFK, die Hilfe Bayer, Christian; Thiel, Falk C.; Renner, Stefan P.; Frobeni- leisteten, wie Paluka, Maaßen, Hiller und Dathe, us, Wolfgang: Gemeinsame Tagung von österrei- sowie den Vorlesungsassistentinnen und ‑assis- chischen und bayerischen Frauenärzten vom 25.–28. tenten, Mai 2011 in Erlangen. Geburtshilfe und Frauenheil- – • den Helfern im Fotolabor und den Sekretärin- kunde 71 (2011), S. 622 623. Berg, Dietrich; Diedrich, Klaus: Kontroverse über „Pro- nen sowie den Mitarbeitern in der Bibliothek fessor Dr. H. Eymer und der Nationalsozialismus“.In: und im Archiv, Frauenarzt 39, 1 (1998), S. 34.

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Zeitungen Kästner, Ralph; et al.: Bericht zur Diskussion in der As- sistentenkonferenz der I. UFK über ein geeignetes Anonymus: In der Universitäts-Frauenklinik: Nazi-Köpfe Mahnmal für die zwangssterilisierten Frauen. 1999. nicht mehr zu sehen. Direktoren-Büsten gehören Keil, Helmut: Brief mit Studentenunterschriftensamm- – jetzt zur medizinhistorischen Sammlung. Erlanger lung an Prof. Dr. Günther Kindermann nach Vortrag – Nachrichten (3.7.2001), S. 3. von Manfred Stauber mit der Anregung eines Behrends, Margot: Kaum fassbare ärztliche Inhumanität Mahnmals im Zusammenhang mit der langjährigen – Die deutschen Gynäkologen entschuldigen sich bei Vergangenheitsbewältigung in der Gynäkologie an ‑ den Opfern des Nationalsozialismus. In: Frankfurter der I. UFK München. Fachschaft Medizin LMU Kon- Allgemeine Zeitung (7.09. 1994), S. N 3. gress, 12.-14. 6.1998. Berg, Lilo: Eine späte Entschuldigung – die deutschen Klebanow, David: Schriftverkehr mit Manfred Stauber Gynäkologen und die NS‑Vergangenheit. In: Süd- über mehrere Jahre nach 1995. deutsche Zeitung (31. 8.1994), S. 14. Kuss, Erich: Öffentlicher Brief zur Kenntnis an alle Mitar- beiter der I. Universitäts-Frauenklinik zum Thema: 75 Jahre „Maistraße“ vom 23.12. 1991. Paluka, Almut: Sichtung und Aktualisierung des Lehr- Archivalien materials an der I. UFK 1988–1991 mit Entfernung von Lehrmaterial aus dem 3. Reich. [Klinikinternes Archiv der I. Universitätsfrauenklinik München Manuskript] 1991. (UnifrauenA M) Sellschopp, Almuth: Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen mit Tätern der NS‑Zeit. Psychosom. „ Eymer, Heinrich: Schriftverkehr als erfahrener Erbge- Abteilung der TU München, persönliche Mitteilun- “ sundheitssachverständiger mit dem Reichsministe- gen 1997. rium des Innern in Berlin am 10. Juni 1939. Stauber, Manfred: Öffentlicher Antwortbrief zur Kennt- nis an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der I. Universitäts-Frauenklinik zum Thema: 75 Jahre Archiv des Verfassers (VerfA) „Maistraße“ vom 17. 2.1992. Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterili- sierten e. V., Detmold, Meiersfelder-Str. 7: Schriftver- kehr und Infomaterial 1995–2011. Egger, Herwig: Stellungnahme zum Artikel von Kuss in „Geburtshilfe und Frauenheilkunde“ (1995) in einem Brief an Kuss und mehrere damit befasste Professo- ren (20. 7.1995).

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Die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde e.V. (BGGF) – Gedanken zur Zukunft

Christoph Anthuber

Die BGGF wird in diesem Jahr hundert Jahre alt. Sie licher prägen werden. Der folgende Beitrag skiz- feiert dieses Jubiläum anlässlich der 86. Tagung an ziert daher mögliche Aufgaben der BGGF in der Zu- ihrem Gründungsort in Würzburg und blickt dabei kunft und die Rahmenbedingungen, die darauf auf eine in vielerlei Hinsicht erfolgreiche Geschich- Einfluss nehmen könnten. Dabei ist es sehr wahr- te zurück. Woran ist dieser Erfolg erkennbar? Er scheinlich, dass sich diesen Themen auch andere zeigt sich an einer über viele Jahre kontinuierlich Regionalgesellschaften bzw. die Deutsche Gesell- steigenden, zuletzt stagnierenden, jedoch immer schaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) noch hohen Mitgliederzahl (n = 711, Stand März widmen müssen. 2011), gut besuchten jährlichen wissenschaftlichen Regionaltagungen (seit 1965 regelmäßig alle zwei Jahre gemeinsam mit der Österreichischen Gesell- Die BGGF in der Zeit des National- schaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, OEGGG) – mit wissenschaftlichen Beiträgen auf hohem Ni- sozialismus ein Appell gegen veau, einem intensiven Ideenaustausch und einem das Verschweigen und Vergessen breiten Fort- und Weiterbildungsangebot durch Kurse und Seminare. Die BGGF‑Mitglieder verbin- Die Zeit des Nationalsozialismus wurde in der 1987 den viele freundschaftlich-familiäre Kontakte, die erschienenen Dokumentation der BGGF1 anlässlich Kooperation mit dem Berufsverband der Frauen- ihres 75-jährigen Bestehens von den Autoren völlig ärzte ist vertrauensvoll, die finanziellen Verhältnis- ausgeklammert – im Übrigen auch weitgehend in se der BGGF sind stabil. dem 2011 erschienenen Band zur 125-jährigen Ge- Der eigentliche Satzungszweck der BGGF nach schichte der DGGG.2 Dass dies wissentlich geschah, §1 „Förderung der Wissenschaft“ wird sicher er- ist dem Geleitwort des damaligen 1. Vorsitzenden füllt. Zufriedenheit und Dankbarkeit erscheinen der BGGF, Josef Zander, zu entnehmen. Er formu- berechtigt, Zukunftssorgen hingegen unange- lierte: „Bis heute ungeschrieben und vielfach wohl bracht. Die Betrachtung der eigenen Geschichte ist auch unbewältigt ist das Kapitel Geburtshilfe und allerdings nicht für jede Phase ein Grund zum Stolz, Frauenheilkunde im Dritten Reich.“3 So wurde die wie die Beiträge in diesem Band zur Rolle der Frau- NS‑Zeit beispielsweise im Zusammenhang mit enärzte und der BGGF in der Zeit des Nationalsozia- Heinrich Eymer, einem nachweislich erheblich be- lismus zeigen. Die BGGF muss sich daher in Zukunft lasteten Ordinarius der Universitätsfrauenklinik ihrer Verantwortung stellen und bislang Verdräng- der Ludwig-Maximilians-Universität München an tes aufarbeiten. Sie darf nicht vergessen, was im der Maistraße mit dem lapidaren Hinweis abge- Namen ihrer Repräsentanten geschehen ist. handelt, dass er „von 1936–1938 […] in einer poli- Der Blick muss sich jedoch auch auf ihre zukünf- tisch schwierigen Zeit Vorsitzender der Bayeri- tige Struktur und ihre zukünftigen Aufgaben rich- schen Gesellschaft“ war.4 Erst später begannen ten. Der feste Willen zur Gestaltung ist wichtiger ernsthafte Versuche einzelner Repräsentanten des denn je – in Kenntnis der Vergangenheit, unter Be- Fachs (wie vor allem von Manfred Stauber, der im achtung der Vorgaben des Vereinsrechts und unter 1 Berücksichtigung der Veränderungen, die für die Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987). 2 Kreienberg; Ludwig (Hrsg.): Gesellschaft (2011). Gynäkologie und Geburtshilfe schon heute Wir- 3 Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987), S.V. kung zeigen und die das Fach zukünftig noch deut- 4 Ebd., S. 70

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 258 Die BGGF – Gedanken zur Zukunft

Übrigen wegen der Inaktivität der BGGF hinsicht- schaft für Psychiatrie, Psychotherapie und lich der Aufarbeitung der NS‑Zeit nicht deren Mit- Nervenheilkunde (DGPPN), die Deutsche Gesell- glied war), die Beteiligung von Frauenärzten an un- schaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) oder menschlichen und verabscheuungswürdigen Maß- aber Organisationen wie die Bundesärztekammer, nahmen in der NS‑Zeit offenzulegen – auf Krankenversicherungen und die Kassenärztliche unterschiedliche Art und Weise und oft auch gegen Vereinigung sowie einzelne Kliniken und zahlrei- Widerstand.5 Wie auch in den einschlägigen Bei- che Universitäten, daneben etwa auch die Deutsche trägen in diesem Band beschrieben, gehörten hier- Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Ge- zu: sellschaft längst auf den Weg gemacht haben, • die Durchführung von Zwangssterilisationen durch professionell erarbeitete Publikationen ein und eugenisch begründeten Abtreibungen, ehrliches Bekenntnis zur eigenen Verantwortung • die rassistisch begründeten Schwangerschafts- abzulegen. Sie alle fanden dafür breite Anerken- abbrüche bei sogenannten Ostarbeiterinnen, nung.8 Die überlebenden Opfer und deren Nach- • die Verdrängung jüdischer Mitglieder aus der kommen, so heißt es in einem einschlägigen Bei- BGGF (zwischen 1929 und 1939 verschwanden trag der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, er- 41% der Mitglieder aus den Listen!), warteten dabei insbesondere von den ärztlichen • die Tatenlosigkeit bei der Entrechtung von Ärz- Folgegenerationen keine theoretischen Bußrituale, ten/Ärztinnen jüdischer Herkunft sondern einfühlendes Verständnis.9 • die aktive/passive Mitgliedschaft in politischen Die Beiträge zur NS‑Zeit im vorliegenden Band Organisationen des nationalsozialistischen Re- zur hundertjährigen Geschichte der BGGF haben gimes (z.B. Sturmabteilung, SA) zwei besonders wichtige Funktionen: Zum einen • und nicht zuletzt die ideelle Unterstützung des stellen sie den Versuch dar, nach den Veröffentli- Regimes. chungen von Manfred Stauber und Günther Kin- dermann in wissenschaftlichen Zeitschriften und Auch Vorstandsmitglieder der BGGF waren hierbei der zentralen Positionierung des Themas beim 50. beteiligt und „nicht frei vom allgemein vorherr- Kongress der DGGG 1994 durch den damaligen schenden Antisemitismus“, wie Annemarie Kinzel- Präsidenten Hermann Hepp weitere Details der bach feststellt. Sie hätten dies „durch ihre Mitglied- Rolle sichtbar zu machen, die bayerische Frauen- schaft in nationalsozialistischen Organisationen ärzte und BGGF‑Mitglieder im „Dritten Reich“ ge- sogar unterstrichen“.6 Nach dem Ende der NS‑Dik- spielt haben. Zum anderen sollen sie – den Fachleu- tatur wurden nachweislich belastete Frauenärzte in ten längst bekannte – Tatsachen aus Archiven und Ordinariate neu berufen oder im Amt bestätigt, Bibliotheken holen, sie so den nachfolgenden Ärz- zum Vorstand der BGGF gewählt und sogar mit tegenerationen in einer eigenen Veröffentlichung der Ehrenmitgliedschaft der BGGF ausgezeichnet leicht zugänglich machen und damit gegen das (z.B. Rudolf Dyroff). „Verschweigen und Vergessen Verschweigen und Vergessen wirksam werden. kennzeichnete auch den Umgang mit weiteren Letzteres ist auch heute leider noch allgegenwärtig. Ehrenmitgliedschaften in der Nachkriegszeit“,so Ein Beispiel dafür stellt der Artikel „Lokale Spuren Annemarie Kinzelbach in ihrem Beitrag.7 eines Jahrhunderts“ zur Geschichte der I. Universi- Eine umfassende Aufarbeitung der eigenen His- tätsfrauenklinik München dar, der 2011 in der Zeit- torie hat die BGGF demnach nie versucht. Sie wur- schrift „Der Gynäkologe“ erschien und in dem von de damit ihrer historischen Verantwortung nicht der Verstrickung ihrer Direktoren in die Propagan- gerecht. Dass dies auch auf andere Regionalverbän- da für die NS‑Eugenik, den Aktivitäten zu deren op- de und die DGGG zutreffen mag, relativiert dieses timaler Realisierung und dem Leid der über 1000 Versäumnis nicht, zumal sich andere Fachgesell- Opfer nahezu nichts zu finden ist. Die Aufklärungs- schaften, wie zum Beispiel die Deutsche Gesell- arbeit von Manfred Stauber diskreditiert der Autor, schaft für Chirurgie (DGCH), die Deutsche Gesell- indem er sie als „posthume Vorhaltungen“ für den schaft für Urologie (DGU), die Deutsche Gesell- hauptverantwortlichen Klinikdirektor bewertet.10 Die BGGF muss also handeln, die geschichtli- 5 Siehe hierzu den Beitrag von Manfred Stauber in die- chen Fakten klar benennen und die Erinnerung sem Band. Ferner u.a.: Stauber; Kindermann: Prakti- ken (1994); Stauber: Gynäkologie (1995). 8 Siehe hierzu etwa Krischel et al.: Urologen (2011); 6 Siehe hierzu den Beitrag von Annemarie Kinzelbach Sachs et al.: Gesellschaft (2011). in diesem Band. 9 Sachs et al.: Vorwort (2011), S. 250. 7 Siehe ebd. 10 Ludwig: Spuren (2011), S. 64.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Die BGGF – Gedanken zur Zukunft 259 wach halten. Sie darf sich nicht einreihen in die – Gruppe der „gedächtnislosen Institutionen“ wie Die BGGF der Zukunft dies Hans Ulrich Steinau und Hartwig Bauer von Verwaltung oder Gestaltung? der DGCH unter Berufung auf viele andere formu- lierten.11 Denkbar ist dies z. B. durch die Einrich- Die Förderung der Wissenschaft ist die zentrale, im tung einer „Historischen Kommission“ (unterstützt § 1 der Satzung verankerte Aufgabe der BGGF. Sie durch professionelle Medizinhistoriker/innen), die wird bislang vor allem durch die jährliche wissen- sich folgenden Themen widmen könnte: schaftliche Regionaltagung erfüllt, die seit 1965 • Interaktion zwischen Geburtshilfe und Frauen- alle zwei Jahre gemeinsam mit der Jahrestagung heilkunde einerseits und der Gesellschaft ande- der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie rerseits im historischen Wandel und Geburtshilfe (OEGGG) stattfindet. Die gut be- • Weitere Vertiefung der Kenntnisse zur eigenen suchten Tagungen mit 400 bis 800 Teilnehmern/- Geschichte zwischen 1933 und 1945 innen dienen dem wissenschaftlichen Austausch, • Erstellung einer Liste der BGGF‑Mitglieder, die der Förderung der Ausbildung und der persönli- aus rassistischen oder politischen Gründen dis- chen Begegnung. Der Kreis der Teilnehmer/innen kriminiert, entlassen, verfolgt oder ermordet setzte sich bislang überwiegend aus Mitarbeitern/- wurden (vergleichbar der Deutschen Gesell- innen der klinischen Einrichtungen zusammen; schaft für Chirurgie) niedergelassene Frauenärzte/-innen waren mit • Erarbeitung „ungereinigter“ Biographien von durchschnittlich etwa 10% meist deutlich unterre- verantwortlichen Repräsentanten der BGGF präsentiert. Die Tagungen wurden satzungsgemäß • Pflege der Archivalien der Gesellschaft vom 1. Vorsitzenden ausgerichtet, die Themen von • Einrichtung eines informativen Internet-Auf- ihm gewählt (§ 8). Die Veranstalter versuchten tritts zur Gesellschaftsgeschichte mit online zu- grundsätzlich, durch eine frühzeitige Ankündigung gänglichen Quellen alle Frauenärzte/-innen (vor allem aus Bayern) zu • Ausschreibung eines Wissenschaftspreises für einer (aktiven) Teilnahme zu motivieren. Das Pro- gelungene Arbeiten zur BGGF- bzw. Fachge- gramm beinhaltete wissenschaftliche, berufspoliti- schichte sche und ausbildungsorientierte Beiträge zu den drei Säulen des Faches (Geburtshilfe und Perinatal- Von all diesen Aufgaben wären die Einrichtung des medizin, Gynäkologie/Gynäkologische Onkologie Archivs, die sachgemäße Verzeichnung der Archi- sowie Gynäkologische Endokrinologie und Repro- valien und die Etablierung einer entsprechend ge- duktionsmedizin), was sicher auch als Bekenntnis stalteten Website mit Links zu zentralen Quellen der Tagungspräsidenten zur Einheit des Gesamtfa- vorrangig. Beides würde allen, die sich ernsthaft ches zu verstehen war. Es waren bislang vor allem mit der Thematik auseinandersetzen wollen, die die Vertreter/innen der universitären Einrichtun- Arbeit erleichtern. Vielleicht gelingt es dadurch, gen, die durch Hauptvorträge, freie Vorträge und auch junge Kollegen und Kolleginnen zu motivie- Posterpräsentationen neue wissenschaftliche Er- ren, sich mit der Geschichte der BGGF zu befassen, kenntnisse vermittelten. Finanziert wurden die Ta- um daraus Rückschlüsse für das eigene Denken und gungen durch die Teilnahmebeiträge für das wis- Handeln zu ziehen. Es wäre weiterhin sehr zu be- senschaftliche Programm und die im Vorfeld statt- grüßen, wenn auch andere Regionalverbände und findenden Kurse und Seminare. Zusätzliche die DGGG zu einer umfassenden und ehrlichen finanzielle Mittel stellte die Industrie durch Pro- Aufarbeitung der eigenen Geschichte bewegt wer- duktausstellungen, Inserate im Tagungsprogramm, den könnten. Damit würde es möglich, den Opfern direktes Sponsoring und die Organisation von so- und deren Angehörigen wenigstens spätes Ver- genannten Lunch-Symposien bereit. Dadurch ständnis entgegenzubringen. konnten bis auf wenige Ausnahmen positive De- ckungsbeiträge erwirtschaftet werden, wodurch u.a. die Bereitstellung von Geldpreisen für ausge- zeichnete Präsentationen des wissenschaftlichen Nachwuchses möglich war. Das hohe wissenschaft- liche Niveau und der familiäre Charakter haben bis- lang den Erfolg der Tagungen ausgemacht. Es scheint daher derzeit keinen Grund zu geben, das „ “ ‑ 11 Sachs et al.: Vorwort (2011), S. 245. Format der BGGF Tagung zu ändern.

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Dennoch stimmen die zum Teil sehr niedrigen trieunterstützung als bisher auszukommen. Finan- Teilnehmerzahlen der Tagungen anderer Regional- zielle und organisatorische Hilfen erhielt die Ta- verbände bzw. die aufgrund mangelnder Indus- gungsleitung vor allem durch die Julius-Maximili- trieunterstützung kurzfristige Absage der Tagung ans-Universität Würzburg – ein Weg, der für die der Niederrheinisch-Westfälischen Gesellschaft für Organisatoren der Tagung in kleineren Städten si- Gynäkologie und Geburtshilfe (NWGGG) im Jahr cher nicht gangbar ist. Die Finanzierung der Tagun- 2011 nachdenklich.12 Mit der Tagungs-Absage gen wird daher eine zentrale Frage der Zukunft, wurde der zentrale Satzungszweck nach § 1 der Mitglieds- und Teilnehmerbeiträge reichen hierfür NWGGG („Förderung von Forschung und Wissen- sicher nicht aus. schaft sowie die wissenschaftliche Zusammenar- Die BGGF entstand 1912 aus der Fusion der beit mit anderen Fachgesellschaften“) zumindest Münchener Gynäkologischen Gesellschaft und der nicht mehr in der traditionell üblichen Form Fränkischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frau- erfüllt. Natürlich ist dies auch auf andere Weise enheilkunde. Ist es sinnvoll, den Fusionsgedanken möglich, z. B. durch die Unterstützung des wissen- heute weiterzuführen, die BGGF mit anderen Re- schaftlichen Nachwuchses und von Forschungsvor- gionalgesellschaften zu einer „Süddeutschen Ge- haben sowie durch die Verleihung von Förderprei- sellschaft“ zu fusionieren und alle bisherigen Ein- sen für besondere wissenschaftliche Leistungen, zeltagungen in einer „Süddeutschen Tagung“ zu- wie dies auf der NWGGG‑Webseite aufgeführt ist.13 sammenzuführen? Der Wunsch nach Vereinigung Dennoch, die Regionaltagung war bis heute für jede der BGGF mit der Oberrheinischen Gesellschaft zu Regionalgesellschaft Mittelpunkt des wissenschaft- einer „Süddeutschen Gynäkologen-Gesellschaft“ lichen Austausches. Wird dies so bleiben? Können wurde im Jahr 1928 von dem damaligen Erlanger und sollen Regionaltagungen in der bisherigen Ordinarius Hermann Wintz schon einmal geäußert. Form auch in Zukunft organisiert werden? Die Ant- Damals beschied die Oberrheinische Gesellschaft worten auf diese Fragen erscheinen auch in Anbe- diese Initiative nach ausgiebiger Beratung aber tracht der wachsenden Kritik der Öffentlichkeit an „einmütig“ abschlägig, um ihr Eigendasein zu be- der Abhängigkeit der Medizin von der Industrie be- wahren.15 Vor kurzem wurde der Fusionsgedanke deutsam. diesmal von außen an den Vorstand der BGGF he- Die Verfasser der o.g. Dokumentation zur 75- rangetragen. Kommt dadurch die Sorge vor künftig jährigen Geschichte der BGGF äußerten noch die regelhaft zu erwartenden Finanzierungsschwierig- Überzeugung, „daß die regionalen Gesellschaften keiten und/oder die Angst um die Existenz als Re- des Fachgebietes zunehmend eine praktische Be- gionalgesellschaft zum Ausdruck, oder soll damit deutung gewinnen“. Sie begründeten dies wie nur der allgemeinen Entwicklung im Fach Rech- folgt: „In dem engen Rahmen ihrer relativ häufigen nung getragen werden, die sich unter anderem in Tagungen sind persönliche Begegnungen und ein einem ständig größer werdenden „Kongressmarkt“ unmittelbarer und ausgiebiger Gedankenaustausch manifestiert? Dieser „Kongressmarkt“ ist gekenn- noch durchaus möglich. Demgegenüber werden zeichnet durch die Kongresse der großen überregionalen Gesell- • eine hohe Zahl von lokalen, regionalen, nationa- schaften durch die Überfülle des angebotenen Stof- len und internationalen Veranstaltungen für fes in ihrer derzeitigen Gestaltung eher unüber- Wissenschaft, Aus- und Weiterbildung, Berufs- sichtlicher und erschweren vielfach auch persönli- politik und die damit verbundenen Schwierig- che Kontakte.“14 Entspricht dies noch der Realität? keiten für die Veranstalter, noch geeignete Ter- Letzteres mag zwar immer noch zutreffen, den- mine zu finden noch muss die landesweit seit Jahren deutlich rück- • zwangsläufige Terminkollisionen von Tagungen läufige Industrieunterstützung der Tagungen dazu (so fand z.B. 2011 die jährliche Tagung der veranlassen, über Finanzierungsalternativen und/ Deutschen Gesellschaft für Senologie [DGS] na- oder andere Tagungsformate nachzudenken. Ein hezu zeitgleich mit der Gemeinsamen Tagung Beispiel liefert die Jubiläumstagung in Würzburg der BGGF und der OEGGG statt) 2012, die versucht, mit deutlich weniger Indus- • die zunehmende Internationalisierung von wis- senschaftlicher Forschung, deren Ergebnisse 12 Siehe hierzu: www.nwggg.de/210-tagung.html (04.09.2012). 13 Siehe hierzu: www.nwggg.de/nwggg/leistungen. html (04.09.2012). 15 Siehe hierzu den Beitrag von Annemarie Kinzelbach 14 Zander; Zimmer: Gesellschaft (1987), S. VII. in diesem Band.

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dann vorzugsweise auf den großen Kongressen • nationalen, regionalen und auch lokalen Fortbil- präsentiert werden dungsveranstaltungen für angehende Fachärzte • die immer knapper werdende Personaldecke in (z.B. der Deutschen Akademie für Gynäkologie Kliniken und anderen medizinischen Einrich- und Geburtshilfe, DAGG) tungen, die eine Freistellung der ärztlichen Mit- • von den Zertifizierungsrichtlinien der Deut- arbeiter/innen für wissenschaftliche Projekte schen Krebsgesellschaft (DKG) geforderten Fort- und letztlich auch für Tagungsteilnahmen bildungsveranstaltungen für Organkrebszent- kaum noch möglich macht ren • den stetig wachsenden ökonomischen Druck auf • lokalen Veranstaltungen der universitären und niedergelassene Frauenärzte/-innen, deren In- nicht universitären klinischen Einrichtungen, teresse sich mehr denn je auf die Existenzsiche- z.B. der Tumorzentren rung konzentrieren und damit auch auf Inhalte • von der pharmazeutischen Industrie und den beziehen muss, die bislang im Rahmen wissen- Medizinprodukt-Herstellern organisierten Mee- schaftlicher Tagungen kaum thematisiert wur- tings. den (z.B. allgemeine Gesundheitsthemen, Well- ness, Beauty) Diese Liste ist sicher nicht vollständig. Wegen des enormen Veranstaltungsangebots wurden einzelne Auch das erkennbar abnehmende Interesse des Tagungen bereits lokal und zeitlich koordiniert, so ärztlichen Nachwuchses an einer längerfristigen, z.B. der in Berlin stattfindende DAGG‑Fortbil- über die Facharztausbildung hinaus gehenden Tä- dungskongress mit der Tagung der AWOgyn. Viel- tigkeit in der Geburtshilfe, bedingt durch die hohe leicht war auch bereits die 1965 in zweijährigem (nächtliche) Arbeitsbelastung, den enormen foren- Rhythmus vereinbarte Zusammenlegung der sischen Druck, die vergleichsweise mäßige Bezah- BGGF-Tagung mit der Jahrestagung der OEGGG lung und die Schwierigkeiten, Familie und Beruf Ausdruck ähnlicher Überlegungen, vielleicht spiel- zu vereinbaren, wird sich eher negativ auswirken, ten aber auch damals bereits finanzielle Aspekte vor allem angesichts des seit vielen Jahren über- eine Rolle. So ist die BGGF für die Finanzierung der durchschnittlich hohen Frauenanteils im Fach. Gemeinsamen Jahrestagung nur dann zuständig, Bleibt es also weiterhin sinnvoll, trotz der jähr- wenn diese alle vier Jahre in Bayern stattfindet. lich oder alle zwei Jahre stattfindenden größeren Dennoch, trotz all dieser Überlegungen darf Kongresse an der bisherigen Tagungstradition fest- nicht vergessen werden, dass es auch für das Fest- zuhalten? halten an der bisherigen, durchaus erfolgreichen Um klarzumachen, wovon im Detail die Rede ist, Tagungstradition gute Argumente gibt: den bislang seien hier beispielhaft genannt: immer präsentierten Überblick über die neuesten • die Tagung der American Society of Clinical On- wissenschaftlichen Erkenntnisse in allen drei Säu- cology (ASCO) len des Fachs in nur kurzer Zeit, die Möglichkeit • das Breast Cancer Symposium in San Antonio für den wissenschaftlichen Nachwuchs, sich vor • die DGGG‑Jahrestagung kleineren Zuhörergruppen zu präsentieren, die • die Senologie-Tagung der DGS Wohnortnähe der Tagung für die überwiegend • die Konsensuskonferenz in St. Gallen zum Mam- bayerischen Teilnehmer/innen, den jährlichen makarzinom Wechsel der Tagungsorte in Bayern (und Öster- • die Jahreskongresse der Arbeitsgemeinschaft für reich), den Wechsel von universitärer und nicht Gynäkologische Onkologie (AGO) universitärer Tagungsorganisation, die familiäre • die Tagung der Arbeitsgemeinschaft für ästhe- Atmosphäre, die Übersichtlichkeit gerade auch an tische, plastische und wiederherstellende kleineren Tagungsstandorten sowie die akzepta- Operationsverfahren in der Gynäkologie e.V. blen Tagungsgebühren. (AWOgyn) Zwingen aber der zunehmende finanzielle • der Fortbildungskongress der Frauenärztlichen Druck durch das nachlassende Industriesponsoring Bundesakademie (FBA) (im Übrigen sicher auch bedingt durch die be- schriebene Tagungsfülle), das nachlassende Inte- Hinzu kommen die resse an wissenschaftlicher Forschung unter immer • regelmäßigen, meist jährlichen Veranstaltungen schwieriger werdenden Rahmenbedingungen und der wissenschaftlichen Regionalgesellschaften die genannten anderen Gründe trotz aller Traditi- (eben auch der BGGF) onsgedanken zur Änderung der bisherigen Ta-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 262 Die BGGF – Gedanken zur Zukunft gungspraxis – welche Alternativen sind dann denk- schen Gesellschaft für Gynäkologie und Ge- bar? burtshilfe festgeschrieben ist). Eine Intensivierung der Kooperation mit der In- • Die bessere Strukturierung der Aufgabenvertei- dustrie mag durch verschiedene, bislang nicht er- lung durch Einrichtung von beratenden oder ei- griffene Maßnahmen gelingen, die Folgen für die genständig im Auftrag der BGGF agierenden Ar- wissenschaftliche Unabhängigkeit müssen jedoch beitsgruppen, wie z. B. einer zu gründenden bedacht werden. Dabei handelt es sich im Übrigen „Historischen Kommission“. um ein Thema, das die BGGF schon seit 1957 be- • Die Suche nach zusätzlichen Möglichkeiten zur schäftigt und das von den einzelnen Vorsitzenden Förderung der Wissenschaft/des wissenschaftli- sehr unterschiedlich gesehen wurde. So lehnte Jo- chen Nachwuchses (immerhin der zentrale Sat- sef Zander es ab, das Tagungsprogramm 1980 „mit zungszweck der BGGF) über die Vergabe von fi- Reklame“ drucken zu lassen. Er sah aber kein Pro- nanziell dotierten Wissenschaftspreisen für he- blem darin, „die Tagung der BGGF mit einem Sym- rausragende wissenschaftliche Arbeiten hinaus. posium der Pharma-Firma Organon zu verknüpfen, • Die Untersuchung der Auswirkungen des hohen dessen Leitung er übernommen hatte“, schreibt Frauenanteils auf die BGGF und auf das Fach so- Annemarie Kinzelbach in ihrem Beitrag zur Ge- wie in diesem Zusammenhang Überlegungen schichte der BGGF.16 Soll die Tagung formal ver- dazu, wie Wissenschaftlerinnen unterstützt kürzt und inhaltlich gestrafft, sollen bisher ver- werden können, die den so schwierigen Spagat nachlässigte Themen integriert oder häufig behan- zwischen Forschung, Klinik und Familie schaf- delte Themen weggelassen werden? Die bislang fen wollen. Darüber wird zwar immer wieder nur gelegentlich erfolgte Einladung national und geredet, aber bis dato sind keine überzeugenden international renommierter Referenten/-innen bzw. bereits realisierten Konzepte zur Lösung könnte, würde sie häufiger ausgesprochen, die At- dieses Dilemmas erkennbar, was sich natürlich traktivität für die Teilnehmer/innen und die Indus- auch negativ auf die Bereitschaft von Müttern trie steigern, auch die Konzentration der Tagung auswirkt, neben der klinischen Arbeit Füh- auf bestimmte Themen. Es gibt sicher noch eine rungsaufgaben oder zusätzliche Arbeiten in wis- Reihe von Änderungsmöglichkeiten, die von den senschaftlichen oder berufspolitischen Gremien Mitgliedern der BGGF bzw. vom Vorstand sehr zu übernehmen. Dazu passt die Tatsache, dass sorgfältig abgewogen werden müssen. Dabei sind bislang nur zwei Frauen im Vorstand der BGGF grundsätzlich keine Entscheidungen im Schnell- waren (Birgit Ploss 1991–1993 und Annegret schussverfahren bei vermeintlichem Innovations- Kiefer 1999/2001 jeweils als zweite Schriftfüh- druck gefragt. Die Diskussion über das Tagungsfor- rerin). mat der Zukunft sollte allerdings zügig erfolgen, • Die zukünftige Mitgliederwerbung und damit vermutlich am effektivsten im Rahmen einer Maßnahmen zur Verjüngung der Gesellschaft. „Klausurtagung“ der BGGF, die sich auch mit ande- Die frühere, langjährige Sekretärin der BGGF, ren Themen der nächsten Jahre beschäftigen könn- Marianne Killer hat bereits 1989 auf das Pro- te. Beispiele hierfür sind: blem der Überalterung der Gesellschaft hinge- • Veränderungen an der Satzung und Struktur der wiesen. BGGF, wie etwa die satzungsmäßige Veranke- • Maßnahmen zur besseren Wahrnehmung der rung eines weiblichen Vorstandsmitglieds, die BGGF in der Öffentlichkeit (Internet-Auftritt, Be- Eduard Koschade als damaliger Vorsitzender teiligung an den heute üblichen Internet-Foren des Berufsverbandes der Frauenärzte Bayerns v.a. der jüngeren Generation, wie z. B. Facebook, bereits 1990 gefordert hatte, oder die Einräu- Teilnahme an Diskussionen zu wichtigen ge- mung des Stimmrechts im Vorstand auch für sundheitspolitischen Themen). das neu gegründete „Junge Forum“. • Gewinnung zusätzlicher finanzieller Unterstüt- • Die eventuelle Erweiterung der Aufgaben und zung (z.B. Spendenakquise). Ziele der BGGF (z. B. auf die fachliche und wis- • Ausbau der Kooperation mit anderen Gruppen, senschaftliche Beratung von Einzelpersonen, Gremien, Verbänden und der Industrie (Junges medizinischen Gesellschaften, Behörden, Orga- Forum der BGGF; Berufsverband der Frauenärz- nisationen, Institutionen und Kliniken, wie dies te, Landesverband Bayern e.V. [BVG]; Bundesar- z.B. in der aktuellen Satzung der Mittelrheini- beitsgemeinschaft leitender Ärztinnen und Ärz- te in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe e.V. – 16 Siehe hierzu ebd. [BLFG]; Hebammen-Organisationen) natürlich

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im Rahmen der Bestimmungen für einen einge- BGGF, Matthias Beckmann (Erlangen), dar, der tragenen Verein. dem „Jungen Forum“ einen festen Platz in den Vor- • Etablierung von wirksamen Maßnahmen des standssitzungen einräumte, wenngleich derzeit Qualitätsmanagements, z.B. einer regelmäßigen noch ohne Stimmrecht. Ein Ansatz zur „Verjün- und strukturierten Befragung der Mitglieder gung“ der Mitgliederstruktur wäre möglicherweise und kooperierender Organisationen (z.B. BLFG, auch das verstärkte Bemühen um junge Kollegin- BVG, Junges Forum). nen, die ohnehin heute ca. 80% der Assistenten- • Herausgabe eines Mitteilungsblattes der Gesell- schaft jeder Klinik ausmachen. Deren Anteil an schaft (z.B. alle 6 Monate, vergleichbar dem Mit- den Mitgliedern in der BGGF liegt trotz eines konti- teilungsblatt der Vereinigung Bayerischer Chi- nuierlichen und raschen Anstiegs zwischen 1990 rurgen e.V.) und 2010 von ungefähr 13% auf knapp 40% immer noch deutlich unter der Quote weiblicher Mitglie- Sicher ist auch diese Aufzählung nicht vollständig. der anderer Standesorganisationen (Kassenärztli- Sie macht aber deutlich, dass einige dieser Aufga- che Vereinigung in Bayern 48%, Berufsverband der ben die Erschließung zusätzlicher Geldquellen vo- Frauenärzte 55%, Deutsche Gesellschaft für Gynä- raussetzen. Nur mit (potentiellen) Tagungsüber- kologie und Geburtshilfe 57%).17 schüssen und den jährlichen Mitgliederbeiträgen Die Skizzierung der künftigen Aufgaben zeigt sind dem Budget der BGGF zu enge Grenzen ge- aber auch klar, dass es in Zukunft nicht mehr aus- setzt. Die Diskussion über ein anderes, intensiveres reichen wird, die drängenden Themen nur in dem Marketing mit dem Ziel, eine langfristig noch soli- engen Rahmen von drei Vorstandssitzungen und dere finanzielle Basis zu erreichen, erscheint gera- einer Mitgliederversammlung (mit einer durch- de in Anbetracht des Rückzugs der Industrie beson- schnittlichen Beteiligung von deutlich unter 10% ders wichtig. Die Akquise von zusätzlichen Mitteln der Mitglieder) pro Jahr zu diskutieren. Der Weg in erfordert allerdings eine kontinuierliche (Image- die Zukunft kann nicht nur in der Organisation )Arbeit, die bislang kein BGGF‑Vorsitzender (mit jährlicher Regionaltagungen und der eigenen Ver- zwei Schriftführern, Schatzmeister und Gesell- waltung bestehen, er muss aktiver beschritten wer- schaftssekretärin) neben seiner beruflichen Tätig- den. Ein Weg, über den sich vermutlich auch ande- keit und ehrenamtlich leisten konnte. Für Aufgaben re Regionalgesellschaften Gedanken machen müs- dieser Art beschäftigt z. B. die DGCH einen General- sen und der möglicherweise nicht wie bisher sekretär (Prof. Dr. Hartwig Bauer), der sich als ehe- neben dem der DGGG verläuft. Kommunikation, maliger Chefarzt, finanziert von der DGCH, um alle Koordination und Kooperation sind vermutlich Belange der Gesellschaft (eben auch die finanziel- sinnvoller als das bisher übliche Nebeneinander. len) kümmert. Sicher kann sich die BGGF ein ähnli- Aber auch hier darf es nicht um eine Änderung um ches Modell finanziell nicht leisten. Aber die Suche jeden Preis gehen. Die Devise muss sein, Bewährtes nach einem ständigen Vertreter, der der BGGF nach beizubehalten. Eine offene Diskussion darüber ist außen kontinuierlich ein „Gesicht“ verleiht und ih- mehr denn je erforderlich, um zu unterscheiden, re, über die Tagungsorganisation hinausgehenden was zwingend geändert werden muss und was kei- Aufgaben koordiniert, könnte in vielerlei Hinsicht nesfalls geändert werden darf. nützlich sein. Würde dadurch die Wahrnehmung der BGGF in der (medizinischen) Öffentlichkeit Starnberg, im Februar 2012 und ihre Attraktivität für junge Kolleginnen und Kollegen gesteigert werden? Das Durchschnitts- Professor Dr. C. Anthuber alter der BGGF‑Mitglieder beträgt derzeit etwa 53 1. Vorsitzender und Schatzmeister der BGGF Jahre, das Bemühen um den wissenschaftlichen und klinischen Nachwuchs wird demnach eine vor- dringliche Aufgabe der BGGF sein. Sie muss deutli- cher machen, warum es sich für einen jungen Arzt/ eine junge Ärztin lohnt, der BGGF beizutreten. Die reduzierte Tagungsgebühr bei Abgabe eines BGGF‑Aufnahmeantrags reicht als Argument ver- mutlich nicht mehr aus. Einen ersten wichtigen Schritt zur Einbindung der jüngeren Generation stellte die Initiative des letzten Vorsitzenden der 17 Siehe hierzu ebd.

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Anhang I: Die Vorstände der BGGF

Jahr 1. Vor- 2. Vor- Beisitzer Berufs- 1. Schrift- Schriftführer/ Kassier/ sitzender sitzender verband führer 2. Schrift- Schatz- Frauenärzte führer meister 1912 Hofmeier, Döderlein, Häberle, Mirabeau, Rosenfeld, Max Albert Albert (1881- Sigmund Ernst (1854–1927) (1860–1941) unbekannt) (1870–1912) (1872–1936) (Würzburg) (München) (Würzburg) (München) (Nürnberg) 1913 1914 Döderlein, Hofmeier, Hengge, Engelhorn, Rosenfeld Albert Max Anton Ernst (1860–1941) (1854–1927) (1873–1945) (1881–1954) (München) (Würzburg) (München) (Erlangen) 1915 bis keine Veränderungen 1920 1921 Simon, Max Döderlein Dyroff, Rudolf Eisenreich, Rosenfeld (1864–1939) (1893–1966) Otto (Nürnberg) (Erlangen) (1881–1947) (München) 1922 1923 1924 Gauß, Simon, Max Schmitt, Eisenreich Rosenfeld Carl Joseph (1864–1939) Walther (1875–1957) (Nürnberg) (1888–1931) (Würzburg) (Würzburg) 1925 1926 1927 Wintz, Gauß, Schmitt Dyroff, Rosenfeld Hermann Carl Joseph Rudolf (1887–1947) (1875–1957) (1893–1966) (Erlangen) (Würzburg) (Erlangen) 1928 1929 Beckh, Wintz, Schmitt Raefler, Rosenfeld August Hermann Johannes (1865–1951) (1887–1947) (1876–1944) (Nürnberg) (Erlangen) (Nürnberg) 1930 1931 1932 Polano, Beckh, Engelbrecht, Oskar August Carl Heinz (1873–1934) (1865–1951) (1894 – un- (München) (Nürnberg) bekannt) (Nürnberg) 1933 Polano Beckh Dyroff, Rudolf Engelbrecht (1893–1966) (Erlangen) 1934

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1935 Eymer, Dyroff Engelbrecht Heinrich (1883–1965) (München) 1936 Eymer Dyroff Engelbrecht 1937 Eymer Dyroff Engelbrecht 1938 Eymer Dyroff Engelbrecht 1939 Hengge, Dyroff Engelbrecht Anton (1873–1945) (München) 1940 bis keine Veränderungen 1950 1951 Burger, Breitner, Berwind, Bauer, Karl Johann Josef Theobald Otmar (1893–1962) (1915–1994) (1916–1995) (1904–1985) (Würzburg) (München) (Würzburg) (München) 1952 bis keine Veränderungen 1954 1955 Burger Breitner Kaiser, Rolf Bauer (Rudolf) (1920–1994) (München) 1956 Rummel, Burger, Breitner Kaiser Bauer Hans Karl Johann (1889–1978) (1893–1962) (Nürnberg) (Würzburg) 1957/ keine Veränderungen 1958 1959 Dyroff, Rummel, Breitner Segschnei- Bauer Rudolf Hans der, Paul (1893–1966) (1889–1978) (Erlangen); (Erlangen) (Nürnberg) Nietsch, E.D. (Erlangen) 1960 Bickenbach, Dyroff, Breitner Kaiser Bauer Werner Rudolf (1900–1974) (1893–1966) (München) (Erlangen) 1961/ keine Veränderungen 1962 1963 Podleschka, Bickenbach, Kaiser, Rolf Ludwig, Bauer Kurt Werner (Rudolf) Hans (1929–) (1902–1999) (1900–1974) (1920–1994) (München) (Nürnberg) (München) (München) 1964 1965 Fikentscher, Podleschka, Kaiser Welsch, Bauer Richard Kurt Hermann (1903–1993) (1902–1999) (1928–) (München) (Nürnberg) (München)

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1966 Brandl, Max Fikentscher, Kaiser Siegert, Bauer (1910–1991) Richard Andreas (Amberg) (1903–1993) (1912–1983) (München) (Amberg) 1967 1968 Schwalm, Kaiser Bauer Horst (1904–1977) (Würzburg) 1969 Göltner, Ewald (1929–) (Würzburg) 1970 Breitner, Josef Kaiser Göbel, Rolf Weidenbach, (1915–1994) (1912–1995); Arnulf (München) Müller, W. (1926–1999) (München) (München) 1971 1972 Ober, Zimmer, Kindermann, Weidenbach Karl-Günther Fritz Günther (1915–1999) (1926–2012) (1935–) (Erlangen) (München) (Erlangen) 1973 1974 Stark, Zimmer Weidenbach Günther (1922–) (Nürnberg) 1975 1976 Waidl, Stark, Zimmer Weidenbach Ernst Günther (1914–1981) (1922–) (München) (Nürnberg) 1977 1978 Spechter, Waidl, Zimmer Weidenbach Horst-Jürgen Ernst (1922–2003) (1914–1981) (Landshut) (München) 1979 1980 Zander, Spechter, Waidl, Koschade, Zimmer Graeff, Weidenbach Josef Horst-Jürgen Ernst Eduard Heinrich (1918–2007) (1922–2003) (1914–1981) (1933–) (1934–2011) (München) (Landshut) (München) (Dachau) (München) 1981 1982 Krone, Zander, Spechter, Koschade Zimmer Strobel, Weidenbach Heinrich A. Josef Horst-Jürgen Gerhard (1925–) (1918–2007) (1922–2003) (1946–) (Bamberg) (München) (Landshut) (Bamberg) 1983 1984 Zimmer, Krone, Zander, Koschade Brusis, Leis, Weidenbach Fritz Heinrich A. Josef Ernst Dietrich (1926–2012) (1925–) (1918–2007) (1937–1997) (1937–) (München) (Bamberg) (München) (München) (München) 1985

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1986 Wulf, Karl- Holzmann, Zimmer, Koschade Brusis Gille, Weidenbach Heinrich Kurt Fritz Jochen (1928–) (1929–) (1926–2012) (1940–) (Würzburg) (Augsburg) (München) (Würzburg) 1987 1988 Holzmann, Graeff, Wulf, Karl- Koschade Brusis Streng, Weidenbach Kurt Heinrich Heinrich Helmut (1929–) (1934–2011) (1928-) (1947–) (Augsburg) (München) (Würzburg) (Augsburg) 1989 1990 Graeff, Weidinger, Holzmann, Staufer, Brusis von Hugo, Jonatha, Heinrich Hans Kurt Franz René (1944–) Wolfdietrich (1934–2011) (1929–) (1929–) (1947–) (Bamberg); (München) (München) (Bayreuth) (Augsburg) (Dachau)/ Fischbach, Koschade, Fritz (1946–) Eduard (München); (1933–) Deckardt, (Dachau) Rainer (1950–) (München) 1991 1992 Weidinger, Lang, Graeff, Staufer Brusis Ploss, Jonatha Hans Norbert Heinrich Birgit (1929–) (1936–) (1934–2011) (1959–) (Bayreuth) (Erlangen) (München) (Bayreuth) 1993 1994 Lang, Berg, Weidinger, Staufer Brusis Jäger, Jonatha Norbert Dietrich Hans Wolfram (1936–) (1935–) (1929–) (1954–) (Erlangen) (Amberg) (Bayreuth) (Erlangen) 1995 1996 Berg, Hepp, Lang, Brusis Jonatha Dietrich Hermann Norbert (1935–) (1934–) (1936–) (Amberg) (München) (Erlangen) 1997 Stuth, Ronaldo (1952–) (Amberg) 1998 Hepp, Elser, Berg, Kürzl, Anthuber, Jonatha Hermann Hubert Dietrich Rainer Christoph (1934–) (1941–) (1935–) (1947–) (1957–) (München) (Landshut) (Amberg) (München) (Starnberg) 1999 2000 Elser, Dietl, Hepp, Hausser, Kürzl Kiefer, Jonatha Hubert Johannes Hermann Peter Annegret (1941–) (1948–) (1934–) (1944–) (1960–) (Landshut) (Würzburg) (München) (Bayreuth) (Landshut) 2001 2002 Dietl, Christ, Elser, Hausser Kürzl Steck, Jonatha Johannes Fritz Hubert Thomas (1948–) (1944–) (1941–) (1959–) (Würzburg) (Schweinfurt) (Landshut) (Würzburg) 2003

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2004 Christ, Friese, Dietl, Hausser Kürzl Flessa, Anthuber, Fritz Klaus Johannes Andreas Christoph (1944–) (1949–) (1948–) (1961–) (1957–) (Schweinfurt) (München) (Würzburg) (Bayreuth) (Starnberg) 2005 2006 Friese, Wischnik, Christ, Kürzl Anthuber Klaus Arthur Fritz (1949–) (1952–) (1944–) (München) (Augsburg) (Schweinfurt) 2007 2008 Wischnik, Beckmann, Friese, Kürzl Anthuber Arthur Matthias W. Klaus (1952–) (1960–) (1949–) (Augsburg) (Erlangen) (München) 2009 2010 Beckmann, Anthuber, Wischnik, Hausser Kürzl Renner, Anthuber Matthias W. Christoph Arthur Stefan (1960–) (1957–) (1952–) (1975–) (Erlangen) (Starnberg) (Augsburg) (Erlangen) 2011 2012 Anthuber, Ortmann, Beckmann, Hausser Kürzl Hönig, Arnd Anthuber Christoph Olaf Matthias W. (1968–) (1957–) (1959–) (1960–) (Würzburg) (Starnberg) (Regensburg) (Erlangen)

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Anhang II: Die historischen Statuten der BGGF und ihrer Vorgänger bis zu ihrer Eintragung ins Vereinsregister

Die Geschichte der Bayerischen Gesellschaft für Ge- Der Ausschuss bestimmt die Zeit und den Ort der burtshilfe und Frauenheilkunde als einer Körper- Versammlung. Eine feststehende Geschäftsord- schaft spiegelt sich im Wandel der Statuten, die nung regelt die Art der Verhandlungen in den Sit- sich diese Körperschaft und ihre unmittelbaren zungen. Vorgänger gegeben haben. Diese sind in dem Bei- trag von Annemarie Kinzelbach in diesem Band be- § 3 Mitglied der Gesellschaft kann Jeder werden, reits eingehend analysiert worden. Erst mit den der sich mit Gynäkologie beschäftigt, unter den in Versuchen der Wiederbelebung eines regelmäßi- § 8 aufgeführten Bedingungen. gen Betriebes der BGGF nach der nationalsozialisti- schen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg wurde § 4 Theilnehmer an den Sitzungen können durch allerdings die Eintragung der Gesellschaft in das Mitglieder eingeführt werden; dieselben dürfen je- Vereinsregister unternommen. Noch im Dezember doch nur mit Genehmigung des Vorsitzenden Vor- 1950 hatte Heinrich Eymer vom Registergericht er- träge halten, oder an den Verhandlungen Theil neh- fahren müssen, dass die Gesellschaft bis dahin ge- men. wiss nicht als Verein registriert gewesen war, da dies die älteren Statuten der Rechtslage nach gar § 5 In der ersten Sitzung einer jeden Versammlung nicht erlaubten. In den Statuten des Jahres 1951 werden sämmtliche geschäftliche Angelegenheiten heißt es daher im ersten Paragraphen noch, die Ge- der Gesellschaft erledigt, namentlich wird auch für sellschaft „soll […] in das Vereinsregister eingetra- die Dauer des nächsten Jahres ein Ausschuss ge- gen werden“.18 Alle Änderungen der Statuten bzw. wählt, bestehend aus: Satzungen seitdem gelten daher dem Bemühen, einem Vorsitzenden, das angestrebte Ziel der Gesellschaft sowie die We- einem stellvertretenden Vorsitzenden, ge, dies zu erreichen, dem geltenden Vereinsrecht zwei Schriftführern, anzupassen, und sollen an dieser Stelle nicht weiter einem Kassenführer, dokumentiert werden. Gleichsam als historischer zwei anderen Mitgliedern. Maßstab werden die 1885 in Kraft getretenen Sta- Die fünf zuerst genannten Personen bilden das Bü- tuten der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie reau bei den Versammlungen. Die anwesenden vorangestellt. Mitglieder wählen den Ausschuss mittels Stimm- zettel durch einfache Stimmenmehrheit. Bei Stim- mengleichheit entscheidet das durch den Vorsit- Statuten der Deutschen zenden gezogene Loos.

Gesellschaft für Gynäkologie § 6 Der Ausschuss leitet die Angelegenheiten der 19 (Entwurf 1877) Gesellschaft für die Dauer des Jahres, namentlich a) beräth er etwaige Abänderungen der Statuten § 1 Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie hat und der Geschäftsordnung, den Zweck, die Gynäkologen durch persönlichen b) entscheidet er über die Aufnahme neuer Mit- Verkehr in regelmässig wiederkehrenden Ver- glieder, sammlungen näher zusammenzuführen und ge- c) veröffentlicht er einige Zeit vor den Versamm- meinsame Arbeiten zu fördern. lungen in verschiedenen medicinischen Zeit- schriften die angemeldeten Vorträge, § 2 Die Versammlungen der Gesellschaft finden d) besorgt er die Veröffentlichung der Verhandlun- jährlich ein Mal statt und dauern zwei bis drei Tage. gen, e) übernimmt er die Verwahrung der Schriften 18 Nach Kinzelbach: BGGF in diesem Band, Fn. 36. und Gelder der Gesellschaft. 19 Nach: Verhandlungen der Versammlung deutscher Ist der Ausschuss mit wenigstens fünf Mitgliedern Gynäkologen in München, in: Archiv für Gynäkologie versammelt, so finden seine Verhandlungen münd- 12 (1877), 262–265; vgl. Hans Ludwig: Die Gründung lich, im anderen Falle schriftlich statt. der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie (1885), in: Frauenarzt 46 (2005), 931 f.

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§ 7 Der Beitrag der Mitglieder beträgt fünfzehn Mark für das Kalenderjahr. Derselbe wird bei jeder Statuten der Deutschen Gesell- 20 jährlichen Versammlung gezahlt. Von den nicht Er- schaft für Gynäkologie (1886) schienenen erhebt der Kassenführer den Beitrag durch Postvorschuss. §1Die„Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie“ hat den Zweck, die gynäkologischen Arbeitskräfte zu § 8 Die Aufnahme neuer Mitglieder erfolgt zur Zeit einigen, durch persönlichen Verkehr den Austausch der Versammlungen. Der neu Aufzunehmende der Ideen zu erleichtern und gemeinsame Arbeiten muss durch drei Mitglieder vorgeschlagen werden. zu fördern. Der gesammte Ausschuss entscheidet über die Auf- nahme durch Stimmenmehrheit. § 2 Die Versammlungen der Gesellschaft finden alle zwei Jahre in der zweiten Hälfte der Pfingstwoche § 9 Die Verhandlungen der Gesellschaft werden statt. Die Verhandlungen in den Sitzungen werden veröffentlicht. Die Redner haben das Manuscript durch die anliegende Geschäftsordnung geregelt. ihres Vortrages dem Ausschusse einzureichen, und dieser bestimmt, in welcher Form und Ausdehnung § 3 Mitglied der Gesellschaft kann Jeder werden, der Vortrag gedruckt wird. Geht spätestens vier der in der Gynäkologie literarisch thätig gewesen Wochen nach der Versammlung das Manuscript ist, unter den in § 8 bezeichneten Bedingungen. nicht ein, so wird der Vortrag nach den Aufzeich- nungen der Schriftführer gedruckt. Die Veröffentli- § 4 Theilnehmer an den Sitzungen können durch chung erfolgt möglichst bald nach den Versamm- Mitglieder eingeführt werden; dieselben dürfen je- lungen im Archiv für Gynäkologie. Jedes Mitglied doch nur mit Genehmigung des Vorsitzenden Vor- der Gesellschaft erhält gratis einen besonderen Ab- träge halten oder an der Debatte Theil nehmen. zug der Verhandlungen. § 5 In der ersten jedesmaligen Sitzung wählt die § 10 Anträge zu Abänderungen der Statuten sind Versammlung durch einfache Stimmenmehrheit dem Ausschusse mindestens einen Monat vor der den Ort der nächsten Versammlung und für die jährlichen Versammlung mitzutheilen, werden zu- Dauer der nächsten zwei Jahre einen Ausschuss, nächst im Ausschusse berathen und können nur bestehend aus durch eine Mehrheit von zwei Drittheilen der in einem Vorsitzenden, der ersten Sitzung der Versammlung anwesenden einem stellvertretenden Vorsitzenden, Mitglieder beschlossen werden. zwei Schriftführern, einem Kassenführer, Geschäftsordnung zwei anderen Mitgliedern. § 1 Der Vorsitzende bestimmt die Tagesordnung die fünf zuerst genannten Personen bilden das Bu- und die Reihenfolge der Vorträge. In den einzelnen reau des Kongresses. Sitzungen gehen die mit Demonstrationen verbun- denen Vorträge in der Regel voran. § 6 Der Ausschuss leitet die Angelegenheiten der Gesellschaft für die Dauer von zwei Jahren, na- § 2 Die Vorträge sind frei zu halten. Wünscht der mentlich: Redner seine Arbeit zu lesen, so hat er zuvor die Ge- a) beräth etwaige Abänderungen der Statuten und nehmigung der Gesellschaft einzuholen. Jeder ein- der Geschäftsordnung, zelne Vortrag darf bis zu dreissig Minuten dauern. b) entscheidet über die Aufnahme neuer Mitglie- Nach Ablauf dieser Zeit hat die Gesellschaft zu be- der, stimmen, ob die Dauer, in der Regel um zehn Minu- c) besorgt die Publikation der Verhandlungen, ten, verlängert werden soll. d) sorgt für die Verwahrung der Archive und Gel- der der Gesellschaft. § 3 Die Reden bei den Besprechungen der Vorträge Ist der Ausschuss versammelt, so finden seine Ver- dürfen fünf Minuten, oder, mit Zustimmung der handlungen mündlich, im anderen Falle schriftlich Gesellschaft, zehn Minuten dauern. Ueber densel- statt. ben Vortrag dürfen andere Redner, als der Vortra- gende selbst, nicht öfter als zwei Mal das Wort ver- 20 Nach: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für langen. Gynäkologie 1 (1886), XII–XIV.

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§ 7 Der Beitrag der Mitglieder und Theilnehmer ist Statuten der Fränkischen für 2 Jahre auf 20 Mark festgesetzt. Sollte dieser Beitrag, nach zweimaliger Erinnerung, für zwei Gesellschaft für Geburtshilfe 21 oder mehrere Jahre nicht gezahlt worden sein, so und Frauenheilkunde 1906 wird der Name des Betreffenden aus der Liste ge- strichen. Der Wiedereintritt in die Gesellschaft § 1 Die Gesellschaft hat den Zweck der Förderung kann ohne Weiteres erfolgen, sobald die fehlenden der Geburtshilfe und Frauenheilkunde, besonders Beiträge nachgezahlt worden sind. auch unter den praktischen Aerzten.

§ 8 Die Aufnahme neuer Mitglieder erfolgt, abgese- § 2 Dieser Zweck wird angestrebt durch Vorträge, hen von der Zeit der Versammlung, zu Neujahr. Der Mitteilungen, Referate, Demonstrationen und Dis- neu Aufzunehmende muss durch drei Mitglieder kussionen in jährlich 4mal stattfindenden Sitzun- vorgeschlagen werden; der Ausschuss entscheidet gen, welche abwechselnd tunlichst am letzten über die Wahl durch Stimmenmehrheit. Sonntag des Januar, April, Juni und Oktober in den Städten Nürnberg, Würzburg, Erlangen, Bamberg § 9 Die Verhandlungen der Versammlung werden stattfinden. selbständig veröffentlicht; der Abdruck der Vor- träge erfolgt, wenn irgend möglich, nach dem vom § 3 Mitglied kann jeder in Unter-, Mittel- und Ober- Vortragenden einzureichenden Manuskripte, an- franken wohnhafte approbierte Arzt werden; auch dernfalls nach den stenographischen Aufzeichnun- können Gäste jederzeit eingeführt werden. gen. Jedes Mitglied, vorausgesetzt, dass der vorjäh- rige Beitrag gezahlt worden ist, erhält unentgeltlich § 4 Die Geschäfte der Gesellschaft leitet ein Vor- ein Exemplar. stand, bestehend aus 1. dem Vorsitzenden § 10 Etwaige Abänderungen der vorliegenden Sta- 2. dem stellvertretenden Vorsitzenden tuten können, nach vorgängiger Berathung im Aus- 3. dem Schriftführer schuss, nur durch eine Majorität von zwei Dritteln 4. dem Kassier. der in einer Sitzung anwesenden Mitglieder der Dieser Vorstand wird auf ein Jahr gewählt, und Versammlung beschlossen werden. zwar in der Januarsitzung eines jeden Jahres. Wie- derwahl ist statthaft. Die Wahl erfolgt durch ge- Geschäftsordnung schlossene Stimmzettel ohne Namensunterschrift, § 1 Der Vorsitzende setzt die Tagesordnung fest doch ist die Wiederwahl durch Akklamation zuläs- und bestimmt die Reihenfolge der Vorträge. sig. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los.

§ 2 Die Vorträge, welche in der Regel frei zu halten § 5 Die Aufnahme der Mitglieder erfolgt in jeder or- sind, dürfen bis zu 20 Minuten dauern. Der Vorsit- dentlichen Sitzung, und zwar nach schriftlich ein- zende hat das Recht, ohne Befragung der Versamm- gereichtem Antrag beim Vorsitzenden. Ueber die lung, denselben eine weitere Ausdehnung um 10 Aufnahme entscheidet die Vorstandschaft, wenn Minuten, als in Summa bis auf 30 Minuten zu ge- sich nach Bekanntgabe der Anmeldung aus der Ver- währen. Nach Ablauf dieser Zeit ist durch Abstim- sammlung kein Widerspruch erhoben hat. In die- mung der Wille der Versammlung einzuholen. sem Falle erfolgt die Aufnahme nach geheimer Ab- stimmung mit einfacher Mehrheit. § 3 Die Reden in der Diskussion dürfen 5 Minuten Der eventuelle Austritt muss bis 1. Februar beim oder, auf Zulassung des Vorsitzenden, 10 Minuten Vorstand schriftlich erklärt sein. dauern, es sei denn, dass die Versammlung durch Abstimmung eine andere Willensmeinung kund- § 6 Jedes Mitglied zahlt einen Jahresbeitrag von 5 giebt. Mark zur Bestreitung der Geschäftskosten. Dieser Beitrag wird im Januar jeden Jahres bezahlt und der Kassier ist berechtigt, denselben durch Post- nachnahme zu erheben.

21 Faksimile in Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 13.

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§ 7 Der Vorsitzende leitet die Verhandlungen und ordentlichen in der Wahlsitzung anwesenden Mit- Diskussionen, bestimmt die Tagesordnung und glieder durch geheime Abstimmung gewählt wird. nimmt die Anträge der Mitglieder entgegen. Ort, Korrespondierende Mitglieder werden ebenfalls Zeit und Gegenstand der Verhandlungen wird den durch Zweidrittelmajorität, Ehrenmitglieder aber Mitgliedern der Gesellschaft mindestens 8 Tage nur mit Einstimmigkeit aufgenommen. vorher vom Vorsitzenden bekannt gegeben. § 3 Neue Mitglieder müssen durch zwei ordentliche § 8 Der Schriftführer besorgt die Führung des Pro- Mitglieder vorgeschlagen werden und sollen vor tokolles in den Sitzungen und die Veröffentlichung ihrer Wahl mindestens einmal den Sitzungen bei- derselben nach Billigung durch den gesamten Vor- gewohnt haben. stand. Falls nicht innerhalb der nächsten 8 Tage Die Wahl neuer Mitglieder wird durch Nennung ih- nach der Sitzung ein Selbstbericht eingereicht ist, rer Namen in der Sitzung und in dem betreffenden wird im Protokolle nur der Titel der Mitteilung be- Einladungsprogramm angezeigt, worauf in einer kannt gegeben. folgenden Sitzung die Wahl vollzogen wird.

§ 9 Der Kassier besorgt das Rechnungswesen der § 4 Die Vorstandschaft besteht aus einem Vorsit- Gesellschaft, die Einziehung der Beiträge und die zenden, einem Schriftführer und deren Stellvertre- jährliche Rechnungsstellung, welche in derselben tern. Sitzung wie die Neuwahl des Vorstandes zu erfol- gen hat, und vertritt im Behinderungsfalle den § 5 Die Wahl der Vorstandschaft findet auf zwei Schriftführer. Jahre in der letzten Sitzung des Bienniums statt. Der ausscheidende Vorsitzende ist für das nächste § 10 Wichtige, die Gesellschaft betreffende Anträge Biennium nicht wählbar, tritt vielmehr in der Regel müssen dem Vorstande schriftlich eingereicht und an die Stelle des stellvertretenden Vorsitzenden, mindestens 8 Tage vor der Verhandlung den Mit- event. findet Neuwahl statt. gliedern bekannt gegeben werden. Alle Abstim- Der stellvertretende Schriftführer ist zugleich Kas- mungen werden entschieden durch die einfache senwart. Majorität der in der betreffenden Sitzungen Anwe- senden. § 6 Die Sitzungen der Gesellschaft finden in der Re- gel im Auditorium der Kgl. Universitäts-Frauenkli- § 11 Die Verhandlungen der Gesellschaft werden in nik in München statt. einer geeigneten Zeitschrift veröffentlicht und den Mitgliedern werden Sonderabzüge dieser Veröf- § 7 Die Sitzungen finden mindestens einmal im fentlichung zugestellt. Monat mit Ausnahme der Ferienmonate statt.

§ 8 Die Vorträge, die in der Regel frei zu halten sind, sollen die Dauer von 20 Minuten nicht überschrei- Statuten der Gynäkologischen ten, doch hat der Vorsitzende das Recht, eine weite- 22 Gesellschaft zu München 1910 re Verlängerung im Einverständnis mit dem Ple- num zu gestatten. § 1 Der Zweck der Gesellschaft ist die Förderung der Das Thema muss dem Schriftführer mindestens Gynäkologie und Geburtshilfe und die Hebung der acht Tage vor dem Sitzungstermin angezeigt wer- Kollegialität. den; der 1. Vorsitzende und der Schriftführer ha- ben dann die Tagesordnung festzusetzen. § 2 Ordentliches Mitglied kann jeder approbierte Nach jedem Vortrage eröffnet der Vorsitzende eine Arzt werden, der sich für die Zwecke der Gesell- Diskussion, die unter Umständen auch in den fol- schaft interessiert und von zwei Drittelteilen der genden Sitzungen fortgesetzt werden kann.

22 Faksimile in Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 7. Die § 9 Die Verhandlungen der Gesellschaft werden von Münchener Gynäkologische Gesellschaft hatte vorher dem Schriftführer zu Protokoll gebracht und eine bereits auf ihrer zweiten Sitzung am 10. Oktober kurze Übersicht darüber wird am Anfang der näch- 1884 die Statuten der Dresdner Gynäkologischen Ge- sten Sitzung verlesen. sellschaft mit einigen Änderungen übernommen. Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 2.

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Die Vorträge werden entweder im Wortlaute oder che Mitglieder dem Vorstand vorgeschlagen wer- in einem Auszuge zusammen mit der folgenden den. Die Namen werden in den jeweiligen Einla- Diskussion nach Redaktion der Vorstandschaft in dungsprogrammen mitgeteilt. Die Aufnahme er- einer Zeitschrift veröffentlicht. folgt durch Ballotage in der Sitzung durch 2/3 der Die Vortragenden und diejenigen Mitglieder, wel- abgegebenen Stimmen. Der eventuelle Austritt che sich an der Diskussion beteiligt haben, sind ver- muß bis zum 1. Januar beim Vorstande schriftlich pflichtet, Selbstberichte bis zum 10. des nächsten erklärt werden. Monats einzusenden. Korrespondierende Mitglieder können durch 2/3 Majorität, Ehrenmitglieder nur durch einstimmi- § 10 Die Höhe des jährlichen Beitrages der ordent- gen Beschluß ernannt werden. lichen Mitglieder wird jeweils in der Wahlsitzung festgestellt. § 4 Jedes Mitglied zahlt einen Beitrag von 2 Mark zur Bestreitung der Geschäftskosten. Dieser Beitrag § 11 Eine Revision der Statuten und ein Kassenbe- wird im Januar jeden Jahres bezahlt. Der Kassier ist richt müssen mindestens alle zwei Jahre stattfin- berechtigt, ihn später durch Postnachnahme zu er- den. heben. Wer trotz dreifacher Erinnerung den Beitrag nicht zahlt, gilt als ausgetreten. § 12 Anträge auf Änderung der Statuten bedürfen zur Annahme der Zustimmung von zwei Dritteln § 5 Die Geschäfte der Gesellschaft leitet ein Vor- der anwesenden Mitglieder. stand, bestehend aus 1. dem Vorsitzenden § 13 Über die Verwendung des Vereinsvermögens 2. dem stellvertretenden Vorsitzenden beschliesst die Gesellschaft mit Zweidrittelmajori- 3. den 2 Schriftführern tät der Anwesenden. 4. dem Kassier. Im Falle der Aufhebung der Gesellschaft fällt ein Dieser Vorstand wird auf 2 Jahre gewählt und zwar etwa vorhandenes Vereinsvermögen einem ärztli- in der ersten Sitzung des jeweiligen Jahres. Der aus- chen, wohltätigen oder wissenschaftlichen Zwecke scheidende Vorstand ist für die nächsten 2 Jahre zu. nicht wieder wählbar; er tritt in der Regel an die Stelle des stellvertretenden Vorsitzenden, eventuell findet Neuwahl statt. Die Wahl erfolgt durch einfa- (Gründungs-)Statuten der Bayeri- che Mehrheit und geschlossene Stimmzettel, ohne Namensunterschrift. Bei Stimmengleichheit ent- schen Gesellschaft für Geburtshilfe scheidet das Los. und Frauenheilkunde 191223 § 6 Der Vorsitzende leitet die Verhandlungen und § 1 Die Fränkische und die Münchener Gesellschaft Diskussionen, bestimmt die Tagesordnung und für Geburtshilfe und Frauenheilkunde vereinigen nimmt die Anträge der Mitglieder entgegen. Ort, sich zu einer gemeinsamen Bayerischen Gesell- Zeit und Gegenstand der Verhandlungen wird den schaft gleichen Namens mit dem Zweckder gemein- Mitgliedern der Gesellschaft mindestens 8 Tage schaftlichen Förderung dieser Wissenschaften. vorher vom Vorsitzenden bekannt gegeben. Die Vorträge sind in der Regel frei zu halten und sollen § 2 Dieser Zweck wird angestrebt durch Vorträge, die Dauer von 20 Minuten nicht überschreiten. Mitteilungen, Referate und Demonstrationen in Doch hat der Vorstand das Recht, eine weitere Ver- jährlich ein- bis zweimal stattfindender Sitzung im längerung im Einverständnis mit der Versammlung Januar und Juni, abwechselnd in München oder zu gestatten. Nürnberg, oder in anderen geeignet erscheinenden Städten. § 7 Der Schriftführer besorgt die Führung des Pro- tokolls in der Sitzung und seine Veröffentlichung § 3 Mitglied kann jeder in Bayern approbierte Arzt nach Einvernehmen mit dem Vorsitzenden. Falls werden; auch können Gäste jederzeit eingeführt nicht innerhalb der nächsten 14 Tage nach der Sit- werden. Neue Mitglieder müssen durch 2 ordentli- zung ein Selbstbericht über die Mitteilungen und auch über die Diskussionsbemerkungen einge- 23 Faksimile in Zander: BGGF (1987), S. 25 f. reicht ist, wird im Protokoll nur der Titel der Mittei-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang II: Die historischen Statuten der BGGF 275 lung und der Name des Diskussionsredners be- § 3 Mitglied der Bayerischen Gesellschaft für Ge- kannt gegeben. burtshilfe und Frauenheilkunde kann jeder in Bay- § 8 Der Kassier besorgt das Rechnungswesen der ern tätige Frauenarzt und Geburtshelfer werden, Gesellschaft, die Einziehung der Beiträge und die ebenso auch solche Ärzte, die sich mit Frauenheil- Rechnungsstellung, welche in derselben Sitzung kunde und Geburtshilfe befassen. Bei Verlegung wie die Neuwahl des Vorsitzenden nach vorheriger des Wohnsitzes außerhalb des Bayerischen Staats- Prüfung durch den Vorstand zu erfolgen hat. Im Be- gebietes erlischt die Mitgliedschaft nur auf Antrag hinderungsfalle vertritt er den Schriftführer. des Mitgliedes. Außerbayerische Fachärzte für Geburtshilfe und § 9 Wichtige, die Gesellschaft betreffende Anträge Frauenheilkunde können auf Antrag ebenfalls als müssen dem Vorstande schriftlich eingereicht und Mitglieder aufgenommen werden. mindestens 8 Tage vor der Verhandlung den Mit- gliedern bekannt gegeben werden. Alle Abstim- § 4 Die Geschäfte der Gesellschaft leitet ein Vor- mungen werden durch einfache Majorität der in stand, bestehend aus der betreffenden Sitzung Anwesenden entschie- 1. dem Vorsitzenden den. Änderungen der Statuten bedürfen 2/3 der 2. dem stellvertretenden Vorsitzenden Stimmen der Anwesenden. 3. den Beisitzern 4. dem Schatzmeister § 10 Die Verhandlungen der Gesellschaft werden 5. dem ständigen Schriftführer. im Zusammenhang mit denen der Münchener Gy- Der Vorsitzende wird jeweils auf die Amtsdauer näkologischen Gesellschaft in der Monatsschrift von 3 Jahren gewählt, das Amtsjahr beginnt am und im Centralblatt für Geburtshilfe und Gynäkolo- 1. April. Die Wahl erfolgt auf den Vorschlag des Vor- gie veröffentlicht. Den Mitgliedern werden Sonder- standes in schriftlichem Wahlgang durch die Ver- abzüge dieser Veröffentlichung zugestellt. sammlung der Mitglieder mit Zweidrittelmehrheit. Stellvertretender Vorsitzender ist jeweils der aus- § 11 Über das Vermögen der Gesellschaft verfügt scheidende Vorsitzende. die Gesellschaft mit 2/3 Stimmen der Anwesenden. Die Beisitzer sind die früheren Vorsitzenden der Gesellschaft. Der Schatzmeister wird auf Vorschlag des Vorstan- Statuten der Bayerischen des mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Seine Tätig- keit ist nicht begrenzt. Gesellschaft für Geburtshilfe Der ständige Schriftführer wird auf Vorschlag des 24 und Frauenheilkunde (1929) Vorstandes mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Seine Tätigkeit ist unbegrenzt. Der stellvertretende § 1 Die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Schriftführer wird auch auf Vorschlag des Vorstan- Frauenheilkunde, entstanden aus der Vereinigung des mit Zweidrittelmehrheit gewählt; seine Amts- der Fränkischen und Münchner Gesellschaft für dauer entspricht der des Vorsitzenden. Der stell- Geburtshilfe und Frauenheilkunde, hat den Zweck vertretende Schriftführer soll am gleichen Ort wie die gynäkologische und geburtshilfliche Wissen- der Vorsitzende wohnen. schaft zu fördern und durch persönlichen Verkehr Sämtliche Stellen sind ehrenamtlich. einen gemeinsamen Ideenaustausch herbeizufüh- ren. § 5 Der Vorsitzende leitet die Kongresse, bestimmt den Kongressort und besondere Kongressthemen. § 2 Dieser Zweck wird angestrebt durch Vorträge, Bei Ansetzung des Termins der Tagungen hat sich Diskussionen, Referate und Demonstrationen. Es der Vorsitzende mit den benachbarten Gesellschaf- findet jährlich eine Haupttagung in München, ten: der Oberrheinischen Gynäkologischen Gesell- Nürnberg, Würzburg oder Erlangen im Laufe des schaft, der Mittelrheinischen Gynäkologischen Ge- Winters (Dezember, Januar, Februar) statt. Eine sellschaft und der Mitteldeutschen Gesellschaft für Sommertagung kann im Bedarfsfalle vom Vorstand Gynäkologie ins Benehmen zu setzen, um eine Kol- anberaumt werden. Als Tagungsorte sind die Baye- lision der verschiedenen Tagungen zu vermeiden. rischen Bäder in Betracht zu ziehen. Mindestens 4 Wochen vor dem festgesetzten Ter- min ist allen Mitgliedern die Tagung anzuzeigen 24 Faksimile in Zander; Zimmer: BGGF (1987), S. 13. und zur Einsendung von Vorträgen aufzufordern.

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Der Meldungsschluss für Vorträge ist 10 Tage vor § 10 Der Mitgliederbeitrag beträgt 5.- Mk. Dieser der Tagung anzusetzen. Bei überreichlichen An- Beitrag wird im Januar jeden Jahres bezahlt. Der meldungen ist es dem Ermessen des Vorsitzenden Schatzmeister ist berechtigt, ihn später durch Post- anheimgegeben, eine ihm für die Tagung geeignet nachnahme zu erheben. Wer trotz dreifacher Erin- erscheinende Auswahl zu treffen. nerung den Beitrag nicht zahlt, gilt als ausgetreten. Kollegen, die als Mitglieder aufgenommen zu wer- den wünschen, reichen ihre Meldung unter Angabe § 11 Die Verhandlungen der Gesellschaft werden in zweier als Paten fungierender Mitglieder der Ge- extenso in der Monatsschrift für Geburtshilfe und sellschaft ein. Über die endgültige Aufnahme ent- Gynäkologie veröffentlicht. Jedes Mitglied erhält ei- scheidet der Vorstand. nen Sonderdruck.

§ 6 Dem Schatzmeister obliegt § 12 Über das Vermögen der Gesellschaft verfügt a) die Rechnungsführung auf Antrag des Vorstandes die Mitgliederversamm- b) die Einhebung der Mitgliederbeiträge. lung mit Zweidrittelmehrheit der Anwesenden. Die Entlastung erfolgt durch die Versammlung der Mitglieder und zwar in der gleichen Sitzung, in der § 13 Jedem neu eintretenden Mitglied ist ein Mit- auch die Neuwahl des Vorsitzenden vorgenommen gliederverzeichnis und ein Sonderabdruck der Sta- wird. Eine vorherige Prüfung der Abrechnung hat tuten zu übersenden. durch den Vorsitzenden zu erfolgen. § 14 Das Mitgliederverzeichnis ist alle 5 Jahre neu § 7 a) Der Schriftführer besorgt die Führung des herauszugeben. Protokolls in der Sitzung und seine Veröffentli- chung nach Einvernehmen mit dem Vorsitzenden. § 15 Die Mitgliederversammlung findet anlässlich Falls nicht innerhalb der nächsten 14 Tage nach der Haupttagung statt. der Sitzung ein Selbstbericht über die Mitteilungen und auch über die Diskussionsbemerkungen einge- reicht ist, wird dem Protokoll nur der Titel der Mit- teilungen und der Name des Redners bekannt ge- Statuten der Bayerischen geben. b) Der stellvertretende Schriftführer wird nach Gesellschaft für Geburtshilfe 25 dem Wunsche des Vorsitzenden ernannt. Er soll und Frauenheilkunde (1951) am gleichen Orte wie dieser wohnen. Er vermittelt den Schriftwechsel auf Anordnung des Vorsitzen- §1 Die „Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe den. und Frauenheilkunde e.V.“ entstanden aus der Ver- einigung der Fränkischen und Münchener Gesell- § 8 Ehrungen: schaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, hat 1. Die Ehrenmitgliedschaft wird nur auf Antrag des den Zweck die gynäkologische und geburtshilfliche Vorstandes durch einstimmigen Beschluss der Mit- Wissenschaft zu fördern und durch persönlichen gliederversammlung verliehen. Verkehr einen gemeinsamen Ideenaustausch her- 2. Korrespondierende Mitglieder werden durch beizuführen. Sitz des Vereins ist Würzburg und den Beschluss der Vorstandschaft ernannt. ausserdem soll er in das Vereinsregister eingetra- gen werden. § 9 Wichtige, die Gesellschaft betreffende Anträge müssen dem Vorstande schriftlich eingereicht und § 2 Dieser Zweck wird angestrebt durch Vorträge, mindestens 8 Tage vor der Versammlung den Mit- Diskussionen, Referate und Demonstrationen. Es gliedern bekannt gegeben werden. Alle Abstim- findet jährlich eine Haupttagung in München, mungen werden durch einfache Majorität der in Nürnberg, Würzburg oder Erlangen im Laufe des der betreffenden Sitzung Anwesenden entschie- Winters (Dezember, Januar, Februar) statt. Eine den. Änderungen der Statuten können nur durch Sommertagung kann im Bedarfsfalle vom Vorstand Zweidrittelmehrheit der Versammlung der Mitglie- der beschlossen werden. 25 Nach der Kopie beim Registergericht Würzburg. Wir danken Stefanie Motz, die sie dort freundlicherweise angefordert und uns zur Verfügung gestellt hat.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang II: Die historischen Statuten der BGGF 277 anberaumt werden. Als Tagungsorte sind die Baye- Bei Ansetzung des Termins der Tagungen hat sich rischen Bäder in Betracht zu ziehen. der Vorsitzende mit den benachbarten Fachgesell- Die Verhandlungen der Gesellschaft werden in ex- schaften ins Benehmen zu setzen, um eine Kollision tenso in einer gynäkologischen Zeitschrift veröf- der verschiedenen Tagungen zu vermeiden. fentlicht. Mindestens 4 Wochen vor dem festgesetzten Ter- Jedes Mitglied erhält einen Sonderdruck. min ist allen Mitgliedern die Tagung anzuzeigen und zur Einsendung von Vorträgen aufzufordern. § 3 Mitglied der Bayerischen Gesellschaft für Ge- Der Meldungsausschluss der Vorträge ist 10 Tage burtshilfe und Frauenheilkunde kann jeder in Bay- vor der Tagung anzusetzen. Bei überreichlichen ern tätige Frauenarzt und Geburtshelfer werden, Anmeldungen ist es dem Ermessen des Vorsitzen- ebenso auch solche Ärzte, die sich mit Frauenheil- den anheimgegeben, eine ihm für die Tagung ge- kunde und Geburtshilfe befassen. Bei Verlegung eignet erscheinende Auswahl zu treffen. des Wohnsitzes ausserhalb des Bayerischen Staats- Kollegen, die als Mitglieder aufgenommen zu wer- gebietes erlischt die Mitgliedschaft nur auf Antrag den wünschen, reichen ihre Meldung unter Angabe des Mitgliedes. Ausserbayerische Fachärzte für Ge- zweier als Paten fungierender Mitglieder der Ge- burtshilfe und Frauenheilkunde können auf Antrag sellschaft ein. Über die endgültige Aufnahme ent- ebenfalls als Mitglieder aufgenommen werden. scheidet der Vorstand. Der Mitgliederbeitrag beträgt 10.– DM. Dieser Be- Der Austritt eines Mitgliedes erfolgt durch schriftli- trag wird im Januar jeden Jahres bezahlt. Der che Mitteilung. Schatzmeister ist berechtigt, ihn später durch Post- nachnahme zu erheben. Wer trotz dreifacher Erin- § 6 Dem Schatzmeister obliegt nerung den Beitrag nicht zahlt, gilt als ausgetreten. a) die Rechnungsführung b) die Erhebung der Mitgliederbeiträge. § 4 Die Geschäfte der Gesellschaft leitet ein Vor- Die Entlastung erfolgt durch die Versammlung der stand, bestehend aus Mitglieder und zwar in der gleichen Sitzung, in der 1. dem Vorsitzenden auch die Neuwahl des Vorsitzenden vorgenommen 2. dem stellvertretenden Vorsitzenden wird. Eine vorherige Prüfung der Abrechnung hat 3. den Beisitzern durch den Vorsitzenden zu erfolgen. 4. dem Schatzmeister 5. dem ständigen Schriftführer. § 7 a) Der Schriftführer besorgt die Führung des Der Vorsitzende wird jeweils auf die Amtsdauer Protokolls in der Sitzung und seine Veröffentli- von 3 Jahren gewählt, das Amtsjahr beginnt am chung nach Einvernehmen mit dem Vorsitzenden. 1. April. Die Wahl erfolgt auf den Vorschlag des Vor- Falls nicht innerhalb der nächsten 14 Tage nach standes in schriftlichem Wahlgang durch die Ver- der Sitzung ein Selbstbericht über die Mitteilungen sammlung der Mitglieder mit Zweidrittelmehrheit. und auch über die Diskussionsbemerkungen einge- Stellvertretender Vorsitzender ist jeweils der aus- reicht ist, wird dem Protokoll nur der Titel der Mit- scheidende Vorsitzende. teilungen und der Name des Redners bekannt ge- Die Beisitzer sind die früheren Vorsitzenden der geben. Gesellschaft. Der Schatzmeister wird auf Vorschlag b) Der stellvertretende Schriftführer wird nach des Vorstandes mit Zweidrittelmehrheit gewählt. dem Wunsche des Vorsitzenden ernannt. Er soll Seine Tätigkeit ist unbegrenzt. Der stellvertretende am gleichen Orte wie dieser wohnen. Er vermittelt Schriftführer wird auch auf Vorschlag des Vorstan- den Schriftwechsel auf Anordnung des Vorsitzen- des mit Zweidrittelmehrheit gewählt; seine Amts- den. Beschlüsse werden schriftlich niedergelegt dauer entspricht der des Vorsitzenden. Der stell- und vom Vorsitzenden und dem Schriftführer un- vertretende Schriftführer soll am gleichen Ort wie terzeichnet. der Vorsitzende wohnen. Sämtliche Stellen sind ehrenamtlich. § 8 Ehrungen: Vorstand im Sinne des § 26 Abs. II. BGB ist der Vor- 1. Die Ehrenmitgliedschaft wird nur auf Antrag des sitzende, im Verhinderungsfalle der stellvertreten- Vorstandes durch einstimmigen Beschluss der Mit- de Vorsitzende. gliederversammlung verliehen. 2. Korrespondierende Mitglieder werden durch § 5 Der Vorsitzende leitet die Kongresse, bestimmt den Beschluss der Vorstandschaft ernannt. den Kongressort und besondere Kongressthemen.

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§ 9 Wichtige, die Gesellschaft betreffende Anträge § 11 Das Mitgliederverzeichnis ist alle 5 Jahre neu müssen dem Vorstande schriftlich eingereicht und herauszugeben. Jedem neu eintretenden Mitglied mindestens 8 Tage vor der Versammlung den Mit- ist ein Mitgliederverzeichnis und ein Sonderdruck gliedern bekannt gegeben werden. Alle Abstim- der Statuten zu übersenden. mungen werden durch einfache Majorität der in der betreffenden Sitzung Anwesenden entschie- § 12 Die Mitgliederversammlung findet anlässlich den. Änderungen der Statuten können nur durch der Haupttagung statt. Zweidrittelmehrheit der Versammlung der Mitglie- Die Einladung erfolgt schriftlich. der beschlossen werden. Wenn der vierte Teil der Mitglieder es schriftlich unter Angabe von Gründen verlangt, ist eine Mit- § 10 Über das Vermögen der Gesellschaft verfügt gliederversammlung einzuberufen. auf Antrag des Vorstandes die Mitgliederversamm- lung mit Zweidrittelmehrheit der Anwesenden.

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Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien

Im Laufe der Recherchen zu diesem Band sind zahl- Alle Mitglieder, von denen nach derzeitigem reiche biographische Daten erhoben worden, die Stand der Recherchen zuverlässig davon auszuge- hier alphabetisch sortiert in knappster Form mitge- hen ist, dass sie während der nationalsozialistischen teilt werden sollen. Dabei ist es keinesfalls das Ziel, Diktatur mit einem rassistischen Verfolgungshin- die Mitgliederschaft der BGGF im 20. Jahrhundert tergrund aus der Gesellschaft ausscheiden mussten, umfassend zu dokumentieren – dies hätte die Kräf- sind in das Verzeichnis aufgenommen worden. Es te der Herausgeber bei Weitem überfordert. Die handelt sich um Hans Bab, Friedrich Callmann, Wil- hier mitgeteilten Angaben sind eher als Ergänzung helm Drey, Richard Fleischer, Hildegard Heim, Ru- zum Personenregister gedacht, die es ermöglichen dolf Hirsch, Hans Kraus, Emil Mosbacher, Oskar Po- soll, schnell und unproblematisch Basisdaten zu lano, Nathan Riesenfeld, Ernst Rosenfeld, Hans Sän- vielen im Band erwähnten historischen Personen ger, Ernst Ritter von Seuffert, Willi Straus, Michael zu erheben. Als „historisch“ eingeordnet wurden Wachtel, Emil Weil, Gustav Wiener, Samuel Wil- Persönlichkeiten, die vor dem Jahr 2000 verstorben hermsdörfer und Erwin Zweifel. Ebenfalls vollstän- sind. dig hier aufgeführt sind die ersten sechs weiblichen Die hier versammelten Kurzbiographien führen Mitglieder der Gesellschaft nach dem Mitglieder- unter dem Namen und Vornamen der biographier- verzeichnis von 1929: Ida Democh-Maurmeier, ten Person zuerst Geburts- und Sterbedatum mit Annemarie Durand-Wever, Hildegard Heim, Mally -ort, sodann V[ater] und M[utter], E[hepartner] Kachel, Sophie Lützenkirchen und Maria Monheim. und K[inder], einen Kurzabriss der Studien sowie In bestimmten Ausnahmefällen, die vor allem des beruflichen Lebenswegs, die Erwähnung in Mitglieder des erweiterten Vorstands der Gesell- den Mitgliederlisten der BGGF 1929 und 1939 (z. T. schaft betreffen, mussten zusätzliche Anstrengun- ergänzt durch die Nennung in den gedruckten Mit- gen unternommen werden, um wenigstens die Le- gliederverzeichnis der Deutschen Gesellschaft für bensdaten zutreffend mitteilen zu können. Dafür Gynäkologie von 1931 und 1933), die auf den Jah- waren mühsame Recherchen in städtischen Archi- restagungen der BGGF gehaltenen Vorträge, die für ven, bei Ärztlichen Kreisverbänden, in Nachrufen, die BGGF übernommenen Funktionen, die Publika- in Klinikarchiven und in Dissertationen erforder- tionen sowie einen kurzen resümierenden Text lich. Davon abgesehen werden zu zahlreichen und die Quellenverweise auf. Personen lediglich Daten mitgeteilt, wie sie in den Der Schwerpunkt liegt auf Biographien von Per- gedruckten Standardnachschlagewerken und ‑ärz- sonen, die in der ersten Hälfte und der Mitte des teverzeichnissen zu finden sind. Die hier veröffent- 20. Jahrhunderts gelebt haben. Mit nur wenigen lichten Publikationslisten verstehen sich lediglich Ausnahmen waren alle im Folgenden Genannten als erste Einstiege in die jeweilige Bio-Bibliogra- Mitglieder der BGGF; einzeln nachgewiesen wer- phie; Vollständigkeit wurde nicht angestrebt. Es den jeweils die Übernahme von Funktionen inner- wurde versucht, jeweils wenigstens die Disserta- halb der Gesellschaft, die Ehrenmitgliedschaft tionsschrift zu ermitteln, aber selbst dies gelang sowie die Nennung in den im Typoskript mit hand- nicht immer. Die von anderer Stelle übernomme- schriftlichen Ergänzungen vorliegenden Mitglie- nen Literaturangaben sind teilweise unvollständig derverzeichnissen der Jahre 1929 und 1936 (mit und wurden nicht im Einzelnen überprüft bzw. er- Ergänzungen bis 1939). Die vollständige Publika- gänzt. tion dieser Verzeichnisse hätte den hier zur Verfü- Sämtliche zu Rate gezogenen Quellen sind am gung stehenden Rahmen aber gesprengt. Die Kurz- Ende jeder einzelnen biographischen Notiz in Kurz- biographien führen weiterhin auf, wann die betref- form zitiert, unabhängig davon, ob es sich um die fenden Personen auf den Jahreskongressen der angesprochenen gedruckten Ärzteverzeichnisse BGGF zu bestimmten Themen gesprochen haben. oder Archivdokumente handelt, die im Zuge der Daraus ergibt sich gleichsam ein Datenskelett der Recherchen zu den Artikeln dieses Bandes bearbei- Aktivitäten dieser Personen für und mit der BGGF. tet wurden. Auf diesem Wege hoffen wir, ein In- Die Geschichte dieser fachärztlichen Gesellschaft strument zur Verfügung zu stellen, mit dem die wird damit im Gegenzug zur Geschichte der vielen dem Band zugrunde liegende Recherchearbeit Menschen, die daran in ganz unterschiedlicher nachvollzogen und nach Möglichkeit fortgesetzt Form beteiligt waren. werden kann.

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Die alphabetische Aufzählung von Personenda- Berliner Universitäts-Frauenkliniken. Berlin 2010, ten birgt indes ein Problem, das an dieser Stelle we- S. 191–199. nigstens angesprochen sei: Täter und Opfer der na- Detjen, Marion: Zum Staatsfeind ernannt. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS‑Regime tionalsozialistischen Diktatur werden so in eine in München. München 1998. Nachbarschaft gezwungen, die Letzteren gegen- DGG‑Mitgliederliste = Arch Gynäkol 144 (1931), über als zynisch wahrgenommen werden könnte. S. XXIII–XLII; 156 (1933), S. XX–XXXVI. Dies ist natürlich nicht beabsichtigt! Den Kurzbio- Doneith, Thorsten: August Mayer. Direktor der Universi- graphien wurden deshalb möglichst einige erläu- täts-Frauenklinik Tübingen 1917–1949. Diss. med. ternde Sätze beigegeben, die in jedem historisch Tübingen 2007. Döring, Gerhard: Werner Bickenbach 1900–1974. In: entscheidbaren Fall unzweifelhaft deutlich ma- Geburtshilfe Frauenheilkd 34 (1974), S. 896–897. chen, welcher der genannten Gruppen die be- Ebert, Monika: Zwischen Anerkennung und Ächtung. schriebene Person zuzuordnen ist. Die Auflistung Medizinerinnen der Ludwig-Maximilians-Universi- in einer separaten „Opferliste“ hingegen würde tät in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neu- nicht allein den Nachschlageaufwand immer dann stadt/Aisch 2003. verdoppeln, wenn im Vorfeld lediglich ein Name Englisch, Werner (Hrsg.): In memoriam Albert Döder- bekannt ist, sondern vor allem auch das „Aussortie- lein. Berlin; Heidelberg; New York; u.a. 1993. Eymer, Heinrich; Ries, Julius: Ernst Ritter von Seuffert ren“, die Verdrängung und Vertreibung der Betrof- [Nachruf]. In: Strahlentherapie 61, H. 2 (1953), fenen durch den Nationalsozialismus, zumindest S. 159–160. formal erneuern und wiederholen. Dies darf, kann Fischer = Fischer, Isidor (Hrsg.): Biographisches Lexikon und soll nicht das Ziel der folgenden biographi- der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre, schen Notizen sein. Bd. I: Aaser – Komoto [Erstausgabe Berlin; Wien 1932]. München 1962; Bd. II: Kon – Zweig; Nachträge und Berichtigungen [Erstausgabe Berlin; Wien 1933]. München 1962; Bd. III: Nachträge und Ergänzungen. Gedruckte Quellen/Literatur Abu – Korn, bearb. und hrsg. von Peter Voswinckel. Hildesheim 2002. ÄHB = Ärztliches Handbuch für Bayern [1925, 1931/ Franqué, Otto von: Max Hofmeier [Nachruf]. In: Zen- 1932], hrsg. nach amtlichen Quellen von Andreas tralbl Gynäkol 51 (1927), S. 1290–1299. Korzendorfer. München [1925, 1931/32]. Frobenius, Wolfgang: Karl Günther Ober. Begabter Ope- Albrecht, Pavla: Prof. Dr. Heinrich Eymer. Eine ärztliche rateur und leidenschaftlicher Gynäkopathologe. Zur Karriere zwischen Ehrgeiz, Eugenik und Nationalso- Bilanz eines Lebens für die klinische Hochschulmedi- zialismus. In: Krauss, Marita (Hrsg.): Rechte Karrie- zin. (= Sitzungsberichte der Physikalisch-Medizini- ren in München von der Weimarer Zeit bis in die schen Sozietät zu Erlangen. Neue Folge 6) Erlangen Nachkriegsjahre. München 2010, S. 297–310. 1999, S. 44–74. Bauereisen, Erich: Ernst Bumm. In: Neue deutsche Bio- Frobenius, Wolfgang: Röntgenstrahlen statt Skalpell. Die graphie, Bd. 3: Bürklein – Ditmar. Berlin 1957, S. 16. Universitäts-Frauenklinik Erlangen und die Ge- Bleker, Johanna; Schleiermacher, Sabine: Ärztinnen aus schichte der gynäkologischen Radiologie von 1914– dem Kaiserreich. Lebensläufe einer Generation. 1945. Erlangen 2003. Weinheim 2000. Frobenius, Wolfgang: Abtreibungen bei „Ostarbeiterin- Bröer, Ralf: Frauenheilkunde im Dienst der Eugenik. nen“ in Erlangen. Hochschulmediziner als Helfers- Ärztliche Karrieren an der Universitätsfrauenklinik helfer des NS‑Regimes. In: Frewer, Andreas; Siedbür- Heidelberg im Nationalsozialismus. 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Würzburg 2008. der Wissenschaften, 24 Bde., Berlin 1953–2010. Wormer, Eberhard: August Mayer. In: Neue deutsche Neuhaus, Ludwig: Karl Burger [Nachruf]. In: Zentralbl Biographie, Bd. 16: Maly – Melanchthon. Berlin 1990, Gynäkol 84 (1962), S. 1506–1508. S. 535–536. NN: Du wirst das verstehen. In: Der Spiegel 1950, Nr. 29, Wulf, Karl-Heinrich: Max Hofmeier (1854–1927). In: S. 6–9. Zander, Josef; Zimmer, Fritz (Hrsg.): Die Bayerische NN. In: Der Stern 1950, Nr. 37, S. 6–7, 21. Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde. NN. In: Erlanger Nachrichten vom 08. 09. 1950, Eine Dokumentation anläßlich ihres 75jährigen Be- 09. 09. 1950, 06. 10. 1950. stehens. München 1987, S. 46–49. NN. In: Erlanger Tagblatt 08. 09. 1950. Zander, Josef: Spuren. Eine wissenschaftliche Biogra- NN. Spiegel, Stern, Erlanger Nachrichten 07. 10. 1950. phie. München; Wien; Baltimore 1998. Pagel, Julius Leopold (Hrsg.): Biographisches Lexikon Zander, Josef; Ries, Julius: In memoriam Professor Dr. hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhun- med. Walter Rech. In: MMW 118 (1976), S. 479. derts. Berlin; Wien 1901. Zander, Josef; Zimmer, Fritz (Hrsg.): Die Bayerische Ge- Rieger, Susanne; Jochem, Gerhard: Jüdische Ärzte 1933– sellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde. 1945 in Nürnberg. In: Jochem, Gerhard (Hrsg.): tran- Eine Dokumentation anläßlich ihres 75jährigen Be- sit nürnberg #3. Menschen und Leben. Nürnberg stehens. München 1987. 2009, S. 183–202.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 282 Anhang

Zimmer, Fritz: Werner Bickenbach (1900–1974). In: Kurzbiographien Zander, Josef; Zimmer, Fritz (Hrsg.): Die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Eine Dokumentation anläßlich ihres 75jährigen Be- Albrecht, Hans stehens. München 1987, S. 81–84. * 14.06. 1878, Sonthofen/Allgäu † 26.05. 1944, München Internetquellen Approbation: 1901; Habilitation: 1921 (München) ADB/NDB. Deutsche Biographie. www.deutsche-biogra phie.de/index.html (04. 09. 2012). Karriere: 1902–1904 chir. Ass. KH rechts der Isar; Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neun- 1905 I. UFK München; 1906–1914, 1918–1919 II. zehnten Jahrhunderts. Mit einer historischen Einlei- UFK München; 1925 a.o. Prof. I. UFK München; Di- tung, hrsg. von Prof. Dr. J. Pagel in Berlin. www.zeno. rektor der Kranken-Anstalt Rotes Kreuz München. org/Pagel-1901 (04. 09. 2012). Blume, Gisela Naomi: Memorbuch – Fürther Opfer der ‑ Shoa. www.juedische-fuerther.de/ (04. 09. 2012). BGGF Mitgliederlisten 1929, 1936 Buchin, Jutta: Dokumentation: Ärztinnen im Kaiserreich (2010). http://web.fu-berlin.de/aeik/index.html Vorträge BGGF: 1912 (Die diffuse gonorrhoische (04. 09. 2012). Peritonitis), 1914 (Über Chorea gravidarum; Zur Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der natio- operativen Therapie der Rektalprolapse bei Frau- nalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland en), 1921 (Demonstrationen: 1. Ovarialgravidität; (1933–1945). www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (04. 09. 2012). 2. Tubenkarzinom; 3. Karzinom des Colon descen- Rostocker Matrikelportal – Datenbankedition der Imma- dens; 4. faustgroßes Fibromyom des Dünndarm- trikulationen an der Universität Rostock 1419–1945. mesenteriums; 5. exstirpierte dystope Niere, 6. ver- http://matrikel.uni-rostock.de/id/200007380 (04. 09. schluckte Nagelfeile [hat u.a. Uterus angespießt]; 2012). Die Therapie des fieberhaften Abortes), 1922 (1. Faustgroße Haematometra lateralis und manns- faustgroße Haematosalpinx von 21-jährigem Mäd- chen; 2. Apfelgroßes Leiomyom des linken Ovari- ums bei Uterusmyom; 3. Reseziertes Querkolon wegen ausgebreiteter, das Kolon einschnürender Karzinommetastasen im Omentum maius und Li- gamentum gastricolicum. Ileosigmoideoanastomo- se. Heilung; 4. Doppelseitige Ovarialkarzinome [mikroskopisch teilweise vom Bilde des Hyper- nephroms], die als Fernwirkung eine diffuse Papil- lomatose und Bronzeverfärbung der Haut zur Folge hatten; Myom und sexuelle Reiztheorie), 1924 (1. Eierstocksfunktion und pathologische Reaktion; 2. Extragenitale Adenofibrosis unter Demonstra- tion mikroskopischer Präparate), 1925 (Demons- trationen: 1. Abnorme Tubargravidität bei akzesso- rischem Tubenostium; 2. Seltene Zwillingsplacenta monamniotischer Zwillinge; Erfahrungen mit der geburtshilflichen Rectaluntersuchung), 1927 (Zur Diagnose und Therapie der endometrioiden Ovari- alhämatome; Pathologisch-anatomische Demons- trationen), 1929 (Fehlschlüsse bei Verallgemeine- rung der Indikation zum Kaiserschnitt), 1930 (Die temporäre Röntgenamenorrhöe zur Behandlung der endometrioiden Tumoren des Ovariums und Peritoneums), 1931 (Operation und Kreislaufschä- digung), 1932 (Klinische Erfahrungen mit der tem- porären Strahlensterilisierung. Seltenere Indikatio-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 283 nen; Indikationsstellung zur digitalen Dehnung des ben hatte, kam 1914 nach München an die II. UFK, Muttermundes), 1933 (Zur Frage der Bösartigkeit wo er bis 1939 blieb. Der Antrag seiner Witwe auf der Endometriosis rectouterina und ihrer Rückbil- Entschädigungsleistungen erwähnt, dass er auf- dung nach Röntgenmenolyse), 1935 (Schwanger- grund einer Anzeige wegen „Rassenschande“ 1938 schaft bei essentieller Hypertonie; Kurze Mitteilun- für zwölf Wochen in Schutzhaft genommen wurde, gen: 1. Zur Behandlung der juvenilen Polymenor- weitere Untersuchungen wegen Verdachts der ge- rhoe; 2. Zur Methodik der künstlichen Frühgeburt; werbsmäßigen Abtreibung wurden nach seiner 3. Zur Dränage bei aseptischen subperitonealen Auswanderung nach London im August 1939 ein- Wundhöhlen des kleinen Beckens), 1936 (Über die gestellt. Der Sohn der beiden, der Elektrophysiker Bedeutung der Abhängigkeit der Ovarialfunktion Dr.-Ing. Ulrich Bab, wurde durch den rassistischen vom endokrin-vegetativen System für die Hormon- Terror zum Suizid getrieben. behandlung), 1937 (Der Geburtsschok), 1939 (Kli- nische Erfahrungen mit der Hormontherapie in Gedruckte Quellen: ÄHB 1925, 1931/32; GK 1928; der Gynäkologie). RMK 1935, 1937; Damskis: Biografien (2009), 219.

Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; RMK 1931, 1935; Internetquellen: Matrikel Uni Rostock 1901. matri GW 1956, 180; Fischer I (1962), 17; Fischer III kel.uni-rostock.de/id/200007380 (04.09. 2012) (2002), 20. Archivalische Quellen: BayerHStaatsA M LEA 4807.

Bab, Hans Bauer, Otmar * 16.06. 1877, Berlin † 02.11. 1956, London * 09.11. 1904, Esthal V: Herrmann Bab, Kaufmann; M: Martha, geb. † 03.02. 1985, München Weinberg E: 1939 Eheschließung; K: 2 E: Marta Else, geb. Lesser; K: Ulrich Studium: 1925–1931 München, Wien, Heidelberg Studium: 1897–1898 München, bis 1901 Berlin, bis 1902 Rostock Staatsexamen: 1931 (Heidelberg); Promotion: 1932 (Heidelberg); Habilitation: 1944 (München, Approbation: 1902; Promotion: 1904 (Leipzig) Eymer)

Karriere: 1904–1910 wiss. Ass. der II. UFK Berlin (E. Karriere: 1932–1937 Ass. der gyn. Abt. des Bumm); 1910–1914 Anstaltsarzt der II. UFK Wien St. Elisabeth-KH in Halle/Saale; 1936 Facharzt; ab (E. Wertheim); 1914–1920 Ass. der II. UFK Mün- November 1937 Ass. der I. UFK München (H. Ey- chen (Amann); Niederlassung in München. mer); 1949 Ernennung zum Oberarzt der I. UFK München; 1951 a. o. Prof.; 1955 Leiter des Mütter- BGGF‑Mitgliederliste 1929 heims des Roten Kreuzes München; 1956 zusätz- lich Chefarzt der geburtsh.-gyn. Abt. des Rotkreuz- Publikationen: Die Colostrumbildung als physiolo- krankenhauses München; ab 1959 Chefarzt der gisches Analogon zu Entzündungsvorgängen. neuen Abt. für Geburtshilfe und Gyn. im Städt. KH Gleichzeitig ein Beitrag zur Lehre von den Leuko- rechts der Isar in München. cyten und deren Granulationen (mit historischen Darlegungen). Diss. med. Berlin 1904. – Ueber du- Vortrag BGGF: 1939 (Eunarcon als Zusatznarkoti- plicitas tubae Fallopii und ihre entwicklungsge- kum). schichtliche Genese. In: Arch Gynäkol 78 (1906), Nr. 2, 393–401. – Ueber Melanosarcoma ovarii. In: Funktionen BGGF: 1951–1969 Kassierer/Schatz- Arch Gynäkol 79 (1907), Nr. 1, 158–196. – Die Pa- meister; Ehrenmitglied thologie der infantilistischen Sterilität und ihre Therapie auf alten und neuen Wegen. Leipzig 1909. Publikationen: Aetiologie und Therapie des „Hohen Geradstandes“ Diss. med. Heidelberg 1932. – Bei- Hans Bab, der in der Matrikel der Universität Ros- trag zur Behandlung hormonaler Störungen mit tock „jüdisch“ als Religionszugehörigkeit angege- oestrogenen Stilbenpräparaten. In: Dtsch Med Wo-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 284 Anhang chenschr 15 (1942). – Was leistet die Kolposkopie BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936; DGG‑Mitglie- in der Praxis? In: Med Klin 14 (1951). – Experimen- derlisten 1931, 1933 tell-morphologische und biologische Untersuchun- gen über die Wirkung von Ultraschall am Ovarium Funktionen BGGF: 1929–1930 1. Vorsitzender; des Kaninchens. In: Arch Gynäkol 182 (1952), 359. 1932–1934 2. Vorsitzender; Ehrenmitglied – Totale Aplasie der Lendenwirbelsäule bei einem Neugeborenen. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 3 Publikationen: Über die antibakteriellen Wirkun- (1953). – Heinrich Eymer zum 70. Geburtstag. In: gen einiger Anilinfarbstoffe. Diss. med. Erlangen Med Klin (1953), 812. – Das Puerperalfieber einst 1889. und jetzt. In: MMW (1958), 901. August Beckh gehörte in den ersten Dekaden des Otmar Bauer hat der BGGF nach dem Zweiten Welt- 20. Jahrhunderts zu den sehr aktiven Mitgliedern krieg fast zwei Jahrzehnte als Schatzmeister ge- der regionalen Fachgesellschaften in Bayern. Er dient und sich für die Inkorporierung der Münch- war schon in der Fränkischen Gesellschaft als ner Gynäkologischen Gesellschaft in die BGGF ein- Schriftführer tätig und wurde dann eines der Grün- gesetzt. Deshalb ernannte ihn die BGGF zu ihrem dungsmitglieder der BGGF. Beckh zählte in der Ehrenmitglied, obwohl von mancher Seite seine BGGF zu den extrauniversitär tätigen, nicht primär wissenschaftlichen Leistungen bemängelt wurden. wissenschaftlich orientierten „Praktikern“,was Heinrich Eymer, bei dem er 1937 als Assistent seine sich etwa auch daran zeigt, dass er nie als Vortra- Hochschulkarriere begann und der ihn 1949 zum gender auf den Jahreskongressen der BGGF auftrat. Oberarzt ernannte, hat ihn jedoch stets gefördert Er versuchte jedoch, explizit diesen Personenkreis und ihm 1943 die Habilitation ermöglicht. 1950 der „Praktiker“ für die Mitarbeit in der Gesellschaft war Bauer für den II. Münchner Lehrstuhl im Ge- bzw. die Teilnahme an den Kongressen zu gewin- spräch. Seine Rolle im NS ist unklar; es muss jedoch nen. davon ausgegangenen werden, dass er sich an den Zwangssterilisationen und Abtreibungen beteiligte, Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft. die an der I. UFK durchgeführt wurden. Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939; Zander/Zim- Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Frobeni- mer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft (1987), 65. us: Ehrenmitglieder; Frobenius: Wiederbesetzung. Bickenbach, Werner Gedruckte Quellen: GK 1939; GW 1956, 182–183 * 14.04. 1900, Solingen Archivalische Quellen: UnivA M: PA‑allg.-15 PA Ot- † 15.07. 1974, München mar Bauer; E‑II‑804 Otmar Bauer. Studium: Würzburg, München, Bonn Beckh, August Approbation: 1924 (Berlin); Promotion: 1925 * 01.06. 1865, Nürnberg (Bonn); Habilitation: 1929 (Bonn; v. Franqué); † 21.04. 1951, Nürnberg Emeritierung: 1969 V: Wilhelm Beckh, Oberarzt am Städt. KH Nürnberg Karriere: Ab 1935 apl. Prof. in Göttingen (Heinrich Studium: Erlangen, München, Freiburg i. Br. Martius); ab 1944 Ordinarius in Münster; ab 1948 Mitherausgeber der Zeitschrift „Geburtshilfe und Approbation/Promotion: 1888 (Erlangen); Ruhe- Frauenheilkunde“; 1950–1954 Ordinarius in Tü- stand: 1935 bingen; 1954–1969 Ordinarius an der I. UFK Mün- chen. Karriere: 1888–1890 Abt. für Haut- und Ge- schlechtskrankheiten Städt. KH Nürnberg (beim Va- Vorträge BGGF: 1957 (Therapie des Vulvakarzi- ter W. Beckh); 1890 Innere Abt. (Meckel); 1891– noms), 1967 (Podiumsgespräch zu Referat I [Um 1892 I. Med. Klinik München (Ziemßen); 1891– den Beginn des Lebens]). 1894 UFK Erlangen (Frommel); ab 1895 Leiter einer eigenen Privatklinik (Krellerstraße 5, Nürnberg).

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Funktionen BGGF: 1960–1962 1. Vorsitzender; Gedruckte Quellen: GK 1939; GW 1956, 114; Vor- 1963/64 2. Vorsitzender; Ehrenmitglied. DGGG: stand der DGGG: GK 1960; Döring: Bickenbach 1962–1964 Präsident (1974); Zimmer: Bickenbach (1987).

Publikationen: Rh-Faktor und fetale Erythroblasto- Archivalische Quellen: Biographisches Archiv 5/ se. In: Geburtshilfe Frauenheilkd (1942), 142. – 1962; BayerHStaatsA M: MK 69381 (Lehrstuhl- Über die Hemmung der Follikelreifung durch Pro- akte). gesteron. In: Zentralbl Gynäkol (1944), 153 (zus. m.E. Paulikovics). – Die Übersterblichkeit der Kin- Brandl, Max der bei übertragenen Schwangerschaften. In: Ge- burtshilfe Frauenheilkd (1947), 3. – Die Säuglings- * 01.09. 1910, Enzersdorf (Witzmannsberg) sterblichkeit in geburtshilflicher Sicht. In: Geburts- † 04.12. 1991, Amberg hilfe Frauenheilkd (1955), 28. – Die Erhaltung V: Max Brandl; M: Fanny, geb. Hertl kindlichen Lebens in Schwangerschaft und Geburt. K: Eberhard (* 03.07. 1942), Traute (* 09.08. 1948) In: Arch Gynäkol 189 (1956), 13. – Hebammenlehr- buch. Im Auftrag des Bundesministeriums für Ge- Studium: 1931–1936 München, Bonn, Erlangen sundheitswesen. Stuttgart 1962. Approbation: 1936; Promotion: 1937 (Erlangen); Werner Bickenbach gehört sicherlich zu den be- Ruhestand: 01.09. 1973 deutenden deutschen Frauenärzten des 20. Jahr- hunderts. Sein wissenschaftliches Oeuvre ist – wie Karriere: Ab 1936 Ass. der UFK Erlangen (Wintz); seine Publikationsliste zeigt – sehr weit gestreut. ab 1939 Hebammenlehrer; 1944 Facharzt; 1942– Von seinen Biographen werden vor allem seine Ar- 1945 Lehrauftrag des Kultusministeriums für Ge- beiten zur Prävention im Bereich der Geburtshilfe schichte der Medizin; von August bis November und der Onkologie gewürdigt. So gilt er als einer 1945 vertretungsweise Leiter der UFK Erlangen; derjenigen, die zur Etablierung der Perinatologie von 1947 bis zur Versetzung in den vorzeitigen Ru- beigetragen haben. In der Münchner Klinik richtete hestand (1973, Gesundheitsgründe) Chefarzt der Bickenbach eine von einer Kinderärztin geleitete geburtsh.-gyn. Abt. des Städt. KH St. Marien in Am- Neugeborenen-Abteilung ein. Ferner trieb er den berg, ab 1953 auch Direktor dort. Ausbau der Zytologie und Kolposkopie zur Früher- kennung des Zervixkarzinoms voran. Hervorgeho- Vorträge BGGF: 1961 (Hirsutismus-Arrhenoblas- ben wird stets auch eine Publikation über die tom und sexuelle Perversion), 1963 (Beitrag zur „Hemmung der Follikelreifung durch Progesteron Symptomatologie und Therapie der Gynatresie bei der Frau“ aus dem Jahr 1944. Mit Werner Bi- und Hämatosalpinx/Beitrag zur Symptomatologie ckenbach gelangte nach der Emeritierung von und Therapie der Hämatometra und Hämatosal- Heinrich Eymer 1954 nochmals ein im Nationalso- pinx). zialismus belasteter Ordinarius auf den I. Lehrstuhl für Gynäkologie und Geburtshilfe in München: Er Funktionen BGGF: 1966–1967 1. Vorsitzender; Eh- hatte – wie Jahrzehnte später öffentlich werden renmitglied sollte – in seiner Zeit an der Universitätsfrauenkli- nik Göttingen von allen dort tätigen Ärzten die Publikationen: Für und wider den Sport in der Pu- meisten eugenischen Zwangssterilisationen durch- bertät der Mädchen. Diss. med. Erlangen 1938. – geführt. Nach dem Krieg gehörte er allerdings zu Sportsünden in den Entwicklungsjahren. In: Zen- den wenigen beteiligten Frauenärzten, die sich im tralbl Gynäkol 1938. – (als Hrsg.) Der Beginn des Nachhinein zu einer kritischen Haltung gegenüber Lebens. Referate, gehalten auf der Bayerisch-Oes- den Zwangssterilisationen im NS durchringen terreichischen Gynäkologen-Tagung in Bad Gast- konnten. ein, 26.–27. Mai 1967. Stuttgart/New York 1969.

Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Frobeni- Max Brandl hat sich als langjähriger Chefarzt der us: Ehrenmitglieder; Frobenius: Wiederbesetzung; Geburtshilfe und Gynäkologie sowie als Direktor Ley: Sterilisation; Bruns: Beginn; Schumann: Heb- des städtischen Krankenhauses St. Marien in Am- ammen; Stauber: Vergangenheitsbewältigung. berg offenbar große Verdienste erworben. Die BGGF würdigte sein Engagement für die Gesell-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 286 Anhang schaft mit der Verleihung ihrer Ehrenmitglied- Staatsexamen: 31. 07.1962 (München); Promo- schaft, wobei diese Auszeichnung vor allem für die tion: 07. 01.1964 (München); Habilitation: 12. 05. Ausrichtung des Bayerisch-Österreichischen Gynä- 1982 (München) kologenkongresses 1967 gedacht war. Im Mittel- punkt dieser Tagung standen allgemein-ethische, Karriere: 1962–1964 Medizinalass. Univ.-Kinder- religiöse und juristische Aspekte der Frage, wann klinik München, Kreiskrankenhaus Pasing; ab der Beginn menschlichen Lebens anzunehmen ist. 01. 10.1965 Ass. der I. UFK München (Bickenbach); Während seiner Zeit als Assistent an der Erlanger 02. 03.1971 Facharztanerkennung; 01.06. 1972 Universitätsfrauenklinik war Brandl zwischen Oberarzt und leitender Hebammenlehrer (Zander); 1943 und 1945 in erheblichem Umfang an Zwangs- 1981 stellvertretender Leiter der Hebammen- abtreibungen bei Ostarbeiterinnen beteiligt. Trotz schule; 01. 09.1982 Leitender Oberarzt; seiner Mitgliedschaft in der NSDAP kann er über 13. 03.1989 apl. Prof. (Kindermann). die Mitwirkung an diesen rassistischen Maßnah- men hinaus jedoch nicht als besonders engagierter Vorträge BGGF: 1977 (Erfahrungen und Ergebnisse NS‑Aktivist bezeichnet werden. Er verhielt sich of- mit der intrauterinen Transfusion bei Rh-Inkompa- fenbar eher opportunistisch. Seine 1937 veröffent- tibilität im Zeitraum Oktober 1973 bis Ende 1976 lichte Dissertation hatte Brandl in den Dienst des bei 15 Patientinnen), 1980 (Die programmierte Ge- NS‑Frauenbildes gestellt. Er musste sich deshalb burt und deren Folgen), 1982 (Schwangerschafts- später vorwerfen lassen, er habe eine unwissen- verlauf von 1159 Schwangerschaften mit Früham- schaftliche, „politisch-propagandistische Doktorar- niozentese), 1983 (Vergleichende Untersuchung beit“ angefertigt. Ein Ermittlungsverfahren gegen von drei Betamimetika [Vasoplex, Dilatol, Partusis- Brandl und andere Ärzte der Erlanger Frauenklinik ten]), 1984 (Wandel der Geburtsleitung bei Be- wegen der Zwangsabtreibungen wurde mit Be- ckenendlage an der I. Universitäts-Frauenklinik schluss der I. Strafkammer des Landgerichtes Nürn- München in den Jahren von 1970–1979), 1985 berg-Fürth vom 27. Dezember 1948 eingestellt, da (gab eine Übersicht über Fruchtwasserdiagnostik den Beschuldigten „das Bewußtsein einer rechts- und Chorionbiopsie), 1987 (Diagnostik und Thera- widrigen Handlung“ gefehlt habe. piemöglichkeit bei nicht immunologisch beding- tem Hydrops fetalis [NIHF]), 1989 (Nonimmun Hy- Artikel im Band: Frobenius: Ehrenmitglieder; drops Fetalis durch Parvo-Virus-Infektion: Diag- Bruns: Beginn. nostik und erfolgreiche Behandlung; Invasive pränatale Diagnostik: Methoden, Perspektiven, Gedruckte Quellen: GW 1956, 184; Zander/Zimmer Grenzen, Verbesserte intrauterine Diagnostik und (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft (1987), 92–93. Fro- Therapie bei Blutgruppenunverträglichkeit; benius: Abtreibungen (2004). Präpartale Punktion fetaler Ovarialzysten – eine Al- ternative zur Ovarektomie bei Neugeborenen?; Archivalische Quellen: UnivA E C3/6d (Kommissi- Pränatale Diagnostik und Therapie thorakaler Ent- onsbericht über die Vorgänge in der Frauenklinik); wicklungsstörungen), 1991 (Schwere Wachstums- AmtsgA E SpkA Brandl, Max; StadtA Amberg, PA retardierung: Ergebnisse der Untersuchung fetaler Brandl. Blutproben [Cordozentese]; Amniozentese in der 12.–14. Schwangerschaftswoche: Erste Erfahrun- gen mit 107 Eingriffen, Erfahrung mit 7127 Früh- Brusis, Ernst-Dieter amniozentesen bei 6924 Schwangerschaften an * 03.07. 1937, München der I. UFK München in den Jahren 1976–1989), † 05.01. 1997, Südtirol (verunglückt) 1993 (Transabdominale vs. transzervikale Chorion- V: Anton Brusis; M: Erika, geb. Hippeli zottenbiopsie: Technik und Risiken; Fetale Mega- E: Jutta, geb. Berwig (ab 15. 05.1970); K: Matthias cystis: Diagnostik und Behandlung). (* 1972), Simon (* 1978), Eva (* 1981) Funktionen BGGF: 1983–1997 1. Schriftführer Studium: ab 1956 Würzburg, Innsbruck, Wien, München, Berlin Publikationen: Klinische Erfahrungen mit der Feto- skopie. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 40 (1980), 697–701. – Wertigkeit der Alpha-1-Fetoprotein-Be- stimmung im Fruchtwasser für die Diagnose fetaler

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 287

Mißbildungen bei Patientinnen mit Hydramnion. Karriere: Fachausbildung bei v. Scanzoni in Würz- In: Geburtshilfe Frauenheilkd 40 (1980), 818–822 burg, dort auch Habilitation; 1887 Gründung einer (zus. m. H.K. Rjosk, E. Kuß). – Sonographische Diag- Privatklinik in Würzburg; 1891 a. o. Prof., 1894 Or- nostik fetaler Entwicklungsstörungen an der dinarius in Basel; 1901 in der gleichen Position in 1. Frauenklinik der Universität München im Jahr Halle/Saale; 1904 Übernahme des Lehrstuhls für 1984. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 45 (1985), 714– die II. geburtsh. Klinik im Charité-KH Berlin; 1910 718 (zus. m.T. Schramm, M. Baumgärtner, E. Mayer). Wechsel in die Frauenklinik an der Artilleriestraße – Ultrasonographische Diagnostik einer fetalen Lun- (I. UFK Berlin). genzyste. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 46 (1986), 118–120 (zus. m.T. Schramm). – Sonographische Di- Publikationen: Beitrag zur Kenntniss der Gonor- agnostik fetaler Leberzysten. In: Geburtshilfe Frau- rhoe der weiblichen Genitalien. In: Arch Gynäkol enheilkd 47 (1987), 124–127 (zus. m.T. Schramm, 23 (1884), 327–349. – Der Mikro-Organismus der A. Schmölz, K.P. Gloning, W. Permanetter). Gonorrhoischen Schleimhaut-Erkrankungen „Go- nococcus-Neisser“. Nach Untersuchungen beim Ernst Brusis hat sich klinisch und wissenschaftlich Weibe und an der Conjunctiva der Neugeborenen. schwerpunktmäßig mit der Geburtshilfe beschäf- 1885. – Menschliches Blutserum als Nährboden tigt. In einem Nekrolog wird vor allem auf seine Ar- für pathogene Mikroorganismen. In: Dtsch Med beiten zur Rhesusinkompatibilität in der Schwan- Wochenschr 11 (1885), 910. – Grundriss zum Stu- gerschaft hingewiesen. Die Stadt München und dium der Geburtshilfe. 1901. – Über die Erfolge der süddeutsche Raum, so heißt es, verdankten der Röntgen- und Mesothoriumbehandlung beim ihm den Aufbau und die Entwicklung eines Zen- Uteruskarzinom. In: Verhandlungen der Deutschen trums für die intrauterine Transfusion. Brusis habe Gesellschaft für Gynäkologie. Fünfzehnte Ver- ferner durch seine jahrzehntelange Tätigkeit an der sammlung, abgehalten zu Halle a.S. am 14.–17. I. UFK München und der dazugehörigen Hebam- Mai 1913. Zweiter Teil, Sitzungsbericht. Leipzig menschule wesentlich zur Ausbildung mehrerer 1914, 384–387. – Erfahrungen über die Strahlenbe- Generationen von Ärztinnen und Ärzten sowie von handlung der Genitalkarzinome. In: Arch Gynäkol Hebammen beigetragen. In der Diskussion über die 106 (1917) 84–119 (zus. m. P. Schäfer). – Über das im NS an der Klinik durchgeführten Zwangssterili- deutsche Bevölkerungsproblem. Rektoratsrede am sationen, eugenischen Schwangerschaftsabbrüche 15. November 1916 in Berlin. Berlin 1917. und Abtreibungen bei Ostarbeiterinnen gehörte Brusis zu den Apologeten des damaligen Klinik- Ernst Bumm war eine der – wenn nicht die – be- chefs Heinrich Eymer. herrschende Persönlichkeit der deutschen Frauen- heilkunde in den ersten Dekaden des 20. Jahrhun- Artikel im Band: Stauber: Vergangenheitsbewälti- derts. Wie sein Münchner Kollege Albert Döderlein gung. gründete er seine wissenschaftliche Karriere auf Untersuchungen aus dem Gebiet der damals auf- Gedruckte Quellen: Kindermann/Zander: Nachruf strebenden Bakteriologie. Für sein in Würzburg (1997). vorgenommenes Experiment mit Gonokokken-Ei- ter, durch das die Ätiologie der Gonorrhoe entspre- Archivalische Quellen: Bayer. Wissenschaftsminis- chend den Kochschen Postulaten zweifelsfrei be- terium M: 5/73316 (Personalakte). wiesen wurde, infizierte Bumm allerdings die Ure- thra einer zuvor gesunden Frau. Neben den bakteriologischen Arbeiten gründet sich der Ruf Bumm, Ernst Bumms auch auf seinen „Grundriss zum Studium * 15.04. 1858, Würzburg der Geburtshilfe“, ein Lehrbuch, das durch Konzep- † 02.02. 1925, München tion und Bebilderung als Unterrichtsmaterial nach V: Taubstummenlehrer in Würzburg Meinung vieler Fachgenossen zu Beginn des E: Tochter des Würzburger Internisten Wilhelm 20. Jahrhunderts völlig neue Maßstäbe setzte. von Leube; K: 4 Bumm war in den Augen seiner Zeitgenossen ein glänzender Operateur. Bei den Uteruskarzinomen Studium: 1876–1882 (Würzburg); Promotion: suchte er nach einer differenzierenden Indikations- 1882; Habilitation: 1885 stellung für die Strahlen- und die chirurgische The- rapie. Im Gegensatz zu anderen setzte er sich auch

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 288 Anhang mit gesellschaftspolitischen Fragen seiner Zeit aus- Karl Burger, durch die Wirren des Zweiten Welt- einander. Bumm starb – noch im Amt – 67-jährig krieges aus Budapest nach Bayern verschlagen, hat während einer Urlaubsreise in München überra- den entscheidenden Impuls für die Wiedergrün- schend an einer perforierenden Cholezystitis. dung der BGGF im Jahr 1951 gegeben. Er leitete auch die erste Nachkriegstagung der Gesellschaft, Artikel im Band: Ruisinger: Forschung; Frobenius: die im Mai 1952 in Würzburg stattfand, wo Burger Strahlentherapie. seit 1946 Ordinarius war. Die Berufung Burgers, die sich innerhalb weniger Wochen vollzogen und die Gedruckte Quellen: Pagel: Lexikon (1901), 279; Medizinische Fakultät aus einer sehr schwierigen Bauereisen: ADB III (1957), 16; Fischer I (1962), Lage befreit hatte, wird von einem Biographen re- 200; Schneck: Bumm (1983); Ludwig: Bumm trospektiv als „Glückstreffer“ bezeichnet. In der Tat (2010); David: „Nur ein guter Mensch kann ein gu- war damit nicht nur für die bayerische Frauenheil- ter Arzt sein“ (2010). kunde ein nach vielen Auslandsaufenthalten auch international hoch angesehener Fachvertreter ge- wonnen worden. Burger galt als glänzender Opera- Burger, Karl Johann teur, war Verfasser zahlreicher Lehrbücher in deut- * 25.09. 1893, Budapest scher sowie ungarischer Sprache und arbeitete wis- † 22.05. 1962, Konstanz senschaftlich in der ganzen Breite des Fachgebietes. E: Margit Dabei widmete er sich auch experimentellen re- konstruktiven Verfahren zur Beseitigung der Studium: ab 1911 Budapest, unterbrochen durch Vaginalaplasie, befasste sich mit der Therapie der Sanitätsdienst im Ersten Weltkrieg Harninkontinenz und bearbeitete aktuelle geburts- hilfliche sowie endokrinologisch-reproduktions- Ärzliches Diplom/Doktorgrad: 1919; Emeritierung: medizinische Themen. 1958 Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Frobe- Karrriere: 1919–1925 Ass. der UFK in Budapest (I. nius: Wiederbesetzung. UFK) und Szeged; in Budapest an der I. UFK 1927 Habilitation und 1932 a.o. Prof.; 1933–1936 Direk- Gedruckte Quellen: GW 1956, 216; Neuhaus: Karl tor der Kgl. Ungarischen Hebammenanstalt in Burger (1962); Hoplitschek: Universitäts-Frauen- Budapest; ab 1936 o.ö. Prof. und Direktor der klinik Würzburg (1975); Zander/Zimmer (Hrsg.): UFK II; ab 1944 zunächst in Halle, dann Gast der Bayerische Gesellschaft (1987). UFK Göttingen; 1946 Berufung zum Ordinarius in Würzburg. Archivalische Quellen: HStaA M, MK 72455.

Funktionen BGGF: 1951–1955 1. Vorsitzender; Burghardt, Erich 1956–1958 2. Vorsitzender; Ehrenmitglied * 20.07. 1921, Novi Sad (Serbien) Publikationen: Künstliche Scheidenbildung mittels † 14.05. 2006, Graz Eihäuten. In: Zentralbl Gynäkol 61 (1937), 2437. – Richtlinien bei der Behandlung der Placenta prae- Studium: ab 1945 Graz via. In: Arch Gynäkol 173 (1942), 606. – Einfaches Verfahren zur Beseitigung partieller Urininkonti- Promotion: 01. 07.1950 (Graz); Habilitation: nenz der Frauen. In: Zentralbl Gynäkol 67 (1943), 01. 02.1965 (Graz); Emeritierung: 1991 1086. – Weitere Erfahrungen über die künstliche Scheidenbildung mit Eihäuten. In: Zentralbl Gynä- Karriere: 1950–1954 Ausbildung im Pathologi- kol 69 (1947), 533. – Die operative Therapie des schen Institut, in der Medizinischen sowie in der Uteruskarzinoms. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 11 Chir. Klinik der Universität Graz; ab 1954 Frauen- (1951), 385. – Polyzystische Ovarien und Hirsutis- klinik der Universität Graz (Navratil); 1964 Ober- mus. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 13 (1953), 914 arzt; Mai 1971 a. o. Prof.; 1973 suppl. Leiter; ab (zus. m.V. Dubrauszky). – Zur Frage der cervicalen Juni 1975 o. Univ.-Prof.; ab 1976 Vorstand der UFK Sterililät. In: Arch Gynäkol 189 (1957), 276 (zus. Graz. m.L. Neuhaus).

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Vorträge BGGF: 1957 (Das Verhalten des Stratum Publikationen: Die Modificationen der Geburts- basale des Portioepithels in der Peripherie präinva- zange (vom Jahre 1554–1853) in ihren Haupttypen siver und invasiver Portiokarzinome), 1969 (Die dargestellt anhand der Sammlung der Straßburger Lokalisation des pathologischen Zervixepithels), Hebammenschule. Diss. med. Straßburg 1903. 1973 (Histologie und Diagnostik des Plattenepi- thelkarzinoms der Vulva). Friedrich Wilhelm Callmann wurde seit 1933 als Jude im Sinne des Nationalsozialismus verfolgt. Funktionen BGGF: Ehrenmitglied. ÖGGG: Präsi- Callmanns Entschädigungsakte erwähnt dessen dent. DGGG: Ehrenmitglied plötzliche Flucht 1935, nachdem sein Bruder in Darmstadt erschossen worden war und seine Der Österreicher Erich Burghardt gehört zu den Schwiegermutter Selbstmord begangen hatte; sei- prägenden deutschsprachigen Ordinarien der Frau- ne – nach den rassistischen Kriterien des National- enheilkunde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- sozialismus „arische“–Ehefrau Frieda blieb noch derts. Mit seinem Namen sind vor allem Arbeiten bis 1938 in Deutschland, um wenigstens einen Teil zur Diagnostik und Therapie prämaligner und ma- des Familienvermögens zu retten; insbesondere ligner Veränderungen der Cervix uteri verbunden, die Kunstsammlung der Callmanns war beträcht- die in zahlreichen Veröffentlichungen ihren Nie- lich. derschlag fanden. Dazu gehört als Ausdruck grenz- überschreitender Kooperation auch eine Publika- Artikel im Band: Dross: Juden. tion zusammen mit Karl Günther Ober (Erlangen) und Gustav Mestwerdt (Halle), in die auch Karl- Gedruckte Quellen: ÄHB 1925, 1931/32; RMK Heinrich Wulf (Würzburg) einbezogen war. In ei- 1935, 1937; Damskis: Biografien (2009), 220. nem Nachruf wird betont, dass Burghardt sich in seinen Aktivitäten aber nicht auf die gynäkologi- Archivalische Quellen: BayHStaatsA M LEA 633. sche Onkologie beschränkte. Vielmehr habe er auch wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung in Democh-Maurmeier, Ida der Geburtshilfe sowie in der Endokrinologie und Reproduktionsmedizin initiiert. Forschungs- * 27.01. 1877, Statzen (Ostpreußen) schwerpunkte in der Grazer Klinik unter seiner Lei- † 1950 tung seien u. a. der Gestationsdiabetes und die Bio- E: Robert Maurmeier chemie der Plazenta gewesen. Burghardt war Mit- glied zahlreicher nationaler und internationaler Studium: Zürich wissenschaftlicher Gesellschaften. Approbation/Promotion: 1901 (Halle) Gedruckte Quellen: Burghardt: Krisen (1998). Karriere: 1902 Volontärass. in Freiburg; 1904–1908 Internetquellen: Winter/Pickel: Nachruf (2006). Ärztin für Kinder und Geburtshilfe in Dresden; chir. www.frauenarzt.de/1/2006PDF/06-09-pdf/2006- Tätigkeit in der Dr. Kaiserschen Klinik in Dresden; 09-burghardt.pdf (04.09.2012) 1909–1936 Gynäkologin München; 1937–1949 Niederlassung in Dachau. Callmann, Friedrich Wilhelm BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 * 20.09. 1875, Darmstadt † 23.03. 1955, Los Angeles Publikationen: Die vaginalen Totalexstirpationen E: Frieda, geb. Leiter des Uterus aus der Hallenser Frauenklinik vom 1. Oktober 1896 bis 1. Januar 1901. Diss. med. Hal- Approbation: 1900; Promotion: 1903 (Straßburg) le/Wittenberg 1901. – Die soziale Indikation zur Unterbrechung der Schwangerschaft. In: Hippokra- Karriere: Facharzt für Frauenkrankheiten und Ge- tes 3 (1930), 227–229. – Zu § 218 vom Standpunkt burtshilfe in München. der Frau. Erwiderungen. In: Dtsch Ärztebl 60 (1931), 210–211. – Vollarzt und Facharzt. In: Ärztl BGGF‑Mitgliederliste 1929 Mitt 1932. – Welche Aufgaben stehen der Ärztin im Dritten Reiche zu. In: Bayer Ärztezeitung 1933.

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 290 Anhang

Mit Ida Democh verzeichnet die BGGF die erste in zinoms), 1921 (Kunstfilme und Naturaufnahmen Deutschland approbierte Ärztin unter ihren Mit- über den Geburtsmechanismus bei Hinterhauptsla- gliedern, die über die Münchener Gynäkologische ge, Steißlage, Gesichtslage [gefertigt nach Angaben Gesellschaft in die BGGF kam. Zwar war seit 1899 Döderleins]; Demonstration einer durch Strahlen- in Deutschland Frauen theoretisch die Zulassung behandlung geheilten Karzinomkranken mit 6 Jahre zum Staatsexamen gestattet, zum Studium wurden später geborenem lebenden Kinde), 1926 (Filmde- sie allerdings erst mit dem Wintersemester 1908/ monstration: Operationsfilme nach dem Verfahren 09 zugelassen. 1930 trat Ida Democh dem Bund von Dr. v. Rothe-Berlin), 1927 (Über die Frage der deutscher Ärztinnen bei und engagierte sich vehe- Keim- und Fruchtschädigung auf Grund eines Fal- ment gegen die Schwangerschaftsunterbrechung les), 1929 (Ergebnisse der Strahlenbehandlung der aus sozialer Indikation und für die Beibehaltung weiblichen Genital-Karzinome), 1937 (Reformvor- des § 218. 1920 war sie Mitbegründerin des rassis- schläge für die operative Geburtshilfe). tischen „Notbunds gegen die Schwarze Schmach“, der gegen die Stationierung französischer Soldaten BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 schwarzer Hautfarbe während der Rheinlandbeset- zung polemisierte. Funktionen BGGF: 1912, 1921 2. Vorsitzender; 1913–1915, 1921 1. Vorsitzender; Ehrenmitglied Artikel im Band: Wittern: Frauenärztinnen. Publikationen: Das Scheidensekret und seine Be- Gedruckte Quellen: RMK 1902, 1904, 1905–1908, deutung für das Puerperalfieber. Leipzig 1892. – 1911, 1914, 1926/27, 1929, 1931, 1933, 1935, Meine weiteren Erfahrungen über die Mesothori- 1937; GK 1928; Bleker/Schleiermacher: Ärztinnen um-Behandlung des Karzinoms (mit Kranken- (2000). demonstrationen). In: Monatsschr Geburtshülfe Gynäkol 40 (1913), 512. – Röntgenstrahlen und Me- Internetquellen: Buchin: Dokumentation (2010). sothorium in der gynäkologischen Therapie, insbe- web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00 203c1.html sondere bei Uteruskarzinom. In: Monatsschr Ge- (04.09.2012). burtshülfe Gynäkol 37 (1913), 553–593. – 14 Jahre Strahlenbehandlung des Uteruscarcinoms. In: Arch Gynäkol 132 (1927), 138–140. – Carcinombestrah- Döderlein, Albert lung. In: Klin Wochenschr 8 (1929), 2. – Ergebnisse * 05.07. 1860, Augsburg der Strahlenbehandlung der weiblichen Genitalkar- † 10.12. 1941, Erlangen zinome. In: Monatsschr Geburtshülfe Gynäkol 85 V: Gustav Döderlein; M: Natalie Casella (1929), 168–169. – Die Eingriffe zur Unfruchtbar- E: Anna, geb. Deichert († 28. 02.1916); Helene von machung der Frau. In: Gütt/Rüdin/Ruttke (Hrsg.): Zwehl († 13. 12.1956); K: Elisabeth, Gustav, Adele, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Hildegard (aus 1. Ehe) vom 14. Juli 1933. München 1934, 224–227.

Studium: Erlangen Albert Döderlein zählt sicherlich zu den national und international angesehensten deutschen Gynä- Approbation: 1884; Promotion: 1884 (München); kologen seiner Zeit. Unter seiner Ägide entwickelte Habilitation: 1887 (Leipzig); Emeritierung: 1934 sich die I. Universitätsfrauenklinik München an der Maistraße zu einer erstklassigen Adresse, in der Karriere: Ass. bei Paul Zweifel in Erlangen und Leip- auch gekrönte Häupter behandelt wurden. Döder- zig; 1887 Privatdozent und 1893 a.o. Prof. in Leip- lein ist Mitbegründer der BGGF, mit seinem Namen zig; 1897 Ordinarius in Groningen/Holland; 1897 sind noch heute relevante Erkenntnisse zur Physio- Ordinarius in Tübingen; 1907–1934 Direktor der I. logie und Pathologie der Vaginalflora verbunden, er UFK München. galt als erstklassiger Operateur, war Mitherausge- ber einer bekannten Operationslehre und zählt zu Vorträge BGGF: 1912 (Über die künstliche Befruch- den Pionieren der gynäkologischen Strahlenthera- tung; Demonstration: Das Modell der neuen pie. Für seine Untersuchungen zur Vaginalflora Münchner Frauenklinik), 1913 (Die Röntgenthera- beimpfte Döderlein die Scheide einer gesunden pie bei Myom und Karzinom; Meine weiteren Erfah- jungen Frau mit Staphylokokken, um die Reaktion rungen über die Mesothorium-Behandlung des Kar- der Standortflora auf diesen Eingriff studieren zu

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 291 können. Eugenisches Gedankengut unterstützte 1935 (Blutungen in der Geburtshilfe; Geburtshilf- Döderlein schon vor 1933. Das NS‑Gesetz zur Ver- liche Lehrfilme), 1937 (Die Organisation der hütung erbkranken Nachwuchses begrüßte er Schwangerenfürsorge; Müssen wir noch mit Gum- „vom vaterländischen wie ärztlichen Standpunkt mihandschuhen operieren?), 1938 (Die systemati- aus aufs Wärmste“ und ergänzte den Gesetzeskom- sche ärztliche Vorsorge bei Schwangeren), 1939 mentar der NS‑Eugeniker Gütt, Rüdin und Ruttke (Dauerheilung eines traubenförmigen Vaginal-Sar- von 1934 durch einen Beitrag über „Die Eingriffe koms beim Kinde; Hypersalivation in der Schwan- zur Unfruchtbarmachung der Frau“. Inwieweit die gerschaft und Vorschläge zu ihrer Behandlung), Tatsache, dass Döderlein den Blutordensträger und 1955 (Neue Operationsmethoden bei Harninkonti- NS‑Aktivisten Ernst Bach (1899–1944) ab 1927 in nenz und bei großen Blasendefekten), 1956 (Das seiner Klinik ausbildete, zum Oberarzt machte und Hämatophor [nach K. Niedner] als Beitrag zur Be- 1934 vor seiner Emeritierung habilitierte, auf Dö- kämpfung der Genitaltuberkulose auf breiter Ebe- derleins politische Gesinnung schließen lässt, ne [mit Demonstration]), 1957 (Lues-Prophylaxe muss offen bleiben. für das Kind im Rahmen der Schwangerenbera- tung), 1958 (Die Verhütung der Eklampsie), 1964 Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Ruisin- (Harninkontinenz beim Genitalprolaps der Matro- ger: Forschung; Frobenius: Ehrenmitglieder; Stau- ne). ber: Vergangenheitsbewältigung. BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939; GW 1956, 187; Pagel: Lexikon (1901), 402; Schmid: ADB IV (1959), Funktionen BGGF: Ehrenmitglied 14– 15; Fischer I (1962), 321; Fischer III (2002), 328; Zander/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesell- Publikationen: Die systematische ärztliche Vorsor- schaft (1987), 50–55; Stoeckel: Döderlein (1942); ge bei Schwangeren. In: MMW 85 (1938), 1233. – Englisch: In memoriam (1993); Grüttner: Lexikon Hypersalivation in der Schwangerschaft und Vor- (2004), 17; David: Döderlein (2007). schläge zu ihrer Behandlung. In: Zentralbl Gynäkol 63 (1939), 2235. – Wie weit kann durch ärztliche Schwangerenvorsorge die Eklampsie verhütet wer- Döderlein, Gustav den? In: Zentralbl Gynäkol 65 (1941), 529. – Ärztli- * 19.05. 1893, Leipzig che Schwangerschaftsvorsorge und ihre gesetzliche † 19.03. 1980, München Regelung. In: Arch Gynäkol 173 (1942), 175. – Der V: Albert Döderlein; M: Anna, geb. Deichert Begriff der Operabilität beim Collum-Carcinom. In: E: Marta, geb. Hess; K: Annemarie, Adele Arch Geschwulstforsch 1 (1949), 211. – Hausgeburt und klinische Geburtshilfe in heutiger Zeit. In: Arch Approbation/Promotion: 1921 (München); Habili- Gynäkol 73 (1951), 1061. – Wo liegen die Grenzen tation: 1929 (Berlin; G. A. Wagner); Emeritierung: der operativen Behandlung des Karzinoms am Col- 1959 lum uteri? In: Krebsforschung und Krebsbekämp- fung 2 (Sonderband z. Strahlentherapie 37). – Karriere: Ass. bei seinem Vater Albert Döderlein in Zweckmäßige Organisation der Schwangerenbera- München sowie bei Walter Stoeckel in Berlin, dann tung. In: Zentralbl Gynäkol 77 (1955), 673. – Reha- Oberarzt an der Frauenklinik der Charité Berlin bei bilitation nach gynäkologischen Operationen. In: G. A. Wagner; ab 1933 apl. Prof.; 1936–1945 Leiter Med Klin 53 (1958), 1447. der gyn.-geburtsh. Abt. des Staatskrankenhauses der Polizei; 1946–1959 Ordinarius und Direktor Gustav Döderlein, der Sohn von Albert Döderlein, der UFK Jena. gilt als Wegbereiter der Schwangerenvorsorge in Deutschland. Seine ersten Publikationen zu diesem Vorträge BGGF: 1922 (Über die Histogenese des Thema erschienen bereits in den 1930er Jahren. künstlichen Tierkarzinoms), 1925 (Gibt es Todesfäl- Von 1936 bis 1945 war Döderlein Leiter der gynä- le durch Radiumbehandlung?; Der histologische kologischen Abteilung am Staatskrankenhaus der Reifegrad des Karzinoms als Gradmesser für die Polizei in Berlin und wurde in hohe Offiziersränge Strahlenbehandlung), 1930 (Hyperthyreoidismus befördert. In der überwiegend gynäkologisch ori- und Keimdrüsen; Operative Geburtshilfe im Privat- entierten medizinhistorischen Literatur brachte haus), 1932 (Häusliche und klinische Geburtshilfe), man ihn lange nicht mit den Zwangssterilisationen

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 292 Anhang und ‑abtreibungen der NS‑Zeit in Verbindung. Ga- Gedruckte Quellen: ÄHB 1925, 1931/32; Damskis: briele Czarnowski weist in ihrer Untersuchung Biografien (2009), 220. über „Politische Gynäkologie an den Berliner Uni- versitätsfrauenkliniken im Nationalsozialismus“ je- Internetquellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs doch auf eine Arbeit hin, wonach in der gynäkolo- www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory. gischen Abteilung des Polizeikrankenhauses auch html.de?id=853091 (Henriette Drey); www. „rassisch indizierte Zwangssterilisationen vorge- bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de? nommen“ worden sind. Dies gehe aus den Erinne- id=853089 (Louise Drey); www.bundesarchiv.de/ rungen eines Opfers hervor: Eine damals dort poli- gedenkbuch/directory.html.de?id=853092 (Paul zeilich eingelieferte Augsburgerin habe Entspre- Drey) (04.09.2012) chendes schon in den 1980er Jahren zu Protokoll gegeben. Döderlein, der 1945 zum Ordinarius in Durand(-Wever), Annemarie Jena berufen wurde, hatte Derartiges nach Kriegs- ende explizit bestritten. * 30.10. 1889, Paris † 14.09. 1970, Heiligenhaus bei Overath Artikel im Band: Frobenius: Ehrenmitglieder; Ley: E: Wilhelm Durand; K: Ernst-August Durand Sterilisation. (* 1917, München), Anne-Marie (* 1924, München)

Gedruckte Quellen: GW 1956, 253; GK 1960, 94– Studium: Chicago, Neapel, Marburg 96; Englisch: In memoriam (1993); Klee: Personen- lexikon (2005); David: Döderlein (2007), 89–100. Approbation: 1915 (München); Promotion: 1917 (München) Drey, Wilhelm Karriere: 1914–1920 II. UFK München, Privatklinik * 1873 Heldrich; 1926/27 Niederlassung in München; 1928–1933 Leitung der Vertrauensstelle für Ver- Promotion: 1897 (München); Approbation: 1898 lobte und Eheleute in Berlin; 1928–1963 Niederlas- sung in Berlin. Karriere: Geburtshelfer in München. BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936; DGG‑Mitglie- BGGF‑Mitgliederliste 1929 derlisten 1931, 1933

Publikationen: Ueber Hysterische Kontrakturen. Publikationen: Papilläres Fibrom des Septum Diss. med. München 1897. urethro-vaginale. Beitrag zur Kenntnis der Vaginal- geschwülste. Diss. med. München 1917. – Die deut- Wilhelm Drey ist eines der insgesamt 87 auf der sche Ärztin. Statistische Notizen. In: Vjschr dtsch Mitgliederliste der BGGF von 1929 geführten Mit- Ärztinnen 2 (1926), 89 (zus. m. L. Turnau). – Für glieder, die 1936 dort nicht mehr verzeichnet wur- und wider den § 218. In: Med Welt 4 (1930). – Der den. Er gehört zu den ihrer „Rasse“ wegen verfolg- Frauenkörper in gesunden und kranken Tagen. Ber- ten Mitgliedern der Gesellschaft, zu denen im Rah- lin-Wilmersdorf 1930. – Ehe- und Erziehungsbera- men dieser Arbeit keine weiteren Nachforschungen tung. In: Die Kultur der Frau. Eine Lebenssympho- angestellt werden konnten. Das Gedenkbuch des nie der Frau des XX. Jahrhunderts, hrsg. v. Ada Bundesarchivs nennt die 1873 und 1875 in Mün- Schmidt-Beil. Berlin 1931. – Die Verhütung der chen geborenen Henriette und Paul Drey, die 1942 Schwangerschaft. Hamburg 1931. – Gesunder nach Theresienstadt deportiert und dort bzw. in Nachwuchs. In: Die Frauen-Tribüne 1 (1933), H. 5/ Treblinka ermordet wurden, sowie die 1883 in 6, 28. – Rassen-Hygiene. Sterilisation und Nach- München geborene Louise Drey, die 1941 nach kommenschaftsbeschränkung. Berlin 1933 (1. Aufl. Kowno (Kauen) deportiert wurde und kurz danach u.d. T.: Verhütung d. Schwangerschaft). – Die reife verstarb. Es handelt sich dabei vermutlich um Ver- Frau. Berlin 1937. – Normale und krankhafte Vor- wandte des Frauenarztes und BGGF‑Mitglieds Wil- gänge im Frauenkörper. Schriften zur ideologi- helm Drey, dessen Schicksal vorerst unklar bleibt. schen und kulturellen Arbeit der Frauenausschüs- se, 1,3, hrsg. v. Zentr. Frauenausschuß. Berlin 1946. – Methoden der Empfängnisverhütung. In: Das

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Deutsche Gesundheitswesen 2 (1947), H.5, 167– Vorträge BGGF: 1921 (Die Bedeutung der Blutge- 170. – Bewußte Mutterschaft durch Geburtenrege- rinnungsbestimmung für die gynäkologische Diag- lung. Rudolstadt 1947 (Das aktuelle Traktat 3). – nose), 1922 (Experimentelles zur Suspensionssta- Sagt uns die Wahrheit. Berlin 1959. – Eine Pille re- bilität der Erythrozyten), 1924 (Lumbaldruck in guliert die Fruchtbarkeit. In: Der Stern, 26/1961, der Schwangerschaft und unter der Geburt; Film 52–57. – Ein Baby zur rechten Zeit: Bewußte El- über die Anlegung des Pneumoperitoneums), 1925 ternschaft. Schmiden b. Stuttgart 1962. – Mit den (Quantitative Untersuchungen über die Aminosäu- Augen einer Ärztin. Zur Kontroverse zwischen Prof. ren im Harn der Schwangeren; Die Darstellung des Nachtsheim und Dr. Volbracht. In: Berliner Ärztebl Genitaltraktes, Beitrag zur Physiologie der Brust- 83 (1970), 886–890. drüse), 1926 (Demonstration eines Eröffnungsbe- stecks für kleine gynäkologische Abszesse; Weitere Annemarie Durand-Wever, eines der ersten weibli- Beiträge zur Physiologie des Eitransports), 1927 chen Mitglieder der BGGF, gehörte zu den promi- (Beiträge zur Pathologie des Plazentarkreislaufes; nentesten Ärztinnen der Weimarer Republik und Gedanken zur Bevölkerungspolitik), 1929 (Stereo- der frühen Bundesrepublik. 1927 übernahm sie skopische Beckenmessung [Stereoprojektion]; Dia- den stellvertretenden Vorsitz des Bundes deutscher thermieoperation), 1930 (Ein neues menschliches Ärztinnen (BdÄ) und leitete dessen Landesgruppe Jungei und die Frage der primären Einsiedlung Bayern. Innerhalb des BdÄ war sie eine der promi- und ‑ernährung; Die gynäkologische Diathermie- nentesten Vorkämpferinnen für die Abschaffung operation), 1931 (Degenerationsformen des unbe- des § 218 und eine sexualhygienische Beratung fruchteten Tubeneies; Schutzstulpen für geburts- von Frauen. 1952 gründete sie in Kassel die Sexual- hilfliche intrauterine Eingriffe), 1932 (Vergleichen- und Familienberatung „Pro Familia“. de Ovarhistologie in Beziehung zur Frage der Keimschädigung durch Röntgenstrahlen), 1935 (Er- Artikel im Band: Wittern: Frauenärztinnen. fahrungen an den ersten hundert gesetzlichen Ste- rilisationen), 1936 (Wehendruck und fetaler Kreis- Gedruckte Quellen: GK 1928; Bleker/Schleierma- lauf), 1937 (Beiträge zur Geburtsdynamik), 1938 cher: Ärztinnen (2000). (Beiträge zur Frage der physiologischen Sterilität; Die Kontrolle der Erfolgssicherheit der Tubensteri- Internetquellen: Buchin: Dokumentation (2010). lisierung), 1939 (Neue Behandlungsmethoden bei web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00218c1.html Geburtskomplikationen). (04.09.2012) BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 Dyroff, Rudolf Funktionen BGGF: 1921–1922, 1933, 1935–1939 * 14.04. 1893, Ingolstadt 1. Schriftführer; 1959 1. Vorsitzender; 1960–1962 † 17.06. 1966, Aisching am Chiemsee 2. Vorsitzender; Ehrenmitglied V: Anton Dyroff; M: Mena Dyroff, geb. Reber E: Lotte Buchmann (ab 1931); K: Inge, Jürgen Publikationen: Histologische Beobachtungen nach Röntgenbestrahlung von Uteruscarcinomen. Ver- Studium: München handlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynä- kologie. Neunzehnte Versammlung, abgehalten zu Approbation: 1917; Promotion: 1919 (München); Wien vom 3. bis 6. Juni 1925. II. Teil. Sitzungsbe- Habilitation: 1927 (Erlangen); 1945 Entlassung richt. In: Arch Gynäkol 125 (1925), 529–531. – Die durch die Militärregierung und Entzug der Lehrbe- Darstellung des Genitaltraktes. In: Monatsschr Ge- fugnis; 19. 12.1949 Wiedererteilung der Venia Le- burtshülfe Gynäkol 76 (1927), 351–353. – Das his- gendi; Emeritierung: 30. 04.1961 tologische Heilungsbild des Karzinoms nach Rönt- genbestrahlung. In: Monatsschr Geburtshilfe Gynä- Karriere: 1927 Privatdozent in Erlangen; 1933 a.o. kol 80 (1928), 153–157. – Die histologische Prof.; 1945–1946 kommissarischer Direktor der Rückbildung des Uteruscarcinoms nach Röntgen- UFK Erlangen; 1950 Ernennung zum Ordinarius bestrahlung. In: Arch Gynäkol 136 (1929), 141– und Direktor der UFK Erlangen gegen den Willen 166. – Vergleichende Ovarhistologie in Beziehung der Medizinischen Fakultät; im Amt bis 1962 (Lehr- zur Frage der Keimschädigung durch Röntgen- stuhlvertretung nach Emeritierung). strahlen. In: Monatsschr Geburtshülfe Gynäkol 93

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 294 Anhang

(1933), 209–212. – Erfahrungen an den ersten 100 431. Spiegel, Stern, Erlanger Nachrichten gesetzlichen Sterilisierungen. In: Monatsschr Ge- 7.10. 1950. burtshilfe Gynäkol 102 (1936), 9–16. – Die Kontrol- le der Erfolgssicherheit der Tubensterilisation. Archivalische Quellen: BayerHStaatsA M: MK Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frau- 43537, PA Rudolf Dyroff; MK 72015 Lehrstuhl für enheilkunde. Sitzung vom 27. Februar 1938. In: Geburtshilfe und Gynäkologie Erlangen; UnivA Er: Zentralbl Gynäkol 63 (1939), 1760–1761. PA Rudolf Dyroff; AmtsgerA Er: SpKA Rudolf Dyroff.

Rudolf Dyroff, als Frauenarzt, Wissenschaftler und Eisenreich, Otto (Wilhelm) Operateur in seiner aktiven Zeit bei Fachgenossen und Patientinnen weithin anerkannt und beliebt, * 22.05. 1881, München gehört zu den im Nationalsozialismus belasteten † 05.10. 1947, München Hochschullehrern, deren Wiedereinsetzung oder E: Johanna, geb. Mayer (* 02.01. 1896); K: 4 Neuberufung in universitäre Führungspositionen nach 1945 hohe Wellen schlug. Obwohl kein Approbation: 1906; Habilitation: 1914 NS‑Aktivist, hatte sich Dyroff im „Dritten Reich“ zum willigen Helfershelfer für die Realisierung der Karriere: Fachausbildung ab 1907 in der I. UFK rassistischen Eugenik der Machthaber gemacht, in- München, zunächst bei v. Winckel, dann bei A. Dö- dem er sich an Zwangssterilisierungen und Abtrei- derlein; 1915–1918 Kriegsdienst; 1920 a.o. Prof. in bungen bei Ostarbeiterinnen beteiligte. Darüber hi- München; ab 1923 Inhaber einer Privatklinik in naus nutzte er die Situation, um sich mit ethisch München; 1933 Berufung zum kommissarischen kritikwürdigen Untersuchungen wissenschaftlich Leiter der II. UFK München, ab 1936 dort o.ö. Prof. zu profilieren. Die Berufung Dyroffs auf den Erlan- ger Lehrstuhl für Geburtshilfe und Gynäkologie, die Vorträge BGGF: 1912 (Über wiederholte Geburten wegen seiner Belastung sogar zu Auseinanderset- nach Hebosteotomie), 1921 (Über Extraperitonea- zungen im Bayerischen Landtag führte, wurde mit len Kaiserschnitt), 1930 (Über Katgut), 1936 (De- einem Machtwort des Kultusministers gegen den monstration: 3 Fälle von interstitieller Gravidität), Willen der Fakultät durchgesetzt. Die Reputation 1938 (Über die gekreuzte Nierendystopie). Dyroffs beruhte neben seinen operativen Fähigkei- ten auch darauf, dass er die radiologisch orientierte BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 Tradition seines Erlanger Lehrers Wintz mitbe- gründet und später fortgesetzt hatte. Neben der Publikationen: Behandlung der Leukämie mit Krebstherapie setzte er sich intensiv mit der Histo- Röntgenstrahlen. In: MMW (1905; zus. m. Erich logie bestrahlter Gewebe auseinander. Außerdem Meyer). – Multiple Fibroadenoma intracanaliculare widmete er sich der Einführung und Verbesserung der Mamma und Vulva. Diss. med. München 1906. röntgenologischer Methoden in der Diagnostik. Dy- – Biologische Studien über normale Schwanger- roff arbeitete hier beispielsweise über die Becken- schaft und Eklampsie. (Hab.-Schr.) München 1914. messung, Röntgenstereometrie und Tubendarstel- – Erfahrungen bei 152 Fällen von extraperitonia- lung. Von seinen Mitarbeitern ließ er strahlenbiolo- lem Kaiserschnitt. In: Monatsschr Geburtshilfe Gy- gische Probleme untersuchen. Es ging ihm darum, näkol (1916). – Allerlei aus der operativen Geburts- die Bestrahlungspläne für onkologische Patienten hilfe. In: MMW (1922). – Seltene Indikation z. Un- weitgehend zu individualisieren, um unter größt- terbrechung der Schwangerschaft. In: Monatsschr möglicher Schonung gesunden Gewebes optimale Geburtshilfe Gynäkol 96 (1933). Behandlungserfolge zu erzielen. Otto Eisenreich hat die II. Universitätsfrauenklinik Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Frobeni- München 1933 kommissarisch übernommen, us: Strahlentherapie; Frobenius: Ehrenmitglieder; nachdem die alte Klinikleitung einer NS‑Säube- Frobenius: Wiederbesetzung. rungsaktion zum Opfer gefallen war. Im Hinter- grund stand wahrscheinlich eine Denunziation im Gedruckte Quellen: GW 1956, 187; GK 1960; Zan- Zusammenhang mit nicht ideologiekonformen Ste- der/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft rilisationen und Schwangerschaftsunterbrechun- (1987), 78–80; Wittern (Hrsg.): Professoren (1999), gen. Die NS‑Dozentenschaft stellte später fest, in 33–34; Frobenius: Röntgenstrahlen (2003), 425– der „nach außen hin angesehenen und gut laufen-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 295 den Klinik [herrschte] eine große Reihe von Miss- Gedruckte Quellen: GK 1939. ständen teils ärztlich praktischer, teils auch wis- senschaftlich und weltanschaulich-politischer Art“. Archivalische Quellen: StadtA Nürnberg: C21/IX, N. Eisenreich, der für die Übernahme der Klinik auf 740. entsprechende Bitten hin ganz kurzfristig die Lei- tung seiner eigenen Münchener Privatklinik aufge- Engelhorn, Ernst geben hatte, gelang es jedoch offensichtlich sehr rasch, die neue Wirkungsstätte im Sinne der Natio- * 30.06. 1881, Maulbronn (Württemberg) nalsozialisten auszurichten. Inwieweit er dabei † 28.08. 1954, Braunschweig auch eugenische Zwangsmaßnahmen unterstützte, V: Ernst Engelhorn; M: Erna, geb. Mayer muss noch offen bleiben. Eisenreich, Frontkämpfer K: 3 im Ersten Weltkrieg, war förderndes Mitglied der SA seit 1933 sowie Angehöriger des NS-Ärztebun- Studium: 1901–1906 Tübingen, Berlin, Tübingen des und trat 1937 in die NSDAP ein. Auch die Fakul- tät war offenbar mit Eisenreich zufrieden. Als es Staatsexamen: 1906; Promotion: 1907 (Tübingen); 1935/36 um seine endgültige Berufung ging, schlug Habilitation: 1912 (Erlangen); 1916 Umhabilitie- sie ihn primo et unico loco vor. Bedenken des rung nach Jena; Ruhestand: 01. 07.1948 Reichskultusministeriums wegen zu geringer wis- senschaftlicher Qualifikation ließen sich ausräu- Karriere: 1907 Ass. der UFK Tübingen; ab 1908 UFK men. Eisenreich wurde am 15. November 1945 auf Erlangen; 1910 Oberarzt der Poliklinik und Lehrer Anordnung der Militärregierung seines Amtes ent- an der Hebammenschule; 1915 beurlaubt nach hoben. Nach seinem Tod stellten die Behörden das Jena als stellv. Leiter der Frauenklinik und der Heb- Spruchkammerverfahren gegen ihn ein. ammenanstalt; 1919 a. o. Prof. und Vorstand der Frauenklinik Jena; 1923 Oberarzt und stellv. Leiter Artikel im Band: Frobenius: Wiederbesetzung. der Staatl. Frauenklinik in Dresden; 1925 Chefarzt der Frauenklinik in Braunschweig und Leiter der Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939; GW 1956, 188; Hebammenlehranstalt. Fischer I (1962), 358–359; Fischer III (2002), 363. Vorträge BGGF: 1912 (Tötet das Vaginalsekret Tu- Archivalische Quellen: BayHStA M: MK43553 (PA berkelbazillen ab?), 1913 (Zur biologischen Diag- Eisenreich), MK 69 402 (Lehrstuhlakte Professur nose der Schwangerschaft), 1914 (Zur Aetiologie München II). der Pyelitis gravidarum).

Funktionen BGGF: 1914 2. Schriftführer Engelbrecht, Carl-Heinz * 22.01. 1894, Kassel Publikationen: Maligne Ovarialtumoren und Ma- E: Lotte, geb. Radezewski; K: Ilse Lore (* 1929) gen-Carcinom. In: Beitr Geburtshilfe (1906). – As- zendierende weibliche Genital-Tbc. In: Arch Gynä- Approbation: 1922 Marburg/Lahn kol 92 (1910). – Biologische Diagnose der Schwan- gerschaft. In: MMW (1913). – Ätiologie der Pyelitis Karriere: 1921 Med. Poliklinik Marburg/Lahn; gravidarum. In: Monatsschr Geburtshilfe (1914). – 1921/22 Med. Klinik Halle; 1922–1927 UFK Erlan- Retentention von Plazentaresten. In: MMW (1921). gen; 1923–1925 leitender Arzt der Röntgenabt. der UFK Erlangen; später Frauenarzt in Nürnberg. Gedruckte Quellen: GK 1928; GW 1956, 188; Wit- tern (Hrsg.): Professoren (1999), 35–36. BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 Eymer, Heinrich Funktionen BGGF: 1930–1939 Kassierer/Schatz- meister * 11.06. 1883, Frankfurt a.M. † 16.05. 1965, München Publikationen: Sympathikusparesen mit Horner- schem Symptomenkomplex bei zerebralen Erkran- Studium: Marburg/Lahn, Heidelberg, Tübingen kungen. Diss. med. 1923.

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Approbation/Promotion: 1908 (Heidelberg); Habi- Anhänger verweisen auf seine unstrittigen Ver- litation: 1917 (Heidelberg); 1945 Entzug der Lehr- dienste als Arzt und Wissenschaftler. Gleichzeitig befugnis und Entlassung auf Weisung der Militär- versuchen sie, seine Verantwortung für eugenische regierung; 01.10. 1948 Wiederernennung zum o. Zwangssterilisierungen und damit assoziierte Prof.; Emeritierung: 1954 Schwangerschaftsabbrüche entweder totzu- schweigen oder zu relativieren. Ähnlich verhält es Karriere: 1921 a.o. Prof. in Heidelberg; 1924 Ordi- sich mit den Zwangsabtreibungen bei Ostarbeite- narius in Innsbruck; 1930–1934 Direktor der UFK rinnen. Eymers Kritiker sehen in ihm einen skru- Heidelberg; 1934–1945, 1948–1954 Direktor der pellosen Profiteur des NS‑Regimes und attestieren I. UFK München. ihm die „Bereitschaft, der verbrecherischen Ras- senpolitik des ‚Dritten Reiches‘ gedanklich und BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 praktisch zuzuarbeiten.“ Unstrittig ist, dass Eymer seinen Ruf aus Heidelberg nach München einer Vorträge BGGF: 1925 (Demonstration zur Hebos- massiven Intervention der Nationalsozialisten ver- teotomie, Sakralanesthesie), 1926 (Demonstration: dankte. In der Nachfolge von Albert Döderlein ver- Makro- und Mikrophotogramme einer mesoder- fasste er für die 2. Auflage des Kommentars zum malen heterologen Mischgeschwulst des Uterus ei- „Gesetz zur Verhütung erkranken Nachwuchses“ ner 34jährigen Achtgebärenden), 1929 (Karzinoid den Abschnitt über „Die Eingriffe zur Unfruchtbar- der Appendix), 1930 (Spaltbecken), 1933 (Ergeb- machung der Frau“. An seiner Klinik wurden mit nisse der Strahlenbehandlung der Gebärmutter- 1318 Zwangssterilisationen und 58 eugenischen krebse an der Heidelberger Universitäts-Frauenkli- Abtreibungen die mit Abstand meisten Eingriffe nik), 1935 (Demonstration eines Apparates zur Ge- dieser Art an einer bayerischen Universitätsfrauen- winnung Thierschscher Lappen; Zur Behandlung klinik durchgeführt. Die oben erwähnte Polarisie- gutartiger Blutungen mit radioaktiven Substan- rung an der Person Eymers hatte schon in den zen), 1939 (Die Harnfistelbehandlung in der Uni- unmittelbaren Nachkriegsjahren vor Eymers Wie- versitäts-Frauenklinik München; Grundsätzliches dereinsetzung in sein Amt 1948 zu erregten öffent- zur Menge-Sterilisierung mit Vorweisung eines lichen Auseinandersetzungen geführt. Farbfilmes). Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Eckart: Funktionen BGGF: 1935–1938 1. Vorsitzender; Eh- Frauenheilkunde; Frobenius: Ehrenmitglieder; renmitglied. DGGG: 1951–1952 Präsident Czarnowski: Anschluss; Frobenius: Wiederbeset- zung; Stauber: Vergangenheitsbewältigung. Publikationen: Die Röntgenstrahlen in Gynäkologie und Geburtshilfe. Ergänzungsband 29 der Fort- Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939; GW 1956, 188; schritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen. Ham- Fischer I (1962), 382; Fischer III (2002), 385– 386; burg 1913. – Schwangerschaft und Geburt nach Zander/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft Uterusresektion. In: Zentralbl Gynäkol 1921. – Sol- (1987); Stauber/Kindermann: Praktiken (1994); len die Gebärmutterkrebse operiert oder bestrahlt Kuß: Klinikdirektor (2000); Klee: Personenlexikon werden? In: Strahlentherapie 24 (1927), 149–152. (2005); Albrecht: Eymer (2010). – Ergebnisse der Strahlenbehandlung der Gebär- mutterkrebse an der Heidelberger Universitäts- Archivalische Quellen: BayerHStA M: Lehrstuhlakte Frauenklinik. In: Monatsschr Geburtshilfe Gynäkol I. UFK München MK 693 481; Personalakte Eymer 95 (1936), 319–320. – Die Eingriffe zur Unfrucht- MK 43 580; StA M: Spruchkammern 382. barmachung der Frau. In: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Fikentscher, Richard Ausführungsverordnungen. München 1936, 327– 346 (zus. m. A. Gütt, E. Rüdin, F. Ruttke). * 02.04. 1903, Augsburg † 16.06. 1993, München Heinrich Eymer gehört wie sein Erlanger Kollege V: Max Fikentscher, Arzt; M: Leopoldine, geb. Sand Hermann Wintz zu den Ordinarien der Frauenheil- E: Margret, geb. Klischan (ab 14. 8.1944) kunde, die vor allem wegen ihrer Beteiligung an eu- genischen Zwangsmaßnahmen im „Dritten Reich“ Studium: München, Kiel bis in die Gegenwart hinein polarisieren: Eymers

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Staatsexamen/Promotion: 1927, München; Habili- Richard Fikentscher, der sich schon 1935 in seiner tation: 1935 (Halle/Saale); 1938 Umhabilitierung Antrittsvorlesung in Halle mit den Ursachen weib- nach München; 16. 11.1945 Entzug der Lehrbefug- licher Sterilität beschäftigt hatte, wurde in den nis und Amtsenthebung auf Veranlassung der Mili- 1950er und 1960er Jahren zum Wegbereiter der tärregierung; 27. 6.1949 Wiederernennung zum Professionalisierung und Internationalisierung der Priv.-Doz. und apl. Prof.; Emeritierung: 1971; bis deutschen Fertilitätsforschung. 1958 gründete er 1973 Lehrstuhlvertretung mit seinem damaligen Mitarbeiter Kurt Semm so- wie mit dem Magdeburger Gynäkologen Josef-Pe- Karriere: 1928–1931 Ass. am Pathologischen Insti- ter Emmrich, dem Dermatologen und Andrologen tut der Universität München; 1931–1938 Ass./ Paul Jordan (Münster) sowie dem Tiermediziner Oberarzt an der UFK Halle/Saale; ab 1938 Oberarzt Harry Tillman (Gießen) in München die Deutsche an der II. UFK München; 1942 apl. Prof.; Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterili- 10. 10.1950 Ernennung zum a.o. Prof. und Direktor tät. Mit seiner Tätigkeit erwarb er sich den Ruf ei- der II. UFK München; 14.01. 1959 Verleihung der nes erfolgreichen Wissenschaftlers, geschätzten Amtsbezeichnung o. Prof.; 1958 Gründung der akademischen Lehrers und hervorragenden Arztes. Deutschen Gesellschaft zum Studium der Fertilität Sein Verhalten im „Dritten Reich“ lässt ihn jedoch und Sterilität. auch als Karrieristen und Profiteur des NS‑Regimes erscheinen, der sich an eugenischen Zwangsmaß- BGGF‑Mitgliederliste 1939 nahmen in Form von Sterilisationen und Abtrei- bungen beteiligte. An seiner Beurteilung durch die Vorträge BGGF: 1939 (Zur Kenntnis der Schwan- Spruchkammer wird die Problematik dieses Ver- gerschaftshepatopathien in der zweiten Hälfte der fahrens einmal mehr deutlich: Fikentscher wurde Gravidität), 1956 (Bemerkungen zur Prüfung der im Oktober 1950 auf die Professur und in die Lei- Tubendurchgängigkeit mit Demonstration eines tung der II. Münchner Universitätsfrauenklinik be- Universal-Pertubationsgerätes), 1970 (Film: Die rufen, nachdem er von den Spruchkammer-Instan- Hydropertubations-Therapie), 1989 (Tradition als zen zunächst als Mitläufer und dann als entlastet lebendige Verpflichtung). eingestuft worden war. In der Begründung hieß es u.a., trotz seiner formalen Zugehörigkeit zur Funktionen BGGF: Ehrenmitglied NSDAP sei er „dauernd antifaschistisch eingestellt“ gewesen, habe die Partei öffentlich kritisiert und Publikationen: Ärztliche Gesichtspunkte und Er- laufend rassisch Verfolgte unterstützt. Deshalb fahrungen bei der Durchführung des Sterilisie- habe ihn die Geheime Staatspolizei (Gestapo) über- rungsgesetzes an weiblichen Erbkranken. In: Med wacht, und er sei in seinem persönlichen Fortkom- Klin 30 (1935), 311–313. – Die modernen Aufgaben men behindert worden. Richtig ist jedoch offen- auf dem Gebiet der Fertilitätsforschung und der sichtlich das Gegenteil: Beginn der Facharztausbil- Sterilitätsbehandlung (Zielsetzung von Tagungen dung 1931, Habilitation und Ernennung zum der am Problem interessierten Kreise in Deutsch- Oberarzt 1935, dann 1941 außerplanmäßiger Pro- land). In: Zentralbl Gynäkol 80 (1958), 1497–1591. fessor, stets begleitet von wohlwollenden Beurtei- – Die modernen Aufgaben auf dem Gebiete der Fer- lungen der NS‑Dozentenschaft, die in ihm einen tilitätsforschung und der Sterilitätsbehandlung „gesinnungsmäßigen“ und „einsatzbereiten“ Na- (Zielsetzung von Tagungen der am Problem inte- tionalsozialisten sah. ressierten Kreise in Deutschland). In: Fikentscher (Hrsg.): Beiträge zur Fertilität und Sterilität. (= Bei- Artikel im Band: Frobenius: Ehrenmitglieder; Fro- lagenheft zur Zeitschrift für Geburtshilfe 152) benius: Wiederbesetzung; Hofer: Gynäkologie. Stuttgart 1959, 1–6. – [Grußwort]. In: Schirren/ Semm (Hrsg.): Kongreßbericht Rothenburg ob der Gedruckte Quellen: GK 1939, 1960; GW 1956, 120; Tauber 1983: 25 Jahre Deutsche Gesellschaft zum Zander/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft Studium der Fertilität und Sterilität. (= Fortschritte (1987); Dtsch Ärztebl 90 (1993), H 15, 16, 1136. der Fertilitätsforschung 12) Berlin 1984, 20–21. – Tradition als lebendige Verpflichtung. In: Gynäkol Archivalische Quellen: UnivA M: E‑II‑1305 PA Fik- Rundsch 29 (1989), Supplementum 2, 5–10. entscher und Rektoratsakte.

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therapie zu absolvieren. Nach seinem Wechsel in Flaskamp, Wilhelm die Chefarztposition in Oberhausen wurde er Mit- * 19.06. 1891, Duisburg glied der Niederrheinisch-Westfälischen Gesell- † 1979 schaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, die ihn V: Wilhelm Flaskamp, Sanitätsrat 1965 zum Ehrenmitglied und 1971 auch zum Eh- renvorsitzenden ernannte. In einem Nachruf wer- Studium: Freiburg i. Br. den vor allem seine Verdienste um die Krebs- bekämpfung hervorgehoben: Flaskamp gehörte zu Approbation: 1916; Promotion: 1920 (Freiburg den Gründungsmitgliedern der Gesellschaft zur i.Br.); Habilitation: 1928 (Erlangen); 1937 Umhabi- Bekämpfung der Krebskrankheiten Nordrhein- litierung nach Düsseldorf Westfalen und war von 1956 bis 1970 deren Vorsit- zender. Karriere: 1919–1921 Psychiatrie: Univ.-Klinik Straßburg, Innere Medizin: Ev. KH Oberhausen, Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; GK 1928, 1939; Rheinland (Theod. Schmidt); 1921–1922 Chirurgie: RMK 1935; GW 1956, 190; Mannherz: Flaskamp Ev. KH Oberhausen, Rheinland (Schulze-Berge); (1980). Fortbildungskurs in pathologischer Anatomie; ab 1922 UFK Erlangen (Wintz); ab 1929 Leiter der ge- Archivalische Quellen: UnivA Er: A2/1 Nr. F 54. burtsh.-gyn. Abt. des Ev. KH in Oberhausen/Rhein- land.; 1933 a.o. Prof. Fleischer, Richard BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936; 1937 ausgetre- * 10.07.1890, Bayreuth ten † 08.05.1949, New York E: Elisabeth, geb. Kaufmann (* 30.09. 1903, Münch- Vorträge BGGF: 1924 (Trichomonas vaginalis und berg), zweiter Ehemann (ab 1958) Fred J. Sanford K: deren Morphologie und Biologie), 1925 (Direkte Eva und indirekte Fruchtschädigungen durch Röntgen- strahlen; Neue Wege der Lymphgefäßdarstellung), Studium: München, Straßburg, Heidelberg, Berlin, 1927 (Zur Klinik der Lungeninduration nach der Erlangen Röntgenbestrahlung des Mammakarzinoms). Approbation/Promotion: 1916 (Erlangen) Publikationen: Influenzaerreger und Erfahrungen mit Grippeserum. Oberhausen 1920. – Behandlung Karriere: 1919 Privat-Frauenklinik Theilhaber des Ulcus ventriculi mit Röntgenstrahlen. In: Verh (München); 1919–1921 Städt. Wöchnerinnenheim dtsch Röntgen-Ges 1922 und Verh Ges dtsch Naturf Nürnberg; 1921–1924 UFK Breslau (Otto Küstner, 1922. – Röntgenschädigungen an Bestrahlern und Ludw. Fraenkel); 1924 Facharzt für Frauenkrank- Bestrahlten, zivil- und strafrechtl. Folgen. In: Klin heiten und Geburtshilfe in Fürth; 1925 Leitender Wochenschr 1 (1922), 1954–1956. – Neue Wege Arzt des Nathan-Stiftes; 1933 entlassen. der Lymphgefäßdarstellung. In: Monatsschr Ge- burtshilfe Gynäkol 76 (1927), 353–355. – Über BGGF‑Mitgliederliste 1929 Röntgenschäden und Schäden durch radioaktive Substanzen. Ihre Symptome, Ursachen, Vermei- Publikationen: Ein Fall von geplatztem Ovarialkys- dung und Behandlung. Sonderbände zur Strahlen- tom, der Ascites und Malignität vortäuschte. Erlan- therapie, Bd. XII. Berlin/Wien 1930. – Lebensbe- gen 1916. – Die Anwendung der Sehrtschen Bauch- schreibung eines bedeutenden Mannes [Nachruf aortenklemme bei Nachgeburtsblutungen. In: auf Hermann Wintz]. In: Strahlentherapie 79 DMW 18 (1921), 508–509. (1949), 3–10. Richard Fleischer kam 1924 nach Fürth, wo er eine Wilhelm Flaskamp hat nur ein relativ kurzes Gast- florierende Praxis betrieb und 1925 die ärztliche spiel in Bayern und in der BGGF gegeben: Schon Leitung des Nathanstifts übernahm. Am 30. März früh an der Radiologie interessiert, kam er 1922 1933 wurde Fleischer seiner „jüdischen Rasse“ we- nach Erlangen, um dort bei Wintz eine Fachausbil- gen gezwungen, Urlaub einzureichen und in die dung in Geburtshilfe, Gynäkologie und Strahlen- Kündigung seiner Anstellung zum 1. Oktober ein-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 299 zuwilligen. 1935 wurde die repräsentative Woh- sationsmethode; Neue Apparate: 1. Eine Anord- nung der Familie Fleischer in bester Lage in Fürth nung zur Unterwasserstrahlenmassage. 2. Eine Ap- gekündigt. Im Juli 1936 floh die Familie über Paris paratur für vaginale Dauerspülungen. 3. Ein Instru- und Le Havre nach New York. mentensterilisator mit Heißluft nach dem Prinzip des Föhns), 1937 (Altes und Neues über die Be- Artikel im Band: Dross: Juden. handlung der weiblichen Gonorrhoe), 1938 (Selte- ne Formen von Mastitis). Gedruckte Quellen: ÄHB 1925, 1931/32; GK 1928; RMK 1935. BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936

Archivalische Quellen: BayerHStaatsA M LEA Funktionen BGGF: 1924–1926 1. Vorsitzender; 11505; StadtA Fü 9–3877, 9–3899. 1927 2. Vorsitzender; Ehrenmitglied

Publikationen: Neue radiotherapeutische Erfah- Gauß, Carl Joseph rungen in der Gynäkologie auf Grund von 100 gut- * 29.10. 1875, Rittergut Lohne (Regierungsbezirk artigen Blutungen und Tumoren des Uterus. In: Lüneburg) Zentralbl Gynäkol 35 (1911), 394–406. – Röntgen- † 11.02. 1957, Bad Kissingen tiefentherapie. Ihre theoretischen Grundlagen, V: Carl August Adolf Gauß; M: Ana Johanna Sophie ihre praktische Anwendung und ihre klinischen Er- Charlotte, geb. Ebmaier folge an der Freiburger Universitäts-Frauenklinik. E: Marlene, geb. Bingel, verw. Lindenberg Berlin/Wien 1912 (zus. m.H. Lembcke). – Die bishe- rigen Erfahrungen der klinischen Praxis mit der Studium: ab 1894 Tübingen, Erlangen, Würzburg, temporären Röntgenamenorrhoe. In: Zentralbl Gy- München, unterbrochen von sechs Monaten Mili- näkol 45 (1930), 2852–2853. – Die Anwendung der tärdienst Strahlenmenolyse bei der gesetzlichen Unfrucht- barmachung der Frau. In: MMW 82 (1935), 488– Promotion: 1898; Approbation: 1899 (München); 492. – Zur Geschichte der gynäkologischen Strah- Habilitation: 1909 (Freiburg i. Br.); 10.08. 1945 Ent- lentherapie. Unwissenschaftliche Erinnerungen an zug der Lehrbefugnis und Entlassung auf Weisung ihren Anfang und Aufstieg. In: Strahlentherapie der Militärregierung; 01.04. 1951 nachträgliche 100 (1956), 633–648. – Die deutschen Geburtshel- Emeritierung ferschulen. Bausteine zur Geschichte der Geburts- hilfe. München-Gräfelfing 1956 (zus. m.B. Wilde). Karriere: 1899 Schiffsarzt; ab 01.04. 1900 Volon- tärass. am Pathologischen Institut der Universität Carl Joseph Gauß gehört zu den Pionieren der gy- Göttingen; ab 01.04. 1901 Ass. der I. UFK Berlin (v. näkologischen Strahlentherapie. Sein „von Sorge Olshausen); von April bis September 1904 chir. Vo- um seine Patientinnen sowie enormer Schaffens- lontär im KH Westend in Berlin Charlottenburg, kraft geprägtes Lebenswerk“, so Biografin Susanne dann ab 01. 10.1904 Ass. der UFK Freiburg i. Br., Wolf, werde jedoch davon überschattet, dass sich 1909 Privatdozent, 1912 a. o. Prof. in Freiburg; zwi- Gauß als überzeugter Nationalsozialist mit der Be- schen 1914 und 1918 pro Jahr jeweils zwei Monate völkerungspolitik der Partei identifizierte und „die in Kriegsgebieten tätig; 1921 Leiter der Frauenabt. entmenschlichende Maschinerie der Erbgesund- des Diakonissen-KH in Freiburg; 1923–1945 Ordi- heitsgesetze noch zu verbessern suchte“. Tatsäch- narius und Direktor der UFK Würzburg; 1949– lich setzte sich Gauß, an dessen Klinik im „Dritten 1955 Chefarzt des St.‑Elisabeth-KH Bad Kissingen. Reich“ 994 Zwangssterilisationen und 29 eugeni- sche Abtreibungen sowie 148 Schwangerschaftsab- Vorträge BGGF: 1924 (Zur Narzylenbetäubung), brüche bei Ostarbeiterinnen durchgeführt wurden, 1925 (Narcylen-Betäubung mit geschlossenem vehement für die Ablösung der chirurgischen Gaskreislauf; Über künstliche Erregung von Ge- durch die Sterilisation mit Radium- oder Röntgen- burtswehen), 1929 (Geburtshilfliche Schmerzlin- strahlen ein. Letztere bezeichnete er als sichere, derung), 1930 (Die bisherigen Erfahrungen der kli- einfache und billige Alternative. Bedenken hin- nischen Praxis mit der temporären Röntgename- sichtlich der für die betroffenen Frauen daraus er- norrhöe), 1932 (Neue Uterusdilatatoren), 1936 wachsenden Kastrationsfolgen spielte er herunter. (Kritik an der v. Mikuliczʼschen operativen Sterili- Auch nach 1945 verweigerte der damals schon fast

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70-jährige Gauß eine kritische Auseinandersetzung Studium: ab November 1900 Würzburg, München, mit seiner Rolle in der NS‑Zeit. Anstrengungen sei- Berlin nerseits, die von den Militärbehörden verfügte Amtsenthebung rückgängig zu machen, blieben Staatsexamen/Approbation: 1905 (Würzburg); aber aus. Die Wiederbesetzung des Würzburger Promotion: 1906 (Würzburg) Lehrstuhls vollzog sich deshalb im Vergleich zu Er- langen und München I relativ rasch und geräusch- Karriere: Ass. der UFK Würzburg (Hofmeier). los. Vorträge BGGF: 1912 (Zur Behandlung inficierter Artikel im Band: Frobenius: Strahlentherapie; Fro- Aborte; Demonstration: Ein Fall von Dicephalus tri- benius: Ehrenmitglieder; Frobenius: Wiederbeset- brachius), 1913 (Über angeborene Pulmonalatresie zung. und Aortenstenose).

Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939; GW 1956, 191; Funktionen BGGF: 1912 1. Schriftführer Fischer I (1962), 484– 485; Fischer III (2002), 491; Zander/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft Publikationen: Beitrag zur Lehre von Pseudomyxo- (1987); Hoplitschek: Universitäts-Frauenklinik ma peritonei. Diss. med. Würzburg 1906. Würzburg (1975); Klee: Personenlexikon (2005); Wolf: Gauß (2008). Gedruckte Quellen: Zander/Zimmer (Hrsg.): Baye- rische Gesellschaft (1987), 16; Lebenslauf in der Archivalische Quellen: BayHStA M 72455. Dissertation.

Gfroerer (Gfrörer), Walter Heim, Hildegard (geb. Wiesenthal) * 15.07. 1885, Nürnberg * 04.02. 1884, Ferst bei Guben (Niederlausitz) † 18.04. 1962, Würzburg † Dezember 1973, New York V: Julius Wiesenthal; M: Elise Meyer Studium: Erlangen, München, Berlin, Würzburg E: Paul Heim

Approbation: 1910; Promotion: 1911 (Würzburg) Studium: Freiburg, München, Berlin

Karriere: 1912–1919 Ass. der UFK Würzburg (Hof- Approbation: 1914; Promotion: 1917 (München) meier); später niedergelassener Frauenarzt in Würzburg; 1945–1946 kommissarischer Leiter der BGGF‑Mitgliederliste 1929 Frauenklinik Würzburg. Publikationen: Ein Fall von Rotz. Diss. med. Mün- BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 chen 1917.

Artikel im Band: Frobenius: Wiederbesetzung. Hilde(gard) Heim war als Ärztin für Innere Medizin bereits 1926 Mitglied der Münchner Gesellschaft Gedruckte Quellen: GK 1960; Hoplitschek: Univer- und anschließend der BGGF; Mitglied der DGG wur- sitäts-Frauenklinik Würzburg (1975); Wolf: Gauß de sie nicht. Nach einer Ausbildung zur Kindergärt- (2008), 20–21. nerin wurde sie Laborassistentin bei Paul Ehrlich in Frankfurt und studierte anschließend Medizin. Ihr Archivalische Quellen: Ärztl. Kreisverband Würz- Ehemann Paul Heim war Justitiar der „Münchener burg [Sterbedatum]. Neuesten Nachrichten“, die Stelle wurde ihm als Jude im Sinne des NS 1933 gekündigt, 1935 floh er aus Deutschland. Um wenigstens Teile des gemein- Häberle, Albert samen Vermögens nach Möglichkeit nicht preisge- * 30.11. 1881 Hochspeyer (Pfalz) ben zu müssen, lebten beide seit 1933 in Gütertren- † unbekannt nung, bis auch ihr im Dezember 1938, kurz nach V: Jakob Häberle dem Approbationsentzug aller im Sinne des NS jü- dischen Ärztinnen und Ärzte zum 30. September

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1938, über Zürich die Flucht nach New York gelang, Hofmeier, Max wo sie 1942 das medizinische Staatsexamen ablegte und wieder eine Praxis eröffnete. * 28.01. 1854, Zudar (Rügen) † 04.04. 1927, Untergrainau Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Wittern: Frauenärztinnen. Studium: Greifswald, Würzburg, Freiburg i. Br.

Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; RMK 1935, 1937; Promotion: 18.07. 1876 (Greifswald); Habilitation: Bleker/Schleiermacher: Ärztinnen (2000); Buchin: 1884 (Berlin); Emeritierung: 1923 Ärztinnen (2003); Ebert: Anerkennung (2003); Damskis: Biografien (2009), 223. Karriere: 1877 Ass. in Greifswald (Pernice); 1882 Sekundararzt der Berliner Frauenklinik (Karl Internetquellen: Buchin: Dokumentation (2010). Schroeder); 1887 Ordinarius in Gießen; ab 1888 web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00400c1.html Ordinarius und Direktor der Frauenklinik Würz- (04.09.2012) burg.

Vorträge BGGF: 1913 (Über einen zur forensischen Hirsch, Rudolf Begutachtung gekommenen Fall von Uteruszer- * 23.08. 1893, München reißung mit nachfolgendem Tode der betreffenden † 1940 (Deportation) Frau), 1921 (ein Fall von weiblicher Epispadie, den er mit der Goebell-Stoeckelschen Operation zur Promotion/Approbation: 1920 (München) Heilung brachte; Demonstration einer frühzeitigen Ovarialschwangerschaft; Zur Therapie der Placenta BGGF‑Mitgliederliste 1929 praevia), 1922 (zeigt ein interessantes Plattenepi- thelkarzinom der Korpushöhle, das zu einem Ver- Publikationen: Beitrag zum Kapitel der Ovarialkar- schluß der Zervix und zu aktuer Hydrometra ge- zinome; nach dem Material der Münchner Univer- führt hatte; Zur operativen Behandlung der Verla- sitäts-Frauenklinik aus den Jahren 1885–1918. gerungen des Uterus). Diss. med. München 1920. Funktionen BGGF: 1912, 1913 1. Vorsitzender; Rudolf Hirsch wurde im Mitgliederverzeichnis der 1914 2. Vorsitzender; Ehrenmitglied BGGF von 1929 mit der Adresse München-Harla- ching, Über der Klause 12, verzeichnet, im selben Publikationen: Die Gelbsucht der Neugeborenen. Jahr findet sich Georg Hirsch mit der Münchner Stuttgart 1882. – Zur Statistik des Gebärmutter- Adresse Theatinerstraße 32. 1936 kann lediglich krebses und seiner operativen Behandlung. Stutt- Georg Hirsch unter einer Adresse in der Nussbaum- gart 1883. – Die Myomotomie. Stuttgart 1884. – straße in den BGGF‑Listen aufgefunden werden. Die menschliche Placenta. Wiesbaden 1888. Damskis verzeichnet dagegen einen als Juden ver- folgten Gynäkologen Rudolf Hirsch unter der Max Hofmeier hat sich um die regionalen Fachge- Adresse Theatinerstraße 3. 1940 wurde Rudolf sellschaften in Bayern besonders verdient gemacht: Hirsch aus München mit unbekanntem Ziel depor- Er war 1902 Initiator der Gründung der Fränki- tiert und mit größter Wahrscheinlichkeit ermordet. schen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheil- kunde und leistete auch 1912 für den Zusammen- Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; RMK 1935; Dams- schluss zur BGGF einen entscheidenden Beitrag. In kis: Biografien (2009), 223. einer Kurzbiografie aus dem Jubiläumsjahr 1987 wird Hofmeier als eine der letzten „barocken Per- Internetquellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs sönlichkeiten“ der deutschen Frauenheilkunde am www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory. Übergang in das 20. Jahrhundert gewürdigt, deren html.de?id=1251157 (04.09.2012) Ausstrahlung weit über den fränkischen Raum hi- naus wirksam geworden sei. So habe die American Gynecological Society den anerkannten Operateur Hofmeier als einen von drei Europäern zur aktiven Teilnahme an der 100-jährigen Jubiläumsfeier zur

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Erinnerung an die erste Ovariotomie durch Ephra- schen dem zu überwinden, was man für die opti- im McDowell eingeladen. In seinen wissenschaft- male Behandlung der Patienten wissen und können lichen Arbeiten spielten neben der operativen Gy- sollte, und dem, was man in Wirklichkeit weiß und näkologie die Geburtshilfe und die akademische kann). Lehre eine besondere Rolle. Im Rückblick bemer- kenswert erscheint eine Festrede Hofmeiers als Funktionen BGGF: Ehrenmitglied Rektor der Universität Würzburg über „Die Ent- wicklung der deutschen geburtshilflichen Unter- Publikationen: Zur Frage der Haus- oder Anstalts- richtsanstalten in ihrem Verhältnis zum Puerperal- geburt. In: Zentralbl Gynäkol 1940, H. 46. – Be- fieber im 19. Jahrhundert“. Hier handle es sich, so handlung der Follikelpersistenzblutung. Wiener meint der Biograf von Hofmeier, wohl um eine spä- klinische Wochenschrift 59 (1947). – Hyperplasia te Anerkennung der Verdienste von Ignaz Semmel- Endometrii im Senium. In: Wiener Klinische Wo- weis, dessen Thesen von Hofmeiers Vorgänger chenschrift 60 (1948), 45–49 und 63–67. – Die Um- Friedrich Wilhelm v. Scanzoni besonders heftig be- wandlung der Hyperplasie nach Progesteronbe- kämpft worden waren. handlung. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 10 (1950), 834. – Die Bedeutung des Cervixschleims für die Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft. Fertilität. In: Wiener Klinische Wochenschrift 64 (1952), 194. – Der Arzt und das Lebensrecht des Gedruckte Quellen: Pagel: Lexikon (1901), 766; Ungeborenen. In: Österreichische Ärztezeitung 12 Franqué: Hofmeier [Nachruf] (1927); GW 1956, (1957), 23. – Gedanken und Kritik zur heutigen Ge- 125; Fischer I (1962), 650; Hoplitschek: Universi- burtshilfe. In: Wiener Klinische Wochenschrift 76 täts-Frauenklinik Würzburg (1975); Wulf: Hofmei- (1964), 466–469. – Die gynäkologischen Operatio- er (1987). nen. Stuttgart 1971 (zus. m.H. Martius).

Hugo Husslein, langjähriger Direktor der traditi- Husslein, Hugo onsreichen II. UFK Wien („Wertheim-Klinik“), ge- * 14.08. 1908, Bregenz hört zu den bedeutenden Ordinarien der deutsch- † 02.02. 1985, Wien sprachigen Frauenheilkunde im 20. Jahrhundert. V: August Husslein; M: Laura, geb. Miller Sein Biograph Anton Schaller beschreibt ihn als E: Adelina Magdalena, geb. Alexandrescu; K: Peter „Grandseigneur“ und „letzten autoritär regieren- (* 1952) den Vorstand“ der Klinik. Hervorgehoben werden Hussleins Bemühungen um Familienplanung, Studium: 1927–1933 Innsbruck, Tübingen, Wien Schwangerenvorsorge und Sicherheit der klini- schen Geburtshilfe. So richtete Husslein an seiner Approbation/Promotion: 21. 07.1933 (Wien); Ha- Klinik die erste Familienplanungsstelle Österreichs bilitation: 1948 (Wien); Emeritierung: 29. 02.1979 ein und wurde Mitbegründer der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung. Von der Semmel- Karriere: Zunächst Volontärass. der I. Chir. UK weis-Frauenklinik aus initiierte er den sog. Wien, dann Hausarzt im Südbahnhotel auf dem Schwangerenpass, der später für ganz Österreich Semmering; ab 1936 II. UFK Wien (Weibel); ab verpflichtend wurde. Auf seine Initiative ging 1939 UFK in Prag (H. Knaus); 1944 Kriegsdienst, Schaller zufolge auch die Einrichtung des ersten amerikanische Gefangenschaft; ab 1946 Oberarzt „Intensiv-Kreißsaals“ in einer Klinik zurück. Darü- der II. UFK in Wien (Kahr); nach dem Tod von Kahr ber hinaus engagierte sich Husslein für die Fort- 1947 kommissarischer Leiter bis zur Berufung von und Weiterbildung – auch über Landesgrenzen Zacherl; 1955 a. o. Prof. an der II. UFK Wien; 1956 hinweg. Die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft Vorstand der Semmelweis-Frauenklinik in Wien; der BGGF im Jahr 1978 wurde u.a. damit begrün- 1964–1979 Leiter der II. UFK Wien. det, dass er gemeinsame Tagungen und gemeinsa- me Fortbildungen organisiert und damit „entschei- Vorträge BGGF: 1957 (Wert der Hormonanalysen dend Einfluß auf den Wissenstand auch der Bayeri- in der praktischen Frauenheilkunde), 1959 (Der schen Gynäkologen“ genommen habe. praktische Wert des Syntocinontestes), 1978 (über ärztliche Fortbildung: Diese könnte als Bildungs- Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft. prozess definiert werden, den Unterschied zwi-

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Gedruckte Quellen: GW 1956, 259; GK 1960; Kaiser, Rudolf (Rolf) Gitsch: Husslein (1978); Schaller: Husslein (1992); Tragl: Chronik (2007). * 01.04. 1920, Calw † 27.02. 1994, Ulm V: August Kaiser; M: Hedwig, geb. Lachenmann Kachel, Mally E: Irmingard, geb. Stromeyer; K: Verena (* 1955), * 15.11. 1876, Karlsruhe Alexa (* 1956), Marita (* 1957) † 13.04. 1972, München V: Gustav Kachel, Architekt; M: Luise Bender, Studium: 1939–1944 Berlin, Tübingen, Danzig, Ber- Schauspielerin lin

Studium: Lausanne, Bern Staatsexamen: 28.10. 1944 (Berlin); Promotion: 02. 11.1944 (Tübingen); Habilitation: 23.07. 1958 Approbation: 1902 (Freiburg i. Br.); Promotion: (München) 1903 (Freiburg i. Br.) Karriere: 1944–1946 Chirurgie Würzburg, Urologie Karriere: 1902 Assistenzärztin an den Universitäts- München-Oberföhring, Innere Medizin Landshut kliniken in Freiburg und München; Assistenzärztin und Ulm, Säuglingsklinik Ulm; 1946–1952 Gynäko- am Hilda-Kinderhospital in Freiburg; 1903 Assis- logie und Geburtshilfe; ab 01.05. 1947 I. UFK Mün- tenzärztin an der gyn. Universitäts-Poliklinik in chen; 10. 09.1964 apl. Prof.; ab 01.09. 1965 Leiten- München (ohne Entlohnung); 1904–1968 Nieder- der Oberarzt; 01. 04.1969-31. 01. 1970 kommissa- lassung in München; 1907–1944 Schulärztin in rischer Leiter; ab 16. 06.1971 Ordinarius an der München; 1914–1918 Lazarettärztin in München; Universität Köln und Direktor der Frauenklinik. 1921 Fürsorgeärztin an der Trinkerfürsorgestelle in München. Vorträge BGGF: 1955, 1957 (Die Ursachen des un- terschiedlichen Verhaltens von Stroma und Drü- BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 senepithel in der Decidua), 1959 (Über die Entste- hung eines Stromaödems im Endometrium), 1961 Publikationen: Untersuchungen über Polyarthritis (Diagnose und Behandlung von Zyklusanomalien chronica adhaesiva. Diss. med. Freiburg i. Br. 1903. bei Frauen mit Hirsutismus. Spezieller Teil), 1963 (Praktische Erfahrungen mit der Ovulationshem- Mally Kachel hatte wie Ida Democh bereits 1901 mung; Zur Methodik und Hormonausscheidung das deutsche Staatsexamen (mit Sondergenehmi- bei der medikamentösen Ovulationshemmung), gung in Freiburg) abgelegt und war nach Hope 1965 (Zur Hormonausscheidung und Therapie bei Bridges Adams-Lehmann die zweite Ärztin, die dysfunktionellen Blutungen/Zur Therapie bei dys- sich in München niederließ. Kennzeichnend ist funktionellen Blutungen), 1966 (Indikation zur Ab- ihre Arbeit als Schulärztin. Erst 1964 bekam sie die rasio und Hormon-Therapie bei gynäkologischen Kassenzulassung. Sie starb 1972 mit 95 Jahren als Blutungsanomalien), 1968 (Ergebnisse der Clomi- älteste praktizierende Ärztin Europas. phen- und Gonadotropin-Behandlung zur Ovula- tionsauslösung), 1969 (Frequenz und Stärke der Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Wittern: uterinen Neugeborenen-Blutungen), 1970 (Gesta- Frauenärztinnen. gene in Pathogenese, Prophylaxe und Therapie von Genital- und Mammatumoren). Gedruckte Quellen: Bleker/Schleiermacher: Ärztin- nen (2000). Funktionen BGGF: 1955–1957, 1958, 1960–1962 2. Schriftführer; 1963–1971 1. Schriftführer Internetquellen: Buchin: Dokumentation (2010). web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00494c1.html Publikationen: Über den Pregnandioltest nach Gu- (04.09.2012) termann zur Frühschwangerschaftsdiagnose. In: Zentralbl Gynäkol 72 (1950), 974. – Das Gelbkör- perhormon und seine Beziehung zum Laktations- beginn. In: Zentralbl Gynäkol 73 (1951), 898. – Zur Frage der Corpus luteum-Insuffizienz beim habitu-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 304 Anhang ellen und drohenden Abortus. In: Arch Gynäkol 181 lentherapie bedienten. Besonders hervorgehoben (1952), 586 (zus. m.I. Will). – Das Verhalten der werden sein Talent und seine Begeisterung für die Ovarialhormone bei der Übertragung. In: Arch Gy- Lehre. In seinen „gar bald überfüllten“ Vorlesungen näkol 184 (1953), 159. – Die progestative Wirkung sei er „geradezu stürmisch“ gefeiert worden. von 19-Nortestosteronverbindungen bei oraler Verabreichung. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 17 Artikel im Band: Frobenius: Strahlentherapie. (1957), 24. – Fehler und Gefahren bei der Anwen- dung von Sexualhormonen in der Gynäkologie. In: Gedruckte Quellen: Hengge: Klein [Nachruf] Dtsch Med Wochenschr 83 (1958), 1673. (1920); GW 1956, 127; Fischer I (1962), 770; Zan- der/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Stauber: (1987). Vergangenheitsbewältigung. Kraus, Hans Gedruckte Quellen: GK 1960. * 12.05. 1894, Neustadt/Aisch Archivalische Quellen: UnivA LMU M: E‑II‑1927. † 1930, Fürth V: Salomon Kraus, Studienprofessor; M: Olga Klein, Gustav Adolf Approbation: 1919; Promotion: 1930 (Erlangen) * 04.01. 1862, Villach (Kärtnen) † 15.06. 1920, München Karriere: 1919–1921 UFK Erlangen (Seitz); 1921– 1923 KH Fürth; 1923–1924 UFK Erlangen (Wintz). Studium: München BGGF‑Mitgliederliste 1929 Approbation: 1885 (München); Habilitation: 1892 (Würzburg; Hofmeier) Publikationen: Die Erscheinungsformen der Syphi- lis zur Zeit ihres pandemischen Auftretens nach Karriere: Allgemeinärztliche Praxis in Würzburg Entdeckung der neuen Welt. Forchheim 1929 (Diss. und Danzig; Hebammenlehrer in Danzig; Hospitant med. Erlangen 1930). an der UFK Breslau; ab 1889 Ass. der UFK Würz- burg (Hofmeier); 1892 Privatdozent in München; 1925 hatte sich der aus jüdischer Familie stammen- 1901 a. o. Prof. und Vorstand der Univ.-Poliklinik de Frauenarzt Hans Kraus um die ärztliche Leitung für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe in Mün- des Nathanstifts in Fürth beworben, die dann an Ri- chen. chard Fleischer und Hans Sahlmann als Fleischers Stellvertreter vergeben wurde. Gemeinsam mit sei- Publikationen: Röntgentherapie bei Karzinom des ner Schwester Irma führte er eine Praxis in Fürth Uterus, der Ovarien und der Mamma. In: Mo- und verstarb 1930 aus ungeklärter Ursache. natsschr Geburtshilfe Gynäkol 38 (1913), 215–216. – Erfolge der Röntgenbehandlung bei Karzinom des Artikel im Band: Dross: Juden. Uterus, der Ovarien und der Mamma. In: Verhand- lungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. Gedruckte Quellen: GK 1928. Fünfzehnte Versammlung, abgehalten zu Halle a.S. am 14.–17. Mai 1913. Zweiter Teil: Sitzungsbericht Internetquellen: Blume: Memorbuch www. und Generalregister zu Band I–XV der Verhandlun- juedische-fuerther.de/index.php?option=com_ gen. Leipzig 1914, 418–422. wrapper &view=wrapper&Itemid=23 (04.09.2012)

Gustav Klein war Mitglied der Münchener Gynäko- Archivalische Quellen: StadtA Fü 9-3877. logischen Gesellschaft und Gründungsmitglied der BGGF. Sein Münchner Arbeitsumfeld musste er sich – wie es in einem Nekrolog heißt – unter schwieri- gen Bedingungen aufbauen. Dennoch gehörte er mit zu den ersten Gynäkologen, die sich bei der Be- handlung maligner Uteruserkrankungen der Strah-

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Archivalische Quellen: UniA Er UAE C3/3 Nr. 1923/ Kraus, Irma 24–35. * 12.05. 1896, Neustadt/Aisch † 1942, Ravensbrück Liebl, Ludwig V: Salomon Kraus, Studienprofessor; M: Olga * 13.11. 1874, Waldkirchen Studium: Erlangen, Würzburg † 11.02. 1940, Ingolstadt V: Georg Liebl; M: Babette Wittmann Approbation: 1920 (Würzburg); Promotion: 1924 E: Theresia, geb. Hammerschmid; K: Ludwig (Erlangen); 1941 Aberkennung der Promotion (* 1912), Elin (* 1914), Gertrud (* 1919)

Karriere: 1924 praktische Ärztin in Fürth. Studium: München (ab WS 1893/94)

Publikationen: Beitrag zur operativen Behandlung Approbation: 1904, Promotion: 1907 (Leipzig) von Verletzungen des Herzens. Diss. med. Erlangen 1924. Karriere: 1909 Eröffnung einer Arztpraxis in Ingol- stadt; 1912 Kauf einer ehem. Offiziersvilla in der Irma Kraus, die als praktische Ärztin nicht Mitglied Kreuzstraße und Umbau zu einer Privatklinik; der BGGF war, führte mit ihrem Bruder Hans eine 1927 Sanitätsrat; 1929 Mitbegründer und 1. Vorsit- gemeinsame Praxis in Fürth. Sie wurde 1924 in Er- zender des NS-Ärztebunds bis 1932. langen mit einer chirurgischen Arbeit promoviert. Bereits im Juli 1933 hatte die aus einer jüdischen BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 Familie stammende Ärztin ihre Hausangestellte „wegen Verschlechterung meiner Wirtschaftslage“ Publikationen: Ueber traumatische Lungengangrä- entlassen müssen. Die Verurteilung zu sechs Jahren ne infolge von Oesophagusruptur (Aus dem Institut Zuchthaus wegen „gewerbsmäßiger Abtreibung“ für gerichtliche Medizin zu Leipzig). Leipzig 1907 im Jahr 1935 beendete die ärztliche Tätigkeit von (Diss. med. Leipzig [Hoffmann]). Irma Kraus. Vom Zuchthaus Aichach wurde die Ärz- tin in das Konzentrationslager Ravensbrück ver- Die Biographie von Ludwig Liebl ist seiner umfang- bracht, wo im Juni 1942 ihr Tod vermerkt wurde. reichen politischen und öffentlichen Aktivitäten Ihre und Hans Kraus’ Geschwister Selma und Felix wegen aufschlussreich. Von 1911 bis 1928 enga- waren im November 1941 nach Riga-Jungfernhof gierte er sich im Ingolstädter Stadtrat, 1919–1924 deportiert worden und gelten als verschollen. Eine als Abgeordneter der DDP, 1924–1926 für den Völ- weitere Schwester, Hedwig, die mit dem 1940 ver- kischen Block, seitdem für die NSDAP, der er 1925 storbenen Alfred Bendel verheiratet war, wurde im beitrat und deren Ortsgruppenleiter in Ingolstadt März 1942 gemeinsam mit dem Juristen Paul Sahl- er bis 1929 war. Auf dem 4. Reichsparteitag der mann und mehr als 260 weiteren Fürtherinnen NSDAP im August 1929 in Nürnberg initiierte Liebl und Fürthern nach Izbica deportiert und gilt eben- die Gründung des Nationalsozialistischen Deut- falls als verschollen. schen Ärztebunds (NSDÄB) und wurde dessen ers- ter Vorsitzender. Mit der Amtsübernahme durch Artikel im Band: Dross: Juden. Gerhard Wagner 1932 wurde Liebl Ehrenvorsitzen- der des NSDÄB, der sich weniger als Standesorgani- Gedruckte Quellen: GK 1928; Wittern/Frewer: Ab- sation denn als Teil der Kampforganisation der erkennung (2008). NSDAP verstand. Neben seiner Unterstützung für das kulturelle Leben (Konzert- und Kunstverein) Internetquellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs spielte Liebl seit 1927 als Gründer und Verleger www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory. der nationalsozialistischen Ingolstädter Tageszei- html.de?id=905011 (Felix Kraus); www.bundesar tung „Der Donaubote“ eine zentrale Rolle im öf- chiv.de/gedenkbuch/directory.html.de?id=904976 fentlichen Leben der Stadt, die ihn 1934 zum Eh- (Selma Kraus); Blume: Memorbuch www. jue renbürger ernannte. dische-fuerther.de/index.php?option=com_wrap per&view=wrapper&Itemid=23 (04.09.2012) Artikel im Band: Dross: Juden.

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Gedruckte Quellen: Ingolstadt im Nationalsozialis- ten. Stuttgart 1938. – Therapie der Mastitis. In: Mo- mus (1995). natsschr Geburtshilfe und MMW (1938). – Thera- pie der Prae- und Eklampsie. In: Med Klin (1938). Archivalische Quellen: StadtA IN. – Beitrag zum febrilen Abort. In: Arch Gynäkol 180 (1951), 278–281. – Wandlungen in der Geburtshil- fe. In: MMW 28 (1951). Lüttge, Werner * 02.10. 1895, Halle/Saale Werner Lüttge gehörte in seiner Funktion als Leiter † 12.07. 1979, Bamberg der Staatlichen Hebammenanstalt und der Frauen- V: Fritz Lüttge; M: Marie, geb. Schenk klinik Bamberg zu den wenigen Klinikchefs, von E: Elisabeth, geb. Kalthoff; Elfriede, denen im „Dritten Reich“ eugenische Sterilisa- geb. Hirschauer; K: 4 tionen und Schwangerschaftsabbrüche sowie Zwangsabtreibungen bei Ostarbeiterinnen katego- Studium: Halle/Wittenberg risch abgelehnt wurden. Lüttge hatte deshalb hefti- ge Auseinandersetzungen mit den NS‑Machtha- Promotion: 01.10. 1921; Approbation: 01.08. 1922 bern, blieb jedoch letztlich ungeschoren. (Halle/Saale); Habilitation: 15.05. 1930 (Erlangen); 1945 Entzug der Lehrberechtigung; 01. 04.1946 Gedruckte Quellen: GW 1956, 199; GK 1960; Wit- Rehabilitierung durch die Militärregierung; tern (Hrsg.): Professoren (1999), 123. 30. 11.1949 Wiederernennung zum Privatdozen- ten und zum apl. Prof.; 29.11. 1963 Entpflichtung. Archivalische Quellen: UnivA Er: C3/5 Nr. 138; F 2/1 Nr. 1383. Karriere: 1922 Medizinalpraktikant an der Frauen- klinik Halle/Saale; 01.10. 1923 wiss. Ass. der Frau- Lützenkirchen-Funck, Sophie (geb. Funck) enklinik Halle/Saale; 01. 05.1926 wiss. Ass. der Frauenklinik Leipzig; 01.10. 1927 wiss. Ass. Chir. * 08.09. 1890, Köln UK Frankfurt a.M.; 1928 Studienaufenthalt am † 10.10. 1974, München Physiologisch-chemischen Institut, am Institut für V: Albert Funck, Kaufmann Krebsforschung der Charité sowie am Kaiser-Wil- helm-Institut in Berlin; ab 01. 10.1928 wiss. Ass. Studium: Bonn, München, Marburg der UFK Erlangen; 1930 Privatdozent; 1932 Ober- arzt der Klinik in Erlangen; ab 1933 Leiter der Approbation: 1915 (München); Promotion: 1917 Staatl. Hebammenlehranstalt und der Frauenklinik (München) Bamberg; 1934 a.o. Prof. Karriere: 1916, 1919 Assistenzärztin der II. UFK; BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 1920 Niederlassung in München; Vorstand der ge- burtsh.-gyn. Abt. des Rot-Kreuz-KH München. Vorträge BGGF: 1930 (Zur Therapie der Trichomo- nasvaginitis), 1935 (Die Reichweite des geburtshilf- BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936; DGG‑Mitglie- lichen Handelns in Klinik und Praxis), 1937 (Tumo- derlisten 1931, 1933 ren im Geburtskanal), 1938 (Zur Therapie der Mas- titis; Vorweisung: Fibromyom des Sphincter Publikationen: Indikation zum Kaiserschnitt nach vesicae), 1939 (a. Dürfen unter der Geburt Vollbä- Strumaoperation. Diss. med. München 1917. – Zur der verabreicht werden? b. Lumbalanaesthesie Behandlung der weiblichen Gonorrhöe. (Aus der II. beim Kaiserschnitt), 1955 (Zur Therapie des Gyn. Universitätsklinik München) In: MMW 66 Abortus febrilis), 1960 (Vorschlag zur Herabminde- (1919), 737–740. – Zusammentreffen von Myom rung des intrauterinen Eingriffes im Wochenbett). und Carcinom. In: Monatsschr Geburtshilfe Gynä- kol (1923). – Gynergen zur Bekämpfung der Atonia Publikationen: Aetiologie der Varicocele. Diss. med. uteri. (Aus dem Wöchnerinnenheim der Kranken- Erlangen 1922. – Zangengeburt im Röntgenbild. anstalt vom Roten Kreuz in München) In: MMW München 1933. – Tumoren als Geburtshindernis. 70 (1923), 1456–1457. – Dysplasia adiposo-genita- In: Monatsschr Geburtshilfe (1937). – Wärme-, Bä- lis nach psychischem Affekt. (Aus der Krankenan- der- und Strahlenbehandlung der Frauenkrankhei- stalt des Bayerischen Roten Kreuzes München) In:

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MMW 71 (1924), 1577–1578. – Schleimhautim- 1907–1917 Oberarzt der UFK Tübingen; 1913 a.o. plantat in Uterus- und Bauchdeckennarbe nach Prof.; 1917 Berufung zum Ordinarius und Direktor Kaiserschnitt. In: Monatsschr Geburtshilfe Gynäkol der UFK Tübingen (Lehrstuhlvertretung bis 1950). (1925). – Aufgabe und Bedeutung der Gymnastik vom Standpunkt der Gynäkologin. In: Vjschr dtsch Vorträge BGGF: 1922 (Zur Atonie des unteren Ute- Ärztinnen 3 (1927), 72–74. – Die Indikationen der rinsegmentes bei Placenta praevia; Über psycho- Inneren Medizin für die Unterbrechung der gene Entstehung gynäkologischer Leiden), 1924 Schwangerschaft. In: Bendix/Lützenkirchen/Levy- (Vorbestrahlung des Uteruskarzinoms; Zur Be- Lenz (Hrsg.): Die Schwangerschaftsunterbrechung handlung postoperativer Darmstörungen), 1926 ihre Voraussetzung und ihre Technik. Bedeutung, (Über Gewebezüchtung mit Demonstration von rechtliche Grundlage, Indikationen und Technik Mikrophotogrammen), 1927 (Über operative Be- des indizierten Abortes in den ersten drei Schwan- handlung der Blasenektopie; Demonstration), gerschaftsmonaten. Berlin-Hessenwinkel 1930, 1929 (Funktionsunterschiede der Plazenta; Über 49–51. – Junge Mutter, weißt Du schon? München Ureterpolyp und Ureterinversion [Demonstra- 1950. tion]), 1930 (Über Amaurose im Status prae- eclampticus), 1931 (Bemerkungen zur Frage der Sophie Lützenkirchen-Funck gehört mit Ida De- Thrombose und Embolie), 1933 (Zum modernen moch-Maurmeier, Annemarie Durand-Wever, Hil- Sterilisierungsproblem der Frau), 1937 (Über die degard Heim, Mally Kachel und Maria Monheim Zunahme der Geburtslänge der Neugeborenen), zu den ersten sechs weiblichen Mitgliedern der 1939 (Fehler der Vita sexualis und Gynäkologie). BGGF, die in der Mitgliederliste des Jahres 1929 verzeichnet sind. Neben ihrer Mitgliedschaft in der BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 BGGF und der DGG galt ihr verbandspolitischer Ar- beitsschwerpunkt dem Bund deutscher Ärztinnen, Funktionen BGGF: Ehrenmitglied für den sie das Amt der Schatzmeisterin der Bayeri- schen Bezirksgruppe 1927 übernommen hatte. Publikationen: Ein Beitrag zur Lehre von der Hypo- plasie der Genitalien und Infantilismus auf Grund Artikel im Band: Wittern: Frauenärztinnen. von klinischen Beobachtungen. In: Beitr Geburts- hilfe Gynäkol 12 (1908), 343–400. – Über den Ein- Gedruckte Quellen: GK 1928, 1960; Bleker/Schlei- fluß des Antistreptokokkenserums auf die Nachge- ermacher: Ärztinnen (2000). burtsblutung und Thrombose im Wochenbett. In: Gynäkol Rundsch 3 (1909), 505–508. – Über die Internetquellen: Buchin: Dokumentation (2010). Heilung der Eklampsie durch intralumbale Injekti- web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00650c1.html on von normalem Schwangerenserum. In: Zen- (04.09.2012) tralbl Gynäkol 37 (1913), 297–298. – Grundsätzli- ches zur Klinik der eugenischen Sterilisierung. In: Zentralbl Gynäkol 58 (1934) 1986–1992. – [Eröff- Mayer, August nungsrede]. Verhandlungen der Deutschen Gesell- * 28.08. 1876, Felldorf schaft für Gynäkologie 1935. In: Arch Gynäkol 161 † 11.10. 1968, Stuttgart (1936), 11. – Bemerkungen zum Kampf gegen die V: Anton Mayer; M: Julie Mayer, geb. Löffler Unfruchtbarkeit. In: Fikentscher (Hrsg.): Beiträge E: unverheiratet zur Fertilität und Sterilität. (= Beilageheft zur Zeit- schrift für Geburtshilfe 152) Stuttgart 1959, 59–69. Studium: ab 1895 Tübingen, Freiburg i. Br., Gießen – Alfred Hegar und der Gestaltwandel der Gynäko- logie seit Hegar. Freiburg 1961. – 50 Jahre selbst er- Staatsexamen/Promotion: 1900 (Gießen); Habilita- lebte Gynäkologie. München 1961. tion: 1908 (Tübingen); Emeritierung: 1949 August Mayer gehört zu den Ordinarien, deren er- Karriere: 1901–1904 Ass. der UFK Freiburg i. Br. (A. hebliche Belastung durch ihr Verhalten im Natio- Hegar); 1904 Volontär an der Psychiatrischen nalsozialismus erst Jahrzehnte nach Kriegsende für Univ.-Klinik Freiburg i. Br.; 1904–1905 Ass. der eine breitere Öffentlichkeit evident wurde. Zuvor gyn. Abt. des Vincencius-KH in Freiburg i. Br.; hatten prominente Fürsprecherinnen wie die von 1905–1907 Volontärarzt an der UFK Heidelberg; ihm behandelte Olga-Maria Gräfin von Stauffen-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 308 Anhang berg dafür gesorgt, dass der Säuberungsausschuss Approbation: 31. 01.1889; Promotion: 12.03. 1889 der Universität Tübingen sowie die Spruchkammer (München); Habilitation: 1897 (Leipzig); Emeritie- ihn für entlastet erklärten und er seine Ämter als rung: 01. 10.1930 Ordinarius und Klinikdirektor behalten konnte. Mayer wurde bereits zu Beginn seiner Laufbahn Karriere: 1897 Privatdozent in Leipzig; ab Anfang des 20. Jahrhunderts von den sozialdarwi- 01. 10.1904 o. Prof. in Erlangen sowie Direktor der nistischen Ansichten seines Lehrers Alfred Hegar Frauenklinik und der Hebammenschule Erlangen; beeinflusst. Später identifizierte er sich nach An- ab 1908 Ordinarius in Heidelberg. sicht seines Biographen Thorsten Doneith mit großen Teilen der von den Nationalsozialisten pro- Vortrag BGGF: 1912 (Zur Tuberkulose der weibli- pagierten Ideen zur Rolle der Frau in der Gesell- chen Harnorgane). schaft sowie zur Eugenik, „wenn auch sein ideolo- gischer Hintergrund ein anderer war“. Weiter stellt BGGF‑Mitgliederliste 1936 Doneith fest: „Mayer verstrickte sich in die NS- Ideologie, ohne ein wirklicher Parteigänger gewe- Funktionen BGGF: Ehrenmitglied. DGG: 1923– sen zu sein.“ Auf dem Kongress der Deutschen Ge- 1925 Präsident sellschaft für Gynäkologie 1935 bot er als Präsident den Nationalsozialisten durch entsprechende Se- Publikationen: Ueber ein bacterienfeindliches Ver- lektion der Referenten die gewünschte propa- halten der Scheidensecrete Nichtschwangerer. In: gandistische Plattform zur Kommunikation ihres Dtsch Med Wochenschr 20 (1894), 867–870, 891– eugenischen Gedankengutes. An der Tübinger 893, 907–910. – Bakteriologie des Genitalkanales Frauenklinik wurden unter seiner Ägide im NS der nichtschwangeren und nichtpuerperalen Frau. mindestens 740 Frauen zwangssterilisiert, von de- (= Menge/Krönig: Bakteriologie des weiblichen Ge- nen wenigstens vier starben. In mindestens 46 Fäl- nitalkanales) Leipzig 1898. ––Vorbereitung der len brachen Ärzte aus eugenischen Gründen Hände vor aseptischen Operationen. In: MMW Schwangerschaften ab; Abtreibungen bei Zwangs- (1898). – Inguinale Tubensterilisation. In: Zentralbl arbeiterinnen sind in zwei Fällen dokumentiert. Gynäkol (1900). – Abdominale Myomenukleation. Die wissenschaftliche Leistung Mayers wird nicht In: Arch Gynäkol (1904). – Abdominale Radikalope- allzu hoch eingeschätzt; Übereinstimmung besteht ration bei Uterus-Carcinom. In: Zentralbl Gynäkol hinsichtlich seiner großen Qualitäten als Kliniker (1905). – Indikationsstellung bei geburtshilflichen und Klinikchef. Operationen. In: MMW (1908). – Röntgentherapie in der Gynäkologie. In: Monatsschr Geburtshilfe Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Frobe- (1912; zus. m. H. Eymer). – Handbuch der Frauen- nius: Strahlentherapie; Dross: Juden; Frobenius: heilkunde für Aerzte und Studierende. Wiesbaden Ehrenmitglieder; Czarnowski: Österreich; Frobe- 1913 (hrsg. m.E. Opitz). – Abortus arteficialis. In: nius: Wiederbesetzung; Hofer: Andrologie; Bruns: MMW (1930). Beginn. Carl Menge (für dessen Vornamen sich unter- Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939, 1960; GW schiedliche Schreibweisen finden) gehört zu den 1956, 223; Fischer II (1962), 1009; Wormer: NDB Frauenärzten, die sich Ende des 19. Jahrhunderts 16 (1990), 535–536; Bröer: Frauenheilkunde mit bakteriologischen Untersuchungen wissen- (2004); Klee: Personenlexikon (2005); Doneith: schaftlich profilierten. Dazu wurden gesunde Frau- Mayer (2007). en mit fakultativ oder obligat pathogenen Keimen inokuliert, u.a. um die Selbstreinigungskraft der Vagina abzuklären. Menge arbeitete in dieser Frage Menge, Carl (Karl) an der UFK Leipzig mit dem späteren Freiburger Or- * 18.08. 1864, Bad Kreuznach dinarius Bernhard Krönig zusammen. Nicht geklärt † 09.10. 1945, München ist bisher die Rolle, die Menge 1933 als Emeritus V: Gustav Menge, Kaufmann; M: Johanna Menge, bei der Untersuchung gegen das BGGF‑Mitglied geb. Schultze Franz Weber spielte, dem nach der Machtübernah- E: Clara Julie Menge, geb. Silveke (ab 1898); K: 2 me zusammen mit anderen vorgeworfen wurde, an der II. UFK München „die Frage der Schwanger- Studium: München, Freiburg i. Br., Leipzig schaftsunterbrechung und der Sterilisierung ganz

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 309 außerordentlich weitherzig“ behandelt und syste- Monheim, Maria matisch „indicationelle Mißwirtschaft betrieben“ zu haben. Menge leitete damals die Untersuchun- * 15.02. 1888, Köln gen, die sich an den „nationalsozialistischen † 20.11. 1963, Garmisch-Patenkirchen Grundsätzen über die Pflichten des Arztes“ orien- tierten. Weber sah im Verlauf keine andere Mög- Studium: Freiburg i. Br., München lichkeit für sich als den Suizid. Die „Tubensterilisa- tion nach Menge“, entwickelt um 1900, stellte ein Approbation: 1912 (München); Promotion: 1913 Verfahren dar, das später u. a. bei eugenischen (München; zwei Jahre nach Vorlegen der Disserta- Zwangssterilisationen im NS zur Anwendung kam. tion 1911)

Artikel im Band: Ruisinger: Forschung; Dross: Ju- Karriere: 1912–1914 Gyn. Poliklinik München den. (Gustav Klein), 1913–1914 als I. Ass.; 1915–1919 Assistenzärztin der Röntgenabt. des Städt. KH links Gedruckte Quellen: GK 1928, 1938; GW 1956, 200; der Isar; 1919 Assistenzärztin an der geburtsh. Po- Fischer II (1962), 1023; Wittern (Hrsg.): Professo- liklinik München; 1926/27 Niederlassung in Mün- ren (1999), 129. chen; 1953 niedergelassene Frauenärztin und Röntgenologin in München. Internetquellen: Professorenkatalog. www.uni- leipzig.de/unigeschichte/professorenkatalog/leip- BGGF‑Mitgliederliste 1929 zig/Menge_919/ (04.09.2012) (04.09.2012) Publikationen: Menstruation bei Herzfehlern. In: Annalen der städtischen allgemeinen Krankenhäu- Mirabeau, Sigmund ser (1913), 43 (Diss. med. München 1911). – Ratio- * 09.04. 1870, Bruchsal nalisierung der Menschenvermehrung. Jena 1928 † 14.04. 1912 (Diss. oec. publ. München 1927; zus. m. Paula Wack). – Die Bedeutung des Frauenturnens für Karriere: Fachausbildung an der I. UFK München Frauenleben und Frauenarbeit. In: Monatsschr (F. v. Winckel) sowie an der I. UFK Wien (F. Schau- dtsch Ärztinnen 4 (1928), 129. – Zum Problem der ta); ab 1897 Frauenarzt in München. Fürsorgeerziehung. In: Ärztin 8 (1932), 252–253. – Vorschlag zur Errichtung eines Mütterhilfsamtes. Funktionen BGGF: 2. Schriftführer (gewählt am In: Ärztin 9 (1933), 188–190. 28. 01.1912) Maria Monheim legte nach der medizinischen Publikationen: Über Drillingsgeburten. München 1927 noch eine staatswissenschaftliche Promotion 1894. mit einer Schrift über „Rationalisierung der Volks- vermehrung“ ab. Seit 1927 war sie Mitglied im Sigmund Mirabeau, der bereits in der Münchner Bund deutscher Ärztinnen, wo sie 1933 Vorstands- Gynäkologischen Gesellschaft aktiv war, gehört zu mitglied und Ortsgruppenleiterin in München so- den Gründungsmitgliedern der BGGF. Bei der kon- wie vehemente Vertreterin der „Gleichschaltung“ stituierenden Sitzung am 28. Januar 1912 wurde er des BdÄ im Sinne des Nationalsozialismus wurde. zum 2. Schriftführer gewählt. Zu seinem plötzli- chen Tod nur drei Monate später im Alter von 42 Artikel im Band: Wittern: Frauenärztinnen. Jahren ist nichts bekannt. Gedruckte Quellen: GK 1928; Bleker/Schleierma- Gedruckte Quellen: GW 1956, 201; Zander/Zimmer cher: Ärztinnen (2000). (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft (1987), 20. Internetquellen: Buchin: Dokumentation (2010). web.fu-berlin.de/aeik/HTML/rec00678c1.html (04.09.2012)

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html.de?id=932230 (Hugo Mosbacher), www. Mosbacher, Emil bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de? * 07.06. 1886, Fürth id=932226 (Otto Mosbacher); Blume: Memorbuch † Mai 1973, Forrest Hills (New York, USA) www.juedische-fuerther.de/index.php?option= K: 2 com_wrapper&view=wrapper&Itemid=25 (Hugo Mosbacher) (04.09.2012) Approbation: 1910 (?); Promotion: 1911 (Heidel- berg) Ober, Karl Günther Karriere: 1910–1911 II. UFK Wien (Wertheim); * 24.08. 1915, Berlin 1911 Serol.: Erlangen (Weichhard); 1911–1914 † 27.02. 1999, Erlangen Frauenklin. Frankfurt (Walthardt); ab 15.03. 1914 V: August Ober, Kaufmann; M: Lina Ober, in Nürnberg (Frauentorgraben 67/26); 29.09. 1938 geb. Lückel; E: Eva-Maria; K: Manuel abgemeldet in die USA. Studium: 1934–1939 Berlin BGGF‑Mitgliederliste 1929; DGG‑Mitgliederver- zeichnis 1931 Staatsexamen: 1940; Promotion: 1941 (Berlin); Habilitation: 12.05. 1954 (Marburg/Lahn) Publikationen: Beitrag zur Aetiologie und Therapie der Uterusruptur. Wien 1911 (Diss. med. Heidel- Karriere: 1940–1943 Ausbildung im Pathologi- berg [Menge] 1911). schen Institut der Universität Berlin (Charité), dort Infektion mit Tuberkulose; anschließend ärztliche Im Mitgliederverzeichnis der DGG vom 1. Juli 1931 Tätigkeit im Sanatorium St. Blasien (Schwarzwald); wurde der in Nürnberg tätige Frauenarzt Emil Mos- ab 1948 Fachausbildung an den UFK in Marburg bacher noch als Teilnehmer der Jahrestagung in und Köln (C. Kaufmann); 12.04. 1960 apl. Prof. Frankfurt a.M. vermerkt. Nur wenige Jahre später (Köln); 1962–1983 Ordinarius und Direktor der beginnt die Geschichte seiner Verfolgung, der er UFK sowie der Hebammenschule in Erlangen. sich im September 1938, kurz nach dem Approba- tionsentzug für alle jüdische Ärztinnen und Ärzte, Vorträge BGGF: 1962 (Die chirurgische Konisation/ durch seine Flucht in die USA entziehen konnte. Es Chirurgische Technik der Konisation), 1965 (Podi- liegt nahe, in ihm einen Bruder von Hugo Mosba- umsgespräch: Prolapsbehandlung bei der Greisin cher zu vermuten, geboren 1880 in Fürth als sechs- [Moderator]), 1970 (Klinische Schlußfolgerungen tes der zehn Kinder des Waisenhauslehrers Sig- bei verdächtigem zytologischem Befund). mund Mosbacher. Hugo und seine Frau Clementine Adler flohen nach Amsterdam, von wo sie nach Funktionen BGGF: 1972–1973 1. Vorsitzender; Eh- Auschwitz deportiert und ermordet wurden, eben- renmitglied so wie Hugos Schwester, die 1882 in Fürth gebore- ne Frida Mosbacher (verheiratete Röderer), die Publikationen: Zur Frage einer Progesteronbehand- ebenfalls aus dem niederländischen Lager Wester- lung. Experimentelle Untersuchungen mit dem bork in das Vernichtungslager Sobibor deportiert Hooker-Forbes-Test und klinische Beobachtungen und dort ermordet wurde. Es kann vermutet wer- mit Kristallsuspension. In: Arch Gynäkol 184 den, dass auch der 1894 in Nürnberg geborene (1954), 543–616 (zus. m. I. Klein, M. Weber). – Car- Otto Mosbacher, der im Mai 1942 in das Vernich- cinoma in situ, beginnendes Karzinom und klini- tungslager Belzec deportiert und für tot erklärt scher Krebs der Cervix uteri. Ihre Diagnose und wurde, zu den Geschwistern des Frauenarztes und Therapie sowie ihr Einfluß auf die Ergebnisse der BGGF‑Mitglieds Emil Mosbacher zu zählen ist. Krebsbehandlung. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 21 (1961), 259–297 (zus. m.C. Kaufmann, H. Ham- Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; RMK 1935; Rieger/ perl). – Positive Zytologie der Zervix, ihre histologi- Jochem: Jüdische Ärzte (2009); Damskis: Biogra- sche Abklärung und die anschließende Wahl der fien (2009), 237. Behandlung. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 26 (1966), 202–222 (zus. m.K. Michalzik). – Unterricht Internetquellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs in der Frauenheilkunde und Numerus clausus. In: www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory. Mchn Med Wochenschr 38 (1970), 1703–1709

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(zus. m.H.K. Pauli, K. Timm). – Probleme der For- später dort Oberarzt, dann niedergelassener Frau- schungsfinanzierung in Frauenkliniken. In: Ge- enarzt in München. burtshilfe Frauenheilkd 44 (1984), 56–59. – Vier Jahrzehnte Chirurgie des Zervixkarzinoms. In: Ge- Publikationen: Beiderseitige operative Behandlung burtshilfe Frauenheilkd 49 (1989), 432–436. bei doppelseitiger Lungentuberkulose (Diss. med. Berlin 1941). Karl Günther Ober gehört zu den profiliertesten Vertretern der deutschen Frauenheilkunde in der Artikel im Band: Frobenius: Wiederbesetzung. zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Namen sind wichtige Entwicklungen in der Gynä- Gedruckte Quellen: GK 1960; Wolf: Gauß (2008), kologischen Onkologie sowie in der Endokrinologie 20–21. und Reproduktionsmedizin verknüpft. Seine Schü- ler brachten ihm als Operateur, Gynäkopathologen Archivalische Quellen: Ärztl. Kreisverband Würz- und unorthodoxem Vordenker des Fachgebietes burg [Sterbedatum]. nicht nur großen Respekt, sondern geradezu Ver- ehrung entgegen. Zu Beginn seiner Laufbahn be- Polano, Oskar schäftigte sich Ober mit endokrinologischen Fragen wie der Behandlung der dysfunktionellen Uterus- * 31.10. 1873, Hamburg blutungen. Seinen ganz persönlichen wissenschaft- † 23.07. 1934, Obergrainau/Oberbayern lichen Schwerpunkt fand er in der Auseinanderset- E: Anna Elisabeth, geb. Bounet; K: Hans (nach zung mit der Physiologie und Pathologie der Cervix Kamerun emigriert und dort als „Pflanzungsarzt“ uteri: Er gehörte zu der Arbeitsgruppe, die erstmals tätig) den Formenwandel der Zervix im Leben der Frau systematisch untersuchte und die auch zeigen Studium: Freiburg i. Br., Gießen, Straßburg, Berlin, konnte, dass sehr frühe Stadien des Gebärmutter- Kiel halskrebses keiner radikalen Therapie bedürfen. Die relativ einseitig radiologisch orientierte Erlan- Approbation/Promotion: 1897; Habilitation: 1904 ger Frauenklinik formte er nach seiner Amtsüber- (Würzburg); Ruhestand: 1933 nahme im Mai 1962 zu einem Zentrum der ope- rativen Gynäkologie um, ohne die radiologische Karriere: 1909 a. o. Prof. in Würzburg; ab Tradition zu vernachlässigen. Der breiten Öffent- 01. 10.1920 Extraordinarius und Vorstand der Gyn. lichkeit wurden Ober und seine Klinik ein Begriff, Poliklinik der Universität München; wegen schwe- als dort 1982 – begleitet von gewaltigem Medien- rer Erkrankung vorzeitige Versetzung in den Ruhe- rummel – das erste deutsche IVF‑Kind zur Welt stand Ende 1933. kam. Die wissenschaftlichen Vorarbeiten dazu hat- te Ober aus seiner Privatschatulle finanziert, nach- BGGF‑Mitgliederliste 1929 dem entsprechende Förderanträge durch die DFG wiederholt abgelehnt worden waren. Vorträge BGGF: 1912 (Über Chorionepitheliome mit langer Latenz), 1913 (Demonstration: Fremd- Gedruckte Quellen: GW 1956, 267; Frobenius: körper aus Vagina und Uterus; Zur biologischen Ober (1999); Zander/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Schwangerschaftsdiagnose), 1914 (Weitere Erfah- Gesellschaft (1987). rungen über die sectio caesarea cervicalis poste- rior), 1921 (Vorderer oder hinterer zervikaler Kai- serschnitt?), 1922 (Mamma und Menstruation), Peil, Oswald Fritz 1924 (Beiträge zur Biologie der Menstruation), * 21.05. 1912, Leipzig-Stötteritz 1925 (Zur Pneumoperitoneumfrage [mit Projektio- † 23.08. 1973, Würzburg nen]), 1926 (Die Bedeutung der Rektalnarkose für den gynäkologischen Unterricht), 1927 (Über eine Approbation: 1941 (Leipzig); Promotion: 1941 neue Art der Rektalnarkose), 1929 (Röntgenkarzi- (Berlin) nom von Bauchdecken und Blase), 1930 (Was lehrt die Frühsterblichkeitsstatistik der bayerischen Ge- Karriere: Ab 1941 UFK Leipzig (Robert Schröder); bäranstalten?), 1933 (Beeinflussung der Uterusblu- 1946 kommissarischer Leiter der UFK Würzburg, tungen durch Stauung der Mamma).

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Funktionen BGGF: 1932–1933 1. Vorsitzender Gedruckte Quellen: GW 1956, 133; Fischer II (1962), 1230; Zander/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Publikationen: Technik der Darstellung von Gesellschaft (1987). Lymphbahnen. In: Dtsch Med Wochenschr (1902). – Sekret.-Fähigkeit des amniot. Epithels. In: Zen- Archivalische Quellen: BayHStA M: MK 44136. tralbl Gynäkol (1905). – Behandlung der Dysme- norrhöe. In: MMW (1907). – Kaiserschnitt und Raef[f]ler, Johannes Lumbalanästh. In: MMW (1908). – Hämolyse der Streptokokken. In: MMW (1908; zus. m. Lüdke). – * 11.05. 1876, Gera-Reuß Diskussionsbeiträge. In: Bayerische Gesellschaft † 23.12. 1944, Nürnberg für Geburtshülfe und Frauenkrankheiten. Konstitu- E: Beatrix, geb. Schlutius; K: Ursula Marianne Ute ierende Sitzung in Würzburg, am 24. Januar 1912. (* 1928); Horst Helmut Friedrich Oswald (* 1930) In: Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynäkolo- gie 35 (1912), 771–772 (zus. m. L. Seitz, S. Flatau). Approbation: 1916 (Jena); Promotion: 1918 (Jena) – Behandlung der Entzündungen der Adnexe und des Beckenbindegewebes. In: Zentralbl ges Gynäkol Karriere: 1919 Chirurgie Berlin, 1919–1921 UFK (1914). – Diagn. gynäkol. Veränderungen im klei- Heidelberg (Menge), ab 1921 Frauenarzt in Nürn- nen Becken durch Pneumoperitoneum und Rönt- berg. genbild. In: MMW (1922; zus. m. C. Dietl). – Uterus- blutung und ihre Behandlung. In: Ergebnisse der BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 gesamten Medizin 6 (1925). Funktionen BGGF: 1929 Schriftführer Oskar Polano, in den ersten Dekaden des 20. Jahr- hunderts eines der aktivsten Mitglieder der Fränki- Publikationen: Hypnose in der Gynäkologie. In: schen und später der Bayerischen Gesellschaft für Zentrabl Gynäkol (1921); Hypnose bei vaginalen Geburtshilfe und Frauenheilkunde, gehört zu den Kursuntersuchungen Schwangerer. In: Zentralbl Ärzten, die nach 1933 wegen ihrer „nicht arischen Gynäkol (1921). Abstammung“ auch bei der BGGF in Ungnade fie- len. Es ist davon auszugehen, dass er nur durch Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939. Krankheit und frühen Tod vor größeren Kränkun- gen oder gar Verfolgung, Vertreibung und einem Archivalische Quellen: StadtA Nürnberg, C21/IX, gewaltsamen Ende bewahrt blieb. Seine Amtsent- Nr. 799 und 1316. hebung als Prüfer für die Staatsexamina im Juli 1933 musste er allerdings noch erleben. Polano Rech, Walter war 1932 zum 1. Vorsitzenden der BGGF gewählt worden und hatte im Februar 1933 die 21. Sitzung * 08.10. 1896, Köln der Gesellschaft geleitet. Anschließend wird er † 21.09. 1975, München nicht mehr erwähnt, obwohl er entsprechend den V: Jakob Rech, Gynäkologe üblichen Abläufen auch die Tagung von 1934 hätte E: Marie Gertrud, geb. Quincke (gesch. 1934); durchführen müssen. Diese Tagung entfiel kom- zweite Ehefrau: Renate; K: 3 mentarlos, Polanos schwere Erkrankung ab dem Sommersemester 1933 und sein früher Tod 1934 Studium: ab 1914 Heidelberg, Bonn waren der Gesellschaft keinerlei offizielle Mittei- lung oder einen Nachruf wert. Auch im Jubiläums- Approbation/Promotion: 1921 (Heidelberg); Habi- band von 1987, in dem die Persönlichkeiten der litation: 1929 (Heidelberg); Ruhestand: 1961 früheren Vorsitzenden gewürdigt werden, bleiben diese Aspekte von Polanos Schicksal ausgespart. Karriere: 1921–1922 Pathologisches Institut Hei- delberg; 1922–1924 Physiologisches Institut Würz- Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Dross: burg; 1924–1934 UFK Heidelberg (Menge, Eymer); Juden. 1934–1945 I. UFK München (Eymer); 1936 a.o. Prof.; 1946–1949 Lehrstuhlvertreter in Erlangen; ab 1950 nach Abberufung durch Kultusminister

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Alois Hundhammer wieder Oberarzt der I. UFK er in diesem Jahr auch noch einmal auf einer Liste München. für die Besetzung der II. Münchner Frauenklinik auftauchte. Zu den Vorwürfen, mit denen sich Vorträge BGGF: 1935 (Untersuchungen über die Rech konfrontiert sah, gehörte die schon 1945 wi- Herztätigkeit des Kindes bei Erlöschen des Plazen- derlegte Behauptung, er habe sich aus rassistischen tarkreislaufes post partum), 1936 (Frage der Tiefen- Gründen 1933 von seiner ersten Ehefrau getrennt, erwärmung im Kurzwellenfeld), 1938 (Unsere Er- die daraufhin zusammen mit ihrer Tochter in ein fahrungen mit der Sakralanaesthesie), 1939 (Was KZ gebracht worden sei. Allerdings hat er sich of- leistet die Sakralanästhesie bei größeren gynäkolo- fensichtlich an den eugenischen Zwangsmaßnah- gischen Eingriffen?). men in der Eymerschen Klinik beteiligt: 1936 be- richtete Rech beim Deutschen Gynäkologenkon- Publikationen: Eigenstoffwechsel der menschl. Pla- gress über die dort überwiegend angewandte zenta. In: Zeitschr Biol 80 (1924). – Physiologischer Sterilisationstechnik nach Menge. Verschluß der Nabelarterien. In: Klin Wochenschr (1924) und Zeitschr Biol 82 (1952). – Experimen- Artikel im Band: Frobenius: Wiederbesetzung; telle Untersuchungen über Beziehungen zwischen Stauber: Vergangenheitsbewältigung. mütterlichen und kindlichen Herzaktion. In: Arch Gynäkol 132 (1927). – Neue Methode der objekti- Gedruckte Quellen: GK 1928, 1939; GW 1956, 204; ven Registrierung der fetalen Herzaktivität. In: Wittern (Hrsg.): Professoren (1999), 148; Zander/ Arch Gynäkol 144 (1931). – Experimentelle Unter- Ries: In memoriam (1976); Der Spiegel 1950, suchungen über die Beeinflussung der fetalen Nr. 29, 6–9; Der Stern 1950, Heft 37, 6–7,21; Erlan- Herztätigkeit. In: Arch Gynäkol 144 (1931). – Wir- ger Nachrichten v. 8./9. 1950, 9.9. 1950, 6.10. 1950; kung des Kopfdruckes auf die Frequenz des fetalen Erlanger Tagblatt 8./9.1950. Herzschlages In: Arch Gynäkol 154 (1933). – Elek- tromechanische Wehenschreiber. In: Arch Gynäkol Archivalische Quellen: BayerHStaatsA M, MK 156 (1933). – Eugenische Sterilisierung an der 44171 Walter Rech; UnivA Er: A2/10 Nr. 5 Ehren- Münchener UFK unter besonderer Berücksichti- angelegenheit Rech 1949–1951; A2/1 Nr. R 63 PA gung des Mengeschen Sterilisierungsverfahrens. Walter Rech; C3/5 Nr. 44. In: Arch Gynäkol 161 (1934).

Riesenfeld, Nathan Walter Rech, Schüler von Carl Menge in Heidelberg sowie langjähriger Assistent und Oberarzt von * 1867 Heinrich Eymer in Heidelberg und München, ge- hört offensichtlich zu den Hochschullehrern der Approbation: 1892; Promotion: 1894 (Würzburg) Gynäkologie und Geburtshilfe, die sich im „Dritten Reich“ politisch vergleichsweise wenig angepasst Karriere: Praxis in Würzburg, Fabrikstraße 27. haben. Jedenfalls äußerte sich die NS‑Dozenten- schaft mehrfach kritisch zu seinem Engagement BGGF‑Mitgliederliste 1929 für die Ziele der Partei und beklagte, von Rech wür- den in der Klinik „oft genug andere Volontäre mehr Publikationen: Die Löslichkeit des Quecksilbers in gefördert als gerade unser nationalsozialistischer wässerigen Salzlösungen. Diss. med. Würzburg Nachwuchs“. Trotzdem erscheint er als der große 1894. Verlierer bei der Wiederbesetzung der gynäkolo- gisch-geburtshilflichen Ordinariate in Bayern nach Das Schicksal des mutmaßlich aus einer jüdischen 1945: Von den Amerikanern ursprünglich für die Familie stammenden Frauenarztes Nathan Riesen- Eymer-Nachfolge in München ins Kalkül gezogen, feld konnte im Rahmen der Recherchen für diesen ging er von 1946 bis 1949 als kommissarischer Kli- Band nicht geklärt werden. Die 1895 in Würzburg nikchef nach Erlangen. Auch für den Lehrstuhl in geborene Margot Riesenfeld, vielleicht eine Ver- Würzburg als Nachfolger von Gauß stand er auf wandte, emigrierte in die Niederlande, von wo aus der Berufungsliste. Trotz zahlreicher Versprechun- sie im Juli 1943 in das Vernichtungslager Sobibor gen fand sich Rech schließlich – aufgerieben durch deportiert und dort ermordet wurde. vielerlei Intrigen – 1950 in München auf seiner al- ten Position wieder. Es half ihm nichts mehr, dass Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; RMK 1935.

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Internetquellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs Saenger-Thomessen, norweg. Legationsrat in Bonn; www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory. 2) Emilie Gräfin von Hirschberg († 24. 02.1932, html.de?id=949906 (Margot Riesenfeld) München); K: Giselheid, Leif; 3) Margaretha Don- (04.09.2012) hauser; K: Helga, Hans Hermann (beide * Frederik- stad, Norwegen). Rosenfeld, Ernst Approbation: 1911; Habilitation: 1923; Entlassung * 05.06. 1872, Nürnberg aus dem Staatsdienst 1933 † 11.02. 1936, Nürnberg K: 4 Karriere: Fachausbildung an der I. und II. UFK in München bei A. Döderlein und Franz Anton Weber, Approbation: 1895 unter dem er 1923 Privatdozent und 1927 a. o. Prof. wurde. Karriere: 1895–1899 Militär, London und Norwich (England); ab 01. 04. 1899 in Deutschland, Saenger BGGF‑Mitgliederliste 1929 (Leipzig), Leopold (Dresden), Prochownik (Ham- burg); Facharzt für Frauenkrankheiten (Sulzbacher Vorträge BGGF: 1921 (Zur Frage der aktiven Abort- Straße 25, Nürnberg). behandlung), 1922 (Über vorzeitige Lösung der außerhalb der Geburtsbahn inserierten Plazenta/ BGGF‑Mitgliederliste 1929 Einige Beobachtungen bei Neugeborenenasphyxie), 1927 (Über Kompression der Nabelschnur durch Vorträge BGGF: 1912 (Mikroskopisches Bild eines die kindliche Hand), 1933 (Unsere Erfahrungen Gumma der Mamma), 1913 (überkürbisgroßes mit der Tubensterilisation nach Madlener, mit sal- Spindelzellensarkom des linken Lig. latum, ausge- pingographischer Nachprüfung). hend entweder von Resten der Urniere oder den Fasern des Ligaments), 1925 (Plötzliche Becken- Funktionen BGGF: 1924–1930 1. Schriftführer knochenveränderung nach übertriebener Abmage- rungskur [Osteomalazie durch Avitaminose?]). Das BGGF‑Mitglied Hans Sänger war 1923 von Al- bert Döderlein und dem Pathologen Max Borst ha- Funktionen BGGF: 1912–1931 Kassier bilitiert worden. Sänger, der seit 1927 den Profes- sorentitel führte, war mehrfach als Vortragender Das Schicksal des jüdischen Frauenarztes Ernst Ro- bei Kongressen der Gesellschaft aufgetreten. Erst senfeld, der von der Gründung der BGGF an über im März 1933 wurde sein Dienstvertrag als „geho- annähernd zwei Jahrzehnte als Kassier für die Fi- bener ordentlicher Assistent“ an der II. UFK Mün- nanzen der Gesellschaft zuständig und mehrfach chen um zwei Jahre verlängert. Er stammte von auch als Vortragender auf den Jahreskongressen zwei jüdischen Großeltern im Sinne des Berufsbe- der BGGF tätig war, konnte im Rahmen der hier amtengesetzes ab und führte zur Kompensation durchgeführten Recherchen nicht weiter aufgeklärt den „Frontkämpferparagraphen“ an. Die im Okto- werden. ber dazu amtlich eingeholte Nachricht vom bayeri- schen Kriegsarchiv führte aber schließlich dazu, Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; RMK 1935; Dams- dass Hans Sänger noch im November 1933 mit so- kis: Biografien (2009), 238; Rieger/Jochem: Jüdi- fortiger Wirkung aus dem bayerischen Staatsdienst sche Ärzte (2009). entlassen wurde. Gleichzeitig lief ein Untersu- chungsverfahren gegen ihn und seinen Chef Franz Anton Weber von der II. UFK München. Wahr- Sänger (Saenger), Hans Erling scheinlich durch – in diesem Fall – pronatalistische * 30.11. 1884, Leipzig Intentionen der neuen Machthaber beeinflusst, † 18.03. 1943, Norwegen warf man beiden vor, dass in ihrer Klinik „die Frage V: Max Saenger, Professor in Leipzig (* 14. 03.1853, der Schwangerschaftsunterbrechung und der Steri- Bayreuth, † 13.01. 1903, Prag; ev.-luth.); M: Helga lisierung ganz außerordentlich weitherzig“ behan- Maria Vaagaard (* 05.07. 1857, Aalesund (Norwe- delt werde. Franz Weber floh in den Suizid, Sänger gen), † 15. 02.1931, Kopenhagen; ev.-luth.) war auf Grund des Berufsbeamtengesetzes bereits E: 1) Ellen Thommessen, Oslo, geschieden; K: Knut entlassen worden und nach Norwegen verzogen.

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Artikel im Band: Dross: Juden. der Röntgentiefentherapie und ihre Erfolge. Berlin/ Wien 1920 (zus. m. H. Wintz). – Klinische Erfahrun- Gedruckte Quellen: GK 1928; GW 1956, 206; Fi- gen und technische Neuerungen in der Röntgenbe- scher II (1962), 1351. handlung des Karzinoms. In: Monatsschr Geburts- hilfe Gynäkol 56 (1921), 92–93 (zus. m. H. Wintz). Archivalische Quellen: BayerHStaatsA M, MK – Fünfjährige Erfahrungen mit der Strahlenbe- 44237 PA Dr. Sänger Hans. handlung des Uteruscarcinoms. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 17. Versammlung, abgehalten zu Innsbruck vom Seitz, Ludwig 10. bis 22. Juni 1922. In: Arch Gynäkol 117 (1922), * 24.05. 1872, Pfaffenhofen an der Roth 258–260. – Über die Verkoppelung der eugeni- † 19.06. 1961, Pfaffenhofen an der Roth schen Sterilisierung mit der eugenischen Schwan- V: Franz Seitz, Landwirt und Brauereibesitzer; gerschaftsunterbrechung bei besonders schweren M: Josepha Seitz, geb. Dirr Erbkrankheiten in einem einzigen Sondergesetz. E: Hedwig Kerschensteiner (ab 1905); K: 5 In: Dtsch Med Wochenschr 59 (1933), 1084–1087. – [Diskussionsbeitrag zur Sterilisation]. Verhand- Studium: 1893–1898 München, Berlin, Heidelberg, lungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie München zu Berlin 1933. In: Arch Gynäkol 156 (1934). – Wie können Arzt und Frauenarzt zur Verhütung erb- Approbation: 1898; Promotion: 10.06. 1898 (Mün- kranken und zur Förderung erbgesunden Nach- chen); Habilitation: 22. 07.1903 (München); Eme- wuchses beitragen? In: Dtsch Med Wochenschr 60 ritierung: 01. 10.1938 (1934), 546–549.

Karriere: Geheimer Hofrat; 1903 Privatdozent in Ludwig Seitz, ein Schüler von Albert Döderlein, hat München; 1910–1921 Direktor der UFK und der ein gewaltiges wissenschaftliches Lebenswerk hin- Hebammenschule Erlangen; 1921–1938 Ordinari- terlassen und damit fast alle Teilgebiete der Frau- us und Direktor der UFK Frankfurt a. M. enheilkunde bereichert. Als Direktor der Erlanger Klinik erarbeitete er zusammen mit seinem Schüler Vorträge BGGF: 1912 (Hyperemesis als Schwanger- Hermann Wintz wichtige Grundlagen für die Be- schaftstoxikose), 1913 (Die galvanische Nervener- strahlung gynäkologischer Krebserkrankungen. Er regbarkeit und die Schwangerschaftstetanie), 1921 gilt als Vater des dortigen Röntgeninstituts, das (Klinische Erfahrungen und technische Neuerun- zwischen den Weltkriegen als Forschungs- und Be- gen in der Röntgenbehandlung des Karzinoms), handlungszentrum internationalen Rang einnahm. 1930 (Zur Symptomatologie, Prophylaxe und The- Für seine Verdienste um das Fachgebiet wurden rapie der Eklampsie und ihrer Vorstufen). Seitz zahlreiche Ehrungen zuteil, so etwa Ehren- mitgliedschaften von Fachgesellschaften. Auch die BGGF‑Mitgliederliste 1936 Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina nahm ihn in ihre Reihen auf. In Frankfurt ernannte Funktionen BGGF: Ehrenmitglied man ihn zum Ehrenbürger der Stadt und zum Eh- rensenator der Universität. Erst in den 1990er Jah- Publikationen: Die Störungen der Inneren Sekreti- ren wurde öffentlich, dass sich Seitz schon 1933 on in ihren Beziehungen zu Schwangerschaft, Ge- nicht nur vehement für eugenische Zwangssterili- burt und Wochenbett. In: Verhandlungen der sationen, sondern auch für dazu simultane Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 15. Ver- Schwangerschaftsabbrüche einsetzte. Er muss da- sammlung, abgehalten zu Halle a.S. am 14.–17. mit als einer der Wegbereiter der entsprechenden Mai 1913. Erster Teil: Referate. Leipzig 1913, 213– Erweiterung des NS‑Gesetzes zur Verhütung erb- 475. – Über die Beseitigung von Myom- und Wech- kranken Nachwuchses bezeichnet werden. Der selblutungen in einmaliger Sitzung durch Zinkfil- NSDAP gehörte er allerdings nie an. In der Universi- terintensivbestrahlung. In: MMW 63 (1916), tätsfrauenklinik Frankfurt a. M., die er von 1921 bis 1785–1787 (zus. m.H. Wintz). – Die ausschließli- zu seiner Emeritierung 1938 leitete, wurden im che Röntgenbestrahlung des Gebärmutterkrebses, Rahmen der von 1932 bis 1945 dort vorgenomme- der Röntgen-Wertheim. In: MMW 66 (1918), nen 509 Sterilisationen auch 148 Abbrüche durch- 1131–1134 (zus. m.H. Wintz). – Unsere Methode geführt. In 38 Fällen waren die Schwangerschaften

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älter als fünf Monate, manche der Frauen befanden technische Neuerungen in der Röntgenbehandlung sich bei der Interruptio sogar schon im siebten Mo- des Karzinoms. In: Monatsschr Geburtshülfe Gynä- nat. In fast der Hälfte der Fälle nahmen die Ärzte für kol 56 (1921), 93–96. – Lehrbuch der physikali- den Abbruch eine Sectio parva vor. schen, biologischen und klinischen Grundlagen zur Strahlen-Tiefen-Therapie und ihrer Anwen- Artikel im Band: Frobenius: Strahlentherapie; Fro- dung in der Gynäkologie. Berlin 1923. benius: Ehrenmitglieder; Frobenius: Wiederbeset- zung. Ernst Ritter von Seuffert gehört zu den Pionieren der gynäkologischen Strahlentherapie. Er war in Gedruckte Quellen: GK 1939, 449–451; Fischer II der I. Universitätsfrauenklinik München unter dem (1962), 1437; Kleinert: Radium-Jubel (1988), 132; Direktorat von Albert Döderlein als Leiter des Wittern (Hrsg.): Professoren (1999), 181–182; Fro- Strahleninstitutes maßgeblich an dessen Ausbau benius: Röntgenstrahlen (2003), 420–424. zu einer Einrichtung mit internationalem Renom- mee beteiligt. Auf der Strahlentherapie lag auch Archivalische Quellen: UnivA Erl A2/1, 23, PA Seitz. der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Publi- kationen. Wie bei vielen Radiologen der ersten Stunde führte der Umgang mit Strahlung bzw. ra- Seuffert, Ernst Ritter von dioaktiven Substanzen bei von Seuffert zu erhebli- * 02.06. 1879, München chen Gesundheitsschäden. Er musste sich deshalb † 21.11. 1952, München schon in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts V: Ernst August Ritter von Seuffert; M: Auguste aus der praktischen Strahlentherapie zurückzie- Edle von Weckbecker zu Sternenfeld hen. 1937 entzogen die Behörden von Seuffert we- E: Leonie, geb. Graetz; K: Pauline, Theodora, Emy, gen der „nicht arischen“ Abstammung seiner Ehe- Auguste frau zunächst die Lehrbefugnis. Wenig später wur- de er nach dem Berufsbeamtengesetz in den Studium: München Ruhestand versetzt. 1946 verfügte der Bayerische Kultusminister die Wiederverleihung der Venia Le- Approbation: 1903; Promotion: 1905 (München); gendi; bis 1948 war von Seuffert dann während der Habilitation: 1916 (München); 23.06. 1937 Entzug Zeit von Heinrich Eymers Amtsenthebung kommis- der Lehrbefugnis; 30.07. 1937 Versetzung in den sarischer Leiter der I. Universitätsfrauenklinik Ruhestand; 26.03. 1946 Wiedererteilung der Venia München. Legendi Artikel im Band: Frobenius: Strahlentherapie; Fro- Karriere: Ab 1904 Fachausbildung bei F. v. Winckel benius: Wiederbesetzungen. und A. Döderlein in der I. UFK München; ab 1907 I. Ass.; ab 1913 Oberarzt; 1916 Privatdozent; ab 1920 Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; RMK 1935; GK Leiter der Hebammenschule der I. UFK; 1922 a.o. 1939; GW 1956, 209; Eymer/Ries: Seuffert [Nach- Prof.; 27. 07.1946 –01. 08.1948 kommissarischer ruf] (1953); Fischer II (1962), 1444. Leiter der I. UFK München. Archivalische Quellen: UniA M (LMU): E‑II‑3147. BGGF‑Mitgliederliste 1929 Simon, Max Vorträge BGGF: 1913 (Über gynäkologische Rönt- gentherapie), 1921 (Klinische Erfahrungen mit der * 16.03. 1864, Schweinfurt Strahlenbehandlung). † 05.06. 1939, Nürnberg E: Karoline, geb. Kröber Publikationen: Über Dissectio Foetus mit dem Küstnerʼschen Rachiotom. In: Zentralbl Gynäkol 35 Studium: München, Freiburg i. Br., Berlin (1910). – Über gynäkologische Röntgentherapie. In: Strahlentherapie 2 (1913). – Das Ergebnis der Approbation: 1886 Strahlenbehandlung beim Portio-Cervix-Karzi- nom. In: Monatsschr Geburtshülfe Gynäkol 53 Karriere: 1886–1890 Ausbildung in den Universi- (1920), 115–130. – Klinische Erfahrungen und tätsfrauenkliniken Erlangen und Berlin (Paul Zwei-

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 317 fel, Richard Frommel, Karl Schröder); ab 1890 Frau- kgl. Universitäts-Frauenklinik. Diss. med. München enarzt mit Privatklinik in Nürnberg. 1897.

Vorträge BGGF: 1921 (Die chirurgische Behandlung Der in Nürnberg niedergelassene Gynäkologe Willi der Abtreibungsperitonitis), 1924 (Präparat eines Straus gehört zu den rassisch Verfolgten der natio- kindskopfgroßen, durch Laparotomie entfernten nalsozialistischen Diktatur, denen die Flucht ins si- Zervikalmyoms). chere Ausland gelang. Im Rahmen der Recherchen für diesen Band wurden keine weiteren Angaben Funktionen BGGF: 1921–1922 1. Vorsitzender; zu seinem Schicksal erhoben. Die in Nürnberg ge- 1924–1926 2. Vorsitzender borenen Egon John (* 1911), Lotte Lore (* 1921) so- wie Ilse Minna Blondine (* 1925) Straus, vermutlich Publikationen: Mißbildungen. In: Zentralbl Gynä- Familienangehörige des Frauenarztes Willi Straus, kol (1884). – Übergang pathogener Mikroorganis- wurden 1942 von Nürnberg in das Ghetto Izbica men von Mutter auf Foetus. In: Zentralbl Gynäkol deportiert und dort ermordet. 17 (1893). – Kaiserschnitte. In: MMW (1893). – S.W. Flatau [Nekrolog]. In: Zentralbl Gynäkol Gedruckte Quellen: Rieger/Jochem: Jüdische Ärzte (1926). (2009); Damskis: Biografien (2009), 239.

Max Simon gehört wie sein Freund August Beckh Internetquellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs zu den wenigen nicht an universitären Kliniken tä- www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory. tigen Frauenärzten, die in den regionalen bayeri- html.de?id=978682 (Egon John Straus), www. schen Fachgesellschaften sehr aktiv waren. Ur- bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de? sprünglich in der Fränkischen Gesellschaft für Ge- id=979069 (Ilse Minna Blondine Straus), www. burtshilfe und Gynäkologie engagiert, war er an bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de? der Gründung der BGGF wesentlich beteiligt und id=979310 (Lotte Lore Straus) (04.09.2012) wurde nach Max Hofmeier und Albert Döderlein deren dritter Vorsitzender. Zusammen mit Döder- Wachtel, Michael lein erarbeitete er Kriterien für die Definition des Begriffes „Frauenarzt“. * 26.02. 1902 † 17.09. 1974, Oakland (Kalifornien, USA) Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft. E: Margot Wachtel (* 27.08. 1902, † 23. 02.1987, Oakland) Gedruckte Quellen: GK 1928; Zander/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft (1987), 56. BGGF‑Mitgliederliste 1929; DGG‑Mitgliederliste 1931 Archivalische Quellen: StadtA Nürnberg: C21/IX, Nr. 847. Vorträge BGGF: 1929 (Wege zur Steigerung und Verminderung der Milchsekretion im Wochen- bett), 1930 (Die Prophylaxe der Thrombosen und Straus, Willi Embolien im Wochenbett), 1931 (Zur Frage der Lin- * 05.11. 1873, Nürnberg derung des Geburtsschmerzes). K: 1 Publikationen: Die Stieldrehung der normalen Ad- Approbation/Promotion: 1897 (München) nexe. Diss. med. München 1927. – Über neuzeitli- che Geburtserleichterung. In: Arch Gynäkol 144 Karriere: Praxis in der Essenweinstraße 4, Nürn- (1931), 225–227. berg; am 15. 08.1933 abgemeldet nach London. In den Mitgliederlisten der BGGF (1929) und der BGGF‑Mitgliederliste 1929; DGG‑Mitgliederliste DGG (1931) findet sich Michael Wachtel als Mitar- 1931 beiter der II. UFK München unter der Adresse Lind- wurmstraße 2a verzeichnet, als letzte Münchner Publikationen: Neue Mitteilungen über das Stil- Adresse führt Damskis Rindermarkt 9 an. Der lungsvermögen der Puerperae an der Münchener Münchner Frauenarzt entzog sich der rassischen

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 318 Anhang

Verfolgung durch Flucht in die USA, wo er in Oak- In: Arch Gynäkol 183 (1952), 312. – Zur Histoche- land (Kalifornien) 1974 verstarb. mie der fetalen Adenohypophyse. In: Arch Gynäkol 194 (1960), 39. – Ist die Perforation des Uterus ein Gedruckte Quellen: Damskis: Biografien (2009), Kunstfehler? In: MMW (1960), 2599. 231. Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft. Internetquellen: www.findagrave.com/cgi-bin/fg. cgi?page=gr&GRid=18685249 (04.09.2012) [Abbil- Gedruckte Quellen: GW 1956, 320; GK 1960; Zan- dung des Grabsteins] der/Zimmer (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft (1987).

Waidl, Ernst Archivalische Quellen: UnivA M: PA‑allg. 439; E‑II * 13.01. 1914, India (Jugoslawien) 3466. † 20.07. 1981 V: Viktor Waidl; M: Elisabeth, geb. Fulda Weber, Franz Anton E: Dorothea Hickmann (ab 22.07. 1960) * 22.10. 1877, Würzburg Studium: 1932–1938 Marburg/Lahn, Berlin, Wien † 21.11. 1933, München (Suizid) V: Heinrich Weber; M: Elisabeth, geb. Matterstock Approbation/Promotion: 20. 12.1938 (Wien); Ha- E: Klara, geb. Hornig; K: Herta (* 1910) bilitation: 23. 02.1955 (München) Studium: 1897–1902 Würzburg Karriere: 1939 und 1940 Medizinalpraktikant in Jugoslawien; ab 01.06. 1941 Fachausbildung an Promotion: 09. 07.1902 (Würzburg); Approbation: der II. UFK in München (Fikentscher); 04. 05. 1956 27. 07.1902; Habilitation: 21. 07.1911 (München) Oberarzt; 30. 07.1962 apl. Prof.; 02. 03.1966 Lei- tender Oberarzt; 01.12. 1969 Ordinarius und Di- Karriere: ab 01. 10.1902 Ass. der chir.-gyn. Abt. des rektor der Frauenklinik des KH rechts der Isar der Marienhospitals Köln; ab 01. 04.1903 Volontärarzt TU München. UFK München; ab 01. 01.1904 Volontärass. am Pa- thologischen Institut der Universität München; ab Vorträge BGGF: 1955 (Grundsätzliches zur legalen 01. 11.1904 Ass. der UFK und Hebammenschule Schwangerschaftsunterbrechung), 1959 (Die hypo- München (F.v. Winckel und A. Döderlein); ab thalamische Neurosekretion des Feten), 1965 (Die 01. 12.1913 Oberarzt; vom 01. 10.1920 bis zum mehrfache Sectio caesarea), 1967 (Der Endometri- 21. 11.1933 a. o. Prof. und Vorstand der II. UFK umsfaktor bei der oralen Infertilisierung), 1968 München. (Die Einwirkung von Ovulationshemmern auf den Kohlenhydratsstoffwechsel), 1969 (Die Wirkung BGGF‑Mitgliederliste 1929 von kleinsten Gestagendosen auf den Kohlenhy- dratstoffwechsel), 1977 (weist auf die vornehmli- Publikationen: Die kompletten Uterusrupturen der che Aufgabe der Medizin hin, auch der postklimak- letzten 50 Jahre an der Münchner Frauenklinik. He- terischen Frau zu helfen, wobei Endokrinologie und gars Beiträge, Band XV; Beiträge zur Therapie der psychologische Führung im Vordergrund stehen). Nachgeburtsblutungen. In: MMW 30 (1910). – Der Gummihandschuh in der Hebammenpraxis. In: Funktionen BGGF: 1976–1977 1. Vorsitzender; Eh- Allg Dtsch Hebammenzeitung 15 (1910). – Zur Be- renmitglied handlung gynäkologischer Erkrankungen mit Röntgenstrahlen. In: Monatsschr Geburtshülfe Gy- Publikationen: Zur Frage eines Sexualzentrums im näkol 35 (1912), 769–771. Zwischenhirn. In: Arch Gynäkol 176 (1949), 811. – Die experimentelle Ovarimplantation in die Milz. Franz Anton Weber, im Kollegenkreis, bei Patien- In: Arch Gynäkol 181 (1951), 351. – Experimentelle tinnen und Studierenden offenbar gleichermaßen Untersuchungen über die ovariellen Wirkungen auf geschätzt, scheint im November 1933 ein Opfer die Hypophyse. In: Arch Gynäkol 183 (1952), 573. – der pronatalistischen Bemühungen der Nationalso- Das Verhalten des Eierstocks im Pfortadergebiet. zialisten geworden zu sein. Infolge einer gegen ihn

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York Anhang III: Ausgewählte Kurzbiographien 319 eingeleiteten Untersuchung „wegen fahrlässig ab- Vorträge BGGF: 1969 (Zur operativen Behandlung gegebener [positiver] Gutachten zur Schwanger- der Stress-Inkontinenz-Rezidive/Harninkontinenz- schaftsunterbrechung und Sterilisierung in der II. Rezidive), 1970 (Routineappendektomie bei der gynäkologischen Klinik“ der Universität München gynäkologischen Laparotomie; Film: Vaginale sah er keine andere Möglichkeit als den Suizid. Die Bauchhöhlen-Operationen), 1971 (Zur Ehrenret- Universität versuchte zunächst, den u. a. als „Herz- tung der Operation nach Alexander-Adams), 1972 schlag“ deklarierten Tod Webers aus den Zeitungen (Zur Häufigkeit der Ureterläsionen nach Hysterek- herauszuhalten. Dies gelang jedoch nur unvollkom- tomie). men. So erschien am 24. November 1933 in der Augsburger Postzeitung ein ehrender Nachruf, Funktionen BGGF: 1972–1989 Schatzmeister; Eh- ebenso im 1935 vorgelegten Jahrbuch der Universi- renmitglied tät München für das Jahr 1933/34. Letzterer, der von dem langjährigen Assistenten Webers, Otto Publikationen: Studie über Geburtsverläufe und Brakemann, verfasst worden war, erregte erhebli- Geburtsergebnisse nach Abortus imminens. In: Ge- ches Missfallen des Kultusministeriums, das sich burtshilfe Frauenheilkd 30 (1970) 504–513 (zus. „im Hinblick auf die Tatsachen, die […] zu seinem m.H. Wallner). – Geburtsleitung und Überleben- Selbstmord geführt haben, […] durch diesen Auf- schance des 2. Zwillings. In: Geburtshilfe Frauen- satz peinlichst überrascht“ sah. Der unten zitierte heilkd 30 (1970), 795–813 (zus. m.B.J. Klose). – Sachakt zu der Untersuchung gegen Weber, die Die Beckenendlage und ihre Behandlung. In: Ge- von dem emeritierten Heidelberger Gynäkologie- burtshilfe Frauenheilkd 36 (1976), 820–827 (zus. Ordinarius Karl Menge geleitet wurde, konnte m.B. J. Klose, F. Langer). – Optimierung der post- noch nicht ausgewertet werden. operativen Thromboseprophylaxe in der Gynäkolo- gie. In: Geburtshilfe Frauenheilkd 38 (1978) 98– Artikel im Band: Frobenius: Wiederbesetzung. 104 (zus. m. J. Adolf, G. Buttermann, F. Gmeineder).

Gedruckte Quellen: GK 1928; GW 1956, 211; Fi- Archivalische Quellen: Zentrale Verwaltung der TU scher II (1962), 1648. München, PA Prof. Dr. Arnulf Weidenbach.

Archivalische Quellen: UnivA München: E‑II‑3493; Weil, Emil D‑XV‑031 (Sachakt Untersuchung gegen Prof. Friedrich Hiller und Prof. Franz Weber); BayHStA * 12.01. 1880 M: MK 694002 (Lehrstuhlakte). Approbation/Promotion: 1906 (München) Weidenbach, Arnulf Lothar Friedrich BGGF‑Mitgliederliste 1929 * 07.11. 1926, Leverkusen † 01.01. 1999, München Publikationen: Zur Multiplicität primärer Carcino- V: Heinrich Weidenbach; me. München 1905 (Diss. med. München 1906). – M: Hedwig, geb. Pachnicke Zur Frage der instrumentellen Uterusperforation. E: Maria Teresa, geb. DʼArpino (seit 1959); In: Arch Gynäkol 83 (1907), 733–743. K: Richard (* 1960), Viktor (* 1964) Emil Weil gehört zu den rassisch Verfolgten des Na- Studium: 1948–1953 München tionalsozialismus und Mitgliedern der BGGF, über die im Rahmen der hier angestellten Recherchen Staatsexamen/Promotion: 1953 (München); Habi- keine weiteren Angaben ermittelt wurden. Der litation: 11. 06.1969 (München) Facharzt für Chirurgie und Frauenkrankheiten war in München um 1930 in der Ottostraße 5, später Karriere: 1955–1956 Frauenklinik Venedig, UFK auf der Platenstraße 1 niedergelassen. Zahlreiche Rom; 01. 10.1956 –30. 04.1963 wiss. Ass. der II. Mitglieder der Familie Weil wurden aus München UFK München; 01. 05. 1963 Assistenzarzt Frauen- deportiert und ermordet, so bspw. Eugen Weil klinik rechts der Isar München; 15. 12.1965 Ober- 1943 nach Auschwitz, Fanny und Betty (geborene arzt der Frauenklinik rechts der Isar (TUM); Rosenberger) Weil im November 1941 nach Kowno 03. 07.1975 apl. Prof. (Kauen), Isabella (geborene Eppstein) Weil 1942

© Copyright 2012 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York 320 Anhang mit unbekanntem Ziel; Karoline Lina (geborene Artikel im Band: Dross: Juden. Eckstein) nahm sich am 1. Juli 1935 das Leben. Die in Fürth geborene Frieda Erna Weil (geborene Baer) Gedruckte Quellen: ÄHB 1925, 1931/32; GK 1928; war mit dem 1874 in Aufseß geborenen Arzt und RMK 1935; Damskis: Biografien (2009), 232. Geburtshelfer Ludwig Weil verheiratet; sie lebten mit ihrem Sohn Kurt in München, zuerst Konrad- Archivalische Quellen: BayerHStaatsA M LEA straße 16, später Krumbacherstraße 10. Alle drei 39958. flüchteten am 18. Oktober 1935 in den Suizid. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Emil Weil in diesen Wilhermsdörfer, Samuel Familienkreis gehört. * 22.06. 1867, Ansbach Gedruckte Quellen: ÄHB 1925, 1931/32; RMK † 25.02. 1951, Jerusalem 1935; Damskis: Biografien (2009), 231. V: Raphael Wilhermsdörfer; M: Rosalie Selz E: Bertha Vandewart; K: 2 Internetquellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (Suche mit Approbation/Promotion: 1891 (München) dem Nachnamen Weil und Geburts-, Wohn- oder Inhaftierungsort München); Blume: Memorbuch Karriere: 01.09. 1913 Wechsel von Gunzenhausen www.juedische-fuerther.de/index.php?option= nach Nürnberg; Allgemeinarzt (Landgrabenstraße com_wrapper&view=wrapper&Itemid=34 (Frieda 146/Adlerstraße 35, Nürnberg); 01. 07.1933 Praxis- Erna Weil) (04.09.2012) aufgabe; 16.03. 1939 abgemeldet nach Haifa (Pa- lästina). Wiener, Gustav BGGF‑Mitgliederliste 1929 * 07.06. 1873, Regensburg † 25.11. 1933, München Publikationen: Ein Beitrag zur Casuistik der Paro- E: Barbara (Babette) Müller tisgeschwülste. Diss. med. München 1891.

Studium: Edinburgh, Leipzig, Freiburg i. Br. Samuel Wilhermsdörfer zählt zu den 1929 als BGGF‑Mitglieder geführten jüdischen Gynäkolo- Approbation/Promotion: 1897 (Breslau) gen, deren Verfolgungsgeschichte hier nicht aufge- klärt werden konnte. Im März 1939 gelang ihm und Karriere: 1897–1898 Marburg (Marchand); 1898– seiner Frau die Flucht nach Palästina. 1902 UFK München (v. Winckel); Niederlassung Gedruckte Quellen: Rieger/Jochem: Jüdische Ärzte München, Odeonsplatz 1. (2009); Damskis: Biografien (2009), 240.

BGGF‑Mitgliederliste 1929; DGG‑Mitgliederliste Archivalische Quellen: BayerHStaatsA M LEA 3770. 1931 Wintz, Hermann Publikationen: Beitrag zur Statistik tuberkulöser Knochen- und Gelenkleiden nach Trauma. Breslau * 12.08. 1887, Speyer 1897 (Diss. med. Breslau 1897). – Ein Melanosar- † 11.06. 1947, Zusmarshausen bei Augsburg kom der Vulva. In: Arch Gynäkol 82 (1907), 521– V: Michael Wintz; M: Katharina Wintz, geb. Hol- 527. dermann E: Pauline Heinricke Zitzmann (gesch. Gustav Wiener war fast 60 Jahre alt, als er in der 21. 05.1940); Emma Maria Vogler (ab 23.12. 1940) Nacht vom 28. auf den 29. März 1933 in seiner Wohnung in München von einer Horde SA‑Leute Studium: ab WS 1907/08 Medizin, Mathematik, überfallen und schwer misshandelt wurde. Er erlag Physik und Chemie in Erlangen, Freiburg i. Br., Hei- den Folgen der dabei erlittenen Verletzungen am delberg, Erlangen 25. November 1933 und war damit vermutlich in- nerhalb der BGGF das erste Todesopfer des Rassen- hasses.

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Staatsexamen: 1912; Approbation: 1914; Promo- An dem Frauenarzt und Radiologen Hermann tion: 1914 (Dr. med.), 1920 (Dr. phil.); Habilitation: Wintz scheiden sich seit mehr als einem halben 1918 Jahrhundert die Geister. Seine zahlreichen Verehrer sehen in ihm vor allem den international aner- Karriere: 1920 a.o. Prof.; ab 01. 04.1921 bis zur kannten, erfolgreichen Wissenschaftler, engagier- Entlassung und Internierung durch die Militärre- ten Klinikdirektor und großzügigen Mäzen. Die Kri- gierung Ordinarius und Direktor der Universitäts- tiker werfen ihm vor, sich zu einem Vasallen des Frauenklinik Erlangen; 1938–1944 Rektor der Uni- NS‑Regimes gemacht zu haben. Die besondere Le- versität Erlangen. bensleistung von Wintz liegt auf dem Gebiet der Radiologie. In einem erfolgreichen Joint-venture Vorträge BGGF: 1921 (Klinische Erfahrungen und mit der Erlanger Medizintechnik-Firma Reiniger, technische Neuerungen in der Röntgenbehandlung Gebbert & Schall (heute Siemens) gelang es ihm, des Karzinoms), 1925 (Weitere Ergebnisse meiner die Frauenklinik ab 1914 für mehrere Dekaden zu Untersuchungen über die innere Sekretion von einem Forschungs- und Behandlungszentrum von Corpus luteum und Plazenta; Die Darstellung des internationalem Rang auszubauen. Wesentlich da- Genitaltraktes; Demonstration einer sechsmonati- für waren seine Arbeiten zur Röntgentherapie gy- gen Gravidität nach Kastrationsdosis; Untersu- näkologischer Krebserkrankungen. Außerdem pro- chungen über die durch ovarielle Dysfunktion be- filierte sich der technisch ungewöhnlich begabte dingte Adipositas), 1929 (Die Röntgenbehandlung und manuell geschickte Wissenschaftler mit zahl- des Mammakarzinoms und ihre Ergebnisse), 1930 reichen Erfindungen zur Verbesserung von Be- (Die wissenschaftlichen und experimentellen strahlungsgeräten. Wintz zeigte auch eine häufig Grundlagen der temporären Röntgenstrahlename- bewunderte Großzügigkeit in finanziellen Dingen: norrhöe), 1931 (Sistomensin in großen Dosen), Mittellose Patientinnen behandelte er oft kosten- 1932 (Temporäre Strahlenamenorrhöe), 1935 los, die Klinikmodernisierung in den zwanziger (Diätkuren in Geburtshilfe und Gynäkologie), 1936 Jahren war zu einem Großteil Zuwendungen aus (Diätfragen), 1938 (Die Anregung innersekretori- seiner Privatschatulle zu verdanken. Als Rektor der scher Drüsen durch Kurzwellen). Universität versuchte er offenbar, den Einfluss der Nationalsozialisten zu begrenzen. Er ließ aber zu, BGGF‑Mitgliederlisten 1929, 1936 dass die Frauenklinik für rassenpolitische Ziele in- strumentalisiert wurde: Die Ärzte führten hier von Funktionen BGGF: 1927–1929 1. Vorsitzender 1934 bis 1945 über 500 Zwangssterilisationen und mindestens 136 Zwangsabtreibungen bei Ostarbei- Publikationen (Auswahl): Eine automatische Rege- terinnen durch. Wintz starb, bevor seine Rolle im nerierung der Röntgenröhre. In: MMW 63 (1916), NS genauer untersucht wurde. 382–383. – Ergebnisse der Untersuchungen über Artikel im Band: Kinzelbach: Gesellschaft; Frobeni- Röntgentiefentherapie aus der Universitäts-Frau- us: Strahlentherapie; Dross: Juden; Frobenius, Eh- enklinik Erlangen unter spezieller Berücksichti- renmitglieder; Frobenius: Wiederbesetzung. gung der Dosierung beim Karzinom. In: Berliner Klin Wochenschr 56 (1919), 101–105. – Die aus- Gedruckte Quellen: GW 1956, 213; Zander/Zimmer schließliche Röntgenbestrahlung des Gebärmutter- (Hrsg.): Bayerische Gesellschaft (1987); Sandweg: krebses, der Röntgen-Wertheim. In: MMW 66 Verrat (1993); Wittern (Hrsg.): Professoren (1999), (1919), 1131–1134 (zus. m.L. Seitz). – Unsere Me- 220–221; Frobenius: Röntgenstrahlen (2003); thode der Röntgentiefentherapie und ihre Erfolge. Klee: Personenlexikon (2005). Berlin; Wien 1920 (zus. m.L. Seitz). – Die Röntgen- behandlung des Mammakarzinoms. Leipzig 1924. – Archivalische Quellen: UnivA Erl A2/1, 23 PA Wintz; Ergebnisse der Röntgenbehandlung. Statistischer AmtsgA E SPK Wintz. Bericht über 800 Uteruskarzinome. In: Dtsch Med Wochenschr 51 (1925), 19–21. – Die wissenschaft- lichen und experimentellen Grundlagen der tem- porären Strahlenamenorrhoe. In: Zentralbl Gynä- kol 45 (1930), 2849.

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tung der postklimakterischen Blutungen. In: Arch Zweifel, Erwin Gynäkol 137 (1929), 1008–1015. * 29.11. 1885, Erlangen † 12.07. 1949, Brugg (Schweiz) Erwin Zweifel gehörte zu den renommiertesten Gy- V: Paul Zweifel; M: Therese Brandeis näkologen der in den 1920er Jahren jüngeren Ge- E: Gabriele, geb. Meyer; K: Marie Lusie (* 1928) neration. Der Sohn des Erlanger und Leipziger Ordi- narius Paul Zweifel – gemeinsam verfassten beide Studium: 1904–1909 Edinburgh, Leipzig, Freiburg den 1927 erschienenen „Grundriss der Gynäkolo- i.Br. gie“–etablierte 1923 am Coombe Lying-in Hospital in Dublin eine „Strahlenabteilung“ und war auch in Approbation/Promotion: 1910 (Leipzig); Habilita- den USA ein gefragter Vortragender. Bei der Umset- tion: 1920 (München); Entzug der Lehrbefugnis zung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Be- zum 31. 12.1935 rufsbeamtentums“ ergab sich 1933, dass Zweifel von einer jüdischen Mutter abstammte und mit ei- Karriere: 1911 Schiffsarzt in Deutschostafrika und ner Jüdin verheiratet war; nur seine anerkannte Kamerun; 1911–1913 Ass. der UFK München; „Frontkämpfereigenschaft“ bewahrte ihn vor der 1913–1914 Ass. der UFK Jena; 1914 Volontärass. sofortigen Vertreibung. Anlässlich einer Vortrags- der chir. UK Würzburg; 1914–1918 im Weltkrieg; reise auf Einladung der „American Association of 1919–1931 Ass. der I. UFK München (1920 Privat- Obstetricians, Gynecologists and Abdominal Surge- dozent); 1923 Coombe Lying-in Hospital Dublin ons“ im Sommer 1934 legte ihm die Universitäts- (Einrichtung einer Strahlenabt.); 1925/26 a.o. Prof. verwaltung bereits nahe, „daß er sehen will, ob er in München; 1930 und 1934 Vortragsreisen USA; nicht in Amerika bleiben kann“; jedenfalls habe er 1931 Niederlassung in München. dort klarzustellen, „daß er nicht etwa im Auftrage des Staates oder der Universität oder der Fakultät BGGF‑Mitgliederliste 1929; DGG‑Mitgliederlisten […] gekommen ist.“ Mit Ablauf des Jahres 1935 1931, 1933 wurde Zweifel die Lehrbefugnis entzogen, im Jahr 1936 wurde er bei der Sondierung von Immobi- Vorträge BGGF: 1914 (Erfahrungen mit der Mesot- lienerwerb in der Schweiz des Devisenschmuggels horiumbehandlung), 1925 (Ein neues Zangenmo- denunziert, das Verfahren aber niedergeschlagen. dell), 1926 (Über chemische Untersuchungen des 1937 zog er sich aus München zurück und lebte Corpus luteum), 1927 (Zur Strahlenbehandlung ein Jahr in Berlin, bis er am 2. November 1938 in der weiblichen Genitaltuberkulose), 1929 (Zur ge- die Schweiz emigrierte, deren Staatsangehörigkeit burtshilflichen Indikationsstellung), 1932 (Ein neu- er neben der deutschen besaß. er Tamponator; Über das Corpus-Carcinom), 1933 (Ein neues Kolposkop; Über den Ptyalismus gravi- Artikel im Band: Dross: Juden. darum). Gedruckte Quellen: ÄHB 1925; GK 1928; RMK Publikationen: Erfahrungen mit Lumbalanästhesie. 1935, 1937; GW 1956, 214; Fischer II (1962), 1733; Diss. med. Leipzig 1910. – Erfahrungen an den letz- Jäckle: Schicksale (1988), 135–136; Detjen: Staats- ten 10000 Geburten mit besonderer Berücksichti- feind (1998), 262; Damskis: Biografien (2009), 232; gung des Altersbildes. In: Arch Gynäkol 101 (1913), Schwoch: Kassenärzte (2009), 932. 643–699. – Ein Fall von polypösem Adenom der Tu- be. In: Arch Gynäkol 109 (1918), 774–792. – Wirkt Archivalische Quellen: UniA M: N‑I‑96 Bd. 5 Nr. 5 fötales Serum artfremd auf das Muttertier? Eine (Zweifel), E‑II‑3691; BayerHStaatsA M: Abt. I MK biologische Studie zur Aufklärung der Eklampsie 35817, LEA 41295 (Zweifel, Gabriele); StaatsA M: vom Standpunkt der Anaphylaxieforschung. Mün- Staatsanwaltschaften No. 8261, Wiedergutma- chen 1920. – Kann eine Schwangerschaft über chungsbehörde I Oberbayern I/N 6640, I a 4952, 302 Tage dauern? In: Arch Gynäkol 116 (1922), Oberfinanzdirektion München 11639, Staatsan- Nr. 1. – Die Indikationen zur Strahlenbehandlung waltschaften No. 8261, Polizeidirektion München in der Gynäkologie. Berlin 1927 (mit e. Geleitw. 15506. v.A. Döderlein). – Grundriss der Gynäkologie. Ber- lin 1927 (m.P. Zweifel). – Die diagnostische Bedeu-

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Personenregister

Die in den Kurzbiographien vorgestellten Personen erscheinen im Register im Fettdruck.

A Blechschmidt, Erich 210 Bock, Gisela 118, 120 Adler, Ludwig 139 Bockhardt, Max 39 Albers-Schönberg, Heinrich Ernst 64 Böckle, Franz 198, 212 Albrecht, Hans 282 Bohnstedt, Rudolf M. 190 Albrecht, Pavla 129, 164, 252 Bokai, Arpad 38 Amann, Joseph Albert 68 Bornemann, Wilhelm 90 Amreich, Isidor Alfred 140 Borst, Max 101, 314 Anselmino, Karl 171 Braga, Sevold (Vsevold) 124, 153 Anthuber, Christoph 2–3, 5, 31, 257, 263, 268–269 Brakemann, Otto 179, 319 Antoine, Tassilo 4, 186–188 Brandeis, Therese 101, 322 Aquin, Thomas von 207 Brandl, Max 116, 125, 128, 132–134, 206, 211–213, Aristoteles 207 267, 285–286 Aschner, Bernhard 76, 139 Brecht, Bertolt 53 Auerbach, Philipp 176 Breitner, Josef 7, 12, 29–31, 266–267 Brenner, Eduard 155, 156, 161, 183 Bröer, Ralf 92 B Brünings, Wilhelm 166 Brusis, Ernst 14, 30, 244, 245, 267, 268, 286–287 Bab, Hans 279, 283 Bumm, Ernst 3, 36, 38–44, 60, 67–69, 283, 287, 288 Bach, Ernst 127, 291 Burger, Karl Johann 7, 15, 16, 159, 174–177, 181, 183, Baer, Karl Ernst von 207 266, 288 Baltzer, Jörg 238 Burghardt, Erich 288–289 Barry, Martin 207 Butenandt, Adolf 172 Bauer, Hartwig 2, 259, 263 Butz, Mathilde 167 Bauer, Karl Heinrich 92 Bauer, Otmar 7, 12, 31, 116, 133–134, 180, 266–267, 283–284 C Baumann, Oscar 107 Baumgärtel, Friedrich 158–161, 183 Callmann, Friedrich Wilhelm 102, 279, 289 Beckh, August 15, 23, 79, 265, 284, 317 Clauberg, Carl 139 Beckmann, Matthias W. 2, 5, 252, 263, 269 Conrad, Fried 25–26 Behrends, Margot 248 Conti, Leonardo 96, 112, 124, 125, 142 Belonoschkin, Boris 188 Coolidge, William David 63 Benedek, Thomas G. 37 Cordua, Rudolf 155 Benoist, Louis 64 Coutard, Henri 75 Berg, Dietrich 14, 17–18, 26–27, 268 Credé, Carl 42 Berg, Lilo 248 Czech, Herwig 143 Bergdolt, Ernst 152 Czerny, Vinzenz 61 Bergonié, Jean 64 Bickenbach, Werner 12, 28–29, 116, 131, 134, 151, 172–173, 198, 211, 231–232, 239, 266, 284–285 Binding, Karl 246 Bing, Julius 104 Biro, Stefan 177

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D Flaskamp, Wilhelm 74, 78, 298 Flatau, Siegfried 65, 312, 317 Damskis, Linda 96 Fleischer, Richard 97, 105–108, 279, 298–299, 304 Daum, Karl 12 Forst, August 172 David, Matthias 1, 127 Franke, Paul 246 Democh(-Maurmeier), Ida 49, 50, 53, 279, 289, 290, Frankl, Oskar 139 303, 307 Freud, Ernest 251, 253 Demoll, Reinhard 166 Freud, Sigmund 251 Dessauer, Friedrich 64 Freund, Wilhelm Alexander 61 Diepgen, Paul 207 Frick, Wilhelm 107 Dietel, Hanns 231, 244 Friese, Klaus 12, 14, 251, 269 Dietl, Johannes 5, 18–19, 268–269 Frobenius, Else 88–89 Döblin, Alfred 53 Führer, Wilhelm 102 Döderlein, Albert 3, 7, 9–10, 12, 15, 42–44, 60, 66–69, Fürbringer, Paul 188 77, 79, 81–82, 99, 110, 116, 118, 122, 126, 127, 133–134, 165, 239–240, 265, 287, 290–291, 294, 296, 314–318, 322 G Döderlein, Gustav 116, 133–134, 155, 171, 198, 290–292 Galen 207 Doepfmer, Rudolf 190–191 Galton, Francis 246 Dohm, Hedwig 48 Ganse, Robert 124, 152–154, 155 Doneith, Thorsten 120, 124, 130, 308 Gastreich, Fritz 105–107 Dostler, Johann 104 Gaupp, Robert 120, 134 Drey, Wilhelm 279, 292 Gauß, Carl Joseph 10, 15, 60, 63, 66, 74, 75, 77, 79, 82, 84, Durand-Wever, Annemarie 50, 53, 279, 292, 293, 307 116, 118, 127, 128, 130, 131, 133, 134, 149, 174, 181, Dyroff, Rudolf 15, 20, 23–25, 56, 74, 78, 81, 96, 116, 123, 265, 299, 300 126, 128, 132–134, 149, 151–157, 160–164, 181–183, Gebbert, Julius Max Gotthard 60, 231 258, 265–266, 293–294 Geßner, Herbert 152, 167 Gfroerer, Walter 174, 181, 300 Giles, Arthur 62 E Goebbels, Joseph 88, 91 Goldberger, Eduard 166–169 Ebert, Andreas D. 1 Gömbös, Gyula 176–177 Egger, Herwig 247 Graeff, Heinrich (Henner) 18, 27, 30, 267, 268 Ehrhardt, Karl 143–146 Graf, Konrad 54 Eichweber, Stephan 250 Graf, Otto 168 Eisenreich, Otto 132, 149, 177–179, 181, 265, 294, 295 Graf, Selma 3, 54–57 Emmrich, Josef-Peter 187, 297 Gramich, Max 169 Engelbrecht, Carl-Heinz 23, 265, 266, 295 Grimm, Jana 121 Engelhart, Erich 140 Grober, Julius 45 Engelhorn, Ernst 265, 295 Gruber, Josef 104 Engisch, Karl 197 Guthmann, Heinrich 76 Ertl, Franz 140 Gütt, Arthur 118, 127, 130, 253, 291, 296 Eymer, Heinrich 12, 15–16, 19–20, 23, 75–76, 92–93, 96, 110, 116, 118, 127–129, 133–134, 143, 149, 151–152, 164–173, 176, 179–182, 184, 239, 243–245, 247, H 249–250, 252–253, 257, 266, 270, 283–285, 287, 295–296, 308, 313, 316 Haberlandt, Ludwig 219 Häberle, Albert 265, 300 Hadrich, Julius 110 F Haeckel, Ernst 208, 210, 246 Hahn, Otto 63 Fallada, Hans 53 Haller, Jürgen 220 Faulhaber, Michael von 168 Halsted, William Stewart 13 Fendt, Franz 167, 176 Hammacher, Konrad 26 Fikentscher, Richard 4, 116, 121, 132, 134, 149, Häring, Bernhard 209, 210 177–182, 186–188, 192–194, 266–267, 296–297 Hartmann, Johann Baptist 167

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Haselbacher, Gerhard 245 J Haselwarter, Robert 237, 240, 241, 242, 245 Hauch, Gabriella 143 Jaschke, Rudolf Theodor Edler von 126, 166 Haupt, Walter 178 Jaspers, Karl 168 Häusler, Herbert 140–141 Jellinek, Camilla 52 Heim, Hildegard (Hilde) 21, 279, 300, 307 Joël, Charles A. 189 Heinke, Ernst 190 Johannigmann, Josef 30 Heinrich, Walter 167 Jonatha, Wolf-Dieter (Wolfdietrich) 19, 31, 268 Heiss, Herbert 211 Jordan, Paul 187, 190, 194, 297 Heller, Josef 166–170, 177 Hengge, Anton 15, 265–266 Henze, Ricarda 228–229 K Hepp, Hermann 12, 14, 247, 248, 258, 268 Hertig, Arthur 209 Kachel, Mally 21, 50, 279, 303, 307 Hertwig, Oscar 207 Kahr, Heinrich 139 Hertwig, Paula 80–81 Kaiser, Rolf (Rudolf) 13, 17, 25, 30, 33, 219, 266, 267, 303 Heß, Rudolf 91 Kammerer, Rudolf 103 Heusler, Andreas 246 Kant, Immanuel 214, 215 Heusler-Edenhuizen, Hermine 49, 53 Kantorowicz, Ernst 99 Heynemann, Theodor 122 Kästner, Ralph 250, 253 Hiemer, Ernst 112 Kater, Michael H. 246 Hiess, Viktor 140 Kaufmann, Carl 172, 173, 238, 310 Hilgenfeldt, Erich 91 Keil, Helmut 250 Hiller, Friedrich 102, 319 Kentenich, Heribert 246 Himmler, Heinrich 55, 90 Kepp, Richard 172 Hindenburg, Paul von 168 Kerpel, Edmund 177 Hinselmann, Hans 82, 154 Kettler (Tzelepes), Karolin 240, 244, 245, 253 Hipp, Maria 234 Kiefer, Annegret 28, 262, 268 Hippokrates 207, 289 Kienböck, Robert 64 Hirsch, Rudolf 279, 301 Kienle, Else 54 Hirschmann, Moritz 105 Killer, Marianne 18–19, 28, 33, 262 Hitler, Adolf 87, 88, 95, 98, 106, 138 Kimmig, Joseph 190 Hoche, Alfred 246 Kindermann, Günther 115, 237–238, 241, 244, 247, Hoegner, Wilhelm 88 250–251, 258, 267 Hoff, Franz 144, 145 Kirchhoff, Heinz 25, 197–198, 211, 218–221, 234, 280 Hofmann, Elisabeth 93 Klaften, Emanuel 139 Hofmeier, Max 1, 7, 12, 15, 174, 265, 301, 302, 317 Klebanow, David 183, 249 Hohendorf, Gerrit 246 Klein, Gustav Adolf 11, 65, 304, 309 Hohmann, Georg 152 Kleine, Hugo Otto 92–93 Hollenweger-Mayr, Barbara 22 Knaus, Hermann 155, 302 Holzknecht, Guido 64 Koch, Robert 38 Horban, Corinna 133, 250, 252 Koch, Thomas 131 Hornstein, Otto P. 191, 192 Koerting, Walther 165–170, 176 Horvath, Josef 157, 183 Kölle, Ruth 232 Hubenstorf, Michael 138 Kollmann, Theodor 240 Hundhammer, Alois 157, 159–163, 171, 179–180, 313 Koschade, Eduard 22, 25–27, 262, 267–268 Hunstein, Werner 221 Kraus, Hans 105, 108–109, 279, 304–305 Husslein, Hugo 17, 302, 303 Kraus, Irma 108–109, 305 Krauss, Marita 252 Kreienberg, Rolf 1, 14, 27 I Krone, Heinrich-Adolf 26, 267 Krönig, Bernhard 42–44, 66–67, 308 Ihm, Karl 245 Kühnelt, H.-J. 194 Kürzl, Rainer 19, 30, 268, 269 Kuß (Kuss), Erich 242–245, 247, 249–250, 252

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L Neisser, Albert 38–39, 44–45 Neundörfer, Ambros 157 Latzko, Wilhelm 139 Nickl, Dora 174 Lauritzen, Christian 221 Niederecker, Kaspar 176, 177 Legmann, Israel 168 Niedermeyer, Albert 110, 138 Lehmann, Julius Friedrich 127, 178 Niermann, Hans 191, 192 Lehmus, Emilie 48 Niklas, Wilhelm 179, 180 Leibbrand, Werner 124, 153, 155, 156, 183 Nikolowski, Wolfgang 190 Lembcke, Hermann 63, 66, 299 Nilsson, Lennart 210 Leven, Karl-Heinz 5 Noiré, Henri 64 Ley, Astrid 4–5, 25, 118, 122, 187, 197 Nordmeyer, Kurt 160 Liebl, Ludwig 110, 305 Nowak, Klara 246 Lifton, Robert 249 Nürnberger, Ludwig 77–79, 81, 121, 132, 174 Link, Gunther 246 Lisner, Wiebke 228 Lochmüller, Hans 26 O Ludwig, Hans 1, 266, 270 Lüttge, Werner 306 Ober, Karl Günther 267, 289, 310, 311 Lützenkirchen-Funck, Sophie 50, 279, 306, 307 Olzog, Günter 176 Luxenburger, August 106 Ottow, Benno 119 Luxenburger, Hans 80, 106–107

P M Paluka, Almut 239 Madlener, Max 123 Peeters, Ferdinand 220 Mahnert, Alfons 140 Peil, Oswald Fritz 174, 181, 311 Mandelbaum, Richard 76 Philipp, Ernst 175 Mann, Thaddeus 191 Piringer, Josef 37, 38 Martius, Heinrich 122, 131, 166, 171–173, 175, 183, Ploss, Birgit 28, 262, 268 284, 302 Plötz, Alfred 246 Matthes, Karl 159 Podleschka, Kurt 13, 151, 154, 158, 183, 266 Mayer, August 11, 73, 82, 95, 110, 116, 118, 120, 124, Polano, Anna 24, 102, 311 127, 128, 130, 131, 134, 143, 191, 210, 307, 308 Polano, Oskar 24, 65, 82, 101–102, 179, 265, Meinzolt, Hans 162, 177 279, 311–312 Menge, Carl (Karl) 42–44, 102, 166, 178–179, Pöschl, Walter 140 308–309, 313, 319 Mestwerdt, Gustav 82, 289 Meyer, Gabriele 100–101 Q Mielke, Fred 246 Mikulicz-Radecki, Felix von 82 Quidde, Ludwig 36, 44 Mirabeau, Sigmund 265, 309 Mitscherlich, Alexander 246 Mitscherlich-Nielsen, Margarete 246 R Moissl, Norbert 246 Moll, Albert 209 Raeffler, Johannes 312 Monheim, Maria 50, 279, 307, 309 Rauscher, Herbert 219 Mooslechner, Ludwig 140 Rech, Marie Gertrud 152, 312 Mosbacher, Emil 279, 310 Rech, Walter 149, 151–154, 158, 174, 181, 183, 312–313 Motz, Stefanie 19, 22, 33, 276 Redwitz, Wilhelm Freiherr von 177–179, 181 Rehm, Albert 165 Reichold, Selma 54 N Reifferscheid, Karl 64 Reiniger, Erwin Moritz 60, 321 Nathan, Alfred Louis 97, 104–108 Reinke, Annemarie 234 Nebesky, Oskar 140 Rheinfelder, Hans 156, 161, 162, 172, 180 Neeff, Theodor 75, 83 Ricord, Philipp 37, 38

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Riesenfeld, Nathan 279, 313, 314 Shettles, Landrum B. 210 Rinecker, Franz von 39 Siebke, Harald 175, 189 Rock, John 209 Silló-Seidl, Georg 191, 192 Rockenschaub, Alfred 233 Simon, Max 9, 15, 265, 316–317 Rohleder, Hermann 188 Simon, Walther 105 Röntgen, Wilhelm Conrad 61, 75 Soemmerring, Samuel Thomas 144 Rosenfeld, Ernst 265, 279, 314 Spechter, Horst Jürgen 29, 267 Röther, Gustav 105 Stadler, Erich 140 Rüdin, Ernst 106, 118, 127, 128, 130, 245, 253, 296 Stark, Günther 13, 267 Rummel, Hans 12, 19, 28–29, 266 Steinau, Hans Ulrich 259 Rump, Walther 82 Stiasny, Hans 189 Runge, Hans 93, 171, 175, 234 Sticker, Anton 62 Rupprecht, Philipp („Fips“)112 Stieve, Hermann 78, 79, 249 Ruttke, Falk 118, 127, 253, 290, 291, 296 Stoeckel, Walter 60, 96, 112, 131, 138, 291 Strathmann, Hermann 163 Straus, Willi 279, 317 S Streck, Arnulf 106, 107 Streicher, Julius 55, 80, 98, 106–107 Sabouraud, Raymond 64 Szálasi, Ferenc 176 Sahlmann, Hans 105–107, 111, 304 Szolnoki, Franz 177 Sandweg, Jürgen 155 Sänger, Hans 101–102, 178, 279, 314–315 Sasse, Hermann 124 T Sasse, Werner 153 Sattler, Hubert 42 Tandler-Schneider, Andreas 246 Scanzoni, Friedrich Wilhelm von 39 Tapfer, Siegfried 143, 246 Schäfer, Daniel 1 Taubert, Hans-Dieter 129 Schäffer, Fritz 157, 161–163, 183 Thalheimer, Ludwig 98 Schall, Friedrich 60, 321 Theilhaber, Adolf 68, 105 Schauenstein, Walter 141 Tiburtius, Franziska 48 Schauta, Friedrich 61, 62, 68, 143, 309 Tillman, Harry 187, 297 Schehl, Ernst 77 Tintner, Hans 54 Schirren, Carl 190–191, 194–195 Tremel, Hans 168 Schmitt, Walther 73, 77–78, 265 Tribondeau, Louis 64 Schmuhl, Hans-Walter 2, 117, 118 Tritthart, Karl 140 Schöldgen, Werner 191, 192 Tucholsky, Kurt 53 Scholten, Gustav 73 Tulzer, H. 193 Scholtz-Klink, Gertrud 91 Tzelepes, Karolin (siehe Kettler, Karolin) Schröder, Robert 166, 174, 311 Schroeder, Carl 179 Schubert, Gerhard 172, 173 U Schuermann, Hans 190 Schultze, Kurt Walther 119 Ursing, Ingrid 251 Schultze-Rhonhof, Friedrich 93, 160 Schumacher, Paul 76 Schwalm, Georg 213 V Schwalm, Horst 12, 20, 267 Schwarze, Gisela 124 van Hall, Eylard 251 Schwarzhaupt, Elisabeth 222 Vasterling, Hans-Werner 190 Seitz, Ludwig 11, 60, 65–66, 68–70, 76, 82, 92, 116, Veil, Wolfgang Heinrich 45 127, 129, 134, 143, 160, 312, 315–316, 321 Verschuer, Otmar Freiherr von 112 Seitz, Walter 179 Vienne, Florence 188 Sellheim, Hugo 77 Vogt, Emil 78 Sellschopp, Almuth 246 Voltz, Friedrich 74, 82, 129 Semm, Kurt 187, 297 Seuffert, Ernst Ritter von 66, 68–69, 71–72, 77, 82, 168, 181, 246, 279, 316

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W Winau, Rolf 246 Winter, Georg 74 Wachtel, Michael 279, 317, 318 Winterhalter, Elisabeth 49 Wagner, Georg August 165–166, 291 Winterstein, Theodor 241 Wagner, Gerhard 93, 166, 305 Wintz, Hermann 11, 15, 23, 60, 63, 69–70, 74–76, 78, Waidl, Ernst 33, 179, 267, 318 80–84, 95, 125–126, 132, 149, 151–152, 155, 160–162, Weber, Franz 65, 102, 178, 308–309, 314, 318–319 260, 265, 294, 296, 298, 315, 320–321 Wegerhoff, Leo 158 Wirz, Franz 131 Weibel, Wilhelm 140 Wolf, Friedrich 54 Weidenbach, Arnulf 12, 30–33, 267–268, 319 Wolf, Susanne 130, 174, 299 Weidinger, Hans 17, 268 Wulf, Karl-Heinrich 1, 233, 255, 268, 289 Weil, Emil 279, 319–320 Weizsäcker, Carl-Friedrich von 245 Weizsäcker, Ernst von 245 Z Weizsäcker, Richard von 244 Welsch, Hermann 26, 266 Zacherl, Hans 140, 302 Wertheim, Ernst 41, 60–61, 143, 283 Zahn, Volker 30 Wessely, Karl 24 Zander, Josef 1, 12, 26–27, 30, 234, 238, 240, 249–250, Wetterer, Josef 77 257, 262, 267 Wiener, Gustav 98, 279, 320 Zimmer, Fritz 1, 12, 30–31, 33, 212, 240, 249, 267–268 Wild, Robert 106 Zweifel, Erwin 82, 97, 99–104, 279, 322 Wilhermsdörfer, Samuel 279, 320 Zweifel, Gabriele 103–104, 322 Wilke, Anna 231, 232 Zweifel, Paul 3, 36, 41–43, 47, 99, 290, 316–317, 322 Wimmer, Thomas 180 Zweig, Arnold 53

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